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]]> cum die Publizistik ihre Hauptaufgabe, auf die Stimmung der
Nation einzuwirken, erfüllen will, so muß sie sich vorher not¬
wendig über die augenblickliche Beschaffenheit dieser Stimmung
klar geworden sein. Die hauptsächlichste Erkenntnisquelle, die
Tngespresse der verschiednen politischen Parteirichtungen, ist
aber mit Vorsicht zu benutzen, da auch sie „Stimmung machen" will und als
wirksamstes Mittel hierzu bewußt oder unbewußt den Kunstgriff gebraucht,
die erst noch zu erregende Stimmung bereits für vorhanden, ja für herrschend
zu erklären. Es ist deshalb nötig, bei ihr zwischen den Zeilen zu lesen
und auch auf das zu achten, was sie verschweigt oder nnr beiläufig erwähnt,
worüber sie besonders klagt oder wogegen sie besonders ankämpft. Das so
gewonnene Ergebnis läßt sich dann im Gespräch mit politisch Gleich- und mit
Andersgesinnten nachprüfen. Die Hauptsache bleibt aber, die Tagesereignisse
möglichst objektiv ans sich wirken zu lassen. Wer sich dabei von Vorein¬
genommenheit wirklich frei und zugleich in lebendiger Verbindung weiß mit
den unsichtbaren und geheimnisvollen Kräften, die das Gemüt seines Volkes
lenken, dem mag es gelingen, auch die Grundstimmung oder die Durchschnitts-
empfindung der viri boni im Volke, oder mit andern Worten die öffentliche
Meinung im guten Sinne zu erkennen.
Wir erheben nicht den Anspruch, diese Gabe der Intuition zu haben,
und sind jedenfalls überrascht von dem verhältnismäßig ruhigen Verlaufe, den
die Veratungen des unlängst eröffneten Reichstags genommen haben. Die
Zurückhaltung, die gegenüber den Angriffen der Linken sowohl von der Regie¬
rung wie von den augenscheinlich in gedrückter Stimmung befindlichen Kon¬
servativen geübt wurde, giebt hierfür keine genügende Erklärung. Auch nicht,
daß der Minister, der ganz besonders zur Vernichtung der Sozialdemokratie
berufen schien, unmittelbar vor Eröffnung der Session plötzlich nach Walhalla
abberufen wurde. Denn darüber, daß sein System „unentwegt" werde fortgesetzt
werden, wurde ja der Reichstag keinen Augenblick im Zweifel gelassen. Uns
scheint, daß der Grundsatz des Septemberknrses, die bestehenden Gesetze zwar
rücksichtslos und bis an die äußerste Grenze ihrer Auslegungsfähigkeit, aber
doch nicht darüber hinaus anzuwenden, von der Nation immer noch wenigstens
für erträglich gehalten wird. Man hatte ein Gefühl der Erleichterung, daß
dem Lande nicht wieder zugemutet wurde, neue Verschärfungen der politischen
Strafgesetze auf sich zu nehmen. schlimmstenfalls ist man darüber beruhigt,
daß weder der gegenwärtige Reichstag, noch im Fall seiner Auflösung sein
Nachfolger hierzu jemals seine Zustimmung geben wird, und ohne diese Zu¬
stimmung können nun einmal verfassungsmäßig Reichsgesetze nicht zustande
kommen.
Wenn die parlamentarische Opposition gegen die Art der Anwendung der
bestehenden Gesetze durch die Gerichte ankämpft, so fehlt ihr der rechte Reso¬
nanzboden, solange es sich nicht um augenfällige und schreiende Gesetzesver¬
letzungen handelt. Wir haben unsern schweren Bedenken gegen die neueste
Richtung der Strafrechtsprechung Ausdruck gegeben und werden fortfahren,
gegen ihre Irrtümer anzukämpfen. Immerhin sind es nur Irrtümer, nicht
Rechtsbeugungen gewesen. Die Verurteilungen waren über Gerechte und Un¬
gerechte, sogar über Staatsanwälte herniedergegangen, es war auch eine
Anzahl freimütig und männlich begründeter Freisprechungen zu verzeichnen,
lind noch hat gerade in den bedenklichsten Fällen der oberste deutsche Gerichts¬
hof nicht gesprochen. So haben gewisse gerichtliche Verfolgungen zwar hin¬
gereicht, den Zorn über die Ungezogenheiten der Sozialdemokratie gegen teure
Empfindungen der Nation auszulöschen, aber nicht hingereicht, diesen Zorn
geradezu in Mitleid mit den Opfern der Justiz zu verwandeln.
Auch wer die übermäßig scharfe Anwendung der bestehenden Gesetze sür
einen politischen Mißgriff hält, kann der Regierung nicht gut einen Vorwurf
daraus machen, wenn sich nun diese Anwendung gleichmüßig gegen alle politischen
Parteien richtet. Dies wäre z. B. auf dem Gebiete des Vereinsrechts sogar
dringend zu wünschen, da es kein besseres Mittel giebt, die Ungereimtheiten
jener polizeistaatlichen Überbleibsel dem ganzen Volke recht deutlich vor Augen
zu stellen. Geschieht es nicht, so wird die Sozialdemokratie die Rechts-
ungleichheit im Nechtsstciate wieder gehörig ins Licht zu rücken wissen und die
bestehende Staats- und Gesellschaftsordnung dadurch bekämpfen, daß sie —
strenge Aufrechterhaltung dieser Ordnung gegen jedermann fordert. Das
ist ja gerade die ungeheure Verblendung der sogenannten staatserhaltenden,
daß sie nicht sehen, wie alle Maßregeln ihnen früher oder später selbst zum
Verderben ausschlagen müssen, die nicht vor dem natürlichen, gottlob noch
immer lebendigen Rechtsgefühl des Volkes bestehen können. Soeben schickt
sich der sächsische Landtag an, mit der Verschlechterung des Wahlrechts eine
solche Ungerechtigkeit gegen die untern Klassen zu begehen, und für die Ent-
Wicklung der Dinge im Reiche hängt alles davon ab, ob auch dort etwa ähn¬
liche Maßregeln geplant werden. Niemand glaubt, daß das Ministerium
Hohenlohe dafür zu haben sein werde, ein Grund mehr für die Opposition,
dem würdigen alten Herrn an der Spitze der Rcichsgeschäfte das Leben nicht
zu sauer zu machen. Niemand will sich aber auch ausreden lassen, daß die
Tage dieses Ministeriums gezählt seien, und es ist Sache des Temperaments,
ob man diesen ewigen Unsicherheiten nur mit Unbehagen oder mit tiefem Mi߬
trauen gegenübersteht.
Wären freilich Pläne ernst zu nehmen, wie sie jüngst mit cynischer Offen¬
heit ein Blatt entrollte, dessen Äußerungen öfter mit der Person des ersten
deutschen Reichskanzlers in Verbindung gebracht werden, dann wäre nicht mehr
bloß Mißtrauen, sondern laute Entrüstung am Platze. Der Gedanke, die
deutschen Sozialdemokraten durch Ausnahmegesetze und rechtlose Willkür zur
Verzweiflung und zum offnen Aufruhr zu treiben, um sie dann in einem großen
Blutbad vernichten zu können, ist von so teuflischer Bosheit und zugleich so
kläglich dumm, daß die Freunde des Fürsten Bismarck dringend wünschen müssen,
er möge sich von einer unter seiner Flagge segelnden Ungeheuerlichkeit lossagen,
die ihn mit einemmale des Ruhmes berauben würde, der beste Deutsche und der
größte Staatsmann des Jahrhunderts gewesen zu sein. Amtlich hat ja Fürst
Bismarck in Lehre und Wandel immer den Satz verfochten, daß man vor der
Kriegserklärung den Feind ins Unrecht gesetzt haben müsse, und daß er die
Verantwortung, loszuschlagen, nicht tragen möge, solange noch die Möglichkeit
einer friedlichen Auseinandersetzung bestünde. Was den Franzosen oder Russen
gegenüber recht war. sollte das nicht gegen die eignen Landsleute billig sein?
Wir leben des Glaubens, daß eine friedliche Auseinandersetzung der
obern und der untern Klassen in Deutschland möglich ist, und daß sie
zugleich die unerläßliche Voraussetzung dafür bildet, daß eine jugendkräftige,
hochgebildete Nation von mehr als fünfzig Millionen, denen der heimatliche
Boden schon längst zu enge geworden ist, im Wettbewerb um die Herr¬
schaft der Erde ihre Zukunft behauptet. Zur Wiederherstellung des innern
Friedens ist gar nichts weiter notwendig, als daß die in allen deutschen Ver¬
fassungen längst verbrieften Grundsätze der Gleichberechtigung jedes Staats¬
bürgers vor dem Gesetz und bei Ausübung der politischen Rechte von den
höhern und den besitzenden Klassen endlich ohne Hintergedanken anerkannt
werden. Wir leiden daran, daß diese Rechte vor einem halben Jahrhundert
dem Volke doch nur widerwillig zugestanden worden sind, oder daß man, wie
bei dem allgemeinen Wahlrecht, sich mit der Hoffnung geschmeichelt hat. die
Massen stets in der Hand zu behalten. Diese Hoffnung hat — nicht ohne
Schuld der Machthaber — getrogen, und hente weiß man sich keinen andern
Rat. als ihnen die verliehenen Rechte wieder streitig zu macheu. Auch für
Deutschland scheint sich die geschichtliche Erfahrung aller großen Verfassungs-
staaten zu wiederholen, daß die politischen Rechte, einmal errungen, erst in
zäher Abwehr verteidigt werden müssen, ehe sie als wirklicher, unentziehbarer
Besitz der Nation gelten können. Die Engländer wären heute nicht schon zwei¬
hundert Jahre lang im ruhigen Genusse bürgerlicher Freiheit, wenn sie nicht
im Laufe des siebzehnten Jahrhunderts gezwungen gewesen wären, die wieder¬
holten Übergriffe eines verblendeten Herrscherhauses zurückzuweisen.
Wir dürfen in Deutschland zu der Loyalität der Krone volles Vertrauen
haben. Aber Wunder nehmen darf es nicht, wenn wir die einst zurückgedrängten
alten Gewalthaber und im Bunde mit ihnen die satten Mächte des gro߬
kapitalistischen Bürgertums die gegenwärtige Erschlaffung des nationalen Ge¬
dankens benutzen sehen, um den verloren gegangnen Einfluß zurückzugewinnen
oder die neugewonnene wirtschaftliche Übermacht zu befestigen. Das Schicksal
Deutschlands hängt vielleicht davon ab, ob es jenen Mächten gelingen wird,
auch die Krone in ihre Händel zu verflechten. Die Logik der Hamburger
Nachrichten müßte zu dem Wunsche führen, daß sie dabei vor dem Äußersten
nicht zurückschrecken möchten. Um so einmütiger und energischer würde der
Widerstand, um so kürzer die Katastrophe, um so rascher und gründlicher die
Genesung sein. Wir selbst vertrauen auf Deutschlands guten Stern, daß wir
vor dem größte«? nationalen Unglück, dem Bürgerkrieg, bewahrt bleiben werden.
Wir setzen dabei unsre Hoffnung auch darauf, daß im deutschen Bürgertum
die Bewegung immer mehr erstarken werde, die man als die soziale zu bezeichnen
sich gewöhnt hat. Sie fällt, wie heute sich die Dinge anschicken, immer mehr
zusammen mit verfasfungstreuer, mit konservativer, d. h. für Aufrechterhaltung
des bestehenden öffentlichen Rechtszustandes eintretender Denkweise. Sie kam
zuerst in größerm Umfange zur Erscheinung während der Beratung über die
verflossene Umsturzvorlage. Sie hat sich damals wegen ihrer Schwerfälligkeit
von rechts wie von links viel verspotten lassen müssen. Aber gerade aus
dem Beharrungsvermögen schöpft der Widerstand seine Kraft, und fast scheint
es, als wenn nnn auch noch das Element in die Geister hineingeworfen werden
sollte, das, einmal erfaßt, die germanischen Nationen allezeit in die leiden¬
schaftlichste Bewegung gebracht hat, wir meinen die religiöse Frage.
Wir geben von vornherein zu, daß der kürzlich veröffentlichte Erlaß des
preußischen Oberkirchenrath, wenn man ihn Satz für Satz durchliest, manche
Wahrheiten enthält, die von den evangelischen Geistlichen beherzigt zu werden
verdienen, und wollen an einzelnen anfechtbaren Wendungen hier nicht mäkeln.
Schwerlich aber wird man sich, wenn man die Zeichen der Zeit bedenkt, des
Eindrucks erwehren können, daß aus ihm nicht sowohl die Kirche, die Gemein¬
schaft der Gläubigen oder anch nur die Hierarchie, als vielmehr der Staat
und die Vürecmkratie zur Kirche reden. Es ist der erste, wiewohl sehr vor¬
sichtige und beinahe ängstliche Versuch, der Kirche vorzuschreiben, was sie in
des Staates Interesse thun oder lassen soll. Wir fürchten, daß dabei der
Staat nichts gewinnen, die evangelische Kirche aber schweren Schaden leiden
wird. Man darf gespannt sein, wie sich die Geistlichen und die kirchlich ge-
sinnteil Laien zu dieser und zu etwaigen schärfern Kundgebungen stellen werden.
Namentlich wird viel auf die Haltung eines viel angefeindeten Mannes an¬
kommen, dem, wie man auch sonst über ihn denken mag, der Ruhm gebührt,
der Vater der sozialen Bewegung innerhalb des gebildeten Bürgertums zu sein.
Wir können nicht glauben, daß Stöcker das Werk seines Lebens mit schnöder
Fahnenflucht beschließen werde. Es ist kaum zu bezweifeln, daß den gegen die
Geistlichen gerichteten Ermahnungen auch Maßregelungen gegen die Beamten,
Lehrer und sonst dem Staate erreichbare Personen folgen werden, die man
der sozialdemokratischen Gesinnung beschuldigt, weil sie den Arbeitern volle
Koalitionsfreiheit, hohe Löhne, kurze Arbeitszeit und gesunde Wohnungen
gönnen, weil sie in dem politischen Glaubensbekenntnis kein Hindernis bei Aus¬
übung der staatsbürgerlichen Rechte oder gar einen Überführungs- oder Straf-
abmessungsgrund vor Gericht erblicken mögen, weil sie auch in den Deutschen
der untern Klassen Deutsche von ihrem Fleisch und Blut erkennen. Erst wenn
auch diese „Affiliirten" der Sozialdemokratie denselben Verfolgungen ausgesetzt
sein werden wie die wirklichen Sozicildemvkraten, wird sich zeigen, wie tief die
soziale Bewegung der gebildeten Klaffen geht. Wir halten sie heute schon sür
zu stark, als daß ihre Widersacher sie zu dämpfen vermöchten.
er Figaro hat neulich einen seiner Redakteure, Herrn Se. Cvre,
ausgesandt, um die Stimmung der Italiener gegen Frankreich
zu erkunden. Der Berichterstatter hat seinen Landsleuten eine
Menge bitterer Wahrheiten heimgebracht. So lautet der letzte
Satz seines Berichts: 1l n'^ g. p^s clss s^mpMtiss «mers los peuxlss,
U n> g ach iiMMs. Die königlich preußische Regierung aber sandte
jüngst Herrn Wasferbauinspektor Shmpher nach Schlesien; ich glaube, er Hütte
seineu Reisebericht mit demselben Satze schließen können: Die Schlesier haben
keine Sympathien (nämlich für den Rhein-Weser-Elbekanal), sie habe» nur
Interessen (nämlich die eignen). Die haben aber nicht nur die Schlesier, sondern
die hat jedermann, und der Satz des Herrn Se. Cöre ist so richtig wie der
des Herrn Shmpher es wäre: zwischen Ost und West sind Interessengegensätze
vorhanden, mit denen der Staatsmann wie der Volkswirt als mit gegebnen
Größen rechnen muß.
Es wird jetzt so viel geschmühlt über die Roheit der Interessenpolitik,
und doch ist das sehr falsch. Aus vielen Steinen baut man ein Haus, aus
vielen Interessen bildet sich der Staat. Aber die Steine müssen gegen
einander abgepaßt werden, sonst geben sie kein Ganzes; scharfe Kanten und
Ecken fallen dabei weg, sie schleifen sich von selber ab. Früher freilich liebte
man es, seinen Interessen ein Mäntelchen umzuhängen. Ich ziehe den
jetzigen Zustand vor: kehrt eure Interessen heraus und gleicht sie im Staate
gegen einander aus, und worüber ihr euch nicht einigen könnt, das wird un¬
erbittlich hinweggefegt von den wirtschaftlichen Gewalten, die auch ohne Zuthun
des Einzelnen unablässig arbeiten an dem Ausgleich, an der Herstellung des
Gleichgewichts, am sozialen Frieden.
Unstreitig ist die erste dieser Gewalten der Verkehr. Das ist so richtig,
daß man sagen kann: Interessengegensätze entstehen, wo kein Verkehr ist. Ober¬
deutschland blühte empor und zog nach der Levante; Niederdeutschland ward
stark und erbaute von der Hanse Gnaden seine Faktoreien im Norden. Keiner
wußte vom andern. Oberdeutschland zog nach Italien, nach Bologna, um
dort im römischen Geist seine Bildung zu suchen; Niederdeutschland studirte
in Leyden und schuf die Richtung des Humanismus, die den Reformatoren
die Wege geebnet hat. Sie wußten wenig von einander, und weil es am be¬
fruchtenden Verkehr zwischen ihnen fehlte, so ging ein Riß durch die Nation,
ein Riß im wirtschaftlichen, ein Riß im geistigen Leben. Hätte der alte Grundsatz
des Udsrum eominöi'vom, des freien Verkehrs, nicht bloß in Bullen und
Büchern gestanden, wäre er im alten deutschen Reich lebendig geblieben, es
Hütte nicht zerfallen können. Und erst als im Zollverein die Verkehrseinheit ge¬
funden war, konnte sich das neue Reich zusammenfinden. Als aber noch siebzehn
Zoll- und Verkehrsgrenzen zwischen Köln und Posen lagen, sagte mit Recht
der geistreiche Abb<z de Pratt: „Die Deutschen sind eingesperrt wie Menagerie¬
tiere in den Käfigen; sie können einander brüllen hören, aber nicht zu einander
gelangen, denn es sind Gitter im Wege."
Um im Bilde zu bleiben: es wird jetzt wieder gebrüllt. Die Käfige sind
größer, die Tiere sind größer, ihr Kampf würde folgenschwerer sein, wenn
sie einander in die Haare geraten sollten. Da kommt der Rhein-Weser-Elbe-
kanal und wird als Thür zwischen beiden Käfigen aufgezogen: was Wunder,
der schwächere fürchtet sich, er sucht sich zu schützen, die Thür wieder zu¬
zuschlagen, und das Ergebnis ist — Ablehnung des Dortmund-Rheinkanals
im preußischen Landtage.
Doch lassen wir das häßliche Bild, und untersuchen wir den zwischen Osten
und Westen zu Tage getretenen Gegensatz auf seine Berechtigung. Wo kommt
er her? Wie ist er entstanden? Er besteht von Alters her, das wissen wir
alle, er ist geschichtlich geworden. Sehen wir zu, wie das gekommen ist.
Wenn man auf die deutschen Stämme zur Zeit der Völkerwanderung hin¬
blickt, auf das Chaos, das damals war, so kann man Deutschland mit einem
Körper vergleichen, der sich, wie die Erde nach der Kant-Laplaceschen Welt¬
theorie, aus einer Gasmasse verdichtet hat. Die einzelnen Bestandteile diffun-
diren über unbestimmte Grenzen. Der Verkehr zwischen ihnen ist gering.
Der Göte ist Gode, was geht ihn der Chatte an? Das Reich Karls des
Großen und seiner Nachfolger ist kein Staat, sondern eine Welthierarchie mit
zwei Köpfen: Kaiser und Papst. Die eigentlichen Staatsausgaben fallen ört¬
lichen Gewalthabern und Mächten zu. Diese haben aber nur ihr eignes Interesse
und schließen sich gegen einander ab. Der Verkehr bleibt in örtliche Fesseln
gebannt, und nur wo er diese einmal durchbricht, zeigt sich eine kurze Blüte
des Landes. So bleibt es bis in die neue Zeit.
Aber merkwürdigerweise sind alle diese abgeschlossenen Lünderteile in einem
Punkt einmütig bei der Arbeit: in der Kolonisation des Ostens. Das Deutschtum
dringt vor in Österreich, Ungarn, Siebenbürgen, Mähren und Böhmen; es
wirft im Ostseebezirk Slawen und Prutenen zurück, und in die Brandenburger
Marken, nach Pommern, Mecklenburg, Schlesien wandern einträchtiglich mit
einander Franken, Westfalen, Niedersachsen und Thüringer. Der deutsche
Orden erobert Preußen; unter seinen Fahnen fechten fränkische, sächsische,
schwäbische Edle. Bauern und Bürger schieben sich nach, in gleicher Mischung
aus allen deutschen Gauen. Und die Slawengefahr, Kriegs- und Leibcsnot
Schweiße die Scharen zusammen, daß sie ihre Stämme vergessen und sich sühlen
als eine Nation, als Deutsche unter den halben Barbaren. Ein Gegensatz zur
Heimat bildet sich hier noch nicht. Kaufleute ziehen von hüben und drüben.
Das Reich giebt Hilfe, wenn die Not dringend wird. Man hält die Ostmarken
wert. Die hohenzollerschen Franken bilden ein festes Bindeglied. Aber das
Reich bekommt bald mit sich selbst zu thun. Der Orden der Deutschritter
zerfällt, von der Heimat schnöde im Stich gelassen. Die Ostlinge bauen ihren
eignen Staat, und allmählich ist die nahe Beziehung im Westen und Süden
vergessen. Der Osten macht von sich reden; aber es ist meist die Person
einzelner großer Fürsten, die Interesse erweckt. Land und Leute, ihre Art und
Sitte. Denkweise und Lebensgewohnheit kennt man nicht. Der Handel des
Ostens geht über die See seine eignen Wege. So wird man einander fremd
und bleibt einander fremd bis in den Anfang dieses Jahrhunderts. Es fehlt
der Verkehr und damit die Gemeinsamkeit der Interessen.
Im Reiche aber ist man unterdes nicht vorwärts-, sondern zurückgekommen.
Kriege zerfleischen das Land. Die wirtschaftliche Einheit kann sich nirgends
durchringen. Denn die Adern ihres Organismus, die Verkehrswege, werden
geschröpft und unterbunden, wo es nur angeht. Um der Landräuber, um der
Zölle, Auflagen, Schoß- und Kopfgelder halben weicht der Verkehr von den
Landstraßen auf das Wasser, um der Seeräuber, Passagezölle, Durchgangs¬
steuern, Stapelgelder halben flieht er später wieder vom Wasser auf die neue,
die freie Eisenbahn. Das Land, auch im Westen, ist wenig entwickelt. Frankreich
giebt kein Absatzgebiet, denn ein englischer Schriftsteller jener Zeit sagt von ihm:
„In der Bibel steht, es sei schwer, daß ein Kamel durch ein Nadelöhr gehe;
aber leichter noch geht das Kamel durch das Nadelöhr, als eine Nadel über
die französische Grenze." Die kleinen Staaten kujoniren einander aufs er¬
bärmlichste; oft ist der Rohstoff vom Fabrikat, das Halbfabrikat vom Ganz¬
fabrikat getrennt, die Manufaktur vom Markt, der Produzent vom Kon¬
sumenten.
Da kommt Napoleon und die Fremdherrschaft. Er ist es, der zuerst das
Land östlich und westlich von der Elbe auch politisch und ausdrücklich scheidet. Der
Rheinbund blüht empor, ein großes einheitliches Wirtschaftsgebiet. Der Kaiser
duldet keinerlei innere Schranken. Der Verkehr nimmt neuen Anlauf und braucht
an Frankreichs Grenzen nicht Halt zu machen. Ein Hauch der Freiheit weht
herein aus dem größern Lande, er giebt größern Blick, höhere Gesichtspunkte.
Die Kontinentalsperre schützt; rasch wächst Industrie heran, und das Land be¬
findet sich so wohl wie kaum zuvor. Wenn nur die Fremdherrschaft nicht
wäre! Aber die Fremdherrschaft fällt, sie fällt, noch ehe der große Kanal
von Paris über Maas und Scheide, Rhein, Weser und Elbe bis zum Schwarzen
Meer zur Ausführung kommt.
Nun war Osten und Westen ein Wirtschaftsgebiet, wenigstens soweit es
preußisch war. Aber das Antlitz des Westens blieb nach Frankreich gerichtet,
dessen Grenze sich ihm wieder schloß wie ein verbotenes Paradies. Wohl war
die nationale Begeisterung aufgeflammt, aber hinterher: was war hier der
Osten? Im Königreich Westfalen hatte man eine überaus einfache Verwaltung
gehabt, fern von jedem Bürokratismus. Hatten doch die großen Gründer
des Zollvereins, die Maaßen, Kühne, Motz, nach einander in König Jerümcs
Diensten gestanden; man hatte andern Wind um seiue Stirn gefühlt. Die
Kontinentalsperre fiel, und die junge Industrie kam in Not. Man schob es
auf den Osten. Der aber sah seinerseits scheel auf den Westen. Denn er hatte,
ausgesogen von kolossaler Kriegskontributivn, in höherm Maße die Opfer des
Freiheitskampfes getragen als der begüterte Westen. Und doch wandte sich
diesem zunächst das Interesse der Regierung zu. Zwar die Verordnung vom
16. Juni 1816 hatte auch für den Osten alle Wasser-, Binnen- und Prvvinzial-
zölle beseitigt, und er hatte seit dem Großen Kurfürsten und Friedrich II. ein
selbständiges gutes Kanalnetz. Aber sonst war ihm nichts geblieben, „als der
nackte thatkräftige Arm und die warme Sorge für den Rest der von Krieg
und Hunger verschonten Familienglieder."
Das gab nicht nur Fremdheit, das gab auch Gegensätze, die scharf genug
waren. Der berühmte preußische Tarif von 1818 schuf zwar Osten und Westen
endgiltig zu einem einzigen Wirtschaftsganzen. Aber es waren ungleiche Brüder,
die man zusammenschloß. Alle Feindschaft, die gegen diesen Tarif erstand, er¬
stand auch gegen seiue Geburtsstätte, den preußischen Osten. Der süddeutsche
Barde Biedermaier griff in die Saiten seiner württembergischen Leier und sang
im Stuttgarter Morgenblatt das schöne Distichon: „Hohenzollern, dn Schloß,
dem die preußischen Kön'ge entstammen, welch einen schrecklichen Zoll hat uns
dein Sprößling gebracht!" Nassau aber, der patriotische Großstaat, schloß um
diese Zeit ein Schutz- und Trutzbüudnis mit Frankreich ab (Zcmtrö ig. Q^eMtv
ZMWiöuns. Und solche Stimmungen fanden ihren lebhaften Wiederhall auch
im preußischen Westen, und was man dagegen sagte und schrieb, stieß im
Osten an. Der östlich-preußische Bureaukrat und der zugeknöpfte westliche
Patrizier paßten schlecht zu einander. Um diese Zeit war der Gegensatz
zwischen Osten und Westen am stärksten.
Da beginnt spinnengleich die Eisenbahn das Land zu bestricken. Eine neue
Zeit bricht an: Verkehr drängt Verkehr. Der Westen wird aufmerksam; die
engherzige Wupperthaler Patriziergesellschaft blickt auf nach Osten, wo sie ver¬
dienen kann, sie gründet in Breslau Filialen. Von Aachen, von Düren geht
man hinüber und kommt herüber. Freundschaften und Verwandtschaften bleiben
nicht aus. Noch heute finden sich dieselben Namen am Rhein und in Schlesien.
Der Osten ist noch roh, aber er verspricht doch viel. Es wandert Kapital
hin und schlägt die Brücke. Der Westen ist Industrieland, der Osten soll es
langsam werden. Es kommt die Vermittlung Stück für Stück: erst 1854
treten Hannover, Oldenburg, der „Steuerverein" dem Zollverein bei. Da
wird noch in den „Bemerkungen über die Zollvereinsergebnisse für das
siebente Semester 1854" die größere Wohlhabenheit Hannovers ausdrücklich
angeführt, insbesondre seine Abneigung gegen Surrogate, namentlich den
Rübenzucker. (!)
Es folgt die Schweißuug von 1866. Sie war so segensreich, weil sie nicht
nur ein örtliches, sondern auch ein wirtschaftliches Mittelglied schuf zwischen
Osten und Westen und bei Frankfurt die Brücke nach Süden hin schlug.
Hannover war etwas besondres; es war nicht Industrieland, aber auch nicht
Agrarstcmt. Jedenfalls war es wohlhabend und aufnahmefähig. Da zeigte
sich ein neues Absatzgebiet für beide Enden des Reichs.
Noch ist die Scheidung stark, denn die Natur giebt sie. Aber sie giebt
auch die Vermittlung. Mitten zwischen der oberschlesischen und der rheinischen
Kohle liegt die sächsische, und zwischen beiden schiebt sich die böhmische Braun¬
kohle ein. Im Königreich Sachsen entwickelt sich rasch eine Großindustrie, die
sich allmählich bis in die Lausitz fortpflanzt und den agrarischen Charakter
des Ostens verändert. Der Handel schlüge Brücken. Von der Ostsee geht
das Getreide nach Mannheim; aus Dcinzig und Königsberg kommt nicht nur
russische, sondern anch deutsche Fracht. Breslau, die alte Handelsstadt, hat
freilich die Artikel gewechselt, die es früher als Stapelplatz der slawischen Gaue
führte, aber sie handelt doch nach dem Westen. Schlesien, das „reiche Land,
die Perle in der Krone Preußens," exportirt, und zwar uicht nur Getreide
und uicht nur Produkte des oberschlesischen Hüttenreviers. Neue Gewerbs-
thütigkeit bricht sich Bahn: die Zuckerindnstrie, die chemische Industrie, die
Textilindustrie, die Industrie der Erde und der Steine. Und die Hauptsache: es
ersteht die Reichshauptstadt nicht nur als ein Handelsplatz, sondern als ein
Jndustrieplatz ersten Ranges — Berlin hat nach der letzten Zahlung 4444
Fabriken!—, der seinen Millionengürtel weiterspannt und die Fabrikschlote
hinausschiebt in die friedlichen Äcker, bis nach Mecklenburg hinein, wo Zucker¬
fabriken begründet werden. Je mehr die Entwicklung vorwärtsgehe, desto rascher
kommt der Ausgleich, er kommt ganz von selber.
Aber gewisse Gegensätze bleiben doch. Zweierlei regiert den Staat: der
westliche Jndustriemcignat und der östliche Landmagnat. Die Regierung steht
zwischen beiden. Giebt sie der Industrie, so denkt sie seit langem zuerst an
den Westen, und giebt sie der Landwirtschaft, so denkt sie an den Osten. Die
Landwirtschaft im Westen, die Industrie im Osten ist nicht selten unzufrieden.
Ein Grund hierfür ist freilich nicht immer vorhanden. Aber es herrscht ein
gewisser Neid, und bekommt der eine, so erwacht gleich im andern die Furcht,
daß bei ihm die knappe Decke zu kurz werden könnte. Und dann: man liebt
auch seinen alten Haß, und bietet sich die Gelegenheit, so hegt man gern die
lcmggewohnte und kaltgestellte Empfindung. So steht die Schlacht.
Aber ehe wir untersuchen, welcher der beiden Gegner im Rechte ist, sehen
wir erst einmal zu, ob denn der ganze Streit zu Recht besteht, ob man nicht
beide Gegner nach Hause schicken sollte. Lebten wir in der Vereinsamung, und
gäbe es nichts in der Welt als unser deutsches Vaterland, lebten wir ferner
nur als eine Masse wirtschaftender Einzelwesen und bildeten keinen geschlossenen
Staatsorganismus, so könnten wir dem Streite der Meinungen wohl mit ver¬
schränkten Armen zusehen. Aber wir leben im Staate, sogar in einer be¬
sondern Form des Staats, im Nationalstaate. Was ist heute seine Haupt¬
aufgabe? Es ist der Ausgleich der wirtschaftlichen Interessen. Der Staat muß
mit ihnen allen rechnen; aber auch sie alle müssen mit dem Staate rechnen,
denn dieses Gebilde vereinigt in sich eine Potenz von Einfluß und Macht,
gegen die jede Einzelströmung nichtig erscheint. Aus dieser Machtvollkommen¬
heit aber erwächst dem Staate die Verpflichtung, mit höchster Einsicht und ab¬
wägender Gerechtigkeit zu verfahren, allenthalben und überall. Er darf keine
Gunst und Ungunst kennen; wie die Justitia, muß er wagen, was recht, d. h.
was sür alle nützlich ist, aber er soll keine Binde vor den Augen haben, sondern
er soll scharf zusehen, damit ihm nichts entgeht. Gesetzt den Fall, es wäre
irgendwo eine Industrie entstanden, und diese Industrie, die viele Bürger nährte
und mehrere schmückte und ihnen Brot und Helmstädt und Lebensinhalt gäbe,
würde notleidend; es träte irgend ein Umstand ein, der ihr Dasein gefährdete
und mit ihr die, die ihre Trüger sind. Sie ruft nach dem Staate, dem starken
Helfer. Wird er sie unter allen Umstünden hören? Hören gewiß; aber helfen
wird er ihr nur, wenn die Hilfe möglich ist ohne den Schaden der andern, die
ebenfalls den Staat bilden und aufrecht halten. Denn der Staat ist ein Orga¬
nismus, wie irgend einer, und er ist ein volkswirtschaftlicher Organismus oder
vielmehr der einzige volkswirtschaftliche Organismus, den wir haben. Eine
sogenannte Volkswirtschaft, die nicht zugleich Staatswirtschaft ist, wie sie viele
Nationalökonomen lehren, lehne ich ab. weil ich sie für eine Konstruktion halte,
die der wirklichen Grundlage entbehrt. Das aber können wir zu unsrer Freude
und Genugthuung sagen: wir haben in Deutschland und in seinen Interessen¬
vertretungen eine sehr große Anzahl von Männern, denen diese Auffassung vom
Staatsorganismus in Fleisch und Blut übergegangen ist, und die in ihrer Ar¬
beit in Vereinen. Körperschaften und Handelskammern stets die Mäßigung und
Klärung für die Forderungen ihrer Kreise finden, die ein gedeihliches Fort¬
bestehen des Ganzen verbürgt. Darum dürfen wir auch hier, wo der alte
Widerstreit zu erwachen scheint zwischen so gewaltigen Mächten, wie dem Osten
und dem Westen des Reichs, hoffen, daß das Schwert der Feindseligkeit in me
Scheide gesteckt werden wird, kaum daß es gezogen ist. zum Wohle des Ganzen;
daß kein ersprießliches Werk gehindert werden wird, weil es in erster Linie den
einem und vielleicht erst in zweiter Linie dem andern dient.
Ich sagte oben, wir lebten nicht nur im Nationalstaate, sondern wir lebten
auch nicht allein in der Welt. Und in der That: der nationale Markt sei unsre
erste Sorge, aber gleich die zweite sei unsre Stellung auf dem Weltmarkt. Und
warum bedürfen wir dessen? Weil unser Land arm. unsre Erde nicht überall
fruchtbar und der hungrigen Mäuler gar viele sind. Die Bevölkerung wächst, ihr
Hunger wächst mit ihr, aber die Produktionskraft des Grund und Bodens ist nicht
gleich schnell zu erhöhen. Schon heute können wir nicht mehr hervorbringen,
was wir verzehren. Deutschland gehört zu den Getreideeinfuhrländern. Wohl
dem Lande, innerhalb dessen Grenzen sich alles findet, was zur Nahrung und
Notdurft seiner Bewohner nötig ist! Wohl dem Lande, das wenigstens den
Löwenanteil dieses Bedarfs in der Heimat zu decken weiß! Darum soll die
Landwirtschaft unser liebstes Pflegekind sein, und wir sollen sie unter allen
Umständen so halten, daß sie alles erzengen kann, was die natürlichen
Verhältnisse gestatten. Aber für Deutschland genügt das schon heute nicht,
und das Fehlende muß ersetzt werden. Es wird aber ersetzt durch den andern
wichtigsten Bestandteil unsrer Wirtschaft, durch die Industrie. Der Fleiß der
Hände und Köpfe ist nicht abhängig von der Ertragfnhigkeit des Bodens; er
kann schaffen und sich regen, solange die Kraft reicht, diese lebendige Kraft,
die sich aus der Bevölkerung heraus in nie versiegenden Strome entwickelt. Der
Gewerbfleiß, die Industrie tritt in die Lücke; sie geht hinaus in die Welt und
wüscht gegen ihre Produkte Werte, die für die Heimat die Nahrung schaffen.
Draußen auf dem Weltmarkte ist nicht immer gut sein; eisig pfeift da der
Sturm der Konkurrenz, und wer nicht das Blut voller Lebensfähigkeit in seinen
Adern fühlt, wird hinweggeweht aus der Gemeinschaft des Wettbewerbs. Unsre
Industriellen, die sich und ihr Kapital hinauswagen in die unsichre Fremde,
sie sind die Pioniere nicht nur unsers Fortschritts, sondern auch unsers Wohl¬
stands, die Vorkämpfer für die Erhaltung unsrer Lebensfähigkeit. Sie holen
von draußen, was drinnen fehlt. Sollen wir ihnen nicht dankbar sein und
ein übriges für sie thun, wenn es not thut? Die Schiffahrt bahnt die Wege
nach außen. Unsre Reederei ist die zweite der Welt. Millionen über Mil¬
lionen sind in ihr festgelegt. Sie erheischt gleiche Rücksicht, sie, die den deut¬
schen Namen in fremde Länder trügt und zu Ehren bringt. Nach alledem ist
also der Fortbestand unsrer Ausfuhr, die Behauptung unsrer Stellung auf
dem Weltmarkte recht eigentlich eine Lebensfrage. Die Rücksicht auf die Be¬
dürfnisse der Industrie als Exportindustrie stellt deshalb eine staatswirtschaft¬
liche Richtschnur dar, von der eine weise Regierung nicht leicht abweichen wird.
Erhaltung der Landwirtschaft daheim, Erhaltung der Exportfähigkeit der In¬
dustrie für den Auslandsmarkt — das sind wichtige Schranken, denen gegen¬
über jeder halt machen soll, der seine persönlichen Interessen in der Öffent¬
lichkeit vertritt, und das sind auch die Gesichtspunkte, unter denen der
Interessengegensatz zwischen dem Osten und Westen betrachtet werden muß.
Gehen wir nun zu der Frage über, die diesen alten Gegensatz — wir hoffen
nur sür einen Augenblick — wieder aufleben läßt: zur Frage des Rhein-Weser-
Elbekanals. Die Regierungsvorlage betreffend den Kanal zwischen Dortmund
und dem Rhein ist am 18. Mai v. I. im preußischen Landtage mit 186 gegen
116 Stimmen abgelehnt worden. Vielleicht war es nicht richtig, nur eine
Teilstrecke der ganzen großen Wasserstraße zur Vorlage zu bringen, eine Teil¬
strecke, die weit im Westen liegt, und deren wirtschaftlicher Nutzen dem Osten
etwas fern steht. Abgekehrt ist die Vorlage offenbar infolge von Verstimmung
des Ostens, insbesondre des landwirtschaftlichen Ostens. Mit Bedauern aber
haben wir, hören müssen — wenn die Berichte darüber auch mehr oder we¬
niger lückenhaft sind —, daß sich neuerdings auch der industrielle Osten gegen
die Vorlage wendet. Er tritt als Gegner auf, wenn auch nicht als grund¬
sätzlicher Gegner.
Die Frage der wirtschaftlichen Bedeutung des Rhein-Weser-Elbekanals ist
meiner Ansicht nach noch lange nicht genügend studirt. Die Begründung der
Vorlage vom vorigen Jahre weist arge Lücken auf. Die Regierung hat eine
unglückliche Hand gehabt; sie hat die Prüfung der wirtschaftlichen Verhältnisse
wiederholt in die Hände von Laien gelegt. Ich sage Laien, denn eine so
tief in die wirtschaftlichen Verhältnisse einschneidende Frage kann unmöglich
von Technikern genügend geprüft werden, wie es thatsächlich geschehen ist. Ich
war einmal in einer Vorstands- oder Ausschußsitzung eines unsrer größten
Kanalvereine. Da hörte ich aus dem Munde eines sonst sehr begabten und
tüchtigen Negierungstechnikers, der hernach auch mit der Prüfung der wirt¬
schaftlichen Seite der Frage beauftragt war, den Ausspruch, es sei noch sehr
zweifelhaft, ob man den Rhein-Weser-Elbekanal bis in den Rhein selbst durch¬
führen werde; hätte doch die holländische Konkurrenz dann freie Einfahrt ins
Land, und das sei hoch bedenklich. Nun, den Mann, der das gesagt hat,
schütze ich hoch als Autorität seines Faches; ich tadle ihn auch nicht um dieses
Ausspruchs halber, denn er ist eben kein Volkswirt, und im deutschen Reiche
muß man Fachmann sein, um ein Urteil abzugeben. Ich tadle nicht ihn,
sondern ich tadle die Regierung, die ihn an diese Stelle gesetzt hat. Wohl
haben wir eine Reihe Geschäftsführer in unsern Kanalvereinen, die auch
nicht von Haus aus Volkswirte waren; aber sie sind es doch geworden und
haben Gutes geleistet. Wer aber bisher dem Fache fremd war und plötzlich
einen solchen Auftrag bekommt, der kann nicht gerade der beste Verteidiger
einer wirtschaftlichen Position im Kampfe genannt werden. Dessen sind sich
auch unsre überaus tüchtigen Techniker bewußt, und die Übernahme derartiger
Aufträge zählt nicht gerade zu ihren Freuden. Aber es heißt gehorchen. Außer
den Arbeiten der hannöverschen Ausschüsse kenne ich nur eine Arbeit aus
Vreslau. die tiefer in die Sache eingedrungen ist. Die zahllosen Einzelgut¬
achten von Handelskammern. Magistraten usw. aber sind nicht genügend be¬
nutzt und ausgebeutet, sind auch nicht überall mit der genanen Kenntnis der
begutachtenden Stellen studirt worden, die die Urteile oder ihren Wert erst ins
rechte Licht rückt. Die einzige Entschuldigung. die sich sür die Regierung an¬
führen läßt, klingt beinahe absurd, ist aber leider richtig: die Regierung hat
eben keine Volkswirte.
Als ich zuerst an die Beurteilung der Sache heranging, dachte ich offen
gestanden daran, einen statistischen Nachweis für die Unstatthaftigkeit des er¬
wachten Gegensatzes zu liefern. Ich wollte zeigen, daß sich Vorteile auf beiden
Seiten finden, sich aber mit den Nachteilen ausgleichen. Denn daß die Sta¬
tistik dies ergeben muß, liegt für den objektiven Beurteiler auf der Hand. Ich
turnte gewaltige Zahlenreihen ans: erst den Umfang der Ost- und der West¬
industrie, die Transportmengen, die Trausportwege, die Frachtsätze, die Ein-
und Ausfuhr. Dann ging ich daran, den Konsum der Hauptmassenartikel für
den Kopf der Bevölkerung festzustellen und ihn zu der Dichtigkeit in den ein¬
zelnen Provinzen in Beziehung zu setzen. Ich nahm die Wnsserstände der be¬
deuteten Flüsse und Kanäle auf, ihre Tragfähigkeit usw. Aber je mehr ich
Zahlen auf Zahlen häufte, desto mehr wurde mir klar, daß die Aufstellung
solcher Exempel, wie sast überall, so auch hier zwecklos, ja sogar falsch und
gefährlich sei. Warum? Weil sie bestimmten einzelnen Erwerbszweigen, Fabri-
kationsgrnppcn und Interessentenkreisen nnr neue und schärfere Waffen zum
Kampfe liefern würde, und zwar beiden Seiten, dem Osten wie dem Westen.
Was wir wollen, ist aber nicht der Kampf, sondern der Friede. Es sollen
nicht die einzelnen Svnderinteressen aufgerufen und gegeneinandergestellt werden;
es soll nicht darnach addirt und subtrahirt werden, und wo sich die größere
Schlußsumme ergiebt. etwa die Entscheidung hinfallet,. Solche schematische
Behandlung könnte zu schlimmen Fehlern führen: wer am lautesten schriee und
seine Zahlen in die beste Beleuchtung zu setzen wüßte, der schösse deu Vogel
ab, gleichviel ob mit Recht oder Unrecht. So manches könnte dabei auch über¬
sehen werden. Gewiß, von einer vergleichenden Abwägung der Stimmen, die
da laut werden, soll das Ergebnis beeinflußt werden. Aber ausschlaggebend
für die Entscheidung dürfen nur die Gesichtspunkte sein, die ich oben als
wahrhaft ftaatswirtschaftlich bezeichnet habe. Bei einer einfach zahlenmäßigen
Gegenüberstellung der Frachtsätze, Transportmengen, Absatzgelegenheiten würde
beispielsweise eins ganz unberücksichtigt bleiben: das Interesse der Millionen
von Konsumenten, die die Sache erst fühlen, wenn sie schon fertig ist, und die
vorher kaum Veranlassung nehmen werden, ihre Stimme zur öffentlichen Er¬
örterung zu erheben.
Da ich nun meine eignen Zahlen nicht reden lassen wollte, habe ich mich
um die andern gekümmert, die bisher aufgetaucht find. Ich kann die Fracht-
und die Neuberechnungen oder Gewinnberechnungen beider Parteien hier nicht
vorlegen, denn ich habe nur vertraulich hineinblicken dürfen. Ich kaun nur
versichern, daß meiner Ansicht nach die Breslauer zu schwarz, die Westlinge
zu rosig rechneten. Ich bedaure auch, aussprechen zu müssen, daß die Rechner
über ihren Exempeln die allgemeinen Gesichtspunkte fast ganz versäumt haben.
Wenn die Schlesier z. B. erklären: „wir erkennen die Wichtigkeit des Kanals
an" oder ähnlich — „aber," so zeigt dieses „aber," daß die erste Wendung
wenig mehr ist als eine höfliche Verbeugung. Wer nicht anerkennen wollte,
daß der Kanal für unser Vaterland von größter Bedeutung ist, der machte
sich heute bereits zur lustigen Person. Wenn aber eine der ostländischer
Körperschaften soweit geht, nackt und bloß zu verkünden, der Kanal sei nur
wichtig „für den Güterabsatz der westlich von der Elbe gelegnen Gebiete," so
erscheint mir das sehr kurzsichtig, und wenn sie gar sagt, daß der Mittelland¬
kanal nicht eher ins Leben gerufen werden dürfe, als bis ihrem Bezirke für
den Absatz seiner Jndustrieerzeugnisfe eine vollständige und genügende Ent¬
schädigung gegeben worden sei, so ist das eine sehr bedauerliche Auffassung.
Ich glaube, in Frankreich wäre sie in der einen Gegend des Landes gegen die
andre nicht möglich gewesen.
Was ist vor der Konzessionirung der ersten Eisenbahn in Baiern alles ge¬
schrieben und geglaubt worden! „Die Eisenbahnen erleichtern") das Vordringen
eines fremden Kriegsheeres (es ist gewiß, daß Napoleon 1812 Rußland erobert
hätte, wenn dort Eisenbahnen gewesen wären); die inländische Pferdezucht, an
deren Erhaltung doch auch dem Militär viel gelegen sein muß, wird ruinirt.
Deutschland hat weder die Kapitalien noch den Verkehr, eine Eisenbahn bauen
zu können, in England und Frankreich, ja selbst in Nußland und Österreich
sind ganz andre Verhältnisse. Süddeutschland hat keinen Handel auf weitere
Entfernungen und braucht keine solchen Erleichterungen des Verkehrs, es fehlt
an Verkehr; der bisher hier vorhcmdne in Mannheim, Heilbronn, Straßburg,
am Main und in Nürnberg wird, weil er hauptsächlich Speditions- und
Transithandel ist, vernichtet werden, die Staatsfinanzen werden ruinirt, denn
die Dvmäuengesälle sinken bei dem allgemeinen Sinken der Preise, die Wcg-
geldeinnahmen hören auf, die allgemeine Verarmung wird sich in den Steuern
geltend machen; die ausländische Konkurrenz in Fabrikaten wird das Gewerbe
ruiniren. das Spannfnhrwerk wird vernichtet; die Landwirtschaft, die bisher
-Hafer. Hen und Stroh lieferte, schwer geschädigt; der Untergang aller mit
dem Spannfnhrwerk zusammenhängenden städtischen und ländlichen »Nahrungen«
an den bisherigen Landstraßen, also namentlich der Gasthöfe. Schmiede. Wagner.
Sattler, Seiler, Gerber und der mit Viktualienverkauf sich beschäftigenden
Gewerbe der Metzger, Bäcker, Brauer, Branntweinbrenner. Meiler, Müller ist
sicher; der Ruin der Flußschiffahrt, namentlich auch des projektirten Main-
Donauknnals ist zweifellos; selbst die Schuhmacher und Schneider werden
nichts mehr zu thun haben (denn wer wird den nachteiligen Einfluß der Eisen¬
bahnen harter empfinden als diese, die nun. wenn alles führt und niemand
mehr geht, viele Millionen Schuhe. Stiefel. Hosen und Röcke wemger zu
machen haben werden); der Untergang einer Menge von Fabriken und Ge¬
werben, die bei der großen Konsumtion von Holz und Kohlen durch die Dampf¬
wagen und dem dadurch bewirkten Steigen der Holzpreise den Betrieb werden
einstellen müssen, ist besiegelt; die Eisenbahn ist ein absolut unzuverlässiges
Verkehrsmittel, und ihre allgemeine Einführung kann zu den größten Verkehrs¬
störungen Anlaß geben. (Wie wenn der Blitz einschlüge und durch Fortleitung
des elektrischen Feuers die Eisenbahn zerstört und somit die Kommunikation
besonders zu Meßzeiten auf Wochen und Monate unterbrochen würde, wie sollten
dann die Güter fortgeschafft werden? Etwa auf Bauerwagen?)"
Was lernen wir aus diesem Zitat: Wir lernen daraus, wie gefährlich
es ist, irgendwo und irgendwie die Wirkung volkswirtschaftlicher Maßnahmen
als verhängnisvoll hinzustellen. Oberschlesien mit seiner Industrie ist gewiß
einer der wichtigsten Plätze des Reichs, aber sicher ist das von dem
Rhein-Weser-Elbekanal berührte, und mehr noch, das von ihm beeinflußte
Gebiet viel größer und wichtiger. Aber zu sagen: wenn man mit Kultur¬
verbesserungen vorgeht, dürfe man nicht um einer Stelle des Landes be¬
ginnen, denn ehe man beginne, müsse man erst die andern entschädigen —
oder der Kulturfortschritt müsse ganz unterbleiben, das ist doch stark. Wie
sollte bei gleichen Anschauungen das Programm Freyeinets in Frankreich
verwirklicht werden? Die Agitation für den Mittellandkanal ist älter als
dieses Jahrhundert, ist beinahe älter als die Herren im Osten selbst. Mögen
sie doch erst einmal aus sich herausgehen, wie es der Westen gethan hat.
Mögen, sie erst einmal Agitationsgrnppen über ihr ganzes Gebiet bilden,
mögen sie soviel Stimmung für diese Fragen machen, daß es kein Gemein¬
wesen mehr giebt, das sich nicht dasür interessirte. Der Kanalverein in Breslau
ist ja sehr rührig und arbeitsam. Aber er möge erst einmal Komitees zu¬
sammenbringen, in denen jeder Bürgermeister, Magistrat und Stadtverordneter
sitzt, jeder Handelskammerpräsident und größerer Industrieller — denn so ist es
im Westen. Der Kanal ist nicht der Wunsch einer Anzahl Werks- und Zechen-
besitzcr, sondern er ist der Wunsch fast der gesamten Bevölkerung West- und
Mitteldeutschlands und bis weit nach Süddentschland hinein. Man sehe, wie
die Bremer sofort für ihren Anschluß an den Kanal in Thätigkeit getreten
sind; mau blicke auf die Tausende und Hunderttausende, die für Agitation,
Vorträge und Vorarbeiten ausgegeben worden sind, dann wird man nicht
daran denken, dem Ergebnisse dieses jahrzehntelangen Ringens einfach in den
Arm zu fallen und zu sagen: wir wollen hier in unsrer beschaulichen Ruhe
nicht gestört sein, darum darf nichts daraus werden! Es wird doch etwas
daraus werden und hoffentlich nicht trotz der Ostprovinze», sondern mit ihnen.
Wenn dort das Bedürfnis nach Verbesserung der Absatzgelegenheit so grosz ist, wie
neuerdings behauptet wirb, gut, so entfalte man eine entsprechende Thätigkeit, man
bringe die öffentliche Meinung auf, mobilisire das östliche Absatzgebiet. Mnu agitire
für den Anschluß, für einen direkten Oder-Elbekanal, für die Oderkanalisation.
Weder Rom noch der Rhein-Weser-Elbekanal ist an einem Tage gebaut worden,
und ehe seine Osthälfte ihre Schleusen an der Elbe öffnen wird, können
auch die östlichen Wünsche den: Thor der Erfüllung nahe sein. Es wohnen
einflußreiche Magnaten im Osten; sie zu gewinnen, wo das Interesse so klar
zu Tage liegt, ist leicht, und der Erfolg wird groß sein. Man sage nicht:
Haltet ein mit dem guten Werke, weil es uus nicht gefallen kann, sondern
man begrüße das Werk mit der Zustimmung, die ihm gebührt, fördere es
nach Kräften, bringe es durch die Schifffahrtshindernisse und Untiefen des preußi¬
schen Landtags und sage dann: jetzt ist der erste Schritt gethan auf der Bahn
des wirtschaftlichen Aufschlusses, nnn wollen wir arbeiten, daß die Ausgestaltung
für alle Teile gleich segensreich werde. Wenn der Osten diese Stellung ein¬
nimmt, wird ihn der Westen gern verstehen und wird helfen auch für das
andre Ende des Reichs mit aller seiner Kraft.
Also: sind gegenüber dem Rhein-Weser-Elbekanal für den Osten „Kom¬
pensationen" nötig und geeignet, ihm die gleichen oder ähnliche Fortschritte
zu bringen, wie sie der Westen von dem Bau des Kanals hofft, so fordere
man Negierung und Volksvertretung zur Gewährung solcher Kompensationen
auf. Aber nicht, indem man die Kanalvorlage ablehnt, sondern indem man
ihr zustimmt als der Vorbedingung, ans Grund deren auch dem Gewerbsleiße
am eignen Ende des Landes neue Absatzgelegenheiten erschlossen werden sollen.
Der Rhein-Weser-Elbekaual ist kein partikularistisches Unternehmen einzelner
Provinzen, er will dem ganzen Lande dienen. Schon Napoleon I. hat einen
besondern Plan sür diesen Kanal ausarbeiten lassen, und er war sich dabei eines
Umstandes sehr wohl bewußt, der lange nicht genng beachtet wird, und auf den
auch Zöpfl hinweist: der gewaltigen Fernwirkung der Verkehrsmittel. Die Erkennt¬
nis dieses Umstandes hat zur Folge, daß durch ganz Süddentschland Anhänger
des Planes zerstreut sind. Man sagt sich dort nicht etwa: Dadurch, daß sich Nord-
deutschland ein einheitliches Wasserstraßennetz bunt, werden wir an die Seite
gedrängt und benachteiligt, sondern man sagt sich: die Fülle der Verkehrsver-
mehrnng, die der Kanal erzeugt, wird bis zu uns überfluten, der Osten wird sich
rasch angliedern, und der Oder-Donaukanal auf der einen, der Donan-Mainkanal
auf der andern Seite wird sehr bald auch die Vereinigung des süddeutschen mit
dem norddeutschen Kanalnetz erstehen lassen. Denn wie ein Blick auf die Karte
lehrt, handelt es sich in der That um die endliche Vereinigung zwei ganzer
getrennter Wasserstraßennetze. Was würde man wohl sagen, wenn irgendwo
zwei riesige dichte Eisenbahnnetze in einem Lande neben einander lägen, und es
wollte jemand dagegen aufstehen, beide durch einen Schienenstrang zu ver¬
binden. Man würde ihn für toll halten. Merkwürdig! was bei Eisenbahnen
klar auf der Hand liegt, soll bei Wasserstraßen nicht angehen!
Es ist aber noch eine andre Rücksicht beim Bau des Kanals in Betracht
zu ziehen. Das ist der Einfluß des Nord-Ostseekanals. Moltke hat gesagt,
wir erbauten diesen Kanal für das Ausland, und das ist in gewissem
Sinne richtig: der Mittellandkanal soll ausgleichen, was der Kaiser-Wilhelm¬
kanal etwa zu Gunsten der heimischem Wirtschaft verschiebt. Und käme selbst
eine größere Menge westlicher Kohle und westlichen Eisens nach Osten als
früher — wäre da nicht in erster Linie die englische Kohleneinfuhr in Gefahr, die
noch immer, selbst bis nach Berlin (im Betrage von 200 000 Tonnen) besteht?
Sollte wirklich dem Osten plötzlich der Absatz verloren gehen? Wo soll denn
Plötzlich so viel mehr erzeugt werden? Dies könnte doch immer erst allmählich
geschehen, und bis dahin dürfte doch für den Osten ein neues Absatzgebiet
gesunden sein. Wo das liegen soll? Nun. das wird vor allem da liegen,
wo durch das Anschwelle» des Verkehrs auch ein rasches Anschwellen der Be¬
völkerung und damit der Aufnahmefähigkeit, des Verbrauchs ins Leben treten
wird. Auch die weiter östlich gelegnen Gegenden werden ihre Bedürfnisse
steigern, und Schlesien, das Ausfuhrland, das 20 Millionen Tonnen ausführt
und nur etwa 3 Millionen Tonnen einführt, wird mit Freuden das reiche
Füllhorn seiner Gaben über diese Gebiete ausschütten. Auch das Ausfallthvr
nach dem Süden dürfte durch den Oder-Donaukanal zu öffnen sein. Es hat
schon mancher Industriezweig im Laufe der Entwicklung sein Absatzgebiet ver¬
schieben müssen, ohne daß er dabei zu Grnnde ging; und gegen wirtschaftliche
Notwendigkeiten sind auch Landesgrenzen keine haltbaren Dämme. Wer will
sagen, wie lange noch Rußland handelspolitisch verschlossen bleiben wird?
Endlich noch eins. Es ist der Agitation gegen den Kanal nicht gelungen,
aus dem Unternehmen einen Schaden für die Landwirtschaft herzuleiten. Das
ist schon viel. Aber ich meine, wenn sich irgend ein Produktionszweig im
Lande des Rhein-Weser-Elbekanals freuen sollte, so wäre das die ostelbische
Landwirtschaft. Es giebt kein besseres Zeugnis für die wirtschaftliche Zweck¬
mäßigkeit des Kanals, als die Thatsache, daß er einander ergänzende Pro¬
duktions- und Konsmutionsgebiete mit einander verbindet. Der Westen braucht
Brotfrüchte. Viktualien und Nutzholz: das produzirt der Osten. Der Osten
braucht Maschinen, Werkzeuge, Kohlen, Düngemittel: die erhält er vom Westen.
Daß in der Verbindung beider ein Vorteil liegt, das wird keine künstliche
Fracht- und Absatzverrechnung verdunkeln können. Ja, wenn man Kanäle
baute, die das fremde Getreide hereinbrachte» an Stellen, die ihm bisher nicht
offen standen! Aber ein Kanal, der einen Wasserweg mitten aus dem Agrar-
gebiet mitten ins Industriegebiet schasst innerhalb einer Umrahmung von Schutz¬
zöllen, muß beiden Teilen Nutzen bringen. Wodurch soll denn der Landwirt¬
schaft geholfen werden? Etwa durch die sogenannten kleinen Mittel? Wer
glaubt das noch heute? Aber es kann ihr geholfen werden, wenn man sie
aus ihrer Verkehrsisolirung herausholt, wenn man sie dem Verbrauchsgebiete
näherrückt, wenn man ein Zuströmen der Bevölkerung, eine Steigerung des
Verkehrs an der Grenze ihres Gebiets und bis weit hinein bewirkt, sodaß auch
ihre Werte steigen, auch ihre Erzeugnisse bessere und willigere Nachfrage
finden. Ich sagte schon: die Vorbereitung der Regierungsvorlage war unter
anderm auch nach dieser Richtung mangelhaft und die Beschränkung auf den
Westteil der Vorlage ein Mißgriff. Aber dieser Mißgriff läßt sich verbessern, und
die Landwirte des Ostens werden wohl zu gewinnen sein. Ich habe irgendwo die
Ansicht aussprechen hören, durch den Kanal werde Industrie in Mitteldeutschland
geschaffen werden, diese werde neue Arbeitskräfte an sich ziehen, und diese würden
der östlichen Landwirtschaft verloren gehen. Ich glaube, das Gegenteil von
dem wird eintreten. Oder strömen vielleicht die östlichen Landarbeiter nach
Oberschlesien? Nein, lasse man das gelobte Land der Jndustriearbeit nur näher
an sich heranrücken, dann werden manchem die Augen aufgehen, wenn er es
von nahe sieht, und mancher Sachsengänger wird daheim bleiben, daheim,
wohin sich so mancher zurücksehnt, der fortzog, und dem um Entfernung und
Geldbeutel die Rückkehr zur väterlichen Pflugschar versagen. Der Verkehr
bringt nicht nur den Ausgleich, er bringt auch deu Wohlstand. Bahnen wir ihm
die Wege, auf daß bessere Tage kommen.
Daß wir zwei getrennte Kanalnetze und unter den wirtschaftlichen Nach¬
teilen dieser Einrichtung Gegensätze entwickelt haben, die nicht bestehen sollten,
das ist nur möglich gewesen durch unsre nationale Zersplitterung. Daß wir
jetzt, wo sich die Brücke bietet, zu ihrem Bau wieder nicht einmütig sind,
erinnert an den Grundfehler unsers Volkes. Möge der Osten Wünsche und
Anschlußpläne vortragen, er wird im Westen offne Ohren und Herzen finden.
Aber zunächst helfe er mit an dem großen Werke, das die Brüder des Ostens
und Westens einander nähern soll. „Wer prozessirt, verarmt; wer streitet, wird
ein karger Schlucker." Frankreich ist reich durch das einheitliche Netz seiner
Wasserstraßen. Streben wir ihm nach, nicht indem wir uns bekämpfen, sondern
indem wir uns ergänzen und ausgleichen in Nord und Süd, in Ost und West.
or etwa Jahresfrist veröffentlichte ich in diesen Blättern einen
Aufsatz über Behring und Virchow, worin ich sür Behring eine
Lanze brach und sein mannhaftes Eintreten für seine neue Ent¬
deckung gegen die Schrullen der Wissenschaft und der Ärzte ver¬
teidigte. Heute wäre eine solche Verteidigung überflüssig; die
Ohnmacht der Ärzte gegen die mörderische Krankheit verbunden mit den gün¬
stigen Berichten der Presse über das neue Mittel und mit der Notlage der
Kranken haben genügt, dem Diphtherieheilserum rasch Eingang zu verschaffen.
Dazu kam das Wohlwollen der höchsten Medizinnlbehörde Preußens und die
Freigebigkeit mancher Magistrate, die ziemlich bedeutende Mittel bewilligten,
um Versuche im großen, in Krankenhäusern zu veranstalten und auf diese
Weise sichere thatsächliche Unterlagen sür die Prüfung des Mittels auf seine
Heilwirkung und seine Ungefährlichkeit zu gewinnen. Diese Prüfung ist günstig
ausgefallen: vor mir liegt der von Professor Guttstadt verfaßte Bericht des
Ausschusses über die Ergebnisse der Sammelsorschung. die der Kultusminister
or. Bosse im Dezember 1894 über die bis zum Schlüsse des Jahres mit
Diphtherieheilserum behandelten Krankheitsfülle angeordnet hatte, und wenn
auch dieser Bericht heute durch neuere Veröffentlichungen vieler Kliniker und
Ärzte nach mancher Richtung überholt ist, so glaube ich doch, größern Kreisen
einen Dienst zu erweisen, wenn ich ihnen aus diesem zuverlässigen Material,
das aus sämtlichen Regierungsbezirken Preußens stammt, das mitteile, was
zur Beurteilung des Werth des neuen Heilmittels wichtig ist.*)
Der Bericht enthält die Beobachtungen von 1349 Ärzten über 6626
Diphtheriefälle; von diesen wurden geheilt 5726, d. h. 86,5 Prozent, es starben
855, d. h. 12,9 Prozent, in Behandlung blieben 45, d. h. 0,6 Prozent.
Von der Gesamtzahl wurden behandelt in Krankenhäusern 4460 mit
80 Prozent Heilungen, in der Privatpraxis 2166 mit 91 Prozent Heilungen.
Als unschädlich bezeichnet wurde das Mittel von den behandelnden Ärzten
4544mal, d. h. in 68,6 Prozent aller Fülle, als schädlich 60mal, d. h. in
0,88 Prozent; unentschieden gelassen wurde die Frage 82mal, d. h, in 1,2 Pro¬
zent; ohne Beurteilung blieb sie 1940mal, d.h. in 28,8 Prozent.
Über den Heilwert urteilten günstig 55,6 Prozent der Ärzte, wahrschein¬
lich günstig 30,8 Prozent, kein Urteil gaben ab 13,6 Prozent, ungünstig ur¬
teilten 0,88 Prozent der Ärzte.
Als nachteilige Folgen der Behandlung wurden angegeben: 1. Hautaus¬
schläge 548 mal ------ 8,2 Prozent, 2. Gelenkschmerzen 144mal ----- 2 Prozent,
3. Lähmungen 177mal ----- 2,2 Prozent, 4. Herzaffektionen 102 mal -----1,5 Pro¬
zent, 5. Eiweißharu 132 mal-------1,9 Prozent.
Von den so erkrankten starben 18, und zwar 3 an zunehmendem Eiwei߬
harnen, 5 an Herzstörnngen und 3 an allgemeiner Schwäche, d. h. an Folgen
der Diphtherie, die bei jeder Behandlungsart häufig sind, also dem Heilserum
nicht zugeschrieben werden dürfen.
Bei 1822 Kranken war der Kehlkopf befallen, doch wurde bei diesen der
Kehlkopfschnitt nur 886 mal, d. h. in 43 Prozent notwendig. Bei den
ursprünglich mit Rachendiphtherie behafteten Kranken stieg der Krankheits¬
prozeß nach Beginn der Serumbehandlung nur ein einziges mal zum Kehl¬
kopf herab.
Diese Zahlen des gesamten Materials sind sehr günstig. Die Einzelberichte
kommen bald zu einem sehr guten, bald zu einem schlechtern Ergebnis; so
schwanken z. B. die Heilungsprozeute in den Krankenhäusern zwischen 50 und
100, in der Privatpraxis zwischen 79 und 100.
Die ungünstigsten Zahlen für die Krankenhansbehandlung giebt Brom¬
berg: 50 Prozent; doch beträgt die der Statistik zu Grunde liegende Kranken-
zisfer mir 2, sodaß sie als Einzelgröße uicht berücksichtigt werden darf, nament¬
lich wenn man bedenkt, daß in vielen Gegenden die Krankenhäuser nur als
Zufluchtsstätten der Sterbenden benutzt werden. Ganz besonders geschieht dies
bei der Diphtherie, aus Furcht vor der Operation des Kehlkopfschnitts. In
der Privatpraxis betrug die Sterblichkeit in Bromberg bei 27 erkrankten
Kindern nur 11,1 Prozent. Ähnlich liegen die Verhältnisse in Liegnitz mit
66 Prozent Heilungen bei 12 Kranken im Krankenhause und 91 Prozent Hei¬
lungen bei 175 Kranken in der Privatpraxis. Recht günstige Ergebnisse
liefern Potsdam und Stralsund: dort betrug in den Krankenhäusern die Zahl
der Genesenen bei 52 Kranken 86 Prozent, in der Privatpraxis bei 196
Kranken 95,5 Prozent; in Stralsund lauten dieselben Zahlen 91,4 Prozent
bei 93 und 98,1 Prozent bei 52 Kranken. Verhältnismäßig ungünstig steht
Berlin da: es hatte eine Genesungsziffer von 76,4 Prozent bei 605 Kranken
in den Krankenhäusern; aus der Privatpraxis fehlen die Augciben.
Ohne Zweifel können aus diesen Zahlen nur günstige Schlüsse über die
neue Behandlungsmethode gezogen werden. Dennoch begnügt sich die Unter-
suchungskommissiou mit der sehr vorsichtigen Folgerung, „daß die weitere An¬
wendung des Heilserums um so mehr gerechtfertigt sei, als durch die staatliche
Kontrolle bei Herstellung des Präparats die Bedenken, die bisher hinsichtlich
der Güte berechtigt waren, nach Möglichkeit gehoben seien." Diese Vorsicht
im Urteil ist nur zu loben, schon deshalb, weil der ärztliche Stand eine Wieder¬
holung der furchtbaren Niederlage, die er sich bei dem Tuberkulin durch eigne
Kopflosigkeit ganz unnötig zugezogen hat. nicht ohne die schwerste Schädigung
seines ohnehin in weiten Kreisen erschütterten Ansehens ertragen würde. Aber
auch andre als diese Erwägungen empfehlen eine maßvolle Zurückhaltung.
Die Diphtherie teilt mit den meisten Seuchen die Eigenschaft, der Ausdehnung
wie der Gefährlichkeit nach auf- und abzuschwellen, und da wir uns jetzt in
der Periode der Abschwellung befinden. so muß dieser Umstand bei der Be¬
urteilung des Wertes eiues in die Praxis neu eingeführten Heilmittels un¬
bedingt mit in Rechnung gezogen werden. Um ein Beispiel zu geben: tue
Sterblichkeit an Diphtherie betrug im preußischen Staat aus 10000 Lebende
berechnet im Jahre 1880 13.5; 1881 14,6; 1882 18,0; 1883 16.5; 1884
17,5; 1885 18.8; 1886 19.2; 1387 17.6; 1888 15.6; 1839 13,0; 1890
15,4; 1891 12.0; 1392 13.4. Ein ähnliches Verhältnis wiederholt sich für
die Stadt Berlin: hier stieg die Sterblichkeit an Diphtherie auf 10 000 Lebende
berechnet von 13.0 im Jahre 1830 auf 24.3 im Jahre 1883. sank von da ab
jedes Jahr bis auf 7.8 im Jahre 1888, stieg bis 1890 auf 10,5. sank 1891
auf 6.8, stieg bis 1893 ans 9,7 und fiel 1894 wieder auf 8,0. Demnach
füllt die Einführung des Heilserums zweifellos in die Periode des Ab-
steigens des Diphtherietodes, und zwar in die Zeit seines tiefsten Standes,
sodaß in der That die mitgeteilten günstigen Zahlen nur mit großer Vor¬
sicht zu Schlüssen über seine Heilwirkung benutzt werden dürfen. Allerdings
steht die Ausdehnung der Seuchen nicht immer in geradem Verhältnis zu ihrer
Gefährlichkeit: es giebt kleine, örtlich beschränkte Epidemien mit geringer
Krankenzahl von wahrhaft mörderischen Charakter, und örtlich sehr verbreitete
von ganz gutartigen Verlauf. Dieser Charakter der Seuche wird ausgedrückt
durch das Verhältnis der Gestorbnen zu deu Erkrankten. Leider aber versagt
hier in der Regel die Statistik, weil die Zahl der Erkrankten entweder gar
nicht oder nur unzuverlässig bekannt wird. Dies gilt, wenn wir von größern
Gemeinwesen, Staaten usw. ganz absehen, selbst von Berlin, wo doch das
Meldewesen über ansteckende Krankheiten etwa seit einem Jahrzehnt sehr streng
durchgeführt wird; auch hier bleiben die Erkrankungszahlen immer sehr un¬
genau, weil viele leicht Erkrankte gar nicht in ärztliche Behandlung kommen,
und manche Ärzte selbst in schweren Fällen die Anzeige aus Rücksicht auf die
Familie und deren Geschäftsinteresse unterlassen. Deshalb muß die Erkrankungs¬
zahl immer zu niedrig, der Prozentsatz der Todesfälle immer zu hoch aus¬
fallen. So waren B. von 100 Diphtheriesterbefällen in Berlin vorher
nicht als erkrankt gemeldet in den Jahren 1383 bis 1892: 44, 34, 29, 22.
21, 29, 24, 11, 14, 17. Mit diesem Vorbehalt berechnet sich die Diphtherie¬
sterblichkeit in denselben Jahren auf: 30,5; 27.6; 35,0; 25,5; 25,7; 24,8;
28,1; 32,1; 28,8; 32,7; im Durchschnitt also auf 29,1.
Vergleicht man nun mit diesen Todeszahlen die der im Jahre 1893 in
den Berliner Krankenhäusern mit Serum behandelten Kranken (23,6, d. h. 11,4
weniger als die ungünstigste, 1,2 weniger als die günstigste und 5,5 weniger
als die Durchschnittszahl), so ist die Wahrscheinlichkeit, daß das Serum einen
vorteilhaften Einfluß auf den Verlauf und Ausgang der Krankheit ausgeübt
habe, nicht von der Hand zu weisen. Dazu kommt, daß zur Berechnung der
Prozentsätze in den Vorjahren auch die in der Privatpraxis behandelten Fülle
mit benutzt worden sind, während die Zahlen der mit Heilserum behandelten
nur aus den Krankenhäusern stammen, wodurch das Ergebnis wesentlich zu
Ungunsten der letztern verschoben wird.
Trotzdem würde ein Pessimist immer noch manche Gründe vorbringen
können, um die ganze Rechnung als nicht völlig zulässig hinzustellen und des¬
halb ihr Ergebnis zu verwerfen. Glücklicherweise liegen aber heute auch aus
dem Jahre 1894 Beobachtungen vor, die selbst dem größten Zweifler eine
günstige Auffassung abnötigen müssen. Diese Beobachtungen stammen ebenfalls
aus den Berliner Krankenhäusern und beziehen sich auf 1332 ohne Serum
und auf 1534 mit Serum behandelte Diphtheriekranke; von erstern starben
517, d. h. 38,8 Prozent, von letztern 293. d. h. 19,1 Prozent. Dazu kommt,
daß in einzelnen Krankenhäusern für die Zeit, wo die Serumbehandlung aus¬
gesetzt werden mußte, weil es ausgegangen und nicht sofort neu zu beschaffen war,
die Todeszahl jäh in die Höhe schnellte und wieder sank, sobald die Serum-
behandlnug wieder aufgenommen werden konnte. Bei dieser Art der Statistik
ist die subjektive Wertschätzung des Mittels durch die behandelnden Ärzte
völlig ausgeschlossen; nimmt man aber diese hinzu, so gewinnt dadurch
die günstige Beurteilung des neuen Mittels bedeutend. In der That wird
kein Arzt, der sich am Krankenbett über die Bösartigkeit und Heimtücke der
Diphtherie und über die Schwäche seiner Waffen gegen sie ausreichende Er¬
fahrung erworben hat, in Abrede stellen, daß eine fast wunderbare Veränderung
des Krankheitsbildes sowohl an den sichtbar ergriffnen Teilen als im allge¬
meinen fast unmittelbar nach der Einspritzung des Serums oft auch dann noch
eintritt, wenn der tötliche Ausgang nicht mehr abgewendet werden kann. In
Wirklichkeit hat der Arzt heute eine brauchbare Waffe gegen einen Feind, der
sonst jedem unmittelbaren Angriff unzugänglich war und von seinem Schlacht¬
opfer in der Regel erst abließ, nachdem er es entweder vernichtet oder nach
vielerlei Richtungen aufs schwerste geschädigt hatte. Freilich ist es trotzdem
mit der Sernmbehandlung allein nicht gethan, und ich möchte mit voller Über¬
zeugung und mit Nachdruck die Worte Professor Leidens in seinem Bericht
über die Erfolge des Kochschen Mittels bei Tuberkulose auch auf die Diph¬
therie anwenden. „Ich muß es, sagt er, eine Herabsetzung unsrer Kunst
und Wissenschaft nennen, wenn man meint, die Behandlung der Tuberkulösen
ans nichts weiter als die subkutanen Injektionen zu gründen. Der kranke
Mensch verlangt, selbst wenn ein untrügliches Spezifikum gegeben wäre, noch
mehr Rücksicht und ärztliche Behandlung. Wer in der ärztlichen Kunst nichts
weiter sieht als einen schematischen Mechanismus, der sollte dem Krankenbette
fern bleibe». Die Folgen eines so barbarischen Verfahrens können nicht aus¬
bleiben und sind nicht ausgeblieben. Wenn nicht Wissenschaft und Kunst,
Wissen und Humanität, Gewissenhaftigkeit und Sorgfalt Hand in Hand gehen,
so hat die ärztliche Kunst keine segensreiche Zukunft zu erwarten." Das sind
goldne Worte, die verdienen, von Ärzten und Laien gleichmäßig gewürdigt und
beherzigt zu werden: von den Ärzten im Interesse ihrer wissenschaftlichen und
sittlichen Ausbildung, der Humaner Ausübung ihres Berufs und der sozialen
Hebung ihres Standes; von den Laien zunächst zu ihrem eignen Vorteil und
dem der Gesamtheit in der Gesundheitspflege, sodann zum Zweck gerechterer
Würdigung der Aufgaben des Arztes, der Schwierigkeiten seines Berufs und
der Anerkennung seiner Leistungen nach der ideellen und materiellen Seite.
Denn gerade auf diesem Gebiete, wo sich die Interessenkreise beider so vielfach
schneiden, gilt der Spruch: ?sooatmr intra, muros se extra und erschwert in
hohem Maße nicht nur die Herstellung eines harmonischen, auf gegenseitigem
Verständnis und Vertrauen beruhenden Verhältnisses, sondern auch ein dem
Gesamtwohl förderliches Zusammenwirken auf dem doch so dankbaren Felde
der öffentlichen Gesundheitspflege. Wen dabei der größere Teil der Schuld
trifft, will ich hier nicht untersuchen; so viel steht fest, daß sich die immer
stärker hervortretende Spannung zwischen der offiziellen Medizin und dem
Publikum sehr rasch vermindern würde, wenn die Ärzte mehr Rücksicht nähmen
mif die wirklichem Bedürfnisse der Kranken, deren erstes ist. die Gesundheit
wieder zu erlangen oder, wie das Volk sagt, „kurirt" zu werden, und wenn
sich die Laien ein wenig mehr Mühe geben wollten, in den Geist und die
Methoden wissenschaftlicher Forschung einzudringen und die Beziehungen des
gesunden und kranken Leibes zur Außenwelt kennen zu lernen. Und weil ich
überzeugt bin, daß gerade die hier von mir besprochne Krankheit, die Diph¬
therie, dazu geeignet ist, weitern Kreisen einen Einblick zu gewähren in die
Arbeitswerkstatt und die Ideenwelt hervorragender Ärzte, so will ich hier die
wissenschaftlichen, theoretischen und experimentellen Grundlagen, die zur Ent¬
deckung des neuen Diphtherieheilmittels geführt haben, zu entwickeln versuchen.
Es ist ein im Volke weit verbreiteter Satz: die Natur hilft sich ^ in
Krankheiten — selbst. Etwas ähnliches galt früher einmal auch bei den Ärzten,
als sie noch sagten: Der Arzt soll Diener der Natur sein. Freilich decken sich
beide Aussprüche nicht ganz. Der volkstümliche Satz schiebt der Natur selbst
d- h. dem erkrankten Organismus, die Rolle des Heilmeisters zu; der ärztliche
schließt noch immer ein thätiges Eingreifen des Arztes in die Krnnkheitsprozesse
ein, indem er ihm nur gebietet, den Winken und Fingerzeigen der Natur zu
folgen, und verbietet, etwas gegen sie zu unternehmen. Die jüngere Ärztewelt
von heute, die die Schätze ihres Wissens hauptsächlich am Leichentisch und
durch das Tierexperiment in „exakter" Weise sammelt, lächelt über jene ver¬
altete Medizin mit ihren „obsoleten" Untersuchungsmethoden und Mitteln;
ebenso scharfsinnige und sichere Diagnostiker (soweit der anatomische Sitz der
Krankheit in Betracht kommt), als vorzügliche pathologische Anatomen, ver¬
fehlen sie nie, die Unfehlbarkeit ihrer Diagnose am Leichentisch mit dem Messer
und mit dem Mikroskop festzustellen; was dazwischen liegt, die ganze Leidens¬
zeit des Kranken, liefert ihnen stets aufs neue nichts als den ihnen selbst
sehr schmerzlichen Beweis, daß der Krankheit selbst, ihrem eigentlichen Wesen
in der Regel durch keinerlei direkt wirkende, sogenannte spezifische Mittel im
weitesten Sinne des Worts, beizukommen sei, und daß man sich in den meisten
Fällen darauf beschränken müsse, den Kranken unter möglichst günstige änßere
Lebensbedingungen zu versetzen, Schädlichkeiten abzuhalten, die gefährlichen,
lästigen und schmerzhaften Symptome des Leidens durch symptomatische Mittel
zu mildern und es sonst „gehen zu lassen, wies Gott gefällt." Derartige
symptomatische Mittel haben sie eine Legion, und ihre Zahl mehrt sich noch täglich
durch die Geschäftigkeit der Chemie und die Neuerungssucht der Ärzte und des
Publikums; alle diese „Amel"-Mittel aber, die die fieberhafte Körperwärme
herabsetzen, den Pulsschlag mäßigen, den Durchfall stopfen, die Verstopfung
heben, den Husten und den Schweiß unterdrücken, den Schlaf erzwingen, die
Schmerzen stillen — sie haben leider fast alle die Eigenschaft, daß sie heftige
Nerven-, Muskel- und Blntgifte sind, die, mißbraucht — und der Mißbrauch
ist ein der Tagesordnung —, zu der Notwendigkeit geführt haben, zahllose
Krankenhäuser und Anstalten zu erbauen lediglich zu dem Zwecke, den unglück¬
lichen Opfern dieses Mißbrauchs Zuflucht zu gewähren, um den durch diese
Mittel vergifteten Organismus von ihnen selbst oder von ihren verderblichen
Folgen wieder zu befreien. Diese Thatsachen sind offenkundig und ein Schand¬
fleck für die sogenannte wissenschaftliche Medizin und für die auf ihr sich auf¬
bauende Praxis; aber anstatt daß die Erkenntnis wenigstens zu einem Ver¬
such der Beseitigung dieses schweren sozialen Übels führte, mehrt sich von Jahr
zu Jahr die Zahl und der Besuch dieser Anstalten, zum Beweis, daß das
Übel nicht nur nicht abnimmt, sondern wächst, und es ist erstaunlich, mit
welcher Gleichgiltigkeit Ärzte und Publikum, Behörden und Staat diesen öffent¬
lichen Notstand ertragen. Einen tröstlichen Lichtschein in dieses Dunkel wirft
Behrings Heilmittel: noch dazu ist es nicht allein ein Heilmittel, ein unschäd¬
liches Heilmittel, das nicht den Teufel mit Beelzebub austreibt, sondern eins,
das auch als vorbeugendes, als Schutzmittel gegen Diphtherie benutzt werden
kann; und es erfüllt somit zugleich Forderungen der Hygieine, die bisher nur
bei einem einzigen Krankheitsprozeß, der Pockenseuche, durch die Jennersche
Schutzimpfung erfüllt werden konnten. In der That ist diese auch der Aus¬
gangspunkt für die geistige Thätigkeit aller Forscher gewesen, die auf diesem
Gebiete, der Bekämpfung der großen Vvlksseuchen mit großen Mitteln, ge¬
arbeitet haben, und es ist eine der interessantesten und lehrreichsten Ausgaben,
diesen Männern auf den vielfach verschlungnen und schwer zugänglichen Pfaden
zu folgen, auf denen sie endlich des Volkes alten Weisheitsspruch bestätigt
haben, daß sich die Natur in der That selber hilft.
Ein ganz moderner medizinischer Begriff ist der der Infektionskrankheiten,
d- h. der Krankheiten, die dadurch entstehen, daß aus der Außenwelt stammende
Körper in den menschlichen oder tierischen Organismus eindringen und in ihm
Krankheiten erzeugen. Diese Körper heißen Jnfektionsstvffe und werden ein¬
geteilt in belebte und unbelebte. Die belebten Jnfektionsstvffe sind für viele
Krankheiten genau studirt und bekannt, z. V. für die Cholera, den Milzbrand,
die Tuberkulose u.v.a.; es sind mikroskopisch kleine, pflanzliche Organismen,
die sich isoliren. züchten und künstlich von einem Organismus auf den andern
übertragen lassen, die, mit einem Worte, ihre besondre Lebensgeschichte haben
wie jede andre Pflanze; die unbelebten Jnfektionsstoffe dagegen sind Gifte, die
ihre Entstehung der Wechselwirkung zwischen den belebten Jnfcktionsstoffen
und dem Organismus verdanken, es sind Stoffwechselprvdukte, und sie ver¬
ursachen, wenn sie isolirt und einem Tierkörper einverleibt werden, ebenfalls
heftige Krankheiten. Der wesentliche Unterschied zwischen beiden ergiebt sich
aus dieser ihrer Herkunft und Natur; die belebten Jnfektionsstoffe keimen,
entwickeln und vermehren sich und vermögen deshalb eine größere Zahl von
Menschen gleichzeitig oder kurz nacheinander zu befallen: sie sind die Erreger
der epidemischen Krankheiten, der Seuchen; die unbelebten Jnfektionsstoffe ver¬
mehren sich nicht aus sich heraus, demnach erlischt ihre Wirksamkeit in der
Regel mit der Einzelkrankheit, die sie erzeugt haben, mag das Opfer dieser
Krankheit genesen oder zu Grunde gehen. Häufig aber werden beide Krank¬
heitsursachen an ein und demselben Organismus zusammen wirksam. Ein
einfaches, leicht verständliches Beispiel dafür bietet die Lungentuberkulose. Hat
sich ihr Erreger, der Tuberkelbazillus, auf der Lungenschleimhaut angesiedelt,
und findet er dort den zu seiner Entwicklung geeigneten Nährboden, so sind
die Folgen für den befallnen Organismus anfangs oft sehr geringfügig und kaum
wahrnehmbar. Das subjektive Wohlbefinden wird kaum gestört, und höchstens
mahnt ein leichtes Hüsteln an den Feind, der droht. Das kann jahrelang
dauern, und es dauert oft so lange, weil sich die Bazillenkolonien manchmal
nur sehr langsam entwickeln, sich nach der Fläche und Tiefe ausbreiten und
nur ganz unbedeutende, oberflächliche, rein örtliche Veränderungen an der er¬
griffnen Schleimhaltt hervorbringen. Endlich aber stellt sich Abnahme des
Appetits, leichte Ermüdbarkeit und häufigeres Husten ein. mit dem dann plötz¬
lich einmal blutig gefärbter Schleim oder reines flüssiges Vink entleert wird.
Gleichzeitig mit diesen beunruhigenden Symptomen treten in der Regel noch
andre Krankheitserscheinungen auf: Frösteln, Fieber. Schwäche. Schweiße u. «.,
und die anfangs harmlose Erkrankung hat mit einem Schlage einen bedroh-
lieben Charakter angenommen. Wird der Auswurf jetzt mikroskopisch untersucht,
so zeigt sich, daß er die Krankheitserreger, die Bazillen in reichlichem Maße enthält.
Woher aber dieser plötzliche Wechsel in den Krankheitserscheinungen? Daher,
daß die durch die Ansiedlung der Bazillen anfangs wenig, später mehr ver¬
änderte Schleimhaut endlich anfängt, die durch den Stoffwechsel der Bazillen
erzeugten Gifte, die früher durch die Flimmerbewegung der Schleimhautzellen
oder durch Husten aus der Lunge entfernt oder in noch zu geringer Menge
erzeugt wurden, um überhaupt wahrnehmbare Krankheitssymptome zu ver¬
ursachen, nunmehr aufzusaugen und durch die feinsten Blut- und Lymphgefäße
in den Kreislauf und in sämtliche Organe des Körpers einzuführen. Damit
ist die früher rein örtliche Krankheit zu einer allgemeinen geworden, und ihre
Gefahr sowie ihre verderbliche Wirkung auf den ganzen Körper außerordentlich
gewachsen. Der Kranke befindet sich jetzt in einer doppelt unglücklichen
Lage: die Stoffwechselprodukte der Bazillen vergiften seine Säfte und schwächen
die Widerstandskraft seiner Gewebe gegen die Angriffe der Bazillen; diese ent¬
wickeln sich rascher, zahlreicher und kräftiger, zerstören immer mehr gesundes
Gewebe und erzeugen dadurch ihrerseits immer größere Mengen von Gift,
das seinerseits wieder in den Organismus aufgenommen dessen Lebensenergie
immer mehr herabsetzt.
(Schlich folgt)
cum Bebel immer wieder (noch am 10. Dezember 1895) die
Meinung vertritt: die wahre Emser Depesche war der Friede,
die gefälschte Depesche der Krieg, und wenn man in den Histo¬
risch-politischen Blättern für das katholische Deutschland (116, 4)
wieder einmal die ruchlose „Fälschung" der Emser Depesche an
den Pranger gestellt findet, so ist man geneigt, diese Dinge auf sich beruhen
zu lassen, weil man sich sagt: Mögen auch mit Bebel Millionen diese Auffassung
für wahr halten, mag auch die genannte Zeitschrift die verhältnismäßig am
wissenschaftlichsten gehaltne ultramontane Zeitschrift sein, sie wollen eben doch
in diesem Falle die Wahrheit nicht sehen, und da ist ihnen nicht zu helfen.
So einfach aber ist die Sache doch nicht. Wer die landläufige Darstellung
der Zeitungen und Schulbücher im Sinne hat und das köstliche Lied „König
Wilhelm saß ganz heiter" für buchstäbliche Wahrheit hält, der würde arg in
die Klemme geraten, wenn er mit einem Sozialdemokraten ins Gespräch käme,
er würde dessen Argumente nicht ^so ohne weiteres, gewissermaßen aus dem
Handgelenk, besiegen können. Denn wir müssen uns klar machen, daß die
landläufige Erzählung zum Teil wirklich eine Legende ist. Müssen wir des¬
halb erschrecken? Ist jede Legende ohne weiteres eine geschichtliche Unwahrheit?
Auf diese Frage hat Adolf Harnack einmal eine treffende Antwort ge¬
geben. Er sagt: Es giebt zwei Arten der Geschichte. Erstens die Geschichte
der Thatsachen. Die Thatsache selbst ist brutal und stumm. Sie trifft aber
nicht auf Holz und Stein, fondern auf den menschlischer Geist, und dieser
nimmt sofort Stellung zu den Thatsachen, er beurteilt sie; und ost genug ist
die Beurteilung der Thatsachen für die Weltgeschichte wichtiger geworden als
die Thatsachen selbst. Diese Beurteilung der Geschichte nun in der Form der
Geschichtserzühlung ist die Legende. Wir alle leben täglich inmitten der
Legende und helfen sie neu schaffen. Man kann die Legende der Schlingpflanze
vergleichen, die überall aufwächst, wo Geschichte aufwächst. Sie umklammert
die Thatsache ebenso wie die Person. Ein Stamm nach dem andern im Walde
wird ausgesogen und verdorrt; die natürliche Mannichfaltigkeit der verschiednen
Bäume stellt sich dem Beschauer nicht mehr dar; schließlich erscheint überall
das einförmige Laub der Schlingpflanze.
Ist denn nun jede Beurteilung der Geschichte etwas bedenkliches? Nein,
denn wo blieben sonst die großen Geschichtschreiber aller Völker! Wer von
ihnen hat denn wirklich sine irs, se swciio geschrieben? Niemand hat diese
Forderung weniger erfüllt als ihr Urheber. Darauf kommt es an, ob der
Beurteiler Treitschke oder Janssen heißt; denn die echte Legende ist in der
Weltgeschichte die Wahrheit, und die falsche Legende ist die Lüge. Die echte
Legende sollen wir ruhig weiter hochhalten, selbst wenn sich nicht erweisen läßt,
daß sich alles genau so zugetragen hat, oder gar daß es sich anders verhalten
hat. Luther hat nach dem Teufel schwerlich mit dem Tintenfaß geworfen, und
doch ist in dieser populären Form unübertrefflich zusammengefaßt, was Konrad
Ferdinand Meyer so ausspricht:
Gustav Adolf hat schwedische Politik getrieben und Deutschland Länder rauben
wollen. Aber Gustav Adolf rettete den Protestantismus, wenn er auch Deutsch¬
land zerfleischen half, die Rettung des Protestantismus aber war mittelbar
auch die Rettung Deutschlands, ja die einzige Rettung; denn ein spcmisch-
hnbsburgisch-jesuitisches Deutschland wäre kein Deutschland mehr gewesen. So
kann man mit gutem Gewissen die Legende fortpflanzen, daß Gustav Adolf
ein deutscher Held gewesen sei. Auf dem herrlichen Magdeburger Kriegerdenkmal
hat Hundrieser König Wilhelm dargestellt, umgeben von seinen Helden. Das
Heer ist verkörpert durch zwei Soldaten, die ihm französische Adler zu Füßen
legen. Ludwig von Baiern reicht dem König auf einem Kissen die Kaiserkrone.
Hat der Künstler unrecht gehandelt, weil der König von Baiern gar nicht in
Versailles gewesen ist und nur mit Mühe zu dem bekannten Briefe zu bewegen
war? Wir brauchen kein Wort darüber zu verlieren: jeder fühlt, daß der
Künstler von höherm Standpunkt aus ganz wahrhaft gewesen ist, obwohl der
Hergang geschichtlich betrachtet ein andrer war. Wir könnten die Beispiele ins
unendliche häufen, aber wir denken: das Prinzip ist klar. Und wenn wir schon
nach einer wahren Legende lechzen, um uns eine Person menschlich recht nahe
zu bringen, um wie viel mehr bedürfen wir (und nun gar das Volk!) einer
solchen Geschichtsbeurteilung, wenn es sich um leblose Thatsachen oder um
Abstrakta handelt! Damit denken wir den zweiten Teil unsrer Frage schon
beantwortet zu haben: wir heißen jede Legende willkommen, sobald sie eine
echte ist, d. h. sobald sie, wie Goethe sagt, die Wahrheit giebt im Schleier
der Dichtung.
Wie weit besteht denn nun die verbreitete Darstellung der Vorgänge in
Ems vor der Lupe des Forschers? Wir können uns dabei im wesentlichen an
einen Aufsatz von Hans Delbrück anschließen, der unter dem Titel „Das Ge¬
heimnis der Napoleonischen Politik im Jahre 1870" im Oktoberheft 1895 der
Preußischen Jahrbücher erschienen ist.
Als die französische Negierung bei der preußischen wegen der Hohen-
zvllernkandidatur anklopfte, erhielt sie die Antwort, das gehe die Berliner Ne¬
gierung nichts an, das sei Privatsache der süddeutschen Hohenzollernfürsten.
Aber Gramont schickte Benedetti nach Ems zu dem Chef des Hauses, zu König
Wilhelm. Der König antwortete ebenfalls, sein Gouvernement habe damit
nichts zu thun, und schob die Entscheidung ausschließlich dem Fürsten Anton
(dem Vater) zu. Er konnte sich aber doch nicht entschließen, zu sagen, in dieser
Sache habe er dem Erbprinzen nichts zu befehlen. Durch das vor einem
Jahre veröffentlichte Tagebuch des Königs Karvl von Rumänien ist un¬
umstößlich erwiesen, daß die Kandidatur des Prinzen Leopold mit allen Mitteln
von Bismarck betrieben worden ist. Allerdings wurde die Angelegenheit in
den Mantel einer „reinen Familiensciche" gehüllt. Aber diese von Bismarck
klug ersonnene Deckung war doch mehr künstlich, formalistisch, wenn sie auch
vorher nach juristischem Beirat so festgelegt war. Deshalb ließ sich der
König doch auf Verhandlungen mit Benedetti ein und sprach schließlich seine
Zustimmung zu der Zurückziehung der Kandidatur aus. Durch diese Ehrlich¬
keit erhielt die Angelegenheit für die preußische Politik eine höchst gefährliche
Wendung, denn der Name des Königs war nun doch mit hineingezogen worden,
und so sah es aus, als ob Preußen und nicht Hohenzollern und Spanien vor
den französischen Drohungen zurückweiche. Bismarck war außer sich und wollte
den Abschied nehmen.
Dieser große Triumph aber genügte den Franzosen nicht. Denn nun er¬
klärte Gramont dem deutschen Botschafter, Herrn von Werther: der Verzicht
sei Nebensache, es komme daraus an. die Verstimmung, die aus dem preußischen
Verfahren entstanden sei, wieder zu beseitigen, sie verlangten noch eine Sühne.
Bei Sybel*) ist es nun bloß die französische Eitelkeit und die NarrlM
Gramonts, die den kranken Kaiser zu den neuen Forderungen treiben. Wenn
man aber erfährt, daß Napoleon keineswegs bloß willenlos nachgab, sondern
dem Herzog einige Stunden, nachdem sie beide konferirt hatten, eine eingehende
schriftliche Instruktion schickte, worin der ganze neue diplomatische Feldzugs¬
plan vorgeschrieben war, mit der Forderung. König Wilhelm solle sich ver¬
pflichten, „auch in Zukunft" zu einer etwaigen Wiederaufnahme der Kandidatur
seine Einwilligung zu versagen, so hat sich der Kaiser offenbar nicht bloß
mitschleppen lassen, sondern war vollkommen Herr seiner Entschlüsse. Er be¬
ging den Fehler, daß er den „dynastischen" Kriegsgrund, die Hohenzollern-
kandidatur, immer noch für brauchbar hielt, als dieser längst verbraucht war.
Napoleon glaubte auch Österreichs im Grunde sicher zu sein, wenn auch der
formelle Bündnisvertrag noch nicht fertig war. Denn aus den Veröffent¬
lichungen des Generals Jarras**) und des Vertrauten Napoleons, des Generals
Lebrun. ***) wissen wir, daß ein regelrechter Kriegsplan zwischen Frankreich und
Österreich-Italien festgestellt worden ist, daß aber der Erzherzog Albrecht den
Spätherbst, besser noch den Frühling 1871 für den Zeitpunkt zum Losschlagen
angesetzt wissen wollte. Die französische Negierung forderte 1870 Österreich
sogar auf, Truppen in Böhmen zusammenzuziehen. Beust, dem sehr viel daran
lag, daß Preußen nicht als der angegriffne Teil erscheine, mißbilligte nur das
beleidigende Auftreten Gramonts gegen Preußen, verwarf jedoch keineswegs
das Bündnis gegen Preußen an sich, und thatsächlich fing die österreichische
Armee an mobil zu machen; die Delegationen haben dafür nachher zwanzig
Millionen Gulden bewilligen müssen! Dabei wollte sich Beust jetzt natürlich
nicht formell binden, da er bisher nicht gebunden war. es konnte doch schließlich
im Kampfe auch anders kommen, als er und Frankreich sich dachten.
Was wäre nun geschehen, wenn die beiden neuen französischen Forde¬
rungen (1. „für alle Zukunft," 2. der Entschuldigungsbrief) nicht gestellt
worden wären? Sybel, der das große Bündnis gegen Preußen (er schrieb ja
vor Lebruns Veröffentlichung) für ein Hirngespinst erklärt, glaubt, dann wäre
der Krieg überhaupt unterblieben; denn Napoleon, Beust und Bismarck seien
durchaus gegen den Krieg gewesen. Aber nach dem, was wir heute wissen,
wäre der Krieg im September doch ausgebrochen, oder spätestens im nächsten
Frühjahr. Wir können das jetzt beweisen; geahnt haben es ja schon seit 1870
sehr viele.
Wie ist es nun gekommen, daß der Krieg nicht im Herbst, sondern im
Hochsommer ausbrach, also zu einer Zeit, wo uns die Russen noch den Rücken
decken, nämlich auf ihren Landwegen noch marschieren konnten?
Wir müssen zunächst nach Ems zurückkehren. Dort mußte Benedetti am
13. Juli wiederholt versuchen, den König Wilhelm zu dem Zugeständnis zu
bewegen, daß er auch „für alle Zukunft" seine Einwilligung verweigern werde,
wenn die Hohenzollern je wieder auf die Kandidatur zurückkommen sollten.
Diese Zumutung wurde jedesmal abgelehnt, ebenso die noch tollere, einen Ent¬
schuldigungsbrief an Napoleon zu schreiben. Aber alles geschah in durchaus
höflichen Formen; ja am Abend, unmittelbar vor seiner Abreise, hat der König
den Botschafter noch auf dem Bahnhof zu einer kurzen Abschiedsaudienz em¬
pfangen. Benedetti versichert in seinen Büchern, es habe in Ems keinen Be¬
leidiger und keinen Beleidigten gegeben; und als ihm die Emser Depesche be¬
kannt wurde, telegraphirte er nur an Grammont, die Sache sei richtig, er
habe aber mit niemand darüber gesprochen, die Veröffentlichung sei also nicht
von ihm ausgegangen.
Viele Leser, die die geschichtlichen Einzelschriften nicht verfolgt haben,
werden fragen: Aber der Denkstein auf der Emser Promenade? Und jene
Worte des Volksliedes?: „Sagte gar nichts weiter, Sündern j Wandte sich
so, daß bewundern, j Jener seinen Rücken kann." Ist denn das alles unge¬
schichtlich? Allerdings. König Wilhelm ist also von Benedetti nicht persön¬
lich beleidigt worden? Nein. Wir Deutschen haben also kein Recht, uns durch
die Emser Vorgänge gekränkt zu fühlen? Das haben wir nicht gesagt. Es
gab allerdings einen Beleidiger und einen Beleidigten in Ems. Das waren
das französische und das deutsche Volk. Durch die unverbrüchlichen gesellschaft¬
lichen Formen, in denen so hohe Herren mit einander verkehren müssen, war
der Schimpf, den man Deutschland angethan hatte, verdeckt worden, ja die
diplomatischen Formen haben die Sachlage geradezu gefälscht!
Es gereicht König Wilhelm zum höchsten Ruhme (und wenige Menschen
werden ihm das nachmachen, wenn sie Händel bekommen), daß er seine Ruhe
bewahrt und die Form nicht verletzt hat, obwohl er über die Zumutungen sehr
entrüstet war. Aber sein Minister hat durch Schürfung jener Emser Depesche
den Fehler der höflichen Formen wieder korrigirt. Bismarck hat die höflichen
Formen, die die Herausforderung der französischen Nation an die deutsche ver¬
hüllten, mit einem Nuck hinweggerissen und nackt und groß das ungeheure
Bild der Wahrheit aller Welt vor Augen gestellt. Wohlgemerkt, das Bild der
Wahrheit. Denn die Erzählung, daß König Wilhelm Herrn Benedetti den
Rücken gewandt habe, ist eben auch nur eine Legende, glücklicherweise eine echte
Legende. Wir dürfen das Lied ruhig weiter singen und an dem Denkstein
stehend uns dem ernsten Nachdenken über einen entscheidenden Tag der Welt¬
geschichte hingeben. Nur der kleinere Teil der Menschheit ist imstande, abstrakt
zu denken. Das Volk will Anschauung, womöglich die stärkste der Anschauungen,
die Personifikation, das Ereignis. Was ist ihm ein Begriff, wie ..Vorrang
einer Nation vor der andern? General Jarras hat so treffend wie naiv aus¬
gesprochen, was die Franzosen empfanden: 1866 war für uns Franzosen eine
Niederlage. ..denn wir konnten uns in unsrer Stellung als die große Nation
nicht verkleinern lassen." Diese Stellung Frankreichs kennzeichnet Sybel am
Schluß seines siebenten Bandes der „Begründung" vortrefflich mit folgenden
Worten: „Während 1866 Österreich und Preußen wesentlich denselben Kampf-
Preis zu gewinnen strebten, die leitende Stellung im deutschen Bunde, hatten
1870 Frankreich und Deutschland völlig verschiedne Ziele: Frankreich die Be¬
wahrung der bisher geübten europäische« Hegemonie, kraft deren es in Spanien
die freie Königswahl verbot. Italien den Eintritt in feine nationale Haupt¬
stadt verwehrte, dem deutschen Volke die Vollendung seiner Bundesreform be¬
stritt. Holland wegen Luxemburg, Belgien wegen des Eisenbahnkauss bedrohte
und selbst der Schweiz ungnädige Mienen wegen des Gotthardtunnels zeigte.
Dagegen lebte in Deutschland kein Gedanke an herrschenden Einfluß aus andre
Nationen: das Volk hatte in patriotischem Zorne zum Schwerte gegriffen, um
die seit Jahrhunderten erduldete fremde Einmischung in deutsche Angelegen¬
heiten von Grund aus zunichte zu machen und die Unabhängigkeit und Ein¬
heit des Vaterlandes, hoffentlich für alle Zeiten, zu sichern. Frankreich ging
sür eine alte Ehrenftellung, Deutschland für sein junges Dasein in den Kampf."
Gewiß ist nur wenigen unsrer Leser Liebknechts Broschüre: „Die Emser
Depesche, oder wie Kriege gemacht werden" unter die Augen gekommen. Ich
habe sie gelesen, weil ich gern wissen wollte, was ein so großer Prozentsatz
unsers Volkes sür eine Ansicht über diese Vorgänge hat; denn was ein Führer
schreibt, wird ja von Hunderttausenden von Genossen als Evangelium betrachtet.
Zudem hat ja Bismarck selber auf die Schrift angespielt. Ich war erstaunt,
wie unglaublich sich ein studirter Mann, was Liebknecht doch ist. verrennen kann.
Alles mögliche ist durch einander gemengt. Unbefangenheit hatte ich ja nicht
erwartet, aber da ich den überwiegenden Eindruck habe, daß Liebknecht glaubt,
was er sagt, so war die Empfindung für mich niederdrückend, daß ein Mann,
der doch sonst nicht auf den Kopf gefallen ist, gar nicht merkt, daß er eine
grell rot gefärbte Brille auf der Nase trägt, und Scheuklappen ans beiden Seiten
seines Gesichts das Eindringen klaren Sonnenlichts völlig verhindern. Denn
thatsächlich ist seine Schrift von Anfang bis zu Ende eine „falsche Legende,"
mithin eine große Lüge. Die Lüge besteht in der Gruppirung und schiefen
Beurteilung, nicht in der Verschweigung von Thatsachen. Die Urkunden und
Parlamentsverhandlungen sind alle wörtlich abgedruckt, und insofern sind die
dreißig Pfennige des Käufers nicht gänzlich hinausgeworfen. „Die Historie
und die historisch-kritische Methode ist eine viel zu schwierige Kunst, als daß
auch grobe Fehler in ihrer Ausübung sofort in die Augen fielen," sagt einmal
ein bedeutender Geschichtsforscher in Bezug auf Janssen. Bei Liebknecht aber
liegt die Sache so, daß es jedem unsrer Leser nicht schwer fallen würde, den
Mißbrauch der Urkunden zu sehen. Das Ergebnis freilich, zu dem Felix Dahn
in seiner Festschrift zum 1. April 1895 kommt, können wir uns nicht zu eigen
machen. Er findet, die Bismarckischen Streichungen Hütten nur Milderungen
des Textes bewirkt. So oft auch die beiden Depeschen schon gedruckt sind:
die Sache ist zu wichtig. Wir bitten um eine nochmalige Prüfung in voller
Ruhe. Die Urkunden lauten:
Im Original: Ems, den 13. Juli 1870. Seine Majestät der König schreibt
mir: „Graf Benedetti fing mich auf der Promenade ab, um auf zuletzt sehr zu¬
dringliche Art von mir zu verlangen, ich sollte ihn autorisiren, sofort zu tele-
graphiren, daß ich für alle Zukunft darauf verzichtete, niemals wieder meine Zu¬
stimmung zu geben, wenn die Hohenzollern auf ihre Kandidatur zurückkämen. Ich
wies ihn zuletzt, etwas ernst, zurück, da man a, tout ^mals dergleichen Engagements
nicht nehmen dürfe noch könne. Natürlich sagte ich ihm, daß ich noch nichts er¬
halten hätte, und da er über Paris und Madrid früher benachrichtigt sei als ich,
er wohl einsehe, daß mein Gouvernement wiederum außer Spiel sei."
Se. Majestät hat seitdem ein Schreiben des Fürsten bekommen. Da Se. Ma¬
jestät dem Grafen Benedetti gesagt, daß er Nachricht vom Fürsten erwarte, hat
Allerhöchstderselbe, mit Rücksicht auf die obige Zumutung, auf des Grafen Eulen-
burg und meinen Vortrag beschlossen, den Grafen Benedetti nicht mehr zu em¬
pfangen, sondern ihm nur durch eiuen Adjutanten sagen zu lassen, daß Se. Majestät
jetzt vom Fürsten die Bestätigung der Nachricht erhalten, die Benedetti aus Paris
schon gehabt, und dem Botschafter nichts weiter zu sagen habe.
Se. Majestät stellt Eurer Exzellenz anheim, ob nicht die neue Forderung
Benedettis und ihre Zurückweisung sogleich sowohl unserm Gesandten, als in der
Presse mitgeteilt werden soll. gez. Abeken.
In Bismarcks Kürzung: Eins. 13. Juli 1870. Nachdem die Nachrichten von
der Entsagung des Erbprinzen von Hohenzollern der kaiserlich französischen Re¬
gierung von der königlich spanischen amtlich mitgeteilt worden sind, hat der fran¬
zösische Botschafter in Ems an Se. Majestät noch die Forderung gestellt, ihn zu
autorisiren, daß er nach Paris telegraphiere, daß Se. Majestät der König sich für
alle Zukunft verpflichte, niemals wieder seine Zustimmung zu geben, wenn die
Hohenzollern auf ihre Kandidatur zurückkommen sollten. Se. Majestät der König
hat es darauf abgelehnt, den französischen Botschafter zu empfangen, und demselben
durch den Adjutanten vom Dienst sagen lassen, daß Se. Majestät dem Botschafter
nichts Weiler mitzuteilen habe.
Wer kann dem zustimmen, daß hier nur Milderungen vorlagen? Wir
weisen nur auf das eine hin, daß in Bismarcks Fassung der Schlußsatz
„. . . darauf abgelehnt . . . nichts weiter mitzuteilen habe . . sich auf etwas
ganz andres bezieht, als in der Originaldepesche.
Nein, eine Schärfung ist unzweifelhaft vorhanden, sie liegt vor allem un
Tone. War aber deshalb wirklich, wie Liebknecht sagt, „die echte Emser
Depesche der Friede, und die Bismarcksche Kürzung der Krieg"? Nein! Weder
nach Benedettis Auffassung ist der Krieg durch die Veröffentlichung der De¬
pesche notwendig geworden, noch nach der Meinung des französischen Minister-
rath, der am 14. Juli stattfand und fast den ganzen Tag dauerte. Denn
die Emser Depesche war längst bekannt, als um 6 Uhr abends die Mobil¬
machung der französischen Armee rückgängig gemacht wurde. Allerdings ein
Anruf war die Depesche: nehmt euch in Acht! Bismarck hielt ihnen gewisser¬
maßen den Degen hin: seid ihr toll genug, euch darauf festzurennen, nur zu;
ich fürchte mich nicht, sondern stoße euch dann den Degen bis ans Hast in
die Brust. Aber den Degen gezogen hat nicht er zuerst, sondern die Franzosen,
und zugestoßen hat er auch nicht, sondern sie rannten in den Degen hinein.
Was hat sie nun so toll gemacht? Offenbar die Angst, daß der ange¬
fangne Handel doch am Ende nicht in eine Demütigung Preußens auslaufen
werde. Wie man es anfängt, Krieg zu vermeiden, wenn man will, das hat
Bismarck in dem Karolinenstreit gezeigt. Als der Madrider Pöbel das Schild
vom deutschen Botschaftshotel abgerissen und uuter die Füße getreten hatte,
erklärte Bismarck: „Um einer Sachbeschädigung willen führen zwei große
Nationen nicht Krieg mit einander." Frankreich aber konnte sich 1870 nicht
entschließen, wieder gut zu macheu, was es Preußen angethan hatte.
Große Wichtigkeit legt Oncken und ihm folgend Delbrück dem Gespräch
Bismarcks mit dem englischen Botschafter Lord Loftus bei. Die Bedeutung
dieses Gesprächs wollen auch wir nicht verkennen, sie liegt aber doch nur
darin, daß die Franzosen noch deutlicher merkten, die Preußen würden sich
eine Demütigung nicht gefallen lassen. Aber den Krieg unvermeidlich gemacht
hat auch dies Gespräch keineswegs. Lord Loftus gratulirte dem Grafen
Bismarck. daß die Krisis (mit dem Verzicht des Erbprinzen) zu Ende sei.
Bismarck antwortete, daß er das bezweifle, er habe Nachricht, daß sich die
Franzosen mit der Lösung dieser Frage (dem Verzicht des Prinzen von Hohen-
zollern) nicht zufrieden gäben. Frankreich müsse den europäischen Mächten
eine amtliche Erklärung geben, daß es die Lösung der spanische,, Frage als
ausreichend anerkenne. Ferner sei in dieser Erklärung die drohende Sprache
Grcunonts (Kammersitzung vom 6. Juli) zurückzuziehen oder zu erläutern. Ge¬
schehe das nicht, dann sei offenbar der Lärm über die spanische Thronfolge
nur ein Vorwand gewesen.
Dieser Bericht ist es höchst wahrscheinlich gewesen, der am 14. Juli nachts
um 11 Uhr den französischen Ministerrat zum Kriegsbeschluß veranlaßt hat.
Aber diese Folgerung zogen eben nur die Franzosen aus dem Gespräch. Ganz
objektiv betrachtet, folgte daraus durchaus nicht die Notwendigkeit, in den Krieg
zu gehen; denn die verlangten Bürgschaften waren so maßvoll, daß eine Re¬
gierung, die den Frieden wirklich wollte, sie recht gilt hätte geben können.
G
Allerdings mußte die französische Regierung den Schritt zurückthun, den Grcunont
mit seinem Säbelrasseln vom 6. Juli in der Kammer vorwärts gethan hatte.
Und mit einer Niederlage Preußens schloß dann die Sache allerdings nicht ab.
Vor Europa stand Bismarck vollkommen gerechtfertigt da, weil er nicht
mehr verlangte, als ein Staat mit seiner Ehre vereinigen kann. Eine andre
Frage war, ob sich die Franzosen zu diesem Schritt würden entschließen können;
und das ivar nicht der Fall. Man „konnte," das heißt man „wollte" sich
seine Stellung als die große Nation nicht verkleinern lassen.
So log man denn, das namenlose Extrablatt der Norddeutschen Zeitung (die
Emser Depesche) sei eine „amtliche" Note; man log ferner, Benedetti sei persönlich
beleidigt worden, und so stürzte sich die „große Nation" in die Flut des Verderbens.
Einen Beweis, daß die Nedigirnng der Emser Depesche keine Milderung,
sondern eine Schürfung bedeutete, haben wir übrigens noch zurückbehalten,
nämlich Bismarcks eignen Hinweis auf Moltkes Scherz: „Vorhin wars Cha-
made, jetzt ists Fanfare." Ganz so arg war es ja nicht, aber jeder Witz
übertreibt, sonst wirkt er nicht. innen, g-rg-no, oum grano! ruft Bischer in seinem
unübertroffner „Auch einer" der Menschheit zu, die sich immer an den Buch¬
staben klammert. Auch Bismarcks Äußerung ist nicht buchstäblich zu nehmen,
wenn er erzählt (nach Maximilian Harden): „Es ist so leicht, ohne Fälschung,
nur durch Weglassungen und Striche, den Sinn einer Rede vollkommen zu
ändern. Ich habe mich selbst einmal in diesem Fache versucht, als Redakteur
der Emser Depesche, mit der die Sozialdemokraten seit zwanzig Jahren krebsen
gehen." Auch hier müsse» wir sagen: Lua Zrano! Deal „vollkommen ge¬
ändert" ist der Sinn nicht, es liegt nur eine Schärfung vor.
Mit dieser Äußerung Bismarcks aber wollen wir schließen. Beweist sie
nicht besser als lange Abhandlungen, daß der Mann, der ohne jede äußere
Veranlassung im Gespräch mit einem beliebigen Menschen diese Worte hin¬
wirft, keinerlei böses Gewissen hat in dem Gedanken an die Redigirung der
Depesche, sondern daß er mit vollkommenster Gemütsruhe an sie zurückdenkt?*)
le vor und seit einem Jahrzehnt angekündigte große Revolution
unsrer Litteratur hat die wunderbarsten Früchte gezeitigt. Sie
hat zugleich den nacktesten Cynismus und das stärkste Raffine¬
ment entwickelt, die in irgend einer Litteraturperiode neben und
gegen einander gewirkt haben, sie hat die sozialdemokratische Phrase
von der ursprünglichen Gleichheit aller zweibeinigen Kreatur dicht neben die
Phrase vom neuen Herrentum und vom Übermenschenbewußtsein''gerückt, sie
hat die grammatischen Fehler der Alltagsrede, die fragmentarischen Laute des
Stammlers und das Zischen des Zahnlosen „behufs Charakteristik" litteratur¬
fähig gemacht und in wunderbarem Widerspruch mit der nackten Kopie ab¬
normer Wirklichkeit einen neuen sstilo oulto erzeugt, in dem Wort, Bild und
Klang gleich unnatürlich sind. Sie hat die Bildung als solche zu ächten ver¬
sucht und gleichwohl einen absonderlichen Vildungsdünkel wachgerufen, der
jedem Einzelnen das Recht giebt, seine Zeitgenossen als Barbaren gering zu
schätzen. Sie hat mit gewaltigem Getöse Originalität begehrt und ist nach
einander bei der sklavischen Nachahmung von Zola, von Ibsen, von Tolstoi,
von Jacobsen und Pontoppidan, von Bourget und Maupassant angelangt.
Sie hat sich gegen die Autorität der klassischen Dichtung erhoben und ist eben
dabei, die Mustergiltigkeit der Lobenstein, Hosfmannswaldau und Ziegler zu
preise». Vor allem aber, sie hat das litterarische, die Welt niederzwingende
Genie, den litterarischen Bismarck gefordert und prophezeit (der freilich inner¬
halb von zehn Jahren zehn verschiedne Namen getragen hat) und ist am Ende
höchlich zufrieden, wenn aus ihr ein paar Talente hervorgehen, die ernst ge¬
nommen werden können, und bei denen überhaupt von einer Entwicklung die
Rede sein darf. Die Bewegung hat sich darüber freilich zerspalten, und der
gewöhnliche Gang aller Revolutionen läßt sich anch bei ihr beobachten. Sowie
sich ein paar Schriftsteller ans dem engsten Kreise der Parteischlagworte und
des sinnlosen Wütens emporhoben, ein paar Dramen und Romane das Inter¬
esse und die Teilnahme eines größern Publikums erweckten, splitterte sich von
der Linken eine äußerste Linke ab, die mit verächtlichem Achselzucken von Zu¬
geständnissen an das Philistertum oder deu ästhetischen Janhagel sprach. Sowie
Hermann Sudermann in den Cottaschen Verlag überging und „hoftheaterfähig"
wurde, begann von denselben Stellen her, von denen man früher die Dramen
„Ehre" und „Heimat" rückhaltlos und überschwänglich gepriesen hatte, ein
Kreuzfeuer gegen die spätern Anläufe des Romanschriftstellers wie des Dra¬
matikers. Unumwunden wurde ausgesprochen, Sudermann gleite auf einer
schiefen Ebne reißend schnell abwärts und fordre eigentlich schon jetzt zum Ver¬
gleich seiner Gesellschaftsschilderung und seiner dramatischen Technik mit der
Lebenswiedergabe und der theatralischen „Mache" Paul Lindaus heraus.
Jedenfalls konnte sich der vielbesprochne und vielbeneidete Schriftsteller der
Thatsache getrosten, daß zwar die Kritiken gewisser litterarischer Organe scharf
wie das Messer der Guillotine sind, daß aber kein verständiger Mensch und
gesunder Ostpreuße seinen Kopf unter dieses Messer zu legen braucht.
Geradezu falsch und gänzlich sinnlos war bei alledem die mörderische Rück¬
Verweisung auf den Verfasser der „Maria und Magdalena" und der „Gräfin
Lea" nicht. Es giebt eine gewisse Einwirkung einer gewissen Berliner Luft
auf poetische Erfindung und poetische Gestaltung, die schon längst vor Lindau
weit höherstehenden Schriftstellern, wie Friedrich Spielhagen, verhängnisvoll
geworden isL Ein undefinirbares Etwas von gerade in Zeitungen und an
Stammtischen herrschender Anschauung, von gesellschaftlicher Sitte und Unsitte,
von modischer Schätzung gewisser Typen und modischer Geringschätzung andrer,
ein weitverbreitetes Rotwelsch, das für eine vorübergehende Zeit an die Stelle
lebendigen und unmittelbaren Seelenausdrucks tritt, bereitet der echten und un¬
mittelbaren poetischen Erfassung und Wiedergabe des Lebens spezifisch Berlinische
Hemmnisse. Natürlich war es noch ein Unterschied, ob dieses Berlinische
Etwas mit dem Glauben an den Fortschritt, einer immerhin ernst zu nehmenden
und in gewissem Sinne selbst idealen politischen Überzeugung und Selbsttäuschung
zusammenfiel, oder ob es einer spätern Periode, im Beginn der siebziger Jahre,
mit der Raffgier, der frivolen Genußgier und dem halb widrigen, halb lächerlichen
Dünkel der neuen Emporkömmlingsgesellschaft im Westend eins wurde. Kraft der
Zeitströmung und natürlich kraft allereigensten Zuges zu dem höchst vergnüg¬
lichen Leben und der vorurteilsloser Auffassung aller Zustände und Vorgänge in
der goldnen Gründerzeit spiegelte Lindau in seinen Dramen und Erzählungen
dies gewisse Etwas und hatte hinterdrein die Ehre, als der litterarische Haupt¬
vertreter der flachen Frivolität und der schnödesten Mammonanbetung ange¬
sehen und angegriffen zu werden. Vorausgesetzt, die erbarmungslosen Kritiker
Hermann Sudermanns hätten Recht mit ihrer Behauptung, daß auch dieser
Schriftsteller auf dem besten Wege sei, von dem protcischen und zweideutigen
Lebensgeiste nicht der Reichshauptstadt (wer wird glauben, daß das große
Berlin wirklich keinen andern Lebensgeist hätte als den, dessen Niederschläge
man allnächtlich in den Neichshallen und im Caso Bauer studiren kann), aber
gewisser lauter und lärmender Kreise Berlins abhängig zu werden, so würde
Sudermann noch immer Erkleckliches vor seinem Herrn Vorgänger voraus haben.
Andre Lebenskreise als die, die in den siebziger Jahren den Ton angaben und
zwar in verschwiegner Brust noch immer die Überzeugung hegen, daß sie weit
vortrefflicher wären als die Götter, denen aber nach außen hin allmählich bei
ihrer Gottähnlichkeit bange geworden ist, eine schärfere Luft, in der die kurz¬
lebige Blüte des Genusses hinwelkt, ehe sie recht entfaltet ist, umgaben Suder¬
mann bei seinem ersten Auftreten, schwerere und dunklere Probleme waren
Mode geworden, die Börse erschien nicht mehr als der alleinige Mittelpunkt
des modernen Lebens, ein andrer Jargon als der von 1875 wurde um ihn
her geredet. Selbst wenn der Verfasser der „Frau Sorge" nichts besseres mit¬
gebracht hätte, als ihm das jüngste Berlin geben konnte, so würde sich doch
ein andres Stück Welt und Leben in seinen Arbeiten gespiegelt haben, als in
denen der Trias Lindau-Blumenthal-Lubliner. Ob ein besseres, größeres, inner¬
lich wahreres, poetisch wirksameres, wäre erst noch zu untersuchen gewesen,
denn daß sich in der ganzen neuesten Richtung, so weit sie Sache der Mode
und der Klique und nicht lebendiger Antrieb lebendigen Talents ist, ein wahrer
Rattenkönig von schlechter Pose, von Eitelkeit und flachster Äußerlichkeit breit
macht, das gestehen die besonnener» Vertreter dieser Richtung schon längst
unumwunden ein.
Doch die Voraussetzung ist falsch, und es hieße kritisch so blind sein,
wie sich gewisse Lobredner der neuesten Litteratur zuzeiten stellen, wenn man
verkennen wollte, daß Sudermann in seinen Jugendeindrücken aus der ost¬
preußischen Heimat, in seinen poetischen Anfängen und einem entschiednen
Drange seines Talents zu robuster Natürlichkeit eine Mitgabe besaß, die ihn
von Haus aus über die Welt zwischen dem Wedding und der Kölnischen Heide
hinausblicken ließ. Und wie groß auch immer der Einfluß war, den er dem
Leben Berlins und dem mehrerwühnten Etwas in diesem Leben über sich ein¬
räumte, so war doch leicht zu erkennen, daß der frischere, stärkere Zug seiner
Natur und, trotz aller angeblichen Geringschätzung künstlerischer Ziele, ein in¬
stinktives Kunstbewußtseiu, das dem Gesunden, Dauernden zustrebte, ihn vor
der unbedingten Unterordnung unter die Berliner Augenblicksforderungen
schützten. Ja mehr als einmal schien es, als ob der Dichter ganz er selbst
sein und sich mit Entschlossenheit der Geistesstimmung entreißen würde, die,
während sie eigentlich darnach lechzt, in der großen und ewigen Natur unter¬
zutauchen, es doch nicht verwinden kann, daß die Ackererde und der Eichwald
keine neuesten Erfindungen sind, und daß die Natur wenig geneigt erscheint,
den nächsten Frühling rot statt grün aufgehen zu lassen. Sudermanns Roman
»Es war" sah mit allem, was sich gegen Einzelheiten der Anlage und Ge¬
staltung sagen ließ, doch wie eine sehr kräftige Erhebung über den Boden und
die Atmosphäre ans, auf dem und in der die gegenwärtig modische Menschen¬
darstellung atmet. Die bedeutendsten Partien des Romans müssen als das beste
und eigentümlichste angesehen werden, was Sudermann seit „Frau Sorge" und
bis jetzt gelungen ist. Daß die neuesten Schöpfungen des Dramatikers nicht
auf gleiche Höhe mit dem epischen Gebilde gelangen können, beweist nach unsrer
Empfindung keineswegs, daß Sudermanns Stärke ausschließlich auf dem Ge¬
biete der Erzählung und nicht auf dem des Dramas liege, aber es beweist
allerdings, daß die Mitwirkung und der Einfluß der realen Bühne, die Rück¬
sicht auf die Neigungen der Darsteller und des Parkets bei dem Wettbewerb
um die großen Tantiemen die Unabhängigkeit eines Schaffenden stärker ge¬
fährden, als es der Gedanke an die künftigen Leser bei den Werken der epischen
Phantasie thut. Vor allem aber, während sich der Erzähler nicht zu scheuen
braucht, was er sieht, fühlt und meint, frei zu gestalten und herauszusagen,
sieht sich ein Dramatiker von so besondrer Lebensanschauung und so bewußter
Gegensätzlichkeit zu so vielen Grundlagen und noch immer herrschenden Mächten
unsers Lebens in dem Übeln Falle, mit bewußter und unbewußter Zwei-
züngigkeit zu arbeiten und in Konflikten mit Fragezeichen zu schließen, wo wir
berechtigt wären, eine klare, bestimmte Antwort zu fordern und der Dichter
vielleicht eine solche Antwort bereit hat, für die er die Gründlinge des Par¬
terres nur nicht reif genug hält.
Eine Wiener Theatersäge berichtet, daß zu der Zeit, wo auf dem k. k. Hof¬
burgtheater König Lear und Cordelia in Shakespeares Tragödie auf Zensur¬
befehl leben bleiben mußten, die hervorragenden Darsteller des alten Königs
und seiner Tochter beide Figuren mit allen Zügen und Zeichen des bald be¬
vorstehenden Todes darzustellen und trotz der erzwungnen Versöhnung doch
den tragischen Ausgang anzudeuten pflegten. Ein Gran von dieser Kunst ist
offenbar in H. Sudcrmnnns neueste dramatische Anläufe, in die vieraktige
Komödie: Die Schmetterlingsschlacht und das dreiaktige Schauspiel: Das
Glück im Winkel übergegangen. Die Komödie wie das Schauspiel enden
die eine mit einer Folge kleiner, das andre mit einem gewaltigen Fragezeichen.
Und Leute, die die Miene von Wissenden annehmen, flüstern uus zu, daß wir
doch nicht so armselige Tröpfe sein und mit den gerührten Zuschauern an den
glücklichen Ausgang des einen wie des andern Stückes glauben sollen. Sie
sagen uns mehr oder minder unumwunden, daß in der „Schmetterlingsschlacht"
die große Szene, in der der frivole Keßler und die junge Witwe Elsa das
Rendezvous mit Champagner haben und die arme kleine Rosi betrunken macheu,
den eigentlichen theatralischen Höhepunkt und die konzentrirte Atmosphäre des
Stückes zugleich darstellt, und jedermann weiß, daß alles, was auf derartige
Szenen im Leben zu folgen pflegt, anders verläuft und anders aussieht, als
der um der Philister willen drangeklebte vierte Akt des sittenschildernden Stückes.
Sie geben zu verstehen, daß die Schlußszene des dritten Aktes im „Glück im
Winkel" eben auch nur ein theatralischer Notbehelf sei, und daß der Dichter
bestimmt genug zu erkennen gegeben habe, daß Frau Elisabeth, seine Heldin,
darnach lechzt, in den Armen eines Kraftmenschen wie Baron Röcknitz zu leben
und uicht an der Seite des erbärmlichen Schulmeisters dahinzusiechen. Wenn
dem in beiden Fällen nicht so ist, wenn der Dichter wirklich beabsichtigt hat,
den versöhnlichen Ausgang beider Dramen als den möglichen, wirklichen und
innerlich wahren erscheinen zu lassen, so hätte er einerseits den Wünschen nach
frappanter Modernität, den Angewöhnungen neuester Welt- und Sittenschilderung
weniger Rechnung tragen, andrerseits die starken Zweifel, die sich gegen die
letzte' Lösung, namentlich des ..Glücks im Winkel." erheben, durch einen Aus¬
gang, der kein Fragezeichen läßt, überwinden sollen.
Die ..Schmetterlingsschlacht" hat ein Dresdner Kritiker nach der dortigen
ersten Aufführung ganz zutreffend als ein Stück bezeichnet. ..das auf dem
dunkeln Grenzpfade zwischen Tragödie und Schwank nachtwandlerisch einher
gehe." Im wesentlichen handelt es sich darin um ein großstädtisches Sittenbild,
dessen originell amüsante Szenen sich von dem dunkeln Hintergründe des
modernen Elends abheben, das in den gleichen vier Wänden, un Leben derselben
Gestalten die Ansprüche auf Lebensgenuß dicht ueben die härteste Entbehrung
und Arbeit, das die thörichte Verschwendung neben den heroisch erduldeten
Hunger stellt. Die ..Mutter" des Stücks, die Witwe eines Beamten, die mit
640 Mark Pension drei hübsche Tochter großziehn. ihnen standesgemäße Bildung
geben muß, die keinen andern Gedanken hat als den. ihren armen Mädchen
durch eine reiche Heirat künftig ein vergnüglicheres Dasein zu sichern (sich an
diesen Gedanken auch noch klammert, nachdem die älteste Tochter Else einen
Lump genommen hat, der nach wenigen Monaten Bankerott machte und sich
erschoß), die ihre Töchter lügen, heucheln und kokettiren lehrt und ihnen, bis
sie sich für das Wohl der Familie opfern müssen, erlaubte und zweifelhafte
Vergnügungen gönnt, diese Frau Steuerinspektor Hergentheim, die am Schluß,
als der Effekt ihrer Lebenskunst zu Tage kommt, zornig ausruft: „Ob ich mich
Scham, Herr Winkelmann? Wegen all dem Lug und Trug, Herr Winkelmann?
Nein, ich Scham mich schon nicht mehr. Ich hab zu viel betteln und runter-
fchlucken müssen im Leben. Es ist so schwer gewesen, die Kinder so weit zu
bringen. Wissen Sie denn, was ein Pfund Fleisch kostet, Herr Winkelmann?"
ist von einer schneidenden und zugleich kläglichen Wahrheit. Ja das einzige,
was nicht als ganz typisch und echt an der Frau Steuerinspektor und ihren
ältern Töchtern Else und Laura erscheint, ist die brutale Offenheit, mit der
sie ihre Lebensphilosophie der Verkommenheit zur Schein tragen, während im
Leben diese Art der Gesinnung hinter bürgerlich respektabel,,, ja sogar hinter
frommen Redensarten versteckt wird. Diesem Jammer und seinem Verhältnis
zu dem pfiffigen ausbeuterischen Geiz, den der plumpe Kaufmann Winkelmann
vertritt, kann freilich nur die absolute Gemütsrvheit Humor abgewinnen.
Diese Gemütsroheit und die ihr verwandte leichtsinnige Genußsucht trägt der
Bonvivant des Stückes Herr Richard Keßler zur Schau, ein Teufelskerl in
seiner Art, der zwar die junge Witwe Else nicht heiraten, aber lieben will
und im übrigen gutmütig dafür sorgt, daß der gedrückte Sohn seines Prinzipals,
der junge Winkelmann, sich mit einer der Hergentheimschen Töchter verlobt.
Daß es gerade Else sein muß, die sich opfert, verschlägt ihm nicht viel,
macht das Abenteuer um so pikanter. Zwischen all diesen Figuren steht
nun die jüngste Hergentheimsche Tochter Rosi, das kleine Genie, das hübscherfundne Schmetterlingsschlnchten auf Fächer malt und durch ihre Arbeit
die Familie durchbringen hilft. Sie allein ist eine innerlich wahre, warme,
einfache Natur geblieben, an der die Dressur zur Männerjagd um jeden
Preis noch nichts verdorben hat, deren unbewußte reine Neigung sich
dem neuen Verlobten der ältern Schwester, dem armen, von seinem Vater
schwer mißhandelten Max Winkelmann zuwendet, Sie ist es. die von allen
als Vertraute mißbraucht wird, bis sie gegen den Schluß hin alle Schranken
der heuchlerischen Rücksicht durchbricht, nur um von dem Manne, den sie liebt,
und in dem sie eine erste tapfere Regung männlichen Selbstgefühls erweckt,
nicht in falschem Lichte gesehen zu werden- Sie siegt damit selbst über das
dickfellige Geldprotzentum des alten Winkelmann und steht am Schlüsse als die
«Msi Verlobte des jungen Winkelmann da, obwohl sie vor der Hand zu ihren
Schmettcrlingsfächern zurückgeschickt wird. Als Fragezeichen bleiben übrig: ob
Herr Max Winkelmann wirklich so viel Mut dem grimmigen Alten gegenüber
behaupten wird, um für sich und Rosi auch nur ein Endchen stillen Glückes
dabei herauszuschlagen, was aus der Frau Steuerinspektor und ihren ältern
Töchtern werden wird, denen Papa Winkelmann gar nicht geneigt scheint, eine
Pension zu zahlen, wie sich Herr Richard Keßler weiterhin zu Frau Elfe stellen
will, lauter Fragen, auf die keiner, der Sudermanns Komödie aufmerksam
auch zwischen den Zeilen liest, eine Antwort geben kann. Gewiß bleibt nur,
daß Frau Hergentheim in ihren letzten pathetischen Ansprachen Herrn Winkel¬
mann als den Vertreter der heuchlerisch tugendhaften Welt betrachtet, wozu der
Alte wahrhaftig nicht das Zeug hat, und daß sie dieser Welt mit einer Art
von Recht gegenübergestellt wird.
Viel höher steht, viel tiefer in die Wirklichkeit hinein führt uns das
Schauspiel „Das Glück im Winkel." Das Hauptmotiv des Stücks hat eine
Art Verwandtschaft mit einer der schönsten Episoden in Dickens bestem Roman
„David Copperfield." Kenner brauchen wir nur an die Ehe der jugendlich
schönen Annie mit dem wackern Philologen und Institutsdirektor in Canterbury
Doktor strong zu erinnern, deren Eheglück durch die Werbung eines herzlosen,
unehrenhaften Vetters, des Mr. Jack Maldon, und durch den Schatten des
Verdachts, der auf Annie ruht, schwer gefährdet wird, bis eine offne
ergreifende Aussprache zwischen den beiden Gatten Glück und Vertraue» wieder¬
herstellt. Wir mutmaßen nicht etwa, daß Silbermann das Motiv seines
Schauspiels aus Dickens entlehnt und entsprechend variirt habe. Das Leben
ist so unermeßlich reich und groß, daß es jedem Dichter, der offne Augen hat,
Handlungen und Gestalten zuführen kann, ohne daß er litterarische Anleihen
zu machen braucht, und ohne daß er die überlieferten Motive kümmerlich hin-
und herdrehen muß, um eine bisher unbeleuchtete Seite auszuspüren. Aber
wir werden unwillkürlich an die poetische Verwertung und die edle Lösung des
Motivs bei Dickens erinnert, wenn wir die Bedenken mustern, die gegen die
Schlußwendung von Sudermanns „Glück im Winkel" erhoben worden sind.
Mrs. Annie strong liebt ihren alternden Gemahl und dankt es ihm vor allein,
daß er sie vor den ersten mißverstandnen Regungen eines unerfahrnen Herzens
bewahrt hat. Die Heldin Sudermanns, Frau Elisabeth Wiedemann, steht ihrem
Gatten ganz anders gegenüber, und es ist zwar nicht zweifelhaft, daß sie ihm
gleichfalls zu danken hat, aber zweifelhaft, ob sie ihm wirklich danken will
und kann.
Der Winkel, in dem die Handlung des Sudermannschen Schauspiels vor
sich geht, ist das Haus des Rektors Wiedemann in einer kleinen norddeutschen
— sagen wir gleich ostpreußischen — Kreisstadt. Rektor Wiedemann hat sich
als Philolog nicht auszeichnen können, hat die Lehrberechtigung sür die höhern
Klassen nicht erlangt und am Ende froh sein müssen, in dem Rektorat einer
Volksschule mit Proghmnasium Unterkunft und Unterhalt zu finden. Aber er
ist in jungen Jahren Hauslehrer des Freiherrn von Nvcknitz auf Witzlingen,
eines stattlichen Vollblntjunkers, gewesen und hat mit dem Haus und dem Gut
dieses Landedelmanns eine Art Verbindung behalten. So ist es möglich ge¬
worden, daß er, ein Witwer mit drei Kindern, von denen die älteste erwachsene
Tochter blind ist, sich den zahlreichen Anbetern einer schönen jungen Dame
zugesellen konnte, die eine Waise, als Gast und Freundin der jungen Baronin
Bettina von Röcknitz in derem Schlosse lebte. Fräulein Elisabeth erscheint
dem Schulmann und allen andern als ein königliches, stolzes Mädchen, die
Ansprüche auf ein großes Glück im Leben hätte. Dennoch begegnet der wackere
Rektor in einer denkwürdigen Nacht dem schönen Fräulein im Schloßpark von
Witzlingen, findet sie verzweifelnd, rat- und hilflos, nahezu entschlossen, nicht
bloß dieses Haus, sondern womöglich die Welt zu verlassen- Er deutet sich
die entsetzliche Lage der von ihm Bewunderten dahin, daß Elisabeth das schuld¬
lose Opfer irgendeines Gewissenlosen aus ihrer Umgebung geworden sei, lind
gewinnt unter diesen Umständen den Mut, der Bedrängten den Schutz seines
bescheidnen Herdes und seine Hand anzutragen: Elisabeth wird die zweite Frau
des Rektors. Wie der Borhang aufgeht, lebt sie bereits zwei oder drei Jahre
hindurch in dem Rektorhause, in der Übung ihrer Pflichten hat sie Sonnen¬
schein ins Haus getragen, hat die kleine Landwirtschaft, die mit dem Rektorat
verbunden ist, zu einer Musterwirtschaft emporgebracht, Behagen und bescheidnen
Wohlstand gefördert und das Herz ihrer Stiefkinder gewonnen. Sie ist das
Wunder des Nestes, in dem sie lebt, jedermann beneidet, aber keiner begreift
den Rektor, wie ers hat wagen können, diesen fremden Goldvogel zu den
Lebensaufgaben und Lebensstimmungen einer Haushenne zu verurteilen. Alle
fühlen, daß die Verhältnisse des Winkels, des Rektorhauses wie des Städtchens,
der ungewöhnlichen schönen Frau nicht zu Gesicht stehen, alle erraten, daß
hier gleichsam stolze, üppige Glieder in ein viel zu knappes und ärmliches
Gewand eingepreßt sind. Der Rektor selbst, eine Seele von einem Menschen,
dessen reiner Gutmütigkeit es freilich an aller Schärfe des Blutes gebricht,
hegt mitten in dem wohligen Glück und Behagen starke Zweifel, ob Frau
Elisabeth selbst sich glücklich fühle. Nicht für sich, aber sür die edle, groß-
angelegte Frau empfindet er die kleinen Demütigungen, die ihm in seiner be¬
scheidnen Stellung von Landratsdttnkel, Schulrcitsdünkel und kleinstädtischen
Kastenstolz gelegentlich auferlegt werden.
Auf diese Sachlage baut Herr von Röcknitz, der frühere Gastfreund
Elisabeths, der es nicht verschmerzt hat, daß diese Frau nicht seine Beute ge¬
worden ist, den Plan, sich ihrer doch noch zu bemächtigen. Er ist seiner eignen
Frau, die angeblich „immer schläft" und nun zum Glück einen Jungen hat,
gründlich müde, und die Weiber, mit denen er sonst sein Spiel treibt, be¬
friedigen ihn auch nicht mehr. Also bricht er bei Gelegenheit eines Pferde-
marktes im Städtchen, bei dem er außerdem ein paar Pferdejuden gründlich
„bemogelt," mit selbstherrlicher Liebenswürdigkeit in das Hans des Rektors
und ehemaligen Zöglings ein und nötigt die Wiedemanns, ihm und seiner
Gemahlin Gastfreundschaft zu gewähren. Er eröffnet dem Rektor, daß er sich
in den Reichstag wühlen lassen wolle, und da ihm nach seiner Versicherung
alles gelingt, wird wohl das nicht besonders schwer halten. Er versichert,
daß er einen Vertrauensmann und Stellvertreter brauche, dringt in den Schul-
mann, seine Stelle zu verlassen, als sein Verwalter, Pächter, alles, was Wiede-
mann will, auf seinen, des Freiherrn, Gütern ein neues Leben zu beginnen.
Um seines Weibes willen und ohne Ahnung, daß der Antrag des Barons
Röcknitz in ganz anderm Sinne, um der Frau willen, erfolgt, tritt der Rektor
der für ihn doch ein wenig fremdartigen Aussicht näher. Röcknitz aber drängt
zur raschen Entscheidung. Er' hat bis hierher die früher vor ihm Geflohene
in ihrem Winkel geschont, jetzt trägt er es nicht länger, sie soll sein werden,
soll wenigstens wieder neben ihm leben, das weitere wird sich von selbst finden.
Stürmisch flehend, gewaltsam fordernd überfällt er die Abwehrende mit seinen
Vorschlügen, seiner unverhohlen bekannten Leidenschaft. Frau Elisabeth windet
sich zitternd unter der Hand, die so in ihr Leben eingreifen will, sie giebt
umsonst immer deutlicher kund, daß sie dem Andringen des Freiherr» niemals
nachgeben werde. Und wie Röcknitz in seinem Herrengefühl und mit der Wit¬
terung eines erfahrnen Jägers für den Wind, leidenschaftlicher und zugleich
demütiger in sie dringt, kommt es zu Tage, daß Frau Elisabeth seinerzeit
vor ihm geflohen ist, um ihm nicht zu erliegen, um uicht Verrat an ihrer
Freundin Bettina zu üben, daß sie ihn geliebt hat, ihn noch liebt. Einen
selbstvergessener Augenblick hängt sie am Halse des Mannes, der ihr heim¬
liches Ideal war und bis zur Stunde noch ist, ein langer, banger Kuß soll
den Abschied auf Nimmerwiedersehen besiegeln. Doch Röcknitz jauchzt auf,
jetzt glaubt er sich Elisabeths gewiß, er wird die Frau, die ihm das gestanden
hat, nie wieder loslassen. Brutal droht er, wenn sie sich nicht füge, die ganze
Nektorbude in die Luft zu sprengen, er will sie zwingen, seine Geliebte zu
werden und zu bleiben. Was kümmert ihn der einfältige Rektor mit seiner
Brut, der ganz unberechtigt die Hand nach einer solchen Perle ausgestreckt
hat! Schaudernd erkennt Frau Elisabeth in diesem rücksichtslosen Fordern, in
der Ausbeutung seines Sieges über ihre Schwäche die wahre Natur des
Mannes, zu dem sie emporgeblickt hat. Eine Sturzwelle von Scham- und
Schuldgefühl betäubt die unglückliche Frau, sie will den Tod im nahen Wasser
suchen. Doch weil sie Liebe gesät hat, erntet sie jetzt Liebe: die Feinfühligkeit
der blinden Stieftochter spürt es zuerst, daß ein Unheil drohe, die treue Sorgfalt
des jungen Lehrers Dangel, der die blinde Helene liebt, schreckt den ahnungs¬
losen Gatten empor, ans ihrem Todesgange tritt der Rektor unerwartet Frau
Elisabeth in den Weg, und in einer erschütternden Szene entlasten und ent¬
hüllen sich die schwerbelasteten Herzen. Frau Elisabeth wird dem Leben
erhalten, ihr ist zu Mute, als hätte sie in dieser Stunde ihren Mann zum
erstenmal gesehen, und obwohl wir nicht erfahren, wie der Rektor mit dem
Freiherrn, der oben im Hause ruhig und siegesgewiß schläft, abrechnen und
auseinanderkommen wird, sollen und müssen wir das Glück im Winkel für
gerettet halten.
Daß wir es müssen, ist keine Frage, der Dichter hat eben sich und uns
die unerläßliche letzte Szene, die mit ihren Gewitterschlägen erst die Luft voll¬
ständig reinigen würde, geschenkt oder versagt, wie man will. Ob wir es
sollen, steht wenigstens für einen Teil der Bewundrer Sudermanns stark im
Zweifel. Glaubt doch nur nicht, flüstern sie, daß dieser Rektor Wiedemann
die Kraft haben wird, den trotzigen Junker abzuschütteln! So oder so wird
Röcknitz die schöne Elisabeth doch an sich reißen, sie ist für einen Übermenschen
und nicht für einen kläglichen Tropf wie den ostpreußischen Schulmeister ge¬
boren. Nichts als ein Aktschluß, wie ihn das heutige Theater vertrüge, ist
diese Rührszene, den wahren Abschluß errät der wissende und fühlende Mensch,
der (wie wir Modernen alle, setzen sie hinzu) ein Stück Übermensch ist, ganz
von selbst.
Wir haben kein Recht und maßen uns nicht an, diese Annahme zu machen.
Wie geschrieben steht, so sei der stille Winkel vor jedem Einbruch des Röck-
nitzschen Herrengefühls und Herrenrechts gesichert, das neugeborne Glück ge¬
festigt! Dann aber ist klar, daß die Darstellung der Gegensätze in diesem Schau¬
spiel viel zu sehr dem modischen Zug, der in allen brutalen Egoisten Über¬
menschen, in allen sich nicht frech übersehenden, wenn noch so vorzüglichen
Menschen Sklaven und Gesindel sieht, gefolgt ist. Wenn es von vornherein
die Absicht Sudermanns war, das gute Recht des Winkels gegen die herzlose
Anmaßung des mit neuester Philosophie aufgefrischten uralten Dünkels zu ver¬
treten, so mußten allerdings der vorzüglich beobachteten und prächtig gezeich¬
neten Gestalt des Freiherrn von Röcknitz andre Gestalten als dieser Rektor mit
seiner Demut und halben Selbstverachtung, als diese Frau Bettina, die jeden
Tag erwartet, daß es aus dem Munde ihres Gemahls „Pascholl" erklingen
wird, entgegengesetzt werden, so mußte selbst die fesselnde Gestalt der Frau
Elisabeth stellenweise eine tiefere Beseelung erhalten. Denn sowie wir fragen,
wo die Wahrheit des so energisch angelegten und wenigstens in zwei Szenen
zu den stärksten und nachhaltigsten dramatischen Wirkungen erhabnen Schau¬
spiels von innerer Unwahrheit und UnWahrscheinlichkeit verdrängt wird, so
sehen wir bald, daß sich auch hier Spiel und Gegenspiel auf abnorme Extreme
gründen. In Berliner Kneipen und geistreichen Gesellschaften mag man das
eigne Volk in eine Minderheit von Tigern und Wölfen und in eine ungeheure
Mehrheit von armseligen Hammeln einzuteilen belieben und jedem Röcknitz
einen armen Rektor Wiedemann entgegenstellen; im Leben sieht auch jetzt noch
die Sache wesentlich anders aus. Weder wird der „harte, heitere, helle Herren¬
mensch" von soviel bereitwilligen Schultern emporgetragen, wie es im „Glück
im Winkel" scheinen will, noch stehen ihm im Durchschnitt bloß Jammer¬
gestalten gegenüber.
^ Ein Dichter von dem Talente Sudermanns muß wissen, daß dieser ganze
Gegensatz ein eingebildeter und willkürlicher ist, muß den Glauben aufgeben,
daß mit Vermeidung der großen Mitte der Welt, in der der Strom des Lebens
am vollsten und frischesten rinnt, je eine überzeugende und siegende Weltdar¬
stellung zu gewinnen sei. Daß die Schule das Panier des Extrems aufge¬
worfen hat, die ausschließliche Darstellung der Abnormität zu den Kennzeichen
des „modernen Stils" rechnet und fortwährend verkündet, daß sie in diesem
Zeichen siegen werde, daß sie die Mitte des Lebens als eins mit der den
Göttern und Menschen verhaßten Mittelmäßigkeit verdächtigt, darf einen Dichter
von wirklicher Kraft, von tiefdringendem Blick in die Menschennatur auf seinem
Wege uicht aufhalten. Geradezu verhängnisvoll aber wäre das Emporkommen
einer Lebensdarstellung, in der etwas andres gesagt als gemeint würde, und
in der die Versöhnung für die philiströsen Zuschauer und Leser das Gelächter
der Wissenden erzeugte. Der kälteste Hauch trostloser Weltanschauung und
der schrillste Klang einer Wahrheit, die Wahrheit wenigstens für den Dichter
ist, würde dem vorzuziehen sein. Wenn die Schlußwendung des Schauspiels
„Das Glück im Winkel" trotz der fehlenden letzten Szene (die um so weniger
sehlen durfte, als uns der Dichter den Rektor Wiedemann vorher nicht ein
einziges mal so gezeigt hat, wie er jetzt binnen wenigen Stunden sein und auf¬
treten muß) die Überzeugung des Dichters ausspricht, so bedeutet dieses Drama,
trotz eutschiedner dramatisch-technischer Mängel, auf die wir heute nicht ein¬
gehen wollen, einen Fortschritt auf dem Wege des Dichters und kann unser
Interesse an Sudermanns Entwicklung nicht abschwächen. Möge uns gegen¬
über seiner nächsten Schöpfung dies fatale Wenn erspart bleiben!
Die Börsenfläue der dritten Dezemberwoche
und die amerikanischen Vorkommnisse, die als verstärkende Ursache dazugetreten sind,
laden zu einem Rückblick auf einige unsrer alten Themata ein, mit denen die
moderne Kulturwelt sich so lange theoretisch zu beschäftigen gezwungen sein wird,
bis sie ihre praktische Erledigung gefunden haben werden. Die Ersparnisse, d. h.
die Ansprüche aus Verbrauchsgüter, die man im Augenblick nicht erwerben und
genießen will, Ansprüche also, deren Verwirklichung man auf eine spätere Zeit
verschiebt, diese Ersparnisse wachsen weit rascher an als die Verzehrkraft der Massen.
Sie können deshalb nur zum Teil in wirklich Produktiven Unternehmungen an¬
gelegt werden. Der überschüssige Teil sucht Unterkunft in unsichern Unternehmungen
in entfernten Gegenden und in Staatsanleihen auf unproduktive Zwecke, deren
Vermehrung, die gleichbedeutend ist mit Verstärkung des Steuerdrucks, demnach
von den Kapitalbesitzern erstrebt werden muß. So entsteht jenes internationale
Pnpiervermögen, das, im Gegensatz zu sichern Hypotheken, Nentenbriefen und Eisen¬
bahnaktien, nur Papiervermögcn ist und nur so lange Zinsen abwirft, als solche
irgend welchen nicht eigentlich verpflichteten Personen ausgepreßt und abgeschwiudelt
werden können, bis eines Tages die Seifenblase zerplatzt, das Papier seinen Schein¬
wert verliert. Damit nicht zufrieden, schafft das anlagebedürftige Kapital noch ein
zweites Scheinvermögen, von dem man sagen kann, daß es aus Einbildung oder
Schwindel der zweiten Potenz beruhe. (Entspringt die Kurssteigerung der wirk¬
lichen Wertsteigerung des beliehenen zinstragenden Gegenstandes, z. B. der Ertrag¬
steigerung einer Eisenbahn, so schafft sie nicht einen Scheinwert, sondern ist nur
der angemessene Ausdruck der eingetretenen Wertsteigeruug.) Die ungeheure Ver¬
mehrung dieser Scheinwerte, der Umstand, daß so viele Millionen Menschen ihre
Existenz auf solche Scheinwerte gegründet haben, daß sie niemals genau wissen,
ob ihr Vermögen wirkliches Vermögen oder eine bloße Seifenblase ist, die un¬
heimliche Wirrnis des modernen Zustandes, bei dem der größere Teil der Menschen
nicht mehr auf eigner Scholle sitzt, sondern von dem Ertrag entfernter Schollen
und ihm fremder Unternehmungen lebt, die er nicht kennt, von denen er oft gar
nicht weiß, ob sie überhaupt vorhanden sind, der wachsende Druck, den dieses
System auf die produktiv arbeitende», die Erzeuger der mit den Zinsen zu er¬
werbenden Güter ausübt, und deren entsprechend wachsende Unzufriedenheit, die sich
in immer schnellerm Tempo folgenden Krisen und Krachs, in denen zu Tage tritt,
wie die Verwirklichung der Papierwerte immer schwieriger wird, das alles zusammen
mahnt an einen nahen großen Kladderadatsch, der freilich anders verlausen und zu
andern Ergebnissen führen wird, als Bebel und die Seinen hoffen.
Es trifft sich gut, daß die Grenzboten gerade in diesen Wochen die Petroleum¬
artikel gebracht haben, in denen der Verfasser (namentlich auf S. 622 bis 625),
ohne unsre Ausführungen zu kennen, das Wesen des Geldkapitals und den Unter¬
schied des Vermögens im Zeitalter der Geld- und Kreditwirtschaft von dem Grund¬
besitz der naturalwirtschaftlichen Zeit genau so dargestellt hat, wie wir es so oft
gethan haben. Nur möchten wir die Leser bitten, einige zur Ergänzung des von
Dnimchen entworfnen Bildes notwendige Züge, die seinem Gegenstande fernlagen,
nicht zu übersehen. Der Interessenkonflikt, wonach die einen niedrige, die andern
hohe Warenpreise wünschen müssen, besteht nicht allein zwischen der Gesamtheit
aller Produzenten und Dienste leistenden einerseits und den Besitzern des Geld¬
kapitals andrerseits, er macht, wie wir in der Besprechung des Marxischen Haupt-
Werks (vorjährige Hefte 27 und 29) gezeigt haben, bei der gegenwärtigen Lage
der Dinge auch die Arbeiter und die Unternehmer, die Landwirte und die In¬
dustriellen, die Vertreter der verschiednen Gewerbe, ja die konkurrirenden Ange¬
hörigen eines und desselben Gewerbes zu unversöhnlichen Todfeinden. Sodann
darf man nicht übersehen, daß das internationale Geldkapital fast über alle Stände
und Klassen verteilt ist; kauft doch auch der kleine Rentner Aktien und „Griechen."
Insbesondre aber sind heute nicht allein alle Großgrundbesitzer zugleich Gro߬
industrielle und alle Großindustriellen zugleich Großgrundbesitzer, sondern beide
Klassen sind zugleich Besitzer großer Geldkapitalien. Je mehr in unsrer Zeit auch
die reiche» Leute durch die öffentliche Meinung zu einer bürgerlich einfachen Lebens¬
weise gezwungen werden und sich vor der bei den Reichen früherer Jahrhunderte
üblichen unsinnigen Verschwendung hüten müssen, desto unmöglicher wird es ihnen,
ihre zwei oder vier oder sechs Millionen Reineinkommen zu verbrauchen, desto mehr
also sehen sie sich genötigt, ihre Überschüsse in Papier anzulegen und, wie sich das
bei einem bedeutenden Papiervermögen von selbst ergiebt, Mitglieder und Mit¬
beherrscher der Börse zu werden. Andrerseits verwandeln sich die erfolgreichen
Börsenspieler. Spekulanten, Schwindler und sonstigen Schmarotzer mit der Zeit in
Großgrundbesitzer und Großindustrielle; die das versäumen, die werden über kurz
oder lang von den Wogen der Spekulation, die sie emporgetragen haben, wieder
verschlungen; eines schönen Tages, nach einem Krach, stehen sie als Bettler da.
Was dem flüssigen Kapital auf die Dauer Macht verleiht, sich eiuen so großen Teil
des Arbeitsertrages der Völker anzueignen, das ist also doch zuguderletzt der gewöhn¬
lich damit verbundne Besitz der Arbeitsmittel. Auch Rockefeller übt seine Macht
als Erpresser durch deu Besitz: den Besitz der Raffinerien, der Tankwagen, der
Röhrenleitungen, und er hätte diese Macht nicht erringen können, wenn es ihm
uicht gelungen wäre, andre Besitzer, die Besitzer von Eisenbahnen, als Bundes¬
genossen zu gewinnen. Mag also der Schwindel auch die Millionen im Nu er¬
raffen, sie festzuhalten und als ein wohlgefügtes Pumpwerk zur Auspressung der
Völker zu verwenden, das vermag er nur, wenn diese Millionen wenigstens zum
Teil in Arbeitsmittel verwandelt werden. Was Rockefeller im Großen gethan hat,
das thun unzählige Amerikaner, Gewürzkrämer und Fabrikanten z. B., im Kleinen:
sie ruiniren ihre ärmern Konkurrenten durch Unterbieten, um eiuen größern Kunden¬
kreis zu monopolisiren. Aber das können sie offenbar nicht durch Schwindelkünste
allein erreichen, wenn solche auch mit zu Hilfe genommen werden, die Hauptsache
bleibt doch immer, daß sie selbst eine Fabrik oder einen Kramladen haben. Was
Macht und Geld oder Geld und Macht verleiht, das ist heute wie ehemals der
Besitz, nur daß die Geld- und Kreditform den Besitz elastischer, flüssiger macht,
seine Verwendbarkeit erhöht und- ihm, je größer er ist, desto mehr das Wachstum
erleichtert.
Wie aber der große Besitz Macht verleiht, den kleinen unsichern Besitz auf¬
zusaugen und die Arbeit zu unterjochen, fo verleiht der kleine sichere Besitz Wider¬
standskraft gegen das Großkapital. Der unverschuldete Bauer, und eS giebt auch
bei uns noch solche, ist so unabhängig von der Weltmacht des Großkapitals, daß
er gar nichts davon spürt und von ihrem Dasein nichts wissen würde, wenn er
keine Zeitungen läse. Die Kernfrage der Zeit bleibt also: Vermehrung des un¬
abhängigen kleinen Grundbesitzes, und daher ist der Stumpfsinn erstaunlich, mit dem
die Völker Europas die Berufung Clevelands auf die Mvuroedoktriu hingenommen
haben. Selbstverständlich hegen wir keine Sympathie für das unersättliche Eng¬
land. Aber darum handelt es sich nicht, ob die Engländer einen Fetzen Land von
Venezuela abreißen oder nicht, auch nicht darum, ob die Icmkees so verrückt siud,
sich dieses Fetzens wegen in einen Krieg mit England zu verwickeln. Sondern es
handelt sich um den Satz in Monroes Botschaft vom Jahre 1823: „Die ameri¬
kanischen Kontinente sollen infolge der freien und unabhängigen Stellung, die sie
erlangt haben und behaupten, von nun an nicht mehr als offen für die Koloni¬
sation irgend einer europäischen Macht betrachtet werden." Diesen Grundsatz
dürfen die europäischen Volker nicht anerkennen, seine Durchführung uicht dulden,
wenn sie selbstbewußte Kulturvölker und nicht Schafherden fein wollen. Es wäre
unsinnig, wenn die Völker Europas zugeben wollten, daß die 45 Millionen Be¬
wohner Südamerikas über 300 000 Quadratmeilen des fruchtbarsten Bodens der
Erde als ihr unumschränktes Eigentum betrachten und behandeln dürften; noch un¬
sinniger wäre es, den Satz: Amerika den Amerikanern, so auszulegen, daß den
nordamerikanischen Spekulanten und Kapitalisten nebst einigem südamerikanischen
Raubgesindel das Monopol aus die Ausbeutung des beinahe noch jungfräu¬
lichen herrlichen Erdteils gebühre. Was für unbehilfliche Wesen sind doch die
Völker selbst nach ihrer Organisation in Staaten noch immer! Jahrzehntelang
sehen sie müßig zu, wie überall in der Welt das Kapital der Arbeit zuvor und
diese immer zu spät kommt, wie die Arbeit selbst auf jungfräulichen Boden, wo
sie alles aus dem Rosen zu schaffen hat, gleich vom ersten Anfang an dem Kapital
frohnten muß, und wie demnach das einzige durchgreifende Mittel zur Lösung
der Wirren unsrer Zeit, die Vermehrung des freien landwirtschaftlichen Klein¬
grundbesitzes, immer schwieriger wird, binnen kurzem vielleicht unmöglich geworden
sein wird!
Endlich erregen die gleichzeitig mit der allgemeinen Depression der Börse akut
gewordnen Finanzschwierigkeiten der Vereinigten Staaten unser lebhaftestes Interesse.
Der nach England reichste Staat der Erde — in dem dreifachen Sinne reich, daß
er eine Menge Hundertmillionäre und nach der Markrechnuug fogar einige Mil¬
liardäre zu Bürgern hat, daß in ihm der Wohlstand bis tief in den untersten
Schichten verbreitet ist, und daß er noch über dünn bevölkerte, wenig ausgebreitete
Landreserven verfügt —, dieser reiche Staat gerät in finanzielle Schwierigkeiten
und sieht sich von der Zahluugsuustthigkeit bedroht, weil er sich von den Silber¬
grubenbesitzern zu einer falschen Münzpolitik hat verleiten lassen!
Die Konferenz
zur Beratung über die Abänderung unsrer sozialpolitischen Versicherungsgesetzgebung
hat sast in überraschender Weise gezeigt, wie sehr man selbst an maßgebender Stelle
daran zweifelt, ob sich die getrennte Fortführung der drei bestehenden Versicherungs¬
zweige — Krankenversicherung, Unfallversicherung und Jnvaliditäts- und Alters¬
versicherung — empfehle. Das Gefühl, daß der gegenwärtige Zustand unhaltbar
sei, ist von der Peripherie, wo es sich zuerst geltend machte, nachgerade zum
Mittelpunkt gedrungen.
Erfreulich ist, daß der amtliche Bericht über die Konferenz, wenn er es auch
zunächst für besser zu halten scheint, daß man es mit der Verbesserung der be¬
stehenden Gesetze noch versuchen solle, doch die Frage offen läßt, ob man nicht
lieber mit der Reform überhaupt warten solle, bis sich ein einwandfreier Weg
zur Verschmelzung der verschiednen Versicherungszweige gefunden habe. Ich glaube,
wenn die zuständige» Behörden diese Frage recht im Ernste prüfen, werden sie
nur zu der Antwort kommen, daß wenigstens solche Änderungen zunächst zu ver¬
meiden sein werden, die sich im Falle einer spätern gründlichen Reform als wertlos
erweisen würden.
So darf denn die Erörterung über einen vollständigen Neubau der sozial-
politischen Versicherung als eröffnet gelten, und es mag jeder, dem die Sache c>M'
Herzen liegt, in freiester Weise zu der Sache Stellung nehmen; d. h. ohne ängst¬
liche Rücksicht auf Bedenken, die lediglich dem Wunsche entspringen, die einmal
geschaffnen Einrichtungen und Formen so weit als möglich zu erhalten.
Das Verlangen nach der Reform ist von dem schwerbelästigten Publikum und
von Männern der Praxis ausgegangen und richtet sich demgemäß nur uach dem
praktischen Ziel einer Vereinfachung und Verbilligung, ohne viel darnach zu fragen,
ob nicht auch die Grundsätze, auf denen die Versicherung beruht, einer Revision
bedürftig seien. Mir scheint das aber doch der Erwägung wert zu sein, und zu
solcher Erwägung anzuregen, ist der Zweck dieser Zeilen.
Die kaiserliche Botschaft vom 17. November 1331 hat die sozialpolitische
Versicherung ausdrücklich darauf gegründet, daß mit der Niederdrückung sozialdemo¬
kratischer Ausschreitung eine positive Förderung des Wohles der Arbeiter Hand
in Hand gehen müsse, da diese Klasse der Bevölkerung in der That Anspruch habe
auf ein höheres Maß staatlicher Fürsorge, als es ihr bisher zu teil geworden sei.
staatsmännische Weisheit hat aber weiterhin vielfach — und das ist schon in den
ersten Reichstagsverhandlungen über den Gegenstand zu Tage getreten — die
Förderung des Wohles der Arbeiter überhaupt nicht als Selbstzweck aufgefaßt,
sondern lediglich als ein Mittel, der Sozialdemokratie den Wind ans den Segeln
zu nehmen. Nun sind jn beide Zwecke, sowohl die Besserstellung der Arbeiter
als auch die dadurch etwa zu erreichende Zurückdämmung gefährlicher Wühlereien,
nur zu billigen. Aber es fragt sich doch, ob die sozialpolitische Versicherung nicht
auch ohne dies ein Erfordernis der Zeit gewesen wäre, und ob sie nicht auf eine
breitere Grundlage zu stellen wäre.
Ich glaube, diese Frage bejahen zu müssen. Ich glaube, daß der Staat mit
der Annahme des Grundsatzes der obligatorischen Armenpflege schon den Schritt
gethan hat, der notwendigerweise in früherer oder späterer Zeit den Versicherungs¬
zwang zur Folge haben mußte und ihn auch in den Ländern, in denen man jetzt
noch nicht daran denkt, zur Folge haben wird. Es ist gewiß recht, wenn der
Mensch seinem unverschuldet in Not geratenen Mitmenschen aushilft, und es ist
schließlich auch recht, daß er dazu gezwungen wird, wenn er es nicht freiwillig
thut. Aber daß mau den Fürsorglichen zwinge, für den Unfürsorglichen einzutreten,
das ist doch nicht so ohne weiteres gutzuheißen. Es läßt sich jn verteidigen
vom Standpunkt christlicher Milde aus, die durch die Schuld des Notleidenden
einen dicken Strich macht; aber selbst wenn man gern diesen Standpunkt gelten
läßt, muß man doch Vorkehrungen verlangen, daß nicht auf diesem Wege die Zahl
der Uufürsorglichen vermehrt werde. Wenn der Staat der wirtschaftlichem Ge¬
samtheit verbietet, einen Menschen verhungern zu lassen, so muß er ihr auch auf
der andern Seite das Recht geben, von jedem Einzelnen zu verlangen, daß er in
seinen guten Tagen für seine schlimmen Tage Fürsorge treffe. Diesem Erfordernis
kann Wohl auf keinem andern Wege Genüge geleistet werden, als auf dem des
Versicheruugszwauges.
Diese Ausfassung des Zweckes der sozialpolitischen Versicherung hat natürlich
auch Einfluß auf die Beantwortung der Frage nach den Zielen, denen die ein¬
schlägige Gesetzgebung in ihrer weitern Entwicklung entgegenzustreben hat. Als
letzte Forderungen ergeben sich: 1. daß der Versicherungszwang (wenn auch nicht
die Zwangsversicheruug) auf alle Reichseiuwohner ausgedehnt werde; 2. daß die
Versicherung gegen Not jeder Art stattfinde, also nicht nur gegen die aus Krank¬
heit, Invalidität, Alter oder Unfall, sondern auch gegen die aus Arbeitslosigkeit,
Tod des Ernährers usw. hervorgegangue; 3. daß die Notrente nebst dem etwa
noch vorhandnen eignen Einkommen nicht hinter dem zurückbleibe, was der Mensch
unbedingt zum Leben braucht.
Wie ich mir die Ausgestaltung einer so umfassenden Versicherung in der Praxis
denke, das dürfte hier, wo ich nur zum Nachdenken über Grundsätzliches anregen
möchte, nicht zu erörtern sein. Ich betone nur, daß nicht alles, was grundsätzlich
als wünschenswert erscheint, auf einmal durchgeführt werden muß, und daß es den
aufgestellten Grundsätzen schließlich auch keinen Abbruch thun würde, wenn man in
dem einen oder andern Punkte aus Praktischen Rücksichten (Umständlichkeit, Kosten)
davon absehe» müßte, ihre äußersten Folgerungen zu ziehen.
Ein wichtiger Punkt bleibt noch zu berühren. Es ist wohl ohne weiteres
klar, daß eine Versicherung, die stattfindet, weil die Gesamtheit den Einzelnen zur
Fürsorge für Tage der Not zwingen will, auch voraussetzt, daß jeder seinen Bei¬
trag wirklich ans seiner eignen Tasche bezahle. Es müßte also auch der Arbeiter
die volle Zahlung seines Beitrages übernehmen; es gäbe keinen Zuschuß der Arbeit¬
geber und keinen Reichsznschuß. Gerade hierin würde ich aber nicht eine Ver¬
schlechterung, sondern eine Verbesserung des Versicherungswesens sehen. Denn für
die Zuschüsse weiß ja doch der Arbeiter dem Arbeitgeber und dem Reiche nur des
Teufels Dank. Seine sozialdemokratischen Führer erzählen ihm, er sei um den
Betrag dieser Zuschüsse und um uoch viel mehr in dem ihm gebührenden Lohne
verkürzt. Daran ist so viel wahr, daß der Arbeiter allerdings neben den Kosten
seines laufenden Lebensunterhalts auch das verdienen sollte, was ihn für Zeiten
der Krankheit, der Invalidität usw. sicher stellt. Ohne Zweifel würde er diesen
Anspruch auf dem Arbeitsmarkte durchgesetzt haben, wenn ihn nicht die obligatorische
Armenpflege in dieser Beziehung sorglos gemacht hätte. Sobald und soweit nun
die Armenpflege durch den Versichernngszwang ersetzt ist, gewinnt der Arbeiter
notgedrungen die genügende Festigkeit, sich auf dem Arbeitsmarkte binnen kurzer
Frist die Lohnerhöhung zu sichern, die zur Bestreitung seiner Versicherungsbeiträge
erforderlich ist, und es wird ihm um so leichter werden, als der Arbeitgeber in
dem Augenblick, wo ihm neben seinem bisherigen Anteil an deu Beiträgen noch
eine Menge von Mühe und Ärger abgenommen wird, sich gewiß nicht allzu zähe
zeigen wird. Gewiß aber kann es nur zur moralischen Hebung des Arbeiterstandes
beitragen, wenn er nicht mehr als halbes Almosen zu nehmen braucht, was nun
doch eiumnl nach seiner Überzeugung eigentlich aus seinem Verdienste bestritten wird.
Damit kommen wir auf die Anschauungen einer für den Versicherungsgedanken
grundlegend gewesenen 1363 erschienenen Schrift^) von Engel zurück, in der bereits
ausgesprochen war, daß die Versicherung gegen Krankheit, Invalidität, Alter, Arbeits¬
losigkeit und Todesfall notwendig einen Teil des Verdienstes eines jeden Arbeiters
bilden müsse. Man hätte diesen Gedanken von vornherein auch in der Praxis
festhalten sollen.
Professor Lorenz in Jena hat auf der achte» General¬
versammlung der Goethegesellschaft in Weimar einen Vortrag gehalten, worin er
Goethe ein sehr »veitgehendes Interesse an der außer» Politik zuspricht. In Goethes
Kopfe wäre der Gedanke entstanden, den Fürstenbund zu gründen, und der Herzog
hätte ihn dann später über alle Vorgänge in der Politik »»terrichtet. Karl August
wäre also Goethes politischer Lehrmeister gewesen. Die Goethegesellschast hat dem
Vortragenden mit reichem Beifall gelohnt, und ihr Jahresbericht bestätigt diese
Anerkennung, nachdem der Vortrag im Druck erschienen ist, in einer, so zu sagen,
amtlichen Form. Sie dankt Lorenz für seine „irdene- und gedankenreichen Aus¬
führungen"; erst nach dem Drucke zeige sich, „welche vielseitige Anregung und
neuen Gesichtspunkte der Vortrag gegeben habe" usw.
Aber wir andern, die nicht zu deu glücklichen Genießenden an jenem Vor-
tragstage gehört haben, sollten uns des vermeintlichen Gewinns nicht lange freue«,
zu dessen Anerkennung sich jene durch ihren voreilig gespendeten Beifall vielleicht
auch nachträglich verbunden fühlen. Denn nun ist ein angesehener Veteran
der Goetheforschung auf dem Plau erschienen und zeigt uns in einem Buche von
acht Bogen,") daß das alles eingebildet und erfunden sei, leichtfertigerweise er¬
dichtet und —, doch wir wollen keine zu starken Ausdrücke gebrauche«, damit sie
uns nicht als Originalleistnngen angerechnet werden. Der Leser wird sie besser
aus dem Buche Düntzers selbst entnehmen, wo sie ihm wie Schnellfeuer in der
Schlacht entgegenfliegen und er sich freuen kann, daß sie nicht ihn zu treffen be¬
stimmt sind, sondern den Jenaer Professor, den unberufner Eindringling in das
Gehege der Goetheforschung, an dem hier, wie man zu sagen Pflegt, kein gutes
Haar gelassen wird. Man könnte das Buch von Düntzer als eine Art von Ar¬
senal für Zwecke der litterarischen Polemik benutzen.
Aber in dieser Lage befinden wir uus ja glücklicherweise uicht. Wir, die wir
doch auch Goethe auf unsre Weise lieb haben, möchten nun vor allem gern wissen,
wer denn eigentlich Recht hat. Lorenz ist einer unsrer geistreichsten Historiker;
seinen Büchern verdankt man vielfache Belehrung und Anregung. Düntzer ist ein
bewährter Goethephilvloge, und die Goethegesellschaft endlich, die Lorenz Beifall
klatscht, sollte doch auch wohl etwas verstehen von dem, was ihr so zu sagen auf
deu Leib zugeschnitten ist, wie jener um gedruckte Lorenzsche Vortrag.
Wir sind also ziemlich ratlos und möchten fast meinen, hier liege nicht eine
einfache Thatsachenfrage vor, sondern etwa ein Problem der Erkenntnistheorie. Je
nachdem ich mich eben stelle, erscheint mir die Sache. Lorenz hat den Eindruck
gehabt, daß der Herzog wohl noch etwas andres getrieben haben müsse als Sau¬
hatz und Kirmesschwänke (worüber man die Einzelheiten in Düntzers Buche sehr
hübsch zusammengestellt findet), er hat vielleicht auch als Historiker ganz bestimmte
Erinnerungen, z. B. daran, wie musterhaft und großartig sich dieser kleine Fürst
an Friedrich Wilhelms 11^. Seite gegen Napoleon benommen hat. Er denkt ferner:
ist Karl August als Fürst auch noch so geringfügig, mehr Ahnung von der großen
Politik als der ehemalige Frankfurter Rechtsanwalt wird er immer noch gehabt
haben; also wer der Gebende, wer der nehmende auf diesem Gebiete ist, scheint
klar usw. Schließlich wird aus solchen Gedanken ein Vortrag über Goethe; keine
schwere Denkarbeit, sondern das Ergebnis einiger Feierstunden, und die Sache hat
ihren Zweck erreicht, denn der Goethegesellschaft hat sie ausnehmend gefallen, nicht
nur an jenem Tage in festlicher Stimmung, sondern auch noch bei näherer Über¬
legung, wie der Jahresbericht zeigt. Und die Goethegesellschaft wird so etwas
doch wohl „verstehen," oder, wenn man darüber nicht ganz sicher sein sollte, für
sie war der Vortrag doch bestimmt. Sie ging es vor allem an, ihr hat Lorenz
genug gethan. Er kann also zufrieden sein.
Muß man deun gegen jeden Spatz eine Batterie von Kanonen auffahren?
Düntzer scheint dieser Meinung zu sein (obwohl das Verfehlte an Lorenzens Vor¬
trag bereits in Sybels historischer Zeitschrift hervorgehoben worden ist) und darum
hat er in diesem Buche ausgeführt, wie nach seiner Auffassung Goethe zu Karl
August zu stehen kommt. Daß Goethe, wie in allen Stücken, so auch hier der
Gebende, der Lehrer und Mentor des unreifen Herzogs ist, versteht sich für diese
Auffassung von vornherein. Dazu giebt das Buch zahlreiche Belegstellen aus
Goethes Werken, aus Briefen und Aufzeichnungen Goethes und andrer. Wir em¬
pfehlen es den Lesern angelegentlich. Aber was die prinzipielle Seite des Streits
zwischen Lorenz und Düntzer betrifft, so sind wir doch nicht der Ansicht, daß
jemand, der einmal einen Vortrag über Goethe halten und drucken lassen will,
die Verpflichtung hat, vorher die ganze Goethephilologie auswendig zu lernen,
vollends wenn er dabei fürchten muß, den Stoff in dem betreffenden Haupt¬
werke „nach der Anlage desselben nicht vollständig und sehr zerstreut" zu finden,
wie Düntzer in Bezug auf seineu „Goethe und Karl August" selbst zugesteht. Oder
aber die Goetheforschung müßte diese Vorstudien dem Suchenden durch die Art
ihrer Arbeit wesentlich erleichtern. Wenn sie selbst z. B. neben der sachlichen Durch¬
dringung auch die angenehme Leichtigkeit der Darstellung erstreben wollte, die ja
Lorenz in so verführerischer Weise — uach Düutzers Meinung — erreicht hat, so
würde solche gefahrdrohende Konkurrenz von selbst verschwinden. Und eigentlich
sollte doch wohl, was über Goethe und sür den größern Kreis der Gebildeten ge¬
schrieben wird, auch gut geschrieben sein. Leider können wir das von dem vor¬
liegenden Buche Düutzers nicht sagen. Aber es widersteht uns, gegenüber den un¬
leugbaren Verdiensten des verehrten Forschers mit Kleinigkeiten als Splittcrrichter
aufzutreten.
Wir bitten ihn statt dessen, sich zu vergegenwärtigen, was er Seite 38 s. über
Goethes erstes Anknüpfen mit Karl August geschrieben hat, und sich zu fragen, ob
das Wohl jemand, der nicht „Goetheforscher" ist, verständlich sein mochte. Goethe
sagt in „Dichtung und Wahrheit," als er Karl Augusts Besuch empfangen habe,
hätten auf seinem Tische Mösers „Patriotische Phantasien" gelegen. Das bestreitet
Düntzer und hält es für freie Erfindung Goethes. Wer aber eine solche Behaup¬
tung aufstellt, muß doch seine Gründe und ihre Fassung ganz besonders sorgfältig
prüfen. Nun liest man aber bei Düntzer, daß sich Goethe am 28. Dezember 1772
bei Mösers Tochter für das Buch bedankt habe, und wer nicht zufällig weiß, daß
der erste Band der „Phantasien" überhaupt erst zwei Jahre später erschienen ist,
wird schwerlich einen Druckfehler vermuten, wodurch deun die ganze Auseinander¬
setzung unverständlich werden muß. Ebenso fehlt gleich darauf in einem Satze
über Knebel die Hauptsache, das Verbum, und wir bleiben völlig im Unklaren,
was es eigentlich an jener Stelle mit Knebel ans sich hatte.
Unter den mancherlei Stellen, wo Düntzer gegen Lorenz Verwahrung einlegt,
scheint eine besonders bemerkenswert. Goethe sagt über Wolfs Prolegomena: „Am
Ende ist mehr Subjektives in diesem ganzen Krame." Lorenz bezieht „Kram"
auf die Kritik Wolfs, und man sollte meinen, das wäre richtig. Aber Düntzer
behauptet, es sei ein „Mißverständnis, Goethe eine solche Albernheit aufzubürden."
Deun „Kram" stehe dort im Sinne von „Sache." Wollte uns Düntzer doch den
Sinn seines „Sinnes" und den Zweck seines Widerspruchs deutlich machen! Über¬
haupt wäre bei vielem, was er gegen Lorenz vorbringt, weniger mehr gewesen.
Nach dieser Kanonade ist die Lektüre einer kleinen Schrift von Kuno Fischer*)
eine Erholung. Im Frommannschen Hanse in Jena hatte Goethe Minna Herzlich
kennen gelernt, das Vorbild der Ottilie in den „Wahlverwandtschaften." Als sie
achtzehn Jahre alt war, dichtete der Sechsundfünfzigjährige ans sie, die damals
keine Ahnung davon hatte, Sonette. Zehn Jahre später erhielt sie sie als Gc-
burtstagsgabe. Von diesen Sonetten aller hatte Goethe einige an Bettina geschickt,
die sie auf sich bezog und dann dichtend sich und andre täuschte, bis die Kritik
diesem anmutigen Spiel einen andern Namen gab und sich, je nach dem Staud¬
punkte der Beurteiler, verschiede» über deu „Briefwechsel mit einem Kinde" aus¬
gelassen hat. In der Hauptsache war das ja alles bekannt. Es ist bereits manches
darüber geschrieben worden, zunächst im Anschluß an ein 1870 erschienenes Buch
aus dem Frommanuschen Familienkreise. Kuno Fischer faßt das Problem be¬
stimmter. Er bezieht alle siebzehn Sonette in sorgfältiger Erklärung auf Minna.
Aber gegenüber den Versuchen, ihr ein Empfinden oder ein Verstehen Goethes zu¬
zuschreiben, wie mau es bei Bettina oder Marianne von Willemer voraussetzt,
hebt er schärfer als seine Vorgänger die überaus einfache, schwerfällige, passive
Natur des äußerlich anmutigen Wesens hervor. Die Darstellung ist leicht und
augenehm, wie man das bei solchen Schriften Fischers gewohnt ist.
Was ist echtes Christentum? Wenn wir gläubige Katholiken
wären, so würden wir uns einbilden, es zu wissen. Da wir aber keinen unfehl¬
baren Papst haben, woher sollten wir es da wissen? Die größte» Männer aller
christlichen Jahrhunderte haben sich darüber gestritten; welche Anmaßung wäre es,
wenn wir Mittelmäßigen entscheiden wollten! Natürlich hindert uns diese Unge¬
wißheit und Unwissenheit nicht, aus der Bibel, sowie aus dem Leben und den
Worten bedeutender Christen Belehrung und Erbauung, Trost und Stärkung zu
schöpfen, wie ja auch der nicht wissenschaftlich gebildete Mensch sich an den Speisen
erquickt und damit seinen Leib aufbaut, obwohl er vou ihrer chemischen Zusammen¬
setzung und von ihrer Wirkungsweise keine Ahnung hat. Ist es also unmöglich,
zu Wissen, was das Christentum eigentlich sei, so ist es dafür ziemlich leicht, zu
wissen, was es nicht ist. Beim Blick auf das Leben der Christenheit und auf die
kirchlichen Einrichtungen haben in alleu Jahrhunderten fromme Mäuner ausgerufen:
Das ist nicht Christentum! Die unbequemsten unter den Richtern und Tadlern der
Kirche wurden als Ketzer verfolgt. Zuletzt gelang es eiuer großen und mächtigen
Ketzerei, dem Protestantismus, selbst Kirche zu werden, orthodoxe Kirche mit
Glaubensgericht und allem sonstigen Zubehör, aber in ihrem Schoße starben die
ernsten und frommen Männer nicht aus, die behaupteten, auch dieses erneuerte
Christentum sei noch gar kein Christentum. Nun ja, gestanden schließlich die amt¬
lichen Vertreter aller Konfessionen zu; wenn ihr das gar so strengnehmen wollt — ;
unvollkommne Christen sind wir ja alle, manche von uns sogar recht schlechte, und
unvollkommen sind die kirchlichen Einrichtungen wie alle irdischen Dinge; aber die
Kirche ist eben im Diesseits noch nicht die Gemeinde der Heiligen, das wird sie
erst drüben sein; hier ist sie die Schule der Heiligkeit, die Erziehungsanstalt;
wären wir schon erzogen, so brauchten wir sie gar nicht. Worauf die Gegner mit
den Worten antworten, die (Apokalypse 3, 14 bis 16) dem Engel der Gemeinde
zu Laodicea gesagt werden: weil du weder kalt noch warm, sondern lau bist, will
ich dich ausspeien aus meinem Munde; ein schlechter Christ ist ein Unding; man
hat sich entweder bekehrt, und dann ist man ein Christ, oder mau lebt das natür¬
liche Leben weiter, dann ist man ein Heide.
In unserm Jahrhundert, wo alle Naivität verloren gegangen und schon der
Schulknabe ein Kritiker ist, wird der Widerspruch der Sitten und Einrichtungen
der Christenheit gegen die Bibel um so allgemeiner bemerkt, je eifriger die Obrig¬
keiten beflissen sind, im Namen des Christentums offenbar unchristliche Einrichtungen
mit offenbar unchristlichen Mitteln aufrecht zu erhalten. Der Widerspruch wird
gleichmäßig von den Freunden wie von den Feinden des Christentums aufgedeckt.
Das ist je> gar kein Christentum, rufen einmütig David Strauß und Carlyle, die
Sozialdemokraten und die Männer der innern Mission, Egidy und Tolstoi. Die
Kritiker der gläubigen Seite haben das gemeinsam, daß sie alle, der eine in diesem,
der andre in jenem Stück, kntholisiren. Einige neigen zur Askese und dringen auf
Keuschheit uicht im Sinne Luthers, sondern im mönchischen Sinne, andre nennen
den Prediger Priester und das Abendmahl Altarssakrament und wollen die Beichte
wieder einführen, noch andre halten viel auf Kirchenschmuck und symbolische Hand¬
lungen, und durch das Ordensgewand der Diakonissinnen wird die protestantische
Welt ganz sänftiglich und allmählich wieder ans Klosterwesen gewöhnt.
Unter allen modernen Richtern der Christenheit ist der in Deutschland und
wohl überhaupt in der Welt am wenigsten bekannte, Sören Kierkegaard (1313 bis
1355), der radikalste gewesen. Er hatte, wie er selbst oft beklagte, das Unglück,
ein Däne zu sein, also ein sehr kleines Publikum zu haben, aber jetzt, vierzig
Jahre nach seinem Tode, wird er es vielleicht zu einer deutscheu Gemeinde bringen.
Nachdem in den letzten Jahren von einigen seiner Schriften neue Übersetzungen
veranstaltet worden sind, von denen wir drei angezeigt haben (1890, erstes Viertel¬
jahr, S. 341 und drittes Bierteljahr, S. 430), giebt jetzt Chr. Schrempf, den
das anhaltende Studium des dänischen Theosophen aus der Landeskirche hinaus¬
gedrängt hat, zusammen mit dem Pfarrer A. Dorn er, der ebenfalls sein Kirchen¬
amt aufgegeben hat, die polemischen Schriften seines Meisters in zweckentsprechender
Anordnung unter dem Titel: Sören Kierkegaards Angriff auf die Christen¬
heit (Stuttgart, Fr. Frommann, 1896) heraus. Die „Alten" des Angriffs liegen
in dem zweiteiligen ersten Bande vor; ihnen soll ein Kommentar folgen.
Wer Kierkegaard noch nicht kennt, der möge sich nicht etwa einen polternden
Kapuziner oder einen salbungsvollen Pietisten vorstellen. Er ist ein Genie, das
Gedankenblitze schleudert, philosophisch und ästhetisch durchgebildet, theoretischer und
praktischer Psycholog ersten Ranges, Herzenscrgründer und Herzenstnnder, und er
arbeitet mit allen Mitteln des modernen Publizisten. Seine ersten Schriften , in
denen er sich „verstellte," wie er es selbst nennt, seine religiöse Absicht unter der
ästhetischen Maske verbarg und den Standpunkt seines Publikums einnahm, um es
zu gewinnen,*) machten Furore. Nachdem er sich so ein Publikum gebildet hatte,
schritt er zum Augriff. Euer Christentum, sagte er den Leuten, ist eine Sinnes-
täuschung. Ein geistlicher Stand, dessen Mitglieder für die Verkündigung des
Christentums mit Pfründen und Titeln bezahlt werden, ist ein heilloser Unsinn.
Denn das Christentum besteht eben darin, daß man allen diesen Dingen entsagt,
„daß man nicht bloß nach solchem nicht trachtet, nein, daß man es um keinen
Preis annehmen will, wenn es angeboten wird; daß man es ängstlicher flieht, als
der irdische Sinn Elend und Leiden flieht; daß man es leidenschaftlicher flieht,
als der irdische Sinn darnach begehrt." Christ sein heißt: den Willen Gottes
thun; Christ sein heißt: leiden, verfolgt werden, aus den Synagogen gestoßen werden;
wer selber in irgend einer Synagoge sitzt, der ist kein Christ. Christus hat nach
allen menschlichen Gesetzen den Tod verdient, denn wenn er auch niemandem sein
Vermögen oder seine Königskrone geraubt hat, so hat er doch schlimmeres gethan:
er hat allen Gütern, die das Gesetz Schutze, den Wert geraubt. Was Kierkegaard
von den Geistlichen im einzelnen sagt, was er von den Königen als Beschützern
des Christentums und der Geistlichkeit sagt, davon kaun man bei der heutigen Laune
der Herren Stantsanwälte in einer Zeitschrift nicht einmal eine Probe abdrucken;
kein fanatischer Atheist, kein französischer Encyklopädist hat die „Pfaffen" so wirksam
verhöhnt und so vernichtend kritisirt wie dieser gläubige und heilige Christ, der in
der Anschauung Gottes und, wie er selbst sagt, im Kloster lebte, obwohl er sein
Haus in Kopenhagen nicht verließ. Denn für ihn, das glaubte er erkannt zu haben,
gab es nur ein Entweder — Oder: entweder völlige Hingebung an die Sinnlichkeit
oder das Kloster.
War er in diesem Punkt und als Mystiker ganz katholisch (auch seine täg¬
lichen geistlichen Übungen und Lesungen unten ganz katholisch an), so stand er dafür
mit seiner Verachtung alles äußerlichen Kirchentums und mit seiner Verspottung
des oxus opsr^tum auf dem äußersten Gegenpol des römischen Katholizismus.
Einen „rein bestialischer Unsinn" nennt er es, daß man ein Christ werden solle,
„indem man als Kind durch einen Staatsbeamten ein paar Tropfen Wasser auf
den Kopf bekommt und die Familie zur Feier dieser Feierlichkeit ein Gastmahl
arrnngirt." Daß das gar zu toll sei, scheine die „Christenheit" selbst einzusehen;
deshalb habe sie die Konfirmation eingeführt, die aber nicht weniger ein Unsinn
sei. „Handelte es sich um zehn Thaler, so würde der Vater sagen: »Nein, mein
Junge, das kann man dir nicht überlassen, dafür bist du hinter den Ohren noch
nicht trocken genug.« Wo es sich aber um die ewige Seligkeit handelt, und wo
eine wirkliche Persönlichkeit hergehört, da ist das Alter von fünfzehn Jahren das
passendste." Nur der vollkommne Mann könne ein Christ sein. (El el, dn großer
Philosoph und Bibelleser! hat Christus nicht gesagt: Wenn ihr nicht werdet wie
die Kindlein, so könnt ihr nicht in den Himmel kommen?) Nicht minder verächtlich
spricht er von der Trauung. „In seinem Wort empfiehlt Gott den ehelosen Stand.
sWo wärst du, o Kierkegaard, wenn alle Welt oder auch nur dein Vater Pauli
Rat befolgt hätte?! Nun ist da ein Paar, das sich heiraten möchte. Dieses Paar
dürfte ja freilich, da sie sich Christen nennen, selbst darum Bescheid wissen, was
Christentum ist; allein, lassen wir das nun dahingestellt sein. Die Liebenden
wenden sich dann an den Pfarrer — und der Pfarrer ist ja eidlich ans das Neue
Testament verpflichtet, und das empfiehlt den ehelosen Stand. Wenn er nun kein
Lügner und Meineidiger ist, der auf die gemeinste Weise schnödes Geld verdient,
so muß sein Verhalten folgendes sein. Er kann höchstens mit menschlicher Teil¬
nahme für diesen menschlichen Affekt (daß sie verliebt sind) zu ihnen sagen: »Kinder,
an mich hättet ihr euch zuletzt wenden sollen; in dieser Sache sich an mich zu
wenden, ist ebenso sonderbar, wie den Polizeidirektor zu fragen, wie man es beim
Stehlen angreifen solle.« . . . Eben der Umstand, daß ein Pfarrer dabei ist. ist
das schlimmste am Ganzen. Willst du heiraten, so laß dich doch lieber durch einen
Schmied trauen, da könnte es vielleicht noch am ehesten, so zu sagen, der Auf¬
merksamkeit Gottes entgehen; ist aber ein Pfarrer dabei, so kann es der Auf¬
merksamkeit Gottes unmöglich entgehen."
Man würde sich aber täuschen, wenn man Kierkegaard zu den Reformatoren
im gewöhnlichen Sinne des Wortes rechnete. Das will er schlechterdings nicht
sein, er will nicht an die Stelle der schlechten kirchlichen Ordnung eine bessere
setzen. Er fragt für seine Person: wie werde ich ein Christ? und nachdem er die
Antwort gefunden zu haben glaubt, will er dem einzelnen Menschen, an den er
sich wendet, zu derselben gefundnen Wahrheit verhelfen. Nur an die einzelne Seele
richtet er das Wort, und nur um ihr zu zeigen, wie man nicht ein Christ wird,
iritisirt er die Kirche. Rudelbäch hatte einmal geschrieben: „Wahrlich, gerade das
tiefste und höchste Interesse der Kirche in unsern Tagen ist, daß sie vom Ge-
wohnheits- und Staatschristentum emanzipirt werde. Das trifft ganz zusammen
»nit dem, was Sören Kierkegaard allen denen, die hören wollen, einzuprägen, ein¬
zuschärfen und, wie Luther sagt, einzutreiben sucht." Zu dieser Emanzipation, zur
Herstellung der Religionsfreiheit sei die Zivilehe ein unentbehrliches Mittel. Da¬
gegen Protestirt Kierkegaard auf das lebhafteste. Ein Feind des Gewohuheits-
christentums sei er allerdings; er hasse es, in welcherlei Form es auch immer
auftritt, das Gewohnheitschristentum der Sektirer, Erweckten, Hyperorthodoxen,
Parteimenschen noch mehr als das der Leichtsinnigen, die sorglos in der Einbildung
dahinleben, sie seien trotz ihres irdischen Sinnes immer noch Christen. Dagegen
habe er niemals nach „freien Institutionen" oder irgend etwas dergleichen gestrebt,
sondern stets gelehrt, das Christentum sei Innerlichkeit, die Formen seien völlig
gleichgültig; der echte Christ kümmere sich gar nicht um Formen, sie gingen ihn
gar nichts an. „Die Apostel gingen nicht hin und schwatzten mit einander und
sagten: »Es ist unerträglich, daß der Hohe Rat Strafe auf die Verkündigung des
Wortes setzt; das ist Gewissenszwang. Doch was sollen wir thun? Sollen wir
nicht einen Anhang werben und dann eine Adresse an den Hohen Rat einreichen,
oder versuchen, wie wir in eine Synode kommen? Es wäre nicht unmöglich, daß
wir so durch ein Kartell mit unsern sonstigen Gegnern bei der Abstimmung die
Majorität bekamen und so Gewissensfreiheit erlangten.« Gott im Himmel! Ihr
ehrwürdigen Gestatte», vergeht, daß ich so habe reden müssen; es war notwendig.
Wie benahmen sie sich vielmehr? Der Apostel ist wesentlich ein einzelner Mann.
> Alle Gewissensfragen, heißt es weiterhin, betreffen nur den einzelnen Mann, denn
ein Kollektivgewissen giebt es nicht; der einzelne Mann hat für sich allein leidend
zu streiten und das Martyrium zu wählen^; Apostel halten sich nicht als Partei
zusammen, das ist gar nicht zu denken; denn der eine sieht nicht auf den andern,
was er thun soll; jeder ist sür sich an Gott gebunden. So berät sich der Apostel
mit Gott und seinem Gewissen. Darauf schließt er seine Thür auf und geht mir
nichts dir nichts, aber mit Gott, auf die Straße, um das Wort zu verkünden.
Angenommen, es begegnet ihm einer und sagt: »Weißt du, daß der Hohe Rat
Geißelung auf die Verkündigung des Wortes gesetzt hat?« Der Apostel erwidert:
»So, hat der Hohe Rat das gethan? so werde ich also gegeißelt werden.« »Morgen
droht der Rat mit Todesstrafe.« »So? Hat der Hohe Rat das gethan, so werde
ich also hingerichtet werden.« Er läßt also das Bestehende bestehen; nichts von
Veränderung im Äußern, uicht ein Wort, nicht eine Silbe, nicht ein Buchstabe
davon, nicht der flüchtigste Gedanke in seinem Kopfe, nicht ein Blinzeln mit den
Angen, kein Zucken mit einer Miene in dieser Richtung. »Nein, sagt der Apostel,
laß dieses Bestehende uur unverrllckt feststehen, denn es steht mit Gottes Hilfe auch
unverrückt fest, daß ich heute gegeißelt und-morgen hingerichtet werde; oder, was
dasselbe ist, heute verkündige ich das Wort, und morgen, Amen.« O, habe Dank,
Dank, daß du dich so benahmst; hättest du dich so benommen wie die modernen
Christen, so wäre das Christentum nie in die Welt gekommen." Ebenso stellt er
dar, wie sich Luther bei seiner Verehelichung benommen und nicht benommen hat;
das muß man an Ort und Stelle, Seite 383, lesen, es ist köstlich.
Eine Persönlichkeit wie Sören Kierkegaard kann man nicht auf ein paar Seiten
darstellen und noch weniger kritisiren; wir wollten nur darauf aufmerksam machen,
daß Worte wie die seinen bei der gegenwärtigen Stimmung in Deutschland einen
tiefen Eindruck hervorbringen müssen. Unsre eigne Stellung dem Radikalismus
gegenüber, den er und mancher andre moderne Apostel vertritt, werden wir viel-
leicht später einmal darlegen, zunächst aber wollen wir Schrempfs Kommentar ab¬
warten. Vorläufig verrät dieser von seiner eignen Stellung zu Kierkegaard einiges
in der Einleitung; unter anderen, daß er von den Ergebnissen der Gedankenarbeit
des großen Grüblers manches (wie einige Äußerungen über die Ehe) kurzerhand
als widersinnig abweist, daß ihm dagegen die Fragestellung und Methode des
religiösen Denkens bei Kierkegaard als das eigentlich Wichtige erscheint.
Geschichte der griechischen Litteratur. Von Ernst Kroker. Erster Band: Die
Poesie. Leipzig, Fr. Wilh. Grunow, 1395
In den weitern Kreisen der Gebildeten besteht heute zur griechischen Litteratur
nur ein sehr entferntes Verhältnis. Wer nicht von der Schulbank her Homer und
Sophokles kennt, lernt sie im Leben selten anders als vom Hörensagen kennen.
Der Schreiber dieser Zeilen gehört zu den Leuten, die das bedauern. Er er¬
innert sich, wie in seiner Jugendzeit — die Litteratur hatte sich kaum erst von
der Romantik freigemacht — auf dem Bücherbrett gebildeter Frauen Vossens
Morier stand, und wie in litterarischen Zirkeln ans ^ der Donnerschen Sophokles-
übersetzuug gern vorgetragen, auch wohl ein Stück daraus mit verteilten Rollen
gelesen wurde. In den letzten Jahrzehnten haben wir freilich etwas schnell ge¬
lebt und viel vergessen, in der Litteratur manches beiseite geschoben, was unsre
Väter anzog und begeisterte, und manches aufgegriffen, vor dem ihnen grauen
würde, und vor den: uus nachgerade selber zu grauen anfängt. Aber das hindert
uns ja nicht, zurückzukehren zu dem Quell der Poesie: wie wäre es, wenn wir
uns wieder einmal nach Homer umsahen und der von ihm begonnenen und be¬
herrschten griechischen Litteratur? .Einen Wegweiser in ihr schönes Reich giebt.es
jetzt, wie sich kein liebenswürdigerer denken läßt, in dem hier genannten Buche
Krokers. Es ist ein Buch beileibe nicht zum Nachschlagen, sondern zum Lesen,
wirklich wie ein Unterhaltungsbuch genußreich zu lesen, in kräftiger und feiner
Sprache, mit anschaulichen Schilderungen und gediegenen Urteilen. Es steckt viel
Wissen darin, aber , der Verfasser ist zu geschmackvoll, den Blick darauf zu lenken;
statt viel über die Litteratur zu reden/ läßt er die Litteratur selbst gern reden,
und sie redet in seiner Verdeutschung eine klangvolle, modnlationsreiche Sprache.
Mit großem Geschick hat er ohne jede Gewaltsamkeit, die einzelnen Erscheimmgen
der Dichter und Dichtungsgattnngen in einen fortlaufenden Zusammenhang gebracht
und durch treffende Verteilung von Licht und Schatten die Hauptpunkte vor den
übrigen hervorgehoben. Homer und das Epos, die scharf gezeichneten Chnrnkter-
köpfe der Lyriker und die Blüte attischer Poesie, das Drama, zieht in wechselnden
und immer fesselnden Bildern an uns vorüber. Der Berichterstatter. müßte sich
sehr täuschen, wenn an diesem Buche nicht auch unsre Frauen Gefallen fände«.
Aber nicht nnr ihnen, sondern allen Freunden edler Kunst empfiehlt er es, und
er ist sogar der Meinung, daß es sich vortrefflich dazu eignen würde, in den
obern Klassen unsrer höhern Schulen ohne Griechisch, auch der für Mädchen, in
die alten und ewig jungen Werke der griechischen Dichter einzuführen. Möge sich
der zweite Band, der in der Prosa einen sprödern Stoff zu bewältigen hat, dem
ersten in gleicher Vorzüglichkeit bald zur Seite stellen.
le deutsche Presse zeigt wieder einmal einen bedauerlichen Mangel
an politischem Gefühl, nämlich in der Beurteilung des venezo¬
lanischen Grenzstreits zwischen England und den Vereinigten
Staaten von Amerika. Da wird mit vollem Ernst die Frage
erörtert, ob die Vereinigten Staaten das Recht hätten, die
Monroedoktrin auf diesen Fall auszudehnen. Ein Recht! Als ob es über¬
haupt Rechte in diesem Sinne zwischen den Staaten gäbe, und als ob vollends
die Monroedoktrin ein solches Recht wäre! Leuten, die von den politischen
Dingen einige Kenntnis haben — und das sollten doch Zeitungsleute —,
braucht man nicht zu sagen, daß die Monroedoktrin kein Recht ist, sondern
ein Machtanspruch, ein Anspruch, der soweit reicht, als die Macht reicht. Als
der Anspruch „Amerika den Amerikanern" zuerst von jenem Staatsmann der
Vereinigten Staaten erhoben wurde, war ihre Macht geringer als jetzt. Man
darf daher wohl annehmen, daß es damals nur eine Forderung nach Ober¬
herrschaft in der nördlichen Hälfte des Weltteils war, die Forderung, daß auf
diesem Gebiete keine wesentliche Machtverschiebung ohne Zustimmung der Ber¬
einigten Staaten vor sich gehe, die Forderung, daß insbesondre kein euro¬
päischer Staat seinen Machtbereich dort ausdehne. Nun, da die Kraft der
Vereinigten Staaten beträchtlich gewachsen ist, wie selbstverständlich erscheint
es da, daß sich jener Anspruch erweitert! Warum soll er nun nicht lauten:
Ausdehnung des Anspruchs auf Südamerika, Verminderung des europäischen
Machtbereichs in Nord- und Südamerika? Ist darin ein Unrecht enthalten,
wenn jemand diesen Anspruch erhebt? Ja paßt überhaupt der Grundsatz von
Recht und Unrecht auf den ganzen Vorgang? Wird irgend einem Menschen
damit zu nahe getreten? Es ist doch nichts weiter als der Wunsch des nord¬
amerikanischen Volks, die Grundgedanken seiner Gesittung da zur Geltung zu
bringen, wo bisher der Engländer schaltete.
Wenn man zugesteht, daß dies das Wesen des nordamerikanisch-englischen
Streitfalles sei, so ergiebt sich die Stellung, die wir Deutschen dazu einzu¬
nehmen haben, von selbst, soweit wir nicht am politischen Leben unmittelbar im
öffentlichen Dienste teilnehmen und dadurch unsre Gedanken zu verbergen oder
zwingenden Verhältnissen unterzuordnen Anlaß haben. Diese Stellung aber
ist die, daß wir an die Beurteilung des Streitfalls überhaupt nicht mit sitt¬
lichen oder gar rechtswissenschaftlichen Untersuchungen hinangehen, sondern ein¬
fach fragen: wie kommt dabei der größte Vorteil für uns heraus?
England und die Vereinigten Staaten sind für uns Nebenbuhler, um
nicht zu sagen Feinde, deren Schaden in der Regel unser Vorteil ist. Jedes
Volk, das nicht sich selbst aufgiebt, muß sich für das beste, das edelste halten.
Ich denke, wir Deutschen haben auch diesen Glauben. Nur wenn wir unser
eignes Volkstum in der Zukunft erlöschen sähen, müßten wir fragen: welche
Gesittung erscheint uns besser, die englische oder die nordamerikanische? Ich
hoffe, kein Deutscher nimmt sich heraus, so etwas in der Zukunft zu sehen.
Es ist vielmehr zweckmäßig, zu hoffen, daß unser Vaterland bald größer sein
werde, größer durch den verbreiterten Einfluß seiner Gesittung und größer
durch die Ausdehnung seines Machtgebiets.
Die Vereinigten Staaten und England sind also gleichmäßig unsre Wider¬
sacher. Wäre es da nicht von Vorteil für uns, wenn sie sich eine Zeit lang
veruneinigten? Und welchen Weg muß dieser Streit nehmen, damit wir den
meisten Vorteil und den geringsten Schaden davon haben? Und wie können
die Zeitungen darauf einwirken, daß der Streit diesen Weg nehme?
Hier stößt man nun wieder auf eine geradezu klägliche Hilflosigkeit der
deutschen Presse in dem, was für politische Dinge nach der Wahrscheinlichkeit
vermutet werden darf. Es ist doch klar, daß die amerikanische Flotte der
englischen außerhalb der amerikanischen Küstengewüsser nicht Widerstand leisten
kann; höchstens würde sie einige kühne Handstreiche ausführen, wenigstens es
versuchen. Es ist ferner klar, daß Südamerika zu Lande von Nordamerika
aus nur äußerst schwer zugänglich, ja man darf sagen für die der Strapazen
ungewohnten nordamerikanischen Milizen zunächst unerreichbar ist. Sollte man
es bei dieser Sachlage sür möglich halten, daß deutsche Zeitungen im Ernste
die Wahrscheinlichkeit erwägen, der englisch-amerikanische Kriegsschauplatz werde
am Orinoko sein? Das ist doch eine Hilflosigkeit in der Wahrscheinlichkeits¬
berechnung, die an die größte Unwissenheit grenzt. Kaum eine Zeitung er¬
wähnt an versteckter Stelle Kanada. Der Kriegsschauplatz wird aber in Kanada
und an den Küsten der Vereinigten Staaten sein. Durch einen Krieg an
diesen Stellen wird unser Handel, unsre Ausfuhr nach den Vereinigten Staaten
leiden. Sie wird verhältnismäßig am wenigsten leiden, wenn die Amerikaner
glauben, daß wir ihre Freunde seien, und gleichzeitig die Engländer keinen
Anlaß haben, über offne Unfreundlichkeiten von unsrer Seite zu klagen. Diese
äußere Freundlichkeit und versteckte Unfreundlichkeit kaun aber nur eine un¬
amtliche sein, sie kann nur gemacht werden von der sogenannten öffentliche»
Meinung, durch Kundgebungen, durch die Zeitungen. Die amtliche deutsche
Welt muß sich selbstverständlich kühl, höflich und geheimnisvoll nach allen
Seiten verhalten, bis sie Gelegenheit hat, Vorteile, vielleicht Gebietsvorteile
zu erlangen, sobald dritte Mächte in den Kampf eintreten. Das sind Un¬
gewißheiten, die nur der einigermaßen überblickt, der selbst im politischen Amte
ist, die man nicht stören darf, wenn man außen steht, und die man nur
erörtert, damit der Beamte merkt, er habe die Volksmeinung hinter sich.
Wenn Englands Handel leidet, so gedeiht der unsre. Also müssen wir
uns freuen, wenn die Vereinigten Staaten wirksame Kaperei gegen England
treiben sollten. In Asien und Afrika ist es für uns von Vorteil, wenn Eng¬
land Abbruch geschieht; thatsächlich sowohl, als auch in der Anschauung der
Völker muß die Presse hierzu mithelfen. Sie muß die Schäden und Verluste
Englands verbreiten und den fremden Völkern England als Deutschlands Wider¬
sacher erscheinen lassen. Was ist dem gegenüber die Faselei der Kirchturms¬
staatsmänner, Europa dürfe von Amerika nicht diesen Faustschlag der Monroe-
doktriu hinnehmen? Ist etwa Europa eine Einheit? Haben die Staaten Europas
mehr Verbindung unter einander, als die Vereinigten Staaten mit Deutsch¬
land? Europa ist die ganze Erde. Und wir brauchen nicht zu fürchten, daß
die Vereinigten Staaten eigennütziger gegen uns verfahren werden, wenn sie
der Monroedoktrin die allerweiteste Anwendung geben, als wenn sie in ihren
jetzigen Grenzen bleiben. Sie werden immer so eigennützig und rücksichtslos
verfahren, wie sie können. Und warum sollten sie das auch nicht? Wir wollen
es auch thun; ihr Schaden ist unser Vorteil. Nicht deswegen müssen wir
den Vereinigten Staaten zur Zeit freundlich erscheinen, weil die Freundlichkeit
auf Dankbarkeit zu rechnen hätte — denn Dank steht nicht im Wörterbuch
der Politik —, sondern weil das freundliche Gesicht gegen Amerika, der Schein
der Freundlichkeit uns die beste Sicherung nach allen Seiten bietet.
Dcirnm dürfen wir auch nicht wehklagen über die englische List, wenn sie
die amerikanischen Papiere auf den Markt schleudert und dadurch die Geldsäcke
der Wallstraße in Newyork schädigt. Es wird uus nicht schaden, wenn wir
die bisher guten amerikanischen Papiere zu tieferen Preise aufnehmen. Sie
werden gewiß während eines Krieges hier oder dort Not leiden, aber sicherlich
wieder gut werden. Denn die Vereinigten Staaten sind das Zukunftsreich
aller ausbeutenden Geldfürsten trotz aller Freiheitsredensarten der Zukunfts-
staat einer rücksichtslosen Sklaverei. Möge es den Vereinigten Staaten wohl
bekommen und ihren Gläubigern!
Darum, liebe Freunde von den deutschen Zeitungen, bedenkt den deutschen
Vorteil, der auch euerm Absatz um Zeitungen zuletzt Vorteil bringen muß.
Werft euch nicht zu Richtern über die Menschheit ans, sondern seid rücksichts-
lose Anwälte des deutschen Nutzens. Kümmere euch nicht darum, wenn ihr
für andre Völker und Länder empfehle und betreibt, was ihr bei uns verWerst
und hindert. Gerade darum! Was wir Fremden zufügen, ist noch lange nicht
Fremden uns gegenüber erlaubt. Denn wir sind Partei, Anwälte, nicht Richter.
Und fürchtet endlich nicht, daß es gefährlich sei, so offen die böse Meinung
zu sagen. Denn die Wahrheit wird nie geglaubt. Und dann: wer kann be¬
weisen, daß wir unsre wirkliche Meinung ausgesprochen haben?
^ ,^
5wu plULöt
es bin weder Geistlicher, noch habe ich die Absicht, Geistlicher
zu werden; aber ich habe lebendiges Interesse an dem Wohl¬
ergehen unsrer evangelischen Kirche und meine, daß wir Laien
nicht bloß das Recht haben, unser Urteil zu dem abzugeben,
was die oberste Kirchenbehörde sagt und thut, sondern daß gerade
in eovlksi^liois das Aussprechen der eignen Ansicht Pflicht ist. Und warum
sollten wir Laien nicht mit derselben Berechtigung urteilen wie die Büreau-
kraten, mögen sie nun Juristen oder Geistliche oder beides zugleich sein? Ich
glaube vielmehr, daß der das erste Recht zu einem Urteil hat, der das in
der Kirche und der Geistlichkeit herrschende Leben unbefangen und ohne Vor¬
urteil beobachtet hat, ohne in unmittelbarer Verbindung mit der Kirche zu stehen.
Das aber glaube ich seit Jahren gethan zu haben, und auch das darf ich ver¬
sichern, daß ich um das Wohl und vor allem um die Ehre der evangelischen
Kirche aufrichtig bekümmert bin, und daß mich zur Kritik des jüngsten Er¬
lasses des Evangelischen Oberkirchenrath allein die Sorge treibt.
Juristenarbeit in pastoraler Einkleidung, graue Theorie mit Salbung
vorgetragen — das war der erste Eindruck beim Lesen dieses Manifestes,
worin unsrer Geistlichkeit die soziale Arbeit untersagt und die Rückkehr zu den
Grundsätzen von 1879 verkündet wird. Soviel Worte, soviel — schöne Worte,
und was übrig bleibt, zeigt, von welchem Gesichtspunkt aus unsre führenden
Herren die große Bewegung der Geister ansehen, welches Verständnis sie der
weltgeschichtlichen Bedeutung der gegenwärtigen Zeit entgegenbringen. HuivtA
n«u nova-L, die Augen zumachen: das ist die Parole, die vom Kirchenregiment
ausgegeben wird. Nun, für die Fortentwicklung der Weltgeschichte wird dieser
Erlaß kein Hemmnis sein; es ist nur zu bedauern, daß die vom Staat und
den Herren des grünen Tisches gefesselte Kirche Gefahr läuft, bis an den
Rand des Abgrunds geschleift zu werden, und daß wir an der Kette der
Verfassung mitgezogen werden. Doch genug davou!
„Wir haben zu unsrer Befriedigung die Überzeugung gewonnen, daß in
der Haltung der weitaus überwiegenden Mehrzahl unsrer Geistlichen diejenige
Besonnenheit nicht zu vermissen ist, deren Bewahrung die Würde des geist¬
lichen Standes erheischt, und welche für eine gedeihliche Ausübung des Pfarr¬
amts und den Frieden der Gemeinde erforderlich ist." So ist zu lesen im
Eingange des Erlasses. Wir haben dagegen leider die Überzeugung gewonnen,
daß diese Besonnenheit unsrer Geistlichkeit nur allzuhäufig die Gestalt der
Bequemlichkeit, des äolos tar mismo, angenommen hat, bei der wohl eine ge¬
wisse äußerliche Würdigkeit, aber nicht die innere Würde gewahrt wird, daß
ferner diese „Besonnenheit" — ich meine diese zu große Besonnenheit, die sich
nur bei Kasualien und Predigten amtlich kund giebt — alles andre eher als eine
fruchtbare Ausübung des Pfarramts gewährleistet, und daß endlich der Friede,
der unter dem Regiments solcher Besonnenheit gedeiht, ein fauler Friede ist.
„Einstimmig ist jedoch zugleich bezeugt worden, daß auch die Kreise
der Geistlichen nicht unberührt geblieben sind von der das öffentliche Inter¬
esse beherrschenden sozialpolitischen Reformbewegung >also doch Reform¬
bewegung !^ auf wirtschaftlichem Gebiete, und daß die an einzelnen Stellen
vorgekommenen Ausschreitungen ^wo?^ einen gewissermaßen symptomatischen
Charakter haben." Gott sei Dank, daß diese „Ausschreitungen" einen sympto¬
matischen Charakter haben, und nicht bloß „gewissermaßen," sondern wirklich
und wahrhaftig! Gott sei Dank, daß es sich endlich regt, daß sich die evan¬
gelische Geistlichkeit auf ihre Aufgabe besonnen hat, nämlich Lehrer, Räder und
Helfer des Volks zu sein! Gewiß, das letzte Ziel der geistlichen Thätigkeit ist
ohne Zweifel die Vannung der seelischen Not. Aber dazu ist vor allem das Ver¬
trauen des Volks nötig. Vertrauen aber entsteht nicht aus der bloßen Predigt
oder der Spendung der Sakramente, sondern die willige Hinnahme beider setzt
Vertrauen voraus. Schon wer gläubig zur Predigt kommt, nimmt oft nicht viel
mit hinweg, und ließe sich die Wirkung der Predigt auf innerlich Widerstrebende
in Gewicht und Zahl ausdrücken, so dürfte man jährlich vielleicht in der Welt
ein paar Pfündlein herausrechnen können. Nun denke man erst an alle die,
die überhaupt nicht kommen. Der Oberkirchenrat geht, in völliger Verkennung
der Wirklichkeit, von der unbegründeten Voraussetzung aus, es herrsche in den
Gemeinden Vertrauen gegen die Geistlichen, und er fürchtet, dieses Vertrauen
könne durch die soziale Thätigkeit der Geistlichen geschädigt werden. Im
Gegenteil: dieses Vertrauen besteht nicht, aber wir hofften, es würde durch
diese Thätigkeit erworben werden. Oder was versteht der Oberkirchenrat unter
Gemeinden? Es ist doch eine bekannte Thatsache, daß die große Masse derer,
die evangelisch getauft sind, vollständig entkirchlicht und von dein stärksten
Mißtrauen gegen die Geistlichkeit erfüllt ist, und zu dieser großen Masse ge¬
hören nicht bloß Sozialdemokraten! Diese Stimmung ist auch psychologisch
ganz begründet. Die Bevölkerung ist heute in zwei Teile gespalten, der Riß
ist tief, und die Geistlichen stehen für den größten Teil ihrer Gemeinden
jenseits des Risses, auf der Seite der sozial besser Gestellten, vielleicht nicht
mit ihren Sympathien, aber doch thatsächlich, und die Thatsache ist eine Macht.
Nun kommt ein Geistlicher zu einem Armen. Womit? Mit Reden und noch
dazu frommen, d. h. Reden, die ihrer Natur nach stark nach Ermahnungen
schmecken. Bloßes Reden aber, nichts als Reden, erweckt Mißtrauen, frommes
Reden erst recht, und nun vollends, wenn es den Anschein hat, im Dienste
der andern Partei zu stehen! Und wie selten hat der Geistliche Gelegenheit,
in der Arbeit am Einzelnen dieses Mißtrauen zu überwinden! Der Ober¬
kirchenrat weist auf die Seelsorge hin. Ja, das ist ja gerade der Punkt, um
den sich der Streit dreht. Wie kommst du denn an die Seele des kleinen
Mannes heran, der dir mit Mißtrauen begegnet, oder vielmehr, wie kommst
du Einzelner an die vielen tausend mißtrauischen Seelen? Ich bezweifle, daß
dies schon einem der Herren des Oberkirchenrath gelungen ist. Durch Predigen
kommt man nicht an die Masse, sondern dadurch, daß man sich lebendig ihrer
berechtigten Interessen annimmt, durch soziale Thätigkeit, sei es im großen
oder im kleinen. Wer da nicht einsetzt, bringt weder als Pastor noch als
Prediger Früchte, er ist überflüssig, ein Parasit, nicht schlechter, aber auch
nicht besser als die andern Parasiten. Selbstverständlich richten sich die Mittel
nach der Art der sozialen Not. Wer Unter schneiden will, nimmt ein Messer
zur Hand und keine Axt; aber ein Thor ist der, der den Baum mit dem
Taschenmesser fällen will. Unter einfachen Verhältnissen in kleinen Gemeinden
mögen die Mittel ausreichen, die bisher ausgereicht haben. Aber man denke
an unsre Riesengemeinden, an die Verhältnisse in Industriestädten, und dann
lese man, was der Oberkirchenrat schreibt: „Gelingt es den Geistlichen, durch
treue, den Einzelnen nachgebende Seelsorge, durch liebevolle Bewahrung der
Jugend, sonderlich der konsirmirten Jngend, durch Ausgestaltung einer alle
Hilfsbedürftigen umfassenden Gemeindepflege, unter Umständen auch durch
Pflege einer die verschiednen Kreise der Gemeinde verbindenden edeln Gesellig¬
keit bei den begüterten Klassen den Gewissen einzuprägen, daß Reichtum, Bil¬
dung und Ansehen nur anvertraute Güter sind, die sie zum Besten ihrer Mit¬
menschen zu verwalten haben seie Botschaft hör ich wohl, allein mir fehlt der
Glaube!^, die unter dem Druck des Lebens stehenden Klaffen aber zu über¬
zeugen, daß Wohlfahrt und Zufriedenheit auf gläubiger Einfügung in Gottes
Weltregierung, auf tüchtiger, ehrlicher Arbeit und Sparsamkeit, sowie auf ge¬
wissenhafter Fürsorge für das heranwachsende Geschlecht beruhen, daß dagegen
Neid und das Gelüste nach des Nächsten Gut dem göttlichen Gebot zuwider
sind, so tragen dieselben viel zur Hebung der sozialen Not usw. bei."
I)M<zilö «se 8atirg,in von sorivsrs. Eine geradezu klassische Voraussetzung,
klassisch nach Inhalt und Form: „Gelingt es den Geistlichen!" Es gelingt
ihnen eben nicht! Denn erstens ist die Einzelseelsorge, da wo die Not am
größten ist, unmöglich, zweitens ist die Bewahrung der Jugend unmöglich,
denn die Geistlichkeit hat die Jugend nicht in der Hand, drittens kann die
Gemeindepflege nicht alle Hilfsbedürftigen umfassen (sonst wäre ja die Lösung
der sozialen Frage höchst einfach), viertens glauben vielleicht manche Reichen
daran, daß ihr Reichtum anvertrautes Gut ist, aber darnach zu Handel» über¬
steigt das Mittelmaß menschlicher Kräfte, fünftens fällt es dem Armen viel
schwerer als den Herren des Oberkirchenrath, an Gottes Weltregierung zu
glaube», Sechstens stammt die soziale Unzufriedenheit durchaus nicht in erster
Linie aus Neid und „Gelüste" nach des Nächsten Gut, sondern sie hat ihre
höchst berechtigten Ursachen. Man giebt also für die Lösung schwieriger Auf¬
gaben unzulängliche, ja unbrauchbare Mittel an die Hand, setzt das Gelingen
dieser Lösung mit diesen Mitteln voraus, macht aus alledem einen langen Satz
und — hat eiuen wichtigen Veitrag zur Lösung der sozialen Frage geliefert.
Nein, diese Aufgaben müssen mit ganz andern Mitteln gelöst werden, und unsre
sozialen Geistlichen sind auf dem richtigen Wege, wenn sie, selbstverständlich
ohne ihre geistliche Fürsorge außer Acht zu lassen, die sozialen Nöte des kleinen
Mannes erst verstehen lernen und dann auch den guten Willen zeigen, sich an
der Heilung des Schadens durch soziale Hilfe zu beteiligen. So erwerben sie
sich Vertrauen, und säen sie dann Gottes Wort, so werden sie auch reiche Frucht
ernten. Darum kann die Bahn der sozialen Arbeit gar nicht früh genug be¬
treten werden, und die Thätigkeit des Oberkirchenrath muß um so mehr ver¬
urteilt werde«, wenn sie sich, wie der Erlaß ebenfalls andeutet, gar noch
darauf richtet, das soziale Streben der Studenten und Kandidaten der Theologie
zu unterbinden. Ob es gelingt? Ich glaube, es werden mit mir viele der
Meinung sein, daß die evangelischen Geistlichen sozial sein müssen, oder — sie
werden nicht sein, und unsre Kirche stürzt in den Abgrund der Bedeutungs¬
losigkeit und verfehlt ihre weltgeschichtliche Aufgabe.
Was will es dem gegenüber besagen, wenn wirklich einzelne Geistliche zu
viel Zeit auf Reisen zu „Versammlungen, Kongressen, Kursen" verwenden?
Es soll auch unter den „besonnenen" Geistlichen manche geben, die viel reisen
und ihre sonntäglichen Amtsgeschäfte durch Amtsbruder oder Küster besorgen
lassen. Und dann habe ich gefunden, daß Geistliche auf dem Lande viel zu
leicht verbauern und versäuern, denen schadet das Reisen gewiß nichts. Was
übrigens die „Kurse" betrifft, so hat meines Wissens bisher immer der Grundsatz
gegolten, daß der Mensch nie zu viel lernen kann, auch der Geistliche nicht,
im Gegenteil. Es wird auch behauptet, die soziale Thätigkeit hindre die innere
Sammlung. Was heißt das? Ich gestehe, daß ich im Laufe der Zeit betreffs
dieser besondern Art von innerer Sammlung, die eigens für die Geistlichen vor¬
behalten zu sein scheint, sehr skeptisch geworden bin, und will annehmen, daß
es nicht die geistlichen Herren des Oberkirchenrath gewesen sind, die die Auf¬
nahme dieses Satzes in das Manifest veranlaßt haben. Endlich, wer sind die
Leute, die sich durch die soziale Arbeit des Pastors haben stören lassen, voraus¬
gesetzt, daß diese sich in den Schranken der sozialen Reform hält? Ich meine,
der echte Christ steht vielmehr dem Geistlichen darin bei, wenn dieser die all¬
gemeine Durchführung des Gebotes miterstrebt: Lohn, dem Lohn gebührt,
und vor allem: Ehre, dem Ehre gebührt. Hier ist gerade Gelegenheit ge¬
geben, die Schafe von den Böcken zu sondern, und damit die Möglichkeit, die
Böcke in der richtigen Weise seelsorgerisch zu behandeln. Bis jetzt stehen immer
noch die Schafe und die Böcke, die Heuchler, in demselben Stalle und werden
gepflegt, draußen aber gehen viele in der Irre, um die sich niemand kümmert.
Die Zeit ist da, in der das Evangelium wieder als werbende und thätige Macht
ins Leben eingreifen muß. Oder war die alte Kirche nur eine lehrende?
Es war einmal ein kluger Mann, der saß aus einem Baum und sägte
und sägte; und er sah nicht, daß er eben den Ast ansägte, worauf er saß.
Unter dem Baume aber standen viele Leute und sahen zu, die waren auch klug;
nur einige wenige „Thörichte" waren darunter, die dem Manne oben sein ge¬
fährliches Thun zeigten. Der hörte aber nicht und sägte ruhig weiter, und
die wenigen nater waren zu schwach und standen zu fern, um ihm in den
Arm fallen zu können. Da krachte es plötzlich, und der Mann oben stürzte
mit dem Ast herab und begrub von den klugen Leuten, die da ruhig zuschauten,
viele im Falle, und sie brachen Arme und Beine. Man weiß aber heute noch
nicht, wer klüger war, der Mann oben oder die Leute unten.
cum ich sagte, der Begriff der Infektionskrankheiten sei ein
moderner, so ist das natürlich ouin, g-raro salis zu verstehen;
denn er ist der Neuzeit keineswegs unvermittelt in den Schoß
gefallen, wie etwa ein neuer Komet plötzlich am Himmel er¬
scheint und mit seinem hellen Lichte die dunkle Nacht erleuchtet.
Denkende Ärzte hatten schon längst die Vermutung geäußert, daß die
Volksseuchen, die man mit dem Namen der ansteckenden (eontagiösen) Krank-M
M
Heiden bezeichnete, durch unsichtbare lebende Wesen erzeugt würden, ja der
Deutsche Henle und der Franzose Bretonneau hatten es bereits in der Mitte
unsers Jahrhunderts mit klaren Worten ausgesprochen, daß sich die Entstehung
und Verbreitung, sowie das Erlöschen der ansteckenden Krankheiten gar nicht
anders erklären lasse als durch die Annahme, daß sich niedere Wesen, die wie
jeder andre lebende Organismus keimten, wüchse», sich vermehrten, Frucht
trügen und wieder zu Grunde gingen, in dem menschlichen Körper ansiedelten
und in ihm ihren natürlichen Lebensprozeß durchmachten. Aber was damals
nur eine Forderung des suchenden Verstandes war, also mehr ein Glaubens¬
artikel als eine bewiesene Lehre, ist heute durch die genialen Untersuchungen
Robert Kochs zu einer unumstößlich feststehenden, streng wissenschaftlich be¬
gründeten Thatsache geworden, Koch ist es nicht nur gelungen, das Dasein
jener kleinsten Wesen nachzuweisen, sonder» sie auch zu isolire», sie außerhalb
des menschliche» Organismus auf geeigneten Nährboden zu züchten, ihre Lebens¬
bedingungen festzustellen und den Nachweis zu liefern, daß sie bei den be¬
treffenden Krankheiten stets in den Organen oder den Säften des erkrankten
Organismus Vorhäute» sind und rei» gezüchtet und künstlich in den gesunden
Organismus eingeführt, in diesem mit Sicherheit dieselbe Krankheit erzeuge».
Damit war ein gewaltiger Fortschritt in der Lehre von den Ursachen der
Krankheit, ihrer Ätiologie, gegeben: man hatte es nun nicht mehr mit nebel¬
haften, mehr oder weniger der Einbildungskraft angehörigen Vorstellungen zu
thun, sondern mit ficht- und faßbaren, gleichsam handgreiflichen Wesen, aus
deren Lebensgeschichte und Lebensbedingungen man die Mittel zu ihrer Be¬
kämpfung aufzufinden hoffen durfte. Und in der That, die Kliniker und Ärzte
summten nicht, die praktischen Folgerungen aus der neuen Entdeckung zu ziehen:
es begann das Zeitalter der Antiseptik, die schon vorher empirisch von Lister
auf dem Felde der chirurgischen Krankheiten mit großem Erfolge geübt worden
war, auch für die innere Medizin. Lag doch nichts näher als der Gedanke,
die dnrch Infektion, d. h. dnrch Eindringen der Krankheitserreger in den
Körper erzeugten Krankheiten dadurch zu heilen, daß man diese Erreger ver¬
nichtete und zu ihrer Vernichtung dieselben Mittel gebrauchte, die in den künst¬
lichen Kulturen ihre Entwicklung zu hemmen und ihr Leben zu zerstören ver¬
mochten. Die Zahl der „antiseptischen" Mittel wuchs ins Unendliche.
Aber der Erfolg entsprach nicht den Erwartungen; er blieb sogar voll¬
ständig aus, und zwar aus einem sehr einfachen Grunde: dieselben Mittel, die
die Krankheitserreger vernichtete», waren auch Gifte für den menschlichen
Organismus, und um sie in wirksamer Weise anzuwenden, Hütte es der Ein¬
führung so großer Mengen bedurft, daß mau damit nicht nur die Krankheits¬
erreger, sondern auch den Kranken selbst unfehlbar vom Leben zum Tode be¬
fördert Hütte. Führte aber dieser Weg auch uicht zum Ziele, so hatte er doch
eine für das Schicksal mancher Kranken sehr erfreuliche Folge, insofern er die
Chirurgen und Geburtshelfer lehrte, die Antiseptik in allen den Fällen durch
die Aseptik zu ersetzen, wo es sich um nicht schon vorher infizirte Wunden
handelte, also bei allen Wunden z. B-, die der Operateur selbst erst beim
operiren schuf. Hier bemühte man sich jetzt, durch die sorgfältigste Reinlich¬
keit, die sich nicht bloß auf deu Kranken, sondern auch auf den Arzt, seine
Gehilfen, die Instrumente und das Verbandzeug erstreckte, das Eindringen von
Krankheitserregern in die Wunde abzuhalten, und zwar mit dem besten Erfolg;
man erreichte nicht nur dieselben günstigen Ergebnisse wie früher, sondern man
vermied auch die schweren Vergiftungen, die sonst, z. B. durch Sublimat und
Karbolsäure, heftige Erkrankung, ja den Tod erzeugt hatten.
Aber freilich, das Hauptziel war verfehlt: für die wirksame Behandlung
der Seuchen mußte ein andrer Weg eingeschlagen werden. Robert Koch suchte
ihn im Anschluß an die Entdeckung Jenners, der gezeigt hatte, daß es mög¬
lich sei, durch die Impfung des Menschen mit dem Eiter der Knhpocke den
Jmpfung gegen die Menschenpocken zu schützen. Jenners Entdeckung beruhte
auf einer doppelten Beobachtung: er hatte gefunden, erstens, daß Mägde, die
mit Kuhpocken an den Eutern behaftete Kühe melkten, häufig dieselben Pocken
an den Fingern und Armen, zuweilen auch im Gesicht bekamen, zweitens, daß
eben diese Mägde beim Ausbruch von Pockenepidemien von den Pocken ver¬
schont blieben, selbst wenn sie sich durch den Verkehr mit den Kranken der
Gefahr der Ansteckung aussetzten. Vielleicht hatte Jenner auch von dem damals
schon im Volke verbreiteten Glauben gehört, daß solche Mägde pockenfest seien,
kurz, er verfolgte diesen Gedankengang jahrelang, ging dann zu Versuchen
am Menschen über und setzte es endlich im englischen Parlamente durch, daß
die Kuhpockenimpfung vom Staate begünstigt und eingeführt wurde. Auf eine
theoretische Erklärung der neuen Thatsachen verzichtete man; die Kuhpocken¬
impfung wurde als ein wunderbares Geschenk Gottes gefeiert, das man in
Dankbarkeit und Demut als solches hinzunehmen habe. Heute kennen wir den
Zusammenhang der Erscheinungen genau: durch zahlreiche Forschungen und
Versuche, namentlich Bollingers in München, wissen wir, daß die am Euter
der Kühe auftretenden Pocken nichts andres sind als eine abgeänderte Form
der Menschenpocken, die durch Ansteckung von pockenkranken Menschen auf das
Euter übertragen werden und sich hier, auf dem veränderten Nährboden, auch
anders, abgeschwächt entwickeln, daß also der Mensch, wenn man auf ihn diese
Knhpocke künstlich durch die Impfung wieder überträgt, lediglich von einer
schwächern Form der ihm selbst eigentümlichen Pockenkrankheit ergriffen wird.
Damit ist aber zugleich eine Erklärung der Schutzwirkung gegeben, insoweit,
als man wenigstens das weiß, daß dieser Schutz auf demselben Prinzip beruht,
wonach ein Mensch, der einmal die Pocken überstanden hat, zum zweitenmal
nicht mehr daran zu erkranken pflegt. Das Problem ist so wenigstens ver¬
einfacht und seines wunderbaren Charakters entkleidet.
Durch Jenners Entdeckung war eigentlich thatsächlich schon ein Begriff
in die Medizin eingeführt, der in der neusten Zeit von der größten Bedeutung
für die Wissenschaft und für die Heilkunde geworden ist, der Begriff der
Immunität, d. h. des Geschütze- oder Gefeitseins vor einer Krankheit. Damals
war er aber noch eine wirre Mischung von falschen und unklaren Vorstellungen.
So erklärte man sich z. B. den Schutz, den das einmalige Überstehen der
Pockenkrankheit gegen ein wiederholtes Vefallenwerden von derselben Krankheit
gewährt, durch die Annahme, daß jeder Mensch den sogenannten Pockenstvff
mit auf die Welt bringe, und daß dieser einmal im Leben aus dem Körper
ausgeschieden werden müsse. Dies geschehe durch Verschwörung der in der
Haut befindlichen Pockendrüsen; erfolge diese vollständig, so sei der Mensch in
Zukunft pockenfest. Aus dieser Annahme erklären sich viele uns modernen
Menschen ganz unverständliche Vorstellungen und Handlungen unsrer Vor¬
fahren: so der Glaube, daß jeder Mensch in seinem Leben einmal die Pocken
bekommen müsse; daß es also ebenso vergeblich wie thöricht sei, irgendwelche
Maßregeln zu ihrer Abwehr zu treffen oder sich vor Ansteckung zu schützen;
so ihre Behandlungsmethode dieser Krankheit, die lange Zeit darauf gerichtet
war, den Pockenstoff durch ein erhitzendes Verfahren möglichst gründlich aus
dein Körper zu entfernen; ferner ihr Wunsch, daß ihre Kinder möglichst früh¬
zeitig diesen Reinigungsprozeß durchmachten, und deshalb ihr Bestreben, die
Gesunden durch häufigen Verkehr und innige Berührung mit Pockenkranken,
ja durch künstliche Einimpfung des Pockengiftes pockenkrank zu machen. Die
natürliche Folge war, daß die Pocken in der That zu einer unvermeidlichen
Krankheit für jeden wurden und sich jahrhundertelang in größern oder kleinern
Zwischenräumen und bald in milden, bald in mörderischen Epidemien über die
Erde verbreiteten. So wirkte Jenners Entdeckung in doppelter Weise wohl¬
thätig: sie begünstigte einerseits die Abschaffung der besonders von Hufeland
empfohlenen Methode, die Jugend durch künstliche Einimpfung des Pockengiftes
absichtlich zu durchseuchen, einer Methode, durch die das Gift geradezu ge¬
züchtet und zahllose schwere Epidemien herbeigeführt worden waren; andrerseits
bewirkte sie die Einführung von hygienischen Maßregeln, die die Verbreitung
der Pocken, namentlich durch strenges Isoliren der Pockenkranken und Des¬
infektion oder Vernichtung der von ihnen gebrauchten Sachen, bekämpften,
weil man ja nun in der Lage war, durch die Einimpfung der Kuhpocken und
die durch sie erzeugte verhältnismäßig sehr leichte Erkrankung die schwere und
oft tötliche Pockenkrankheit selbst zu vermeiden. Der Erfolg war überraschend
günstig: in den Ländern, die die Impfung zwangsweise einführten und strenge
vorbeugende Maßregeln gegen die trotzdem auftretende Seuche ergriffen, wurden
die Pocken so selten, daß in den Gesichtern ihrer Bewohner eine vollständige
Veränderung eintrat: während es noch in den ersten Jahrzehnten unsers Jahr¬
hunderts in Deutschland zu den Ausnahmen gehörte, einen fünfzehn- bis
zwanzigjährigen Menschen zu sehen, der nicht mehr oder weniger deutlich die
Spuren der überstandnen Krankheit an sich getragen hätte, ist heute der Anblick
eines durch Pockennarben entstellten Gesichts eine große Seltenheit geworden.
Ein andrer mit der Entdeckung Jenners thatsächlich gegebner Begriff, der
aber ebenfalls erst in der Neuzeit zur vollen Entfaltung gekommen ist, nachdem
es Koch gelungen war, idie Krankheitserreger zu isoliren, zu züchten und sie
durch seine Fürbmethode streng von einander zu unterscheiden, ist der Begriff
des abgeschwächten Krankheitsgiftes oder vielmehr, unsern Anschauungen ent¬
sprechend, der abgeschwächten Krankheitserreger: diese, wie jedes pflanzliche
Wesen, in ihrer Lebensenergie und in ihren Stoffwechselprodukten abhängig
von dem Nährboden, auf dem sie wachsen, können durch willkürliche Abänderung
des Bodens, sowie der übrigen äußern Lebensbedingungen, die zu ihrem Ge¬
deihen erforderlich sind, der Luft, des Lichts, einer gewissen Temperatur,
mannichfach beeinflußt werden; für die Heilkunst am wichtigste,? ist die That¬
sache, daß sich diese ihre Veränderlichkeit auch bezieht auf den Grad ihrer
Giftigkeit, und daß man imstande ist, diesen Grad der Giftigkeit sowohl für
die Krankheitserreger selbst, also für die belebten Jnfektivnsstoffc, als auch für
ihre Stoffwechselprodukte, d. h. für die unbelebten Jnfektionsstoffe zu steigern
und abzuschwächen.
Von diese» Begriffen der Immunität und der Abschwächung ausgehend
stellte sich Koch die Ausgabe, ein Mittel zu finden, mit dem er, ähnlich wie
bei der Kuhpockenimpfung, einen andern Feind des Menschengeschlechts, der seit
Jahrtausenden zahllose Opfer forderte und allen Anstrengungen der Ärzte, ihn zu
bändigen, Widerstand leistete, die Tuberkulose, bekämpfen könne. Ein solches
Mittel fand er nun zwar nicht, wohl aber ein andres, mit dem er zwar nicht
die Gesunden vor der Erkrankung an Tuberkulose schützen, aber doch die
Krankheit in ihrem Entstehen erkennen und, wie er glaubte, die erkannte Krank¬
heit heilen konnte. Er gewann es in künstlichen Kulturen der Tuberkelbazillen
aus ihren Stofswechselprodnkten und nannte es Tnberkulin. Die Eigenschaften
dieses Mittels waren eigentümlich genug: in großen Gaben auch für den ge¬
sunden Menschen ein heftiges Gift, störte es in kleinen Gaben das Wohl¬
befinden nicht, während es, in denselben kleinen Gaben bei den Tuberkulösen
angewandt, sowohl eine starke allgemeine, als auch eine örtliche für die von
der Krankheit ergriffnen Organe charakteristische Wirkung ausübte. Das Mittel
wurde mit ungeheurer Begeisterung aufgenommen, erfüllte aber leider nicht
die Hoffnungen, die Ärzte und Laien darauf gesetzt hatten: in kürzester Frist
verwandelte sich der Triumph, den die ärztliche Wissenschaft und Kunst gefeiert
hatte, in eine furchtbare Niederlage, die dem Ansehen des ärztlichen Standes
um so mehr schadete, als nicht nur die Laien, sondern auch die Ärzte selbst
die neue Methode ebenso kritiklos verließen, wie sie sie ausgenommen hatten.
Denn ihr Mißerfolg war nicht begründet in dem Mittel selbst, sondern in
seiner falschen Anwendung nach dem Grundsatz: Viel hilft viel, der in Ver¬
bindung mit der unglückseligen rein symptomatischen BeHandlungsweise die
offizielle Heilkunde fast um alles Vertrauen gebracht hat: sowohl Koch selbst,
als auch seine Schüler bedienten sich so großer Gaben des Tuberkulins, daß
uicht seine Heil-, sondern seine Giftwirkung in den Vordergrund trat, und viele
Kranke anstatt der gehofften Genesung Verschlimmerung des Übels, wenn nicht
den Tod fanden. Dagegen hatten die Ärzte, die das Mittel in so kleinen
Mengen anwandten, daß es keinerlei Krankheitserscheinungen erzeugte, in der
That gute Erfolge zu verzeichnen: doch war ihre Zahl so gering, daß sie in
der Menge der andern verschwanden.
Wenn aber auch die Einführung des Kochschen Tuberkulius in die ärzt¬
liche Praxis vorläufig mit einem großen Mißerfolg endete, so waren doch die
Ergebnisse seiner Arbeiten von großer Bedeutung auf erkenntnistheoretischen
Gebiet; alle Forschungen, die seit den letzten fünfzehn Jahren über die In¬
fektionskrankheiten, ihr Wesen und ihre Bekämpfung angestellt wurden, nahmen
entweder von hier ihren Ausgangspunkt oder mußten sich wenigstens von vorn¬
herein mit Kochs Untersuchungen auseinandersetzen. Von großer Wichtigkeit
sind zunächst die Versuche, die künstlich abgeschwächten Giftkörper so zu ver¬
wenden, daß man sie anfangs in den allerkleinsten, vollständig unschädlichen
Gaben in den Tierkörper einführte, diese allmählich steigerte, und so das Tier
endlich dahin brachte, Giftmengen zu ertragen, die andre, unvorbereitete Tiere
unfehlbar töteten. Beispiele dafür find der Milzbrand, der Schweinerotlauf
und die Tollwut.
Für die Tollwut, die ja auch durch den Biß tollwütiger Tiere auf den
Menschen übertragbar ist, sind die Arbeiten Pasteurs deshalb von besondrer
Bedeutung, weil es ihm gelang, ihre Ergebnisse auch für die Praxis verwertbar
zu machen. Sie beruhen auf folgenden, durch mühsame, langwierige und
scharfsinnige Untersuchungen ermittelten Thatsachen: 1. das Wutgift ist ein
Nervengift: von der Bißstelle kriecht es längs der Nervenscheiden langsam auf¬
wärts bis zum Rückenmark und den Zentralorganen und übt erst, wenn
es dort angekommen ist, seine furchtbarem, fast stets mit dem Tode endigenden
Wirkungen aus; 2. das Gift ist stets in dem Rückenmark wutkranker Tiere
vorhanden, und es gelingt fast ausnahmslos, gesunde Hunde dadurch wutkrank
zu machen, daß man ihnen kleine Teilchen des Rückenmarks wutkranker Tiere
in eine Wunde bringt; 3. durch langsame Austrocknung des Rückenmarks
läßt sich das Gift abschwächen; die Abschwächung ist um so stärker, je länger
die Allstrocknung dauert, sodaß man sich Wutgift schwächsten wie stärksten
Grades künstlich bereiten kann.
Nach Feststellung dieser Thatsachen begann Pasteur mit den Versuchen,
gesunde Hunde gegen das Gift zu immuuistren. Indem er anfangs die schwächste
Form des Giftes anwandte und dann von Tag zu Tag zu stärkern Formen
überging, erreichte er endlich, daß seine Versuchstiere das stärkste Gift, das
die unvorbereiteter, gesunden Kontrolltiere unfehlbar wutkrank machte und
tötete, ohne jede Schädigung ihrer Gesundheit ertrugen. Ebenso blieben sie
gesund, wenn sie von wutkranken Tieren gebissen wurden. Für die Tollwut
hatte also Pasteur das Jennersche Problem gelöst, eine vorbeugende Methode
zu finden, die, wie die Kuhpockenimpfung vor den echten Pocken, vor der Tollwut
schützte. Aber eine Übertragung der Tierversuche auf den Menschen war un-
thunlich: wer sollte sich bei der Seltenheit der Krankheit dazu hergeben, sich
gegen diesen fast imaginären Feind im voraus schützen zu lassen? Pasteur
ging darum weiter: er benutzte die Thatsache, daß das durch den Biß auf
gesunde Tiere oder Menschen übertragne Wutgift in der Regel mehrere Wochen
braucht, ehe es den seine Wirkung vermittelnden Teil des Körpers, das Rücken¬
mark, erreicht, zu dem Versuch, gebissene Hunde möglichst bald nach dem Biß
durch rasch auf einander folgende Einspritzungen seiner abgeschwächten Gifte in
der Nähe des Rückenmarks gegen die Wirkung des natürlichen Giftes zu im-
munisiren. Als auch diese Versuche gelangen, zögerte er nicht, sein Verfahren
auch bei Menschen, die von tollen Hunden gebissen waren, anzuwenden, und
zwar mit so günstigem Erfolge, daß das französische Parlament sehr bald be¬
deutende Mittel bewilligte, um von Staats wegen große Institute zu erbauen,
in denen Pasteurs Heilmethode ausgeübt wurde.
Einen andern Weg, den Infektionskrankheiten vorbeugend und heilend bei¬
zukommen, schlug Dr. Behring bei seinen Untersuchungen über Diphtherie ein.
Er legte sich die Frage vor, in welcher Weise wohl der Schutz, den die durch
langsame Gewöhnung an das Jnfektionsgift gegen die Erkrankung gefeiten
Tiere genössen, zustande kommen möge, und stellte die Vermutung aus, daß sich
durch die Wechselwirkung des Gifts mit dem lebenden Organismus im Tier¬
körper selbst immunisirende Substanzen bildeten, die in irgend einer Weise, sei
es durch chemische Bindung, sei es durch Veränderung des Nährbodens oder
wie immer, die verderbliche Wirkung auch des stärksten Giftes aufhöben. Da,
wenn dieser Gedanke richtig war, die immunisirenden Substanzen sich höchst
wahrscheinlich im Blute befanden, so entnahm er dem Blute solcher Tiere, die
er durch Gewöhnung gegen die stärksten Gaben seines Diphtheriegiftes fest ge¬
macht hatte, seinen wässerigen Bestandteil, das Blutwasser oder Serum, und
versuchte nun gesunde Tiere dadurch, daß er ihnen dieses Serum unter die
Haut spritzte, gegen Diphtherie zu schützen. Das Ergebnis bestätigte seine Ver¬
mutungen: die mit Serum von durchseuchten Tieren behandelten gesunden
Tiere waren fest gegen die Infektion, während sowohl die unvorbereiteter als
auch die mit Blutserum von gesunden Tieren behandelten Kontrolltiere der
Infektion erlagen. Gleichzeitig ergab sich, daß das Schutzserum keine Leben
oder Gesundheit gefährdenden Eigenschaften hat, daß es unschädlich ist. Nach
Feststellung der Schutzkraft suchte Behring nun noch zu ermitteln, ob dem
Serum auch Heilwirkungen gegen die bereits bestehende Krankheit eigentümlich
seien: er begann, diphtheriekranke Tiere mit Einspritzungen von Blutserum
durchseuchter Tiere zu behandeln. Auch hier hatte er so günstige Erfolge, daß
er nun kein Bedenken mehr trug, seine Methode auch auf den Menschen zu
übertragen. Ihre Ergebnisse haben wir im vorigen Hefte geschildert.
Überblicken wir zum Schluß noch einmal den Gang dieser Erörterungen,
so sehen wir als Endergebnis einen zwar langsamen und oft unsichern, aber
doch stetigen Fortschritt in der Erkenntnis und Behandlung der Infektions¬
krankheiten. Die Grundlage bildete für alle Forscher die geniale Arbeit Kochs,
der die Erreger der Infektionskrankheiten nicht nnr entdeckte, sondern sie auch
isoliren, in Reinkulturen züchten und durch seine wunderbare Färbmethode als
Wesen eigner und bestimmter Art erkennen lehrte, der ihre Stoffwechselprodukte,
den Einfluß des Nährbodens auf ihre Entwicklung und ihre Lebensenergie,
die Antiseptik, die Begriffe der Immunität und Anpassung studirte und end¬
lich dazu überging, in den von den Krankheitserregern im befallnen Orga¬
nismus selbst erzeugten Substanzen auch die Heilmittel der von ihnen ver¬
ursachten Krankheiten zu suchen. Während aber Koch, Pasteur und die große
Mehrzahl ihrer Schüler die Gifte und ihre Abkömmlinge selbst als Heilmittel
verwerteten, gelang es Behring, ausgehend von denselben Grundlagen, aber
seine Forschungen nach andrer Richtung ausdehnend, gegen eine der verderb¬
lichsten Infektionskrankheiten, den Würgengel der Kinderwelt, die Diphtherie,
ein Mittel zu finden, das mit seiner vorbeugenden und heilenden Kraft zu¬
gleich die Eigenschaft verband, auf den Organismus, dem es einverleibt wird,
keine schädigende Nebenwirkung auszuüben, und er erreichte somit das erhabne
Ziel, zunächst eine der großen Volksseuchen mit großen Maßregeln ohne Ge¬
fährdung der Gesundheit erfolgreich zu bekämpfen. Darin liegt ein ebenso
großer Triumph der wissenschaftlichen Arbeit als ein herrlicher Fortschritt in
der Heilkunde, der uns einen tröstlichen Ausblick in die Zukunft eröffnet. Frei¬
lich werden auch hier die Baume nicht in den Himmel wachsen: auch bei dieser
scheinbar so zuverlässigen Heilmethode wird der Erfolg nicht immer sicher sein:
denn es hat Epidemien gegeben und wird sie immer geben — jeder erfahrne
Arzt hat sie erlebt bei der Diphtherie, beim Scharlach, bei der Cholera —,
wo die Jnfektivnsstoffe von solcher Giftigkeit sind, daß der Ergriffne wie vom
Blitz getroffen zusammenstürzt und keine Macht der Erde ihn zu retten vermag.
Auch die vorbeugende Behandlung, die Schutzimpfung würde hier schwerlich
Hilfe gewähren; denn abgesehen davon, daß sie vom Staate zwangsweise ein¬
geführt werden müßte, um zur vollen Geltung zu kommen, würde es wahr¬
scheinlich notwendig sein, sie sehr häufig zu wiederholen, weil die Dauer des
durch einmalige Impfung gewährten Schutzes nur kurz ist. Wenigstens bei
der Diphtherie: sie befällt nicht, wie die Pocken, den Menschen in der Regel
nur einmal, sondern wiederholt, und schon aus dieser Thatsache hätte man
den nur zeitweiligen Schutz der Impfung erschließen können, wenn ihn nicht
Behrings Untersuchungen geradezu bestätigt hätten. Dcirin liegt aber gleich¬
zeitig für alle eine Warnung und eine Mahnung: die Warnung, von den
neuen Heilmethoden zu viel zu erwarten, und die Mahnung, die Bestrebungen
der öffentlichen Gesundheitspflege, die durch ausgiebige Benutzung der frei¬
willigen Gaben der Natur, des Wassers, der Luft und des Lichts die Volks¬
gesundheit zu heben sucht, nach wie vor mit allen Kräften zu unterstützen.
Denn erst aus der Verschmelzung der praktischen Heilkunde mit der Hygiene
wird der Volksgesundheit der mächtigste Schutz und die wirksamste Förderung
erwachsen. > , >
le Entwicklung der deutschen Städte vor der Reformation und
nach der Reformation ist grundverschieden. Bis zum sechzehnte»
Jahrhundert haben sie sich aus eigner Kraft entwickelt, von unten
heraus, mit allen ihren materiellen und geistigen Trieben im
Nährboden des deutscheu Volkes wurzelnd, im wesentlichen un¬
mittelbare Gebilde der Nation; vom sechzehnten bis zum achtzehnten Jahr¬
hundert sind die wichtigsten von ihnen — Wien, Berlin, München, Dresden —
in vieler Beziehung von oben her, anfangs von Fürsten selbst, dann mehr
durch die Fürstenhöfe vorwärts gegängelt worden; und neben diesen tauchen
damals eine Reihe kleinerer Residenzen in das Licht der Geschichte empor, die
weder vorher noch nachher eine bedeutende Rolle im Geistesleben unsers Volkes
gespielt haben: Kassel, Wolfenbüttel, Weimar.
Es ist die große Zeit des deutschen Landesfürstentums, die mit der Re¬
formation endgiltig anhebt. Der Fürst stand nicht nur vermöge seiner Macht,
sondern vielfach auch geistig geradezu an der Spitze seiner Unterthanen. Das
hervorragendste Beispiel dafür, das aber keineswegs allein steht, ist um 1600
der hochbegabte und vielseitig gebildete Moritz „der Gelehrte" von Hessen-
Kassel. Er war in der Theologie und in der Philosophie seiner Zeit zu Hause,
in den alten wie in den neuen Sprachen bewandert, er hat eine Ethik und
eine Metrik geschrieben, seine pädagogische Einsicht wie seine Gewandtheit im
Disputiren wird gerühmt, er hat das Schauspiel nicht nnr begünstigt, sondern
selbst lateinische Dramen gedichtet, und mehr als das alles scheint ihn die
Musik beschäftigt zu haben: wir haben zahlreiche geistliche und weltliche Kom-
Positionen von ihm, die von seiner entschiednen musikalischen Begabung und
von feinem Kunstverständnis zeugen; wir wissen, daß er die Orgel und andre
Instrumente mit Beherrschung gespielt hat, er hat seine Hofkapelle erweitert
und gebessert, für die drei Kirchen seiner Residenz neue Orgeln angeschafft und
in den Kirchen und Schulen seines Gebietes zwei von ihm selbst bearbeitete
Choralbücher eingeführt.
Gerade die Musik haben fast alle mit einer künstlerischen Ader begabten
Fürsten bis zum Ausgange des achtzehnten Jahrhunderts gehegt und womöglich
ausübend gepflegt. Schon Heinrich Isaac war seit 1492 am Wiener Hofe
«^mxiiomZtg, reg-ius, sein größter Schüler, Ludwig Senffl, war Kapell¬
meister in München, Heinrich Fink am polnischen und Leo Hasler am kur¬
sächsischen Hofe. Heinrich Schütz, ursprünglich ein Zögling von Moritz von
Hessen, war eine Zeit lang hessischer, dann fünfundfünfzig Jahre sächsischer
Kapellmeister, dazwischen haben Hessen und Sachsen vier Jahre lang um seinen
Besitz korrespondirt. Bald nach 1600 blühten an vielen deutschen Residenzen
Hofoper und Kammermusik empor — unsre Hofvpernscinger und Kammer¬
virtuosen sind ein Andenken an jene Zeit. Eine reiche Fülle von Kompositionen
der Habsburgischen Kaiser aus dem siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert
wird jetzt ans Licht gezogen, Karl den Vl. und Fux vermögen wir ebenso
wenig zu trennen wie Friedrich den Großen und Quanz, und noch Kaiser
Franz war ein leidenschaftlicher Freund des Quartettspiels: als er während
der Schlacht bei Leipzig vier Tage hatte aussetzen müssen, rief er am fünften:
Gottlob, jetzt können wir wieder Quartett spielen!
Das alles nicht von ungefähr. Die neuen Bestrebungen und Schöpfungen
einer Zeit finden sich leicht zusammen, weil sie bei ihresgleichen nicht den
mindesten passiven Widerstand der Tradition zu überwinden haben, so seit
dem sechzehnten Jahrhundert das aufblühende Fürstentum und die neue Kunst,
die Musik, die sich damals eben von der Sprache zu lösen begann^ Freilich
ist fast die ganze höfische Musik etwa von 1600 bis 1800 kein einheimisches
Gewächs, und ausländisch, dem nationalen Leben fremd, ist die gesamte höhere
Kultur der deutschen Fürstenhöfe jenes Zeitalters überhaupt gewesen.
Die bürgerliche Kultur tritt seit der Reformationszeit hinter der der Fürsten
und ihrer Höfe zurück. Aber auch in diesem Schatten hat sich das protestantische
deutsche Geistesleben doch verhältnismäßig kräftig weiter entwickelt. So gedeiht
in Berlin bereits zu Anfang des siebzehnte» Jahrhunderts unter und neben
der landesherrlichen Mnsikpflcge eine städtische an dem Kantorat der Nikolai-
kirche, und der Ruhm Johann Eccards, des kurfürstlichen Kapellmeisters seit
1608, wird abgelöst durch den des Kantors Johann Crüger. Eine kleine Zahl
von Handelsstädten im Norden ist selbständig weiter gewachsen, namentlich
Hamburg, in zweiter Linie Leipzig und Königsberg, und hier wurden überall
neben den kommerziellen Interessen auch litterarische und künstlerische aller
Art gepflegt. So hat sich namentlich in ihren Mauern die neue heimische
Kultur vorbereiten können, die in der zweiten Hülste des achtzehnten Jahr¬
hunderts die fürstliche ablösen sollte; man denke nur an Gottsched und Gellert,
an Lessing und Kant. In Hamburg fanden in der zweiten Hülste des sieb¬
zehnten Jahrhunderts holländische Maler gute Kundschaft, eine zweite Heimat
und Nachfolge, Denner und Schlüter, sonst freilich nicht in einem Atem zu
nennen, stammen beide aus Hamburg; oder um bei der modernen Kunst jener
Zeit zu bleiben: in Hamburg hat sich die erste deutsche Oper entwickelt, die
den Namen verdient, und Händel gelernt, in Königsberg schuf Heinrich Albert,
volkstümlichen Klängen sich nähernd, die Musik zu den bürgerlichen Dichtungen
des Königsberger Kreises, und in der Leipziger Thomasschulkantorei erwuchs
der fremden höfischen Kunst eine deutschere Schwester, die an Kraft und Tiefe
das gesamte damalige Musikleben auf deutschem und außerdeutschen Boden
übertrifft. Freilich auch Bachs Musik war doch noch eine Standeskunst,
bürgerlich, halb gelehrt, trotz manches volkstümlichen Zugs nicht eigentlich volks¬
tümlich, und darum hat auch sie nicht unmittelbar weiter leben können. Die
erste wahrhaft deutsche Kunst, das erste rein deutsche Geistesleben seit den
Tagen Dürers und Luthers quillt um die Wende des achtzehnten Jahrhunderts:
Mensch sein, natürlicher Mensch, frei von überlieferten gesellschaftlichen und
geistigen Schranken, nur aus sich heraus, aber als Eines und als Ganzes leben
und denken, das war das neue Ziel, von allen Seiten her vorbereitet und
zunächst in der Dichtung mit Hilfe des Volksliedes errungen.'
Wie dieses neue, individuellere, demokratischere, deutschere, wie unser Zeit-
alter das alte in unsrer Reichshauptstadt abgelöst hat, versuchen die folgenden
Zeilen in flüchtigen Umrissen zu zeigen. Den Stoff zu einem ausführlichen
Bilde hat Ludwig Geiger mit großem Fleiße in seinem Buche: Berlin.
Geschichte des geistigen Lebens der preußischen Hauptstadt 1688
bis 1840 (Berlin, Gebrüder Paket, 1894/95> zusammengetragen. Er hat keine
Einleitung dazu geschrieben; wer es gelesen hat oder lesen wird, läßt sich
vielleicht das folgende als nachträgliche oder vorläufige Einleitung dazu gefallen.
Das tiefste geistige Interesse überhaupt, das religiöse, hat dem sechzehnten
und siebzehnten Jahrhundert seinen Stempel besonders aufgeprägt. Die reli¬
giöse und kirchliche Entwicklung Berlins seit der Mitte des siebzehnten Jahr¬
hunderts ist mit den beiden Thatsachen des reformirten Hofes und einer lebens¬
kräftigen protestantischen Bürgerschaft gegeben.
Dieser Zustand mußte ausheilen des Hofes zu versöhnenden, womöglich
vereinigenden Versuchen führen oder doch Toleranz anraten, und in der That
sind das die beiden Bahnen gewesen, in denen das preußische Königstum in
der Hauptsache gewandelt ist, je nachdem der Herrscher persönlich eifriger in
Glaubenssachen oder lässiger war. Toleranz, das auf dem Kasseler Gespräch
1661 zunächst bezeichnete Ziel, wurde auch zuerst erreicht, Paul Gerhard, der
treue, aber unduldsame Lutheraner, mußte 1666 aus Berlin weichen. Eine Berliner
Konferenz von 1672 bis 1673, die über den Standpunkt der Toleranz hinaus¬
führen sollte, verlief ergebnislos, weil sich das orthodoxe Luthertum bedroht
ahnte und von vornherein nur mißtrauisch teilnahm. Bezeichnend für das
Gewicht der Landesherrschaft als politischen Körpers auch in religiösen Fragen
ist der wiederholte Versuch, die kirchlichen Gegensätze zwischen Protestantismus
und Katholizismus mit staatspolitischen zu verquicken. Schon um 1650 hatte
Waldecks großartiger Unionsplan gegenüber Habsburg diesen Gedanken durch¬
zuführen versucht, von neuem regte ihn Leibniz zu Anfang des achtzehnten
Jahrhunderts an. Seine Pläne waren in erster Linie auf eine wirkliche Ver¬
schmelzung, nicht bloß friedliche Duldung beider Konfessionen gerichtet, dabei
griff er aber sofort weit über Preußen hinaus, bis auf die Schweiz und Eng¬
land über: er sah im Geiste eine solidarische Verbindung des europäischen
Protestantismus, deren Herz in Berlin schlagen sollte. Friedrich I. mußte sich
für diesen Gedanken umso empfänglicher zeigen, als ihm die Wissenschaft so¬
eben theoretisch die oberste Gewalt in allen äußern Fragen der Religion zu¬
gewiesen hatte — 1696 hatte Thomasius seine Schrift „Vom Rechte evange¬
lischer Fürsten" veröffentlicht —, und ließ sich nicht auch die Univnsfrage
theologisch als eine äußere Angelegenheit der Religion betrachten, nachdem
bereits das Kasseler Gespräch die Lehrunterschiede für nicht fundamental er¬
klärt hatte? So ging man denn mit bessern Erwartungen als vordem ans
Werk: Ernst Jablonski, seit 1693 Hofprediger in Berlin, schrieb als Unter¬
lage seine „Kurze Vorstellung der Einigkeit im Glauben," und 1703 trat die
unerläßliche Konferenz, diesmal unter dem Namen voUöAniir ouaritAtivum,
zusammen. Weniger an ihr, als an der Hartnäckigkeit der Gemeinden hat es
gelegen, daß auch dieser Anlauf zu einer Union völlig umsonst war, ja der
Berliner Witz, schon damals im Volke lebendig, übergoß die Konferenz alsbald
mit seinem Spott. Mit einigen Simultankirchen, die Friedrich I. trotzdem
bauen ließ, war natürlich auch nichts gethan.
Friedrich Wilhelm I. und Friedrich der Große haben sich auf Toleranz
beschränkt, der Vater erklärte in feiner geraden Einfachheit den ganzen Unter¬
schied für Pfaffengezänk, der Sohn that es in dem Bewußtsein seiner völligen
Ablehnung nicht nur der lutherischen Orthodoxie, sondern des christlichen
Glaubens überhaupt, zu der ihn der radikal-subjektive Charakter seiner fran¬
zösischen Bildung führen mußte. Friedrich Wilhelm II. und Friedrich Wil¬
helm III. endlich sind in religiöser Beziehung wie andern geistigen Interessen
gegenüber nur als Nachzügler zu verstehen. Mit Friedrich Wilhelm II., einer
schwachen, anlehnungsbedürftigen Natur, deren Neigung zum Mystischen sich
der Orthodoxie näher fühlen mußte als jeder andern religiösen Haltung der
Zeit, mit diesem Nachfolger des großen Königs hatte Wöllner, der „intrigante
Pfaff," wie ihn Friedrich der Große charakterisirt hat, leichtes Spiel. Am
3. Juli 1788 war Wöllner zum Leiter der geistlichen Angelegenheiten und
zum Justizminister ernannt worden, und am 9. Juli bereits ist sein berüch¬
tigtes Neligionsedikt^) erlassen, ein selbstverständlich aussichtsloser Versuch,
die längst — nicht zum wenigsten durch den Hof*") — im Grunde erschütterte
Orthodoxie von oben her aufrecht zu erhalten; mit vollem Rechte fiel es
dem Berliner Witz zum Opfer. Und Friedrich Wilhelm III., so rasch er
auch Wöllner entließ, und so entschieden er auch sonst im Gegensatz zu seinem
Vater stand, darin ähnelte er ihm doch, daß es mehr ein Rückwärts- als ein
Vorwärtsschauen war, das ihm seine Kirchenpolitik eingab, das ihn veranlaßte,
den Unionsgedcmken seiner Vorfahren nun endlich durchzuführen. Daß der
fürstliche Wunsch diesmal erfüllt wurde — am 31. Oktober 1817, an dem
Jubeltage der Reformation, wurde die Union feierlich in Berlin eingeführt —,
daß die Gemeinden jetzt nicht mehr widersprachen, war nicht das Werk
des Königs und seiner geistigen Helfer von damals, sondern die Folge
eines inzwischen im Volke herangereiften, vertieften protestantischen Denkens,
das sich diese formale Entscheidung gefallen ließ, weil es ihr doch eine gute
Seite abzugewinnen vermochte. Wo dagegen der reaktionäre Charakter der
Kirchenpolitik des Hofes rein zu Tage trat, wie in dem Versuche des Königs,
eine Liturgie einzuführen, wurde der energischste Widerstand laut; Schleier¬
macher scheute sich 1827 nicht, öffentlich auszusprechen: „Je mehr der
Landesherr fortfährt, die Kirche von seinem Hoflager aus zu verwalten, die
Behörden sich für Staatsdiener anzusehen, die Geistlichkeit sich der Autorität
zu freuen, die sie ans ihrer Seite hat, und mit Großwürdenträgern und Ordens-
oberu aus ihrer Mitte zu prunken, um desto mehr wird auch die Verrichtung""*)
des geistlichen Amts zu einem oxo.8 oxvrg.wo, herabsinken, und um desto mehr
auch, ist einmal der Weg gebahnt, wird alles, was vom Geist bewegt wird
und Ernst machen will mit dem kirchlichen Leben, zum Behuf wahrer Frömmig¬
keit sich von dieser Gemeinschaft ab und Kleinerem zuwenden."
Aus sich heraus hat das protestantische Bürgertum die Orthodoxie im
Lause des achtzehnten Jahrhunderts überwunden. Das subjektiver werdende
Gefühl hat die erste, der subjektiver werdende Verstand die zweite tiefere Bresche
in den Dogmatismus gelegt, beide zusammen haben ihn, wenn man auch nicht
sagen kann vernichtet, außerhalb des geschichtlichen Daseins gesetzt, so doch außer¬
halb des geschichtlichen Werdens. Und an Pietismus wie Aufklärung hat ge¬
rade das Berliner Bürgertum sein redliches Teil.
Daß die lutherische Gemeinde Berlins 1703 so wenig auf die Unions¬
bestrebungen ihres Fürsten einging, war die Folge des Pietismus, der in ihr
damals Platz gegriffen hatte, und der ihr religiöses Interesse, an dem es nicht
fehlte —- zwischen 1695 und 1715 sind fünf neue protestantische Kirchen in
Berlin gebaut worden —, völlig ausfüllte. 1694 war Spener an die Nikolai¬
kirche berufen worden, und seine Bemühungen um ein individuelleres, gläubiges
Verhältnis des Einzelnen zu Gott, um eine lebendige Volkskirche, um private
Seelsorge über die Predigt hinaus fanden nicht nur Boden in Berlin, sondern
siegten hier: noch Jahrzehnte nach Speners Tode sind die meisten Stellen an
Kirchen und Schulen durch seine Anhänger besetzt gewesen. Kein Wunder,
daß auch die Reden des Grafen Zinzendorf während seiner vorübergehenden
Anwesenheit im Winter 1737 auf 1738 großen Zulauf und Dank in der Ber¬
liner Bürgerschaft fanden.
Kurz darauf trat Friedrich II. die Regierung an. Man hat oft gesagt,
und auch Geiger sagt es wieder: „Unter ihm und durch ihn wurde Berlin die
Stadt der Aufklärung." Das ist insofern richtig, als Friedrichs freigeiste-
risches Beispiel und das Beispiel seines Hofes nicht ohne Wirkung nach unten
blieb, und daß seine Toleranz für jede Art religiösen Lebens die Bahn frei
gehalten hat. Im Grnnde ist aber doch auch die Aufklärung in der Bürger¬
schaft erwachsen, sie war ein notwendiger Seitentrieb zum Pietismus. Das
hindert nicht, daß ihre Hauptverfechter ans den Reihen der Pietisten hervor¬
gegangen sind: gerade die Übertreibung des Gefühls in der Religion wurde
der Anlaß, den Kampf gegen die Orthodoxie auf das Gebiet des Verstandes
überspringen zu lassen. Schon der seltsame „Sturmvogel der Aufklärungs¬
zeit," Johann Konrad Dippel, war von Haus aus Pietist: von 1704 bis 1707
agitirte er in Berlin sür seine rationalistischen Ideen. Zu einem dauernden
Ferment in Berlins Geistesleben ist die Aufklärung erst viel später geworden,
aber anch damals war ihr wirksamster Vertreter ein Kind des Pietismus. 1747
kam Johannes Edelmann nach Berlin, und zwanzig Jahre stellte er hier
eine geistige Macht dar, schon 1755 waren nicht weniger als huudertvierund-
vierzig Gegenschriften gegen ihn erschienen, teilweise dreibändige Werke, ein
ebenso starker Beweis für die Größe seiner Anhängerschaft wie seiner Gegner¬
schaft. Und in der That fand er thätige Anhänger nicht etwa bloß unter den
Geistlichen, sondern erst recht im Kaufmanns-, Gelehrten- und Veamtenstande:
Nicolai, Biester, Gedike sind als die rechten Träger der Berliner Aufklärung
bekannt. Sie trat mit sehr verschiednen Nachdruck, bald milder, bald heftiger
auf, ihre populäre Wirkung aber ist gar nicht zu überschätzen. Daneben griffen
die beiden Gruppen der Berliner Franzosen und Juden, durch ihre überwiegend
verstandesmüßige Anlage dazu befähigt, zu Gunsten der Aufklärung ein, Moses
Mendelssohn ist ihr bekanntester Vertreter geworden. Sie durchdrang den schon
damals ansehnlichen Schwall von Berliner Zeitungen und Zeitschriften, sie be-
nächtigte sich — allerdings nicht in allen Gemeinden — des Berliner Gesang¬
buchs, und in den letzten Jahrzehnten des Jahrhunderts bürgerte sie sich schlie߬
lich auch im Volksunterricht ein, überall predigte sie eine nüchterne Nützlichkeits¬
lehre und ersetzte die Religion mehr oder weniger durch einseitig subjektive
Moral.
So waren zu Ende des Zeitalters Hof und Bürgerschaft Berlins in der
religiösen Entwicklung immer weiter auseinandergegangen. Die Union, die
1817 erreicht wurde, konnte das nicht mehr bedeuten, was vor hundert Jahren
in dem praktischen Interesse der preußischen Fürsten gelegen hatte. Der terri¬
toriale Gedanke hatte sich überlebt, die Geschichte spielt immer mehr in den
bürgerlichen Schichten. Auch in Wissenschaft und Kunst wurden Fürst und Hof
aus ihrer thatsächlich führenden Stellung im Verlaufe des Zeitalters schlie߬
lich in die von bloßen Rahmengebern sür das geistige Leben gedrängt, und
kaum diese Rolle blieb ihnen.
Welch glänzendes Bild des geistvollen, wissenschaftlich interessirten Berliner
Hofes am Ausgange des siebzehnten Jahrhunderts! Leibniz, seit 1694 mit
ihm in Verbindung, ist die Licht und Leben spendende Kraft, die Hand reichen
ihm die gescheite und liebenswürdige Sophie Charlotte — die Theodicee zieht
die Summe einer Reihe von Gesprächen zwischen ihr und Leibniz — und ein
deutscher Fürst, der den Plan zur Begründung einer Berliner Akademie mit
Verständnis und Begeisterung durchführte und dem eingehenden Ärbeits-
entwurf eigenhändig hinzufügte, daß die Akademie auch wirken solle zur „Er¬
haltung der Reinigkeit der deutschen Hauptsprache." Wie bald sollte sie den
umfassenden Charakter verlieren, den ihr Leibniz zugedacht hatte, wie bald den
einer deutsch gesinnten Genossenschaft, wozu sie Friedrich hatte machen wollen!
Friedrich Wilhelm I. vernachlässigte sie völlig, er interessirte sich mehr für
gelehrte Wunderkinder, und in dieser altmodischen Richtung aufs Kuriose folgte
ihm die Akademie; Friedrich II. französirte sie. An Stelle des alten Namens
einer „Sozietät der Wissenschaften" trat der neue ^eackömik roMs als Loisnoss
se as« LeUös I^ttrss ?ruWs, an Stelle der lateinischen Sprache der Ab¬
handlungen nicht wie anderwärts die deutsche, sondern ausschließlich die fran¬
zösische. Der religiöse, der nationale und der praktische Zug wurden getilgt
zu Gunsten eines „rein" wissenschaftlichen, internationalen Charakters, d'Argens,
d'Alembert, Condorcet waren die Hauptberater des Königs in Sachen der
Akademie. Dieser französische Charakter wurde ihr zwar unter Friedrich Wil¬
helm II. wieder genommen, aber nicht aus einer positiven, sondern aus einer
negativen Überzeugung: zugleich mit dem Franzosentum dachte man die Aufklärung
zu treffen, Obskuranten drängten sich ein, Biester und Nicolai bewarben sich
damals vergeblich um Aufnahme. Die bürgerliche Wissenschaft, die sich ihr an¬
fangs selbstverständlich unter- und eingeordnet hatte — das schönste Beispiel
dafür ist der vielseitige, überall gründliche Johann Leonhard Frisch, seit 1698
in Berlin, zuerst Subrektor, dann Korrektor, seit 1727 Rektor des grauen
Klosters, schließlich „kvntribuirendes Mitglied" aller vier „Departements" der
Akademie —, sie mußte nach eignen Formen ringen. So kamen in der zweiten
Hälfte des Jahrhunderts in Berlin bürgerliche Souderakademien und Einzel-
vorträge auf, auch das gelehrte Leben nahm individuellere, demokratischere
Züge an.
Völlig stirbt denn auch endlich das Zeitalter der Landesherrschaft auf
dem Gebiete der Kunst im Laufe des achtzehnten Jahrhunderts ab. Gerade
der Berliner Hof ist auch hierfür typisch. Im Mittelpunkt der höfischen Kunst
steht um die Wende des siebzehnten Jahrhunderts die Architektur, die Kunst,
die unter den bildenden ihrem Wesen nach zunächst berufen war, praktisch¬
staatliche Ideen in die Erscheinung umzusetzen. 1695 starb der kurfürstliche
Oberingenieur Nering, der das Berliner Zeughaus entworfen hatte, Andreas
Schlüter übernahm die Vollendung des Baues. 1699 begann der Umbau des
Schlosses unter Schlüter, 1703 schuf derselbe Schlüter, ebenso groß als
plastischer wie als architektonischer Bildner, die eherne Reiterstatue des Großen
Kurfürsten. Schlüters kraftvolle Größe, die auch in fremden Formen heimische
Empfindungsweise auszudrücken vermag, läßt sich mit der Gestalt Händels
vergleichen. Und wie Händel, fand auch er keine Nachfolge; der Geist der
Renaissancekunst war und blieb dem Volke fremd. Friedrich Wilhelms I. bürger¬
lichere, deutschere Art hat für die architektonische Entwicklung Berlins die merk¬
würdige Folge gehabt, daß eine Periode des Zopfstils hier dem Rokoko voraus¬
läuft, bis dieses dann auch wieder dem Zopf anheimfällt. Eine andre kunst¬
geschichtliche Verwirrung, wenn man so sagen darf, entsteht dann unter Friedrich
dem Großen dadurch, daß sich eine ästhetische Bildung bürgerlicher Richtung
mit der des Königs kreuzt. Friedrich hing dem französischen Rokoko an,
Knobelsdorff war ein Geistesverwandter Lessings und Winkelmanns: sein ge¬
sunder Wirklichkeitssinn glaubte zum erstenmal im Griechentum die Natur zu
finden, das menschlich Wahre, das er suchte, und so erlebte Berlin 1743 ein
Opernhaus in Gestalt eines Apollotempels. Der Dualismus des künstlerischen
Ideals zwischeu Friedrich und Knobelsdorff tritt deutlich seit 1744 bei der
Erbauung von Sanssouci zu Tage und führte damals auch zu einer Ver¬
stimmung zwischen beiden und schließlich zur Scheidung. Friedrich war von
da an sein eigner Oberarchitekt; trotz vieles an sich schönen, was er hat schaffen
lassen, fehlt seiner Architektur, auch in ihren spätern Wandlungen, Leben und
Entwicklung, sie war ein fremdes, vou einem gewandten Geiste nachgemachtes,
aber nicht erlebtes Ding.
So gut wie seine Musik. In italienischem, teilweise auch französischem
Geschmack hat er selbst komponirt — am besten sind ihm anmutige sioiliWi im
Sechsachteltakt gelungen — und sich vorspielen lassen; Händel und Bach ver¬
stand er nicht. An seinem Hofe und an dem seiner beiden Nachfolger blühte,
so viel auch musizirt wurde, doch kein gesundes Musikleben. Die Musik war
wie die andern Künste nur ein Teil des welschen höfischen Privatglanzes.
So verschrieb sich noch Friedrich Wilhelm III. 1819 für ein ungeheures
Honorar den Italiener Spontini aus Paris: nachdem dieser am 28. Mai 1320
in Berlin eingetroffen war, dirigirte er endlich am 14. Mai 1821 zum erstenmal
seine Olympia. Genau fünf Wochen dauerte seine Herrlichkeit: am 18. Juni
1821 erlebte Webers Freischütz in dem neu erbauten Berliner Schauspielhause
seine erste Aufführung. Friedrich Wilhelm III. sah es nicht oder wollte es
nicht sehen, daß sich das musikalische Berliner Publikum von diesem Tage an
offen in zwei Parteien schied, und daß sich die nationale Partei, an Geist,
Gemüt und Bildung- die überragende, um Weber Scharte; er hielt an Spontini
fest und erneuerte ihm 1830 den zehnjährigen Kontrakt. Am 7. Juni 1840
starb der König; als Spontini, rasch mit Friedrich Wilhelm IV. verfeindet,
nach einer längern Pause am 2. April 1841 den Don Juan dirigiren wollte,
trieb ihn das Berliner Publikum unter furchtbarem Getöse aus dem Orchester
hinaus, ein nicht gerade würdiges Verfahren, aber doch eine Art Volksgericht,
die energische Abschüttlnng dieses letzten Nestes alter, fremder Hofinltur durch
deutsches Bürgertum in Berlin.
Welch eine Wandlung des geistigen Zustandes seit der Mitte des acht¬
zehnten Jahrhunderts! Eine deutsche Partei kann in Kunstfragen einen aus¬
ländischen Schützling des Hofes in der Öffentlichkeit vernichten! Wie das
Ereignis einerseits das letzte Nachspiel eines vergangnen Zeitalters ist, so ist
es auf der andern Seite das Ergebnis verschiedner Teilentwicklungen einer
inzwischen neu angebrochnen Geistesperiode.
Pietismus wie Aufklärung liegt auf dem Wege von individueller zu sub¬
jektiver Bildung. Demselben Ziele führte die tiefere Erkenntnis des griechischen
Altertums zu und die Emporhebung der altgriechischen über die altrömische
Kultur, Homers über Virgil^, die wir namentlich Lessing und Winckelmann
verdanken; und indem sie auf ein eignes, reines, aus sich heraus erwachsenes
Menschentum eines fernen Volkes wies, lehrte sie, auch ohne es auszusprechen,
daß jeder einzelne in seinem unverfälschten Volkstum die innersten, echtesten
Züge seines Ich finden müsse. Das deutsche Ich, das so von allen Seiten
ans sich selbst gewiesen war und zugleich den Ruf nach einer Rückkehr zur
Natur vernahm, fand sich rein in dem Denken und Dichten des deutschen Volkes.
Damit ist die Volksliedbewegung der siebziger Jahre des vorigen Jahrhunderts
gegeben. Herder und der junge Goethe tragen ihr die Fahne voran. Ein
kühner Vorläufer ist Bürger, der bereits den Satz aufgestellt hat, der Stempel
des echten Kunstwerks sei die Popularität, eine Forderung, mit der sich Goethe
herrlich und wie von selbst im Götz, im Egmont und in seinen schönsten Bal¬
laden, z. B. im Fischer, mit der sich auch Schiller schön im Tell abgefunden
hat. Unsre ganze Balladen- und Nomanzendichtung setzt mit Bürgers Bärtel-
sängerromanzen ein; so wurde aus dem Quell des Volksliedes eine deutsche
Kunst geboren.
Wie in drängenden Frühlingssturm haben die dichtenden Genies die Auf¬
klärung im deutscheu Kunstleben überwunden, gleichzeitig wurde sie auf philo¬
sophischem Gebiet in den Schatten gestellt durch die stille, gewaltige That Kants.
Lessing und Herder, Goethe, Schiller und Jean Paul sind alle in ihrer Weise
durch die Aufklärung hindurchgegangen; von Kant kann man sagen, daß er
von ihr ausgegangen sei. Er knüpft an ihren Wahlspruch an „Habe den
Mut, dich deiner eignen Vernunft zu bedienen" und erfüllt zu dessen Be¬
währung die nächste Aufgabe, indem er die reine Vernunft kritisch untersucht
und ihr dann die sittlichen Gebote der praktischen Vernunft zur Seite stellt.
Vergebens kämpfte der alte Nicolai unter der Fahne des gesunden Menschen¬
verstandes gegen den Kritizismus; gerade in Berlin fand Kant rasch Auf¬
nahme und bereitete so den großen Berliner spekulativen Genies den Boden:
dem deutschen Riesen Fichte, dem starken Vollender des Subjektivismus, und
den beiden Romantikern Schelling und Hegel.
Die Genieperiode hat man wohl einen Vorläufer der Romantik genannt.
In Wahrheit ist aber die Genieperiode die Hauptbewegung, und die Romantik
kann man nur als eine halbwahre Nachzüglerin dazu betrachten. Dieselben
Ideale, die in der Genieperiode mit der ganzen Kraft des Individuums erfaßt
worden waren und darum natürlich und gesund gewirkt haben, wurden später
von gebildeten bürgerlichen Kreisen, namentlich auch Berlins, denen wohl Geist,
aber keine rechte Gesamtkraft des Individuums zur Verfügung stand, mit einer
gewissen geistigen Überlegenheit und Spielerei nochmals aufgenommen und
haben so zu der künstlichen Romantik Tiecks und Wackenroders und der Brüder
Schlegel geführt.
In gesunden bürgerlichen Kreisen Berlins faßte dafür die Geniezeit mit
ihrem Kern Boden, mit dem deutschen Liede. Schon das ganze achtzehnte
Jahrhundert hindurch fand in Berlin unter der instrumentalen Hofmusik eine
bescheidne bürgerliche Musikgattung, das gesellige Lied, vielfach Pflege, nament¬
lich seit Johann Abraham Peter Schulz, der geradezu der Begründer einer
Berliner Liederschule zu heißen verdient. Diese Kunstrichtung entspricht ähn¬
lich wie der Zopfstil und Chodowieckis Bilder der Aufklärungszeit, die Kom¬
ponisten waren nicht um ein musikalisches Nachschaffen der Lieder, sondern nur
um eine schlichte Tonfolie für sie bemüht. In den neunziger Jahren traten
dazu als eine „Opposition gegen die Art, wie die verwelschte und geistig wie
sittlich herabgekommne Hofgesellschaft die Musik trieb und protegirte," unter
dem tüchtigen, derben Zelter die Berliner Singakademie und bald auch die
Liedertafel, der erste deutsche Männergesangverein seit den städtischen Meister¬
singern längst vergangner Tage, er wie einst sie ein Zeichen eines demokra¬
tischen Zeitalters. Das Bewußtsein des eignen Wertes, die Liebe zum Vater-
lande, das Streben, die heimischen Tugenden zu pflegen, war hier lebendig,
und es konnte sich auslassen, als ein genialer Komponist dieser Liedertafel
deutsche Lieder ihrer Zeit zu singen gab: das waren Webers sechs Lieder aus
Körners „Leyer und Schwert." Webers edle Volkstümlichkeit, die auch in
seinen Jnstrumentalkompositionen waltet, hat dem neuen Berliner Musikleben
an der Schwelle unsers Zeitalters hier wie in der Oper ihren Stempel auf¬
geprägt.
Neben der Romantik erwuchs aus der Genieperiode heraus der Klassi¬
zismus überall da, wo man nicht erkannte, daß das Griechentum ja nichts
andres lehre als eben das Nationalitätsprinzip. In der Architektur jener
Zeit wurde überall unmittelbar von der Zopfzeit her die Brücke zu diesem
Klassizismus geschlagen, in Berlin besonders früh und entschieden, vielleicht
infolge Knobelsdorffs Vorbereitung. Eine Art von einheimischer naturalistischer
Architektonik der Genieperiode lugt höchstens in dem englisch angelegten Neuen
Garten, der das Marmorpalais umgiebt, schüchtern zwischen den beiden Pe¬
rioden hervor. Unter Friedrich Wilhelm II. hat bereits der Klassizismus die
Herrschaft — 1793 begann Langhaus das Brandenburger Thor zu bauen —,
und er behielt sie auch auf lange Zeit hinaus, da ihn eine so kraftvolle Per¬
sönlichkeit wie Schinkel bis gegen Ende der Regierung Friedrich Wilhelms III.
vertrat. Auch in der krankhaften Sehnsucht nach dem ewig unerreichbaren grie¬
chischen Ideal liegt eine entschiedne Romantik — sollte man darin die Erklä¬
rung dafür finden, daß Schinkel zeitweilig zwischen hellenischem und altdeut¬
schem Kunstideal geschwankt hat? Für das künstlerische Bild Berlins hat frei¬
lich seine romantische Periode wenig Bedeutung gewonnen: seine Pläne in
dieser Richtung sind meist nicht ausgeführt worden; auch im Jahre 1810, als
er für die Begräbniskapelle der Königin Luise eine gotische Halle ersonnen hatte,
wurde nicht diese, sondern der bekannte kleine dorische Tempel von Gentz aus¬
geführt.
Gleichviel ob gotisch oder dorisch — das eine war so wenig lebende
heimische Kunst wie das andre, das deutsche Bürgertum ist es, das beide
Ideale aufgestellt hat, und von der Genieperiode stammen sie beide ab. Auch
auf wissenschaftlichem Gebiete bethätigte es sich alsbald in Berlin nach beiden
Richtungen hin, in der Wissenschaft überwiegt allerdings zunächst die Ro¬
mantik — Friedrich August Wolfs Berliner Zeit ist nichts mehr gegen seine
Hallische. Ein Zeichen dafür, daß diese Wissenschaft keine höfische Pflanze
mehr war, wurde die Berliner Universität, ein Geschenk des neuen Zeitalters
als Seitenstück zu der Akademie des verflossenen.
So siegte auf allen Gebieten des Geistes das Neue, die demokratische
über die aristokratische Kultur, das ganze wahre freie Ich über den geteilten
und gebundnen Menschen. Doppelt gewaltig erscheint diese Wendung in unsrer
Geschichte durch die gleichzeitige Nötigung für alle Deutschen, sich politisch
unter einem Gedanken zu versammeln und den neuen Geist im Dienste des
Vaterlands Mann für Mann zu bewähren: die ernste opferwillige Begeisterung
Berlins während der Freiheitskriege ist vielleicht das schönste Ruhmesblatt in
seinem geistigen Leben überhaupt.
er lauge hinausgeschobne Zusammenstoß zwischen Deutschland und
England ist da. Es hilft kein Verschleiern und wird auch weiter¬
hin kein Verkleistern helfen. Transvaal offen zu halten für
deutsche Auswanderung und Unternehmung, Wiesich nun auch seine
durch den unglücklichen Vertrag mit England vom 27. Februar
1884 einmal verkrüppelte politische Stellung entwickeln möge, ist unsre aus
dem Ausbreitungsbedürfnis unsers Volks klar sich ergebende, billige und
gerechte Forderung. Ihre Erfüllung versuchen die ränkevolle Diplomatie Alt¬
englands und die beutegierigen Banden Jung-Britischafrikas unmöglich zu
machen. Die Südafrikanische Republik ist seit der schmachvollen Niederlage,
die sich die Engländer 1881 am Majubaberg von den Buren geholt haben,
den Großengländern jeder Farbe ein Dorn im Auge. Seitdem sich Deutsch¬
land an der Westküste Südafrikas festgesetzt hat, schien die Gefahr näher gerückt,
daß sich dieser letzte unabhängige Burenfreistaat der britischen Machtausbreitung
entgegenstellen könnte. Sein Goldreichtum machte seinen uneingeschränkten Besitz
noch wünschenswerter als den der Goldfelder an der streitigen Venezuelagrenze
und in dem zweifelhaften Grenzstreifen Alaskas. Goldländer zu gewinnen ist ja
ein Grundgedanke der englischen Weltpolitik. Im gegenwärtigen Augenblick
mochte es scheinen, als ob jener leichter zu erlangen sei als diese, denn keine
afrikanische Großmacht ruft ihr gebieterisches „Hände weg!" Nur das zerrissene
Europa steht der unersättlichen Rasse gegenüber, die sich berufen glaubt, alle
besten Länder der Erde zu besitzen.
Werden sich Deutschland und Frankreich nicht auch diesmal einigen wie in
Ostasien? Daß man es doch hoffen dürfte! Frankreich weiß, daß auch seiue
Besetzung Madagaskars in England und Südafrika als ein Eingriff in die
provioentielle Zuteilung Afrikas an die anglokeltische Nasse angesehen wird.
Gleich hinter der Hinausdrängung Deutschlands aus Südwestafrika kommt
auf dem Programm der Großenglündcr die Rückgewinnung von Madagaskar,
das die Dolmetscher der Ansichten von Cecil Rhodes als ein natürliches An¬
hängsel Südafrikas aufgefaßt sehen wollen.
Aber Deutschland steht der Frage der seit Jahren von London und der
Kapkolonie aus unaufhörlich unterwühlten und bedrohten Unabhängigkeit
der südafrikanischen Buren doch ganz anders gegenüber als jede andre Macht
der Welt. Diese Niederdeutschen sind von unserm Blut. Die tragische
Geschichte ihrer kein Mittel scheuenden Verdrängungen aus einem mit Schweiß
und Blut gedüngten Kolonialgebiet Südafrikas ins andre durch die bei
jedem Zusammenstoß geschlagner, zuletzt aber durch die Überlegenheit ihrer
weitblickend schlauen Staatskunst siegreichen Engländer macht uns mitzittern
und treibt uns die Nöte des patriotischen Zornes auf die Stirn. Das
ist der Kampf zwischen anglokeltischcr und teutonischer Kolonisation. Mit
der Zeit ist daraus auch ein Abschnitt in dem großen, weit angelegten
Plan geworden, alle irgend erlangbaren Länder der Erde, wo Weiße wohnen
können, für England mit Beschlag zu belegen. Die Buren, indem sie sich
der Ausdehnung des weltweiten Netzes der wirtschaftlich geknüpften und
dann politisch befestigten Einflußfäden der englischen Weltherrschaft über ihren
Winkel Südafrikas entgegenstemmten, sind vom Schicksal zu einer über
alles Erwarten wichtigen Aufgabe gerade jetzt berufen worden, wo jene noch
mehr rücksichtslose als schlaue Politik der großen Geld- und Handelsmacht
an allen Enden der Welt erkannt und in deniselben Augenblick natürlich und
notwendig bedroht wird. Die Stammverwandtschaft und das gemeinsame
Interesse an der Zurückdrängung der englischen Land- und Goldgier gerade
in Südafrika hat die Südafrikanische Republik an die Seite Deutschlands ge¬
führt. Deutschland will und braucht keinen Streit mit England, aber es
erkannte glücklicherweise früh genug die Notwendigkeit, mehr gegen England
als irgend eine andre Macht sein Recht auf naturgemäße Ausbreitung im
Welthandel und Kolonialbesitz kräftig zur Geltung zu bringen. Hoffentlich
genügt auch diesesmal wie in den zahlreichen Fällen, wo Deutschland John
Bulls breite Ellbogen zu fühlen bekam, ein derber Gegenstoß als Hinweis,
daß wir feststehen. Doch wird diese Begegnung unzweifelhaft eine tiefere
Spur lassen, denn sie ist schon hente mit einer empfindlichen Niederlage der
englischen Politik verknüpft.
Wir gehen nicht auf die Mitwissenschaft der amtlichen Kreise Englands ein;
sie ist für jeden, der mit südafrikanischen Angelegenheiten bekannt ist, unzweifel¬
haft.*) Erinnern wir doch nur an ein einziges Wort Salisburys in einer
Parlamentssitzung des letzten Winters: „Selbst die Regierung von Transvaal,
so feindlich sie uns gesinnt war, findet allmählich den Druck der Thätigkeit
der Engländer rings umher so stark, daß sie langsam nachgiebt, und wir
zweifeln nicht, daß durch freundliche und friedliche, wenn auch unwider¬
stehliche Mittel Transvaal gezwungen werden wird, sich der Konföderation
anzuschließen, die eigentlich schon fertig ist." Die Zukunft wird noch andre
Dinge an den Tag bringen. Die Verbindung höchstgestellter Personen, vom
Prinzen von Wales abwärts, mit den Besitzern der Diamant- und Goldminen
Südafrikas zu gemeinsamer Ausbeutung, zu denen ebenso der Minister der
Kapkolonie und Dirigent von Britisch-Südafrika, Cecil Rhodes, wie dessen
Lord Kommissar, der Vertreter der Krone im Kapland, Hercules Robinson,
vor allem aber auch Rothschild gehört, giebt allen englischen Unternehmungen
in Südafrika einen ganz ausgesprochen phönizischen Charakter. Wie selbst¬
bewußt sich auch die englischen Blätter jetzt stellen mögen, wir sagen voraus,
daß noch in ihren eignen Spalten die offne Besprechung dieser südafrikanischen
Diamant-, Gold- und Machtspekulation, die unvermeidlich geworden ist, die
englische Politik mit Schande bedecken wird. Doch davon bei passenderer
Gelegenheit.
Wichtiger ist jetzt für uns die Frage: Was kann und soll nun Deutschland
thun? Es muß der südafrikanischen Republik beistehen, den Grad von poli¬
tischer Unabhängigkeit zu bewahren, den ihr jener Londoner Vertrag gelassen
hat. Es muß das Gebiet wirtschaftlich offenhalten, das die Großengländer
und die Kapengländer um die Wette in ihre Zollsysteme ziehen, d. h. für Eng¬
lands Ausbeutung vorbehalten möchten. Das ist aber nur möglich, wenn
Deutschland im Verein mit dem nächstbeteiligten Grenznachbar in Südostafrika,
Portugal, und womöglich mit Frankreich und den Vereinigten Staaten für
die Südafrikanische Republik den Weg zum Meere frei macht, der für ihr selb¬
ständiges Gedeihen unentbehrlich ist. Das ist die klare, aus den Dingen sich
ergebende Lösung, die vergiftende Halbheiten beseitigen wird. Die Republik
hat Rechte auf den dabei in Frage kommenden Küstenstrich, das Tongaland,
deren Anerkennung England an ihren Eintritt in den südafrikanischen Zoll¬
verein geknüpft hat. Das ganz ähnlich zur südafrikanischen Republik liegende
Swasiland haben sie ihr letztes Jahr zurückgeben müssen. Es ist weniger wert¬
voll, weil es nicht das Meer berührt. Nur mit dieser freien Küste können
sich die Vurenfreistaaten wirtschaftlich frei erhalten, und das ist endlich doch
immer die Vorbedingung der Loslösung von der unerträglichen Abhängigkeit
von England, die 1884 ohne zwingende Not eingegangen wurde. Von den
Transvaalburen muß das Joch genommen werden, daß sie alle Verträge (außer
denen mit dem Oranje-Freistaat) mit andern Mächten, auch selbst mit Neger¬
fürsten, England zur Genehmigung vorlegen müssen. Wir wissen Wohl, daß
es für England ein bitterer Bissen sein wird, den man ihm wahrscheinlich nicht
in der ersten Überraschung beibringen kann. Wir hoffen aber, daß es unsrer
Negierung mit Ausdauer und Unerschrockenheit gelingt. Sollte es eines Tages
sogar möglich werden, einen der dem Transvaal vorgelagerten portugiesischen
Küstenstriche des sogenannten Freistaats von Ostafrika für Deutschland zu ge¬
winnen — warum sollte nicht ein Gebietstausch zwischen dem Süden Deutsch¬
ostafrikas und dem Süden Portugiesischostafrikas möglich sein? —, so stünde
Deutschland dem unabhängigen Transvaal unmittelbar zur Seite. Das wäre
eine Lösung im großen Stil, die nur eins entschieden verlangt, was hoffent-
lich Deutschland jetzt leichter geworden ist als sonst: eine Politik von ge¬
sundem Egoismus, die stets bereit ist, England einen kleinen Teil der Rück¬
sichtslosigkeit heimzuzahlen, die es seit lange an Deutschland verschwendet hat.
Viel mehr als die Staatskunst kann aber auch in diesem Falle die Nation
selbst mit der unablässigen Arbeit der Einzelnen leisten. Sympathiekund¬
gebungen sind schön. Aber das sind nur Sträußchen, die durch die Luft
fliegen; sie liegen dann am Boden und welken. So wie es nicht die Haltung
der englischen Staatsmänner und Kolonialbeamten ist, die die Gefahr für die
Burenstaaten bildet, sondern die vielberufnen 60000 Engländer auf dem
Boden der südafrikanischen Republik, so nutzt die Haltung unsrer Diplo¬
matie, und wäre sie noch so wirksam, nichts ohne den Rückhalt der deutschen
Kolonisation, des deutschen Handels und Verkehrs. An den Fäden, die in
dieser Beziehung angesponnen sind, muß rüstig weitergesponuen werden, sie
müssen stärker, dichter, zahlreicher werden. Denn nur die Macht steht fest,
die im Boden wurzelt, und der Fleiß der Einzelnen ist das Mark der Politik.
in Mann kletterte die steile Waldschneise empor. In tiefer Ein¬
samkeit: fern unter ihm rauschte der Waldbach, über ihm be¬
wegte ein lauer Wind leise die Kronen der Buchen, die goldig-
grün von den schon schräg fallenden Strahlen der Abendsonne
beleuchtet wurden.
Es war ein heißer Tag im August gewesen, der Boden
dampfte warm im Laubwalde. Erst ganz oben wurde es ein wenig luftiger.
Schmal, schnurgerade zog sich der Aufhieb durch den Forst, fast genau von
Nord nach Süd. Die schon ziemlich tief im Westen stehende Sonne warf
dichte Schatten über den schmalen Pfad. Lautlos schritt der Wandrer auf
dem dicken Teppich von altem Laub und Moos. Er nahm den weichen Filzhut
ab und trug ihn in der Linken, während die Rechte den Stock führte: eine
derbe Eiche mit spitzer, dreikantiger Stahlzwinge.
Es war kein Jüngling mehr, der da hoch aufgerichtet, barhaupt durch
den ragenden Hochwald schritt. Kurz gehaltnes Haar bedeckte nur noch mangel¬
haft den großen Schädel, dessen Form sich dadurch besonders deutlich zeigte.
Der Mann hätte aussehen können, wie er wollte, an dem Schädel schon er¬
kannte man, daß man keinen Durchschnittsmenschen, keinen aus der Töpfer¬
ware der Natur vor sich hatte: die kantigen Formen des Kopfes, die starken
Wölbungen über Augen und Schläfen machten einen ganz eigen fesselnden Ein¬
druck. Aber auch das Gesicht selbst fesselte, es war das eiues Denkers und
Kämpfers zugleich. Über die hohe Stirn zogen sich feine Querlinien, zwischen
den Brauen aber stand eine doppelte, tiefe, fast finstre, senkrechte Falte. Über
der scharfgeschnittnen, leicht gebognen Nase blickten ein paar große, dunkel¬
braune Augen. Der Sommeranzug, den er trug, verriet nichts von Beruf
oder Stellung des Trägers: ein Heller englischer Plaidanzug, bequem, aber
gut gemacht.
Jetzt stand der Einsame still, setzte den Hut wieder auf und strich sich
einen Augenblick lang nachdenklich den braunen Vollbart, der ihm in weichen
Wellen bis tief herab auf die breite Brust fiel. Ein schmaler Waldweg schnitt
die Schneise. Er warf einen Blick zurück, verfolgte dann die Windung des
Wegs und streifte einige Baumgruppen mit dem Auge, wie um die Kennzeichen
des Ortes zu sammeln. Nur eine Sekunde, und er war seiner Sache sicher:
mit schneller werdenden Schritten bog er rechts in den Waldpfad ein.
Der Wald wurde noch mächtiger, der Weg hob und senkte sich mäßig,
die Sonne zeichnete grelle, weiße Lichter auf den Boden. Es war totenstill.
Der Wandrer war nicht in friedfertiger Stimmung: die Falte zwischen
den Brauen vertiefte sich mehr und mehr, und die dunkeln Augen blickte^
finster. Er schien mit jemand zu sprechen, den er lebhaft vor sich sah: von
Zeit zu Zeit entfuhr seinen Lippen ein halblautes Wort, und dann und wann
sauste sein Stock mit kräftigem Hiebe dumpf durch die Luft. An einer kleinen
Wendung des Weges streckte sich ihm ein starker, dürrer Ast entgegen, als
wollte er ihm das Weitergehen verwehren; ein hausender Hieb, und krachend
stürzte der Altersschwäche zerschmettert zu Boden. Von links her brach
erschreckt ein Rehrudel aus dem Unterholz und setzte in eiliger Flucht mit zier¬
lichen, weiten Sprüngen über den Weg.
Der Mann lachte auf, wie in leichtem Spott über sich selbst. Sein Ge¬
sicht blieb nun auch heiter, die kleine Gewaltthat schien ihn erleichtert und
ihm seinen Humor wieder gegeben zu haben. Er atmete freier und sog in
langen Zügen die würzige Waldluft ein. Ein Fuchs, der sich dicht am Weg¬
rande hinter einem Busche platt auf den Boden gedrückt hatte, trabte hinter
dem Davonschreitenden links in den Wald, indem er ihm über seine listige,!
schwarze Schnauze hin verschmitzt nachsah, die rote, geradeaus gestreckte Rute
leise bewegend.
Der Wandrer hatte eine weiße Landstraße gekreuzt, die quer durch den
Forst zog, und war auf der andern Seite wieder in den Wald getaucht, er
hatte ein Wässerchen überschritten und im Gewirr vieler kleinen Quer- und
Nebenwege ohne Zögern immer schneller den seinen verfolgt. Die Wege wurden
häufiger und gepflegter. Endlich senkte sich der Pfad rasch, zuletzt fast steil
in einen langen, schmalen, schluchtartigen Grund, durch den ein muntrer Bach
floß. Es war schon fast dunkel hier unter, kühl und feucht. Den Bach ent¬
lang ging ein Weg, hart, sorgfältig unterhalten. Gerade gegenüber stieg eine
Treppe den jenseitigen Hang empor, wenige Schritte rechts aber ergoß eine in
Stein und Eisen gefaßte Quelle plätschernd ihr Wasser in ein Becken, das
unter dem Wege in einen überdeckten Kanal nach dem Bache abfloß. Die aus
Baumästen gefügten Bänke paßten zwar gut in den Wald, sahen aber doch
schon etwas nach Verschönerungsverein oder Kurgarten aus.
Auch hier unten war es einsam. Der Wandrer lächelte befriedigt, als
er den Platz verlassen fand, setzte sich auf die Bank und wartete.
Die Schatten senkten sich tiefer. Unten im Grunde an der Quelle wurde
es fast finster, nur ganz hoch oben am Hange vergoldeten die letzten Strahlen
der scheidenden Sonne hie und da noch eine der besonders hohen, am mäch¬
tigsten aufragenden Buchenkronen.
Der Mann auf der Bank spähte gespannt nach dem obern Rande der Höhe,
an dem ein Weg entlang lief. Vereinzelte Gestalten waren oben vorüber ge¬
gangen, auch Paare und kleinere Gesellschaften von dreien oder vieren. Ver¬
einzelte Laute der Unterhaltung waren bis herunter gedrungen, aber immer
einsamer, immer stiller war es auch oben geworden. Die Leute waren alle
in ein und derselben Richtung vorübergegangen: wohlerzogne Pflegebefohlne
einer Kurverwaltung, die ihnen zu ganz bestimmten Stunden ihre Mahlzeiten
giebt und sie dann zu Bett schickt.
Es verging noch eine halbe Stunde. Im Walde herrschte Totenstille.
Die leisen, fernen Nachtstimmen des Forstes erwachten, der Wind wehte kühler
durch die aufrauschenden und wieder stiller werdenden Blätter.
Da hörte der Harrende leichte, rasche Schritte, die aus der entgegen¬
gesetzten Richtung kamen; ein weißer Fleck wie ein wehendes Sommerkleid
leuchtete oben an der Treppe auf, und täuschend nachgeahmt klang nun das
leise Gurren der Holztaube von der Quelle her. Ein leichter, unterdrückter
Freudenruf von oben herab antwortete, und in behenden Sprüngen, immer je
zwei, drei Stufen der rohen Treppe auf einmal nehmend, stürmte eine zierliche
Mädchengestalt herunter in die Nacht, ins Dunkel.
Falle nicht, Wildfang! rief ihr der Mann entgegen. Es sollte Schelten
sein, und es war Sorge in dem leisen, unterdrückten Rufe, aber uoch viel
mehr Stolz, Freude und Entzücken.
Aber schon lag sie ihm in den starken Armen, und unter Küssen klang
es leise, aber doch jubelnd, als wäre es laut hinausgejauchzt: Unsinn, Erich,
man kann nicht fallen, wenn man seinem Schatz entgegenfliegt.
Sind wir sicher? fragte er.
Unbedingt sicher, aber nur auf eine Viertelstunde, du weißt ja. Es ist
eigentlich zu schlimm für dich, zwei Stunden her und zwei Stunden durch
den nächtlichen Wald zurück, um eine Viertelstunde lang mit deiner kleinen
Erika zu verplaudern, du armer Kerl.
Reicher Kerl, lachte er leise, sündhaft reich, schon fürchte ich den Neid
der Götter, Kleine. Wie glücklich wäre die Menschheit, wenn sich jeder mit
eines Tages Arbeit solch eine Viertelstunde erkaufen könnte! Aber komm, wir
stehen hier mitten im Weg. ^ Er zog sie in den tiefern Schatten. — Etwas
neues, kleine Erika?
Nichts wesentliches. Was ist auch wesentlich außer dir. Onkel ist noch
immer ebenso nervös, als wie er hergekommen ist. Wie soll auch jemand
irgendwo wieder gesunde Nerven bekommen, der alles, was sie ihm krank
gemacht hat, überall mit sich herumträgt und überall mit hinnimmt: seine
Geschäftssorgen und seine Geldgier, die er Ehrgeiz nennt.
Sein Gesicht wurde finster: Sprich nicht von Geld! — Dein Onkel hat
keine Ahnung, daß ich hier bin?
Nein, gesehen hat er dich ja neulich nicht, und von deinem Nest da drüben,
jenseits des Waldes, hat er keine Ahnung. Er hält dich für verschollen und
freut sich dessen, der Gute. Wenn er wüßte, daß Leander jeden Abend zu
seiner Hero schwimmt.
Er lachte: Werde nicht übermütig! So gut wie Hero hast du es doch
nicht. Es wäre doch uoch viel romantischer, wenn der Verehrer so jeden Abend
sein bischen Leben wagte, nicht, kleine Erika? Aber des Waldes Rauschen ist
weniger gefährlich als die Brandung des Hellespont. Meine Leistung ist nicht
viel wert. Vielleicht schwömme ich auch, wenn es sein müßte; vorläufig aber
mußt du auf das erhebende Bewußtsein verzichten, daß dein Geliebter all¬
nächtlich den Tod bezwingt, um zu dir zu kommen. Die reißenden Tiere
werden mich auch nicht fressen. Es ist schon hundertfünfzig und etliche Jahre her,
daß des Königs Waldläufer hier die letzten Wolfsspuren „observiret" haben.
Mache mich nicht zu fürchten, Menschen sind schlimmer als Wölfe! Er¬
innere mich nicht daran, es soll sehr unsicher sein hier im Walde, du gehst
immer allein.
O nein, nie, antwortete er, wir sind immer zu zweien, und er zeigte auf
seine junge Eiche, die an der Bank lehnte. Hast du etwa Angst um den ge¬
brechlichen alten Herrn?
Wenn ich dich sehe, wenn ich bei dir bin, halte ich Furcht für lächerlich;
wenn du aber fern bist, fürcht ich mich doch, sagte sie. Es ist eigentlich un¬
verantwortlich von mir: du kommst jeden Tag, machst jeden Tag diesen weiten
Weg, bei jedem Wetter, und hast nie die Sicherheit, daß ich kommen kann.
Neulich hast du hier gestanden in Sturm und Regen, und ich hab im Zimmer
gesessen. Alle verfügbaren Lampen waren angebrannt, Tante hatte die Läden
geschlossen, Onkels Nerven wegen, und doch sah man jeden Blitz; das fahl¬
blaue Licht drang durch die künstliche Helle, das ganze Haus zitterte unter
dem dröhnenden Donner, der Schlag auf Schlag niederfuhr. Ich war im
Trocknen, in Sicherheit, und wußte dich draußen.
Kind, antwortete er, mach dir doch keine Vorwürfe! Ich lebe um dieser
Viertelstunde willen. Ich arbeite schwer, denn durch Ruhm und Erfolg will
ich dich erringen. Daß ich dich wenigstens sehen kann, daß ich dich täglich
sehe, das macht mich stark. Und die weite Wanderung ist ein Heilmittel für
mich. Es ist eine Notwendigkeit für mich, einen weiten Spaziergang zu machen,
nachdem ich den Tag über, solange die Sonne am Himmel ist, in meinem
Schuppen gestanden habe. Das Wetter neulich ist mir ausgezeichnet bekommen,
das Prasseln des Regens, das Heulen des Sturms in den Baumkronen war
schön, es Hütte dir Spaß gemacht, wenn du dabei gewesen wärst. Und die
Blitze waren meine Freunde, denn bei ihrem Leuchten sah ich den Weg. Ich
habe prächtig darnach geschlafen, fo gut wie lange nicht, eine ausgezeichnete
Nacht habe ich gehabt, traumlose Ruhe, ich habe nichts geträumt, gar nichts,
nicht einmal von dir, und das ist gesund, kleine Erika.
Pfui! sagte sie.
Pfui? Weshalb pfui? Soll ich nicht einmal mehr schlafen dürfen, kleine
Tyrannin?
Schlafen, o ja, aber du sollst dich nicht darüber freuen, daß du nicht
von mir träumst. Ich werde auch nicht mehr von dir träumen. Warte, wenn
du nicht gleich Bitte, bitte! sagst, dann heirate ich Herrn Albert Bierman.
Er zog sie lachend auf sein Knie. Bitte, bitte! sagte er, bitte, bitte!
kleine Maus, heirate doch den Esel nicht.
Sie sprang lebhaft auf. Esel? sagte sie. Das ist eine Ungerechtigkeit des
Nebenbuhlers. Ein ganz bedeutender Geschäftsmann, da kannst du fragen, wen
du willst. Ein genialer Kopf, hat Onkel Gustav heute Abend noch wenigstens
ein dutzendmal versichert.
Genial? Albert Biermann? Alle Hagel, das ist selbst für Onkel Gustav
eine erstaunliche Leistung.
Ja ja, wiederholte sie, mit seiner letzten Grundstücksspekulation macht er
mindestens eine Million.
"
Das „macht er ist vom Onkel! Also er macht eine Million? Und das
mit der „segensreichen Arbeiterkolonie"?
Ja, das ist eben der geniale Gedanke, wie Onkel Gustav meint, das
Terrain wäre zu gar nichts weiter zu brauchen gewesen. Weißt du übrigens,
daß der große Mann kommt?
Was, hierher? fragte er etwas erschrocken.
Jawohl. Zittere, Tyrann! und lerne wieder von mir träumen. Die
Sache wird gefährlich, morgen früh kommt Herr Albert Biermcm angereiht.
Er hat geschworen, nur als mein Verlobter wieder heimzufahren. Und was
will ich machen, Herr Erich Vanrile? Der Künstler, den ich liebe, verbietet
sich die Gedanken an mich aus Gesundheitsrücksichten und kommt zum Stell¬
dichein, nur weil er aus denselben Gründen eines langem Spazierganges be¬
darf. Am Ende läßt er mich eines Tages sitzen, weil er sowieso ein garstiger
alter Junggesell ist, der mir schon vor drei Jahren gesagt hat, als ich noch
ein ganz kleines Mädchen war: heiraten ist gut, aber nicht heiraten ist besser.
Ein sehr trüber Blick in eine ungewisse Zukunft! Auf der andern Seite stehen
alle guten Mächte, die ein braves Mädchen ehrt und liebt, Herr Erich.
Erstens Albert Bierman, ein tadelloser und erfolgreicher Geschäftsmann, hoch
angesehen in allen Kreisen, die auch Geld haben. Zweitens mein guter, alter
Onkel, der mich, die arme mittellose Waise, zu seiner Erbin erzogen hat.
Drittens meine sanfte Tante, die gar nicht begreifen kann, daß man etwas
nicht innig wünscht, was Onkel Gustav will. Und viertens dann noch der
große, große Geldsack von Herrn Bierman. Das sind vier gegen eins, Herr
Baumeister. Ich werde mich schließlich fügen müssen, nach ehrenvollen Wider¬
stande natürlich.
Fällt dir ja gar nicht ein, antwortete er lachend, ich sehe den Verlauf
voraus. Der brave Mann wird ankommen, wird dir furchtbar den Hof
machen, einen erschrecklichen Luxus treiben mit Blumen und Auffahrten, wird
dir alle Tage von seinem Hause, von seinen Dienern, von seinen Pferden und
seinen Wagen erzählen, und wie gut es einmal seine Frau haben wird, und
du wirst ihn auslachen wie immer, wirst ihn mißhandeln, an der Nase herum¬
führen und ihn so ärgern, daß er nach längstens acht Tagen wieder abfährt,
unverlobt, und wenn er das Gegenteil bei seinen Ahnen geschworen hätte, die
ja wohl alle Viehkommissivnäre waren.
Sie lachte hell auf, und aus ihrem Lachen klang die sehr feste Über¬
zeugung, daß die Sache in Wirklichkeit ganz ähnlich verlaufen würde.
Dann aber wurde sie auf einmal ernst. Mit ihrer linken kleinen Faust
griff sie in seinen Vollbart, mit der rechten nahm sie ihn beim Ohr, und dann
schüttelte sie ihn leise und sah ihm in die Augen, ganz nahe, als wollte sie
auf den Grund seiner Seele sehen. Du schlechter Kerl, sagte sie dann, daß
du mich so fest am Faden hast, das ist schon schlimm genug, daß du es aber
auch so genau weißt, das find ich einfach empörend. Du bist noch nie, nie,
nie eifersüchtig gewesen, dir hat noch niemals auch nur vorübergehend der
Gedanke die Seele getrübt, du wärest meiner nicht sicher, deiner Erika nicht
ganz so sicher wie deiner Hand — und ich, ich stehe Angst aus, solange ich
dich nicht bei mir habe, und wenn ich dich mit einer schönen Frau oder einem
hübschen Mädchen sprechen sehe, wird mir heiß und bang, und als du mir
neulich von der Sängerin erzählt hattest, die drüben zur Kur ist, und die so
schön und so liebenswürdig ist, da hab ich geträumt von euch beiden. Es
war in einer furchtbar kalten Kirche, und ihr wurdet getraut, und sie hatte
einen weißen Schleier und rotes Haar, und das hat mir so weh gethan, daß
ich mitten in der Nacht laut geschrieen habe. Tante Jda hat mich geweckt;
sie sah ganz verstört aus, als sie in der Nachtjacke vor meinem Bett stand,
und dann hat sie mir ein Brausepulver gemacht und hat mich getröstet und
hat mich gefragt, was mir denn fehlte, und dann hab ich schlechte Göre sie
angelogen: ich hätte geträumt, ich hätte Albert Bierman heiraten sollen, und
das hätte mich so entsetzt, und da ist sie ganz bekümmert und gedrückt wieder
zu Bett gegangen und hat bald darauf geschnarcht. Aber ich habe trotz des
Brausepulvers nicht wieder einschlafen können und immer noch gesehen, wie
du mit der andern vor dem Altar standest, und habe mein Kissen naß geweint.
Ich glaube, du hast mich gar nicht lieb, du hast mich bloß gern, weil ich
hübsch und lustig bin, und wenn du eine triffst, die noch hübscher und lustiger
ist, dann nimmst du die. — Wieder schüttelte sie ihn leise, und noch näher
kam sie mit ihren Augen den seinigen und fragte: Du, hast du mich wirk¬
lich lieb?
Furchtbar lieb — toll lieb, antwortete er.
Dein Glück! sagte sie. Dann gab sie ihm einen leichten Stoß und ent¬
schlüpfte dem nach ihr Haschenden. Der Dämmerung ungeachtet schien sie eine
befriedigende Bestätigung aus dem Grunde seiner Seele gelesen zu haben, denn
ihre Augen, in denen fast Thränen gestanden hatten, waren erst ruhig, dann
hell, dann lustig und endlich ganz mutwillig geworden. Und das alles hatte
keine Sekunde gedauert.
Nun und? sagte er, ich bekomme doch immer einen Kuß, wenn ich ver¬
sichere, daß ich dich furchtbar lieb habe.
Erika! Erika! tönte von oben aus der Dämmerung eine dünne Stimme.
Tante sucht mich, still! Gute Nacht, gute Nacht! Und weg war sie.
Suchst du mich, Tauenden? hörte Erich Vanrile sie hinauf sagen.
Ja, Kind. Onkel hat schon nach dir gefragt, du weißt, er ängstigt sich
so leicht um dich.
Ach, es war so wunderschön!
Ja, es ist sehr schöne Luft, sagte Tante Jda. Dann gingen sie Arm in
Arm der dicht am Parkrande gelegnen Villa zu.
Horch, sagte Tante Jda noch, eine Holztaube! — Ein sehnsüchtiges
Gurren klang vom Grunde herauf.
Sie standen einen Augenblick still. Horch! hörst du sie? fragte die Tante.
Sie? Das ist doch ein Täuberich, Tauenden, der sehnt sich im tiefsten
Baß nach seiner Frau, die ihm davon geflogen ist.
Aortsetzung folgt)
Es muß wie ein elektrischer Schlag durch die deutscheu
Herzen gegangen sein, als die Depesche des Kaisers an den Präsidenten Krüger
bekannt wurde. Der ungeheure Wiederhall, den sie in dem ganzen Auslande ge¬
funden hat, und der Verschiedne Laut dieses Wiederhalls, je nach der Stelle,
von der er erklang, hat auch die Schwachmütigen aufgerüttelt; wer uoch gestern
in ängstlicher Philisterhaftigleit riet: nur keine Unvorsichtigkeiten, nur keine tollen
Wünsche und utopischen Gelüste! der erhebt heute schon sein Haupt höher und
sängt an zu ahnen, daß sich Großes anbahnt, und daß ein Wille vorhanden ist,
der sich aus Großes richtet. Durch alle Herzen aber, die ungeduldig auf eine
Äußerung dieses Willens geharrt haben, wird ein Jauchzen gegangen sein; sie wissen
es jetzt: wer diese Worte gesprochen hat, fühlt auch die Kraft, seineu Willen durch¬
zusetzen , und sein Wille ist die Größe und das Wohl des Vaterlandes. Gott
segne unsern Kaiser für dieses kräftige Wort, das dem prophetischen Bismarcks
Erfüllung verheißt: Er wird wie Friedrich der Große sein eigner Kanzler sein.
Wir wissen es, er wird der Herzog sein, der sein Volk großen Zielen entgegenführt.
Und wer gestern noch ängstlich zu Bescheidenheit und Vorsicht gemahnt hat.
der redet heute schon eine ganz andre Sprache. Jetzt heißt es: Ja, wenn wir
Schiffe hätten, wenn die Philisterhaftigkeit sie nicht versagt hätte! Die Philister-
haftigkeit kommt zur Einsicht über sich selbst, und damit wird ihr die wohlthätige
Scham gekommen sein.
Die Engländer werden ja wahrscheinlich zähneknirschend zurückweichen und
denken, sie könnten ihre Zeit abwarten. Wir aber sind zu der Einsicht gelangt,
was uns noch fehlt, und werden dafür sorgen, daß unsre Zeit kommt. Heraus
mit dem Patriotismus! Wer hilft Schiffe bauen? Was der nörgelnde Reichstag
von Jahr zu Jahr verweigert hat, das sollte das Volk durch freiwilliges Opfer
dem Kaiser bringen. In allen Städten, in allen Dörfern sollten sich Vereine
bilden, die die Mittel zum Bau von Kreuzern und Schlachtschiffen sammelten, das
wäre eine Hurra Germania! wie es sich als Antwort auf die Depesche des Kaisers
gehörte, dann wüßte er: ich habe das Volk hinter mir! Wir fordern dazu aus!
Wer fängt um?
o schreibt uns auch noch ein Freund, und er sagt:
Dr. Jcnnesou hat sich um Deutschland wohl verdient gemacht. Wer hätte geglaubt,
daß ein unbekannter englischer Globetrotter das Zaubermittel besäße, die Deut¬
schen mit einem Schlage über allen innern Hader hinauszuheben und beinahe die
Stimmung der unvergeßlichen Tage von Eins wieder lebendig zu machen! Welche
Freude, zu beobachten, wie klar und einmütig das ganze deutsche Volk, bis jetzt
gottlob ohne Unterschied der Parteien, das Ziel erkennt, das ihm die Vorsehung
gesteckt hat, das Ziel, den deutschen Namen über die Meere zu tragen, die Auf¬
gabe, mit trotzigem Ernst den Anteil nachzufordern, um deu wir bei der Vertei¬
lung der Erde einst zu kurz gekommen sind. Wahrlich, es konnte uns keine schönere
Jubiläumsfeier der Reichsgründung beschieden sein. Werden wir auch jetzt noch
den Mut haben, unsre beste Kraft in kleinlichen Verfolgungen des freien Worts,
in argwöhnischen Mißtrauen gegen polizeiwidrige Regungen der Volksseele, in
deutscheu Querelen zu vergeuden? Wir sind wenigstens sieben Millionen Deutscher
zu viel im Lande. Ein vör saorum von hunderttausend deutschen Jünglingen,
die wir Jahr für Jahr in den afrikanischen Süden oder wo sonst den Deutschen
eine Zukunft winkt, hinausführten, würde kaum hinreichen, den Zurückbleibenden
freieres Atemholen zu gestatten. Wo ist unser Emigration's Jnformations Office,
wo sind unsre Franz Drakes, unsre Raleighs, wo ist die Hanse, wo sind die
Bürger, die auf ihre Anteile an den taurischen Silberminen verzichten, um einem
deutschen Themistokles Schiffe bauen zu helfen? An tapfern Herzen und kräftigen
Armen fehlt es nicht. Kaiser und Reich waren in diesen schönen Tagen eins in
Fühlen und Denken. Möge es immer so bleiben, möge der große Moment auch
ein großes Geschlecht finden! ,
Die beiden Fragen, um die
sich zur Zeit unsre innere Politik so ausschließlich dreht, daß alles andre neben¬
sächlich erscheint, sind die Agrarierfrage und die Klassenrechtsfrage. Nicht die
Agrarfrage, denn die wird, soweit sie innerhalb der gegenwärtigen Grenzen des
Reichs lösbar ist, von unsern wackern Bauern in geräuschloser Privat- und Ge¬
nossenschaftsthätigkeit täglich gelöst, sondern die Agranerfrcige, d. h. die Frage,
ob es den größern Grundbesitzern gelingen wird, den Staat dafür zu gewinnen,
daß er ihnen die Grundrente sichert, unter allen Umständen sichert. Da die Na¬
tionalliberalen trotz verzweifelter Gegenbemühungen der Nationalzeitung nicht wagen,
auf den Beistand der ganz agrarisch gewordnen konservativen Partei zu verzichten
und sich auf eigne Füße zu stellen, und da die schlesischen Zentrumsabgeordneter
von einem großen Teil ihrer Wähler bestürmt werden, für den Antrag Kanitz zu
stimmen, so ist es gar nicht unmöglich, daß diese erste Frage noch in der laufenden
Sitzung zu Gunsten der Agrarier entschieden wird.
Nicht so rasch wird es mit der zweiten Frage gehen, ob die den untern
Klassen gesetzlich zugestandne bürgerliche Gleichberechtigung in der Praxis durch¬
geführt, oder ob sie ihnen, zunächst durch Aenderung des Wahlrechts, wieder ge¬
nommen werden, oder ob die gegenwärtige, dem geschriebnen Recht vielfach wider¬
sprechende Praxis bis auf weiteres beibehalten werden soll. Wir haben es un-
zähligemcü gesagt und wiederholen es heute wiederum: wir betrachten die Frage
der Gleichberechtigung aller Klassen und Stände, d. h. die Frage, ob die Gleich¬
berechtigung durchführbar sei, als eine offne, als eine Frage, die bis jetzt immer
nur in kleinen Bauernstaaten im bejahenden Sinne entschieden worden ist, und die
auch für Großstaaten mit stark differenzirter Bevölkerung zu entscheiden zu den
schwierigsten Aufgaben der Zukunft gehört. Selbstverständlich reden wir nur Von
praktischen Lösungen, da theoretische ganz wertlos sind. Diese unsre Zurückhaltung
hat uns nicht davor bewahrt, bis in die letzten Tage herein von Leuten, die sich
auf die Staatsrettung verlegen, Koseworte wie Infamie und Gilftmischerei hin¬
nehmen zu müssen. Die Herren sind nämlich wütend darüber, daß wir überhaupt
die Frage stellen, anstatt uns an der politischen Dunsterzeugung und Wolken¬
schieberei zu beteiligen. Einmal verdrießt es sie, daß die Sache ihre schier un¬
überwindlichen technischen Schwierigkeiten hat. Gleich beim ersten Schritt schon,
bei der Aenderung des Wahlrechts, würde der schöne Grundsatz, daß Besitz und
Bildung regieren sollen, in die Brüche gehen, weil bei Zensuswahlen an jedem
größern Orte die „Bildung" dritter Klasse wählt, d. h. unvertreten bleibt, und
so ein Zustand geschaffen wird, der die akademisch Gebildeten in die Opposition
drängen muß. Dann aber haben die Herren nicht den Mut, gerade heraus zu
sagen, was sie wollen, und können es daher auch nicht leiden, wenn es von an¬
dern gesagt wird. Sehr gelegen sind ihnen daher die Dummheiten und Unver¬
schämtheiten der Sozialdemokratenführer gekommen, die es ihnen ermöglichen, die
Rechte der untern Klassen unter dem Scheine des Kampfes gegen eine revolutionäre
Partei anzutasten. Großartiges leistet in dieser Beziehung ein Blatt, das sich ehe¬
mals allgemeiner Beachtung erfreute, weil es von Bismarck benutzt wurde. Seine
gegenwärtigen Kcnnpfartikel sind zwar, wie wir aus dem Reichsboteu erfahren,
nur Privatleistungen eines Redakteurs — nicht des Chefredakteurs, der krank sein
soll —, aber weil sie die Partei, der sie dienen, recht gut charakterisiren, wollen
wir doch ein Sätzchen aus ihrer Philippika vom 23. Dezember für spätere Zeiten
aufbewahren. Der gute Herr stellt sich entsetzlich dumm und ermahnt seinen „lieben
Leser," einmal unsre Verfassungsurkunden durchzulesen und dann zu sagen, „was
die Deutschen aller Klassen noch vermissen können, um die bürgerliche Rechtsgleichheit,
die öMlitö nie etroit, im vollsten Umfange verwirklicht zu sehen/' Als ob der ge-
schrielme Buchstabe des Gesetzes schon seine Verwirklichung und nicht eben das
die Klage nicht allein der Arbeiter, sondern überhaupt der Angehörigen sowohl
der Oppositionsparteien wie der weniger angesehenen Stände wäre, daß das ge-
schriebne Recht eben nur zum Teil verwirklicht wird! Ein dickes Buch würde dazu
gehören, alle die Fälle aufzuzählen, die das beweisen. Heute wollen wir nur
eiuen Fall anführen, der mit Arbeiterfragen und Sozialdemokratie gar nicht zu¬
sammenhängt. In der Gegend von Annaberg im Erzgebirge kommen etwa zwanzig
Mitglieder einer Sekte im Hause eines Genossen zusammen und halten da Gottes¬
dienst. Auf Antrag der Polizei wird gegen den Inhaber der Wohnung nud gegen
deu Prediger der Sekte eine Klage eingeleitet wegen Übertretung des Vereins-
und Versammlungsgesetzes. Das Schöffengericht spricht die Leute frei, das Ober¬
landesgericht jedoch weist die Sache an das Chemnitzer Landgericht zurück, das die
Leute zu einer kleinen Geldstrafe verurteilt (Frankfurter Zeitung vom 19. Dezember,
drittes Morgenblatt). Die norddeutsche Allgemeine wird sich einer berühmt ge-
wordnen Versammlung beim Grafen Waldersee erinnern. Wir wissen nicht, ob
dort gebetet, also Gottesdienst gehalten worden ist, aber bei dem Geiste, der die
Versammlung beseelte, wäre das doch sehr möglich. Daß einem kleinen frommen
Konventikel armer Leute im Erzgebirge irgend welche politische Bedeutung bei-
zumessen wäre, kann kein vernünftiger Mensch behaupten; dagegen wurde der
Walderseeversammlung von maßgebenden Personen, denen die norddeutsche All¬
gemeine Zeitung sehr nahe stand, die allerhöchste Bedeutung beigemessen. Nun
fragen wir diese Zeitung: Ist es deutbar, daß ein Polizeibeamter in diese Ver¬
sammlung hätte eindringen wollen, um sie zu beaufsichtigen, oder daß Graf Waldersee
und Stöcker in Anklagezustand versetzt worden wären? Nein, das ist nicht denkbar.
Woher der Unterschied? Nicht von der Sache kommt er, sondern ganz allein daher,
daß die Versammelten einer andern Gesellschaftsschicht angehörten. Wenn man
sagt, es giebt eine Schicht, die über der Polizei, und eine, die unter der Polizei
stehen muß, so antworten wir darauf: Gut, das mag richtig sein; aber dann
erkläre man das auch ausdrücklich in der Verfassung! Wenn man, fährt die nord¬
deutsche Allgemeine fort, die Rechtsgleichheit als ein erst zu verwirklichendes Ziel
hinstelle, so könne man doch nichts andres meinen, „als die oxalito als kalt, den
Kommunismus, der Kommunismus aber ist die Revolution." Es ist stark, ge¬
bildeten Lesern zuzutrauen, daß sie nicht merken werden, wie hier der thatsäch¬
lichen Rechtsgleichheit die Vermögensgleichheit untergeschoben wird, die übrigens
an sich noch lange nicht der Kommunismus ist. Unsre Leser wissen, wie sehr uns
alle Gleichmacherei zuwider ist, aber so weit sind wir doch nicht, daß uns die
Liebe zur Ungleichheit nud Mannichfaltigkeit närrisch machte, und närrisch müßten
wir sein, wenn wir in einer Vereins-, Versammlnngs-, Kvalitions-, Rede- und
Preßfreiheit, wie sie der Engländer genießt, oder in der gleichen Behandlung aller
vor Gerichtschon den Kommunismus sehen sollten.
Das schönste an jenem Artikel der Norddeutschen ist aber, daß er Herrn
Stöcker gilt, der samt allen Christlich-Sozialen als Sprößling Babeufs und Ge¬
schwister der Kommunisten und Anarchisten gebrandmarkt wird. Darüber, daß die
Hamburger Nachrichten, die norddeutsche Allgemeine und die Schlesische Zeitung
seit Wochen aus Leibeskräften daran arbeiten, die Konservativen zur Abschüttelung
Stöckers zu bewegen, wird sich niemand wundern; aber wie kommt es, daß sich
diese nicht dazu entschließen können, obwohl sie die „Jungen" und den am 15. De¬
zember in Liegnitz unter Stöckers Mitwirkung gegründeten christlich-sozialen Verein
für Schlesien in die Acht und Aberacht gethan haben? Die Verhandlungen über
die Angelegenheit werden ja geheim gehalten, aber man kaun sich ungefähr denken,
was die Herren zurückhält. Die evangelische Geistlichkeit ist für die Wahlen nicht
zu entbehren, und der würde es nach der Ausstoßung Stöckers, des Baders der
Christlich-sozialen, ungemein schwer fallen, der konservativen Partei noch weiter¬
hin Wahldienste zu leisten. Denn das Neue Testament ist heute kein ganz unbe¬
kanntes Buch mehr, es wird weit mehr gelesen als vor dreißig Jahren, und eine
evangelische Geistlichkeit, die sich auf den schriftwidrigen Standpunkt stellen wollte,
den ihr der Oberkirchenrat anweist, d. h. die für die Reichen gegen die Armen
Partei nehmen wollte, würde sich unmöglich machen. Daher die große Verlegen¬
heit der konservativen Partei.
Noch eine Bemerkung. Ein mittelparteiliches Blatt stellte dieser Tage die
segensreiche Wirksamkeit des Freiherrn von Stumm der Agitativnsthätigkeit der
„Jungen" gegenüber und schloß mit dem Satze: „Wenn wir viele Stumms unter
den Arbeitgebern hätten, dann würde die sozialdemokratische Hetzerei viel erheb¬
lichem Schwierigkeiten begegnen als jetzt; gäbe es aber keine Stumms, souderu
nur Neumanns, dann stände die Revolution vor der Thür." Die zweite Hälfte
des Satzes wollen wir dahingestellt sein lassen; die erste jedoch ist unzweifelhaft
richtig, und man kann fortfahren: hätten es alle Arbeiter materiell so gut, wie die
des Freiherrn von Stumm, und stünden sie auf einem Bildungsgrade, der sie die
Bevormundung, die ihnen auferlegt wird, nicht empfinden ließe, und wäre ihnen
nicht durch die Verfassung das Vollbürgerrecht verliehen worden, so würde es gar
keine Sozinldemokraten geben. Der Fehler ist nur, daß es eben nicht lauter Stumms
geben kann. Wir zweifeln nicht daran, daß der Freiherr das, was er seineu Ar¬
beitern Gutes erweist, aus Menschenfreundlichkeit thut, aber er würde es auch
dann thun, wenn er gar nicht menschenfreundlich, sondern bloß intelligent wäre.
Die Eisenindustrie, darauf haben wir in einem Abriß der Geschichte der englischen
Arbeit nachdrücklich hingewiesen, erfordert einen Stamm intelligenter, körperlich
kräftiger, gut geschulter und zuverlässiger Arbeiter; damit ist die Notwendigkeit ge¬
geben, ihnen gute Arbeitsbedingungen zu gewähren. Es giebt aber, und das gehört
zu den Eigentümlichkeiten des modernen Wirtschaftslebens, eine Menge Industrien,
die mit körperlich schwachen, mit kranken, mit wenig intelligenten, mit stets
wechselnden Arbeitern, ja mit Frauen und Kindern betrieben werden können
— haben wir es doch schon zu einem sechsjährigen Unfallrentner gebracht! —,
und es giebt tausende von Unternehmern, die bei der heutigen Konkurrenz nicht
bestehe» könnten, wenn sie ihren Arbeitern mehr als das zur kümmerlichen Fristung
des Lebens unbedingt notwendige gewähren wollten, es giebt ferner gesuudheits-
schcidliche, lebensgefährliche und höchst widerwärtige Arbeiten, und es giebt Arbeiter,
die nicht einmal solche Arbeit bekommen. Es ist also unmöglich, daß es lauter
Stumms gebe, und eben darin besteht die soziale Frage. Jedermann würde den
Freiherrn preisen, niemand ihn angreifen, wenn er, anstatt ganz unberechtigterweise
die Lage seiner Arbeiter als typisch hinzustellen und daraus politische Folge¬
rungen zu ziehen, sich auf die wohlthätige Wirksamkeit in seinem „Königreich" be¬
schränkte.
Wie der Baissier auch bei fortwährend billigen
Preisen Geld verdienen, noch dazu viel Geld verdienen könne, wurde neulich in
diesen Blättern gefragt. Die Fragstelluug ist nicht ganz deutlich; sind fortwährend
fallende Preise oder andauernd gleich billige Preise gemeint? Wohl das zweite,
denn die Spekulation bei stetig fallenden Preisen ist so einleuchtend wie möglich.
Die dümmsten Kerle verfallen immer zuerst darauf. Sobald sich die Neigung zu.
fallenden Preisen deutlich zeigt, entschließt sich der Baissier „mit dem Markt zu
gehen," nach folgendem einfachen Schema. Wir nenneu den Stapelartikel den
Preis im Jnnnar p, den Preisabfall vom Januar bis zum Febuar u, den vom
Februar bis zum März u^, den vom März bis zum April usw. Der Baissier
verkauft nnn im Januar in Zentner ^ für Februarlieferung zu x Mark, im Februar
kauft er diese in Zentner zu x — u Mark, während er gleichzeitig in Zentner für
Märzliefernng zum gleichen Preise von x — u Mark verkauft. Fährt er so fort,
daun hat er Ende des Jahres in x (u u^ u^ -f- u^ u"' -j- n" u? -j- u^
u°->-u^) Mark verdient. Der Baissier verdient aber auch Geld, wenn der
Preis ein ganzes Jahr hindurch genau derselbe bleibt, der sogenannte Lokopreis
nämlich. Zwischen den Preisen für „Lolo" und für „Termin," namentlich für
sehr entfernte Termine, ist stets ein Unterschied, und da liegt die Lösung. Loko¬
preis ist der Tagespreis für wirkliche, greifbare, am Orte befindliche Ware, die
der Käufer das Recht und die Pflicht hat binnen angemessener Frist, sagen wir
binnen 8 bis 14 Tagen, abzufordern. Terminpreis dagegen ist der Tagespreis
für die in einem spätern Monat oder in einer Reihe späterer Monate jeden
Monat die gleiche Menge zu liefernde Ware. Den Zeitpunkt zur Lieferung inner¬
halb des fraglichen Monats wählt der Verkäufer, er „dient an," „kündigt." Ist
nun im Januar für ^ der Lokopreis x Mark, so ist der Preis für Termine, z. B.
für August-Dezember an demselben Tage stets höher. Selbstverständlich: wollte
jemand seiner Meinung, daß ^ vom August bis zum Dezember teurer sein werde,
einen geschttftspolitischen Ausdruck geben, so müßte er sich in Zentner ^ im Januar
kaufen, sie empfangen, lagern und dann zu deu vom August bis zum Dezember
herrschenden Preisen verkaufen. Das würde Empfangsspesen, Lagerkosten, Substanz-
Verlust, Zinsen, Feuerversicherung usw. kosten. Der Baissier verkauft nun den
Termin August-Dezember etwas billiger, als er sich durch wirkliche Lagerung Her¬
stellen läßt. Er kann ja schwimmende oder auf spätere Abladung gekaufte Ware
besitzen. Daß er solche habe, ist zum mindesten noch immer die Fiktion beim
Abschluß. Jedenfalls braucht er nie — ganz seltne Ausnahmen kommen nicht in
Betracht — August-Dezember, überhaupt einen entfernten Termin, ohne Aufschlag,
ohne „Report" zu verkaufe». Der Preis ist also für August-Dezember im Januar
x r Mark. Bleibt nun das ganze Jahr der Preis unverändert gleich niedrig,
so hat der Baissier am Eude des Jahres 5 x in x r Mark verdient. Hier ein
Beispiel: Petroleum wurde zur Faßzeit durch Lagerung unter Riedemann monat¬
lich um 12 bis 16 Pfennige für den Zentner teurer. Vom Januar bis zum
Oktober — als dem mittelsten und also Rechnungsmonat des August-Dezember¬
termins — sind neun Monate. Das würde einen Report von 1,36 Mark be¬
deuten. Im Terminhandel wird, nehmen wir an, eine Mark bezahlt, und der
Lokopreis im Januar ist 8 Mark. Unser Freund verkauft nun 5000 Barrels August-
Dezember zu 9 Mark, hat also monatlich 14 000 Zentner zu 9 Mark zu liefern.
Der Preis bleibt nun unverändert, er kann also jeden Monat — dreißig Tage
lang hat er Zeit — die 6000 Barrels zu 3 Mark kaufen oder abrechnen und
hat am Ende des Jahres 5 x 14 000 ^ 70 000 Mark verdient. Um ebenso viel
zu verdienen braucht sein Geschäftsgegner, der Haussier, schon eine Preissteige¬
rung, um zwei d. h. auf mindestens zehn Mark, deshalb ist die Baissespekulation
heutzutage beliebter, und gerade andauernde Zeiten mit niedrigen Preisen sind für
den Baissier deshalb die lohnendsten, weil dann immer genügend viel Leute vor¬
handen sind, die an Besserung glauben und daher geneigt sind, vollen Aufschlag,
hohen Report zu bezahlen, den die Baissepartei ungeschmälert in die Tasche steckt,
wenn es ihr durch Massenangebot auch nur gelingt, den Preis unverändert zu
erhalten.
Die Baisse ist die Tochter unsrer hochentwickelten, blitzschnell arbeitenden Ver¬
kehrseinrichtungen; die Baissiers in die Lage zu bringen, daß sie sich keine Ware
verschaffen, daß sie nicht liefern können, ist heute uur sehr selten möglich. Hie und
da gelingt es einmal, das nennt man dann einen „Comer," eine „Schwänze,"
aber es ist schwer. In den Zeiten schwierigen, unsichern oder gefährdeten Verkehrs
war es die Hauffe, der Gewinn durch Auflauf, das Vorenthalten notwendig ge¬
brauchter Güter, was erstrebt und am leichtesten erreicht wurde. Von beiden Ver¬
fahren ist keins wesentlich edler als das andre.
Endlich einmal ein erfreulicheres Bild an der Spree! Als uns
König Umberto seinen Besuch machte, war Berlin in gehobner, fast südlicher
Stimmung. Die Feststraße vom Anhaltischen Bahnhof über den Potsdamer Platz
durch das Brandenburger Thor zum Schloß sah in Wahrheit festlich aus. Zwei
Bildhauer hätten in kühnen Improvisationen versucht, der Stimmung Gestalt zu
geben. Von dem einen Versuch (Germania auf eine Cmnpagnolin niederblickend)
schweigt man besser; der andre, eine Beroliua dem einziehenden Könige Blumen
streuend, war ein überaus glücklicher Wurf. Jetzt steht die hohe Frau in Bronze,
von einem mächtigen Porphyrsockel getragen, am östlichen Eingänge der Altstadt,
auf dem Alexanderplatz. Ob sie wohl noch an die Italiener denkt? Vielleicht hat
sie, wie Frauen sind, sich gerade dorthin gestellt, weil sie weiß, daß jetzt die Blicke
der mit der Hochbahn vom Schlesischen Bahnhof kommenden sie von ihrer schönsten
Seite erHaschen können. Die Blumen, die sie früher in der Linken hielt, hat sie
inzwischen weggeworfen, sehr zum Vorteil ihrer schönen Hand; die Lebhaftigkeit
der Geberde ist geblieben.
Bläsers Statue der Gastlichkeit (in der Berliner Nationalgalerie) spricht mit
der gesenkten Linken bescheidner ihr Willkommen; dafür ist sie aber auch die Gast¬
lichkeit des Hauses, nicht der Reichshauptstadt. Berolina, eine hohe Mauerkrone
auf dem eichenlaubumkränzten Haupt, um die Schultern einen Mantel aus schwerer
Brokatseide, der mit dem rechten Zipfel in kühn brechenden Falten durch den
Gürtel gezogen ist, einen Schuppenpanzer um den reichlich matronenhaften Leib,
die Rechte in sehr geschmeidiger Rückwärtsbewegung über den mächtigen Schild
mit dem Berliner Bären gebogen, den klugen Blick ihres scharfnasigen Antlitzes
weit hiuaussendend, scheint sie auch heute einem vornehmen Gast mit großem Ge¬
folge ihren feierlichen Gruß zu entbieten. Aber was an alledem so neu ist, so
ungewohnt in Berlin: es ist nichts dreistes in ihrem Wesen, wie z.B. in der
unedeln Attitüde der Borussia im Zeughause, und was noch seltner ist heute: sie ist
nicht theatralisch. Ein kleines Zugeständnis an den Barockgeschmack liegt wohl in
dem über ihrem linken Bein geschlitzten Untergewand. Aber Berolina ist nun
einmal keine Athene, und das durch den Schlitz entblößte Bein hat nichts heraus¬
forderndes, nichts von dem Bühuenschritt Begassischer Viktorien; leise rückwärts
spielend bildet es ein angenehmes Gegengewicht zu dem lebhaften Gestus des linken
Arms. Kurz: einen Menschen hat uns Hundrieser in diesem Denkmal hingestellt,
keinen verzerrten Manekino.
Vielleicht ziehen wir eine Lehre aus dieser Berolina: sie ist ein echtes Ge¬
legenheitsgedicht, unter dem Sonnenstrahl einer wahrhaftigen innern Erfahrung ans
Licht getreten und gediehen, ist, nicht befohlen und nicht in einer Kommission zu
Schanden redigirt worden. Darum lebt sie und hat Musik in ihr selber.
In Goethes Vaterstadt ist vor
kurzem ein Adreßbüchlein christlicher Firmen erschienen, und zwar nicht von diesen
Firmen selbst, auch mahl in deren Auftrag, sondern von dem Frankfurter „Deutschen
Verein" auf eigne Faust herausgegeben. Obwohl es nun diese christlich-germanischen
Firmen nicht hätte zu stören brauchen, wenn sie der „Deutsche Verein" lieb hatte,
brach dennoch ein großer Entrüstungssturm in einer Unzahl von Erklärungen aus,
deren Verfasser meist kund und zu wissen thaten, daß ihr Name ohne „ihr Wissen
und Willen" (oder in der ersten Person gesprochen: „ohne mein Wissen und Willen")
in das Adreßbüchlein geraten sei. Diese Sprachseuche grassirte eine ganze Woche
lang, ohne bemerkt zu werden! Sogar in dem redaktionellen Teil der Frankfurter
„Sonne" war dieser Sonnenfleck zu sehen. Von der schönen Sprache abgesehen,
haben sich die Firmen auch insofern vielleicht mehr geschadet als genützt, als die
Antisemiten jedenfalls im abgelaufnen Jahre hier von allen Parteien die größte
und am stärksten besuchte Versammlung gehabt haben, obwohl die Presse thörichter¬
weise davon schwieg. Wenn die jüdische Presse so vernünftig ist, die sozialdemokra¬
tische Bewegung sich ausleben zu lassen, warum läßt sie der antisemitischen nicht
das gleiche Recht? Aber schimpfen wir nicht auf die jüdische Presse! Das jüdischste
Blatt in Frankfurt a. M., der Generalanzeiger, wird hauptsächlich von christlichen
Händen bedient.
Nach der (unter den Naturforschern) herrschenden mechanistischen Weltansicht
sind die Atome und die zwischen ihnen wirkenden Kräfte die letzten wirklichen
Dinge, auf denen die einzelnen Erscheinungen beruhen. Diese Auffassung, die
man sich gewöhnt hat als sichersten Ausdruck der thatsächlichen Verhältnisse an¬
zusehen, ist nach der Überzeugung des Verfassers eine bloße Hypothese. Denn
eine Bestätigung der aus ihr sich ergebenden Folgerung, daß alle nicht mechanischen
Vorgänge, wie die Wärme, die Strahlung, die Elektrizität usw., thatsächlich eben¬
falls mechanisch seien, ist noch in keinem einzigen Falle gebracht worden. Die
sogenannten mechanischen Theorien sind also in Wirklichkeit nur Bilder oder Ana¬
logien, und das einzige, was man von ihnen mit Sicherheit sagen kann, ist, daß
sie über kurz oder lang in nichts zerfließen werden. Können wir schon die be¬
kannten Physikalischen Erscheinungen nicht mechanisch deuten, so gelingt das noch
weniger bei den viel verwickelteren Erscheinungen des organischen Lebens. Wir
müssen erst aufhören, uns die physische Welt durch die Annahme einer Mechanik der
Atome anschaulich zu machen. Wir sollen uns überhaupt kein Gleichnis machen,
sondern die Welt so unmittelbar sehen, wie es uns unser Geist erlaubt. Wie ge¬
schieht das aber? Hier setzt des Verfassers These ein. Als Mayer die Äqui¬
valenz der verschiednen Energieformen — das Gesetz von der Erhaltung der
Kraft — entdeckte, war er auf dem richtigen Wege. Als aber seine Nachfolger,
Helmholtz, Clausius, Thomson, alle diese verschiednen Energien als, mechanisch
deuteten, entwerteten sie die richtige Einsicht durch eine willkürliche Hypothese, die
aus der herrschenden mechanistischen Naturauffassung entstanden war. Denn wir
erfahren von der physischen Welt nur, was uns unsre Sinne vermitteln. Die Materie,
von der diese Wirkung ausgehen soll, der Träger, den die Energie haben „muß,"
das vermeintlich letzte Wirkliche, ist umgekehrt bloß ein Gedankending, das wir
Menschen uns gemacht haben. Das einzige, was als wirklich bleibt, ist vielmehr
jene Wirkung auf unsre Sinne, die „Energie." Mit diesem Begriff können wir
alles, was man bisher durch die Vorstellungen des Stoffs und der Kraft dar¬
stellte, und noch viel mehr als das darstellen. Die energetische Naturauffassung ist
frei von Hypothesen. Ob sie aber ausreichen wird, alle Erscheinungen der Natur
zu verstehen? Der Verfasser antwortet schon jetzt auf diese Frage mit Nein. Aber
sie wird dennoch bestehen bleiben, zwar nicht als umfassendstes Prinzip, Wohl aber
als besondrer Fall noch allgemeinerer Verhältnisse, deren Form wir einstweilen noch
kaum ahnen.
Weil, wie der Verfasser sagt, nach einem stets wiederkehrenden Gesetz im
Denken der Allgemeinheit eine neue Erkenntnis nie so rein und ungetrübt auf¬
genommen wird, wie sie dargeboten wird, so haben wir die seine möglichst wort¬
getreu unsern Lesern vorgeführt. Aber was wir geben, soll nur gleichsam als
Etikette gelten für den Inhalt des bedeutenden und formvollendeten Vortrags, dem
gegenüber jedes weitere empfehlende Wort überflüssig wäre.
Wenn irgend ein Band dieser neuen Auflage des großen Unternehmens, von
dem nun sechs Bände erschienen sind, so verdient dieser zweite die Bezeichnung
eines neuen Werkes. Von der zweiten Auflage ist hier kaum eine Zeile Text mehr
übrig, von den alten Bildern kein einziges. Die beiden Verfasser haben die Auf¬
gabe unter sich in der Weise geteilt, daß Rösiger das siebente Buch, die hellenische
Kultur (S. 53 bis 274), Schmidt das sechste Buch, also die Zeit Alexanders des
Großen und der Gründung der hellenistischen Reiche, und das achte Buch, die Ge¬
schichte Roms von den ersten Anfangen bis 375 u. Chr., bearbeitet hat. Beide
Leistungen sind gleich tüchtig. Es mag unorganisch sein, daß erst am Schluß der
gesamten griechischen Geschichte ein zusammenhängender Überblick über die griechische
Kulturentwicklung gegeben wird, statt sie bei den einzelnen Zeiträumen der Politischen
Geschichte zu behandeln, wohin sie gehört; aber da die Anordnung nun einmal so
getroffen war, so hat sich Rösiger vortrefflich mit seiner schwierigen Aufgabe ab¬
gefunden und, indem er den ganzen Stoff in zwei (oder eigentlich drei) große Zeit¬
räume (bis zu den Perserkriegen, bis auf Alexander den Großen und den Hel¬
lenismus) gliedert, also sich der natürlichen Periodisirung der politischen Geschichte
anschließt, innerhalb jedes Zeitraums aber die einzelnen Zweige der Kultur zu¬
sammenhängend behandelt, im engen Rahmen ein so sicher und scharf gezeichnetes,
so lebendig empfundnes und daher so allgemein verständliches Gesamtbild der grie¬
chischen Kulturgeschichte geliefert, wie es uns in dieser Weise noch nirgends begegnet
ist. Unterstützt wird diese Wirkung noch ganz besonders durch die zahlreichen, sorg¬
fältig ausgewählten und meist ganz vorzüglich ausgeführten Illustrationen. Hinter
Rosiger steht Schmidt nicht zurück, dessen Anteil an dem Bande der ungleich größere,
gegen 600 Seiten, ist. Mit selbständigem Urteil betont er gleich beim Beginne
des sechsten Buches, daß die griechische Geschichte uicht mit der Schlacht vou Chä-
roueia (338) ende, sondern in der Begründung der makedonischer Hegemonie ihre
notwendige Erfüllung finde, nachdem die Souveränität der griechischen Kleinstaaten
unhaltbar geworden sei; er vertritt also hier den Standpunkt I. G. Droysens
gegenüber der mehr philologischen als historischen Ansicht von G. Grote und
E. Curtius. Trotzdem ist er von einer Vergötterung Alexanders des Großen weit
entfernt; er unterscheidet vielmehr scharf zwischen seiner ersten hellenischen und seiner
orientalisirenden zweiten Periode und verschweigt nicht, daß seine Selbstvergötterung
die Sittlichkeit der antiken Welt tief und dauernd geschädigt habe. Etwas kurz ist
die Periode der sogenannten Diadochen behandelt, doch wird die Geschichte dieser
hellenistischen Reiche bei der römischen Geschichte dn, wo es zum Verständnis not¬
wenig ist, wieder aufgenommen. In der römischen Geschichte mit ihren zahlreichen
Kontroversen der Kritik und der Auffassung zeigt der Verfasser gründliches Wissen
und besonnenes, selbständiges Urteil; überall betont er die Bedeutung der sitt¬
lichen Macht, also der Persönlichkeit, und löst nirgends die Geschichte in einen
Brei von „Zuständlichem" auf, ohne dabei irgendwie die Bedeutung des Zuständ¬
lichen, d. h. der allgemeinen Verhältnisse, zu verkeimen. Im Gegenteil werden
diese sehr sorgfältig berücksichtigt, soweit sie für das Leben des Staates und des
Volkes wichtig sind. Bezeichnend für die Art des Verfassers ist es dabei, daß
er lieber die Persönlichkeit des M. Porcius Cato als Typus alten Römertums in
der Übergangszeit ausführlich schildert, als sich in allgemeinen Wendungen zu er¬
gehen. Die älteste Geschichte des römischen Staates ist in der von der modernen
Kritik geforderten Weise behandelt, aber mit Recht hat der Verfasser die alten,
sagenhaften Geschichten hinzugefügt, da sie nun einmal von den Römern in ihrer
Blütezeit als historisch geglaubt wurden und auch jetzt noch als ein Bestandteil
der allgemeinen historischen Bildung gelten. Die Verfassungsgeschichte und die Um¬
wandlung der wirtschaftlichen und der sozialen Grundlagen treten ebenso verständlich
hervor wie die Entstehung erst des italischen Bundesstaats, dann des Weltreichs.
Ein durchaus selbständiges, besonnenes und billiges Urteil wahrt sich der Versasser
vor allem in der Betrachtung der untergehenden Republik, namentlich der Per¬
sönlichkeiten Cäsars und Cieeros. Sehr diskret und taktvoll behandelt er dann
den Ursprung und die früheste Entwicklung des Christentums. Dabei ist seine
Darstellung durchaus gewandt und anschaulich, wo es nötig ist, auch schwungvoll
und eindringlich. Die Illustration leistet auch hier alles irgendwie Erforderliche.
So reich das Material hier zugeflossen sein mag, so schwierig mag es gewesen
sein, hier kritisch zu sondern, eine Arbeit, die gewöhnlich sehr unterschätzt wird und
doch manche gelehrte Kleinkrämerei aufwiegt. Die Ausführung ist auch hier vor¬
züglich, namentlich bei den ganz plastisch hervortretenden Münzen, den Portrttt-
köpfen (vgl. z. B. Ur. 248: ein altrömisches Ehepaar, aus dem Vatikan) und den
Landschaften, deren Beigabe besonders dankenswert ist. Als ein vorzügliches Unter¬
richtsmittel sei dieser Band vor allem den höhern Schulen empfohlen.
Einem Herder oder Pestalozzi würde eine Pädagogik sehr spanisch vorgekommen
sein, die über die Abspannung unter dem Buchstaben A und über die Müdigkeit
unter dem Buchstaben M Auskunft giebt, wo die Dankbarkeit zwischen der Dampf¬
heizung und dem darstellenden Unterricht steckt, und die Fehler der Jugend zwischen
dem Fechtverein und der Feigheit zu finden sind. Doch unsre -Zeit fordert einmal
von den Genossen aller Berufe encyklopädisches Wissen, das sie auf dem Bücher¬
brett stehen haben müssen, wenn sie es nicht im Kopfe haben, und so ist den
Männern der Schule das Lexikon von Rein zu gönnen. Befriedigen wird es sie
zunächst durch seine Vollständigkeit, denn von der Abulie und Befangenheit bis
zum Zweifel, vom Abiturientenexamen bis zur Ullivvrsit/ Lxtonsion, vom Bett¬
pissen und der Blumenzucht bis zur Schulstubendielung werden sie nichts von dem
vermissen, was auf Kinder- und Jugenderziehung Bezug hat. Und auch die Güte
der Artikel läßt wenig zu wünschen übrig, wird doch, wie sich von selbst versteht,
jeder Gegenstand von einem Fachmann bearbeitet. Die meisten der zahlreichen
Mitarbeiter sind Lehrer und Seminardirektoren, dazu kommen Universitätsprofessoren,
Geistliche, Ärzte usw. Manche von den Artikeln, wie „Aufklärung" und „Bildung"
(von Paulsen), „Begabung" von Andrea, „Darstellender Unterricht" von A. Foltz
dürfen selbständige Bedeutung für sich in Anspruch nehmen. Bei einer zweiten
Auflage wird manches zu ergänzen und zu berichtigen sein. So z. B. enthält der
Artikel „Berechtigungen" zwar die gesetzlichen Bestimmungen ziemlich vollständig,
aber kein Wort über die Berechtigung des Berechtigungswesens; Paulsen thut in
seinem den Grenzbotenlesern nicht unbekannten Artikel „Bildung" einige kräftige
Schnitte in diesen dicken Zopf. Und um noch eins anzuführen: der Artikel „Be¬
soldung" wird einer sehr sorgfältigen Revision bedürfen. Daß es um die Be¬
soldung der Bolksschullehrer in Preußen jämmerlich bestellt ist, läßt sich ja leider
nicht leugnen, aber daß es im Jahre 1391 noch 127 Lehrer gegeben haben soll,
die unter 450 Mark (nebst Wohnung und Feuerung) bezogen, das glauben wir
denn doch nicht. Entweder, so vermuten wir, haben diese Leute Schulacker, dessen
Ertrag weit unter seinem Werte angeschlagen ist (der Schulacker wird überhaupt
nicht erwähnt), oder es sind Hilfslehrer, deren Beköstigung dem Hauptlehrer ob¬
liegt. — Die Ausstattung des Werkes ist gut, der Druck groß und schön. Es soll
in sechzig Lieferungen erscheinen. Für die Abonnenten auf die Lieferungsausgabe
kostet die Lieferung eine Mark; dieses Abonnement ist jedoch mit dem Erscheinen
der sechsten Lieferung geschlossen worden; von da ab wird das Werk in Halb¬
bänden (je sechs Lieferungen) verkauft, deren jeder 7 Mark 50 Pfennige kostet.
Eine zweibändige Ausgabe von Platens Werken darf nur auf einen kleinen
Leserkreis rechnen, und auch der wird sich immer noch mehr verengern. Von Platens
Lyrik sind die wenigen Balladen, die allgemeiner bekannt zu sein verdienen, in
einer Menge von Sammlungen zugänglich; seine Sonette, seine Oden, seine Fest¬
gesänge sind den Deutschen bis jetzt nichts gewesen und werden ihnen mich schwer¬
lich je etwas sein, noch weniger seine höchst persönlichen Epigramme, die nur ganz
weniges von allgemeinem Wert enthalten und in der Hauptsache nur für Kenner
der italienischen Kultur von Interesse sind. Seine unerquicklichen parodirenden
Dramen sind lediglich für den Litteratnrgeschichtsforscher merkwürdig, und die orien¬
talischen Erzählungen, die er in den Abbassiden zusammengefaßt hat, lesen wir
wenigstens lieber in fchlichterm Gewände als in Platens schwerer, anspruchsvollen
Sprache.
Die vorliegende Ausgabe versucht trotzdem, Platen dem deutscheu Publikum
zugänglich zu machen, dem Publikum, das er so oft gehöhnt und geschmäht und
zeitlebens im innersten verachtet hat, dem er sich fremd fühlte und fühlen wollte.
Sie sucht ihre Leser auf einer Bildungsstufe, für die Namen wie Lykurg („der
berühmte Gesetzgeber Spartas, um 850 v. Chr.") und Aurora, Begriffe wie
Rhapsode und Kothurn konversationslexikouartig in Anmerkungen erklärt werden
müssen, die aber auch nichts von Calvin weiß, und der zu Platens Worten von
dem „begeisterten sächsischen Mönch," den er einmal zwischen Meistergesang und
dem dreißigjährigen Kriege erwähnt, die Anmerkung not thut „Luther (1483 bis
1546)." Selbstverständlich kehren derartige Erklärungen, namentlich für die Antike,
immer wieder, da Platen in der alten Welt lebte und webte und sich ihrer typischen
Gestalten auf jeder Seite seiner Dichtungen bedient. Ebenso wiederholen sich die
Erläuterungen aus dem Gebiete der italienischen Renaissancekultur; schade, daß die
Zweizahl der Herausgeber hier dazu geführt hat, daß uns z. B. in den Anmer¬
kungen zu Pordenone VI, S. 139 und S. 238 des ersten Bandes nicht nur ver-
schiedne, sondern teilweise einander widersprechende Angaben mitgeteilt werden,
ähnlich wie als Vasaris Geburtsjahr I, 262 1511, dagegen II, 493 1512 bezeichnet
wird. Welchem der Herausgeber soll man da glauben?
„Wer den Dichter will versteh», muß in Dichters Lande gehn" ist ein altes,
aber nie veraltendes Wort: Kenntnis der italienischen Renaissance und des grie¬
chische» und römischen Altertums, die für Leser Platens die Voraussetzung bildet,
bildet sie natürlich erst recht für seine Herausgeber. Ungenau übersetzt ist das
Lxoi'i-u'ö ÄliWis, das Platen über sein erstes Polenlied geschrieben hat, mit den
Worten „Aus unsern Gebeinen soll ein Rächer entstehen," falsch das ZZamu8
pinnis oxvLriM oiviw8, die Überschrift eines andern Polenliedes, mit den Worten
„Laßt uns, die ganze voller Flüche beladene Gemeinschaft, auswandern"; überdies
hätte doch dieser Vers so gut wie jeuer virgilische einen Hinweis auf seine Herkunft
verdient: wer die horazische Epode nicht kennt, der er entstammt, versteht das
ganze Platensche Lied nicht. Die Anmerkung zu dem Epigramm „An denselben"
(d. h. einen anonymen Verfolger)
Birqst du den Namen? Es ist doch immer ein klassischer Name:
Dich schon redet Horaz „stinkender Mävius" an
enthält eine recht zweifelhafte Bereicherung unsrer Kenntnis römischer Dichternamen
in den Worten „Mävius, ein schlechter römischer Dichter des ersten Jahrhunderts
v. Chr." Horaz verwünscht nur den hämischen Kritiker, so gut wie sich Platen
nur über diesen hermacht; davon daß dieser Mävius je einen Vers gemacht hätte,
ist nichts bekannt.
Das Äußere der Ausgabe ist wie bei allen Meyerschen Klassikerbänden sauber
und hübsch, auch Bild und Handschrift Platens fehlen nicht, doch haben sich mehrere
verletzende Druckfehler eingeschlichen, z. B. I, S. 256 „Begattung" für „Bestattung"
und S. 217 ein eeeinit in dem bekannten, in der ersten Person geschriebnen Grab¬
distichon Virgils. sollen wir auch das „9 v. ^ Chr." in einer Anmerkung über
die Varusschlacht II, 176 dazu rechnen?
Dieses Buch kündigt sich als Vorarbeit zu einem großem Werke über Ibsen
an. Im Vorwort spricht der Verfasser die Ansicht aus, daß die wissenschaftlichen
Litterarhistoriker es nicht den Tagesschriftstellern überlassen sollten, über Erschei¬
nungen der neuern Litteratur das Urteil festzustellen. Darin hat er gewiß Recht,
vollends wenn es sich um einen Dichter wie Ibsen handelt, dessen Verehrer in
unserm Volke nun einmal nach taufenden zählen. Eine andre Frage ist, ob der
Gegenstand eine so ausführliche Behandlung verträgt, wie sie der Verfasser mit
den zwei Bänden, die er verspricht, in Aussicht stellt. Nach der Probe, die in
der vorliegenden Schrift gegeben ist, möchte man das bezweifeln. Ibsens Jugend-
Werke mit ihrer Fülle von krausen nordischen Namen unter uns doch recht fremd¬
artig an, und der Zergliederung, die der Verfasser giebt, zu folgen, ist keine leichte
Beschäftigung. Sie stehen aber auch dem spätern Ibsen, der sich einen Teil der
Welt erobert hat, fast ebenso fern wie uns, und im allgemeinen lebt unsre Zeit
zu schnell, um sich durch das bloß historische Interesse noch lange fesseln zu lassen.
Aber es ist ja möglich, daß sie dem „Jbsenismus" gegenüber eine Ausnahme macht.
Das Buch ist sorgfältig gearbeitet und recht gut geschrieben.
Getreidespekulation, jüngstdeutsche Dichtung, Verein zur Rettung Schiffbrüchiger,
Momentphotographie: lauter Dinge, die modern, teilweise sogar „aktuell" sind. Ein
Buch, das sich mit derlei Gegenständen befaßt, wird — so sollte mau denken —
zu den modernen Erscheinungen gerechnet werden dürfen. Und doch ist es glück¬
licherweise unmodern, altväterisch im besten Sinne des Worts. Kein greisenhaft
anwidernder Roman um Ah siöelo, der die Jugend verdirbt, sondern eine Erzählung,
die von Frische, Mut, Kraft und Vaterlandsliebe übersprudelt. Sie wird jeden
gefangen nehmen, der sich ein junges Herz bewahrt hat. Sonnige Poesie ruht
über der Gegend, wo sich die Ereignisse abspielen! der rauschenden Ostsee, der
einsamen Nehrung mit ihren Dünen und dem so unheimlich wirkenden Sande.
Mit heiterm, harmlosen Humor werden die Personen gezeichnet; prächtig gelungen
sind die Charakteristiken des königlichen Fischmeisters Sciltawisch und der episodischen
Figur des „alle Verantwortung ablehnenden" Kommerzienrath ans Memel. Aus
dem Ganzen spricht ein echt deutsches, festes, kerniges Gottvertrauen, nicht auf¬
dringlich, aber eindringlich, rührend und warm.
M^H-^F
WZNMV?'iinfundzwanzig Jahre sind verflossen seit jenem unvergeßlichen
Tage, wo König Wilhelm von Preußen in dem prunkvollen Schlosse
des Sonnenkönigs, umgeben von den Vertretern der deutschen
Fürstengeschlechter und inmitten der Fahnen seines siegreichen
Heeres, zum deutschen Kaiser ausgerufen wurde. Wer damals
den Gang der deutschen Geschichte überblickte, dem konnte das als eine ganz
selbstverständliche, gewissermaßen unvermeidliche Folge der Ereignisse, als die
reife Frucht einer langen Entwicklungsreihe erscheinen, ungefähr wie es unsern
Vätern Z849 als eine solche erschienen wäre, wenn Friedrich Wilhelm IV. von
Preußen als erwählter „Kaiser der Deutschen" seinen Einzug in der alten
Krönungsstadt Frankfurt gehalten hätte. Und doch lehrt gerade der Vergleich
zwischen dem Schicksal dieser beiden Brüder mit erschütternder Klarheit, daß
sich auch die scheinbar selbstverständlichsten Dinge nicht von selber vollziehen,
daß sie das Ergebnis persönlicher Willensakte sind, denn nicht Ideen und
dunkle Triebe, sondern Männer machen die Geschichte. Während jener Sturm¬
jahre 1848/49 gab es mehrere Zeitpunkte, wo es nur des rechten Mannes an
der rechten Stelle bedurft hätte, um das klar erkannte Ziel der Besten unsrer
Nation zu erreichen. Aber der einzige Mann, dessen Wille der Bewegung die
rechten Bahnen anweisen konnte, Friedrich Wilhelm IV.. versagte sich ihr, weil
sich sein ganzes Wesen dagegen aufbäumte, und nur deshalb scheiterte sie.
Wer hätte dagegen gemeint, daß aus der Verbitterung des preußischen „Konflikts."
aus dem verblendeten Preußenhaß im deutschen Süden, allen liberalen Theorien
und Erwartungen und einer scheinbar übermächtigen Strömung zum Trotz,
der stolze Staatsbäu hervorgehen würde, der sich vier Jahre später zum deut¬
schen Reiche erweiterte! Aber Männer, ganze Männer waren an der Arbeit
und standen an der richtigen Stelle. Ein greiser König von schlichtem, klarem Ver-
stand und ehernem Willen faßte das Ziel ins Auge, seinen Staat aus seiner ge¬
drückten Lage emporzureißen und, gleichviel in welcher Form, an die Spitze
der Nation zu stellen; ein genialer Staatsmann leitete mit sicherer Entschlossen¬
heit und mit alles umfassenden Blick seine Politik; ein großer Organisator
schuf ihr die schneidige Waffe, das Heer; ein Strateg ohne gleichen zeichnete
diesem die Bahnen des Sieges vor. Und als die Zeit der Erfüllung kam,
das große Jahr 1870, welch eine dichte Schar von Heldengestalten, vom Fürsten¬
söhne bis zum schlichten Bauer im Waffenrock, drängte sich um König Wil¬
helm und seine Paladine! Fürwahr, Männer haben die deutsche Geschichte der
neuesten Zeit gemacht, und da, wo die rechten Männer fehlten, da war sie
trotz alles Sehnens und aller Begeisterung schlecht gemacht worden. Und so
ist es immer gewesen und wird es immer sein, nur daß man diese Männer
bald deutlicher, bald undeutlicher erkennen kann. Nicht die namenlose Masse
nordgermanischer Stämme hat die Römerherrschaft in Deutschland vernichtet,
sondern Armin, nicht die Verstimmung und Erbitterung vieler Tausende hat
die päpstliche Herrschaft über die Gemüter der Deutschen zerbrochen, sondern
Luther. Vor dem Großen Kurfürsten war Brandenburg ein machtloser Mittel¬
staat zweiten Ranges, durch ihn wurde es die stärkste deutsche Macht nächst
Österreich, durch Friedrich den Großen eine Großmacht. Mit vollem Rechte
hat sich daher die unvergleichliche Reihe der Erinnerungstage dieses Jahres in
eine Reihe von Dankfesten verwandelt, voll dankbarer Erinnerung an die
Fürsten und Helden, die nicht mehr unter den Lebenden weilen, voll jubelnder
Begeisterung für die Mitstreiter im Rat und auf dem Schlachtfelde, die wir
noch unter uns haben. Und allen voran ist unser Kaiser gegangen im Aus¬
druck dieses Dankes.
Aber Männer danken nicht allein mit Worten, Männer danken mit Thaten
für Thaten der Männer. Es frommt nicht, immer nur zu preisen, was geschehen
ist, und das ungeheure Kapital schwer erworbnen Ruhms immer wieder zu be¬
wundern. Wuchern sollen wir mit diesem Kapital. Das Zeitalter Wilhelms I. hat
dies zerrissene Deutschland zur europäischen Zentralmacht erhoben, die waffen¬
gewaltig den Frieden ein Vierteljahrhundert geschirmt hat, was nach dem Kriege
niemand auch nur zu denken wagte; dem Zeitalter Wilhelms II. ist die Aufgabe
zugefallen, dieses geeinte Deutschland emporzuheben zur Weltmacht. Nicht in
dem Sinne, daß es die Welt beherrschen sollte, wie es dereinst Rom gethan
und die kühnsten unsrer mittelalterlichen Kaiser wenigstens erstrebt haben; das
auch nur zu denken, wäre Wahnsinn. Wohl aber in dem Sinne, daß wir
unsern Anteil fordern an der Herrschaft Europas und seiner Kultur über den
Erdball. Denn noch besteht diese Herrschaft, und sie wird weiter bestehen,
weil in diesem Europa eine ungeheure Kraft aufgespeichert liegt, wie nirgends
sonst. Aber während die Größe der europäischen Kultur gerade in der Mannich-
faltigkeit selbständiger Völker beruht, ist bisher diese Mannichfaltigkeit draußen
überm Weltmeere viel zu wenig zum Ausdruck gekommen. Während Deutsch¬
land zerrissen, machtlos, verblendet war, hat das englische Polypenreich die
Welt mit seinen Armen umschlungen, überall saugt es die besten Lebenskräfte
an sich und sucht uns den Weg zu sperren. Mit dieser Politik ist es unser
schlimmster Feind, denn es versagt uns den Raum, den wir brauchen, wenn
die reichen Kräfte unsers Volkes nicht stocken und verkümmern sollen, d. h. es
will uns um unsre Zukunft bringen. Deutschland muß also zur Weltmacht
werden, um weiter leben zu können, und das wird es, wenn es ernstlich will.
Und es will. Oder vielmehr: der Mann, den Gott an die rechte Stelle
gesetzt hat, der will es. Mit seinem Telegramm an den Präsidenten Krüger
vom Transvaal, das die Lage blitzartig beleuchtete, hat unser Kaiser, so hoffen
wir, ein neues Zeitalter eröffnet, ein Zeitalter deutscher Weltpolitik. Ein
Sturm der Zustimmung und des Jubels ging in diesen Tagen durch Deutsch¬
land, ohne Unterschied der Partei. Und tiefer als jemals haben wir es em¬
pfunden, was das Reich für uns bedeutet. Wir sind jetzt einig und mächtig,
und wir sehen klar, was uns notthut. „Glück winken die Planeten uns her¬
unter!" Es ist der Staatskunst unsers Kaisers, deren weit vorausschauende
Weisheit wir erst jetzt würdigen, gelungen, dnrch geduldiges, hochherziges
und doch festes Auftreten ein erträgliches Verhältnis zu Frankreich, ein, wie
es scheint, recht gutes zu Nußland herzustellen und so der Überwindung des
verhängnisvollen toten Punktes, unsers scheinbar unversöhnlichen Gegensatzes
zu Frankreich, näher zu kommen. Er hat dann rasch entschlossen mit beiden
Nachbarmächten zusammen bestimmend in Ostasien eingegriffen. Eine Verbin¬
dung der festländischen Großmächte ist im Werden, die der Weltpolitik neue
Bahnen weisen kann und soll. Wir wissen es wohl: wir sind in dieser Ver¬
bindung nicht die stärkste, sondern noch die schwächste Macht, denn nicht unser
Heer kann hier entscheidend eingreifen, sondern nur unsre Flotte, und die ist
leider noch dazu zu schwach, soviel sie auch dem Kaiser schon verdankt. In
unserm Interesse liegt also eine ruhige, fest und besonnen geleitete Politik, die
niemandem nehmen will, was ihm gehört, aber auch andern nicht überlassen will,
was wir selbst bedürfen. Der Weg ist uns vorgezeichnet, es fragt sich nicht
mehr, ob wir ihn gehen wollen. Und so begrüßen wir heute den 18. Januar
mit dankbarem Rückblick in die Vergangenheit, mit Zuversicht auf die Zukunft
und mit dem festen Entschluß, den Männern von 1870 zu danken durch
Thaten, wie sie unsre Zeit von uns fordert- Gott segne Kaiser und Reich!
s giebt Länder, aus denen Menschen auswandern, und es giebt
Länder, aus denen Kapital auswandert. Aus Deutschland, Eng¬
land, Rußland und Italien wandern Menschen aus; aus Deutsch¬
land, England und Frankreich wandert Kapital aus. Die Men¬
schen aus Rußland verlassen ihr Land, obwohl es groß genug
ist, und der Boden reich genug, noch Millionen mehr zu ernähren; aber es
fehlen die Mittel, die Kultur intensiver zu machen. Darum gehen sie dahin,
wo Arbeitsgelegenheit im Überfluß ist, uach Amerika. Die Engländer und die
Deutschen wandern aus, obwohl zu Hause die Kultur in schnellem Tempo
immer intensiver wird; es geht noch immer nicht schnell genug, das Land ist
trotz alledem zu eng.
Zu eng auch für das Kapital. Mit Hilfe eines Zinsfußes von 1 bis
8 Prozent häufen sich in diesen Ländern hoher Kultur immer größere Ver¬
mögen an. Woher sie kommen, kann uns gleich sein. Thatsache ist, daß sie
entstehen. Kapital aber will Zinsen sehen, will „arbeiten." Arbeitsgelegen¬
heit mehrt sich ja nun auch in diesen Ländern, aber im Verhältnis zu dem
wachsende» Kapital mit jedem Jahre langsamer. Die Kapitalien machen sich
blutige Konkurrenz, sie unterbieten sich im Zinsfuß, veranlassen neue, immer
Nieniger rentable Unternehmungen bis zur Überproduktion, und schließlich müssen
sie doch außer Landes, getrieben von ihrem „Hunger nach Mehrwert," um
irgendwo, wenn auch mit Risiko zu „verdienen." In den Vereinigten
Staaten werden auch riesige Vermögen gesammelt, aber sie brauchen nicht
außer Laudes zu gehen, Arbeitsgelegenheit ist reichlich vorhanden und lohnend.
Aus England wandern Menschen und Kapital aus, aber uicht bloß die
ärmsten, bloß Arbeiter, wie aus Rußland, sondern Leute aus allen Stünden
und von verschiednen Vermögen, also in der Hauptsache nicht Menschen und
Kapital, sondern Menschen mit Kapital. Leute mit einigen tausend Pfund oder
mit diesen und jenen Künsten und Fertigkeiten gehen „hinüber" und legen eine
Farm oder eine Reismtthle oder ein sllixpinA-otlloL oder eine Handwerkerei
an und finden in Australien oder Kanada oder Indien das, was sie zu Hause
vergebens gesucht haben: Verdienst für ihr Geld und ihre Arbeit.
! Die Franzosen haben auch Kapitalüberschuß, aber keinen Menschenüber¬
schuß. Drum ist selbst in ihren eignen Kolonien der Handel meist in deutschen
und englischen Händen, und wenn man irgendwo französische Firmen findet,
wie an der Küste von Mozambique, so sind die Angestellten meist Schweizer,
mit denen sich auch recht gut deutsch reden läßt. Aber auch das französische
Kapital muß hinaus ins feindliche Leben, und weil es ohne Menschen geht,
so geht es in großen Massen an große Unternehmungen, z. B. nach Panama,
wagt viel und verliert viel.
Wie steht es nun bei uns? Auch wir haben Kapitalüberschuß. Geld ist
da, und Arbeitslose sind da, aber die Geschäfte wollen doch nicht gehen. Divi¬
denden und Zinsfuß sinken; und wenn wir auch noch nicht so weit sind, daß
die Staatspapiere, als die sichersten und gesuchteste» Papiere, nur 1 Prozent
zahlen wie in England, so sehen doch alle kleinen Rentner mit Schrecken:
der Weg führt dahin! Es giebt eine Menge kleiner Rentner bei uns, die un¬
gefähr 2000 Mark Zinsen jährlich haben. Selbst diese und ebenso die größern
begnügen sich nicht für alle ihre Papiere mit einem Zinsfuß von Prozent,
sie wollen mehr haben, sie kaufen also Brauereipapiere und treiben deren Kurs,
oder sie erleichtern den Besitzern des Bodens das Schuldenmachen, oder
— und das wird immer häufiger werden — sie kaufen Griechen, Portugiesen,
Argentinier, Türkenlose, d. h. sie gehen außer Landes, aber wie die Franzosen
zu fremder Arbeit.
Freilich machen es nicht alle Deutschen so. Unser Vaterland hat von
jeher zwei ungleich große „Hälften" gehabt, eine kontinentale, die speist, wohnt
und spricht wie die Franzosen, und die Waterkant, die in allen diesen Dingen
den Engländern ähnelt. So machen es auch schon die Hamburger und die
Bremer wie die Engländer, sie gehen selber hinüber, gründen Handelshäuser,
Filialen, Plantagen und Fabriken mit eignem Geld und eigner Arbeit. Wie¬
viel Kapital mag es wohl sein, was von den Hamburgern und Bremern
außer Landes getragen wird? Viel oder wenig? Das ist von hier aus schwer
zu sagen. Denn es geht in die englischen Kolonien, hilft diesen mit zu Blüte
und Reichtum, verschwindet aber für die Augen des Geographie lernenden
Deutschen. Kapland. Ostindien, Australien sind englische Kolonien, heißt es
da. Die Anschauung lehrt es aber anders; man mag hinkommen, wohin man
will, nach allen Küstenplützen der Erde, überall findet man zwar das mäch¬
tige englische Kapital, aber ebenso findet man überall daneben eine angesehene,
wohlhabende deutsche Kolonie, manchmal klein, manchmal groß, manchmal
ebenso groß wie die englische, überall aber wachsend, ihrer Zukunft sicher,
dagegen fast nirgends eine bedeutende französische; überall deutschen und eng¬
lischen Handel, nirgends französischen. Es kann also nicht gering sein, das
deutsche Vermögen im Auslande; wie groß könnte es aber erst sein, wenn auch
das übrige Kapital vernünftige Wege ginge! , ^
Der Kapitalist im Inlande, die Landratte, kauft Portugiesen und Argen¬
tinier, natürlich keine ostafrikanische Anleihe, etwa für einen Eisenbahnbau.
Aber wie, man sollte den deutschen Kleinkapitalisten ermutigen, so unsichere
Papiere zu kaufen? was kann aus deutschen Kolonien gutes kommen? fragt
der Fortschrittsmann. Ich dagegen frage: was könnte denn mit den deutschen
Kolonien geschehen, als höchstens, daß wirklich einmal ein Reichskanzler auf den
Gedanken käme, sie zu verschenken? Es giebt ja auch noch koloniale Privat¬
unternehmungen. Da ist z. B. die cmatolische Eisenbahn, von deutschen In¬
genieuren und deutschen Handwerkern erbaut und unter deutscher Verwaltung.
Die müßte doch gewaltige Gegenliebe finden? Nein, auch die nicht. Denn
wenn auch der besitzende Philister im allgemeinen wenig Vertrauen zu der
Weisheit der deutschen Regierungen hat, so hat er umsomehr Vertrauen zu
der Ehrlichkeit der ausländischen Regierungen und kauft daher mit Vorliebe
brasilische oder argentinische Papiere, zumal wenn im Titel das Wörtchen
„staatlich" vorkommt. Nach zehn Jahren liegt dann die Sache so. In Klein¬
asien ist eine Eisenbahn entstanden, die über kurz oder lang ihre Rente ab¬
werfen muß, außerdem aber durch Erschließung des Landes Arbeitsgelegenheit
für neues Kapital geschaffen hat. In Argentinien ist der Eisenbahnbau über¬
haupt nicht angefangen worden. Die Zinsen sind bisher vom Kapital gezahlt
worden, und die ausländischen Gauner haben sich einige Jahre hohe Gehalte
genommen. Ist aber wirklich ein Unternehmen geschaffen, so fällt es samt
seinen republikanischen Herren bei der nächsten Revolution doch wieder über
den Haufen. In Kleinasten mag geschehen, was will; Unternehmungen unter
europäischer Leitung wird man kein Härchen krümmen. Im Gegenteil, um
ihretwillen überwachen ja die Kabinette den kranken Mann in Konstantinopel
und Kairo wie einen Schuljungen. Kolonien von Mammons wegen sind wohl
noch unantastbarer, als Kolonien von Staats wegen.
Aber wenn auch die Millionen in Türkenlosen, Portugiesen, Griechen
und Argentiniern nicht verloren wären, sondern reichlich Gewinn gebracht
hätten, so wäre dabei doch für die Zukunft des deutschen Volkes wenig ge¬
wonnen, viel Wertvolleres aber wäre verloren gegangen, nämlich Millionen
deutscher Auswandrer, deutscher Arbeiter, die das Vaterland haben verlassen
müssen. Das Kapital, das ins Ausland geht, verliert seinen deutschen Namen,
es wird portugiesisch oder argentinisch. Portugiesische Unternehmer, por¬
tugiesische Arbeiter schaffen mit diesen Mitteln. Die Arbeiter, die ins Aus¬
land gehen, sind aber ebenfalls verloren. Sie legen nicht nur ihre Reichs¬
angehörigkeit ab, sondern auch die deutsche Sprache und schließlich auch die
Erinnerung daran, daß sie einst Deutsche waren. Nur wenn sich beide finden:
deutsches Kapital und deutsche Auswandrer, Arbeiter und Arbeitsmittel, nur
dann entsteht eine deutsche Kolonie. Und nicht nur manchmal und hie und
da, sondern überall, wo das stattfindet, entsteht eine deutsche Kolonie. Wächst
sie und erreicht in fremden Landen andauernd die Mehrheit, dann wird sie
eines Tages die fremde Flagge vom Stadthause herunternehmen und die
deutsche aufpflanzen, schon aus Eigennutz. Denn schließlich läßt sich der eng¬
lische Konkurrent unter deutscher Flagge doch noch besser schlagen als unter
englischer. So können auch heute noch überall deutsche Kolonien entstehen.
Staatsmänner, die nicht bloß das Wohl des deutschen Geldes wollen,
auch nicht bloß das Wohl des deutschen Auswandrers, der in Amerika gegen
seine Sprache höhere Löhne eintauscht, sondern deren Liebe der Zukunft des
deutschen Volkes gilt, müssen also eine Politik treiben, die beide zusammen¬
führt: die Arbeiter und die Arbeitsmittel. Sie dürfen bei dem Worte Kolonial¬
politik nicht nur an Afrika denken und daran, wer Kanzler von Kamerun
werden foll, sondern an die Millionen deutscher Auswandrer, die deutsche
Schule und deutsche Heereserziehung genossen haben und darum einen Kultur¬
dünger abgeben, wie er kostbarer gar nicht zu haben ist, die aber für deutsche
Kulturarbeit verloren sind; und an die Machtmittel des deutschen Volkes, die
kleinen Raubstaaten in den Schoß geworfen werden, um, wie von Kindern,
vergeudet zu werden.
Giebt es denn nun schon deutsche Kolonien, wo sich Arbeiter und Kapital
gefunden haben? O ja, abgesehen von den Tropen, wo ein Unternehmer immer
nur wenige europäische Kopfarbeiter beschäftigen kann, giebt es solche z. B.
in Südamerika. In Brasilien giebt es deutsche Dörfer, deutsche Ackerbau¬
kolonien. Aber, sagen die Konsuln und das auswärtige Amt, die sind doch
verloren! Es ist sehr traurig, daß Deutsche dorthin gehen, um über kurz oder
lang dort zu verwelschen. Denn retten können wir sie doch nicht! Wir können
nicht gegen das internationale Recht! Mit Verlaub: das sind diplomatische
Zwirnsfaden, noch leichter zu zerreißen als juristische. So mag die russische
Regierung reden, die an der Kolonisation des eignen Landes genug Arbeit
hat, oder die französische, die froh sein muß, wenn keiner auswandert. Eine
Regierung aber, wie die deutsche und englische, muß aggressive Kolonialpolitik
treiben. Die Russen und die Franzosen haben große Flotten und treiben
aggressive Kolonialpolitik. Warum? Vielleicht aus Übermut, denn nötig haben
sie es nicht. Die Deutschen haben keine große Flotte, und ihre Regierung
treibt eine recht schüchterne Kolonialpolitik. Warum? Weil sie ihre Pflicht
nicht kennt, oder vielmehr, weil ihr vom Volke wunderlicherweise die Mittel
zur Erfüllung ihrer Pflicht vorenthalten werden. Denn es ist die verdammte
Pflicht und Schuldigkeit der deutschen Regierung, aggressive Kolonialpolitik
zu treiben. stauen sich Wassermassen und gefährden bebaute Felder, so müssen sie
von den Behörden im öffentlichen Interesse in Bahnen geleitet werden, wo sie
Segen bringen. Auch wo sich Volksmassen, die nach Land schreien, gefährlich
auskauen, da müssen die Staatsleiter sie wegschaffen, aber nicht irgend wohin,
sondern dahin, wo sie der Gesamtheit nützen.
Es ist nicht gleich Krieg nötig und Eroberung, wenn man solche Kolonien
schaffen will. Man braucht zu den Raubstaaten nur so zu sagen: Wir sind
hier und wollen hier bleiben. Uns gehört die Erde so gut wie euch, und hier
gilt Krieg auch im Frieden. Wir wollen auch nicht euresgleichen werden und
unter euern Gesetzen leben, sondern nur bedingungsweise. Eure Regierungen
sind nicht ehrlich, eure Gerichte sind bestechlich. Wir sind das nicht gewohnt.
Unser Mutterland verlangt, daß wir nach unsern Ansprüchen behandelt werden.
Somit sind wir nicht durchaus eure Mitbürger, sondern auch noch deutsche
Ncichsbürger. Wenn dann ein Deutscher vor ein ausländisches Gericht kommt,
so sagt der Konsul nicht: Warum gehst du in dieses Land? sondern er handelt
wie jener englische Konsul in Mittelamerika, von dem vor einigen Jahren
folgende Geschichte durch die Zeitungen ging. Ein Engländer war in einer
- mittelamerikanischen Republik vor die Schranken des Gerichts gekommen und
wurde zum Tode durch die Kugel verurteilt. Sei es nun, daß das Urteil
ungesetzlich oder zu streng war, jedenfalls stellte sich der englische Konsul mit
seinem ganzen Einfluß vor den Verurteilten. Auf die Republikaner machte
das keinen Eindruck. Da telegraphirte er nach London. Die Republikaner
beschleunigten als Antwort den Tag der Hinrichtung; der Tag erschien, die
Soldaten waren aufmarschiert und harrten des Kommandos. Da erschien auch
der englische Konsul, warf dem Missethäter die englische Flagge über Kopf und
Brust und rief: Kill uiro, dut alone Kurt leis suglisll ita^. Ich bin überzeugt,
wir haben auch solche Konsuln.
Wir brauchen ein Auswärtiges Amt, das nicht bloß nach dem Loch in
den Vogesen starrt und nach den russischen Wäldern, sondern das an den
Küsten aller Ozeane Aufgaben für die deutsche Politik sieht, das die deutschen
Auswandrer dahin leitet, wo sie Unternehmer mit deutschem Kapital finden,
das auch die deutschen Privatkolonien für seine Kinder ansieht, für deren Ge¬
deihen, es zu sorgen hat, auf die Gefahr hin, daß sie eines Tages z. B. in
Südamerika den unfähigen Spaniern das Revolutionshandwerk legen und
— abhängig oder unabhängig vom Reich — deutsche Ackerbaukolonien werden.
Wie leicht das geschafft werden kann, mag eine zweite Geschichte zeigen. Im
Süden Brasiliens liegen Gruppen von deutschen Dörfern, die in den Bürger¬
kriegen der spanischen Abkömmlinge leidlich verschont geblieben sind. Vor
einigen Jahren geschah es doch einmal, daß Regierungstruppen in ihre Nähe
kamen, nicht als Feinde, sondern gelockt von den guten Quartieren. Reitende
Boten und Feuersignale vom bedrohten Orte sorgten dafür, daß in den benach¬
barten Dörfern die freiwilligen Feuerwehren, in Deutschland gediente Leute
und ihre Rekruten, schleunigst alarmirt wurden und sich auf den Marsch nach
dem Signalort begaben. Unterdessen war dort die militärische Macht enge-
. kommen; sagen wir eine Brigade, die wir aber etwa auf das Drittel einer
deutschen schätzen dürfen, mit zerrissenem Schuhwerk, zerlumpt und verhungert.
Roh verlangt ihr „General" vom Schulzen Lebensmittel, Kleidungsstücke und
Quartier zunächst für eine Woche. Der Schulze macht ihn darauf aufmerksam,
daß morgen mit dem frühsten die Feuerwehren so und so vieler deutschen
Dörfer hier sein würden, ausgediente deutsche Soldaten, gut beritten und gut
bewaffnet. Er thäte darum gut, seinen Truppen strengste Mannszucht zu
empfehle«. Außerdem würde der Ort nur so und so viel Lebensmittel liefern
und wünsche die Regierungstruppen nicht länger als eine Nacht in seinen
Fluren zu sehen. Dies mit dem nötigen Nachdruck vorgetragen, wirkt. Am
andern Morgen zogen die Soldaten ganz betrübt, aber friedlich von dannen,
ohne die Bekanntschaft mit der deutschen Feuerwehr gesucht zu haben. Die
Geschichte stand vor etwa einem Jahre in den Zeitungen. Für ihre Wahrheit
kann ich nicht einstehen. Aber sie ist eine Illustration zu dem, was ich sagen
möchte: der Bessere wird sich vom Schlechter» nicht auf die Dauer regieren
lassen, und wie leicht vermag Zucht und Ordnung, d. i. Kultur, Herr zu
werden über die Schein- und Halbkultur!
Eine solche Kolonialpolitik in allen Ozeanen ist natürlich nicht ohne
Schiffe möglich. Wer in dem sogenannten Völkerkonzert gehört werden will,
muß zuweilen mit dem Säbel rasseln können. Die deutsche Flagge über dem
Hause des Konsuls hat wenig Achtung, wenn sie nicht auch im Hafen über
einigen schwimmenden Kanonen weht. Haben wir denn aber Schiffe? Ich
will noch eine dritte Geschichte erzählen. Es war in den ersten Wochen des
japanisch-chinesischen Krieges, als ich nach Singapore kam. Es war von
Europa gerade die Nachricht gekommen, daß einige französische und einige
russische Panzer, im ganzen gegen zwölf, auf dem Wege nach Ostasien wären.
„Sie müssen Singapore Passiren, schrieb die Singapore Zeitung. Was wäre ihnen
leichter, als mit einem Handstreich diesen Platz zu nehmen! Er ist nur schwach
befestigt, noch mehr fehlt es an Soldaten zur Deckung. Wir wissen es, die
Fremden haben geheime Instruktionen. Deshalb fordern wir alle Männer
und Jünglinge dieser Kolonie auf, freiwillige Bataillone zu bilden." Mündlich
erfuhr man dann, daß dabei auch auf die ansehnliche deutsche Kolonie in
Singapore gerechnet wurde, ihrer militärischen Schulung wegen. Aus dem
Handstreich wurde nun freilich nichts. Ganz Unrecht hatte aber die Zeitung
uicht. Wozu hätten auch die Franzosen ihre Riesenflotte, wenn sie niemals
Gebrauch davon machen wollten? Aber andrerseits, was wollen die Franzosen
mit Singapore? Haben sie Kapital draußen? Ja. ein wenig in Tonking usw.,
aber wenn es sehr hoch kommt, doch nur den zehnten Teil des englischen,
wahrscheinlich sehr viel weniger. Die Engländer müßten es ihnen also mit
allen Kosten wieder abnehmen. Denn Singapore beherrscht die Handelsstraße.
Was aber sehr naiv von diesen Engländern war, das war der Appell an die
Deutschen. Denn wenn jemand dem englischen Welthandel gefährlich ist, so
sind es die Deutschen. Die Russen können freilich den Engländern den Ein-
fluß auf China abnehmen. Dann wird sich China nicht von Hongkong aus,
sondern von Norden aus erschließen; dann machen nicht die Handelshäuser
von Hongkong das Geschäft, deutsche und englische, sondern die von Wladi¬
wostok, und das sind nur Hamburger, gute Deutsche, solange es ein mächtiges
deutsches Reich giebt. Die Russen können den Engländern auch Indien nehmen,
aber doch eigentlich nicht Indien, sondern nur die Regierung über Indien.
Oder können sie etwa diese Milliarden englischen Privatkapitals verdrängen,
ihnen den Besitz des Bodens, des Handels und der Fabriken nehmen? Nicht
ohne daß sie das Land verwüsten. Dagegen können die Deutschen sehr wohl
den Engländern z. B. Hongkong nehmen. Angenommen, der deutsche Handel
in Hongkong mache jetzt ein Zehntel des englischen aus, so kann er in einigen
Jahrzehnten sechs Zehntel ausmachen. Dann ist eben Hongkong deutsch mit
oder ohne deutsche Flagge, und es ist eine Leichtigkeit, die deutsche Flagge
nicht nur aufzupflanzen, sondern auch zu halten. Unser Handel wächst schneller
als der englische, der französische aber geht zurück.
Da es zunächst nur zwei Völker giebt, die zugleich Kapital- und Menschen¬
überschuß haben, so giebt es auch nur zwei Völker, die sich um die freie Erde
und um die Herrschaft über die Meere streiten müssen: die Deutschen und die
Engländer. Die Deutschen scheinen das nicht zu wissen, sonst hätten sie doch
eine größere Flotte. Also mehr Geld für die Marine, weiter will er nichts!
sagen der Fortschrittsmann und der Sozialdemokrat. Jawohl! sage ich dem
Fortschrittsmann. Aber das wird sich bezahlt machen, zwar nicht gleich, aber
später, und nicht nur für den Fiskus, fondern auch für den Einzelnen. Das
gehört zu den eaux trzis der heutigen Weltwirtschaft. Die Marine gehört zu
den Mitteln, die jeder deutsche Produzent heutzutage gegen den auswärtigen
Konkurrenten nötig hat; haben wir erst eine Flotte, und treiben wir Kolonial-
politik, dann wird das deutsche Volk nicht mehr Hunderte von Millionen an
Portugiesen und Argentinier verlieren, sondern wird sein Geld deutschen Unter¬
nehmern anvertrauen, und je mehr deutsche Unternehmungen es im Auslande
giebt, umso weniger drückend wird die Überproduktion im Inlande sein.
Den Arbeitern aber sage ich: tua. rss ag'lor, um eure Zukunft handelt
es sich. Hier in dem überfüllten Deutschland mag das Kapital euer Feind
sein. Rücksichtslos drückt es euern Lohn auf das niedrigste Maß, um seineu
Mehrwert zu haben, versucht euch zu Parias zu machen, mit denen der Ge¬
bildete nichts mehr gemein hat (wogegen wir jn Gott sei Dank zwei gute
Schutzmittel haben: Volksschule und Heer). Das mag hier so sein, aber
draußen ist es anders. Dort ist der einfachste deutsche Arbeiter mindestens
ein gelernter Arbeiter. Arbeitsmittel und Arbeiter sind dort keine Feinde,
sondern dort sucht das Kapital Arbeiter, lohnt reichlich und giebt Gewinn¬
anteil. Aus dem Dienenden wird dort leicht ein Herr. Wo könnte ein
deutscher Handwerker leichter in die Höhe kommen als bei einem deutschen
Eisenbahnbau? Nach euerm Glaubensbekenntnis werden die deutschen Kapitalien
dem Verdienste eurer Arbeit abgezogen. Nun denn, sollen diese Schätze an
ausländische Börsen verloren gehen? Büßen sie nicht ihre illegitime Ge¬
burt besser, wenn sie zurückkehren zum deutschen Arbeiter und ihm zum Wohl¬
ergehen verhelfen in einer neuen, glücklichern Heimat? Darum können und
müssen auch die Arbeiter mit uns verlangen: Kolonialpolitik!
Wozu ist dieser Aufsatz geschrieben? Nicht um die Regierenden zu belehren.
Sie haben bessere Lehrmittel zur Verfügung als Zeitungsartikel und müssen
besser wissen, wann der Augenblick zum Handeln gekommen ist. Aber bei uns
regiert nicht nur der Zar, sondern auch die Masse des Volks mit Ja und
Nein bei den Wahlen. An diese wende ich mich. Aber Deutschland ist doch
ein kleines Land, sagt der Philister, wenn er vor seinem Atlas sitzt, und die
Erde ist sehr groß; welch ein Unsinn ist also Weltpolitik! Darauf ant¬
worte ich: Die Erde ist sehr klein, und überall draußen ist man vor den
Thoren Deutschlands. Seht euch doch einmal das Reichsgebäude von außen
an! Es sieht ganz stattlich aus, und ihr werdet hören, wie mau sich wundert,
daß eine so große Stadt so wenig Land haben kann, und daß sich ein Volk
über seine große Macht und seine großen Bedürfnisse so schüchtern täuschen
kann wie das deutsche.
is das deutsche Reich gegründet wurde, hielten es die meisten
deutschen Regierungen nicht für geboten, daß die Reichsgesetz¬
gebung auch auf das ganze Gebiet des bürgerlichen Rechts er¬
streckt würde. Auch weigerten sie sich längere Zeit, den im
Reichstag angenommnen Anträgen zu entsprechen, wonach auch
in dieser Richtung einheitliches Recht geschaffen werden sollte. Nur für das
Recht der Schuldverhältnisse sollte die Zuständigkeit des Reichs anerkannt, im
übrigen der Landesgesetzgebung freier Spielraum gelassen werden. Der Reichs¬
tag ist aber in seinem Bestreben nicht ermüdet und hat dadurch schließlich die
Verfassungsänderung errungen, die erst die Herbeiführung der Rechtseinheit
auf dem Gebiete des bürgerlichen Rechts ermöglicht. Nun liegt nach langer
und mühevoller Arbeit, an der außer den beiden mit der Aufstellung des
Entwurfs betrauten Kommissionen fast der ganze deutsche Juristenstand durch
Vertreter aus allen Kreisen beteiligt gewesen ist, ein Entwurf vor, der nicht
bloß die Beseitigung des fremden Rechts, sowie die Verwirklichung der so
lange ersehnten Rechtseinheit in weitem Umfange ermöglicht, sondern im ganzen
unzweifelhaft für alle Rechtsgebiete eine bald mehr, bald minder große Ver¬
besserung des bestehenden Nechtszustands enthält. An die Stelle des Wider¬
spruchs, der aus den Kreisen des Juristenstandes nach Beendigung des ersten
Entwurfs vielfach und mit Recht gegen dessen sofortige Einführung erhoben
worden war und zur Umarbeitung des Entwurfs durch eine zweite aus den
verschiedensten Berufskreisen entnommne Kommission geführt hat, ist nun, mit
vereinzelten Ausnahmen, der Wunsch getreten, der zweite Entwurf möge so
bald als möglich, wenn auch vielleicht mit einzelnen Änderungen Gesetzeskraft
erlangen. Insbesondre hat der deutsche Juristentag, der in diesem Falle sicher
die Auffassung der größten Anzahl der deutscheu Juristen ausgesprochen hat,
sast einstimmig das baldige Zustandekommen des bürgerlichen Gesetzbuchs" (auf
der erwähnten Grundlage) für wünschenswert erklärt.
Nun wird in vielen Kreisen befürchtet, daß der Reichstag das große
Werk schließlich noch werde scheitern lassen. Von den Regierungen wird, ob¬
gleich sie natürlich auch in einzelnen Richtungen Änderungen des Entwurfs
für wünschenswert halten müssen, allgemein angenommen, daß sie dem Reichs¬
tage vorschlagen werden, den Entwurf unverändert anzunehmen, jedenfalls daß
sie ihrerseits von Änderungen absehen werden. Dagegen wird dem Reichstage
eine solche Entsagung nicht zugetraut. Ja es werden vielfach Anstrengungen
gemacht, ihn auf Wege zu drängen, die voraussichtlich das Zustandekommen
des bürgerlichen Gesetzbuchs für unabsehbare Zeit verhindern würden. Ein
solcher Versuch ist kürzlich auch in dieser Zeitschrift in dem Aufsatz von Lobe
gemacht worden, der eine vollständige Umarbeitung des Entwurfs durch eine
Neichstagslommission dringend befürwortet. Daß die Partikularistischen Be¬
strebungen, die unzweifelhaft noch nicht ganz aufgehört habe», allein ausreichen
werden, den Entwurf im Reichstage zum Fall zu bringen, ist nicht anzunehmen.
Es fehlt aber nicht an Parteien, die sich gegen die einheitliche Regelung des
bürgerlichen Rechts überhaupt oder wenigstens gegen eine solche, wie sie den
gegebnen Verhältnissen entspricht, aus verschiednen Gründen feindlich Verhalten
werden; deshalb hat eine Maßregel, die die einheitliche Regelung gefährdet,
schon ans diesem Grnnde auf zahlreiche Unterstützung zu rechnen. Dazu
kommt dann noch die doktrinär-politische Auffassung, wonach dein Reichstage
seine Würde verbieten soll, den ihm vorgelegten Entwurf ohne eingehende
Prüfung durch eine Kommission, wie sie bei den sogenannten Reichsjustiz¬
gesetzen (Zivilprozeßordnung, Strafprozeßordnung, Gerichtsverfassungsgesetz
und Konknrsordnung) erfolgt ist, anzunehmen. Für die, die eine solche Be¬
ratung für schädlich und die baldige Verwirklichung der Rechtseinheit für not-
Wendig halten, liegt daher dringende Veranlassung vor, die für ihre Auffassung
sprechenden Gründe darzulegen. Von diesem Standpunkt aus möchte ich des¬
halb den Ausführungen Lobes, der ja kein grundsätzlicher Gegner eines sür
ganz Deutschland bestimmten bürgerlichen Gesetzbuches ist, entgegentreten.
Daß dieses Gesetzbuch so vollkommen als möglich gestaltet werden müsse,
und der Entwurf deshalb nur dann Gesetz werden dürfe, wenn die Regierungen
und der Reichstag darüber einig seien, daß damit das Beste geschaffen werde,
was zur Zeit möglich sei, ist Lobe ohne weiteres zuzugeben. Nur darf kein
allzu strenger Maßstab angelegt, sondern es muß stets im Auge behalten
werden, daß allen menschlichen Einrichtungen die UnVollkommenheit anhaftet,
das Vorhandensein von Mängeln allein also nicht die Zurückweisung des
Entwurfs rechtfertigen würde. Der Streit dreht sich im wesentlichen darum,
ob der Entwurf in der Gestalt, die er jetzt erhalten hat, das Beste ist, was
zur Zeit durch die in Deutschland vorhandnen Kräfte erreicht werden kann,
sowie darum, ob die Umarbeitung durch eine Reichstagskommission eine Ver¬
besserung oder eine Verschlechterung in Aussicht stellt. Außerdem kommt in
Betracht, ob es sich vielleicht mit Rücksicht auf die gegenwärtigen politischen und
sozialen Verhältnisse empfiehlt, das ganze Unternehmen hinauszuschieben. Auf
diese Fragen sollen sich auch die nachfolgenden Erörterungen beschränken.
Wenn man beurteilen will, ob die mit Aufstellung eines Entwurfs
beauftragte Kommission ihre Aufgabe im großen und ganzen gelöst habe,
muß man sich zunächst die Frage vorlegen, wie diese Aufgabe zur Zeit ihrer
Einsetzung aufgefaßt worden ist. In dieser Beziehung liegt ein durchaus zu¬
verlässiges Material vor. Zunächst wurde eine besondre Kommission berufen,
die über Plan und Methode, nach denen bei Aufstellung des Entwurfs zu
verfahren sei, gutachtliche Vorschläge machen sollte. Das Gutachten, dieser
Kommission, das damals allgemein als eine vorzügliche Arbeit augesehen und
vom Justizausschuß des Bundesrath wie von diesem selbst durchweg gebilligt
wurde, ist dann mehrfach gedruckt worden und läßt deutlich erkennen, welcher
Weg eingeschlagen werden sollte. Die Kommission ging davon aus, das künftige
Gesetzbuch werde den berechtigten Wünschen des deutschen Volkes, den Inter¬
essen aller Einzelstaaten, wie den Anforderungen der Rechtswissenschaft und
Rechtsübung nur dann entsprechen, wenn an den bewährten gemeinschaftlichen
Einrichtungen des innerhalb des deutschen Reichs bestehenden Zivilrechts fest¬
gehalten und bei Abweichungen die Entscheidung in erster Linie mit Rücksicht
auf das Bedürfnis und die Zweckmäßigkeit, in zweiter ans die juristisch-logische
Folgerichtigkeit getroffen würde. Im Anschluß hieran wurde verlangt, es
solle mit schonender Rücksicht auf das überlieferte Recht und auf eigentümliche
örtliche Verhältnisse die folgerichtige Durchführung der der Gegenwart ent¬
sprechenden Rechtsgrundsütze verbunden werden. Endlich wurde es als not¬
wendig bezeichnet, daß sich die Fassung der Rechtssütze ebenso von einer
gelehrten Geheimsprache, wie von einer Popularisirung fernhalte, die die un¬
entbehrliche technische Bestimmtheit und Genauigkeit verwische, daß ferner ge¬
drungne Kürze und eine zwar gemeinverständliche, aber in konsequenter Technik
durchgeführte Rechtssprache erstrebt werde. Demgemäß wurde die Aufgabe im
einzelnen in drei Richtungen bestimmt. Es wurde zunächst genaue Feststellung
des gegenwärtig bestehenden Rechts, sowie dessen Beurteilung mit Rücksicht
auf innere Berechtigung und Zweckmäßigkeit gefordert, sodann eine Entschei¬
dung über seine Beibehaltung und über Ausgleichung der vorhandnen Gegen¬
sätze, endlich Anwendung der höchsten Sorgfalt hinsichtlich der Formgebung
und Anordnung. Von diesen Aufgaben hieß es, daß sie nicht unlösbar seien,
aber einen großen Aufwand vou wissenschaftlicher Einsicht, von Erfahrung
und Umsicht erforderten und nur durch verständige Zusammenfassung der ge¬
eignetsten Kräfte gelöst werden könnten.
Aus diesen Ausführungen, gegen die vor der Veröffentlichung des ersten
Entwurfs von keiner Seite Widerspruch erhoben wurde, geht zunächst hervor,
daß man mit Rücksicht auf die große Schwierigkeit der Arbeit nicht den ge¬
wöhnlichen Weg einschlagen wollte. Gewöhnlich werden ja die Gesetzentwürfe
in einem Ministerium ausgearbeitet und dann dem Reichstag oder Landtag
vorgelegt, der sie dann im einzelnen durch eine besondre Kommission prüfen
und, soweit es sich als notwendig erweist, umarbeiten läßt. Hier wurde
eine „aus den geeignetsten Kräften" besonders zusammengesetzte Kommission
für notwendig gehalten. Daß deren Arbeit durch den Justizausschuß des
Bundesrath oder eine besondre Reichstagskommission nochmals umgearbeitet
werden sollte, hat man damals gewiß nicht in Aussicht genommen. Die gut¬
achtlichen Äußerungen der Vorkommission wie der Bericht des Bundesrats¬
ausschusses lassen aber auch deutlich erkennen, daß es nicht als die Aufgabe
der Kommission angesehen wurde, neues Recht zu schaffen, sondern hauptsächlich
das vorhandne Recht, soweit es sich bewährt hatte und noch den Bedürfnissen
der Gegenwart entsprach, zu einem einheitlichen Ganzen zusammenzufassen.
Vorsorge bei neu auftretenden Bedürfnissen durch neue, den Anforderungen
des Lebens entsprechende Bestimmungen sollte natürlich nicht ausgeschlossen
sein. Das ergiebt sich schon daraus, daß veraltete Einrichtungen und Vor¬
schriften beseitigt werden sollten und vor allem Zweckmäßigkeit und Berücksich¬
tigung der praktischen Bedürfnisse verlangt wurden. Aber der Schwerpunkt lag
nach den damals allgemein herrschenden Anschauungen nicht in der Reform,
sondern in der Zusammenfassung des in Deutschland sehr mannichfaltigen Rechts.
Eine „schöpferische" Thätigkeit, deren Mangel dieser ersten Kommission später
zum Vorwurf gemacht worden ist, insbesondre die Einführung großer sozialer
Reformen wurde nirgends erwartet. Auch die Grenzen, innerhalb deren die
Rechtseinheit bezüglich des bürgerlichen Rechts verwirklicht werden sollte, wurde
der Kommission vom Justizausschuß des Bundesrath vorgezeichnet.
Daß die Aufgabe der Kommission in dem dargelegten Sinne aufgefaßt
wurde, erklärt sich leicht und kann auch von dem jetzt herrschenden Standpunkt
aus uur gebilligt werden. Ja gerade die heute bestehenden politischen und
wirtschaftlichen Gegensatze zeigen, daß ein auf höhere Ziele gerichtetes Streben
sicher vereitelt worden wäre. Man war sich schon damals der großen Schwierig¬
keiten bewußt, die auch die bloße Zusammenfassung und zweckmäßige Gestaltung
des vorhandnen Nechtsstoffs bereiten würde. Deshalb wollte man diese Schwierig¬
keiten nicht unnötig dadurch vermehren, daß man der Kommission die Auf¬
findung und Durchführung neuer, noch nicht durch die Erfahrung erprobter
Rechtssätze oder Systeme aufgab. Die neuerdings gemachten Anlaufe zur
Wiederbelebung des durch die geschichtliche Rechtsschule verdrängten Natur¬
rechts waren damals noch nicht geschehen, sie würden auch uicht berücksichtigt
worden sein, weil man allgemein annahm, daß nicht ein künstlich geschaffnes,
aus philosophischen Anschauungen (deduktiv) abgeleitetes, sondern nur ein aus
den geschichtlich entstandnen Verhältnissen und den Bedürfnissen des Volkes
hervorgegcmgnes Recht den bestehenden Anforderungen genügen könne. So ist
auch im allgemeinen bei den frühern in Deutschland entstandnen Gesetzgebungs¬
werken verfahren worden. Auch bei dem preußischen Allgemeinen Landrecht,
das zu einer Zeit entstand, wo das „Naturrecht" in hohen Ehren stand, und
bei dem Ovals Mvolsou, bei dessen Feststellung die von der Philosophie des
achtzehnten Jahrhunderts beeinflußten Ideen der großen Revolution noch nach¬
wirkten, ist doch die Kodifikation des bestehenden, insbesondre die Verschmelzung
des römischen und des germanischen Rechtsstoffs als die wichtigste Aufgabe
angesehen worden. Das Bedürfnis nach einheitlichem Recht drängte alles
andre in den Hintergrund. In Frankreich wollte man zwar anfangs von den
Entwürfen, die auf der Grundlage des alten Rechts beruhte!?, überhaupt vom
Juristenrecht nichts wissen, man wollte ein ganz neues, rein aus der Ver¬
nunft oder dem Naturrecht abgeleitetes Zivilrecht einführen. Als aber nach
dem Sturze des Direktoriums Bonaparte ans Regiment kam, wurde davon
abgesehen und in erster Linie eine Ausgleichung zwischen dem im Süden gel¬
tenden römischen Recht und dem im Norden herrschenden Gewohnheitsrecht
(etoit as« voutüings) in Angriff genommen, das im wesentlichen deutschen
Ursprungs war. Daran that man auch sehr wohl, denn die Erfahrungen, die
man mit dem während der Revolution entstandnen Recht (dem sogenannten
etroit, wtsrmöäiairö), insbesondre mit dem Eherecht, gemacht hatte, waren sehr
ungünstig.
Daß die erste Kommission ihrer Aufgabe — abgesehen von der später
zu erwähnenden Gesetzessprache — im großen und ganzen gerecht geworden
ist und für ihre gründliche und gewissenhafte Arbeit, sowie für die folgerichtige
Durchführung der aufgestellten Grundsätze die höchste Anerkennung verdient,
kann keinem Zweifel unterliegen. Dies wurde auch, trotz der scharfen Kritik,
die der erste Entwurf nach seiner Veröffentlichung im allgemeinen fand, meist
anerkannt, wenigstens von allen denen, die sich auf den Boden des von der
Vorkommissivn entworfnen und vom Bundesrat gebilligten Programms stellten.
Außer der — begründeten — Bemängelung der keineswegs gemeinverständ¬
lichen Sprache richteten sich die Ausstellungen vorzugsweise gegen Einzelheiten.
Außerdem wurde — nicht ohne Grund — geltend gemacht, daß vielfach auf
die juristische Folgerichtigkeit mehr Gewicht gelegt worden sei, als auf die
Bedürfnisse des praktischen Lebens. Daß die Kritik einen so großen Umfang
erlangte, daß eine ganze Litteratur daraus entstand, deren amtliche Zusammen¬
stellung allein mehrere Bände umfaßt, erscheint nur auf den ersten Blick
auffallend. Jedes Erzeugnis menschlicher Thätigkeit ist ja mit Mängeln
behaftet. Bei der Kritik werden aber gewöhnlich die (wirklichen oder ver¬
meintlichen) Fehler durch das Vergrößerungsglas betrachtet und scharf hervor¬
gehoben. Außerdem bestehen hier wie auf andern Gebieten natürlich große
Meinungsverschiedenheiten. Ein so umfangreiches Werk wie der Entwurf zu
einem bürgerlichen Gesetzbuch kann, wenn es von einer größern Zahl von
Personen hergestellt wird, unmöglich so gestaltet werden, daß auch nur eine
einzige Person mit allen Vorschriften einverstanden wäre, und muß mit Rück¬
sicht auf die abweichenden Auffassungen und Interessen im einzelnen notwendig
vielfach Widerspruch hervorrufen, was dann auch auf die Beurteilung des Ganzen
Einfluß übt. Auch bei der Einführung der Gesetzbücher, die jetzt in Geltung
stehen, ist in weiten Kreisen Widerspruch erhoben worden. Insbesondre wurden
über das preußische Allgemeine Landrecht und den dem Locls Mxolgon zu
Grunde liegenden Entwurf von vielen Seiten abfällige Urteile gefüllt. Von dem
letzter«, bei dem eine Abänderung durch den gesetzgebenden Körper ausgeschlossen
war, dessen einzelne Abschnitte vielmehr im ganzen angenommen oder zurück¬
gewiesen werden mußten, wurde anfangs, weil er zu viel „hergebrachte Maximen"
statt neuen philosophischen Rechts zu enthalten schien, auf Antrag des Tribunats
der erste Titel von der gesetzgebenden Versammlung abgelehnt; die Negierung
mußte, da auch die Ablehnung des zweiten Titels beantragt war, sämtliche
Gesetzvorschläge zurückziehen, und der Entwurf erlangte erst nach einer etwas
gewaltsamen Erneuerung beider Körperschaften Gesetzeskraft. Trotzdem haben
diese Gesetzbücher segensreich gewirkt. Von der Einführung des deutschen
Handelsgesetzbuchs wurde gleichfalls von manchen Seiten nur Unheil erwartet,
und der (zweite) Entwurf zum füchsischer Zivilgesetzbuch wurde von sehr her¬
vorragenden Juristen (Unger und Arndts) als durchaus unreif und revisions¬
bedürftig bezeichnet. Dennoch zeigte sich nach seiner Einführung in Sachsen
keinerlei Unzufriedenheit; vielmehr wurde von füchsischer Juristen vielfach die
Ansicht ausgesprochen, man Hütte ihr Gesetzbuch mit einigen Abänderungen in
ganz Deutschland einführen oder doch bei Ausarbeitung des Entwurfs für das
deutsche Reich zu Grunde legen sollen.
Trotz alledem war es durchaus gerechtfertigt, daß eine nochmalige Über¬
arbeitung des ersten Entwurfs durch eine neue, aus Juristen und Nichtjuristen
zusammengesetzte Kommission vom Bundesrat angeordnet wurde, denn so wichtig
auch die Rechtseinheit ist, so wünschenswert ist es doch, daß dem deutscheu
Volke das Beste geboten werde, was überhaupt zur Zeit geschaffen werden
kann. Eine Verbesserung war aber sowohl in Beziehung auf den Inhalt als
auch auf die Form zu erreichen und ist auch in der That erreicht worden.
Ist es doch auch in frühern Fällen nie gelungen, auf einen Wurf ein Werk
herzustellen, das befriedigte; immer ist eine mehrmalige Bearbeitung notwendig
gewesen. Ganz besonders war eine Umarbeitung der Gesetzessprache wünschens¬
wert. Die erste Kommission hatte es zwar auch in dieser Beziehung nicht an
Sorgfalt fehlen lassen. Von der „Popularisirung," vor der die Vorkommissiou
warnte, hat sich die Kommission sicher fern gehalten. Auch hat sie sich be¬
müht, eine „in konsequenter Technik durchgeführte Rechtssprache" zu schaffen
und dadurch Zweifel über den Sinn der einzelnen Ausdrücke möglichst auszu¬
schließen. Aber dieses Bestreben hat das Verständnis oft sehr erschwert. Von
einer gemeinverständlichen Sprache konnte bei dem ersten Entwurf keine
Rede sein.
Durch die zweite Kommission wurde der Entwurf, wie allgemein, auch
von den Gegnern, anerkannt wird, wesentlich verbessert. Seine Einführung
würde nicht bloß die Rechtseinheit verwirklichen und für die künftige Nechts-
entwicklung, insbesondre die wissenschaftliche Fortbildung des Rechts, eine ein¬
heitliche Grundlage schaffen, sondern für alle Rechtsgebiete im Vergleich mit
dem jetzigen Zustand einen sehr bedeutenden Fortschritt bilden. Eine noch¬
malige Umarbeitung durch dieselbe Kommission wäre zwecklos, weil diese deu
Entwurf so vollkommen hergestellt hat, als es in ihren Kräften stand. Nur
wenn der Kommission bestimmte Änderungen vorgeschrieben würden, könnte von
einer nochmaligen Durcharbeitn»«, die Rede sein. Die Einsetzung einer dritten
Kommission verbietet sich aber — ganz abgesehen von dein Zeitverlust — des¬
halb, weil eine besser zusammengesetzte Kommission nicht wohl beschafft werden
kann, und eine Verschlechterung des Entwurfs, besonders eme Störung der jetzt
vorhandnen Harmonie, dabei nicht ausgeschlossen wäre. Auf die Verbesserungen,
die der Entwurf durch die Arbeit der zweiten Kommission erfahren hat, näher ein¬
zugehen, ist hier nicht möglich. Sie sind vielfach dargelegt worden. Nur einige
Bemerkungen seien gestattet. Daß der Entwurf das deutsche Recht nicht ge-
nügend berücksichtigt habe, ist zwar öfter behauptet, aber niemals überzeugend
begründet worden. Dem zweiten Entwürfe gegenüber läßt sich der Vorwurf
nicht aufrecht erhalten. Wer nicht für die künstliche Wiederbelebung germa¬
nischer Rechtsaltertümer schwärmt, kann nicht mehr behaupten, daß das deutsche
Privatrecht stiefmütterlich behandelt worden sei, und daß der Entwurf nur Pan«
dektenrecht enthalte. Das hat auch Sohm, einer unsrer ersten Germanisten,
in glänzender Ausführung dargelegt. Die Kritiker des ersten Entwurfs, zu
denen auch der Verfasser dieses Aufsatzes gehörte, sind natürlich auch jetzt noch
der Meinung, daß manche ihrer Verbesserungsvorschläge, die von der Kom¬
mission nicht berücksichtigt worden sind, mit Unrecht abgelehnt worden seien.
Wären sie aber angenommen worden, so würden vielleicht andre Juristen darin
eine Verschlechterung des Entwurfs gesehen haben. Jeder wird eben von seinem
Standpunkt aus eine Reihe von Änderungen für wünschenswert halten. In
einzelnen Punkte werden jene Kritiker gewiß Recht haben. Überhaupt werden
sich in Zukunft gewiß zahlreiche Mängel des Entwurfs ergeben, deren Ver¬
besserung der Praxis oder einer spätern Revision des Gesetzbuchs überlassen
bleiben muß. Aber das kann höchstens den Versuch rechtfertigen, einzelne
Punkte durch den Reichstag vorsichtig verbessern zu lassen, nicht die noch¬
malige Umarbeitung des Entwurfs durch eine dritte Kommission; denn es
würde sich bei jedem neuen EntWurfe wiederholen. Daß die Sprache des Ent¬
wurfs durch die zweite Kommission wesentlich verbessert worden ist, wird von
keiner Seite geleugnet. Auch in dieser Beziehung ist freilich zuzugeben, daß
noch weitere Verbesserungen möglich und wünschenswert sind. Es ist aber
auch zik beachten, daß sich ein Gesetzbuch niemals wie ein Roman lesen kann,
und durch ein zu weit getriebnes Streben nach Gemeinverständlichkeit leicht
die Sicherheit der Rechtsanwendung gefährdet wird. Ein Gesetzbuch darf
nicht kasuistisch, d. h. so abgefaßt werden, daß statt allgemeiner Rechtssätze
Entscheidungen für einzelne Fälle gegeben werden, sonst ist eine erschöpfende
Regelung ganz ausgeschlossen, und es entstehen, weil der Gesetzgeber nicht alle
Fälle vorsehen kann, große Lücken. Verfährt man aber nicht kasuistisch, so
wird die Sprache notwendig „abstrakt" und deshalb für den Laien schwer ver¬
ständlich. Dasselbe gilt von dem Gebrauch bestimmter technischer Ausdrücke,
durch die die Sicherheit der Rechtsprechung in höherm Maße gewährleistet
wird, als durch die Anwendung allgemein bekannter, aber vieldeutiger Wörter.
Es ist zwar mehrfach auf das französische Recht Bezug genommen worden,
das manche anschauliche, an Nechtssprichwörter erinnernde Aussprüche enthält,
wie la reoberenö as In xatsrnitv est interäitö oder fil tun, <Zö irnzudles In
xo88eL8ion vunt, Mi'<z. Aber abgesehen davon, daß es sich dabei um Aus¬
nahmen handelt, geben gerade derartige Bestimmungen zu besonders vielem
Zweifel und zu Streitigkeiten Anlaß. Der zweite Ausspruch hat für viele Streit¬
fragen Raum gelassen, z. B. für die, ob er nur von dem gutgläubigen oder
auch von dem bösgläubigen Besitzer angerufen werden dürfe. Was aber die
Erforschung der außerehelichen Vaterschaft betrifft, hat das Reichsgericht erst
in den letzten Jahren die alte Streitfrage zu entscheiden gehabt, ob das er¬
wähnte Verbot auch dann Anwendung finde, wenn die uneheliche Mutter wegen
betrügerischer Verleitung zum Beischlaf gegen ihren angeblichen schwangerer
auf Schadenersatz klage. Auch die Sprache des Entwurfs also kann seine
nochmalige Umarbeitung durch eine Kommission von Juristen nicht rechtfertigen.
Wollte man aber, wie auch vorgeschlagen worden ist, die Feststellung der
Fassung einem oder mehreren Kennern der deutschen Sprache übertragen, so
würde dadurch die technische Bestimmtheit und Genauigkeit, auf die das größte
Gewicht zu legen ist, notwendig verloren gehen.
Nun wird ja vielfach auch von Gegnern des Entwurfs zugegeben, daß
eine bessere, branchbarere Arbeit als die vorliegende bei den gegebnen Verhält¬
nissen nicht habe erreicht werden können und auch von einer neuen Kommission
nicht zu erwarten sei. Es wird aber mit Rücksicht daraus und auf die angeb¬
liche Notwendigkeit, durch das bürgerliche Gesetzbuch eine soziale Reform ein¬
zuleiten, vorgeschlagen, die Einführung auf unbestimmte Zeit, etwa bis zur
weitern Klärung der sozialen Verhältnisse zu verschieben. Von andrer Seite
wird die Umarbeitung durch eine besondre Neichstagskommission empfohlen.
Auch mit diesen Vorschlägen wollen wir uns noch kurz beschäftigen.
Unter den Vorwürfen, die der ersten Kommission von mehreren Seiten,
besonders von Gierke und Menger gemacht wurden, war auch der, daß ihrem
Entwürfe der soziale Charakter fehle, daß namentlich der nötige Schutz des wirt¬
schaftlich Schwachen gegenüber dem Stärkern, z. B. des bedrängten Schuldners
gegenüber einem harten Gläubiger, weniger als in andern Gesetzbüchern, be¬
sonders dem preußischen Allgemeinen Landrecht, vorgesehen sei. Durch das
bürgerliche Gesetzbuch sollte aber gar keine soziale Reform, sondern nur eine
Zusammenfassung oder einheitliche Gestaltung des zur Zeit in Deutschland
geltenden Rechts herbeigeführt werden, und wenn diese Aufgabe erreicht werden
soll, muß eine Vermischung beider Aufgaben im allgemeinen vermieden werden.
Eine soziale Reform kann auch durch ein bürgerliches Gesetzbuch nur in be¬
schränktem Maße und nur insoweit herbeigeführt werden, als es sich um be¬
stimmte, klar bezeichnete und berechtigte Forderungen handelt. Ein solches
Gesetzbuch soll zwar der künftigen Nechtseutwicklnng nicht vorgreifen, sondern
womöglich die Wege bahnen. Aber es muß natürlich auf der gegenwärtigen
Rechtsordnung beruhen und den zur Zeit geltenden Rechtsanschauungen ent¬
sprechen. Unreife oder uuvergohrne Ideen oder Neformgednnken, die lediglich
von einem kleinen Kreise von Personen gehegt werden, eignen sich nicht zur
Berücksichtigung in einem Gesetzbuch, weil sie noch nicht in allgemeinen Rechts-
sätzen ausgeprägt werden können, oder weil diese Sätze doch dem allgemeinen
Rechtsbewußtsein nicht entsprechen würden. Das gilt besonders für Staaten,
in denen die Gesetzgebung nicht in der Hand eines unbeschränkten Herrschers
liegt; denn die Mehrheit der Volksvertretung wird regelmäßig von den gel¬
tenden, nicht von den erst im Keime vorhandnen Anschauungen beherrscht, die
vielleicht in der Zukunft einmal Geltung erlangen. In einer absoluten Mon¬
archie können, wenn der Monarch oder sein Ratgeber der Zeit vorausgeeilt
ist, auch Anschauungen in einem Gesetzbuch durchgeführt werden, die der Mehr-
heit der Bevölkerung »och fremd sind. Aber solche Reformen sind, wie das
Beispiel Josephs II. beweist, anch in absolut regierten Staaten schwer durch¬
zuführen und verfehlen oft ihren Zweck. Jedenfalls liegen bei uns die
Verhältnisse keineswegs so, daß eine radikale Reform bei Gelegenheit der
Einführung eines bürgerlichen Gesetzbuchs durchführbar oder auch nur wünschens¬
wert wäre. Im einzelnen konnte dem ersten Entwurf der Vorwurf gemacht
werden, daß er manchmal zu sehr an dem starren Recht festhalte und den
Schutz des wirtschaftlich Schwachen gegen Übervorteilung und Ausbeutung,
sowie die Anforderungen der Billigkeit zu wenig berücksichtige. Auch in dieser
Beziehung hat aber die zweite Kommission »och vieles gebessert. Wie von
andrer Seite richtig bemerkt worden ist, laßt der Entwurf neben dem strengen
Recht in weitem Umfange auch für Anwendung der Billigkeit Raum und wird
jetzt den gesteigerten Ansprüchen der Gegenwart ans Schutz des wirtschaftlich
Schwache» in höherm Grade gerecht, als irgend ein andres europäisches Gesetz¬
buch. Im Vergleich mit dein bisherigen Rechtszustande ist dabei vielfach ein
großer Fortschritt gemacht worden. Weitere Verbesserungen aber werden sich
viel leichter einführen lassen, wenn erst ein einheitliches Gesetzbuch vorliegt,
als bei dem Zustande der jetzigen Zersplitterung des Rechts. Die Einzel¬
staaten können auf diesem Gebiete wenig thun, und das Reich kann nicht
seine Thätigkeit darauf richte», das Landesrecht bald da bald dort in einzelnen
Punkten abzuändern. Durch das Verlangen nach einem Aufschub auf unbe¬
stimmte Zeit würde wegen der Ungewißheit über die künftigen Verhältnisse
das Werk in hohem Grade gefährdet werden. Außerdem würde die notwen¬
dige Beseitigung von Mängeln ans dem Gebiete des Handelsrechts und Proze߬
rechts mindestens sehr hinausgeschoben werden; denn das bürgerliche Gesetz¬
buch macht eine Revision des Handelsgesetzbuchs, der Zivilprozeßordnung und
der Konkursordnung erforderlich, eine zweimalige Umarbeitung dieser Gesetz¬
bücher in einem kurzen Zeitraum ist aber nicht wünschenswert.
Daß viele Freunde der Rechtseinheit einen Aufschub mit Rücksicht auf
die „soziale Reform" wünschen, läßt sich nur dadurch erklären, daß in späterer
Zeit sür soziale Bestrebungen eine bessere Stimmung oder eine günstigere
politische Situation erwartet wird. Aber bei eiuer solchen Zukunftspolitik
könnte nun nie zu einem bürgerlichen Gesetzbuch gelangen. Die politische und
soziale Entwicklung steht niemals still, sondern schreitet immer fort. Auch
nach Jahrzehnten könnte mit demselben Recht wie jetzt die Forderung erhoben
werden, mit Rücksicht auf die in Zukunft zu erwartenden Änderungen der
politischen Lage oder der öffentlichen Meinung die Einführung des bürger¬
lichen Gesetzbuchs noch zu verschiebe». Wer das thut, gleicht dem Manne,
der am Ufer eines Flusses sitzt und wartet, bis alles Wasser abgelaufen sein
wird. Ein Entwurf, der unsern jetzigen Verhältnissen entspricht, und mit dem
sich auch die Regierungen einverstanden erklären, liegt vor; der Reichstag
braucht nur zuzugreifen, und die Rechtseinheit ist auf dem wichtigsten Gebiete
verwirklicht, der beklagenswerten Zersplitterung ist ein Ende gemacht. Ein
Hinausschieben des Entschlusses auf eine unbestimmte künftige Zeit, wo ein
vollkommner, von Mängeln freier Entwurf vorgelegt werden könne, stellt das
ganze Werk in Frage. Dieser Zeitpunkt ist vielleicht der schwäbische „Nim¬
merlestag," der nie erscheint; jedenfalls wird sich, wenn die jetzige Gelegenheit
nicht benutzt wird, nicht so bald wieder eine andre passende finden. Die Ein¬
führung aufzuschieben, weil das Gesetzbuch nicht in jeder Beziehung gefällt,
wäre fast so unverständig, als wenn die Begründung des deutschen Reichs
oder des norddeutschen Bundes verschoben worden wäre, weil die von Bismarck
vorgelegte Verfassung nicht allen Wünschen entsprach.
Auch die gegenwärtige Zusammensetzung des deutscheu Reichstags kann
eine Hinausschiebung nicht rechtfertigen. Es handelt sich nicht um eine An¬
gelegenheit einzelner Parteien, sondern um ein dringendes Interesse des ganzen
deutscheu Volks. Auch ist der Reichstag sehr wohl imstande, zu beurteilen,
ob der Entwurf im ganzen den Bedürfnissen und den vorhandnen Kräften
entspricht und den jetzigen Zuständen gegenüber einen Fortschritt bildet. Die
Ausführungen von Petrazyeki, auf die Lobe Bezug genommen hat, können
aber einen Aufschub am allerwenigsten rechtfertigen. Wenn sie richtig wären,
würden sie eher einen Grund zur Beschleunigung bilden.
Petrazyeki sagt allerdings, daß auch der zweite Entwurf trotz unleugbaren
Verbesserungen ein schlechtes Gesetzbuch sein wurde. Aber das gilt nach seiner
Auffassung von allen bisherigen Gesetzbüchern, weil die Wissenschaft noch nicht
erfunden sei, die lehre, wie ein gutes, die Verteilung des Volkseinkommens
und der vom Volk geschaffnen Güter regelndes bürgerliches Gesetzbuch her¬
gestellt werden könne. Er giebt ausdrücklich zu, daß die vou ihm gewünschte
Reform zur Zeit noch nicht durchgeführt werden könne, und der zweite Ent¬
wurf „diejenige Vollkommenheit aufweise, die nach den gesetzgeberischen
Kräften der heutigen Zeit überhaupt zu erreichen sei." Ja er spricht die
Überzeugung aus, daß dieser Entwurf Gesetzeskraft erhalten werde, obgleich
bei seiner Ausarbeitung die noch nicht vorhandne neue Wissenschaft der zivil-
rechtlichen Sozialpolitik oder Zivilpvlitik noch nicht habe benutzt werden können.
Er meint nur, ohne diese volkswirtschaftliche Wissenschaft, die im wesentlichen
„deduktiv" Verfahren, also von allgemeinen Sätzen ausgehen müsse, aber eine
Menge empirisches Kontrollmaterial brauche, könne ein gutes Gesetzbuch über¬
haupt nicht geschaffen werden. Übrigens ist Petrazyeki weit von der Meinung
entfernt, daß er selbst imstande sei, eine „Theorie der sozialpolitischen Me¬
thode" zu liefern; er hält das sür eine Aufgabe der Zukunft, die nur durch
die Mitarbeit vieler befriedigend gelöst werden könne. Er verlangt zu diesem
Zweck die Gründung von besondern Lehrstühlen, Vereinen und Kongressen,
die Beschaffung statistischer Unterlagen und Veranstaltung von Enqueten.
Auch nimmt er die Mitarbeit von Nationalökonomen in Anspruch. Es handelt
sich also um ein — wenn überhaupt — erst in ferner Zeit zu verwirklichendes
Unternehmen. Inzwischen, solange die neue Wissenschaft nicht besteht, müssen
sich eben die Völker mit den bestehenden Gesetzbüchern behelfen, und da kann
es doch kein Unrecht sein, daß die schlechten Gesetze, die jetzt in Deutschland
Geltung haben, soweit es mit unsern unvollkommnen Mitteln möglich ist, ver¬
bessert und zu einem einheitlichen Ganzen zusammengefaßt werden. Was
Petrazycki erstrebt, ist gar nicht so neu, wie es auf den ersten Anblick erscheint.
Er will eine neue Rechtsphilosophie anregen, die aber von der bisherigen ver¬
schieden sein und hauptsächlich mit Hilfe der Volkswirtschaftslehre und der
Psychologie beschafft werden soll. Das ergiebt sich auch daraus, daß es sich
bei der „Zivilpolitik" nach seiner Darlegung in gewissem Sinne um eine
„Wiedergeburt des Naturrechts" handelt. Ob ein solches Unternehmen be¬
rechtigt ist und Erfolg verspricht, insbesondre ob ans dein Wege der bloßen
Deduktion mehr als bei dem bisherigen Verfahren erreicht werden wird, ist
mindestens zweifelhaft. Jedenfalls kann das deutsche Reich die durch die
dringendsten politischen und sonstigen Bedürfnisse gebotne Verwirklichung der
Rechtseinheit nicht vertagen, bis sich herausgestellt hat, ob die neue
Wissenschaft zu, stände kommt.
Der Reichstag hat nicht bloß das Recht, sondern auch die Pflicht, den
Entwurf genau zu prüfen. Für ihn ist weder die Autorität der Kommission
oder des deutschen Juristentags, noch die der Regierungen maßgebend. Er
darf nur dann seine Zustimmung zur Einführung des Entwurfs geben, wenn
er die Überzeugung gewinnt, daß dadurch nicht bloß einheitliches Recht ge¬
schaffen, sondern auch der bisherige Rechtszustand wesentlich verbessert wird.
Ja er hat die Verpflichtung, soweit es in seiner Macht steht, noch weitere
Verbesserungen herbeizuführen. Ob diese aber auf dem Wege einer Umarbei¬
tung durch eine besondre Kommission erreicht werden kann, ist gleichfalls vom
Reichstage zu prüfen. Lobe bekämpft nicht bloß die Ansicht, daß der Reichs¬
tag nur zwischen Annahme und Ablehnung des Entwurfs zu wählen habe,
sondern empfiehlt gerade die Durchberatung durch eine besondre Neichstags-
kommissivn, die auch bei den sogenannten Justizgesetzen geschehen sei. Er über¬
sieht aber, daß solche Veratungen bei größer» Gesetzbüchern große Gefahren
mit sich bringen, insbesondre die Einheit des Gesetzbuchs dadurch leicht zerstört
wird. Bei der Zivil- und der Strafprozeßordnung haben, wie allgemein be¬
kannt ist, die von der Reichstagskonnnissivu vorgenvmmnen Änderungen sehr
oft Zweifel und Streitfragen zur Folge gehabt, die sonst vermieden worden
wären. Daß sich von allen Justizgesetzen die Konkursvrdnnng am besten be¬
währt, hat zum Teil darin seinen Grund, daß an ihr von der Neichstags-
kommission am wenigsten geändert worden ist. Ebenso hat es dem deutschen
Handelsgesetzbuch und der deutschen Wechselordnung sicher zum Vorteil gereicht,
daß sie so eingeführt worden sind, wie sie die Kommission abgefaßt hatte.
In der Regel wird ja die hergebrachte parlamentarische Behandlung nicht zu
umgehen sein, da die Entwürfe nur die in den Ministerien herrschenden An¬
sichten zum Ausdruck bringen und für gewöhnlich nicht einer Behandlung
unterzogen werden können, wie sie der Entwurf zu einem bürgerlichen Gesetz¬
buch erfahren hat. Bei diesem aber sprechen Gründe der verschiedensten Art
dafür, daß mit ihm ebenso verfahren werde wie mit dem deutschen Handels¬
gesetzbuch oder doch wenigstens auf eine vollständige Durchberatung und Um¬
arbeitung durch eine Ncichstagskommission verzichtet werde. Zunächst kommt
hier besonders viel darauf an, daß dessen einheitlicher Charakter nach Inhalt
und Form gewahrt werde. Sodnnn kann man es Wohl offen ciussprcchen,
ohne den im Reichstage befindlichen Juristen zu nahe zu treten, daß es nicht
möglich sein wird, ans ihrer Mitte eine Kommission zu bilden, die, was
Kenntnis und Beherrschung des Stoffes betrifft, den frühern Kommissionen
überlegen, ja auch nur ebenbürtig, und von der wirklich eine Verbesserung des
Entwurfs zu erwarten sei. Wird dieser ebenso behandelt wie die gewöhnlichen
Gesetzentwürfe, so wird auch die Ncichstagskommission bei einer gründlichen
Prüfung aller einzelnen Vorschriften nach Inhalt und Form viele Jahre
brauchen, bis sie ihre Arbeit beendigt hat; denn jedes Mitglied der Kommission
wird sich natürlich sür verpflichtet halten, in jeder Richtung nach bestem Wissen
und Gewissen seine Ansicht zur Geltung zu bringen, und daraus werden sich
viele Änderungen ergeben. Der jetzige Reichstag wird dann die Arbeit wahr¬
scheinlich nicht vollenden können, sie wird also voraussichtlich von einer teil¬
weise anders zusammengesetzten Kommission fortgesetzt werden müssen. Aber
auch wenn es nicht dazu käme, würde doch der Reichstag selbst, dem die
Entscheidung zusteht, vor einer andern Vorlage stehen, die hinsichtlich ihres
einheitlichen Charakters und der folgerichtigen Durchführung ihrer Grund¬
gedanken nicht dieselbe Bürgschaft böte, wie der jetzige Entwurf. Ist doch
die Wahl zur Kommission auf eine kleinere Zahl von Personen beschränkt,
von denen nicht durchweg erwartet werden kann, daß sie mit dem Stoff so
vertraut sind, wie es die Mitglieder der beiden Fachkommissionen waren,
für die die geeigneten Personen ohne jede Beschränkung ausgewählt werden
konnten. Wird vollends die Ncichstagskommission wie gewöhnlich von den
einzelnen Fraktionen nach Verhältnis ihrer Mitgliederzahl bestimmt, so ver¬
ringert sich die Aussicht auf eine geeignete Zusammensetzung immer mehr.
Abgesehen davon, daß die geeigneten Persönlichkeiten nicht gerade in diesem
Verhältnis unter die Fraktionen verteilt sein werden und im einzelnen viel¬
fach die Stimmen der Fraktionen den Ausschlag geben können, die von
einem bürgerlichen Gesetzbuch für ganz Deutschland überhaupt nichts wissen
wollen, besteht die Gefahr, daß in die Kommission Personen gewühlt werden,
die wohl als Politiker, aber nicht als Juristen eine hervorragende Stellung
einnehmen. Wird aber anders verfahren, so ist — ganz abgesehen von der
stets vorhandnen Gefahr, daß der Entwurf der Reichstagskommission für den
Bundesrat nicht annehmbar ist ^ keinerlei Gewähr dafür gegeben, daß dieser
Entwurf die Mehrheit des Reichstags für sich haben wird.
Aus dem Gesagten ergiebt sich keineswegs, daß der Reichstag den Ent¬
wurf unbesehen oder doch ohne genauere Prüfung annehmen soll, oder daß
eine Verbesserung des Entwurfs ganz ausgeschlossen sein soll. Ob der Entwurf
im ganzen einen Fortschritt bildet und seine Einführung wünschenswert ist,
darüber werden sich die einzelnen Fraktionen ohnedies schlüssig machen. Sollte
die Frage wider Vermuten verneint werden, so wird es am besten sein, daß
der Entwurf abgelehnt, und deutlich ausgesprochen wird, welche Gründe dafür
bestimmend sind. Dann kann der Bundesrat darüber beschließen, ob er den
Entwurf durch die zweite Gesetzgebnugskoiumissivu nochmals umarbeiten lassen,
oder ob der Reichstag aufgelöst und die Entscheidung des dentschen Volkes
angerufen werden soll. Wird aber die Frage bejaht, so wird sich die erforder¬
liche Dnrchberatnug im Plenum von selbst auf einzelne wichtigere Fragen be¬
schränken, die die Mehrheit einer Fraktion bestimmt oder eine etwa zu diesem
Zweck gebildete freie Kommission, wie sie schon öfter mit Erfolg thätig war.
Werden dann im einzelnen Änderungen beschlossen, so kann der Vorschlag einer
neuen Fassung einer Neichstagskommission überlassen werden, ohne daß die
oben erwähnte Gefahr entsteht. Auch in diesem Falle kann der Bnndesrat
den Entwurf zurückziehen oder den Reichstag auflösen, wenn so viele oder so
tief eingreifende Änderungen beschlossen werden, daß der Entwurf dadurch für
ihn unannehmbar wird. Eine Verschleppung der Sache auf unbestimmte Zeit
ist aber dann ausgeschlossen, und eine Umgestaltung des Entwurfs, die ihn
unbrauchbar machte, nicht wahrscheinlich. Die Mehrheit des Reichstags wird
sich, wenn sie überhaupt ein bürgerliches Gesetzbuch will, ohne große Schwierig¬
keit mit den Regierungen verständigen können. Obwohl die Annahme des
Entwurfs, die der Bundesrat wohl beschließen wird, auch beim Reichstag zu
wünschen wäre, so könnte doch auch bei einer Durchberatung im Plenum die
Verwirklichung der Rechtseinheit erreicht werdeu. Der Durchberatuug und
Umarbeitung durch eine Reichstagskommissiou aber wäre die Ablehnung des
Entwurfs bei weitem vorzuziehen, weil durch sie volle Klarheit geschaffen würde.
Ist sich die Mehrheit des Reichstags der nationalen Bedeutung der Frage
und ihrer eignen Verantwortlichkeit bewußt, so wird er das große Werk, auf
das das deutsche Volk seit Jahrzehnten mit Sehnsucht wartet, und auf das
eine unendliche Mühe und Sorgfalt verwendet worden ist, nicht in dem Augen¬
blick zu Falle bringen, wo es nur eines festen Entschlusses bedarf, um es
durchzuführen. Dann werden nicht bloß für die Nechtsentwicklung neue Bahnen
eröffnet werden: das neue Band, das dann die deutscheu Staaten und Stämme
umschlingt, wird sich auch hinsichtlich der politischen und wirtschaftlichen Ver-
hültnisse als segensreich erweisen. Dann wird man sich aber auch des Reichs¬
tags, dem es vergönnt gewesen ist, in Verbindung mit den deutschen Re¬
gierungen die Rechtseinheit auf das Gebiet des bürgerlichen Rechts zu er¬
strecken, noch in spätern Zeiten mit Anerkennung und Dankbarkeit erinnern.
le zweite sächsische Ständekammer setzt sich aus 37 Abgeordneten
der Städte und 45 Abgeordneten der ländlichen Wahlbezirke zu¬
sammen. Von den 82 Abgeordneten gehören 14 der sozial¬
demokratischen Partei an. Bei den Dritteilserneuerungswcihlen
des letzten Herbstes ist es der Sozialdemokratie trotz eines zum
Teil sehr beträchtlichen Stimmenzuwachses nur gelungen, diesen Besitzstand zu
behaupten.
Die Kammer hat die sozialdemokratischen Abgeordneten von jeher aus den
sogenannten Deputationen ausgeschlossen und daran auch festgehalten, nachdem
es die Sozialdemokratie im Jahre 1891 zuerst auf mehr als zehn Mitglieder
und damit zu einer eignen Kammerfraktion gebracht hatte. Ja um zu ver¬
hüten, daß sich in einer der fünf durch das Los gebildeten Kammerabteilungen
zufällig eine Mehrheit für die Wahl sozialdemokratischer Deputationsmitglieder
zusammenfinde, ist im Jahre 1894 die Geschäftsordnung dahin abgeändert
worden, daß die Wahl der Deputationen den Abteilungen entzogen und auf
das Plenum der Kammer übertragen worden ist. Da um alle Gesetzes¬
vorlagen von Bedeutung sowie der Staatshaushaltsplan fast ausnahmslos
den Deputationen zur Vorberatung überwiesen zu werden pflegen, so ruht in
ihnen der Schwerpunkt der ganzen Abgevrdnetenthätigkeit. Die grundsätzliche
Ausschließung von den Deputationen bedeutet also für eine Kammerfraktivn
fast die Unmöglichkeit, an fruchtbarer, praktischer Arbeit sich zu beteiligen, und
läßt ihr nur noch den Weg, in den Plenarbemtungen ihre Stimme zu erheben.
Daß das die Sozialdemokraten in sehr vernehmlichen und nicht immer wohl¬
gesetzten Worten gethan und gegen den über sie verhängten Bannspruch stets
von neuem wieder aufs heftigste protestirt haben, kann nicht Wunder nehmen.
Augenscheinlich trägt sich die Kammer mit der Besorgnis, die Anzahl der
sozialdemokratischen Abgeordneten werde in nicht zu ferner Zeit so hoch an¬
wachsen, daß es nicht mehr möglich sein werde, dieses Absperrungssystem auf¬
recht zu erhalten. Ja ängstliche Gemüter sehen schon den Tag kommen, wo
es die Sozialdemokratie zur Mehrheit in der Kammer bringen werde. Es
liegt ans der Hand, daß diese Befürchtung thöricht ist — solange wenigstens
die Kammerpolitik nicht die Mehrheit auch der bürgerlichen Bevölkerung mit
aller Gewalt an die Seite der Sozialdemokratie gedrängt haben wird. Denn
die 45 ländlichen werden die 37 städtischen Wahlbezirke auf absehbare Zeit
immer niederzuhalten imstande sein. Zwar sind einige ländliche Bezirke bereits
so stark von der Industrie durchsetzt, daß vier von ihnen an die Sozial-
demvkrntie verloren gegangen sind. Dafür ist aber wieder eine ganze An¬
zahl kleiner Landstädte durchaus vor sozialdemokratischen Mehrheiten sicher.
Wenn aber selbst das Schreckliche geschähe, daß eine solche Mehrheit in das
Dresdner Landhaus einzöge, so ist doch gar nicht daran zu denken, daß die
feudale erste Kammer jemals zu sozialdemokratischen Gesetzesvorschlägen ihre
Zustimmung gebe. Nicht einmal eine Budgetverweigerung wäre zu befürchten,
da hierzu eine Zweidrittelmehrheit in einer der beiden Kammern nötig ist.
Und selbst wenn auch die erste Kammer zur Schwäche neigen sollte, so gehört
doch zum Zustandekommen von Gesetzen endlich noch die Zustimmung der
Krone, die als lebenskräftige Macht auch in Sachsen in voller Geltung steht.
Was fürchtet man also eigentlich? Antwort: den Umsturz der sächsischen
Staats- und Gesellschaftsordnung. Weshalb? Weil die Sozialdemokratie ein
Bierteil, ja vielleicht ein Dritten der Kanunersitze erobern wird. Und dann?
Dann werden wir sie nicht länger von den Deputationen fernhalten können.
So laßt sie doch herein! Ja, dort werden sie doch nur Skandal machen. Aber
ihr habt es ja noch gar nicht versucht! Das werden wir auch schön bleiben
lassen. Habt ihr denn in den Deputationen Dinge zu verbergen, die das Licht
zu scheuen haben? Nein, aber das machen wir lieber unter uns ab. Aber
wenn es so bequemer ist, ist es auch klug und gerecht? Thut nichts, der Jude
wird verbrannt. Sind denn nicht die sozialdemokratischen Abgeordneten gerade
so gut von sächsischen Wählern in die Kammer gesendet worden wie ihr? Thut
nichts, der Jude wird verbraunt. Fürchtet ihr denn nicht, es könnte euch eines
Tages einmal Gleiches mit Gleichem vergolten werden? Thut nichts, g-vrös
nous is clöluFv! So ungefähr lauten die Gründe, mit denen man den kürzlich
gefaßten Beschluß der konservativen, nationalliberalen und fortschrittlichen
Kammermehrheit verteidigen hört, durch den die Regierung aufgefordert worden
ist, ein neues, auf dem Dreiklassensystem und auf indirekten Wahlen auf¬
gebautes Wahlgesetz vorzulegen.
Das jetzt geltende Wahlrecht kennt leine Klassenwahl, beruht auf direkten
Wahlen und verlangt vom Wahlberechtigten nichts weiter, als den Besitz eines
mit Wohnsitz versehenen Grundstücks oder einen Steuerzensus von mindestens
drei Mark, was einen: Jahreseinkommen von über 600 Mark gleichkommt.
Es ist seit dem Jahre 1868 unverändert in Geltung, und es wird nicht viel
öffentlich-rechtliche Gesetze geben, die einen Zeitraum von 22 Jahren hindurch
so vollständidig den Wünschen und Bedürfnissen einer großen Volksmehrheit
entsprochen hätten. Der Satz Haistg. non rnovErv war vielleicht niemals mehr
am Platze als hier. Es ist richtig, daß die Sozialdemokratie ans jeden Landtag
und so auch jetzt wieder mit dem Antrag auf Einführung des allgemeinen
gleichen Wahlrechts und auf Herabsetzung der Altersgrenze von 25 auf 21 Jahre
gekommen ist. Er war aber von jeher so aussichtslos, daß man ihn — ganz
mit Recht — gar keiner Diskussion gewürdigt hat. Wenn er diesmal mit
einem „Gegenstoß" erwidert worden ist, auf den die Taktiker der Kammer¬
mehrheit nicht wenig stolz sind, so kann man den Sozialdemokraten von Herzen
gönnen, das ihnen das Zweischneidige und Gefährliche, an dem bestehenden
Verfassungsrecht ohne alle Not herumzumodeln, einmal recht nachdrücklich zu
Gemüte geführt worden ist. Auf einen Theaterkoup einen andern, auf einen
Schelmen anderthnlben — ganz damit einverstanden. Aber etwas ganz andres
ist es, aus so harmlosen Demonstrationen bittern Ernst zu machen, dem Gegner
nicht bloß die stumpfen Bühnenwaffen aus der Hand zu schlagen, sondern ihn
ein für allemal mundtot machen zu wollen. Am tiefsten zu bedauern ist aber,
daß nun auch die Regierung zu der vvrgeschlagnen Abänderung des Wahl¬
rechts die Hand bieten zu wollen erklärt hat.
Wir lassen uns hier auf die Theorie des besten und vollkommensten Wahl¬
rechts nicht ein. Jedenfalls gilt das Dreiklassenwahlrecht deshalb mit Recht
für das schlechteste, weil es in seiner unvermeidlichen plutokratischen Ausge¬
staltung so nackt und brutal wie kein andres die Absicht zur Schau trägt, mit
Hilfe der beiden obersten Klassen, sagen wir von fünf und fünfzehn Prozent der
Besitzenden, den Nest der achtzig Prozent Besitzlosen jederzeit niederzustimmen.
Glaubt man wirklich, in Zeiten eines überaus empfindlich gewordnen Rechts¬
gefühls mit diesem Wahlsystem einen Rechtszustand schaffen zu können, der
jemals Aussicht hat, anch nur von den ruhig urteilenden Staatsbürgern als
eine billige und gerechte Verteilung der öffentlichen Rechte anerkannt zu
werden?
Die sächsische Bevölkerung ist dnrch ihre Intelligenz, ihren Fleiß und ihre
Gutartigkeit bekannt. Sie ist politisch leicht erregt, aber auch leicht wieder er¬
schlafft. Lebhafte Teilnahme an der Reichspolitik steht in merkwürdigem Gegensatz
zu einer fast stumpfen Gleichgültigkeit gegen die eignen Landesangelegenheiten,
soweit sie über die nächsten Kirchturminteressen hinausragen. Diese Teilnahm¬
losigkeit und Unkenntms erklärt sich bis zu einem gewissen Grade daraus,
daß ein großer Teil der heutigen sächsischen Bevölkerung ans den angrenzenden
Reichsgebieten zugewandert ist. Sie wird aber namentlich auch gefördert
dnrch eine Lokalpresse, die, soweit sie überhaupt Politik treibt, sich beinahe
ängstlich hütet, Fragen von allgemeinem sächsischen Staatsinteresse auch nur
zu berühren. In der ganzen sächsischen bürgerlichen Presse kann eigentlich
nur ein einziges Blatt den Anspruch erheben, als sogenanntes großes Tages-
organ zu gelten, die Leipziger Zeitung. Sie ist vortrefflich redigirt, befriedigt
selbst den anspruchsvollen Zeitungsleser, fällt freimütige, gesunde Urteile,
läßt den Gegner zu Worte kommen und trifft nicht selten auch in sozialen
Dingen den Nagel auf den Kopf, wenn sie nicht gerade, was sie freilich auch
thut, der Nepressiouspolitik das Wort redet. Gerade die Leipziger Zeitung
aber ist Regierungsblatt im eigentlichen Sinne des Worts, d. h. sie ist Eigentum
des Staats und wird von einem Staatsverwaltungsbeamten geleitet. Es ist
deshalb selbstverständlich, daß sie für die von der Regierung gutgeheißene
Wahlrechtsänderung eintritt. Die kleine bürgerliche Presse sucht sich, so gut
es geht, darüber hinwegzuschweigen. Die Folge ist daher, daß auch in dieser
wichtigen Frage die Presse ihrer schönen Aufgabe, die Regierung über die
wahre Stimmung des Landes aufzuklären, nicht genügt.
Die Gerechtigkeit erfordert, anzuerkennen, daß die sächsische Verwaltung
von einer wohlunterrichteten, arbeitsfreudigen, für alle Zweige der materiellen
Wohlfahrt eifrig sorgenden Büreaukrntie geleitet wird. Aber auch sie hat dem
Schicksal nicht entgehen können, dem das patriarchalische Regierungssystem
heute überall begegnet: man weiß ihr keinen Dank mehr, wenn sie heute noch
als Wohlthat glaubt gewähren zu können, was die Massen als Recht meinen
fordern zu dürfen. Sie hat sich von dem gewöhnlichen Fehler gerade der
pflichttreuen Beamtenschaft nicht ganz frei halten können, auf die freien Kräfte
im Volksleben mit einem gewissen Mißtrauen zu blicken. So ist der Zu¬
sammenhang mit den breiten Massen mehr und mehr verloren gegangen, man
ist empfindlich gegen die Kritik geworden, man hat die staatlichen Machtmittel
dagegen ins Feld geführt, zu denen ein rigoroses, durch keinen Vcrwaltungs-
gcrichtshof regulirtes Vereins- und Versammlungsrecht gehört, und so ist es
heute in Sachsen zwischen den Verwaltungsbehörden und der Sozialdemokratie
zu einem Verhältnis gekommen, das man mit einer Art von Kriegszustand
vergleichen darf. Es ist richtig, daß dieser Feldzug, um bei dem Bilde zu
bleiben, von der Sozialdemokratie ohne Bundesgenossen geführt wird. Die
übrige Bevölkerung sieht dem Kampfe zu, sie ergreift uicht Partei für die
Sozialdemokraten, aber auch nicht — und das giebt zu denken — nicht
Partei für die Behörden. Auch das Bürgertum hat gegen sie allerhand heimliche
Schmerzen, wenn ihnen auch nur bei Empfang des Steuerzcttels und am Bier¬
tisch zuweilen Luft gemacht wird. Man ist äußerlich loyal, aber kein Wissender
bezweifelt, daß es auch im sogenannten Mittelstande bis ziemlich hoch hinauf
nicht an Unzufrievnen fehlt. Ein äußerliches Anzeichen dafür ist das plötz¬
liche gewaltige Aufflammen der antisemitischen Bewegung, die in dem fast juden-
reinen Sachsen aus sich selbst heraus gar uicht zu erklären wäre. Sie schöpft
ihre Nahrung aus einer weit verbreiteten Oppositionsstimmnng des Mittel¬
standes, der allerdings nicht mit der Sozialdemokratie gehen mag und so lange
es geht, es auch mit den Behörden nicht offen verderben möchte. Drückte man
bei der geplanten Änderung des Wahlrechts diese Volkskreise in die unterste
der neuen drei Wählerklasseu hinab, so würde sich ein Sturm der Entrüstung
erheben, dem die Kammermehrheit kaum gewachsen sein würde. Glaubt man
aber aus ihnen die Kerntruppen der zweiten Wählerklasse bilden zu können, so
wird man gut thun, mit dem Gedanken zu rechnen, daß sie eines Tages mit
der dritten Wählerklasse gemeinschaftliche Sache machen und die Geldoligarchie
der obersten Wählerklasse als den gemeinsamen Feind bekämpfen werden. Unter
allen Umständen wird auch der mittlere Bürgerstand, gleichviel ob er zwei
oder bloß eine bevorzugte Wählerklasse über sich thronen sieht, die Änderung
des gegenwärtigen Wahlrechts als eine Verschlechterung auch zu seinem Nach¬
teil ansehen. Wir fürchten, die ersten Opfer dieser drohenden Koalition der
beiden untern Wählerklassen werden die Kmnmcrpolitiker sein, die sich jetzt um
die Ehre streiten, die Väter des neuen Wahlrechts zu heißen.
Aber auch noch aus einem andern Grnnde würden wir die geplante
Maßregel bedauern. Das jetzt noch geltende Wahlsystem wurde in Sachsen
eingeführt, weil man hinter dem allgemeinen Wahlrecht des soeben begründeten
norddeutschen Bundes nicht allzuweit zurückzubleiben wünschte. Man hatte
die Popularität des allgemeinen Wahlrechts richtig beurteilt und wollte un-
liebsame Vergleiche zwischen den politischen Rechten im Reiche und im eignen
Lande vermeiden. Diese Vergleiche würden heute, wo das Reich noch viel
näher an den Einzelnen heranreicht als früher, mit aller Schärfe herausge¬
fordert werden, wenn die mit dem vollen Reichstagswahlrecht ausgestatteten
untern Klassen in den neuen sächsischen Wahlgarten zwar ihre Stimme hinein¬
werfen, aber beileibe nicht darin spazieren gehen dürften. Man kann nicht
sagen, daß sich die Sozialdemokratie bisher feindselig gegen die Sonder¬
existenz der einzelnen Bundesstaaten gestellt hätte. In Sachsen gab es eine Zeit,
wo der Partikularismus sogar unbedenklich der Sozialdemokratie vor einer ge¬
wissen andern Partei, die im Jahre 1866 als annexionistisch bezeichnet wurde,
den Vorzug gab. Noch im Frühjahr 1377 wurde in der Haupt- und Residenz¬
stadt Dresden Bebel mit großer Mehrheit gegen den Nationalliberalen Mayhoff
gewählt. Erfährt die Sozialdemokratie jetzt durch die Gesetzgebung ihres
Heimatlandes eine Verkümmerung der politischen Rechte? die sie als ein ihr
angethanes schreiendes Unrecht empfindet, so kann es gar nicht ausbleiben,
daß sie den Haß, den sie gegen die Staatsordnung überhaupt empfinden mag,
mit doppeltem und dreifachem Ingrimm gegen dieses ihr Heimatland kehren und
nur vom Reiche noch Besserung erwarten wird. Nun schmeichelten sich zwar
die Redner der Kammermehrheit, daß sich das Reich beeilen werde, dem Beispiele
Sachsens zu solgen. Wir fürchten aber, die Staatsweisheit der Dresdner
Kammerpolitiker werde beim Bundesrat und Reichstag doch nicht so hoch im
Kurs stehen, und wir glauben, daß es mit der Beseitigung des allgemeinen
Wahlrechts für ganz Deutschland jedenfalls gute Wege haben wird.
Wir wissen uns frei von der bleichen Furcht vor dem jetzt wieder um¬
gehenden Umstnrzgespenste. Wir glauben auch nicht, daß die sächsische Sozial-
demokratie nun schleunigst ihr Heimatland umstürzen werde, selbst wenn sie eine
tiefeinschncidende Verkümmerung ihrer politischen Rechte erlitten haben wird. Es
kann aber doch, so sollten wir meinen, den Staatsmännern eines deutschen Einzel¬
staates nicht ganz gleichgiltig sein, wenn seine Sonderexistenz etwa von der Hälfte
der eignen Unterthanen angefeindet wird. Wir leben im Zeitalter der politischen
Überraschungen. Glaubt man ungestraft die Axt an die eine Bestimmung der
Reichsverfassung, z. B. an das allgemeine Wahlrecht legen zu können, so können
leicht auch andre, so kann der ganze bundesstaatliche Aufbau des Reiches
ins Warte« kommen. Wir bezweifeln, daß die Volksvertretung eines Einzel¬
staates, die nur von etwa 20 Prozent des Volkes berufen über ihm gewisser¬
maßen in der Lust schwebt, eine zuverlässige Stütze auch des staatsrechtlichen
Verhältnisses zum Reiche sein werde. Man sollte nicht vergessen, daß sich die
ehemaligen „Annexionisten" seiner Zeit fast ausschießlich aus den besitzenden
Klassen rekrutirten. Ein so hoch entwickelter Industriestaat wie Sachsen sollte
doch, wie es z. B. in dem hochindustriellen England gelungen ist, zu dem
Hauptstock seiner Bevölkerung, den Industriearbeitern, ein Verhältnis finden
können, daß sie ihn liebgewinnen und auf Gedeih und Verderb auch mit ihn:
und nicht bloß mit dem Neichsgmizen verbunden bleiben wollen.
Wir glauben ja nicht, daß unsre Worte die staatserhaltenden der säch¬
sischen Kammer von ihrem Vorhaben abbringen werden. Wir wünschen nur,
daß sie sich dabei der unter Umständen sehr weittragenden Folgen ihres
Schrittes bewußt bleiben möchten. Die äußerliche Ruhe, die der nichtsozial-
demvkratische Teil der Bevölkerung jetzt noch ausweist, ist trügerisch. Die
Entfernung des einen oder des andern Nadauredners aus den behaglichen
Räumen des Dresdner Landhauses könnte mit der dauernden Entfremdung
bis jetzt zufriedner und gut sächsisch gesinnter Volksteile leicht zu derer be¬
zahlt sein.
el Gelegenheit eines Protestes gegen die glücklicherweise zu Grabe
getragne Umsturzvorlage hat Paul Heyse in der Zukunft erklärt,
daß, da er bereits in seinein letzten großen Roman, dem „Merlin,"
sein Glaubensbekenntnis dentlich genug ausgesprochen habe, dies
doch wohl den Zionswächtern der neuen Vorlage gegenüber nicht
mehr nötig sei. Hieran kann den unbefangnen Leser zweierlei Wunder nehmen.
Erstens ist trotz Heyses Ruhm die Voraussetzung auffällig, daß alle Welt so
mit seinen Worten bekannt sein müsse, daß sie daraus seine Stellung zu den
Kampfgesetzen der Regierung gegen den Umsturz entnehmen könne; zweitens
muß geradezu Staunen erregen die als selbstverständlich hingestellte Ansicht,
daß ein poetisches Kunstwerk die Tendenz ebenso deutlich erkennbar an der
Stirn tragen müsse, wie das Wirtshaus sein Schild. Freilich stimmt mit
dieser Theorie das künstlerische Verfahren des Dichters überein.
Ungefähr zu derselben Zeit, wo der „Merlin" erschien, hatten auch zwei
andre beliebte Romanschriftsteller neue Werke der Öffentlichkeit übergeben,
Friedrich Spielhageu sein „Sonntagskind" und Hans von Hopfen sein „Glän¬
zendes Elend." An allen drei Erzählungen hob die antinaturalistische und
antimoderne Kritik mit besondrer Genugthuung hervor, daß die Verfasser mit
lobenswerter Entschiedenheit Stellung gegen die umstürzlerischen Neigungen
der Gegenwart genommen hätten. Besonders über Paul Heyse hieß es, daß
„unter der Roheit der Angriffe," die gewisse Litteraturrevolutionüre gegen ihn
gerichtet hätten, es sein gutes Recht gewesen sei, „sei es mit Ironie oder dem
Pathos begeisterter Überzeugungstreue die Jrrgünge unsers modernen Geistes¬
lebens zu beleuchten und zu beurteilen."
Daß jeder Dichter das Recht hat, zu deu jeweiligen Äußerungen des
Zeitgeistes Stellung zu nehmen und,- wenn er persönlich in die litterarischen
Händel hineingezogen wird, sich mit aller Schärfe zu verteidigen, das ist so
wenig irgend einem Zweifel unterworfen, daß man darüber kein Wort zu ver¬
liere» braucht. In dem ganzen Vereich öffentlicher Thätigkeit giebt es nie¬
mand, der mehr als der Dichter von der Natur selber dazu gedrängt würde,
der Zeit an den Puls zu fühlen, sein Ohr an die Schwingungen der Volks¬
seele zu legen. Denn gerade seine Aufgabe ist es, in allen Tönen wieder
auszuklingen, was er in den Tiefen erlauscht hat. Aber nur das wenigste
zieht leise und in sausten Akkorden durch die Räume der Welt. Das meiste
schlägt lärmend, häufig beleidigend an das Ohr des Dichters. Nicht das ist
die Frage, ob er überhaupt dazu Stellung nehmen, sondern wie er sie dazu
nehmen soll.
Es mag überflüssig erscheinen, nachdem sowohl theoretisch wie praktisch
die Vergangenheit längst über die Sache entschieden hat, ihre Erörterung hier
noch einmal wieder aufzunehmen, aber die Verwirrung in litterarischen Dingen
ist stellenweise so groß, daß man Mühe hat, nicht bloß die augenscheinlichsten
Thorheiten aus dem Wege zu räumen, sondern auch den einfachsten von hohen,
anerkannten Wahrheiten Raum zu schaffen. Über die Art, wie sich der Dichter
in der Polemik zu verhalten habe, könnte man Beispiele aus allen Ländern und
Zeiten herbeiholen. Hier genügt es, an das von Lessing gegebne zu erinnern.
Jedermann weiß, wie er den Hanptpastor Goetze abgethan hat, und wenn anch
nicht alle Welt über das Wie im klaren ist, so unterläßt sie doch nicht, bei
jeder Gelegenheit auf die Thatsache hinzuweisen, daß im Nathan sein Glaubens¬
bekenntnis enthalten sei. Aus beiden Thatsachen aber kaun hier die dritte ab¬
gezogen werden, daß Lessing sein Verhalten jedesmal nach der Lage der Dinge
einrichtete. Auf den groben Klotz gehörte der grobe Keil, und der schlug
unter den Hieben des schärfsten Verstandes und glänzendsten Witzes unfehlbar
durch. Als es sich aber um die ganze Sache handelte, die nicht bloß die seine,
sondern mehr als jede andre die der Menschheit war, entstand der Nathan,
der noch lange in Kunst und Leben für suchende Menschen der weithin sichtbare
Wegweiser sein wird. In der Kunst nicht weniger als irgend eine der großen
Dichtungen, die das Erbteil aller Völker sind. Lessing war allzu bescheiden,
als er sich selber mehr für einen Mann der Wissenschaft als für einen Dichter
erklärte. Mit dem Nathan allein kann man den Beweis vom Gegenteil führen,
besonders darin, daß der Dichter, der in seinem Kunstwerk zur Menschheit
sprechen will, selber gewissermaßen alles Menschliche abgestreift haben muß.
Gott läßt seinen Regen strömen über Gerechte und Ungerechte; so soll auch
der Dichter jenseits von Gut und Böse seinen Platz haben. Wenn das
Friedrich Nietzsche mit seinen bekannten Worten gemeint hätte, könnte man
ihm nur Recht geben. Es giebt aber keine Dichtung alter und neuer Zeit,
weder Epos noch Drama, worin sich sein Schöpfer unsichtbarer über den
Wolken hielte, aus denen sich Blitz und Donner der Handlung entladen, als
der Dichter Lessing über den dramatischen Vorgängen, die sich in seinem Nathan
abspielen.
Und doch enthält dieses Drama das Glaubensbekenntnis des großen
Mannes. Warum auch nicht? Jedes Lied, jede Dichtung ist ein Teil von
dem Leben und Sein, von dem Glauben und den Zweifeln seines Verfassers;
es kommt nur darauf an, wie es sich äußert. Lessing hat mit dem Verfasser
der Ilias und der Odyssee, mit dem Dichter des Nibelungenliedes, mit Shake¬
speare, mit Cervantes und Goethe das gemein, daß nicht er selber redet und
handelt, sondern daß er das die Menschen thun läßt, die er in seine Dichtung
hineinstellt. Von Lessing sieht und merkt man im Nathan gar nichts; alles,
was geschieht, erscheint „als naturnotwendige Folge der auf die verschiednen
Charaktere wirkenden Beweggründe. Die folgerichtige Durchführung des Ge¬
dankens, der Schönheit der Sprache sind etwas sehr wesentliches, aber sie sind
nicht die Hauptsache. Diese beruht in der völligen Abwesenheit jeder andern
Tendenz, als der, die auf die Wahrheit gerichtet ist. Diese Wahrheit aber
liegt nicht einseitig in dem Subjekt des Dichters, sondern in den Dingen, und
zwar an ihrer Innenseite." Hier soll er sie ergründen und sie dann zur Dar¬
stellung bringen, ohne merken zu lassen, ob sie ihm selber Freude oder Verdruß,
Lust oder Schmerz bereitet. Damit ist seine Thätigkeit keine andre, als die
des ehrlichen Makkers, der von der Wahrheit, die er übermittelt, weder etwas
für sich behält, noch von dem seinigen etwas hinzuthut. Je unmittelbarer diese
Ausrichtung geschieht, d. h. je weniger von Subjekt in ihr haften bleibt, um
so größer ist die künstlerische Wirkung.
Daß es Paul Heyse nur in geringem Maße gelungen ist, in seinem Merlin
sein Glaubensbekenntnis auf die Handlung zu übertragen und sich selber aus
dem Spiele zu halten, soll uns hier nicht mehr bekümmern. Daß aber die¬
selbe Erscheinung auch in seinem neuesten Roman zu Tage tritt, den er „Über
allen Gipfeln" betitelt hat, ist eine Thatsache, die schwer genug wiegt, um ihr
einige Worte zu widmen.
In seiner neuesten Erzählung nimmt Heyse zu nichts geringerm als zur
Nietzschischen Philosophie Stellung. Weshalb auch nicht? Wenn der unglück¬
liche Basler Professor jetzt in so vieler Leute Munde ist, so wäre es geradezu
wunderbar, wenn er nicht auch in irgend einem Buche des berühmten Münchner
Romanciers parndirte. Freilich ist paradiren uicht der richtige Ausdruck, denn
wie wollte er wohl zu eiuer Persönlichkeit passen, mit der Heyse so leicht
fertig wird, und die er mit so leichtem Herzen über seine Bühne hinstolpern
läßt wie Nietzsche? Ja, gegen die bösen Pfaffen und gegen die fast noch
schlimmern Naturalisten, da muß man auf der Hut sein, da ist das schwerste
Geschütz, an den richtigen Punkten aufgefahren, notwendig, ihren Angriffen
zu begegnen. Aber Nietzsche? Erstens ist uns der Mann selber niemals zu
nahe getreten, und wenn er im übrigen die Unklarheit in den Köpfen einiger
sonderbaren Schwärmer noch vermehrt hat, so ist das ein Übel, das sich im
Vergleich mit andern in der Trübsal unsrer Zeit verhältnismüßig leicht er¬
tragen läßt. Nur beileibe eine Sache nicht tragisch nehmen, die in sich selber
die Bestimmung trägt, ebenso rasch aus der Zeit zu verschwinden, wie sie
hineingekommen ist. Versetzen wir ihr noch einige wohl angebrachte Stöße
im Rücken, und das Ding gleitet schneller aus dem Gedächtnis der Mitwelt,
als es darin aufgetaucht ist.
Mau kann über die Philosophie des dem Wahnsinn verfallnen Professors
ein durchaus absprechendes Urteil haben, aber die verächtliche Art, mit der sie
Heyse behandelt, würde sich kaum irgendwo gut ausnehmen. Nirgends aber
erscheint sie weniger am Platze, als in seiner neuesten Dichtung. Nicht des¬
halb, weil diese Verächtlichkeit dem Manne schaden möchte, gegen dessen Sache
sie gerichtet ist, denn der befindet sich längst jenseits von gut und böse, wo
ihm nichts mehr wehthun kann, sondern weil sie dem Werke des Dichters selbst
nicht weniger Abbruch thut, als wenn er in irgend einem andern Roman die
dichterischen Laufgräben gegen seine Widersacher von der Theologie und vom
Naturalismus eröffnet. Der Vorwurf der Subjektivität und der verstimmenden
Absichtlichkeit kann dem neuesten Erzeugnis seiner Muse, in dem er mit leichten
Waffen kämpft, so wenig erspart werden, wie dem Merlin, wo er mit dem
ganzen Apparat dichterischer Mittel arbeitet.
Um mit der Inhaltsangabe nicht länger hinter dem Berge zu halten:
den romantischen Kern des Buches bildet eine Liebesgeschichte, die sich zwischen
dem preußischen Legationsrat Erk von Friesen und der Malerin Madeleine
Valentin abspielt. Um ihn steht ein Kranz von handelnden Personen, die,
ebenso wie den Protagonisten und seine Geliebte, die Hauptstadt eines thürin¬
gischen Fürstentums aus dem Adel und den ersten Kreisen des Vürgerstaudes
hergiebt. So kurz die Liebesgeschichte ist — sie hat allerdings ein Vorspiel
von sieben Jahren, die aber außerhalb ihres Rahmens liegt—, so hat sie doch
ihre ernsten Gefahren. Leider treten die Hindernisse, die sich der Vereinigung
der beiden Liebenden entgegenstellen, nicht von außen an sie heran, sondern
wachsen aus ihrem eignen thörichten Herzen hervor. Thorheiten werden nun
freilich überall in der Liebe gemacht, aber hier ist es denn doch zu schlimm.
Wenn sich die beiden nach ihrer siebenjährigen Trennung nur einmal recht
fest ins Auge hätten sehen wollen, so wäre all der Spektakel nicht notwendig
gewesen. Aber da das nicht geschieht, so wird die Entfremdung zwischen ihnen
immer größer, und Lene, die sonst, wie uns der Dichter versichert, ein ganz
vernünftiges Frauenzimmer ist, verlobt sich sogar mit einem Gelehrten, dem
fürstlichen Gartendirektor Dr. MI. Steinbach, der darüber fast sprachlos wird
und — das ist ein wirklicher und wahrer Zug in der Zeichnung der Cha¬
raktere — mit seinem Glücke nichts anzufangen weiß. Wenn er das gewußt
Hütte, so würde er aus die Verlobung möglichst bald die Hochzeit haben folgen
lassen, und der Legationsrat hätte das Nachsehen gehabt. Aber wo wäre
wohl jemals ein Gelehrter auf die Dauer einem Diplomaten überlegen ge¬
wesen! Dieser besinnt sich, nachdem er viele unkluge Streiche gemacht hat, auf
sein Handwerk und drangt, was er gleich von Anfang hätte thun sollen, seinen
Nebenbuhler noch im letzten Augenblick aus dein Wege. Durch eine geschickt
angelegte Intrigue — moralisch ist sie nicht lockt er den Gelehrten auf ein
Schiff, das von der Regierung zur Verfolgung wissenschaftlicher Zwecke in den
Tropen ausgerüstet worden ist, und schickt ihn so ans vier Jahre in alle vier
Winde. Dadurch wird die Bahn wieder frei, und Lene, die zu der Einsicht
gelangt, daß mit dem für seine Pflanzen schwärmenden Botaniker besser Wissen¬
schaft zu treiben als Hochzeit zu halten ist, thut nnn auch dem Zuge ihres
Herzens nicht lange mehr Zwang an.
Wenn Heyse nur mit dieser Liebesgeschichte das Interesse Hütte fesseln
wollen, so würde er bei dem verstündigen Teile der Leser noch weniger Glück
haben, als er so schon hat. Aber der Dichter weiß, daß sich der Mensch mit
bloßer Romantik ebenso wenig abspeisen läßt wie mit trockner Philosophie,
und so muß eins dem andern helfen. Das eigentliche Spiel im Stück haben
die beiden Personen in den Händen, die nach dem Willen des Dichters die
Vertreter des „Nietzscheanismus" sind. Die eine kennt der Leser schon, es ist
der Legationsrat. Aber er ist noch nicht der vollständige Übermensch, der soll
er erst noch werden. Trotzdem, daß er vieler Menschen Länder gesehen und
die Mensche» selber verachten gelernt hat, und obgleich er ein lacliss Icillsr
genannt wird, wem, auch nicht mit diesen Worten, so haftet ihm doch manches
an, was ihn hindert, in das bekannte Jenseits hinüberzuspringen. Den letzten
Rest soll ihm der andre geben, der, wenn man seinen Worten glauben darf,
im Besitz aller Weihen im Orden der Übermenschen ist. Das ist der allmäch¬
tige Minister in dem Fürstentum Hechelkram, der Freiherr vou Lindenau, ein
Autokrat und wahrer Tyrann, der seinen Fürsten dnrch Intriguen lenkt und
in den Unterthanen alle Regungen und Anläufe zu zeitgemäßen Besserungen
mit schwerer Faust niederhält. Dieser, das Urbild des Nietzschischeu Radikal¬
aristokraten nach Hehses Vorstellung, hat den Plan, dem von ihm regierten
Krähwinkel noch vor seinem Tode einen Nachfolger in der Beherrschung des
Landes zu geben, der, von denselben Grundsätzen geleitet, Sorge trägt, daß
nicht mit seinem Hinscheiden das glückliche Volk der Hechelkramer der in den
Nachbarstaaten beliebten Herdeuviehverwaltuug anheimfällt. Um diesen Plan
zu verwirkliche», bedarf es eines kongenialen Mannes, der sich sonst im ganzen
Fürstentum nicht findet, aber plötzlich und zu guter Stunde in der Person
des Herrn von Friese» auf der Bühne erscheint. Auch sonst läßt sich die
Sache gut an. Den» da der j»»ge Diplomat mit allen andern Dingen außer
mit seiner Liebe ganz vortrefflich von der Stelle kommen kann, so zögert er
nicht lange, den Vorschlägen des Ministers Gehör zu geben. Als Gemahl der
Tochter des mächtigen Mannes und als Günstling der Fürstin will er lernen,
Land und Volk in dem gewünschten übermenschlichen Sinne zu regieren. Alles
ist bestens eingeleitet. Schon ist er im Begriff, in einen» zärtlichen tot« ii low
mit der jungen, schönen Landesmutter über die Grenze hinwegzusetzen, a»
deren andern Seite ihm die Unterscheidung zwischen Gut und Böse kein Mi߬
behagen mehr machen soll, da verhindert den ganzen schönen Plan — der Zufall.
Es ist die Malerin Leue Valentin, die gerade noch zur rechten Zeit kommt,
»in den Geliebte» zwar für sich zu verlieren, aber für das Diesseits zu
retten.
Selbstverständlich ist »ut dieser unbeabsichtigten Intervention alles in die
Brüche gegangen. Freilich die Liebe wird im Sturm noch irgendeine Planke
finden und sich in den stillen Hafen retten; aber mit den Plänen für das
Glück des Hechelkramischen Volks ist es ein für allemal vorbei. Der Minister
ist zwar wütend, als er hört, daß sei» Zögling ans dem fürstlichen Schlosse
entflohen ist und nicht dahin zurückkehren will, aber das hilft ihm nichts.
Im Gegenteil, selbst er, der doch so selbstherrlich über alles Menschengewimmel
hinwegschreitet, »ruß wieder zurück in die Welt, in der man an Gute u»d
Böse glaubt. Den Legativnsrat rettet der Zufall, ihn selbst die menschliche
Schwäche, die auch sei» Erbteil ist. Infolge von Verdauungsbeschwerden oder
aus irgendeinem andern Grunde trifft ihn der Schlag, da findet er in der
Friedlosigkeit, die auf weichem Lager sei» Gemüt quält, uur Ruhe in den
Armen seines natürlichen Sohnes, eines braven Mannes von der Volksschule,
den er während seiner Fahrt durchs jenseitige Land nie gekannt und geliebt,
sondern nur verfolgt und gequält hat. Also anch er wird durch eine Liebe
und ein Mitleid, von der die Philosophie Nietzsches nichts wissen will, einem
bessern Leben wiedergewonnen.
Man sieht, worauf dies alles hinaus soll. Paul Hesse will in einem
dichterischen Kunstwerk nicht den wissenschaftlichen Beweis bringen, sondern
durch Vorführung lebendiger Menschen ni ooulos demonstriren, daß es mit
der Lehre des Philosophen Nietzsche nichts sei. Gewiß eine sehr schöne
poetische Aufgabe. Aber man darf die Absicht nicht zu sehr merken lassen.
Gewöhnlich tritt die Absicht in einem unleidlichen Zuviel hervor, aber sie
kann sich auch in einem unangenehmen Zuwenig bemerkbar machen. Ich habe
gesagt, daß der Dichter dem ehrlichen Makler vergleichbar sei, der bei der
Vermittlung der Wahrheit nichts für sich behalte. Daß nun Hesse in doloser
Weise etwas von dem, was er gehabt hat, für sich zurückbehalten habe, wird
im Ernst niemand behaupten wollen. Es bleibt also nichts weiter übrig als
die Annahme, daß er gar nicht gehabt habe, was er Hütte bringen müssen.
Um nicht zu weitläufig zu werden, sondern möglichst verständlich zu reden, ich
muß glauben, daß Hesse das richtige Verständnis für die Bedeutung Nietzsches
abgeht. Mag diese sein, welche sie will, sicher hat sie gerechten Anspruch
darauf, tiefer und ernster erfaßt zu werden, als es in diesem Roman geschieht.
Da ihr dieses Recht nicht zugestanden wird, so rächt sie sich sofort an der
Erzählung selbst, wie sich alles im Leben rächt, das schief oder verkehrt an¬
gefaßt wird. Dadurch, daß er seinen Personen das eine oder das andre
Zitat aus den Werken des Philosophen äußerlich anhängt, kann der Dichter
keinen Glauben an ihr wirkliches Leben erwecken, noch weniger, wenn er dieses
Leben so oberflächlich nach den nur subjektiv und mit Vorurteil erfaßten Grund¬
sätzen jener Philosophie gestaltet. Das einzige, was mit einem solchen Ver¬
fahren erreicht wird, ist, daß er die eigne Hand sehen läßt, die mit Ziehen
und Schieben nur eine ganz notdürftige Bewegung in die Glieder seiner Figuren
hineinbringt. Wo würde auf dem Jahrmarkt der Lenker des Kasperletheaters
bleiben, der seine Hände nicht in der Versenkung halten könnte?
Was soll ich sonst noch über die Dichtung sagen, als daß sie außer den
Hauptpersonen einige andre Gestalten aufzuweisen hat, die wirklich einige An¬
lage zum Leben haben? Das ist aber auch alles. Von der Sprache kann
man nur sagen, daß sie die allbekannte schöne Hessische ist; mir schade, daß
sie nicht aller Sünde» Menge zu bedecken vermag. Weshalb der Roman den
Titel „Über allen Gipfeln" trägt, ist mir nicht klar geworden.
err Senator Moller aus Hamburg, wie er einfach und würde¬
voll in der Kurlistc stand, saß unter der Veranda und las
beim Scheine einer großen, schirmverhängten Petroleumlampe
die Zeitung. Als die beiden Damen kamen, ließ er das Blatt
sinke», erhob die Augen ein klein wenig und sagte: Ich habe
schon neulich den Wunsch ausgedruckt, daß ihr eure Abend¬
spaziergänge auf den Garten beschränken möchtet. Ich liebe es nicht, mich zu
wiederholen.
Frau Jda zitterte. Sie zitterte merkwürdigerweise fast immer vor dem
kleinen, grauen Männchen. Erika von Haltern aber zitterte nicht. Sie machte
sichs in ihrem Lehnstuhle dem Onkel gegenüber bequem und sagte: Wiederhole
dich nicht, Onkelchen, wir folgen ja doch nicht.
Die blasse, nervöse Hand des Lesenden zuckte, und ein spitzer Blick fuhr
zu der Nichte hinüber: Ich muß bitten, begann er —
Nein, du darfst nicht einmal bitten. Das ist ja doch ganz natürlich,
Onkel, siehst du denn das nicht ein? Auf den dreiundeinhalb Quadratmetern
Garten können wir doch nicht spazieren gehen. Wozu ist denn der Waldpark
da! Und im August, und noch dazu in einem August wie dem, schickt mau
doch seine liebe Frau und seine schöne Nichte nicht mittags um zwölf ins
Freie. Es ist ja unerträglich heiß am Tage, erst abends wird es schön.
Aber ihr entfernt euch zu weit, namentlich du. Der Waldpark ist nicht
so unbedingt sicher um diese Zeit. Ein junges Mädchen —
Aber Onkel, das hab ich dir ja neulich schon versprochen, ich laufe nie
so weit weg, daß dich nicht ein Hilferuf sofort erreichte. Du weißt doch, ich
kann furchtbar schreien. Und bei deinem ritterlichen Schutz in sicherer Nähe
ist doch kein Grund zur Sorge.
Der Onkel sah nicht so aus, als würde sein Dazwischentreten bei einem
Überfall sonderlichen Eindruck gemacht haben. Aber er schien nicht recht zu
wissen, was er darauf erwidern sollte. Nun, von morgen an werdet ihr ja
einen Begleiter haben, sagte er ablenkend. Von mir ist nicht zu verlangen,
daß ich noch den Beschützer bei Mondscheinpartien spiele. Damit zog er sich
die Decke, in die seine Beine eingehüllt waren, etwas höher hinauf.
Frau Jda Möller wunderte sich, wie diese kecke Nichte mit ihrem Manne
umging; sie setzte sich auf einen Stuhl, der halb in seinem Rücken im Schatten
stand, und begann an einer Arbeit weiterzusticken. Erika aber nahm eine der
Zeitungen, die auf dem Tische lagen, und begann zu lesen.
Wenn jetzt jemand draußen vorübergegangen wäre, würde er sich über
das friedliche Familienbild gefreut haben. Aber Bilder täuschen. Und um
Gustav Möller war sein Leben lang wenig Friede und Freude gewesen.
Er hatte sich sein Leben sauer werdeu lassen, wie er immer selbst zu sagen
pflegte. Die Moller waren eine alte Familie, und die Firma Friedrich Moller
und Co. hatte jahrhundertelang bestanden in Reichtum und Macht. Aber Gustavs
Vater war gefalle». Große Unternehmungen in der isüdsec waren ihm über
den Kopf gewachsen und hatten ihn zu Grunde gerichtet. Als das alte Haus
seine Zahlungen einstellen mußte und die Gläubiger die Neste des Vermögens
unter sich verteilten, war Gustav etwa vierzehn Jahre alt gewesen, alt genug,
den Unterschied deutlich zu begreifen zwischen einer prachtvollen Villa an der
schönen Aussicht und einer Mietwohnung zu dreihundert Mark jährlich, drei
Stock hoch in der Hnmbvldtstraße in Barmbeck, alt genug, den Unterschied zu
fühlen zwischen der Behandlung, die seines Vaters frühere Freunde vor der
Katastrophe ihm hatten angedeihen lassen, und der, die ihm nun zu teil wurde,
alt genug, zu bemerken, was es heißt, Mitschülern und Tanzstundeudmneu
gegenüber der Sohn und Erbe von Johann Moller „in Firma" Friedrich
Möller u. Co. zu sein, oder der Sohn des Bankrotteurs, der sich erhängt
hatte, als das verschwunden war, was ihm selbst und dem Leben in seinen
eignen Augen einzig und allein Wert verliehen hatte — sein Geld. Damals
hatte sich Gustav Mollers Charakter gebildet, damals hatte er sich fein Ideal
erkoren: Geld.
Lautlos ertrug er alle Demütigungen. Ein unermüdlicher, pedantisch
genauer, zuverlässiger Arbeiter und Rechner, zog er bald die Aufmerksamkeit
der ältern Kommis und der Prokuristen im Komptoir von Albertus Imsen
auf sich, wo er als Lehrling aufgenommen worden war. Unermüdlich war er
die ganze Woche hindurch, und der Kirchenbesuch am Sonntag Vormittag war,
wie es schien, seine einzige Erholung. Auf diese Kirchgange hielt er der Mutter
und der Schwester gegenüber mit eiserner Beharrlichkeit, und er hatte auch
Erfolg damit. Zuerst zeigten sich bei einigen besonders rechtgläubigen alten
Familien deutliche Zeichen wiedererwachenden Mitgefühls. Man begann sich
für die Moller zu interessiren, mau fing an, hie und da etwas für die ver¬
lassene Mutter zu thun, man erinnerte sich der frühern Freundschaft zwischen
ihren und den eignen Kindern, man forderte die jungen Leute auf, sich doch
„mal wieder sehen zu lassen." Die Demütigungen, die bei diesen Besuchen zu
erdulden waren, waren schlimmer als alles, was in der ersten Zeit über Gustav
hereingebrochen war, denn junge Leute sind noch viel grausamer als ältere;
aber er ertrug alles, und auf sein und seiner Mutter Zureden ging auch seine
Schwester immer wieder mit, obwohl sie Thränen vergoß vor solchen Be¬
suchen in gastlich reichen Hüuseru und noch mehr Thränen nachher. Aber
die Politik Gustavs war richtig, mau gewöhnte sich daran, die beiden in diesen
Kreisen zu sehen, und der Umgangston besserte sich mit der Zeit, namentlich als
er langsam zu steigen begann, und als seine Schwester schöner und schöner wurde.
Gehaßt von allen, die im Komptoir unter ihm standen, aber beliebt bei
allen Vorgesetzten, war er dann in ziemlich jungen Jahren, zunächst allerdings
mit zwei andern Angestellten zusammen, Prokurist der alten Firma geworden.
Man sprach von ihm in kaufmännischen Kreisen als von einem Manne, der
seinen Weg schon machen würde.
Seine Schwester war damals neunzehn Jahre alt, sie war eine Schönheit
großen Stils geworden. Man sprach auch von Anna Möller als von einer,
die ihrer Vermögenslosigkeit zum Trotz eine Partie machen würde: sie war
aus alter Familie, und einige sehr reiche alte Herren, die sich den Luxus er¬
lauben konnten, bemühten sich sehr um sie.
Für Gustav Moller war seine Schwester eine Hauptfigur in dem Schach
seines Lebens. Die Mutter war tot, die Geschwister führten aber mit einer
alten, treu gebliebner Dienerin gemeinschaftlich ihren Haushalt weiter. Die
Schwester hatte sich bisher von ihm leiten lassen, und er rechnete darauf, daß
sie das auch künftig thun würde. Er blickte scharf umher unter seiner demütigen
Maske. Die Millionen eines Schwagers, der sich gebrauchen ließ, der thun
würde, was seine schöne Frau wollte, das war lange Zeit sein Traum. Und
dieser Traum wäre ihm auch ohne Zweisel erfüllt worden, hätte ihn nicht eine
Macht vereitelt, der er damals zum erstenmal im Leben begegnete und die er
seitdem immer haßte.
Auf einem vornehmen Balle der Uhlenhorst lernte Anna Moller, die bis
dahin ihres Bruders Plänen nicht unbedingt abgeneigt gewesen war, die sich
hie und da wohl selbst gesagt hatte, daß ein reicher Mann für sie, ein schönes,
aber armes Mädchen, wohl wirklich der beste Lebensgewinn wäre, den Ritt¬
meister Fritz von Haltern kennen, der die Hamburgischen Haushalte besuchte,
um die Erbin, die reiche Frau zu suchen, die seine Familie ganz bestimmt von
ihm erwartete. Und diese beiden Menschenkinder, die lächelnd und wohlwollend
als Gleichstrebende hätten neben einander hergehen sollen, jedes nach seinem
eignen Ziele, trafen sich, verliebten sich und verlobten sich und heirateten. Er
fand einen alten, unverheirateten Sonderling von Verwandten, der, um die
andern Verwandten zu ärgern, die nötige Heiratskaution hinterlegte, und sie,
die schöne Anna Moller, die zwischen zwei außerordentlich reichen, allerdings
etwas bejahrten und wohlbeleibten Herren die Wahl hatte, bekam von einer
alten Tante eine sehr magere Aussteuer. Das war das Ende von Gustav
Mollers erstem großen Plan.
Er raste innerlich, aber seine Maske blieb demütig, und jedermann mußte
glauben, daß er es für ganz angebracht und in der Ordnung hielte, daß ein
armes Mädchen auch keine Ansprüche auf einen reichen Mann mache. Aber
seiner Schwester trug er es nach als Treubruch, als einen Verrat, den sie an
ihm begangen hatte, und der gottesfürchtige Mann empfand es als eine ihm
gewordne Vergeltung, als nicht ganz drei Monate nach der Hochzeit die Kriegs¬
erklärung erfolgte und Rittmeister von Haltern an der Spitze seiner Schwadron
gegen Frankreich reiten mußte.
Im Winter bei einem Ausfallgefecht vor Paris riß eine Chassepottugel
den tapfern Major vom Pferde. Die Nachricht erreichte eine junge Mutter,
die vou dem Augenblick an ihr wenige Tage altes kleines Mädchen nicht
wiedererkannte, und die der milde Tod nach wenigen Wochen mit dem wieder
vereinte, den sie fo kurze Zeit besessen hatte.
Die kleine Erika hatte in Onkel Gustavs Hause Aufnahme gefunden, denn
er hielt darauf, daß sich alles wohl ziemte, was geschah. Er hatte sich nämlich
inzwischen auch verheiratet, und zwar klüger als seine Schwester: die einzige
Tochter, das einzige Kind seines Chefs hatte dem jungen Prokuristen die Hund
gereicht. Es Hütte Aufsehn gemacht; mau war ungemein überrascht, man
begriff nicht, wie der stolze, knorrige alte Albertus Imsen so widerstandslos
und so außerordentlich schnell seine Einwilligung hatte geben können. Man
munkelte sogar allerlei. Aber Gustav Moller hatte sie, die reiche Erbin Jda
Imsen.
Und er hatte bald darauf auch das große Vermögen und das alte Ge¬
schäft, denn Albertus Imsen lebte nur noch ein paar Jahre. Aufmerksame
Beobachter, die dem Jensenschen Hause nahestanden, wollten bemerkt haben,
daß unter den tadellosen Formen, in denen der alte Herr mit seinem Schwieger¬
söhne verkehrt hatte, eisige Verachtung gelegen Hütte. Ob das auch Gustav
Moller je empfunden hatte, war schwer zu sagen. Demütigungen zu ertragen,
als ob ihm nichts geschehen wäre, war seine Stärke.
Als er nach dem Tode seines Schwiegervaters in den unbeschränkten Besitz
des gesamten Vermögens gekommen war — der alte Herr und seine Tochter
waren die letzten Träger des Namens gewesen —, stieg er noch rascher als
bisher und nahm noch rascher an Macht und Einfluß zu. Zwar konnte ihn
niemand leiden; waren irgendwo zwei gute Freunde aus den obern Kreisen
unter sich, und es kam die Rede auf ihn, so spottete man über den kriechenden
Schleicher, über den Mann, der jedem nach dem Munde redete, und auf den
sich keiner verlassen konnte. Fast nur mit Mißachtung gedachte man seiner.
Und doch wollte es niemand mit ihm verderben; keinem war der Gedanke an¬
genehm. Gustav Moller zum Feinde zu haben. Und so schmiegte er sich und
wedelte seinen Weg weiter.
Jahrelang hatte er daran gearbeitet, in den Senat zu kommen und damit
einer der Regierenden des deutschen Reichs, ein Stück Souveränität zu werden.
Auch das gelang ihm, allerdings nicht leicht; zweimal war er bei der Wahl
durchgefallen, ein dreimal Abgewiesener aber darf nicht wiederkommen. Beim
dritten male, als ihn wieder seine guten Freunde in der Bürgerschaft, Leute,
die mit ihm rechnen mußten, auf den Aufsatz gebracht hatten, als wieder einmal
die Staatskarossen nach dem Stadthause in der Admiralitätsstraße fuhren,
gelang das große Werk, zwar mit Mühe, aber es gelang doch: Gustav Moller
war nun so eine Art persönlicher Bundesgenosse von Kaiser und Reich ge¬
worden.
Wie bescheiden trug er die „unverdiente Ehre," zu der ihn „das Ver¬
trauen seiner Mitbürger" berufen hatte, wie kroch er, wie bückte er sich!
Innerlich aber reckte er sich und freute sich über sich selbst, wenn er erwog,
daß er nun wieder einer Reihe von Leuten ungestraft die Fußtritte würde ver¬
setzen dürfen, die er ihnen seit langen Jahren zugedacht hatte.
Er trat an die Spitze der Bandeputation; es war gerade in der Zeit,
als der Zollanschluß eine völlige Umwälzung des Bestehenden hervorrief, als
ganze Stadtteile vom Erdboden verschwanden und dafür neue entstanden. Er
war beteiligt bei mehreren rechtzeitig bewirkten Terrainankäufen, was ihm Un¬
summen einbrachte. In der alten Stadt hatte er einen zusammenliegenden
Block von großen Speichern gekauft, die nicht mehr gebraucht wurden, da sich
die Stapelartikel, die hier gelagert worden waren, nach dem neuen Freihafen¬
gebiet hatten zurückziehen müssen. Er hatte darauf das „Jensenhaus" bauen
lassen, eine riesige, fünfstöckige Komptoirkaserne nach englischem Muster, die
vorzüglich rentirte.
Damals hatte er auch den Architekten Erich Vanrile kennen lernen/ der
mit so manchem andern nach Hamburg berufen worden war. Moller war zu¬
erst nur geschäftlich mit ihm in Berührung gekommen, hatte aber bald eine
seltsame Vorliebe für den Mann gefaßt. Der Künstler, der immer guter Laune,
immer heitern Gemüts, im Umgange, mit wem es auch sein mochte, immer
gleich höflich und gleich unbekümmert war, der immer offen und ehrlich sagte,
was er dachte, war so sehr der Gegensatz allen Lcinerns und Schleichens, daß
möglicherweise gerade dieser Gegensatz Moller angezogen hatte, denn man pflegt
ja keineswegs an andern die Eigenschaften zu lieben, mit denen man selbst im
Lebenskampfe gesiegt hat. Dazu kam wohl, daß Vanrile nicht Hamburger war;
gegen jeden Hamburger wurde Gustav Moller niemals ganz das Gefühl los,
daß er im Kriegszustande mit ihm lebe. Bei Erich Vanrile fiel das weg, er
war vielleicht der einzige Mensch, zu dem er, wenigstens eine Zeit lang, eine
gewisse Zuneigung fühlte. Es entwickelte sich auch ein privater Verkehr, der
sich wärmer gestaltete, als man es im Mollerschen Hause hätte für möglich
halten sollen.
Von allem Anfang an hatte sich die kleine Erika — sie war damals noch
nicht ganz fünfzehn Jahr alt — zu dem schon in den Dreißigern stehenden
Manne hingezogen gefühlt. Während sie zu ihm wie zu einem Vater und
Lehrer aufsah, hatte sie doch zuweilen stürmische Zärtlichkeit für ihn, die weit
über ihre Jahre und weit über die Natur ihrer Beziehungen hinausging.
Manchmal hätte mau glauben können, Vanrile sei ihr Onkel und Vormund,
und manchmal wieder schienen sie wie ein Liebespaar, sie vier Jahre älter und
er vierzehn Jahre jünger.
Aber das schöne Verhältnis nahm ein jähes Ende. Vanrile, der viel in
der Welt herumgekommen war und sich schließlich nach einem ruhigen und
endgiltigen Wirkungskreis sehnte, hatte sich entschlossen, in Hamburg zu bleiben.
Er hatte von einer stolzen Privatthätigkeit als Baumeister und Architekt ge¬
träumt, hatte aber wohl die Verhältnisse überschätzt. Er war auch zu sehr
Künstler. Man hatte ihn gewarnt. Ein alter Hausmakler, ein Original der
Grundstücksbörse, mit dem er vielfach geschäftlich zusammen gekommen war,
hatte sich im Asfekurauzsaale der Börsenhalle mit den Worten an ihn gewandt:
Sie wollen hier bleiben, Herr Vanrile, wollen unter die Vauspekulauten
gehen? Nichts für Sie, nichts für Sie! Thun Sie das nicht, Sie passen hier
nicht her.
Ich passe hier nicht her? hatte Vanrile lachend gefragt. Weshalb denn
nicht, lieber Jubel, weshalb denn nicht?
Hin hin, hatte der alte Herr gemacht, indem er sich die große Hakennase
mit dem Zeigefinger rieb und das linke Auge leicht zukniff, hin hin, für uns
hier sind Sie viel zu anständig.
Vanrile fand Veranlassung, sehr häufig an diese Unterhaltung zu denken,
als er sich mit seinem durchaus nicht unbedeutenden Vermögen festzufahren be¬
gann und sich im kritischen Augenblick von guten Freunden verraten und eines
Tages zu Grunde gerichtet sah. Seine Villengrundstücke gingen zu sehr billigen
Preisen in andre Hände über, alles in den besten Formen, ganz freundschaft¬
lich. Es blieb ihm auch noch ein Rest, der ihm erlaubte, einige Jahre in be¬
scheidner Weise zu leben.
Die Mollersche Freundschaft hielt selbstverständlich diesem Ereignis nicht
Stand. Möller ließ ihn fallen, gründlich, in einer Weise, die Vanrile aufs
empfindlichste verletzte. Er hatte zwei, dreimal hinter einander bei gelegent¬
lichen Besuchen niemand angetroffen. Eines Tages stand er wieder auf der
teppichbelegten Hausflur und fragte den geschniegelten Diener, ob der Herr
Senator zu Hause wäre. Er wußte, daß er zu Hause war, er hatte ihn eben
hineingehen sehen ins Haus, und doch sagte ihm der glatte Halunke mit
heimlich höhnenden, lächelnden Mundwinkeln, daß der Herr Senator nicht zu
Hause wäre. Er hätte den Mann vor Wild niederschlagen können. Dann
sagte er etwas, was er in dem Augenblicke bereute, als er es sagte. Ich habe
ja den Herrn Senator eben eintreten sehen.
Der Herr Baumeister irren! Der Herr Senator ist bestimmt nicht zu
Hause!
Der Mann hatte einfach ein für alle mal seine Instruktion bekomme».
Vanrile schämte sich seiner selbst. Aber dieser Augenblick der Schmach wurde
der Augenblick seines Glücks: eine helle, jugendliche Stimme rief von der
Treppe herab:. Aber bitte, Herr Baumeister, kommen Sie doch einen Augen¬
blick herauf!
Gegen den Willen der Ihrigen, gegen die Drohung ihres Onkels hatte
sie diese „unglaubliche Taktlosigkeit" begangen, als sie seine Stimme hörte.
Und dem Hinaufsteigenden war sie um den Hals gefallen und hatte uuter
Weinen und Schluchzen auf die Erbärmlichen gescholten, die sich in den Tagen
seines Unglücks von ihm zurückgezogen hätten, und ihm gesagt, daß er sich
nichts aus ihnen machen solle, daß sie ihn lieber habe als je, daß sie ihn
lieb behalten werde bis in alle Ewigkeit, daß sie stolz sei auf ihn, und daß
er es den andern nur zeigen solle, wer er eigentlich wäre.
Staunend über das Geschenk des Schicksals fühlte er, wie das kluge Kind
in seinen Armen zum liebenden Weibe ward; fest und sicher, mit einem Schlage
wußte er, daß er das Glück seines Lebens hielt, ein Glück, so groß und über
alle Maßen, wie es der Neid der Götter nur wenigen, sehr wenigen Sterb¬
lichen gönnt, ein Glück, das nicht bloß Glückssache ist, sondern um das man
kämpfen muß. Sie hatten kaum ein Dutzend Worte gesprochen, er war nicht
in den Salon eingetreten, auf den Treppenstufen vor den Augen des er¬
staunten Dieners hatte er sie an seine Brust gezogen und geküßt — das war
ein Vermögen wert, daß er das erfuhr. Er wußte: ich werde sie haben, die
kleine Erika.
Ein Händedruck, ein Blick, dann hatte er sich auf den Absätzen umgedreht,
war die Treppe hinuutcrgestiegen und war verschwunden aus dem Hause und
verschwunden aus Hamburg.
(Fortsetzung folgt)
W
as uns die Aufregung dieser Woche
lehrt, das haben ja schon im vorigen Heft zwei andre Mitarbeiter dargelegt, ober
es lohnt der Mühe, noch einmal darauf zurückzukommen. Nach den Homburger
Nachrichten giebt es vielleicht kein Blatt im Reiche, das die Sozialdemokraten und
die Freisinnigen so haßte wie die Schlesische Zeitung, und die hat dem Vorwärts
das Zeugnis ausgestellt, daß der eine seiner Transvaalartikel in ihr selbst gestanden
haben könnte, und Herrn Eugen Richter, daß sie mit seiner Beurteilung der Sache
„im allgemeinen übereinstimmen" könne. Die „Reichsfeindschaft" gilt eben, das
tritt in solchen Augenblicken deutlich hervor, nicht dem Reiche, noch weniger unserm
deutschen Volk nud Vaterland, sondern nur gewissen Zuständen im Reiche. Droht
dem Vaterlande Gefahr, oder ist fürs Vaterland ein Gewinn zu erzielen, der keiner
Volksschicht schadet, da werden immer alle „Reichsfeinde" mit den „Reichstrenen"
einig sein.
Sodann sieht man, wie wohlthätig es wirkt, wenn die zahllosen unbeschäf¬
tigten und zu wenig oder unangemessen beschäftigte» Kräfte, die daheim nichts
besseres mehr zu thu» finden, als einander anzufeinden oder an den Produktiven zu
schmarotzen, sich einmal nach außen entladen können. Natürlich dauert eine solche
Entladung nur wenige Tage, dann ist das alte Elend widerwärtiger Katzbalgereien,
aus denen niemals etwas nützliches herauskommen kann, wieder da. Daher mahnt
die rasch vorübergegaugue wohlthätige Wirkung dieser Ablenkung dringend, endlich
einmal den überschüssigen Kräften unsers Volks Raum zu produktiver Arbeit zu
verschaffen, damit sie in Zukunft nicht mehr zerstörend, sondern aufbauend und
uns eiuen Machtzuwachs schaffend wirken. Aus der Natioualzeituug erfahren wir,
daß sich unter den transvaalischen Uitlanders 3000 Deutsche befinden, die größtenteils
ansässig geworden sind, namentlich als Handwerker, die Haus und Hof besitzen, daß
der Hamburger Lippert dort in Verbindung mit Siemers und Hälfte die größte
elektrische Kraftanlage der Welt (4000 Pferdekräfte) geschaffen hat, daß die schönsten
Läden in der Hauptstraße Philippsburgs Deutschen gehören, und daß eine der
dortigen Firmen im letzten Jahre ans Deutschland für fünf Millionen Waren ein¬
geführt hat. Was würde ans allen diesen Leuten, die dort wohlhabend, glücklich
und geachtet leben, geworden sein, wenn sie gezwungen gewesen wären, daheim zu
bleiben? Vielleicht trieben sie sich in Asylen für Obdachlose herum oder saßen im
Gefängnis. So haben wir dort ein paar Tröpflein deutsches Blut, die dem
Schicksal, in Eiter verwandelt zu werden, entgangen, Fleisch und Knochen bilden
können. Gabe es mehr solche Gelegenheit, so würden je fünf Personen, die ein¬
ander jetzt als Verbrecher, verfolgter Publizist, Polizeibeamter, Staatsanwalt und
Gefängnisaufseher gegenüberstehen, als gut bezahlter Lohnarbeiter, Bauer, Hand¬
werker, Kaufmann und Ingenieur neben einander arbeiten. Welches der beiden Ver¬
hältnisse ist würdiger, wohlthätiger und erfreulicher?
Außer einigen unbelehrbarer Merkantilisten bestreiten hente wohl nur noch die
Sozialisten und Anarchisten die Notwendigkeit der Expansion; diese bedürfen ihrer
für ihre Zukunftsutovieu nicht, weil da die Staatsgrenzen ausgehoben sein werden,
und jeder sich auf eigue Faust expandirt, „per" Luftdroschke hiukutschirend, wohin es
ihm beliebt. Auf welche Gegenden wir aber bei unsern Ausdehuungsbestrebungen
unser Augenmerk zu richten, und ob wir insbesondre Neudeutschlnnd in Südafrika
zu suchen haben, das wird noch sehr reiflich zu überlegen sein. Wir werden zu
erwäge» haben, ob uns der Lebensgang unsers Volks und die Lage unsers Landes
denselben Weg weisen wie den Engländern, die als Jnselvolk keine Kontinentalmacht
werden konnten und von vornherein auf überseeische Eroberungen angewiesen waren.
Wir werden daran denken müssen, daß entfernte Glieder lose Glieder sind, die leicht
abreißen, daß gerade die Ackerbantolvnien Englands sich am frühesten teils schon
losgerissen, teils Selbständigkeitsgelüste bekundet haben, und daß das englische Welt-
reich ein Gebäude ist, dem fortwährend der Zusammensturz droht. Wir werde»
endlich nicht übersehen dürfen, daß das deutsche Reich bei seiner jetzigen Gestalt
und Größe aus Gründen der militärischen Sicherheit eine überdichte Bevölkerung
nicht entbehren kann, und daß es der Notwendigkeit, als Industrie- und Handels¬
staat nach englischem Muster zu leben, einer Notwendigkeit, die wir mit unserm
altmodischen Geschmack beklagen, dnrch überseeische Kolonien nicht überhoben wird.
Schon jetzt übersteigt der Geldwert unsrer Ausfuhr an Jndnstrieprodukten (im
Jahre 1394 nicht weniger als 2276,4 Millionen Mark) den Geldwert unsrer
ganzen Körnerernte, der durchschnittlich 1500 Millionen beträgt. Selbstverständ¬
lich sind nur weit entfernt davon, den Tauschwert für den Wert an sich zu halten
nud aus den obigen Zahlen merkantilistische Folgerungen zu ziehen, wie die
Freihandelskvrrespondenz thut. Aber das kann doch nicht geleugnet werden, daß
jene 2^ Milliarden Einnahme Dnseinsbedingnng für zehn bis zwölf Millionen
Menschen sind, die beim Wegfall des Exports verhungern müßten. Demnach legt
uns die Notwendigkeit, ein für die Größe unsers Landes unverhältnismäßig großes
Kriegsheer zu unterhalten, die zweite Notwendigkeit übergroßer Volksdichtigkeit und
einer entsprechend starken industriellen Ausfuhr auf, oder mit andern Worten: bei
der Lage und der gegenwärtigen Ausdehnung des Reichs bleibt uns nichts übrig,
als unsre politische Unabhängigkeit um den Preis der wirtschaftlichen Abhängigkeit
zu erkaufe».
Abgesehen von diesen großen Verhältnissen des Gesnmtvaterlandes sind selbst¬
verständlich im Interesse von vielen Einzelnen Ackerbau- und Handwerkerkolonien,
wo immer sie angelegt werden mögen, mit Freuden zu begrüßen. Ob aber eine
bedeutende Ausdehnung von Plantagenbesitz und tropischen Handelsfaktoreien, so
viel Geld sie auch ins Land bringen möchten, ein großes Glück für uns wäre,
erscheint uus zweifelhaft. Wir haben dieser Tage erfahren, wie Herr Wehlnn und
seine Freunde die Schwarzen erziehen, und daß ihre Erziehungsmethode vom Dis-
zipliuarhof im großen und ganzen gebilligt wird, und wir haben vernommen, daß
„ein gehacktes rohes Beefsteak gar nichts ist" gegen die Objekte dieser Erziehungs¬
methode. Da wir niemals in Afrika gewesen sind, so maßen wir uns nicht um,
zu entscheiden, ob und wie weit diese im av siöolo-Pestalozzis Recht haben; wir
überlassen die Entscheidung deu Afrikakuudigen, obwohl wir wissen, daß es dar¬
unter welche giebt, die Brutalitäten für überflüssig erklären, und obwohl bei uns
in Deutschland der Fuhrmann bestraft wird, der diese Erziehungsmethode an seinen
Pferden probirt. Jedenfalls aber möchten wir nicht wünschen, daß es weite Ge¬
biete gebe, in denen viele unsrer jungen Beamten bei solcher Praxis für den Ver¬
waltungsdienst in Deutschland vorgebildet würden.
In Ur. 2 hat ein Mitarbeiter ans dankenswerte Weise
klar gemacht, wie die Baissiers sowohl bei stetig sinkenden wie bei gleichbleibenden
Preisen (wenn sie gleich bleiben, so ist es sür unsre Frage gleichgiltig, ob sie hoch
oder niedrig stehen) verdienen können. Daß sie verdienen, daran zweifelt natürlich
niemand; denn wenn beim Getrcidehcmdel (auf diesen allein hat sich unsre wieder¬
holte Anfrage bezogen) niemand etwas verdiente, so hätte er längst aufgehört.
Damit ist aber nicht bewiesen, daß sinkende Preise im Interesse der Getreidehändler
liegen, und daß diese darauf ausgehen, die Preise dnrch Börsentrinste zu drücken.
Der Verfasser sagt ganz richtig! „Die Baisse ist die Tochter unsrer hochentwickelten
Verkehrseinrichtungen," und der Ausdehnung des Getreidebaues in Nordamerika,
Argentinien und Indien, muß mau hinzufügen. In den Zeiten schwierigen, un-
sichern oder gefährdeten Verkehrs (und unzulänglicher Ernteergebnisse, wie wir sie
1891 noch einmal erlebt haben, muß man wieder hinzufügen) sei der Gewinn
leichter durch Ankauf (Wucher nannte man den) erreicht worden. Wir haben das
in der vorjährigen Ur. 46 auf Seite 348 folgendermaßen ausgedrückt. In einer
an uns gerichteten Zuschrift war unter anderen bemerkt worden, seit fünfzehn Jahren
würden die Manöver der Bnisfiers durch die überreiche Produktion der ganzen
Erde unterstützt. Darauf entgegneten wir" „Sollte sich die Sache nicht umgekehrt
Verhalten, daß die überreiche Produktion das Getreide billig macht, und daß den
Leuten, die sich mit dem Getreidehandel befassen, gar nichts andres übrig bleibt,
als sich auf die Seite der Baisse zu schlage», d. h. mit der Thatsache zu rechnen,
daß vorläufig ans Hebung der Getreidepreise keine Aussicht ist?" Wann und wo
immer in der Welt das Getreide knapp wird, sein Preis daher steigt, ist selbst¬
verständlich jeder, der eingekauft hat und das eingekaufte wieder zu verknusen
gedenkt, Haussier, d. h. er wünscht, daß der Preis so hoch wie möglich steige, und
thut das seinige dazu, ihn zu steigern. Ist aber der Vorrat so reichlich, und sind
die Produktionsgebiete und die Warenmengen so groß, daß selbst Rothschild und
Rockefeller in Kompagnie nicht an das Gelingen einer Schwänze denken können,
so bleibt den Händlern eben nichts übrig, als den Dingen ihren natürlichen Lauf zu
lassen und den Profit durch die geschickte Legung der Verkaufs- und der Deckungs¬
termine zu erziele». Auch der Abgeordnete Ganip hat am 9. Januar bei der ersten
Beratung der Börscureformvorlage in seiner Entgegnung auf deu Angriff des
Deutschfreisinnigcn Meyer die niedrigen Getreidepreise von nichts anderen abgeleitet,
als von der Überfüllung des Marktes. Beim Kaffee, sagte er, habe der Termin¬
handel eine Preissteigerung herbeigeführt, weil der Kaffee bei seiner Ankündigung
auf die Lieferbarkeit untersucht und schlechte Ware ausgeschlossen werde. Würden
auch die geringwertigen Getreidesorten ausgeschlossen, so würde der argentinische
und der indische Weizen fernbleibe», und die bei uns verkäufliche Getreidemeuge
Würde sich um 40 Prozent vermindern. Daraus geht doch deutlich hervor, daß
das Subjekt Termiuhaudel falsch ist. Nicht der Terminhandel hat den Kaffee
teuer gemacht, sondern der Ausschluß geringwertiger Ware und die Verminderung
des Vorrath; und uicht der Terminhandel macht das Getreide billig (außer in¬
sofern, als bei den heutigen Verkehrsverhältnissen die Vorräte der ganzen Welt
durch deu Terminhandel zur Preisbildimg herangezogen werden können), sondern
der große Vorrat, der vermindert werden könnte, wenn gewisse Getreidesorten
ausgeschlossen würden. Börse oder Lokalhandel — die Ware ist billig, wenn
viel, und teuer, iveuu wenig da ist, und will man bei großem Weltvorrat den
Inlandspreis heben, so bleibt nichts übrig, als den Jnlcmdsvorrcit zu vermindern,
sei es durch Sperrzölle, oder durch Börsenregelu, die die minderwertige Ware aus¬
schließen, oder durch ein Getreidemonopol. Eine reichlich vorhandne Ware teuer
zu mache», we»» es gelingt, den ganzen Vorratzn „cornern," das ist möglich; aber
eine Ware, die allgemein gebraucht wird, dauernd billig zu machen, wenn der Vorrat
knapp ist, das ist nicht möglich. Demnach entspricht der gegenwärtige niedrige Ge¬
treidepreis den Weltmarktverhältnissen, und nicht durch eine Börsenreform, sondern
nur durch Aufhebung des Börseuhaudels, überhaupt des freien Handels, und dnrch
Absperrung des dentschen Marktes vom Weltmarkte könnte der Getreidepreis erhöht
werden. Wir sagen auch diesmal nicht, was geschehen soll, sondern bemühen uns
nur klar zu mache», was ist. Übrigens wollen wir doch bei dieser Gelegenheit
el» paar Sätze anführe» aus den Neujahrsgedcmke», die el» Westfale i» dem in
Münster erscheinende» „Westfalen" veröffentlicht hat. Im Rheinland wird jetzt sehr
lebhaft die Monopolisirung des Getreidehandels empfohlen; doch soll daneben,
meinen die Befürworter des Projekts, der freie Handel fortbestehen. Der West-
fale, der richtig erkennt, daß neben dem Monopol nicht nnr kein freier Handel
fortbestehen könnte, sondern daß dadurch auch die Kontingentirnng, die Beaufsich¬
tigung des Anbaues usw. notwendig werden würde, schreibt: „Monopol und frei¬
händiger Verkauf schließen einander aus. Wir westfälischen Bauern wollen freie,
selbständige Bauern auf unsrer freien Hufe bleiben, ohne Staatsaufsicht säen und
ernten und verkaufen; lieber wollen wir uns einschränken und noch mehr quälen
und arbeiten und hoffen auf bessere Zeiten, als den ersten Schritt mitmachen zur
Verstaatlichung des Grund und Bodens."
Daß der Aufsatz: „Was verlangen wir von
einem bürgerliche» Gesetzbuche?", den wir in Ur. 44 und 45 des vorigen Jahr¬
gangs gebracht haben, und der inzwischen in etwas erweiteter Form auch im Buch¬
handel erschienen ist, nicht ohne Erwiderung bleiben würde, haben wir erwartet.
Unsre Leser werden es bei der hohen Bedeutung der Frage für unser Volksleben
begreiflich finden, wenn wir selbst in diesem Hefte einer Erwiderung Raum gebe»,
um so mehr, als sie von einem Mitgliede der Redaktionskommission, also von be¬
rufenster Seite, ausgeht. Nur ein paar Worte seien uns hierzu noch gestattet.
Als der Entwurf der zweiten Kommission beendet war und seine Vorlegung an
den Reichstag unmittelbar bevorstand, wurde in der Presse und durch Ver¬
anstaltung von Versammlungen eine Bewegung hervorgerufen, die den Zweck hatte,
den Reichstag zu bestimmen, den ihm vorgelegten Entwurf unverändert und ohne
nochmalige Prüfung anzunehmen. Wir verkennen nicht, daß dieses Streben aus
patriotischem und nationalem Gefühl entsprang. Wünschen wir doch selbst nichts
sehnlicher, als das baldige Zustandekommen eines gemeinsamen deutsche» Rechts.
Partikulciristischer Bestrebungen hat uus wohl noch niemand zeihen können. Von
vielen aber, die in Versammlungen Resolutionen faßten und in der Tagespresse
auf unveränderte Annahme des Entwurfs hinwirkten, mochte wohl gelten: sie
kannten den Entwurf zwar nicht, aber sie billigten ihn. Nur dieser Zumutung,
den Entwurf unbesehen hinzunehmen, wollte» wir entgegentreten. Wir hielten und
halten es noch für notwendig, daß der Reichstag den Entwurf zunächst prüfe, und
lediglich um dies zu erleichtern, wiesen wir auf die wichtigste» Erfordernisse eines
guten Gesetzbuchs hin, ohne uns darüber auszusprechen, inwieweit der Entwurf
diesen Erfordernissen entspreche oder nicht. Damit haben wir aber nicht versucht,
deu Reichstag „auf Wege zu drängen, die voraussichtlich das Zustandekommen des
bürgerlichen Gesetzbuchs für unabsehbare Zeit verhindern würden," ebensowenig
wie wir eine „vollständige Umarbeitung des Entwurfs durch eine Reichstagskom¬
mission dringend befürwortet" haben. Nur eine Prüfung des Entwurfs, sei es
im Plenum des Reichstags oder durch eine Kommission, im Hinblick auf die von
uns hervorgehobncn wichtigsten gar nicht juristischen Erfordernisse eines Gesetzbuchs,
das ists, was wir zunächst wallen. Ob diese Prüfung zu Abänderungen des Ent¬
wurfs überhaupt und zu welchen Abänderungen sie führen wird, steht noch dahin.
Der einzige Weg aber, der jetzt noch offen steht, den Entwurf in dieser oder jener
Richtung wenn nötig zu verbessern, darf nicht verschlossen werden. Daß damit
das ganze große Werk scheitre und auf unabsehbare Zeit verhindert werde, ist
doch wahrlich nicht notwendig, sobald nnr bei beiden Gesetzgebuugsfaktvren gegen-
seitiges Nachgeben und guter Wille vorhanden ist. Es ist auch keineswegs not¬
wendig und vielleicht nicht einmal wünschenswert, daß der Reichstag oder seine
Kommission von den etwa erforderten Abänderungen die Redaktion im einzelnen
vornimmt. Dies bleibt besser der juristisch-technisch geschulten gegenwärtigen'Re¬
daktionskommission vorbehalten. Es genügt hier jedenfalls die Einigung über die
Gesichtspunkte im großen und ganzen. Diese aber wird leicht zu erreichen
sein. Hierbei wird sich auch die Beantwortung der Frage erledigen, inwieweit
der Entwurf sozialen Bedürfnissen und Forderungen, soweit sie heute allgemein
als berechtigt anerkannt sind, entspricht. Daß diese Frage vor allem einer sorg¬
fältigen und allseitigen Prüfung bedarf, kann wohl nicht geleugnet werden: den
heutigen Bedürfnissen muß der Entwurf jedenfalls gerecht werden. Damit ist
bei weitem noch nicht gesagt, daß er unklare, noch nicht ins allgemeine Rechts¬
bewußtsein übergegangne und unausgereifte Ideen verwirklichen solle. Wir meinen
übrigens, daß die Mitglieder der gegenwärtigen Redaktionskommission, die ja ein
menschlich begreifliches Interesse an der Erhaltung ihres Werkes haben, über eine
nochmalige Prüfung — wir wiederholen, nicht ins einzelne, sondern im großen
und ganzen — gar nicht mißgestimmt zu sein brauchen. Von den beiden im
Reiche bestehenden Gesetzgebungsfaktoren ist bisher nur der eine in der Lage ge¬
wesen, auf die Gestaltung des Entwurfs einen Einfluß auszuüben: der Bundes¬
rat. Er hat das auch in reichem Maße gethan, und nicht jede Bestimmung des
Entwurfs ist ohne weiteres auf die Beschlüsse der Redaktionskommission zurück¬
zuführen. So ist beispielsweise der Mangel einer einheitlichen Regelung des Ver¬
einsrechts auf den Widerstand des Bundesrath zu setzen und keineswegs allenthalben
im Sinne der Redaktionskommission. Aber der Bundesrat hat nicht angethan!
Wie der Bundesrat aber, und zwar mit vollem Recht, seinen gesetzlichen Einfluß
auf deu Inhalt des Entwurfs geltend gemacht hat — und noch jetzt übt er keines¬
wegs so unbedingte Enthaltsamkeit in der Vornahme von Abänderungen, sodaß es
nach den Zeitungsberichten zweifelhaft scheint, ob der Entwurf noch am 18. Januar
dem Reichstage wird zugehen können —, so muß auch billigerweise der Reichstag
als der andre Gesetzgebnngsfaktor Gelegenheit haben, den gleichen Einfluß auf die
Gestaltung des nationalen Gesetzwerks auszuüben. Vielleicht vermag dann gerade
die Redaktionskommission den Reichstag in einzelnen vom Bundesrat abweichenden
Ansichten zu ihrer Meinung zu bekehren und so diesen zum Siege zu verhelfen!
Aber der heute von uns gebrachte Aufsatz schließt ja selbst damit, „daß der
Reichstag den Entwurf nicht unbesehen annehmen, noch daß eine Verbesserung des
Entwurfs ganz ausgeschlossen sein solle." Und somit ist der Gegensatz in dem Ergebnis
zwischen ihm und deu früher von uns gebrachten Darlegungen im Grunde gar
nicht so bedeutend.
Unsre Leser werden sich des Aufsatzes über die
Auffindung der Gebeine Johann Sebastian Bachs erinnern, den die Grenzboten im
Juni vorigen Jahres auf Grund eines damals eben erschienenen Berichts von Pro¬
fessor W. His in Leipzig gebracht haben. Der Bericht war interessant wegen
des eigentümlichen Verfahrens, das der Verfasser angewandt hatte, um den Be¬
weis zu führe«, daß die um 22. Oktober 1894 ans dem alten Johanniskirchhofe
in Leipzig ausgegrabnen Gebeine eines alten Mannes Bachs Gebeine seien, eines
Verfahrens, bei dem sich Wissenschaft und Kunst in eigentümlicher Weise die Hände
gereicht hatten. Was urkundlich feststand, war nur die Thatsache, daß Bach in
einem Sarg aus Eichenholz begraben worden war, und daß Eichenholzsärge, weil
sie mit einer besondern Begräbnisstener belegt waren, sehr selten verwendet wurden.
Außerdem bestand eine dunkle Tradition, an welcher Stelle sich ungefähr Bachs
Grab befunden haben sollte. Als nun an 22. Oktober 1394 nicht weit von dieser
Stelle die Gebeine eines alten Mannes in Resten eines Eichenholzsarges gefunden
wurden, lag es nahe, diese Gebeine sorfältig zu sammeln und zu untersuchen. Der
zugezogne Anatom der Leipziger Universität, Professor His, ließ darauf von dem
Bildhauer Seffuer in Leipzig den Versuch machen, über dem aufgefundnen Schädel
mit Hilfe der zuverlässigsten vorhandnen Bildnisse Bachs ein Antlitz zu formen,
und als der Versuch in überraschender Weise gelang, ließ er thu uach einiger Zeit,
noch einmal wiederholen, nachdem er inzwischen an einer Anzahl mit Bach etwa
gleichaltriger männlicher Leichen die Dicke der Fleischteile des Gesichts genau ge¬
messen und die Maße dem Künstler zur Benutzung übergeben hatte. Der zweite
Versuch gelang uoch überraschender als der erste: unter strenger Beobachtung der
gefundnen Maße schuf der Künstler ein Antlitz, das die charakteristischen und über¬
einstimmenden Züge der im übrigen mannichfach von einander abweichenden Bild¬
nisse Bachs in sich vereinigte, an Glaubwürdigkeit, Lebenswahrheit und Größe des
geistigen Ausdrucks die, Bilder weit übertraf.
In den letzten Tagen hat nun Professor His seinem Bericht vom Juni vorigen
Jahres noch einen zweiten folgen lasten, der in den Abhandlungen der Königlich
Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften erschienen ist: Anatomische For¬
schungen über Johann Sebastian Bachs Gebeine und Antlitz, nebst Be¬
merkungen über dessen Bilder (Leipzig, Hirzel, 1395). Während sich der erste
Bericht an weitere Kreise wandte, ist dieser zweite nur für die Fachgenossen des
Verfassers bestimmt und gegen das Eindringen von Laien schon durch deu üblichen
Stachelzaun anatomischer und osteolvgischer tvrwwi lvLQllioi geschützt. Professor
His hat den aufgefundnen Schädel nachträglich der Länge nach durchschneiden lassen,
einen Gipsausguß davon machen lassen, auch das linke Schläfenbein herausnehmen
und ebenfalls durchschneiden lassen. Das letztere begründet er durch folgende Sätze:
„Die Begabung eines großen Komponisten ohne weiteres vom Bau seiner Schläfen¬
beine ableiten zu wollen, wäre ein eitles Unternehmen. Es ist klar, daß bei Ent¬
wicklung einer solchen Begabung eine Reihe von Momenten zusammenwirken müssen,
und , daß der Organisation des Gehirns dabei eine Hauptrolle zufällt. Immerhin
darf nun unbedenklich die Existenz eines feinen Ohres, d. h. eines gut orgcnu-
sirten Sinnesorgans, als unerläßliche Vorbedingung zur Entwicklung eines großen
Musikers, mag er Komponist oder Virtuos werden, voraussetzen."
Zur eigentlichen Hauptfrage bringt der zweite Bericht nichts neues. Ich er¬
wähne ihn nur, um zu meinem frühern Aufsatz eine Berichtigung zu geben. Ich
hatte seiner Zeit gesagt. Professor His sei der erste gewesen, der die Frage nach
der Dicke des Fleisches in den einzelnen Teilen des menschlichen Gesichts aufge¬
worfen und beantwortet habe. His lehnt diese Ehre in dem vorliegenden Bericht
ausdrücklich ab und räumt sie seinem Kollegen Welcker in Halle ein, der ein ähn¬
liches Verfahren schon bei der Untersuchung der Schädel oder angeblichen Schädel
Schillers, Kants und Rnphacls angewandt habe. Die sämtlichen einschlagenden
wissenschaftlichen Arbeiten Welckers aus den Jahren 1333 bis 1887 findet der
Leser in dem zweiten Bericht von His verzeichnet und besprochen.
Am Schluß seines zweiten Berichts erörtert Professor His nochmals die schwierige
Bilderfrage, aber auch sie, ohne sie gegen früher wesentlich zu verrücken. Ich möchte
auch meinerseits dazu noch ein paar Beiträge liefern. Wie ich schon früher mit¬
geteilt habe, glaubt man von vier Ölbildern Bachs Kunde zu haben, einem, das
in Erfurt war (in der Predigerkirche), einem in Berlin (in der Amalienbibliothey
und deu beiden Leipzigern (dem in der Thomasschule und dem in der Petersschen
Musikbibliothek). Das Erfurter Bild wird mein wohl endgiltig für verloren an¬
sehen müssen. Das Berliner ist inzwischen auch von Professor His an Ort und
Stelle besichtigt worden,") Er sagt darüber: „Jedenfalls liegt ein Porträt vor,
dessen Original weder das Thomasschulbild noch das der Bibliothek Peters gewesen
sein kann. Bach sitzt in einem pelzverbrämten Hausrock, mit kurzer Perrücke und
mit roter Halsbinde an seinem Schreibtisch und hat den bekannten sechsstimmigen
Kanon in der Hund. Die Gesichtszüge sind energisch, der Ausdruck etwas fragend.
Sehr auffällig sind auch hier das Hervortreten der untern Gesichtsabschnitte über
die obern, die kräftige Nase und die tief eingesetzte Nasenwurzel." Nun ist das
Berliner Bild 1772,' also 22 Jahre nach Bachs Tode, von Lisiewski (so hieß der
Künstler, nicht Liszewski) gemalt worden. Lisiewski war aber ein bedeutender
Porträtmaler; sollte sich der herbeigelassen haben, ein älteres Porträt Bachs zu
kopiren? Und weiter: wer hatte 1772 noch ein so lebhaftes Interesse für Johann
Sebastian Bach, daß er sich ein Bildnis von ihm kopiren ließ? Damals wurden
die Söhne gefeiert, namentlich Carl Philipp Emanuel Bach. Ihn hatte die Prin¬
zessin Amalie noch kurz vor seiner Übersiedlung von Berlin nach Hamburg zu
ihrem Hofkapellmeister ernannt. Nun wird aber in Gerbers Lexikon der Tonkünstler
(2. Teil, Leipzig. 1792. Anhang S. 61) unter den Gemälden von Bildnissen be¬
rühmter Tonlehrer und Tonkünstler mit einer Bestimmtheit, die nichts zu wünschen
übrig läßt, verzeichnet: „Bach (Carl Philipp Emnuuel), in Öl gemalt von
Lisiewsky; befindet sich bei der von der Prinzessin Amalia hinterlassenen Bibliothek
im Joachimsthaler Gymnasium zu Berlin." Es wäre sehr drollig, wenn dieses
ängstlich gehütete Bild zu guterletzt den alten Bach gar nicht darstellte!
Dann blieben nur die Leipziger Bilder übrig, die beide dem bekannten Leip¬
ziger Porträtmaler jener Zeit Elias Gottlob Hausmanu zugeschrieben werden. Auf
das Bild der Thomasschule ist Professor His, nachdem es restaurirt worden ist, schlecht
zu sprechen, er sieht an der Stirn eine „sanduhrformige Einziehung" und an der Nasen¬
spitze einen „kugligen Vorsprung," und die Oberlippe erscheint ihm „wie von einem In¬
sektenstiche angeschwollen"; er möchte daher der Lithographie von Schlick (184.0)
und dem Stich vou Sichling (1850) größere Bedeutung zusprechen, als dem Ori¬
ginal in seiner jetzigen Verfassung. Nun ist aber bei der letzten Restauration weiter
nichts geschehen, als daß der schmutzige, braune Firnis heruntergenommen und
einige Stellen, wo die Farbe fehlte, u. a. eine an der Stirn und eine um der Oberlippe,
ausgebessert worden sind und dann das Bild frisch gefiruist worden ist. Vorher ist
es nur einmal 1852 restaurirt worden; nach dem Berichte des Rektors Stallbaum
hat es damals „eine Gesellschaft edler Kunstfreunde und Gönner der Schule von
neuem auffrischen und mit goldnem Rahmen einfassen lassen" (f. das Osterprogramm
der Thomnsschule von 1852). Schreibt man also der Lithographie und dem Stich
eine größere Bedeutung zu, so muß man annehmen, daß die „edeln Kunstfreunde"
vou 1852 das Original hätten vollständig übermalen lassen. Daran ist aber sicher
nicht zu denken. Denn abgesehen von den paar beschädigt gewesenen Stellen ist, wie
die zahllosen, gleichmäßig über das ganze Bild verteilten kleinen Sprünge in der Farbe
zeigen, durchaus das Originalbild von 1735 erhalten. Ich glaube daher immer
noch, daß Schlick und Sichling das Bild im wesentlichen in der Verfassung vor
sich gehabt haben, wie wir es vor uns haben, und daß das, was sie daraus gemacht
haben, auf ihre Rechnung zu setzen ist.
Eine sehr heikle Sache ist es mit dem Kütnerschen Stich, dein Professor His
so große Bedeutung beilegt, und der auf irgend eine Weise mit dem Ölbilde der
Petersschen Musikbibliothek zusammenhängt. Das Peterssche Bild ist in ein Oval gemalt,
der Kütnersche Stich in einen Kreis gezeichnet, der von dem auf den Kupferstichen
jener Zeit üblichen steinernen Rahmen eingefaßt ist. Die Hände fehlen in beiden
Bildern. Unten auf dem steinernen Rahmen aber liegt ein Blatt Papier mit dem¬
selben «ÜÄllon ti'ixlsx, den Bach auf dem Bilde der Thomasschule in der rechten
Hand hält. Der Stecher muß also beide Bilder gekannt haben. Nun ist der Stich,
wie am untern Rande zu lesen ist, 1774 in Leipzig gefertigt, wo Kütuer — da¬
mals 24 Jahre alt — wahrscheinlich Schüler der Zeichenakademie, auf jeden Fall
aber Schüler des Kupferstechers Banse war.*) 1774 war aber weder das heutige
Thomasschulbild uoch das heutige Peterssche Bild in Leipzig. Das erste war da¬
mals in Berlin im Besitz Friedemann Bachs (s. das Osterprogramm der Thomas¬
schule von 1852), das zweite war in Hamburg im Besitz Philipp Emanuel Bachs.
Wie kam ein Leipziger Akademieschülcr dazu, ein Bildnis Bachs in Kupfer zu
stechen, das die Kenntnis jener beiden Bilder voraussetzt? Ich kann es mir nur
auf folgende Weise erklären. Der Sohn Philipp Emanuel Bachs, der Maler
Johann Sebastian Bach, der 1778 jung in Rom gestorben ist, war jedenfalls 1774
Mitschüler Kütners in Leipzig — wie hätte sonst Öser, der Akademiedirektor,
sein Bildnis zeichnen können, das nach seinem frühen Tode 1791 in der Neuen
Bibliothek der schönen Wissenschaften erschien? Dann ist es aber sehr wahrscheinlich,
daß die Vorlage zu Kütners Stich Zeichnungen von der Hand des jungen Bach gewesen
sind, die dieser ans dem Vaterhause und dem Hause des Oheims mitgebracht hatte.
Eine ganze Novelle, nicht wahr? Aber erkläre es doch einmal einer anders.
Ist aber der Kütnersche Stich auf diesem oder einem ähnlichen Umweg entstanden,
dann kann er auch keine selbständige Bedeutung beanspruchen. Er würde es uoch
tonnen, wenn das Bild der Petersschen Musikbibliothek nicht das Hausmannsche Ori¬
ginal, sondern eine spätere Kopie dcwou wäre. Das ist aber doch zunächst nicht
anzunehmen. Das Peterssche Bild unterscheidet sich allerdings auffällig von den
zahlreichen Hausmcmnschcn Bildnissen, die wir in Leipzig haben. Aber es ist ent¬
schieden früher gemalt als das Thomasschulbild, denn es zeigt Bach wesentlich
jünger als dies, zeigt ihn auch uoch in der Allongeperrücke; wir werden nicht irren,
wenn wir es uns um 1730, vielleicht sogar bald nach Bachs Anstellung in Leipzig
(1723) entstanden denken. Dann könnte es aber sehr gut von dem ältern Haus¬
mann, dem Vater Elias Gottlob Hausmanns, gemalt sein, der in den zwanziger
Jahren mehrfach in Leipzig beschäftigt gewesen ist. Jedenfalls bedarf die Sache
Sonnabend den 4. Januar ist das sogenannte litterarische
Berlin, oder was sich dort „litterarisch" zu sein dünkt, mit dem neuesten Werke
von Gerhnrt Hauptmann, dem „Bühnenspiel" Florian Geyer, bekannt gemacht
worden. Man war äußerst gespannt gewesen wie auf ein bedeutendes Ereignis,
und was ein Teil des Publikums erwartet hatte, bewies die Anwesenheit der
Herren Singer und Liebknecht um Abend der ersten Aufführung im Deutschen
Theater. Aber alle, die mit großen ästhetische» oder politischen Erwartungen ge-
kommen waren, sind um eine Täuschung reicher heimgegangen. Der Dichter, der
in seinen Webern — mag man über die Tendenz dieses revolutionären, Autorität
und Obrigkeit versöhnenden Dramas denken, wie man will — die flammende
Sprache des echten Dramatikers gesprochen hat, verliert sich im Florian Geyer in
breitesten Gerede, in weitschweifiger Schilderei von Bildern, die gewiß zündender
Einzelheiten nicht ermangeln, aber doch nicht interessiren und mit fortreißen. Nicht
einmal unmittelbare Handlung gewähren sie. In der Ferne geschehen die letzten
Greuel des Bauernkrieges von 1525. Durch Briefe nur, die flüchtige Boten
bringen, durch Personen, die der furchtbar rächenden Hand des Truchseß von Wald-
burg entgangen sind, oder durch Leute, die sich als wimmernde Zeugen eines
scheußliche» Blutbades darstellen, vernehmen wir von den Begebenheiten, in deren
Mittelpunkte der Bauernfllhrer Florian Geyer stehen sollte. Erst im letzten Akte
rafft sich der Dichter auf und zeigt, daß er eines höhern Fluges fähig ist; doch
bedeutet das nach einem Vorspiel und vier langatmigen Akten nicht genng, um den
Vorwurf zu entkräften, daß dies „Bühnenspiel" der Eigenschaft eines mächtig ge¬
schlossenen Kunstwerks entbehrt.
Ein Hauptmangel: Florian Geyer, wie ihn Hauptmann zeigt, ist nicht der
Held darnach, daß er ein großes Drama tragen könnte. Was uus Zuverlässiges
von diesem Freunde der Sache der Bauern, von diesem sozialistisch-kommunistischen
Vorbilde etwa eines Lassalle überliefert worden ist, erweist sich als gering. Um
so freiern Spielraum hatte die schaffende und gestaltende Hand des Dichters. Er
konnte die Idee» und Thaten Florian Geyers aus bestimmten Motiven adeln und
ihnen so unsre Teilnahme gewinnen; er konnte ihn um Großes ringe» und groß
untergehen lasse»; er mußte ihn vor allem aus der Sphäre eines Volksredners,
der um die Maientage des Jahres 1525 die Rothenburger Bürger zu haranguiren
suchte, ihm Geschütz und Mannen zu geben, um die Feste „Unsrer Frauen Berg"
in Würzburg zu berennen, herausheben und ih» mehr als den Mann der That
als des Rates hinzustellen. Das hat Hauptmann nicht gethan. Gewiß zählt sein
Florian Geyer zu den edel» Schwarmgeistern. Es schwebt ihm ein evangelisches
einiges Reich vor, als dessen Oberhaupt er auf deu Markt von Rothenburg sogar
den Namen Barbarossa hinaufruft. Er ist im Zorn entbrannt wider die Sünd¬
haftigkeit der römischen Klerisei und ihrer Häupter auf dem Stuhle Petri, die die
Lust und den Glanz der Welt liebte». Er weiß, daß die Bewegung der Bauern
ohne einen gewaltigen Führer in Uneinigkeit ersticken muß, und trachtet, die hadernden
Gruppen zusammenznhnlten und sie mit seinem Geiste zu durchglühen. Aber
doch uur im ersten Akte erweist er sich auf der Höhe; dann sinkt er zu einem un¬
entschlossenen, grübelnden, ja sentimentalen Gesellen herab, den das Unheil über¬
kommt, ohne daß er ihm wie ein Held die Stirn bietet und die Zähne zeigt.
Die Sache ist, wie gesagt, auf ein Vorspiel und fünf lange Akte ausgesponnen.
Das Vorspiel zeigt die um den Bischof von Würzburg auf der Burg „Unsrer
Frauen Berg" versammelten Ritter und Edeln in arger Beklommenheit ob der
Erfolge, die die wilden Vanernscharen, insbesondre die schwarze Bande Florian
Geyers, bis dahin errungen haben. Ein Schreibcrlein liest den trntzigen Herren
die berühmten zwölf Artikel vor, die die Bauern ihren Forderungen zu Grunde
gelegt hatten. Die Meinungen über diese Postulate gehen ans einander. Herrische
Abweisung begegnet sich mit Erwägung von Billigkeit und Gerechtigkeit. Doch
Herreumoral und Herrenrecht siegen; und unter Schwertergerassel und Hurrageschrei
geloben die Hochedeln dem Bischof Konrad, treu zu ihm und der Sache des Ritter¬
tums zu stehen und die von den Bauern belagerte Burg „Unsrer Frauen Berg"
zu halten. Als Exposition Wäre dies lebendige Bild nicht so übel. Es belehrt
uns mit schnellem Atem über die Bewegung, wie sie Anfang Mai des Jahres
1525 gediehen war: die Bauern, unter Götz von Berlichingen und Florian Geyer,
in Würzburg die genannte Burg berennend; Fürstbischof Konrad von Thüugen
verzagt und bereit, über die zwölf Artikel zu verhandeln; zwei Strömungen in
seiner Vasallenschaft; in aller Munde Florian Geyer als teuflischer Führer seiner
„schwarzen Knaben."
Aber was um folgt, ist eigentlich nichts andres, als fort und fort gedehnte
Einführung in die Ereignisse oder Nachricht über sie durch Gespräch und Relation,
nichts andres also als fortgeführte Exposition. Verheißungsvoll läßt sich noch der
erste Akt an. Ein gewölbter Kirchenraum. Schreiber, Magistratspcrsonen, Geist¬
liche: alle sind in gleicher Weise ergriffen und trunken von dem Geiste des Banern-
cmfruhrs. Auch Ritter Wilhelm vou Grumbach, Florian Geyers Schwager, neigt
den Bauern zu, kommt aber übel an, als er irgend eine Schreiberseele nicht als
Bruder behandelt, sondern noch etwas wie Feudalitnt hervorkehrt. Dann läuten
die Glocken, und es füllt sich der Saal. Wilde Gesellen kommen herbei in mannich-
fachen Waffen, der wildeste unter ihnen, Tellermann, Florian Geyers Feldhaupt¬
mann, immer auf dem Sprunge, Andersmeineuden den Schädel einzuschlagen. Als
letzter erscheint Florian Geyer, in schwarzer Rüstung. Es beginnt ein lärmendes
Parlamentiren. Eine Gesandtschaft des Bischofs Konrad aus der Burg ist da.
Man versucht mit ihr über die zwölf Artikel zu unterhandeln; doch die rauflustige
Opposition, voran Götz von Berlichingen, schreit die Besonnenen nieder. Die Ritter
ziehen unverrichteter Dinge wieder ab. Überdrüssig des Geschreis, eilt endlich
Florian Geyer zur Wand, zieht mit Kreide eine» Kreis und fordert von alleu,
die ihm gehorchen wollen, ihren Dolch in den so umgrenzten Raum zu stoßen.
Das thun viele, jeder mit einem blutigen Rachesprnch. Dieser Vorgang ist voll
Energie und Wucht; und in dem Hin und Her durch und auf einander tobender
Bauern zeigt sich die Hemd, die eine große Menschenmasse ans der Bühne Wohl
zu meistern weiß. Zugleich haben wir den Charakter des Bauernaufstandes von
1S2S scharf gekennzeichnet vor uns und sehen die Ursachen, ans denen er scheitern
mußte. Keine Massenbewegung — so ungefähr sagt ein Besonnener — vermag
ohne Haupt zu ersprießlichem Ende zu gelangen; sie zerfällt dnrch die Zwietracht
der Haufen und Häuslein wie der Einzelnen. Handgreiflich sehen wir den Beweis
für diesen Ausspruch. Diese brutalen, auf kleinliche Rache, auf Völlerei und Sauflust
bedachten Kerle, im Grunde feige wie die Hasen, müssen den Schwertern und
Haubitzenkugelu der Ritter unterliegen.
Das geschieht auch alsbald. Florian Geyer hat sich aus Würzburg fort nach
Rothenburg begeben, die Stadt für die Bruderschaft der Bauern zu gewinnen. Die
Sache kommt jedoch schwer vom Flecke, die Nothenburger sind vorsichtige Leute.
Von irgend welcher That Geyers gewahren wir nichts. Man ist in einer scheute
beisammen. Allerlei Volk geht ein und aus; und wieder platzen die Feldgeschreie:
Hie Papst und Ritter, hie Bauern und Florian Geyer! ans einander. Auch eine
Dirne hat sich herbeigeschleppt, Marei, die Weg- und Zeltgenossin Florian Geyers,
ein Stück von ihm, etwa wie das Kätchcu vom Grafen Wetter von Strahl. Sie
liegt einstweilen auf der Ofenbank ausgestreckt, unbeachtet. Wie die Chroniken er¬
zählen, hat Florian Geyer zu Rothenburg viele Reden gehalten, in revolutioucir-
kommunistischer Richtung. Keiner Obrigkeit solle der gemeine Manu mehr Unter¬
than sein, auch andre angenehme Dinge erfahren, wie das, Anteil zu haben an
den zu kousiszirenden geistlichen Gütern. Der Geyer unsers Dramas jedoch be¬
schränkt sich auf ein paar zum Fenster hiuausgesprochne Worte, die nichts geringres
predigen als die deutsche Einheit unter einem Herrscher. (Leider war das Deutsche
Theater zu dunkel, mis daß der Schreiber dieser Zeilen hätte sehen können, welchen
Ausdruck das Gesicht des Herrn Singer annahm, als er das den „Genossen"
Florian Geyer sagen hörte.) Endlich würdigt Geyer die Marei eines Blicks. Man
findet Briefe bei ihr, eine Schreckenspost: Der Truchseß vou Waldburg hat den
Bauern eine gewaltige Niederlage beigebracht (am 12. Mai bei Bebungen). Mehrere
Tausend von ihnen liegen hingeschlachtet. Auch die Würzburger Angelegenheit
steht schlecht. Des Bischofs Burg ist vergeblich durch die Bauern berannt worden.
Im dritten Alt scheint der Fluß der Handlung noch mehr zu versanden als
zuvor. In öder Trübseligkeit schleppt sich der Rest der Getreuen Florian Geyers
in Schweinfurt zusammen, wohin eine Art von Landtag berufen ist. Die meisten
der Erwarteten, voran der Markgraf von Brandenburg-Anspach, erscheinen nicht.
Lähmende Mutlosigkeit hat sich der Anwesenden bemächtigt. Ein Mütterlein mit
ihrem Sohne tritt herzu. Wieder nnr Relation: der Sohn ist einer von denen,
die zu Kitzingen der Markgraf von Anspach hat blenden lassen. Man schaudert
und verzagt. Ans dem ganzen Akte blickt es uus an wie entsetzliches Gähnen,
Während jetzt die Flamme am hellsten lodern sollte.
Nun gehts zurück nach Rothenburg. Es ist zu nächtlicher Weile wieder in
der Schenke von vorhin. Männer sitzen und trinken beim flackernden Lichte der
Talgkerzcn. Man merkts aus ihren Reden: die Sache der Bauern ist verloren,
das vorsichtige Rothenburg neigt dem Sieger zu. Zum Zeichen dessen wird um
diese Stunde der Galgen gestürzt, den Florian Geyer für die Hälse der Edelleute
hatte errichten lassen. Die ehrsamen Bürger gehen uach Hause. Ju der Trink¬
stube wird es einsam. Da horch, poch poch! Ein gebrochner Mann kommt, der
gesehen hat und erzählt, wie der Sieger gegen die Bauern gewütet hat. Noch
einmal das Pochen. Diesmal ist es Florian Geyer selbst, bejammernswert klein¬
mütig, dann angefeuert durch Wein und in eine genialische trinkselige Stimmung
hineinkokettirt. Es klopft zum drittenmnle. Ein grauenhaft wilder Geselle bricht
herein: der Tellenuann, Geyers Feldhauptmann. Er schreit und tobt, zum Tode
verwundet, brüllt, röchelt und stirbt. Das Stimmungsbild — denn andres ist
dieser Akt nicht — zu vollenden, greift ein anwesender Spielmann in die Saiten
und stimmt ein Lied an vom Helden Florian Geyer. Der Held selbst — weint.
Das Lied schweigt. Endlich entschließt sich Florian Geyer zu reiten — in
den Tod.
Sein Ziel ist Schloß Nimpar, die Burg seines Schwagers Wilhelm von
Grumbach. Dieser Edle hat schnell wieder die Farbe des Bauerufreuudes mit der
des Feudalherrn vertauscht, seit er vernommen hat, daß die Bauern am Boden
liegen. Ritterschaft, auf der Suche nach dem schwarzen Geyer, kehrt bei Grum-
bach ein, bewillkommnet und bewirtet durch ihn und seine Gattin. Man zecht,
wird bezecht und läßt seinem Übermut die Zügel schießen, indem man auf einen
Haufen gefangner und herbeigezerrter Bauern mit Peitschen loshaut. Dann geht
das Gelage weiter. Inzwischen schleppt sich Florian Geyer herauf. Ihm voran
huscht Marei, seine Liebste. Grumbach gewahrt und erkennt seinen Schwager. Er
mag ihn nicht vertreiben, sondern birgt ihn, nebst der Dirne, in einem Gelaß.
Seine Gattin erkundet das Versteck. Bangend vor dem Vorwurf, dem Verfehmten
Asyl gewährt zu haben, verrät sie den trunkner Gästen, daß Florian Geyer im
Schlosse sei. Die Ritter stürzen herzu. Mnrei wird niedergemacht. Dann steht
Florian Geyer, gezückten Schwerts, vor ihnen. Wilde Rede und Widerrede. End¬
lich sinkt der schwarze Bauernführer, getroffen durch die vorschnelle Armbrust eiues
im Raume anwesenden frechen Landsknechts, tut zusammen.
In diesem letzten Akte ist die dramatische Kraft Gerhart Hauptmanns potenzirt.
Vor nichts schrickt der Dichter zurück. Wenn er die armen, verhärmten Bauern
an Stricken, wie Vieh hereinbringen und sie durch die trunkner Junker peitschen
läßt, so wirkt das gewiß brutal und abstoßend; und es ist erklärlich, daß diese
Szene bei der ersten Ausführung des Dramas einen minutenlangen Skandal her¬
vorrief. Aber der Auftritt entspringt einer unerbittlichen Konsequenz und ist, an
historischer Wahrheit, vielleicht das echteste in dem ganzen Stück. Sodann wirkt
der Kontrast zwischen dieser wimmernden Schar und der lauten, siegesübermütigen,
trunkner Bande im ersten Akte gewaltig; hier zeigt sich wieder der Dramatiker.
Aber dieser fünfte Akt vermag das „Bühnenspiel" in seiner Gesamtheit nicht zu
retten. Es bleibt ein Werk ohne künstlerische Harmonie, es bleibt auch darin
hinter dem von Gerhart Hauptmann erwarteten zurück, daß aus der verwirrenden
Fülle der Personen nicht eine Gestalt, außer Florian Geyer, scharf hervorragt.
Wohl sind Ansätze zur Charakterisirung vorhanden in einem bäuerlichen Fanatiker,
in dem erwähnten Landsknecht, der den Geyer fällt, in dem Feldhauptmann Tellcr-
mann, in der Marei, der Begleiterin Florian Geyers ; aber alles bleibt im Ansätze
stecken und versinkt in dem Lärm der cmfgebotnen Menge. Daß uns Florian Geyer
weder interessirt noch ergreift, wird der Leser aus unserm Bericht wahrgenommen
haben. Solch schwankende Menschen, die das Böse zaghaft, das Gute verschwommen
thun, die uns weitab von den Begebenheiten, horchend, zagend, verzweifelnd, vor¬
geführt werden, deren Handeln nnr im Munde der Nebenpersonen lebt — das
sind keine Männer, um die sich ein großes Drama zu schließen vermag, nicht
Helden, deren Bewunderung uns deu Atem raubt.
Zuletzt soll noch der Sprache des Stücks kurz gedacht werden. Gerhart
Hauptmanns Gestalten sollen offenbar den Ton ihrer Zeit treffen; sie sagen: „nit"
für nicht, „gewest" für gewesen, ich bin „kommen" statt gekommen, „Lager" statt
Lager, er hat sich dort „hingethan" für begeben, „frumm," er mag „nichts nit"
und ähnliches. Für unsern Geschmack klingt das geziert, um so mehr, als man den
Schauspielern meist das Angelernte anmerkt.
Die Bewunderer Hauptmanns, die besonders nach den Webern bedeutendes
von ihm gehofft haben, werden nach diesem Florian Geyer ihre Lobsprüche etwas
kühler einrichten müssen, wenn sie ihre Liebe nicht blind gemacht hat.
In Ur. 42 des Ärztlichen Zentralauzeigers war im
Fragekasten die Diskussion darüber angeregt, ob nicht eine Bestimmung von Alters
her darüber bestehe, daß den Doktoren der vier Fakultäten das Prädikat „Hoch-
wohlgeboren" zukomme. Ich kann diese Frage leider nicht entscheiden, mochte aber
doch die Gelegenheit wahrnehmen, die Ärzte und besonders die ärztlichen Vereine
im Interesse des Standes und zum Zweck der so notwendigen Hebung desselben
aufzufordern, der Sache näherzutreten. Es ist nicht uur eine Ungerechtigkeit, sondern
auch ein barer Widersinn, den Doktoren das Prädikat „Hochwohlgeboren" nicht
offiziell beizulegen. Ein Beispiel für viele: Ein betagter, vielbeschäftigter Arzt,
der sich in seinem Wohnort der besten Praxis erfreut, hochgeachtet und beliebt ist,
hat drei Söhne. Der älteste, ein hochbegabter Mensch, macht seine Studien mit
Leichtigkeit durch und wird alsbald Privatdozent mit den besten Aussichten. Ihm
kommt das Prädikat „Wohlgeboren" zu wie jedem andern Gewerbtreibenden. Der
zweite Sohn ist weit weniger begabt, bringt es aber doch mit 26 Jahren zum
Staatsexamen und wird mit 26^ Jahren Assistenzarzt im xten Infanterieregiment.
Ihm kommt das Prädikat „Hochwohlgeboren" zu. Der dritte Sohn macht den
Eltern viel Sorge, lernt sehr schwer, kommt mit Mühe zum Primcmerzeuguis und
wird dann auf der Presse zum Fähnrichexamen abgerichtet. Mit 20 Jahren ist
er ein schneidiger Sekondeleutnant. Ihm kommt das Prädikat „Hochwohlgeboren" zu.
Also der unfähigste erhält das Prädikat mit 20 Jahren, der fähigere mit 26 Jahren,
der fähigste erst spät, wenn er Professor wird, und der Vater, salls er dnrch die
Gnade des Landrath und Regierungspräsidenten nicht den Rat vierter Klasse Mit
60 Jahren erhält, überhaupt nicht. Ich dächte, wenn einzelne ärztliche Vereine
ihren Delegirten den Auftrag geben wollten, im nächsten Ärztetage den Antrag
einzubringen, an zuständiger Stelle das Verlangen der Ärzte, den Doktoren das
Prädikat „Hochwohlgeboren" beizulegen, zu vertreten, so würde es durchaus nicht
schwer fallen, dieses Verlangen durchzusetzen, namentlich wenn dasselbe durch solche
widersinnigen Beispiele, wie das obige, illustrirt würde. —
So ist wörtlich zu lesen im Ärztlichen Zentrcünnzeiger von 1895, Ur. 49.
Wie verschieden doch die Menschen sind! Auch innerhalb der Kreise, die man im
allgemeinen für gleichartig halten sollte! Die Grenzboten haben im vorigen Viertel¬
jahr eine ganze Anzahl Einsendungen abgedruckt, worin der Zopf der Wohl¬
geboren- und der Hochwohlgeborenheit in seiner ganzen Lächerlichkeit gezeigt war;
und hier kommt einer, der keine Ahnung von dieser Lächerlichkeit hat, der tief
gekränkt ist, weil er bloß wohlgeboren sein soll! Das Paßt zur deutschen „Welt¬
politik" ! _^
- Wir erhalten Folgendes zugesandt:
l Die Redaktion der Grenzboten ersuchen wir ergebenst nach 8 11 des Gesetzes
über die Presse auf Grund unsrer amtlichen Ermittlungen, folgende Berichtigung
der in dem Artikel „Zur Strafrechtspflege" — Ur. 41 Seite 96 der Druckschrift —
enthaltenen Thatsachen in die nächst folgende Nummer der Zeitschrift aufzunehmen:
I. Es ist nicht richtig, daß die Verurteilung zu 3 Jahren Zucht¬
haus lediglich deswegen erfolgt ist, weil die Verurteilte ihre Tochter
zum Meineide angestiftet habe. Der Sachverhalt ist vielmehr folgender:
Die Ehefrau L. zu Kiel hatte in einem hier gegen sie anhängigen Strafver¬
fahren ein angeblich früher bei ihr bedienstet gewesenes Mädchen als Entlastungs-
zeugiu benannt und die kommissarische Vernehmung desselben in Königsberg i. Pr.,
dem angeblichen Domizil der Zeugin, beantragt. Daraufhin wurde vom Amts¬
gericht zu Königsberg eine Person des angegebnen Namens eidlich als Zeugin ver¬
nommen, deren Aussage als wissentlich falsch nachgewiesen wurde. Die Zeugin
war, wie sich später herausstellte, die derzeit 15jährige Tochter der Ehefrau L.,
welche auf deren Veranlassung vou Kiel unes Königsberg gereist war und sich dort
sowohl der Polizei wie dem Amtsgericht gegenüber fälschlicherweise für die Person
ausgegeben hatte, deren Vernehmung beantragt war.
Die Ehefrau L. hatte außerdem in dem nämlichen gegen sie schwebenden
Strafverfahren es unternommen, die Ehefrau M. zur Abgabe eines wissentlich
falschen Zeugnisses zu verleiten.
Ans Grund dieses Sachverhalts ist die Ehefrau L. zu einer Gesamtstrafe
von 8 Jahren Zuchthaus verurteilt worden und zwar rücksichtlich ihrer Tochter
ans 88 43, 154 Strafgesetzbuchs, rücksichtlich der Ehefrau M, aus 8 159 Straf¬
gesetzbuchs.
II. Es ist uicht richtig, daß es „im Strafrecht uach der Praxis und
der Wissenschaft feststeht," daß ein Meineid von Personen unter 16
Jahre» uicht begangen werden kann.
Auf diesem Standpunkt steht allerdings das Urteil des Reichsgerichts vom
26. März 1881 — Entsch. IV. 32 —, dem sich verschiedne spätere Urteile ohne
erneute Erörterung der Gründe angeschlossen haben. Das Gegenteil aber behauptet
Olshausen — Kommentar Note 3b zu Z 153 —, dessen hervorragende Bedeutung
außer Zweifel steht. —
Ein näheres Eingehen auf diese Frage würde den Rahmen einer Berichtigung
überschreiten.
III. Es ist nicht richtig, daß das Amtsgericht die eidesunmündige
Tochter gesetzwidrig mit dem Zeugeueide belegt habe.
Die Tochter gab sich bei der Vernehmung als 19 jährig aus, ohne daß ihre
äußere Erscheinung deu Betrug durchschaue» ließ. Objektiv war die Beeidigung
allerdings gesetzwidrig. Mit diesem Ausdruck hat aber nach der ganzen Tendenz
des Artikels unverkennbar gesagt werden sollen, daß die Gesetzwidrigkeit durch
schuldhaftes Verhalten des Richters herbeigeführt ist.
IV. Unrichtig ist die der ganzen Darstellung des Artikels ohne
weiteres zu Grunde gelegte Annahme, daß in der Rechtsfrage überall
Ignoranz der beteiligten Beamten obgewaltet habe.
Es ist demgegenüber insbesondre hinsichtlich der Hauptverhandlung vor dem
Schwurgericht folgendes hervorzuheben.
1. Seitens des Vorsitzenden ist von vornherein neben der Hauptfrage, ob die L.
ihre Tochter zum Meineid angestiftet habe, eine entsprechende Hilfsfrnge ans Z 159
Strafgesetzbuchs (erfolgloses Unternehmen der Verleitung zum Meineide) gestellt.
2. Der Vertreter der Staatsanwaltschaft hat den Geschworne» gegenüber
die Existenz der Reichsgerichtsentscheidung vom 26. März 1381, ihre Bedeutung
und Begründung erörtert und dabei eingehend die verschiednen Gründe dargelegt,
welche die gegenteilige Nechtsansicht als die richtige erscheinen lasse».
3. Der Vorsitzende hat ebenfalls in der Rechtsbelehrung unter Darlegung der
Begründung der Ncichsgerichtsentscheiduug vom 26. März 1881 den Geschworenen
die verschiednen Ansichten der bekanntern Rechtslehrer und Kommentatoren des
Strafgesetzbuchs über die betreffende Rechtsfrage auseinandergesetzt und ausführlich
erörtert.
(Name unleserlich.)
Zu dem Vorstehenden, das wir abdrucken, obgleich es über den Rahmen einer
sachlichen Berichtigung hinausgeht, mag bemerkt werden, daß die in dem Artikel
„Zur Strafrechtspflege" enthaltene Darstellung des Falles dem entsprochen hat, was
darüber aus der Revisionsverhandlung vor dem Reichsgericht und aus dem deu
Ausgang der Sache aufs ernsteste beklagenden Plaidoyer des Reichsanwalts zu
entnehmen gewesen ist, wobei freilich Lücken und auch falsche Auffassungen nicht
ganz zu vermeiden waren.
Wenn aber in der Berichtigung selbst zugegeben werden muß, daß der
Schwurgcrichtsvorsitzende, statt deu Geschwornen über die einschlagende Rechts¬
frage eine bestimmte Rechtsmeinung zu lehren, wie es das Gesetz verlangt, ihnen
Zweifelsgründe gegen die Nichtigkeit der feststehenden Praxis des Reichsgerichts
vorgeführt hat, so heißt das soviel, als daß zwölf Laien veranlaßt wurden, über
das juristische Verständnis des obersten Gerichtshofes zu Gericht zu sitze». Ob el»
solches Verfahren dem richtigen Sinne und dem Geiste des Schwurgerichtsprozesses
entspricht, darüber zu entscheiden kann jedem Urteilsfähige» überlasse» bleibe».
ährend die Gebiete des romanischen Rechts (Frankreich, Belgien,
die Schweiz, Italien) und des englischen Rechts (England und
Nordamerika) einen allgemeinen Begriff des unlautern Wett¬
bewerbs ausgebildet haben — gleichviel ob die theoretische Be¬
gründung, die sie ihm geben, richtig ist oder nicht —, hat die
Praxis der deutschen und österreichischen Gerichte und zum Teil auch die
deutsche Wissenschaft bisher die Auffassung vertreten, daß die ganze wirtschaft¬
liche Erwerbsthätigkeit durch die anerkannte Gewerbefreiheit außerhalb alles
Rechts stehe und lediglich die Bethätigung der natürlichen Handlungsfreiheit
sei. Sie komme daher auch uur dann in Betracht, wenn sie gegen bestehende
Strafgesetze, die sich an alle richten, verstoße.
Diese grundsätzlich verschiedne Auffassung ist nicht in einer Verschiedenheit
der Gesetze jener Rechtsgebiete begründet, denn dieselben gesetzlichen Bestim¬
mungen, auf denen das französische, englische und italienische Recht den Schutz
gegen unlautern Wettbewerb aufbaut, finden sich auch in den deutschen Gesetz¬
büchern der Einzelstaaten: es sind die allgemeinen Bestimmungen über Schaden-
zufügung. Die tiefern Ursachen, die zu dieser verschiedenartigen Auffassung
geführt haben, brauchen hier auch nicht weiter erörtert zu werden, es genügt
diesen durch stete Rechtsübung herbeigeführten Rechtszustand, der der Rechts¬
erzeugung gleichkommt, in seiner Verschiedenheit zu erkennen. Diese Ver¬
schiedenheit ist aber wesentlich gewesen für die ganze Rechtsentwicklung und
den Ausbau des Schutzes gegen den doch einmal vorhandnen und auch in
Deutschland nicht wegzuleugnenden unlautern Wettbewerb im Gewerbe. Denn
Thatsachen machen sich geltend, gleichviel ob sie die Juristen theoretisch kon-
struiren und definiren können oder nicht.
In den Gebieten des französischen Rechts führte die Ausbildung des Rechts-
Schutzes dazu, daß er sich thatsächlich nur als Erweiterung und Verschärfung
des bereits bestehenden Schutzes gegen jeden als Vermögensschädigung er¬
achteten unlautern Wettbewerb darstellte; er hob einzelne schwere oder sonst
ausgezeichnete Fälle heraus und stellte sie unter den in der Regel straf¬
rechtlichen Schutz von Sondergesetzen. Der allgemeine zivilrechtliche Schutz
gegen den unlautern Wettbewerb überhaupt blieb daneben immer noch aus¬
hilfsweise bestehen, auch wenn sich der unlautre Wettbewerb nicht unter die
Bestimmungen der Sondergesetze bringen ließ. Anders in Deutschland. Hier
konnte von einer Erweiterung und Verschärfung des Schutzes keine Rede sein,
da der unlautre Wettbewerb als solcher offiziell gar nicht anerkannt und nicht
verboten war. Wenn hier nach und nach einzelne Gesetze für bestimmte Fälle
unlautern Wettbewerbs Schutz gewährten, so führten sie diesen Schutz erst ein,
aber verschärften nicht einen bereits bestehenden. Die nicht unter die Bestim¬
mungen des einzelnen Schutzgesetzes zu stellenden Fälle, mochten sie ihnen noch
so ähnlich, ja gleich unlauter sein, mußten, weil nicht ausdrücklich verboten,
auch weiterhin für erlaubt gelten.
Das Ergebnis war eine große Unzufriedenheit mit den ergehenden Richter¬
sprüchen und der bestehenden Rechtsauffassung, sodaß sich immer mehr die
Überzeugung Bahn brach, es müsse ein allgemeines Gesetz zur Bekämpfung
des unlautern Wettbewerbs erlassen werden, die Einzelgesetze über den Marken¬
schutz, den Schutz von Warenbezeichnungen, die Urhebergesetze usw. genügten
dem immer weiter um sich greifenden unlautern Geschüftsgebahren nicht mehr.
Der Führer dieser Bewegung wurde der am 19. Dezember 1891 in Berlin
gegründete Verein für den Schutz des gewerblichen Eigentums.
Gedrängt von dem allgemeinen Verlangen, das schon im Reichstag bei
Beratung des Gesetzes vom 12. Mai 1894 zum Schutze der Warenbezeichnung
Ausdruck gefunden hatte, haben nunmehr die verbündeten Regierungen den
Entwurf eines Gesetzes zur Bekämpfung des unlautern Wettbewerbs vorgelegt.
Es ist zu hoffen, daß das gewünschte Gesetz zustande und damit eine Entwick¬
lung in Deutschland zum Abschluß kommt, die gerade in umgekehrter Richtung
wie die des französischen Rechts verlaufen ist: in Deutschland von Sonder¬
gesetzen zum allgemeinern Gesetze, in Frankreich vom allgemeinen zum Sonder¬
gesetze.
Freilich, die Aufstellung eines allgemeinen Rechtsgrundsatzes und ein all¬
gemeines Verbot gegen unlautern Wettbewerb giebt auch dieser Entwurf nicht.
Er hat absichtlich davon abgesehen. Er ergeht sich in der Hervorhebung
einzelner Fälle, und so werden leider auch nach diesem Gesetze noch nicht alle
unlautern Handlungen des Wettbewerbs, so wie zu wünschen wäre, getroffen
werden. Doch muß anerkannt werden, daß der Entwurf die schwersten und
häufigsten Fülle erwähnt, und daß auch alle aufgeführten Fälle wirklich die
Natur des unlautern Wettbewerbs haben.
Der Begriff des unlautern Wettbewerbs im Gewerbe ergiebt sich erstens
aus dem Begriff des Wettbewerbs überhaupt, zweitens aus dem Begriffe der
Erwerbsthätigkeit. Denn die Erwerbsthätigkeit mehrerer Gewerbtreibenden des¬
selben Gewerbes ist es ja, die mit einander in Wettbewerb steht. Das Ziel,
wonach jeder Gewerbtreibende strebt, ist Absatz und Verwertung seiner gewerb¬
lichen Leistungen, Kundschaft. Sind nun die von einem Gewerbtreibenden zu
verwertenden gewerblichen Leistungen gleicher oder verwandter Art, dienen sie
zur Befriedigung derselben Bedürfnisse wie die eines andern Gewerbtreibenden,
so wenden sich beide, um den Absatz ihrer Leistungen zu erlangen, an Menschen
mit denselben Bedürfnissen. Ist dann weiter noch der Kreis von Personen,
an die die Gewerbtreibenden ihre Leistungen absetzen wollen, ein und derselbe,
wohnen z. B. die Personen in derselben Stadt, in demselben Lande, nicht etwa
die einen in China, die andern in Deutschland, so strebt jeder, dieselben Per¬
sonen zu seiner Kundschaft zu gewinnen. Mit dem gegenseitigen Streben nach
einem einzigen Ziel, das nur dem einen von beiden zufallen kann, ist aber der
Wettbewerb gegeben. Daß aber ein solcher Wettbewerb heutzutage besteht, wo
infolge der Übervölkerung nicht nur einer, sondern eine große Anzahl Gewerb-
treibender für Befriedigung der wirtschaftlichen Bedürfnisse eines und desselben
Personenkreises sorgt, ist eine Thatsache.
Wie nun jeder Wettbewerb begrifflich eine Vergleichung, ein Abmessen
der nach dem gemeinsamen Ziele strebenden Kräfte enthält und unlauter wird,
wenn andre als zur Vergleichung gestellten Kräfte, sei es, um die Thätigkeit
des Gegners zu hindern, sei es, um die eigne Thätigkeit zu fördern, in den
Wettkampf eingeführt werden, so ist dies auch beim Wettbewerb zwischen den
gewerblichen Thätigkeiten der Fall. Erschöpft sich diese aber in der Verschaffung
von Kundschaft, so ergiebt sich daraus, daß als lauterer Wettbewerb uur solche
Erwerbsthätigkeit anerkannt werden kann, die in der Verschaffung von Kund¬
schaft durch eigne Arbeitskraft ihre Grenze findet. In dem Begriff der Kund¬
schaft liegt aber nun. daß die Abnahme der gewerblichen Leistungen in den
freien Willen der Abnehmer gestellt sein muß. Jede Gegenleistung für eine
nbgenommne gewerbliche Leistung, die nicht im freien Willen der Abnehmer
ihren Grund hat, erhält die Natur eines Tributs, einer Steuer an den
Leistenden und vernichtet damit den Begriff der Kundschaft. Bezeichnend
nennen deshalb die Engländer Kundschaft tu« goocwill ok g, tracls. Hieraus
folgt, daß jeder Wettbewerb im Gewerbe unlauter wird, wenn, sei es, um die
Thätigkeit des Mitbewerbers zu hindern, sei es, um die eigne Thätigkeit zu
fördern, eine Thätigkeit angewendet wird, die nicht eigne Arbeitsthätigkeit ist
und die freie Entschließung des Abnehmers, ob er Kunde werden will oder
nicht, beeinflußt. Eine unlautre, den eignen Erwerb fördernde Thätigkeit ist
sonach die täuschende Reklame und die Benutzung fremder Arbeitsthätigkeit,
sei es dadurch, daß man zwischen ihr und der eignen bei der Kundschaft Ver-
wechsluug herbeiführt, sei es, daß man sich unbefugt fremder Fabrik- und
Geschäftsgeheimnisse bemächtigt. Eine unlautre, die Erwerbsthätigkeit des
Mitbewerbers hindernde Thätigkeit ist insbesondre die Herabsetzung seiner
Person oder seiner gewerblichen Leistungen.
Dieser Einteilung entspricht in der Hauptsache der Gesetzentwurf. In § 1
verbietet er die unlautre Reklame. Reklame im weitern Sinne ist die über
das bloße Anzeigen und Feilbieten gewerblicher Leistungen hinausgehende An¬
preisung in Verbindung mit einer mehr oder minder aufdringlichen Auffor¬
derung an das Publikum, die gewerblichen Leistungen abzunehmen. Sie ist
ein Werben um Kundschaft und, da auf Kundschaftswerbung alle Erwerbs¬
thätigkeit hinausläuft, notwendig erlaubt, auch wenn sie noch so marktschreierisch
ist. Der Gewerbtreibende muß, um seine Ware abzusetzen, die Kauflust erregen
und deshalb sein Angebot als günstig darstellen. Mit der Erregung der
Kauflust allein ist ihm aber noch wenig geholfen. Er muß weiter die Kauflust
auch in der Richtung zu beeinflussen suchen, daß sie ihre Befriedigung bei ihm
nimmt und ihn seinen Mitbewerbern vorzieht. Zu diesem Zweck muß er also
sein Angebot als besonders günstig darstellen, günstiger als das seiner Mit¬
bewerber. Auch hierin liegt an sich noch nichts unlauteres; der Kampf ums
Dasein erfordert es. Das Werben um Kundschaft und Anpreisen der Ware
wird aber sofort unlauter, wenn der Anschein eines besonders günstigen An¬
gebots durch Irreführung der Abnehmer erreicht wird. Denn dann sind diese
eben nicht eigentlich mehr Kunden, freiwillige Käufer, es liegt deshalb auch
keine eigentliche Erwerbsthätigkeit mehr vor, wie sie allein im Wettknmpf zur
Vergleichung steht. Mit Recht verbietet deshalb der Entwurf, den Schein eines
besonders günstigen Angebots durch unrichtige Angaben thatsächlicher Art
hervorzurufen. Überflüssigerweise führt er aber außerdem noch einzelne That¬
sachen an, worüber unrichtige Angaben gemacht werden können, wie die Be¬
schaffenheit, die Bezugsquelle, die Preisbemessung, den Besitz von Auszeich¬
nungen und andres. Wenn sie auch treffend gewählt sind, so liegt doch zur
Beschränkung auf diese einzelnen Thatsachen keine Nötigung vor, und es dürfte
besser sein, sie nur in der Form von Beispielen zu erwähnen. Unberechtigt
ist bei der Täuschung über die Bezugsquelle die Beschränkung auf Waren,
während sonst überall von Waren und gewerblichen Leistungen gesprochen wird.
Ebenso ist die Öffentlichkeit für die täuschende Anpreisung zwar für die Be¬
strafung, nicht aber für zivile Schadenforderung eine angemessene Voraus¬
setzung. Auch den einzelnen Käufer etwa über die Preisbemessung und die
Art des Bezugs einer Ware zu täuschen, ist unlauterer, den Mitbewerber
nicht mit rechtlichen Mitteln bekämpfender, also ihn schädigender Wettbewerb.
In § 8 und Z 9 wendet sich der Entwurf dagegen, die Arbeitskraft des
Mitbewerbers unbefugt zu benutzen, um durch sie für sich selbst Kundschaft
zu gewinnen. Das häufigste Mittel, die Arbeitskraft des gefürchteten Mit-
bewerbers sich selbst dienstbar zu machen, besteht darin, bei dem Absatz seiner
eignen gewerblichen Leistungen eine Verwechslung über ihren Ursprung herbei¬
zuführen und sie dem Kunden als eine Arbeitsleistung des Wettbewerbers
vorzuspiegeln. Hat sich diese bereits die Gunst der Kunden erworben, so
nehmen sie dann in dem Glauben, es mit der erprobten gewerblichen Leistung
zu thun zu haben, die des andern Gewerbtreibenden an und lassen diesem den
Gewinn zukommen, der eigentlich dem Mitbewerber gebührte.
Dies setzt voraus, daß jede gewerbliche Leistung als die eines bestimmten
Gewerbtreibenden bezeichnet und erkennbar gemacht und dadurch von der jedes
andern unterschieden werden kann. In der Benutzung gleicher oder ähnlicher
Unterscheidungszeichen, wie sie zur Unterscheidung der gewerblichen Leistungen
des andern Gewerbtreibenden dienen, wird dann das Mittel gefunden, eine
Verwechslung zwischen den gewerblichen Leistungen bei der Kundschaft herbei¬
zuführen und so durch die eigne gewerbliche Leistung die des Mitbewerbers
zu verdrängen. Dies kann aber natürlich nur dann geschehen, wenn die zur
Unterscheidung der Leistungen eines bestimmten Gewerbtreibenden benutzten
Kennzeichen bei dem Publikum schou so eingebürgert sind, daß sie von diesem
anch als Kennzeichen dieses bestimmten Gewerbtreibenden erkannt werden. Nur
in diesen: Falle ist es überhaupt möglich, durch ihre Nachahmung einen Irrtum
zu erregen. Liegen aber diese Voraussetzungen vor, so müßte auch, sobald
durch irgend eine Irrtumserregung über das Unterscheidungszeichen beim Käufer
fremde Arbeitskräfte eigennützigen Zwecken dienstbar gemacht werden können,
die unbefugte Anmaßung jedes solchen Unterscheidungszeichens durch den Wett¬
bewerber verboten, und wenn dieser hierdurch dem andern Schaden zugefügt
hat, er zum Schadenersatz verpflichtet werden.
Der Entwurf thut das leider nicht, sondern hebt wieder nur einzelne
Unterscheidungszeichen heraus, durch die eine Verwechslung über die Urheber¬
schaft der angebotenen gewerblichen Leistungen zum Vorteil des wirklichen Ur¬
hebers und zum Nachteil des vorgeblichen Urhebers hervorgerufen werden kann.
Da aber die deutsche Rechtsauffassung nicht dazu gelangt ist, von dem all¬
gemeinen Begriff des unlautern Wettbewerbs aus jede solcher Täuschungen
zu treffen, so werden, wenn das Gesetz in dieser Richtung nicht verbessert
wird, nach wie vor gewisse unlautre Wettbewerbungen, obwohl sie rechtlich
und sittlich auf gleicher Höhe stehen wie die im Entwurf ausdrücklich hervor¬
gehobnen, nicht zu fassen sein.
Die Unterscheidungszeichen für die gewerblichen Leistungen zerfallen in
zwei Hauptklassen: in solche, die zur Unterscheidung des Geschäftsunternehmens
dienen, aus dem die gelverbliche Leistung hervorgeht, und in solche, die die
gewerbliche Leistung selbst und unmittelbar bezeichnen.
Die Nachahmung aller das Geschäftsunternehmen bezeichnenden Unter¬
scheidungszeichen trifft Z 8 des Entwurfs, wenn er untersagt, nicht nur einen
Namen oder eine Firma, was auch bisher schon untersagt war, sondern über¬
haupt jede besondre Bezeichnung eines Erwerbsgeschäfts in einer Weise, die
im geschäftlichen Verkehr Verwechslungen mit andern herbeiführen kann, zu
benutzen. Hiermit sind die Vorschriften des Handelsgesetzbuchs und des Ge¬
setzes zum Schutze der Warenbezeichnungen, die bisher nur die mißbräuchliche
Benutzung eines Namens oder einer Firma eines andern, nicht z. B. auch die
Nachahmung des Geschäftsschilds, die Ausstattung des Ladens usw. verboten,
in dankenswerter Weise erweitert worden. Dagegen werden die auf die ge¬
werblichen Leistungen unmittelbar bezüglichen Unterscheidungszeichen in Z 8
uicht erwähnt. Die Hervorhebung der falschen Angaben über die „Bezugs¬
quelle von Waren" kann diese Lücke nicht ausfüllen, da hier die Täuschung über
jene Merkmale nicht an sich, sondern nur dann verboten ist, wenn sie zugleich
zu Reklamezwecken benutzt, durch sie der Anschein eines besonders günstigen
Angebots hervorgerufen werden soll.
Nun wird zwar diese Lücke wesentlich verkleinert durch Vorschriften, die
sich in dem Gesetz vom 12. März 1894 über den Schutz von Warenbezeich¬
nungen finden. Diese sind aber schon deshalb sehr unvollständig, weil sie sich
nur auf die besondern gewerblichen Leistungen beziehen, die sich als Waren
verkörpern. Bei diesen aber macht nur die unbefugte Anmaßung zu Täuschungs¬
zwecken von eingetragnen Warenzeichen, sowie die zur Kennzeichnung von Waren
dienende Ausstattung der Waren, ihrer Verpackung und Umhüllung, für den
verursachten Schaden haftbar, sofern dadurch die Waren als gewerbliches Er¬
zeugnis einer bestimmten andern Person bezeichnet werden. Dagegen ist die
unbefugte Anmaßung einer Bezeichnung, die die Ware als von Personen her¬
stammend kennzeichnet, die nur allgemein nach dem Produktionsort bestimmt
sind, in gewissen einzelnen Fällen zwar bei Strafe verboten, macht aber für
den jenen Personen zugefügten Schaden zivilrechtlich nicht haftbar. Wenn
daher ein Leipziger Schnapsfabrikant seinen Schnaps als „Nordhäuser" ver¬
kauft, so können die in Nordhausen wohnenden Fabrikanten keinen Schaden¬
ersatz sür die Ablenkung ihrer Kundschaft verlangen. Es ist deshalb dringend
zu empfehlen, § 8 des Entwurfs so zu fassen: Wer im geschäftlichen Verkehr
einen Namen, eine Firma oder die besondre Bezeichnung eines Erwerbsgeschüfts
oder einer gewerblichen Leistung in einer Weise benutzt, die darauf berechnet
und geeignet ist, Verwechslungen mit dem Namen, der Firma oder der Be¬
zeichnung eines Erwerbsgeschäfts oder einer gewerblichen Leistung hervor¬
zurufen, deren sich andre befugterweise bedienten, ist diesen zum Ersatze des
Schadens, verpflichtet. Die Meißner Porzellanfabrik z, B. könnte diese Ver¬
besserung der Vorschrift nur mit Freuden begrüßen.
Mit der in Z 9 behandelten Anmaßung fremder Arbeitsthütigkeit durch
unbefugte Verwertung fremder Fabrik- und Geschüftsgeheimnifse kann man sich
nicht durchweg einverstanden erklären. Die Schwierigkeit liegt hier darin,
daß man sich hüten muß, die in einem Gewerbebetriebe beschäftigten Arbeiter
und Gehilfen zu hindern, daß sie die bei ihrer Ausbildung gewonnenen
Kenntnisse und Erfahrungen künftig, wenn sie sich selbständig machen wollen,
verwerten. Das würde allen gesunden Fortschritt unterbinden, denn solcher
ist nur möglich, wenn die spätere Generation die Erfahrungen der vorher-
gegangnen beherzigt und benutzt. Es würde auch gegen die Grundsätze der
Urheberschutzgesetze verstoßen, die mit Bedacht jede Erfindung nur für eine
gewisse Zeit schützen, dann aber ihre Verwertung im Interesse der Allgemein¬
heit freigeben. Der Entwurf verbietet daher mit Recht, daß die Angestellten
des Geschäfts zum Zwecke des Wettbewerbs während der Zeit ihres Dienst¬
vertrags die Geschäfts- und Betriebsgeheimnisse preisgeben. Dagegen muß
unbedingt gefordert werden, daß die Angestellten nach ihrem Austritt aus dem
Geschäft zu dieser Geheimhaltung höchstens etwa noch zwei Jahre verpflichtet
werden können, wenn sie nicht gänzlich in die Abhängigkeit ihrer Dienstherrn
geraten sollen. Hierin war der erste Entwurf besser. Zu billigen ist wieder,
daß selbständige Gewerbtreibende dann bestraft werden sollen, wenn sie sich
das Geheimnis durch eine gegen die guten Sitten verstoßende Handlung oder
durch einen Vertrauensbruch von Angestellten des Gegners verschafft haben.
Von der die Erwerbsthätigkeit des Gewerbtreibenden in unlautrer Weise
hindernden Thätigkeit des Wettbewerbers wird in § 6 nur die Herabsetzung
des Gewerbtreibenden oder seiner gewerblichen Leistungen erwähnt. Vielleicht
hätte hier die Ningbildung und das Boykottiren nicht ganz übergangen werden
sollen. § 6 bildet eine Erweiterung der Strafvorschrift im Z 187 des Straf¬
gesetzbuchs; dieser verbietet die Gefährdung des Kredits, hier soll die Geführ¬
dung des Geschäftsbetriebs überhaupt getroffen werden. Diese Erweiterung
kommt sicher dem Bedürfnis entgegen; doch ist auch hier wieder die Fassung
des Entwurfs zu eng. Sie beschränkt sich nämlich auf solche Gewerbtreibende,
die ihr Gewerbe durch ein Erwerbsgeschüft, also durch eine bestimmte nach
außen zur Erscheinung kommende Einrichtung ausüben. Denn nur bei solchen
kann man, wie der Entwurf thut, von einem „Inhaber" und „Leiter" eines
„Geschäfts" reden. Weshalb die zahlreichen übrigen Gewerbtreibenden, die
man nicht als „Inhaber eines Geschäfts" bezeichnen kann, von dem Schutze
gegen unlautre Herabsetzung ihrer gewerblichen Leistungen ausgeschlossen
werden sollen, ist nicht einzusehen. Nach dem Entwurf bleibt die Herab¬
setzung der Leistungen eines Arztes, eines Künstlers, namentlich der Personen,
die eine Kunst gewerbsmäßig ausüben, wie kleine Privatmustker, Stuben-
maler u. a., wenn sie nicht zugleich eine persönliche Beleidigung enthält,
»ach wie vor straflos und verpflichtet uicht zum Schadenersatz. Der Ver¬
fasser des Entwurfs macht sich zu wenig von der Vorstellung frei, daß es
sich nicht nur um Wettbewerb im Handel mit Waren, sondern um den
Schutz jeder gewerblichen Leistung handelt, auch wenn sie sich nicht in
einem stofflichen Erzeugnis verkörpert und Ware geworden ist.*) Nicht ohne
Einfluß ist dabei augenscheinlich der jetzt in der Gerichtssprache, namentlich
der preußischen, einreißende gespreizte Sprachgebrauch geblieben, statt von einem
Bäcker, einem Fleischer, einem Schuster, von dem „Inhaber einer Bückerei,"
dem „Inhaber eines Fleisch- und Wurstwarengeschäfts," dem „Inhaber eines
Schuhwarenlagers" usw. zu reden. Das klingt natürlich großartiger. Wenn
aber diese Gespreiztheit in die Gesetzessprache eintritt, so kann das, wie man
sieht, sehr gefährlich werden. Denn nicht jeder Gewerbtreibende hat immer
auch ein „Geschäft," eine zum Gewerbebetrieb geschaffne dauernde besondre
Veranstaltung und Einrichtung, als deren Inhaber er bezeichnet werden kann.
So beraubt man diese Leute einer Sprachdnmmheit zuliebe der Wohlthat des
Rechtsschutzes. Deshalb sollte der Entwurf, der so lautet: Wer zu Zwecken
des Wettbewerbs über das Erwerbsgeschäft eines andern, über die Person
des Inhabers oder Leiters des Geschäfts usw. Behauptungen aufstellt, die ge¬
eignet sind, den Betrieb des Geschäfts oder den Kredit des Inhabers zu
schädigen usw. so abgeändert werden: Wer zu Zwecken des Wettbewerbs über
einen andern Gewerbtreibenden oder dessen gewerbliche Leistungen usw.
Mit den Vorschriften des Entwurfs über die Nechtsverfolgung kann man
sich wieder einverstanden erklären. Es ist gewiß richtig, wenn die Strafverfol¬
gung mit Ausnahme eines einzigen, nur ans gewerbepolizeilichen Gebiete
liegenden Falles von der Stellung eines Antrags abhängig gemacht, diese
selbst auf den Weg der Privatklage, wie schon jetzt bei Beleidigungen, ver¬
wiesen und die Staatsanwaltschaft zum Einschreiten von Amts wegen nur
dann verpflichtet wird, wenn dies ein besondres öffentliches Interesse notwendig
macht. Auch das ist mit Freuden zu begrüßen, daß zur Stellung des Straf¬
antrags wie zur zivilrechtlichen Verfolgung auf künftige Unterlassung der ein¬
zelnen unlautern Wettbewerbshandlung nicht nur der einzelne geschädigte Ge¬
werbtreibende, sondern auch die zur Förderung gewerblicher Interessen be¬
stehenden Verbände befugt sein sollen. Hierdurch wird sicher das Ehrgefühl
des ganzen Standes und das Bewußtsein einer gemeinschaftlichen Geschäftsehre
befestigt und dem Einzelnen unter Umständen das Risiko eines Prozesses er¬
spart werden.
Daß bei der Strafverfolgung durch Privatklage die Schöffengerichte, für
bürgerliche Rechtsstreitigkeiten aber neben den Amtsgerichten die Kammern für
Handelssachen bei den Landgerichten zuständig sein sollen, entspricht ebenfalls
dem praktischen Bedürfnis, denn gerade auf dem Gebiete des unlautern Wett¬
bewerbs ist die Mitwirkung von Laien, die meist selbst Gewerbtreibende sind
und den Gerichtshof dadurch geradezu zu einem Gewerbegericht machen, in
hohem Grade erwünscht. Ob überhaupt ein Strafschutz gegen den unlautern
Wettbewerb geboten ist, wird freilich noch eingehend zu erwägen sein. Wir
gestehen, daß wir ihn nicht ganz glauben entbehren zu können. Warum er
vom Entwurf aber gerade bei der Anmaßung fremder Unterscheidungszeichen
in § 8 versagt wird, vermögen wir nicht recht einzusehen. Viel zur Ver¬
meidung von Strafanzeigen würde es beitragen, wenn nicht nur den Straf¬
gerichten, sondern auch den Zivilgerichten die Befugnis zugesprochen würde,
auf eine Buße zu erkennen. Wer da weiß, wie schwer es unter Umstünden
ist, die Entstehung eines Schadens und seine Höhe unanfechtbar zu beweisen,
wird zugeben, daß dieser Umstand leicht dazu verleiten kann, sich an den
Strafrichter statt an den Zivilrichter zu wenden, nnr um in der Buße eine
Entschädigung zu erhalten. Kann aber auch der Zivilrichter uach freiem Er¬
messen eine Buße gewähren, wo der strenge Beweis für die bestimmte Höhe
eines Schadens nicht ausreicht, so wird der Weg der Strafklage seltner be¬
schnitten werden. Wir würden dies für einen Vorteil halten. Es wird im
deutschen Vaterlande schon genug gestraft.
Möchte der Entwurf mit den vorgeschlagnen Verbesserungen Gesetz werden!
Zum Schluß möchten wir noch auf eine Merkwürdigkeit hinweisen. Der
Entwurf eines deutschen bürgerlichen Gesetzbuchs enthält in 8 749 und § 748
Bestimmungen, die das von uns geforderte allgemeine Verbot eines unlautern
Wettbewerbs durchaus enthalten und nach der ausdrücklichen Erklärung in der
Begründung jenes Entwurfs auch enthalten wollen. Sie lauten:
Werden diese Bestimmungen Gesetz, so sind damit die zivilrechtlichen
Vorschriften des Gesetzes über den unlautern Wettbewerb überholt. Es muß
Wunder nehmen, daß in zwei Gesetzentwürfen, die beinahe gleichzeitig vorgelegt
werden, keines auf die Bestimmungen des andern, die doch den gleichen Stoff
behandeln, Rücksicht nimmt und sie zu einander in Beziehung zu setzen sucht.
Aber freilich, die Entwürfe sind ja von zwei verschiednen Kommissionen aus¬
gearbeitet worden. Wie sich die Gerichte einmal diesem Überfluß von gesetz¬
licher Regelung desselben Stoffs gegenüber verhalten werden? Wir fürchten,
daß für unlautern Wettbewerb allein das Sondergesetz Anwendung findet und
was durch dieses uicht getroffen wird, auch fernerhin als erlaubt gelten wird,
wenn es auch unter die Bestimmungen des bürgerlichen Gesetzbuchs fällt-
le Konferenz, auf der Wagners Vortrag gehalten wurde, hat
an die evangelischen Landpfarrer Fragebogen verschickt, von
denen selbstverständlich nur der kleinere Teil ausgefüllt zurück¬
gekehrt ist. Die Bearbeitung der aus Westdeutschland eingehenden
hat Wagner selbst übernommen; in die der ostdeutschen (ein¬
schließlich Holsteins, des Königreichs und der Provinz Sachsen und Anhalts)
haben sich Wittenberg, der in letzter Zeit viel genannte Liegnitzer Vereins¬
geistliche, und Dr. Hückstüdt geteilt. Ur. 3 und 4 stehen in keiner Verbindung
mit diesem Unternehmen; wir reihen sie hier nur an, weil sie als Schilde¬
rungen des Vauerncharakters und des Bauernlebens überhaupt doch auch diese
Seite darstellen. Ur. 3 ist ein liebenswürdiges, kleines, feines Büchlein, das
„als Handreichung für Kandidaten und junge Geistliche" diesen gute Dienste
erweisen wird. Ur. 4 aber ist ein Werk von großer Bedeutung, eine um¬
fassende und auf den Grund gehende Darstellung des bäuerlichen Lebens und
der bäuerlichen Sitte und Sprache, der Gedanken- und Empfindungswelt des
Landvolks und seiner äußern Erscheinung. Obwohl sich der Verfasser auf den
kleinen Volks Stamm beschränkt, den er fünfzig Jahre lang studirt hat, und
dieser manche Besonderheiten hat, sich z. B. von den benachbarten Nieder¬
sachsen durch große Weichheit unterscheidet, so glauben wir doch sein Werk
höher schätzen zu müssen als selbst die bekannten klassischen Arbeiten Nichts.
(Der ungenannte, aber nicht unbekannte Verfasser, Dr. Hermann Gebhardt,
Pfarrer in Molschleben, hat noch andre hübsche Sachen herausgegeben, wie
Aus der Geschichte des Dorfes Molschleben.)
Wagner und Wittenberg haben in aller Unschuld eine Stelle unsers Ge¬
sellschaftszustandes angebohrt, an der die schwierigsten und für die maßgebenden
Kreise peinlichsten Fragen hervorquellen, die nun aber, nachdem sie einmal
gestellt worden sind, gebieterisch Antwort fordern werden. Mit Proben aus
dem aufgehäuften Thatsachenmaterial verschonen wir unsre Leser und beschränken
uns auf die Mitteilung des Hauptergebnisses. Ideal sind die Zustände nirgends.
In den meisten Gegenden steht es schlimm, in mehreren großen Landschaften
sehr schlimm; die Leute leben „wie das liebe Vieh," mit dem selbstverständ¬
lichen Unterschiede, den ein boshafter Franzose für den einzigen Unterschied
zwischen Mensch und Vieh halten will, daß auch diesem biedern Landvolke die
Gabe verliehen ist, (Ah doirs sins soll et) av Kure 1'g.near su tout temps.
Und nun bedenke man, daß das Leute sind, die niemals weder die „lieder¬
lichen" alten Heiden noch französische Romane gelesen haben, die ganz unbe¬
rührt leben vom alten wie vom neuen Heidentum, von der Kunst wie von
der bösen modernen Wissenschaft, bei denen es nicht einmal Sozialdemokraten
giebt, und bei denen es trotzdem, wenigstens was das ledige junge Volk
betrifft, „immer so gewesen ist" wie heute, d. h. immer ungefähr so zugegangen
ist, wie es nach Gregorovius im sozialistischen Zukunftsstaate zugehen soll;
mau bedenke, daß diese Bevölkerungen niemals einen andern Einfluß erfahren
haben, als den des Pastors, des Lehrers, des Gutsherrn, der Dorfobrigkeit,
des Landrath und höchstens noch der Kaserne, und man bedenke schließlich,
daß in den meisten dieser Landschaften die Kirchlichkeit wenig zu wünschen
übrig läßt, und daß sie in einigen der Gegenden, wo die Sittlichkeit am tiefsten
stehst, musterhaft ist. Da drängt sich denn eine Reihe ganz unabweisbarer
Fragen auf. Daß nicht allein die heidnischen Germanen, sondern auch die
Griechen der homerischen Zeit und die Römer vor den punischen Kriegen weit
keuscher gewesen sind, steht fest. Woran liegt es nun, daß Bevölkerungen,
die seit Jahrhunderten, zum Teil seit länger als einem Jahrtausend, christlich
sind, in der geschlechtlichen Sittlichkeit tiefer stehen? War es eine Täuschung,
daß man dem Christentum versittlichende Kräfte zugeschrieben hat? Oder hat
man vielleicht im Namen des Christentums sittliche Forderungen erhoben, die
unerfüllbar und deshalb unwirksam waren, sodaß nicht einmal das Erfüllbare
geleistet wurde, was im Heidentum und im Judentum gefordert und vielfach
auch erreicht worden ist? Oder liegt es an sozialen Verhältnissen? Oder hat
man ganz allgemein die Aufgaben des Christentums nicht verstanden? Christus
und die Apostel haben Welt und Gottesreich einander gegenübergestellt und
nirgends gelehrt, daß dieses zu irgend einer Zeit einmal die ganze Menschheit
umfassen solle. Sie haben auch' nirgends gelehrt, daß man Menschen, die
innerlich Heiden sind, durch Zwang äußerlich zu Christen machen solle oder
dürfe. Sie haben auch die Kindertaufe nicht geboten, sondern die Bekehrung
und den Glauben als die Bedingungen bezeichnet, die der Taufe vorangehen
müssen, sodaß die Kindertaufe unbedingt ausgeschlossen erscheint. So ist es
denn ini allgemeinen auch bis ins vierte Jahrhundert gehalten worden, und
trotzdem wurde schon zur Zeit der letzen Christenverfolgungen geklagt, daß die
Kirche voller Welt sei. Dann kamen die christlichen Monarchen und trieben
zuerst die heidnisch gebliebne Bauernschaft, dann ganze Völker mit Feuer und
Schwert in die heilige Hürde hinein. Daß die italienischen Bauern bis auf
den heutigen Tag Heiden geblieben sind, hat man uns unzühligemal gesagt
und hat Trete in drei Bänden bewiesen; daß aber auch die norddeutschen
Bauern im innersten Kerne noch Heiden sind, mit einem Zusatz von Judentum,
wird jetzt auch zugestanden. Der Unterschied besteht bloß darin, daß die Süd¬
länder nicht bloß Heiden schlechtweg, sondern Polytheisten sind, und daß ihr
Heidentum poetischer ist als das der nordischen Bauern. Wird man sich also
nicht doch schließlich zur Anerkennung der Thatsache bequemen müssen, daß immer
nur verhältnismüßig wenige fürs Christentum empfänglich sind, und daß man
sich bei der Masse begnügen muß, wenn sie nur aus rechtschaffnen Heiden
besteht, wie denn auch Luther oft genug geseufzt hat: wollte Gott, wir wären
erst rechtschaffne Heiden! Die Unfähigkeit der Bauern, die christlichen Lehren
auch nur dem Wortsinne nach, geschweige denn mit dem Herzen zu fassen,
zeigt der Thüringer an vielen Anekdoten, von denen wir nur eine anführen
wollen. In einer Traurede hatte er den paulinischen Spruch: „O Tiefe des
Reichtums der Weisheit und Wissenschaft Gottes," ein paar Jahre später in
einer andern den Spruch: „Trachtet nicht nach hohen Dingen, sondern haltet
es mit den niedrigen," verwendet. Das hat ihm der zweite Bräutigam sehr
übel genommen und ihm gesagt: Warum haben Sie denn bei der andern von
der Tiefe des Reichtums und bei uns von niedrigen Dingen geredet? Sie
denken wohl, meine Rieke habe weniger als die? Wir sind ebenso reich. Und
jede Mühe, ihm das richtige Verständnis beizubringen, war vergebens. Und
diesen beschränkten, so ganz in irdischen Bestrebungen und Sorgen aufgehenden
Menschen will man die Sittlichkeit jener hochgebildeten Gemeinden zumuten,
an die Paulus seine heute kaum den Gelehrten verständlichen Briefe richten
konnte, jener Gemeinden, die, der Welt entsagend, in ekstatischer Verzückung
„in Zungen redeten" und die baldige Ankunft des Herrn erwarteten, sodaß
sie ermahnt werden mußten, nur zunächst ruhig bei ihren Berufsgeschäften zu
bleiben, da das Weltgericht noch nicht unmittelbar bevorstehe? „Wenn wir
große Mühe haben, schreibt Gebhardt Seite 224, uns in die niedrige Lebens-
cmffassung des Volkes hinunterzuversetzen, so ist es für den Bauer seinerseits
fast ein Ding der Unmöglichkeit, unsre höhere Sittlichkeit zu begreifen." Wenn
der Verfasser das „unsre" auf die wahren Christen bezieht, so überlassen wir
ihm die Verantwortung dafür. Meint er aber uns Gebildete oder uns Städter,
so wollen wir es doch bescheidentlich unserm Herrgott überlassen, ob er unsre
Sittlichkeit höher oder niedriger schätzen will als die des Bäuerleins und
lieber sagen: unsre anders geartete und feinere Sittlichkeit. Der Bauer hat
eben eine andre Sittlichkeit als wir und muß eine andre haben. Jeder lebens¬
kräftige Stand schafft sich seine eigentümliche Denkungsart, Lebensweise und
Sitte, die, seinen Daseinsbedingungen angemessen, selbst Daseinsbedingung für
ihn wird. Gerade so, wie der Thüringer ihn schildert, muß der Bauer sein,
wenn er nicht zu Grunde gehen will, und bleibt er so, dann geht er aus sich
selbst nicht zu Grunde; jede andre Sittlichkeit, mag es eine höhere oder eine
niedere sein, würde den Bauernstand zerstören. Und sollte man nicht außer
dem schriftgcmüßen Gegensatz von Welt und Gottesreich auch die Verschieden¬
heit sittlicher Kraft beachten, die Matth. 19, 11 und 1. Kor. 7, 1 bis 7 ange¬
deutet ist? Der katholischen Kirche macht es die evangelische Theologie mit
Recht zum Vorwurf, daß sie sich einbilde oder vorgehe, Gott verleihe das
clonuin (Z0ntiiiöntig.ö jedem, der die Priesterweihe empfängt, wenn er nur ernst¬
lich darum bitte. Aber ist es nicht ein noch stärkerer Verstoß gegen das
Schriftwort, zu lehren, diese Gabe sei allen Männern ohne Ausnahme bis
zur Verheiratung verliehen, auch wenn sie erst mit vierzig Jahren in den Ehe¬
stand treten können?
Die meisten von den Geistlichen, die den Gegenstand bearbeitet haben,
lassen merken, daß sich ihnen diese und ähnliche Fragen aufdrängen. Die
Bauern sind heute noch, was sie zu Konstantins Zeit gewesen sind: xagani,
bemerkt einer der Herren. An die heidnischen Germanen erinnern sich mehrere.
Einer hat gelesen, daß in Indien Männer und Weiber zusammen nackt auf
dem Felde arbeiten, ohne daß daraus übles entstünde; er und andre sind über¬
zeugt, daß das bäuerliche Ng.wrii,1iA non sunt turxig, nicht ohne weiteres als
ein Beweis für herrschende Unkeuschheit angesehen werden dürfe. Wenn in
diesen Büchern öfters kurzweg gesagt wird: der Bauer weiß nicht, was Keusch¬
heit ist, so muß man eben darunter verstehen: Keuschheit im Sinne der mo¬
dernen Sittlichkeitsbewegung. Mehrere heben mit Recht hervor, daß die Un-
sittlichkeit nicht an der Zahl der unehelichen Geburten zu messen sei; hat doch
ein englischer Pfarrer, den Carey anführt, die Zunahme der unehelichen Ge¬
burten in seiner Gemeinde mit Freuden begrüßt, weil sie ihm die Abnahme
arger Laster bewies. Mehrere Protestiren auch dagegen, daß man den außer¬
ehelichen Umgang der Landleute auf eine Stufe stelle mit der städtischen Pro¬
stitution; dort handle es sich meistens um wirkliche Liebesverhältnisse, die
nicht überall, aber in manchen Gegenden regelmäßig zur Ehe führen. Würde
das Heiratsalter innegehalten, das Luther aurae,*) so würde es wenig vor¬
ehelichen Umgang geben, meint einer. Wagner fragt, ob nicht am Ende die
allgemein übliche Antizipation der ehelichen Rechte noch aus dem germanischen
Heidentum herrühre, wo der Grundsatz galt, daß die Ehen geschlossen würden,
nicht wie nach dem römischen Recht wutuo eonLönsu, sondern ooirjunvtionö
oorxorum. Da liegt es doch weit näher, daran zu erinnern, daß die Ehen
bis zum tridentinischen Konzil nach dem kanonischen Recht durch den bloßen
routuus eollsöiisus giltig geschlossen wurden, und daß der giltige Abschluß der
Ehe auch alle Rechte der Eheleute gewährt, und zu fragen, wo im Neuen
Testament geschrieben steht, daß zum nruwns oonssn8u8 noch die Beobachtung
der tridentinischen Vorschrift: voranr xg.rocznv se äuokus tsstidus, oder der
Vorschrift Luthers hinzukommen müsse, der die Einwilligung der Eltern und
die durch obrigkeitliche Anerkennung bezeugte Öffentlichkeit der Ehe zu ihren
konstituirenden Elementen rechnete. Die kirchliche Einsegnung ist niemals,
weder in der katholischen noch in der evangelischen Kirche, zu den Erforder¬
nissen einer giltigen Eheschließung gerechnet worden; auch die tridentinische
Klausel, die dem von Luther getadelten Unfug der Winkelchen ein Ende machen
sollte, fordert nicht die kirchliche Einsegnung; der Pfarrer fungirt nur als
Hauptzeuge, wie auch solche, die das Kirchen- und Eherecht nicht kennen, ans
Manzonis Verlobten wissen, und daß die vorm Standesamt geschlossene Ehe
giltig sei, bestreitet doch Wohl kein evangelischer Geistlicher. Allerdings haben
die geistlichen und weltlichen Obrigkeiten das Recht und die Pflicht, die Form
der Eheschließung festzusetzen, dadurch die Pflichten der Eheleute erzwingbar
zu machen und ihre Rechte sicher zu stellen. Demnach wird ein gewissenhafter
Christ die Rechte des Gatten nicht leicht antizipiren, weil er dadurch den der
Obrigkeit schuldigen Gehorsam verletzt und die Braut und ein etwaiges Kind
in Gefahr bringt, ihrer Rechte verlustig zu gehen, da er ja vor der Trauung
sterben kann; aber die eollsumniÄtio einer durch den mutuus oonseosus vor
Gott geschlossenen Ehe als „Unzucht" zu brandmarken ist niemand berechtigt.
In den meisten Gegenden wird die Antizipation von den Eltern nicht allein
gestattet, sondern als Mittel, den andern Teil zu binden, begünstigt, ja oft
geradezu befohlen, und die Tochter, die sich weigert, wird von der Mutter
gescholten; es kommt vor, daß die Eltern der Braut das Verlöbnis auflösen,
wenn sie vom Bräutigam „verachtet" worden ist. Daß es in manchen Ge¬
genden Baierns für eine Schande gilt, wenn die Braut den Jungfernkranz
bekommt, ist schon früher bekannt gewesen. Nur durch Umgang mit einem
armen Burschen, den die Eltern nicht zum Schwiegersohn mögen, zieht sich
die Tochter Tadel zu, ebenso der junge Mann, wenn er „so dumm" ist, sich
durch unvorsichtigen Umgang mit Mädchen, die „keine Partie" für ihn sind,
Alimentationspflichten aufzuladen. So viel gesunden Sinn haben die meisten
der gefragten Pastoren, daß sie die angebotne Heimsuchung mit Missionaren,
Schriften und Sittlichkeitsvereinen ablehnen; „um Gottes willen nicht!" schreiben
einige. Dagegen haben sie nicht den Mut, die oben angedeutete Gedankenreihe
folgerichtig bis zu Ende zu führen. Nur Gebhardt hat diesen Mut, wie man
an mehreren Stellen seines Buches merkt und auf Seite 367 ganz deutlich
sieht; allerdings weicht seine Auffassung von der unsern in manchen wesent¬
lichen Punkten ab, aber worauf es hier ankommt: daß das ernsthaft ge¬
nommene reine Christentum nicht allgemeine Volksreligion sein kann, das
spricht er mutig aus.
Hätte man sich nun einmal darein ergeben, daß das echte Christentum
auf die Auserwählten beschränkt bleibt, die Masse aber höchstens einige christ¬
liche Zusätze zu ihrem Heidentum verträgt, so würde dem Geistlichen, der diese
Masse trotzdem nicht verlassen, sondern ihr noch Gutes erweisen will, die
Aussicht auf eine Wirksamkeit auch in dem fraglichen Gebiete eröffnet, die er¬
freulicher sein würde als die Verkündigung von Lehren und sittlichen Forde¬
rungen, die über die dafür unempfänglicher Gemüter herabrollen wie Regen¬
tropfen über einen Gummimantel. Es giebt eine Anzahl von Zielen, deren
Erreichbarkeit dadurch bewiesen ist, daß sie schon oft erreicht worden sind und
es auch heute hie und da noch sind. Das wesentliche am sechsten Gebot
braucht gar nicht erst erstrebt zu werden, weil es schon verwirklicht ist: auch
in den Gegenden, wo es die Ledigen am wüstesten treiben, sind die Ehen glück¬
lich und kinderreich,*) Ehescheidungen fast unbekannt, Ehebruche sehr selten.
Dagegen ist ein andres, was einen Vorzug der Germanen bildete, die späte
Reife der Jünglinge, unter den heutigen Verhältnissen schwer zu erreichen. Der
Germanenknabe badete täglich kalt oder wälzte sich im Schnee, trieb sich mit
wilden Spielen und Waffenübungen oder auf der Jagd den ganzen Tag im
Freien herum, und wenn auch natürlich die Kinder der benachbarten aber ein¬
ander nicht zu nahen Hütten Spielkameraden waren, so wurden sie doch nicht
herdenweise in engen Räumen stundenlang zusammengepreßt, um da Dinge zu
lernen, bei denen der Geist meistens abschweift, oder um still sitzend oder in
gebückter Haltung unangenehme Industrie- oder Feldarbeiten zu verrichten,
und noch weniger kam es vor, daß mehrere, womöglich aus verschiednen Fa¬
milien, in einem Bett zusammen schliefen; sie hatten gar kein Bett, und das
war vielleicht das wichtigste. Dagegen war die Art von Behütung der
Jugend, auf die mau heute so großes Gewicht legt, ganz unbekannt; wie jedes
Naturvolk, waren die Germanen von Kindheit auf an den Anblick nackter
Menschen gewöhnt und mit dem Geschlechtsleben der Menschen und Tiere ver¬
traut. Leicht erreichbar ist wieder ein drittes. Während der Keuschheits¬
begriff unsrer Frommen und Feinen niemals in einen Bauernschädel hinein¬
gehen wird, so lange es echte Bauern giebt, sieht auch der roheste Bursche
ein, daß der ein schlechter Kerl ist, der ein Mädchen sitzen läßt, das er zur
Mutter gemacht hat. Das ist nichts widernatürliches und nichts übernatür¬
liches wie die christliche Keuschheit, sondern entspricht dem natürlichen Ge¬
rechtigkeitsgefühl. In vielen Gegenden wird denn auch jetzt schon die Pflicht
des unehelichen Vaters,*) die Mutter seines Kindes zu heiraten, allgemein
anerkannt, demnach würde gar keine große Anstrengung dazu gehören, diesem
Grundsatze überall zur Anerkennung zu verhelfen.
Bei drei andern Zielen hängt die Erreichung ausschließlich von sozialen
und wirtschaftlichen Umgestaltungen ab. Der Mann, der Standesehre hat,
mag kein Weib, das schon einem andern gehört hat, und wo die ganze Be¬
völkerung Standesehre hat, da findet sich nicht leicht ein Mädchen, das sich
ohne Eheversprechen einem Mann ergeben möchte, weil sie ja dadurch ihre
Stellung in der Gesellschaft, die Aussicht auf anständige Versorgung verliert.
Mit der Standesehre ist gewöhnlich auch Vermögen oder wenigstens ein an¬
ständiges Einkommen verbunden. Schon deshalb verzeiht ein Mann von Stand
seiner Frau nicht leicht einen Ehebruch, weil er nicht Lust hat, dem Kinde
eines andern Mannes sein Vermögen zu hinterlassen oder Erziehungskosten
darauf zu verwenden. Der besitzlose Lohnarbeiter hat keine Standesehre und
kann demnach auch dadurch, daß er eine liederliche Person heiratet, keinen Ab¬
bruch daran erleiden. Die Erziehungskosten seiner Kinder oder der Kinder
seiner Frau sind sehr unbedeutend, vom zwölften, auf dem Lande manchmal
vom zehnten Lebensjahre ab müssen sie sich ihr Brot selbst verdienen und
vom vierzehnten Jahre ab zu den Haushaltungskosten der Eltern beitragen;
Vermögen hinterläßt er ihnen nicht; sollte also ein Bastard darunter sein, so
macht ihm das keine großen Schmerzen. Es braucht demnach gar nicht weiter
ausgeführt zu werden, was es für die geschlechtliche Sittlichkeit bedeutet, wenn
-der Bauern mehr, der Besitzlosen, namentlich der Wandertagelöhncr weniger
werden; die meisten der Mitarbeiter von Wittenbergs Buch bezeugen denn
auch, daß die Tagelöhner und das Gesinde durchschnittlich lüderlicher leben
als die Bauern. Von großer Bedeutung ist ferner der Gemütsinhalt einer
Bevölkerung. Das Geschlechtsleben bildet beim gesunden Erwachsenen einen
wesentlichen Bestandteil dieses Inhalts; den wievielten Teil davon, das hängt
von dem übrigen Inhalt ab. Beim ganz rohen Menschen kann es zeitweise das
Innere vollständig ausfüllen, bei einem von mannichfachen hoher» Interessen
bewegten zeitweise vollständig verschwunden zu sein scheinen. Zur Herstellung
des erwünschten Gleichgewichts zwischen dem sinnlichen und dem geistigen
Seeleninhalt sind aber die religiösen Einwirkungen, mit denen geistliche Jugend-
und Volkserzieher die Sinnlichkeit gewöhnlich einzudämmen versuchen, am aller-
ungeeignetsten. Mit religiösem Inhalt lassen sich nur die Seelen an- und
ausfüllen, die eine besondre Anlage für Religion haben, und diese ist, wie es
scheint, noch seltener als die für höhere Mathematik. Die meisten Menschen
fühlen sich durch Predigten und Erbauungsschriften gelangweilt (wühreuo der
Predigt schlafen die meisten, schreibt der Thüringer), und bei jungen Leuten
heißt still sitzen müssen und sich langweilen soviel wie an Allotria denken;
nur in der Form von Symbolen und symbolischen Handlungen, Kirchenschmuck
und Musik und prangenden Festlichkeiten, d. h. in der katholischen Form des
Gottesdienstes, vermag Religion auch den Durchschnittsmenschen zu fesseln und
abzuziehen. Wird die Einwirkung vollends in der Form eines Sittlichkeits¬
vereins betrieben, so wird die Einbildnngkraft geradezu auf den Gegenstand
hingelenkt, von dem sie abgezogen werden soll. Das Ablenken besorge» nur
solche Gegenstünde, die den Geist wirklich anfüllen und fesseln, und das ver¬
mögen meistens nur die weltlichen, darunter auch sogar sehr unheilige. Nicht
allein der Astronom, der am Himmel auf Kometen Jagd macht, sondern auch
der Jäger, der Hasen und Füchse pürscht, nicht allein der liebende Familien¬
vater, den die Sorge um Weib und Kind halb wahnsinnig macht, und der
ehrgeizige junge Mann, der nach einer Stellung in der Gesellschaft ringt,
sondern auch der leidenschaftliche Skatspieler und der Börsenspekulant, nicht
bloß der Abiturient, der für die Prüfung ochse, sondern auch der junge
Sportsman, der bei allen Fußballparticu und Wettradlereien den Sieg davon¬
tragen will, sie alle spüren oft lange Zeit nichts von sinnlichen Regungen.
Höhere Bildung, Weckung eines vielseitigen Interesses für die Dinge, die
außerhalb des eignen Leibes liegen und dessen Wohlbefinden nicht unmittelbar
beeinflussen, sind demnach die geeigneten Mittel, der Sinnlichkeit Schranken
zu ziehen. In der Seele eines Tagelöhners, der außer Essen, Trinken,
Schlafen und dem Geschlechtsgenuß nichts auf der Welt hat, als einförmige,
ihm gleichgiltige oder lästige Arbeit für eiuen ihm gleichgiltigen oder verhaßten
Herrn, wird die Sinnlichkeit ihre volle unheimliche Macht entfalten. Öffnet
sich einem solchen Menschen die Aussicht, eine eigne Scholle zu erwerben, so
wird das Streben darnach schon einen bedeutenden Raum einnehmen, und wird
er zuletzt ein rationeller Landwirt, so werden die Versuche und Pläne, die
Sorgen und Hoffnungen eines solchen möglicherweise sein ganzes Innere aus¬
füllen. Ein intelligenter und strebsamer Arbeiter der Großstadt, der sich auch
noch an der politischen Agitation lebhaft beteiligt, mag ab und zu eine Handlung
begehen, die vom streng christlichen Standpunkte aus noch sündhafter erscheint
als die Gewohnheitssünden des Bauernknechts, aber „wie das liebe Vieh"
lebt er nicht. Damit hängt nun auch das letzte zusammen: edle Geselligkeit.
Das Tanzen möchten die Eifrer für die Sittlichkeit am liebsten ganz verbieten,
als ob nicht Tanz und Spiel die natürliche Erholung der Jugend an jedem
Feierabend oder wenigstens an jedem Sonn- und Festtage wären, und als ob
es ganz selbstverständlich wäre, daß sich junge Leute beim Tanze nicht anders
benehmen könnten als brünstige Tiere bei ihren Balgereien. Manche wollen
die Geschlechter auch bei der Arbeit getrennt wissen und halten sich darüber
auf, daß sie in der Schule noch nicht überall getrennt sind. Andern dagegen
fällt ein, daß die vollkommen durchgeführte Trennung der Geschlechter die
Sache noch verschlimmert, und daß noch ärgere Dinge getrieben werden, wenn
die Buben für sich und die Mädchen für sich abgesperrt Hausen. Da wird
wohl nichts übrig bleiben, als jeden und jede am Strick zur Arbeit zu führen,
dann wieder in den Stall zurückzuführen und einzeln anzubinden, womöglich
in eine Zelle zu sperren. Wahrhaftig, wir haben es herrlich weit gebracht
in unsern christlichen Kulturstaaten, beinahe dreitausend Jahre nach der Zeit,
wo Homer (z. V. am Schluß des achtzehnten Gesanges der Ilias) die Ar¬
beiten und Tänze der Landleute so anmutig beschrieben hat, ohne auch nur
einen Zug von Roheit oder Laszivität einzumischen; und er hat, als naiver
Realist, sicherlich naturgetreu beschrieben. Freilich haben wirs im Norden
schwerer, wegen der Rauheit des Klimas und weil unserm Landvolke das
Schönheitsgefühl beinahe gänzlich fehlt. Aber unüberwindlich sind diese
Schwierigkeiten doch nicht. Gebhardt meint, vor ein paar hundert Jahren
hätten seine Thüringer den Sinn für Farbenharmonie und für Formen noch
gehabt, der ihnen jetzt fehlt; die Verarmung seit dem dreißigjährigen Kriege
und der Rationalismus hätten sie darum gebracht. Jetzt, wo sie wohlhabend
geworden seien (der für arm geltende ist dort jetzt, wie er darlegt, wohl¬
habender als vor fünfzig Jahren der große Bauer), werde es damit schon
wieder besser, und musikalisch seien sie doch alle. Dahin gehört denn auch
alles das, was Rolfs in seiner vortrefflichen Abhandlung über die Volksfeste
ausgeführt hat. Die bisherigen Versuche einer Reform der Geselligkeit des
Landvolks und der untern Klassen sind meistens durch zwei Fehler um den
Erfolg gebracht worden. Der Pastor Gerade hatte einen Gesangverein für die
Jünglinge und einen Strick- und Nähverein für die „Jungfrauen" gegründet.
Er machte sehr merkwürdige Erfahrungen damit, und die Sache nahm ein
schleuniges Ende, Nachträglich sagte ihm jemand: „Wissen Sie, Herr Pastor,
warum Ihre Vereine auseinnndergegangen sind? Sie wollten die jungen Leute
fromm machen, und das lassen sie sich nicht gefallen." Das ist der Pastoren¬
fehler. Der Fehler der vornehmen weltlichen Reformatoren aber besteht darin,
daß sie sich „herablassen," und das ist den Leuten ebenfalls widerwärtig; dabei
fühlen sich beide Teile unbehaglich. Soll die Sache Erfolg haben, so muß
sich alles behaglich fühlen, muß also wirkliche, nicht bloß erzwungne oder in
guter Meinung erheuchelte Übereinstimmung herrschen; Übereinstimmung der
Herzen, Übereinstimmung in Empfindung und Geschmack (denn Übereinstimmung
im Denken ist freilich bei großen Bildungsunterschieden nicht möglich); was
den einen Spaß macht, muß auch den andern Spaß machen. Da besteht nun
die Hauptschwierigkeit darin, daß nirgends in der Welt ein solcher Kastengeist
herrscht wie in Deutschland. Ein Freund Wagners, der jetzt Pastor ist, hatte
als Einjährig-Freiwilliger seine sreie Zeit den Kameraden gewidmet, bei Spazier¬
gängen für harmlose Unterhaltung gesorgt u. dergl.; er wurde nicht in das
Offizierkorps aufgenommen, „weil er sich mit den Leuten zu gemein gemacht
habe." (Wagner S. 113.) Ja, wo die patriarchalischen Sitten geschwunden
und die Herren Bauern „Gutsbesitzer" geworden sind, da wollen sie nicht
einmal mehr mit den Kleinbauern, geschweige denn mit den Tagelöhnern ge¬
sellig verkehren. (Wittenberg II, S. 108, wo solches aus dem Regierungsbezirk
Magdeburg berichtet wird.)
Niemand wird die drei sozialen Änderungen, die hier als unerläßliche
Bedingungen einer Hebung der Sittlichkeit des Landvolkes aufgezählt worden
sind, an sich für unmöglich erklären, aber niemand wird auch erwarten, daß
sich die ostelbischen Großgrundbesitzer dafür begeistern werden. Und da liegt
nun die politische Bedeutung der Sache. Erhaltung der Religion und Sitte
gehört ins konservative Programm, ganz gewiß; aber nicht eben Pflege der
idealsten Religion und Sitte, und nicht etwa, weil es zu den Pflichten eines
konservativen Mannes gehört, fromm zu sein, sondern Erhaltung der Volks¬
religion und Volkssitte, weil der Grundsatz: Hülfe-a non wovsrs das Wesen
der konservativen Politik ausmacht. Konservativ ist es, in Nußland die
^»^xt^este,- vor den Heiligenbildern und vor dem Zaren, in Tirol den
römischen Katholizismus, in Konstantinopel den Islam, in Indien die religiös
geheiligte Absonderung der Kaste», bei den Kannibalen die Menschenfresserei
aufrecht zu erhalten; alle klugen Eroberer von den Römern bis auf die Eng¬
länder habe» sich ängstlich gehütet, es mit den Göttern der unterworfnen
Völker zu verderben, und ganz folgerichtig haben sich die echten Konservativen
Preußens geweigert, den Kulturkampf mitzumachen. Die Religion, die der
ostelbische Konservative aufrecht zu erhalten hat, ist nicht die lutherische Recht¬
fertigungslehre, sei es in Hengstenbergs, sei es in Ritschls Sinne, nicht die
Religion der Bergpredigt, nicht eine Gottesliebe, deren Feuer alles Unlautre
verzehrt, sondern jenes Gewebe von unverstandnen und halb verstandnen
Glaubenssätzen, patriotischen Erinnerungen und Lebensgewohnheiten, das die
preußischen Fahnen mit dem Pastorentalar, den König, den Dr. Luther und
unsern Herrgott in unlösliche Verbindung mit einander gebracht hat und den
blinden Gehorsam der Masse gegen die Obrigkeit verbürgt. Wenn nun auf
einmal das echte, reine und tiefe Christentum fürs ganze Volk gefordert, wenn
von den einen das Gebot der Nächstenliebe, von den andern das Gebot der
Sittenreinheit völlig ernst genommen und dadurch eine Gärung hervorgerufen
wird, die eine soziale Umgestaltung zum Ziele hat, so ist das ganz und gar
nicht konservativ. Die Konservativen aber werden dadurch in die peinlichste
Verlegenheit gesetzt, weil Jahre hindurch in ihren eignen Organen nicht jene
Volksreligion, sondern das ernsthaft genommne Christentum als Gegenstand
ihrer Fürsorge hingestellt worden ist, und weil ihnen durch die Aufdeckung
der ländlichen Sittenzustande eine Waffe wider den städtischen Liberalismus
entwunden wird, da sie diesem stets vorgeworfen haben, daß er die Zucht-
losigkeit begünstige, worunter immer auch die Zuchtlosigkeit in geschlechtlichen
Dingen verstanden wurde, die geschlechtliche Sittlichkeit aber, die die Kon¬
servativen zu verteidigen vorgeben, seit 1878 von der Polizei und vom Straf¬
richter in einem so puritanisch strengen Sinne aufgefaßt wird, daß bei folge¬
richtiger Handhabung der Gesetze jetzt, nach dem Erscheinen dieser Bücher, viel
tausend Bauerfrauen ins Zuchthaus gesperrt und die Dörfer mit Schutzmännern
überschwemmt werden müßten. Es ist deshalb nicht zu verwundern, daß
Wagner und Wittenberg derselben Verdammnis verfallen sind wie Naumann
und Göhre, obgleich sie, soviel wir zu erkennen vermögen, mit deren Be¬
strebungen gar nichts zu schaffen haben und bloß im Dienste der Sittlichkeits¬
vereine und der Innern Mission wirken.'")
er frühere luxemburgische Staatsminister Emmanuel Servais, der
von 1867 bis 1874 die Geschicke seines Vaterlandes unter be¬
sonders schwierigen Umstünden geleitet hat und am 17. Juni
1890 in Nauheim gestorben ist. hat schon 1879 eine Schrift ver¬
öffentlicht, die viel besprochen worden ist: I^s (Äanä Duelle as
IiuxembourA et 1s Iraite 6s Iivlläro8 An 11. viai 1867. In dieser Schrift
ist das Verhalten Luxemburgs während des deutschfranzösischen Kriegs und
in deu Verhandlungen mit Deutschland wegen des Betriebes der Wilhelm-
Luxemburgbahnen usw. aktenmäßig dargestellt und gerechtfertigt worden. Aber
Servais hat sich außerdem auch noch in einer Selbstbiographie, die er schon
1879 verfaßt hat, die aber erst jetzt veröffentlicht worden ist,") über den¬
selben Gegenstand ausführlicher und offenherziger ausgesprochen, als es in einer
Staatsschrift geschehen konnte. Aus diesen Denkwürdigkeiten erfahren wir
manches neue; insbesondre sehen wir hie und dn einen bisher unbekannten
Zusammenhang der Dinge.
Der verstorbne Oberpräsident A. Ernst v. Ernsthausen hat in seinen „Er¬
innerungen eines preußischen Beamten" erzählt, daß er im Januar 1871 nach
Versailles berufen worden sei und sich von dort im Auftrage des Bundes¬
kanzlers nach Luxemburg begeben habe, um dort eine Aufgabe zu erfüllen,
über die er keine nähern Mitteilungen macht. Daß es sich dabei um die Be¬
obachtung der Neutralität Luxemburgs gehandelt hat, ist allerdings von andrer
Seite bekannt geworden. Aus deu Erinnerungen von Servais erfahren wir nun
eine Menge von Einzelheiten. Wir geben sie am besten in zeitlicher Reihen¬
folge wieder, weil dadurch der innere Zusammenhang der Vorfülle deutlich
hervortritt, und lassen dabei Servais allein das Wort. Berichtigungen können
ja besser von unterrichteter Seite nachgebracht werden.
Servais übernahm das Ministerium am 3. Dezember 1867 als Nach¬
folger des Barons v. Torncico, mit dem er noch ans der Londoner Konferenz
Luxemburg vertreten hatte. Damals befand sich die französische Ostbcchngesell-
schnft, die, dem Wunsche Frankreichs folgend, den Betrieb der Wilhelm-
Luxemburgbahnen unternommen hatte, in mißlicher Lage; vergeblich bewarb
sich die Wilhelm-Luxemburggesellschaft, deren Aktien weit unter Pari standen,
in Frankreich um eine staatliche Garantie eines Reineinkommens von drei Mil¬
lionen Franken. Eine bekannte Finanzgrvße in Paris, Baron de H., wie ihn
Servais sehr durchsichtig bezeichnet, der die meisten Obligationen und Aktien
der Gesellschaft in den Händen hatte, quälte damals die luxemburgische Ne¬
gierung um einen Zuschuß von 2400000 Franken für den Bau von zwei ein¬
träglichen Linien des Prinz-Heinrich bahnen'tzes von Esch nach Albus und von
Diekirch nach Echternach. Servais bezweifelt, daß die ernsthafte Absicht der
Durchführung bestanden habe. Man befürchtete damals sogar, daß die Wilhelm-
Luxemburggesellschaft sich nicht mehr werde halten können. Gelegentlich einer
Unterredung mit Baron H. gab Servais diesen: unbequemen Gesuchsteller einen
Rat, der nicht näher erörtert wird, den wir aber um so mehr berechtigt sind
uns nach dem Satze ?ost> lloo, srgo xroxter lloe zu erklären, als der Erzähler
hinzufügt, Baron H. habe aus diesem Ratschläge für die Gesellschaft großen
Nutzen gezogen. Baron H. machte, fährt Servais fort, dem Grafen Bismarck
das Anerbieten, den Betrieb dieser Bahnen für Preußen zu übernehmen.
Im Besitz eines Schriftstücks, das die Bereitwilligkeit des Bundeskanzlers,
auf den Vorschlag einzugehen, ausdrückte, bewarb sich darauf Baron H. in
Paris — und diesmal mit Erfolg — um die wiederholt abgeschlagne Zins¬
garantie für das Unternehme» der französischen Ostbahngesellschaft, die den
Betrieb der Wilhelm-Luxemburgbahnen übernommen hatte. Baron H. kam
dann auf die Konzession für die zwei Linien der Prinz-Heinrichbahnen nie
wieder zurück, stellte seine sonst so häufigen Besuche beim Prinzen-Statt¬
halter ein, soll aber durch das Steigen seiner Aktien und Obligationen
Millionen gewonnen haben. Um den Bau der Linie Esch-Albus hatte sich
inzwischen der Belgier Philippart beworben; die Konzession wurde erteilt;
Luxemburg gewährte als staatliche Unterstützung Bergwerkskonzessionen. Die
Ostbahngesellschaft und die Wilhelm-Luxemburggesellschaft klagten vor den
Gerichten, weil sie in den früher versprochuen Zugeständnissen gekürzt worden
seien; die Negierung gewann den Prozeß in zweiter Instanz; die französische
Regierung hatte sich wegen der übernommnen Zinsgarantie in dem Prozeß
zur Intervention entschließen müssen. Die luxemburgische Regierung war
ungefähr gleichzeitig genötigt gewesen, die Abberufung des französischen Vize-
konsnls zu verlangen, der allzu unverfroren für den Anschluß an Frankreich
thätig war und die Presse gegen die Landesregierung benutzte. Nach einigem
Zögern wurde er abberufen. Servais wurde damals verdächtigt, mit Preußen
im Einverständnis zu sein. Aber gerade damals hatte er mit Preußen schwierige
Nuseiuandersetzungen wegen der in der Londoner Konferenz beschlossenen
Schleifung der Befestigungen von Luxemburg. Preußen hatte wiederholt auf
Beschleunigung der Arbeiten gedrungen und die unverzügliche Vornahme be¬
stimmter Arbeiten verlangt. Kurz vor dem Kriege, am 17. Juni 1870, hatte
Servais über den Stand der Arbeiten nach Berlin berichtet, wobei er seinem
Souverän alle Rechte wahrte.
Nun kam die Kriegserklärung. Während der französische Vertreter dem
bestürzte», Minister meldete, daß nach sichern Nachrichten ein deutsches Heer
«uf Luxemburg marschiere, ging ihm gleichzeitig aus Paris eine „fast amtliche
Mitteilung" zu, daß französische Truppen schon auf dem Marsche nach Luxem¬
burg begriffen seien. Servais erzählt, daß weder Belgien noch die Schweiz
damals eifriger bemüht gewesen sei, als Luxemburg, Vorkehrungen gegen jede
Art von Verletzung der Neutralität zu treffen. Und doch blieben die Be¬
schwerden nicht aus.
Schon unterm 4. Oktober 1870 hatte sich der Bundeskanzler beschwert,
daß die französische Ostbahngesellschaft einen Zug mit Lebensmitteln und Futter
von Luxemburg nach Diedenhofen befördert habe;*) diese schwere Verletzung
der Neutralität entbinde Deutschland von der Pflicht, im Verlaufe der Kriegs¬
operationen die luxemburgische Neutralität zu achte». Darauf folgte eine
weitere Note vom 3. Dezember 1870, worin darüber Klage geführt wurde,
daß sich Gefangne aus Metz ungehindert durch das Großhcrzogtum nach
Frankreich begeben hätten, und daß der französische Vizekonsul ein Nekru-
tirungsbüreau eingerichtet habe. Der luxemburgische Vertreter in Berlin,
Dr. Föhr, berichtete, Bismarck habe sich geweigert, ihn in Versailles zu
empfangen, wo er Aufschlüsse über das Verhalten seiner Regierung erteilen
sollte, und der Uuterstaatssekretär des Auswärtigen Amtes in Berlin,
H. v. Thiele, habe ihm erklärt, daß die Note, die den Staaten mitgeteilt
worden sei, die den Londoner Vertrag vom 11. Mai 1867 unterzeichnet
hätten, geradezu die Aufrechthaltung dieses Vertrags in Frage stelle. Der
damals gerade in Luxemburg anwesende Prinz-Statthalter war, wie Servais
berichtet, völlig bestürzt. Er schickte telegraphisch Briefe an seine Ver¬
wandten, den König von Preußen, den Kaiser von Rußland und an den
Großherzog von Sachsen-Weimar (damals in Versailles) ab. Aus Petersburg
erhielt er zur Antwort: 5ustiÜW vous: König Wilhelm antwortete verbind¬
lich, aber mit ernster Hinweisung auf die Haltung des Landes. Die Antwort
des Ministers Servais, eine umfangreiche Abhandlung, die in den Kammer¬
berichten abgedruckt wurde, bezweckte nicht sowohl, „den Fürsten Bismarck zu
überzeugen, daß er falsch berichtet worden sei, als das Land und die Negie-
rung vor den Großmächten zu rechtfertigen." Bei diesen fand das Schriftstück
auch gute Aufnahme, ebenso in der Kammer, wo selbst die Abgeordneten
schwiegen, „die früher die Befürchtung geäußert hatten, daß eine volle Recht-
fertigung nicht möglich sein werde." (!) Es muß also doch mehr vorgefallen
sein, als zugestanden worden war; Servais gesteht selbst zu, daß sogar eine
Luxemburger Zeitung den Bericht des Ministers bemängelt habe, wie denn
auch das belgische IZodo an ?g,r1u.mont, und mit ihm die belgischen Liberalen,
die dem als ultramontan verschrieenen Luxemburger Ministerium etwas am
Zeuge flicken wollten, sich nicht als freuudnachbarlich gesinnt erwiesen. Der
spätere belgische Minister Rollin-Jaquemyns hat auch in der Kvvruz intsr-
natioiMö die Grundsätze über die Rechte der Neutralen, die Servais auf¬
gestellt hatte, angefochten. Servais berichtet, Lord Greenville habe damals
dem Bundeskanzler vorgestellt, daß Deutschland, da es sich den andern Garantie¬
mächten gegenüber zur Achtung der Neutralität verpflichtet habe, nicht einseitig
vorgehen könne. Er ist darüber im Ungewissen, ob wirklich, wie damals ver¬
lautete, Osterreich die Note Bismarcks im gleichen Sinne beantwortet habe.
Wie aus spätern Veröffentlichungen hervorgeht, ist dies in der That der Fall
gewesen. Graf Veust vertrat damals den Standpunkt, daß die Prüfung
der Frage, ob eine Verletzung der Neutralität vorliege, den Signatarmächten
zustehe und dein Ermessen einer einzelnen kriegführenden Macht zunächst ent¬
zogen sei; denn durch die Kollektivgarautie sollte der Einzelkonflikt vermieden
werden. Dieser Auffassung traten später auch Professor Geffcken (wenn auch
mit Vorbehalt), Staatsminister Dr. Epheben u. a. bei.
Luxemburg mag aus diesem Vorgänge die Lehre ziehen, daß die Teilnahme
an einer Kollektivgarantie für eine kriegführende Macht nicht als Verzicht auf
die Selbsterhaltung aufgefaßt werden kann, daß ferner im Falle eines Konflikts
mit einer kriegführenden Garantiemacht ein Vorgehen dieser Macht zum eignen
Schutze wohl zu einem Notenwechsel führen kann, aber kaum zu einem kleinen
Weltbrande, daß aber der Fall ganz anders liegt, wenn der neutrale Staat
bei einem Kriege zwischen zwei Garantiemächten seine Pflichten verletzt oder
deren Verletzung durch seine Unterthanen duldet. Wenn aber nach dem Friedens¬
schluß die Spannung fortdauert, dann ist es Pflicht der Vevölkernng eines
neutralen Staates, sich jeder Art von Sympathiebezeugung zu enthalten. Ein
neutraler Staat kann nichts besseres thun, als durch Spezialgesetz, da das
gemeine Recht nicht ausreicht, jede Verletzung dieser Pflicht mit Strafe zu be¬
drohen, einerseits, um sich durch rechtzeitiges Einschreiten einer Verantwortung
zu entziehen, andrerseits, um das Volk in eine internationale Zucht zu nehmen.
Es berührt wirklich peinlich, wenn man im Verlaufe der Berichte vou Servais
liest, wie er 1877, damals Bürgermeister von Luxemburg und Vorstand des
landwirtschaftlichen Landesvereins, als Gast der Stadt Nancy bei Gelegen¬
heit eines landwirtschaftlichen Festes Gegenstand besondrer Auszeichnung bei
der Festtafel gewesen ist, und wie der Maire von Nancy ihm, dem damaligen
Minister von Luxemburg, in den wärmsten Ausdrücken „für die sympathische
Haltung des Landes während des Krieges" öffentlichen Dank unter dem Jubel
der Festgenosseu ausgesprochen hat.
Im Januar 1871 traf ein höherer preußischer Offizier aus dem Haupt¬
quartier zu Versailles in Luxemburg ein, der einen Brief des Königs an
den Prinzen-Statthalter überbrachte, worin in bittern Worten über die feind¬
selige Haltung des Landes und über die Bildung von Vereinen zur Be¬
günstigung französischer Gefangnen geklagt wurde. Servais erzählt, der
Prinz sei höchlichst überrascht gewesen, und auch er, der Minister, habe keine
Aufschlüsse geben können. Gleich darauf kam eine Note des Bundeskanzlers
vom 6. Januar 1871, die die Beschwerde näher begründete und die Ankunft
eines Bevollmächtigten in Aussicht stellte, der mit der Regierung über die
Maßregeln verhandeln sollte, zu denen die Vorgänge Anlaß geben könnten.
Die luxemburgische Regierung erklärte sich mit dieser Absicht einverstanden und
beeilte sich, die Einzelheiten der Beschwerde sorgfältig untersuchen zu lassen.
Die Beschwerden konnten nicht bewiesen werden; das Ergebnis wurde nach Ver¬
sailles und an die Garantiemächte berichtet.
Am 26. Januar 1871 erschien der Bevollmächtigte aus Versailles, der
damalige Regierungspräsident von Trier, Herr von Ernsthausen, in Luxem¬
burg, wies eine Vollmacht zur Verhandlung wegen der vorgekvmmnen Ver¬
letzungen der Neutralität vor und stellte nun Berichterstattung nach Ver¬
sailles in Aussicht. Man hatte in Luxemburg ein Ultimatum befürchtet.
Servais rühmt, wie Herr von Erusthausen seine Aufgabe erfüllt habe. Er
verlangte zunächst mündlich, daß der Betrieb der Wilhelm-Luxemburgbahnen
Deutschland überlassen würde, außerdem die Post- und die Tclegraphenverwal-
tung, oder daß eine Entschädigung von zwei Millionen Thalern gezahlt würde, daß
die Jnternirung aller französischen Soldaten, die das Gebiet des Großherzog-
tnms betraten, streng durchgeführt, daß dein französischen Konsul das Lxsciuawr
entzogen, und daß gegen zwei Gendarmen, die den Übertritt zweier franzö¬
sischen Soldaten über die Grenze begünstigt hatten, vorgegangen würde. Von
den Vereinen, von denen in der Note vom 3. Dezember 1870 die Rede ge¬
wesen war, schwieg Herr von Erusthausen.
Im Auftrage des Prinzen-Statthalters wurde Fortsetzung der seither
schon bethätigten Jnternirung und die Untersuchung des Falles von Be¬
günstigung des Übertritts französischer Militärs zugesichert, ebenso die Ver¬
abschiedung des französischen Vertreters, die besonders lebhaft verlangt worden
war; dagegen wurde die Überlassung der Wilhelm-Luxemburgbahnen, der
Post und der Telegraphie mit der größten Entschiedenheit abgelehnt; die
luxemburgische Regierung verpflichtete sich nnr, gegen die sranzöstsche Ostbahn¬
gesellschaft auf Vertragsauflösung zu klagen, wie es schon durch Note vom
4. Oktober 1870 zugesichert worden war. Herr von Ernsthausen brauchte
hierauf die begreifliche Vorsicht, in der schriftlichen Fassung seiner Forde¬
rungen nur das Zugestandn« zu erwähnen, das Abgelehnte nicht.
Hier unterbricht Servais seine Erzählung, um sein Verhalten zu recht¬
fertigen. Er sei, sagt er, nie ein Chauvin gewesen, wie dieser oder jener seiner
Landsleute; er sei überdies durch den luxemburgischen Geschäftsträger in Berlin
immer vortrefflich unterrichtet gewesen. Dieser habe ihm z. B. drei Wochen
vor der Übergabe von Metz, am 5. Oktober 1870, als das Ergebnis von
Unterredungen mit Mitgliedern des Ministeriums und des Bundesrath mitge¬
teilt, Deutschland erkenne noch immer den Kaiser Napoleon als berechtigten
Herrscher an; es solle eine Regentschaft zu Gunsten des kaiserlichen Prinzen
eingesetzt werden; zu diesem Zwecke müsse mau sich der Unterstützung des Mar¬
schalls Bazaine und seiner Armee versichern; es scheine, daß man mit dem
Marschall bereits in Verhandlung stehe, er werde mit Hilfe Preußens den
Schutz des kaiserlichen Prinzen in0^kling,Qt ooiripsusatioii wohl über¬
nehmen; die Sache solle nach dem Falle von Paris eingeleitet werden. Weiter
berichtet der Geschäftsträger Föhr — die Zeit ist nicht angegeben —, er sei
im Vorzimmer des Unterstaatssekretärs von Thiele mit Bancroft, dem Ver¬
treter der Vereinigten Staaten, zusammengetroffen, der ihm gleich eröffnet habe,
er sei gekommen, um der deutschen Regierung mitzuteilen, was er soeben durch
einen amerikanischen Obersten erfahren habe, der Paris im Luftballon verlassen
und dann nach Berlin gekommen sei, daß nämlich Paris von Lebensmitteln
völlig entblößt und genötigt sei, zu kapituliren. Servais erzählt dann weiter,
die deutschen Zeitungen hätten Herrn Föhr nach dessen Tode viel Lob ge¬
spendet, weil sie geglaubt hätten, der Verstorbne habe lebhafte Sympathien für
Deutschland gehabt; das sei aber ganz und gar nicht der Fall gewesen, Föhr
habe sich vielmehr in seinem Briefwechsel mit ihm über deutsche Angelegenheiten
so ausgelassen, daß er, der Minister, in der Befürchtung, daß das Brief¬
geheimnis auf dem Wege von Luxemburg nach Berlin nicht in gleicher Weise
geachtet werden möchte, wie auf dem Wege von Berlin nach Luxemburg, es
ängstlich unterlassen habe, auf solche Auslassungen zu antworten. Wer Föhr,
den äiplvilmts iuM'ovisö, wie ihn Servais nennt, gekannt hat, der wird in
seinem Urteil über diesen tüchtigen und eifrigen Mann auch durch die Ent¬
hüllung nicht irre gemacht werden, daß er oft anders gedacht als gesprochen
hat. Das gehört zum Geschäft; zum Geschäft gehört aber nicht das Aus¬
plaudern solcher Dinge. Mußte Servais, nachdem er sich ebeu von dem Ver¬
dachte französischer Gesinnungen gereinigt hat, seinen Vertrauensmann von dem
Verdachte deiltscher Gesinnungen reinigen?
Auf die Note des Grafen Vismarck vom 3. Dezember 1870 entstand und
erhielt sich trotz verschiedner gegenteiliger Kundgebungen der luxemburgischen
Regierung hartnäckig, das Gerücht, daß der König der Niederlande mit Preußen
wegen Abtretung des Großherzvgtums in Unterhandlungen stehe. Erst als
der König durch eine Proklamation vom 5. Januar 1871 seinen Unterthanen
die Versicherung gegeben hatte, er sei entschlossen, seine Rechte auf das Land
aufrechtzuerhalten, das Volk möge des unverrückbaren Entschlusses des wohl¬
geneigten Herrschers versichert sein, schwand die Furcht, deren Entstehung
Servals nicht begreift, „da doch von deutscher Seite ein Wunsch in dieser
Richtung niemals ausgesprochen worden ist,"
(Schluß folgt)
osegger braucht einmal, als er eine Gegend, die zur Wildnis
geworden ist, nicht wiedererkennt, das Bild: „Wenn man einen
lieben Vetter hat, der stets ordentlich beisammen, glattrcisirt und
gekämmt war, und man sieht ihn ans einmal wieder, rauh und
verwildert, das Haupt voller Struppeu, das Gesicht voller Haare,
da ist es freilich kein Wunder, wenn man fragt: »Ich weiß nicht, irre ich
mich? Ist das der Vetter, oder ist ers nicht?«" Ganz ähnlich ergeht es uns,
wenn wir die jüngsten Leistungen des englischen historischen Romans ins Auge
fassen. Ist das der Vetter, oder ist ers nicht? Zwei Menschenalter hindurch,
vou Scott bis Thackeray, hat der historische Roman Englands einen Vorrang
vor dem andrer Litteraturen behauptet, die grundverschiedne Meisterschaft, die
„Waverley," „Das Herz von Midlothian," „Ivanhoe" und „Das schöne
Mädchen von Perth," und die andre, die „Barry Lindon," „Harry Esmond"
und „Die Virginier" belebte, vertrat zwei mögliche, gleich ergiebige Richtungen
der vielangcfochtnen, schließlich aber doch unentbehrlichen Kunstform; sowohl
der romantische als der realistische Meister hatte der Entwicklung eine breite
Vahu eröffnet, und so gut man sich einen historischen Romandichter denken
könnte, der Scotts Lebens- und.Farbenfrische, die ganze Breite der Scottschen
Welterfahrung, daneben aber doch Trieb und Fähigkeit zu stärkerer seelischer
Vertiefung, tiefern Blick für das Werden der Dinge von innen heraus hätte,
so gut kann man sich auch einen realistischen Lebensdarsteller denken, dem die
Einsicht in das Wesen der Welt die Flügel nicht geknickt, den Schwung der
Seele nicht geraubt hat. Berücksichtigt man, daß mancher Baum die Neigung
hat, mehr in die Breite als in die Höhe zu wachsen, so würde man sich allen-
falls auch darein finden, daß Scotts naive Abenteuerlust von phantastischer
angelegten Naturen ins Gespenstische, Unwirkliche, Unmögliche gezogen wird,
oder daß Thackerays Wohlgefallen an der Sittenschilderung, seine lebhafte Teil¬
nahme an dem geistigen Ausdruck vergangner Zeit in eine geistlose Wiedergabe
alten Chroniken- und Sammelstoffes, in die mehr oder minder bewußte Wieder-
auflackirung vergilbter oder verschollner Bücher ausartet. Das Bedürfnis, der
Gegenwart auf Stunden zu entfliehen, wird sich auch bei uns in Deutschland
nicht ausrotten lassen, in England überläßt man sich ihm mit freiem Behagen.
Daß dies Behagen allein und selbst die leidenschaftlichste Neigung für Sitten
und Reliquien, Bilder und Bücher der Vergangenheit nicht ausreicht, der
historischen Erzählung Leben zu verleihen, ist gewiß; aber es scheint, daß
neuere englische Schriftsteller, unter denen sich selbst vielgepriesene Namen
(wie Walter Besant und James Rice) finden, diese Wahrheit als unbequem
zur Seite schieben. Und so sehen wir in der neuesten historischen Novellistik
der Engländer bald eine pretiöse, seltsam feierliche, symbolisch gespreizte und im
letzten Kern doch triviale Phantastik, bald eine Butzcnscheibenkunst vorwalten,
die wohl eine Aussicht auf unbegrenzte Zunahme solcher Bücher, aber keine
auf bleibende Schöpfungen gewährt. Die Hegemonie des englischen Romans
ist ohnehin längst zu Ende, die Zeit, wo ein Teil der Gebildeten nur fran¬
zösische, ein andrer nur englische Erzähler las, liegt weit hinter uns, die Zahl
der Übersetzungen hat abgenommen, aber die eigentlichen Modeerscheinungen,
die Aufsehen machenden Bücher werden noch immer übersetzt, und so erhalten
wir von Zeit zu Zeit Proben von dem, was sich drüben über dem Kanal im
Augenblick für bedeutend oder doch für vortrefflich hält und gehalten wird.
Eine höchst charakteristische Probe des unnatürlichen, geistreich-phantastischen,
mit der Milch verworrener Geschichtsphilosophie und dem Zaubertrank einer
unklaren Mystik genährten Geschichtsromans liegt uns in dem Roman: Der
Prinz von Indien oder der Fall von Konstcintinvpel von Lewis
Wallace vor (dem Verfasser eines vielgenannten Romans „Ben Hur"), aus
dem Englischen übersetzt von E. Albert Witte (Freiburg i. B., Fr. E. Fehsen-
feld, 1894). In zwei umfangreichen Bänden und in einem Vortragstempo,
das einigermaßen an die Grandezza der Sarabande erinnert, wird hier der
geheimste Zusammenhang der Begebenheiten erhellt, die zum Sturz des längst
baufälligen byzantinischen Reichs und der Eroberung von Konstantinopel durch
die Türken geführt haben. Der hindurchgehende Held, ein geheimnisvoller
Prinz von Indien, der an dem Fall der christlichen Stadt entscheidend Anteil
nimmt, entpuppt sich ziemlich früh als unser alter Bekannter, der ewige Jude.
Die Handlung selbst setzt sich aus breiten Schilderungen, denen mancherlei
archäologische Studien zu Grunde liegen, aus Szenen, die man ungefähr für
möglich und geschehen halten kaun, endlich aus mystischen Vorgängen zusammen,
die abwechselnd an arabische Märchenerzähler und an Eugen Sue anklingen.
Bei allem Aufwand an glänzenden Äußerlichkeiten, an religiösen und historischen
Gesprächen, an weltgeschichtlichen Ideen, die darauf hinauslaufen, daß in jedem
thatsächlichen Ereignis der Weltgeschichte ein höheres Gesetz walte, daß alles
nach unmittelbarem göttlichen Ratschluß geschehe, ist der Roman doch von
einer fast erschreckenden innern Leere. Die Idee, daß der Fall des entarteten
christlichen Byzanz notwendig, bei den Türken der „Fortschritt" und die große
Zukunft sei, wird poetisch dadurch verkörpert, daß die wunderschöne und tief¬
innerliche griechische Prinzessin Irene ihrem um sie werbenden Vetter, dem
letzten Paläologenkaiser, ihre Hand versagt und sich ausdrücklich für den Harem
des Sultans Mahommed II. aufspart, was Vater Marion, der Seelenrat der
Prinzessin, mit den Worten feiert: „Ich denke, ich verstehe den Plan des
großen Schöpfers. Er gab dir, o Tochter, deine Schönheit der Person und
des Geistes und zog dich inmitten unsagbaren Leides groß, damit die Religion
Christi nicht gänzlich im Osten unterginge." Nun wird man vom Standpunkt
katholisch gläubiger wie modern historischer Anschauung aus wenig an der
verblendeten Hartnäckigkeit zu bewundern finden, mit der sich die Byzantiner
noch in ihrer Todesnot gegen die Union der lateinischen und der orien¬
talischen Kirche sträubten. Aber in ihrer Zertretung durch die Türken eine ver¬
diente Strafe Gottes, in der Nachsucht des ewigen Juden gegen den letzten
Palüologen ein besondres Werkzeug des Höchsten zu sehen, die Herrschaft der
türkischen Barbarei als die Verkörperung eines Fluches darzustellen, der Völker
und Stätten trifft, wo man die göttliche Offenbarung mißachtet hat, das ist
doch ein Stück englischer Phantasie, in dem sich der Cent hergebrachter, an¬
geblich religiöser Betrachtungsweise und die Überreizung moderner Geschichts¬
mystik wunderlich genug begegnen. Ganze Reihen spezifisch englischer Vor¬
stellungen von heute spielen in die mit so künstlichem Aufwand historisch ge¬
färbte Erzählung hinein. Der ewige Jude, alias Prinz von Indien, muß
selbst die Anschauungen der englischen Teatotellers vertreten, er ruft, als er
Ael, dem Glaubensgenossen von Konstantinopel, das Theegetrünk einschenkt,
das diesem bisher unbekannt gewesen ist: „Willst du nicht auch sagen, daß es
besser als Wein ist? Die Welt wird eines Tages zu dieser Einsicht gelangen
und um so glücklicher sein!" Die Hauptanschauung bleibt doch die. daß der
geheimnisvolle Vorgang der Ausbreitung eines Glaubens an unerklärliche
Dinge jederzeit die unmittelbare Hilfe und Einwirkung Gottes voraussetzt.
„Es gab eine Zeit, sagt Ahasver, wo der Islam nur verächtliches Lachen
hervorrief, jetzt jedoch ist er der Glaube, der annehmbarerer scheint als irgendein
andrer." Im Munde des ewigen Juden, der andrerseits so stolz auf seine Ab¬
stammung vom Volke Gottes ist, daß ihm die edelsten Geschlechter von Kon¬
stantinopel wenig imponiren, mag sich das überlegen und staatsklug ausnehmen;
aber der Verlauf des Romans lehrt, daß es auch eine der Offenbarungen ist.
die uns Herr Lewis Wallace zuteil werden läßt. Es käme nicht viel darauf
ein, ob der Reihe hohler und abgeschmackter Erfindungen, die unter dem
schützenden Mantel der Geschichte einherwandeln, noch ein paar mehr hinzu-
gesellt werden. Aber der feierliche Ton, neben dem schulmeisterliches Ungeschick
im Vortrag waltet (Redewendungen wie „Wenn wir diese Regel hier anwenden,"
„Da wir, Verfasser und Leser nicht zur Menge gehören und ein Interesse an
dem Manne nehmen, von dem uns mehr als ihnen bekannt ist," „Der Leser
wird die Höflichkeit, die in der Entsendung der Sänften für die beiden Damen
zum Ausdruck gelangte, zweifellos auf die Eifersucht zurückführen," „Es ist
vielleicht aufgefallen, daß usw. Bemühen wir uns diesen Widerspruch zu er--
klären" gehen dnrch beide Bände hindurch), und die eigentümliche Prätension,
die in der religionsphilosophischen Färbung des Ganzen bei vollkommen ge¬
wöhnlichen Romanvvrgängen liegt, fordern den schärfsten Widerspruch heraus.
Die Beziehung zu der stammverwandten englischen Litteratur ist vor Zeiten
der unsrigen zugute gekommen; wie die Dinge jetzt liegen, ist es vorteilhafter,
daß das Band beinahe durchschnitten ist. ,^ >
Einfacher, natürlicher, aber nicht wesentlich poetischer ist der Roman
Loma Dovre von R. D. Blackmore, den die deutsche Übersetzerin Mar¬
garete Jacobi nach der sechsunddreißigsten Auflage des Originals „bearbeitet"
(d. h. beim Übersetzen vielfach und keineswegs überall zum Vorteil des Werkes
gekürzt) hat. „Loma Dovre" eröffnet die Bändereihe einer neuen „Ro¬
mantischen Bibliothek," die die Verlagsbuchhandlung von Robert Lutz in
Stuttgart herausgiebt. Die Romantik des Romans ist nichts mehr und nichts
weniger als ein Stück Räuberromantik, die Handlung spielt in den Tagen
Karls des Zweiten und Jakobs des Zweiten, des schrecklichen Lordoberrichters
Jeffreys, also auch der Geächteten, der Highwaymen, der beständigen Be->
drohungen alles Privatlebens und Privatglücks durch den jähen Wechsel der
öffentlichen Zustände und die Ohnmacht der Staatsgewalten. Der alte englische
Abenteurerroman, wie ihn De Fos begründet hat, und der Sittenroman der
Fielding und Smollet reichen sich in Blcickmores romantischer Erzählung die
Hand, der angeschlagne Ton eines Memoirenromans, den der Held John Ritt,
anfänglich Freisasse und später Sir John Ritt zu Oare in der Grafschaft
Somerset, selbst erzählt, ist ziemlich gut festgehalten. Der wackre Freisasse
aus alter, guter Familie, der unter hundert Lebensgefahren und drohenden
Hindernissen schließlich seine geliebte Loma Dovre heimführt, steht seinem An¬
schauung und Bildung nach näher bei Sauire Western als bei spätern feinern
Gentlemen der englischen Erzühlungskunst. Aber er hat das Herz auf dem
rechten Fleck, arbeitet sich durch alle Fährlichkeiten tapfer durch, kommt ein
paarmal mit blauem Ange davon, weil hinter seiner Treuherzigkeit selbst Lord
Jeffreys keinen Hochverrat wittern kann, und schlägt im übrigen mit Messer
oder Schwert eine so gute Klinge, als man von einem englischen Freisassen
des siebzehnten Jahrhunderts nur erwarten kann. Das Sittenbild, um das
es sich ausschließlich handelt, entspricht in einzelnen kräftigen Zügen ohne
Frage chronikalischen Überlieferungen und Aufzeichnungen aus der Zeit der
Restauration, führt ein paar Persönlichkeiten und Szenen lebendig vor Augen,
laßt aber die Hauptsache in unglaublicher Weise fallen, John Ritt deutet
kaum einmal an, wie König Jakobs düstres, drohendes Regiment auf das
lustige Altengland in allen Lebenskreisen zurückwirkte, er selbst gerät in das
Getümmel der Schlacht von Sedgemoor, in der Herzog MonmouthS Rebellen-
Heer von den Königlichen geschlagen wurde, aber was er berichtet, giebt kein
Bild des Vorgangs, während die Unthaten der geächteten Dooues und die
Abenteuer, die der Held in seinem ländliche» Besitztum erlebt, mit breiter Be¬
haglichkeit und lebendigen Farben geschildert sind. Die Vorzüge, die selbst
eine solche Art der Darstellung noch haben kann, hat Ad. Stern noch kürzlich
in seinen „Studien zur Litteratur der Gegenwart" (S. 440) dahin charakterisirt:
„Das stoffliche Interesse, der durchgebildete Blick für die Äußerlichkeiten und
Sitten früherer Tage schließen natürlich noch keine Vergeistigung und poetische
Bedeutung in höherm Sinne ein. Aber sie verbieten dem Schriftsteller, der
sich auf diesem Felde auszeichnen will, das leichtfertige Gesudel, die unechte
Färbung, die völlige Nichtkenntnis der dargestellten Welt. Da in England
die Bücher vergangner Zeit selbst noch gelesen werden, so stößt der Erzähler,
der sich an Stoffe aus dem siebzehnten Jahrhundert wagt, auf die Sitten¬
bilder der gleichen Zeit. Man läßt sich die Erinnerung gern in neuer Fassung
gefallen, aber man hat die Erinnerung und stellt aus ihr heraus sehr be-
stimmende Forderungen an den modernen Romanschriftsteller, der kulturhistorische
Bilder geben will." Schade nur, setzen wir hinzu, daß diese Forderungen so
ganz äußerlich bleiben. Der Gesichtskreis des Helden geht über ein altes Erbgut,
ein neues Wappen, eine schöne junge Braut und Frau nicht hinaus, und die
Menschen, die Sir John Ritt sonst schildert, sind in noch engerm Baun be¬
fangen. Das ist nun recht eigentlich Butzeuscheibeukuust, unsre Teilnahme wird
im Grunde genommen sür alltägliche Schicksale und Durchschnittsmenschen in
Anspruch genommen, denen keinerlei poetische Vertiefung geliehen ist. Auf
dem Wege, den Blackmore in „Loma Dooue" einschlägt, kann ohne sonderliche
Mühe die ganze Sammlung der Staatsprozesse und ein Haufe Kriminalakten,
können die Chroniken sämtlicher Grafschaften, Wahl- und Marktflecken von
Altengland belletristisch verwendet werden. Während der historische Roman
früherer Zeiten mehr oder minder dem Weltbilde, dem Epos zustrebte und
schon darum eine andre Fülle und Mannichfaltigkeit einschloß, ist der gegen¬
wärtige dem herrschenden Zug zur Episode gefolgt und greift einen kleinen
Ausschnitt aus dein Kulturleben vergangner Tage — natürlich unter steter
Berufung ans Treue und Echtheit — heraus. Der Autor mag es unter
solchen Voraussetzungen anfangen, wie er will, seine Erfindung und Gestaltung
erhält entweder, wenn er Ausnahmemenschen und eigentümliche Verhältnisse
zu schildern hat, einen Stich ins Pretiöse oder spielt, wenn er, wie Black-
more in „Loma Dovre," eine Durchschnittsnatur und alltägliche Zustände
darstellt (die sich sehr wohl mit abenteuerlichen Erlebnissen vertragen), in die
Trivialität der bloßen Spannungs- und Unterhaltungserzählung hinüber.
Bringt man in Anschlag, daß drei Viertel der kulturgeschichtlichen Romane
Jungenglands von ähnlichem Gepräge sind, so läßt sich begreiflicherweise wenig
Freude an diesen Leistungen gewinnen. Jedenfalls berühren sie unsre Lit¬
teratur nicht.
Gleichfalls der „Romantischen Bibliothek" angehörig ist die Übertragung
eines englischen Romans, der freilich nicht zu den historischen zählt, sondern
eher ein Beitrag zur Geistesgeschichte des neunzehnten Jahrhunderts genannt
werden kann. Der Roman Aus zwei Welten von Maria Corelli (aus
dem Englischen von Jsabella Hummel) ist mit seinen Vorreden und Nachworten
ein charakteristisches Zeugnis dafür, in welcher Weise der Höhenwahn und die
Sensationssucht am Ende dieses Jahrhunderts alle Kreise, alle Weltanschauungen
durchdringen. Die Verfasserin, die sich ihrer idealen wie ihrer christlichen Ge¬
sinnung rühmt, Predigt, daß das Leben Elektrizität sei, will mit ihrem Roman
nichts mehr und nichts weniger beweisen, als daß „erstens Gott und sein Geist
wahrhaft bestehen; zweitens, daß, während wir die kleinlichen Geschäfte unsrer
Zeitlichkeit mit dem gleichen thörichten Eifer betreiben, mit dem Kinder Karten¬
häuser aufbauen, sich die ungeheure Zentralsphäre stetig um uns dreht und
der elektrische Ring stark und unzerstörbar ewig sein Werk des Schaffens und
Wiederzerstörens vollbringt; drittens, daß jeder Gedanke und jegliches Wort
von jedem Bewohner auf jedem Planeten in leuchtenden Lettern vor den Augen
des Schöpfers aufflammt, ihm ebenso leicht lesbar wie ein Telegramm; viertens,
daß diese Erde der einzige Fleck im Universum ist, wo sein Dasein wirklich
bezweifelt und angefochten wird. Dazu sind der allgemein verbreitete Realis¬
mus (!), Materialismus und Atheismus die schrecklichsten und bezeichnendsten
Zeichen unsrer Zeit. Das Werk, den Weizen vom Unkraut zu sondern, hat
jedoch begonnen." Die Offenbarung, die uns der Roman zuteil werden
lassen will, füllt jedoch keineswegs mit der demütigen Zuversicht derer zu¬
sammen, die an Gott glauben, auf die Unsterblichkeit ihrer Seele bauen und
nach dem Erdenleben ein lichtvolleres, reineres Dasein in andern Sphären er¬
warten oder doch hoffen, sondern verkündet, daß allen denen, die Christi Lehre
aufrichtig lieben und verstehen und nach der höchsten Vergeistigung eines
lautern und vollkommnen Lebens streben, wunderbar geheimnisvolle Kräfte ver¬
liehen sind, die Fähigkeit zu jeglichem Wunder, die Gabe zu heilen und gesund
zu machen, jegliche Macht auf eines Menschen Herz. „Dieser Spiritismus
ist der Ausfluß des elektrischen Geistes der Gottheit im Menschen und steht
in Verbindung mit dem erhabnen Mittelpunkt der Gottheit im Schöpfer, er
kann mit Engeln reden, kann Kranke gesund machen und Traurige trösten,
kann Schönheit und Gesundheit des Leibes bewahren, ja kann sogar die Jngend
länger erhalten, als sich die Materialisten je träumen lassen; er lehrt das Un¬
glück tragen, als wäre es Freude, ja selbst im Tode lehrt er triumphiren."
Der Roman soll durch seine wunderbare Erfindung, in der die sichtbare und
die unsichtbare Welt ineinanderspielen, für diesen Glauben, diese Überzeugung
Propaganda machen. Wie weit er das vermag, können wir ruhig dahingestellt
sein lassen; die Poesie hat nur mit Seelenkräften und nicht mit elektrischen
Strömungen zu thun. Der Hochmut, der sich hinter diesem spiritistischen
Sektentum birgt, die tiefe Verachtung, die die Verfasserin für die schlichte
Seelenreinheit, die schlichte Liebe, das einfache Mitleid zur Schau trägt, das
die dunkeln und verworrnen Wege unsers Lebens erhellt, suchen ihresgleichen
im Übermenschentum der Modephilosophie. Es ist überall dieselbe Erschei¬
nung: das Bedürfnis, den uralten, heiligen und ewigen Maßstäben mensch¬
lichen Wertes zu entwachsen, falsche, trügerische Maßstäbe an ihre Stelle zu
setzen und damit die eigne Größe und Unfehlbarkeit zu beweisen. In den Aus¬
nahmemenschen dieses Romans steckt die ganze Überhebung dieser Tage, die mit
sittlicher Größe, mit innerer Weihe, mit reinerm Empfinden und werkthätiger
Menschenwürde so wenig zu schaffen hat. Die Szene, mit der der mystische
Heliobas den Prinzen Iwan Petrowsky entläßt und ins Leben hinausschickt,
reicht allein aus, den wahren Charakter dieser Art von Idealismus ins
rechte Licht zu stellen. Die Dame, der die Erzählung in den Mund gelegt und.
die, wie es scheint, eine Musikerin ist, giebt weltlich-hochnäsige Kunsturteile
zum besten, nennt Bach einen abscheulich langweiligen Tyrannen, Beethoven
ein wenig langweilig, und behauptet, Schubert sei ein größerer Musiker ge¬
worden als Beethoven, wenn er länger gelebt hätte. Nun, das sind Ansichten
und Aussprüche wie andre auch, sobald sie von einem einfachen, wenn auch
hochbegabten Menschenkinde ausgehen. Aber wie anders stellt sich die Sache
dar, wenn das rcisonnirende Menschenkind zu der Gruppe der geheimnisvoll
Auserwählten gehört, die „ihre mächtigen elektrischen Organe bei richtiger
Pflege zu ungeahnten geistigen Fähigkeiten entwickelt haben." Widerspruch
wird dann zur Todsünde, und andres Empfinden heißt brutaler Materia¬
lismus.
Wie gesagt, der Roman der Miß Corelli gehört nicht zu den historischen.
Aber ein Blick in ihn hilft vielleicht klar machen, wo die Wurzeln zu den
oben charcckterisirten wunderlichen Ab- und Ausartungen einer Gattung zu
suchen sind, die vor Zeiten der Darstellung kraftvollen, eigentümlichen Lebens
überaus günstig war und nirgends günstiger als in der englischen Litteratur.
anrile hatte viel Beziehungen gehabt, aber niemand hörte etwas
von ihm. Nach Jahr und Tag berichtete nur ein Freund der
Mollerschcn Familie, der mit seiner Frau aus einer Sommertour
nach der sächsischen Schweiz durch Dresden gekommen war, daß
ihnen dicht an der Blcisewitzer Straße vom Wagen aus einige
Steinmetzwerkstütten aufgefallen wären, und in einer von ihnen
hätte zwischen Marmorplatten, Grabtafeln und.Grabkreuzen in langem grauem
Kittel Vaurile gestanden, im Gespräch mit einem andern Herrn im Rock, der
dem Anschein nach der Besitzer gewesen sei und ihm Anweisungen gegeben
habe. Herr Möller hatte es zu Hause erzählt, schon weil er glaubte, daß es
seiner Nichte bekömmlich wäre. Also Steiumetzgesell! das ist nun das Ende
des großen Mannes. Aber es ist kein Wunder, er war ebensowenig ein wirk¬
licher Künstler wie er ein ordentlicher Geschäftsmann war, er war von beiden
etwas, aber nichts ordentliches.
Aber Erika von Haltern hatte aus der ganzen Nachricht nur eins heraus¬
gehört: er arbeitete. Sie sollten schon noch staunen über das, was er konnte.
Auch sie hatte nie eine Nachricht von ihm erhalten, und doch wußte sie, so
sicher wie daß sie lebe, daß er arbeiten und Erfolg haben würde, und daß er
kommen würde, sie zu holen, wenn er wieder fest stünde im Leben. Sie hatte
auch nie Sorge, daß das am Ende nicht zeitig genug geschehen würde. Sie
konnte warten, und sie wartete ruhigen Herzens.
Seitdem waren schon zwei Jahre vergangen, sie war inzwischen acht¬
zehn Jahre alt geworden. Sie wurde viel umworben. Da ihr Vormund
kinderlos war, so war sie die einzige Erbin des großen Vermögens. Es war
zwar zu erwarten, daß Moller einige große Legate aussetzen würde, um durch
eine Mollerstiftung oder ein Mollersches Krankenhaus oder etwas ähnliches
den Klang seines Namens auch bei den nachwachsenden Enkelgeschlechtern zu
erhalten; dennoch blieb die schöne Erika von Haltern eine der allerbesten Partien.
Die Söhne der ersten Familien lenkten ihre Blicke auf sie, und die Väter waren
durchaus damit einverstanden.
Onkel Moller hatte aber besondre Pläne mit Erika. Daß ihr zukünftiger
Gatte reich sein mußte, sehr reich, außerordentlich reich, war selbstverständlich;
aber er gönnte sie keinem der patrizischen jungen Herren, deren Väter ihm
jahrelang so wehe gethan hatten. Auch hätte es viel besser in seine Politik
gepaßt, wenn sich durch Heirat eine Verbindung mit den neuen Reichen hätte
herstellen lassen. Er stützte sich mehr auf die Partei in der Bürgerschaft, die
die neu aufstrebenden jungen Vermögen vertrat gegen den sich abschließenden
Ring der alten Geschlechter.
Da war zum Beispiel Albert Bierman. Er machte Erika in ganz verzweifelter
Weise den Hof, und Onkel Moller hätte es sehr gern gesehen, wenn die Partie
zustande gekommen wäre. Er gab sich alle mögliche Mühe, Herrn Bierman
bei seiner Nichte ins beste Licht zu setzen. Aber er hatte wenig Glück
damit. Wenn sie sagte, daß er ein ganz beschränkter Kopf sei, ohne jedes
höhere Interesse, so machte er geltend, daß zu jedem großen Erfolg eine gewisse
Einseitigkeit gehöre, und daß sich ein Mann, der den Kopf voll wichtiger
Dinge habe, natürlich nicht mit Kunst und andern Allotrien befassen könne.
Aber Erika antwortete, daß es vielleicht sür Herrn Bierman selbst wichtig sein
möge, vieviel Millionen er noch zusammenbringe, aber doch sür die sehr vielen
andern Menschen nicht. Ihr sei dieser pfiffige Dummkopf einfach unausstehlich,
und das sei für sie das wichtigste.
Pfiffiger Dummkopf! Herr Senator Moller hatte häufig über den Aus¬
druck nachgedacht und schließlich gefunden, daß seine Nichte eigentlich nicht so
sehr Unrecht hätte. Ein pfiffiger Dummkopf — das war er wirklich un¬
gefähr. Aber vielleicht war es gerade das, was dem Manne feine Erfolge
verschaffte. Für ihn und seine Plane wäre dieser Schwiegersohn jedenfalls
sehr brauchbar gewesen, und so gab er denn die Hoffnung nicht auf, die Partie
doch noch zustande zu bringen, um so mehr, als sowohl er wie seine Frau
nicht die geringsten Anzeichen wahrzunehmen vermochte, daß bei ihrer Nichte
auch nur das leiseste Interesse für irgend einen andern bestanden Hütte.
Der Wunsch wuchs, als zunehmende Nervosität und Kränklichkeit mehr
und mehr das Bedürfnis nach kräftiger Bnndesgeiiofsenschaft in ihm weckten.
Im Sommer wurde eine längere Kur notwendig. Man riet ihm einen monate-
langen Aufenthalt in einer bei Dresden gelegnen Natnrheilanstalt an, deren
Ruf durch die außerordentliche Reklame, die sie machte, auch nach Hamburg
gedrungen war.
Als ihm die Nähe Dresdens empfohlen wurde, erinnerte sich der Onkel
allerdings Vnuriles; es wäre doch unangenehm gewesen, wenn man dem da
begegnet wäre. Als er sich aber eingehend nach ihm erkundigt und nichts,
gar nichts von ihm hatte erfahren können, beruhigte er sich. Wohl längst unter¬
gegangen! dachte er.
So waren sie denn alle drei für die Sommermonate hierher gekommen.
Herr Albert Bierman wurde für einige Wochen ebenfalls erwartet. Der junge
Herr versprach sich von diesem Plane sast sichern Erfolg, er sagte sich, daß
er im ungestörten Verkehr mit Erika ganz andre Aussichten Hütte als zu Hause:
er würde tagelang allein mit ihr zusammen sein, ganz ungehindert durch andre,
er würde ihr näher treten, und dann würde sich die Sache schon machen.
Denn der Gedanke, daß ihm Erika persönlich abgeneigt sein könnte, war ihm
noch nie gekommen; er war der Meinung, daß allgemeine Mädchensprödigkeit
das einzige Hindernis auf seinem Wege sei. Und Herr Bierman hatte zu dieser
Annahme guten Grund, er hatte keineswegs besondre Eitelkeit nötig, um zu
dieser Meinung zu gelangen. Ließen ihn doch Mütter und Töchter nur allzu
deutlich merken, daß man die Ehre zu schätzen wissen würde, ihn zum Schwieger¬
sohn oder zum Gatten zu haben.
Auch Herr Moller hoffte das beste. Er hatte eigentlich nur Sorge, daß
mau vielleicht genötigt werden könnte, irgend eine Bekanntschaft zu machen,
die Erika gefährlich zu werden imstande wäre. Man hielt sich daher aufs
ängstlichste von jeder Berührung fern. Erika hatte dessen natürlich kein Arg,
da ihr Onkels Bedürfnis nach vollkommenster Ruhe, der Zweck des ganzen
Aufenthalts, dieses Verhalten genügend zu begründen schien. Sie hatte
schon immer wenig Interesse für die jungen Herren gehabt, die in ihren Ge¬
sichtskreis traten, und so auch hier; von einem gewissen Tage an verlor sich
sogar die letzte Spur davon. Das hatte aber einen Grund, der Herrn und
Frau Moller um den Ausgang ihrer Pläne wohl sehr besorgt gemacht hätte,
wenn sie ihn gekannt hätten.
Eines Tages nämlich war sie mit Onkel und Tante von der Mittags¬
tafel im Kurhause zurückgekommen. Sie wandelten wie gewöhnlich durch eiuen
kleinen Waldweg nach der Villa zurück, die sie gemietet hatten. Erika war
etwas zurückgeblieben, da sie hie und da eine Blume, einige Farren und Gräser
pflückte. Da hatte sie plötzlich auf einem der Seitenpfade, an dem sie eben
vorübergegangen war, einen festen Tritt gehört. Kaum hatte sie ihn ver¬
nommen, da fühlte sie, wie ihr Herz heftiger zu schlagen begann. Sie stand
still und horchte. Langsam, ganz unwillkürlich wandte sie das Gesicht dahin,
von wo sie den Nahenden hörte. Eine hohe, breitschultrige Gestalt bog um
das letzte dichte Gebüsch an der Ecke, und Blumen und Gräser entfielen ihrer
Hand.
Kleine Erika! und Erich! tönte es achtlos laut durch den Park, und da
standen die beiden und hielten sich umschlungen und küßten sich, als wenn
sich das von selbst verstünde, und alle Vögel des Himmels und alle Menschen
der Erde es sehen dürften, während doch kaum hundert Schritt davon Herr
Gustav Moller und seine Frau Gemahlin wandelten, die es bestimmt nicht
sehen durften.
Erika kam auch schnell genug zur Besinnung: Rasch fort! Onkel und
Tante sind da, ein paar Schritte von hier.
Wie dress ich dich? fragte er.
Heute Abend halb acht, dort unten an der Quelle!
Optime, lachte er, ein Stelldichein mit der kleinen Erika!
Noch einmal wollte er sie küssen. Nein, nein! wehrte sie ab, eben hör
ich sie kommen.
Und so war es. Rasch trat er hinter das Gebüsch, denn in der That,
Onkel und Tante kamen zurück.
Was ist denn los? Riefst du nicht?
Ach, ich habe nur meine Blumen verloren, antwortete Erika wahrheits¬
liebend und verlogen. Und sie bückte sich, sie wieder aufzusuchen. Das hatte
den Vorteil, daß die Tante nicht merkte, wie rot sie war.
Onkel und Tante schöpften denn auch keinen Verdacht, nicht den geringsten;
wie hätten sie auch auf Herrn Vcmrile kommen sollen! Dem Onkel schien nur
der zweimalige Weg leid zu thun: er brummte etwas, das ungefähr so klang,
als ob er der Meinung Ausdruck verliehe, daß man um einiger Blumen willen,
die in den Sand gefallen seien, doch nicht gleich so zu schreien brauche.
Sein Brummen machte aber wenig Eindruck auf Fräulein Erika von
Haltern, Onkel Moller hätte sie sogar laut ausschelten können, sie würde es
kaum gehört haben.
Jetzt hatte sie ihre Blumen wieder gesammelt und erhob sich. Es thut
mir leid, daß ihr umgekehrt seid, sagte das gute Kind. Du kommst zu spät
zu deinem Nachmittagsschläfchcn, Onkel.
In ihrer Seele war Jauchzen, die Welt schien ihr zu lachen, und sie hatte
alle Menschen lieb. Tante Jda war ganz erschrocken über das Ungestüm des
Mädchens, denn Erika nahm sie im Laufe des Nachmittags plötzlich beim
Kopfe und schloß sie in ihre Arme. Sie hatte ja keine Ahnung davon, daß
sie nur eines andern Stelle vertrat.
Am Abend aber saßen Erich und Erika zum erstenmale in der Dämme¬
rung an der murmelnden Quelle und erzählten sich und plauderten und schmie¬
deten Pläne. Mit dem Steinmetzgesellen hatte es seine Richtigkeit gehabt. Ich
hatte kein Geld mehr, erzählte Vanrile lachend, gar keins, den Rest meines
Vermögens hatte ich für den Marmor zu meiner ersten großen Statue aus¬
gegeben, und die war noch in den Anfängen der Ausführung. Um mein Werk
fortsetzen zu können, mußte ich Geld verdienen durch Arbeiten, die gleich lohnen.
Ich wandte mich daher ein den Mann, durch den ich den Marmor bezogen
hatte, aus dem ich Götter und Menschen schaffe. Was willst du, Handwerk
ist der Boden aller Kunst! Ich bin Handwerker geworden, damit ich weiter
Künstler sein kann. Ich habe dem Mann einige neue Grabkreuze und Tafeln
modellirt, auch mit seinen Gesellen gearbeitet, die letzte Hand an das gelegt,
was sie im Rohen vorgearbeitet hatten. Ich wurde ausgezeichnet bezahlt,
denn die neue Ware ging. Für mich hatte es nebenbei den Vorteil, daß ich
mir alle Feinheiten und Sicherheiten in der Meißelführung auf diese Weise
wieder aneignen, alle möglichen Versuche anstellen konnte, den Marmor zu tönen
und zu färben. Das kommt mir jetzt sehr zu statten, ich hätte ohne diese Vor¬
übungen nicht so rasch und nicht so sicher arbeiten können.
Wenn Erika von seinem Geldmangel hörte und davon, daß er jetzt drüben
in seinem Dörfchen einen Schuppen als Atelier eingerichtet und seinen Wohnsitz
in einem Zimmerchen der Dorfschenke aufgeschlagen hatte, so regte das in ihr
nur dämmernde Gefühle von etwas Unbekannten, aber Hohem, Herrlichen an.
Welche Not, auch geistige Not für einen Mann von den Lebenserfahrungen
Vanriles in der Sorge um die nächsten Groschen lag, davon konnte sie sich
jn nicht den geringsten Begriff machen. Es war in ihren Empfindungen etwas
von geistlicher Schwärmerei, von dem Gefühl, das wohlgezogne junge Aristo¬
kratinnen im saers eosur für die Märtyrer der heiligen Kirche haben; sie
schwärmen für Blut und Wunden und haben doch nicht die geringste Ahnung
davon, wie es thut, wenn einem die Haut abgezogen wird, oder wenn etwa
gewaltthätige Machthaber einen über mäßigem Feuer rösten lassen, um ihm
andre Überzeugungen beizubringen.
Der plötzlich verarmte Vanrile war ihr eigentlich durch die schwere Er¬
fahrung, durch das Mitgefühl, das sie für ihn hegte, menschlich näher ge¬
treten; sie hatte dadurch sehr viel früher, als sie sich sonst wohl im Laufe
der Dinge darüber klar geworden wäre, deutlich erkannt, wie sehr sie ihn liebte.
Aber sie sah jetzt sein Haupt auch wie von einer Art Heiligenschein umstrahlt:
sie hatte, wenn sie es sich auch nicht klar zum Bewußtsein brachte, doch das
deutliche Gefühl, einer großen Kraft, einem ungewöhnlichen Mute gegenüber zu
stehen, sie ahnte, daß ein Mann, der ohne das mächtigste heutige Hilfsmittel,
ohne Geld, den Kampf mit dem Leben aufnahm, und der in diesem Kampfe,
wo Kriechen und Bücken, allerlei schmierige Waffen und kleinliche Mittel oft
zu ganz ungewöhnlichem Erfolge führen, sich die edelste Waffe wählte und fest
daran glaubte, daß er, nur durch seine Kunst, siegen würde, ein ganz unge¬
wöhnlicher, ein bedeutender Mensch sein müsse. Trotz ihrer jungen Jahre
hatte sie zwar keine genaue, auf der Kenntnis von vielen Einzelheiten beruhende,
logisch durchdachte Anschauung über Leben, Gesellschaft und Erfolg, aber sie
hatte doch in hohem Maße die weibliche Logik, das sichere Gefühl des Nich¬
tigen. Sie hatte nie darüber nachgedacht, sich nie klar gemacht, aus welchen
höhern oder innern Gründen sie urteilte, aber der vielfache Millionär Albert
Bierman war und blieb für sie ein recht gewöhnlicher Sterblicher, den sie
ganz unbefangen in die allertiefste Klasse des Menschentums einordnete. Und
Vanrile, der verarmte Mann, den alle Welt mied, und über den Leute wie Herr
Bierman in der Gesellschaft spotteten, war in ihren Augen nur höher gerückt;
er hatte für sie jetzt einen neuen Zauber, den er früher nicht gehabt hatte.
Sie zweifelte auch keinen Augenblick an seinem Erfolg. Sie glaubte so
unbedingt an einen großen, glänzenden und sofortigen Sieg, daß Vanrile manch¬
mal heimlich bange wurde, da er doch dann und wann in Augenblicken der
Abspannung, wie jedes große Talent, an sich und seiner Kraft zweifelte, und
da er „selbst in jenen andern Stunden, wo er vor seiner Schöpfung in der
festen Überzeugung stand, daß er in der That ein berufner Künstler sei, doch
nie vergaß, daß nur der wirkliche Erfolg in der Hand des Künstlers liegt,
der Erfolg, der darin besteht, möglichst ganz und vollkommen das zu schaffen,
was er im Geiste geschaut hat, daß aber der äußere Erfolg, das Bekannt¬
werden, die Anerkennung, das Geld, das er für sein Werk bekommt, sehr häufig,
nur allzu häufig weniger von dem innern Werte des Geschaffnen als von
dem Zufalle abhängt, von schlimmern Mächten noch ganz abgesehen.
Für Erika stand der große Sieg nahe bevor. Der Bau der neuen Aka¬
demie der Künste hatte den Architekten und Bildhauern Dresdens hohe Auf¬
gaben und lebhafte, lohnende Beschäftigung gebracht. Für die Bildhauer
waren verschiedne Wettbewerbungen ausgeschrieben worden für Verzierungen,
Köpfe, Statuen und Gruppen, die auf oder an dem Gebäude oder auch in
den Höfen und Hallen aufgestellt werden sollten- Die größte Aufgabe, für
deren Lösung man auch einen ungewöhnlich hohen Preis ausgeschrieben hatte,
bestand darin, für die große Eingangshalle des mit der Akademie verbundnen
Kunstausstellungsgebäudes die „Kunst" plastisch darzustellen.
Das Ausschreiben war schon drei Jahr alt, man hatte absichtlich den
Künstlern sehr lange Zeit lassen wollen. Aber auch sreie Hand: man hatte
ihnen die Wahl der Technik, des Materials und auch die Entscheidung darüber
freigestellt, ob sie sich durch ein Modell oder durch das ausgeführte Werk selbst
um den Preis bewerben wollten. Der sehr hohe Preis sollte nur ein Sporn
für den Ehrgeiz, nicht etwa schon die Bezahlung sein. Würde ein Modell ge¬
krönt werden, so sollte es vom Künstler auf Rechnung des Staats ausgeführt
werden; würde ein ausgeführtes Kunstwerk den Sieg davontragen, fo sollte
der Staat durch Auszahlung des Preises das Recht erwerben, es zu einem
Preise zu kaufen, der in der Weise festgestellt werden sollte, daß Künstler und
Kommission je einen Sachverständigen, diese beiden vor Eintritt in die Ver¬
handlungen einen dritten als Obmann zu wählen und diese drei dann, für beide
Teile verbindlich, das Werk einzuschätzen hätten.
Die Aufgabe sowohl als auch die Aussicht auf den großen Erfolg hatte
Vanrile gefesselt, als er bei seiner Ankunft in Dresden davon hörte. Monate¬
lang trug er den Gedanken mit sich herum, vor seinem innern Auge entstanden
Entwürfe auf Entwürfe, ohne ihn völlig zu befriedigen. Schon einigemale
hatte er geglaubt, gefunden zu haben, wonach er trachtete, aber immer war
er nach einigen Tagen aufs neue enttäuscht. Fast war er mutlos geworden.
Da, mit einemmale, stand das Bild vor ihm, mit einemmale wußte er, was
er wollte, und wie es wirken mußte. Damit war aber auch für ihn die Frage
der Technik gelöst, und damit wiederum stand für ihn fest, daß er sich nicht
durch ein Modell bewerben dürfe. Er brauchte Marmor, verschiednen Marmor.
Nicht kalt und weiß stand sein Bild vor seinem Auge, sondern in Farbe und
Leben. Was Hütte es ihm genützt, wenn er das, was er im Geiste sah, in
Thon modellirt und davon einen bemalten Gipsabguß den Richtern geschickt
hätte, eine Karrikatur dessen, was er wollte!
So hatte er sich denn damals schon entschlossen, fein Vermögen zu wagen,
sich die verschiednen Marmorsvrten kommen zu lassen und sein Kunstwerk
gleich auszuführen. Wohl hatte er sich gesagt, daß das eigentlich sträflicher
Leichtsinn sei. Aber auf der andern Seite wuchs von Tag zu Tag das Ver¬
trauen zu seiner Kraft und der Wunsch, sein Werk, so wie es vor seinem
innern Auge stand, zu bilden, ganz unbeeinflußt von Einreden und von Winken,
bis in die kleinsten Einzelheiten hinein es so zu bilden, wie er wollte. Er
verkannte die Größe der Gefahr nicht, er sah klar, daß er beinahe seine ganze
Zukunft auf eine Karte setzte, er erwog wochenlang alle Möglichkeiten. Aber
endlich konnte er doch sagen: Ich Habs gewagt! und von dem Augenblick an
war er auch ruhig.
Sein Leben richtete er sich so billig als möglich ein, um so unabhängig
als möglich von Gcldsorgen zu bleiben. Seit Jahr und Tag hatte er nun
da drüben in dem stillen Walddorfe gesessen, wo ihm ein glücklicher Zufall
gute Gelegenheit gegeben hatte. Jener Händler und Steinmetz hatte nämlich
durch seine Gesellen ein großes, prunkvolles Grabmal für einen verstorbnen
sehr reichen Großbauern ausführen lassen; es war an Ort und Stelle gemacht
worden, der Schuppen mit seinem guten Licht stand noch, und er wurde ihm
von dem Manne billig überlassen- Er hatte mit niemand verkehrt, ein Leben
geführt, so karg und für jedes fremde Auge scheinbar so freudenleer, daß es
kein Arbeiter ausgehalten hätte. Man sah ihn auch für weiter nichts an im
Dorfe, als für einen Arbeiter des Dresdner Steinmetzmeisters, der da noch
irgend etwas fertig machen sollte, und zwar für keinen der bessern, denn einen
solchen würde der Meister nicht so lange haben entbehren mögen. Vanrile
hatte oft innerlich gelacht über die mitleidige Herablassung, mit der man ihm
hie und da begegnete. Nachdem sich die erste Neugierde gelegt hatte, kümmerte
sich niemand mehr um ihn, und bald war er mit seiner Kunst ganz allein.
Er arbeitete fieberhaft, und die Arbeit ließ ihn alles vergessen. Höher und
höher stieg sein Mut, als er beim Fortschreiten der Arbeit immer sicherer der
Überzeugung wurde, daß er erreichen würde, was er erstrebte.
Schon war die Arbeit in der Hauptfache beendet, aber anch die Zeit, in
der sie abgesandt werden mußte, lief ab. Da traf er Erika! Und jetzt, da er
das Mädchen, das er erringen wollte, wiedersah, sie jeden Abend sehen und
mit ihr plaudern konnte, schien sich seine Arbeitsfähigkeit und seine Spann¬
kraft, auf die die lange Anstrengung doch etwas zu drücken begann, zu ver-
doppeln. Mit innerm Jubel nahm er es wahr. Die letzten feinen Aus¬
arbeitungen gelangen ihm in einem Maße, wie er es sich selbst nie zugetraut
hatte. Kleine! dir gehört die Hälfte des Preises, wenn ich ihn bekomme! so
dachte er, und so hatte er ihr auch gesagt. ^ ,> >
(Fortsetzung folgt)
Die patriotischen Er¬
innerungsfeste des abgelaufneu Halbjahrs Waren schön und erhebend, aber es ist
doch gut, daß die Anlasse zu ihnen ein Ende nehmen. In Erinnerungen lebt der
Greis, der Mann lebt in der Gegenwart, der Jüngling in der Zukunft; ein Volk,
das nicht untergehen will, muß Mann und Jüngling zugleich sein und darf nicht
dem greisenhafter Geschmack verfallen, ausschließlich in den Erinnerungen einer
großen Vergangenheit zu schwelgen. Auch sind wir Deutschen in der Zeit von
1864 bis 1871 nicht so glücklich oder so unglücklich gewesen wie die Holländer,
denen ihr heroisches Jahrhundert so viel eingetragen hat, daß sie seitdem den Rentner
unter den Völkern spielen können. Daß nun die Sprechhallen der Volksvertre¬
tungen die Orte nicht sind, wo ein Volk vorzugsweise die wiedergewonnene Jugend¬
kraft beweisen kaun, leuchtet ein; man muß schon zufrieden sein, wenn darin kein
Unheil angerichtet und einige nützliche Arbeit gethan wird. In beiden Beziehungen
aber hat der Reichstag nicht allein seit Neujahr leidlich seine Schuldigkeit gethan,
sondern auch vorige Woche ein paar Entscheidungen getroffen, die beweisen, daß er
sich nicht von der Bahn eines besonnenen, wenn auch sehr langsamen und bedäch¬
tigen Fortschritts abdrängen läßt.
Die mittelparteiliche und ein Teil der konservativen Presse hatten sich in Er¬
manglung einer nützlichem Beschäftigung eine Zeit lang auf die Bekämpfung der
Revolution verlegt und sich in einen solchen heiligen Eifer hineingeschrieben, daß sie
zu guterletzt schon die Forderung, es solle von Staats wegen noch mehr als bisher
im Arbeiterschutz geleistet werden, für revolutionär erklärten. Man mußte also er¬
warten, daß sich am 15. Januar, als der Abgeordnete Hitze seine arbeiterfreund¬
liche Resolution einbrachte, auf der rechten Seite des Hauses ein Sturm der Ent¬
rüstung gegen den „Revolutionär" erheben werde. Aber siehe da, alle Welt stimmte
ihm bei, den Freiherrn von Stumm nicht ausgenommen, der nur eine kleine Ände¬
rung vorschlug und keins von den bösen Worten, die ihm nachgesagt werden, ge¬
sprochen haben wollte. Die Resolution wurde einstimmig angenommen. Entweder
also ist die letzten Monate hindurch der Draht abgerissen gewesen zwischen den
Zeitungsschreibern und ihren Auftraggebern, oder diese Herren haben sich die Sache
überlegt und sind ruhiger geworden. Alle erkennen an, daß ein Teil der cirmern
Klassen unter großen Mißständen leidet, die gehoben werden müssen, wenn nicht
die Nation im ganzen dadurch geschädigt werden soll, und weiter wollen und sagen
wir ja auch nichts; ob eine wichtige Wahrheit dank der Sozialdemokratie oder trotz
ihr anerkannt wird, darauf kommt nichts an.
Die zweite wichtige Entscheidung ist am 16. und 17. gefallen. Wir hätten
weder erwartet, daß das Zentrum so geschlossen, noch daß die Regierung so
entschieden den Antrag Kanitz ablehnen würde. Die Zentrnmspnrtei hat den
Freiherrn von Los, der die agrarische Bewegung sür seine politischen Sonder¬
zwecke auszunutzen versuchte, von sich abgeschüttelt, und der Staatssekretär von
Marschall zeigte in der Debatte, daß er sich vor dem Bunde der Landwirte nicht
fürchtet, er muß wohl also die Verbündeten Regierungen samt dem Kaiser hinter
sich wissen. Was der Freiherr von Mnrschall, und was im Namen des Zentrunis
der Graf Galen sagte, das deckt sich genau mit unsrer eignen an dieser Stelle un-
zähligemal dargelegten Ansicht. Galen hob vorzugsweise den sozialistischen Cha¬
rakter des Antrags hervor. „Mit innerer Notwendigkeit muß die Monopolisirung
des ausländischen Getreides die Monopolisirung des inländischen nach sich ziehen.
Muß aber der Staat auch das inländische Getreide ankaufen, so muß er auch dafür
sorgen, daß der Landmann sein Getreide lagerfähig baut, dann muß er jedem
Landmann einen Polizisten ins Hans geben, der ihm vorschreibt, wie er seine Aus¬
saat machen soll." Dasselbe sprach auch Herr von Marschall aus: es würde nichts
übrig bleiben, als die Kontingentirung des Getreidebaues und die dem Bauer so
verhaßte amtliche Beaufsichtigung seiner Wirtschaft. Der Staatssekretär wies aber
auch noch auf das zweite Thor hin, das Graf Kanitz dem Sozialismus öffnet.
Dieser hatte gesagt: „Es fragt sich, ob es möglich ist, den Getreidepreis zu finden
und festzusetzen, der dem Landwirt die Existenz ermöglicht; kann man das nicht,
so möge man den Getreidebau einstellen." Ja, das ist ja eben die Grundfrage
zwischen dem Sozialismus und der bestehenden Gesellschaftsordnung! Wird sie
bejaht, wird behauptet, der Staat, oder wer sonst die Gesamtheit vertreten mag,
vermöge zu ermitteln, wieviel Einkommen einem jeden nach seinen Bedürfnissen und
nach seinen Leistungen gebührt, und er vermöge ihm das zu gewähren, dann ist
damit die Durchführbarkeit des Sozialismus anerkannt, und uicht bloß die Lohn-
arbeiter, sondern auch die meisten Handwerksmeister und kleinen Kaufleute werden
verstaatlicht werden »vollen, nimmermehr aber zugeben, daß den Gutsbesitzern allein
das Heil widerfahre. Marschall sagte dasselbe mit etwas andern Worten und
fragte noch, was wohl werden Würde, wenn die Regierung dem Bauer den „nor¬
malen Preis" versprochen hätte und dann ihr Versprechen nicht einlösen könne?
Und er fragte weiter: Was würden Sie wohl sagen, wenn die Arbeiter „normale
Löhne" verlangten? d. h. vom Staate verlangten, daß er sie ihnen verbürge,
denn auf privaten Wegen darnach zu trachten muß ihnen natürlich freistehen.
Gerade das Verlangen der Agrarier aber, meinte er ferner, müsse das deutsche
Rechtsgefühl aufs empfindlichste beleidigen, da Graf Kanitz mit seinem Antrag
„eine Reihe sehr Potenter Existenzen in seine Fürsorge einschließe." In der That,
Herren, die ohnehin Millionäre sind, würden den größten Gewinn von dem Ex¬
periment davontragen, wenn es glückte. Unznhligemal haben wir es für groben Unfug
erklärt, wenn in einem fort von der Not der Landwirtschaft gesprochen wird, als ob
alle Landwirte Deutschlands in denselben Verhältnissen lebten, von denselben Daseins¬
bedingungen abhingen und von denselben Nöten in demselben Grade bedrückt würden.
Auch Galen und Marschall haben diese „Vorspiegelung einer falschen Thatsache"
zurückgewiesen. Der erste sagte: „Die Verhältnisse im Westen und Osten sind so
verschieden, daß eine Verständigung zwischen beiden überhaupt nicht möglich ist; die
Verhältnisse müssen innerhalb jeder Provinz geregelt werden." Und Marschall:
„Nicht iiberall kann man von einer Notlage sprechen." Und am folgenden Tage
teilte Bennigsen mit, der Zentralausschuß der landwirtschaftlichen Vereine Hannovers
habe einstimmig erklärt: in der Provinz Hannover giebt es keinen Notstand der Land¬
wirtschaft. Außerdem bewies der Staatssekretär die Unvereinbarkeit des Antrags mit
den Handelsverträgen, sowie die Notwendigkeit dieser Verträge und den Nutzen, den
sie gebracht haben. In Beziehung auf die Getreidezölle wies er noch auf eine That¬
sache hin, die auch wir oft der Beachtung empfohlen haben: daß sie nämlich dann am
wenigsten wirken, wenn sie der Landwirt am nötigsten braucht. Bei Teuerung, also
in den Jahren, wo die Landwirte wenig zu verkaufen haben oder wohl selbst noch
zulaufen müssen, erhöht sich der Jnlandvreis um den vollen Betrag des Zolls; herrscht
dagegen Überfluß an Getreide, dann vermag auch der höchste Zoll den Preis nicht zu
erhöhen. Die Franzosen haben ihren Weizenzoll auf 7 Franks erhöht, und am
14. Januar stand Weizen in Paris um 80 Pfennige niedriger als in Berlin und
2,30 Mark niedriger als in Köln. Endlich drückte der Staatssekretär die Über¬
zeugung aus, daß die Not der Landwirte, d.h. der ländlichen Grundbesitzer, soweit
sie vorhanden ist, vorzugsweise durch die Überschulduug bewirkt wird, deren Ur¬
sachen ja bekannt sind. Die Debatte am 17. schloß mit der Ablehnung des
Antrags und mit einem Krach zwischen dem Landwirtschaftsminister und den
Konservativen, sodaß sie heute der Regierung genau so gegenüberstehen wie — unter
Caprivi. Daß am zweite» Tage sowohl der Landwirtschnftsminister wie Bennigsen
den Agrariern so scharf und so entschieden abgesagt hat, und daß sich ihre Aus¬
führungen, namentlich in Beziehung auf den sozialistischen Charakter des Antrags
Kanitz, so vollständig mit denen Marschalls und Galens deckten, bringt eine höchst
erwünschte Klärung in die bisher so verworrne Lage.
Gewisse mittelparteiliche und konservative Zeitungsredaktionen haben im ab-
gelaufnen Jahre die Grenzboten, weil sie sich an gewissen Donquixoterieu uicht be¬
teiligen mochten, mit aller Gewalt totzumachen versucht. Das ist ihnen nicht ge¬
lungen; dafür treten die Parteien, denen sie zu dienen gedachten, in der kläglichsten
Verfassung ins neue Jahr ein. Die Konservativen haben zwei Jahre lang bloß noch
zwei Dinge gewollt: den Antrag Kanitz und die Doppelwährung, und mit diesen
Dingen kommen sie nicht durch; die Nationalliberalen aber wissen überhaupt nicht
mehr, was sie wollen sollen, seitdem sie aufgehört haben, liberal zu sein. Die
vielen wackern und gescheiten Männer, die die Wählerschaft beider Parteien bilden,
werden sich endlich ermannen, auf neue Ziele besinnen und nach andern Führern
umsehen müssen.
bringen die L-ipe times einen geschichtlichen
Beitrag, der inmitten der durch Anschuldigungen, Vertuschungen und Begütiguugs-
versuche getrübten Atmosphäre als Lichtstrahl wirkt. Er stammt aus der Zeit vor
dem Uitlcmderausstand und zeigt, wie lauge man in Pretoria (und wohl auch in
Berlin) deu Zusammenstoß vorausgesehen hat. Die darin ausgesprochnen Hoff¬
nungen und Befürchtungen gehören auch offenbar noch nicht der Geschichte an. Es ist
ein Bericht von dem Engländer E. Garrett, dem Verfasser des Buches In ^tMs.uävr-
la-nel, über eine Unterhaltung mit den: Präsidenten Krüger im Juli 1895, worin
dieser offen England beschuldigt, daß es ihn in der Swasilandfrage getäuscht habe,
dn Swasiland ohne die Seelüfte gar keinen Wert habe. „Ich bin oft getäuscht
worden. England hält uns irgend etwas hin und sagt: Wir werden die Rechte
des Freistaates mit günstigen Augen betrachten, aber ihr müßt etwas mehr thun;
und dann sagt es: Nun bekommt ihr es sicher, aber wir Müssen erst noch ein
kleines Entgelt von euch haben; und so geht es fort." Daß es „Verrat an der
südafrikanischen Einheit" sei, moralische Unterstützung von irgend einer andern Macht
als England zu suchen, leugnete der Präsident geradezu: „Nehmen wir ein, Eng-
land will mir die Gurgel abschneiden. Ich sage nicht, daß es das will, aber
nehmen wir es an. Würde ich da nicht ein Recht haben, Deutschlands moralische
Unterstützung zu suchen?" Auf den Einwand Garretts, daß England Swasiland
nur genommen habe, um es eines Tages dem einigen Südafrika zurückzugeben,
während Madagaskar und Damaralcmd für immer an Frankreich und Deutschland
verloren seien, sagte der Präsident: „Das nützt mich nichts, wenn man mir Swasi¬
land nimmt und giebt es an Natal. Swasiland ist von Rechts wegen unser. Natal
war ja auch unser. Es ist doch nicht anders, als wenn man mir die Uhr aus
der Tasche stiehlt." Vom Stimmrecht der Uitlanders sagte der Präsident mit ge¬
sundem Verstand: „Ich kenne weder Engländer, noch Holländer, noch Uitlanders,
ich kenne nur gute und schlechte Leute. Schlechte Leute, die wir leichtherzig herein¬
gelassen haben, waren es, die seinerzeit England zur Annexion des Freistaats Ver¬
leiteten. Deshalb prüfen wir jetzt immer zuerst, ob wir gute oder schlechte Leute
vor uns haben." > ^ -
In der letzten Nummer der Christlichen Welt finden
wir in großem, auffälligen Druck einen von Häuptern der englischen Geistlichkeit
unterzeichneten Aufruf, der sich an die gesamte Christenheit wendet und also wohl
nicht nur an dieser Stelle an die Öffentlichkeit tritt. Der Aufruf schildert in be¬
weglichen Worten die „furchtbare Tragödie in Armenien," erklärt es für >,un-^
glaublich und unerträglich, daß die Christenheit noch immer apathisch und machtlos
vor diesem schrecklichen Schauspiel verharre," und nennt schließlich seinen eigentlichen
Zweck, nämlich „alle, die auf Leben und Wirken der Kirche Jesu Christi Einfluß
haben, inständigst und demütig zu bitten, alle Kraft des Gebets, das in der Kirche
wirksam ist, zu sammeln und Gott den Vater, Christus unsern König und den
Tröster, den heiligen Geist, anzuflehen, daß diese Schmach aufhöre; daß dem Übel
gewehrt werde; daß unsre Selbstsucht, Gleichgiltigkeit und gegenseitige Eifersucht
die Barmherzigkeit des gerechten Gottes nicht länger aufhalte und hindre an der
Rettung seines treuen Volks."
Was haben wir darauf zu antworten? Wir lassen einmal die Frage ganz aus
dem Spiel, ob wirklich den Armeniern gar keine Schuld an dem Streite beizu¬
messen sei, und nehmen an, sie seien wirklich „Gottes treues Volk," seien wirklich
unschuldig um ihres Glaubens willen bedrückte, verfolgte, auf unmenschliche Weise
bedrängte; dann ist es in der That unerträglich, daß wir „noch immer apathisch
vor diesem schrecklichen Schauspiel verharren," dann »vollen wir auch sofort dem
Rufe folgen und der Unglücklichen in unserm Gebete von Herzen mit gedenken.
Aber ist das unsre ganze Antwort? Ich verdenke es keinem, wenn er beim
Lesen des Ausrufs den Kopf geschüttelt oder gerade heraus gelacht hat. Diese
Stimme von England her nimmt sich doch wirklich sehr sonderbar aus! Aber lachen
wir lieber nicht, denn die Sache ist im Grunde recht ernst. Weshalb müssen wir
aber den Kopf schütteln zu solchen Worten? Weil wir wohl an die Macht des
Gebets glauben, aber in sehr anderm Sinne als die Verfasser des Ausrufs. Diese
„Sammlung aller Kraft des Gebets in der Kirche" klingt doch sehr, als ob hier
eine Massendemonstration einen ganz besondern Einfluß ans die göttliche Welten¬
lenkung haben müsse. Unser Vater weiß, ehe wir ihn bitten, was wir bedürfen.
Und dann: legt nicht jedes Gebet eine Pflicht auf? Nämlich die, daß wir keine
Wunder fordern, sondern daß wir daran gehen, mit allen zu Gebote stehenden
Mitteln dieser Welt das auch unsrerseits wirklich zu erstrebe», was wir erbitten.
Und hier möge sich doch England einmal fragen, ob Europa, ob es besonders selbst
mit dem Gebete seine Pflicht erfüllt hat. Aber nicht wahr, es betet ja eben, Weil
es den bösen Türken anders nicht beikommen kann; die wohnen ja so weit da¬
hinten.
Sonderbar nnr, daß England noch nie um Mittel und Wege verlegen ge¬
wesen ist, wo es galt, seine eignen Interessen zu verfolgen. Weshalb brach doch
Herr Jcuneson in Transvaal ein und betete nicht lieber, daß der Himmel gegen
die schlechten Buren einschreite? „Daß unsre Selbstsucht, Gleichgiltigkeit und
gegenseitige Eifersucht Gottes Barmherzigkeit nicht länger aufhalte," dafür sollen
wir beten?
Nun, England weiß wohl, wen das am meisten angeht. Wer aber seine
Schwächen kennt und die Hände in den Schoß legt und sagt: Betet, daß ich ein
besserer Mensch werde! das ist ein sonderbarer Christ. Wenn England etwas dazu
thut, diese seine Untugenden zu überwinden, würde es allerdings deu Armeniern
einen bessern Dienst thun, als wenn es die ganze Christenheit auffordert, Gott
um die größten Wunder zu bitten.
Vor ein paar Wochen ist im Leipziger Gewandhauskonzert,
um einem tief gefühlten Bedürfnis abzuhelfen, der Faust vou Berlioz aufgeführt
worden. Daß er in den nächsten zwanzig Jahren nicht wieder aufgeführt werden
wird, darf man wohl bestimmt annehmen; die ihn gehört haben, sind ja nnn ge¬
witzigt. Denen, die sich noch nicht ganz klar darüber sein sollten, erweisen wir
vielleicht einen Dienst, wenn wir sie nach all den schönen langen Kritiken, die sie
in der Tngespresse darüber gelesen haben, noch mit einer kurzeu Kritik bekannt
machen, die vor zweiundvierzig Jahren darüber geschrieben worden ist. Sie findet
sich in einem Buche, an dem wir uus in den Weihnachtstagen wieder einmal er¬
quickt haben: in Hauptmanns Briefen an Hauser. Dort heißt es unterm 14. De¬
zember 1853:
„Berlioz hat erst im Gewandhauskonzert und dann in einem eignen vielerlei
Von sich zu Gehör gebracht. Eigen ists aber doch, daß es immer Sachen sind,
von denen man schon seit 15 bis 20 Jahren hat sprechen hören: Romeo, Faust,
Harald usw. Es ist doch auch alles rechte Barrikadenmusik, mitunter sehr schim¬
mernd und glänzend, nie erwärmend. Nun möchten aber diese Sachen noch sein,
Wie sie wollten; aber das schrecklich viele Reden darüber muß eiuen kaput machen.
Das Richtige wie das Falsche ist langweilig; das erstere ewige Wiederholung, das
andre stupider Unsinn. Aber bei allem Esprit, den so ein gebildeter Franzos wie
Berlioz haben kann, ist es doch eine Bornirtheit, einen solchen Faust aus dem
Goethescheu zusammenzukleistern, wie ihn diese Symphonie (Legende) darstellt, teil¬
weis mit Goethescher Brocken, dann wieder mit eigner Zuthat, ohne Einheit und
Geschmack. Noch trostloser ists aber, daß ein ganzes, großes, gebildet sein wollendes
Publikum so wenig gesunden Sinn hat, das Absurde eben absurd zu finden, und
wenn etwas glatt unwahr ist, zu meinen, es könne etwas sublimes darin ent¬
halten sein."
Was könnten unsre musikalischen Tagesschriftsteller lernen, wenn sie dann und
wann einmal in Mendelssohns, Schumanns, Moritz Hauptmanns, Otto Zahns
und andrer Schriften die Nase stecken wollten! Was würde aber Hauptmann erst
heute sagen, wenn er „das schrecklich viele Reden" mit anhören müßte!
Der Bibliothekar des Joachimsthalschen Gym¬
nasiums in Berlin, Herr Professor Fuhr, teilt uus freundlichst mit, daß das
Bildnis Bachs in der Amalienbiblivthek in der That Johann Sebastian Bach dar¬
stellt, nicht seinen Sohn Carl Philipp Emanuel Bach. Es trägt oben auf dem
Rahnien die Aufschrift: „Johan Sebastian Bach > Der Teutschen größter Har-
monist ^ gebohren zu Eisenach 1685 ^ gestorben in Leipzig ^ 1750," und diese Auf¬
schrift hatte es schon, als es aus dem Nachlaß der Prinzessin Amalie in das Eigen¬
tum des Joachimsthalschen Gymnasiums überging. Auch hat sich der Maler auf
dem Bilde selbst deutlich Liszewsky geschrieben. (Auf dem Bildnis des Zeichen¬
meisters Zink im Leipziger Museum hat er sich selbst ebenso deutlich Lisiewsky ge¬
schrieben, er schrieb sich also selbst verschieden.) „Den Wert des Bildes — schreibt
Herr Professor Fuhr — habe ich früher nicht hoch geschätzt; seitdem ich eine Ab¬
bildung von Herrn Seffners Büste gesehen habe, bin ich überzeugt, daß der Wert
nicht unbedeutend ist, die Ähnlichkeit fällt auf den ersten Blick in die Augen."
Nach dieser Mitteilung ist es doppelt erwünscht, daß das Bild so bald als
möglich in einer guten Nachbildung (Heliogravüre) veröffentlicht werde.
In uusern Bemerkungen unter
der Abteilung Maßgebliches und Unmaßgebliches im letzten Heft ist uns ein Irrtum
untergelaufen: der Verfasser des Aufsatzes über den Entwurf in demselben Hest,
Herr Neichsgerichtsrat Petersen, ist nicht Mitglied einer der beiden Kommissionen
gewesen. Wir waren zu der falschen Aunahme durch ein Mißverständnis gekommen.
Der Aussatz entstand infolge eines Gesprächs mit dem Herrn Verfasser, das uns
veranlaßte, ihn zu bitten, auch den Anschauungen Ausdruck zu gebe», die den bisher
in den Grenzboten vertretenen entgegenstehen; wir hielten das bei der Wichtigkeit
der Sache für notwendig, um uns nicht den Vorwurf der Einseitigkeit zuzuziehen.
Irrigerweise glaubten wir dabei, einem unmittelbar bei der Herstellung des Ent¬
wurfs beteiligt grwesenen das Wort zu geben.
Wesentlich stärker als der vorige Band tritt dieser zweite in die Öffentlich¬
keit. Diese Vergrößerung kommt vor allem auf Rechnung der „Chronik vom
17. September 1394 bis zum 16. September 1895," da diese diesmal die zahl¬
losen Kundgebungen der Treue und Dankbarkeit zum achtzigsten Geburtstage des
greisen Staatsmannes bringt, und zwar in möglichst authentischer, vom Fürsten,
soweit es seine eignen Ansprachen betrifft, selbst gebilligter Fassung. Historisch am
interessantesten ist die erste Abteilung, „Urkunden und Briefe," denn sie bringt
nicht nur Bismarcks Probearbeiten zur Referendariatsprüfung, sondern auch sech¬
zehn teils noch ganz unbekannte, teils bisher nicht ganz fehlerfrei veröffentlichte,
meist ziemlich umfängliche Berichte >und Briefe Bismarcks an den Minister von
Manteuffel aus den Jahren 1854 bis 1858, eine willkommne Ergänzung zu
Poschingers großer Veröffentlichung über „Bismarck am Bundestage," dann drei¬
zehn Briefe Bismarcks an den General Leopold von Gerlach 1853' bis 1858, von
denen vier noch ungedruckt, die übrigen bis jetzt nur teilweise bekannt waren, end¬
lich fünfunddreißig noch nicht veröffentlichte „Briefe Gerlachs an Bismarck 1355
bis 1858." Von den „Reden und Abhandlungen" machen wir besonders auf den
zweiten Teil vou Graues Arbeit „Fürst von Bismarck im Kulturkämpfe" aufmerksam.
Die Abteilung „Gedichte" ist diesmal auf ein einziges beschränkt worden, nicht zum
Nachteil des Unternehmens. Den Schluß des stattlichen Bandes bilden „einige
Artikel der Hamburger Nachrichten," im ganzen vierundsiebzig, die somit zwar
nicht gerade als Äußerungen des Fürsten, aber doch als seinen Anschauungen ent¬
sprechend erscheinen. Wir wünschen dem Unternehmen rüstigen Fortgang und gün¬
stige Aufnahme, denn für die Geschichte unsrer jüngsten Vergangenheit ist es bereits
ein unentbehrliches Hilfsmittel geworden. > !
Seitdem im Sommer 1894 nach dem Tode der Frau Luise Reuter der hand¬
schriftliche Nachlaß des Dichters in den Besitz der Schillerstiftung übergegangen ist,
werden wir mit bisher unveröffentlichten Gedichten, Briefen und andern Reliquien
von ihm förmlich überschwemmt. Gewiß werden dadurch dem Bilde des nieder¬
deutschen Dialektdichters viel kleine liebenswürdige Züge aus seinem Alltagsleben
und seiner poetischen Gemütswelt hiuzugewonnen, aber der Gesamteindruck seiner
Persönlichkeit wird dadurch nur selten lebendiger. Das neue Buch von Gaedertz
liefert wertvolles Material dazu, denn es deckt in seineu meisten Beiträgen den
Zusammenhang zwischen dem Heimatboden und Reuters ersten dichterischen An¬
sängen auf, aber den schöpferischen Odem, der alles einzelne ordnet, belebt und
einem Gesamtorganismus dienstbar macht, vermißt man noch. Hoffentlich bringt
ihn die Biographie, an der Gaedertz seit Jahren schon arbeitet und die jetzt nur
augesichts der reisenden Flut neuer Veröffentlichungen noch zurückgehalten wird.
Denn im Gegensatz zu mancher andern Nachlaß- und Erinnerungslese darf man
von diesem Buche sagen, daß es Mitteilungen bringt, die den Dichter und seiue
Schöpfungen in ihrem innersten Kern und Wesen berühren. Fester und tiefer als
alle andern schöpferischen Geister wurzelt der Dialektdichter in den Verhältnissen
seiner Heimat, mehr als jedem andern bedeutet dem Meister des Humors und des
Gemüts die enge Umgebung seines Elternhauses, seiner Kinderspielplntze, seiner
Jugendfreundschaften und der warme Herd seiner eignen jungen Häuslichkeit. Aus
diesen Kreisen aber schöpft Gaedertz allein. Wir sehen den Primaner Reuter auf
dem Gymnasium in Parchim; hören von seinen ersten—-hochdeutschen — poetischen
Versuchen; freuen uns mit ihm an der beflügelter Hoffnungsstimmung nach dem
schweren Leid der Festungsjahre; begleiten ihn durch seine Stromjahre und seine
Herzenssreundschcift mit Fritz Peters; erquicken uns an seinem lebensfroher Verkehr
mit der Schuljugend Treptows und seinem erfolgreichen Wirken für Pflege gesunder
Leibesübungen, burschenschaftlichen Nachklängen seiner Studentenzeit; erleben mit
ihm seinen Liebesfrühling und die > ersten Anfänge seiner sehr bescheidnen Häus-
lichkeit; machen mit ihm eine humorgetränkte Wahlreise, die an Piepenbrink und
Kornad Bolz erinnert, und sehen ihn sich dann mit seinem „Lowising" in die behag¬
lichen Freuudschciftskreise Neubrandenburgs einspinnen,- denen er so viele Anregungen
und Vorbilder für seine spätern Werke verdankt. Mit dem Abschied von Mecklen¬
burg aber verlieren die Mitteilungen des Buches vieles von ihrem Interesse. Es ist,
als Wäre- nun, mit dem Augenblick der Übersiedlung nach Thüringen, plötzlich der
Faden zerschnitten, der die bisherigen Gelegenheitsgedichte, Anekdoten, Familien-
und - Freundschaftsbeziehungen mit dem innersten Leben und Wachstum des nieder-
deutschen Volksdichters Verknüpfte und so auch der kleinsten und unscheinbarsten
Notiz Wert und Bedeutung verlieh: Vieles, oder ehrlicher gesagt: das meiste von
dem, was nun noch geboten wird an Briefsteller, Rechnungen, häuslichen und ge--
schaftlichen Aufzeichnungen, erweckt nach der lebendigen Wirkung des Bisherigen
den Eindruck, als würden wir aus einem Heiligtum persönlicher Erinnerungen,
von denen jede ein Stück von dem eigensten Sein und Wesen seines Herrn umschließt,
in ein Museum eilig zusammengekaufter Raritäten geführt, die ebenso gut dem
Dichter der „Iphigenie" als dem humorvollen Schöpfer „Unkel Bräsigs" gehören
könnten. In diesem zweiten Teile des Buches also wird der künftige Biograph
Reuters, vorausgesetzt, daß er mehr ist als ein Daten- und Anekdvtensammler,
wenig nutzbares finden. i
Dem hübsch ausgestatteten Bande sind außer einem Selbstporträt des Dichters,
das er während seines Aufenthalts in der Berliner Hcmsvogtei angefertigt hat,
zahlreiche Bildnisse und Ansichten, zum Teil nach Originalzeichnungen von Ludwig
Pietsch und Fritz Reuter, beigegeben. von denen manche ohne Bedeutung für das
L
Diese Schrift ist entstanden aus den Fragen und Strömungen, die uns die
Gegenwart aufdrängt, wir mögen wollen oder nicht. Sie ist weder konservativ
noch liberal, weder gemäßigt noch radikal, oder vielmehr, sie ist das alles in der
besten Bedeutung, weil sie die Frucht eines bedeutenden und kräftigen Geistes ist.
' Es ist eine Thatsache, daß sich die Mehrzahl der ernsten und gebildeten
Männer dem Christentum gegenüber ablehnend oder gar feindlich verhält. In den
verschiedensten Lebensstellungen befindlich, den verschiedensten politischen Parteien
angehörig, gehen sie doch hier wesentlich von denselben Gesichtspunkten aus. Man
will sich nicht unter Vorstellungen beugen, die der natürlichen Vernunft und den
Ergebnissen der Wissenschaft zuwiderlaufen. Man will keine engherzige Askese, die
die unbefangne Lebensfreude tötet. Man verabscheut die „Gefühlsduselei" und das
Schwelgen in unklaren Stimmungen.
Aber die Anschauung vom Christentum, die dabei vorausgesetzt wird, beruht
auf Unkenntnis. Unverstand und Herrschsucht mögen dem Heiligsten öfter eine
Gestalt gegeben haben, die das Mißverständnis erklärt. Das Christentum selbst
aber weiß von alledem nichts. Es ist kein Gebäude vou Dogmen, keine Auf¬
forderung zur Askese und kein Gefühlssport, sondern den Inhalt des Christentums
bildet die That Gottes, die den Einzelnen wie die Gesamtheit dnrch Christus aus
dem Elend und der Verlorenheit errettet. Das ist der Gegenstand des christlichen
Glaubens — eines Glaubens, der nur insoweit Wert hat, als er sich völlig frei,
ohne äußern und innern Zwang entfaltet.
Wenn so viele annehmen, daß die Ergebnisse der Naturwissenschaft oder der
Geschichtsforschung mit diesem Christentum in Widerspruch stünden, so bezeichnet
der Verfasser das mit Recht als modernen „Aberglauben." Jeder Deutsche ist
stolz auf die Wissenschaft, die seinem Volke den Platz in der Geschichte sichert.
Aber als „exemplarischer Unsinn" muß man es ansehen, wenn einem z. B. ent¬
gegengehalten wird: „Die Wissenschaft hat nachgewiesen, daß es keinen Gott giebt."
Ebenso verkehrt ist es freilich, das Christentum auf wissenschaftliche Beweise stützen
zu wollen. Es sind eben zwei Gebiete, die nichts mit einander zu thun haben.
Damit sind, nach dem Verfasser, die Hauptpunkte bezeichnet, deren Verständnis
dem Suchenden eröffnet werden muß. Aber auf welchem Wege ist dieses Ziel zu
erreiche»? Die praktischen Vorschläge hierüber bilden den wichtigsten Teil der
Schrift.
Broschüren oder Flugschriften zu veröffentlichen hält der Verfasser sür un-
wirksam; denn sie würden von denen, an die sie gerichtet sind, doch nicht gelesen
werden. Für wirksam hält er dagegen die Veranstaltung von Vorträgen oder viel¬
mehr von Vortragscyklen. Bei Vorträgen kommt zu dem Inhalt des Gesprochnen
die Persönlichkeit des Redenden hinzu; und dies ist von unschätzbarer Bedeutung
bei einem Gegenstande, der nur aus der persönlichen Erfahrung heraus erörtert
werden kann. Die Vorträge sind „auf neutralem Boden," in Sälen von Hotels
und Konzerthäusern, Kaufmännischer Vereinen, Klubs, Kurhäusern, Gymnasien zu
halten. Der Gegenstand ist in die geeignete anziehende und anregende Form zu
bringen, die gleichzeitig den Titel für den einzelnen Vortrag bildet, also z. B.:
„Moses oder Darwin?". „Der geschichtliche Christus," „Was ist Glaube?". „Der
geistige Niedergang in der Gegenwart." Besondres Gewicht ist auf die Sprache
zu legen. Die kirchliche Sprache ist für den unverständlich, der sie nie ordentlich
gelernt oder der sie wieder verlernt hat. Wir müssen daher „die allgemeine Sprache
der Gebildeten gebrauche«, um ihnen unsre Gedanken auszusprechen." Dies ist
zwar schwierig, aber sehr wohl möglich, ohne dem Ernst und dem vollen Gehalt
des Evangeliums irgendwie Abbruch zu thun. Der Verfasser hat selbst die Er¬
fahrung gemacht, daß derartige Vorträge, die er in den verschiedensten Orten ge¬
halten hat, lebhaften Zuspruch gefunden und daß sich daraus anregende Persönliche
Beziehungen zwischen Redner und Hörern entwickelt haben.
Wer aber ist zur Verkündigung des Evangeliums in der geschilderten Weise
geeignet? Dem Pfarramte will der Verfasser diese neue Last nicht aufbürden; auch
ist es ja ohne weiteres verständlich, daß die Rede eines Mannes, der sich schlechthin
als Mensch giebt, ans die Entkirchlichten viel mächtiger wirkt, als die eines Pfarrers.
Da sich aber auch Laien, wie Ärzte, Juristen, Künstler u. s. f., kaum dazu finden
werden, so müssen Männer gewonnen werden, die in dieser Thätigkeit ihren Lebens¬
zweck erkennen: der Verfasser nennt sie „Evangelisten." Solcher Männer sollten
sich die kirchliche Leitung oder die Innere Mission oder die Vereine für die Diaspora
thatkräftig annehmen.
Wir glauben nicht, daß sich gegen diese Vorschläge etwas Stichhaltiges wird
einwenden lassen. Reibungen zwischen „Evangelisten" und Pfarrern würden frei¬
lich nicht ausbleiben. Aber gegenüber dem Ernst der Lage können solche Bedenken
nicht uns.precher. Die Würdigung der Schrift vom theologischen Standpunkte mag
dem Fachmann vorbehalten bleiben. Wenn man auch dem ganzen zustimmen kauu,
so bleibt doch im einzelnen vieles, was zum Widerspruch reizt.
Eine werdende und gährende Zeit wie die unsrige leidet nicht nur an dem that¬
sächlichen Widerstreit der verschiedensten Anschauungen und Bestrebungen, sondern
fast noch mehr an gegenseitigen Mißverständnissen, an der Schwierigkeit, der eignen
Meinung einen klaren und allgemein verständlichen Ausdruck zu geben. Der Er¬
kenntnis davon entspricht das sichtlich wachsende Bestreben, das gedruckte Wort
durch die lebendige Rede und den freien Austausch der Gedanken zu ersetzen. Der
Verfasser sucht dies für das religiöse Gebiet zu erreichen; möchten seine Bestre¬
bungen vou Erfolg gekrönt sein! Man denke über religiöse Fragen, wie man will,
so ist es doch immer ein trauriges Zeichen mangelnder Einsicht, wenn man die Be¬
deutung dieses Gebiets für das gesamte Volksleben verkennt. Wer hier fördernd
und klärend wirkt, trägt damit gleichzeitig zur Lösung der Frage bei, ob die Krisis,
in der sich unser Volk befindet, zum dauernden Siechtum oder zur neuen Lebens-
n jüngster Zeit haben wohl die meisten denkenden Deutschen be¬
griffen, daß unsre Kriegsflotte noch ganz andre Zwecke zu er¬
füllen hat, als nur unsre Küsten vor feindlichen Angriffen zu
schützen. Ist es nicht jedem Vaterlandsfreunde klar geworden,
daß wir viele starke Schiffe haben müssen, um auf der ganzen
Erde unser gutes Recht wahren und unsre Kräfte entfalten zu können? Ledig¬
lich seinen Kriegsschiffen hat das kleine Jnselvolk die Weltherrschaft zu danken;
nur mit einer starken Flotte werden wir dereinst auch die englischen An¬
maßungen einschränken können. Kann das große deutsche Volk nicht ähnliches
zustande bringen, wie es die geknechteten Holländer vor drei Jahrhunderten
mit zäher Ausdauer erkämpften? Muffen wir nus im Flottenbau von den
Italienern beschämen lassen? An tapfern Herzen und kräftigen Armen fehlt
es doch wahrlich nicht bei uns, auch Eisen und Kohlen hat unser Land genug
zum Bane der stählernen Meerdrachen. Da fragen die Grenzboten (1896, Ur. 2)
mit Recht: „Wo sind die Bürger, die auf ihre Anteile ein den taurischen
Silberminen verzichten, um einem deutschen Themistokles Schiffe bauen zu
helfen?" Wer sich unsre volkswirtschaftliche Lage klar macht, der erkennt die
Notwendigkeit des deutschen Welthandels und das steigende Bedürfnis nach
Ausbreitung deutscher Volkskraft über größere Bodenflächen. Überall, wo
unser Welthandel schon jetzt blüht, in Ostasien, in der Türkei und Kleinasien,
in Süd- und Mittelamerika, in Marokko und in Transvaal, erregt er die
Eifersucht andrer Nationen. Die blutigsten Kriege sind aber schon aus Handels¬
eifersucht entstanden, das lehrt die Geschichte; man denke nur an die punischen
Kriege, an die schweren .Kampfe der alten Hanse, an die Kriege der Holländer
gegen die Engländer und an den nordameriknnischen Bürgerkrieg. Die Aus¬
breitung unsers Handels ist freilich nicht von der Stärke der Kreuzer, sondern
von der Güte der Waren abhängig. Aber der Bestand unsers Welthandels
beruht auf der Größe unsrer Kriegsflotte; denn dieser überseeische, durch die
deutsche Kauffahrteiflotte vermittelte Handel würde ohne eine starke Kriegsflotte
bei der ersten kriegerischen Verwicklung mit einem seemächtigen Gegner zerstört
sein. Und auch ohne Krieg, in Friedenszeiten würde er schwer geschädigt
werden können von jeder Weltmacht, die unsre überseeischen Absatzgebiete durch
mehr oder weniger gewaltsam erzwungne Zoll- und Handelsverträge oder auf
andre Weise an sich risse. Vor solchen Gewaltstreichen seemächtiger Staaten
soll und muß unser Welthandel geschützt werden. Das kann aber durch nichts
andres als durch eine „achtunggebietende" Flotte von Schlachtschissen und von
Kreuzern geschehen. Daß solche Gewaltstreiche andrer Weltmächte nichts Un¬
gewöhnliches sind, ja daß sie häufig vorkommen, weiß heute jedes Kind.
Seemächtigcre Völker als wir werden unsern Welthandel stets schädigen können,
wenn sie wollen; daran kann die Güte unsrer Waren gar nichts ändern. Für
Deutschlands zukünftiges Gedeihen wird also seine Kriegsflotte noch wichtiger
sein als sein starkes Heer. Um mit guten Kreuzergeschwadern in allen Meeren,
wo es not thut, zum Schutze unsers Welthandels auftreten zu können, müssen
die Gewässer vor den eignen Küsten von feindlicher Blockade freigehalten werden;
dazu muß auch die Schlachtflotte stark sein. England fürchtet nichts mehr
als einen Einfall in sein Land; es hat sich in allen frühern Kriegen dann am
sichersten gefühlt, wenn seine Geschwader die feindlichen Schlachtschiffe in ihren
Häfen lahmlegten, festhielten. Vor fünfundzwanzig Jahren waren unsre Inter¬
essen am Welthandel verschwindend klein gegen unsre jetzigen. Wie wird es
erst nach weiter» fünfundzwanzig Jahren sein, wenn bis dahin die Bevölkerung
in ähnlichem Maße zunimmt wie in den letzten fünfundzwanzig Jahren und
der Boden nicht gewachsen sein sollte? Was Wunder also, wenn einsichtige
Fachleute heute allerdings eine stärkere Flotte fordern als vor fünfundzwanzig
Jahren! Die Zeiten haben sich eben geändert, und damit sind die dringenden
Bedürfnisse für das Wohl des Vaterlands auch andre geworden. Es gehört
wahrlich eine verknöcherte Einseitigkeit dazu, immer wieder längst veraltete
Denkschriften hervorzuholen, um damit heute notwendige Forderungen ablehnen
zu wollen. Dem Flibustier Jameson muß man fast danken, daß er unserm
Volke die eindringliche Lehre gegeben hat: baut euch Schiffe, damit ihr im
Kampfe ums Dasein zwischen den seemächtigen Völkern nicht auf eurer Scholle
erstickt werdet!
Neben dem Schutze des Seehandels fällt unsrer Kriegsflotte freilich auch
der Schutz unsrer Küsten zu. Diese Aufgabe war vor fünfundzwanzig Jahren
der wichtigste Zweck der Flotte, während jetzt, wo der Welthandel jährlich an
Bedeutung gewinnt, dessen Erhaltung die Hauptaufgabe geworden ist. Aber
auch der Schutz der heimischen Küsten in jenem veralteten Sinne, der den
eignen Seehandel dem Feinde ohne weiteres aufopfert, verlangt die Bekämpfung
der feindlichen Schlachtflotlen und ihre Vertreibung aus den deutschen Ge-
Wassern. Es ist ein gefährlicher Trugschluß, zum Küstenschutz sei keine Schlacht-
flvtte nötig. Im Gegenteil, je stärker die Schlachtflotte ist, desto weniger
lokale Verteidigungskräfte siud nötig, wozu außer den Küstenbefestigungen auf
dem Lande die Panzerkanonenboote und Torpedoboote usw. gehören. Ohne
Schlachtflotte würden die heimischen Küsten an allen Punkten, die uicht sehr
stark durch Küstenforts und Küstenpanzerschiffe geschützt wären, den feindlichen
Angriffen und Brandschatzungen, den Laudnngcu großer Heeresteilc ausgesetzt
sein; auch würden alle Zugänge zu Seehäfen gesperrt werden. Damit wäre
also auch die Seeschiffahrt der neutralen Handelsschiffe für uns abgeschnitten,
und unser ganzer Welthandel würde ins Stocken geraten, ja unter Umständen
ganz unterbunden werden können. Schließlich würden alle deutschen Schiffe
außerhalb der Hufen gekapert werden und alle Kolonien verloren gehen. Also
auch der wirksame Küstenschutz fordert dringend eine Schlachtflvtte, die stark
genug ist, die feindlichen Angriffsgeschwader von unsern Küsten, d. h. auf höher
See, anzugreifen und zurückzuschlagen; eine solche taktische Offensive ist auch
bei der strategischen Defensive nötig.
Bisher ist im Ausbau der Flotte viel versäumt worden, weil man im
großen Binnenlande unser Heranwachsen zur Weltmacht nicht verfolgt hat.
Mit dem Schlngwort vom Küstenschutze suchte man daran festzuhalten, daß
Deutschland nur eine kleine Flotte nötig habe. Diesen Irrtum, der für uns
alle verhängnisvoll werden kann, sollte jeder nach besten Kräften beseitigen
helfen. Um im Kampfe ums Dasein mit andern Völkern, um im Wettbewerb
unsrer fleißigen Arbeit auf dem Weltmarkte bestehen zu können, müssen wir
denen, die uns daran hindern wollen, die Zähne zeigen können. Dazu dient
die Flotte.
Die verantwortlichen Fachleute versuche» seit Jahren unsre Kriegsflotte
auf den Stand zu bringen, der der Weltmachtstellung Deutschlands einiger¬
maßen entspräche; sie kämpfen dabei seit Jahren einen schweren Kampf, weil
sie kämpfen müssen mit unkundigen, oft noch dazu in alten Vorurteilen be¬
fangnen Neichsboteu, die von der neuen Zeit mit ihren neuen Forderungen
nichts fühlen, nichts sehen oder, wie es leider ja auch vorkommt, nichts sehen
wollen. In England, in Frankreich und wohl auch in Italien, da drängt zu¬
weilen das Volk selbst oder doch die einsichtige führende Minderheit mit starkem
Druck auf die Regierung, um die Flotte zu vermehren; bei uns ist das noch
nie dagewesen, weil man im Lande immer noch zu wenig Verständnis für die
Bedeutung der Flotte hat. Deutschland hat noch keine Seegeschichte, weil es
meist zerrisse» und uneinig war. Das muß anders werden, wenn wir nicht
verkümmern wollen; daß die Arbeitskraft des Volks gelähmt werde, kann doch
kein Deutscher wünschen, welcher Partei er auch angehöre. Ohne starke Flotte
droht uns aber die Verdrängung vom Weltverkehr, worunter jeder Deutsche
leiden müßte.
Was kann nun da geschehe!»? Die einsichtigen Landsleute müssen für sich
und für die unmündigen und verblendeten Volksgenossen darauf wirken, daß
unsern Reichsboten die große Verantwortung klar werde, die sie sür die Ent¬
wicklung der Flotte tragen. Unser Marinehaushalt ist seit Jahren in trau¬
rigster Weise beschnitten worden. Die Lehren des englischen Freibeuters müßten
dazu führen, daß unsre Neichsboten die Marineverwaltung drängten, mehr
Schiffe zu bauen, als der Neichshaushalt diesmal vorgesehen hat; denn fast
alle seine Forderungen sollen nur den Ersatz alter verbrauchter Schiffe decken,
können daher selbst vou den nnknndigsten Volksvertretern nicht als Neubauten
innerhalb der Grenzen des gänzlich veralteten Flvttenplans angesehen werden.
Folgendes möge den Laien einen Anhalt geben.
In allen Flotten ersten bis vierten Ranges, anßer bei uns, giebt es schon
eine neue Art von Kriegsschiffen, die sowohl zum selbständigen .Krenzerkrieg
auf hoher See, wie zum gewaltsamen Aufklärungsdienst bei der Schlachtflotte
in den heimischen Gewässern dienlich sind: die Panzerkreuzer. Bei der Kieler
Flottenschau haben unsre Neichsboten sieben fremde Panzerkreuzer gesehen;
ohne die großen Flotten zu nennen, sei nur gesagt, daß Rußland zwölf, Spa¬
nien und Italien je sechs, Osterreich vier Panzerkreuzer teils fertig, teils auf
Stapel hat. Daß die gewiß nicht reichen Italiener vier große Panzerkreuzer
gleichzeitig und einen fünften ein Jahr später auf Stapel setzen konnten, ist
geradezu beschämend für uns. Seitdem drängen die Erfahrungen des ost¬
asiatischen Seekriegs noch mehr auf den Bau von Panzerkreuzern. Wenn man
in den exotischen Staaten wüßte, der deutsche Konsul brauchte uur auf den
Knopf zu drücken, um schnell ein Geschwader von kräftigen Panzerkreuzern aus
der Heimat herbeizurufen, dann würde man es dort kaum zu Streitigkeiten
kommen lassen. Ein solches Geschwader würde aber auch in jedem Teile der
Erde erfolgreich gegen die Geschwader größerer Seemächte auftreten können,
wenn es die Ehre und das Wohl des Vaterlandes fordern sollte; auch in
Friedenszeiten würde sein Dasein schon „achtunggebietend" wirken, also Ge¬
waltstreiche fremder Seemächte verhindern helfen. Wenn wir gute Panzer¬
kreuzer zu Hause haben, dann genügen im ausländischen Friedensdienst die
kleinen Stationäre vierter Klasse als Kreuzer. In Deutschland wird aber
nächstens erst der Bau des ersten Panzerkreuzers (Ersatz-Leipzig) begonnen
werden!
Ein Geschwader von vier bis sechs tüchtigen Panzerkreuzern ist ein
dringendes Bedürfnis für uns. Die Reichsboten sollten es jedoch fordern, um
zu zeigen, daß es ihnen Ernst damit ist, als „Väter des Volks" für Deutsch¬
lands zukünftiges Gedeihen zu sorgen. Damit würden sie unserm Aschenbrödel,
der schon so lange vernachlässigten Seegewalt, helfen. Nörgler werden wohl
wieder das alberne Schlagwort „uferlos" gebrauchen, um Deutschlands See¬
macht innerhalb der Grenzen eines durch Kurzsichtigkeit beschränkten Gesichts-
kreises einzuengen. „Uferlos" ist ein ganz schiefer Begriff, denn auch das
große Weltmeer ist nicht ohne Ufer, man sieht sie nur nicht überall. Und
nicht nur einzelne Menschen, auch Völker wachsen mit ihren höhern Zwecken.
Das deutsche Volk oder richtiger gesagt: die deutscheu Steuerzahler sind heute
viel reicher als vor fünfundzwanzig Jahren, sie können also jetzt zur Erhal¬
tung und Stärkung der Volkskraft auch für die Flotte ganz andre Mittel auf¬
bringen, wenn sie nur wollen. Zur Stärkung des Wollens ist freilich Er¬
kenntnis nötig; das übrige findet sich dann.
Möchten doch unsre Volksvertreter bald einsehen, wie gut sich das Geld
verzinse» kann, das im Ausbau einer starken Flotte angelegt wird. Man ver¬
gesse auch nicht, daß mit jedem Kriegsschiffe, das gebaut wird, viele deutsche
Arbeiter Brot bekommen; das Geld bleibt im Lande und kann nicht in exo¬
tischen Werten verspielt werden! Soll denn England für alle Zeiten allein die
Weltherrschaft in Erbpacht haben? Ist es „uferlos," wenn wir Deutschen
zum eignen Nutzen unser gutes Recht im Weltverkehr auch auf den Länder
verbindenden Seewegen und an allen Ufern des Weltmeeres wahren wollen?
chon bei der Einreichnng des Normaletats für höhere Schulen
im Jahre 1863 hat die preußische Regierung den Satz aufge¬
stellt, die künftige Gleichstellung in der Besoldung der Gym-
nasialdirektoren und Gymnasiallehrer mit den Besoldungen der
Direktoren und Richter erster Instanz rechtfertige sich dadurch,
daß beiderseits die Beteiligten Universitütsstudien gemacht haben müssen, sowie
durch die in jeder Beziehung gleiche amtliche und soziale Stellung. Fast drei
Jahrzehnte sind ins Land gegangen, bis die hier vertretne Auffassung durch
das graue Nebelmeer der Theorie auf den festen Boden der Praxis gelangt
ist. Die Verhältnisse des höhern Lehrerstandes in dieser ganzen Zeit werden
nur besten durch die Thatsache beleuchtet, daß im Jahre 1890 an den Landtag
eine Petition von höhern Lehrern eingereicht wurde, des Inhalts, sie möchten
wenigstens deu Subalternbeamten der Justiz gleichgestellt werden. Erst der
Normnletat von 1892 bezeichnet anch in der Praxis einen erfreulichen Fort¬
schritt in der äußern Stellung der Lehrerschaft; die durchgreifende Umgestal¬
tung der Bcsvldnngs-, Rang- und Titclfmge wurde aber erst durch die eigenste
Entschließung des Monarchen herbeigeführt. Das wird der höhere Lehrer¬
stand ihm nie vergesse»! Vonseiten der Negierung war die Einführung des
Nvrmalctats die späte, recht späte Einlösung eines längst fälligen Wechsels,
der nicht einmal zum vollen Werte ausgezahlt wurde; denn auch jetzt noch nehmen
die akademisch gebildeten Lehrer uuter allen Beamtengruppen gleicher Bildungs¬
stufe hinsichtlich des Gehalts die unterste Stellung ein. Keine Klasse, die
Archivbeamten ausgenommen,^) bezieht einen gleich niedrigen Anfangsgehalt
(2100 Mark), keine Klasse hat eine gleich lange Dienstzeit bis zur Erreichung
des höchsten Gehalts (27 Jahre), bei keiner Klasse erfolgen die Alterszulagen
nach lungern als dreijährigen Zwischenrüumen, wie das bei den Lehrern vom
fünfzehnten Dienstjahre an geschieht, bei keiner Klasse ist so wie bei den Lehrern
der Grundsatz der Alterszulage durch Einführung der sogenannten festen Zu¬
lage zum Nachteil der Empfänger durchbrochen. Die Gleichstellung mit den
Richtern erster Instanz ist also keineswegs erreicht. Da mit der Aufbesserung
der äußern Lage gleichzeitig die Ansprüche an Arbeitszeit und Arbeitskraft ge¬
steigert wurden, so erhält die Neuregelung der Gehaltsverhültnisse den Cha¬
rakter eines Tauschgeschäfts, bei dem — das sei offen zugestanden — nicht
nur der Staat, sondern auch die höhere Lehrerschaft gewann; sie hat dies
selbst dankbar anerkannt. Eine einseitige Bevorzugung vermag sie freilich im
Gegensatz zum Kultusminister darin nicht zu erkennen. Während bei den fest
angestellten Lehrern gegen früher von einem Gewinn geredet werden konnte,
hat sich die Lage der Hilfslehrer und Kandidaten von Jahr zu Jahr trauriger
gestaltet, ohne daß bis jetzt der Staat durchgreifende Maßregeln zur Besei¬
tigung der schweren Übelstände getroffen hätte. Die Gleichstellung der höhern
Lehrer mit den Richter» erfordert die Gleichstellung der Hilfslehrer und an¬
stellungsfähigen Kandidaten mit den Hilfsrichtern und Assessoren, zumal da
die Vorbereitung für den Beruf auf beiden Seiten an Geist, Zeit und Geld
die gleichen Ansprüche stellt. Jede Anfeindung der Juristen liegt uns natür¬
lich fern, ja wir beklagen es, daß es ihnen eine gehässige Polemik nicht selten
erschwert, zu den berechtigten Forderungen der höhern Lehrerschaft unbefangen
Stellung zu nehmen. Für die jüngern Juristen bestehen jetzt gewiß keine
idyllischen Zustände, aber die Lage der Hilfslehrer ist noch viel betrübender.
Sehen wir, wie es sich mit der zngestcmdnen Gleichstellung verhält.
In der höhern Justizlaufbahn erhalten die, die dauernd die vollen Pflichten
und die volle Verantwortlichkeit eiues Amtes übernehmen, auch den mit diesem
Amte verbundnen Gehalt (2400 Mark), die Hilfslehrer bleiben hinter der
untersten Gehaltsstufe (2100 Mark), die wieder 300 Mark niedriger ist als
die der Juristen, um 600 oder 300 Mark zurück. Der kommissarisch beschäf¬
tigte Assessor erhält 200 Mark für den Monat, der Hilfslehrer 125 Mark-
Die Benachteiligung springt hier so in die Augen, daß unter den Abgeord¬
neten sogar der Landgerichtsrat Kirsch für eine Gleichstellung der Hilfslehrer
mit den Assessoren eintrat. Gerichtsassistenten (also subalterne Justizbeamte)
und Hilfslehrer beginnen mit einem Anfangsgehalt von 1500 Mark, die einen
steigen bis 2100, die andern nur bis 1800 Mark. Manche Städte geben den
Schuldieneru an Volksschulen einen höhern Anfangsgehalt als der Staat aka¬
demisch gebildeten Lehrern. Den außeretatmäßigen Assessoren werden Umzugs-
kvsten gewährt, wenn sie vor der Versetzung gegen eine feste Entschädigung
(eine „fixirte Remuneration") beschäftigt waren (Gesetz vom 24. Februar 1877,
Z 3), den etatmäßigen Hilfslehrern werden Umzugskosten ausdrücklich versagt
(Ministeralerlaß vom 3. Oktober 1894). Jeder Referendar, wie überhaupt
jeder, der eine amtliche Thätigkeit ausübt, wird vereidigt und erhält damit
die Beamteneigenschaft. Die Hilfslehrer bilden eine Ausnahme, und doch ist
das Unterrichten eine amtliche Thätigkeit. Bei Konferenzen und Prüfungen,
beim Ausstellen von Zeugnissen wird der Lehrer ausdrücklich auf seinen Amtseid
verwiesen. Daß die Hilfslehrer bei allen diesen Handlungen amtlich beteiligt
sind, ohne eidlich verpflichtet zu sein, empfindet die Behörde selbst als Übel¬
stand. Warum verweigert die Regierung trotzdem die Zulassung zum Eide?
Sucht mau nach Gründen für das Verhalten der Regierung den Lehrern
gegenüber, so führt einen auf die richtige Spur stets die Frage: Wo ist der
Finanzminister? Die Vereidigung bedeutet die Gleichstellung der Kandidaten
mit den andern höhern Beamtenklassen, sie giebt ihren Forderungen eine feste
Grundlage und verursacht in ihren praktischen Folgen einige Kosten. Wohl¬
wollen hat natürlich auch der Finanzminister sür den Lehrer, aber Geld — das
ist etwas andres. Die Assessoren haben den Rang der Räte fünfter Klasse,
die Hilfslehrer haben überhaupt keinen Rang. Die Juristen haben schon vor
der endgiltigen Anstellung einen Titel, der sie gesellschaftlich als vollwertig
erscheinen läßt. Den jüngern Lehrern fehlt eine Legitimation, die sie mit den
andern im Vorbereitungsdienst befindlichen höhern Beamten auf eine Stufe
stellte. Der Minister verarge es denen, deren Aufgabe die Pflege des Idea¬
lismus ist, daß sie nach Rang und Titel Verlangen tragen. Man kann aber
recht ideal gesinnt sein und braucht doch die Bedeutuug dieser Dinge nicht zu
verkennen. Der Wert des Mannes wird freilich durch sie nicht erhöht, aber sie
sind auch für den Lehrer erstrebenswert, weil ihm das Urteil der Welt, in der
er einmal lebt, nicht gleichgiltig sein kann, und sein gesellschaftliches Ansehen
von diesen Dingen wesentlich mit abhängt, denn das Publikum betrachtet einen
Stand als minderwertig, dem die Regierung versagt, was sie allen andern
gewährt. Man könnte einwenden, die Lehrer führten ja vor der Anstellung
einen offiziellen Titel, den Titel „Kandidat." Wir finden es aber begreiflich,
daß sie eines Titels nicht froh sind, der sie als unfertige, amt- und bcrnflose
Leute in den Augen des Publikums nur herabsetzt, wir verstehen ihre Forde¬
rung: Lieber gar keinen Titel, als bis ins Schwabenalter hinein die Bezeich¬
nung Kandidat, die höchstens Mitleid für ihren Träger wachzurufen geeignet
ist. Sollte es wirklich keine passendere Bezeichnung geben, warum befreit man
sie nicht wenigstens von einem Titel, den sie selber als Makel empfinden? Es
kostet ja nichts. Jeder Referendar, der Offizieraspirant ist und den Vermögens¬
nachweis liefert, wird ohne weiteres zur Offizierswahl gestellt. Nicht so der
Schulamtskandidat. Und warum das? Hören wir den Herrn Kriegsminister!
„Es kann nicht verschwiegen werden, schreibt er, daß wiederholentlich Fälle
vorgekommen sind, in denen die Probezeit der Kandidaten nicht zu ihren Gunsten
ausfiel, und dann häufig der Umstand eintrat, daß sie ihre Laufbahn aufgeben
mußten und in Lebensstellungen gerieten, die mit dem Offizierstande nicht ver¬
einbar waren." Mit andern Worten: Fälle, wo Referendare, weil sie die
zweite Prüfung nicht bestanden hätten, in Lebensstellungen gedrängt worden
wären, die mit dem Osfizierstcmde nicht vereinbar waren, sind noch nie vor¬
gekommen und werden nie vorkommen.
Wenn sich diese Übelstände nur aus ein oder zwei Jahre nach Erlangung
der Austellungsfühigkeit erstreckten, blieben sie auch so noch eine durch nichts
gerechtfertigte Zurücksetzung des Lehrerstandes, aber sie wären doch wenigstens
in der Praxis erträglich. Geradezu unerträglich werden sie aber durch die
stetig zunehmende Ausdehnung der Wartezeit bis zur Anstellung. Die Warte¬
zeit an staatlichen Anstalten betrug bereits am 1. April 1889 im Durchschnitt
3 Jahre 6 Monate, sie stieg bis zum 1. April 1893 auf 6 Jahre 10 Monate
und 1894 auf 7 Jahre 6 Monate. Am 1. Mai 1894 gab es in Preußen 1565
anstellungsfähige Kandidaten; dieser Zahl stehen jährlich ungefähr 200 Neu¬
aufteilungen gegenüber, d. h. für die, die Ostern 1894 anstellungsfähig geworden
sind, beträgt die Wartezeit etwa acht Jahre. Soviel der eine Teil hinter der
Durchschnittszahl zurückbleibt, um soviel steigt der andre Teil darüber hinaus;
Michaeli 1895 gab es 277 Hilfslehrer mit mehr als siebenjähriger Dienstzeit
(110 zwischen 7 und 8. 69 zwischen 8 und 9, 40 zwischen 9 und 10, 58
über 10 Jahre). Da nach der Statistik die wissenschaftliche und praktische Vor¬
bereitung für den Beruf annähernd 8 Jahre in Anspruch nimmt, so verstreichen
vom Beginn der Studienzeit bis zur festen Anstellung im Durchschnitt min¬
destens 15 Jahre. Schon 1893 wurden 61 Prozent der Lehrer in einem
Lebensalter von 30 bis 35 Jahren angestellt, und 24 Prozent aller nicht fest
angestellten Lehrer hatten das fünfunddreißigste Lebensjahr bereits überschritten.
Nach etwa achtjähriger Vorbereitungszeit für den Beruf wird ein großer Teil
der jüngern Lehrer eine Reihe von Jahren amtlich überhaupt nicht beschäftigt,
und zwar gerade in den Jahren, wo die Schaffenskraft und Schaffenslust am
meisten zur Bethätigung drängt; es hängt vom Zufall ab, ob sie in dieser Zeit
durch private Thätigkeit erwerben, was zum Leben nötig ist. Der Begriff
„standesgemäß" spielt da nur allzuoft eine recht untergeordnete Rolle. Weitere
Jahre unterrichten sie dann in amtlicher Eigenschaft gegen einen Lohn von
125, wenns hoch kommt 150 Mark im Momie.
Diese Zustände sind, für sich allein betrachtet, schon traurig genug; noch
schlimmer aber ist es, daß sich die Folgen der späten Anstellung für das ganze
fernere Leben bemerkbar macheu. Die höhern Lehrer beginnen unter den jetzigen
Verhältnissen mit einem Gehalt, wie ihn gleich niedrig kein Subalternbeamter
in demselben Lebensalter bezieht, das Mißverhältnis zwischen dem hohen
Lebensalter und dem niedrigen Gehalt bleibt dauernd bestehen, die Aussicht,
zum höchsten Gehalt zu gelangen, winkt erst dem Greise, und die Möglichkeit,
ein Dienstalter zu erreichen, das eine auskömmliche Pension verbürgt, ist über¬
haupt nicht vorhanden. Wie solche Zustände und die dadurch geschaffne Stim¬
mung auf das häusliche Leben und die Thätigkeit im Amte einwirken müssen,
mag sich jeder selbst ausmalen.
Erschwerend kommt noch der Umstand hinzu, daß sich der höhere Lehrerstand
durchgängig aus deu weniger bemittelten Kreisen rekrutirt. Die Regierung
kann natürlich die Bezahlung nicht nach den persönlichen Verhältnissen der
einzelnen bemessen. Aber woher kommt es, daß sich aus den hochgestellten und
wohlhabenden Ständen so verschwindend wenig dem Lehrerberufe zuwenden?
Die Fähigkeit und die Liebe zum Unterrichten ist doch nicht ein Privileg der
ärmern Klassen? Die Angehörigen jener Kreise glauben bei diesem Beruf um
eine Stufe herabzusteigen — das ist es! Einem Stande, dem die Erziehung
der besten Kräfte der Nation zufällt, haftet als solchem doch gewiß kein Makel
an, aber die Regierung hat ihm diesen Makel aufgedrückt, indem sie ihm eine
eigentliche Laufbahn verschloß und pekuniär und sozial eine untergeordnete
Stellung anwies.
Welche Stellung hat nun die Negierung gegenüber der oben geschilderten
Notlage der Hilfslehrer und Kandidaten bisher eingenommen? Bisher mußten
es die Hilfslehrer, die zu vorübergehender Vertretung bald hierhin, bald dorthin
geschickt wurden, als besondre Gunst betrachten, wenn ihnen für entstandne
Unkosten ausnahmsweise eine Entschädigung gewährt wurde. Zu unsrer Freude
ist diesem Übelstande ein Ende gemacht worden durch einen ministeriellen Erlaß
vom 6. Juni 1895, wonach den Hilfslehrern Tagegelder und Reisekosten in
gleicher Höhe wie den Beamten der fünften Rangklasse zugestanden werden.
Zur Vereidigungsfrage hat der Minister in einer Audienz, die er deu
Vertretern der Provinzialvereiue am 1. Juli gewährte, erklärt, sie sei bereits
entschieden, und die nötige Verfügung werde bald erlassen werden. Bis zur
Stunde ist nun zwar von einer solchen Verfügung nichts bekannt; das aber
können wir schon jetzt sagen: wenn eine solche Entscheidung mit ihren prak¬
tischen Folgen getroffen wird, so wäre eine wichtige Forderung der Hilfslehrer
erfüllt, wofür sie dem Minister von ganzen Herzen dankbar sein würden. Was
den Titel anlangt, so war der Vorschlag gemacht worden, die für eine Reihe von
Beamtengrnppen übliche Bezeichnung „Referendar" und „Assessor" auch auf den
Schuldienst zu übertragen. Die Antwort des Ministers lautete, auf einen so
thörichten Anspruch einzugehen halte er nicht für der Mühe wert, die Lehrer
hätten nichts zu referiren, und Assessoren wären sie auch nicht, denn sie stünden
meist beim Unterricht. Wir geben gern zu, daß sich die vorgeschlagnen Titel für
die Schule vielleicht ebenso wenig eignen, wie für andre Berufsarten, in denen
sie bereits eingeführt worden sind. Aber darum erscheint es doch noch nicht ge¬
rechtfertigt, wenn der Minister in einer so wegwerfend geringschätzigen Weise
über eine Bitte hinweggeht, die ihm in ehrerbietigem Tone vorgetragen worden
ist, und zu der wahrlich nicht die Titelsucht, sondern die bittern Erfahrungen
im gesellschaftlichen Verkehr die Veranlassung gegeben haben.
Im übrigen ist die Veweisführnng der Regierung folgende: Für die lange
Wartezeit treffe sie keine Verantwortung, die Schuld liege an der Über¬
produktion der frühern Jahre, soweit sie selbst in Betracht komme, seien die Ver¬
hältnisse befriedigend geordnet; von einer besonders schwierigen Lage der Schnl-
nmtskcindidnten könne nicht die Rede sein, denn andre Beamtengrnppen seien
noch ungünstiger gestellt, und man habe bestimmte Anzeichen für eine Besserung.
Richtig ist, daß der Andrang zum Lehrfach das Bedürfnis weit über¬
schritten hat, aber die Schuld an der langen Wartezeit trägt nicht bloß die
Überproduktion, sondern neben anderm besonders die Ausnutzung der Hilfs¬
kräfte. Zunächst aber fragt es sich, ob nicht die Regierung bei dem allzu
starken Andrang hätte warnend ihre Stimme erheben können. Die Zahl der
Kandidaten wäre dann Wohl kaum zu einer Höhe angeschwollen, die den jähr¬
lichen Bedarf fast um das achtfache übertrifft, aber das ist ein Punkt von
nebensächlicher Bedeutung, denn erstens ist es fraglich, ob eine amtliche Warnung
den Zudrang auf das Bedürfnis herabgedrückt hätte, und zweitens war die Re¬
gierung zu einer Warnung rechtlich wenigstens nicht verpflichtet. Nun hat sie aber
durch die Zirkularverfügung vom 3. Januar 1894 über die Heranziehung der
Lehrer zur höchsten Stundenzahl die Notlage der Hilfslehrer noch verschlimmert.
Sie behauptet zwar, die Lehrerschaft sei trotzdem gegen früher entlastet, aber
sehen wir, mit welchem Rechte! Der absolute Zuwachs an Schülern betrug
vom 1. April 1892 bis zum 1. April 1894 2972, die Zahl der jährlichen
Neuanstellungen ist nach den Worten des Ministers zurückgegangen, und
zwar von durchschnittlich 225 auf 193 im Jahre 1894. Nun ist es freilich
uicht wahrscheinlich, daß der Bedarf an Lehrkräften im Verhältnis zur steigenden
Schülerzahl zunimmt; daß sich aber beide Zahlen im umgekehrten Verhältnis
zu einander entwickeln, ist doch gewiß noch weniger wahrscheinlich. In der
That zeigen denn z. B. in Hessen-Nassau die Lehrplüne von 36 Anstalten seit
jener Verfügung durchgängig eine Erhöhung der Durchschuittsstundenzahl.
Die scharfen Bestimmungen über die höchste Stundenzahl sind übrigens
in letzter Zeit in einigen Punkten gemildert worden. Die Regierung hat auf
diesem Wege zweierlei erreicht; da auch jetzt gegen früher eine Mehrbelastung
bestehen bleibt, so spart sie eine Reihe von Lehrkräften, und da die Mehr-
belastung nicht in dem Umfange eingetreten ist, wie sie ursprünglich geplant
war, so hat sie sich die Lehrer noch zur Dankbarkeit verpflichtet.
Daß die Verhältnisse von der Negierung „befriedigend geordnet" seien,
dafür werden folgende Punkte angeführt. Den „remuneratorisch" beschäftigten
Hilfslehrern wird jetzt die Wocheustunde mit 90 Mark jährlich bezahlt. Darin
liegt gewiß ein Fortschritt, und die gute Absicht erkennen die Lehrer dankbar
an. Aber was nützen die besten Absichten, wenn sie nicht durchgängig aus¬
geführt werden? Die Provinzialschulkollegien kümmern sich zum Teil nicht
um die ministerielle Verfügung und regeln die Bezahlung nach den frühern
Bestimmungen. Beweise sind in unsern Händen. Der Gehalt der vollständig
beschäftigten Hilfslehrer betrug früher 1500 Mark, jetzt steigt er nach zweijähriger
Dienstzeit auf 1650, mich drei Jahren auf 1800 Mark. Aber der Gewinn,
der sich aus dieser Erhöhung ergab, ist zum Teil hinfällig geworden durch
die Heranziehung der Lehrer zur höchsten Stundenzahl, dadurch wird eine Reihe
von Kräften verfügbar, und diese müssen erst untergebracht sein, bevor an die
Neuaufteilung von Hilfslehrern gedacht werden kann. Die, die der Anstellung
am nächsten waren, erhalten zwar den.höchsten Gehalt der Hilfslehrer, aber
zu einer Zeit, wo sie ohne jenen Erlaß bereits in den Gehalt und Rang der
Oberlehrer eingerückt wären. Dasselbe gilt für ihre Hintermänner. Zu deu
Verbesserunge» rechnet endlich die Regierung noch die Verfügung, daß die
Hilfslehrerjahre, die die Zahl vier überschreiten, als Dienstjahre in Anrech¬
nung kommen können- Wir verkennen auch hier die gute Absicht nicht, doch
der Potentialis der Verfügung wird bei der Anwendung für einzelne Pro¬
vinzen geradezu zum Irrealis, während den Hilfslehrern doch bloß mit dem
Nealis gedient sein kann. Immerhin hat der Erlaß eine gute Seite, er ent¬
hält die Anerkennung des bestehenden Elends, insofern er mit der Thatsache,
daß Lehrer über vier Jahre eine Hilfslehrerstelle bekleiden, als mit natur¬
gemäßen und selbstverständlichen Verhältnissen rechnet und gesetzliche Bestim¬
mungen dafür schafft. In der Justiz beträgt die Zahl der Hilfsrichter noch
nicht 4 Prozent, und die Richter führen, wie der Ressortminister zugiebt, mit
Recht Klage über dieses Mißverhältnis, die Nnterrichtsbehörde beschäftigt an
Hilfslehrern mit voller Stundenzahl nicht weniger als 14 Prozent! Bei der
Justizverwaltung hat man im Etat für 1895/96 49 (für 1896/97 78) neue
Nichterstellen geschaffen, die Unterrichtsverwaltung hat 7 Hilfslehrerstelleu
in Oberlehrerstellen umgewandelt, dafür aber 7 andre Oberlehrerstelleu ein¬
gezogen! Die Abnormität der 14 Prozent erklärt sich aus dem Grundsatz,
daß an größern Anstalten je zwei, an kleinern je ein Hilfslehrer durchschnittlich
zu beschäftigen ist. Der Minister hat in der oben erwähnten Audienz erklärt,
er werde es mit allem Nachdruck durchsetzen, daß an keiner staatlichen und
nichtstaatlicheu höhern Schule mehr als eine Hilfslehrerstelle geduldet werde.
Aber selbst bei dieser Entscheidung stünden die Verhältnisse mit dem sonst auf
allen Gebieten der Staatsverwaltung beobachteten Verfahren nicht im Einklang.
Alle Parteien des Abgeordnetenhauses haben die Ausnutzung der Hilfslehrer
mit seltner Einmütigkeit verurteilt, der Finanzkommissar aber meint, die Ver¬
hältnisse seien „befriedigend geordnet," und das sei im Gründe auch die Meinung
des Hauses, denn es habe durch seine Zustimmung zu den Alterszulagen für
die Hilfslehrer eine Dienstzeit von vier und mehr Jahren für billig erachtet.
Wir meinen, es sei doch etwas andres, sich mit einem kleinen Zugeständnis
begnügen, weil für den Augenblick nicht mehr zu erreichen ist, und etwas
andres, die so geschaffnen Zustände für alle Zeiten als mustergiltig anerkennen.
Der höhere Lehrerstand wünscht, daß die Hilfslehrerstellen, die seit einer Reihe
von Jahren bestehen, sich also als dauernde, durch das Unterrichtsbedürfnis
begründete Stellen erwiesen haben, in Oberlehrerstellen umgewandelt werden; der
Finanzkommisfar erwidert, dazu könne die Finanzverwaltung ihre Zustimmung
nicht geben, das führe zu ordnungswidrigen Zuständen, und um dies zu beweisen,
beseitigt er aus jener Forderung den Begriff „dauernd bestehend" und giebt ihr
die Fassung, man solle bei der Aufstellung des Etats auf vollbeschüftigte Hilfs¬
lehrer gar nicht mehr Bedacht nehmen. Daß jeder vollbeschäftigte Hilfslehrer
gleich Oberlehrer werden soll, hat niemand verlangt; bekämpft wird von fach¬
männischer Seite nur der Mißbrauch in der Verwendung von Hilfslehrern, und
ein Mißbrauch ist es, wenn zur Befriedigung erfahrungsmäßig dauernder Unter¬
richtsbedürfnisse Hilfslehrer verwendet werden. Die Klagen der Hilfslehrer
haben keine volle Berechtigung mehr, sagen die Vertreter der Negierung, denn den
Gerichts- und Negierungsassessoren gegenüber seien sie bei weitem günstiger ge¬
stellt. Aber sehen wir ganz ub von den privaten Verhältnissen, so stehen den
14 Prozent (1893 bis 1894, jetzt 20 Prozent) der Hilfslehrer mit mehr als
siebenjähriger Dienstzeit nur 3^ Prozent Assessoren mit gleich langer Dienstzeit
gegenüber. Die Juristen und Verwaltungsbeamten werden im Gegensatz zu den
Lehrern ideell durch Rang und Titel und durch die Möglichkeit einer ganz andern
Laufbahn entschädigt, materiell durch den höhern Gehalt und die Anrechnung
der vor der Anstellung liegenden Dienstjahre für Gehalt und Pension. Die
Regierungsvertreter fassen diese Thatsachen in den Satz zusammen: Die
Assessoren sind bei weitem ungünstiger gestellt als die Hilfslehrer!
Um zu beweisen, daß das Bild der Hilfslehrerverhältnisse immer Heller
werde, stellt der Negieruugstommissar folgende Betrachtungen an: Von 1565
Kandidaten sind 705 mit einer „Remuneration" von 1500 bis 1800 Mark
beschäftigt, von den übrigen erhalten 205 an öffentlichen Schulen eine „Re¬
muneration" unter 1500 Mark, 193 sind an nicht öffentlichen Schulen be¬
schäftigt, mit welchem Gehalt, erfahren wir nicht; etwa 400 bis 500 unter¬
richten teils unentgeltlich, teils sind sie an wissenschaftlichen Instituten, im
Ausland, als Hauslehrer oder sonstwie thätig, oder sie sind ganz ohne Be¬
schäftigung. Aus dieser Betrachtung zieht der Kommissar den Schluß: Die
große Mehrzahl hat sich unterzubringen gewußt. Nun, daß sich die Kandidaten
in irgend einer Weise unterzubringen gewußt haben, darüber war wohl nie¬
mand im Zweifel; was wäre auch sonst aus ihnen geworden? Das Unglück
besteht ja eben darin, daß sie der Not gehorchend sich unterbringen müssen,
unterbringen um jeden Preis. Das Publikum überträgt natürlich den Grad
von Achtung, den es diesen Kandidaten entgegenbringt, auch auf den Lehrer
in amtlicher Stellung.
Wenn der Minister die Größe des Notstands darnach bemißt, ob mehr
oder weniger Hilfslehrer mit sieben- bis neunjähriger Dienstzeit persönlich ihn
um Beschäftigung bitten, so ist dem entgegenzuhalten, daß nach der Einführung
der Anciennität jeder die Fruchtlosigkeit solcher Bemühungen von selber ein¬
sieht. Nach der Angabe des Ministers ist die Zahl der Hilfslehrer während
des Jahres 1893/94 von 1492 auf 1565 gestiegen, die Zahl der Neuanstel¬
lungen dagegen zurückgegangen. Daraus sollte man doch schließen, die An¬
stellungsaussichten der Hilfslehrer hätten sich noch mehr verschlechtert. Der
Minister aber bemerkt, die Regierung habe mit Erfolg an der Besserung der
Verhältnisse gearbeitet. Er führt ferner an, die Wartezeit an nichtstaatlichen
Anstalten betrage drei Jahre fünf Monate, und damit lasse sich allenfalls noch
auskommen. Dagegen ist zu bemerken: 1. Die Wartezeit an staatlichen An¬
stalten ist, wie der Minister selbst zugiebt, beträchtlich großer, sie steht zu jener
im Verhältnis vou 3 : 2. 2. Drei Jahre fünf Monate war die Durchschnitts-
dauer der Wartezeit in den Jahren 1888 bis 1893, die weit günstigern Zu¬
stände der frühern Jahre haben also auch auf jene Zahl mit eingewirkt; für
1892/93 betrug die Durchschuittsdauer bereits vier Jahre drei Monate. 3. Seit¬
dem haben sich die Verhältnisse noch mehr verschlimmert, für 1894 beträgt
die Wartezeit im Durchschnitt schon fttnfuudeiuhalb Jahr. Wenn also der
Minister von der allergünstigsten Ziffer (drei Jahre fünf Monate) nur be¬
haupten kann, damit lasse sich allenfalls noch auskommen, und wenn sich aus
seinen eignen Zahlen klar ersehen läßt, daß schon jetzt, wo die Jahrgänge der
Überproduktion noch auf Anstellung warten, an staatlichen Anstalten die durch¬
schnittliche Wartezeit um nicht weniger als vier Jahre über jene Zahl hinaus¬
reicht, so liegt in den Worten des Ministers doch das unwillkürliche Zuge¬
ständnis, daß für die überwiegende Mehrheit der Hilfslehrer ein außerordent¬
licher Notstand besteht. Angesichts dieser Lage wendet sich die Regierung an
den Idealismus der Lehrer, aber „es geht nicht an, eine einzelne Beamtenklasse
auf die Idealität ihres Berufs zu verweisen und dem gegenüber die andern
Beziehungen ihres Gedeihens als unwichtig zurücktreten zu lassen," so heißt es
mit Recht in der Eingabe der Provinzialvereinc an den Kultusminister.
Die Negierung behauptet ferner, die Verhältnisse würden sich von selber
bessern, denn die jährliche Zahl der Anstelliingsfähigen sei zurückgegangen; aber
der Rückgang wäre doch nur dann beweisend, wenn jene Zahl ganz bedeutend
unter den Bedarf gesunken wäre, und selbst in diesem Falle könnten normale
Verhältnisse erst nach Jahren eintreten, da ja von 1894 an selbst ohne das
Hinzutreten neuer Kandidaten der Bedarf auf annähernd acht Jahre gedeckt
ist. In Wirklichkeit hat nur die Überproduktion nachgelassen, aber schon jetzt
macht sich, wie der Minister bemerkt, wieder ein stärkerer Andrang zum
Lehrerberufe bemerkbar. Der akute Zustand wird also chronisch.
Fassen wir noch einmal die wichtigsten von den Forderungen zusammen,
die wir für berechtigt halten, und deren Erfüllung das bestehende Elend größten¬
teils beseitigen würde, so sind es folgende: 1. Die etatsmäßigen Hilfslehrcr-
stellen, die sich als dauernde, durch das Unterrichtsbcdürfnis begründete Stellen
erwiesen haben, sind in Oberlehrerstelleu umzuwandeln. 2. Die von der
Dezemberkonferenz festgesetzte höchste Schülerzahl und höchste Stundenzahl darf
nicht überschritten werden. 3. Der wissenschaftliche Unterricht an höhern Lehr¬
anstalten ist nur von akademisch gebildeten Lehrern zu erteilen. 4. Die Kan¬
didaten werden bei Beginn des Seminarjahrs vereidigt. 5. Die vollbeschäf¬
tigten wissenschaftlichen Hilfslehrer beziehen den Gehalt der untersten Gehalts¬
stufe (2100 Mark). 6. Die Jahre, wo ein Hilfslehrer im öffentlichen Schul¬
dienst thätig war oder dem Provinzialschulkvllegium zur Verfügung stand, sind
für das Dicnstcilter und den Ruhegehalt in Anrechnung zu bringen. 7. Die
Anciennität der Hilfslehrer wird für die ganze Monarchie geregelt.
Das Haupthemmnis für die Gewährung dieser Forderungen liegt beim
Finanzminister. In seiner Etatrede sagte er: Wenn die Neigung, lokale und
Klassenvvrteile auf Kosten der Gesamtheit zu erreichen, mit Erfolg bekämpft
wird, dann zweifle ich nicht, daß wir demnächst wieder das Gleichgewicht
zwischen Einnahmen und Ausgaben herstellen werden. Wir fragen: Verlangt
es das Wohl der Gesamtheit, daß man eine einzelne Klasse den andern gegen¬
über aufs schwerste benachteiligt? Und doch handelt es sich hier im Ver¬
hältnis zu andern Ausgaben des Staats nur um eine geringfügige Summe;
4 bis 500000 Mark würden ausreichen, alle Wünsche zu befriedige». „Für
die Schule, wo es sich um die edelsten Güter der Nation handelt, darf die
finanzielle Seite allein überhaupt nicht ausschlaggebend sein," so erklärte be¬
reits ein Mitglied der Dezemberkonferenz, und ähnlich äußerte sich der konser¬
vative Abgeordnete Graf Moltke: „Das Sparsystem sollte am allerwenigsten
auf dem Gebiet der Unterrichtsverwaltung Geltung haben." Kämen nur die
Hilfslehrer in Betracht, es wäre, wenn nicht verzeihlich, doch vielleicht begreif¬
lich, daß die Regierung bei ungünstiger Finanzlage über deren Forderungen
zur Tagesordnung überginge; aber die Finanzlage ist günstiger, als man er¬
wartet hatte, und es handelt sich hier um schwere Gefahren für die Schule
und den Staat, Gefahren, die man nicht darum leugnen sollte, weil ihre Wir¬
kung nicht sofort jedem vor die Angen tritt. Wem die schaffensfreudigsten
Jahre des Lebens in unfreiwilliger Unthätigkeit, in Enttäuschungen und un-
Verschuldeter Not vergehen, ohne daß aus der Zukunft ein Lichtstrahl ver¬
söhnend in das Dunkel der Gegenwart fällt, in dem erstirbt allmählich die
frische, fröhliche Laune, die dem Unterricht die besten Erfolge schafft, und die
Lust und Liebe zum Beruf weicht einer mit den Jahren steigende» Erbitterung.
Eine solche Stimmung in den Kreisen der jünger» Lehrer kann aber auf die
Schule nicht ohne Einfluß bleiben, selbst bei den besten Vorsätzen, trotz alles
Pflichtgefühls strömt unwillkürlich etwas von dieser Stimmung über in die
nur zu empfänglichen Herzen der Jugend. Es genügt nicht, daß der Lehrer
seine Pflicht erfüllt; er muß sie mit Freuden erfüllen. Es tuum dem Staate
nicht gleichgiltig sein, daß er sich für die kommenden Jahrzehnte eine ver¬
bitterte Generation von Lehrern heranzieht, und das zu einer Zeit, wo deren
Berufsfreudigkeit nötiger ist als je. Fürst Bismarck hat in seiner Ansprache
an die Lehrer hervorgehoben, daß man die Wichtigkeit der gebildeten Klassen
für das Gedeihen der Nation und den gewaltigen Einfluß der Schule auf die
gebildeten Klassen heutzutage sehr unterschätze. Der Staat sollte sich diese
Worte zu Herzen nehmen, und in einer Zeit, wo zerstörende Mächte an den
Wurzeln seines Daseins nagen, sich nicht die dauernd entfremden, die die
stärksten Wurzeln seiner Kraft, die gebildeten Klassen, vor dem Angriff jener
Feinde schützen und bewahren sollen. Es scheint denn auch, als habe sich an
maßgebender Stelle die Überzeugung Bahn gebrochen, daß in der That gefahr¬
drohende Übelstünde vorhanden sind; der Minister hat in der Audienz am 1. Juli
die Lage der Hilfslehrer als den wundesten Punkt in den Verhältnissen der
höhern Lehrerschaft anerkannt und versprochen, alles zu thun, was in seinen
Kräften stehe, um deren Lage zu bessern. Wir haben das Vertrauen zu ihm,
daß er sein Versprechen in vollem Umfange halten, d. h. daß er für seine Unter¬
gebnen ebenso nachdrücklich und dann gewiß auch mit gleichem Erfolge eintreten
wird wie der Justizminister, und hoffen auf die Erfüllung der berechtigten
Forderungen nicht sowohl um der Hilfslehrer willen, sondern vor allem im
Interesse der Schule, im Interesse des Vaterlands.
tlo secat hat den ersten Band einer Geschichte des Unter¬
gangs der antiken Welt herausgegeben (Berlin, Siemen-
roth und Worms. 1895). Das ist kein gewöhnliches Buch. Aus¬
gerüstet mit gründlicher Quellenkenntnis, löst der Verfasser eine
der größten und schwierigsten Fragen der Weltgeschichte als
selbständiger Denker fast in befriedigender Weise. Dabei gehört er zu den
glücklichen Darstellern, ti'e den Mumien trockner Qucllenberichte Leben ein¬
zuhauchen verstehen und uns die Schatte» der Vergangenheit in frischer
Körperlichkeit vorfuhren. Wie köstlich und unzweifelhaft naturgetreu schildert
er das urwüchsige Barbarenlebeu unsrer germanischen Vorfahren! Die Ein¬
teilung des Werkes, dessen Plan wir ja erst nach seiner Vollendung werden
übersehen können, überrascht einigermaßen. Im ersten Buche werdeu nämlich
die Anfänge Konstantins des Großen behandelt, und das zweite stellt dann
den Verfall der antiken Welt in sechs Kapiteln dar (die Germanen, das
römische Heer, die Ausrottung der Besten, Sklaven und Klienten, die Ent¬
völkerung des Reichs, die Barbaren im Reich), wobei natürlich vielfach anf
die Zeiten der Republik zurückgegangen werden muß. Konstantin, den man
schlecht zu macheu pflegt, seitdem das Christentum bei den Gelehrten in Mi߬
kredit gekommen ist, wird ungemein hochgestellt. Wir führen aus seiner
Charakteristik zu Nutz und Frommen der Gegenwart nur zwei Stellen an.
Nichts, heißt es S. 49, habe ihm ferner gelegen, als die mißtrauische Furcht
des Thrannen. „Es giebt dafür keinen bessern Beweis, als daß er alle An¬
geberei, namentlich die anordne, mit deu härtesten Strafen belegte und sogar
die gesetzliche Anklage auf Majestätsverbrechen, die sich nicht wohl verbieten
ließ, durch sehr wirksame Abschreckungsmittel zu hindern suchte." Und S. 132:
„Gleich nach seinem Einzuge jm Rvmj hatte sich der Kaiser von Angebern
umdrängt gesehen; selbst der Senat forderte gegen einige Kreaturen des
Maxentius, unter deren Willkür er besonders schwer gelitten hatte, Recht und
Gericht. Aber Konstantin war entschlossen, die Diener, die den Befehlen ihres
Herrn, wenn anch mit verbrecherischen Übereifer, gehorcht hatten, nicht dafür
büßen zu lasse»." Näher wolle» mir auf Seecks Charakteristik der Auguste
und Ccisaren jener merkwürdigen Epoche nicht eingehen, weil wir es nur auf
deu Hauptgegenstand des Buches abgesehen haben.
Wir haben mehrere Rezensionen gelesen, in denen Seecks Ansicht von den
Ursachen des Verfalls des römischen Reichs als eine Wunderlichkeit abgethan
wird. Die Rezensenten scheinen bloß die Seite 263, aber nicht die voran¬
gehende» und nachfolgenden Erklärungen und Begründungen gelesen zu haben.
„In vielen^ Gegenden Deutschlands, heißt es da, Pflegt der Bauer, wen»
er zu arm ist, sich das teure Saatkorn zu kaufen, in folgender Weise die Aus¬
saat des nächsten Jahres vorzubereiten. Er läßt kurz vor der Ernte seine
Kinder am Felde entlang gehen und die Ähren abpflücken, die sich durch Höhe,
Fülle und Gewicht vor den andern auszeichnen. Diese werden dann gesondert
ausgedrvschen und ihr Korn im kommenden Frühling für die Saat benutzt.
Wenn auf diese Art eine fortschreitende Veredlung des Getreides erzielt oder
doch seiner Entartung vorgebeugt wird, so würde natürlich das Gegenteil ein¬
treten, wenn man die letzten Ähren immer vernichtete und nur ans den schlech¬
testen Nachwuchs zöge." Hierauf wird die bekannte Geschichte erzählt, wie
Periander von Korinth zum Milesier Thrasybul schickte, um dessen Rat zu
erbitten, wie er am besten seine Herrschaft befestigen könne, Thrasybul aber
den Boten auf ein Feld führte und dort alle Ähren abriß, die die übrigen
überragten. Diese Tyrnnnenweisheit sei zunächst in der griechischen Welt ganz
allgemein geübt worden, nicht bloß von den Tyrannen, sondern auch von den
republikanischen Parteien. Da die Führer der unterliegenden Partei regel¬
mäßig entweder umgebracht wurden oder in die Verbannung wandern mußten,
wo sie und, soweit sie nicht kinderlos starben, ihre Familien verkümmerten, so
konnte es nicht fehlen, daß nach und nach alles, was durch Geist und Mut
hervorragte, zu Grunde ging, und nur das Mittelmäßige und Gemeine sich
erhielt. „Die Römer, heißt es dann weiter, haben nie den geistigen Schwung,
aber auch nicht das hitzige Blut der Griechen gehabt; die Parteikümpfe ihrer
ältern Zeit sind daher fast immer maßvoll, meist sogar auf dem Boden des
Gesetzes ausgefochten worden. Manche ihrer besten Männer sind ihnen zwar
zum Opfer gefallen; doch waren diese Verluste uicht so massenhaft, daß sie
den Gesamtcharakter des Volks beeinflußten. Im dritten und zweiten Jahr¬
hundert v, Chr. zeigt sich ihre frische Kraft dem entnervten Osten weit über¬
legen, und mit den kriegerischen Errungenschaften gehen die der Kultur Hand
in Hand." Rom nimmt das griechische Geistesleben in sich auf. Aber gleich¬
zeitig schwindet die Originalität, die z. B. die Werke des alten Cato ausge¬
zeichnet hatte, und macht der strengen Nachahmung des Griechentums Platz.
„Es ist gewiß kein Zufall, daß dieser Umschwung in der römischen Litteratur
zusammenfüllt mit dem Beginn der politischen Massenmorde. Das erste Bei¬
spiel ist die Ausrottung der begeisterten Jünglinge, die sich um Tiberius
Gracchus und seinen größern Bruder geschart hatten; und noch grimmiger
wird das Wüten, seit nicht mehr die Parteien um ideale Ziele, sondern ein¬
zelne Ehrgeizige um die Herrschaft streiten. Marius und Cinna morden die
Aristokraten und daneben ihre persönlichen Feinde zu Hunderten und Tau¬
senden hin; Sulla räumt nicht minder gründlich mit den Demokraten auf, und
was von edelm Blut noch übrig ist, das füllt den Proskriptionen der Trinm-
virn zum Opfer. Die Römer hatten weniger geistige Kraft zu verlieren als
die Griechen; die Verödung trat daher bei ihnen noch viel schneller ein." So
blieb nur die feige Masse derer übrig, die sich in den Parteikämpfen nicht her¬
vorgewagt hatten. Vergebens bemühte sich Augustus, bemühte sich auch noch
Tiberius, dem aus solchen Feiglingen bestehenden Senat zu einem Rückgrat,
zur Selbständigkeit zu verhelfen, eine Opposition auf die Beine zu bringen.
„Was Wunder, daß den unglücklichen Tiberius der Ekel vor diesem Sklaven-
gezücht überkam und er das Pack schließlich so behandelte, wie es les^ ver¬
diente!" Was im römischen Reiche noch an kräftigen Naturvölkern vorhanden
war, dessen sittliche Kraft wurde durch die Unterjochungskriege und die Ein¬
fügung in den Staatsmechanismus gebrochen. Die letzten selbständigen Cha-
raktere endeten als Räuber. Talente wanderten nach Rom, um dort Karriere
zu machen, was sie aber, wie nun die Dinge lagen, bloß noch durch den Ver¬
zicht auf Charakter konnten. Das sittliche Ideal der noch übrigen edeln Ge¬
müter wurde die Askese, in der heidnische Theosophen, jüdische Essner und
später dann die Christen wetteiferten, sodaß also wiederum gerade die stärksten
Geister ohne Nachkommenschaft blieben, während sich das Gesindel fortpflanzte.
Von diesem Gesindel machten Sklaven und Freigelassene einen immer größern
Bestandteil aus, und auch die Sklavenschaft unterlag leider dem unglückliche»
Gesetz der Auslese des Schlechter«; denn gerade den tüchtigsten Sklaven, den
Ackerbauknechten, war die ordentliche Ehe meistens versagt — nur der Villicus
mußte verheiratet sein—, während die zu allem Rechtschaffnen untauglichen
Luxussklaven Geld, Ehren und die Freiheit erlangten und natürlich auch in
die Ehe traten. Sogar das Amt des Villicus wurde zum Unglück für die
Landwirtschaft nicht selten einem Haarlrüusler, Tänzer oder ehemaligen Vuhl-
knaben übertragen. Übrigens bekennt sich secat <S. 294) zu der Ansicht, daß
das Los des Sklaven der antiken Welt durchschnittlich glücklicher gewesen sei
als das des modernen Arbeiters, winkte ihm doch die Freiheit, Vermögen und
zuweilen sogar ein hoher Rang. Aber freilich, nur der Schlaue und der Füg¬
same, der sich für empfangne Schläge bedankte, hatte glänzende Aussichten.
„Wenn einer Bevölkerung, die durch Ausrottung ihrer Besten ohnehin entnervt
ist, solche Elemente in ungezählten, immer sich erneuernden Mengen zuströmen,
so kann das Ergebnis nicht zweifelhaft sein. Die Eigenschaften, die das späteste
Altertum vor allen andern charakterisiren und endlich den Sturz des Römer-
reichs herbeiführten, waren Unselbständigkeit, Feigheit und Servilismus, mit
einem Worte Sklavensinn. Wie der Knecht vor seinem Herrn kriechen lernte,
um harten Strafen zu entgehen oder Gnade und Freilassung zu erbetteln, so
kroch der römische Senat vor dem Herrscher, so die Bürger der Provinzial-
stüdte vor ihren Prvtonsuln, so kroch endlich das ganze römische Reich vor
den starken Germanen." „Angeerbte Feigheit,") hat er schon um einer frühern
Stelle (S. 276) bemerkt, ist, wenn uns nicht alles täuscht, die beherrschende
Eigenschaft, aus der alle Erscheinungen, die für das sinkende Altertum charak¬
teristisch siud, hervorgehen." Eine dieser Eigenschaften war eine entsetzliche
Geistesträgheit. Vor etwa zwanzig Jahren hat ein Naturforscher — wenn wir
uns recht erinnern Dubois-Reymond — den Gedanken ausgesprochen, die
mangelhafte Technik sei an dem Zusammenbruch des Römerreichs schuld ge¬
wesen; hätte mau den Germanen mit Sprengstoffen entgegentreten können, so
wären sie niemals Sieger geblieben; wir Heutigen hätten von Barbaren nichts
zu fürchten. Darauf ist zu antworten, daß auch Barbaren die Anfertigung
von Sprengstoffen erlernen können.' Außerdem aber antwortet Senat, die ^Er¬
klärung sei in einem etwas andern Sinne richtig/ als sie ihr Urheber gemeint
habe; nicht gerade die Sprengstoffe hätten den Römern gefehlt, Wohl ober die
geistige Regsamkeit, die bei uns täglich neue Erfindungen hervortreibt. Von
Augustus bis Diokletian sei die Ausrüstung des Legionars immer dieselbe ge¬
blieben, leine Verbesserung der Taktik, kei» neues Kriegsmittel sei erfunden
worden. Auch im Gebiete der Industrie habe die ganze Kaiserzeit nicht die
kleinste Erfindung auszuweisen. Nicht einmal zur Anwendung schon gemachter
Erfindungen habe man'sich aufgerafft. „So war die Wassermühle schon dem
großen Mithridntes bekannt, und doch zermalmte man noch vier Jahrhunderte
später das Getreide durch Menschenhand oder ließ von Zugtieren die Steine
drehen." >' - ' - >
Überkultur, wenn man darunter einen übertriebnen Kulturfortschritt ver¬
steht, war es also sicher nicht, was das Römerreich zu Falle gebracht hat.
eher daS Gegenteil; uicht die unkultivirtesten, sondern die kultivirtesten Völker
sind, wie Senat richtig hervorhebt, heute die militärisch stärkste». Auch die
Redensart vom Altern der Völker bezeichnet er als sinnlos. Alle Völker der
Erde, gleichviel ob man sie von Adam oder von Authropoideu abstammen
läßt, sind gleich alt. Versteht man aber nnter einem alten Volke ein solches,
das schon lange Zeit zivilisirt ist, so haben wir die Juden, deren Kultur älter
ist als die griechische, und die dennoch heute noch höchst lebendig sind. Auf
die Juden, meint secat, werde man vielleicht zur Widerlegung seiner Theorie
verweisen, sei doch kein andres Volk so oft von Massenmörder beinahe bis zur
Vernichtung heimgesucht worden. Aber, sagt er, Verfolgungen und Abschlach-
tungen in Volkskriegen, die eine ganze Nation wahllos heimsuchen, haben ge¬
rade die entgegengesetzte Wirkung als Parteikämpfe, denen die Besten zum
Opfer fallen; bei jenen hat gerade der Tüchtigste Aussicht aufs Überleben;
sie raffen, ebenso wie Seuchen, die Schwächer» hin. ^Dciher ist auch unsre
heutige seuchenverhütende Hygieine eine antiselektionistische Macht.j Dasselbe
gelte von den ewigen Fehden der germanischen Stämme unter sich, ihren Kriegen
mit den Römern und den spätern Verheerungen/ die dos deutsche Volk bis nach
dem dreißigjährigen Kriege erlitten habe; alles das habe die Nasse verbessert.
Zu der beschriebnen Entartung kam nun im Römerreiche noch die Ent¬
völkerung. Den Gedanken, daß sie eine Wirkung des Luxus und der Sitten-
losigkeit gewesen sei/ weist secat als ganz ungereimt zurück. Die Zahl der
Reichen, denen ihre Mittel einen unvernünftigen Luxus gestattet hätten, seien
noch weit dünner gesät gewesen als heute; die Mehrzahl der Bevölkerung
habe wie zu allen Zeiten aus armen Teufeln bestanden, für die sich die Frn-
galitüt ganz von selbst verstehe, und namentlich die Bauern hätten im Altertum
nicht anders gelebt, als wie eben die Bauern zu leben pflegen. Aber daß der
Bauern immer weniger geworden seien, das sei das Unglück gewesen. Im
Widerspruch mit Friedländer hält secat des Plinius Klage über die verderb¬
liche Ausdehnung der Latifundien nicht für Übertreibung. Die Bauern wurden
zunächst durch die ewigen Kriege, namentlich durch die punischen, zu Grunde
gerichtet. (Die Wandlungen der römischen Heeresorganisation, namentlich die
Reformen des Marius, werden sehr eingehend behandelt. Früher wie später
trug auch das Kriegswesen zur Entartung bei, indem es gerade die tüchtigsten
Männer im zeugungskräftigsten Alter von der Ehe abhielt. Zwar lebten die
Legionare meistens mit Barbarenweiberu aus den ihren Standquartieren be¬
nachbarten Stämmen im Konkubinat, aber die daraus entsprossenen Bastarde
konnten einen regelmäßigen ehelichen Nachwuchs nicht ersetzen, denn wenn sogar
heute noch die Sterblichkeit der unehelichen Kinder weit höher ist als die der
ehelichen, wie hoch mußte sie damals sein, zumal da das Aussetzen unbequemer
Sprößlinge gesetzlich erlaubt und allgemein Sitte war! Immerhin haben eine
Zeit lang diese Bastarde eine sehr geschätzte Heeresergänznng gebildet.) Dazu
kam dann die billige Kvrneinfuhr aus den unterwvrfnen Provinzen und das
methodische Auslaufen der verarmten und verschuldeten Bauern durch Kapi¬
talisten. Für höchst verderblich hält secat eine Maßregel, die aus bäuerlichen
Vorurteil entsprang: den Senatoren und ihren Söhnen wurde der Seehandel
verboten, weil er für den höchsten Stand des Reiches unschicklich sei. „Dies
claudische Plebiscit vom Jahre 218 v. Chr. war das Todesurteil des kleinen
Grundbesitzes in Italien. Da das Leiden auf Zins, auch wenn er noch so
mäßig war, erst recht für schimpflich galt und eine große Industrie uicht existirte,
so blieb den Mitgliedern des Senats gar keine andre Möglichkeit, ihr Vermögen
nutzbringend anzulegen, als das Kaufen von Landgütern. Die Tribute der
ueuerworbnen Provinzen und die Erpressungen ihrer Statthalter führten immer
größere Summen nach Rom, und diese füllten vor allem den Säckel des herr¬
schenden Standes. Bald gab es keine Senatorenfamilie mehr, die nicht fürst¬
liche Reichtümer besessen hätte, und all dies.Kapital wollte in Grundbesitz
untergebracht sein." Wie es aber um die Fortpflanzung der Sklaven auf den
großen Gütern stand, ist schon gesagt worden. (Als man den Schaden zu
bemerken anfing, wurde es, wie Columella berichtet, Sitte, Sklavinnen, die
drei Kinder hatten, von der Arbeitspflicht zu entbinden und ihnen, wenn sie
noch mehr bekamen, die Freiheit zu schenken), und daß die freien Bauern von
dem Rechte der Kinderaussetzung desto fleißiger Gebrauch machten, je be¬
drängter ihre Lage wurde, versteht sich von selbst. Die wiederholt in Angriff
genommue innere Kolonisation aber hatte keinen nachhaltigen Erfolg, wohl
vorzugsweise aus dem Grunde, weil weder die unter dem städtischen Pöbel
verbummelten Nachkommen ehemaliger Bauern, noch die Veteranen besonders
geschickte und fleißige Landwirte abgegeben haben werden. Zu alledem kamen
noch verheerende Seuchen und die Neigung des gebildeten Römers, in der
Ehe nichts andres als eine lustige Pflicht gegen den Staat zu sehe».
Alls alledem erwuchs eine pessimistische Stimmung, die in einen förm¬
lichen Trieb der Selbstvernichtung ausartete, der sich in einer weithin herr¬
schenden Selbstmordmanie äußerte. secat erinnert an ähnliche Erscheinungen
bei Naturvölkern, die von der Vorsehung zum Verschwinden verurteilt worden
zu sein scheinen, z. B. die Bewohner der Antillen, die sich auf Verabredung
gemeindeweise teils durch Gift, teils durch den Strick töteten. Das Christentum
wirkte dieser Stimmung nicht entgegen; im Gegenteil, wie der christliche Preis
der Jungfrauschaft, so lag auch das Drängen der edelsten Christen zum Mär¬
tyrertode — ein weiteres Mittel der Auslese der Untüchtigsten — durchaus
in der herrschenden Richtung. In der Litteratur wirkte dieser Pessimismus
mit der Gesiminngslosigkeit zusammen, sie gänzlich unfruchtbar zu machen.
„Auch deswegen blieb die römische Litteratur so durchaus konservativ, weil
ihren Pflegern jede Erschütterung der bestehenden Zustände zum Verderbe»
gereichen mußte. Wer dächte da nicht an unsre »staatserhaltenden« !^ Denn
Schmarotzer waren sie alle, ob sie sich als arme Schlucker von der Gnade
ihrer Gönner, ob als Mitglieder des herrschenden Standes vom Raube der
Provinzen ernährten: der revolutionäre Geist, der das Gewordne vom Stand¬
punkte des Volkswohls und der gesunden Vernunft einer Kritik unterwirft,
hätte sich also in erster Linie gegen ihre Existenzberechtigung wenden müssen.
Jedes gesunde Volk freut sich an der Hoffnung auf eine glücklichere Zukunft;
seine Philosophen entwerfen Bilder einer idealen Staatsverfassung, seine Dichter
und Romanschreiber träume» sich in Länder und Zeiten hinein, in denen die
Gerechtigkeit zur vollen Herrschaft gelaugt ist und jeder gute Mensch Grund
hat, zufrieden zu sein. Solche Utopien, wie sie im Altertum keinen geringern
als Plato, in der Neuzeit ein ganzes Heer von Schriftsteller», von Thomas
Morus bis auf Bellcuny und Bebel herab, beschäftigt haben, sind der Lit¬
teratur der Kaiserzeit durchaus fremd. Wenn sie die Gegenwart tadelt, so
geschieht das nur im Vergleich zur ruhmreichen Vergangenheit; der frische,
hoffnungsfreudige Ausblick in die Zukunft fehlt ihr güuzlich. Daß es besser
werden könne im Reiche, scheint keinem in den Sinn zu kommen, noch
weniger findet sich jemand, der sich im Ernst oder Scherz darüber den Kopf
zerbräche, wie es besser werden könne. Die einen freuen sich ihres Lebens,
die andern beklagen in dumpfer Verzweiflung das Elend der Zeit oder lassen
an ihr eine» müßigen Spott aus. Seinem Volke ein ideales Ziel zu weisen,
worauf sich dessen Streben richten könnte, betrachtet kein Schriftsteller als
seine Aufgabe." (S. 316.)
Die eigentliche Ursache des Untergangs des römischen Reiches ist ohne
Zweifel der Wille Gottes gewesen, den Germanen die Entfaltung ihres Wesens
und ihrer Kraft möglich zu machen; neben dem römischen Reiche hätten sie
weder ein Kllltnrvvlk werden noch Macht erlangen können, und in diesem
Reiche konnten sie es nur dadurch, daß sie es auflösten. So meint es auch
secat: Raum zu schafft» für die Barbaren war der Zweck der geschichtliche»
Entwicklung der Kaiserzeit. We»n also nach den Ursachen des größten aller
weltgeschichtlichen Ereignisse gefragt wird, so kann es sich nur um die natür¬
lichen Mittel handeln, deren sich die Vorsehung zur Verwirklichung ihrer Absicht
bediente. Diese hat uun secat, wie aus scheint, richtig und vollständig an¬
gegeben. Nur hie und da Hütte vielleicht die Wirkungsweise der zersetzenden
Kräfte noch etwas! genauer angegeben werden können. So z. B. ist es zwar
richtig, daß Kultur an sich ein Volk nicht zu Grunde richtet, aber ebenso un¬
bestreitbar ist, daß das unter Umständen geschieht, und diese Umstände, die
secat ^ alle einzeln angegeben hat, hätten am Schluß noch einmal zusammen¬
gefaßt werden können. Der erste besteht darin, daß der Gedankenkreis, dessen
ein Volk, eine Gesellschaft fähig ist, durchlaufen ist, und daß keine Aufgaben
mehr vorliegen. Das war in Rom der Fall. Man hatte die Welt erobert,
man hatte die vollkommenste Rechtsordnung ausgediftelt, die nur den einen
Fehler hatte, daß sich niemand darin wohl fühlte, man hatte Ackerbau, Ge¬
werbe und Handels betrieben, man hatte alle Arten von Luxus, von geistigem
und Sinnengenuß kennen gelernt, man hatte gemalt, gemeißelt und gebaut,
mau hatte Verse gemacht und Theater gespielt, gesungen und getanzt, man
hatte bin Bau der Welt philosophisch durchforscht und gefunden, daß weiter
nichts dahinter stecke, und man hatte alle Religionen durchprobirt; mau war
also so weit, wie Faust in seinem ersten Monolog und wie unsre lin as sisolo-
Jünglinge. Es kann doch wohl eigentlich nicht Geistesträgheit genannt werden,
daß die alte Welt keine Fortschritte in der Technik gemacht hat. Männer wie
Augustin sind wahrhaftig nicht geistesträge gewesen, und doch ist anch aus
dem Kreise der Kirchenväter keiner aus die Technik verfallen, von deren Pflege
sich später die Klostermönche durch Frömmigkeit nicht haben abhalten lassen.
Es scheint vielmehr, daß.der Geist des Altertums durch seine ausschließlich
ästhetische, der Erforschung des Seelenlebens und der Ausbildung der Sprache
zugekehrte Richtung für, die, wissenschaftlich - empirische Erforschung der Natur
untauglich geworden sei; das ganze Altertum gleicht einem humanistischen Gym¬
nasium, dessen Lehrern und Schülern die Körperwelt, abgesehen von ihrer
ästhetischen Seite, verschlossen ist; erst die Barbaren haben den Sinn für die
Realien ins europäische Leben gebracht, wie es ja andre Barbaren, die Ägypter,
Babylonier und Phönizier gewesen waren, die der griechisch-römischen Welt
an Elementen der Astronomie, Mechanik und industriellen Chemie soviel ge¬
liefert hatten, als sie brauchte. Hätten sich die Römer in das Gebiet der
Realien hineingefunden, dann würden sie nicht allein neue Verteidigungsmittel
gegen die Barbaren, sondern überhaupt neue Lebensaufgaben, damit einen neuen
Lebensinhalt gewonnen haben und wieder lebensfähig geworden sein. Aber
das sollten sie eben nicht. >
Sodann muß die Kultur, wie es scheint, die Bvlkskraft zerstören, sobald
sie das ganze Volk durchdrungen hat, und für den formenden Geist kein zu
formendes Rohmaterial an Naturmenschen mehr übrig bleibt. Die Kinder der
Gebildeten können das nicht ersetzen, denn die hören schon im zweiten Lebens¬
jahre auf, Naturmenschen zu sein. Die ästhetische Verfeinerung verleidet die
natürlichen Genüsse, erweckt die unersättliche Begierde nach immer neuen Er¬
scheinungen und verleitet zur Unnatur. Die philosophische Grübelei verekelt
sowohl die einfachen natürlichen Genüsse wie die Arbeit; die einen dadurch,
daß sie sie in Illusionen auflöst, die andre, indem sie ihre Zwecklosigkeit auf¬
deckt. Religiöse und moralische Grillen lassen in allen Genüssen und zuletzt
auch i» aller Thätigkeit Sünden wittern. So wird das Leben verleidet, und
dann kommen noch die wirtschaftliche Not und Klugheit und verbieten das
Kinderzeugen. Wie soll da ein Volk gesund und am Leben bleiben?
Worin bestand denn die Überlegenheit der deutscheu Barbaren? Darin,
daß sie gedankenlos in den Tag hinein lebten, sich ihres Lebens freuten, so
viel Kiuder zeugten, wie sie konnten, und den herangewachsenen Söhnen sagten:
nun zieht hinaus in die Welt, raubt euch Vieh, Äcker, Schätze, Weiber, schlagt
jeden tot, der euch die Beute streitig macht, und werdet ihr selber totgeschlagen,
nun dann trinkt und turnt in Walhall weiter! Totgeschlagen wurden ihrer
genug, aber da immer neuer Nachschub folgte, so behaupteten sie zuguderletzt
das Feld. Wem verdankt denn das Judenvolk seiue Unverwüstlichkeit? Dem
Optimismus des heiligen Buches, an dem die Juden mit unerschütterlichem
Glauben hänge», und das da lehrt, alle Dinge seien von einem guten Gotte
gut geschaffen (den Teufel, den spätere Grübler eingeschmuggelt haben, über¬
lassen sie den Christen), das ihnen irdisches Wohlergehen verheißt, ihnen be¬
fiehlt, Jehovah Feste zu feiern mit Essen, Trinken und Fröhlichsein, und das
reichen Kindersegen als das größte Glück und die größte Ehre preist.
(Schopenhauer hat das Alte Testament grimmig gehaßt.) Eben jetzt sind
fromme Leute daran, die „bodenlose Unsittlichkeit" unsers Landvolks auf¬
zudecken und zu bejammern. Nun, diese bodenlos unsittlichen Weiber, Ehe¬
weiber nud Mädchen haben durchschnittlich vier bis sechs Kinder, mitunter
anch sechs bis acht. Wenn man unsre Landleute erst alle vollkommen ästhetisch,
gesittet, moralisch gemacht, ihnen Selbstbeherrschung und wirtschaftliche Klug¬
heit beigebracht haben wird, dann wird in ganz Deutschland teils der strenge
Zölibat, teils das Zweikindershstem herrschen; von den zwei Kindern wird oft
»och eins sterben, und unser Land, das seinen Bewohnern längst zu enge ge¬
worden ist, wird bald Raum haben für gelbe, braune und schwarze Barbaren.
Worin besteht denn die Vielbeklagte Überlegenheit der Polen über die Deutschen
in Ostelbien? Darin, daß sie noch gedankenloser, leichtsinniger und „unsitt¬
licher" sind als das rohe deutsche Landvolk, unter dem sie leben, und noch
mehr Kinder haben. Übervölkerung, sagt secat sehr gut, ist die Krankheit der
gesunden Nationen. Natürlich muß man beachten, daß auch die Gesuudheits-
trankheiten tötlich verlaufen, wenn für die überschüssigen Säfte nicht Raum
geschafft wird.
Im römischen Reiche trat der Umschwung in den Tagen Mark Aurels
ein. der auch germanische Ansiedler ins Reich ließ, nachdem die Lücken des
Heeres schon längst mit Barbaren ausgefüllt worden waren. secat zeigt, wie
sich von da ab das Heer wie das Reich immer mehr barbarisirte. Nun
nahm die Bevölkerung wieder zu, und das Getreide schlug auf. Die Sitten
wurden barbarisch; raffinirte Laster hörten auf, dafür nahmen Wildheit und
Grausamkeit überhand. Nicht das Christentum hat die Umwandlung vollbracht
— es wirkte ja, wie wir gesehen haben, der Hauptsache nach in derselben
Richtung wie die römische Kultur, und die zunehmende Wildheit stand zu
seinein Geiste im Widerspruch —, sondern das Barbarentum; die christliche
Kirche hat diesem, abgesehen von den religiösen Einwirkungen, die immer ans
einen engen Kreis beschränkt bleiben, nur den Dienst erwiesen, ihm das Wesent¬
liche der griechisch-römischen Kultur zu bewahren und zu vermitteln.
Zum Schluß noch eins. Bei den Nationen des Südens, schreibt secat
S. 289, ging unter, wer sich dem Willen der Gesamtheit nicht fügte; bei den
Germanen hatte der die meiste Aussicht auf Rettung, der anch auf eigne Faust
den Feind abzuwehren oder sich der Übermacht auf Schleichwegen zu entziehen
verstand. So entwickelte sich bei jenen die Unterordnung des Einzelnen unter
das Ganze, d. h. die staatenbildende Kraft; bei diesen gelangte die freie In¬
dividualität zu eiuer so energischen Ausbildung, daß sie jedes staatliche Band
zersprengte. Trotz ihrer großen Begabung hatten sie sich nicht zu einer
höhern Kultur erhoben, weil diese aus dem geordneten Zusammenwirken vieler
hervorgehen muß und ihre wilde Kraft sich keiner Ordnung fügen wollte.
Diese ungezügelte Behauptung seiner persönlichen Eigenart war zum beherr¬
schenden Zuge im Nationalcharakter der Deutschen geworden, wie er es in
gemilderter Weise noch heute ist, und in den Edelsten des Volks kam er zur
reinsten Ausprägung. Diese mußten also fallen, die jüngern Generationen
mußten etwas von jener überschäumenden Kraft ihrer Väter verlieren, damit
sie zahmer würden und sich dem Verbände eines geordneten Staatswesens ein¬
fügen lernten. Die Ausrottung der Besten, die jenen schwächern Völkern die
Vernichtung brachte, hat die starken Germanen erst befähigt, auf den Trüm¬
mern der antiken Welt neue, dauernde Gemeinschaften zu errichten.
Diese Reihe vollkommen wahrer Gedanken bedarf nur noch der Er¬
gänzung durch den Schlußgedanken, daß dieselbe Fähigkeit der Unter¬
ordnung, die die Staaten bildet, sie zuletzt auch zerstören muß, und daß die
Staaten des Altertums an nichts anderm gestorben sind, als an ihrer eignen
staatenbildenden Kraft; denn die vollendete Fähigkeit der Unterordnung ist ja
gar nichts andres als jene Unselbständigkeit und Feigheit, jene Bedienten-
und Sklavenart, die nach secat den Charakter des Nömervolks in der Kaiser-
zeit aufgemacht hat. Die Völker können demnach zwar ohne Staat nicht zu
höherer Kultur und gesichertem Dasein gelangen, aber sie bleiben nur so lange
lebensfähig, als sie noch nicht vollständig verstaatlicht sind, als es noch Volks¬
massen und Lebensgebiete giebt, die der Staatsgewalt uuzugüuglich bleiben.
Auch von dieser Seite gesehen, ist ein Rest urwüchsigen, rohen Volkstums
Lebensbedingung für Staat und Volk. Durchdringt der Staat jedes Geweb-
teilcheu des Volkskörpers, so ist er der Leviathan, der das Volk auffrißt, oder
um ein richtigeres Bild zu gebrauchen, der Kalksinter, der den Volkskörper
versteinert und in eine unorganische, leblose Masse verwandelt.
le wichtigste Folge des Kriegs war sür Luxemburg die Abtretung
des Betriebs der Wilhelm-Luxemburgbahn. Wie schon erwähnt,
hatte sich die luxemburgische Regierung schon durch die Note vom
4. Oktober 1870 und dann im Januar 1871 Ernsthauseu gegen¬
über verpflichtet, die Ostbahugesellschaft auf Auflösung des Ver¬
trags zu verklagen, da sie ihn durch Beförderung eines Zuges mit Lebens-
mitteln in die belagerte Festung Diedenhofen verletzt hatte. Die von der
Regierung mit der Führung des Rechtsstreits beauftragten Anwälte hatten
erklärt, die Ansprüche der Negierung nicht vertreten zu können, da sie sie für
aussichtslos hielten. In Berlin wurde diese Nachricht mit großem Gleich¬
mut aufgenommen. Während Servais noch vergeblich bemüht war, einen
Ersatz für die Ostbahngefellschaft zu finden, erhielt er am 15. Mai durch
Föhr aus Berlin die Nachricht, daß sich an diesem Tage die französische
Regierung Deutschland gegenüber verpflichtet habe, Deutschland in die Rechte
der Ostbahugesellschaft einzusetzen. Föhr und Servais waren in gleicher Weise
überrascht über diese Wendung der Dinge. Servais meint, daß nur die Un¬
kenntnis der Tragweite der Sache (die Bahnlinien waren doch 170 Kilometer
lang) die französischen Friedeusunterhändler habe bestimmen können, sich darauf
einzulassen, über Rechte dritter und über Rechte eines souveränen Staats, der
zur Sache gar nicht gehört worden war, zu verfügen, ganz abgesehen davon,
daß die Ostbahngesellschaft nach den bestehenden Verträgen gar nicht das Recht
hatte, ohne Zustimmung der luxemburgischen Regierung ihre Rechte weiter zu
übertrage». Man braucht in der That nur § 7 des Zusatzartikels 1 zum
Frankfurter Friedensverträge zu lesen, um die rechtlichen Schwierigkeiten zu
begreifen, die aber leicht umgangen werden konnten. Die Ostbahngesellschaft hatte
sich ja Frankreich gegenüber verpflichten müssen, auf ihre Rechte zum Betriebe
der Bahnen im neuen Reichslande zu Gunsten der französischen Regierung zu
verzichten. Deutschland aber war in der Lage, die Summe für die Ablösung
der französischen Rechte (260 Millionen Mark) so hoch zu bemessen, daß die
Ostbahngesellschaft auch für den Betrieb der Linien in Luxemburg ausgiebig
entschädigt werdeu konnte.
Auch dieser Vorgang ist sehr lehrreich. Man kann daraus ersehen, daß
ein kleiner neutraler Staat, dessen Bevölkerung sich während eines Krieges
zwischen Nachbarn nicht ganz und gar unparteiisch verhält, beim Friedens¬
schluß von dem unterliegenden verpflichteten Staate ebenso wenig Rücksicht
erfährt, als er vom Sieger und Gegner Schonung erwarten kann. Es tritt
ein Zeitpunkt ein, wo man unbequem wird. Servais mußte aber auch
noch die Erfahrung machen, daß auch der neutrale Nachbar nicht die Rolle
Catos zu übernehmen habe, dem die besiegte Sache besser gefällt. Servais
setzte auch nach dem Frankfurter Friedensschluß, dessen Wortlaut doch auf ein
völliges Einverständnis zwischen Deutschland und Frankreich hindeutete, die
Bemühungen fort, einen Deutschland genehmen Rechtsnachfolger für die fran¬
zösische Ostbahngesellschaft zu suchen. Ju Brüssel war man im Ministerium
kurz angebunden; die Irläüvvnäaiuzg und der ?i'L<ni'Kcmr verweigerten sogar die
Aufnahme von Besprechungen der Sache. Die Wilhelm-Luxemburggesellschaft
war entschlossen, sich jedem Vertrage zu widersetzen, der nicht sür die von der
Ostbahn gezahlte Miete von 3 Millionen Franks Ersatz böte. Die Lage schien
so schwierig, daß sogar der Belgier Philippart, der doch damals seine eignen
Verpflichtungen für die Prinz-Heinrichbahnen nicht erfüllen konnte, seine Hilfe
anbieten zu können glaubte. Im Juli 1871 fand sich Ernsthausen in Luxem¬
burg wieder ein, um sich mit der Regierung über die Lage zu verständigen,
die „durch die Abtretung der Rechte der Ostbahngesellschaft" geschaffen war.
Ernsthausen kam wiederholt auf die Übernahme der Post- und Telegraphen-
Verwaltung zurück, doch ohne diesmal von einer Entschädigung zu sprechen.
Die nur mündlich gepflognen Verhandlungen führten zu keinem Abschluß.
Luxemburg brachte darauf die Rheinische Gesellschaft in Vorschlag, Delbrück
lehnte aber ab; eine Privatgesellschaft biete keine genügende Bürgschaft für
die Wahrung der Neutralität, ein staatlicher Betrieb, wie der durch die reichs-
ländischen Eisenbahnen, sei vorzuziehen. Dann entstand das Gerücht, Bleich-
röder wolle eine deutsche Gesellschaft gründen; das Gerücht verstummte plötz¬
lich, als im Februar 1372 die ersten schriftlichen Vorschläge aus Berlin ein¬
getroffen waren, die ans Übernahme des Betriebs durch die Verwaltung der
Neichseisenbahnen in Straßburg abzielten. Der Staatsrat in Luxemburg sprach
sich entschieden gegen diesen Vorschlag aus, der die Neutralität verletze und
die Unabhängigkeit des Landes bedrohe, und zu dem überdies die konzessionirte
Gesellschaft ihre Zustimmung geben müsse. Die Negierung setzte jedoch die
Verhandlungen in Berlin fort, fest entschlossen, nur äußerstenfalls nachzugeben.
Als aber die luxemburgischen Vertreter in Berlin eingetroffen waren, wurde
nicht der auf Delbrücks Wunsch in Luxemburg gefertigte Entwurf deu Verhand¬
lungen zu Grunde gelegt, sondern ein im auswärtigen Amte ausgearbeiteter
völlig verschiedner.
Um diesen neuen Schwierigkeiten zu begegnen, schlug Minister Servais
vor, einfach unter denselben Bedingungen abzuschließen, die Luxemburg mit
der Ostbahngesellschaft vereinbart hatte. Als auch dieser Vorschlag abgelehnt
wordeu war, beauftragte der Prinz-Statthalter Servais, in Berlin selbst
zu verhandeln. Dort bot sich Bleichröder zur Vermittlung an, zog sich
aber nach einer Zwiesprache mit Delbrück zurück. Servais erzählt, Delbrück
sei in den Verhandlungen von dem nachmaligen Staatssekretär in Elsaß-
Lothringen, Herzog, und von einem Rate des Neichskcmzleramts begleitet
gewesen, die aber nur in stummer Ehrfurcht den Worten Delbrücks ge¬
lauscht hätten, ohne sich an dem Meinungsaustausch zu beteiligen. Delbrück
habe das Verlangen, daß Deutschland die Bürgschaft übernehme, die Luxem¬
burg der Ostbahngesellschaft gewährt hatte, schroff zurückgewiesen, da doch
Luxemburg genötigt werde, entgegen den Vertragsbestimmungen den Betrieb
einem fremden Staate zu überlassen, und da das Land sich nicht den Gefahren
einer Entschädigungsklage aussetzen könne. Am 10. Juni — nach fünfstündiger
erfolgloser Verhandlung — habe Delbrück die Besprechung der Garantiefrage
heftig unterbrochen, die Akten auf den Tisch geworfen und ausgerufen: „Also
kein Zollverein, kein PostVertrag, kein Telegraphenvertrag!" worauf sich Servais
und Föhr ohne Verabschiedung aus dem Saale entfernt hätten; darauf habe
der belgische Gesandte Nothomb, zu dem sich die Ratlosen begeben hätten, die
Meinung geäußert, nach seinen Erfahrungen würde eine Vorstellung beim Reichs¬
kanzler erfolglos sein, Servais möge alle Gründe für Übernahme der Bürg¬
schaft noch einmal in einer Schlußnote eindringlich darstellen, um wiederholte
Erwägung bitten, schließlich aber den Verzicht auf die Bürgschaft in Aussicht
stellen; die Hauptsache sei eine unterwürfige Haltung. Der Rat wurde befolgt;
Föhr als xm'form unterzeichnete das Aktenstück und wurde schou am
andern Tage ins Neichskanzleramt berufen, wo er erfuhr, daß die Bürgschaft
angenommen worden sei. Daraus folgte dann die Unterzeichnung des Vertrags.
In dem Vertrage vom 11. Juni 1872 bewilligt die luxemburgische Re¬
gierung, daß die der Wilhelm-Lnxemburggesellschaft überwiesen?» Bahnstrecken
von der Verwaltung der Neichseisenbahnen in Elsaß-Lothringen oder von einer
andern Reichsbehörde bis zum 31. Dezember 1912 verwaltet und betrieben
werden (K 1). Für die Dauer dieses Betriebes verzichten beide Teile auf das
Recht der Kündigung des Anschlusses an den Zollverein*) (§ 14). Zum Trans¬
port von Truppen, Waffen, Kriegsmaterial und Munition können die Bahnen
zu keiner Zeit benutzt werden; im Kriegsfalle sind die Verpflichtungen des neu¬
tralen Landes zu achten. Die Wilhelm-Lnxemburggesellschaft bezieht jetzt,
wie früher, einen jährlichen Pachtzins von 3 Millionen Franks von der deut¬
schen Verwaltung; es ist daher nicht recht begreiflich, daß sie der luxembur¬
gischen Regierung nach Abschluß des Vertrags einen Protest zugestellt und
gerichtliche Verfolgung ihrer verletzten Rechtsansprüche angedroht habe, die
jedoch bis jetzt unterblieben ist. Die deutsche Regierung verzichtet auch nach
dem Vertrage darauf, an dem Reingewinn teilzunehmen, bis die von der
luxemburgischen Regierung der Gesellschaft gewährte Unterstützung von 8 Mil¬
lionen Franks zurückgezahlt sein wird. Servais klagt aber, daß dieser Zeit¬
punkt vielleicht vor dem Ende der Vetriebszeit nicht eintreten werde, da die
deutsche Verwaltung durch Herstellung von Doppelgleisen, Erweiterung der
Bahnhöfe, Verstärkung des Vetriebspersvnals so großen Aufwand verursache,
daß es den Anschein gewinne, als habe Deutschland wenig Interesse, aus dem
Betrieb Nutzen für'das Reich zu ziehen.
Eine Genugthuung, die ihm geworden ist, konnte Servais schon 1873
verzeichnen. Ein Luxemburger hatte sich um den Bau einer Bahn von Luxem¬
burg nach Lvngwy beworben. Die deutsche Regierung erklärte, daß sie in
einer Bewilligung des Baues eine Verletzung der Neutralität erblicken würde,
worauf Servais in Berlin vorstellte, daß Deutschland, da es den Betrieb eines
Bahnnetzes, das nach Diedenhofen und Metz führe, für zulässig gehalten habe,
auch den Neubau irgend einer Bahn nicht mehr beanstanden könne. Aber der
Vergleich zwischen dem Betriebe einer vorhandnen und dem Bau einer neuen
Bahn ist nicht zutreffend. Man verhandelte denn auch von Berlin aus mit
Luxemburg nicht weiter, sondern erledigte die Angelegenheit durch den Vertreter
im Haag mit dein Prinzen-Statthalter unmittelbar; der Bau unterblieb.
Bald darauf, im Dezember 1874, erhielt Servais einen ehrenvollen Ab¬
schied und diente fortan als Präsident des Staatsrnts und als Bürgermeister
von Luxemburg seinem Vaterlande bis zu seinem Tode (1890).
Servais bemüht sich, in seinen Denkwürdigkeiten ein sachliches Bild von
dem Gange der Angelegenheiten zu zeichnen, an deren Gestaltung teilzunehmen
er berufen war; hie und da aber blitzt in der Erzählung ein so unverkenn¬
barer Zug der Abneigung gegen Deutschland und insbesondre gegen Preußen
auf, daß wir uns solche Verstöße gegen das Programm staatsniännischer
Sachlichkeit nur durch die Annahme erklären können, der Bürgermeister
Von Luxemburg habe das Bedürfnis gehabt, sich in seinen Erinnerungen, die
nach seinem Tode veröffentlicht werden sollten, von dem während seiner Lei¬
tung der Landesangelegenheiten vielfach gegen ihn erhobnen Vorwurf zu rei¬
nigen, daß er die Würde und die Unabhängigkeit seines Vaterlandes nicht ge¬
nügend gewahrt habe. In diesem Sinne hat Servais mehrere Schriften über
die Bedeutung des Londoner Vertrags vom 11. Mai 1867 und über den
Vertrag mit dem deutschen Reiche vom 11. Juni 1872 veröffentlicht. Noch
kurz vor seinem Tode kündigte er, damals Kammerpräsident, gegen die Aus¬
führungen des Staatsministers Epheben in dessen „Staatsrecht des Großherzog¬
tums Luxemburg""') über die Pflichten eines neutralen Landes eine Jnter¬
pellation an. Aus welchem Grunde er die staatsrechtlichen Lehren seines Dienst¬
nachfolgers bemängeln wollte, ist nicht mehr bekannt geworden; denn in der
unmittelbar vorhergehenden Verhandlung hatte sich Minister Epheben für die
Nichtigkeit seiner Meinung auf einen amtlichen Bericht berufen, den der Inter¬
pellant selbst, der damalige Staatsminister Servais, am 14. März 1868 an
den König-Großherzog erstattet hatte. Nachdem die Kammer (Sitzung vom
15. Februar 1890) über die erste Jnterpellation zur Tagesordnung über¬
gegangen war, wurde der zweite Gegenstand — die Pflichten der Neutralen —
nicht mehr besprochen.
Dieser Vorgang, den Servais in seine im Januar 1879 abgeschlossenen
und seitdem nicht fortgesetzten Denkwürdigkeiten nicht mehr hat aufnehmen
können, zeigt in lehrreicher Weise, wie selbst ein Staatsmann, der seine Er¬
innerungen gutgläubig niederschreibe, durch das Gedächtnis irregeführt werden
kann. Wenn schon die Erinnerung an so wichtige Vorgänge völlig schwinden
kann, wie leicht kann die schon durch den Wirbel der Erscheinungen und der
sie begleitende» Empfindungen getrübte Auffassung der Dinge das Gedächtnis
nachträglich beeinträchtigen! Tallehraud hat die Memoiren die Quelle der
geschichtliche» Wahrheit genannt; aber wie oft werden gerade durch Denk¬
würdigkeiten von Staatsmännern die heftigsten Widersprüche von Zeitgenossen
hervorgerufen! Darum wiederholen wir den zu Anfang gemachten Vorbehalt.
Aber beim Lesen dieser Erinnerungen drängt sich uns »och ein andrer
Gedanke auf. Der deutsch-französische Krieg hat so zahlreiche Umgestaltunge»
von Rechtsverhältnisse» zur Folge gehabt, daß eine Sammlung der Quellen
für das Verständnis der neuen Geschichte wie des neuen Rechts gewiß von
großem Nutzen sei» würde. Frankreich hat sofort nach dem Friedensschluß
begonnen, alle Urkunde» vou staatsrechtlicher Bedeutung, die auf den Krieg,
den darauf folgenden Friedensschluß und die daraus sich ergebenden par-'
lameutnrischen Verhandlungen, Gesetze, Abmachungen, Verordnungen usw. Bezug
haben, zu sammeln und zu veröffentlichen. Der erste von den fünf stattlichen
Bänden der Sammlung*) ist schon im Juni 1872 erschienen, der letzte im
März 1879, als alle rechtlichen Folgen der großen Ereignisse endgiltig geregelt
waren. Deutschland hat nichts ähnliches geschaffen. Mit dem großen General¬
stabswerk ist aber doch die Sache nicht abgethan. Wer sich heute über die
rechtlichen Umwälzungen, die der Friedensschluß zur Folge hatte, unterrichten
will, ist darauf angewiesen, an allen Ecken und Enden das zusammenzusuchen,
was in dieser oder jener Form hie oder da veröffentlicht worden ist. Die
besiegte und gedemütigte französische Nation hat es für ihre Pflicht gehalten,
einen Rechenschaftsbericht über ihr Mißgeschick zu erstatten; die siegreiche, neu
geeinigte deutsche Nation denkt darüber anders, gerade als wenn neben den
kriegerischen Erfolgen nicht auch ein nationaler Erfolg, die Wiedererrichtung
des deutschen Reichs errungen worden wäre. Das alte deutsche Reich hatte
wenigstens seine Reichskanzleien, die kurmainzische für das Reich deutscher
Zunge, die kurtrierische für die Lande welscher Zunge; die Urkunden dieser
Kanzleien des Reiches sind freilich 1806 nach allen Richtungen zerstreut worden.
Nach Wiederherstellung des deutschen Reiches sollte mau doch daran denken, ein
deutsches Reichsarchiv, und zwar zunächst sür die Urkunden zu errichten, die
sich auf die großen Ereignisse beziehen, deren Gedenktage wir jetzt — nach
fünfundzwanzig Jahren — feiern.
üblich war das Werk fertig geworden und nnn schon sast vor
einem Monat abgeschickt. Zwei Wochen lang hatte Vcmrile nichts
gethan. Ganze Tage war er in den Waldungen umhergestreift,
stundenlang hatte er uuter den Bäumen gelegen, sich von den
Vögeln etwas vorsingen lassen und die Tiere des Waldes be¬
lauscht. Gegen Abend hatte er sich dann in immer enger wer¬
denden Kreisen der Bank genähert, an die er den ganzen Tag dachte.
Eines Abends erzählte er Erika lachend von einer merkwürdigen Erschei-
mag, die er an sich erlebt hätte. Zuerst, sagte er, bin ich in diesen meilen-
weiten Wäldern nie ausgekommen ohne Generalstabskarte und Kompaß, selbst
auf bekannten Pfaden habe ich mich noch hie und da verirrt, wenn ich eine
Weile in Gedanken versunken des Weges nicht geachtet hatte. Jetzt habe ich
das große Geheimnis gefunden, durch das die Indianer Amerikas die For-
schungsreisenden des alten Europas in Staunen setzen. Während der verirrte
Europäer, wenn er von seinen Instrumenten im Stiche gelassen wird, hilflos
verkommt, geht der Wilde sicher auf sein Ziel zu, ohne je den Weg zu ver¬
fehlen. Und er thut das, ohne das Gefühl zu haben, daß er etwas'Erstaun¬
liches leiste, er thut es wie etwas Selbstverständliches, er kennt die Schwierig¬
keit nicht, die den Europäer schreckt. Das kann ich jetzt auch, kleine Erika:
wo ich auch immer im Walde bin, ob zwanzig Schritt oder zwanzig Kilometer
von hier, ob ich die Sonne sehe oder nicht, ich brauche nur an dich zu denken,
so weiß ich genau, wo diese Bank steht. Von jedem Punkte der weiten Forsten
aus finde ich ohne jedes Hilfsmittel hierher den nächsten Weg.
Das ist sehr nett von dir, antwortete sie ihm, ich glaube, da hast du mich
doch wirklich lieb.
Dat schall wull sin, erwiderte er auf gut Platt.
Aber die Unthätigkeit ertrug Vanrile nicht lange. Ich muß etwas Neues
anfangen, damit ich das Warten auf die Entscheidung aushalten kann.
Wenige Tage daraus berichtete er Erika schon, daß er mit dein Modell
eines neuen Werkes beschäftigt sei. Aber all ihrem Bitten zum Trotz wollte er
ihr nicht sagen, was er diesmal vorhatte. Sein Blick glitt lächelnd an ihr herab.
Es wird etwas sehr Hübsches, sagte er, und wenn die dummen Kerle etwa meine
große „Kunst" nicht mögen: das, was ich jetzt mache, gefällt sicher aller Welt.
Mit einem langen, grauen Leinwandkittel angethan, die Ärmel bis zum
Ellbogen emporgestreift, stand Vanrile heute in seinem Schuppen und knetete
eifrig nassen Thon. Die schützenden feuchten Tücher waren von seinem Modell
entfernt, fast vollendet stand es vor ihm: eine lebensgroße weibliche Figur von
großem Liebreiz. Ein junges Mädchen eilt die letzten Stufen einer Treppe
herab mit frei flatterndem Haar und flatterndem, leichtem Röckchen. Nur die
beiden letzten Stufen waren angedeutet, aber in der Haltung, im Körper, im
Ausdruck des Kopfes lag soviel Bewegung, daß man deutlich sah, wie dieses
jugendschöne Geschöpf aus großer Höhe von Sehnsucht erfüllt herabstürmt,
dem Liebenden in die Arme. Der junge Leib war der einer Sterblichen, und
doch — solch ein Glück kommt nur aus Himmelshöhen.
Vanrile besserte und besserte noch, hier an dem Gewand, dort an der
Hand, dort noch ein wenig an dem zierlichen Ohr. Endlich war er zufrieden;
er trat zurück und ging in weitem Kreise um sein Werk herum, um es von
allen Seiten zu sehen. Ein muntres Lächeln zuckte um seinen braunen Bart,
als er nun ein Hölzchen ergriff und in den Sockel schrieb: Meine Muse.
Das Urbild aber stand in demselben Augenblick dem dienernden Herrn
Albert Viermcm gegenüber. Pünktlich, wie er vorher gemeldet hatte, war er
angekommen, und zwar unter Verschmühung so gewöhnlicher Beförderungs¬
mittel, wie es Omnibus und Dampfschiff sind; in dem eleganten Landauer des
Englischen Hoff, dieser durch ihre hohen Preise berühmten Herberge, wo er
die beiden Tage zugebracht hatte, die er seiner Geschäfte wegen in Dresden
hatte bleiben müssen, war er herausgefahren. Jetzt war er da, um die Herr¬
schaften zur Mittagstafel im Kursaal abzuholen.
Er schien vorher genaue Erkundigungen eingezogen zu haben, denn er war
ganz dem Gebrauche des Ortes gemäß in weißem Flanell erschienen, den Hut
in der Hand und die strumpffreieu Füße in niedrigen, mehrfach geschlitzten,
rohledernen Schuhen.
Haben Sie sich aber in Unkosten gestürzt, Herr Bierman! begrüßte ihn
Erika. Die Galauniform des Ortes! Und sogar die heilkräftigen Sandalen,
alles ganz vorschriftsmäßig für die paar Tage!
Paar Tage? fragte er erstaunt. Ich will ja mehrere Wochen hier bleiben,
Frünlein von Haltern.
So so, antwortete sie gedehnt, mehrere Wochen? Haben Sie denn anch
schlechte Nerven?
Onkel und Tante kamen ihm durch emsige und höfliche Fragen nach seinem
Befinden und nach Hamburgs Wohlergehen zu Hilfe, und als ihn Onkel fragte,
ob er die beabsichtigten Besuche in Dresden schon gemacht und die Herren an¬
getroffen hätte, bekam Erika von Haltern plötzlich einen heftigen Schrecken.
Sie mußte sich an einer Stuhllehne festhalten, und alle Lust, andre Leute zu
ärgern, verging ihr, als Herr Bierman losplauderte: Ja gewiß, gewiß, und
denken Sie sich, was mir passirt ist! Sie wissen, daß der wirkliche Geheimrat
Professor Doktor Boden aus Hamburg stammt?
Jawohl, der berühmte Bildhauer.
Ganz recht; an den hatte ich auch Empfehlungsbriefe mit. Es handelt
sich um ein Geschäft. Er besitzt nämlich aus der Erbschaft seines verstorbnen
Vaters noch einige Grundstücke auf Eppendorfer Flur. Ich wollte ihm eine
Offerte machen.
Nun, und? erwiderte der Herr Senator.
Na, wir unterhielten uns ruhig über das Geschäft, ich glaube auch, daß
wir uns einigen werden. Da unterbricht sich plötzlich der Herr Geheimrat.
Sagen Sie mal, sagt er, kennen Sie nicht einen Herrn Vanrile? Mir ist es,
als hätt ich den Namen früher einmal in Hamburg gehört. Jawohl, sage
ich; aber er ist schon seit ein paar Jahren verschwunden. Was interessirt Sie
denn an dem pleite gegcmgnen Bauspekulanten? Ptene gegcmgner Banspekulant?
fragt der Professor. Erlauben Sie mal, er muß doch Bildhauer sein. Bild¬
hauer? sage ich, nicht daß ich wüßte. Ja gewiß, sagt er; wir haben vor drei
Jahren eine große Konkurrenz ausgeschrieben für ein Werk der Plastik, das im
neuen Kunstausstellungsgebäude Platz finden soll. Ich bin Vorsitzender der
engern Jury. Die Aufstellung der eingelieferten Kunstwerke ist beendet, es ist
ein großer Saal voll. Man schreibt mir eben, daß unter den Arbeiten auch
die eines Herrn Erich Vanrile sei, also muß er doch ein Bildhauer sein. Na,
vielleicht hat er inzwischen die Bildhauerei gelernt, sag ich. Ich habe so
etwas gehört, er soll bei einem Steinmetzen an der Blasewitzer Straße gearbeitet
haben,' Grabtaseln, Kreuze und dergleichen. Ja, was sich nicht alles zu so
einer Konkurrenz drängt! sagt der Herr Geheimrat kopfschüttelnd. Es ist auch
wirklich toll! Ich möchte wissen, was der Mann zurecht gemacht hat! schloß
Herr Bierman seinen Vortrag und lachte herzlich.
Erika zitterte innerlich vor Empörung, daß dieser seichte, protzige Geselle
so über Erichs Werk sprechen durfte; aber sie sagte sich gleichzeitig, daß sie
still halten müsse um jeden Preis, daß sie sich nicht verraten dürfe, denn schon
fühlte sie den scharfen Blick des Onkels auf sich ruhn.
Seien Sie hübsch vorsichtig, sagte der Onkel zu Herrn Bierman, wenn
Sie über Herrn Erich Vanriles bekannte und unbekannte Talente sprechen,
Sie könnten sonst bei meiner Nichte in Ungnade fallen! Man fällt sehr leicht
bei ihr in Ungnade, wenn man von diesem Herrn nicht mit der nötigen Hoch¬
achtung spricht.
Nun, als Architekten und Künstler hast du ihn früher doch auch geschätzt,
fiel Tante Jda vermittelnd ein, und daß er ein begabter Bildhauer ist, wissen
wir doch, du fandest seinerzeit Erikas Büste, die er gemacht hat, meisterhaft.
Daß er ein ungeschickter Geschäftsmann war, hat doch damit nichts zu thun.
Sie scheu, fuhr der Onkel zu Herrn Vierman fort, wir werden uns hüten
müssen; die Damen halten gegen uns zusammen.
Die Büste von Fräulein von Haltern ist von ihm? sagte Herr Bierman.
Das hab ich ja gar nicht gewußt. Ich verstehe allerdings nicht viel davon,
aber sie scheint wirklich recht ähnlich zu sein, soweit man hente noch darüber
urteilen kann, denn Fräulein Erika war damals noch sehr jung.
Ja ja, erwiderte der Onkel, eine gewisse Begabung ist ihm ja nicht ab¬
zusprechen. Aber es ist doch ein großer Unterschied, die Porträtbüste eines
liebenswürdigen Kindes einigermaßen ähnlich fertig zu kriegen, und ein wirk¬
liches Kunstwerk zu schaffen- Und nun gar sich zu einer Aufgabe zu drängen,
bei der die berufensten und größten Künstler der Zeit um die Palme ringen,
das scheint mir doch sehr anmaßend von dem Herrn.
Erika hatte sich inzwischen gefaßt und fagte ziemlich ruhig: Ich bin, wie
du weißt, noch jetzt seine große Verehrerin. Anmaßend war er doch eigentlich
nie, oder hast du das gefunden, Onkel?
Und nun schoß ihr der Gedanke durch den Kopf, daß das eine gute Ge¬
legenheit sei, die Zukunft immer vorzubereiten.
Ich glaube kaum, fuhr sie fort, daß er etwas unternehmen würde, wozu
seine Kräfte nicht völlig ausreichen. Vielleicht gewinnt er sogar den ersten
Preis, das wäre ja reizend! vielleicht bekommen wir ihn dann hier zu sehen,
ich würde mich sehr darüber freue». Fragen Sie doch einmal den Geheimrat
Boden, wo er lebt, und sagen Sie ihm, er möchte Herrn Vanrile erzählen,
daß wir hier sind.
Wie Sie befehlen, gnädiges Fräulein, sagte Herr Bierman etwas unsicher.
Na, darüber reden wir noch gelegentlich, fügte der Onkel hinzu. Jetzt,
denke ich, müssen wir zunächst zu Tische gehen; denn da wir einmal teilnehmen,
gehört sichs auch, daß wir pünktlich sind.
Während des Mittagessens war Erika etwas zerstreut, sie dachte über
Herrn Biermans Erzählung nach. Wie abscheulich, daß dieser Mensch gerade
jetzt kommen mußte, und daß er gerade den ersten Vorsitzenden der Prüfungs¬
kommission, aus dessen Urteil sicher sehr viel ankam, sprechen mußte, ehe dieser
Erichs Kunstwerk gesehen hatte! Hütte er es schon gesehen gehabt, so hätte
das Geschwätz des dummen Jungen wahrscheinlich keinen Schaden angerichtet.
Aber so war es immerhin gefährlich: man trat mit einem gewissen Vor¬
urteil an das zu prüfende Werk hin, man war voreingenommen, wenn diese
interessante Anekdote vor der Besichtigung in der Kommission Gesprächsstoff
wurde.
Es fiel Erika heiß auf die Seele, als sie sich erinnerte, daß Erich von
kühnen Neuerungen gesprochen hatte, die in seinem Werke wären, und daß es
für ihn um den Preis geschehen sein könnte, abgesehen von allem andern, wenn
zu viel alte Zöpfe in der Kommission säßen, und er hatte nicht viel von ihnen
gewußt. Wenn das zusammentraf, dann war der blöde, dumme, scheußliche
Kerl, der neben ihr saß und sie eben fragte, ob sie lieber Aprikosenkompott
wollte, schuld an einer Niederlage Erichs, schuld an ihrem Unglück. Und
Erich brauchte den Erfolg, den Ruhm und das Gold. Der erfolgreiche Künstler,
der wieder auf eignen Füßen stand, der hätte allenfalls Onkels Einwilligung
schließlich erhalten. Aber ein verkanntes Genie!
Sie hörte den Onkel schon im Geiste sprechen von der Anmaßung dieses
Menschen, der es zu nichts bringen könne, weder in der Kunst noch im Leben,
und der nun komme, um Gustav Mollers Nichte und Erbin wegzufischen.
Und dabei konnte sie ihn nicht einmal sehen, nicht einmal warnen, nicht mit
ihm besprechen, was zu thun sei! Sie waren übereingekommen, daß er fern
bleiben solle während Herrn Viermans Anwesenheit, sür ganz dringliche Fälle
wollte sie ihm schreiben, und er sollte ihr dann durch einen Bauerburschen,
der ihm kleine Dienste leistete, Nachricht senden. Das alles war aber sehr
unbequem, man vermied es am besten ganz, und es wäre doch auch nur ein
armseliger Ersatz sür eine Aussprache, für eine gemeinschaftliche Beratung ge¬
wesen. Aber wissen mußte er, was sie erfahren hatte, sie wollte ihm einfach
das Thatsächliche mitteilen, er konnte dann selbst am besten entscheiden, ob
etwas zu geschehen habe, und was.
Am Nachmittag schützte sie Kopfweh vor und zog sich zurück.
Während sie bei ihrem Briefe etwas ruhiger wurde, faßen die beiden
Herren in der Veranda bei einer „hochfeinen" Cigarre, von der der Habaneser
Fabrikant auf dem Deckel des Kistchens der Welt verkündete, daß sie aus¬
schließlich für Personen von Geschmack fabrizirt werde, und unterhielten sich
noch immer über Herrn Vanrilc.
Schade, daß Sie überhaupt davon gesprochen haben. Ich bin in einer
gewissen Angst vor dem Menschen. Es ist ja jetzt Jahre her, und selbst¬
verständlich nur eine Mädchenschwärmerei gewesen, aber besser wäre es doch
gewesen, sie hätte nichts wieder von ihm gehört. Allerdings hat sie seit Jahr
und Tag nicht ein Wort wieder vou ihm gesprochen, gewiß; aber sicher ist
sicher, mir wäre es lieber, ich hätte allein davon erfahren. Wir hätten dann
bei Boden und einigen andern Herren von der Kommission das Unsrige gethan.
Solche Leute lassen sich ja leicht beeinflussen, ohne daß sie etwas merken;
gerade solche Herren, die entrüstet wären, wenn wir ihnen mit dem Vorschlage
kämen, sie sollten uns zu Gefallen etwa gegen ihre Überzeugung ein Werk
ungünstig beurteilen, thun uns leicht den Gefallen, ohne es zu wisse». Aller¬
dings, die Gefahr, daß er den Preis bekommt, ist ja sehr gering, und Ihre
Unterhaltung mit dem Herrn Geheimrat wird jedenfalls ausgezeichnet wirken.
Hätten Sie nicht mit ihm gesprochen, so stünde er der Arbeit ganz unbefangen
gegenüber. Vielleicht hätte er sich sogar des Namens erinnert und die Arbeit
mit etwas mehr Interesse angesehen als eine andre, in der Vermutung, daß
sie von einem Manne herrühre, der in irgend welchem Zusammenhange mit
seiner Vaterstadt stehe. Ihr „pleite gegcmgner Vanspeknlant" wird das ans
alle Fälle verhindern; er tritt jetzt eher mit Mißtrauen vor das Werk hin.
Könnte man nicht bei einigen von den andern Herren auch noch gelegentlich
das eine oder andre fallen lassen? Ganz unabsichtlich natürlich. Es sind
jedenfalls alles sehr tüchtige Kunstkenner und als solche nicht im geringsten
zu beeinflussen; aber solche Herren sind in der Regel gute Menschen und naive
Geschäftsleute: einige hübsch angebrachte Neuigkeiten über Nanrile, die sie so
eilauftg .in freundschaftlichen Verkehr erfahren, bohren sich ein und wirken
UMu mehr gegen ihn, als eine lange Rede eines Gegners in der Sitzung,
^cel, °us wird sich schon machen lassen, erwiderte Herr Bierman. ich werde
»und dieser Tage einmal darum kümmern.
^hun is.e das, Herr Bierman, aber hübsch vorsichtig. Ich kann nicht
^"he vorgehen, ich bin seit Monaten hier und kann jetzt nicht
nachträglich in Dresden Besuche machen. Aber noch eins, Sie werden ja
?,? ^ andre Einladung annehmen. Wollen Sie diese Gastsreund-
Ichnst vielleicht hier mit einem Herrendiner oder so etwas erwidern? Da könnte
ich dann auch dabei sein. Die Herren sehen dann Vanrile durch die Atmo¬
sphäre, mit der wir ihn umgeben haben, und das wird dem „Meisterwerke"
acht förderlich sein, das sie zu beurteilen haben: Menschen sind Menschen.
(Fortsetzung folgt)
Die Welt ist ein wunderlich Ding,
alle Dinge in der Welt sind wunderlich, aber das wunderlichste von allen ist von
jeher die Rechtspflege gewesen, und unsre moderne deutsche Justiz weiß deu Ruhm
höchster Wunderlichkeit mit staunenswertem Erfolge zu behaupten. Sie destillirt
aus der Spitzmarke: „Gnade, wem Gnade gebührt," eine Majestätsbeleidigung
und aus einem Gedankenstrich ein andres Verbrechen — wir haben vergessen,
welches — heraus und bringt den Thäter so schrecklicher Dinge ins Gefängnis,
aber den Berliner Bcmschmindler, der die Handiverker Jahr für Jahr um Mil¬
lionen betrügt und sogar die Krankenkassengclder der Arbeiter veruntreut, vermag
sie nicht zu fassen. Haben da die Gesetzgeber deu dummen Einfall gehabt, Laien¬
gerichte einzusetzen, Gewerbegerichte, die ohne allen juristischen Verstand täppisch
zugegriffen und gesagt haben: O, das ist ganz einfach; die Strohmänner, die keinen
Pfennig Geld in der Tasche haben, die kümmern uns nicht; wir fassen die Herren,
die hinter ihnen stehen, die die Rente ziehen von den unbezahlten Häusern! Aber
glücklicherweise haben die dummen Gesetzgeber noch soviel Ehrfurcht vor der aka¬
demischen Justitia gehabt, daß sie die Berufung von den Gewerbegerichten an einen
gelehrten Gerichtshof zulassen, und der hat zu den Handwerkern und Arbeitern
gesagt: Na, das wäre was schönes! Nee, Kinder, ihr kriegt nichts! Warum seid
ihr so dumm und habt die Arbeit angenommen! Warum seid ihr so dumm, sagt
der Laienverstand den Börsenspielern, die hineingefallen sind; der Juristenverstand sagt
es zu Handwerkern und Gesellen, die nicht gespielt, sondern gearbeitet haben, bei
denen es geheißen hat: Friß Vogel, oder stirb! Nimm Arbeit an, oder verdirb!
Der Laienverstand meint, das sei doch so einfach wie möglich, daß eine zwar ab¬
gelieferte, aber noch nicht bezahlte Ware, solange sie noch nicht bezahlt ist, dem
Verkäufer gehört, mit doppeltem Rechte gehört, wenn der Verkäufer zugleich ihr
Schöpfer ist, daß demnach ein auf die moderne Weise gebautes Haus (bei der alt-
modische», wo der Bauherr das Material lieferte und allwöchentlich die Arbeits¬
löhne aufzählte, wars anders) bis zur Bezahlung der Rechnungen der Bauhand¬
werker der Gesamtheit derer gehört, die daran gearbeitet haben, nicht aber einem
beliebigen andern Menschen, der durch einen beliebigen Akt der freiwilligen Ge¬
richtsbarkeit einen Titel darauf erwirbt. Die Justitia aber sagt: Nein, das geht
nicht; wenn die Geschichte so einfach wäre, daß sich jeder nur zu nehmen brauchte,
waA ihm gehört, da wären ja gar keine gelehrten Richter nötig. Im vorliegenden
Falle haben ja die Handwerker und die Arbeiter allerdings einen Rechtsanspruch
auf das Haus, aber die Form zu ermitteln, in der dieser Anspruch geltend gemacht
werden könnte, das wird eine ungeheuer schwierige Arbeit sein, zu der viel hundert
Broschüren und Kommissionssitzungen gehören werden. Nun, der Reichstag hat jn
die Resolution Bassermanns angenommen, wonach die Verbündeten Regierungen auf-
gefordert werden, einen Gesetzentwurf vorzulegen. Vielleicht thun sie das, viel¬
leicht werden demnach übers Jahr die Kommissionssitzungen ihren Anfang nehmen
können; Broschüren hätten wir schon einige Dutzend.
Doch die Sache an sich ist viel wichtiger als ihre juristische Behandlung. Der
Bauschwindel ist eine der Formen, in denen den glücklichen Besitzern und Er¬
Werbern städtischer Grundstücke nicht bloß eine hohe Verzinsung ihres Kapitals,
sondern sogar dessen Vervielfältigung verschafft wird. Die gewöhnliche Form ist die
Konjunktur und deren Unterstützung dnrch Maßregeln der Stadtverwaltung, dazu
kommt denn in einigen Großstädten, namentlich in Berlin, der Banschwindel. Das
großartigste Beispiel für die Wirkung der Konjunktur ist der Schöneberger Bauer
Knieen, der in den zwanziger Jahren ein Stück Kartoffelland für 2700 Thaler
gekauft und in den siebziger Jahren sechs Millionen Mark daraus gelöst hat. Im
Jahre 1881 hat der Berliner Magistrat zum Zweck der Steuereinschätzung in den
verschiednen Stadtteilen 47 Häuser, die in den Jahren 1368 bis 1877 keine Um¬
bauten und Verbesserungen erfahren hatten, herausgegriffen und festgestellt, daß
ihnen in diesen zehn Jahren eine Wertsteigernng von zusammen 4^ Mil¬
lionen Mark zugewachsen ist. Damaschke, aus dessen Schriftchen: „Vom Ge¬
meindefinanzwesen" (Berlin, Wilhelm Möller) wir diese Angaben schöpfen, schätzt
darnach die Wertsteigerung der Berliner Grundstücke in jenen zehn Jahren ans
mehr als anderthalb Milliarden Mark. Da heißes doch wahrhaftig: der Herr
bescherts den Seinen im Schlafe! Das Schönste ist nun, daß diese Herren, mögen
sie die Häuser und Hausgrundstücke unmittelbar oder als Hypothekengläubiger
mittelbar besitzen, auf den Genuß ihrer hohen Zinsen und auf die Wertsteigernng
ihres Vermögens ein heiliges und unveräußerliches Recht zu haben glauben und vou
Stadt und Staat die Abwehr aller Veränderungen fordern, die ihnen dieses heilige
Recht schmälern könnten, gerade so wie die landwirtschaftlichen Agrarier fordern,
der Staat solle ihnen jede ihre Grundrente schmälernde Konkurrenz vom Leibe
halten. Zwei sehr hübsche Fälle werden in Ur. 1 des „Genossenschaftlichen Weg¬
weisers," einer sehr empfehlenswerten Halbmonatsschrift, angeführt. Jn der Dresdner
Stadtverordnetenversanunlung stimmten die Hauseigentümer und ihre Verbündeten
gegen eine Vorortbahn, „weil sonst die Arbeiter aufs Land ziehen würden."
Demnach, bemerkt hierzu der Verfasser des Artikels, K. M. (Karl Mundiug.
der Herausgeber von Hubers ausgewählten Schriften), demnach wären also die
Arbeiter nur dazu da, den Hausbesitzern eine möglichst hohe Grundrente zu
sichern. Und durch die BeUiner Tagesblätter lief kürzlich folgende Notiz: „Gegen
die Auswüchse der Kvusnmvereine richtet sich eine Petition, die der städtische Grund-
bcsitzerverein an den Reichstag gerichtet hat. Es wird in der Petition ausgeführt,
beiß neben den Handwerkern und Kaufleuten besonders die Hauseigentümer schwere
Verluste erlitten hätten, da die Zahl der leerstehenden Läden vo» Jahr zu Jahr
größer geworden sei. Ein Ersatz sei nicht geschaffen worden, da sich die Konsum¬
vereine meist mit Verkaufsstellen begnügten, die in Nebenstraßen, und zwar in
Seiten- und Hintergebäuden untergebracht seien." Gewiß allerliebst! Es ist el»
gesetzlich zu bekämpfender Auswuchs, wenn die Arbeiter im Hinterhause kaufen,
anstatt den Laden im Vorderhause, der mehr Miete bringt, zu benutzen.
Munding sieht in dieser Thatsache eine glänzende Rechtfertigung der von ihm
vertretnen proudhonischen Richtung des Sozialismus, die von dem Satze ausgeht,
daß das die Arbeit beherrschende Kapital (unter Kapital wird hier Reichtum ver¬
standen) nicht im Produktionsprozeß, sondern bei der Güterverteilung angehäuft
werde, daß daher die Handelsgewinne der Kaufleute samt deu durch Reklame und
dergleichen verursachte« unnützen Kosten dnrch Konsumvereine und Warenhäuser aus
der Volkswirtschaft auszuschalten seien. Der in den Grenzboten Jahrgang 1894,
Heft 32. Seite 277 erwähnte Ernst Busch hat diese Ansicht mit der Bodenfragc
in Verbindung gebracht und erklärt: „Der Wert von Grund und Boden ist kapi-
talisirter Lmndelsprofit, der noch erzielt werden foll. Kommt der Prosit in Wegfall,
dann ist das imaginäre Kapital mit verschwunden. Die Unifizirung des Konsums
der Arbeiterklasse wird jedweden Grund und Boden wertlos machen. Bei dem
städtischen Grund und Boden ist das ohne viel Worte leicht zu begreifen. Wenn
alle deutschen Arbeiter ihren Konsum ausschließlich in fiskalischen, im Hinterhaus
oder im freien Feld gelegnen Konsnmanstalten kaufen, dann haben die Privatläden
keinen Absatz mehr, und damit hat der städtische Boden seinen allerletzten (?) Wert
verloren." Auch Munding, der diese Worte anführt, meint, Bodenrenke sei nichts
als trcmsformirter Handelsprofit. „Man bezahlt in verkehrsreichen Städten hohe
Ladenmieten, weil da Aussicht vorhanden ist, im Geschäft hohe Gewinne heraus¬
zuschlagen. Diese Aussicht genügt, um die Bodenrenke in die Hohe zu schnellen.
Sie steigert die Konkurrenz unter den Geschäftsleuten, und wenn Tausende von
ihnen zu Grunde gehen, so sind sofort wieder Tausende da, die sich einbilden, ihren
Vorteil besser wahrnehmen zu können als ihre Vorgänger. So ist ein ewiges
Kommen und Gehen, Suchen und Wagen, Hoffen und Sterben (so!), das Bleibende
aber in der Erscheinungen Flucht ist die Bodenrenke." Besser, als das Munding
hier unabsichtlich thut, kann man seine und Bnschens Theorie gar nicht widerlegen.
Er sagt es ja selber, daß die glänzenden Handelsprofite, die der Kaufmann gern
machen möchte, eben nicht gemacht werden, daß sie aber, so weit sie gemacht werden,
nicht von diesem, sondern vom Bodenrentner geschluckt werden. Er übersieht dabei
noch, daß doch die Großstadthäuser nicht aus lauter Läden bestehen, und daß die
Wohnungen und Werkstätten auch ein erkleckliches bringen. Er übersieht außerdem,
daß die Konsumvereine der Arbeiter den Läden unter deu Linden, in denen nicht
sie, sondern ganz andre Leute kaufen, nicht das geringste anhaben können. Er über¬
sieht endlich, daß sich auch der Berliner Arbeiter bedanken würde, seine Kinder
aufs freie Feld hinauszuschicken, um dort Kaffee und Zucker zu holen. Was den
Arbeiter um einen Teil seines Arbeitsertrags bringt, ist also nicht der Handels¬
profit, sondern die Bodenrenke, und diese entspringt nicht ans dem Handelsprofit,
sondern aus dem Monopol des Bodenbesitzes, und dieses beruht auf der Knapp¬
heit des Bodens, die die Menschen zwingt, sich in den Städten zusammenzu¬
drängen und einander gegenseitig im Angebot für Wohnungs-, Werkstatt- und
Ladenmiete zu steigern.
Wir wiederholen, daß wir durchaus keine Gegner weder der Genossenschafts-
bewegung noch der Bodenbesitzreform sind, sofern sich diese uns erreichbare Ziele
wie eine verständige Grundstückpolitik der Stadtverwaltungen, gute Bauordnungen und
Bekämpfung des Bodeuwuchers und Bauschwiudels beschränkt. Wir wünschen beiden
Parteien besten Erfolg ihrer Bestrebungen und werden jeden Versuch, sie auf dem
Wege der Gesetzgebung zu unterdrücken, entschieden bekämpfen. Aber wir leugnen,
daß die Hcmdelsgewiuue und die überflüssige» Handelsunkosten eine so ausschlag¬
gebende Rolle in der Volkswirtschaft spielen, wie die ersten behaupten, wir be¬
zweifeln, daß das letzte Ziel der zweiten, die Bodenverstaatlichung, erreichbar sei
und wenn es erreicht werden konnte, den Völkern das Heil bringen würde, und
wir halten beiden Parteien gegenüber daran fest, daß den aus einem höchst ver¬
wickelten Gesellschaftszustande entspringenden Übeln überhaupt nicht durch eine einzige
Maßregel, welche es auch sei, abgeholfen werden könne. Vor allem erwarten wir
keine grundstürzende Änderung und Besserung von der Gesetzgebung und Justiz.
Wir nehmen uns die Freiheit, über die Unbeholfenheit dieser ehrwürdigen Damen
zu spotten, die einen hausgroßen Betrug weder zu scheu noch zu fassen vermögen,
aber wir sind überzeugt, daß auch nicht viel dabei herauskommen würde, wenn sie
bedeutend geschickter wären. Wo die Bedingungen eines gesunden Gesellschafts¬
lebens vorhanden sind, da bedarf es keiner Eingriffe von Gesetz und Justiz, und
wo sie nicht vorhanden sind, nützen solche Eingriffe nicht viel. Der Bauschwindel
beschränkt sich auf einige wenige Orte, die zusammen vielleicht kaum zehn Quadrat¬
meilen bedecken, also etwa ein Tausendstel des deutschen Bodens. Es Wäre zu
wünschen, daß man dem groben Schwindel mit dem gemeinen Recht beikommen
könnte; aber wenn das nicht möglich sein sollte, so ist es bedenklich, das Hypotheken-
recht fürs ganze Reich zu ändern oder ein Spezialgesctz zu machen um eines
Unfugs willen, der nur auf einem so winzigen Teile des deutschen Bodens verübt
wird. Was ihn möglich macht, das ist die Konkurrenz um den Boden, die an
den Mittelpunkten des Verkehrs am schärfsten ist, also die Bodenknappheit. So
kommen wir denn immer wieder darauf zurück, daß Bodenknappheit, das Fehlen
freien Bodens, das Grundübel ist, an dem wir leide». Freiland ist das Losungs¬
wort der Bodeubesitzrefvrmer. Es ist auch das unsre, aber die Gesetzgebungs-
maschine und die Justiz werden uns schwerlich zu freiem Lande verhelfen.
Unter dieser Überschrift befindet sich
in Heft 49 der vorjährigen Grenzboten ein sehr beachtenswerter Aufsatz; der Ver¬
fasser beweist darin die Notwendigkeit, die Bauunternehmer und die beim Baue
beteiligten Handwerker, Arbeiter und Lieferanten mit Hilfe der Gesetzgebung gegen
die Verluste zu schützen, die sie bei Bauten, insbesondre bei Neubauten in großen
Städten, durch Bauschwiudel vielfach erleiden, prüft dann die bisher gemachten
Borschläge zur Abhilfe dieses Übelstandes, trägt seine Bedenken gegen diese Vor¬
schläge vor und bringt schließlich folgende Gesetze in Vorschlag. Die Baupolizei¬
behörde soll verpflichtet werden, von jedem Neubau dem Grundbnchrichter Anzeige
zu machen, dieser soll hierauf auf dem Grnndbuchblatte der Baustelle einen Sperr-
vermerk eintragen, und die Bauhandwerker usw. sollen dann berechtigt sein, ihre
Forderungen bis spätestens zum zweiten Monat nach der Gebrauchsabnahme des
Baues (die auf polizeiliche Anzeige ebenfalls im Grundbuche vermerkt werden soll)
im Grundbuche als Hypothek und zwar unter einander zu gleichen Rechten ein¬
tragen zu lassen und dadurch ein Vorrecht vor allen Hypotheken, die erst während
des Baues eingetragen werden, erlangen; die Zwangsvollstreckung der Baugläubiger
soll jedoch uur auf den Verkauf des Neubaues zum Abbrüche gerichtet sein.
Diese» Vorschlägen stehen aber folgende Bedenken entgegen. Zunächst würden
dadurch die Baugläubiger zwar gegen solche Belastungen des Grundstücks geschützt
werden, die erst während des Baues eingetragen würden, nicht aber gegen die,
mit denen schon vor Eintragung des Sperrvermerks die Baustelle belastet wäre;
die beabsichtigte Maßregel wäre also vergeblich, wenn die Bauschwindler, was sie
Wohl nicht unterlassen würden, rechtzeitig deu Bauplatz mit einer Hypothek in dem
ungefähren Werte des Neubaues belasteten.
Sodann aber verliert ein Gebäude, das zum Abbrüche verkauft wird, deu
allergrößten Teil feines Wertes, denu es gehen die Kosten des Anfbauens, des
Abbrechens und der Wert der dabei verdorbnen Materialien vollständig verloren;
käme es also zu einer solchen Zwangsversteigerung, so würden die Bauhand¬
werker usw. aus dem Verkaufe uur wegen eines ganz kleinen Teils ihrer Forde¬
rungen befriedigt werden, damit aber auch ganz ausfallen, wenn der Grund und
Boden schon vorher über seine» Wert hinaus verpfändet wäre.
Endlich würde dieser Gesetzesvorschlag, da der Bauschwindel nur in ganz
großen Städten möglich ist, wieder an dem Fehler leiden, der mehreren neue»,
namentlich auch sozialpolitischen Gesetzen anhaftet, daß nämlich die Polizei- und
Gerichtsbehörden im ganzen Lande mit einer Menge unnützer Arbeit belastet würden,
nur zu dem Zwecke, eine beschränkte Anzahl von Personen zu treffen, hier einige
Bauschwindler in Berlin und in wenigen andern Städten unschädlich zu machen.
Alle diese Bedenken würden sich beseitige» und der Gedanke des Verfassers
für die Gesetzgebung brauchbar machen lassen, wen» es möglich wäre, die Rechte
des Besitzers der Baustelle und seiner Hypothekengläubiger von denen der Bau¬
handwerker genauer zu scheiden, als das in den bisherigen Vorschlägen geschehen
ist , und das könnte dadurch geschehen, daß man der im römischen Rechte bereits
völlig ausgebildeten, im neuern deutschen und preußischen Rechte (§ 243 ff. des Allge¬
meinen Landrechts I, 22) aber nur noch ein kümmerliches Dasein führenden Grund¬
gerechtigkeit der suxsrüoies neues Lebe» einhauche» und sie grundbuchsähig machen
wollte.
Mit dieser Gruudgerechtigkeit hat es folgende Bewandtnis. Wenn ein Grund¬
besitzer ein Stück Land nicht verkaufen will oder, wie der Fiskus, in gewisse»
Fällen es nicht verkaufen darf, es aber zur Bebauung mit Häuser» a»f unbestimmte
oder auch auf ewige Zeiten gegen einen vereinbarten jährlichen Pachtzins verpachtet
oder gegen einen Erbzius verleiht, so geht zwar das Gebäude uach dem Grund¬
sätze der Aecession in das Eigentum des Eigentümers der Baustelle über, aber der
Bauende und sein Rechtsnachfolger überkommen ein dauerndes vollständiges Nutzungs¬
recht an dem Gebäude (ohne Grund und Boden), das sie selbständig verkaufen, ver¬
tausche», verschenke», verpfände» usw., oder wie es in den angeführten Vorschriften
des preußischen Allgemeinen Landrechts heißt, über das sie gleich einem Eigen¬
tümer frei verfügen können. Dieses Gebäude ohne den Grund und Boden ist die
iinpörüeiös, auch wird das Recht auf die suporüvioL selbst so genannt. Um um
dieses Recht für die Bnnhnndwerker zu dem in Rede stehenden Zwecke nutzbar zu
machen, bedürfte es (in Preußen) nur »och einer Verordnung darüber, daß und
wie für die Grundgerechtigkeit an der supsitioies (ähnlich wie es für das soge¬
nannte Bergwerkseigentum bereits geschehen ist) besondre Grundbuchblätter angelegt
werden dürften, wogegen in Preußen grundsätzliche Bedenken nicht obwalten, da
nach § 69 des Eigentumserwerbsgesetzes vom 5. Mai 1872 für selbständige Ge¬
rechtigkeiten Gruudbuchblätter angelegt werden dürfen und nach Z 3 der Grund¬
buchordnung von demselben Tage die für Grundstücke gegebnen Vorschriften dieses
Gesetzes auch für Bergwerke und Gerechtigkeiten gelten sollen.
In manchen andern Ländern hat die snpsitieiss eine weit größere Bedeutung,
als jetzt in vielen Gegenden Deutschlands; es mag hier uur daran erinnert sein,
daß z. B. der Grund und Boden von London nicht den Hausbesitzern, sondern
einigen englischen Grafen gehört, die die Baustellen grundsätzlich nicht verkaufen,
sondern immer nur auf 99 Jahre verpachten.
Würde dann weiter verordnet, daß die Bauhandwerker usw> binnen einer be¬
stimmten Frist die Anlegung eines besondern Grundbuchblatts für die im Bau be¬
griffnen supöitleigs und gleichzeitig die Eintragung ihrer Forderungen darauf im
übrige» ganz uach den Borschlägen des Aufsatzes in Heft 49 der Grenzboten ver-
langen konnten, daß deren Forderungen zu gleichen Rechten auf den suxsrtiews
hafteten, und daß die Baugläubiger ihre Rechte nach deu Grundsätzen des Mit¬
eigentums oder gemeinschaftlichen Eigentums geltend machen könnten, dann wäre
allen Teilen (mit Ausnahme von Bauschwiudleru) geholfen, ohne daß die Rechte
eines der Beteiligten gekränkt würden.
Allerdings würde dann noch der Wert der Grundrente, die dem Besitzer des
Grund und Bodens von den Superfiziciren im voraus zu gewähren wäre und der
Grundgerechtigkeit der suxoiüoivs vorgehen müßte, in Ermanglung einer gütlichen
Vereinbarung durch Sachverständige festzusetzen sein, was zu Prozessen führen
könnte; allein erstens würden diese Prozesse sehr einfach, sodann aber in allen deu
Fällen, wo die Bauhandwerker freiwillig uicht befriedigt werden, ohnehin unver¬
meidlich sein.
Es liegt auf der Hand, daß durch die vorgeschlague Maßregel zunächst der
Eigentümer des Grund und Bodens in seinen Rechten nicht benachteiligt würde.
Auf das neu erbaute Gebäude hat er vor Bezahlung der darauf verwendeten Ar¬
beiten und Materialien moralisch ohnehin keinen Anspruch; an die Stelle des Rechts,
über deu Grund und Boden zu beliebigem Zwecke zu verfügen, dessen er sich bei
dessen Hergabe zur Bebauung freiwillig begeben hat, ist das Recht getreten, dafür
die Grundrente zu beziehen, und dadurch der Wert des Grund und Bodens be¬
trächtlich erhöht, da diese Rente höher ist, als der Ertrag des Bodens bei jeder
andern Benutzungsart. Über seinen Grund und Boden kaun er nach wie vor frei
verfügen, ihn verkaufen, vertauschen, verschenken, verpfänden usw. Ebenso würden
seine reellen Hypothekengläubiger, d. h. die, die den Grund und Boden nur zu
seinem wirklichen Werte beliehen hätten oder beleihen wollten, in keiner Weise
geschädigt, da dieser eben seinen vollen Wert behielte.
Ebenso würde niemand verhindert werden, dem Eigentümer der Baustelle oder
einem sonstigen Bauherrn Gelder zum Bau vorzuschießen und sie ans die Baustelle
eintragen zu lasten; denn sind diese reelle Leute und verwenden sie die cmfge-
nommnen Kapitalien zur Bezahlung der Bauhandwerker usw., so kommt es gar
uicht zur Bildung eines Gruudbuchblatts für die Luxerüoiss und Eintragung der
Forderungen der Bauhandwerker darauf; schenkt aber der Gläubiger dem Bau¬
herr» kein volles Vertraue», so mag er dafür sorge», daß die von ihm vor-
geschossenen Gelder wirklich zur Bezahlung der Bauhandwerker verwendet werden.
Jedenfalls weiß der Darlehusgeber im voraus, beiß er ein wirksames Hypotheken¬
recht an der suporlieiös nur erwirbt, wenn und soweit die darauf eingetragnen
oder noch einzutragenden Forderungen der Baugläubiger befriedigt werden.
Der gewünschte Schutz der Bauhandwerker wäre aber mit der vorgeschlagnen
Maßregel erreicht; die ganze suxsrliciss, die sie mit ihren Arbeiten und Ma¬
terialien hergestellt hätten (und nicht bloß der Wert der aus dem Abbruch zu ge¬
winnenden Materialien), haftete für ihre Forderungen, sodaß sie hoffen konnten, daß
diese bei einer Zwangsversteigerung der suveMeiss ganz oder doch zum größten
Teil befriedigt würden.
Endlich würden auch nicht die Polizei- und Gerichtsbehörden mit unnützen
Arbeiten belastet werden; nur in solchen Fällen, wo Bauhandwerker usw, die
Einrichtung eines Grnndbuchblatts für die suportioiizs und die Eintragung ihrer
Baufordernngen darauf beantragten, hätte der Gruudbuchrichter einzuschreiten und
von Amts wegen das Grundbuchblatt für die snpörüeiss auf den Namen des
Eigentümers der Baustelle oder des von ihm zu benennenden Superfiziars ein¬
zutragen; in allen andern Fällen — und das wären bei weitem die meisten —
wäre das unnötig. Ju der Abteilung II des Grundbnchblatts über die Baustelle
würde dann noch zu vermerken sein, daß auf dieser die Grundgerechtigkeit der suxsr-
tieiös richte, und das hätte die Wirkung, daß alle vor und nach eingetragnen Hypo-
thekengläubiger sich mit ihren Forderungen zunächst nur an die Baustelle, an die
hupe-rüoiös aber nur dann halten können, wenn zuvor die darin eingetragnen
Bangläubiger befriedigt wären. Daß dadurch reelle Hypothekengläubiger nicht ge¬
schädigt werden könnten, ist schon oben dargelegt.
Auch diese Vorschläge werdeu noch verbesseruugsfähig sein, wir glauben aber,
daß sie über alle bisher gemachten einen Schritt weiterführen, und möchten sie
deshalb allen denen zur geneigten Erwägung empfehlen, die den Bauhandwerkern
gegen unredliche Leute zu ihrem Rechte zu verhelfen wünschen.
Ei
n sachkundiger schreibt uns: In Ihrem Artikel
vom 14. November v. I. »Börse, Getreidehandel und Schutzzölle" wird der
Wunsch ausgesprochen, eine Aufklärung über die Ursachen der Preisbewegungen im
Getreidehandel zu erhalte». Obgleich ich nicht um einem Börsenplätze wohne, so
glaube ich mir doch durch meine langjährigen Erfahrungen — da ich seit 1379
selbständig einen ziemlich umfangreichen Handel mit Getreide und Biehfntter mit
sehr schwankendem Erfolg betreibe — ein ziemlich zutreffendes Urteil erworben zu
haben, und erlaube nur, es Ihnen in Nachfolgendem zu unterbreiten.
Die Preise für Getreide bilden sich im allgemeinen, wie bei allen sonstigen
Waren, durch Nachfrage und Angebot, weniger durch den Willen oder die Macht
eines Spekulanten oder einer Gruppe von Spekulanten. Wenn die Getreidepreise
niedrig sind, so kommt die Mehrzahl der Kornhnndler. Müller, Bäcker und be¬
sonders der Landleute zu der Ansicht, es müsse notwendig bald eine Steigerung
eintreten. Diese Meinung verbreitet sich um so leichter, je weniger ergiebig die
Ernte im Inland ausgefallen ist oder auszufüllen droht. Denn denken die meisten
Interessenten, es sei nun Zeit, Korn anzukaufen, nud decken infolge dessen ihren
voraussichtliche» Bedarf auf längere Zeit im voraus. Da der Landmann wenig
Korn auf die Märkte bringt, so sieht sich der Aufkäufer und Händler veranlaßt,
seinen Bedarf an der Börse zu decken. Dies kann nur geschehen, indem er wirk¬
lich lieferbare Ware auf sofortige oder spätere Abnahme vom Importeur kauft, oder
indem er auf Termine ein den Terminbörsen in Berlin, Wien usw. einkauft oder
spekulirt. Da sich nun diese Bewegung gewöhnlich ans weite Kreise, sei es über
einen gauzen Staat oder über mehrere Staaten, ja nach und nach über den größten
Teil der Welt erstreckt, so entsteht überall eine lebhafte Nachfrage und dadurch
eine Steigerung. Diese Steigerung hält aber nur so lange an, bis sich der größte
Teil der Händler, Müller, Bäcker usw. für längere Zeit gedeckt glaubt und nun
darauf rechnet, daß die Steigerung anhalte, um dann den Gewinn einzustecken.
Dazu kommt, daß der größte Teil dieser Interessenten gewöhnlich seinen Bedarf
überschätzt oder in der Absicht, einen größern Gewinn zu erzielen, zuviel kauft.
Sobald nun jeder oder die große Masse gut und reichlich versorgt zu sein glaubt,
entsteht eine Stockung in den Einkäufen, der dann auch gewöhnlich ein Rückgang
in den Preisen folgt. Der Importeur, der sich durch die starken Käufe des In¬
landes veranlaßt gesehen hat, im Ausland entsprechende Deckungen vorzunehmen,
und vielfach durch den anscheinend großen Bedarf getäuscht ebenfalls über Bedarf
gekauft hat, muß nun die vom Auslande gekauften Waren annehmen, die Mühlen
und die Händler im Inlande müssen ihm wieder abnehmen usw. Der Landmann,
der während der steigenden Periode erst recht nicht verkauft, sondern immer noch
auf einen höhern Ertrag für sein Korn gerechnet hat, sieht nun bei dem beginnenden
Rückgange der Preise und der durch das Ausland bewirkten Deckung des Bedarfs,
daß er sich geirrt hat, und möchte gern noch zu möglichst hohen Preisen losschlagen.
Von alle» Seiten bringen die Bauern ihr-überflüssiges Getreide auf die Märkte,
und es zeigt sich plötzlich eine Überfttllung sondergleichen. Bei dem Rückgange
kauft natürlich niemand gern, andrerseits suchen sich die meisten Inhaber nach Mög¬
lichkeit von ihren Vorräten wieder frei zu machen, sehr vielen fehlen auch die
Mittel, die auf Meinung gekauften Waren abzunehmen oder bis zu einer Erholung
der Preise liegen zu lassen, sie müssen d, Wut xrix verkaufen, und so entstehen statt
der früher gehofften Gewinne bedeutende Verluste.
Die Preisbewegung an den Terminbörsen hat natürlich inzwischen denselben
Weg genommen. Dort sieht das Bild etwa wie folgt aus. Wie schon gesagt,
kaufen sehr viele inländische Händler, Mühlen und auch Landleute usw. in der
Meinung, daß bei billigen Preisen und anscheinend knappen Vorräten eine Steige¬
rung unausbleiblich sei, an den Terminbörsen einfach uns Spekulation. Indem nun
das Inland, das überwiegend bei solcher Sachlage die gleiche Ansicht entwickelt,
in Berlin usw. auf Termin kauft, entsteht natürlich auch hier die Meinung, daß
der Bedarf im Inlande groß sein müsse, und die Verkäufer in Berlin usw. halten
infolge dessen zurück, sie geben nur zu höhern Preisen ab und decken sich dafür
durch Käufe in wirklicher Ware im Auslande. Die Preise steigen infolge der vom
Inlande bewirkten Spekulationskäufe — die weit überwiegend in der verschwiegnen
Absicht gemacht werden, nicht etwa die gekauften Waren bei Fälligkeit des Termins
abzunehmen, sondern nachdem die Preise genügend gestiegen sein werden, zurückzn-
verkcmfen und die somit mühelos erworbne Differenz einzuheimsen — eine Zeit
lang weiter, bis sich die Spekulation mehr und mehr beruhigt. Nun kommt der
Termin heran, wo die Abschlüsse fällig werden. Die Verkäufer in Berlin haben
inzwischen die Waren vom Auslande erhalten und bieten sie dem Käufer an. Ein
Käufer, der während der fortschreitenden Steigerung seinen Speknlationskcmf nicht
schon zurückverkauft hat, soll jetzt die Ware abnehmen. Da er aber von Haus
aus nicht beabsichtigt hatte, die Ware abzunehmen, sondern nur die Differenz ein¬
zuheimsen, der Börsenplatz auch oft vou seinem Wohnorte weit abliegt, sodaß sich
bei Abnahme das Getreide durch die Fracht sehr verteuern würde, sieht sich
nun zu der Erklärung gezwungen, daß er die Ware nicht abnehmen könne. Das
von dem inländischen'Spekulanten in Berlin usw. gekaufte Getreide wird also nicht
^genommen, das Lager wird immer größer, darum infolge dessen dort auch der
-Markt, und die Preise sinken. Der Rückgang der Preise an deu Terminbörsen
bewirkt natürlich erst recht eine Erlahmung des Effektivgeschäfts im Jnlonde, und
so entsteht nach und nach eine allgemeine Entmutigung, jeder sucht seine Vorräte
und Abschlüsse zu verkaufen, und so kommt es, daß statt der bei Beginn der Be-
wegung gehofften andauernden Steigung der Preise ein ganz unerwartetes und
auch häufig unnatürliches Sinken eintritt. Nachdem dieser Rückgang längere Zeit
gedauert hat, beruhigt sich schließlich die Stimmung wieder, die Preise sind in¬
zwischen aber gewöhnlich so weit gesunken, daß sie noch niedriger sind als zu Be¬
ginn der Bewegung. Dann findet sich meist bald wieder ein andrer Grund, der
aufs neue die Meinung erweckt, daß eine Steigerung berechtigt sei, wieder beginnen
die Käufe und die Haussespekulation, die aber stets das richtige Maß überschreiten
und in derselben Weise, wie schon beschrieben, verlaufen. Die Terminbörsen machen
bei diesen Vorgängen ein um so besseres Geschäft, da sie schon wissen, daß die
vom Inlande auf Termin gekauften Ware» in der Regel doch uicht abgenommen
werden. Sie decken sich also nur zum Teil für die an das Inland gemachten
Verkaufe, aber doch immer noch so reichlich, daß die Lager beim Herannahen der
Schlußtermine gut gefüllt sind und durch die Nichtabnahme der Ware ein Preis¬
druck herbeigeführt wird, brauchen dann also für die nicht gedeckten Vorschlüsse vom
Inländer einfach die Differenz einznkassircn.
Sind also die Preise einmal niedrig, so können sie so leicht nicht wieder
wesentlich steigen. Umgekehrt, sind die Preise erst einmal hoch, und die Mehrzahl
der inländischen Interessenten rechnet auf einen Rückgang, so Pflegen sie sich erst
recht auf der Höhe zu halten. Dann verkauft das Inland an den Terminbörsen,
die Börsen kaufen infolge dessen kein Getreide vom Auslande, die Lager bleiben
klein, weil der inländische Baissier das auf Termin verkaufte Getreide uicht liefert,
sondern immer uur bei dem gehofften Rückgange die Differenz einziehen will, und
so können die Terminbörsen, weil die Lager unerwartet klein bleiben und uicht
drücken, die Preise hoch halten und bei geringen Ursachen — zuviel Regen, zuviel
Frost—, die bei billigem Preisstand nud großen Lagern nur wenig zur Steige¬
rung beitragen, bedeutend in die Höhe schrauben, so in den Jahren 1889, 90, 91.
In deu Jahren 1889 und 1890 war das Inland überwiegend ^ l-i v-risso engagirt,
was zur Folge hatte, daß sich die Preise hochhielten. Auch im Jahre 1891 war
bis zum Juli und August hin das Inland K 1a, v-usso engagirt. Es waren also
bis dahin noch fortwährend große Verkäufe auf spätere Termine gemacht. Nun
hielt aber das im Juni eingetretne Regenwetter ununterbrochen bis gegen Ende
August an, und zwar so, daß es aussah, als ob die Ernte vou ganz Europa ver¬
nichtet wäre. Dazu tum, das; Rußland sein Ansfnhrverbot erließ. Die Preise stiegen
gewaltig. Hierdurch eingeschüchtert, wurden nach und nach die Bnisseengagemeuts
gelöst, es brach sich immer mehr die Ansicht Bahn, daß an einen Rückgang nicht
mehr zu deute» sei. Darauf fing das Inland an, für 1892 an den Termin¬
börsen zu kaufen, außerdem wurde« starke Käufe vou wirklicher Ware für 1392
vom Konsum, vou deu Händlern, den Müllern und Bäckern gemacht, derartig, daß
sich jeder hinlänglich bis zur nächsten Ernte gedeckt glaubte, und nun kam, weil alle
Welt versorgt war, nach und nach eine Stockung, sodnß schou im Oktober, November
und Dezember 1891 die Preise ansingen zu schwanken und vou Beginn des Jahres
1392 an verhältnismäßig schnell und stark fielen. Das Inland war also wieder
in der Hauffe, die Börsen in der Baisse, und diese hatten natürlich wieder die
Gewinne.
Selbstverständlich können sich schließlich die Getreidepreise nur durch den großen
Getreideüberfluß andrer Länder halten. Wäre nicht so großer Überfluß in fremden
Ländern, so stünden die Getreidepreise höher, das Börsenspiel bliebe aber dasselbe.
Ob die Börse von Christen oder Juden beherrscht wird, halte ich für gleichgiltig,
die Christen würden vielleicht weniger geschickt operiren, keinesfalls aber moralisch
besser. Wenn ich auch kein besondrer Verehrer der Juden bin, so habe ich doch in
langen Jahren die Erfahrung gemacht, daß ich beim Handel mit Christen um kein
Haar besser, eher noch schlechter gefahren bin als bei Juden.
Für ganz verfehlt halte ich die Ansicht, daß durch Errichtung von Getreide¬
speichern für den Landmann bessere Ergebnisse zu erwarten seien. Im Gegenteil,
dadurch würden die Preise erst recht gedrückt werden. Meiner Meinung nach
würde sich die Sache so entwickeln. Die Landleute bringen ihr Korn im Herbst
und Winter in die Lagerhäuser und warten nun ab, ob die Preise steigen. Wäh¬
rend sie abwarten, wird der Bedarf im Inlande durch Bezüge von billigeren Korn
aus dem Auslande gedeckt. Der einmal versorgte Bedarf braucht nicht mehr aus
den Kornspeichern gedeckt zu werden, es wird Frühling, das halbe Jahr ist hin,
die Lagerhäuser sind voll, das Ausland hat noch immer Korn und liefert weiter.
Schließlich müssen die Lagerhäuser wieder geräumt werden, schon aus dem Grunde,
weil sich das inländische Korn nicht ewig hält, sondern verderben würde. Nun
weiß die ganze Welt, daß große Posten Korn in den Lagerhäusern liegen und
schließlich doch verkauft werden müssen. Vom Auslande ist jeden Tag genügend
Korn billig zu haben. Es wird also für das inländische Getreide kein höherer
Preis bewilligt werden. Je näher die neue Ernte rückt, um so mehr wird das
viele Korn in den Speichern auf die Preise drücken, und schließlich muß das Korn
wahrscheinlich unter dem Tagespreis verkauft werden, wenn nicht gar in öffentlichen
Auktionen, wie vor einigen Jahren in Rußland.
Ich glaube auch uicht an das Märchen, daß Amerika oder Rußland in ab¬
sehbarer Zeit weniger produziren und seinen Bedarf selbst kaum decken werde.
Gerade das Gegenteil ist richtig, die Ernten werden, solange die Kornpreise nicht
noch mehr sinken, immer noch größer. Erst dann, wenn die Preise noch weiter
fallen, wird vielleicht vorübergehend die Erzeugung von Getreide in Amerika
und Rußland eingeschränkt werden. Dann werden aber hier die Preise bald
steigen, und dann wird sich in Amerika und Rußland der Ackerbau sofort wieder
heben.
Das einzige Mittel, in Deutschland die Kornpreise dauernd zu heben, wären
höhere Zölle, und diese sind infolge der Verträge vorläufig unmöglich. Es ist aber
auch uicht wahr, daß es den Landleuten schlecht oder gar schlechter gehe als andern
Leuten. Die Erträge der Ernten sind doch jetzt ganz kolossal gegen frühere Zeiten,
und die Produktionskosten sind infolge der Maschinen nicht übermäßig hoch. Aber
die Grundstücke sind zu hoch taxirt und vielfach von den Eltern zu teuer über¬
nommen worden, daher rührt die große Schuldenlast, die auf vielen Höfen ruht.
Außerdem sind die Höfe vielfach noch immer zu groß. Je kleiner die Besitze sind,
um so besser sind sie auszubeuten. Die Bauern arbeiten noch lange nicht intensiv
genug. Man sollte die Herren Agrarier einfach auf ihre Höfe schicken und ihnen
sagen, sie sollten gründlich arbeiten und sparen. Wenn sie nicht bestehen können,
so müssen sie eben Konkurs machen; das müssen andre Leute auch, wenn sie nicht
bestehen können.
Soviel ist gewiß, wenn wir nicht die große Getreidezufuhr vom Auslande
hätten und nur auf unsre Herren Grundbesitzer angewiesen wären, so würden diese
die Preise auf eine unerhörte Höhe bringen und uns womöglich verhungern lassen,
wenn sie Aussicht auf noch bessern Gewinn hätten. Wir können Gott danken, daß
er dafür sorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Die Herren reden
immer von den Spekulanten in Berlin, während sie selbst fortwährend spekuliren,
natürlich stets verkehrt, und dadurch zurückkommen. Ich führe folgende Bei¬
spiele an.
Im Jahre 1391 regnete es den ganzen Sommer hindurch, sodaß die Ernte
vollständig naß, ausgewachsen und fast verdorben einkam. Die Kartoffeln waren
sehr schlecht geraten, Rußland hatte die Ausfuhr verboten, und alle Getreide und
Futtersacheu, auch Kartoffeln, waren unerhört teuer. Anstatt nun bei diesen teuern
Zeiten ihr feucht eingefahrnes Getreide, wofür sie
haben konnten, zu verkaufen, rechnete der größte Teil darauf, daß im nächsten
Frühjahr die Preise womöglich doppelt so hoch sein würden. Grund genug, ihr
nasses Korn festzuhalten und die naß und schlecht eingekommneu Kartoffeln selbst
zu überwintern. Im folgenden Frühjahr waren aber infolge der Zufuhren von
Amerika, Kleinasien, der Türkei usw. die Preise schou wesentlich billiger, und da
das auswärtige Korn viel trockner und besser war, als unsre naß eingekommne
Ernte, so bekamen die Landleute längst nicht mehr die Preise vom verflossenen
Herbst. Dazu waren die Kartoffeln in den Mieter vielfach verfault, das Korn
wesentlich leichter geworden. Aber noch immer glaubte ein großer Teil der Bauern,
die Steigerung müsse unbedingt noch kommen. Statt dessen gingen aber die Preise
immer mehr zurück, sodaß im Herbst 1892 das nun vielfach verschimmelte und
leichter gewordne Korn nur die Hälfte vom vergangnen Herbst wert war. Viele
Landleute haben daun ihr Korn noch bis zum Sommer 1893 liegen lassen, dann
aber noch weniger erreicht. Dazu kam, daß viele Landleute im Herbst .1391
— weil ihnen ihr Korn zum Verfüttern zu teuer war — ihr Vieh verkauften,
und zwar infolge des starken Angebots zu Spottpreisen. Schweine kosteten „fast
nichts." In diesem Jahre haben also die Bauern infolge ihrer eignen superkluger
Spekulation sehr großen Schaden gehabt. Im Jahre 1392 fingen sie bis zum
Sommer 1893 wieder an, ihren Viehstand zu vermehren. Im Sommer 1893
kam eine dreimonatige Dürre, die Futterpreise stiegen stark, und die Ernteaussichten
waren schwach. Dies veranlaßte wieder viele Bauern, ihr Vieh billig zu verkaufen.
Gleich nachher bekamen wir fruchtbares Regenwetter, die Ernte wurde noch ganz
gut, und seitdem sind die Kornpreise fast ununterbrochen gefallen. Die Bauern
haben nun ihren Viehstand wieder vervollständigt und dafür wohl viel Geld aus¬
gegeben. Nun find in den letzten Jahren infolge der Neuanschaffung von Vieh
die Viehpreise sehr hoch gewesen, und es ist sehr wahrscheinlich, daß die Landleute
nun wieder zu viel Vieh anschaffen und es zu fest halten. Dann kommt der Rück¬
schlag, und sie können das fette Vieh dann zu demselben Preise verkaufen, wofür
sie es mager eingekauft haben.
Im Jahre 1893 war ^infolge der Dürre die Haferernte etwas geringer als
sonst, die Haferpreise waren deshalb in der Erntezeit und bis Ende 1393 sehr
hoch. Hätten nun die Bauern ihren Hafer verkauft, so hätten sie ein gutes Geschäft
gemacht. Aber sie behielten ihren Helfer bis zum Frühjahr 1394. Inzwischen
hatten uns Amerika, die Türkei und Rumänien mit Hafer versorgt, die Preise
waren stark gesunken, und die Bauern mußten nnn mindestens um 30 bis 4V Prozent
billiger verkaufen.
Es ist sehr möglich, daß es ihnen dies Jahr mit ihrem Roggen ähnlich ergeht.
Roggen soll vielfach nicht so gut geraten sein wie sonst. Nun wird wieder mit dem
Frühjahr spekulirt, der Roggen wird festgehalten, inzwischen deckt das Ausland den
Bedarf, und im Frühjahr kostet der Roggen wahrscheinlich noch weniger als jetzt.
Meiner unmaßgeblichen Meinung nach sollten die Bauern im Herbst, wenn
ihr Korn frisch und schwer ist und auch die Kartoffeln mehr Gewicht haben als
im Frühjahr, die Hälfte oder mindestens ein Drittel ihrer Produktion verkaufen,
d
Seit undenklichen Zeiten
zum erstenmal enthält der diesjährige preußische Etat Mehrforderungen für die
Archivbeamten. Die Regierung scheint also den mehrfach in der Presse und in
beiden Häusern des Landtags laut gewordnen Wünschen endlich entgegengekommen
zu sein. Aber es scheint nur so; denn bei näherer Betrachtung ergiebt sich
leider, daß diese Mehrfordernngen keineswegs geeignet sind, die Beteiligten mit un¬
getrübter Freude zu erfüllen.
Der Krebsschaden der Archivverwaltung wie der meisten andern preußischen
Verwaltungen ist die übermäßige Anzahl der nicht etatmäßigen Stellen. Auf
33 etatmäßige Beamte in den Provinzen kommen ungefähr ein Dutzend Hilfs¬
arbeiter und Assistenten. Diese jungen Leute, die später fast ausnahmslos in die
etatmäßigen Stellen aufrücken, haben nach einer kurze» Vorbereitungszeit dieselben
Pflichten wie die übrigen Beamten, ja sie können in die Loge kommen, die Leitung
eines Staatsarchivs wenigstens zeitweise selbständig zu führen. Ihr Gehalt aber
steigt allmählich — es ist fast lächerlich, es zu sagen — von 900 auf 1500 Mark,
ohne jede Nebeubeziige. Und die Zeit, während der sie sich mit diesem Minimum
von Gehalt zu begnügen haben, ist nicht kurz, uuter deu jetzigen Verhältnissen müssen
acht bis zehn Jahre vergehen, ehe ein Hilfsarbeiter etatmäßig wird. Und diese
Leute siud schou nicht mehr ganz jung, wenn sie in den Archivdienst eintreten.
Ehe ein solcher junger Mann die dazu erforderlichen Studien, zu denen neuerdings
noch ein Fachexamen gekommen ist, beendigt hat, und ehe sich Gelegenheit findet,
ihn anzunehmen, ist er wenigstens 24 Jahre alt geworden, er wird also nicht vor
dem vierunddreißigsten Jahre etatmäßig. Diesen Übelständen würde am einfachsten
dadurch abgeholfen werden, daß mehr etatmäßige Stellen geschaffen würden, da
ja'^für die vielen Hilfsarbeiter nicht nnr zeitweilig, sondern dauernd Beschäftigung
vorhanden ist. Aber der Etat enthält keine einzige darauf zielende Forderung.
Hat der Archivbeamte endlich mit 34 Jahren das erhebende Bewußtsein, ein
ordentlich angestellter Beamter zu sein, so soll er nach dem Etat außer dem
Wohnungsgeldznschnß 2100 Mark erhalten; bisher waren es 1300 Mark. Die
hierin liegende Verbesserung ist aber nur scheinbar, denn durch eine andre Regelung
der Dienstalterszulagen ist es dahin gebracht, daß man jetzt wie früher dreimal
drei Jahre brauchen wird, ehe man von dem Aufaugsgehalt bis auf 3000 Mark
kommt.^ Von da ab erhält man weiter aller drei Jahre eine Zulage von 300 Mark,
bis man nach 27 etatmäßigen Dienstjahren den höchsten Gehalt von 4500 Mark
erreicht. Wer also mit 24 Jahren in den Archivdienst tritt und mit 34 Jahren
etatmäßig wird, hat die tröstliche Hoffnung, sich mit 61 Jahre» im Besitze von
4500 Mark jährlich zu sehen. Leider wird ihm wohl die Fähigkeit, diesen Mammon
zu genießen, inzwischen verloren gegangen sein.
Doch es ist auch noch von einer Zulage von 900 Mark die Rede, die die
obere Hälfte von 32 Archivbeamten, also im ganzen 16, erhalten sollen. Diese
Zulage ist ihnen von Herzen zu gönnen. Nur kommt zu diesem Vorteil, den
sie vor den jüngern voraus haben, »och der andre hinzu, daß sie, da in frühern
Zeiten die Verhältnisse besser waren, viel schneller in höhere Stellungen aufgerückt
sind. Ein Teil von ihnen hat eine außeretatmäßige Dienstzeit gar nicht durch¬
zumachen gehabt. Bei der Berechnung der Dienstnlterszulagen wird aber nur
die etatmäßige Zeit berücksichtigt,^) das ist den jüngern Leuten gegenüber eine ent-
schiedne Ungerechtigkeit.
Aber diese Zulage von 900 Mark wird ja auch den jüngern einmal zu teil,
da ja jeder vou ihnen die Hoffnung hegen darf, selber einmal zu deu obern 16
zu gehöre». Theoretisch ist das ganz richtig, in Wirklichkeit aber stellt sich die
Sache doch anders. Der jetzige jüngste etatmäßige Beamte muß erst 15 Vorgänger,
die jetzt 'meist im kräftigsten Mannesalter stehen, hinsterben sehen, ehe er zum
erstenmal in den Genuß jener Zulage tritt, die ihm endlich ein behagliches Dasein
ermöglicht. Die Aussichten der hinter ihm kommenden, jetzt noch nicht etatmäßigen
Beamten sind natürlich noch schlechter. Nun denke man sich eine Reihe junger
Leute, die auf den Tod von mindestens fünfzehn ihnen meist persönlich bekannten
Vorgängern geradezu angewiesen sind! Es ist gut, daß die Archivbeamten so fried¬
liche Leute sind, und daß wir nicht in den Zeiten der Renaissance leben, sonst
müßte man wahrhaftig Bedenken tragen, sich von einem jüngern Kollegen zu Gaste
laden zu lasse».
Und bei diesen Aussichten, die sich für den jedesmaligen Nachwuchs immer
ungünstiger gestalten, hat man noch deu Mut, eine Archivschule zu gründen! Wenn
der Staat junge Leute für eine bestimmte Thätigkeit ausbilden läßt, muß er ihnen
doch die Bürgschaft geben, daß ihnen diese Thätigkeit in absehbarer Zeit ein aus¬
kömmliches Lebe» gewähren wird. Wie die Sachen jetzt stehen, müßten die Archiv¬
aspiranten Narren sein, wenn sie nicht jede sich darbietende Gelegenheit ergriffen,
wo anders unterzukommen. Der Geschichtsprvfessor, der heutzutage seine Schüler
veranlaßt, die Archivlaufbahn einzuschlagen, handelt einfach gewissenlos.
Aber bald hätten wir die Krönung des Gebäudes vergessen! Wie die „Di¬
rektoren" der Bibliotheken, so sollen nach dem neuen Etat auch die Vorstände der
Staatsarchive „Funktionszulagen" erhalten. Aber nicht, wie dort, sämtliche Vor¬
stände, sondern nur die des geheimen Staatsarchivs in Berlin und die der sechs
Provinzialnrchive in Breslau, Koblenz, Düsseldorf, Hannover, Königsberg und
Marburg. Die Auswahl dieser sechs Provinzialarchive ist ganz willkürlich. Die
siebzeh» preußische» Staatsarchive sind vielleicht mit Ausnahme von drei oder vier
in ihrem Umfange nicht so von einander verschieden, daß ein solches Herausgreifen
gerechtfertigt wäre. Die Bevorzugung dieser sechs Archive wird also viel böses
Blut machen, besonders da das Prinzip der Anciennität hier durchbrochen wird.
Dabei ist aber noch ein andrer Übelstand. Es ist wünschenswert, daß jedes Archiv
seinen Vorstand möglichst lange behalte, da sich dieser in die örtlichen Verhältnisse
und die Geschichte der Provinz am besten eingelebt haben wird. Von nun an
aber wird man es keinem Vorstände der Archive zweiter Klasse verdenken können,
wenn er darnach strebt, Vorstand eines der besser dotirter Archive zu werden.
Die Forderungen, die wir auf Grund dieser Betrachtungen aufzustellen haben,
lassen sich kurz dahin zusammenfassen: Man schaffe mehr etatmäßige Stellen, man
helfe der ungünstigen Lage der jüngern Beamten ab, und man debile die „Funktions-
znlagen" auf die Vorstände sämtlicher Archive aus, vielleicht die drei bis vier
kleinsten ausgenommen. Erst dann werden die Archivbeamten das Gefühl haben,
hinter den übrigen Beamten des Staates nicht mehr ungerechterweise zurückgesetzt
zu werden.
Homers Gesänge in niederdeutscher poetischer Uebertragung von August Dühr, Teil I.
niederdeutsche Ilias. Kiel und Leipzig, Lipsius u. Tischer, 1395
Leser Fritz Reuters erinnern sich der köstlichen Szene im „Dorchlänchting,"
Wo der treffliche Korrektor und Kantor Äpinus seinen schlecht präparirten Sekun¬
danern eine der herrlichsten Szenen der Ilias, den Abschied Hektors von Andromache,
ans gut plattdütsch klar zu machen sucht und dabei unter anderm das schier un-
übersetzbare homerische sa^vote mit „Düwelskirl" wiedergiebt. Der wackre Ver¬
fasser dieser niederdeutschen Ilias möge uns verzeihen, daß uns diese Geschichte
bei feinem mühsamen, in schwerem Ernste und mit wahrer Begeisterung unter-
nommnen Werte eingefallen ist. Er hat die Riesenarbeit geleistet, die ganze Ilias
in gereimten Nibclungenversen (nicht Strophen!) in das Plattdeutsche Fritz Reuters
zu übertragen, und hofft dadurch sie deu Deutschen, nicht etwa nur den Nieder¬
deutschen, weit näher gebracht zu haben als Voß. Wir müssen das für einen
Irrtum halten. Zunächst hat die Vossische Übersetzung trotz mancher Mängel und
Fehler eine Art klassischer Geltung erlangt, namentlich auch in ihrer Wieder¬
gabe homerischer Wendungen und Beiwörter, die uns in jeder andern deutschen
Form fast fremdartig erscheinen, und damit in ihrer Art eine Stellung gewonnen
wie etwa Luthers Bibelübersetzung, die auch uoch nicht entthront worden ist; so-
dann und vor allem lassen wir Oberdeutschen uus das Plattdeutsche herzlich gern
gefallen bei Schilderungen aus dem niederdeutschen Leben, vor allem komischer oder
auch gemütvoller Szenen, aber für sozusagen höhern Stil ist es uns gewissermaßen
nicht ernst oder nicht erhaben genug, es wirkt da sür uns durch deu Widerspruch,
ehrlich gesagt, komisch. Das ist vielleicht Gefühlssache, aber ändern läßt sich daran
gar nichts. Die geschichtliche Entwicklung hat nun einmal das niederdeutsche
— außer in Holland und Belgien — auf die Stufe eines Volksdialekts herab¬
gedrückt, und darauf beruht unsre schwer errungne sprachliche Einheit. Es ist möglich,
daß Dührs gewiß interessanter Versuch in Niederdeutschland Anklang findet, ob¬
wohl die Gebildete» dort ebenso gut Voß lesen können, und das Volk im engern
Sinne die Ilias weder in dieser noch in der Dührscheu Übersetzung lesen wird;
im übrigen Deutschland wird sie sich niemals einbürgern.
einen ist von der entscheidenden Stelle der Gedanke einer deut¬
schen Weltpolitik ausgesprochen und die energische Unterstützung
der Zuhörer, d. h. deutscher Volksvertreter für die Durchführung
dieses Gedankens in Anspruch genommen worden, da beginnen
Blatter auch der „staatserhaltenden" Mittelparteien abzuwiegelu,
setzen auseinander, daß unser Flotteugründungsplan noch gar nicht ausgeführt
sei (was doch nur die Schuld derselben Volksvertreter ist), und beweisen, daß
wir weder die Mittel hätten, eine große Flotte zu erhalten, noch die Leute,
sie zu bemannen, kurz, geben sich die möglichste Mühe, das bischen eben auf¬
lodernde Begeisterung mit seichten Redensarten zu ersticken. Ja diese weisen
Thebaner warnen bereits ängstlich vor einer Politik der „Abenteuer" und haben
sogar deu Versuch gemacht, alter, süßer Gewohnheit folgend, den Fürsten Bis-
marck für sich in Anspruch zu nehmen und gegen den Kaiser auszuspielen,
weil die Hamburger Nachrichten in einem Artikel betont haben, daß eine Welt¬
politik eine Politik deutscher Interessen sein müsse. Nun hat dasselbe Blatt
diesem perfiden und thörichten Spiele ein rasches Ende bereitet, indem es für
eine ganz bestimmte, schon oft aufgestellte Forderung, unsre gepanzerten Kreuzer
so zu vermehren, daß wir genug Schiffe zur Hand haben, um überall einzu¬
greifen, wo es notwendig ist, mit aller Bestimmtheit eingetreten ist, und da
wir dies als die Meinung auch des Fürsten Bismarck betrachten dürfen, so
können wir uns der Übereinstimmung zwischen dem Kaiser und seinem alten
Kanzler nur aufrichtig freuen. Und war es denn auch anders zu erwarten?
Was hat denn der Kaiser mit seinem Ausdruck „Weltpolitik" sagen wollen?
Ist darunter etwa eine Abenteuerpolitik zu verstehe», die aus Eitelkeit und
Ruhmsucht überall mitreden will, auch wo wir nichts zu suchen haben? Es
wäre eine Beleidigung, auch nur daran zu denken. Der Monarch hat es für
seine Pflicht als Oberhaupt der deutschen Nation erklärt, ihre Angehörigen
und ihre Güter überall zu schütze», wo sie auch sein mögen, und sie fester mit
dem Mutterlands zu verbinden, als es bisher der Fall gewesen ist. Das ist
deutsche Interessenpolitik der Gegenwart, nichts mehr und nichts weniger. Je
weiter deutsche Interessen reichen, desto weiter hat die deutsche Politik ihre
Kreise zu ziehen und ihre Aufgabe» zu erstrecken. Das ist ein ganz selbst¬
verständlicher Gedanke, und nichts ist neu daran, als der allerdings sehr wich¬
tige und erfreuliche Umstand, daß er an dieser Stelle offen ausgesprochen
worden ist. Gewiß, die Rede vom 18. Januar 1896 war eine Programm¬
rede, bei aller Kürze ebenbürtig der vom 18. Januar 1871; beide entsprechen
vollständig der Zeitlage. Die eine zeichnete die Aufgabe des eben geeinten
Deutschlands, das sich seine Stellung unter den Völkern Europas erst zu
sichern hatte und sie daran gewöhnen mußte, mit ihm, als mit einer waffen-
ftarken, aber keineswegs eroberungssüchtigen Macht zu rechnen. Die andre
betont, nachdem diese Aufgabe so glänzend gelöst ist, daß bei der Jubelfeier
der Reichsgründung selbst Russen und Franzosen das anerkannt habe», die Zeit
sei gekommen, wo Deutschland seine Stellung auch als außereuropäische Macht
einzunehmen habe. Dank dir, wackrer Jameson! Deinem Namen ist ein Platz
auch in der deutscheu Geschichte gesichert! Schon ist es sonnenklar, daß das
Unternehmen, eine der gemeinsten und ruchlosesten Spekulationen der britischen
Geschichte, von langer Hand vorbereitet war, und daß nicht die Chartered
Company und nicht Cecil Rhodes, sondern der handfeste, brutale Egoismus
des englischen Volkes dahinter gestanden hat und noch dahinter steht, denn die
Sache ist nicht beendet, sondern erst begonnen. Das beweisen die meisten eng¬
lischen Zeitungen, das die rührend offenherzigen Tischreden englischer Minister,
die nach dem hübschen Satze des wackern Jsolani: „Der Wein erfindet nichts,
er schwatzts nur ans," bei Tafel thatsächlich alles zugestehen, was sie amtlich
mit Entrüstung abgeleugnet haben. Überall in der Welt stoßen sehr reale
deutsche und englische Interessen aufeinander, und überall, wo es mit und ohne
Anstand geht, sucht uns der ehrliche John Bull den Wind aus den Segeln
zu nehmen. Und da nennen gewisse höchst „patriotische," höchst „staatserhal¬
tende," höchst „loyale" Leute die, die für eine deutsche Weltpolitik eintreten,
„Schwärmer" und warnen vor „Abenteuern"! Nun, auch das Strebe» nach
der deutsche» Einheit hat einmal als Schwärmerei gegolten und ist sogar
polizeilich und gerichtlich bestraft worden. Das ist nun leider mit der neuen
„Schwärmerei" für deutsche Weltpvlitik nicht gut möglich, dasür steht ihr erster
Vertreter zu hoch. Die sind nicht Schwärmer, die das notwendige erkenne»
und gethan wissen wolle», aber die sind kurzsichtige, kleimnütige Thore», die
das nicht erkennen. Sie dürfe« es nicht wagen, den sonst oft gering geschätzten
Italienern ins Auge zu sehen, die trotz ihrer knappen Mittel ein Heer und
eine Flotte ersten Ranges unterhalten, und die jetzt Bataillon auf Bataillon
und Batterie auf Batterie mich Abesshnien schicken, ohne zu fragen, wie hoch
die Rechnung am Ende werden wird, während das ganze Volk, wenige Quer¬
kopfe ausgenommen, den abgehenden Truppen zujubelt und die Tapfern von
Umba Aladschi und Malatie als nationale Helden feiert, wie einst die Ge-
fallnen von Dogali. So verhält sich ein großes, tapfres, selbstbewußtes Volk!
Bei uns ist es geradezu die Pflicht jedes Patrioten, einzutreten für die Ver¬
mehrung der Mittel, um unsre überseeischen Interessen, die von Jahr zu Jahr
wachsen, zu schützen, damit die Reichsregierung empfindet, daß sie nicht allein
steht, und damit der Reichstag, wenn er über seinem öden Parteitreiben und
Parteigezänk seine Pflicht vergessen sollte, von unten, von dem Volke, das er
zu vertreten hat, gedrängt wird, sie zu erfüllen. Was ans der von Leipzig
aus angeregten Sammlung für die Vermehrung unsrer Flotte materiell heraus¬
kommt, ist nicht das wichtigste; mögen kluge Leute darüber spotten, wenn nur
der Gedanke von der Notwendigkeit dieser Vermehrung in immer weitere Kreise
dringt, so erfüllt sie ihren Zweck. Sogar in die gebildete Jugend beginnt er schon
einzudringen. Auch für unsre innere Politik wäre es ein wahrer Segen, wenn
neben den ganz unpolitischen und daher mir spaltenden Idealen großer Par¬
teien und neben der kläglichen Gedanken- und Ideenlosigkeit andrer wieder
neue, große, nationale Ideale über unser Leben eine Macht gewonnen, nach¬
dem die alten verwirklicht und also keine Ideale mehr sind. Sonst wird es
heißen: das deutsche Volk hat große Männer hervorgebracht, aber selbst ist es
nicht groß gewesen, der große Moment traf auf ein kleines Geschlecht. So
darf es von uns niemals heißen.
ud wenn ich mit Menschen- und mit Engelznngen redete und
hätte der Liebe nicht, so wäre ich ein tönendes Erz und eine
klingende Schelle. Worte, Worte, nichts als hohle Worte fast
überall, wohin man sieht und hört, und womit einer trostlos
des Abends zu Bett gegangen ist, damit steht er ohne Hoffnung
des Morgens wieder auf. Nur aus der Liebe sind die großen Thaten der
Menschen geboren worden, nur aus ihr werden sie immer wieder geboren
werden. Niemals aber seit der Wiederaufrichtung des deutschen Reichs hat
es mehr solcher Thaten bedurft als in unsern Tagen. Thaten der Selbst-
verleugnung werden von uns verlangt, nicht jener Selbstverleugnung, die im
Schopenhanerschen Sinne den Willen verneint, um abseits von dem Drängen
der Zeit einen Ruheplatz zum Sterben zu gewinnen, sondern die den Willen
werkthätig in den Dienst des Ganzen stellt, Thaten eines „aristokratischen Radi¬
kalismus," der, wenn es not thut, die Selbstsucht mit der Wurzel aus¬
reißt, und der das Herzblut strömen läßt, um den Boden des Vaterlands
damit zu düngen.
Die Geschichte, die keinen Augenblick lässig wird, den warnenden Finger
zu erheben, hat gerade vor unsrer letzten Festfeier dem deutschen Volke ein
deutliches Memento an die Wand geschrieben. Wesenlos zwar, aber doch in
klaren Umrissen huschte vor unsern Augen das Schreckgespenst eines Krieges
mit England vorüber. Mau halte mir nicht vor, daß ich zu schwarz sähe
oder gar bange sei. Wegen der Depesche unsers Kaisers wird John Bull
keinen Krieg mit uns beginnen. Wer mag wissen, wozu der Lärm in den
Zeitungen nötig war: vielleicht haben die politischen Macher an der Themse
die schöne Gelegenheit nur benutzen wollen, um der gepreßten Stimmung im
Volke, die wegen der vielen Demütigungen Englands in der letzten Zeit stickig
und muffig genug sein mag, uach einer Seite hin Luft zu verschaffen, wo
man zur Zeit noch ungestraft so viel drohen darf, wie man Lust hat. Frank¬
reich gegenüber mit dem Säbel zu rasseln oder Nußland mit der Orlogflagge
zu bedrohen, hütet man sich mit gutem Recht, aber dem zur See ohnmächtigen
Deutschland darf der englische Vetter ziemlich nahe vor der Nase die Faust
schütteln, ohne gleich das ärgste befürchten zu müssen.
Nein, die englische Dogge knurrt bloß und fletscht die Zähne; zum beißen
braucht es deshalb nicht zu kommen. Geradezu lächerlich war die Drohung
mit dem Anschluß an den Zweibnud, freilich auch beleidigend. Denn englische
Zeitungsschreiber müssen uns für verteufelt naiv in politischen Dingen halten,
wenn sie zu glauben wagten, denkende Deutsche, den» nur auf solche kommt
es an, mit ihrem Spuk gruseln zu macheu. Auf den ruhig zusehenden Mann
macht nur die Löwenhaut Eindruck, die um die wirklichen lebendigen Glieder
des starken Raubtiers gehüllt ist. Um Frankreich zu gewinnen, muß sich
England mit andern Zugeständnissen nahen, als in einer unbedeutenden Grcnz-
regulirung am Mekong liegt. Ja, wenn es Ägypten räumen wollte, dann
könnte man es erleben, daß die Trikolore neben der Flagge Großbritanniens
wehte. Aber wenn es England um der französischen Freundschaft willen wirk¬
lich über sich gewinnen könnte, sogar diesen Schnitt ins Fleisch nahe am Sitze
des Lebens zu machen, was würde es Nußland bieten können, um ohne Vor¬
behalt als dritter im Bunde willkommen zu sein? In Armenien könnte Eng¬
land Zugeständnisse machen, aber Nußland ist klug genug, nicht von schein¬
barer englischer Großmut zu nehmen, was ihm mit der Zeit von selbst in
den Schoß fallen muß. Die russische Diplomatie müßte nicht das sein, wofür
sie in aller Welt mit Recht gehalten wird, wenn sie sich in den Köder ver-
beißen wollte, der ihr in der Türkei vorgehalten wird. „Aktuell" ist das
Interesse Rußlands in Ostasien und in Indien, und hier wird ihm aus den
besten Gründen England nicht entgegen kommen.
Bange machen gilt nicht. Wenn einer der Bündnisse wegen Grund zur
Sorge hat, so ist es England, nicht Deutschland. Dies ist in der letzten Zeit
von den deutschen Blättern so oft gesagt worden, daß man eigentlich nicht
nötig hatte, es zu wiederholen. Aber vielleicht lohnt es sich, gerade dem
britischen Stolze gegenüber noch einmal an die Grüude zu erinnern, ans die
wir uns glücklicherweise beziehen können.
Die deutsche Diplomatie hat, Gott sei Dank, ihre Tradition, und noch ver¬
steht sie es, das Material zu handhaben, das ihr zur Verfügung steht. Um von
der bekannten alten Wahrheit zu schweigen, daß deutsche Interessen nirgends mit
den russischen zusammenstoßen, daß wir vorläufig überall ruhig zusehen können,
wo Nußland seinen Vorteil wahrnimmt, so „hängen" wir auf der andern Seite
mit Frankreich ernstlich nur an einer Stelle. Aber ist es denn notwendig, daß
gerade hier, wie man zu sagen pflegt, der Fuchs zum Loch herauskommen
muß? Fünfundzwanzig Jahre hat die deutsche Staatskunst den sow8 aus auf¬
recht erhalten, und mögen Franzosen darüber denken und sagen, was sie wollen,
es ist doch Thatsache, daß nur der Mäßigung der deutschen Politik die Re¬
publik jenseits des Rheins ihr Bestehen zu verdanken hat. Die Geschichte
dieser Politik wird erst noch geschrieben werden; wenn es aber geschehen ist,
dann wird man staunen, welchen Zwang sich die von Berlin aus geleitete
Diplomatie in weiser Voraussicht auferlegt hat. So etwas trägt seine Früchte,
und wenn es nur so viel wäre, daß sich die französische Regierung daran hat
gewöhnen müssen, die elsässisch-lothringische Frage in Europa uicht als den
Angelpunkt betrachtet zu sehen, an dem die Welt hängt. Straßburg und Metz
sind noch immer Nägel im Fleische der Franzosen, aber sie schmerzen weniger
als im Anfang, und es läßt sich auch über andre Dinge mit unsern Nachbarn
reden. Die Engländer haben selber mit dafür gesorgt, daß dem so ist, und
wenn, ohne sich selber im Lichte zu stehen, an vielen Punkten im Auslande
die deutsche Politik die französische unterstützen kaun, so ist das ein Vorteil,
den die englische nur mit den schwersten Opfern würde wieder einbringen
können. Aber nicht bloß in den überseeischen Beziehungen und den Kolonien
finden sich für Deutschland und Frankreich solche Punkte zur Annäherung, wie
sie England erst nach Wegräumung einer Welt von Selbstsucht für sich gewinnen
könnte, sonder» in Europa selbst braucht Deutschlands Staatskunst den Plänen
Frankreichs, wenn sie nur nicht gegen die Sicherheit seiner Verbündeten ge¬
richtet sind, nicht in der Weise im Wege zu stehen, daß sie eine Macht¬
ausdehnung des Nachbars schon an der Schwelle zurückweist. Im deutschen
Volke herrscht eine so hohe Achtung vor Verträgen, wie in keiner Nation,
aber wenn England ihre Heiligkeit so wenig schätzen wollte, daß es die Monroe-
doktrin, die es in Amerika bekämpft, in seinem Interesse auf Afrika übertrüge,
dann würde man in Deutschland mit Recht die Frage stellen, zu welchem
Zwecke wir uns an Englands Seite noch lange für die Aufrechterhaltung inter¬
nationaler Verbindlichkeiten in Europa erhitzen sollen. Wollte England die
Unabhängigkeit Transvaals nicht achten, so würde das ein Vorgang sein, der
in seinen Folgen allen Aussichten des deutschen Volkes ans selbständige Aus¬
dehnung auf dem einzigen Kontinent, wo wir lebensfähige Kolonien besitzen,
alles Licht verbaute. Das aber würde wieder nichts andres heißen, als auf
die Dauer unser nationales Leben in Frage zu stellen. Glauben denn die
Engländer wirklich, daß wir uns ruhig die Kehle von ihnen zuschnüren lassen
werden, ohne uns mich deu Mitteln umzuthun, die, mögen sie zu haben sein,
wo sie wollen, darnach angethan sind, den starken Verbündeten auf unsre Seite
zu ziehen, weil sie ihm Ersatz für frühere Verluste bieten?
So liegen für uns die Dinge. In der That sehr günstig, wenn man sie
nur von der Seite der Bündnismöglichkeit ausieht, und das wissen ernsthafte
englische Politiker sehr gut. Von dieser Seite also brauchen wir keine Furcht
zu haben, und wenn auch Sir John Balfour in einer großen Volksversamm¬
lung in Manchester für einen Staatsminister sehr laut tönende Worte geredet
hat, so hatten diese doch mehr deu Zweck, den Zorn des thörichten englischen
Publikums zu beschwichtigen, als eine Drohung an Deutschland zu richten.
Aber wenn das auch alles richtig ist, und es ließe sich dein Gesagten
noch eines oder das andre hinzufügen, so ist doch der Schatten an der Wand
dagewesen, oder er ist vielmehr noch da, und von einer andern Seite betrachtet,
sieht er sogar sehr bedenklich aus. Es soll nicht darauf hingedeutet werden,
daß bei dem Zwischenfall, den die Depesche unsers Kaisers hervorgerufen hat,
unsre teuern Verbündeten, wenn man auf Preßstimmeu etwas geben darf, eine
recht eigentümliche Miene machten, sondern das schlimme, ja furchtbare ist,
daß die große Mehrzahl des deutscheu Volkes uoch gar keine Ahnung davon
hat, um was es sich eigentlich handelt.
Es ist Thatsache, daß sich seit Jahrzehnten die Nationen der Neuzeit um
die großen Weltmeere zu gruppiren beginnen, wie die Staaten des Altertums
um das Becken des Mittelländischen Meeres. Bei der ungeheuern Macht-
entfaltung der Weltmächte, und noch mehr bei dein fabelhaften Aufschwung,
deu die Technik genommen hat, giebt es kaum uoch eine Entfernung, und auf
deu Wogen des Ozeans spielt sich dasselbe ab, was einst auf deu verhältnis¬
mäßig engen Räumen zwischen der Straße von Gibraltar und den Dardanellen
vor sich ging. Die eigentlichen Entscheidungsschlachten werden, man mag
sagen, was man will, der Hauptsache nach nicht zu Lande, sondern auf dem
Meere geschlagen werden.
Man hat trotz alles Geschichtsunterrichts in unsern Schulen, vielleicht
auch ebeu deswegen, eiuen wahre» Horror vor deu Lehren der Geschichte.
Trotzdem hier ein Beispiel. Im zweiten punischen Kriege würde trotz allen
Heldenmutö und der zähesten Widerstandskraft das römische Volk haben unter¬
liegen müssen, wenn es sich nicht zur See behauptet hätte. Die kleinen See¬
siege, die die Römer über die karthagische Flotte an der spanischen und sizilischen
Küste davontrugen, wogen mehr als alle glänzenden Landsiege des Hannibal,
weil sie den Römern die Herrschaft auf dein Meere sicherten. Nur wer so
diesen Riesenkampf zwischen den beiden Nationen des Altertums betrachtet,
kann seinen wahren Sinn verstehen-
In diesen Tagen hat ein Hauptmann vom großen Generalstabe, Freiherr
von Lüttwitz, im Militär-Wochenblatt eine Studie darüber veröffentlicht, ob
eine Invasion in England, wie man gewöhnlich annehme, unmöglich sei oder
nicht. Er kommt zu dem Ergebnis, daß eine solche, richtig ins Werk gesetzt,
ebenso wohl durchführbar sei wie die letzte, die im Jahre 1688 dem spätern
Könige Wilhelm III. gelang. Ohne der übrigen Beweisführung näher zu
treten, so ist das genannte Beispiel deshalb nicht sonderlich gut gewählt, weil
fünf Sechstel der Bewohner von England der damals geplanten Invasion mit
gespanntester Hoffnung entgegensahen. Als Wilhelm von Oranien einmal in
der Bai von Tvrboy gelandet war, dn glich sein Vorrücken gegen London
mehr einem Triumphzug als einer feindlichen Annäherung. Daß unter
günstigen Umständen ein feindlicher Einfall in England anch jetzt noch möglich
sei, soll nicht bestritten werden, aber eine andre Frage ist es, ob, wenn die
Bevölkerung dein Feinde gegenüber einig ist und die Flotte noch schwimmt,
diese Landung auch Aussicht aus Erfolg habe. Mögen alle weitern Erörterungen
hierüber unterbleiben; aber das Bedauern darüber kann ich nicht unterdrücken,
daß die Studie überhaupt in diesem Augenblick veröffentlicht worden ist. Denn
da sie von der Voraussetzung ausgeht, „daß schnelle und durchschlagende Er¬
folge nur zu Lande würden errungen werde» können," so leistet sie den Gegnern
unsrer Marine Vorschub in der Behauptung, daß das deutsche Reich an dem
gegenwärtigen Bestände seiner Flotte genug habe. Nun, mögen diese Leute
die Sätze des Herrn von Lüttwitz für ihre Zwecke verwerten, wie sie Lust haben,
sie sind ja unverbesserlich. Aber das schlimme ist, daß damit auch vielen
andern, wohldenkenden Menschen das Kissen glatt gestrichen wird, auf dem sie
weiter dämmern möchten.
Von einem Offizier der Landarmee erscheint es als selbstverständlich, daß
er seine Waffe unter allen Umständen für die entscheidende ansieht. Auch
Hannibal hat das gethan. Aber es war trotz all seines militärischen und
staatsmännischen Genies ein verhängnisvoller Irrtum. Wenn demnächst - - wie
lange es noch dauern kann, wer will das wissen? — der große Krieg cuis-
bricht, dann wird es sich, was England angeht, zunächst nicht um eine In¬
vasion handeln, sondern um eine Vekämpfnng seiner Flotte auf dem Weltmeere
und um Niederlegung der starke» Bollwerke, durch'die es die Herrschaft über
die Meere in den Händen hält- Bevor irgend welche feindliche Mächte die
englische Küste zu erzwingen suchen, werden sie sich um seine Außenwerke halten.
Wie und wo, unter welcher Beteiligung der dabei interessirten Mächte dies
geschehen wird, darüber kann niemand ein Wort sagen. Auch das ist möglich,
daß gerade die entscheidenden schlüge in der Nähe der englischen Häfen fallen,
aber niemand wird daran denken, erobernd den Fuß auf Englands Boden zu
setzen, bevor er seine Flotte so geschlagen hat, daß sie unfähig zum Handel»
geworden ist. Was giebt es da nicht alles für Möglichkeiten! Mag aber ge¬
schehen, was da will, mag man thörichterweise sogar daran denken, mitten
durch die englischen Schiffe hindurch Hunderttausende von Soldaten an irgend
einem Punkte der britischen Küste zu landen, ja alles dieses und noch vieles
andre zugegeben, so wird es doch ein Krieg sein, an dem niemand, der große
Hoffnungen ans ihn setzt, teilnehmen kann, ohne mit einer starken Flotte auf
dem Schauplatze zu erscheinen.
In frühern Kriegen der europäischen Mächte handelte es sich um Grenz¬
streitigkeiten, um Abtretung von Landstrichen und Provinzen, um die Erhal¬
tung des Gleichgewichts innerhalb der den Weltteil unischließenden Grenze; in
dem ersten Kriege der Zukunft wird die Regulirung der Weltherrschaft in
Frage stehen. Mit Schiffen und Kanonen wird mau die Entscheidung darüber
herbeiführen, ob einer von den Großstaaten die andern so mächtig überragen
darf, daß im Grunde er allein als gebietend erscheint. An der Lösung dieser
Frage hat Deutschland nicht bloß, wie man zu sagen pflegt, ein „hervorragendes
Interesse," sondern mit ihr ist geradezu die Sicherheit seiner Zukunft, seines
Bestehens verknüpft. Das deutsche Reich hat ein nicht von der Gnade andrer
abhängiges Gebiet zu beanspruchen, wohin es den Überschuß seiner Volkskraft
abführen kann, ohne ihn zu verlieren. Die soziale Frage, die bei uns so schwer
wiegt wie irgendwo, würde mit der sichern Festlegung unsers außereuropäischen
Machtgebietes zum guten Teile gelöst werden.
Daß dem so ist, mögen die Widersacher unsrer überseeischen Politik leugnen;
dennoch bleibt es eine Thatsache, eine Thatsache so unbezweifelbar wie die, daß
im grauen Altertum die Athener den phönizischen König Minos mit Schiffen
bekämpfen mußten, wenn anders sie nicht den schmählichen Tribut an Jüng¬
lingen und Jungfrauen, zu dem sie dem Phönizier verpflichtet waren, noch
weiter entrichten wollten. Tribut irgend welcher Art zu zahlen, dazu ist much
das deutsche Volk zu gut, und deshalb müssen wir gerüstet sein für den Augen¬
blick, wo die große Stunde der Abrechnung schlägt. Wir müssen Schiffe haben,
viel, viel mehr, als jetzt in unsern Häfen liegen, erzgepauzerte und mit ver¬
nichtenden Donner versehene große Schlachtschiffe, die den Stoß des Feindes
aufzunehmen imstande sind, und schnelle Kreuzer, die die weiten Meere durch¬
fahren und von der fernen Insel die gefangne Ariadne als Bellte heimbringen.
Wollte Gott, daß alle Deutschen diese große und doch so einfache Wahrheit
begriffen, dann aber nicht bei sich behalten, sondern als eine That wieder aus
sich herausstellen möchten!
Einige Zeitungen wollten wissen, daß es in letzter Zeit mit der Stim¬
mung für die Flotte im Volke besser geworden sei. Ja, Reden sind durchs
Land gerauscht, und wenn es nach der Zahl der Worte ginge, die gesprochen
worden sind, so konnte man sich leicht durch ihren Schwall gedeckt glauben.
Aber es ist eine alte Wahrheit, daß Worte allein noch niemals etwas genutzt,
sondern eher geschadet haben. Denn einen böswilligen Gegner hindert nichts,
das Wort für die That zu nehmen und darnach sein Verhalten einzurichten.
Nur die That kaun uns erretten, und wenn sie der Reichstag nicht auf sich
nehmen will, dann sollte das Volk selbst, geführt von patriotischen Männern,
damit vorgehen. Als in dem ersten punischen Kriege gewaltige Stürme die
besten Flotten Roms vernichtet hatten und Senat und Behörden, verzagt ob
des großen Unglücks, die Hände in den Schoß legten, da nahmen sich reiche
Privatleute der Sache an und gaben die Gelder her, die den Bau einer neuen
Flotte ermöglichten. Soll so etwas bloß in der Geschichte verzeichnet stehen,
um durch die Bewunderung fremder Größe dem Gemüt für den Augenblick
eine wohlthuende Erregung zu bereiten?
Ein kleiner Anlauf zu einer ähnlichen patriotischen That ist ja auch bei
uus in den letzten Wochen gemacht worden. Aber der Vorschlag, durch ein¬
malige freiwillige Gaben die großen Summen zu beschaffen, die in unserm Falle
nötig sind, erinnert doch gar zu sehr an die Verse:
Was soll denn aber nun geschehen? Was kann gethan werden, damit
nicht auch die hier uiedergeschriebuen Worte nur Worte bleiben? Um gerades
Weges zum Ende zu gelangen, so ergeht hiermit an alle patriotischen Männer,
denen die Zukunft des Vaterlands am Herzen liegt, die Aufforderung, sich nicht
mit einer einmaligen Belastung ihres Geldbeutels zu begnügen, sondern, soweit
es notthut, sich für eine Reihe von Jahren zur Zahlung einer bestimmten
Flottensteuer bereit zu erklären. Ich gehe hiermit voran und bin erbötig, bis
der Zweck erreicht ist, jährlich das Viertel von dem, was meine Staatssteuern
betragen, für den Bau von Kreuzern und Panzern einziehen zu lassen. Jeder
deutsche Mann, den Erfahrung und Stellung im Leben dazu befähigen, die
große Sache in die richtigen Wege zu leiten, soll das Recht haben, mich jeder¬
zeit beim Worte zu halten.
cum man alles populäre Geschreibsel über Kunst lesen sollte, so
hätte man wahrhaftig viel zu thun. Ich bilde mir nicht einmal
ein, aus der Dürerlitteratur, die ich doch ziemlich genau ver¬
folge, jede populäre Erscheinung zu kennen. So hatte ich denn
auch bis vor kurzem nicht Notiz genommen von der Dürer-
biographie eines gewissen Herrn Anton Weber, von dem wir schon ein schlechtes
Buch über Dill Riemenschneider habend) Da sie mir aber einmal durch Ver¬
mittlung eines meiner katholischen Zuhörer in die Hände gefallen ist, will ich
mich doch über die Frage, die hauptsächlich darin behandelt wird, eingehender
aussprechen, nicht etwa weil ich Herrn Weber für wichtig genug hielte, ihn
ausführlich zu widerlegen, sondern weil ich einmal an einem Beispiel zeigen
möchte, wie in klerikalen Kreisen heutzutage populäre Kunstgeschichte gemacht
wird.**)
Ich schlage die dünne Broschüre auf. Vermutlich wird es sich um einen
Versuch handeln, Dürer in konfessionellen Sinne auszuschlachten. Und richtig!
Von 148 Seiten einschließlich des Registers sind allein 70 dein „Glaubens¬
bekenntnis Dürers" gewidmet. Die vorhergehende eigentliche Biographie ist
im höchsten Grade dürstig, sie soll auch offenbar nur als Vorwand für das
folgende dienen. Der Verfasser wollte den größten Maler Deutschlands für die
katholische Kirche retten. So schrieb er in der Geschwindigkeit zu seiner Ten¬
denzschrift eine biographische Einleitung, die sein Buch verkäuflicher machen
sollte. Aber was für eine Einleitung! Welche heitere Selbstgenügsamkeit gehört
dazu, Dinge, die schon tausendmal gesagt, und zwar viel besser gesagt sind,
hier in angemessener Verkürzung und Verwässernng zum tausendundciuteumale
zu sagen! Welche Unkenntnis der Litteratur verrät sich darin, daß z. B. die
Dürerbiographie des Katholiken Springer, die dem Verfasser freilich sehr un-
bequem war, ebenso die Schriften von Bischer und Thode, um nur ein paar
zu nennen, mit keinem Wort erwähnt werden, wahrend der Verfasser ganz
gleichgiltige Spezialfvrschungen, die in einer populären Darstellung überhaupt
nichts zu suchen haben, nur deshalb anführt oder gar ausführlich beurteilt,
weil sie ihm zufällig in die Hände gefallen sind! So kann man sich denn
nicht wundern, daß dieser Teil schlechterdings nichts neues enthält. Doch
halt, ich will nicht ungerecht sein. Einiges Neue findet sich doch, und es ist
so schön, daß ich es dem Leser nicht vorenthalten will.
So wird uus z. B. erzählt, daß Dürers Braut, Agnes Frey, ein „schönes"
Mädchen gewesen sei, an den Holzschnitten der Apokalypse wird hervorgehoben,
daß sie ausgezeichnet seien durch die „Gewandtheit der Formengebung." Wir
erfahren, daß Dürer in der deutschen Litteratur eine hervorragende Stelle ein¬
nehme als Vorgänger — Winckelmanns. Wir hören, daß der Künstler seine
Gemälde erst seit 1503 mit der Jahreszahl bezeichnet habe, in beweglichen Worten
wird uns erzählt, wie Dürer kurz vor seinem Tode einen Salvator gemalt
habe, seinen „Schwanengesang, seine letzte Betrachtung beim Nahen des Todes" —
während das betreffende Bild (der Sammlung Felix) aus der frühesten Zeit
seiner künstlerischen Thätigkeit stammt! Es würde zu weit führen, wenn ich
jedes dilettantische Mißverständnis, jede Schiefheit des Urteils, jede Aus¬
lassung wichtiger Dinge,") die dieser Abschnitt enthält, einzeln aufführen wollte.
Daß der Verfasser trotz aller Liederlichkeit der Arbeit doch die Anmerkungen
der neuen, von Fusse und mir unternommnen Dürerausgabe, und zwar bei
ganz gleichgiltigen Dingen wie Preisberechnungen n. dergl., kräftig benutzt und
teilweise wörtlich ausgeschrieben hat, sei nur nebenbei erwähnt.
Am schönsten sind aber in diesem Teile die Bemerkungen des Verfassers
über die Darstellung des Nackten.*") Das Nackte wirkt auf ihn, wie ein rotes
Tuch ans den Puter. Wie unangenehm, daß der „katholische" Künstler Dürer
so viele nackte Figuren gemalt und gestochen hat! Wie bringt man nur diese
Nacktheit ans der „katholischen" Kunst weg? Nichts einfacher als das: mau
bürdet sie dem Humanismus auf. „Sein (Dürers) häufiger Gebrauch des
nackten aber ist eine allzu große Nachgiebigkeit gegen humanistische Ge¬
schmacksverirrung und ein Vergehen gegen die Wahrheit. Denn in Wirk¬
lichkeit erscheint nicht einmal ein Kind unter regelrechten Verhältnissen un¬
bekleidet vor unserm Auge, und es ist schlechthin widersinnig, den menschen-
gewordnen Sohn mis Kind auf dem Arme der Mutter oder in der Krippe
nackt darzustellen." Welche Harmlosigkeit in kulturgeschichtlicher Beziehung
gehört dazu, wenn man über derartige Dinge schreibt, nicht zu wissen, daß
kleine Kinder damals sehr häufig nackt herumliefen! Hat der Verfasser nie¬
mals etwas von der Holbeinschen Madonna des (katholischen) Bürgermeisters
Meyer von Basel gehört, auf der das jüngste Kind des Stifters im Vorder¬
grunde splitternackt, und zwar in einer Weise dargestellt ist, daß man sieht,
wie sehr sich der Künstler über diese herzigen nackten Formen gefreut hat? Ich
rate dem Verfasser, sich dieses nackte Kind, das einst an geheiligter Stätte
stand, recht genau anzusehen, er wird vieles an ihm finden, worüber er
sich höchlich ärgern muß. O diese sündige Nacktheit! Ferner rate ich ihm,
das erste beste Buch über die Geschichte der Malerei oder des Kupferstichs
durchzublättern, damit er sich überzeugt, daß nicht erst Dürer, nicht erst die
Künstler des Humanismus das Christkind nackt dargestellt haben, sondern schon
die alten Niederländer und die deutschen Vorgänger Dürers, der Meister E. S.,
Martin Schongauer usw. Aber freilich, alles, was diesen Herren in der
Kunst unbequem ist, wird dem Humanismus und der Reformation in die Schuhe
geschoben. Denn nach Janssenscher Geschichtsauffassung ist der Humanismus
ebenso wie die Reformation eitel Verirrung und Teufelsspuk.
Aber von diesem ersten Abschnitt wollte ich ja eigentlich nicht reden,
sondern nur von dem über Dürers Glaubensbekenntnis. Was darin stehen
würde, wußte ich freilich schon im voraus. Es ist auf katholischer Seite in
den letzten Jahren so oft von Dürers katholischem Glaubensbekenntnis geredet
worden, daß es ganz überflüssig war, all das ungereimte Zeug noch einmal
wiederzukäuen. Dennoch hören wir hier die ganze Litanei wieder von neuem:
Dürer hat sich zwar vorübergehend von Luther irremachen lassen, aber „als
frommer Katholik wollte er von der kirchlichen und politischen Reformation
nichts wissen, zumal da ihn die traurigen Sittenzustande, die die Neuerung mit
sich brachte, mit Abscheu erfüllten. Ebenso wie Pirkheimer hat er sich von ihr ab¬
gewendet, als er bemerkte, daß es sich nicht um Verbesserungen in der alten Kirche,
sondern um eine Trennung von ihr handelte." Seine begeisterten Äußerungen
über Luther, sein brieflich bezeugtes Geschenk an diesen, seine innige Freundschaft
mit Melanchthon, das eigne Geständnis seiner ketzerischen Gesinnung, seine
heftige Verdammung des Kultus der schönen Maria in Regensburg, Luthers
Äußerungen über ihn bei seinem Tode, alles das will nichts besagen, beweist
nichts, als eine gewisse „Unklarheit," einen gewissen „Widerspruch" in seiner
Gesinnung. Im Herzen ist er immer ein echter Katholik geblieben. „Es ist
über jeden Zweifel erhaben, daß Dürer mit aller Wärme seines Herzens die
allseitig ersehnte kirchliche Reform herbeiwünschte, und daß er mit manchem
seiner Nürnberger Freunde das erste Auftreten Luthers begrüßte. Aber es
ist ebenfalls gewiß, daß Dürer sich nicht von der alten Lehre abgewendet hat
und im Frieden mit der katholischen Kirche gestorben ist."
Man fragt sich erstaunt: Ist es denn möglich, daß Dinge, die so klar
auf der Hand liegen, heutzutage uoch zweifelhaft sein können? Daß überhaupt
noch gefragt werden kaun, ob Dürer lutherisch oder papistisch gesinnt ge¬
wesen sei? Ist nicht diese Frage längst durch Zuckers vortreffliche Schrift über
Dürers Stellung zur Reformation entschieden? Wer sich dieser Illusion hin¬
geben konnte, der kennt die Schliche und Winkelzüge klerikaler Beweisführung
nicht, der weiß nicht, daß die protestantischen Forschungen über eine solche
Frage von dein katholischen Publikum überhaupt nicht gelesen, und wenn es
ja einmal der Fall ist, nur in klerikaler Beleuchtung gelesen, d, h. einfach weg-
disputirt werden. Was kann man einem solchen Publikum nicht alles vorreden!
Auf seiner niederländischen Reise schreibt Dürer in sein Tagebuch:
Item am Freitag vor Pfingsten im 1621 Jahr kamen mir Mtthr gen Antorff
(Antwerpen), daß nur Martin Luther so Verrätherlich gefangen hätt. . . . Als¬
bald waren 10 Pferd da, die führten Verrätherlich den verkauften frommen mit
dem heiligen Geist erleuchteten Mann hinweg, der da war ein Nachfolger Christi
und des wahren christlichen Glaubens. Und lebt er noch oder haben sie ihn ge-
mördert, das ich nicht weiß, so hat er das gelitten um der christlichen Wahrheit
willen, und um daß er gestraft hat das unchristliche Pabstthum, das da strebt
Wider Christus Freilassung mit seiner großen Beschwerung der menschlichen Gesetz,
und auch darum, daß wir unsers Blut und Schweiß also beraubt und ausgezogen
werden und dasselbige so schändlich von müßiggehenden Volk lästerlich verzehret
wird und die durstigen, kranken Menschen darum Hungers sterben müssen. Und
sonderlich ist mir uoch das schwerest, daß uus Gott vielleicht noch unter ihrer falschen,
blinden Lehr will lassen bleiben, die doch die Menschen, die sie Väter nennen,
erdichtet und aufgesetzt haben, dardurch uns das göttliche Wort an viel Enden
fälschlich ausgelegt wird oder gar nichts fürgehalten (d. h. gar nicht vorgetragen).
Ach Gott vom Himmel, erbarm dich unser, o Herr Jesu Christe, bitt für dein
Volk, erlös uns zur rechten Zeit, erhalt in uns den rechten wahren christlichen Glauben,
versammele deine weite zertrennte Schaf durch dein Stimm, in der Schrift dein
göttlich Wort genannt, hilf uns, daß wir dieselb dein Stimm kennen und keinem andern
Schwigel» (Locken), der Menschen Wahn, nachfolgen, auf daß wir. Herr Jesu Christe,
nit von dir weichen. Ruf den Schafen deine Weide, derer noch ein Theils in
der römischen Kirchen erfunden werden, mitsammt den Indianern, Moscabiteru.
Reußen, Griechen wieder zusammen, die durch Beschwerung und Geiz der Pabst,
durch heiligen falschen Schein zertrennet sind worden. Ach Gott, erlös dein armes
Volk, das da durch großen Bann und Gebot gedrungen wird, der es keines gern
thut, darum es stctigs sündigen muß in seinem Gewissen, so es die übergebet.
O Gott, nun hast du mit Menschengesetzen nie kein Volk also gräßlich beschweret,
als uns Arme unter den römischen Stuhl, die wir füglich durch dein Blut erlöst
frei Christe» sollen sein. . . . Und so wir diesen Mann verlieren, der da klärer
geschrieben hat, dann nie keiner in 140 Jahren gelebt (Dürer dachte dabei an John
WKlef), den du ein folchen evangelische» Geist geben hast, bitten wir dich. . . .
Dcirum sehe ein Jeglicher, der Doktor Martins Luthers Bücher liest, wie sein Lehr
so klar durchsichtig ist, so er das heilig Evangelium lehrt. Darum sind sie
in großen Ehre» zu halten und nit zu verbrennen, es wär dann, daß man sein
Widerpart, die allezeit die Wahrheit widerfechten, ins Feuer Wurf mit allen ihren
Opinionen, die da aus Menschen Götter machen wollen, aber doch, daß man wieder
neuer lutherischer Bücher druckt hätt (d. h. mau verbrenne uur die bisherigen
lutherischen Bücher, wenn man nur gleichzeitig auch alle papistischen verbrennen
will, weil ja dann doch wieder neue lutherische gedruckt werden). O Gott, ist Luther
todt, wer wird uus hinfüro das heilig Evangelium so klar fürtragen! Ach Gott,
was hätt er uns noch in 10 oder 20 Jahren schreiben mögen! O ihr alle fromme
Christenmenschen, helft mir fleißig beweinen diesen gottgeistigen Menschen und ihn
bitten, daß er uns ein andern erleuchten Mann send. () M-afin« liotkrocl^mo, wo
willt du bleiben? Sieh, was vermag die ungerecht Tyrannei der weltlichen Ge¬
walt und Macht der Finsternis? Hör, du Ritter Christi, reit hervor neben den
Herrn Christum, beschütz die Wahrheit, erlang der Miirterer Kron! Du bist doch
sonst ein altes Mttnnilcn, ich hab von dir gehört, daß du dir selbst uoch 2 Jahr
zugeben hast, die du uoch taugest etwas zu thun. Dieselben leg wohl ein, dem
Evangelio und dem wahren christlichen Glauben zu Gut, und laß dich dann hören,
so werden der Hollen Pforten, der römisch Stuhl, wie Christus sagt, nit wider
dich vermügen, . . . Drum werdeu wir scheu die Unschuldigen bluten, die der
Pabst, Pfaffen und die Mönche vergösse», gerichte und verdammt haben.
Nicht wahr, das ist deutlich? Was macht nun Herr Weber aus dieser
Stelle? Er führt sie zwar an, aber in freier Umschreibung. Denn dabei kauu
man weglassen, was man will. Und was läßt Herr Weber weg? Nichts als
einige gleichgiltige Zusätze zum Reinen Luthers, z. B. den mit dem „heiligen
Geist erleuchteten Mann, der da war ein Nachfolger Christi und des wahren christ¬
lichen Glaubens," ferner fast alle Urteile über das Papsttum, die in den Worten
enthalten sind. Was er giebt, ist ein ganz kurzer, farbloser Auszug, aus dem man
schlechterdings nicht erkennen kann, mit welcher Energie sich Dürer hier für Luther
und gegen das Papsttum ausspricht. Dagegen werden alle Sätze, die darauf
hinweisen, daß Dürer damals noch eine einige christliche Kirche wünschte, in
gesperrten Druck hervorgehoben und daraus geschloffen, „wie wenig eigentlich
»protestirender« Geist im Sinne Luthers schou damals in Dürer wohnt." Als
ob Luther nicht anch erst im Jahre 1521 den Gedanken der Kirchentrennuug
klar erfaßt Hütte! Und dabei macht der Verfasser das Kunststück, zu den Ver¬
lornen Schafen, die Christus nach Dürers Bild zusammenrufen soll, wohl die
„Türken, Heiden und Kalikuten," nicht aber die, die „noch in der römischen
Kirchen erfunden werden," zu rechnen, die bei Dürer in friedlicher Eintracht
neben den Indianern und Moskowitern, d. h. den Heiden und den Anhängern
der griechischen Kirche stehen. Und weil dann an einer Stelle auch einmal
ganz nebenbei die guten Werke vorkommen, die doch Luther verachtet hat, so
ist ihm die ganze Stelle ein Beweis für Dürers echt katholische Gesinnung:
„Um so bedeutungsvoller ist die Stellungnahme Dürers, der auch bei andern
Gelegenheiten seinen katholischen Glauben kundgiebt."
Weiß Herr Weber, wie wir Protestanten das nennen? Wir nennen das
wissentliche Verdrehung der Thatsachen. Einen Schriftsteller, der eine solche
Verdrehung begeht, rechne» wir nicht mehr zur wissenschaftlichen Well, und
Wenn seine Bücher auch noch so viele Auflagen erlebten und in katholischen
Kreisen auch noch so viel gelesen und gepriesen würden! Und das nennt die
Zeitschrift für christliche Kunst „objektive Untersuchung."
Ein zweiter Beweis. In einem Briefe um Georg Spalatin vom Jahre
1520 bedankt sich Dürer sür die „Büchlein Luteri" (Weber spricht Seite 87
nur von einer Schrift Luthers), die ihm der Kurfürst Friedrich der Weise zum
Geschenk gemacht habe.
Deshalb bitt ich, Euer Ehrwürd wollend seinen Kurfürstlichen Gnaden mein
unterthttnige Dankbarkeit nach dem Höchsten anzeigen, und sein Churfürstliche
Gnaden in aller Unterthä'nigkeit bitten, daß er ihm den löbliche» Doctor Martin
Luther befohlen laß sein, von christlicher Wahrheit wegen, daran uns mehr liegt
dann um allen Reichthümer und Gewalt dieser Welt. Das dann Alls mit der
Zeit vergeht, allein die Wahrheit bleibt ewig. Und hilft mir Gott, daß ich zu
Doctor Martinus Luther kumm, so will ich ihn mit Fleiß kuuterfetten und in
Kupfer stechen, zu einer langen Gedächtnuß des christlichen Manns, der mir ans
großen Ängsten geholfen hat. Und ich bitt Euer Würden, wo Doctor Martinus
etwas Neus macht, das deutsch ist, wollt mirs um mein Geld zusenden.
Der Leser wird neugierig sein, wie sich Herr Weber mit diesen leidlich
unzweideutigen Worten abfindet. Nichts einfacher als das. Dürer hat frei¬
lich gesagt, er wolle Martin Luther portrütiren, aber thatsächlich hat er es nicht
gethan. „Noch acht volle Jahre lebte der Künstler. Doch ruhte die Künstler¬
hand, die so viele Persönlichkeiten verewigt Ihatj." Mit andern Worten:
Dürer hat Luther deshalb nicht gemalt, weil er später an ihm irre geworden
ist. Wir gönnen Herrn Weber das billige Vergnügen dieses Saltomortale.
Ist er doch auch der Ansicht, daß Melanchthon, der Verfasser des „Papstescls"
von 1523"), an Luther irre geworden und seit 1524 nicht mehr mit ihm be¬
freundet gewesen sei. Die beiden intimen Freunde Dürer und Melanchthon
haben sich eben als gute Katholiken davon überzeugt, daß es mit Luther nichts
war, daß sie ihre Freundschaft einem Unwürdigen geschenkt hatten!
Außerordentlich bezeichnend ist die Art, wie sich der Verfasser über einen
dritten Beweis für Dürers lutherische Gesinnung hinwegsetzt. Auf einen Holz¬
schnitt des Regensburger Malers Ostendorfer (?), der die Verehrung der so¬
genannten „schönen Maria von Regensburg" darstellt, hat Dürer im Jahre
1523 (das Jahr steht darüber» folgende Worte geschrieben: „Dies Gespenst hat
sich wider die heilig Geschrift erhebst (erhoben) zu Regensburg und ist vom
Bischof verhängt worden, zeitlichs Nutz halben nit abgestellt. Gott helf uus, daß
wir sein werthe Mutter nit also unehrn, sunder Lehren) in Christo Jesu Amen."
Darauf folgt das bekannte Monogramm Dürers mit dem großen ^ und dein
kleinern I) darinnen. Dürer bezeichnet also ganz deutlich die „schöne Maria"
von Regensburg als ein „Gespenst" und wirft dem Bischof vou Regensburg
vor, daß er aus Gcldrücksichteu diesen maßlosen Heiligenkultus nicht abgestellt
habe. Was hat Weber dagegen zu erwidern? Die Bemerkung ist nach seiner
Meinung „unklar, in einem geradezu entsetzlichen Stil verfaßt und schlecht ge¬
schrieben" — natürlich, sie ist das rote Tuch, das ihn zum Zorn reizt. Ich
kann ihm aber versichern, daß sie sehr klar, ganz in Dürers Stil und dabei
durchaus deutlich in Dürers Schriftzügen geschrieben ist. Es ist nicht daran
zu zweifeln, daß Dürer selbst in eigner Person nicht nur die Worte, sondern
auch die Jahreszahl und das Monogramm auf das Blatt gesetzt hat. Das
hindert aber Herrn Weber, der von der Aufschrift nichts weiß, als was er in
Büchern davon gelesen hat, durchaus nicht, sie Dürer einfach abzusprechen.
Er weiß auch ganz genau, von wem sie stammt, nämlich — von dem Regens-
burger Maler Albrecht Altdorfer. Diesen Altdorfer braucht er nämlich, weil
er ein ähnliches Monogramm hat wie Dürer. Sein Monogramm muß ihm die
Brücke zum Beweis bieten. Und zwar sehr einfach. Die ganze Zeichnung (es
handelt sich gar nicht um eine Zeichnung, sondern um einen Holzschnitt) ist nicht
von Ostendorfer, sondern von Altdorfer gefertigt. Altdorfer selbst hat sein
Zeichen daruntergesetzt und die angeführte Bemerkung hinzugefügt. In dieses
Zeichen, ein offnes ^, hat dann eine spätere Hand das v hineingeschrieben
und so ein Monogramm Dürers daraus gemacht. Herr Weber ahnt nicht,
welche Fülle von Dummheiten er in diese eine Kombination zusammengedrängt
hat. Die Frage über den Urheber des betreffenden Holzschnitts, der gewöhn¬
lich auf Ostendorfer zurückgeführt wird, soll hier nicht erörtert werden. Mag
er herrühren, von wem er will, jedenfalls kann die Aufschrift nicht von Albrecht
Altdorfer sein. Denn erstens ist das Zeichen Altdorfers gar kein ^, sondern
ein ^ mit einem kleinern ^ darin, von dem hier keine Spur vorhanden ist.
Zweitens war Altdorfer, der Stadtbaumeister von Regensburg, gar kein Feind,
sondern ein ausgesprochner Freund des Regensburger Marienkultus. Ja er
ist sogar der Künstler, der die meisten oder fast alle mit diesem Kultus zusammen¬
hängenden Kunstwerke geschaffen hat, Holzschnitte, Radirungen, Votivgemälde,
Ablaßbriefe, Fahnen, Vorhänge, Medaillen usw.*) Diese Werke wurden in den
Jahren der fanatischen Begeisterung für die schöne Maria, also 1519 bis 1522,
von den Wallfahrern in großer Zahl gekauft, erst 1523 nahm die Begeiste¬
rung ab. Und dieser selbe Altdorfer, der sonst der künstlerische Hauptvertreter
dieses ganzen Heiligenkultus ist, der die schöne Maria selbst 1519 auf seinen
Holzschnitten mit den Worten anredet: totg, xulolirg. hö g-wies, ins-i und „ganz
schön bist du, mein Freundin, und ein Makel ist nit in dir," der sollte sie
1523 auf seinem eignen Holzschnitt als ein Gespenst bezeichnet und sich gegen
diesen Kultus ausgesprochen haben? Aber das thut ja nach Herrn Webers An¬
sicht der Schreiber dieser Worte gar nicht. „Daß das Muttergottesbild an sich
als Gespenst bezeichnet worden, ist keineswegs notwendig anzunehmen (!). Erst
ein Mißbrauch oder eine abergläubische Ausschreitung, somit ein Gegensatz Wider
die heilige Schrift, stempelt es dazu (also ein hypothetisches Gespenst!). Auch
giebt der Schreiber zu, daß von seiten des Bischofs den Gefahren entgegen¬
getreten worden ist(!), freilich wegen des Interesses des Rates, der das Opfer
der Stndtkirche einzog (?), ohne besondern Erfolg. Ja wir sehen sogar den
Verfasser für die reine Heiligenverehrung eifern. So bekunden diese Worte
die innige Marienverehrung Altdorfers." ,
Es ist die Tinte nicht wert, solche Ungereimtheiten zu widerlegen. Wohl
aber muß ich uoch eine schöne Bemerkung wiedergeben, die Herr Weber
gegen Zuckers Ausnutzung dieser Stelle macht. Zucker hatte ganz richtig ge¬
sagt: „Im Besitz dieses Holzschnittes war Dürer, der empört über eine solche
Verehrung der Maria unter das Blatt schrieb: Dies Gespenst usw. Darunter
steht als Unterschrift dann das bekannte Monogramm des Künstlers." Hier
wirft sich nun Herr Weber zum Anwalt Dürers auf und sagt mit dein Brustton
tiefster Überzeugung: „Wir müssen entschieden gegen die hier dem ehrlichen
Dürer zugemutete Unredlichkeit Verwahrung einlegen. Dürer klagte wiederholt,
daß man fremde Werke mit seinem Namen bezeichne. Und nun sollte er selbst
auf das Werk eines andern Meisters eine Inschrift und sein Monogramm gesetzt
haben. Nein der redliche Dürer steht einem solchen Unterfangen fern." Ein
köstliches Bild: der Dürerbiograph Anton Weber, der in sittlicher Entrüstung
für den „ehrlichen," „redlichen" Dürer eintritt. Wäre Herr Weber, als er
seine Biographie schrieb, nur halb so „ehrlich" und „redlich" wie Dürer ge¬
wesen, als er diese Worte schrieb, so hätte er sich sagen müssen, daß sich Dürer
mit diesem Monogramm nicht als Schöpfer des Holzschnitts, sondern mir als
Urheber der Bemerkung über das „Gespenst," das er darstellt, bezeichnen wollte.
Auf was für stumpfsinnige Leser muß Herr Weber rechnen, wenn er es wagt,
ihnen eine solche Verdrehung der Thatsachen zu bieten!
Aber nicht nur 1523, sondern auch noch 1526 ist Dürer ein guter
Lutheraner gewesen. Das beweisen die Unterschriften seiner vier Apostel in
der Münchner Pinakothek, die er damals dem Rat der Stadt Nürnberg zum
Geschenk machte. Daß Dürer gerade in den letzten Jahren seines Lebens be¬
sonders gern Apostel oder Evangelisten dargestellt hat — es sind deren in
Malerei, Zeichnung und Kupferstich mehrere erhalten —, erklärt sich natür¬
lich nur aus seiner und seiner Mitbürger evangelischen Geistesrichtung wäh¬
rend dieser Zeit. Wenn er diese Apostelbilder dem Rate der Stadt Nürn¬
berg zum Geschenk macht, so kann das, da der Rat der Stadt Nürnberg gut
lutherisch war und die Reformation schon seit zwei Jahren eingeführt hatte,
selbstverständlich nur einen spezifisch lutherischen Sinn haben. Damit ist
durchaus nicht gesagt, daß nicht einzelne Ratsherren noch dem alten Glauben
angehangen, und daß Dürer mit diesen ebenso gut verkehrt hätte, wie mit den
lutherisch gesinnten. Er war eben kein Heißsporn und glaubte wahrscheinlich,
man könne mit einander verkehren, ohne in Dingen des Glaubens derselben
Meinung zu sein. Wenn sich nun unter diesen Bildern Unterschriften befanden,
in denen Aussprüche der betreffenden Apostel und Evangelisten verwendet sind,
die gegen die „falschen Propheten" eifern, die „durch Geiz mit erdichteten
Worten Hantiren," gegen die „Schriftgelehrten, die gern in langen Kleidern
gehen und lassen sich gern grüßen auf dem Markt und sitzen gern obenan in
den Schulen," gegen die „geizigen stolzen und hoffärtigen Lästerer," gegen den
„Widerchrist, von welchem ihr habt gehört, daß er kommt und ist jetzt schon
in der Welt," so gehört die ganze Verblendung konfessioneller Polemik dazu,
zu leugnen, daß diese Bemerkungen nur gegen das Papsttum und allenfalls
noch gegen die Schwarmgeister und andre vom Rat der Stadt Nürnberg
bekämpfte Sekten jener Zeit gerichtet sein können. Aber Herr Weber behauptet
ja Seite 79, die Unterschriften stammten gar nicht von Dürer, sondern von
Neudörfer. Dabei verschweigt er nur leider die Hauptsache, nämlich daß sie
der Schreibmeister Neudörfer nach seiner eignen Aussage in Dürers „Stube,"
also selbstverständlich mit Dürers Wissen und Willen und nach seiner Angabe
geschrieben hat. Wenn er nach solchen unredlichen Mätzchen dann die Worte:
„Denn Gott will nit zu seinem Wort gethan noch von dannen genommen
haben" als „eine Warnung des Nürnberger Rats auffassen und gegen Luther (!)
deuten" will, so hat das genau denselben Wert, wie wenn er behauptet, der
Text dieser Unterschriften sei nicht aus der Übersetzung Luthers entnommen.
Das Beispiel, das er Seite 82 anführt, um zu beweisen, daß die Luthersche
Übersetzung „durch Redewendungen, Formen und Schreibweise gänzlich ver¬
schieden" davon sei, stimmt wörtlich (bis auf kleine Verstellungen einzelner Worte)
mit den Aufschriften überein. Herr Weber konnte nicht treffender nachweisen,
daß die Aufschriften genau (bis auf ein paar gleichgiltige Varianten) aus
Luthers Bibelübersetzung von 1522 entnommen sind. Die Jesuiten am Hofe
des Kurfürsten Maximilian in München wußten viel besser als Herr Weber,
was sie von den Unterschriften der vier Apostel zu halten hatten. Sie sorgten
bei dem Ankauf der Bilder durch den Kurfürsten dafür, daß sie abgesägt und
wieder nach Nürnberg zurückgeschickt wurden.
Endlich das letzte Zeugnis aus Dürers eignem Munde, die Äußerung in
dem Briefe an den englischen Hofastronomen Niklas Kratzer vom Jahre 1524:
„Item des christlichen Glaubens halben müssen wir in Schmach und Gefahr
stehn, denn man schmäht uns, heißt uns Ketzer. Aber Gott verleih uns sein
Gnad und stark uns in seinem Wort, denn wir müssen Gott mehr gehorsam
sein denn den Menschen. So ist es besser, Leib und Gut verlorn, denn daß
von Gott unser Leib und Seel in das höllisch Feuer versenkt würd. Darum
mach uns Gott beständig im Guten und erkennst unser Widerpart, die armen
elenden blinden Leut, auf daß sie nit in ihrem Jrrsal verderben."
Man hat wohl schon oft davon gehört, daß Leute, die keine Ketzer sind,
von katholischer Seite als solche bezeichnet werden. Aber der Fall, daß jemand,
der sich selbst (natürlich im Sinne der katholischen Kirche) als Ketzer bezeichnet,
von einem katholischen Schriftsteller feierlich von dem Vorwurf der Ketzerei
entbunden wird, ist wohl noch nicht dagewesen. Das bringt Herr Weber in
diesem Falle fertig. „In religiös aufgeregten Zeiten werden oft nur des
Abfalls Verdächtige Ketzer geheißen, ja streitende geben sich selbst gegenseitig
diesen Namen. Da aber Dürer sich gegen die Bezeichnung »Ketzer« wahrt,
will er kein Abtrünniger, sondern ein Sohn der Kirche sein." Wundervoll!
Zu den Beweisen für Dürers lutherische Gesinnung haben wir in unsrer
Dürerausgabe noch einen weitern, sehr interessanten hinzugefügt, den schon
Conway mitgeteilt hatte, nämlich ein Verzeichnis von sechzehn lutherischen
Schriften, das sich Dürer zu Ende des Jahres 1520 oder spätestens zu Anfang
des Jahres 1521 angefertigt haben muß. Es ist vielleicht das Verzeichnis
der Schriften, die ihm vom Kurfürsten Friedrich dem Weisen zugesendet worden
waren, und die er dann durch eifrige Ankäufe während der niederländischen
Reise ergänzte. Sie stammen alle aus den Jahren 1518, 1519 und 1520.
Hie und da kann man wohl im Zweifel sein, welche Ausgabe gemeint ist, die
lateinische oder die deutsche, die erste oder die zweite. Aber im ganzen wissen
wir aus dieser Notiz genau, welche Schriften Luthers Dürer im Jahre 1520/21
besessen hat. Ihre Zahl ist groß genug, das starke Interesse zu bekunden,
das Dürer an der schriftstellerischen Thätigkeit Luthers nahm. Zu diesem
Verzeichnis hatten wir nun die bescheidne Bemerkung gemacht: „Diese Notiz
muß als eins der wichtigsten Zeugnisse für Dürers lutherische Gesinnung den
von Zucker gesammelten Zeugnissen hinzugefügt werden." Diese Bemerkung
hat den höchsten Zorn des Herrn Weber erregt. Von der Höhe seines wissen¬
schaftlichen Standpunkts aus läßt er sich also vernehmen: „Übrigens ist jedem
Denker (sie) unerfindlich, was ein Bücherkatalog(!) zu dem Glauben eines Mannes
beweisen soll. Dr. Eck, der bei der Leipziger Disputation siegreiche Gegner
Luthers, hatte nicht nur ein Verzeichnis, sondern auch lutherische Schriften
selbst. Und jede Klosterbibliothek, jeder katholische Apologet besaß litterarische
Erzeugnisse des Neuerers. Man sieht, auf welch schwachen Füßen das angeb¬
liche Luthertum Dürers steht, und wie sogar verdiente protestantische Gelehrte
aus Voreingenommenheit sich über die einfachsten Denkgesetze, die gewöhnlichsten
Regeln der Logik hinwegsetzen." Und in einer Anmerkung fügt er hinzu:
„Der falsche Syllogismus würde laute»: Wer lutherische Schriften verzeichnet,
ist Lutheraner. Nun schrieb Dürer einzelne Schriftchen (man beachte das ab¬
schwächende Diminutivum) Luthers auf, also war er Lutheraner."
Ich danke Herrn Weber zunächst auch im Namen meines Freundes Fusse
für das schmückende Beiwort, mit dem er unsre geringen Verdienste um die
Dürerforschung anerkannt hat. Aber ich muß dieses Lob aus seinem Munde
ablehnen und ihm bemerken, daß ich von ihm nur getadelt sein möchte. Was
die Sache betrifft, so kann ich ihm versichern, daß ich mich über seine Be¬
lehrung herzlich gefreut habe. Möchte er sich über die meinige ebenso freuein
Daß ein Verzeichnis lutherischer Schriften von irgendeiner beliebigen Hand
zu irgendeinem beliebigen Zweck angefertigt noch nicht für die lutherische Ge¬
sinnung des Schreibers Zeugnis ablegt, war uns, als wir jene Worte schrieben,
nicht unbekannt. Daß der Dr. Eck und jeder katholische Apologet und manche
Klosterbibliothek nicht nur Verzeichnisse von Luthers Schriften, sondern auch
diese selbst besaßen, konnten wir uns wohl denken. Leider war nun aber der
Maler Albrecht Dürer weder der Dr., Eck, noch ein katholischer Apologet (ob¬
wohl ihn Weber dazu stempeln möchte), noch eine Klosterbiblivthek, noch ein
Bibliothekar, sondern ein Künstler, der gar kein berufsmäßiges Interesse daran
hatte, sich irgend ein Bücherverzeichnis anzulegen. Er war zugleich ein Mann,
von dem wir aus ganz andern Quellen genau wissen, daß er von 1520 bis
1528, d. h. wahrscheinlich sogar bis zu seinem Tode, ein überzeugter Lutheraner
gewesen ist. Es war gewiß das mindeste, was man von uns als Heraus¬
geben? verlangen konnte, daß wir diese Notiz den übrigen ganz unzweideutigen
Beweisen von Dürers lutherischer Gesinnung „hinzufügte«." Herr Weber fragt
allerdings: „Warum hat Dürer das Verzeichnis nicht fortgesetzt? Das läßt
tief blicken" Er scheint sich also einzubilden, daß die erwähnte Notiz ein Teil
eines ausführlichen und. vollständigen Bibliothekkatalogs sei, sonst kann diese
Bemerkung überhaupt gar keinen Sinn haben.
Die Polemik, /die der Verfasser hier ohne jede Veranlassung vom Zaune
bricht, enthüllt uns gleichzeitig auch den Grund, warum er so böse auf uns
und unsre Düreransgabe ist. Wir haben das Verbrechen begangen, Dürers
schriftlichen Nachlaß in philologischer Weise Wort für Wort genau zu ver¬
öffentlichen. Die Zeugnisse für Dürers lutherische Gesinnung stehen jetzt un¬
zweideutig da> für jedermann verständlich, ohne Auslassungen und Verdrehungen,
ohne Verwirrung durch die altertümliche und ungleichmäßige Orthographie
des sechzehnten Jahrhunderts (die Herr Weber freilich, um seinem Publikum
Sand in die Augen zu streuen, überflüssigerweise wieder ausgegraben hat).
Wir haben mit Dürers schriftlichen Nachlaß dasselbe gethan, was Luther — si
pA-vA Uo<ze vomxoinzrs um-mis — mit der Bibel gethan hat. Und das ist un¬
angenehm, sehr unangenehm, das kann uns nicht verziehen werden: ^niMsnm sie.
Wenn Herr Weber besser in der Dürerlitteratur zu Hause wäre, als er
es ist, so würde er wissen j daß ich selbst vor einigen Jahren in den Grenz¬
boten die 'Frage nach Dürers Verhältnis zur Reformation in einer Weise be¬
handelt habe, die, wie^ ich glaube, von iEiuseitigkeit ziemlich frei war und ihm
vielleicht, manchen Fingerzeig, in seinem Sinne hätte geben können.*) Ich habe
immer die Meinung vertreten, daß Dürer zwar persönlich ein Freund und
Bewundrer Luthers gewesen sei, daß er aber als Künstler durchaus auf dein
Boden der katholischen Kirche gestanden habe. Daß sich beides sehr gut mit
einander verträgt, ergiebt sich ans einer ganz einfachen chronologischen Er¬
wägung. Luther schlug seine Thesen an die Thür der Wittenberger Schlo߬
kirche im Jahre 1517 an. Den eigentlichen Bruch mit der päpstlichen Kirche
vollzog er erst 1521. Dürer starb aber schon 1528. Er konnte also höchstens
in seinen letzten sieben Jahren ein lutherischer Künstler sein.
Ju der That läßt sich der Umschwung, der damals mit seiner Kunst vor
sich ging, deutlich daran erkennen, daß er in den letzten Jahren seines Lebens,
abgesehen von den Bildern der Evangelisten und verwandten Kupferstichen, die
eine besondre evangelische Bedeutung haben, nur sehr wenig kirchliche oder
sagen wir besser biblische Darstellungen geschaffen hat. Nicht als ob diese für
ihn als Lutheraner anstößig gewesen wären — die biblische Malerei ist weder
von Luther noch von seinen Anhängern, sondern nur von den Bilderstürmer»
verachtet worden sondern er hatte in dem lutherisch gewordnen Nürnberg
keine oder nur wenig Gelegenheit mehr zu kirchlichen Schöpfungen. So treten
denn in den letzten Jahren bei ihm die gemalten und gestochnen Bildnisse und
vor allem die theoretischen Studien mehr in den Vordergrund. Dürer hat
also bei weitem die meisten seiner religiösen Bilder, Stiche und Holzschnitte
vor dem Auftreten Luthers geschaffen, und es wäre deshalb ganz vergeblich,
in ihnen irgend einen Hinweis auf die Reformation oder gar irgend eine Spur
lutherischer Gesinnung erkennen zu wollen. Wenn das früher protestantische
Forscher wie Retberg, Thausing, Lützow und andre doch zuWeile» ver¬
sucht haben, so ist das nur ein Beweis, daß diese ganze Frage auch von
protestantischer Seite nicht immer mit der nötigen Besonnenheit behandelt
worden ist, wodurch dann wieder die katholischen Forscher gereizt wurden,
ihrerseits in der andern Richtung über das Ziel hinauszuschießen. Die Sucht,
nach Reformatoren vor der Reformation zu suchen, hat ja überhaupt seit einiger
Zeit sehr abgenommen, und heutzutage fällt es keinem Kenner der Reformations-
zeit und keinem Dürerforscher mehr ein, etwa in den Holzschnitten der Apo¬
kalypse oder im Wiener Allerheiligenbild oder in den genrehaft aufgefaßten
Szenen des Marienlebens irgend einen spezifisch evangelischen Charakter zu
wittern. Realistisch und in gewisser Weise weltlich gehalten sind ja die Bilder
und Kunstblätter Dürers vor der Reformation zum größten Teil. Aber dieser
Realismus hat nichts, was besonders an Luthertum erinnerte, er ist aus Be¬
strebungen hervorgegangen, die in der deutschen Kunst längst vorbereitet
waren, und die man genau mit demselben Recht katholisch wie protestantisch
nennen kann.
Wenn man aber in Dürers Kunstwerken vor dem Jahre 1520 nichts
von lutherischen Ideen erkennen kann, so wird man noch weniger erwarten
dürfen, in seinen Äußerungen aus dieser Zeit irgend eine Anspielung auf die
neue Bewegung zu finden. Und da muß ich doch noch einmal auf Herr»
Weber zurückkommen.
Dürer hat unter anderen auch eine Anzahl Reime gemacht, die wir in
unsrer Düreransgabe zum erstenmale vollständig veröffentlicht haben. Darunter
sind mehrere Anrufungen an Heilige und Gebete von ganz katholischem Inhalt,
mit Betonung der guten Werke, der Buße, der Sterbesakramente usw. Ich
habe schon vor Jahren im Deutschen Wochenblatt auf den katholischen Cha¬
rakter dieser Reime hingewiesen. Diese Verse fügt nun Weber in seine Be¬
handlung der niederländischen Reise Dürers ein, die im Jahre 1520/21 statt¬
fand, und zwar in einer Form, daß der unbefangne Leser denken muß, Dürer
habe sie ungefähr in diesen Jahren geschrieben. Dann werden diesen katho¬
lischen Äußerungen die Anschauungen Luthers aus derselben Zeit gegenüber¬
gestellt und kalt lächelnd die Folgerung gezogen: „Es wäre daher ein sehr kühner
Schluß, aus einer damaligen (1521) Verehrung des Pater Martin auch auf
Übereinstimmung mit dem spätern Leben und Wirken des abgefallnen Mönchs
schließen zu wollen" (S. 98). Der unbefangne Leser wird freilich sehr erstaunt
sein, wenn ich ihm mitteile, daß die Verse Dürers nicht aus dem Jahre 1521,
sondern aus den Jahren 1509 und 1510 stammen, also sieben Jahre vor dem
Auftreten Luthers geschrieben worden sind! Daß Dürer sieben Jahre vor dem
Auftreten Luthers nicht Lutheraner war, das braucht uns allerdings nicht erst
Herr Weber zu sagen. Wie nennt man aber ein Verfahren, wonach ein Datum
wissentlich verschwiegen wird, das für die in Frage stehende Untersuchung von
entscheidender Wichtigkeit war? Wir Protestanten nennen das Geschichtsfül-
schung. Herr Weber hat recht gut gewußt, daß diese Verse aus den Jahren
1509 und 1510 stammten, denn er konnte es in unsrer Dttrerausgabe, die er
sonst so tapfer ausgeschrieben hat, nachlesen. Er hat aber vorgezogen, ohne
ausdrücklich zu sagen, daß sie von 1521 stammten, doch so zu thun, als ob
sie damals geschrieben worden wären. Warum wußte er denn (S. 76), daß
die Kupferstiche „Ritter Tod und Teufel," die „Melancholie" und der „heilige
Hieronymus" schon 1513 und 1514 entstanden sind? Natürlich, die sind ja
von den Protestanten in ihrem Sinne gedeutet worden, und da mußte man
doch darauf hinweisen, daß damals „Pater Martin noch nicht an einen Angriff
auf die katholische Kirche dachte"!
Noch ein zweites Beispiel dieser Art. Im Jahre 1524 hat Dürer »ach
Aufzeichnungen seines Vaters eine Familienchronik zusammengestellt, in der
er unter anderm berichtet, daß sein Vater im Jahre 1502 nach Empfang der
„ heiligen Sakramente" christlich verschieden sei, und in einem besondern Gedenk¬
buch, von dem sich nur ein Fragment erhalten hat, beschreibt er den Tod des
ältern Dürer ganz genau, wobei er zum Gebet sür deu Abgestorbnen auf¬
fordert, die Leser bittet, ein Vaterunser und ein Ave Maria für sein Seelen-
heil zu beten und am Schluß „den Vater, den Sun und den heiligen Geist"
anruft, wozu Weber die sinnige Bemerkung macht: „Dürer machte dabei sicher¬
lich das Kreuzeszeichen." Dem wird dann in wirkungsvoller Weise gegenüber¬
gestellt, daß Luther schon (!) 1520 und 1521 das Fasten und Beichten, die
Sakramente usw. verworfen habe. Der unbefangne Leser muß nun glauben,
daß die Aufforderung Dürers, ein Paternoster und ein Ave Maria zu beten,
und die Erwähnung der heiligen Dreieinigkeit aus dem Jahre 1524 stammten.
Das ist aber keineswegs der Fall. Sie sind vielmehr unmittelbar nach dem
Tode des Vaters, d. h. 1502, niedergeschrieben worden, wie Herr Weber aus
unsrer Dürerausgabe hätte sehen könne». Und ebenso steht es mit den Be¬
merkungen über den Tod der Mutter Dürers, von der es heißt, daß sie „durch
päpstliche Gewalt von Pein und Schuld absolvirt" gestorben sei. Hierzu setzt
Weber triumphirend die Worte: „Dürer sieht hier im Papste deu Stellvertreter
Christi und erkennt ihm die Macht zu, von den Sündenstrafen durch Ablässe
zu befreien. Luther dagegen hatte schon seit sieben Jahren die Ablässe be¬
kämpft" usw. Wiederum muß der Leser denken, Dürer habe jene Worte im
Jahre 1524, d. h. sieben Jahre nach Luthers erstem Auftreten, geschrieben.
Thatsächlich aber stammt die Notiz, wie schon ein Blick ans das veröffentlichte
Faksimilie zeigt, aus dem Todesjahre der Mutter selbst, 1514! Wenn Dürer
in jener Zeit noch vollkommen an der päpstlichen Autorität festhielt, so kann
uns das wahrhaftig nicht Wundern, im Gegenteil, es ist uns nur ein neuer
Beweis für die längst anerkannte und besonders von uns Protestanten längst
anerkannte Thatsache, daß Luther selbst und nicht die sogenannten „Refor¬
matoren vor der Reformation" den Bruch mit der Kirche herbeigeführt haben.
Luther war es eben, der mit seinem gewaltigen Worte das traf, was die
andern bisher nur dunkel geahnt, aber nicht offen ausgesprochen hatten, und
er hat durch dieses Wort nicht nur Dürer, sondern auch manchem andern
unter den Besten unsers Volks „aus großen Ängsten" geholfen.
Der Kenner der Dürerlitterntur wird sich vielleicht wundern, daß ich
zahllose weitere Argumente, die in der bisherigen Litteratur teils sür, teils
gegen Dürers lutherische Gesinnung ins Feld geführt worden sind, und die
auch Herr Weber wieder mit ermüdender Ausführlichkeit herbetet, mit Still¬
schweigen übergehe. Das hat seinen guten Grund. Ich habe kein Interesse
daran, die Wucht der zitirten Hauptbeweise durch allerlei kleine Beweischen ab¬
zuschwächen, die man oft nach Belieben so oder auch anders zu deuten das
Recht hat. Wenn man einen mit Keulenschlügen totschlagen kann, so sticht
man ihn nicht außerdem noch mit Nadeln tot. Auch ist es ja nicht mein Vor¬
teil, durch langes Hin- und Herreden über gleichgiltige Kleinigkeiten die Auf¬
merksamkeit von der Hauptsache abzulenken. Ist der Leser nicht schon jetzt
überzeugt, daß Dürer ein guter Lutheraner war, so wird er es nie werden.
Ist er aber überzeugt, so genügen diese Beweise aus Dürers eignem Munde
vollkommen, ihn gleichzeitig über die Art und Weise klerikaler Gcschichtsfäl-
schung aufzuklären.
Nur noch zwei Beispiele, welcher Art diese Beweischen sind. Auf seiner
niederländischen Reise besucht Dürer den Bischof von Bamberg, geht in die
Kirchen, erwähnt, daß sie „Altäre" hätten, daß sie „schön und groß" seien,
daß viel „andächtigs Gottesdienst" darin gehalten, „viel Amt" darin gesungen
werde, beschreibt Prozessionen, erwähnt Reliquien, kauft sich Rosenkränze (wahr¬
scheinlich zu Geschenken), geht auch wohl zur Beichte, kurz er hat sich uoch
nicht ganz von den Formen der katholischen .Kirche losgesagt. Das ist anch
kein Wunder, wenn man bedenkt, daß die niederländische Reise in die Jahre
1520/21 fällt, und daß selbst Luther, den doch kein künstlerisches Interesse mit
den äußern Formen der katholischen Kirche verband, den entschiednen Bruch
mit dem Papsttum erst 1520/21 vollzogen hat. Wie ungeheuer groß muß die
Kraft des evangelischen Wortes gewesen sein, wenn selbst ein Künstler, dessen
ganze Thätigkeit doch von der Erhaltung dieser Formen abhing, sich so ent¬
schieden für Luthers Lehre aussprechen konnte!
Das andre Beispiel: im Jahre 1523 schreibt Dürer an den Kurfürsten
von Mainz und titulirt ihn in der Adresse „als des heiligen Stuhls zu Rom
Priester, Kardinal" usw., d. h. mit seinem offiziellen Titel. Das genügt Herrn
Weber, darin die „alte katholische Gesinnung zu vermuten!" Es lohnt sich
wirklich nicht, über solche Bemerkungen noch weiter Worte zu verlieren. Be¬
hauptungen wie die, daß Dürer im Sankt-Ulrichskloster in Augsburg Unter¬
kunft gesucht (S, 141), daß Pirkheimer in einem Briefe Dürers spätere Wieder¬
aussöhnung mit der katholischen Kirche bezeugt habe, dürften schwer zu be¬
weisen sein.
Herr Weber beklagt sich in der Einleitung zu dem betreffenden Abschnitt
seiner Schrift darüber, daß der Streit „von manchen Protestanten mit einer
Heftigkeit und Schärfe des Ausdrucks geführt wordeu sei, die zu geschichtliche,,
Forschungen schlecht passen und den ruhigen Leser unangenehm berühren müssen.
Ging man doch im November des Jahres 1892 (!) soweit, meine Behauptung,
Dürer sei als Sohn der alten Kirche aus der Welt gegangen, als das aller-
neueste Produkt ultramontaner Idiosynkrasie zu bezeichnen." Herr Weber scheint
also gegen Polemik sehr empfindlich zu sein. Ich hoffe, daß ihm die Lektion,
die ihm hier erteilt worden ist, keinen Schaden thut. Sollte er sich ober
wieder einfallen lassen, über kunstgeschichtliche Dinge das Wort zu ergreifen
und dabei „verdiente" Forscher zu schulmeistern, ihre Bücher auszuschreiben
und dabei die Wahrheit durch Winkelzüge zu falschen, so wird er mich
wieder auf dem Platze finden.
Kgedeutet in Berlin die „Premiere," dieses sehr nach Hauffe und Baisse
schmeckende Wort aus dem Bühuenknuderwelsch, schlechthin die erste
Aufführung eines Theaterstückes? Schiverlich; denn was man bei
einer ersten Aufführung erwartet: ein litterarisch urteilsfähiges
Publikum, das mit völliger Uubefnugenheit über das neue Bühnen-
!werk zu Gericht sitzt, wird man in einer Premiere nicht finden.
Wie mag man überhaupt das Unbefangne in der Berliner „Premiere" suchen?
Sind doch vielleicht nur die unbefangen, die gekommen sind, um das nach ihrer
Meinung interessante Schauspiel zu genießen, das die Zuschauerschaft selbst dar¬
bietet. Sehen wir einmal zu, welche Leute ein Unbefangner da kennen lernt.
Voran die Herren von der strengen Zunft der Kritiker mit ihrem weiblichen
und sonstigen Anhange. Manche von ihnen lieben es, eine gefällige Figur zu
machen, damit sie niemand übersehe. Andre lassen schon während der Vorstellung
ihr Urteil vernehmen, und zwar möglichst laut, um dann nächtlicherweile für das
Morgenblntt so ziemlich das Gegenteil niederzuschreiben; sie wollen mißliebigen
„Genossen" eine kleine Falle stellen. Die dritten sind die Allerweltsliebens-
würdigen: hier ein Händedruck, dort ein freundliches Lächeln; keine Größe, keine
Berühmtheit, mit der sie nicht ein kürzeres oder längeres Gespräch führten. Die
vierten kommen still und gehen still; aber sie sind nicht ungefährlich. Wenn aber
nun unser Unbefangner am nächsten Tage im Kaffeehause alles das liest, was die
Herren schnell in der Nacht zum Druck gebracht haben, o weh, welch ein vielfältig
verworrner Richterspruch! Was sollen dann die armen Theaterdirektoren draußen
in der „Provinz" (so heißt ja das Land, das außerhalb Berlins liegt!) anfangen?
Mögen sie zusehen!
Aber es giebt in der „Premiere" noch eine weitere, noch fesselndere Gruppe
als die der Kritiker; das sind die Dichter, die Kollegen dessen, von dem das neue
Stück ist, und Schauspieler und Schauspielerinnen, die für diese» Abend frei sind.
Unter den erstgenannten übt gegenwärtig einer eine besonders bezaubernde Wir¬
kung: Hermann Sudermann. Ich war vor kurzem bei einem Vortragsabende
Sudermanns Zeuge eines Andranges, insbesondre von ältern und jüngern Damen,
wie ihn die ärgsten „Sensationen" nicht stärker hervorrufen können. Allerdings
ist etwas um die Persönlichkeit Sudermanns, das man suggestiv nennen möchte.
Zu der seinen äußern Erscheinung, dem energischen Kopfe mit dem tiefschwnrzen
Barte, den dunkeln Augen, der weißen Hautfarbe, gesellt sich ein, trotz der Härte
der Königsberger Mundart, liebenswürdig klangvolles Organ, das der Dichter der
„Ehre" im Vortrag mit guter Wirkung zu gebrauchen weiß. An dem erwähnten
Abend las Sudermanu ein neues, bisher uugedrucktes Drama ans seiner Feder,
wobei er die handelnden Personen beinahe plastisch hervortreten ließ. Keiner der
„Jungen," die neben Sudermcnm das litterarische Tcigcsinterefse beherrschen, ist
äußerlich so auffällig wie er; unser Unbefangner würde sehr enttäuscht sein, wenn
ihm ein ,,Premieren"kundiger die Träger von Namen wie Hauptmann, Halbe,
Tovote n. a. zeigte.
Die sogenannte Welt der Gelehrten bleibt den „Premieren" fern. Nur einer,
der Literarhistoriker Erich Schmidt, fehlt selten; man sagt, daß gewisse Theater¬
direktoren seines ausdrucksvollen Hauptes als eines wichtigen Dekorationsstücks nicht
entbehren möchten. Erich Schmidt ist ein Freund und Protektor der jungen Ta¬
lente; keine Veranstaltung, die irgendwie litterarisches Gepräge trägt, wird ohne
ihn für voll genommen; es scheint auch, daß ihn festere Bande an die belletristische
Litteratur knüpfen, als an das Gelehrtentum.
Was außerdem in der Zuschauerschaft der ersten Aufführungen, neben den
Thenterdirektoreu, die mehr oder minder reit- und frcnderfüllt dem Verlaufe des
Abends folgen, und deu Schauspielern, denen ihr Handwerk die Rolle des Zu¬
schauers noch nicht verleidet hat, die anfallende Mehrheit darstellt, gehört zur Börse
oder hat doch damit irgendwie zu thun. Da sieht unser Unbefangner die prun-
kendsten Toiletten der Damen, die modernsten Anzüge der Herren, die letztern in
ihrer fürchterlichen schwarz-weißen Nüchternheit den aufdringlichen Farben und Formen
ihrer Begleiterinnen zur Folie dienend. Das sind die Kreise, aus denen Suder-
mann in „Sodoms Ende" Gestalten von so verblüffender Ähnlichkeit und Echtheit
genommen hat. Früher war Paul Lindau ihr Porträtist. An seine Stelle ist nun
Sudcrmaun getreten, mit noch größerer und rücksichtsloserer Fähigkeit, nach der
Natur zu zeichnen.
Zählt mau zu diesen Leuten noch die Kligue des Dichters, dessen neuesten
Werke der Abend gilt, und die ihr gegenüberstehende Gruppe, die jede Bcifalls-
äußeruug sofort mit Zischen beantwortet, so hat man das Kollegium beisammen,
von dessen, Spruch das weitere Schicksal des Siückes abhängt.
Wie gesagt, die Theaterdirektoren in der „Provinz" waren bisher-gewohnt,
die Wahl eines Dramas nach seinem ersten Berliner Erfolge einzurichten. Neuer¬
dings scheint es, daß sich die „Provinz" von dem Urteil der Berliner „Premiere"
freizumachen - beginnt. Es wird auch Zeit, deun rühmlich ist es wahrlich nicht,
sich seineu Geschmack von einem Gerichtshofe wie dem genannten vorschreiben
zu lassen. ........
Heute haben wir zwei erste Aufführungen zu besprechen. Die eine war im
Deutschen Theater, auf der Bühne, die, vor etwa zehn Jahre» die Darstellungen
klassischer Dramen mit einem bis dahin in Berlin unbekannten Geiste durchglühend,
heute nnr Pflegestätte der „modernen" Richtung ist und mit dem, Was sie heute
bietet, im Vergleiche zur Zeit August Försters uns etwa berührt, wie ein Kommis
von Gerson gegenüber einer Prachtgestalt aus der sonnigen Zeit der Renaissance.
Im Deutschen Theater ist vor alleu Gerhart Hauptmnnn zu Worte gekommen,
mit seinen Webern hat er seine schönen Tantiemen eingeheimst und mit seinem
Florian Geyer einen argen Mißerfolg erlebt. Diesen wettzumachen, hat es der
Direktor Brahm sehr eilig gehabt und hat dem lärmenden Ritter- und Banernstück
alsbald ein Werk, das in der jüngsten Gegenwart spielt, folgen lassen: „Lebens¬
werte," Komödie von Max Halbe.
Herr Max Halbe, der kaum die Dreißig überschritten hat und in seinem ge¬
fälligen Äußern einen Mann des Durchschnitts bekundet, ist in Berlin und darüber
hinaus besonders durch sein Drama „Jngend" bekannt geworden. Das Stück
fand ebenso warme Lobredner wie Gegner; und während das Berliner Residenz-
thenter diese angeblich duftige Blüte jungdeutscher Poesie mehr mis hundertmal
spielte, und Männlein und Weiblein sich an der Liebelei gar nicht satt sehen konnten,
sah sich anderwärts die Polizei hie und da zu einem Veto bewogen. Der Vor¬
urteilslose könnte beide Parteien, die Preisenden wie die in ihrem Schamgefühl
Verletzten, gleicherweise fragein Wozu der Lärm? Gewiß, das Drama hat gewisse
„intime" Reize; die Stimmung des Pfarrhauses ist fein getroffen, der Gegensatz
zwischen beiden Geistlichen, dem Duldsamen und dem entsagenden Fanatiker, scharf
herausgearbeitet, die Licbestäudelei der beiden jungen Leute, trotz ihrer mehr
oder minder bewußten Sinnlichkeit, mit einer gewissen Zartheit behandelt; das
Werk erhebt sich sicher über manches, was die Armseligkeit der letzten Jahre hervor¬
gebracht hat, es giebt uns Menschen. Aber ihr Thun und ihr Schicksal wirkt nicht
tief und nachhaltig; das Ganze ist mehr Episode, mehr Stimmung, als ein ge¬
schlossenes, in sich fest gefügtes Drama; schon heute können die Bühnen das Stück
nicht mehr aufführen, ohne vor leeren Bänken zu spielen. Darum hätten anch die
Vorkämpfer für „Ordnung und Sitte" minder laut zu sein brauchen. Bringen
doch die Zeitungsreporter fast täglich Geschichtchen wie die, die da im Pfarrhause
geschehen; das Alltägliche aber ist flüchtig und wird vergessen.
Halbes „Lebenswerte" bedeutet leider nichts besseres als die „Jugend." Merk¬
würdig: keiner der „Modernen" hat seither einen Fortschritt bekundet; Hauvtinami
sind keine Weber, Sudermnnn ist keine Ehre mehr gelungen. Haben sie sich mit ihren
ersten Wurfen ausgegeben? Oder. unterlassen sie es, nach Größe im Stoff, nach
Größe in der Komposition zu trachten? Der zuletzt angedeutete Mnugel hat in erster
Linie die „Lebeusweudc" zu Falle gebracht. Denn die „Moderne," wie sie Herr
Halbe vertritt, verachtet das überkvmmne dramatische Gesetz. Wozu die Steigerung,
wozu das Walten von Schuld und Sühne, wozu am Schluß das tabula, ävovt?
Macht es das Leben so? Nein! Wir wollen aber Leben geben. Nun, sehen wir
uns einmal an, wie das in der „Lebenswerte" gemacht wird.
Wir sind in Berlin, in einer anständigen mittlern Wohnung. Da sanft eine
ledige Olga Hensel und, zur Zeit besuchsweise, ihre Nichte Bertha Ein Student,
Ebert, wohnt zur Aftermiete. Die drei vertragen sich muss beste.
Ebert ist zwar ein verbummelter, versoffner Mensch, der sich nicht anders
zeigt als dreiviertel delirirend; das hindert aber Nieder Fräulein Hensel noch ihre
Nichte, den widerwärtigen .Kerl sehr nett zu finden; ja Fräulein Bertha läßt sich
sogar gern ein Küßchen von ihm gefallen. Überhaupt ein hübsches Pflänzchen,
diese Bertha: „höhere Tochter" (der Pupa höherer Beamter) aus der richtigen
„Provinz," nämlich ans Graudenz, aber altklug, lüstern, frech. Arme Provinz,
armes Graudenz! Sollte aber nicht Herr Halbe um die Mittagszeit, wenn die
Schulen ans sind, die höhern Töchter Berlins studirt und dabei ein Stückchen seiner
Bertha kennen gelernt haben?
Noch zwei Männer kreuzen die Pfade der Olga. Der eine ist der Geheimnis¬
volle , mit der Vergangenheit, ans Amerika. Er hat einst mit Olga gespielt und
sie geliebt. Während er fort war, ist ein andrer gekommen und Olgas Verlobter
geworden; aber ein schreckliches Unglück hat ihn hinweggerissen. Nun ist Hehre,
der Jugeudgcspiele, wieder dn, ohne jedoch Olga tiefere Neigung einzuflößen. Dazu
bedarf es eines andern, eines Mannes der Kraft und der That. Das ist der
Techniker Weyland.*) Ein Jugendgenosse Eberts, kommt er von ungefähr in Frau-
kein Heusels Wohnung und findet dort ein gastliches Duch. Der Mann braucht
Berlin zur Ausnützung eines Patents, um Erzgüsse im Ganzen herzustellen. Aber
auch Geld hat er nötig und hat keins in der Tasche. Fräulein Olga will es
schaffen, Heyne soll es borgen. Hierum dreht sich vorwiegend die Handlung oder
das Wünschen und Hoffen!dieser drei Menschen. Olga mochte alles für Wehlaut
thun, denn sie liebt ihn; der Mann aus Amerika aber ist skeptisch, und seiue
Taschen bleiben zugeknöpft. Einen ehrlich gemeinten Heiratscmtrng, den er seiner
Jugendgespielin macht, läßt sie ohne bestimmte Antwort. Glücklicher ist Ebert, der
Student. Bertha ans Graudenz entfacht seine Sinne, und schon scheinen die Dinge
wie in der „Jugend" gehen zu wolle». Da kommt Olga über die mit einander
Kosenden, es fällt das Wort Braut, und alsbald ist das Verhältnis fertig, das
man eine Verlobung nennt. Das soll wohl eine Verspottung der Art sein, wie
heute manchmal solche Verlöbnisse zustande kommen; Liebe ist bei der Sache nicht
im Spiele; das Mädchen aus Graudenz erklärt sogar, Liebe sei Unsinn; „Pupa"
habe „Mama" auch ohne Liebe genommen, und es gehe recht gut so. Armes
Graudenz!
Soweit ist es nun drei Akte gegangen, und keineswegs ohne hübsch getönte
Stimmungen, ohne humoristische Lichter, ohne sicheres Auseinanderhalten der
— wenn auch zum Teil unsympathischen und verzerrten — Gestalten. Da fühlt
der Dichter den Drang nach so etwas wie Romantik., Wir kommen in den
Raum, wo Weylands Schmelzofen erglüht, damit seine Gußerfindung erprobt
werde. Hier enthaltnen sich einige Leute, die gern in ihren Erinnerungen kramen,
daß vor Jahr und Tag schon einmal ein Dichter (Herr Bürger-Lnbliner) mit
solch einem Glühofen Effekt zu machen versucht hat. „Gold und Eisen" hieß
damals der Rahmen der Schmelzgeschichte, bei der es aber, wenn wir nicht irren,
etwas amüsanter zuging als! bei Herrn Halbe. Es ist ja müßig, solches Sicherinner»
und Vergleichen; aber da die Modernen durchaus modern sein wollen, so ist es
vielleicht manchmal angebracht, zu sagen, daß ihre technischen Mittelchen nicht immer
neu sind.
Angesichts des Weylandschen Glühofens unterhält man sich nur von Geld
und Liebe. Heyne, der Amerikaner, soll das erste geben, er thut es aber uicht,
weil er das zweite zwischen dem Erzgießer und Olga Vorhäute» glaubt. Es bedarf
erst der „Lebenswerte," um ihn anders zu stimmen. Zu dieser kommt es, indem
Weyland der Olga endgiltig einen Korb giebt, Heyne sich von der Vortrefflichkeit
seines vermeintlichen Nebenbuhlers überzeugt und dem Patent mit seinen Mitteln
beispringt, der Student Ebert eine Erbschaft macht, sich von Weyland ab „wendet"
und Verlobter der Bertha bleibt, Olga endlich sich weinend vor das Bild ihres
toten Bräutigams begiebt und uns im Ungewissen läßt, ob sie den Heyne noch
freien wird oder nicht. Weylands Erfindung aber triumphirt. Ein zweiter Ben-
venuto Cellini, sieht er den Guß der Form entspringen: der borghesische Fechter
steht tadellos da. Weyland und Heyne nehmen ihn als Zeichen, daß sie fortan
Kämpfer sein werden.
Die zwei Akte, in denen das zuletzt Erzählte geschieht, verflachen sich gegen
deu Schluß hin immer mehr. Herr Halbe hat zuletzt wohl das Bedürfnis nach
Handlung gehabt; und so bringt er denn im letzten Akt ein technisch mehr als
schülerhaftes Herein und Hinaus seiner Leute, ein Verwechseln und Verschwinden,
ein Schüßlein Eifersucht durch ein vergessenes Tüchlein, ein Liedlein am Klavier,
einen trinkseligen Berliner Hauswirt, der es auch auf Olga abgesehen hat, und
ewiges mehr. Alle treffen einander in Weylands Werkstatt, die im Hinterhause
liegt, schütten einander ihre Herzen aus und verlassen dann den Raum, bis ans
den Erzgießer und den nüchternen Mann aus Amerika. Fad und öde schließt
das Drama.
Das „Premieren"Publikum des Deutschen Theaters hat sich der „Lebcns-
weude" gegenüber so Verhalten, daß die Zeitungskritik eine Ablehnung „konstatiren"
konnte; d. h. es wurde lau geklatscht und dazwischen gezischt. Wenn man auch
über die humoristischen Züge in der Charakterzeichnung während der drei ersten
Akte lachte, so begann man doch sich zuletzt zu langweilen. Gerade zum Schluß
aber fingen Halbes Leute an zu handeln, und zwar so, daß es nach Kotzebue und
Benedix aussah. Es ist doch seltsam: solange es Stimmung und psychologische
Kleinmalerei galt, Züge von wirklicher Feinheit; sobald es darauf ankam, das
dramatische Handwerk spielen zu lassen/ schülerhafte Naivität, und gleichwohl der
offenbare Drang, zuletzt dem traditionelle» Gesetz des Dramas zu gehorchen. Das
konnte nichts andres als ein zwiespältiges Werk ergeben, das in der einen Hälfte
interessirte, in der andern kalt ließ. Wollen sich denn die Herren nicht entschließen,
es ein wenig den Meistern in der Führung vou Wort, Charakter und Handlung
nachzuthun? Etwa einem der größten Kunstwerke aller Zeiten, der Emilia Galotti!
Oder wenn sie ihnen zu Steifleinen akademisch scheint, so haben sie einen Nähern
und Jüngern, der zufällig einen Tag nach dem Halbeschen Mißerfolge auf der
Bühne des Berliner Theaters gezeigt hat, wie mans machen muß, um theatralisch
zu wirken: Ernst von Wildenbruch.
Auch Herr vou Wildenbruch ist, wie man weiß, schon einmal „naturalistisch"
gekommen. War es damals aus Verstimmung gegen die königliche Bühne, die ein
historisches Drama von ihm, den „Generalfeldobrist," abgelehnt hatte, oder war es,
um den „Jungen" zu sagen: Kinder, was ihr könnt, kann ich auch! genug, Herr
vou Wildenbruch schrieb die „Haubenlerche." Doch den Jungen, die Wildenbruch
überhaupt verabscheuen, war die Sache nicht echt und nicht stark genug; die Zahmen
und Frommen entsetzten sich ob der Roheit einer Verführungsszene; und die es
ehrlich meinten, sagten: „Armsel'ger Fürst, ich kenne dich nicht mehr!" Herr von
Wildenbruch besann sich auf das, was ihn an die Hohenzollern knüpft; und er schuf
die Geschichte vom jungen großen Kurfürsten, vom „Neuen Herrn." Das Schau¬
spielhaus setzte das Werk prachtvoll in Szene, und so mochte es mehr als Kostüm¬
schanstück als als großes Drama wirken. Manche Leute stellte» zwar einen pein¬
lichen Vergleich an mit den Mttrzereignissen von 1890 und fragten sich, ob das
derselbe Wildenbruch sei, der ein so tief empfuudnes Gedicht auf den Abschied des
Fürsten Bismarck gemacht hatte. Gleichwohl behauptete der „Neue Herr" seine
Zugkraft mehr als die beiden folgenden Stücke: „Das heilige Lachen" und „Meister
Bnltzer." Beim Anschauen dieser Werke meinte man Wohl: wo ist der alte Wilden¬
bruch, der Wildenbruch der Karolinger, des Harold, des Mennoniten geblieben?
Dann schwieg der Dramatiker eine Zeit lang.
Aufs neue hat er nun das Wort genommen, und zwar mit dem rauschenden
Pathos, dem Klirren vou Schwert und Ritterrüstung, wie in den frühem Stücken;
der Wildenbruch von ehemals hat sich wieder eingefunden. Diesmal ist es „Heinrich
und Heinrichs Geschlecht," das uns seine historisch kostümirte Muse vorführt, und
zwar Heinrichs des Vierten, des Königs und Kaisers der Deutschen. Das Werk
umfaßt in dein Buche, das bereits erschienen ist, zwei Dramen; uns soll hier nur
das erste: „König Heinrich," wie es über die Bühne des Berliner Theaters ge¬
gangen ist, beschäftigen.
Es ist die Geschichte des Kanossaganges. Der Dichter hat die geschichtlichen
Begebenheiten, von dem Tode Heinrichs III. und der Wegsiihrnng des fünfjährigen
„Königleins" Heinrichs IV. durch den Bischof Anno von Köln bis zur Nieder¬
werfung Gregors VII. auf der Engelsburg, im wesentlichen in sein Stück aufge¬
nommen; wer sich etwa mit diesen Dingen feit seiner Gymnasialzeit nicht beschäf¬
tigt hat, macht hier ein derartiges Repetitorium dnrch, daß er einer gestrengen
Prüfungskommission, die ihn über Heinrich IV. und Gregor VII. befragte, getrost
die Stirn bieten konnte. Damit deuten wir aber auch den Mangel des Stückes
an- die vorwiegend äußerlich theatralische Anlage. Der Dichter leitet uns nicht
in den Geist jener Tage, wo die Politik Heinrichs und die Politik Gregors ehern
und grausam aneinanderstießen. Wir sehen nnr die äußern Dinge, sprunghaft
eins dem andern folgend: das trntzige fünfjährige „Königlein," den jugend¬
lich überschäumenden und den Papst tollkühn herausfordernden Herrscher, den
strenge richtenden und den Bannstrahl schleudernden Papst, den tief verzweifelnden
und mit einer Thränenflnt seine Bußfahrt beschließenden König, den bald triumphi-
renden, bald erbärmlich sentimentalischen, bald bannender, bald wieder ent-
bannenden Papst ans Kanossa, den vor ihn sinkenden und dann jäh aufbrausenden
Heinrich, den endlich besiegten Gregor und den siegenden König, beide einander
glühende Worte zuwerfend, wie zwei geübte Redner aus den bewegten Tagen des
Kulturkampfs.
Den Entschlüssen beider eine tiefere, ans gewichtigen Gründen sich aufzwingende
Motivirung zu geben, verschmäht der Dichter. Der Knabe Heinrich tritt vor uns
hin, keck und heißblütig. Als ihm der Archidiakon Hildebrand, der spätere Gregor VII.
begegnet, ahnen beide, daß sie das Schicksal einst zusammenführen wird. Welche
gewaltsame Vorbereitung auf das Kommende, dieses Ahnen! Dann sehen wir
Heinrich als König, glühend im Lebens- und Genußdrnnge und die Wormser
Bürgerschaft durch Leutseligkeit entzückend. Da steigt jäh in ihm der Gedanke
auf, Gregor etwas Arges zu sagen. Der Papst weigert sich noch, Heinrich die
Kaiserkrone aufs Haupt zu setzen. Das entflammt des Königs Zorn, und so
diktirt er einen schmähenden Brief an Gregor VII. Ebenso prompt spricht der
Papst, als ihn Heinrichs Legat erreicht hat, den Bannfluch aus. Ein paar von
Heinrich gekränkte sächsische Edelleute, die die Rachsucht nach Rom getrieben hat,
lärmen dazwischen. Aber von Fäden, die hin- und hergesponnen würden, um
diesen Konflikt heraufzubeschwören, gewahren wir nichts. Nur die Thatsache»
stehen da. Auch daß der anfangs so stolze Heinrich durch den Fluch des Papstes
über Nacht, ein kleiner, verzagender Mensch geworden ist, überrascht einigermaßen.
Der sündige Tannhäuser kann sich nicht zerknirschter geberden. Die Szene wird
äußerst rührend. Heinrich weint, seine Gattin weint, ,sein Kind weint; und da
es gerade Weihnachten ist, erscheint, die Thränenstimmung zu erhöhen, eine
Wormser Kinderschar mit Tnuuenbäumchen und Lichtern dran und Steckenpferdchen
für den Konigsknaben. Berliner Kritiker haben diese Szene „allerliebst" gefunden.
Also etwas „Allerliebstes" im Kampfe Heinrichs wider Gregor!
Der tiefbctummerte König thut uun den Bußgang nach, Kanossa und harrt
dort die drei bekannten Tage aus in dem bekannten Eis und Schuee. Unterdessen
sitzt Papst Gregor oben am warmen Kamin und unterhält sich mit dem Abt von
Clugny über seine Pläne und die Zukunft der Kirche. Ihre Herrschaft zu erringen
und zu sichern ist das fanatische Streben des Papstes. Doch er vermag auch ein
weicher, milder Mensch zu sein; und dieser regt sich, als Heinrichs Mutter und
Gattin flehen, den frierenden und hungernden König einzulassen. Wieder ein sehr
naives und äilßerliches Mittel, einen Gregor VII. umzustimmen! Heinrich schleppt
sich herbei und sinkt vor dem Papst in die Kniee; und Gregor verzeiht ihm und
nimmt den Baun von ihm. Da: ein plötzlicher Sinneswcchsel Heinrichs! Er sieht
den abseits stehenden Rudolf von Schwaben und dringt i» den Papst, zu erkläre»,
ob er Rudolf uoch als deutschen Gegenkönig anerkenne, feit der Fluch von ihm,
von Heinrich, genommen sei. Gregor schweigt. Das empört den König, und
wild aufbrausend, schleudert er aufs neue hochfahrende Worte gegen den Papst.
Hinweg ist Reue und Bußfertigkeit. Wie erstarrt steht der Papst und seine Um-
gebung. Man sollte meinen, nun werde der wehrlose König übermannt und ins
tiefste Verließ gestürzt werden. Aber nein; der Vorhang fällt, und als er sich
wieder hebt, sehen wir, wie der Papst in ein finstres Gelaß der Engelsburg
flächtet und niedersinkt, und hören den Lärm der siegreichen Scharen König
Heinrichs. Noch einmal erscheint Heinrich vor dem gefangnen Gregor; noch ein¬
mal bittet er, ihm die Kaiserkrone aufzusetzen. Aber Gregor verharrt bei seiner
Weigerung. Fluch hinüber und herüber, Rede und Gegenrede, sehr wohl zugespitzt
auf den Schlachtruf: hie Königtum — hie Papsttum! Dann verläßt Heinrich einen
Sterbenden, dessen letzter Atemzug die Worte durchhaucht, daß der Kirche dennoch
die Zukunft gehöre.
Man sieht, nur die Gestatte,, Heinrichs und Gregors hat Wildenbruch, aller¬
dings in seiner Art, mit vollen, satten Farben in den Vordergrund seines Ge¬
mäldes gestellt. Heinrich soll königlich sein von Anfang an, Gregor der starre,
strenge Kirchenfürst, der den Cölibat schuf und den Stellenverkanf vernichtete; aber
beide sind in derben Linien hingeworfen, etwa wie sich das Bild auf der Theater¬
kulisse, das in der Ferne schön wirkt, beim nähern Zusehen als rasch hingestrichen
erweist. Ihre Handlungen vollziehen sich schnell und wirksam; aber die Trieb¬
federn bleiben verborgen. Beide rücken bisweilen durch die Banalität ihres Ge-
bahrens oder dessen, das sie dazu bestimmt, in den Kreis heutiger Alltagsmenschen;
der Heinrich, der da am Weihnachtsabend entdeckt, wie sehr seine Gemahlin Liebe
verdient, und der Gregor, der dem Abte von Clugny in die Arme sinkt und von
Blümlein und Vöglein schwärmt — das sind Menschen, die aus einem artigen
Familieublattromcm geschnitten sein könnten. Nun wird man ja für den Dichter
das Recht in Anspruch nehmen wollen, sich um den Geist der Geschichte nicht zu
kümmern, sondern Menschen zu geben und vor allem Dichter zu sein. Das Recht
soll ihm auch gewiß bleiben; aber wenn die geschichtlichen Begebenheiten Zug um
Zug so dramatisirt werden, wie sie überliefert sind, also die Handlung durchaus
geschichtlich ist, so ist es uicht wohlgethan, wenn der Dichter den Hauptfiguren
Gedanken unterschiebt und sie Handlungen begehen läßt, die mit den geschicht¬
lichen Begebenheiten nichts gemein haben, ja oft zu ihnen in schroffem Wider¬
spruche stehen.
Doch man müßte lügen, wenn man dem König Heinrich, so wie er auf dem
Berliner Theater erschien, eine starke, ja eine große Wirkung absprechen wollte.
Der Strom der Handlung braust machtvoll daher. Der Einzelne und die Menge
thun sich lebensvoll zusammen. Wenn König Heinrich inmitten der Wormser
Bürgerschaft erscheint, sie zu frohem Gelage entbietet, dann des Papstes Weigerung,
ihn zu krönen, vernimmt, im Zorne aufflammt und die Botschaft diktirt, so ist das
von einer solchen theatralischen Kraft durchdrungen, daß man sich über den
brausenden Beifall, der dem Akte folgte, nicht zu wundern braucht. Aber die
folgenden Akte überbieten dann den ersten nicht. Es ist zuviel breite Rhetorik
darin. Der Schluß des Austritts ans Kanossa wieder macht, obwohl er die Ge¬
schichte verleugnet, einen starken Eindruck; und des Papstes Sturz auf der Engels-
bürg, bei tobenden Schlachtlärm, das Bangen und Zittern der sich um Gregor
drängenden Klerisei, ihre feige Flucht, als Heinrichs Sieg entschieden ist, der Tod
Gregors, bei dem nur ein junger Geistlicher als Zeuge verweilt — das alles
steigert sich und baut sich zu einem großen tragischen Schlüsse auf.
Endlich noch ein außerhalb der Bühne liegender Grund für die Wirkung des
neuen Wildeubruchschen Dramas: das Publikum, das ihm einen lauten Erfolg be¬
reitete, war — aus den im Eingange geschilderten Bestandteilen zusammengesetzt —
dasselbe, das dem an andrer Stelle in diesen Blättern besprochnen „Florian Geyer"
von Gerhart Hauptmann vor kurzem eine Niederlage oder doch einen sehr lauen
Empfang bereitet hatte. Je beabsichtigter aber der Herrn von Wildenbruch gezollte
Beifall erklang, um so mehr mußte sich dem Unbefangnen die Überzeugung auf¬
drängen, daß hier auch etwas wie Widerspruch gegen die Richtung der Herren
Hauptmann und Genossen im Spiele war. Man sah hier wieder einmal ein
glänzendes Beispiel des alten Bühnenmetiers, keine Stimmung, sondern Handlung,
und darüber freute man sich. Herr Hauptmann ist im „Florian Geyer" gewiß
viel „historischer" gewesen als Herr von Wildenbruch im „König Heinrich," das
Bauernkriegdrama weist eine große Fülle geschichtlicher Einzelheiten auf; aber der
Vorzug des einen ist der Fehler des andern: bei Hauptmann nicht jene wild hin¬
rauschende geschichtliche Handlung, bei Wildenbruch uicht jenes innige Bestreben,
den Geist der geschilderten Zeit zu erfasse» und zur Anschauung zu bringe». Der
eine erstickt im Detail, der andre verschmäht alles Detail und bleibt auf der Ober¬
fläche der äußern Ereignisse. Gelänge es, von jedem der beiden die Vorzüge auf¬
zunehmen und zu verbinden, dann wäre der Thon geknetet, aus dem ein Meister¬
werk geformt werden könnte.
in Abend lustwandelten Tante Moller, Erika und Herr Albert
Biermcm im Waldpark. Es war Mondschein, aber Erika wunderte
sich, wie entsetzlich langweilig dieser Park und der weite Forst,
der sich jenseits der Schlucht hinzog, heute aussah.
Am nächsten Tage war Herr Biermcm von früh sechs Uhr
an bis abends um elf Uhr nicht abzuschütteln. Er wurde ganz
zur Familie gerechnet. Erika von Haltern stöhnte, aber sie fand erst des
Nachts Ruhe vor ihm.
Den nächsten Tag war er nach Dresden gefahren, und Erika atmete auf.
Hätte sie gewußt, was er in Dresden trieb, so würde sie immer noch lieber
seine Gesellschaft ertragen haben.
Am Spätnachmittag, schon gegen Abend, sah sie von der Veranda aus
einen Jungen in der Nähe des Hauses umherstreichen, barfuß, die Beine nackt
bis mi die Kniee; außer der kurzen Hose hatte er nur ein Hemd an und einen
verwitterten Strohhut auf.
Sie trat hinaus und ging ein Stück auf den Waldpark zu, bis man sie
vom Hause aus nicht mehr beobachten konnte. Und richtig, der Junge folgte
ihr. Baurile mußte ein guter Herr sein, denn der Bengel gab sich die erdenk¬
lichste Mühe, sich seiner Aufgabe so tadellos wie möglich zu entledigen. Erst
als er sich ganz sicher fühlte, und niemand zu sehen war, sprang er heran,
zog einen kleinen Brief aus dem Hntfutter und meldete einen schonen Gruß
von Herrn Vanrile.
Der Junge bekam eine Mark geschenkt und fiel fast auf den Rücken ob
der erstaunlichen Höhe seiner Belohnung; Erika aber eilte ins Haus zurück,
um in sicherm Winkel ihres Erichs Brief zu lesen.
Meine süße, kleine Maus, schrieb er, wer wird denn gleich Furcht haben!
Herr Bierman mag zu Hause sehr einflußreich sein, aber die Leute, die mich
zu beurteilen haben, stehen viel zu hoch, als daß er mir schaden könnte.
Meine Arbeit wird den kleinen Klatsch vergessen machen. Kann sie das nicht,
dann könnte sie überhaupt nicht siegen. Wir müssen uns wiedersehen, Lieb¬
ling, damit wir beide Mut behalten. Es wird sich ja ein Tag finden, an
dem du frei bist, wenn auch nur für ein Viertelstündchen. Schreibe mir,
wenn du es zeitig genug weißt, ich harre immer deiner Befehle. Unterlaß es
nicht etwa aus Furcht, daß es noch nicht sicher genug sei; ich erwarte dich
lieber zehnmal vergeblich drüben, als daß ich darauf verzichtete, dich so lange
nicht zu sehen, wie wir uns vorgenommen hatten.
Schon am nächsten Tage konnte Erika ihrem Erich schreiben, daß sie ihn
am gewohnten Orte zur gewöhnlichen Stunde erwarten würde. Herr Bierman
bekomme Besuch aus Dresden und habe auch Onkel Moller zum Diner ein¬
geladen. Es würde wohl ein Herrendiner nach Hamburgischen Muster und
folglich sehr spät werden. Die Damen seien den Nachmittag und Abend sich
felbst überlassen, und sie würde Gelegenheit finden, sich für ein halbes Stündchen
frei zu machen.
Vanrile war sehr erfreut, als er diesen Brief erhielt; es lag ihm viel
daran, die nähern Einzelheiten über das z» hören, was Bierman mit dem
Geheimrat besprochen hatte. In seinem Innersten war er keineswegs so zu¬
versichtlich, wie er sich Erika gegenüber den Anschein gegeben hatte. Er war
denn doch zu erfahren und hatte zu lange im praktischen Leben gestanden, als
daß er nicht hätte wissen sollen, wie manchmal sehr große und sehr leidvolle
Wirkungen sehr kleine und kleinliche Ursachen haben. Alle Lauterkeit der
Kunstrichter vorausgesetzt: wenn sie nun wirklich zwischen zwei Werken, die
sie fast für gleich hielten, schwankten, konnte da nicht ein so kleiner Anstoß
den Ausschlag geben? Die Bewerbung war ungewöhnlicherweise so aus¬
geschrieben, daß die Künstler bekannt waren, man war von dem sonst herr¬
schenden Brauche abgewichen, wonach die Jurh gewöhnlich über die Werke
urteilt, ohne die Schöpfer zu kennen, und zwar deshalb, weil man bei dieser
Gelegenheit gerade auf die namhaftesten Bildhauer rechnen mußte; diese Männer
aber waren so berufenen Richtern sowieso nach ihrer ganzen Art, nach ihrer
Technik und so weiter zu genau bekannt, als daß die Namenlosigkeit von
irgendwelchem Nutzen gewesen wäre. Man hätte doch gewußt, daß Werke,
die ihren Meister nicht verrieten, von unbekannten Künstlern stammen müßte».
Darin lag ja ein gewisser Trost; man konnte annehmen, an diese Prüfung
würde die Kommission eher mit einer gewissen Scheu herantreten, sich nicht
etwa von einem klangvollen Namen mit Unrecht beeinflussen zu lassen. Aber,
aber! Wenn er nun wirklich in Betracht gekommen wäre neben einem von
denen, die schon ganz groß waren, wär es dann nicht ganz erklärlich gewesen,
daß sich die Herren durch den Biermanschen Klatsch doch beeinflussen ließen,
ohne es auch nur zu merken? Und was wurde dann aus ihm, wenn er zurück¬
gewiesen wurde? Wann bot sich wieder eine Gelegenheit zum Verkauf? Er
bekam vielleicht sein Geld niemals wieder, und er hatte ein kleines, für
ihn aber sehr wichtiges, sein letztes Kapital dafür ausgegeben! Der Mut
wollte ihm sinken. Er machte sich Vorwürfe über seineu sträflichen Leichtsinn,
sich in diese Gefahr begeben zu haben. Und wie lange, sagte er sich, würde er
dann kämpfen, ehe er daran denken durfte, seine kleine Erika zu verlangen, von
diesen Verwandten zu verlangen. Er würde zunächst für den täglichen Groschen
arbeiten, kleine Aufträge annehmen müssen, würde vielleicht niemals wieder die
nvtuge Ruhe und Sammlung zu einem größern Werke finden, das ihn empor¬
trug über die Menge und ihm zu Einnahmen verhalf, mit denen er als Be¬
werber um die Hand eines Mädchens wie Erika auftreten durfte. Wer weiß,
ob er seine Muse, die da im Thon vor ihm stand, jemals in Marmor würde
schaffen können!
Er wurde mißtrauisch gegen sich und sah seine Arbeit mit kritischen
Augen an; er fand dies nicht richtig und fand jenes verkehrt und begriff nicht,
wie er neulich so entzückt über sein Werk hatte sein können.
Er wollte sich durch die Arbeit von seiner Sorge ablenken. Er war
neulich in Dresden gewesen; dn waren ihm im großen Garten die beiden
traurigen Löwen aufgefallen, die vor den Karolaseen auf der Brücke Wacht
halten, die nach Strehlen führt. Er hatte Skizzen und Studien aus frühern
Jahren hervorgesucht, Zeichnungen nach alten Skulpturen, namentlich assyrischen,
Zeichnungen nach der Natur, Augeublicksphotographien aus verschiednen zoolo¬
gischen Gurten und andres mehr, und hatte begonnen, einen Löwen zu mo-
delliren. Er stellte sich einen wirklichen Löwen vor, jeden Muskel gespannt,
den steifen Nacken fast wagerecht vorgestreckt, fertig zum Sprunge, um ihn in
der nächsten Sekunde auszuführen. Aber es wurde heute nichts; rücksichtslose,
siegessichere, gewaltige Kraft künstlerisch zu gestalten, war ihm heute unmög¬
lich, der ganze Gedanke lag ihm heute zu fern, die alte Katze kam ihm gesucht,
anspruchsvoll, unwahr vor. Er sah ein, daß er hente nichts schaffen würde,
und er ergab sich schließlich drein.
Gerade nun, als er im Begriff war auszugehen und sich im Walde Ruhe
zu erkaufen, da kam ihr Brief. Das war ihm ein großer Trost, es war ihm,
als wenn sich seine Hoffnung wiederfände, die er doch haben mußte, wenn er
Erika heute Abend sah.
Am Abend trafen sie sich, und jeder sprach dem andern Mut ein, und
jeder that, als ob er fest von dem Erfolg überzeugt wäre. Aber beide
gingen auseinander mit demselben schweren Druck auf der Seele: was soll
nur werden, wenn das Werk nicht siegt? Und wie unwahrscheinlich war es,
daß es siegte, wie thöricht war es, aus einer so schwachen Möglichkeit eine
Wahrscheinlichkeit zu machen, eine Wahrscheinlichkeit, mit der man rechnete,
wie vollkommen thöricht! War es nicht, als ob sie sich vorgenommen hätten,
sich zu heiraten und eine Villa zu kaufen, weil sie ein Lotterielos hatten und
also auf das große Los rechnen konnten?
Am ersten September sollte der Spruch verkündet werde»; bis dahin
waren kaum noch acht Tage. Während Vcmrile durch den dunkelnden Wald
wieder nach Hause seiner öden Kammer zuwanderte, rollte in schlankem Trabe
ein eleganter offner Wagen nach Dresden zurück. Es saßen vier Herren darin,
die von einem etwas stark verlängerten sehr seinen Herrendiner nach Hause
fuhren, das sich von fünf Uhr bis nach sieben Uhr ausgedehnt hatte, dein
nach einer mäßigen Pause für Kaffee und Cognak kalter Schwedentisch und
kokette Brötchen mit bairischen Bier gefolgt waren, und das schließlich in eine
höchst vortreffliche Bowle angenehm ausgeklungen war, die man in der dicht
belaubten Veranda mit der Aussicht auf das herrliche Elbthal genossen hatte.
Die blitzenden Wngenlaternen warfen einen grellen Schein voraus und seit¬
wärts ins Dunkel. Die alten mächtigen Stämme der Allee tauchten flüchtig
auf, es zeigten sich scharf beleuchtete Gesichter einzelner Spaziergänger, die
geblendet nach dem sausenden Wagen blickten.
Ein herrlicher Abend, sagte einer der Herren.
Ja, es war ein reizender Tag, sagte der andre, famoses Diner, die ganze
Sache brillant. So was verstehen Ihre Hamburger doch, Herr Geheimrat.
Ja ja, Herr Bierman scheint ein Künstler in dieser Beziehung zu sei».
Hin, meinte der Geheimrnt, Künstler sollten wir doch so etwas eigentlich
nicht nennen.
Ihnen scheint der Herr überhaupt nicht recht zu gefallen, Herr Geheimrat;
begreife ich nicht, sehr liebenswürdiger Mensch, find ich.
Mein lieber Herr Professor, antwortete der andre, das kommt wohl daher,
daß mir von diesem Typus schon zu Hause Exemplare genug begegnet sind.
Er kann mir wirklich nach keiner Richtung hin besonders gefallen. Ich hätte
am liebsten die Einladung abgelehnt. Aber der geschäftliche Abschluß war mir
angenehm, der Mann ist mir auch von Leuten warm empfohlen worden, auf
die ich immerhin Rücksicht zu nehmen habe, und so half es eben nichts. Es
freut mich, daß er ihnen etwas interessanter gewesenist, als mir, das ist der
Neiz der Neuheit. Oster als fünf- bis sechsmal würden Sie diese Sorte von
Mensch auch nicht aushalten, es müßten denn sehr große Pausen dazwischen
liegen.
Ich glaube, fiel der dritte ein, Herr Bierman verdankt den guten Eindruck,
den er auf unsern verehrten Herrn Kollegen gemacht hat, namentlich dem Um¬
stände, daß er so schlecht über den unbekannten Vnnrilc sprach. Vertreter
einer Kunstrichtung, die man nicht ausstehen kann, wenigstens als Mensch ganz
sicher bemitleiden'zu dürfen, das ist, besonders nach einem so guten Diner,
wirklich eine angenehme Empfindung.
Das war nicht boshaft, sondern nur als Neckerei gesagt und wurde auch
so aufgefaßt. Die Herren waren in viel zu guter Stimmung, als daß sie sich
die Laune verdorben hätten; im Gegenteil: Reibung erzeugt den Funken der
Wahrheit! Das war ein beliebtes Wort in diesem Kreise, und bald waren
sie in einem lebhaften Streit über alle möglichen Kunstfragen, der ihnen den
Nachhauseweg höchst angenehm verkürzte.
Unterdessen brachte Herr Bierman Herrn Moller nach Hause. Erika sah
die beiden Herren von ihrem dunkeln Zimmer aus noch ein paarmal vor der
Gartenthür auf- und abgehen und ihre Cigarren durch die Nacht glühen.
Hören konnte sie nicht, was sie sprachen, aber beide schienen sehr zufrieden
mit einander und schüttelten sich sehr freundschaftlich die Hand zur guten Nacht.
Am andern Tage hörte Erika, daß die gestrige Gesellschaft von Herrn
Bierman dem Geheimrat Boden zu Ehren veranstaltet worden sei, daß er
mit diesem ein Geschäft abgeschlossen habe, und daß außerdem noch ein Mit¬
glied des engern Prüfungsausschusses dabei gewesen sei. Es war auch, wie es
schien, viel von Vanrile die Rede gewesen.
Ihr Herz krampfte sich zusammen, wenn sie sich vergegenwärtigte, wie
die Herren da, lustig kneipend, über ihren Erich und sein Werk gesprochen
hatten, wohl gar über ihn Witze gemacht hatten. Der eine Herr war jeden¬
falls ein Gegner gewesen: Onkel Moller hatte ihn gefragt, was denn die
„Richtung" eigentlich wolle, in die die Herren Vanrile einordneten. Aufsehen
machen wollen sie und dadurch Geld verdienen, und von uns wollen sie, daß
wir ihre beschmierten Statuen für die wahre Kunst halten sollen, hatte er
geantwortet.
Ihr Herz war sehr schwer, und aller Mut wollte sie verlassen. Weinend
saß sie in ihrem Zimmer, die lustige Erika von Haltern. Die Angst um ihren
Erich, und wie er wohl den Schlag tragen würde, machte sie ganz kampf¬
unfähig selbst Herrn Bierman gegenüber. Anstatt ihn mit niedlichen Bos¬
heiten zu ärgern und möglichst bald wieder fortzugrcinlen, ging sie gedrückt
neben ihm her, duldete seine Begleitung und konnte sich nicht wehren, obschon
er von Tag zu Tag deutlicher und zudringlicher wurde.
Daß der Onkel seine Einwilligung zu einer Verlobung mit Vanrile geben
würde, daran war ja gar nicht zu denken. Sie nahm sich aber fest vor, zu
warten, bis sie mündig wäre, dann wollte sie ihn heiraten, und wenn ihn
kein Mensch anerkannte und er nichts zu arbeiten bekäme als Grabkreuze und
Fackelengel. Wenn er ihr aber nur auch treu bliebe! Gott! Ehe sie mündig
wurde, mußte sie noch furchtbar alt werden!
Herr Bierman aber strahlte. Er wurde von Tag zu Tag siegesgewisser.
Und auch Onkel Moller freute sich darüber, als er bemerkte, was sür gute
Fortschritte er zu machen schien, und wie sehr viel besser die Behandlung wurde,
die Erika ihrem Bewerber angedeihen ließ.
Als sie Vanrile von dem Diner schrieb, und daß unter der Gesellschaft
anch zwei seiner Richter gewesen wären, da war er klug genng, einzusehen,
daß das kaum ein Zufall war. Und das Diner war vielleicht ein oder zwei
Tage vor der letzten Sitzung gewesen, in der die Kommission ihre endgiltige
Entscheidung fällen sollte! Nächste Woche mußte sie schon verkündet werden.
Daß er auch Gegner in der Kommission hatte, wußte er; das lag in seinem
Werke. Nun aber dieser zähe, erbärmliche Klatsch, der den Mitgliedern so
hinterrücks zugeführt wurde! Sie hatten keine Nhnnng, daß Berechnung vorlag,
daß man mit Überlegung gegen ihn thätig war. Sie konnten auch keine»
Wert darauf legen, soweit sein Werk in Frage kam, aber doch: sie konnten
den Menschen kleiner sehen, im günstigsten Falle mit einem gewissen Mitleid,
wie man die Schlechtweggekvmmnen betrachtet, und sie mochten wollen oder
nicht, sie sahen dann vielleicht auch sein Werk mit andern Augen an. Künstler
und Kunstwerk ganz zu trennen, dazu gehörte eine Sicherheit des Urteils und
eine Unabhängigkeit des Geistes, die einfach vorauszusetzen oder zu verlangen
fast unbillig gewesen wäre.
Wenn jemand in frühern glücklichern Tagen Vanrile gesagt hätte, daß er
einst um den Ausgang irgend einer Konkurrenz in so banger Erwartung sein
würde, wie hätte er den ausgelacht! Aber es stand ja auch zuviel für ihn auf
dein Spiele: der Preis brachte ihm die einzige Möglichkeit, als freier Künstler
weiter arbeiten zu können. Und dann der Erfolg und die äußere Anerkennung
an sich der Künstler verlacht sie wohl und achtet sie gering, wenn sie ihm
ein einzelner bringt oder versagt, und doch muß er sie wiederklingen hören
aus der großen Menge, wenn er das Höchste soll leisten können, wozu er be¬
fähigt ist. Vor allem aber: dieser Preis bedeutete für ihn ja den Besitz seiner
kleinen Erika! Gelang es ihm, jetzt im Sturm, mit einem Schlage eine ge¬
achtete und angesehene Stellung zu erringen, so traute er sich zu, den Kampf
mit ihrem Onkel zu bestehen. Aber schwach, mutlos und verzagt fühlte er
sich werden bei dem Gedanken, daß er als Verläumder, als einer, den keiner
kannte in seiner Kunst, als einer, der mühsam arbeitete, um den traurigen
täglichen Groschen, um seine stolze, feine, zierliche Erika sollte freien gehen.
Er war auch zu alt, viel zu alt sür sie! Wenn sie auch jung genug war,
warten zu können, was konnten fünf, sechs mühsame, schwere Jahre aus ihm
machen!
Er sand nicht den Mut, sie vor der Entscheidung uoch einmal zu sehen,
denn er sah aus ihren Zeilen, daß sie dringend selbst des Trostes bedürfte,
und er wußte doch, daß, wenn sie ihn sähe, sie nicht an die zuversichtliche
Stimmung glauben würde, die er heuchelte. So schrieb er ihr denn:
Mein Liebling, du wirst doch nicht den Mut verlieren? Hast du eine
schlechte Meinung vou der Künstlerschaft deines zukünftigen Herrn und Ge¬
bieters? Glaubst du wirklich, ein paar hämische Witze Herrn Biermans, so
zwischen Kaffee und Cognak, und die Thatsache, daß ich mein Geld verloren
habe, könnten dem großen Kunstwerke schaden, das entstanden ist, während ich
dich täglich sah? Kleine Erika, bedenke! Wer von den andern Bewerbern war
so glücklich wie ich? Wem hat allabendlich seine Muse mit Küssen gelohnt,
was er am Tage geschaffen hatte? Und die andern sollten auch nur annähernd
so etwas'zustande gebracht haben wie ich? Glaube doch nicht an Gespenster.
Du siehst mich als Sieger wieder, und dann werde ich dich für deinen Kleinmut
strafen, grausam, fürchterlich. Zittere nur immer vor den Schrecken dieses
Gerichts, vielleicht hilft dir das die Angst vergessen, die du jetzt hast.
Ich habe sehr viel zu thun in der Stadt, um mich zu unterrichten, wie
ich am schnellsten die Entscheidung erfahre. Und dann will ich verschiedne
Leute für die Arbeit interessiren, die im Modell fertig ist, die neue Arbeit,
weißt du, von der ich dir erzählte, daß sie viel hübscher wäre als die große
Kunst, die ich für die Akademie gemacht habe.
Und einen neue» Frack muß ich mir auch cinmesfeu lassen, meinen letzten
hab ich nicht mehr getragen, seit ich aus Hamburg fort bin, er paßt mir
nicht mehr, bei dem guten Leben der letzten Jahre ist er mir zu eng geworden.
Und ich muß doch ein Festgewand haben, wenn ich vor Onkel Moller hin¬
trete und ihm sage: Ich großer Künstler habe die Ehre, Sie um die Hand
Ihrer kleinen Nichte zu bitten!
Darauf kannst du dich verlassen, sobald ich die Entscheidung weiß, wird
in großer Gala angetreten, keine Minute wird versäumt, schon um des armen
Vierman willen, damit der weiß, woran er ist, du wirst ihm die Nase schon
lang genug gezogen haben.
Also Mut, Fräulein von Haltern, und ans Wiedersehen nach gewonnener
Schlacht!
Erika bekam den Brief, las ihn und war sehr fröhlich, und dann las sie
ihn wieder und wurde nachdenklich und unruhig, und je öfter sie ihn las,
desto trauriger wurde sie, denn umso schwerer und schwerer drängte sich ihr
die Ahnung auf, daß ihr großer Erich ihr nur das Warten erleichtern und
die Hoffnung nicht rauben wollte, daß ihm selber um den Ausgang bangte,
und daß er schwere Sorge um die Zukunft hatte. Und Todesangst ergriff sie
bei dem Gedanken, wie er es wohl ertragen würde, wenn alle Hoffnung trog!
(Schluß folgt)
Es ist ein wirklich noch nicht da¬
gewesenes Schauspiel! Die Regierung, d. h. die Gesamtheit der im preußischen
Staate maßgebenden Männer: die Mitglieder des königlichen Hanfes, die Minister,
die Oberpräsidenten, die Regierungspräsidenten, die Landräte sind mit unbe¬
deutenden Ausnahmen teils Großgrundbesitzer, teils wenigstens Sprößlinge von
Großgrundbesitzcrfamilien. Der Reichskanzler ist einer der größten, der Lcmd-
wirtschaftsminister ist ein großer Großgrundbesitzer. An ihrer durch und dnrch
agrarischen Gesinnung, d. h. an ihrem (vollkommen berechtigten) Wunsche, die Land¬
wirtschaft so rentabel wie möglich zu machen, besteht nicht der geringste Zweifel.
Alle diese agrarischen Herren sind nicht allein selbst vollkommen kompetente Sach¬
verständige, sondern haben auch noch einen gewaltigen sachverständigen Beirat im
Landcsökonvmickollegium, in den landwirtschaftlichen Zentralvereinen und den Prv-
vinziallcmdtagen, deren Mitglieder ebenfalls teils ausnahmslos, teils der Mehrheit
nach agrarisch gesinnt sind. Und diese ganz vom reinsten agrarischen Geiste be¬
seelte Regierung wird vom Bunde der Landwirte als Feind bekämpft; und dieser
agrarische Großgrundbesitzer, der so unglücklich gewesen ist, zum Minister für Land¬
wirtschaft berufen zu werden, wird von den Agrariern schlechter behandelt, als vor
dreißig Jahren der Kultusminister von Muster von den Liberalen behandelt wurde!
In den ersten Tagen nach der Schlacht vom 17. Januar schien es, als ob sich die
Konservativen in die neue Lage finden wollten; ihre Organe beobachteten Zurück-
haltung, und thuen sehr nahe stehende mittelparteiliche Zeitungen bauten goldne
Brücken: es sei ja selbstverständlich, daß alle wirklich konservativen Männer die
maßlose Sprache der Deutschen Tageszeitung und der Bnndeskvrrespondenz mi߬
billigten, und daß man nunmehr bumms verzichten werde, unerreichbares zu er¬
streben. Dann aber brach ein Sturm scharfer und heftiger Erklärungen los, und
es wurde eine Kampagne veranstaltet, um dem Grafen Kanitz das Vertrauen und,
wie es in der einen Zuschrift hieß, den unbedingten Gehorsam der Bauern darzu¬
bringen. Die Wanderredner des Bundes trommeln ein Paar hundert Bauern zu¬
sammen, sagen ihr Sprüchet auf, lesen die Resolution vor, und da sich niemand
dagegen erklärt (wer dagegen ist, ist ein Bcmernfeiud, hat man ihnen vorher nach-
drücklich zugerufen), so gilt sie als angenommen. Die zahlreichen Gegenerklärungen
der rheinischen, westfälischen und hannöverschen Bauern werden nicht einmal in allen
mittelparteilichen, geschweige denn in den konservativen Blättern erwähnt. Besondre
Mühe giebt man sich, die katholischen Bauern zu gewinnen, und dn ist nun den
Agrariern als Bundesgenosse kein geringerer als Herr Majuuke beigesprungen. Er
bedroht die katholischen Provinzblätter mit dem Untergange, wenn sie nicht agra¬
risch werden, und macht sogar den verstorbnen Fraklionsheiligen der Zentrums-
partei, den großen kleinen Windthorst schlecht, weil der auf Staatsmonopole schlecht
zu sprechen war. Majunke, der früher als ar- und halmloser Hetzkaplnn die Volks¬
rechte so tapfer wahrgenommen hat, ist nämlich wütender Agrarier geworden, seit¬
dem er als Pfarrer von Hochkirch ein kleines Rittergut besitzt.
Die Entscheidung der Frage, ob die konservative Partei im Bunde der Land¬
wirte aufgehen soll, wird vorsichtig in einen Nebel diplomatischer Redensarten ge¬
hüllt. Daneben fahren die Theoretiker der Partei fort, durch geschickte Gruppirung
nicht durchweg stichhaltiger Thatsachen dem Publikum die agrarischen Ziele als
Ziele einer wahrhaft konservativen und zugleich wahrhaft volksfreundlichen Politik
darzustellen. Wir wissen es genau, daß wir nur verhöhnt werden, wenn wir die
Agitationsschriften einer rücksichtslosen Interessenvertretung mit ruhigen thatsäch¬
lichen Berichtigungen beantworte«, aber wir werden trotzdem nicht aufhören, diese
unsre publizistische Pflicht zu erfüllen. Heute wollen wir eine Leistung, der die
Aufnahme in ein sehr verbreitetes Organ eine gewisse Wirkung sichert, kurz ab¬
fertigen. Edmund Klapper, der Herausgeber von Fühlings Landwirtschaftlicher
Zeitung, macht in Ur. 16 der Zukunft deu Versuch, die Bundesbestrebuugen als
ideal und patriotisch zu rechtfertigen. Im Anschluß an das Programm des Bundes
der Landwirte stellt er ein Ideal der Gliederung unsers Volks, der Besitz- und
Einkommcnverteilnng auf, das mit unserm eignen zusammenfällt: vorherrschende
Landwirtschaft, Überwiegen der Zahl der Besitzenden und selbständigen über die
der Lohnarbeiter, möglichste Verminderung des Einkommens der Unproduktiven,
womit selbstverständlich jede Gefahr einer proletarischen Revolution ausgeschlossen
ist. Nun aber die Unterschiede! Wir sagen: diese Gefahr besteht freilich nicht,
weil einerseits die Vesitzverhältnisse bei uus vielfach noch gesund sind, andrer¬
seits die Besitzenden die Machtmittel in den Händen haben und den Organi-
sationsbestrebungen der Besitzlosen unübersteigliche Hindernisse im Wege stehen.
Aber ideal sind unsre Vesitzverhältnisse schon lange nicht mehr. Da sich unser
Boden längst in festen Händen befindet, so muß jeder Bevölkerungszuwachs die
Zahl der Besitzlose» und derer vermehren, deren Einkommen vom Ausfuhr¬
handel, also von der Weltwirtschaft abhängt, womit die Abhängigkeit unsrer ge¬
samten Volkswirtschaft von der Weltwirtschaft unabweisbar gegeben ist. Klapper
dagegen behauptet: Die Gliederung unsers Volkes ist heute noch fast ideal; der
Stand der selbständigen Unternehmer macht zwei Drittel, der Lohnarbeiterstand
ein Drittel der Bevölkerung aus. Das Unglück besteht nur darin, daß ein kleines
Häuflein von Rentnern die volle Hälfte des Volkseinkommens bezieht, indem dieses
„kleine, aber goldgepanzerte Häuflein der kapitalistischen Zehrer" an Hypotheken,
Wertpapieren und städtischen Häusern 65 Milliarden, Gewerbe und Landwirtschaft
zusammen ebenfalls nur 65 Milliarden besitzen, und daß uusern Gewerbtreibenden
und Bauern das Ausland Konkurrenz macht. Es ist also bloß nötig, dem
„Kapital" durch Bodenreform und Organisation des Kredits einen Teil seines
Einkommens zu Gunsten der Arbeit abzuspannen und deu Getreidebau wieder ren¬
tabel zu machen, so ist den produktiv Arbeitenden, Unternehmern wie Lohnarbeitern,
geholfen. (Wenn außerdem noch die weitere Vermehrung der ländlichen Kleingrund¬
besitzer, Forderung der Landesmelioration und Kräftigung des gewerblichen Mittel¬
standes empfohlen wird, fo entspricht das unserm eignen Programm, hat aber mit
den Zielen des Bundes der Landwirte nichts zu schaffen.) Eine Zeichnung ver¬
anschaulicht das; auf dem breiten Unterbau der Produktiven, der zum größten
Teil aus selbständigen Unternehmern, zum kleinste» aus Lohnarbeitern besteht, sitzt
der kleine Würfel der Unproduktiven, auf der andern Seite haben zwei schmale
Klötzchen, die das Vermögen der ländlichen Grundbesitzer und des Gewerbestandes
vorstellen, den breiten Klotz des Rentnerkapitals zu tragen.
Wir sind wahrhaftig keine Freunde der Unproduktiven und wünschen selbst¬
verständlich Börsen- und Kreditreformi soweit sie notwendig ist (eine bessere Ordnung
des ländlichen Bodenkrcdits, als in den altpreußischen „Landschaften," ist freilich
nicht gut denkbar). Aber an der „Vorspiegelung falscher Thatsachen" beteiligen wir
uns nicht. Jedes Kind weiß, daß nicht die kleine Klasse der Rentner, die nichts
als Rentner sind, alle Hypotheken, Wertpapiere und städtischen Häuser allein besitzt,
sondern daß auch Großgrundbesitzer, Bauern, Fabrikanten, Kaufleute und Hand¬
werker solche Besitzstücke haben, und daß sich sogar ein paar Milliarden Hypotheken¬
kapital durch Vermittlung von Sparkassen im Besitz von Arbeitern befinden. Demnach
ist die zweite Zeichnung wertlos. Ebenso ist es die erste. Die Zahl der gegen
Unfälle versicherten Personen beträgt im deutschen Reich über 18000 000; mit
Familienangehörigen (die Frauen und die größern Kinder arbeiten ja meistens mit,
aber die zahlreichen kleinen Kinder doch nicht) zählt also die Arbeiterbevölkerung
mindestens 30 Millionen.Klapper rechnet 5 276 344-landwirtschaftliche Betriebe
unter 100 Hektar, vergißt aber beizufügen, daß die größere Hälfte davon Zwerg¬
betriebe unter 2 Hektar sind, deren Besitzer sich den größern Teil ihres Einkommens
als Handwerker, Tagelöhner, Grubenarbeiter, Fabrik- und Bauarbeiter verdienen.
Wirkliche Bauern, d. h. ländliche Grundbesitzer, die ausschließlich von der Land¬
wirtschaft leben, giebt es nach der klassischen Erhebung von 1832/83 (seitdem haben
sich die Verhältnisse nicht wesentlich geändert) nur 2189 522, wovon 981407 uuter
5 Hektar haben, also nicht mehr Getreide bauen, als sie selbst brauchen; nur für
einen Teil der übrigen 1208115 Güter (926605 zu 5 bis 20, 231510 zu 20
bis 100 Hektar) hat der Getreideverkauf und darum auch der Getreidepreis Be¬
deutung, eine desto größere natürlich, je größer das Gut ist, und je mehr der
Körnerbau die Viehwirtschaft überwiegt, sodaß sich die Zahl der ländlichen Besitzer,
die an hohen Getrcidepreisen ein Interesse haben, allerhöchstens auf eine Million,
die Zahl der beteiligten Seelen allerhöchstens auf fünf Millionen beläuft. Die
Zahl der Gutsbesitzer, deren gnuze Existenz vom Getreidepreise abhängt, ist natürlich
noch weit kleiner.
Da das alte Lied fortgesungen wird, so bleibt uns nichts übrig, als ebenfalls
unsern oft ausgesprochnen Wunsch zu wiederholen (am 29. Januar hat ihn auch
der Laudwirtschaftsmiuister ausgesprochen): möge der Kaiser recht bald den Grafen
Kanitz zum Reichskanzler und den Herrn von Ploetz zum Lcindwirtschaftsministcr
machen, damit wir endlich einmal Ruhe bekommen; denn wenn wir noch ein paar
Jahre lang Tag für Tag das Agrarierlied anzuhören gezwungen sind, sterben wir
alle mit einander an Gehirnerweichung.
Der Briefwechsel zwischen dem Kriegsminister Grafen von
Roon und Clemens Theodor Perthes aus deu Jahren 1864 bis 1867, heraus¬
gegeben von Otto Perthes, ist in geschichtlicher Beziehung ebenso interessant wie in
Psychologischer. Roon läßt sich trotz seiner angestrengten Thätigkeit immer wieder
dazu herbei, dem alten Freunde auf seine schweren Bedenken gegen Bismarcks
Politik zu antworten, freilich nicht unter Darlegung der politischen Sachlage, sondern
meist un-r in allgemeinen Wendungen und hauptsächlich mit Beziehung auf den reli¬
giösen Standpunkt, der beiden Freunden gleich war. Man muß die Geduld be¬
wundern, mit der der Kriegsminister mitten in seiner aufreibenden Arbeit Zeit
findet, den fest und steif auf dem Kreuzzeituugsstaudpunkt stehenden Professor von
seinem Mißtrauen gegen Bismcirck zurückzubringen oder ihn in der schleswig¬
holsteinischen Frage von seinen leidenschaftlichen Sympathien für den Augusten-
burger zu heilen. Diese Geduld ist um so bewunderungswürdiger, als jeder Ver¬
such, Perthes von seinen Vorurteilen zurückzubringen, vollständig vergeblich bleibt.
Im April 1866 schreibt Perthes, er schaudre bei dem Gedanken dieses Krieges,
der den Zwiespalt nicht allein in jedes deutsche Land und jede deutsche Stadt,
sondern auch in so manche Familie, ja in die Brust so manches einzelnen Mannes
tragen und ein zum Tode mattes Deutschland schließlich dem Dämon der Revo¬
lution oder der Gier der Nachbarn im Osten und Westen zum Opfer bringen könne.
Auch uach der glückliche» Beendigung des Krieges sieht er seine Ahnungen be¬
stätigt, da durch das allgemeine direkte Wahlrecht seiner Ansicht nach ein fremder
Stoff in das preußische, in das deutsche Blut gebracht wird: wenn ihn keine Kraft
wieder ausscheiden könne, so bleibe für eine Weile wohl noch eine starke, vielleicht
auch eine wohlwollende Militärherrschaft, aber kein deutsches, kein preußisches, über¬
haupt kein politisches Leben mehr möglich, das Gift werde um sich fressen wie der
Krebs und nicht ruhen, bis es den ganzen Organismus ergriffen habe. Für die
Thaten der Armee hat er, abgesehen von der Anerkennung von Roons eignen
Leistungen, kein Wort der Bewunderung, und Roons Äußerung, Preuße» habe nie
einen Krieg i» großartigerer Weise geführt und in diesem Kriege mehr als ein
Vierzigste! seiner Bevölkerung in Feindesland entsandt, entlockt ihm nur die Ant¬
wort — wenn man dies eine Antwort nennen will —, durch alle Preußen ziehe
sich ein Naturtrieb, gerichtet auf Annexion und Zentralisatio» des Aunektirten:
nnr die, denen ein kirchliches oder politisches Stichwort höher stehe als ihr Land,
die also eigentlich keine Preußen seien, kannten diese» Trieb nicht. Daß er
sich und seiner Partei damit das Todesurteil sprach, scheint er nicht gemerkt
zu haben.
Den wohlthuendsten Gegensatz hierzu bilden Roons Briefe. Kampfmutig und
tapfer in den Zeiten schwerer Parteikämpfe, bescheiden und demütig in der Periode
unerhörter Erfolge, zeigt er in jeder Zeile das Bild eines ganzen Mannes. Für
sich nimmt er eigentlich nnr das Verdienst in Anspruch, den Mann in das
Ministerium gebracht zu haben, mit dein zusammen er in treuester Waffengemein-
fchaft kämpft, dessen geniale Überlegenheit er neidlos anerkennt, und dessen Wesen
und Charakter es ihm doch »icht gelingt seinem Freunde Perthes auch n»r einiger-
maßen verständlich zu machen.'
Rovns Briefe sind schnell hingeworfen und werden jeden Leser dnrch die
frische und kernige Kraft des Ausdrucks anregen und befriedigen. Zahlreich sind
Wendungen wie die, in der er von der Politik sagt, er dispensire sich davon, dieses
Faß anzustechen: dazu habe er nicht Bouteillen genug. Um eine Probe seiner
politischen Auseinandersetzungen zu geben, setze» wir nur das her, was er am
17. Januar 1364 an Perthes über die preußische Politik dem Angustenburger und
Dänemark gegenüber schreibt: „Der Herzog von Augustenburg hätte hier die bereit¬
willigste Unterstützung gefunden, hätte er warten, hätte er verzichten können, sich
dem Herzog Ernst und seiner schwindelhafter Gesellschaft kopfüber in die Arme zu
werfen. Er hat Preußens und Österreichs Sympathien verscherzt, weil er den ihm
hier erteilten guten gegen den ihm hier und sonst erteilten schlechten Rat in den
Wind geschlagen hat; weil er deu aus Revolutionsangst wild gewordnen Würz¬
burgern und dem Erzfeinde in Paris mehr zugetraut und zugemutet hat als uus.
Nicht seinetwegen haben wir daher die Exekution nach Holstein durchgesetzt, nicht
seinetwegen gehen wir jetzt, trotz Bund und Würzburg, ja trotz England und
Europa, «ach Schleswig, sondern um die dort 1850 aufgeladnen Flecken an unsrer
politischen Ehre abzuwaschen, um nachträglich zu halten, was wir vor zwölf, drei¬
zehn Jahren den braven Landsleuten an der Eider versprochen; um deu kleinen
Knziken und deu großen Revolutionärs zu beweisen, daß sie nichts ohne uns ver¬
mögen, geschweige denu trotz uus; um die Dänen für zehnjährige Wortbrüchigkeit
zu züchtigen und die verletzten Landesrechte der Herzogtümer für immer sicher¬
zustellen; zugleich aber um der revolutionären Wirtschaft in Deutschland Schach
und Matt zu bieten. Glauben Sie mir: in einer Beziehung thun Sie Bismcirck
bitter Unrecht; unklar, unsicher, schwankend im Willen ist er in dieser Angelegen¬
heit nie gewesen; auch ich nicht, seitdem in den ersten 24 Stunden nach Friedrichs VII.
Tode die momentan verlockende Seifenblase der nur ans Kosten von Prinzipien und
monarchischen Interessen zu gewinnenden Populariät geplatzt war. Hat Schwanken
stattgefunden, so wars in höhern Regionen. Was denken Sie jetzt von unsrer
Unternehmung nach Schleswig? Glauben Sie, wir wollen Geld und Blut drau-
setzeu, um deu herausgeschlagnen Dänen dann gnädigst wieder einzusetzen? So
trompeten ja unsre tendenziösen Gegner, weil es in ihren Kram paßt. Kein Ver¬
nünftiger und zugleich Unbefangner kann uns dies zutrauen. Aber sollen wir, um
dem Verdacht auszuweichen, den Augnstenbnrger proklamiren und uns damit Europa
auf deu Hals ziehen? Der erste Kanonenschuß zerreißt alle Verträge, ohne daß
wir sie mutwillig gebrochen hätten. Der Friedensschluß nach einem glücklichen
Kriege bringt neue Vertragsverhältnisse."
der ausgezeichnete Germanist, war einer von deu Men¬
schen, deren Inneres ihrem Äußern ebenso wenig entspricht, wie ihre schriftlichen
Äußerungen mit ihrem persönlichen Gebahren im Einklang stehen. Hoch gewachsen,
von linkischer Bewegungen, die zngekniffnen, stets geröteten Angen mit einer starken
Brille bewaffnet, um nur etwas sehen zu können, machte er den Eindruck hölzerner
Gelehrsamkeit und trockenster Prosa, während in ihm ein Gemüt lebte, das für
Poesie nicht weniger leidenschaftlich empfänglich war wie für Naturschönheit: selbst
den bescheidnen Reizen seiner ditmarsischen Heimat hat er Gedanken und Gefühle
abgewonnen, die so recht zeigen, daß die Natur, in der richtigen Art und mit
liebevoller Hingebung angeschaut, auch dn entzücken kann, wo der Uneingeweihte
nur Mängel entdecken zu können glaubt. Und obgleich er mit einer Kenntnis der
gesamten germanischen Sprachen ausgerüstet war, wie sie wenigen Menschen zu
Gebote gestanden hat, war doch sein mündlicher Ausdruck ungewöhnlich stockend und
schwerfällig.
Ebenso stand es mit dem Gegensatz zwischen dem Schriftsteller und dem Men¬
schen. Wer nach seinen leidenschaftlichen litterarischen Kämpfen einem streitbaren,
um nicht zu sagen zanklustigen Manne gegenüberzutreten fürchtete, sah sich ange¬
nehm enttäuscht, wenn er einen liebenswürdigen, schweigsamen Zuhörer fand, der
in den weichsten Formen auf fremde Ansichten eingehen konnte und seinen Wider¬
spruch nie anders als in völlig erträglicher Weise äußerte. Hierin unterschied er
sich aufs stärkste vou Moriz Haupt, mit dem er sonst vieles, vor allem die fast
fanatische Verehrung Landmanns gemein hatte. Während aber Haupt dieser
Verehrung manchmal einen höchst seltsamen mündlichen Ausdruck gab, nämlich da¬
durch, daß er alle mit der ihm eignen sprachlichen Energie verdammte, die nicht
unbedingt ans den Meister schwuren, hielt Müllenhoff, wenigstens im gewöhnlichen
Verkehr, mit seinem Lachmannkultus völlig zurück. Auch ist er nie so weit ge¬
gangen wie Haupt, der selbst so völlig verfehlte Lachmcmnsche Ansichten, wie die
Theorie von den Verszahlen der Seiten des angeblichen Urkodex des Catull gläubig
als Evangelium weiter zu verkünden pflegte.
Für die Kenntnis von Müllenhoffs Lebensgang und Lebensschicksalen war man
bis jetzt im wesentlichen auf Scherers Artikel in der Allgemeinen deutschen Bio¬
graphie angewiesen. Scherer hatte aber nach einer Mitteilung Ednard Schröters
(in seinem Artikel über Scherer in demselben Werke) Müllenhoff ein biographisches
Denkmal gesetzt, das bald, von Schröder ergänzt und vollendet, im Druck erscheinen
sollte. Dieses Werk liegt nun unter dem Titel „Karl Müllenhoff, ein Lebensbild
von Wilhelm Scherer" (Berlin, Weidmaunsche Buchhandlung) vor, und es wird
allen Freunden und Verehrern Müllenhoffs höchst willkommen sein.
Müllenhoff war ein grnndehrlicher, wahrbeitsliebender Mann, dem jede Stre¬
berei, jede Affektirtheit ebenso fern lag wie kliquenmäßiges Lobhudeln oder Tadeln
und das vielfach in geradezu ekelhafter Weise im deutschen Gelehrtenleben hervor¬
tretende Streben, Schule zu bilden und durch seine Schüler Einfluß zu üben und
zu bewahren. Ebenso unangenehm war ihm das Streben, die Wissenschaft zu
popularisiren; der Gedanke, das ihm gegebne Pfund in Pfennigen auszuprägen
und aus dem von ihm ausgestreuten wissenschaftlichen Samen eine andre Ernte
emporsprießen zu sehen als die Wirkung in wissenschaftlichen Kreisen, ist ihm über¬
haupt nie gekommen. Man kann sich vielleicht aus dieser letzterwähnten Eigen¬
tümlichkeit die Entfremdung erklären, die gegen das Ende feines Lebens zwischen
ihm und Scherer eingetreten war.
Aber weder diese zeitweilige Entfremdung noch die unendliche Verschiedenheit
ihres Wesens hat Scherer abgehalten, seinem verstorbnen Lehrer und Freunde voll¬
ständig gerecht zu werden. Er zeichnet sein Lebensbild mit voller Unparteilichkeit,
eindringendem Verständnis für einen ihm durchaus fremden Charakter und stellt
Müllenhoffs wissenschaftliche Bedeutung mit liebevoller Wciriue dar. Wesentlich
erleichtert wurde ihm die Lösung seiner Aufgabe durch die ihm zu Gebote stehende
Korrespondenz Müllenhoffs selbst und die seines Vaters: in dem Charakter des
Baders erkennt Scherer eine Mischung von Härte und Weichheit, den strengen Ton
und dann wieder das warme Gefühl, die über die Wirklichkeit hinaus gesteigerte
Phantastische Vorstellung, die über das gerechte Maß hinaus gesteigerte Erregung,
das leidenschaftliche Überströmen im Tadel, den unverhohlener Ausdruck einer heißen
Liebe, die Thränen des Schmerzes, die versöhnende Umarmung — alles Dinge,
die Schüler und Freunde auch von dem Sohne erfuhren,
Für manches andre flössen Scherers Quellen weniger reichlich; besonders würde
man gern mehr und näheres über Müllcnhvsfs Verhältnis zu Lachmann erfahren,
als hier geboten wird. Für viele, die Mttllenhoff gekannt haben, werden die Mit¬
teilungen über seinen fanatischen Preußenhaß eine Überraschung sein, der, wie es
scheint, besonders lebhaft während seines Lebens in Berlin erwachte, der sich aber
wohl nur brieflich oder in ganz engen Kreisen Luft gemacht hat.
Unsre Anregung ist nicht
ans unfruchtbaren Boden gefallen. Zunächst fand sie, wie wir schon mitgeteilt
haben, in einer Versammlung des Altdeutschen Verbands hier in Leipzig Anklang
und führte zu einer Sammlung an diesem Abend. Dann hat sich hier ein
Komitee gebildet, das eine allgemeine Sammlung veranstaltet, und wie es scheint,
hat jetzt die Verbandsleitnng die Sache in die Hand genommen. Damit kaun sie,
wenn sie richtig angefaßt wird, große Bedeutung gewinnen. Inzwischen hat es
sich auch schon anderwärts geregt, und an uns selbst kommen allerhand Fragen
und Vorschläge. Wir möchten bitten, daß diese an die Leitung des Altdeutschen
Verbands gerichtet werden oder an die Vorstände der Ortsgruppe», da eben dieser
Verband am besten in der Lage sein wird, umfassende Maßnahmen zu treffen.
Eigentümlich war das Verhalten eines Teils der Presse in dieser Sache,
wie es schou der erste Aufsatz dieses Heftes rügt. Mau suchte statt Öl Wasser
in dieses lustig auflodernde Feuer zu gießen. Auch wo man sich wohlwollend
äußerte, sprach man wenigstens die Befürchtung oder die Überzeugung aus, daß
diese Sammlung natürlich nur zu sehr bescheidnen Erfolgen führen würde, und
man mahnte, nicht Dinge zu unternehmen, die vielleicht höhern Orts gar nicht
genehm sein möchten. Nun, darin ist mau Wohl allzu ängstlich gewesen; wie es
scheint, ist man an maßgebender Stelle durchaus nicht unzufrieden mit dieser sich
entfachenden Sammclbegeisternng. Dann aber wäre wohl gut, daß man dies von
solcher Stelle in irgend einer Weise zu erkennen gäbe, damit nicht ängstliche Ge¬
müter, die gern etwas für die Flotte hergaben, durch die Furcht, damit an¬
zustoßen, verhindert würden, den Beutel aufzuthun. Die beschämende Annahme
aber, daß die besitzenden Klassen zu schäbig und zu knickrig wären, ein Opfer für
die Flotte zu bringen, wird hoffentlich zu Schanden werden.
Der Vorschlag, daß nicht nur ein einmaliger Beitrag gesteuert, sondern zu
eiuer freiwilligen dauernden Steuer aufgefordert werden sollte, ist zu unsrer Freude
mehrfach an uns herangetreten. Wir sind natürlich anch dazu bereit. Man schaffe
überall Bereinigungen, wo der Altdeutsche Verband keine Mitglieder und Orts¬
gruppen hat, und schließe sich ihm wenigstens zu diesem Flvttenzwecke an!
Neues vom volkswirtschaftlichen und sozialenBüchcrmnrkt. Natzinger,
der 1863 durch seiue vortreffliche Geschichte der kirchlichen Armenpflege bekannt ge¬
worden ist und seitdem in Baiern eine Politische Rolle spielt, hat 1880 Die
Volkswirtschaft in ihren sittlichen Grundlagen herausgegeben, die setzt (bei
Herder in Freiburg) in zweiter, vollständig umgearbeiteter Auflage erschienen ist.
Das 640 Seiten groß Oktav starke Buch behandelt die einschlagenden Gegenstände
in sieben Abschnitten! Wirtschaft und Sittlichkeit, Armut und Reichtum, Eigentum
und Kommunismus, Arbeit und Kapital, Wucher und Zins, Theorie und Praxis,
Kultur und Zivilisation, Der Verfasser steht dem Standpunkte der Grenzboten sehr
nahe. „Zwei Grundsätze, schreibt er Seite 462, sind es, die vor Verirrungen
schützen müssen : erstens das Festhalten am Privateigentum, zweitens die verhältnis¬
mäßige Teilnahme aller an den Gütern der Natur." Wie wir, stellt er nicht das
Gut, sondern den Menschen in den Mittelpunkt der Wirtschaft, und bezeichnet
das Zusammentreffen von Überproduktion und Übervölkerung, diese zwei Übel, die
einander auszuschließen scheinen, als das zu lösende furchtbare Rätsel. Wir fürchten
aber, daß er dem Sozialismus, den er bekämpfen will, nicht wird entgehen können,
wenn er ausschließlich mit genossenschaftlicher Organisation der Arbeit und vom
Staate zu erlassenden Preistaxen helfen will. Im einzelnen ist das fesselnd ge-
schriebne warmherzige Buch reich an schönen Nusführuugeu und richtigen Bemer¬
kungen. So ist z. B. die Definition von Wucher (Wucher ist die Aneignung fremden
Eigentums im Tausch- und Darlehnsverkehr), vortrefflich und nicht minder die An¬
merkung auf Seite 204: „Bezeichnend ist, daß das schlimmste, was die Kapitalisten
gegen den Sozialismus vorbringen zu können glauben, darin besteht, daß sie mit
Entrüstung ausrufen: Die Sozialisten wollten die ganze Gesellschaft in eine Fabrik
umgestalten. Das Los, das sie unbedenklich einer so großen Anzahl von Menschen
bereiten, erscheint also den Kapitalisten selbst als die fürchterlichste und traurigste
Existenz. Sie legen aber herzlos der armen Bevölkerung eine Last auf, die sie
selbst unerträglich finden." Was uns hauptsächlich vou Natzinger scheidet, das ist
seiue kirchlich-konfessionelle Auffassung der Dinge; er gehört zu denen, die glauben,
das Christentum, und zwar in der Form der katholischen Kirche, sei berufe», die
soziale Frage zu lösen. Niemand wird leugnen, daß manche soziale Übel nicht
vorhanden sei» und die übrigen gemildert werden würden, wenn alle Menschen
christlich gesinnt wären, und daß viele von unsern Staats- und Gesellschaftseinrich-
tnngen, die so drückend empfunden werden, im offenbarsten Widerspruch zu den
Lehren des Neuen Testaments stehen, aber mit diesem Zugeständnis ist die Ansicht
derer, die im Christentum nicht nur nicht die organisirende Seele der Gesellschaft,
sondern das Gegenteil davon sehen, durchaus nicht widerlegt. Man lege sich nnr
die zwei Fragen vor: kann unser Staat ohne Kriegsheer bestehen? und: wie würden
sich die Apostel Verhalten, wenn sie den Militäretat bewilligen oder als Einjährig-
Freiwillige dienen sollten? Ohne Zweifel, Wenn Soldaten einmal da sind, kann
der einzelne Soldat auch ein guter Christ sei» - nur daß er eben als Christ in
gewissen Fällen deu militärischen Gehorsam verweigern wird —, aber ein aus lauter
guten Christen bestehendes Volk könnte nimmermehr Soldaten haben und würde
sich vorkommenden Falls lieber abschlachten lassen, als daß es selbst zum Schwerte
griffe. Ebenso würde sich in einem Volke von lauter guten Christel? kein Kapitalist,
kein Aktionär, kein Advokat, kein Büttel finden, und geht es in einer zivilisirten
Gesellschaft ohne diese Menschenklassen? Gehen die Völker ihre eignen Wege,
schreibt Ratzinger, so wird die Menschheit das Objekt der Ausbeutung und der
sinnlichen Gelüste der Mächtigen. „Folgen die Nationen den Lehren Jesu Christi,
so sehen wir tels entgegengesetzte Schauspiel" (S. 361). Da erwartet man doch,
er werde Beispiele aus dem Völkerleben bringen, es folgt aber bloß eine Schilde¬
rung, wie die Volker sein würden, wenn sie von christlicher Liebe und Gerechtig¬
keit beseelt wären. Beispiele aufzutreiben, würde ihm auch schwer gefallen sein.
Wo ist die mittelalterliche Bevölkerung, die nicht von den Mächtigen ausgebeutet
worden Wäre, sofern solche vorhanden waren? Unterblieb die Ausbeutung, so unter¬
blieb sie nicht ans christlicher Gesinnung, sonder» weil in den freien Bürger- und
Bauernschaften, die es hie und da noch gab, gar keine Mächtigen vorhanden waren,
den benachbarten Mächtigen aber die Machtmittel, über ihr engeres Gebiet hiuaus-
zugrcifcn, fehlten. Und wo findet sich denn in neuerer Zeit eine Ausbeutung, die
sich mit der der katholischen Bauern Galiziens und Italiens durch ihre katholischen
Grundherren vergleichen ließe? Und welches Land ist denn im Arbeiterschntz weiter
zurück als das bigott katholische Belgien? Natürlich macht Ratzinger auch nach Art
aller katholischen Svzialpolitiker die Reformation verantwortlich für das Umsich¬
greifen des Kapitalismus, obwohl ihn, den genauen Kenner der englischen Verhält¬
nisse, schon des Thomas Morus im Jahre 1516 erschienene Utopia daran hätte
erinnern müssen, wie die Armen auch vor der Reformation schon unterdrückt und
ausgebeutet wurde». Es ist richtig, daß die politischen Wirkungen der Reformation
von den Monarchen zur Begründung des Absolutismus und von den Reichen zur
Vermehrung ihres Besitzes verwendet worden sind, aber- ein Blick ans das Schicksal
der katholischen Völker lehrt doch deutlich, daß das Ausbleiben der Reformation
— wenn es denkbar wäre — das Massenelend nicht abgewendet haben würde.
Gleich allen Sozialpolitikern seiner Schule, faßt er das Kapital einseitig als Geld¬
kapital und klagt darüber, daß die moderne Gesetzgebung diesem Kapital die
Herrschaft über die Arbeit eingeräumt, ihm den Grundbesitz und das Handwerk
ausgeliefert habe. Er soll doch einmal einen Blick über die bairische Grenze thun,
in das Königreich Schwnrzenberg hinein und sehen, wie dessen Hörige ausgebeutet
werde». Nicht ausschließlich dem mobile» Kapital, sondern dem Besitz in jeder
Form hat die moderne Gesetzgebung die Herrschaft über die Arbeit eingeräumt, und
die Natur der Sache bringt es mit sich, daß diese Herrschaft um so erfolgreicher
geltend gemacht werden kann, je größer der Besitz ist. Das erkennt ja dann
Ratzinger auch selbst wieder an und fordert deswegen, daß die Trennung des Ar¬
beiters von den Produktionsmitteln möglichst aufgehoben werde.
Dr. Rudolf Stammler, Professor der Universität Halle, will mit dem unten
genannten Werke*) die Gesellschaftswissenschaft aus der Region des unsichern Tastens
in die der strengen Wissenschaft erheben, faßt das Recht als die Form, die Wirt¬
schaft als die Materie des Gesellschaftslebens auf und geht in dem Versuche, die
Gesetzmäßigkeit dieses Lebens nachzuweisen, vou der materialistischen Geschichts¬
auffassung aus, weil, wie Lange richtig gelehrt hat, der Materialismus die erste,
die niedrigste, aber auch vergleichsweise festeste Stufe der Philosophie ist; dann
aber wird der Sozialdemokratie nachgewiesen, welchen ungeheuern Fehler sie begeht,
indem sie „in diese» Anfangsgründen richtiger Einsicht das letzte Ende sozial¬
philosophischer Theorie erreicht zu haben glaubt." (S. 626.) Eine ausführliche
Würdigung dieses gründlichen und originellen Werkes behalten wir uns vor.
Spießen wir hier noch einige von den Eintagsfliegen auf, die uns gleichzeitig
mit den beiden großen Vögeln zugeflogen sind. Der Gerichtsassessor I. F. Lands-
berg (in seinem Reformvorschläge: Bettelei, Landstreicherei und Armen¬
pflege. Düsseldorf, L. Schwamm, 1396) und A. Koßmann (in seinem „Neuen
Vorschlage zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit," Frankfurt a. M., Gebrüder
Kraner, 1895) sprechen sehr beachtenswerte Gedanken aus, die uuter einander
verwandt sind. Jener will, daß die Arbeitserzeuguisse der Sträflinge in einer
vom Staate zu regelnden Armenpflege ausschließlich den Hilflosen übermittelt werden
sollen, «ach Koßmauus Vorschlag aber sollen von beschäftigungslosen Bauhand¬
werkern Unterstützungswerkstätten errichtet werden, in denen beschäftigungslose
Schneider und Schuster die Kleidung für ihre beschäftigungslosen Kameraden aus
andern Berufszweigen liefern, und von diesen hinwiederum mit Nahrungsmitteln,
Werkzeugen und Geraden versorgt werden; die Rohstoffe wären von ländlichen
Arbeitertvlouien zu beschaffe«. Gewiß ein höchst verständiger Plan! — Der Frei¬
herr von Thielmciuu auf Jakobsdorf hält (wie er in feiner Schrift: Deutsche
Volkswirtschaft oder Weltwirtschaft, Breslau, C. Dülfer, 1895, ausführt)
den Antrag Kauitz für sozialistisch und gerade darum sür höchst gefährlich, weil
er durchaus nicht unausführbar sei, der Geheime Regierungs- und Landrat a, D.
E. von Selchow auf Rubrik dagegen empfiehlt den Antrag Kanitz salsj eine
Forderung der Sittlichkeit (Berlin, Puttkammer und Mühlbrecht, 1896) dem
Reichstage, nur soll nicht der Staat, souderu eine Organisation landwirtschaftlicher
Körperschaften das Einfuhr- und Vertaufsmouopol handhaben; die Durchführung
dieses Vorschlags allein, davon ist er überzeugt, könne das deutsche Volk vom
drohenden sittlichen und wirtschaftlichen Untergange retten. Die beiden Herren
mögen ihre Meinungsverschiedenheit unter sich ausmachen, was sie, da sie beide in
Oberschlesien wohnen, sehr beqnem haben; vielleicht hätten sie patriotischer gehandelt,
wenn sie sich vor der Veröffentlichung ihrer Gedanken geeinigt hätten, anstatt dem
armen Publikum, dem ohnehin schon ganz dumm ist, ein neues Mühlrad in den
Kopf zu setzen. Der Freiherr von Thielmann erwartet alles Heil von einer Re¬
vision der Handelsverträge, als ob das deutsche Volk und namentlich auch der
Grundbcsitzerstand in der Zeit von 1878 bis 1892 so ungeheuer zufrieden ge¬
wesen wäre! Der Herr von Selchow andrerseits hat vollkommen Recht, wenn er
die scheußlichen Sittlichteitsverbrechcn unsrer Zeit mit den sozialen Zuständen in
Verbindung bringt und die Blutsbrüderlichkeit der alte» Kriegsgefolgschafteu preist,
deren Geist für den Zweck friedlicher Arbeit wieder zu beleben sei. Aber haben
denn die alten Germanen ihre Sittenreinheit auf die Weise gewahrt, daß sie fünfzig
Millionen Menschen von der Außenwelt abgesperrt und auf einen Hnnfen gedrängt,
durch Stantscinrichtungen die fortschreitende Übervölkerung uoch gefördert und die
besitzlose Mehrzahl gezwungen hätten, der besitzenden Minderzahl das Brot zu hohem
Preise abzukaufen? Von nlledem haben sie das Gegenteil gethan. Zu einer Zeit,
wo im Gebiete des heutigen deutschen Reichs keine zehn Millionen Menschen lebten
(die ungeheuern Germaueuheere existirten, wie Delbrück jüngst nachgewiesen hat,
bloß in der von Furcht erfüllten Phantasie der Römer), haben sie alljährlich ihre
junge Mannschaft ausgeschickt, um jenseits ihrer Grenzen Land und Beute zu er¬
obern, und das Getreide haben sie nicht zum Verkauf, souderu uur für deu eignen
Verbrauch gebaut. Der Herr von Selchow hat ein edles Gemüt und das Herz
ans dem rechten Fleck, aber seine Gedanken haben die verkehrte Richtung ein¬
geschlagen. Sein Satz: Ist der Bauer zufrieden, so ist allerwärts Frieden, war
unzweifelhaft richtig zu einer Zeit, wo Berlin ein kleines Nest war, und unter je
zehn deutschen Männern allermindestens sechs Bauern waren, aber er hat keinen
Sinn mehr in einer Zeit, wo auf zwölf deutsche Männer kaum ein Bauerguts¬
besitzer kommt, und Berlin auf die zweite Million losmarschiert. Noch dazu sind
die deutschen Bauern bis auf den heutigen Tag durchaus nicht alle unzufrieden,^
obwohl die Rittergutsbesitzer siebzehn Jahre lang daran gearbeitet haben, sie un¬
zufrieden zu machen. — In einer der von Heinrich Sohnrey bei Vandenhoeck
und Ruprecht in Göttingen herausgegebnen Flugschriften beleuchtet Paul Wald-
hecker, Regierungsrat in Bromberg, die Preußische Rentengutsgesetzgebung
und ihre wohlthätigen Wirkungen und macht beachtenswerte Reformvorschläge. Eine
andre von diesen Flugschriften ist betitelt: Das beste Dorf. Der Verfasser, Pastor
Ludwig Heinrich Huuziuger, kennt die ländlichen Verhältnisse aus eigner Er¬
fahrung. Sein Ideal ist geuau dasnnsrige: nicht Großguter allein, nicht Bauern¬
schaften allein, uicht Arbeiterkolonien allein, sondern eine harmonische Mischung und
organische Verbindung der drei Elemente. Den Traum vou den schöne» Patriarchalischeu
Zuständen auf den Grvßgütern in den Gegenden des vorherrschenden Lntifnndieu-
besitzes zerstört er gründlich. — Tages- und Lebensfragen giebt der durch
eifrige Bekämpfung des Alkohols bekannte Dr. Wilhelm Bode bei Chr. G. Tienken
in Bremerhaven und Leipzig heraus. In einer dieser Schriften behandelt Dr. Heinrich
Wehberg die Wohnungsfrage vom Standpunkte der Bodenbesitzreformer aus. Es
liegt ihr ein Vortrag zu Grunde, den der Verfasser in einer Volksversammlung zu
Düsseldorf gehalten hat. Die Versammlung war veranstaltet worden, um gegen
den Magistrat zu protestiren, der ein ihm zum Baue von Arbeiterwohnungen
vermachtes Kapital, eine Million Mark, in einer Weise verwandte, die nach
der Behauptung der Protestirenden nur den Bodenspekulanten und Mietwucherern
zu gute kam (die Mitglieder des ausführenden Kuratoriums, meist Besitzer von
größern Mietwohnungen, nahmen die Methode der Miß Oktavia Hill an und
kauften alte baufällige Häuser auf, die sie aufputze» ließen). — Der unermüd¬
liche Landgerichtsrat W. Kulemann behandelt in einer bei Vandenhoeck und
Ruprecht in Göttingen 1895 erschienenen Schrift mit der ihm zu Gebote stehenden
Sachkenntnis Das Kleingewerbe, Notlage und Abhilfe. Allen bis¬
herigen Versuchen, die Handwerkerfrage zu lösen, macht er den Vorwurf, daß
sie die Frage von einem zu niedrigen Standpunkte ans auffassen und ihren Zu¬
sammenhang mit der großen sozialen Bewegung der Zeit verkennen. Den Punkt,
auf dem die Handwerkerfrage mit der allgemeine» Frage zusammenhängt, giebt er
Seite 159 vollkommen richtig an: es ist die Arbeitsbeschaffung, die Unmöglichkeit,
bei der gegenwärtigen Verteilung der Menschen und Organisation der Gesellschaft
einem jeden Arbeit zu verschaffe». Genossenschaftliche Organisation ist das Heil¬
mittel, das er vorschlägt. Die bestehenden Gesetze und die jüngste» Negieruugs-
eutwürfe, die eingehend geprüft werden, leiden nach ihm an dem gemeinsamen
Fehler, daß sie nicht streng nnseiuauderhalteu, was erzwungen und was uicht er¬
zwungen werden kann. Unter den Übelständen, die den Handwerkerstand zu Klagen
berechtigen, führt er auch die Militärwerkstätten an; sehr gut begründet er Seite 158
sein vernichtendes Urteil über sie.— Naumann giebt in Verbindung mit Göhre
und andern die Göttinger Arbeiterbibliothek heraus (bei Vandenhoeck und
Ruprecht). Es ist hübsch vom Professor Delbrück, daß er sich vor der Berüh¬
rung mit diesen Aussätzigen nicht scheut und auch ein gediegnes Schriftchen:
Die Sozialdemokratie in der großen französischen Revolution beige¬
steuert hat. Befriedigendes in dem gegebnen kleinen Rahmen leistet auch or. Gott¬
fried Riesen, Gymnasialoberlehrer in Halle a. d. S., mit seiner Darstellung des
Verhältnisses zwischen Darwinismus und Christentum.
5MB
«in Jahre 1884, wo die deutsche Flagge zum erstenmal über Süd¬
westafrika wehte, erschien der Präsident der südafrikanischen
Republik, Paul Krüger, am Berliner Hofe. Aber das Interesse
für den jungen aufstrebenden Burenstaat war damals in deutschen
Regierungskrisen nicht groß, sodass, wie sich die in Pretoria
erscheinende halbamtliche VolKsstc-in ausdrückte, der Besuch nur magere Er¬
gebnisse hatte. Zu seiner Annäherung bestimmte den Präsidenten Krüger außer
politischen Beweggründen besonders die Wertschätzung der deutschen Ansiedler,
die sich damals schon nnter den Buren in ziemlicher Anzahl niedergelassen
hatten; dann trieb ihn aber auch das eigne Blut dazu, denn er erzählte ja mit
Stolz unserm großen Kanzler — und er erzählt es noch jetzt jedem Deutschen,
der ihn in seinem Heim zu Pretoria besucht —, daß sein Großvater ein Deutscher
gewesen sei, und daß er sich selbst auch als Deutscher fühle.
Als nun im Jahre 1886 die reichen Goldriffe in dem Witwcitersrande
aufgefunden wurden und die Überflutung durch englische Goldsucher herein¬
brach, dauerte es nicht lange, so wurden in den englischen Zeitungen An¬
griffe gegen die Deutschen erhoben, die auch in stärkerer Zahl einwanderten.
Ihren Ursprung hatten diese Angriffe in kleinlicher Eifersucht; deun wenn es
sich bei der Anstellung eines Staatsbeamten um die Wahl eines Deutschen
oder Engländers handelte, so gab Präsident Krüger seine Stimme sicher für
den Deutschen ab.
Eine der englischen Behauptungen war auch die, die deutsche Negierung
hätte der Republik den Wunsch nach deutschen Auswanderern aufgenötigt. Die
VvIIcsstkm erklärte daher 1888 den Engländern, es sei für Transvaal ent¬
schieden besser, eine vermehrte Einwanderung von Deutschen zu erhalten, als
eine von Engländern oder Iren, denn überall, wo Deutsche das Land be-
ankerten, könne man sich überzeugen, wie deutscher Fleiß den Wert des Landes
zu steigern wisse.
Diese Vorliebe für die Deutschen teilt auch der Staatssekretär Dr. Leyds
und General Joubert, der Minister des Innern. Als die Deutschen am
5. Februar 1893 in Witwatersrand eine Bildsäule ihres Kaisers errichteten,
war es General Jonbert, der sie unter großem Beifall des Volkes enthüllte.
Die Vorgänge der letzten Jahre konnten diese leitenden Männer in ihrer Ansicht
nur noch mehr bestärken. Nicht nur daß ihnen die englische Politik überall
Schwierigkeiten bereitete und hinderlich wurde, auch im Innern machte ihnen
das unruhige englische Element immer mehr zu schaffen. Schon 1890 lehnte
sich englisches Goldgräbergesindel gegen die Regierung auf, beschimpfte den
Präsidenten und riß die grün-rote Flagge vom Regierungsgebäude herab.
Darum wies Ende des Jahres 1890 die Vollcsstsin nachdrücklich auf eine
engere Verbindung mit dem deutschen Reiche hin. Es wohnt, schreibt sie, nicht
mir in der Republik bereits eine beträchtliche Zahl von Deutschen, sondern es
sind auch wichtige deutsche Interessen hier vertreten. Die Thatkraft, die das
deutsche Volk in den letzten Jahren aus kolonialen Gebiet entfaltet hat, macht
es doppelt wünschenswert, wieder den Versuch einer Annäherung zu machen.
Das deutsche Reich ist vorzugsweise ein Jndustriestrat, der für die Erzeugnisse
seines Gewerbfleißes fortwährend neue Absatzgebiete suchen und schaffen muß;
und dazu wird sich vorzugsweise der Teil des afrikanischen Festlandes eignen,
der von demselben Meere begrenzt wird, das hoffentlich auch einmal die Süd¬
afrikanische Republik umspülen wird. Diese hat so gut wie gar keine ein¬
heimische Industrie und wird deshalb ein bereitwilliger Abnehmer des deutschen
Gewerbfleißes werden. Wenn die frühern Annäherungsversuche der Republik
vou Deutschland kühl beantwortet wurden, so haben sich die Dinge seitdem
gewaltig geändert. Man hat zu der Kraft und Lebensfähigkeit der Regierung
der Republik und ihrer Einrichtungen mehr Vertrauen gewonnen, man kennt
jetzt die Hilfsquellen des Landes besser und sieht ein, daß die wirtschaftlichen
Bedürfnisse der Republik ein ergiebiges Feld für den Handel sind. Die in¬
dustriellen und finanziellen Kreise Deutschlands haben jetzt etwas mehr Interesse
für uns als früher, was schon aus den Äußerungen der bedeutendsten deutschen
Zeitungen hervorgeht.
Auch in Deutschland hatte man mittlerweile mit der Liebenswürdigkeit
der englischen Vettern ähnliche Erfahrungen gemacht wie die Buren Trans¬
vaals; nicht nur in Südwestafrika, auch in den andern Kolonien stieß man aus
englische Quertreibereien. Was war natürlicher, als daß sich das Band zwischen
den beiden Staaten fester knüpfte! Verstärkt wurden die freundschaftlichen Be¬
ziehungen noch durch eine wirtschaftliche Annäherung. Diese wurde durch Er¬
richtung der Deutsch-Ostafrikanischen Dampfergesellschaft herbeigeführt, die seit
1890 ihre Schiffe bis zur Delagoabai hinabsendet. Überhaupt beginnt vou
1890 an das Deutschtum sich immer mehr zu regen und den Engländern
gegenüber eine selbstbewußtere Stellung einzunehmen. Von diesem Jahre an
erschien auch die Südafrikanische Zeitung zu Kapstadt, die sich die Aufgabe
gesteckt hat, die Beziehungen zur deutschen Heimat zu Pflegen und die deutschen
Interessen in Südafrika zu vertreten — eine Aufgabe, die sie bisher auch rühmlich
erfüllt hat.
Seitdem hat es uun auch unsre Regierung an Freundschaftsbeweisen nicht
fehlen lassen. Daher wurde das Erscheinen der deutschen Kriegsschiffe Ende
1894 in der Delagoabai, als sich wieder einmal die englische Begehrlichkeit
regte, von den Buren mit dem Gefühle der Befreiung begrüßt. Außerordentlich
freundschaftlich wurden die Seeoffiziere des Kormoran in Johannesburg und
Pretoria aufgenommen, die im März 1895 bei Gelegenheit der Eröffnung der
Delagoabahn dort erschienen-
In den letzten Jahren sind die Interessen Deutschlands noch bedeutend
angewachsen. Während 1889 die Ausfuhr Transvaals nach Deutschland, die
besonders in Gold und Wolle besteht, sich nur auf 58000 Mark belief, betrug
sie im Jahre 1894 schon 480000 Mark. Ebenso ist die Einfuhr Deutschlands
von 955000 Mark im Jahre 1889 auf 5543000 Mark im Jahre 1894 ge¬
stiegen. In Wirklichkeit ist aber der Absatz Deutschlands mich der südafrika¬
nischen Republik noch größer, da eine Menge deutscher Waren über London
und Kapstadt als englische eingeführt werden, Gegenstände der Einfuhr bilden
namentlich Erzeugnisse der chemische« Industrie, Luxus- und Haushciltuugs-
gegenstände, Maschinen und Instrumente, vor allem aber Stahl und Eisen.
Die Iron ana vvg,1 Irs-clos Rsvisv berechnete kürzlich die deutsche Stahl- und
Eiseneinfnhr von 1892 bis 1895 jährlich auf 8000 bis 9000 Tonnen, die
einen durchschnittlichen Jahreswert von 50000 Pfund Sterling haben.
Die deutsche Industrie steht in Transvaal in hohem Ansehen. Dafür
bürgen schon Namen wie Krupp, Grusou, Siemers und Hälfte, die in Johannes¬
burg mächtige Niederlassungen errichtet haben. Erfreulich ist es auch, daß
unsre Großindustriellen ihr Deutschtum nicht verleugnen. Das beweisen die
zahlreichen, hoch in die Lüfte ragenden Schornsteine, die durchweg schwarz-
weiß-rot gestrichen sind. Hervorragend beteiligt ist bei den industriellen Unter¬
nehmungen ein Hamburger Kaufmann Eduard Lippert, der gewaltige Cement-
nnd Dyuamitfabriken angelegt hat, die einen Wert von 15 Millionen Mark
haben.
Bekannt ist, daß die Delagoabahn fast nur mit deutschem Gelde erbaut
worden ist. Ebenso ist an den andern Bahnen, die von Jahr zu Jahr an
Aufschwung gewinnen, deutsches Kapital stark beteiligt. Außerdem haben zahl¬
reiche Deutsche ihr Geld in den Minenbetrieben angelegt. Man berechnet diese
Summe auf 50 Millionen Mark. Am meisten ist dabei beteiligt die Gold¬
firma von Adolf Gverz u. Co. in Verliu. Deutsche stehen an leitender Stelle
in deu zahlreichen Minenbetrieben, wie der Süddeutsche A. Wagner. Mit
deutschem Gelde ist auch das bedeutende metallurgische Institut gegründet
worden. Ebenso haben deutsche Kapitalisten die für Südafrika geradezu un¬
entbehrliche Gold- und Silberscheideanstalt ins Leben gerufen, die ihren Sitz
in Frankfurt ni. M. hat.
In elektrischen Bahnen sind ungefähr 6 Millionen Mark deutscheu Kapitals
angelegt. Diese Anlagen übernahm Siemers und Hälfte, die Südafrika mit
ihren Anlagen ziemlich beherrschen. So hat der schon erwähnte E. Lippert
in Verbindung mit dieser Firma die größte elektrische Kraftanlage der Welt
geschaffen, die über 4000 Pferdekräfte verfügt. Auch um die Kultur des
Landes erwirbt sich diese Firma große Verdienste durch eine sachgemäße Aus¬
nutzung der Wasserkräfte. In dieser Beziehung bietet sich ihr aber noch ein
weites Arbeitsfeld dar, da die südafrikanischen Flüsse infolge des starken Ab¬
falls der Hochebne zur Küste zahlreiche Wasserfülle bilden.
Bald wird auch die öde, wüstenähnliche Umgebung Johannesburgs durch
deutschen Fleiß und deutsche Intelligenz ein andres Aussehen erhalten. Unter
der Leitung deutscher Forstleute hat die Regierung — und auch Privatleute
wie Lippert beteiligen sich dabei — Aufforstungen unternommen, die nicht mir
in Bezug auf landschaftliche Schönheit schon große Veränderungen hervorgerufen
haben, sondern sich auch später als gute Kapitalanlage in dem holzarmen Lande
erweisen werden; denn bis jetzt müssen die Grubenhölzer, die in den Bergwerken
gebraucht werden, aus Schweden und Norwegen eingeführt werden.
Auch eine Tuchfabrik wurde in Volksrust, nahe an der Grenze des Oranje-
freistaats und Natals, errichtet, wozu vierundzwauzig deutsche Arbeiter an¬
geworben wurden. Im Anschluß hieran werden auch noch andre Unterneh¬
mungen geplant. Im Oktober 1895 hat die Dresdner Bank, unterstützt von
andern deutscheu Bankhäusern, eine Aktiengesellschaft in Johannesburg ins Leben
gerufen, deren Kapital 1 Million Pfund Sterling beträgt. Mit dieser Bank
soll eine Zentralstelle für deutsche Industrie verbunden werden. Es hat sich
also in Transvaal ein weites Gebiet für den deutschen Unternehmungsgeist
erschlossen. Wie sehr der Verkehr von Deutschland nach Transvaal in letzter
Zeit gewachsen ist, kann mau schon aus dem Umstände erkennen, daß die
Deutsch-ostafrikanische Gesellschaft mit diesem Jahre drei neue Schiffe einstellt.
Was die Zahl der Deutschen anlangt, so ist sie durchaus nicht so unbe¬
deutend, wie sie die englischen Blätter machen möchten. Vor allen Dingen
unterscheiden sich aber die Deutschen vorteilhaft dadurch von den goldsuchenden
englischen Zugvögeln, daß sie in überwiegender Zahl im Lande seßhaft ge¬
worden sind, sei es als Arbeiter, Handwerker, Ackerbauer oder Kaufleute. Was
den Deutschen an Kopfzahl abgeht, ersetzen sie reichlich durch ihr Ansehen.
Welches Vertrauen sie genießen, kann schon der Umstand beweisen, daß sie eine
Reihe wichtiger Ämter im Lande bekleide». Der Veteran der Deutschen ist
ein Herr von Brandes, der schon seit 1856 im Lande ist und schon über fünf¬
undzwanzig Jahre im Dienste der Republik steht.
Mit den Buren stehen die Deutschen im besten Einvernehmen. Dies zeigt
sich am deutlichsten bei der Feier nationaler Festtage, zu denen nicht nur
Bürger erscheinen, sondern anch die ersten Würdenträger der Republik. Wie
warm und anerkennend waren die Worte, die Präsident Krüger am 27. Januar
1895 in seinem Trinkspruch auf unsern Kaiser den Deutschen spendete! „Ich
weiß, was ich den Deutschen schuldig bin. Die deutschen Unterthanen, die
nach Transvaal kamen, als der Staat mit den Eingebornen Schwierigkeiten
hatte, sind immer bereit gewesen, den Staat zu verteidigen. Sie achten und
ehren die Landesgesetze. Das ist der Geist, das Volk, das wir brauchen
köunen, und ich hoffe, daß sich Transvaal immer fester an Deutschland an¬
schließen wird."
Die deutschen Ansiedler sind mit ihrer Lage zufrieden. Dafür spricht
auch der Umstand, daß sich unter den Verhafteten des Nandklubs nur fünf
mit deutschen Namen befinden. Arbeiter und Handwerker können leicht 30 bis
40 Prozent ihres Verdienstes zurücklegen. Die deutschen Handwerker in den
Städten gehören zu den geschicktesten und gesuchtesten. Arbeiter und Farmer
finden sich in beträchtlicher Zahl über das ganze Land zerstreut. Auch der
Ackerbauer hat in der Republik sein gutes Fortkommen. Der Boden ist meist
fruchtbar, und für seine Erzeugnisse findet er in den Minengebieten guten Absatz.
Überall, wo die Deutschen in größerer Anzahl zusammenwohnen, erhalten sie
sich auch ihr Deutschtum.
Ju Johannesburg mögen sich ungefähr dreitausend Deutsche befinden.
Die gesuchtesten Ärzte der Stadt sind Deutsche. In der prächtigen Haupt¬
straße haben deutsche Warenhäuser die größten und schönsten Läden. Die
Geschäfte des Lübecker Rolfes, des Frankfurter Nebel und des Hamburger
Königsberg sind die ersten am Orte. Die letztgenannte Firma hat im ver¬
gangnen Jahre allein für fünf Millionen Mark Waren aus Deutschland ein¬
geführt. Ein großer Teil der Gastwirtschaften befindet sich auch in deutschen
Händen. Wie weit deutscher Einfluß geht, kann man daraus ersehen, daß sich
selbst englische Geschäftshäuser deutsche Leute halten. Natürlich haben sich
unsre Lnndslente hier zu einer Anzahl von Vereinen zusammengeschlossen,
unter denen die Liedertafel und der deutsche Klub die bessern Elemente in sich
vereinigen. Die nationalen Festtage feiern sie in fröhlicher Gemeinschaft. Und
seit Neujahr 1896 haben sie auch eine deutsche Zeitung, die Deutsche Wacht,
die den fünf englischen Blättern gegenüber, die in Johannesburg erscheinen,
die deutschen Interesse» vertritt. Zu verwundern ist nur, daß es noch keine
deutsche Schule giebt.
In Pretoria, das im Gegensatz zu Johannesburg in fruchtbarer Gegend
und inmitten blühender Gärten liegt, sind uuter den sechstausend Einwohnern
ungefähr vierhundert Deutsche; so viel warm wenigstens bei der letzten Kaiser¬
geburtstagsfeier vereinigt. Hier, wo der Sitz des Volksrciads und der Be¬
hörden ist, ist die Industrie von keiner großen Bedeutung. Erwähnenswert
ist nur eine von Deutschen gegründete Bierbrauerei. Dagegen sind die Be¬
amten zum Teil Deutsche, z. V. sämtliche Beamte der Münze, deren Maschinen
und Einrichtungen auch alle aus Deutschland stammen. In Pretoria hat auch
der deutsche Generalkonsul in einem hübschen burgähnlichen, mit Zinnen ge¬
krönten Hause seinen Sitz. Der jetzige Konsul, ein Herr von Herff, erfreut
sich bei dem Präsidenten großer Beliebtheit.
Aus alledem wird zur Genüge hervorgehen, welch großes Interesse
Deutschland an einer ruhigen Entwicklung der südafrikanischen Republik haben
muß. Die Beziehungen, die schon bisher zwischen den stammverwandten
Völkern beider Staaten sehr rege waren, werden aber infolge der Ereignisse
der jüngsten Tage noch viel enger werden. Vor allem aber haben diese Er¬
eignisse den Buren die Augen geöffnet. Es bahnt sich wieder eine engere Ver¬
bindung zwischen den Buren des Kaps, Natals und des Oranjefreistaats an,
was die geschickte Politik Cecil Rhodes zu hintertreiben sucht, und wir hoffen
daher zuversichtlich, daß die Gefahr des Verengländerns für die Buren ein
für allemal beseitigt ist, und daß der starre niederdeutsche Bauerntrotz seine
Art und seine Sprache für alle Zeiten bewahren wird, gestützt von der Freund¬
schaft der deutschen Brüder im Reiche.
or einiger Zeit ist in den Grenzboten der Versuch gemacht worden,
den Zweikampf dadurch zu Falle zu bringen, daß der Boden,
in dem er wurzelt, die Ehre, aufgegraben und untersucht wurde.
Dabei sind nun dem Verfasser der scharfsinnigen Ausführungen
M zwei Irrtümer untergelaufen, durch die er sich vou vornherein
die Frucht seiner Untersuchungen verkümmert. Der erste und wichtigste Irr¬
tum ist, daß er die Ehre für einen Begriff hält, den man sich logisch klar
machen könne, oder vielmehr, daß er glaubt, die Ehre sei darum nichts wirk¬
liches, weil man sie sich nicht logisch klar machen, weil man sie nicht begriff¬
lich definiren kann. Es gelingt ihm auch uicht, eine positive Definition des
Begriffs Ehre zu finden, wie er ja gleich im Anfange selbst sagt: „Die Ehre
eines Menschen ist nichts mehr und nichts weniger als eine Meinung, die
andre Menschen von ihm haben. Der Inhalt dieser Meinung ist eigentlich
negativer Art. Er besteht nämlich darin, daß man der Eigenschaften nicht er¬
mangle, die man haben mich, teils um ein brauchbares Mitglied der bürger¬
lichen Gesellschaft im allgemeinen zu sein,, teils um eine besondre Stellung
darin auszufüllen." Aber die Ehre gehört in der That gar nicht in das Ge¬
biet, über das der Verstand herrscht, und in dem er nach den Gesetzen der
Vernunft entscheidet, ob etwas wirklich berechtigt richtig sei oder nicht. Der
Verstand wird immer wieder zu dem Ergebnis kommen, daß es keine Ehre
giebt, daß das, was man als Ehre bezeichnet, ein Wahngebilde, ein Gespenst
ist, das nur in der Einbildung, in der Phantasie der Leute besteht. Und man
sollte sich in der That damit begnügen, festzustellen, daß es im Gebiete des
Verstandes den Begriff Ehre nicht giebt, daß die Ehre vor dem Richterstuhle
der Vernunft in ein wesenloses Nichts zerfließt, daß sie objektiv nicht bestimmt
werden kann, und man wird darauf verzichten müssen, einem mit Vernunft-
gründen seiue Ehre auszureden oder einem andern, der aller Ehre bar ist, ver¬
standesmäßig die Ehre beizubringen.
Aber ist denn nur das wirklich, was verstandesmäßig begriffen, was ob¬
jektiv festgestellt werden kaun? Will man das behaupten, dann wird freilich
vieles, von dessen Wirklichkeit unzählige Menschen überzeugt sind, in den Orkus
der NichtWirklichkeit verschwinden müssen. Dann ist, um gleich das wichtigste
zu nennen, Gott nicht wirklich. Denn auch, wenn man zu den schon vor-
handnen sogenannten Gottesbeweisen noch eine Anzahl nicht minder scharf¬
sinniger neuer Gottesbeweise hinzubrnchte, würde man doch niemals verstandes¬
mäßig, objektiv feststellen können, daß es einen Gott giebt. Aber giebt es denn
nicht neben der objektiven Wirklichkeit der Vernunft noch eine subjektive Wirk¬
lichkeit des Glaubens? Wer glaubt, daß es einen Gott giebt, der wird doch
nur lächeln über den, der ihm logisch das Dasein Gottes als eine Unmöglich¬
keit hinstellt; und umgekehrt: wer nicht an Gott glaubt, wird ihn auf dem
Wege des Verstandes niemals erkennen. Nun wohl, auch die Ehre gehört zu
den Begriffen, die nur eine subjektive Wirklichkeit haben, zu den Dingen, von
denen man glauben muß, daß sie sind. Wie aber, im Gebiete der Natur-
religion wenigstens, die Vorstellung von Gott in innerm, notwendigen Zu¬
sammenhange mit der Stufe des Seelenlebens steht, die el» Volk erreicht hat,
und wie sich daraus die Verschiedenheit der Religionen ergiebt, so ist die Ver¬
schiedenheit des Ehrbegriffs eine Folge der stufenweise sich vollziehenden Ent¬
wicklung der seelischen Beziehungen zur Menschenwürde. Bekanntlich hat jeder
Mensch seine Ehre. Zu mir kam einmal ein Mann, der eben aus dem Zucht¬
hause entlassen war. Er hatte sich dort eine kleine Summe erspart, die ich
ihm auszuzahlen hatte. Als ich ihn nun ermahnte, nicht wieder rückfällig zu
werden und besonders das Geld gut anzuwenden, erwiderte er mir tief gekränkt:
Ja glauben Sie denn, daß ich nicht auch meine Ehre habe? Der Mann hatte
ganz Recht. ES giebt überhaupt wenig Menschen, die nicht ihre Ehre Hütten.
Nun hat sich aber in unsern gesellschaftlichen Verhältnissen eine gewisse
Versteinerung des Ehrbegriffs gebildet. Der Ehrbegriff ist für gewisse gesell¬
schaftliche Kreise, für bestimmte Stände, für einzelne Berufsarten subjektiv fest
bestimmt, wenn es auch unmöglich ist, mit Worten zu sagen, was diese be¬
sondre Ehre ist; man kann das nur fühlen. Die Adlichen und die Bürger¬
lichen, die Künstler und die Handwerker, die Männer und die Frauen, die
Redlichen und die Diebe haben ihre besondre Ehre für sich. Als die höchste,
empfindlichste, am vollkommensten ausgebildete Ehre gilt aber allgemein die
der Adlichen. Natürlich, denn die Adlichen sind der älteste und höchste Stand,
sie haben am längsten Zeit gehabt, sich einen Ehrbegriff zu bilden, und haben
unter den Verhältnissen, in denen sie lebten, auch ihre Feinfühligkeit für die
Ehre am vollkommensten entwickeln können. Sie haben daher auch ein ge¬
wisses Recht, ihren Ehrbegriff für den höchsten zu halten. Im Laufe unsers
Jahrhunderts haben sie aber dann die Gnade gehabt, anzuerkennen, daß auch
solche, die unter dem Baron stehen, schließlich doch Menschen sind, wenn sie
nämlich fähig sind, sich auf die Höhe — des adlichen Ehrbegriffs emporzu¬
schwingen. So sind zunächst die Offiziere, überhaupt auch die bürgerlichen,
dann auch die Studenten und die Studirten in die Gemeinde derer, die an die
adliche Ehre glauben, aufgenommen und für — satisfaktivnsfühig erklärt worden.
Man setzt nämlich voraus, daß jeder, der diesen Ehrbegriff hat, bereit und
gewillt sei, seine Ehre auf die Weise, die nach adlicher Auffassung allein dazu
geeignet ist, zu verteidigen und einem anderen, dessen Ehre man zu nahe ge¬
treten ist, ans dieselbe Weise Genugthuung zu geben, selbstverständlich nur,
wenn er denselben Begriff von Ehre hat oder haben muß.
Die Weise nun, auf die ursprünglich nur Adliche ihre Ehre unter ein¬
ander verteidigten und einander Genugthuung gaben, ist der Zweikampf. Der
Zweikampf aber ist — und das ist der andre Punkt, über den ich mit dem
Verfasser des frühern Aufsatzes uicht einverstanden bin — nicht ein unmittel¬
barer Abkömmling der mittelalterlichen Gottesurteile, wenn sie auch etwas in
die Entwicklung namentlich der Zeremonien des Zweikampfs hineingespielt haben
mögen. Sondern der Zweikampf ist ein Nest des Fehderechts der Adlichen.
Die Adlichen brauchten sich ursprünglich ihr Recht nicht vor irgend einem
Richter zu holen, mochte es sich handeln, um was es wollte. Sie konnten
es vielleicht gar nicht, weil es keinen Richter gab, der über ihnen stand; sie
waren souverän. So haben sie sich ihr Recht selbst geholt, sie haben dem
Gegner die Fehde angesagt, haben ihn mit ihrer Faust niedergezwungen und
sich so durch das Faustrecht, durch das Recht des Stärkern zu ihrem Rechte
verholfen. Mit dem Fortschreiten der Kultur, mit der vollkommnern Entwick¬
lung des Staatslebens ist das Faustrecht, das Recht auf Selbsthilfe immer
mehr eingeschränkt worden. Der Adel und die Kreise, die seinen Ehrbegriff
angenommen haben, beanspruchen selbst es nur noch für die Fülle, wo die
Ehre verletzt ist. Denn, so sagen sie, unser Ehrbegriff ist so fein und em¬
pfindlich, daß unsre Ehre mit den Mitteln, die uns der Staat heute dafür
bietet, nicht gewahrt werden kann. Wir können in Ehrensachen beim Staate
nicht unser Recht finden, folglich nehmen wir es uns selbst; wir nehmen es
uns durch den Zweikampf.
Wie stellt sich nun der Staat zu dieser Behauptung derer, die den Ehr¬
begriff des Adels haben? Zunächst: es giebt wohl kein Land, wo die Ehre
nicht als etwas Wirkliches dadurch staatlich anerkannt wäre, daß Gesetze vor¬
handen sind, die die Verletzung der Ehre eines andern, die Beleidigung, mit
Strafen bedrohen. Auch die Verschiedenheit der Ehrbegriffe wird dadurch an¬
erkannt, daß nicht objektiv bestimmt wird, was eine Beleidigung sei, sondern
dem Ermessen des Richters überlassen bleibt, in jedem einzelnen Falle festzu¬
stellen, ob das Wort oder die That Beleidigung sei oder nicht. Der Richter
aber kann das nur nach dem Ehrbegriffe ermessen, den er bei dem Beleidigten
findet oder voraussetzen muß, oder nach dem, den der Beleidiger bei dem Be¬
leidigten vorausgesetzt hat oder voraussetzen mußte; denn nur, um darüber
Klarheit zu gewinnen, erwägt der Richter die Umstünde, unter denen die Be¬
leidigung geschehen ist, und die Frage, ob die Absicht der Beleidigung vor¬
handen gewesen sei.
Erkennt nun der Staat zunächst die Ehre als etwas wirkliches und die
Unterschiede im Ehrbegriff als vorhanden an, so ist die weitere Frage, ob er
zugiebt, daß es einen Ehrbegriff von solcher Feinheit und Empfindlichkeit gebe,
daß er ihn mit seinen Mitteln nicht genügend schützen könne. Giebt er das
zu, so ist die notwendige Folge davon, daß er bei Verletzungen dieser höchsten
Ehre die Selbsthilfe, also den Zweikampf, als berechtigt anerkennt.
Soviel ich weiß, giebt es nach englischem Gesetz keinen Ehrbegriff, der
nicht gesetzlich genügend geschützt wäre. Die Selbsthilfe ist darnach unberechtigt.
Wer einen andern im Zweikampf umbringt, wird als Mörder bestraft. Vor
fünfzig Jahren hat in England das letzte Duell stattgefunden.
In Frankreich dagegen wird jedem das Recht zugestanden, einen Ehr¬
begriff zu haben, der so fein ist, daß der Staat mit seinen Strafen seine Ver¬
letzung nicht ausreichend ahnden kann. Folglich ist die Selbsthilfe unter
bestimmten äußerlichen Bedingungen, d. h. der Zweikampf, uneingeschränkt ge¬
stattet, er ist straflos.
Und in Deutschland? Nun, wir erkennen das Vorhandensein einer über
dem gesetzlichen Schutze schwebenden Ehre an. Es giebt sogar einen — freilich
ungeschriebnen — Ehrenkodex, wonach sich jeder „Mann von Ehre," d. h. jeder
Anhänger jenes adlichen Ehrbegriffs, unweigerlich zu richten hat; der Zwei¬
kampf ist z. V. für Offiziere unter gewissen Umständen eine dienstliche Pflicht.
Aber wir bestrafen die Duellanten, ihre Sekundanten, ihre Kartellträger usw.
Wir bestrafen sie jedoch uicht wie andre gewöhnliche Staatsbürger, die einen
andern Hingebracht haben oder haben umbringen wollen, sondern viel leichter,
und in den meisten Fällen begnadigt der Landesherr, der in diesem Falle ohne
Zweifel als höchster Vertreter des Staates handelt, die Verurteilten, nachdem
sie kaum ihre leichte Strafe angetreten haben. Also: der Staat erkennt erst die
Notwendigkeit des Zweikampfs an, dann bestraft er die Duellanten, und schließlich
schenkt er ihnen die an sich schon unverhältnismäßig leichte Strafe. Diese
Inkonsequenz ist die Folge davon, daß mir, das Volk der Denker, der adlichen
Ehre auf der einen Seite zugestehen, daß sie nur mit Hilfe der Selbsthilfe
durch den Zweikampf ausreichend gesichert werden könne, auf der andern Seite
die Gleichheit aller vor dem Gesetze durchführen möchten. So haben wir
einen Mittelweg gesucht und sind doch nur auf eiuen schauerlichen Holzweg
geraten.
Nun dämmert aber doch allmählich die Erkenntnis ans, daß wir den ver-
fahrnen Karren wieder herausarbeiten müssen. Wir müssen die bestehende Halb¬
heit beseitigen, wir müssen uns entweder nach englischem oder nach französischem
Vorbild einrichten. Daß das französische Vorbild für uus irgendwie in Frage
kommen könne, bezweifle ich; ich glaube, auch der stolzeste Adliche wird das
nicht mehr zu hoffen wagen. Ich bin dagegen fest überzeugt, daß wir sehr
gut fahren würden, wenn wir in die englischen Fußstapfen träten; wenn wir
den Zweikampf mit tötlichen Ausgange dem Morde, den Zweikampf mit oder
ohne Körperverletzung dem Mordversuche gleich bestraften. Das Rechtsbewußt-
sein des Volkes wird es nie begreifen, welcher Unterschied zwischen einem Mord
und der Tötung eines Menschen im Zweikampf ist, und wenn durchaus ein
Unterschied gemacht werden soll, so kann es doch höchstens der sein, daß die
Tötung im Zweikampf schlimmer ist als der Mord. Denn im Zweikampf
stehen sich Männer der obersten Gesellschaftsschicht, Männer von der höchsten
Bildung gegenüber, und durch die Wahl der Waffen wie durch die Formalitäten,
unter denen der Kampf stattfindet, ist von vornherein erwiesen, daß die Tötung
vorsätzlich und mit Überlegung geschieht.
Selbstverständlich müßte jede Form des Zweikampfs unterdrückt werden,
also auch die studentischen Schlügermensuren. Denn sind sie auch nicht so
lebensgefährlich wie die Pistolen- und Sübelduelle, so fallen sie doch jeden¬
falls unter den Begriff der — in einem Rechtsstaate — unerlaubten Selbst¬
hilfe. Das Pistolenschießen und das Fechten brauchte ja damit nicht auf-
zuhören; es könnte ruhig weiter betrieben werden als Sport zur Übung von
Auge und Hand, wie es heute schon mit der elegantesten Art des Fechtens,
mit dem Florettfechten, der Fall ist.
Selbstverständlich ist ferner, daß der Staat, sobald er den Zweikampf mit
so hohen Strafen (Todes- und Zuchthausstrafe) bedroht, daß er dadurch un¬
möglich wird, auch dafür sorgen muß, daß die Verletzung auch der empfind¬
lichsten Ehre ausreichend geahndet wird; daß also die Strafen für die wort-
liehen, namentlich aber die für die thätlichen Beleidigungen (Mißhandlung, Ver¬
gewaltigung, Ehebruch usw.) bedeutend verschärft werden. Darauf hinzuwirken,
wäre Sache derer, denen die Selbsthilfe des Zweikampfs genommen wird.
Verschwindet der Zweikampf, und wird zugleich die Ehre des Einzelnen
vollkommner von Staats wegen geschützt, als es jetzt der Fall ist, so sind auch
die Befürchtungen hinfällig, die man meist gegen die Beseitigung jener Selbst¬
hilfe in Ehrenhändeln ins Feld führt, vor allem die, daß die Ehrliebe und
Ehrenhaftigkeit der Kreise, die jetzt das Standesvorrecht des Duells haben,
darunter leiden müßten. Denn ganz abgesehen davon, daß eine Ehre, die nur
durch Verbrechen unverletzt gehalten werden oder wiederhergestellt werden kann,
ebenso gut unterdrückt werden muß wie eine Religion, die von ihren Be-
kennern etwa Menschenopfer fordert — ich bin fest überzeugt, daß, wenn dann
viele, die jetzt durch einen Pistolenschuß ihre Ehre aufrecht erhalten können,
als Schufte gebrandmarkt würden, und andre, die nicht zur Pistole greifen
können oder wollen, wenn sie von einem Lassen beleidigt werden, Ehrenmänner
blieben, wenn also die Ehre nicht dem Zufall eines Zweikampfs ausgeliefert
wäre, die Ehrliebe und die Ehrenhaftigkeit noch viel größer und gesicherter
sein würde. Denn das ist doch wohl keine Frage, daß die obersten Volks¬
schichten, die ihre Ehre durch deu Zweikampf schützen, manchen ehrlosen Menschen
unter sich haben und unter sich dulden müssen, nur weil er, als er sich einmal
selbst einer Ehrlosigkeit schuldig gemacht hatte, den, der ihn deshalb einen
Schurken genannt hatte, niedergeschossen hat, weil er seine Schande also in
dem Blute eines Ehrenmannes abgewaschen hat, woraus hervorgeht, daß auch
der Zweikampf die Bestimmung, die Ehre zu schützen, nnr ganz unvollkommen
erfüllt.
uf meine im Deutschen Sprachvereine veranstaltete Umfrage wegen
der Schreibung von Straßennamen habe ich von 79 Zweig¬
vereinen Antworten erhalten, außerdem eine von or. Th. Storch
ans Meiningen, eine von l)r. Ed. Jacobs ans Wernigerode, eine
von einem Freunde ans Viersen und eine aus Berlin 8V/. Allen,
die sich der Mühe unterzogen haben, mir zu antworten, sage ich hier verbind-
liebsten Dank. Leider ist etwa ein Drittel der Antworten fast ganz wertlos,
da sich mancher nicht einmal klar gemacht hat, was die Fragen eigentlich be¬
zweckten. Dafür sind andrerseits etwa ein Dutzend Antworten besonders sorg¬
fältig und eingehend bearbeitet worden, namentlich die von Breslau, Darm¬
stadt, Frankfurt, Leipzig, Marienwerder, Straßburg i. E. und Wien.
Meine erste Frage lautete: „Wird bei Ihnen geschrieben (auf den Schildern
an den Straßen, im Adreßbuch, in den Zeitungen): Altonaer Straße oder
Altonaerstraße (Altonaer-Straße)? Leipziger Straße oder Leipzigerstraße (Leip¬
ziger-Straße) und ähnliches." Aus den Antworten geht folgendes hervor:
Die falsche Schreibung in einem Worte herrscht in 13 Städten, die falsche
Schreibung in zwei mit Bindestrich verbundnen Wörtern in 10 Städten; beide
falsche Schreibungen vermischt kommen in 9 Städten vor; also die falschen
Schreibungen zusammen in 37 Städten. In 14 Städten herrscht wildes Durch¬
einander von falschen und richtigen Schreibungen; in 11 Städten ist die Schrei¬
bung auf den Straßenschildern (in Leipzig auch im Adreßbuchs) richtig; in den
Zeitungen und Wohnnngsanzeigern (Adreßbüchern) aber nieist falsch; ebenso ist
es auch noch in Bochum, Düsseldorf und Elberfeld, wo aber die im vorliegenden
Falle richtige Schreibung in zwei getrennten Wörtern fälschlich als Regel für
alle Straßennamen auf den Schildern durchgeführt ist; das umgekehrte Ver¬
hältnis liegt in Pirna vor, wo die Schilder die falsche Schreibung haben,
während der Pirnaer Anzeiger — ein löbliches Vorbild für alle deutschen Zei¬
tungen — die getrennte Schreibung in zwei Wörtern bietet. Ganz scheint
die richtige Schreibung vorzuherrscheu in folgenden 12 Städten: Buxtehude,
Darmstadt, Dresden, Eger, Krefeld, Leipci, Leitmeritz, Nordhausen, Nürnberg,
Reichenberg, Trier, Wilhelmshaven. Bemerkenswert ist, daß es z. B. in
Chemnitz, wo sonst die Zusammenschreibung vorherrscht, doch Hilbersdorfer
Weg, und in Döbeln bei zehn Zusammenschreibungen doch Stvckhciusener (rich¬
tiger wäre: Stockhäuser!) Weg heißt; auch bei dem Fremdworte Chaussee scheint
allgemein, selbst in den Zeitungen und Wohnungsanzeigern, noch die Abtrennung
des Eigenschaftswortes vorznherrschen, wie auch in Frankfurt bei den Aus¬
drücken Landstraße und Anlage, und doch heißt es auch dort z. B. in einer
amtlichen Bekanntmachung Ginnheimer-Landstraße und Nödelheimer-Landstraße.
Meine zweite Frage lautete: „Wird geschrieben: Französische Straße oder
Französischestraße (Französische - Straße)? Breite Straße oder Breitestraße
(Breite-Straße)? und ähnliches." Die Zusammenschreibung von einem Eigen¬
schaftsworte auf -isch mit Straße ist wohl die auffallendste und am meisten
zu verdammende, sie möge daher hier vorweg allein betrachtet werden. Die
falsche Schreibung in einem Worte findet sich in 4 Städten: Berlin Fran¬
zosischestraße, Blankenburg Büuerschestraße, Metz Dentschestraße, Svnneberg
Franzvstschestraße: die andre falsche, mit Bindestrich, scheint nicht vorzukommen.
Falsche und richtige Schreibung neben einander kommt in 7 Städten vor,
während in 4 Städten die Schreibung auf den Schildern richtig, in Zeitungen
und Wohnungsanzcigern falsch ist; auch hier steht wieder Pirna allein da, wo
der Pirnaer Anzeiger richtig Dohnasche Straße schreibt, während man auf den
Schildern Dohnaschestraße liest. Richtig ist die Schreibung ganz nur in
Breslnn (Märkische Straße) und in Laibcich (Deutsche Gasse).
Betrachten wir die Antworten zusammen, so kommt die falsche Schreibung
in einem Worte in 19 Städten vor; darunter sind so auffällige Beispiele, wie
Brciterweg in Aurich, Kurzestraße in Barmer und Plauen (wer denkt da nicht,
die Straße sei nach einem Manne namens Kurze benannt?), Krummestraße in
Blankenburg, Hohlcgasfe, Altermarkt und Alteschleuse in Mülheim an der Ruhr.")
Die falsche Schreibung mit Bindestrich findet sich in 5 Orten, z. B. Neue-Gasse
und Untere-Vadergasse in Annaberg, Neue-Straße und Lange-Straße in Ratibor.
Beide falsche Schreibungen giebt es wiederum in 5 Städten. Ein Durch¬
einander von falschen und richtigen Schreibungen herrscht in 14 Städten;
von besonders auffallenden und sonst bemerkenswerten Namen erwähne ich
folgende: Obernthorwall, Nicdernstraße und Obernstraße, andrerseits Große
Howe und Kleine Howe in Bielefeld; Langemarkt, Langenmarkt und Langer¬
markt, Thorusche Gasse, Banmgartsche-Gasse in Danzig; Breitergang und
Alterwall in Hamburg; Breiterweg, Breite Weg und Breite-Weg(I), Alter-
Markt und Alte Markt in Magdeburg; Deutschestraße und Preußischestraße
in Stettin. In 10 Städten haben die amtlichen Schilder die richtige, aber
Wohnungsanzeiger und Zeitungen die falsche Schreibung; besonders beachtens¬
wert ist unter diesen Stralsund mit seiner „Unnützen Straße"! In Stuttgart
trennen aber auch die Zeitungen noch wenigstens Bezeichnungen wie: Neue
Brücke, Alte und Neue Weiusteige, Obere und Untere Bachftraße. Der Pirnaer
Anzeiger schreibt zwar Dohunsche Straße, aber sonst wie die Schilder: Breite¬
straße, Neuestraße, Langestraße. An 18 Orten endlich herrscht die richtige
Schreibung, in zwei vollständig getrennten Wörtern, vor.
Im Anschluß an diese beiden ersten Fragen seien einige Einzelheiten noch
hervorgehoben: 1. Aus einigen Antworten geht hervor, daß bei den ältern
Schildern die Schreibung meist richtig, bei den neuern aber falsch ist. Woher
kommt dieser klägliche Rückschritt? Offenbar daher, daß bei den Massen¬
bestellungen solcher Schilder die Schreibung der herzustellenden Aufschriften
und dann in der Fabrik ihre Herstellung Leuten überlassen wird, die keine
genügenden Sprachkenntnisse haben. Wie aber kann Besserung erzielt werden?
Nun, die Sprachvereine mögen die städtischen Behörden auffordern, die An¬
nahme falsch geschriebner Schilder zu verweigern. Auch wäre es gut, wenn
den Fabriken, die solche Schilder herstellen — sehr viele werden es ja wohl
nicht sein —, die Regeln über einheitliche und regelrechte Schreibung der
Straßennamen zur Beachtung mitgeteilt würden. Besonders bedauerlich ist es,
wenn in ein und derselben Straße alte und neue Schilder mit richtigen und
falschen Bezeichnungen neben einander vorkommen, oder gar lauter neue mit ver-
schiednen Schreibungen, z.B. in Bonn Meckenheimer Straße, Meckenheimer-Straße,
Meckenheimerstraße; nur die Schilder mit der ersten Schreibung sind richtig.
Oder: Wenzel-Gasse neben Wenzelgasse; nur Schilder der einen oder der andern
Art sollten angebracht werden. Der Klagen über solche Unregelmäßigkeit ent¬
halten meine Antworten viele. 2. In der Negel wird als Grund dafür, daß
in den Zeitungen und Wvhnungsanzeigern meist die Schreibung aller Straßen¬
namen in einem Worte vorherrscht, die Raumersparnis angeführt. Läßt man
diese Entschuldigung gelten, so können die Drucker nächstens mit allen mög¬
lichen andern Willkürlichkeiten herankommen und Raumersparnis vorschützen.
Nimmt Adler-Straße wirklich so viel mehr Raum ein als Adlerstraße, so möge
man bei dieser letzten Schreibung bleiben, sie ist ja richtig; aber statt Breite¬
straße drücke man — wenn nicht Breite Straße — so wenigstens Breite Ser.,
statt Französischestraße — Französische Ser., statt Bernbnrgerstraße — Bern-
burger Ser. usw. 3. Dr. Horst in Straßburg i. E. hat durch einen Schüler
eine Anzahl Straßennamen an Ort und Stelle abschreiben lassen; wenn der
Junge richtig und genau geschrieben hat — und daS scheint der Fall zu
sein —, so sind nur wenige Schilder in Straßburg richtig geschrieben; es
heißt da z. B. Bei deu Gedeckteu-Brücken, Schwanen Gäßchen, Gedeckte Brückeu-
platz, Hirten Gäßchen, Große Nenn Gasse, Gerber Graben Platz usw.; selbst
die neuen Schilder zeigen dort ein wildes Durcheinander.
Meine dritte Frage lautete: „Wie ist es mit den alten Flnrbezeichnungen
und ähnlichem? z.B. »in der Kante.« Sind hier die Präpositionen in letzter
Zeit bei amtlicher Bezeichnung gefallen?" Aus deu Beautwortuugen geht hervor,
daß in achtunddreißig Städten die Verhältniswörter (Präpositionen) noch er¬
halten sind; bemerkenswert ist dabei die Schreibung „Hintern lieben Frauen"
in Braunschweig, und „An der Herzogin Garten" in Dresden. Man brauchte
sich nicht zu Wundern, wenn über kurz oder laug diese Straßenbenennuugen
zu „Liebfrauenstraße" und „Herzogingartenstraße" abgeändert würden; hoffent¬
lich aber gelingt es den Sprachvereinen in jenen achtunddreißig Städten, solche
und ähnliche Änderungen zu verhüten, sie erfülle» damit auch eine kultur¬
geschichtliche Aufgabe. Zum Teil erhalten, zum Teil aber gefallen sind die
Verhältniswörter in dreiundzwanzig Städten; ans einzelnen sei erwähnt, daß
in Elberfeld Bezeichnungen wie Altenmarkt, Hvhlenscheid, Neucnhans vor-
kommen, bei denen „Am" gefallen ist, daß man dort aus „Am Neuen Teich"
Neuenteicher Straße, aus „Im Osterfeld" Osterfelder Straße, aus „Am Arren-
bcrg" Arrenberger Straße, aus „Am letzten Heller" Hellerstraße gemacht hat;
gerade in Elberfeld und in Barmer ist diese Änderungssucht sehr groß. Ju
Koblenz heißt es Altlöhrthvr statt Am alten Löhrthor. Altenhof statt Am
alten Hof. Dr. G, Wustmaun schreibt von Leipzig: „Wir haben nur uoch
»An der ersten Bürgerschule«; »Am Rabensteinplatz« ist neuerdings zu »Raben-
steiiiplatz« vereinfacht worden, weil man gesagt hat, daß doch niemand »am
Am Rabensteinplatz« wohnen könne." Sehr gut! In Wesel heißt es jetzt
Brandstraße statt „Auf dem Brand." In Bon» statt „An der Wachsbleiche"
Wachsbleicher Weg! Bei nicht wenigen Antworten findet sich die Bemerkung,
daß das Volk noch immer die alten Bezeichnungen gebrauche. Recht so! Das
gilt auch für die Städte, in denen die Verhältniswörter schon durchweg ge¬
schwunden sind; derer sind dreizehn. Bemerkenswert ist folgendes: In Aurich
heißt es Julicmenburger Straße statt „In der Julicmenbnrg," Fakenbollwerk-
straße statt „Fako-Ulm-Vollwerk" (!) (von Fako Meu 1427 ausgeworfne
Schanze); in Barmer heißt es Altenmarkt, Neuenweg, Bretter Straße statt
„In der Brett'," Springer Straße statt „Im Springen," Brücher Straße
statt „Im Bruch," und — besonders beachtenswert — Mallack statt „Am
Attack," Mottcnberg statt „Am Otterberg."») In Bochum giebt es eine
„Vvde Straße" für früheres „In der Vöde"; in Boppard heißt es seit den
sechziger Jahren statt „Im Säuerling," „In der Floigt," „Auf dem Wasen,"
„Auf dem Ärgert" — „Säugerlingsstraße" usw.; in Krefeld hat man aus
„Im Steckeudvrf" eine Steckendvrfer Straße, ans „Unter der Linde" eine
Linden-Straße gemacht, in Pirna ans „Im Brotkorb" einen Vrvtkorbweg,
in Reichenberg aus „In der Sorge" eine Sorge Gasse.
Meine vierte Frage lautete: „Ist Grund zu der Annahme vorhanden,
daß solche alte Bezeichnungen (mit Präpositionen) auf einen entsprechenden
Antrag des Sprachvereins hin beibehalten oder wiederhergestellt werden würden?"
Von den Vereinen, die die vorige Frage mit „Nein" beantworten konnten,
haben die meisten diese vierte gar nicht beantwortet, obgleich es doch sehr
wünschenswert war, zu erfahren, ob Aussicht vorhanden sei, daß die alten Be¬
zeichnungen auch beibehalten werden. Mit „Ja" haben diese vierte Frage sieb¬
zehn Vereine beantwortet, darunter einige mit der Bemerkung, daß der Ober¬
bürgermeister den Vereinsbestrebungen günstig gesinnt sei; mit schlankem „Nein"
dagegen haben fünfzehn geantwortet, nämlich Barmer, Vlankenburg, Ehlen,
Frankfurt, Gablonz, Hamburg, Laibach (wegen des slowenisch gesinnten Ge-
meinderats), Leitmeritz, Lübeck, Metz, Neu-Ruppin, Planen, Reichenberg,
Wermelskirchen, Zwickau.
Barmer führt als Grund an, die Behörden scheuten die Kosten der Ände¬
rung; Vlankenburg meint, die Wiedereinführung der alten Bezeichnungen sei
unmöglich, weil sie erst kürzlich abgeschafft seien, und Neu-Ruppin, die alten
Bezeichnungen mit Verhältniswörtern seien für den Gebrauch schwerfällig;
Reichenberg schreibt: „Die hierfür gewählten kürzern Bezeichnungen entsprechen
vollkommen," wahrend bei der dritten Frage die Veränderung von „In der
Sorge" zu Sorge Gasse verzeichnet wurde; Wermelskirchen betont, daß das
Grundbuch fertig sei. Das letzte ist allerdings ein stichhaltiger Grund; wo
der vorliegt, wird wohl kaum Wiederherstellung der alten Vezeichnungen mög¬
lich sein; überall anderswo aber sollten die Vereine gelegentlich die erforder¬
lichen Schritte dennoch versuchen, namentlich aber wenigstens zu verhindern
suchen, daß die Neubildungen, wenn sie auch die alte Bezeichnung in gewisser
Beziehung retten, grammatisch unrichtig sind, wie z.B. Kanker Straße (statt
Kanten straße) für „An der Kante," Wachsbleicher Weg (statt Wachsbleichen -
weg) für „An der Wachsbleiche" und ähnliche. Endlich haben mit „Kaum,"
„Schwerlich" oder „?" geantwortet zwölf Vereine.
Die fünfte Frage lautete: „Belone man dort Steglitzer Straße oder Stcg-
litzer Straße? Leipziger Straße oder Leipziger Straße? Berliner Straße oder
Berliner Straße? u. ä." Ich hätte vielleicht genauere Auskunft erhalten,
wenn ich die jedesmalige zweite Betonung, die der Schreibung in einem
Worte entspricht, auch so Hütte drucken lassen. Nur in zwanzig Orten werden
noch das Bestimmungswort und das Wort Straße betont; daß diese doppelte
Betonung besonders dann stattfindet, wenn das Bestimmungswort sehr lang
ist, ist selbstverständlich; ebenso daß die Betonung vom Zusammenhang des
Wortes mit dem Satze sehr abhängig ist; festgestellt werden sollte nur, welche
Betonung überwiegt, ob die, durch die — wenn auch vielleicht unwillkürlich —
gezeigt wird, daß man das Bestimmungswort noch als Eigenschaftswort auf¬
faßt, oder die andre, nach meiner Meinung falsche, nach der die Zusammen¬
schreibung in einem Worte richtig sein würde, da das Bestimmungswort
wieder — wie es ja ursprünglich allerdings der Fall war — als Genitiv des
Bewvhnernamens gefühlt wird, die aber — wie ich glaube — gerade nur aus
der immer mehr zunehmenden Zusammenschreibung möglich geworden ist; sie
kommt im Gegensatz zu jenen zwanzig in siebenundvierzig Städten vor. Daß,
wenn es sich um Unterscheidung von andern Straßennamen handelt, der
Ton stets nur auf dem Bestimmungsworte liegt, ist selbstverständlich; also
z. B.: Wohnst du in der Ärndtstraße? Nein, in der Berliner Straße. Beide
Betonungsarten durch einander werden von sechs Vereinen als gebräuchlich
angegeben. Dr. G. Wustmann schreibt über Leipzig: „Man kann alle drei
Betonungen hören: Berliner Straße (immer, wenn der Unterschied hervor-
gehoben wird: er ist much der Berliner Straße gezogen), aber much Berliner
Straße, ja selbst Berliner Straße." Mehrere geben an, es werde der Unter¬
scheidung halber z. B. „Marien-Platz und Marien-Straße" betont; das ist
auch wieder selbstverständlich; das meinte ich auch nicht, als ich in der An¬
merkung zu Ur. 5 die Frage stellte: „Belone man aber dort etwa auch Hvlsten-
sträße statt Hölstenstraße? Goethestraße statt Goethestrnße? u. ä." Hierauf
haben sehr viele gar nicht, neununddreißig mit Nein geantwortet; acht aber
haben Einzelheiten mitgeteilt. Voppard: „Man betont Binger Gasse, Pastvrs-
Gäßchen, aber sonst Franziskaner Straße u. a. in." Vraunschweig: „Höm-
burger Straße, Möltkestraße usw., aber: Rautheimer Weg, Hohe Stieg." Celle:
„Nein, aber: Aller-Brücke." Hamburg: „Hölstenstraße, Gvcthestraße, aller--
diugs kommt bei einigen Straßen die andre Betonung vor, so: Reichenstraße,
Bäckerstraße, Schmiedesträße." Leipzig: siehe vorher. Mülheim a. d. Ruhr:
„Die alten Straßennamen werden von den gebornen Milcheimern, nament¬
lich in der niederdeutschen Sprache, mit dem Ton ans Straße gesprochen, so
Kettwiger Straße! Dagegen haben neuere Straßen und diese namentlich im
Hochdeutschen und bei Zugezognen den Ton so: Hingbcrgstraße, Heißener
Straße." Trier: „Luxemburger Straße, aber Eurener Weg." Wernigerode:
„Die noch herrschende einheimische Weise legt hier den Ton entschieden aus
Straße: Breite Straße, Miesleber Straße; dagegen Grnbestraße, Förckestraße."
Dabei sei bemerkt, daß man in Bonn den Hofgarten nicht so, sondern Hofgarten
nennt, ebenso den jetzigen Stadtgarten Stadtgarten und den frühern Knäben-
garten .Knabengärten; selbst jetzt, wo die ersten beiden gleichzeitig bestehen, be¬
tont man bei beiden den Garten!"^) or. Presset in Heilbronn schreibt: „In
Ulm erkenne man den »Reingeschmeckten« (Hereingeschmeckten, Zugewanderten)
daran sofort, wenn er Stadtmauer statt ulmisch Stadtmauer spricht."
Die sechste Frage lautete: „Belone man dort Breite Straße oder Breite
Straße? Hohe Straße oder Höhe Straße? u. ä." Das Ergebnis ist ähnlich
wie bei der vorigen Frage; nur siebzehn Vereine geben die richtige Betonung,
dreiundvierzig die falsche an (darunter in Braunschweig sogar Neue Straße,
in Stettin Kürze Straße). In drei Städten kommen beide Betonungen neben
einander vor, in Breslau aber die falsche seltener als die richtige. Aus
Lübeck wird geschrieben: „plattdeutsch wird stets Straße betont." Von Einzel¬
heiten erwähne ich: Annaberg: Am hohen Weg. Eger: Lange Gasse. Heidel¬
berg: Kurzer Buckel. Koblenz: Altengräben, Altenhöf. Meiningen: Hohe
Leite. Neunkirchen: Höhlstraße, Schmaler Weg. Straßburg: Am Hohen
Steg, Auf der grünen Warte. Trier: Neuer Weg. Wernigerode: Breite
Straße, Hohe Warte.
Die siebente Frage lautete: „Heißt es dort Breite Straße oder Breit-
straße? Hohe Straße oder Hochstraße? Neue Gasse oder Neugasse? Lauge
Straße oder Laugstraße? u. ä." Durch sie wollte ich hauptsächlich feststellen,
ob neben den häufigen Neugassen und Hochstraßen auch Lcmgstraßeu und Vreit-
straßen vorkommen. Eine Breite Straße giebt es nach den Antworten in vier-
unddreißig Städten, in vier Städten eine Breite Gasse, in einer (Aurich) einen
Breiten Weg; dagegen giebt es eine Breitgasse nur in Danzig, und von Köln
heißt es: „Der Kölner sagt gewöhnlich Breitstraße." Es ist sehr eigentüm¬
lich, daß sich Breite Straße, das jetzt fast überall in einem Worte geschrieben
wird, doch nicht zur Breitstraße entwickelt hat. Eine Schmale Straße wird
aus Marienwerder und aus Stuttgart gemeldet, eine Schmale Gasse aus
Czeruowitz, ein Schmaler Weg aus Neunkirchen; aber keine Schmalgasse etwa.
Eine Hohe Straße geben neunzehn Vereine an, eine Hohe Gasse nur Czerno-
witz, eine Hohe Warte Wernigerode und Wien, Wien auch einen Hohen Markt
und einen Hohen Steig, Straßburg einen Hohen Steg, Meiningen eine Hohe
Leite. Eine Hochstraße dagegen haben fünfzehn Städte, eine Hochnllee eine
(Hamburg, neben einer Hohen Straße); von Köln heißt es: „Hochstraße; platt¬
kölnisch heißt es aber Huhstroß; daraus ist das hochdeutsche Hohe Straße ent¬
standen, das niemand spricht." Einen Tiefen Graben hat Wien. Eine Neue
Gasse giebt es in neun Städten, eine Neugasse dagegen in elf; eine Neue
Straße in zehn, eine Neustraße in elf; einen Neuen Weg hat Magdeburg.
Von Hamburg heißt es: „Neustraße findet sich dreimal: es giebt eine alt¬
städter und eine neustädter Neustraße, sowie eine Neustraße in dem ehemaligen
Vororte Hohenfelde; außerdem giebt es eine Neue Straße in der frühern Vor¬
stadt Se. Georg." Vier Vereine haben auch einen Neumarkt verzeichnet, eiuen
Neuen Markt dagegen nur Straßburg im Elsaß. Eine Altgasse giebt es in
Bockenheim und in Wien; eine Alte Gasse in Frankfurt, eine Alte Straße in
Wilhelmshaven. Eine Lauge Straße verzeichnen sechsundzwanzig Vereine (Frank¬
furt a. M.: „Im Volksmunde aber »Langstraß«"), eine Lange Gasse Vudweis,
Eger, Gablonz, Leitmeritz und Wien; Wien auch ein „Langes Kirchfeld," Aurich
einen „Langen Kamp," Lübeck eine „Lange Reihe." Eine Lcmgstraße aber
haben nur Straßburg im Elsaß und Trier, eine Langgasse nur Bonn, Danzig,
Köln und Linz, Danzig auch einen Langgarten. Eine Kurze Straße kommt
elfmal, eine Kurze Gasse einmal (in Czeruowitz). eine Kurzgasse kommt nicht
vor. Eine Obere Gasse giebt es auch nicht, eine Oberstraße in Boppard,
Düsseldorf, Elberfeld, eine Obergasse in Zittau; eine Niederstraße in Marien¬
werder und in Wesel, eine Niedergasse in Darmstadt-Bessungeu. Ferner werden
noch angegeben: Hinterstraße (München, Trier), Hintergasse (Boppard), Hinter¬
reihe (Plön); Mittelstraße (Celle, Düsseldorf, Elberfeld, Mettmann. Zittau),
Untere Marktstraße (Boppard, doch spreche man: Untermnrktstraße), Steile Gasse
(Czeruowitz), Stille Gasse (Czernowitz), Dunkle Straße (Münden). Rauhe Gasse
(Celle), Naukamp (Elberfeld), Krnmmgasse (Wien). Euggasse (Prüm), Klein-
gasse (Wien), Großgasse (Svberuheim), Gutstraße (Metz), Schöne Gasse (Elber-
seld; Betonung: Schöne Gasse), Hohle Gasse (Mülheim a. d. R., Reichenberg),
Hohlstraße (Neunkirchen; im Volksmunde aber: In der Hodl), Querstraße
(Marienwerder. Planen, Stuttgart), Rvtgasse (Wien), Roter Hof (Wien), Grau¬
gasse (Trier); endlich Grünstraße (Breslau, Elberfeld, Marienwerder, Mül¬
heim a. d. N., Stettin), Grüne Schanze (Stettin), Grüner Weg (Bonn, ge¬
schrieben jetzt meist: Grünerweg!), Grüne Gasse (Czernowitz, Münster, Zittau),
Grüne Straße (Frankfurt, Schwerin).
Die achte Frage lautete: „Welche Bildungen auf —er kommen vor?
Etwa auch solche wie Baumschuler. Kreuzberger, Viehhofer, Rathäuser Straße,
Gasse, Weg u. ä., d. h. solche, bei denen es sich um Namen handelt, die
nicht von Ortschaften hergeleitet sind, sondern von Plätzen, Bergen, Gebäuden,
Grundeigentümern usw.?" Hier haben außer einigen, die gar nicht geantwortet
haben, siebenundvierzig Vereine berichtet, daß solche Mißbildungen bei ihnen
nicht vorkommen. Zweiundzwanzig andre Vereine haben als Mißbildungen,
die auch meist noch fälschlich in einem Worte geschrieben werden, zu ver¬
zeichnen: Aachen: Hahnbrncher Straße, Kamper Straße, Kirberichshofer Weg,
Drischer Gäßchen. Anrieh: Julianenbnrger Straße (vergl. vorher, zu drei), Nürn-
burger Straße („entstanden aus dem plattdeutschen Nörder se. h. Nörder nach
Norden gerichtetes Burg"). Hassen burger Straße, Lüchtenburger Weg. Barmer:
Rathäuser Brücke, Lichtenplatzer Straße (ein Außenteil der Stadt heißt Lichten¬
platz). Werther Straße (daneben Kleine Werth-Straße), Auer Straße, Haspcler-
Straße (Am Haspel), Heidter Straße, Dörner Straße (In den Dornen), West-
kotter Straße, Bretter Straße (In der Brett). Blankenburg: Lühner Gasse (?).
Bochum: Marbrücker Straße, Fahrendeller Straße. Bonn: Baumschnler Allee,
Engelthaler Straße, Grvnauer Weg, Gudenaner Gasse, Krausfelder Weg,
Kreuzberger Weg, Vennsberger Weg, Wachsbleicher Weg. Breslau: Branden¬
burger Straße („wohl zur Erinnerung an den Grafen Brandenburg; wie im
Munde des Volkes auch hin und wieder statt Gneisenau-Straße: Gneisenauer
Straße!") Danzig: Ketterhager Gasse, Mottlauer Gasse (von dem Flusse
Mottlau), Naugarder(!) Thor. Langgarter(I) Hintergasse. Darmstadt: „Ohne
amtliche Giltigkeit hört man bisweilen Friedhöfer Weg, Rathäuser Uhr usw.. in
Berlin fauch in Leipzig! D. R.Z sagt der schlichte Mann gewöhnlich Gneisenauer
Straße fvcrgl. Breslau^." Düsseldorf: Wiukelfelder Straße neben Ahnfeld-Straße
und Kirchfeld-Straße. Elberfeld: „Ich zähle siebzig Bildungen auf - er, darunter
auch recht fehlerhafte, z. B. Arrenberger Straße sAm Arrenberg>, Berger Haide,
Brausenwerther Straße (Im Brausenwerth), Eschenbecker Straße, Hölzer Straße
lVorm Holzj. Unkler Straße Mu der Nüllj, Schloßbleicher Straße," Stockmauns-
mühler Straße j! An Stockmanns Mühlej, Wüstenhofer Straße." Mir selbst
sind ferner aus meiner Heimat E., wo eine wahre Wut für solche Benennungen
zu herrschen scheint, erinnerlich: Briller Straße (Am Brill), Nützeuberger Straße
(Am Nntzenberg), Obergrüuewalder Straße, llutergrüuewalder Straße, Auer-
schnlstraße (! Schule an der Ane)*). Auer Straße. Osterfelder Straße (Im Oster-
feld). Hofaner Straße (Auf der Hofaue), ferner Mittelsteineufelder Straße (welches
Ungetüm!). Ostersbaumer Straße, Kluser Straße, Koller Straße, Mirker-
Straße**). aber andrerseits doch auch Kipdorf-Straße, Wirmhof-Straße n. a.
Essen : „Viehhvfer Straße ist keine moderne Mißbildung, sondern altüberlieferter
Name/' Ob alt oder neu. eine Mißbildung bleibts doch. Frankfurt n. M.:
Hainer Weg („nach dem Wald »Hain« führend"!), aber richtig Haiuer Hof
(„früher dem Kloster Haina gehörig") und Arnsburger Hof („früher dem Kloster
Arnsburg gehörig"), Lindheimer Gasse („nach einem Herrn von Lindheim
benannt"). Seckbacher Gasse („nach einem Hanse Seckbach benannt"); man beachte
auch Häuser Gasse (nach dem Orte Hausen führend) in Vockenheim. aber da¬
neben Hausener Landstraße. Welch sinnentstellendes Bild giebt die Schreibung
Hänsergasse! Leipzig: „Im vorigen Jahrhundert sagte man noch Rosenthnlcr
Brücke, Rosenthaler Thor. Jetzt heißt es Rosenthalbrücke." Leitmeritz: Maria-
hilfer Straße („von einer Kapelle hergeleitet"). Meiningen: Landsberger
Straße („vom Schloß Landsberg"); richtig aber: Wettiner-Strnße, Ernestiner-
Straße. Bildungen, die mit Franziskaner-Straße und ähnlichem zusammen¬
gehören. Mettmann: Lntterbecker Straße („nach dem Gehöfte Lutterbeck"),
Brucker (!) Straße („nach einer Brücke, die über den Mettmanner Bach führt").
Mülheim a. d. R.: Auer Straße. Stralsund: Semlower Straße, Ravensberger
Straße. Ossenreyer Straße (nach den Patrizicrfamilien Semlow, Ravensberg,
Ossenrey), aber richtig: Samow-Strnße (nach der Familie Samow). Wermels-
lirchen: Wvlfhagener Straße. Zittau: Mandaner Berg (..von dem Flüßche»
Marta». an de>» ^'.illam lieg!; früher auch Mandaufche^ ^^erg"). Die
Sprachvereine sollte» dafür Sorge tragen, daß »lebt »och mehr solche falsche
Bildungen entstehen, wie sie namentlich für alte, mit Verhältniswörtern zu¬
sammengesetzte Benennungen beliebt werden, andrerseits dafür, daß womöglich
die bestehenden falschen geändert werden.
(Schluß folgt)
in Idyll mag so schön sein, wie es will, für sich allem füllt es
das Gemüt eines arbeitslustigen Mannes von vierzig Jahren
nicht aus. Dazu kam die unbehagliche Empfindung, den Wirr¬
nissen des Kircheustreits zusehen zu müssen und nicht eingreifen
zu dürfen, und endlich war ich auch der materiellen Sorgen nicht
überhoben; denn bei einem Einkommen von noch nicht fünfhundert Thalern
konnte ich, wenn ich teilweise dienstuntauglich wurde, keinen Kaplan halten,
und vor Eintritt der Untauglichkeit eine andre Stelle zu bekommen, daran war
nach Ausbruch des Kulturkampfs nicht zu denken. Man wird es unter diesen
Umständen begreiflich finden, daß Hartmanns Philosophie des Unbewußten,
die mir damals in die Hände fiel, einigen Eindruck auf mich machte. Jeden¬
falls mußte ich an etwas denken, was mir die Zeit und die Seele ausfüllte
und womöglich auch das Einkommen ein wenig verbesserte. Um Dorfromane
schreiben zu können, hätte ich Dichter sein müssen, was ich leider nicht bin;
für gelehrte Arbeiten würden mir nicht allein die Hilfsmittel gefehlt haben,
sondern auch der ^cgensiaud, denn welchen der mir nahe liegenden Gegen¬
stände >>vite ich l'ebandeln können, ol,»e mis<i »ein> in ,Uvnflil« mit meinen
Glaubensgenossen zu geraten? Wie glücklich ist doch in „sothanem fährlichen
und geschwinden Läufften" der Mann, der sein Herz an die Ergründung eines
vorgeschichtlichen Problems, etwa der Atlantisfrage gehängt hat! So blieb die
Publizistik übrig, aber doch nur die anonyme, die unter solchen Verhältnisse»
eigentlich unanständig war und mir widerstrebte. Dennoch schickte ich ein paar
Sachen an die Schlesische Zeitung. Der eine Artikel, ein harmloser Bericht
über ein eben erschienenes Buch (Briefwechsel zwischen Diepenbrock und Passa¬
vant), brachte mir zwanzig Mark ein, ein andrer wurde mir zurückgeschickt,
und das war mir eigentlich lieb, denn seine Veröffentlichung hätte die Illoyalität,
deren ich mich dabei schuldig machte, vollendet; heute kann ich darüber reden,
ohne etwas Unrechtes zu begehen.
Es handelte sich um eine Maßregel der geistlichen Behörde gegen die
Zivilehe. Bekanntlich wird nach dem vortridentinischen Recht die Ehe, wenn
kein trennendes Ehehindernis obwaltet, dnrch den erklärten vonsiMNis der Braut¬
leute geschlossen. Das Tridentinum hat angeordnet, daß die Ehe fortan nur
eorum M-oolio xioxrio se cluodu8 tostidus geschlossen werden dürfe, und daß
jede Ehe, die ohne diese Zeugenschaft eingegangen wird, ungiltig sein soll.
Aber diese Vorschrift gilt nur für die Gegenden, wo die Beschlüsse des Tri-
dentinums verkündigt worden sind, d.h. für die katholischen Lander; in den
rein oder überwiegend protestantischen Ländern wird angenommen, daß wegen
nicht vollzogner Verkündigung die Bestimmung keine Kraft habe, Ehen von
Katholiken daher, die ohne jene Zeugenschaft geschlossen werden, nach wie vor
giltig seien. Demnach sind in solchen Gegenden auch die gemischten Ehen
giltig, die in der evangelischen Kirche geschlossen werden; nicht etwa weil der
evangelischen Einsegnung die eheschließende Kraft zugestanden würde, eine solche
Kraft hat auch die katholische Einsegnung nicht, sondern weil eben die An¬
wesenheit des katholischen Pfarres nicht erforderlich ist. Nur insofern ist die
evangelische Trauung auch vom katholischen Standpunkt aus von Wert, als
ja dadurch ebenfalls, sowie durch das Zeugnis des Standesbeamten, jenem
Übelstande abgeholfen wird, dem die tridentinische Bestimmung abhelfen sollte,
dem Maugel der öffentlichen Beurkundung bei formlos abgeschlossenen Ehen.
Dieser Rechtszustand ist von Benedikt XIV. für die Niederlande ausdrücklich
anerkannt worden, und auf Anfragen aus der Diözese Vreslau ist die Antwort
ergangen, daß das Breve des genannten Papstes auch für die dortigen ge¬
mischten Ehen gelte. Für die ehemals rein protestantischen Provinzen Branden¬
burg und Pommern, die erst vor einigen Jahrzehnten als Delegaturbezirk der
Diözese angegliedert worden sind, versteht es sich von selbst. Sauers Hand¬
buch für Pfarrer, das über diese Verhältnisse Auskunft giebt, ist mir ab¬
handen gekommen, ich kann daher die erwähnten Entscheidungen der römischen
Kurie uicht anführen. Die Realencyklopädie von Herzog und Pult und
Schuttes Lehrbuch des katholischen Kirchenrechts enthalten aber wenigstens das
allgemeine. In der Encyklopädie (4. Band, S. 79) schreibt Scheurl: „Nach
dem Recht der katholischen Kirche kann durch die bürgerliche Eheschließung
eine Ehe, welche zugleich rg,rum und Iizg'itimum matriinoniuin wäre, nur da
zustande kommen, wo das tridentinische Dekret nicht publizirt ist; wo dieses
publizirt oder ohne Publikation in Übung ist, kann die bürgerlich geschlossene
Ehe '! erst dadurch ratum eng-trimoniuro. werden, daß die Schließung in der
hierin vorgeschriebnen Form nachfolgt. Solange dies nicht geschieht, haben
die geistlichen Gerichte, als Gewissensgerichte, die Ehe als mit dem iinpecli-
inemwm o1g.na«Z8kinn^i8 behaftet zu behandeln." Und Schulte a.a.O. Seite 447:
„In denjenigen Gegenden und Pfarreien, wo das angegebne Dekret des Kon¬
zils von Trient weder besonders publizirt noch durch Observanz in Gebrauch
ist, gilt das vortridentinische kanonische Recht. Zur Giltigkeit der Ehe ist
dort jnur^ notwendig der wirklich zustande gekommne oonse-usus, sei er dnrch
vsrbg, <1<z xm«Z86uti erklärt (8xcm8g,1ig. ü« xrg,Wemti), oder sei zu einem Ver¬
löbnis der Lonouditus getreten,"
Unter diesen Umständen wcir in der Diözese Breslciu die vor dein Standes¬
amt geschlossene Ehe nach dem kanonischen Recht zweifellos giltig. Ob das
die geistlichen Behörden zugestanden haben würden, wenn man sich nicht gerade
im Kulturkampf befunden hätte, kann ich nicht wissen. Jedenfalls macht es
der Kriegszustand erklärlich, daß an die Pfarrer eine streng vertrauliche Ver¬
fügung erging, wonach fortan in der Osterzeit das tridentinische Dekret in jeder
Gemeinde verkündigt werden sollte, und damit hörte auch der Zustand der
Unschuld für deu katholischen Teil solcher gemischten Brautpaare auf, die sich
in der evangelischen Kirche trauen oder, wie man nach Einführung der Zivilehe
sagen muß, einsegnen lassen. Mich entrüstete diese Perfidie, wofür ich damals
die taktisch ganz richtige Maßregel ansah, und ich schrieb ungefähr das, was
ich hier gesagt habe, an die Schlesische Zeitung, die es aber, wie gesagt,
uicht verwendbar faud. Mehrere Jahre später entbrannte ein heftiger Streit
über die Angelegenheit, weil das tridentinische Dekret in Berlin und in
Schweidnitz an die Kirchthür angeschlagen worden war. Der Streit verlief,
wie solche Streitigkeiten zu verlaufen pflegen: die protestantischen Angreifer
schössen beharrlich vorbei, und die Katholiken wurden durch den Angriff bloß
gereizt, aber nicht geschädigt. Unzähligemal wurde in den protestantischen
Zeitungen der Vorwurf wiederholt, die evangelischen Ehen würden von den
Katholiken für Koukubinate erklärt, was einfach unwahr ist; die katholische
Kirche erklärt nicht allein die evangelischen, sondern auch die jüdischen und
heidnischen Ehen für wirkliche und giltige Ehen; das tridentinische Dekret gilt
nur für die Katholiken, und auch für diese, wie gesagt, nur dort, wo es ver¬
kündigt ist; den giltigen Ehen der Häretiker und Schismatiker kommt nach
Gury sogar der sakramentale Charakter zu. Den richtigen Angriffspunkt: daß
der Fürstbischof das vorher nicht verkündigte Dekret gerade in jenem Augenblick
amtlich bekannt zu machen befahl, hat kein einziger der Angreifer getroffen,
nicht einmal ein Jurist, soviel ich mich entsinnen kann, wie denn überhaupt
Protestantische Juristen in der Kunst, kirchliche Rechtsverhältnisse mißzuverstehen,
mit gewöhnlichen protestantischen Zeitungsschreibern wettzneifern scheinen; einen
recht merkwürdigen Fall dieser Art will ich später noch anführen.
In dem Drange, wenigstens etwas zu thun, sei es anch das allerdümmste,
erklärte ich meine Beistimmung zur Staatskatholikenadresse. Eine Dummheit
war das, denn das Staatskatholikentum ist mir vom ersten Augenblick bis
zum letzten so widerwärtig wie möglich gewesen. Als im Posenschen einer
Gemeinde der erste Staatspfarrer aufgezwungen wurde, sagte ich zum Herrn
v- K.: Das ist ja reizend, von der angeblichen Gewissenstyrannei des Klerus
will man die Katholiken befreien, und nnn fängt man das Befreiungswerk
damit an, daß Gendarmen in die Gemeinden Geistliche einführen, von denen
jene nichts wissen mögen! Aber der Unwille über diese thörichte Wirtschaft
wurde damals bei mir noch überwogen von dem Unwillen über den Druck,
den die gedrückte Hierarchie ihrerseits »och auszuüben vermochte, weil es dieser
und nicht der Druck des Staates war, den ich selbst empfand. Der Fürst¬
bischof („In hohem Auftrage: Peschke") schrieb mir unter dem 14. Juli 1873:
„Der Deutsche Reichs- und Preußische Staatsanzeiger brachte jüngst die zu¬
nächst von Schlesische» Katholiken aus Anlaß der neuen sogenannten Kirchen-
gesetze ausgegangne Adresse an Se. Majestät den Kaiser und König, in welcher
wir Bischöfe der Störung des konfessionelle» Friedens, der Mißachtung be¬
stehender Gesetze, der Erhebung uuberechtigter Ansprüche, der Erregung eiues
unheilvollen Streites zwischen Staat und Kirche, des Mißverständnisses und
der Leidenschaft usw. angeklagt werden und jedes selbständige Recht der Kirche
geleugnet wird. Laut des Anzeigers vom 11. dieses Monats sind auch Euer
Ehrwürden dieser Adresse beigetreten. Wir veranlasse» Sie zu baldiger Er¬
klärung: ob Sie den Beitritt als Ihrerseits erfolgt anerkenne», ob Sie die
Adresse nicht gelesen habe», u»d wie Sie das der Diözese abermals gegebne
öffentliche Ärgernis entschuldige» und wieder gut »rächen wollen."
Als Antwort schickte ich dem Bischof unverschnmterweise eine lange Ab¬
handlung ein ^ Zeit hatte ich ja —, deren Hciuptstcllen ich, um das Ärgernis
wieder gut zu macheu, mitteilen will, denn die Grenzbvtenleser werde» das
Gegenteil von Ärgernis dabei empfinden. „Euer usw. erwidre ich ganz ge¬
horsamst, daß ich es für eine Verletzung der Seiner Majestät dem Kaiser und
König schuldigen Unterthanen- und Veamtentreue ansehen würde ^als Lokal¬
schulinspektor war ich ein Stückchen vo» einen: königlichen Beamten^, wollte
ich wegen Beteiligung an einer Höchstdemselben gewidmeten Ergebe»heitsadresse
mich verantworten oder entschuldigen. Wenn ich dennoch auf die in der Hohen
Zuschrift enthaltnen Fragen eingehe, so geschieht dies nicht in Anerkennung
einer Verpflichtung, sondern nur aus persönlicher Ehrfurcht gegen Eure Fürst¬
liche Gnaden. Die fragliche Adresse habe ich gelesen, meine Beitrittserklärung
aber erst längere Zeit nachher, ohne ein Exemplar der Adresse vor mir zu
haben, eingesandt. Auch jetzt ist mir kein Exemplar zur Hand, noch habe ich
ihre» Wortlaut im Gedächtnis. So viel erinnere ich mich, daß Anschuldigungen
gegen die Hochwürdigsten Herren Bischöfe darin nicht vorkommen. Anschul¬
digungen werden darin erhoben gegen eine Partei in der katholischen Kirche;
über etwaige Beziehungen der Hochwürdigste» Bischöfe zu dieser Partei wird
— so viel ich mich erinnere — nichts gesagt, wie auch ich mir ein Urteil
darüber uicht anmaße. Auch kann ich mich nicht erinnern, daß in der Adresse
»jedes selbständige Recht der Kirche geleugnet« würde. Das Recht der Kirche,
zu glauben, was sie will, zu lehren, was sie will, die heiligen Sakramente zu
spenden wie, wo und wem sie will, ihr Vermögen zu verwalten jdas Gesetz
liber die Verwaltung des Kirche»vermöge»s wurde erst später erlassen^, das
Recht, die Kirchenbeamtcn anzustellen (allerdings mit gewissen Einschränkungen,
wie sie immer und überall bestanden haben), über diese die Disziplinargewalt
zu üben und geistliche Strafen zu verhängen (darunter auch die größte, den
Ausschluß aus der Kirche, die thatsächlich eintritt, wenn die heiligen Sakra¬
mente verweigert werden; die öffentlich bekannt gemachte Exkommunikation ist
keine geistliche, sondern eine eminent bürgerliche Strafe, da sie dem Exkom-
mnnizirten, falls er unter Katholiken lebt, das Leben nicht bloß unerträglich,
sondern unmöglich macht), von allen diesen Rechten wird in der Adresse keins
bestritten, sondern, soweit ich mich erinnere, nur das Recht, in Angelegenheiten
gemischt bürgerlich-kirchlicher Natur die Grenze zu bestimmen. Nun weiß ich
allerdings, daß der Kirche oder richtiger gesagt der höchsten kirchlichen Be¬
hörde (die neuerdings beharrlich mit der Kirche identifizirt wird, ähnlich wie
die Schriftsteller des spätern Mittelalters »Kirche« zu schreiben pflegten, wenn
sie den Kirchenstaat meinten) von extremen Systematikern nicht allein dieses
Recht, sondern überhaupt jedes Recht zugesprochen wird, sodaß für die Geist¬
lichen und die Laien, sowie für die weltlichen Regierungen schlechterdings nichts
übrig bleibt, als die Pflicht unbedingten Gehorsams in allen geistlichen und
geistlich-weltlichen Dingen. Ich weiß aber auch, daß die Träume der Syste¬
matiker niemals Wirklichkeit geworden sind, daß vielmehr, so oft und so lange
der Kirche überhaupt ein Staat gegenüberstand, der Staat das Recht der
Grenzbestimmung geübt hat, vom Staate der römischen Cäsaren bis auf den
Staat Ludwigs XIV. und der Maria Theresia herab.. .. Die Unterzeichnung
der Adresse habe ich für Pflicht gehalten, weil ich die doppelte Überzeugung
hege, daß einerseits die Kirche durch die sogenannten Kirchengesetze an der Er¬
füllung ihrer Mission nicht gehindert wird, und daß andrerseits, wenn die
Opposition der sogenannten katholischen Presse gegen die Staatsregierung Er¬
folg haben sollte, die Existenz des deutschen Reichs nicht bloß, sondern auch
die des preußischen Staats in Frage gestellt würde. Es ist notorisch, daß
sich diese Presse gegenwärtig einer höhern Autorität erfreut als selbst der
Episkopat, denn noch jedesmal, so oft einer der Hochwürdigsten Bischöfe mit
einem einflußreichen katholischen Blatte in Kollision geriet, hat er nachgeben
müssen. Nun haben vor drei Jahren die Historisch-Politischen Blatter, wohl
die angesehenste der katholischen Zeitschriften Deutschlands, den Bischöfen und
dem katholischen Volke Preußens den katholischen Charakter abgesprochen, letzteren,
weil es 1866 — wenn gleich ungern — doch in den Krieg gegen Österreich
gezogen sei, den erstem, weil sie diesen Krieg nicht öffentlich und nachdrück¬
lich verurteilt hätten. Wenn sich diese Anschauung Bahn bricht, und wenn,
zugleich dem katholischen Volke Deutschlands die Meinung beigebracht wird,
die die besagten Organe unablässig predigen, daß die Staatsregierung darauf
ausgehe, ihm fein heiligstes Gut, die Religion, zu rauben (einfache Leute meiner
Gemeinde haben wiederholt gefragt: ist es denn wahr, daß wir nicht mehr
zur heiligen Beichte und in die heilige Messe gehen dürfen?), dann werden
bei einer kriegerischen Verwicklung die Stimmen der Hochwürdigsten Bischöfe
gegen ein Bündnis der deutschen Katholiken mit Frankreich so wenig tiermögen,
wie die an die Arbeiterklasse gerichteten Ermahnungen zur Genügsamkeit und
die Abmahnungen von Gewaltthaten vermögen, nachdem katholische Männer,
die sich mit solchen Gegenstände» beschäftigen, Jahrzehnte hindurch den Haß
gegen das Kapital gepredigt und der Ansicht, die Arbeiter müßten suchen, ihre
Lage durch Sparsamkeit und durch Steigerung ihrer Intelligenz zu bessern,
die Behauptung entgegengestellt haben: es sei ein Hohn, Leute, die das zum
Leben notwendige nicht haben, zur Sparsamkeit zu ernähren, und ehe man
für die Arbeiterkinder Schulen errichte, solle man vorher, damit sie nicht ver¬
hungern, Snppenanstnlten begründen. IWenn ich mich recht erinnere, waren
es ebenfalls die Historisch-Politischen Blätter, die in den sechziger Jahren der¬
gleichen predigten,^ ... Nicht darin sehe ich das Unglück, daß ein katholischer
Priester eine eigne, von der Majorität seiner Amtsgenossen abweichende Über¬
zeugung öffentlich ausspricht, sondern daß ein solches Aussprechen der eignen
Überzeugung Ärgernis erregt. Ist es doch so weit gekommen, daß es kaum
noch einen Gegenstand der Wissenschaft, der Politik, des bürgerlichen, ja sogar
des persönlichen und Familienlebens mehr giebt, über den ein Katholik eine
von der herrschenden Presse unabhängige Meinung aussprechen könnte, ohne
daß er des Abfalls vom Glauben beschuldigt würde. Diesen Zustand habe
ich seit Jahren als unheilvoll beklagt. Sollte es wirklich gelingen, jeden
denkenden Kopf, jede unabhängige Überzeugung, jeden selbständigen Charakter
aus dem Katholizismus hinauszudrängen, dann bliebe von diesem freilich nichts
mehr übrig als ein ungeheurer Automat, der nur noch durch die Ähnlichkeit der
äußern Erscheinung an die ehemalige katholische Kirche erinnern würde. Drum
halte ich unter allen dringenden Bedürfnissen der jetzigen Zeit für das drin¬
gendste, dieser allergrößten Gefahr vorzubeugen, und das katholische Volk nach
und nach wieder daran zu gewöhnen, daß es selbständig denkende, überzeuguugs-
treue und charakterfeste Männer nicht als den Ruin, sondern als die Lebens¬
kraft der Kirche betrachte usw."
Nach Absendung dieses höchst überflüssigen Ergusses mußte ich wieder
einmal, wie öfter in den letzten Jahren, täglich auf der Lauer liegen, um
meinen Briefboten (es war ein Schulknabe, der die Postsachen in einer ver¬
schlossenen Blechtasche holte) heimlich abzufangen; denn wenn mich die Mutter
einen großen Brief auspacken sah, dessen Inhalt ich ihr nicht mitteilen konnte,
geriet sie in große Angst. Oft, wenn sie einen amtlichen Brief in meiner
Hand sah oder in meinem Gesicht einen bedenklichen Zug entdeckte, sagte sie:
Schreibt, lieber Herr, schreibt, daß Ihr bei der Pfarre bleibt! Ich hatte ihr
dieses Sprüchlein mitgeteilt, das der Volkswitz in der Zeit, wo die Konkordien-
formel umging, den sächsischen Pfarrfrauen in den Mund gelegt hat. Diesmal
kam aber kein Brief, sondern der fürstbischöfliche Kommissarius, Propst Hübner
ans Zobten am Bober, der zwar ein vortrefflicher Mann und höchst ange-
"ebener Gesellschafter war, dessen Anblick mich aber an jenem Tage nicht über¬
müßig erfreute. Zufällig oder, wie beide meinte», durch Gottes Fügung kam
gleichzeitig von der andern Seite mein Bruder, der Kaplan an, zum Besuch,
wie er der Mutter sagte, in Wirklichkeit aber nur, um mich zum Widerruf
meiner Unterschrift zu bestimmen. Während die Mutter in der Küche beschäf¬
tigt war, bearbeiteten mich beide und beschworen mich „vor dem Bilde des ge¬
kreuzigten Heilands." Ich blieb dabei, ich könnte dem Propst die protokolla¬
rische Erklärung, die er nur zu entlocken den Austrag hatte, nicht so ohne
weiteres geben, und versprach, sie ihm nächster Tage nach Zobten zu bringen.
Mein Bruder reiste am andern Tage wieder ab, und einen Tag darauf er¬
klärte ich der Mutter, ich hielte mich zu einem Gegenbesuch beim Propst ver¬
pflichtet, hätte eigentlich auch etwas amtliches mit ihm zu bespreche«, worüber
sie sehr erfreut war, denn es verstand sich von selbst, daß sie anfuhr, und
das Wetter war wunderschön. Vor der Abfahrt schickte ich folgende Erklä¬
rung an die Schlesische Zeitung: „Hätte ich geahnt, daß die Beteiligung an
der viel besprochnen Adresse schlesischer Katholiken als Auflehnung gegen die
geistliche Obrigkeit, ja als Abfall von der Kirche aufgefaßt, und daß den geist¬
lichen Unterzeichnern der Adresse nur die Wahl gelassen werden würde zwischen
Widerruf einerseits und Bann nebst Absetzung andrerseits, so hätte ich meinen
Namen nicht beigefügt. Da nun in Wirklichkeit dieses Ungeahnte eingetreten
ist, ich aber durchaus nicht gewillt bin, aus dem Verbände der katholischen
Kirche auszuscheiden, so ziehe ich, unbeschadet der Seiner Majestät dem Kaiser
in jener Adresse angelobten Ergebenheit, meine Unterschrift hierdurch zurück."
In Zobten überließen wir meine Mutter zunächst der Gesellschaft der Schwestern
des Propstes und zogen uns in dessen Studirstube zurück. Das Geschäft ging
glatt von statten. Ich überreichte eine Abschrift meiner Erklärung, die, da sie
am andern Morgen gedruckt erscheine« mußte, eine vollendete Thatsache war,
an der sich nichts mehr ändern ließ, und er verfaßte ein Protokoll, das ihm
viel Kopfzerbrechen zu machen schien, denn er brauchte dazu so lange Zeit,
daß ich unterdessen einen auf dem Sofatische liegenden Roman von Bollanden
halb durchlesen konnte. Ich fand ihn übrigens abscheulich. Denn unter¬
schrieben wir und begaben uns zu den Frauen zum gemeinsamen Kaffee.
Meine Mutter fand die Partie ganz reizend. Da es mir gelungen war, ihr
auch alle gefährlichen Zeitungsblätter zu unterschlagen, so hatte sie keine
Ahnung; aber nachträglich erfuhr sie die Geschichte doch durch einen um mein
Seelenheil und um das Heil der Kirche sehr besorgten Amtsbruder, der durch
seine Unfähigkeit, etwas auf dem Herzen zu behalten, berüchtigt war (er war
imstande, binnen einer Stunde zehn verschiednen Personen beiderlei Geschlechts
ein Geheimnis sub siZillo anzuvertrauen); seitdem machte sie der Anblick der
Blechtasche nervös.
Mit der Erklärung, daß ich nicht gewillt sei, aus der Kirche auszuscheiden,
war es mir voller Ernst gewesen. Um evangelisch werden zu können, war ich
noch viel zu katholisch, und zu jener philosophischen Selbständigkeit, die der
Kirche sür das eigne Gemütsleben nicht mehr bedarf, hatte ich mich noch nicht
durchgerungen. Was aber das Materielle betrifft, so wußte ich die Existenz¬
sicherheit viel zu gut zu schätzen, als daß ich sie hätte für nichts und wieder
nichts wegwerfen sollen. So oft ich des Abends von einem Besuch allein
heimkehrte, sagte ich mir beim Eintritt in mein Gärtchen: Welches Glück ist
es doch, ein eignes Heim zu haben, aus dem einen niemand verjagen darf!
Eine „Sache," für die ich mich Hütte verpflichtet fühlen tonnen, dieses Gut
und das Glück meiner Mutter aufzuopfern, gab es nicht, denn die bloße Ne¬
gation einiger Dogmen und die Opposition gegen die in der Kirche herrschende
Richtung sind keine solche „Sache." Ja da ich immer noch die katholische
Kirche für die, wenn auch durch menschliche Irrtümer und Leidenschaften ver-
dorbne wahre Kirche Christi hielt, so war eben sie die Sache, um die es sich
handelte, und um an einer Reform dieser Kirche mitarbeiten zu können, mußte
ich darin bleiben. Denn so viel wußte ich damals schon, daß die draußen
stehenden, namentlich auch die Altkatholiken, die katholische Kirche zu refor-
miren so wenig Macht hätten, als etwa das Königreich Sachsen Macht hat,
China zu reformiren. Der Protestantismus freilich hat eine Reform der katho¬
lischen Kirche bewirkt, aber der war auch so mächtig, daß er eine Zeit lang
das Dasein der päpstlichen Kirche bedrohte, und zu eiuer solchen Macht konnte
es der Altkatholizismus, das sah man deutlich, niemals bringen. Aus solcher
Überzeugung hatte auch Döllinger vou der Gründung einer altkatholischen
Kirchengemeinschaft abgeraten und gemeint, die Opposition gegen das Vati-
kanum müsse als liberaler Sauerteig in der Kirche bleiben. Und als ein
Freund, der eine altkatholische Pfarrstelle in Süddeutschland angenommen hatte,
in einem seiner Briefe über die Zurückhaltung des Münchner Patriarchen klagte,
schrieb ich ihm: wenn sich der Mann, der die Geschichte der Reformation ge¬
schrieben hat, an einer Kirchengründung beteiligen wollte, so würde ich das
für ein Zeichen beginnender Gehirnerweichung ansehen; ihm stehe eben die
Wahrheit allzu klar vor Augen, daß Kirchen nicht von Professoren gegründet
werden, sondern nur aus großen Volksbewegungen erwachsen können. Den¬
selben Gedanken hat neuerdings Professor E. Tröltsch mit Beziehung auf die
Reform- und Neubildungsversuche innerhalb des Protestantismus im zweiten
Augustheft der Preußische» Jahrbücher (Jahrgang 1895) in einer vortrefflichen
Abhandlung über Religion und Kirche ausgeführt. „Wirkliche, tiefgehende Re¬
formen, schreibt er u. a., sind immer Revolutionen und finden nur unter
schweren Kämpfen statt, die gewöhnlich gar nicht bloß religiöse Kämpfe sind.
Das Schiff der religiösen Reform bedarf einer allgemeinen Erregung des Meeres,
um flott zu werden. Das hat nicht zum mindesten die Reformationsgeschichte
bewiesen." Der Kulturkampf war ja auch ein Sturm im Meere; nur ist es
nicht das Schiff der Reform gewesen, was er flott machte, sondern das Schiff
der unveränderten römischen Kirche; was sich von dieser losriß, war nur ein
winziger Kahn. Weiterhin schreibt Tröltsch: „Würde überall konsequent ge¬
dacht, so müßten die einen den Untergang der Kirchen und die andern den
Untergang der Welt erwarten. Diejenigen, die in der Mitte zwischen beiden
an einer Reform der Kirche arbeiten, mögen aber aus der Geschichte lernen,
daß mit etwas liberaler Theologie und etwas Gemeindebelebnng dieses Ziel
nicht erreicht wird. Kirchen werden nur im heißen Feuer eines allgemeinen
Brandes umgeschmolzen." Es gab also keine Sache, die mich Hütte aus der
Kirche hinauslocken können, sondern nur Zumutungen, durch deren Nichtab-
weisung meine persönliche Würde gelitten hätte, konnten mich Hinansdrängen.
Eine solche Zumutung herauszufordern, konnte mich mein Temperament
leicht hinreißen, drum nahm ich mich in acht. Zunächst vor den Amtsbrttdern;
den Verkehr mit ihnen beschränkte ich auf das notwendigste, und wenn ich mit
einem zusammenkam, suchte ich Gesprächen über die Tagesereignisse möglichst
auszuweichen. Sah ich einen geistlichen Besuch nahen, so verbarg ich schleunigst
die Schlesische Zeitung, um nicht an das Doppelverbrechen zu erinnern, daß
ich sie, und nicht die Hausblätter, hielt. Einmal wurde sie von dem alten,
dicken, pathetischen, unfreiwillig komischen Pfarrer P. in der Küche aufgestöbert,
wohin ich sie in der Eile geflüchtet hatte. Nein, rief er, wie können Sie immer
noch dieses Schandblatt mithalten, das unsre heilige Kirche verfolgt und be¬
schimpft und erst dieser Tage wiederum eine abscheuliche Geschichte von einem
katholischen Geistlichen erzählt hat! Die Entrüstung war sehr erklärlich, denn
er und sein Kaplan, den er anhatte, waren beide, wie ich genau wußte,
in xnnoto xuueti nicht ganz taktfest. Übrigens hielt er es in Zeitnngssachen
nicht anders, als es eben die meisten Leute bis auf den heutigen Tag zu halten
Pflegen. Jeder erklärt jedes Blatt für ein Schandblatt, das von Männern
seiner Partei Skandalgeschichten erzählt. Schaden könnte es ja nichts, wenn
Skandalgeschichten überhaupt nicht gedruckt würden, und die Wild der Reporter
genannten Hyänen, aus allen Winkeln alles Aas auf den Markt der Öffent¬
lichkeit zu schleppen, dazu auch noch allen Abfall und alles Gemüll, allen
Plunder bedeutungsloser Kleinigkeiten, ist greulich und lächerlich zugleich. Aber
da nun einmal die modernen Verkehrsmittel diese Öffentlichkeit — trotz Brause¬
wetter — geschaffen haben, und da sich insbesondre die Berichterstattung über
Verbrechen und Strafurteile schlechterdings nicht verhindern läßt, so muß
wenigstens die Fälschung der öffentlichen Meinung vermieden werden, die darin
liegen würde, daß sich nur gewisse Volksschichten die Veröffentlichung ihrer
Skandalchronik gefallen lassen müßten, gewisse Kreise aber das Privilegium
hätten, bei ihren eignen „Unfällen" rücksichtsvolles Schweigen fordern zu dürfen.
Es wäre unbillig, einem Blatte zuzumuten, daß es sich beeilen solle, die Schande
von Angehörigen der eignen Partei aufzudecken; aber wenn es die der Gegen-
Partei breittritt, so hat diese kein Recht, zu klage»; versäumt sie ja doch nicht,
sich zu entschädigen. Und so kommt durch diese Art Arbeitsteilung ein an¬
nähernd richtiges Bild der Wirklichkeit zustande, was für den beobachtenden
Gelehrten wie für den praktischen Politiker immerhin von Wert ist.
Auch in der Unterhaltung mit meinen Pfarrkindern legte ich die Worte
auf die Goldwage. Sie waren ja meistens bäuerlich einfältig und harmlos,
mir auch wohl nicht abgeneigt; aber ein paar gingen doch fleißig zum Propst
Hübner, um Bericht zu erstatte» und sich Verhaltungsmaßregeln zu holen;
besonders der Schmied, ein kluger Man» und auch sonst ein Mustermensch.
Er that ab und zu eine wohlüberlegte Frage und schaute mich dabei mit
forschenden Blicken an. Was meinen Sie wohl, sagte er das einemal, ob es
zur Revolution kommen wird? (nämlich wegen der Maigesetze). Die ist bei
unsrer Militärverfassung nicht möglich, erwiderte ich. Das ist richtig, bemerkte
er, sie ist nicht möglich. Auch einige von den Schulkindern stellten mir Fallen.
Es waren gute Kinder; ich bin, mit Ausnahme eines einzigen Falles, die
ganze» vier Jahre nie auch nur in die Versuchung gekommen, zum Stock zu
greife», aber in diesem Punkte waren sie von den Eltern dresstrt. Als ich
einmal Beispiele von Unglauben aufzählen ließ, sagte der eine Knabe: wenn
manche nicht glauben wollen, daß der heilige Vater unfehlbar ist, und alle
sahen mich neugierig an; ich weiß nicht mehr, wie ich mich dabei verhalten
habe. Also ich nahm mich in acht, und zwei Aufforderungen, die Leitung
altkatholischer Gemeinden zu übernehmen, eine aus Breslau und eine aus
Anfsig in Böhmen, lehnte ich ab. Aber was kommen soll, kommt doch.
(Fortsetzung folgt)
s war nur wenige Tage später, ein wundervoller tauiger
Sommermorgen. Erika saß mit Onkel und Tante unter der
Veranda beim ersten Frühstück. Onkel Moller war schon fertig,
er rauchte seine Morgencigarre und wartete auf die Zeitungen
und auf Herrn Biermcm, der ihn zum vorgeschriebnen Spazier¬
gange abholen wollte.
Erika wußte, daß am Tage vorher die Entscheidung gefallen war, die
über ihr Lebensglück entschied. Vielleicht stand es schon im Amtsblatt, wer
den Preis bekommen hatte. Die beiden Herren hatten gestern in Erikas Gegen¬
wart wiederholt davon gesprochen, ein Berliner Professor sollte die besten
Aussichten haben. Heute Morgen hatte Erika kaum etwas genießen könne»,
sodaß Tante Jda, die die gedrückte Stimmung ihrer Nichte schon in den letzten
Tagen besorgt gemacht hatte, ihrer Gesundheit wegen ganz ängstlich wurde.
Onkel Moller lächelte nur innerlich über das kleine überspannte Mädchen,
er erkannte den Grund ganz richtig. Wahrhaftig, sagte er sich, sie nimmt
immer noch ganz merkwürdig Anteil an dem Herrn. Na, den Preis wird er
ja nicht bekommen, wie sie sich alles Ernstes eingeredet zu haben scheint, und
dann wird er sich wohl auch kaum hier sehen lassen, worauf sie ohne allen
Zweifel gerechnet hat. Wie sich doch das ernste Leben in so einem Mädchen-
wpfe darstellt! Das soll sich alles nur so spielend machen! Sie hat keine
Ahnung, wieviel Talent und wieviel Arbeit dazu gehört, es im Leben zu etwas
zu bringen. Na, wir werden ja für sie sorgen. Morgen oder übermorgen
muß sich Bierman erklären und Antwort verlangen, dann trifft er günstige
Stimmung. Ist sie erst eingerichtet und führt sie das stolze Haus, das er
sich leisten kann, dann wird sie mit der Zeit ihre Schwärmerei für den Stein¬
metzen selber belächeln, das kennt man ja. Es ist die beste Partie, die sie
machen kann, und ich auch.
Da kommt der Briefträger! rief Erika.
Herr Moller blickte auf. Richtig, eben bog der Stephcuisbote um die
Ecke. Und da kommt ja auch Bierman, fügte er hinzu, gerade recht.
Die drei unter der Veranda sahen, wie Bierman den Beamten erreichte
und „ut ihm sprach. Der Mann öffnete seine Tasche, die er umgeschnallt vor
steh trug Herr Bierman deutete nach der Veranda. Augenscheinlich machte
er dem Beamten den Vorschlag, ihm die Mollersche Post mitzugeben, da er
doch einmal huigmge. Der Mann kannte ihn und seine Beziehungen zum
Hause. Er grüßte herüber, gab Herrn Bierman ein Paket Zeitungen und
Briefe und kehrte wieder um, denn die Villa war die letzte am Wege.
Herr Bierman kam auf das Gartenthor zu, nicht sehr eilig, wie es Herrn
Möller scheinen wollte. Als er heraufkam, begrüßte er die Frauen nur durch
eine tiefe Verbeugung. Onkel Moller gab er die Hand und sagte: Ich habe
mir Ihre Post geben lassen.
Es war etwas Unsicheres in seinem Wesen. Onkel Moller wurde auf¬
merksam.
Herr Bierman legte die Briefe auf den Tisch, die Zeitungen aber behielt
er in der Hand. Sie lesen sie am Ende im Walde, sagte er, und seine Augen
trafen die des Herrn Moller.
Ja, sollte denn wirklich — fragte sich Onkel Moller erstaunt.
Erika bemerkte von der Mimik ihres Verehrers nicht das geringste, denn
unter den Briefen auf dem Tische lag einer an sie, und sie erkannte Vanriles
Umschlag und Handschrift. Ein freudiger Schreck durchzuckte sie: er schrieb
ganz offen durch die Post? Und schou hatte sie den Brief mit den Worten:
Da ist jn einer für mich! an sich genommen und aufgerissen.
Es war ein Brief darin von dem Geheimrat Boden an den Bildhauer
^rieb Vanrile. Auf der Rückseite schrieb Erich selbst.
. Hastig flogen ihre Augen über die wenigen Worte, und lachend und
weinend und im jauchzenden Jubel ihres Herzens alles um sich her vergessend,
'"s sie sie laut: Herrlich, Maus, den ersten Preis bekommen! Außerdem
glänzende Aussichten hier, bitte, lies Bodens Brief. Vanrile steht wieder.
Morgen Vormittag komm ich, kaum kann ichs erwarten.
Von Viermcms Lippen kam ein Säuseln, das halb wie ein melancholischer
Pfiff und halb wie ein Seufzer klang.
Erika sah auf,„sah in die drei Gesichter und kam wieder zu sich. Und
nun hatte sie allen Übermut und alle Zuversicht wieder. Es machte gar keinen
Eindruck auf sie, als Onkel mit imponirend vornehmer Kälte und untadliger
Ruhe zu Herrn Bierman sagte: Mein verehrter Herr Bicrman, Sie huben
wohl die Güte, voranzugehen, in einigen Minuten folge ich Ihnen auf dem ge¬
wohnten Wege, ich habe hier nnr noch einige Anordnungen zu treffen.
Herr Bierman legte nun doch die Zeitungen auf den Tisch, bevor er sich mit
einer Verbeugung und mit einem etwas stumpfklingenden „Auf Wiedersehen!"
zurückzog. Hinter ihm klappte die Gartenthür zu.
Wenn ich dich recht verstehe, begann Onkel Moller, so hast dn ohne mein
Wissen während der letzten Jahre mit Vanrile in Briefwechsel gestanden.
O nein, Onkelchen, nur in den letzten Wochen, aber dafür haben wir uns
auch jetzt gleich verlobt.
Verloht? riefen Onkel und Tante gleichzeitig wie aus einem Munde.
Hinter unserm Rücken verlobt? setzte Onkel Möller hinzu.
Ja ja, Onkelchen, wir konnten es dir doch nicht sagen, er wollte nicht zu
dir kommen als armer Mann ohne Aussichten. Aber daß er den ersten Preis
bekommen würde, wußten wir ja, darum haben wir so lange gewartet.
Der Herr ist sehr weltklug geworden, seit er sein Geld verloren hat,
scheint mir; er bildet sich ein, ich würde ihm dich und mein Vermögen geben,
weil er hier von hervorragenden — Kunstkennern einen Preis bekommen hat.
Er täuscht sich.
Dein Vermögen? fragte Erika.
Nun, darauf läuft es doch hinaus. Er benutzt die jugendliche Unerfahren-
heit und die Schwärmerei eines thörichten und von uns leider viel zu sehr
verzognen Kindes, um sich als Mitgiftjäger und Erbschleicher recht bequem
das Vermögen zu verschaffen, das er durch ernsten, ehrlichen Geschäftsbetrieb,
dank seiner Unfähigkeit, nicht hat erwerben können.
Du, Onkel, da täuschst du dich aber, wenn du meinst, Erich wollte von
dir Geld haben. Mich will er haben. Aber das wird er dir ja nachher alles
erzählen, darüber brauchen wir uns jetzt gar nicht zu streiten, in ein Paar
Stunden wird er selber hier sein.
Ich werde ihn unzweifelhaft empfangen und werde ihm die Antwort geben,
die ihm gebührt. Laß mir den Brief da, ich bin wie gewöhnlich um elf Uhr
zurück. Kommt er schon früher, so soll er hier in der Veranda warten. Ihr
beide empfangt ihn selbstverständlich nicht, ehe ich ihn gesprochen habe.
Im Walde lasen dann die beiden Herren die Zeitungen und den Brief.
Es war wirklich so: dieser Mensch hatte den ersten Preis bekommen im Wett¬
bewerb mit Künstlern ersten Ranges und von ganz bewährten Namen und
Ruf- Ein dummes Volk, diese Dresdner Kunstrichter!
Ganz abgesehen von allem Ruhm, bedeutete das für den noch gestern
Verspotteten ein kleines Vermögen, und außerdem schrieb ihm der Geheimrat
Boden einen Privatbrief in den allerverbindlichsten Ausdrücken, worin er auf
die amtliche Eröffnung, daß er den ersten Preis erhalten habe, Bezug nahm
und hinzufügte, daß es ihm schützbar sein würde, wenn ihn der siegreiche
Künstler mit seinem Besuche beehren wollte. Ja, beehren — so stand darin.
Er, der Geheimrat, habe Anweisungen, die es ihm ermöglichten, ihm einige
Vorschläge zu machen, von denen sich hoffen ließe, daß Herr Vanrile Dresden
und der Akademie vielleicht dauernd erhalten bliebe.
Die beiden Herren fanden nur einen Plan, von dem sie sich dafür aber
auch unbedingt sichern Erfolg versprachen. Der Spaziergang war sehr lange
ausgedehnt worden, und als die Herren zurückkehrten, sahen sie einen hoch¬
gewachsenen Mann auf der Veranda auf- und abgehen und warten.
Onkel Moller musterte den Harrenden. Er sah gut aus, tadellos, wie
in seiner besten Zeit in Hamburg, als er ihn kennen gelernt und soviel Ge¬
fallen an ihm gefunden hatte. Merkwürdig! man sah ihm gar nichts an. Er
sah gar nicht aus wie einer, der so weit heruntergekommen war und so viel
Not gelitten hatte.
Ein kurzer Gruß Herrn Mollers, eine Handbewegung, die den andern
zum Platznehmen einlud, und sie saßen sich gegenüber. Der ältere übernahm
sofort die Führung. Er verstand Verhandlungen zu leiten: ruhig, vornehm
und wohlüberlegt fagte er das, was er sich schon zurechtgelegt hatte, während
der andre aus dem Stegreif auf die Sätze antworten mußte, die ihn sehr un¬
vorbereitet trafen:
Bemühen Sie sich nicht mit Auseinandersetzungen, Herr Vanrile, der
Zweck Ihres Kommens ist mir durch meine Nichte bekannt. Es wird das
richtige sein, wenn ich sofort erkläre, daß ich durchaus und unter allen Um¬
ständen gegen diese Ehe bin. Ich bin aber, was ich ebenfalls gleich von vorn¬
herein einräumen will, in einer weniger günstigen Stellung, als wenn ich der
Vater des jungen Mädchens wäre, das Ihnen verweigert wird. Sie können
mir antworten, daß Sie warten würden, und daß ich Ihnen meine Nichte
nur bis zu ihrer Volljährigkeit, nicht aber endgiltig vorenthalten könnte, nicht
wahr?
Unzweifelhaft, erwiderte Vanrile. Aber weshalb —
Es ist nicht nötig, Herr Vanrile, daß wir in Erörterungen über die
Gründe eintreten. Was für Sie spricht, ist reiflich erwogen worden, davon
dürfen Sie überzeugt sein, aber mein Entschluß steht sest. Da ich sie nicht
dauernd verhindern kann, bin ich bereit, die Verbindung jetzt schon zuzulassen,
wenn Sie darauf bestehen, aber — es würde gesellschaftlich durch unsre Nicht-
beteiligung deutlich gemacht werden, daß diese Verbindung gegen den Willen
der Pflegeeltern erfolgt, ich würde meiner Nichte weder irgend welche Aus¬
stattung noch irgend welche Mitgift geben, und ich würde am Tage der Hochzeit
ein Testament machen, das sie vollständig enterbe. Beharren Sie trotzdem aus
Ihrem Vorsatze, Herr Vanrile?
Aber selbstverständlich, bester Herr! Ich habe doch nicht um Ihr Geld
angehalten. Es entspricht meinen Wünschen, daß ich Fräulein von Haltern
nicht als reiche Erbin empfange und Ihnen nicht für ein glänzendes Los ver¬
pflichtet bin; auch Erika wird ganz damit einverstanden sein. Wenn Sie er¬
lauben, werde ich sie in Ihrer Gegenwart fragen, ob sie es wagen will, sich
von mir, meinem Erfolg und meiner Arbeit abhängig zu wissen.
Damit erhob er sich, etwas wenig sormvvll, um anzudeuten, daß er die
Verhandlung mit Herrn Moller für beendigt betrachte. Und so, wie er die
Frage gestellt hatte, blieb Herrn Moller wirklich nichts andres übrig, als seine
Nichte zu rufen. Er hatte ja seine Einwilligung gegeben. Hätte er ahnen
können, daß der andre spielend über das hinweggehen würde, was er für die
Hauptfrage gehalten hatte! Nicht einmal eine Bitte hatte er vorgebracht,
keinerlei Ausweg vorgeschlagen. Und er und Biermcm hatten so fest darauf
gerechnet, daß sich ein Mann wie Vanrile, dem sich nun doch in einer Stadt
wie Dresden vielfache Gelegenheit zu guten Partien bieten müßte, nicht dazu
verstehen würde, eine Frau zu nehmen, die keinen Pfennig Mitgift und keinen
Pfennig Erbe zu erwarten hatte. Sie hatten beide angenommen, daß er sich
unter irgend welchem Vorwande zurückziehen würde, daß gerade dadurch Erika
geheilt werden würde, und daß dann der frühere Plan später wieder auf¬
genommen werden könnte. Vielleicht, hatten sie gemeint, wäre dies sogar ein
Mittel, sie recht rasch zu bewegen, Herrn Albert Biermcm zu nehmen. Es
wäre zwar zunächst eine Ehe aus Trotz und Ärger gewesen, sie Hütte ihn
zunächst nur genommen, um dem andern, um Vanrile zu zeigen, daß er ihr
ganz und gar nicht das Herz gebrochen hätte, aber daran Hütte sich Herr
Biermcm nicht gestoßen, er konnte zuweilen auch bescheiden sein,
Mit alledem war es nun nichts. Herr Moller kam sich vor wie ein
Händler, der darauf gerechnet hat, daß man ihn zurückrufen werde, wenn
er nur wegginge, und der nun draußen an der Thür steht und vergeblich
horcht.
Er knirschte. Aber die Damen wurden gerufen. Er sah es seiner Frau
beim Eintritt an, daß sie sich inzwischen längst hatte überreden lassen, daß sie
schon vollständig auf Seiten ihrer Nichte stand. Das verbitterte ihn noch
mehr. Und diesmal kam er auch nicht dazu, die Führung zu übernehmen,
deun mit dem Rufe: Lieber, lieber Erich! war Erika dem Mann im Frack um
den Hals geflogen.
Und Erich sagte lächelnd, indem er sie küßte: Kleine Maus, dein Onkel
hat seine Einwilligung gegeben.
Schon wollte sich Erika losreißen, um den alten Onkel dankbar abzu¬
küssen, aber sie fühlte sich festgehalten.
Doch unter einer Bedingung, fuhr Erich fort, du bekommst keine Aus¬
stattung, keine Mitgift und wirst enterbe. Ich muß also das Geld für unser
herrliches Leben alles selber verdienen. Du wirst, namentlich zuerst, etwas
vorsichtig sein müssen, besonders im Bestellen neuer Kleider, und kannst keinen
unbegrenzten Kredit beanspruchen für deine Hüte, vielleicht mußt du sogar
etwas sparsamer werden mit deinen Handschuhen, und vor allem werden mir
keine Villa an der Wiener Straße, sondern ein Häuschen in Plauen oder in
Königswald bewohnen. Willst du um, bitte, deinem Herrn Onkel erklären,
ob du trotzdem auf dem thörichten Vorsatze beharrst, Erich Vanrile heiraten
zu wollen?
Sie richtete sich auf, sah ihren Onkel fest an und sagte kurz und bestimmt:
Allerdings, Onkel.
Die Verachtung, die in ihrer Stimme lag, that ihm doch weh. Und noch
weher that es ihm, daß sie jetzt zu ihrer kleinen Tante ging und sie streichelte,
beruhigte und tröstete: Aber, Tauenden, das ist doch ganz Nebensache. Komm,
gräme dich nicht, freue dich über mein großes, großes Glück!
Da kam dem Onkel noch ein Gedanke, die andern wenigstens dazu zu
bringen, daß sie ihn um einigen guten Willen bäten und ihm dadurch Gelegen¬
heit gäben, sein so schroff gegebnes Wort zurückzunehmen und wieder Einfluß
auf den Gang der Ereignisse zu gewinnen. Wenn sie noch etwas warteten —
es würde doch sehr einsam werden, ganz ohne sie. Was sollte er schließlich
mit seinem Gelde? Und wenn Vcmrile wirklich ein großer Künstler würde —
Herrn Vierman könnte man ja wohl beruhigen, wenn es nicht anders ginge,
man brauchte sich deshalb nicht mit ihm zu verfeinden. Aber sie sollten we¬
nigstens einlenken, die beiden, und nicht thun, als ob es ganz gleichgiltig wäre,
ob sie sein Geld bekämen oder nicht.
Es ist selbstverständlich, sagte Herr Moller endlich scharf, und Sie werden
darüber selbst nicht im Zweifel sein, daß Fräulein von Haltern nicht von meinem
Hause aus die Hochzeit feiern kann. Sie werden die Güte haben, mir recht¬
zeitig mitzuteilen, welche Familie Fräulein von Haltern zu diesem Zweck auf¬
nehmen wird.
Erika wurde doch etwas bleich, und Tante Jda begann herzbrechend zu
schluchzen.
Ich habe mir so etwas gedacht, Verehrtester, ich komme vom Geheimrat
Boden. Man hat mir eine sehr gute Laufbahn angeboten, und ich habe die
Vorschläge angenommen, ich bleibe in Dresden. Ich habe ihm und seiner Frau
— es sind außerordentlich liebe Leute — anch von meinem Geschick und von
meiner Liebe erzählt und von der hohen Wahrscheinlichkeit, daß es so kommen
würde, wie es jetzt gekommen ist.
Damit wandte er sich halb zu Erika. Frau Geheimrnt stellt sich uns
zur Verfügung, Liebling. Sie hat mich ermächtigt, Herr Senator, Ihnen zu
erklären, daß sie es sich zur Ehre schätzen würde, meine Vraut aufzunehmen.
Ich werde sie benachrichtigen, und sie wird sie heute Nachmittag noch persön-
lich bei Ihnen abholen.
So fiel auch Onkel Möllers letzter Pfeil vor dem Ziele in den Sand,
und damit endete Herrn Albert Biermans Brautreise. —
Seitdem ist Jahr und Tag vergangen. Vanrile ist ein sehr berühmter
Künstler geworden und auch ein Lehrer von großem Ruf. Seine Schüler
hängen an ihrem Meister, wie die akademische Jugend nur hängt um denen, die
große Künstler und zugleich große Menschen sind. Die Bevorzugtesten unter
ihnen verkehren in seinem Hanse und helfen ihm seine Frau anbeten. Wird
er geliebt und verehrt, so wird sie vergöttert.
Aber nicht nur aus die Vertrauten wirkt er. Denn wer anch immer die
große Eingangshalle des Ausstellungsgebäudes auf der Brühlschen Terrasse
betritt, den bannt sein Werk. Ans einer Nische des Vestibulnms, dem Haupt-
portal gegenüber, tritt sie heraus, wie aus den innern Räumen kommend, die
ihre Schütze bergen. Hehr, blond, Sieg und Herrlichkeit in dem Blick der blauen
Augen, will sie'herabsteigen zu den armen Sterblichen. Nicht Attribute, nicht
hilflose Abzeichen entweihen ihre heilige Größe, nichts steht an dem Sockel ge¬
schrieben. Hinreißend schön schimmert der Götterleib durch die zarten Falten
des lichtblauen Marmvrgcwandes, ein Zauber strömt aus von ihren Segen
spendenden Händen, und die draußen dumm, plump, niedrig waren im Schein
der Werkeltagssonne, suhlen sich erbeben in frohen, erhebenden Schauern, und
leise flüstert es durch die hohe Halle: Die Kunst!
Über die Trennung Stöckers
von seinen konservativen Parteigenossen haben die Linksliberalen, die Mittelpcirteiler,
die Zentrumsleute, die Sozialdemokraten und er selbst einerlei Meinung: sie bedeute
deu Verzicht des Parteivorstandes ans Sozialpolitik oder, was so ziemlich dasselbe
ist, auf deu Ruf der Arbeiterfreuudlichkeit. Daß dieses wirklich die Bedeutung des
Ereignisses ist, ergiebt sich aus der Verwerfung von Stöckers Antrag im Elfcr-
ansschnß, und daß es Stöcker selbst so versteht, aus seiner Erklärung in der Deutschen
Evangelischen Kirchenzeitung. Die genannten Parteien freuen sich darüber aus ver¬
schiednett Gründen, die linksseitigen, weil sie hoffen, daß die Konservativen dadurch
Wähler verlieren werden, die Katholiken, weil dadurch die Gefahr der Konkurrenz,
die ihnen die konservative Partei hie und da macht, geringer wird, die Mittel-
parteiler, die mit der unverwüstlichen Hoffnungskraft der alten Jungfer aufs Kartell,
aufs Gelingen einer Politik gegen das Einmaleins, harren, daß nun endlich, uach
Ausscheidung der klerikalen und der sozialen Elemente, die Konservativen reif sein
werden für die nationalliberale Führung, was die Konservative.Korrespondenz für
Illusion erklärt. Stöcker und die Konservativen freuen sich natürlich weniger.
Beide haben einander gegenseitig als Werkzeug gebraucht; die Konservativen fischten
mit Stöcker Wähler in den Kreisen des Kleingewerbes und der Arbeiter, und
Stöcker beachte die Partei — für seinen persönlichen Ehrgeiz, sagen seine Gegner —
wir sagen bloß, für seine sozialpolitischen Pläne. Jede solche politische Handels¬
gesellschaft nimmt schließlich einmal ein Ende, und da bei der Liquidation für beide
Teilhaber nichts als Ärger und Verlust übrig zu bleiben pflegt, so ist sie kein an¬
genehmes Geschäft. Die Konservativen haben außerdem gegen die Deutung, die dem
Vorgänge allgemein gegeben wird, Schande halber zu Protestiren, und der Graf
von Limburg-Stirnen versichert in einer Zuschrift an die Schlesische Zeitung, daß
er zwar, im Gegensatz zu Stöcker, die Sozialdemokratie mit Machtmitteln bekämpft
wissen wolle, aber zugleich an dem konservativen Programm von 1892 festhalte,
wonach „die soziale Reform durch Hebung der innern und äußern Lebenshaltung
des Arbeiterstandes und durch wirtschaftliche Hebung der Mittelstände stetig fort¬
zuführen sei." Dafür, daß die stetige Fortführung kein allzu rasches Tempo an¬
nimmt, ist ja wohl schon gesorgt; bemerkt doch die Schlesische Zeitung in einer
Nachschrift zu dem Briefe des Grafen, „im Kampfe gegen eine verkehrte, dem
konservativen Geiste fremde Sozialpolitik" kämen „die Konservativen vielfach nicht
dazu, werbend für den richtigen sozialpolitischen Gedanken einzutreten." Diese
Entschuldigung wird noch lange und jetzt erst recht vorhalten, da Stöcker, obgleich er
noch „rechtser gehen" will, doch wahrscheinlich weiter nach links abschwenken, also die
„falsche" Sozialpolitik stärken wird, und anch nnr darüber ins klare zu kommen,
worin eigentlich die richtige konservative Sozialpolitik besteht, wird nicht so bald mög¬
lich sein, da man ja noch gar nicht weiß, was und wer konservativ ist. Am 7. schrieb
die Schlesische Zeitung, manche konservative Preßvrgaue fühlten sich unangenehm be¬
rührt dadurch, daß mau zuverlässige Informationen über Vorgänge innerhalb der
konservativen Partei in ihren, der Schlesischen, Spalten finde; die Kreuzzeitung ereifre
sich darüber, daß „so etwas" in Zeitungen wie der Schlesischen zu lesen gewesen sei,
die doch „mit der konservativen Partei nichts zu thun haben." Darauf erwidert die
Schlesische Zeitung mit der spöttischen Frage- „Wirtlich? Ist die Kreuzzeitung
ihrer Sache so sicher?" und stellt es als eine allgemein bekannte Thatsache hin,
durch deren Leugnung man sich nur lächerlich mache, daß einflußreiche Führer der
konservativen Partei in enger Verbindung mit ihr stehen.
Einige demokratische und mich katholische Blätter haben hervorgehoben, daß
von den drei volkstümlichen oder wenn man will demagogischen Bewegungen, deren
sich die ostelbischen Rittergutsbesitzer bedient haben, um die mittlern und untern
Volksschichten an sich zu ziehen, nun schon zwei, die antisemitische und die christlich-
soziale, von der konservativen Partei abgestoßen worden und in feindlichen Gegensatz
zu ihr getreten sind, und sie glauben daraus die Hoffnung schöpfen zu dürfe», daß
sich dieser Reinigungsprozeß recht bald auch auf die dritte, durch den Bund der
Landwirte vertretene, erstrecken werde. Dem hat jedoch die Kölnische Volkszeitung
ganz richtig entgegengehalten, daß daran nicht zu denken sei, weil die Ziele des
Bundes der Landwirte mit denen der konservativen Parteileitung zusammenfallen;
nach andern Schlagworten wird sich der Bund allerdings umsehen müssen.
Die Auseinandersetzung zwischen der konservativen Parteileitung und Stöcker
ist zunächst darum ein erfreuliches Ereignis, weil das politische Leben an Ehrlich¬
keit gewinnt, wenn die Konservativen als reine Agrarierpartei auftreten und auf
christliche und soziale Redensarten verzichten. Dann noch aus einem andern Grunde.
Je weniger das Agrariertum mit fremden Elementen und Bestrebungen ver¬
quickt ist, desto deutlicher wird es sich zeigen, daß die Hindernisse, die der Ver¬
wirklichung seiner Pläne im Wege stehen, nicht außer ihm, sondern in ihm liegen.
So lange es antisemitische und christlich-soziale Ziele verfolgte oder zu verfolgen
schien, war es weder der Regierung noch der Mehrheit der Volksvertretung sicher,
als reine Agrnrierpartei beherrscht es beide Mächte. Das vorigemal haben wir
darauf hingewiesen, daß in der Regierung, dieses Wort im weitesten Sinne ge¬
nommen, auch nicht ein Mann sitzt, der nicht von Herzen, schon aus Persönlichen
und Familieuinteresse, die Landwirtschaft so einträglich und die Gutsbesitzer so wohl¬
habend wie möglich zu machen wünschen müßte. Heute erinnern wir noch daran,
daß nicht allein der preußische Landtag, sondern mich der Reichstag, der ans dem
viclgeschmcihten allgemeinen Wahlrecht hervorgcgangne vielgeschmähte Reichstag, eine
agrarische Mehrheit hat: die Freikonservativen, das Zentrum, die Polen und ein
Teil der Nationallibernlen sind ganz ebenso agrarisch wie die Konservativen, nnr
daß sie nicht Pläne als Agitationsmittel gebrauchen mögen, deren Unausführbarkeit
auf der Hand liegt, und daß das Zentrum den Bund der Landwirte als Konkur¬
renten um die Gunst der Bauern verabscheut. Es giebt keine Macht im Staate,
die die Agrarier hindern könnte, sich mit so viel „kleinen" Mitteln zu helfen oder
zu bereichern, als sie wollen, wenn sie nur uuter sich einig würden. Diese ihre
Uneinigkeit, die aus dem widerspruchsvolle» Wesen ihrer Ziele entspringt, zu ver¬
denke», projizirt ihre Phantasie oder ihre Taktik die innern Hindernisse in die
Außenwelt: in die Mnnchesterleute, in die Judenpresse, in die Börse, in die Minister
und Geheimräte hinein. Die Gegner der Agrarier sollten die Herren ruhig allein
mache» lassen; diese können keine Maßregel besprechen, ohne einander, wie bei den
Staffeltarifen, gage»seitig i» die Haare zu geraten. Die Zuckersteuerreform stellt
das rein Paradigma aller protektiouistischen Maßregeln dar. Den Zuckerpreis
kann mau auf keine andre Weise hebe» als durch Beschränkung der Produktion;
wird aber diese loutiugeutirt, dann schreien die Landwirte, die ebenfalls Rüben-
bvden, ober noch keine Zuckerfabriken haben: mit welchem Recht wollt ihr uns eine
gmiinnbringende Verwertung unsers Bodens verbieten, die euch reich gemacht hat?
Ähnliche Widersprüche ergeben sich bei allen gegen die Verschuldung vorgeschlagnen
Maßregel». Die Verhandlungen des Landwirtschaftsrnts über Lagerhanswesen und
Warrantverlehr um 6., und die des Reichstags über die Transitlager am 7.
enthüllen nicht geringere innere Schwierigkeiten. Schon jammern unsre Landwirte
über die neue Schädigung ihrer Interessen, die ihnen aus der bevorstehenden Er-
öffnung des Dortmund-Emskcmnls und namentlich aus der billigen Fracht ans diesem
Kanal zu erwachsen drohe. Sie würden am liebsten alle Wasserstraßen und das
ganze Meer sperren, wenn nur nicht — ihr Zucker und ihr Spiritus übers Meer
müßten/") Je weniger, wie gesagt, die Bestrebungen des Agrariertums durch ander¬
weitige, ernsthaft gemeinte oder bloß auf die Gewinnung andrer Volksschichten be¬
rechnete Prograinmsntze der konservativen Partei verdeckt werden, desto deutlicher
wird es sich zeigen, wie weit diese Bestrebungen, denen äußere, der Macht des
ritterlichen Grundbesitzes ebenbürtige feindliche Mächte nicht im Wege stehen, ver¬
wirklicht werden können, und wie weit sie an innern Widersprüchen scheitern müssen.
Die Ergebnisse der
im Sommer 1895 veranstalteten Erhebung über Verhttltuisse im Handwerk, be¬
arbeitet im kaiserlichen statistischen Amt, sind noch unmittelbar vor der ersten Lesung
des Gesetzentwurfs betreffend die Errichtung von Handwerkerkammern dem Reichs¬
tage zur Kenntnis zugegangen, ohne jedoch bei den Verhandlungen im Plenum am
16. und 17. Dezember v. I. — abgesehen von einer kurzen Erwähnung von dem
Staatssekretär des Innern — irgendwie in Betracht gezogen zu werden Wir
wollen unsre Leser kurz über deu Inhalt des sehr umfangreichen statistischen Werks,
das nicht im Buchhandel erschienen ist, unterrichten und seine praktische Bedeutung
für die Behandlung der Handwerkerfrage beleuchten.
Wer heute über diese Frage schreibt, muß sich bewußt sein, daß kaum auf
irgend einem sozialen oder wirtschaftlichen Gebiete die vorgefaßten Meinungen so
ihr Wesen treiben wie hier. Was man sich als das Handwerk der Vergangenheit
vorstellt, entspricht in der Regel ebenso wenig der Wirklichkeit, wie das Bild, das
man sich von dem Handwerk der Gegenwart macht, und vollends entbehrt das,
was man sich als die zukünftige Gestaltung und Lage des Handwerks denkt, fast
durchweg jedes Anhalts an irgendwo oder irgendwann dagewesene, bekannte Ver¬
hältnisse und thatsächliche Unterlagen. Es ist deshalb schwer, aber auch andrerseits
besonders nötig, daß der Statistik auf diesem Gebiete zu ihrem Rechte verholfen
werde, mag immerhin dadurch manche hüben und drüben znni Parteidogma er¬
habne Anschauung durch die statistische Beleuchtung etwas an Bedeutung verlieren.
Schon als erster Versuch der amtlichen deutscheu Statistik uach dieser Richtung
hat das neue Werk des statistischen Amts Anspruch auf eine besondre Beachtung.
Über die Gründe, die zu diesem ersten Versuche geführt haben, das Handwerk
als solches einmal statistisch zu erfassen, spricht sich der Reichskanzler bereits in
seinem Rundschreiben vom 27. Mai 1395 vollkommen klar aus. Es heißt dort
wörtlich: „Wie bekannt ist, besteht in den Kreisen des organisirten Handwerks das
lebhafte Verlangen, daß dem Handwerkerstande eine festere, namentlich auf dem
Gebiete der Lehrlingsausbildung leistungsfähigere Organisation gegeben werde, als
sie die bisherigen fakultativen Innungen zu bieten vermögen. Bevor zu diese»
Wünschen Stellung genommen werden kann, muß vor allem weitern ein Urteil
über die thatsächliche Durchführbarkeit einer allgemeinen lokalen Organisation des
Handwerks gewonnen werden. Hierzu erscheint es erforderlich, Erhebungen über
die örtliche Verteilung der Handwerksbetriebe und einige andre mit der Organi¬
sation im Zusammenhang stehende Punkte zu veranstalten." In den dem Rund¬
schreiben beigefügten „Vorschlägen für die Erhebung" ist gesagt: „Die Erhebung
hat deu Zweck, Anhaltepunkte hinsichtlich der Anzahl, des Umfangs und der ört¬
liche» Verteilung derjenigen Gewerbebetriebe zu gewinnen, die für eine allgemeine
korporative, in erster Linie mit der Fürsorge für die Ausbildung von Lehrlingen und
Gesellen zu betrauerte Organisation des Handwerks in Betracht kommen könnten."
Bestimmter konnte wohl der Reichskanzler nicht aussprechen, welch hohe prak¬
tische Bedeutung er den Ergebnissen gerade dieser Erhebung beigelegt wissen wollte.
Die Statistik sollte in der Handwerkerfrage das erste Wort haben.
Um nun dnrch die Erhebung den gewollten Zweck zu erreichen, war eine
genaue durch Zählkarten mit einer Reihe von Fragen auszuführende Zählung der
einzelnen als „handwerksmäßige" in Betracht kommende Gewerbebetriebe nicht zu
umgehen. Andrerseits aber konnte man sich mit ewer „Stichprobenerhebung" be¬
gnügen , wenn nur das Erhebungsgebiet richtig ausgewählt und groß genug war,
Schlüsse auf die Zustände des Handwerks im ganzen Reiche zuzulassen. Das Er-
hebungsgebict war folgendes: in Preußen die beiden Regierungsbezirke Danzig
(12 Kreise) und Aachen (11 Kreise), sowie die fünf einzelnen Kreise: Oberbarnim,
Waldenburg, Kalbe, Einbeck und Solingen; in Baiern die Bezirksämter Brück,
Stadtamhof und Neustadt a. S.; in Sachsen die Amtshauptmannschaften Pirna
und Zwicken; in Württemberg der Oberamtsbezirk Göppingen; in Baden der
Amtsbezirk Heidelberg; in Hessen der Kreis Friedberg und schließlich die Stadt
Lübeck mit ihren Vorstädten. Darnach stellte sich die Zahl der Erhebungsbezirke
— als solche die preußischen Kreise und entsprechenden Verwaltungsbezirke der
andern Staaten betrachtet — im ganzen auf siebenunddreißig. Dem Flächenraum
uach umfaßte das Erhebuugsgcbiet 18 700 Quadratkilometer, d. i. etwa den dreißigsten
Teil der Reichsstände, und etwa 2 292 525 Einwohner, d.h. etwa den zweiund-
zwanzigsten Teil der Einwohnerschaft des Reichs nach dem Stande von 1890. Das
Erhebungsgebiet wies auf: 2 Städte mit mehr als 100 000 Einwohnern, 7 Städte
mit 20000 bis 100000, 17 Städte mit 10000 bis 20000, 32 Ortschaften mit
5000 bis 10000. 112 mit 2000 bis S000, 202 mit 1000 bis 2000, 513 mit
500 bis 1000, 1552 mit 50 bis 500 und 181 Ortschaften mit 50 und weniger
Einwohnern.
Innerhalb dieses Gebietes mußte alles von der Zählung erfaßt werden, was
zum „Handwerk" gehörte. Der Reichskanzler hatte deshalb angeordnet, daß in
die Erhebung einbezogen werden sollten a,) alle Betriebe, die unzweifelhaft dem
Handwerk zuzurechnen siud; b) alle Betriebe, bei denen es zweifelhaft sein kann,
ob sie dem Handwerk oder den Fabriken zuzurechnen sind; o) die Betriebe der zu
Hause für fremde Rechnung beschäftigten Personen, soweit sie als selbständige Ge¬
werbetreibende nach der Gewerbeordnung bei der Behörde anzumelden sind. Als
„Fabriken" sollten dabei solche Gewerbebetriebe gelten, bei denen „die Merkmale des
Fabrikbetriebs, insbesondre die Verwendung vou Motoren, besondre bauliche Anlage,
erhebliche Arbeiterzahl, weit getriebne Teilung der Arbeit, soziale Ungleichartig^
zwischen Unternehmer und Gehilfen entweder sämtlich vorliegen oder wenigstens
einzelne von ihnen scharf ausgeprägt siud." Außerdem war noch ein „Verzeichnis
handwerksmäßiger Gewerbe" vom Reichskanzler aufgestellt worden, ohne daß er¬
sichtlich gemacht ist, nach, welchen Grundsätzen dabei Verfahren wurde. Das Ver¬
zeichnis enthielt 70 meist althergebrachte Handwerksnamen, wozu noch 28 Bezeich¬
nungen von Spezialitäten des Schlosser-, Schmiede- und Schreinerhcmdwerks kommen,
die besonders zu zählen waren. Jedenfalls kann die Aufnahme mancher Hand¬
werksbezeichnung nud die Weglassung andrer angefochten werden. Das Statistische
Amt hat denn auch 1036 Zählkarten knssirt, weil sie „außerhalb der Erhebung
stehende Gewerbe" betrafen, d. h. doch wohl, weil sie nicht auf dem Verzeichnis
des Reichskanzlers standen, darunter z. B. Cigarrenmacher, Tabakspinner, Photo-
graphen, Porzellan- und Glasmaler usw. Hier ist eine Klärung des Prinzips
für die Zukunft wünschenswert, noch wünschenswerter freilich wäre es, wenn in
Zukunft die in der ganzen Handwerkerfrage von heute mit die wichtigste Klasse,
die in den „Vorschlägen" des Reichskanzlers unter e ausdrücklich als in die Er¬
hebung einzubezieheude aufgeführten „zu Hanse für fremde Rechnung beschäftigten
Personen" nicht so ganz sang- und klanglos unter den Tisch fallen müßten.
Trotzdem ist dieser erste Versuch, Verhältnisse des Handwerks statistisch zu
erfassen, in geradezu überraschendem Maße gelungen und damit die Möglichkeit,
Berechtigung und Zweckmäßigkeit einer modernen Handwerksstatistik erwiesen. Man
kann nur recht dringend wünschen, daß die amtliche Statistik des deutscheu Reichs
von jetzt an das Handwerk nicht mehr aus den Händen läßt, selbst wenn der erste
Versuch der deutschen Handwerksstatistik noch nicht die Praktische Verwertung finden
sollte, die er finden könnte.
Einschließlich der von den Zählbehörden als ans der Grenze zwischen Fabrik
und Handwerk, also als „zweifelhaft" bezeichneten Betriebe find im Erhebungs¬
gebiet gezählt worden:
Davon waren
Auf dieser Unterlage ist nun das Statistische Amt der Aufgabe, ein Urteil
über die thatsächliche Durchführbarkeit einer allgemeinen lokalen Organisation des
Handwerks zu ermöglichen, in folgender Weise zu entsprechen bestrebt gewesen.
Zunächst hat man geglaubt, mit Rücksicht darauf, daß der Reichskanzler in
erster Linie die Fürsorge für die Ausbildung von Lehrlingen und Gesellen als
Zweck der Organisation des Handwerks bezeichnet hatte, die Handwerksmeister, die
ohne Gesellen und Lehrlinge arbeiten, aussondern und, als zum Beitritt zu den
örtliche» Zwangsgeuvsseuschaften (Innungen) nicht verpflichtet, bei der Frage, ob
für einen bestimmten Bezirk die Bildung einer Innung möglich sei oder nicht, außer
Betracht lassen zu müssen. Ferner hat man den Berechnungen die Annahme zu
Grunde gelegt, daß uur Berufsinnuugeu, nicht auch solche, in denen Meister ver-
schiedner — vielleicht verwandter — Gewerbe vertreten sind, errichtet werden sollten.
Die Zahl der ohne Hilfspersonal arbeitenden Meister beläuft sich in dem Er¬
hebungsgebiet auf 33942 von den im ganzen gezählten 61199 zweifellos dem
Handwerk zugehörigen Meistern, sodaß nur 27 257 Personal beschäftigende Meister
für die Zwangsinnnngsbildung in Berechnung kamen.
Als Bezirke, die bei der Berechnung der Möglichkeit der allgemeinen örtlichen
Organisation als wesentliche Glieder eingestellt werden mußte», hat man drei ver¬
schleime Größen angenommen: erstens die 156 „Zählbezirke," in die die 37 Er-
hebnngsbezirke (Kreise nach preußischem Maßstabe) zerlegt waren, d. h. 26 „städtische
Zählbezirke," bestehend ans den 26 Städten mit mehr als 10 000 Einwohnern, ein¬
schließlich der Vorstädte, und 130 „ländliche Zählbezirke." In zweiter Linie hat
man die „Erhebungsbezirke," also den Preußischen „Kreisen" entsprechende Bezirke,
als Sprengel der örtlichen Innungen angenommen, und endlich drittens die Mög¬
lichkeit der Jnnungsbildung für den Fall noch berechnet, daß der ganze Regierungs¬
bezirk (hier Danzig und Aachen) das Jnnnngsgebiet bilden sollte. Je größer das
Jnnungsgebiet, um so größer die Möglichkeit, die zur Jnnungsbildung erforder¬
liche Anzahl von Personal beschäftigenden Meistern ein und desselben Handwerks
im Bezirk zusammenzubringen, um so geriuger aber mich die Aussicht auf ein wirklich
leistungsfähiges Jnuungslebcn.
Endlich kam uoch in Betracht die „niedrigste Mitgliederzahl," bei der die
Organisation einer örtlichen Zwangsinnung für zweckmäßig erachtet werden soll.
Hieraus und unter genauem Nachweis der Verteilung des in Betracht kom¬
menden Personals auf die einzelnen Bezirke hat nun das Statistische Amt nach¬
gewiesen: a) wieviele Berufsinunugen zu bilden möglich wäre, wenn zur Bildung
einer Innung erstens mit dem „Zählbezirk" als Jnnungsgebiet schon 5, 10, 15,
20, 30 — oder wenn zweitens zur Bildung einer Innung mit dem „Kreise" als
Jnnungsgebiet schon 10, 20, 30, 50, 100 Personal beschäftigende Meister als
niedrigste Mitgliederzahl genügen würden; b) wieviel Personal beschäftigende Meister,
wieviel Gesellen, wieviel Lehrlinge und wieviel Hilfspersoueu überhaupt von jeder
dieser Innungen erfaßt werden würden. Diese Berechnung ist für alle 156 Zähl¬
bezirke, 37 Kreise und die beiden Regierungsbezirke einerseits, und für die 70 Hand¬
werke und die 28 Spezialitäten der Schlosser, Schmiede und Schreiner andrerseits
durchgeführt werden.
Greifen wir die „Zählbezirksiuuung" mit einer niedrigsten Mitgliederzahl von
10 Meistern heraus, so ergiebt sich, daß sich für alle 156 Zählbezirke des Erhebuugs-
gebiets und die 98 Handwcrkszweigc im ganzen 751 Innungen nach der heutigen
örtlichen Verteilung der zu diesen Handwerkszweigen gehörenden Personal beschäf¬
tigenden Meistern bilden lassen, und zwar 257 Innungen der städtischen Bezirke
in 37 Handwerken und 494 Innungen der ländlichen Bezirke in 31 Handwerken.
Das heißt: es können unter obigen Annahmen 751 Innungen gebildet und 14 537
Innungen uicht gebildet werden.
Für das gesamte Handwerk ergiebt sich ferner, daß erfaßt werden würden bei
Znhlbezirksinuungen
Man sieht schon aus diesem Beispiel, welche Schwierigkeiten der Durchführung
einer allgemeinen örtlichen Organisation des Handwerks aus der örtlichen Vertei¬
lung der Handwerker erwachsen, wenn man einerseits an der Berufsinnung und
andrerseits an kleinen Jnnungsgebieteu mit einer nicht allzu kleinen niedrigsten Mit¬
gliederzahl im Interesse der wirklichen Leistungsfähigkeit der Innungen fest¬
halten will. Wie verlautet, ist man auch an maßgebender Stelle schon von der
ausschließlichen Zulassung von Bernfsinnungen zurückgekommen; es sollen anch
Innungen „verwandter" Gewerbe in Aussicht genommen werden.
Außer der Frage nach dem Einfluß der örtlichen Verteilung der Handwerker
auf die Durchführbarkeit einer allgemeinen örtlichen Organisation in Zwangs¬
innungen hatte der Reichskanzler noch vorgeschrieben, daß man durch die Erhebung
darüber Aufklärung zu gewinnen versuchen sollte, inwieweit die weit verbreitete
Annahme der Wirklichkeit entspreche, „daß die Zahl derjenigen Unternehmer von
Handwerksbetrieben, die eine fachmännische Vorbildung entweder gar nicht oder nur
in unzulänglicher Weise genossen haben, eine recht erhebliche sei und schon aus
diesem Grunde die zweckentsprechende Ausbildung des gewerblichen Nachwuchses bei
dem gegenwärtigen Zustande und noch mehr bei dessen Fortdauer gefährdet er¬
scheine." Auch diese Erhebung über die fachmännische Vorbildung der heutigen
Unternehmer von Handwerksbetriebe» ist mit großer Gründlichkeit durchgeführt
worden. Dabei siud von deu im ganzen gezählten 61 199 unzweifelhaft zum
Handwerk gehörigen Unternehmern 1607 weibliche Prinzipale ausgeschieden worden,
sodaß nur 59 592 Meister im Erhebungsgebiet in Betracht kommen. Das Er¬
gebnis ist folgendes:
Die an und für sich sehr geringe Anzahl der Meister ohne Lehrzeit ist in
den ländlichen Bezirken, einschließlich der Städte unter 10 000 Einwohnern, etwas
größer als in den Städten mit 10 000 und mehr Einwohnern. Auch die Meister
mit kurzer Lehrzeit sind in den ländlichen Bezirken zahlreicher als in den Städten,
während die Meister mit langer Lehrzeit weit mehr in den Städten zu finden sind
als auf dem Lande. Von den Meistern mit Lehrzeit betreiben im ganzen nur
0,7 Prozent ein andres Gewerbe, als in dem sie ihre Lehrzeit durchgemacht haben,
ebenso haben nur 0,7 Prozent ihre Lehrzeit nur in einer Fabrik überstanden, wäh¬
rend 96,1 Prozent bei einem Handwerksmeister gelernt haben. Von den 3,2 Pro¬
zent, die ohne Lehrzeit sind, haben viele in Fachschulen, Lehrwerkstätten, beim
Militär, auch in Taubstumme«- und Blindenanstalten eine gewisse fachmännische
Vorbildung genossen. Jedenfalls hat die Erhebung ergeben, daß von dem Fehlen
einer fachmännischer Vorbildung kaum recht die Rede sein kann, wobei freilich nicht
zu vergessen ist, daß durch statistische Zählkarten der erzieherische Wert der durch¬
gemachten Lehrzeit nicht erfaßt werden konnte.
Wir müssen uns hier mit diesen Ausführungen begnügen. Ein so umfang¬
reiches statistisches Tabellenwerk ist nur durch eine Reihe von Einzelbildern von
den verschiednen Gesichtspunkten aus dem größern Interessentenkreise zu erschließen
und genießbar zu machen. Es ist zu bedauern, daß nach dieser Richtung hin für
die gewaltigen Materialiensammlungen der Statistik des deutschen Reichs bisher so
wenig geschehen ist. Möge dies den besonders umfangreichen Zählarbeiten von 1895
nicht wieder so ergehen.
Es ist in Preußen mit großem Beifall
begrüßt wordeu, daß der Kultusminister mit einem Federstrich die öffentlichen Prü-
sungen ein den höhern Schulen beseitigt hat. Im Laufe der Jahre hatten sich bei
den Prüfungen soviel Nbelftimdc, Störungen und unnütze Aufregungen eingestellt,
daß die ganze Einrichtung zu einer wahren Plage für die Schüler, ja die
Lehrer und selbst für die Eltern geworden war. Die Schüler wußten nicht recht,
weshalb sie eigentlich für diese Prüfung, die keinen Einfluß auf die Zensur und
die Versetzung haben sollte, gedrillt wurden. Die Lehrer verstanden nicht, wes¬
halb sie sich und ihre Schüler der Kritik eines zusammengewürfelten, oft sehr ur¬
teilslosen Publikums aussetzen sollten, da doch die fachmännisch gebildeten Aufsichts¬
behörden nicht allein das Recht, sondern sogar die Pflicht haben, jederzeit an ihrem
Unterricht in der Klasse teilzunehmen und sich über die Leistungen der Lehrer ein
Urteil zu bilden. Die Eltern endlich fühlten es als einen unangenehmen Zwang,
doch auch bei diesen öffentlichen Vorführungen zu erscheinen, damit die Lehrer und
der Herr Direktor nur nicht denken könnten, sie hätten kein Interesse für die
Schule. Da aber in einem geordneten Haushalte weder der durch seinen Beruf
in Anspruch genommene Vater noch die in der Wirtschaft vollauf beschäftigte
Mutter vormittags in die Schule laufen konnte, so Pflegte die Vertretung des
Hauses irgend einer alten Tante, genannt Aulalia, übertragen zu werden. Vor eiuer
solche» würdigen Gesellschaft alter Tanten pflegte sich dann die ganze Schulkomödie
abzuspielen. Der mit Orden geschmückte Direktor schritt würdevoll einher, die be¬
frackten Lehrer, leicht gerötet von der Aufregung des Tages, bewegten sich geschäftig
vor der staunenden Gesellschaft und führten im Flüstertöne alles ordnend die
Klassen in die Aula. Andre saßen dumpf brütend an den langen Tischen und
starrten auf ihre Weiße Wäsche oder auf die vor ihnen liegenden unzähligen Schul-
Progrmnme. Andre wieder, die an der Vorführung nicht beteiligt waren, standen
mit sarkastischen Lächeln an den Wänden und verwünschten die ganze Parade,
deren Gaukelwerk sie genau kannten, und die ihnen soviel kostbare Zeit raubte.
Denn die Komödie dauerte fast eine ganze Woche.
Dieser Unfug ist nun in Preußen seit einiger Zeit glücklich beseitigt worden,
und es giebt wohl keinen verständigen Schulmann, der ihn wieder zurückwünschte.
Anderwärts dauert er aber uoch fort und wird, da man sich schent, preußische
Einrichtungen im Schulwesen anzunehmen, wahrscheinlich auch noch ein paar Jahrzehnte
fortdauern, bis die letzte Aulalia verschwunden, und man zu der Einsicht gekommen
sein wird, daß es doch besser und erfolgreicher ist, in aller Stille eine Woche
weiter zu arbeiten, als vor der Öffentlichkeit ein pädagogisches Effektstück auszu-
führen. Wichtige geistige Arbeit ist zu ernsthaft und zu keusch, als daß sie eine
öffentliche Schaustellung dieser Art vertrüge.
Wie die Leser aus den Zeitungen wissen, stehen Taufende von deutschen Kon-
fektions-Arbeitern und Arbeiterinnen im Begriff, die Arbeit einzustellen; in einer
Anzahl von großen Städten haben sie sie bereits eingestellt; die Bewegung geht
von Berlin aus und hat bis jetzt vorzüglich Breslau, Stettin, Erfurt und Hamburg
ergriffe». In Breslau versammelte» sich am 5. Februar siebzehn von den be¬
troffnen sechsundzwanzig Unternehmern zu einer Beratung, bei der, wie es in dem
Bericht der Schlesischen Zeitung heißt, „von den Forderungen der Streitenden die
meisten als berechtigt und teilweise geradezu selbstverständlich anerkennt jmnu be¬
denke, was das sagen will!*)), die Einrichtung von Betriebswerkstätten aber und
die Annahme des aufgestellten Lohntarifs als unmöglich bezeichnet wurden." Ge¬
rade die Einrichtung von Betriebswerkstätten aber ist die wichtigste Forderung der
Ausständigen, weil die Notwendigkeit, die ohnehin elende und kleine Wohnung auch
noch als Werkstatt benutzen zu müssen, die daraus sich ergebende Unbegrenztheit
der Arbeitszeit, Kinderausbcntung und Uuverantwortlichkeit der Unternehmer für
die Lage ihrer Arbeiter und Arbeiterinnen Zustände erzeugen, die — man aus
der kleinen Schrift von Oda Ölberg kennen lernen kann und kennen lernen muß.
Es wäre eine Schande für jede deutsche Frau, der Gelegenheit geboten wird, die
Lage ihrer Schwestern, der weiblichen Wesen, die in diesem wichtigen Berufe be¬
schäftigt sind, kennen zu lernen, wenn sie diese Gelegenheit versäumte und sich da¬
durch der Pflichten entzöge, die ihr ans der Kenntnis der Thatsachen erwachsen
würden. Männer, die sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen beschäftigen, die
Fachleute und Gelehrten, kennen diese Thatsachen längst, aber ihre Kenntnis nützt
gar nichts, weil jeder von ihnen immer bloß für die andern schreibt, und
diese schreibenden alle zusammen nicht den geringsten Einfluß auf die Gesetzgebung
haben. Wird aber die Kenntnis der Thatsachen allgemein, dann wird es unmöglich
sein, gegenüber der mit Sturinesgewalt losbrechenden allgemeine» Entrüstung den
gegenwärtigen Zustand aufrecht zu erhalten; es wird u. a. auch unmöglich sein,
daß ferner noch wegen polizeilich verfolgter Unsittlichkeit die Opfer auf die Anklage¬
bank kommen anstatt der Schuldigen. Die Thatsachen nus Zeitungen und Zeitschriften
zusammenzusuchen, haben Hausfrauen weder Zeit noch Gelegenheit, aber das vor¬
liegende Schriftchen kann jede zur Hand nehmen und lesen. Es giebt alles Wesent¬
liche in gedrängter Darstellung und in schöner, von Herzen kommender Sprache,
anschaulich und packend, aber ohne alle überflüssigen Redensarten. Die Verfasserin
kennt die Verhältnisse nicht allein ans der Fachlitteratur, die sie übrigens vollständig
beherrscht, sondern auch aus eigner Anschauung, denn sie arbeitet an einer Er¬
hebung über die Gesundheitsverhältnisse in den Schneiderwerkstätten Leipzigs mit,
„die erst in Jahresfrist ihren Abschluß finden dürfte." Also noch einmal: es ist
Pflicht sür jede deutsche Frau, dieses Büchlein zu lesen und — nun, die Folge¬
rungen daraus zu ziehen, überlassen wir den deutschen Frauen selbst; nnr so lange
keine Möglichkeit bestand, das Elend der Konfektionsarbeiter und besonders der
Arbeiterinnen keimen zu lernen, konnte man die deutschen Frauen Von der Schande
freisprechen, die sie in'ihren Mänteln, Kleidern und Stickereien mit sich herum¬
tragen. Zu besondrer Empfehlung des Schriftchens können wir noch beifügen, daß
es von der Nordd. Allgemeinen Zeitung heruntergerissen worden ist.
Das Verhalten der Presse dieser Publikation gegenüber ist überhaupt be¬
merkenswert. Die Broschüre ist wegen der Wichtigkeit des Gegenstandes — es
handelt sich nicht allein darum, die obern Gesellschaftskreise darauf aufmerksam zu
machen, welche entsetzlichen Zustände in denen herrschen, die für sie arbeiten, und
welche Pflichte» ihnen und insbesondre den Regierungen und der Gesetzgebung er¬
wachsen, sondern dabei auch darum, welche ungeheure Gefahr in der Verbreitung
von ansteckenden Krankheiten in dem System der Heimarbeit für alle, die Kön-
fektionsläden für ihre Bedürfnisse benutzen, liegt — die Broschüre ist, weil
sie weithin wirken und aufklären soll, in großer Auflage gedruckt und allen Zei¬
tungen von Belang zugeschickt worden. Wenn nun ein so wunderlicher Doktrinär
wie der Leitartikler der Norddeutschen Allgemeinen Zeitung wieder nichts in der
Schrift wittert als Klassenverhetzung und kommunistische Umtriebe, so wundert man
sich nicht weiter darüber, lacht höchstens und fragt sich, wie lauge sich ihn die
Leser und die, von denen die Ofsiziositnt des Blattes abhängt, gefallen lassen
werden. Aber auffällig ist die Totenstille in allen Blättern der bürgerlichen Par¬
teien. Bis jetzt hat noch kein größeres Blatt ein Wort gesagt/') nur die sozial¬
demokratischen haben sich sofort mit der Schrift befaßt — selbstverständlich; sie stehen
ans der Seite der Notleidenden und werden nichts unbcsprochen lassen, was für diese
auftritt. Aber weshalb schweigt die bürgerliche Presse? Ginge das Schweigen von
der klaren Einsicht aus, daß weder der Einzelne noch die Gesamtheit, weder die
Regierungen noch die Gesetzgebung imstande sind, der Not, die sie alle kennen, zu
steuern, solange nicht eine bessere Grundlage für das Leben und Gedeihen des
Volkes geschaffen ist, die ihm die Möglichkeit giebt, sich selbst zu helfen, so wäre es
verständlich. Alle kleinen Mittel helfen ja nichts, das ist klar; wenn man den
Arbeitern helfen möchte, kommt man in die Gefahr, die „Konfektionsbranche" tot¬
zuschlagen , von der doch eben ein Teil des Volkes, diese Arbeiter, den Lebens¬
unterhalt erhält, so ungenügend er anch ist. Aber diese klare Einsicht muß man
bezweifeln, wenn man sieht, wie kläglich sich diese Presse der Flottenfrage gegen¬
über benimmt, und wenn man sich erinnert, wie sie von Verrücktheit faselte, wenn
man von Expansionspolitik sprach. Man muß eiuen andern Grund suchen, der sie
abhält, auf die Not der Arbeiter und auf die Gefahr der Krankheitsverbreitung
einzugehen. Sollte es wirkich die Rücksicht auf die Jnserateinnahmen sein? Die
Vermutung liegt nahe, denn kein Geschäft giebt in solchem Umfange Geld für In¬
serate und Reklame ans, wie gerade das Konfektionsgeschäft. Wenn man sieht, daß
die Zeitungen aus purer Angst vor ihren steuerzahlenden Lesern nicht wagen, den
Ton eines frischen und fröhlichen Patriotismus der Flottenvermchruug gegenüber
anzuschlagen, sondern sich mit lächerlicher Vorsicht um ein entschiednes Wort
herumdrücken, so kann man wohl denken, daß sie sich auch der Inserate der Kon¬
sektionäre wegen blind und taub stellen den Dingen gegenüber, die die Olbergsche
Broschüre aufdeckt. Das hieße also auch, von allem andern abgesehen, dieses
Geldgewinns wegen ruhig die Verbreitungsflätten der scheußlichsten und mör¬
derischsten Krankheiten weiterwirken lassen, ohne zu warnen. Was werden die
Zeitungsleser sagen, die jetzt die Olbergsche Schrift in die Hand bekommen, deren
Existenz und Inhalt ihnen verschwiegen wird? Ist die Aufgabe der Zeitungen
gelöst, wenn sie objektiv und kühl darüber berichten, daß Verhandlungen zwischen
Arbeitern und Auftraggebern in der Konfektionsbranche stattfinden, die teilweise be¬
rechtigte Forderungen der Arbeiter betreffen, als handelte es sich um Dinge, die
"uf dem Monde geschähen und niemand viel angingen? Das Publikum sieht hier
einmal, was ein Teil der Tagespresse wert ist. Und welche Macht könnte diese
Presse entfalten, wenn sie nicht in ewiger Angst vor Abonnenten und Inserenten
steckte! Diese Leisetreterei ist doch geradezu zum Lachen in dem vorliegenden Falle.
Wer braucht denn den andern nötiger, der Inserent oder die Zeitung? Hätten die
Konfektionäre die Zeitungen nicht für ihre Reklame, so wären sie nicht vorhanden.
Also die Sorge vor einem Einnahmeausfall brauchte die Tagespresse ebenso wenig
davon abzuhalten, eine Pflicht zu erfüllen, wie das Häarstrttuben des guten Mannes
in der Norddeutschen Allgemeinen vor dem Gespenst des Kommunismus, mit dem
er niemand graulich macht als sich selbst. Es ist ein Trost, daß man annehmen
kann, daß die meisten Zeitungsleser gescheiter sind als ihre Zeitungen. Wüßten die
Zeitungen, daß ihre Leser nicht so einfältig sind, wie sie denken, so faßten sie sich
manchmal wohl eher ein Herz und suchten der Wahrheit und dem, was notthut,
zu dienen. Jetzt rechnen sie mit der Mittelmäßigkeit und Oberflächlichkeit und machen
sich zu deren Diener», und das wird nicht anders, so lange sich die Leser alles
gefallen lassen und uicht in Hansen Protest erheben, Sie sollten das nur thun
ihrer Zeitung gegenüber, dann würde schon Wandel eintreten.
Der Zweikampf ist ursprünglich ein gesetzlich geordnetes Beweismittel im ge¬
richtlichen Verfahren des germanischen Rechts, dann wurde er als Akt der Selbst¬
hilfe und Rache ausnahmsweise von der öffentlichen Gewalt gestattet und wurde
fo die Fortsetzung des alten ritterlichen Fehdewesens. Je mehr jedoch die öffent¬
liche Strafe ausreichende Genugthuung für erlittene Verletzungen bot, um so mehr
wurde die im Zweikampf gesuchte Selbsthilfe und Rache hierfür zurückgedrängt,
bis sie heute nur noch bei Beleidigungen angewendet wird. Hier wird das Urteil
der Staatsgewalt noch nicht als ausreichende Sühne empfunden, und darum in
ritterlicher Weise mit der Waffe in der Hand nach alter Fehdeart Genugthuung
gefordert.
Es bietet sich vielleicht später einmal Gelegenheit, näher auf die Geschichte
des Zweikampfs einzugehen, wenn er besondres aktuelles Interesse beanspruchen
darf. Wie wir hören, ist die Möglichkeit nicht ausgeschlossen, daß das Reichs¬
gericht von seiner Auffassung abgebe, die Schlägerduelle der Studenten wie bisher
als Körperverletzungen anzusehen.
Während nun heute unser Strafgesetz den Zweikampf schlechthin für strafbar
erklärt, hat es doch unterlassen, den Thatbestand des Zweikampfs in erschöpfender
Weise zu regeln. Nicht nur den Begriff der Beleidigung, sondern mich den des
Zweikampfs, als eines nach bestimmten Regeln geführten Kampfes, setzt es voraus,
indem es auf die „hergebrachte:! Regeln" des Zweikampfs Bezug nimmt. Welches
diese Regeln seien, ist somit anderweit festzustellen.
Es fehlte bisher an einem umfassenden Werk über dieses bei einem Zwei¬
kampf zu beobachtende Verfahren und an einer systematischen und kritischen Be¬
handlung der durch die Sitte hierfür ausgebildeten Regeln. Außer der deutschen
Übersetzung des Duell Cocis von Chateanvillard, des Vaters wohl fast aller heute
geltenden Duellgebräuche, ist für Deutschland nur das Buch von R. Eisenschmidt
über die konventionellen Gebräuche beim Zweikampf zu nennen. Daher muß es
als ein dankenswertes Unternehmen angesehen werden, wenn A. Croabbon in seinem
groß angelegten Werke die Darstellung der gesamten Lehre vom Zweikampf giebt.
Ist diese auch für die Franzosen schon um deshalb von erhöhter Bedeutung, weil
diese eine besondre strafrechtliche Regelung des Duells überhaupt nicht haben und
die im Zweikampf erfolgte Tötung und Körperverletzung den allgemeinen straf¬
rechtlichen Bestimmungen unterliegt, ebenso wie die Zeugen lediglich als Teilnehmer
an diesen Verletzungen in Frage kommen, so ist doch auch für uns das Werk
interessant und lehrreich. Denn abgesehen von den sehr guten, wenn auch nicht
neuen Ausführungen über den Begriff und die einzelnen Erscheinungsformen der
Ehre und Ehrverletzung enthält es .eine umfassende und kritische Darstellung der
geltenden Regeln über das gesamte zu beobachtende Verfahre» sowohl der Duel¬
lanten selbst, als der Zeugen und Schiedsrichter, erläutert durch eine große Anzahl
von Beschreibungen charakteristischer ZwcWmpfe. Und zwar gewinnt das Werk
dadurch an allgemeinerer Bedeutung, daß es sich nicht nur auf das französische
Rechtsgebiet beschränkt, sondern, wenn selbstverständlich auch uicht in gleicher Aus¬
führlichkeit — was jedoch der zu erwartenden Fortsetzung des Werkes vorbehalten
bleibt —, die Gesetzgebung und die durch die Sitte festgestellte» Regeln der übrigen
europäischen Länder bespricht. Interessant sind hierbei namentlich die Erörterungen
darüber, welches Recht und welche Regeln bei Zweikämpfen zwischen Augehörigen
verschiedner Staaten Anwendung zu finden haben. Nicht angenehm berührt das
Hereinziehen der Politik und die Art und Weise, wie der Verfasser seinen Lands¬
leuten Ratschläge erteilt, sich in Ehrenhändeln insbesondre mit Italienern zu be¬
nehmen. Wiederholt wird von der zwischen Franzosen einerseits und „den Völkern
des Dreibunds" andrerseits bestehenden starken Antipathie und ihrer feindlichen
Politik gesprochen, die Ursache zu Zweikämpfen mit den Angehörigen dieser Nationen
geben könnten. Nun, wenn der Verfasser nach Deutschland käme, würde er sich
bald überzeuge», daß bei uns von Antipathie gegen die Herren Franzosen keine
Spur vorhanden ist. Im Gegenteil, den einzelnen Franzosen halte» wir immer
für einen höchst liebenswürdigen Menschen. Wir glauben also nicht, daß für
Deutsche und Franzosen mehr Ursache als für andre Menschen vorliegt, i» el»en
Zweikampf verwickelt zu werde». Die kleinen politischen Streiflichter wären also
besser aus dem Buche weggeblieben, um so mehr, als es doch nicht nur für fran¬
zösische Leser bestimmt ist. Wir freuen uns übrigens, nach Privatmitteiluugen des
Verfassers versichern zu können, daß er schon jetzt unsrer Ansicht ist, und daß in
einer zweiten Auflage der Politik kein Raum mehr gewährt werden wird. An¬
erkennung verdient, worauf schließlich noch aufmerksam gemacht werde» muß, die
Tendenz des ganzen Werkes. Es dient keineswegs einer Verherrlichung des Zwei¬
kampfs, sondern strebt darnach, ihn möglichst einzuschränken.
Dieses Handbüchlein ist ein kleines Kunstwerk in der Einheitlichkeit der
Schöpfung, in dem innerlich notwendigen «Aufbau, in der klaren, die rechten Bilder
brauchenden Sprache. Dazu ist es an dem besten genährt, was bis jetzt überhaupt
über Poetik gesagt worden ist, verbindet also mit der subjektiven Leistung eine ge¬
wisse objektive Gewähr. Endlich drängt es seinen Stoff so geschickt an einander,
daß auf hundertvierzig Seiten außerordentlich viel gutes steht.
Von den vier Hauptabschnitten: „Der Dichter und sein Werk," „Innere
Mittel der Dichtung als Kunst," „Äußere Mittel der Dichtung als Kunst." „Gat¬
tungen der Dichtkunst," erweckt allerdings der dritte einen lebhaften Wunsch: diese
deutsche Poetik sollte Weniger griechisch und mehr deutsch sein. Der zweiundvier-
S'gste Paragraph z. B. „Metrik und Rhythmik" beginnt: „Wir sprechen nach grie¬
chischem Gebrauch noch von Metrik (Meßkunst), als dem Prinzip der Verskunst,
obwohl man im Deutschen, durch die gröbere Natur der Sprache gezwungen, nur
wehr I^soll wohl heißen: nur nochZ im allgemeine» auf bloße dynamische Rhythmik
(Taktirung nach Stärke und Schwache) eine Verskunst gründen könnte." Das ist
ewe alte Rede, aber eine falsche Rede. Auch unsre Dichtersprache braucht ein
relativ gleiches Zeitmaß nicht nur für jeden Vers, fondern auch für jeden Takt,
auch sie erklingt nicht nur in der Zeit, sondern, wie jede andre gelnindne Sprache,
in gemessenen Zeiten. Es ist unmöglich, ihr die Zeitmessung im Prinzip zu ver¬
weigern. Sie ist ebenso ein Produkt aus geregeltem Zeit- und Kraftaufwand zu¬
gleich wie die antike, und es laßt sich nur soviel sagen, daß wir seit Opitz das
betonende Prinzip als das wichtigere anerkennen, während die Alten nur von
Messung reden. Tritt aber nicht auch bei uus die Zeitmessung in dieselbe Giltig-
keit für die Poesie, die sie im Altertum gehabt zu haben scheint, wenn wir an
gesungue Dichtung denken, die eigentliche Form doch auch unsrer Dichtung, oder
auch an ein gesprochnes Kindertanzlied? Und umgekehrt glaube mau doch nicht,
daß die Alten Laugen und absolute Hälften dazu als Kürzen im gesprochnen Verse
beobachtet hätten! Wenn der Vorwurf der gröbern Natur unsrer Sprache nicht
besser begründet wird, weisen wir ihn zurück. Was nun in dem zweiundvierzigsteu
Paragraphen folgt, richtet sich damit von selbst: „Wir können lediglich (!) nach dem
Wechsel der betonten und unbetonten, stärker und schwächer betonten Wortsilben
die Gliederung der Takte, guten und schlechten Taktteil, bestimmen. Die Griechen
und ihre Schüler, die Lateiner, besaßen in der seinen (?) Unterscheidung von lange»
und kurzen Silben in ihren Sprachen die Mittel, die Takte viel wechselvoller mit
langen und kurzen Silbennoten auszufüllen, im Prinzip unbekümmert, wohin im
Takte die Wortbetonung fiel." Durch die bloße Unterscheidung von langen und
kurzen Silben — mag sie auch noch so peinlich (etwas andres kann Borinski mit
„fein" nicht gut meinen) gewesen sein, sie würde doch nur einen Unterschied dar¬
stellen — durch diese eine Unterscheidung sollten die Alten in den Stand gesetzt
worden sein, ihre Takte wechselvoller zu gestalten? Die größere Mannichfaltigkeit
ist doch auf alle Fälle auf feiten der deutschen Sprache. Und wer wollte gar die
Unbekümmertheit, „wohin im Takte die Wortbetonung fiel," als einen Vorteil be¬
zeichnen? Schlägt diese angebliche glückliche Unbefangenheit nicht kurz gesagt aller
künstlerischen Wahrheit ins Gesicht, der Wahrheit, die ein Zusammenfallen der
wichtigen Formenteile und der wichtigen Jnhalttcile verlangt?
Aber Borinski geht in demselben Paragraphen noch weiter. Er spricht unsrer
Deklamation nicht nur die Zeitmessung, sondern anch die natürliche Musik ub.
„Während unsre Deklamation im Prinzip (I) tonlos erscheint, war die antike ton-
reich und bot schon an und für sich ohne Komposition ein lebhaft bewegtes Noten¬
bild. „Einst wird kommen der Tag" lautet nach dem Prinzip unsrer Dekla¬
mation zunächst (!) «ur in rhythmischen Schlägen:
»cmxrttt ^««^ «ra^ dagegen melodisch unterschieden etwa
Die vorsichtigen Floskeln „im Prinzip" und „zunächst" retten die „prinzipiellen"
Irrtümer dieser Zeilen nicht. Erkennt übrigens Borinski nicht in den Vierteln
und Achteln, mit denen er auch die deutschen Worte notirt, Längen und Kürzen
in unsrer Deklamation an?
le gewaltig die Ereignisse der letzten zwei Monate die öffentliche
Meinung in England mit Bezug auf die auswärtigen Beziehungen
des Königreichs aufgerüttelt haben, und wie begierig verantwort¬
liche und unverantwortliche Politiker nach Bündnissen und son¬
stigen Schutzmitteln gegen die von allen Seiten drohenden Ge¬
fahren ausspähen, dafür liefern die Februarnummern aller bedeutenden englischen
Monatsschriften die Beweise. Die sorgfältigere und leidenschaftslosere Be¬
handlung der Streitfragen, wie sie sich in hervorragenden Zeitschrift«!, findet,
verleiht natürlich dem Gesagten einen größern Wert, als ihn die flüchtig hin-
geworfnen Sätze, die in der Tagespreise der Drang des Augenblicks hervor¬
bringt, für sich beanspruchen können. Und da diese zahlreichen und eingehenden
Besprechungen Ziele und Bestrebungen Englands betreffen, von denen Deutsch¬
land sehr wesentlich berührt wird, so lohnt es der Mühe, in dem reichen
Material Umschau zu halten, um einen Einblick zu gewinnen in die Gedanken,
Hoffnungen und Pläne, die zur Zeit in der englischen Volksseele lebendig sind.
An Mannichfaltigkeit fehlt es nicht. Die Stellung Englands zum Drei¬
bunde, seine Beziehungen zu Frankreich und Rußland, die armenische Frage,
die amerikanischen Schwierigkeiten, die Verwicklung im Transvaal, die- Fähig¬
keit Großbritanniens, die Seeherrschaft zu behaupten und die Landung feind¬
licher Truppen zu verhindern, die Anschaffung von Mundvorräten im Fall
mich langen Krieges, die verhältnismäßige Kriegstüchtigkeit der Miliz und
der Freiwilligen — alle diese Gegenstände werden mit dem lebhaften Interesse
behandelt, das einer unmittelbaren Bedrängnis entspringt. Nirgends findet
sich hier ein Wiederhall von Lord Salisburhs selbstgefälliger Annahme, daß
Großbritannien, wenn es nur innerlich geeinigt sei, seine Jsolirung nach außen
als gleichgiltig ansehen könne und es mit der ganzen Welt aufzunehmen im-
stände sei. Mr. Dicey in der ^ortniZIrtl^ Nsvisv ist der einzige Schriftsteller,
der diese Jsolirung einfach als unangenehme Thatsache behandelt, die nun
einmal nicht zu ändern sei. Der einzige, der seinen frühern Grundsätzen getreu,
in der Oontsirixoriu^ Rsvisv zum Anschluß Englands an den Dreibund rut
und diesen für das einzige Bollwerk des britischen Reichs erklärt, ist Frederick
Greenwood. Hätte sich England — so führt er aus — dem Dreibund an¬
geschlossen, so wäre alles jetzt im schönsten Fahrwasser; was aber können wir
von einem Abkommen mit Nußland und Frankreich erwarten? Wir würden
keinen wesentlichen Vorteil daraus ziehen und wären zugleich endlosen In¬
triguen ausgesetzt. Ein Bündnis mit Deutschland würde in Afrika all der
Eifersucht und Feindschaft ein Ende machen, die in der berühmten Kaiser¬
depesche so plötzlich aufflammte; ein russisch-französisches Bündnis dagegen
würde nach allen Seiten hin zu unserm Nachteil ausgenutzt werden. Und
„haben die eifrigsten Geister, fragt Greenwood, die zum Abschluß eines solchen
Bündnisses hindrängen, wohl bedacht, daß dieses uns der Notwendigkeit be¬
deutend vermehrter Rüstungen nicht entheben würde, oder daß es ein ent¬
schieden aggressives Bündnis wäre, das nicht auf die Erhaltung des Friedens
auf der Grundlage des staws <zuo gerichtet Ware? oder daß es eine niedrige
Handlung sein würde, uns gegen die Mitglieder des Dreibunds zu kehren,
nachdem wir jahrelang unter seinem Schutze Sicherheit genossen haben? Aber
das sind Fragen, die jeder in seiner Weise aufwerfen und beantworten mag.
Das allerunwahrscheinlichste Ding in der gesamten politischen Spekulation ist
jedenfalls ein englisch-französisch-russisches Bündnis."
In scharfem Gegensatz zu diesen Ansichten stehen die Ausführungen eines
sich als „Genosse Ägir"(!) bezeichnenden Verfassers in der ^orwiMI^ Rsvisv.
Er beschreibt den Dreibund als einen „deutscheu Verdauungsklub" und ist der
Meinung, daß England unter allen Umständen vertrauliche Beziehungen zu
einer Macht vermeiden solle, deren Motto ist: „Laß Freund und Feind zu
Grunde gehen, wenn nur Deutschland genug zum Leben zusammenscharrt."
Österreich wird gedrückt und Italien zu Grunde gerichtet, damit sie Deutsch-
land helfen, die von Frankreich abgerissenen Provinzen zu assimiliren. Die
Unterstützung der englische» Flotte wird gewünscht, um dieses schöne Ver¬
fahren auf noch sicherer Grundlage durchführen zu können, und da wir diese
Unterstützung vorenthalten, so verliert Deutschland keine Gelegenheit, uns
Schaden zuzufügen. „Und selbst wenn es möglich wäre, heißt es dann wörtlich,
daß Deutschland in Zukunft Selbstentsagung genug aufböte, einen Kreuzzug
gegen den Vater alles Übels zu organisiren, so kann man es doch a, priori
als wahrscheinlich annehmen, daß der Sache der wahren Religion und den
Interessen des britischen Reichs am besten gedient sein würde, wenn wir auf
der entgegengesetzten Seite Stellung nähmen, womöglich im Verein mit Frank¬
reich und Nußland, und wenn das nicht geht, dann allein; unter keinen Um-
ständen aber sollten wir den sinnlosen Plan hegen, Hand in Hand mit Deutsch¬
land zu gehen." In derselben Rundschau schließt sich Canon Mac Coll der
Anklage gegen Deutschland an und verlangt ein unumwundnes und bestimmtes
Einverständnis mit Rußland.
Mr. Arnold Forster, der sich im MnetssiM Qonwr^ vernehmen läßt,
gehört wie Mr. Greenwood der liberal-unionistischen Partei an; aber ungleich
seinem politischen Waffengeführteu, ist er nicht russenfeindlich gesinnt. Ohne
Furcht wirft er den alten Jiugvgrundsatz über Bord, daß Nußland unter allen
Umständen die Besetzung von Konstantinopel verwehrt werden müsse. Ru߬
land, im Besitze von Konstantinopel, sagt er, wird uns keinen Schaden thun;
im Gegenteil, es wird zur Vermehrung unsers Handels beitragen. Was das
Mittelländische Meer betrifft, so ist die Stellung Englands dort bereits un¬
haltbar geworden. Wenn in unsrer fast verbrecherisch zu nennenden Gewohn¬
heit, unsre unbeschützte Flotte in diesem europäischen ont at sg,o der Ver¬
nichtung auszusetzen, endlich einmal eine Änderung eintritt, so wird man
hierzulande wenig Grund haben, sich zu beklagen. Als Bedingung zu einem
guten Einverständnis mit Frankreich betrachtet Mr. Forster die Räumung
Ägyptens: „Verlassen wir Ägypten, wie es uns die Ehre gebietet. Wir haben
kein Recht, dort zu bleiben, und unsre Gegenwart vermöge bewaffneter
Okkupation ist eine militärische Schwäche, die gar nicht überboten werden
kann." Und weiter: „Ziehen wir unsre Mittelmeerflotte aus der gefährlichen
Lage zurück, in der sie sich befindet. Es ist sicherlich eine Thorheit, die zwei
stärksten Abteilungen 3000 Seemeilen von einander entfernt zu halten und
dreißig Schiffe ohne eine Operationsbasis, ohne einen Schutzhafen, ohne eine
Werft für Reparaturen, kurz ohne alle Hilfsmittel, die von der neuern Wissen¬
schaft für ihre Unterhaltung als unentbehrlich bezeichnet werden, dort zu lassen."
Zieht aber England, so heißt es am Schluß, seiue Schiffe in seineu eignen
Gewässern zusammen, so wird es über eine Flotte verfügen, stark genng, das
Meer zu beherrschen.
Der talentvolle Mitarbeiter des Pariser lomxs, M. de Pressenss, kommt
Mr. Forster in derselben Rundschau zu Hilfe, indem er in einem mit vieler
Wärme abgefaßten Essay den neuen Dreibund — Frankreich, Nußland und
England — empfiehlt. Nachdem er dein „bevorzugten Lande parlamentarischer
Einrichtungen" nud seiner „ruhmreichen Litteratur" in glänzenden Perioden
gehuldigt hat, kommt er zu der Versicherung, daß nichts für England fo nutz¬
bringend sein könne, als eine gründliche und gleichzeitige Auseinandersetzung
mit Frankreich in Afrika, mit Rußland in Asien und mit beiden überall, wo
Grund zu Reibungen vorliegt. „Welche Aussichten, ruft er aus, würde dies
für die letzten Jahre des Jahrhunderts eröffnen, wenn die zwei großen liberalen
Völker des Westens, indem sie das große russische Reich in ihre Bahn hinein¬
ziehen, den Dreibund des Friedens und des Wohlwollens bildeten! Freude
Würde die Welt durchschauern, und die Menschheit würde sich von einem Alp¬
drücken befreit fühlen!" Das nimmt sich in einer nüchternen englischen Zeit¬
schrift sehr sonderbar aus.
Die bedeutendste Leistung ist wohl der Aufsatz, den Mr. Se. Loe Stranses
in der Mtiong.1 ü,sol«zvv zu dem Thema der Bündnisse veröffentlicht hat. Er
ist auch deshalb besonders bemerkenswert, weil er zeigt, wie die ganz uner¬
wartete jüngste Entwicklung der Dinge selbst einen so streng konservativen
Publizisten wie Mr. Stranses vermocht hat, der ganzen Veaconsfieldschen Tra¬
dition mit einer kurz entschlossenen Wendung den Rücken zu kehren und ohne
alle Gewissensbisse über diese Ketzerei den Vorschlag zu machen, Konstantinopel
den Russen auszuhändigen. Er geht bei seinen Ausführungen davon aus, daß
England nicht länger auf die Freundschaft Deutschlands rechnen könne.
Dadurch ist England an den Scheideweg gestellt. Sollen wir, fragt er,
um die Freundschaft Berlins zu gewinnen, unsern Anschluß an den Dreibund
anbieten, oder sollen wir uns kühn einer neuen Verbindung zuwenden? Er ist
der Meinung, daß der erstere Schritt aus verschiednen Gründen unmöglich sei,
namentlich deshalb, weil sich England dadurch verpflichten würde, Deutschland
in einem Kriege, in dem Frankreich die Verlornen Provinzen wiederzugewinnen
suchte, Hilfe zu leisten. Dies, meint er, würde das sittliche Ehrgefühl des
englischen Volks empören, daher sei an einen Anschluß an den Dreibund nicht
zu denken. Es bleibt also nur ein Einverständnis mit Rußland, und ein
solches Einverständnis sollte den Grundton der englischen Politik bilden. Warum
sollten sich auch die zwei Mächte nicht verständigen können! Eine natürliche
Feindschaft zwischen ihnen besteht nicht. Rußland ist nicht Kolonialmacht in
Afrika und kann auch nicht als Nebenbuhler Englands auf dem Weltmarkt be¬
zeichnet werden. Giebt es nun irgend etwas in den Zielen der russischen
Politik, das einem Bündnis mit England entgegenstehen könnte? Allerdings:
Rußlands sehnlichstes Verlangen ist auf Konstantinopel gerichtet. Würde aber
Rußlands Besitz von Konstantinopel England zum Nachteil gereichen? Mr.
Strachey verneint das. Für die entgegengesetzte Ansicht hat es bisher immer
als der stärkste Beweis gegolten, daß der Besitz von Konstantinopel Rußland
so stark zur See machen würde, daß England sich nicht länger im Mittel¬
ländischen Meere halten könnte. Das ist nach der Ansicht des Verfassers ein
Irrtum, und zwar hat er dafür folgende Beweisführung, die freilich auf sehr
schwachen Füßen steht: „Seemacht beruht nicht auf dem Besitz von Häfen, in
denen man seine Schiffe vor der feindlichen Flotte verbergen kann — dazu
eignet sich Konstantinopel ohne Zweifel —, sondern sie beruht auf dem Besitz
von Schiffen, die die feindlichen Schiffe schlagen können. Nußland ist eine
Gefahr für uns, wenn es eine große Flotte baut, nicht wenn es einen Ort
besitzt, wo diese Schutz finden kann. Wie soll aber der Besitz von Konstanti¬
nopel Rußland in den Stand setzen, mehr Schiffe zu bauen und eine bessere
Flotte zu haben! Schiffe zu bauen ist heutzutage einfach eine Geldsache. Nu߬
land wird seine Seemacht in einer von England zu fürchtenden Weise nur
dann verstärken, wenn es die Ausgaben für der Mühe wert hält. Aber ich
bin entschieden der Ansicht, daß Nußland diese Ausgaben viel mehr für der
Mühe wert halten wird, wenn es Konstantinipel nicht besitzt, als wenn es
Konstantinopel besetzt hält." Über verschiedne andre Rücksichten setzt sich Mr.
Stranses leicht hinweg, u. ni. auch über den EinWurf, daß Rußlands Vor-
schreiten bis Konstantinopel eine Bedrohung des britischen Handels bedeuten
könnte- Er kommt zu dein Schluß, daß England, wenn es die moskowitische
Macht nicht durch Waffengewalt an der Besetzung Konstantinopels verhindern
wolle, gar nicht besser thun könne, als Rußland gegenüber freimütig zu be¬
kennen, daß die britische Politik eine Frontverändernng vollzogen habe, und
daß England mit wohlwollendster Miene zuschauen würde, wenn sich Rußland
des begehrten Preises bemächtigte; nur müßte Rußland gestatten, daß England
im Besitz von Ägypten bliebe, und wenn es sür nötig erachtet würde, von
einer griechischen Insel, die als Marinestation dienen könnte, Besitz ergriffe.
Ans die Frage, wie Österreich zu behandeln sei, erwidert Mr. Stranses: „Das
scheint allerdings eine sehr harte Nuß zu sein; aber wir können nicht davon
abstehen, Maßregeln zur Abwehr des feindlichen Auftretens Deutschlands zu
treffen, nur weil Deutschland gerade ein Bündnis mit unserm guten Freunde
dem Kaiser von Österreich hat. Alles, was wir thun können — und das
würde wohl auch genügen—, besteht darin, daß wir Österreich erklären, daß
wenn das türkische Reich dnrch die Besetzung Konstantinopels durch Rußland
unabwendbar zerstört wird, unser Einfluß entschieden zur Unterstützung seiner
Ansprüche auf Salonichi und Makedonien geltend gemacht werden soll. Indem
wir dies thun, würden wir Österreich alles geben, was es in Wirklichkeit
braucht und würden ihm die kleinen diplomatischen Dienste, die es uns, un¬
gleich Deutschland, stets in loyalster Weise erwiesen hat, dadurch zugleich wieder
vergelten. Zwar ist es nicht imstande gewesen, uns irgend welche besonders
wesentliche Hilfe zu leiste«, aber das war nicht sein Fehler, sondern nur die
Folge seiner geographischen Lage." Aber wie wird England die Freundschaft
Frankreichs und Italiens gewinnen? Ägypten darf unter keiner Bedingung
aufgegeben werden, und Mr. Strachey giebt nun folgenden Rat: „Wir sollten
zu Frankreich sagen, daß wir in Ägypten denselben Fehler begangen haben,
den es in Tunis gemacht hat. Als Frankreich Tunis besetzte, erklärte es Eng¬
land und Italien und Europa im allgemeinen, daß es nicht beabsichtige, Tunis
zu nnnektiren oder es dauernd besetzt zu halten, und es schloß einen Vertrag
mit dem Bey ab, in dem gewisse Bedingungen für die Räumung ausdrücklich
borgesehen waren. Aber Frankreich hat gefunden, gerade wie wir es in Ägypten
gefunden haben, daß es leichter ist, ein orientalisches Land zu besetzen, als es
zu räumen, und es weiß jetzt, daß die mit dem Bey vereinbarte Bedingung
— nämlich daß nach der Meinung Frankreichs die Okkupation im Interesse
der gesetzlichen Ordnung und Ruhe nicht nötig wäre — niemals eintreten wird.
Wir müssen auseinandersetzen, daß wir genau dasselbe in Ägypten gelernt
haben, und daß es unsrerseits ein ebenso großes Verbrechen und eine ebenso
große Thorheit wäre, Ägypten zu verlassen, als es auf seiten Frankreichs sein
würde, Tunis aufzugeben." Italien darf natürlich nicht im Stich gelassen
werden. England muß es für Italien der Mühe wert machen, Ersatz dafür
bieten, sich vom Dreibunde zurückzuziehen, und muß ihm den Schutz seiner
Küsten verbürgen, und zwar dadurch, daß es sich von Frankreich versprechen
läßt, keinen Angriff zu machen, und daß es Italien mit seiner Flotte unter¬
stützt, wenn das Versprechen gebrochen würde. „Es ist nicht wahrscheinlich,
meint Mr. Stranses, daß Italien ein solches Anerbieten zurückweisen würde.
Es könnte sich dadurch vor dem Bankrott bewahren und die erdrückenden Un¬
kosten für das Heer ersparen. Der Gewinn würde in der That außerordent¬
lich groß sein. Überdies würde es leicht sein, den Wechsel in der Parteistellung
für Italien durch ein Abkommen noch anziehender zu machen, wonach es ihm
gestattet würde, Tripolis und die cyrcnäische Halbinsel in Besitz zu nehmen."
Daß es Italien nicht in den Sinn kommen wird, den wirklichen Schutz, den
ihm der Dreibund gewährt, für die mehr als problematische Hilfe Englands
aufzugeben, dieser Gedanke scheint Mr. Strachey nicht gekommen zu sein. Andrer¬
seits fühlt er aber, daß er mit einfachen Schlußfolgerungen, die sich aus einem
Vergleich der Stellung Englands zu Ägypten und Frankreichs zu Tunis er¬
geben, die Freundschaft des französischen Volks nicht gewinnen kann. Er
rechnet daher darauf, daß sich die Franzosen vielleicht durch die Hoffnung
ködern lassen, daß ihnen die Isolirung Deutschlands Gelegenheit zur Wieder¬
gewinnung von Elsaß-Lothringen geben würde, und eröffnet ihnen ferner die
Aussicht, daß ihnen England bei der zu erwartenden Teilung der Türkei fehr
gern Syrien und Palästina zusprechen würde. Aber es ist natürlich ebenso
unwahrscheinlich, daß Frankreich seine Ansprüche auf Ägypten aufgeben und
sich mit Versprechungen über Dinge, die England nicht zu verschenken hat, ab¬
speisen lassen wird, wie es gewiß-ist, daß sich Nußland nicht einfach deshalb
in den Besitz von Konstantinopel setzen kann, weil England nichts da¬
gegen hat.
Aber abgesehen von der Frage, ob die Vorschläge ausführbar sind oder
nicht, ist es an und für sich von großem Interesse, zu beobachten, wie es die
öffentliche Meinung in England, unter völliger Verleugnung der Grundsätze,
die ihr sür die britische Politik des ganzen neunzehnten Jahrhunderts als un¬
umstößlich galten, allgemein und mit anscheinendem Gleichmut als ein unver¬
meidliches Verhängnis auffaßt, daß Nußland bis an das Mittelmeer vordringt,
vorläufig allermindestens einen kleinasiatischen Hafen als Flottenstativn vom
Sultan erhält und andrerseits auch im Stillen Ozean einen eisfreien Hafen
als geeignete,? Endpunkt für seine sibirische Eisenbahn erwirbt. Vor wenigen
Monaten noch Hütte man all diese Dinge nicht mit so völliger Entsagung hin¬
genommen, wie man das jetzt infolge der Mißgeschicke thut, die die englische
Politik jüngst erlebt hat. Die Furcht vor der Feindschaft der Vereinigten
Staaten und Deutschlands hat es zu Wege gebracht, daß der Gedanke eines
Bündnisses mit Nußland, dem langjährigen Gegner, in der öffentlichen Mei¬
nung ausgesprochen werden darf. Aber für ein solches Bündnis hat England
bereits den rechten Augenblick verfehlt, und alle höflichen Verbeugungen werden
wenig helfen. Rußland ist sich wohl bewußt, daß es der englischen Politik
im Orient wie im fernen Osten eine empfindliche Niederlage beigebracht hat,
und daß es der englischen Freundschaft nicht bedarf, wenn es Zutritt zum
Mittelländischen und zum Gelben Meere haben will. Überdies wird England
weder die gewünschte Station an der chinesischen Küste noch eine Insel an den
Dardanellen erhalten, wenn es Rußland, der Türkei, China und andern Mächten
nicht offen Trutz bieten will, was es wohlweislich unterlassen wird. Die rus¬
sische Diplomatie hat eben durch ihr kalt berechnendes Vorgehen die englische
aus dem Felde geschlagen.
er Leser erschrecke nicht, was kommt, ist ein Zitat: Das neue
Jahrhundert, dem wir entgegengehen, wirft wie jedes Säkulum
seine Schatten schon weit voraus. Und wer einen für historische
Entwicklungen geschärften Blick besitzt, wird sich nicht verhehlen
^! können, daß wir in einer romantisch-reaktionären, aristokratischen
Epoche stehen, der auch die erste Hälfte des nächsten Jahrhunderts noch
gehören dürfte. Die immer schroffer hervortretende Verschärfung der Gegen¬
sätze wird auf der einen Seite eine kleine Anzahl erlesener Individuen schaffen,
die auch in der Dichtung das Recht der Persönlichkeit betonen wird, die,
skrupellos in der Wahl ihrer Mittel, auf Kosten der Schwächer« ihre geniale
Kraft frei bethätigt. Schon die zweite Hälfte unsers Jahrhunderts steht nicht
'"ehr unter dem Zeichen der breiten Masse, sondern unter dem Bismarcks
und Wagners, der Einzelgenies. Der Philosoph der Zukunft ist Friedrich
Nietzsche, der Apostel des Individualismus. Das Buch, das einen wahre»
Sturm in Deutschland hervorrief und den größten Erfolg im letzten Jahrzehnt
hatte, war Langbehns „Rembrand als Erzieher," und es predigte gleichfalls
das große Recht der Persönlichkeit. . . . An der Spitze des Reiches steht eine
scharf ausgeprägte Persönlichkeit usw.
Es übersteigt meine Kraft, diese annähernd zwei Seiten füllende Cha¬
rakteristik der Gegenwart und Zukunftsphantasie vollständig abzuschreiben; dazu
ärgern mich zu sehr die in ihr enthaltene» Oberflächlichkeiten, Widersprüche
und der auch nicht fehlende offenbare Unsinn (man nehme nur den Ausdruck
„Einzelgeuies"!). Von wem die Ausführungen stammen, ist hier gleichgiltig,
es genügt, zu sagen, daß es ein nicht mehr unbekannter Angehöriger der jüngsten
Generation ist, der sein Licht leuchten läßt. Ich will ihn auch keineswegs
bekämpfen, sondern ich habe die ganze Stelle nur angeführt, um zu zeigen,
daß — was ich schon lange befürchtete und in einem im vorigen Jahre in
den Grenzboten erschienenen Artikel „Litterarischer Erfolg" auch ausgesprochen
habe — das Wort „Persönlichkeit" jetzt in der That das beliebteste Schlag¬
wort unsrer Zeit geworden ist. Nietzsche und Langbehn mögen das auf dem
Gewissen haben, können aber, wie alle Weisen und Halbweisen, die der Wirkung
halber gezwungen sind, einzelne Begriffe und Wörter mit besonderm Nachdruck,
fast refrainartig zu gebrauchen, nicht für den Mißbrauch; viel verwendet wurde
das Wort schon in dem Kampfe gegen Caprivi, der keine Persönlichkeit sein
sollte, und neuerdings hat man es nun auf allen Gebieten aufgenommen, ver¬
langt überall Persönlichkeiten und verheißt, daß sie kommen. „Ehe die Dichtung
wieder kämpfen muß, erblüht ihr ein goldnes Zeitalter — das der großen
Persönlichkeiten," prophezeit auch der Verfasser des Aufsatzes, aus dem ich
zitirt habe. Da wird es denn freilich Zeit, dem Ausdruck ein wenig auf den
Leib zu rücken; denn Schlagwörter sind bekanntlich gefährlich, nicht bloß, weil
sie das Denken totschlagen, „Persönlichkeit" aber ist sogar ein besonders ge¬
fährliches Wort, wie schon die schönen Wendungen unsers Ungenannten von
der „Skrupellvsigkeit in der Wahl der Mittel" und der „freien Bethätigung
der genialen Kraft auf Kosten der Schwächer»" beweisen. Wer sagt uns, ob
nicht nächstens alle jungen Dentschen, die das Gymnasium verlassen und in
ihren ersten Semestern Nietzsche und Langbehn gelesen haben, Persönlichkeiten
im Sinne dieser Männer fein wollen und das Recht der Persönlichkeit ver¬
langen?
Vor Nietzsche war Persönlichkeit ein durchaus harmloses Wort, sogar ein
wenig farblos, sodaß man es meist mit Adjektiven, eine „interessante, be¬
deutende, sreie, große, kuriose Persönlichkeit," verband und nur selten einmal,
wie z. B. Goethe in dem bekannten Spruch vom „Glück der Erdenkinder,"
prägnant gebrauchte. In vielen Fällen verwendete man lieber das gute deutsche
Wort „Mann"; „er ist ein Mann," bezeichnete so ungefähr das höchste in
dieser Richtung. Aber da jetzt auch die Frauen, und natürlich mit Recht,
beanspruchen, Persönlichkeiten zu sein, so können wir das nicht mehr sagen
und müssen den Ausdruck „verweiblichen" oder doch mindestens „versächlichen."
Auch hat der Begriff „Persönlichkeit" wirklich, vom Geschlecht ganz abgesehen,
einen weitern Umfang als der Begriff „Mann," wie auch als der verwandte,
nur uach der Willensseite gehende „Charakter," er entspricht eher dem früher
auch für ihn verwendeten „Individualität." Man kann eine Persönlichkeit
und braucht noch kein Mann zu sein, wie denn unsre Dekadenten z.B. wohl
Persönlichkeiten, Individualitäten, aber nicht Männer zu heißen verlangen
dürfen. „Persönlichkeit" soll also (um die Begriffsbestimmung rasch zu be¬
enden) einfach „eigenartiger Mensch" bedeuten — daß das Wort „eigenartig"
infolge des damit getriebnen Unfugs bereits eine abgegriffne Münze geworden
ist, dafür kann ich nicht —, und die Persönlichkeiten werden zu der sogenannten
Dutzendware der Natur, den Klischeemenschen, dem Herdenvieh in den schärfsten
Gegensatz gestellt, ihnen auch, frei nach Nietzsche, ein eignes Recht eingeräumt.
Übersehen darf man endlich nicht, daß in dem modernen Begriff „Persönlich¬
keit" noch eine ursprünglich in dem Worte nicht enthaltene Nebenbedeutung
steckt: als Persönlichkeit gilt unter allen Umständen nur, was sich als solche
geltend macht, und wir geraten daher hier in eine bedenkliche Nähe des schönen
Begriffs der „Schneidigkeit." Als dieser in der allgemeinen Schätzung soweit
heruntergekommen war, daß ihn nur noch die Nah- und Dienstmädchen von
ihren Schützen gebrauchten, da mußte etwas neues oder vielmehr modernes
für die höhern Kreise erfunden werden, und da man das Nietzschifche „Über¬
mensch" nicht brauchen konnte, so verfiel man auf „Persönlichkeit." Das ist
allerdings nur meine bescheidne Mutmaßung, aber sie hat etwas für sich, und
vielleicht erleben wirs noch, daß sich jeder Kommis und jeder Friseurgehilfe
für eine „Persönlichkeit," in Anführungszeichen, versteht sich, erklärt und das
„große Recht der Persönlichkeit" für sich in Anspruch nimmt. Wer wills ihnen
auch abstreiten?
Im Grunde sind wir ja alle Persönlichkeiten, Individualitäten. Wie man
kaum zwei Gesichter findet, die sich vollständig gleichen, so weist auch das
Wesen jedes Menschen wenigstens einen individuellen Zug auf. Das ist ein
Gemeinplatz, aber der ihm auf der andern Seite entsprechende Satz, daß man
die große Masse der Menschen nach Eigenschaften und Neigungen in einen
Topf werfen kann, ist auch einer. In Wirklichkeit giebt es doch den Normal¬
menschen nicht, und die Grenze, wo dieser aufhört und der lloroo sui »engris
beginnt, ist nicht zu ziehen. Geben hervorragendere Verstcmdeskrüfte, größere
Gefühlstiefe, stärkere Willenskraft, geben besondre Anlagen das Recht auf deu
Ehrentitel „Persönlichkeit", giebt eine bestimmte harmonische Verbindung dieser
Dinge dieses Recht? Diese vielleicht am wenigsten, glaube ich; denn auf das
Unterscheidende kommt es an. Nun kann ich mich aber in einem, in manchem
von andern unterscheiden und doch in der Hauptsache wie sie sein. Im all¬
gemeinen beurteilt man die Menschen darnach, wie sie im persönlichen Verkehr
sind, und dann nach ihren Leistungen. Da treffe ich auf einen Menschen, der
mir imponirt (das ist hier das richtige Wort), und ich sage: „Das ist kein
gewöhnlicher Mensch, das ist eine Persönlichkeit"; er mag es sein, aber ich
darf doch nicht vergessen, daß ich mich da selber als sein Maß gesetzt, daß ich
nach Eindrücken schließe, die meistens nicht die Totalität des betreffenden
Menschen ergeben („man kann niemand ins Herz sehen," sagt der Volksmund),
und das thun alle, die aus persönlichem Verkehr über andre urteilen- Wo
ist also die Gewißheit? Selbst eine Abstimmung ergäbe sie nicht. Nun sagt
man: Ja, das sind so abstrakte Ausführungen, im konkreten Leben macht sich
das alles anders, die Persönlichkeit erzwingt sich ohne weiteres Geltung. Die
glänzende vielleicht, ob aber auch immer die bedeutende? Und wenn, so wird
diese Geltung oft nur negativer Art, also Feindschaft sein; Schopenhauer hat
die Stellung des hervorragenden Menschen in der Gesellschaft bei allem
Pessimismus nur zu wahr geschildert. Ferner ist auch noch in Betracht zu
ziehen, daß man als Persönlichkeit für den einen Kreis sehr viel, für den
andern gar nichts bedeuten kann. Und wie mit der Wirkung durch die Per¬
sönlichkeit an sich, steht es mit der durch die Leistungen. Es giebt zunächst
Persönlichkeiten, die überhaupt nichts leisten, nur etwas sind, dann leistungs-
sähige Menschen, die keine Persönlichkeiten sind, und endlich tritt die Gesellschaft
den Leistungen genau so gegenüber wie den Eigenschaften; die bedeutendsten
werden am meisten bekämpft, am spätesten anerkannt. Daraus folgt wohl, daß
es ein sicheres Kennzeichen, ob einer eine Persönlichkeit sei, nicht giebt, wenn
man nicht die Aufmerksamkeit, die jemandes Hervortreten erregt, dazu machen
will. Wer aber weiß, woran sich in unsern Tagen die Sensation heftet — stille,
freundliche Aufmerksamkeit giebt es kaum mehr —, der wird sich hüten, sie
für das Kennzeichen des Hervortretens einer Persönlichkeit zu erklären. Zuletzt,
wenn auch nicht immer bei ihren Lebzeiten, setzen sich große Persönlichkeiten
freilich immer dnrch, aber diese kümmern uns hier, wo es sich darum handelt,
festzustellen, wo der Begriff „Persönlichkeit" Anwendung zu finden beginnt,
noch nicht. Niemand, das ist das Ergebnis dieser Auseinandersetzung, kann
verhindert werden, sich selbst für eine Persönlichkeit zu halten, jeder thut das
auch bis zu einem gewissen Grade, denkt von sich, daß er etwas besondres
sei, und wenn das „große Recht der Persönlichkeit" erklärt wird, so wird es
jeder in Anspruch nehmen. Es ist aber freilich uur, wie wir sehen werden,
eine inhaltlose Phrase, die weiter nichts als Unheil in den Köpfen anrichten
kann, zumal in engern Kreisen, wie denen der poetischen Jugend und der
emanzipirten Frauen.
Es giebt nun Dutzendmenschen, das ist kein Zweifel, es giebt auch Per¬
sönlichkeiten, und die Persönlichkeiten sind gewaltig in der Minderzahl. Dennoch
finden sie sich überall, und wer an eine kleine Anzahl Erlesener, die die Welt
regieren, zu glauben vermag, der hat von der Geschichte und den wirklichen
Lebensverhältnissen doch mir eine blasse Ahnung. „Zur Zeit William Shale-
speares lebte eine Königin Elisabeth/' ist man jetzt mit Carlhle zu sagen
geneigt, aber was hat die doch gewiß gewaltige Persönlichkeit Shakespeares
im elisnbethischen Zeitalter bedeutet? Nicht soviel wie die eines beliebigen
Londoner Aldermans, der seiner Stellung einigermaßen gewachsen war. Und
Shakespeare wird sich auch jedenfalls nicht über diesen Alderman. wenn
er ihn kannte, erhoben haben. Bismarck hat eine ganz bedeutende Macht
gehabt, aber es gab zur Zeit seiner Reichskanzlerschaft in jedem deutschen
Bezirke Persönlichkeiten, die für ihren Kreis mehr bedeuteten als er. Ich kenne
in meiner Heimat einen Tischlermeister, der weder nach der Seite der Intel¬
ligenz und Bildung noch sonst irgendwie seine Mitbürger viel überragt, er hat
es nicht einmal zum Stadtverordneten gebracht, aber er ist eine Persönlichkeit,
und noch heute möchte ich sagen: Wenn ich nicht ich wäre, möchte ich wohl
Meister S. sein, so fest steht der Manu auf seinen Füßen, so rund und ab¬
geschlossen wirkt er als Mensch. Es ist dabei gleichgiltig, was ich als Per¬
sönlichkeit bedeute — welche Persönlichkeit, die nicht in Selbstvergötterung
aufgeht, sähe sich nicht oft genug in meiner Lage? Erzählt man doch nicht
umsonst immer noch die Geschichte von Alexander und Diogenes, und auch
aus Napoleons Leben wird eine Diogenesanekdote berichtet. Ein junger Mann,
der in Kunst und Wissenschaft lebt, ist nur zu geneigt, einer kleinen Anzahl
geistig Auserwählter die große Masse der Stumpfen und Flachen gegenüber¬
zustellen; die Wahrheit aber ist, daß aus dieser Masse überall Persönlichkeiten
wie Säulen aufragen, die zwar für die tiefste Poesie z. B. nicht immer das
richtige Verständnis haben, aber doch mit dem Leben, mit seinem Ernst im
allgemeinen besser fertig zu werden verstehen als wir „geistig Auserwählten,"
die wir unter andern Mörike für einen größern Lhriter halten als Geibel. Das
ist nie anders gewesen und wird auch nie anders sein; es giebt Aristokraten im
niedern Volke und Plebejer in den höchsten Kreisen, und wenn wir hundert
Jahre im sozialistischen Zukunftsstaate gelebt Hütten, auch dann würden die
Persönlichkeiten noch genau so wie jetzt vereinzelt überall hervortreten, von
Dutzendmenschen umgeben. Um das zu begreifen, brauche ich nicht einmal die
Darwinschen Theorien. Der Adelsmensch Ibsens, die blonde Bestie Nietzsches
und, um vom Genie hier abzusehen, eine solidere Art nicht gewöhnlicher
Menschen als diese beiden, die ich einfach als „Mann" bezeichnen möchte,
sind da und sind inutMs irwtanäi» immer dagewesen, aber es ist eine süße
Täuschung, wenn man meint, daß mau sie gewissermaßen züchten könne,
und daß ihnen, wenn sie da seien, ohne weiteres die Herrschaft der Mensch¬
heit zufalle. Es hat Zeilen gegeben, wo Rassen und Stände herrschten, und
diesen Rassen und Ständen sind herrschende Persönlichkeiten entwachsen, aber
nie habe» Persönlichkeiten als solche, und vollends gar in enger Ver¬
engung, über die Menge geherrscht, und nie sind sie ans gewisse Rassen
und Stände beschränkt gewesen. Persönlichkeit bedeutet stets Vereinzelung,
wie das das Wort Individualität ja auch ausdrückt. Aber mau hat sich
neuerdings daran gewöhnt, die Herrschaft der Aristokratie im Mittelalter und
bis zur französischen Revolution als eine Herrschaft der Persönlichkeit zu be¬
trachten, und stimmt förmlich Klagelieder an, daß die französische Aristokratie
und die alte Gesellschaft, die so herrlich zu leben wußte, durch die Revolution
untergegangen sei. Das würde vielleicht dafür sprechen, daß wir heute in
eiuer romantisch-reaktionären, aristokratischen Periode lebten, wenn nicht eben
die, die jene Klagelieder anstimmen, meist Herabkömmlinge wären. Denkt man
sich die alte Aristokratie einfach einmal ohne Besitz, so bleibt von ihrer per¬
sönlichen Herrlichkeit blutwenig übrig, und aus der Geschichte wissen wir auch
recht gut, daß sowohl der alte deutsche Ritter wie der französische Seigneur
die Persönlichkeit nicht häufiger in die Wiege mitbekam als der Bürger; ist
doch, um einen naturwissenschaftlichen Beweis zu geben, auch ein großer Teil
des Adels, vielleicht der größte, unfreien Ursprungs, und genügten doch wenige
Jahrhunderte, aus der meist aus. Unfreien zusammeugelaufnen städtischen Be¬
völkerung einen für die Kultur uicht weniger wichtigen, ja wohl wichtigern
Stand zu machen, als es die Ritterschaft und die Geistlichkeit waren. Nein,
die Persönlichkeit entspringt, wie ihr Gipfel, der Genius, Gott sei Dank, jedem
Boden, und eben darum, weil sich ihr Auftreten nie berechnen läßt, weil ihre
Entwicklung besondre Wege liebt, weil ihre Stellung stets eine Ausnahme-
stellung ist, läßt sich auch keine soziale Theorie mit ihr und noch weniger ein
Recht der Persönlichkeit konstruiren. Sie hat das Recht, dazusein und sich
geltend zu machen wie alles, was lebt, aber man kann die gesellschaftlichen
Verhältniße nicht auf sie zuschneiden, und verantwortlich für das, was sie
thut, bleibt sie immer, und zwar noch in höherm Grade als die, die das Glück
oder Unglück haben, keine Persönlichkeit zu sein; denn wem viel gegeben ist,
von dem wird auch viel gefordert.
Wohin käme man, wenn man ein besondres Recht der Persönlichkeit wirk¬
lich schüfe, wenn man sagte: du bist uicht wie die andern Menschen, also
brauchst dn dich auch um die für sie geltenden Gesetze nicht zu kümmern?
Giebt es Persönlichkeiten, die die Blüte und den Fortschritt der Menschheit
darstellen, so giebt es unzweifelhaft doch mich nicht minder starke, die die Ent¬
artung und den Rückschritt bedeuten, und wenn man einmal die Persönlichkeit
an und für sich zum Maßstab macht, so muß man diese Entarteten so gut
gelten lassen wie die andern. Richard III. und Cesare Borgia sind gewiß Per¬
sönlichkeiten, und Cartouche und Schinderhannes, soweit ich deren Lebenslauf
kenne, auch, aber sie kommen doch höchstens nur für den Tragiker in Betracht,
dem es darum zu thun ist, die höchste Kraft im Ringen mit dem Schicksal und
die Entbindung des sittlichen Gesetzes auch in verzweifelten Fällen zu zeigen.
Wie man aber jetzt so weit geht, jeden Verbrecher als Opfer der Gesellschaft
und als irgendwie Geisteskranken zu betrachten, so könnte man mit dem Rechte
der Persönlichkeit noch dahin kommen, zu behaupten, den gewaltigen Verbrecher¬
naturen sei von vornherein die Freiheit zu lassen, sich auf ihre Weise einiger¬
maßen auszuleben. Sie haben das gethan und sind zu ihrem Ziele gelaugt,
sehr wohl, aber die Lächerlichkeit ist eben, nnn eine Theorie schaffen zu wollen,
die sie gewissermaßen noch dazu beglückwünscht, statt wie bisher das Wüten
blinder Naturgewalten in ihnen anzustaunen und es soviel wie möglich zu er¬
klären zu suchen. Was für die großen Verbrecher der Vergangenheit gilt, muß
aber auch für die verbrecherischen Persönlichkeiten unsrer Tage gelten, und so
führte uns das Recht der Persönlichkeit folgerecht dahin, die großen Börsen¬
schwindler und Ausbeuter unsrer Tage, die ja auch vielfach Persönlichkeiten
sind, zu verherrlichen. Ein ganz ungesundes Interesse sür Halunken aller
Art, zumal wenn sie mit ihren Maitressen flüchtig werden, ist ja schon da.
Und zuletzt würden alle Auswüchse des Kapitalismus mit dem Rechte der Per¬
sönlichkeit zu verteidigen sein; der eigennützige Haß gegen die sozialen Bestre¬
bungen unsrer Tage, die Nietzsche und Genossen ja als schwächlich bezeichnen,
obwohl ihre Vertreter doch wahrscheinlich auch oft Persönlichkeiten sind und die
deutschen Sozialdemokraten zum Teil vielleicht sogar blonde Bestien, ließe sich
da sehr hübsch bemänteln. Ich bin nichts weniger als ein Freund der öden
Gleichmacherei, ich habe gar keine Lust Bürger des Zukunftsstaats zu werden,
aber ebenso wenig wie von veralteten Standesvorrechten will ich von einem
Rechte der Persönlichkeit etwas wissen, das nicht allen Menschen, sondern nur
einem auserwählten Teile zusteht, nicht, weil ich fürchte, daß ich zufällig nicht
für eine Persönlichkeit erklärt werden würde, sondern weil ich einsehe, das; Per¬
sönlichkeit etwas ist, was auf sozialem Gebiet nicht in die Wagschale fallen
kann, daß sie nur ans individuellem, für mich allein etwas bedeutet, mein
Glück nach dem Goethischen Spruch aber auch mein Unglück ist. Ich kann
mich als besondrer Mensch suhlen, ich kann immerhin auch mein Selbst¬
gefühl durch mein Auftreten verraten, aber es steht bei meinen Mitmenschen,
ob sie mich gelten lassen wollen oder nicht, jede Anerkennung ist freie Gabe,
und wenn ich nun gar auf meine Bedeutung hin, mag ich sie nun durch
bloße Eigenschaften oder durch Thaten und Werke verraten, besondre Rechte
verlange, so überschreite ich dadurch unbedingt den Kreis des Sittlichen,
wenn auch nicht in so grober Weise wie der eingebildete Adliche oder der
Geldprotz; denn diese verlange» Respekt vor etwas, was ihnen nur äußerlich
anhängt, während ich mir ans Grund dessen, was ich bin. Ausschreitungen
erlaube. Eingriffe freilich in meine Persönlichkeit stehen niemandem zu, der
innere Mensch darf nie und nirgends vergewaltigt werden, und wo das ge¬
schieht, ist etwas faul in den Verhältnissen. Aber der Schutz, den ich be¬
anspruchen darf, verleiht mir noch kein positives Recht. Es giebt kein Recht
der Persönlichkeit, es giebt nur Menschenrechte, die aber nicht, wie man früher
annahm, auf politischem, sondern auf ethischem Gebiete liegen.
Im allgemeinen hütet man sich, wenn man vom Recht der Persönlichkeit
spricht, alle die Menschen, die in der That Persönlichkeiten sind, einzuschließen,
man meint nur die wahrhaft bedeutenden, die großen Persönlichkeiten, die Genies,
und so redet denn auch der Mann, mit dessen Ausführungen ich diesen Aufsatz
begann, nur von einer kleinen Anzahl Auserlesener, die auf Kosten der Schwächern
ihre geniale Kraft frei bethätigen werden. Ich glaube gezeigt zu haben, daß
man diese Auslese nicht vornehmen darf; schon die alte Fabel der Gewalts¬
theorie „Denn ich bin groß und du bist klein," könnte jedermann darüber be¬
lehren — ich will mich aber doch noch mit den Rechten großer Menschen, den
„Künstler- und Königsrechten," etwas näher befassen.
Auf ethischem Gebiet giebt es weder Künstler- noch Königsrechte, hat ein
Mann gesagt, den seine Natur nicht selten in Versuchung führte, Künstlerrechtc
zu beanspruchen, und der Satz ist unbedingt zu unterschreiben. Wohl steht
der echte Künstler, das Genie überhaupt, der Welt anders gegenüber als der
Durchschnittsmensch; er sieht sie anders, wahrer und vollständiger, alle kon¬
ventionellen Schranken falle» vor seinem Blick, er ist mit einem Nervensystem
ausgestattet, das auf die äußern Eindrücke leichter und vielfach auch tiefer
recigirt als das seiner Mitmenschen, und daraus folgt, daß er sich auch leichter
verändert als sie, er hat vor allem ganz andre Interessen, oder, wie sich
Schopenhauer ausdrückt, er hat gar keine, er arbeitet nicht für einen Zweck, er
schafft. Dennoch steht er als Mensch genau so da wie alle andern, und mag
er immer die Konvention nicht achten, das sittliche Gesetz ist für ihn gemalt
so verbindlich. Es ist nichts mit der „skrupelloser Wahl der Mittel," der
freien Bethätigung der genialen Kraft auf Kosten der Schwächern. Der Künstler
hat die Aufgabe, das Leben in künstlerischen Werken ncichzngestalten — da kann
nun schon von einer skrupelloser Wahl der Mittel gar nicht die Rede sein,
und Schwächere werden dabei auch gewiß nicht vergewaltigt. Er muß freilich
leben, um gestalten zu können, er braucht namentlich in den Zeiten seiner Ent¬
wicklung, wenn er nicht zufällig vorsichtig in der Wahl seines Vaters gewesen
ist, wohlwollende Unterstützung und später mehr oder minder Erfolg, aber
nichts zwingt ihn, sich das eine oder das andre zu erschwindeln — denn darauf
läuft die skrupellose Wahl der Mittel hier doch wohl zuletzt hinaus. Es kommt
gewiß vor, daß Künstler undankbar sind, daß sie Menschen, die ihnen manches,
ja alles geopfert haben, später fallen lassen; aber weh ihnen, wenn sie das als
Künstlerrecht beanspruchen sollten! Sicherlich zahlt der Künstler für genossene
Unterstützung gewissermaßen mit seinen Werken, wenn ihn die auch keineswegs
der Verbindlichkeit entheben, seine Schulden zu bezahlen, aber wo er mehr em¬
pfangen hat als Geld, da haftet er auch mit mehr, Mensch steht da gegen
Mensch, nicht Persönlichkeit gegen Persönlichkeit. Durch unbezahlte Schulden
wird noch kein sittliches Gesetz verletzt, es sei denn in solchen Fälle», wo der
Geber selbst i» Not gerät und auf Rückerstattung rechnen muß; eine sittliche
Verschuldung tritt aber unbedingt da ein, wo menschliche Hingebung erst hin¬
genommen und dann schmählich verraten und getäuscht wird. Es ist zuzu¬
geben, daß der Künstler, jeder bedeutende Mensch, in die Lage kommen kann,
entweder ein menschliches Verhältnis oder sich selbst aufgeben zu müssen, und
es ist dann nur natürlich, wenn er das erstere wählt; denn er ist als Künstler
geboren, und man kann niemandem zumuten, Selbstmord zu begehen. Aber
ohne Schuld wird er auch in diesem Fall nicht bleiben, ein Künstlerrecht giebt
es auch hier uicht. Gerade der echte, der große Künstler wird auch, des bin
ich überzeugt, von allen Sonderrechten nichts wissen, er wird weiter nichts
als Mensch sein wollen und zufrieden sein, wenn er für sein Leben und sein
Handeln die milde Beurteilung und mögliche Entschuldigung findet, deren wir
alle bedürfe», da wir allzumal Sünder sind. Die aber, die ans ihre Künstler¬
rechte pochen, werden selten wahre Künstler, höchstens Virtuosen (im weitern
Sinne) sein, die, weil sie meist nicht wahrhaft produktiv sind, also kein mäch¬
tiges inneres Leben haben, ein bewegtes äußeres als Ersatz gewinnen wollen
und endlich mit dem Leben spielen, wie auf ihrem Instrument.
Ganz dasselbe, was von den Künstlerrechten gilt, gilt von den Königs¬
rechten. Unter „König" ist hier natürlich jeder zu verstehen, der aktiv in die
Geschicke der Menschheit eingreift, der Thatmensch gegenüber dem ncichgestnl-
tenden Künstler. Das Privatleben der Großen dieser Erde betrachtet man
schon lange ganz von dem Standpunkte, den man dem des gewöhnlichen
Bürgers gegenüber einnimmt, aber man macht bisweilen noch Versuche, zwischen
einer privaten und öffentlichen oder Staatsmoral zu unterscheiden. Die Unter¬
scheidung ist natürlich unhaltbar, wenn es anch verkehrt ist, aus engsten Ver¬
hältnissen genommene Grundsätze ohne weiteres auf große und weite zu über¬
tragen; denn alles will uuter seinen natürlichen Bedingungen beurteilt sein.
Aber Privat- und Völkerrecht haben unbedingt die gemeinschaftliche sittliche
Grundlage. Uns geht hier namentlich wieder der Fall an, wo sich eine große
Persönlichkeit durchzusetzen versucht. Ich behaupte, daß auch der Thatmensch
keineswegs skrupellos in der Wahl seiner Mittel zu sein und die Schwächern
zu vergewaltigen braucht. Aber freilich empfinden viele Menschen schon das
bloße Beherrschtwerden als Vergewaltigung. Je größer ein Mensch ist, je höher
stehen auch seiue Mittel, Napoleon I. schreckte vor dem Äußersten nicht zurück,
aber Dezembermorde wie Napoleon III. hat er denn doch nicht gebraucht;
denn die Niederkartätschung eines wohlorganisirten Aufstandes wird man doch
lvohl nicht mit dem feigen Mord unbewaffneter Volksmassen vergleichen. Bis-
mcirck ließ es auf einen Verfassungsbruch ankommen, aber er war auch bereit,
für seinen König den Weg eines Stafford zu gehen; da ist dann der sittliche
Ausgleich. Bemächtigt sich ein Thatmensch auf unrechtmäßige Weise der Herr¬
schaft, so enthebt ihn nie das Recht der Persönlichkeit der Verantwortung, oft
aber etwas andres: mag Gewalt manchmal vor Recht gehen, vielfach ist, wo
Gewalt angewendet wird, das Recht auch längst hinfällig geworden, und es
wird durch seinen Sturz kein sittliches Gesetz verletzt, nur das Weltgericht
geübt. In der Regel wird man das Handeln eines großen Thatmenschen ans
den bestehenden Verhältnissen erklären und rechtfertigen können, der Zuhilfe¬
nahme eines besondern Rechts der Persönlichkeit bedarf es gar nicht. Zuletzt
steht auch die große Persönlichkeit unter dem Gesetz der ehernen Notwendig¬
keit, ihr Wesen ist notwendig, wie es ist, und sie handelt ihrem Wesen gemäß
unter ebenfalls mit Notwendigkeit so oder so gearteten Verhältnissen. Da
dies aber auch die allerkleinste Persönlichkeit thut, so ist wahrlich uicht ein¬
zusehen, was zur Aufstellung eines besondern Rechts der Persönlichkeit
führen sollte.
Nun könnte man zum Schluß den Spieß umdrehen und mir entgegen¬
rufen: Wozu der ganze Lärm? Du sagst: eine Persönlichkeit ist notwendig,
wie sie ist, und handelt ihrem Wesen gemäß. Behaupten wir denn mehr? Ver¬
langen wir nicht gerade das als Recht der Persönlichkeit? Das eben ist der
Unsinn, daß man etwas als Recht verlangt, was doch einfache Naturnotwendig¬
keit ist, die unter keinen Umständen aufgehoben werden kann. Und noch etwas
schlimmres ist es, wenn man das, was jeder Mensch beanspruchen darf und
soweit es die Gesellschaft, die aber umzubilden ist, zuläßt, auch erlangt, zu
Gunsten einer kleinen Minderheit zu einem Reservatrecht erheben und noch mit
besondern Rechten ausstatten will, ja das für alle Menschen giltige Sitten¬
gesetz (das man ja freilich heute als etwas völlig Gleichgiltiges, ja geradezu
als Produkt der Unstttlichkeit hinstellt) für diese aufheben will, und zwar einzig
aus den: schönen Grunde, weil sich die großen Persönlichkeiten und Genies ja
doch nicht daran gekehrt hätten. Sie Habens aber doch gethan, und mag man
uns zehmal Richard Wagners Absonderlichkeiten und Napoleons und Bismarcks
Verachtung der Masse als Beweis dagegen anführen. Wir Menschen unter¬
scheiden uns gewaltig von einander, im Denken, Fühlen, Wollen, im Können
und in der äußern Stellung klaffen wahre Abgründe zwischen uns, aber eins
haben wir alle, soweit wir geistig gesund sind, das Gewissen. Von diesem
sieht aber die Verkündigung eines besondern Rechts der Persönlichkeit ab, und
so ist ein solches Recht von vornherein eine Ungeheuerlichkeit. Es ist gar
nicht nötig, mit sozialen und etwa noch religiösen, christlichen Beweisgründen
gegen die Behauptung anzukämpfen, daß, je bedeutender ein Mensch als Per¬
sönlichkeit sei, um so freier er dem Sittengesetz gegenüberstehe; dnrch das Ge¬
wissen (das meinetwegen auch ein Produkt der Unstttlichkeit sein mag, aber
jedenfalls schon seit Jahrtausenden besteht) sind wir alle gebunden im tiefsten
Kern, mögen wir uns noch so groß und frei dünken. Ganz gewiß ist eine
Erweiterung des Rechts der Persönlichkeit der Gesellschaft gegenüber möglich
und unter Umständen nötig, aber wohl verstanden, nur für alle Persönlich¬
keiten, d. h. alle Menschen, eine Erweiterung, von der das größte Genie und
zugleich sein Schuhputzer, wenn es einen hat, Nutzen zieht. Jede andre, die
einer einzigen Menschengattung, und sei es der höchststehenden, besondre Rechte
auf Grund ihrer Persönlichkeit einräumt, ist undenkbar, und zwar nicht etwa
deshalb, weil der Demokratismus dazu zu weit fortgeschritten ist, sondern weil
die Natur selbst, die uns alle mit einem Kopf und zwei Beinen und vor allem
mit einem Gewissen geschaffen hat, dagegen spricht. Auch geschichtlich ist es
nicht nachzuweisen, daß man je Persönlichkeiten als Klasse Rechte eingeräumt
hätte; immer hat man solche nur Ständen verliehen, und in diesen Ständen
gab es dann immer wieder Persönlichkeiten von jedem Gewicht, Genies und
Nullen.
Nur eine Klasse von Persönlichkeiten hat zu gewissen Zeiten und bei
manchen Völkern thun dürfen, was sie wollte — ich meine nicht die der Könige,
ich meine die der Narren. Vernünftige Leute haben auch nie ein besondres
Recht der Persönlichkeit beansprucht, noch gewünscht, daß das sittliche Gesetz
für sie aufgehoben sei, sie sind Menschen mit Menschen gewesen. Selbst die
größten Genies haben sich mit dem einfachen Menschenrecht, ihrem innern Be¬
rufe folgen zu dürfe», begnügt. Das schließt andrerseits nicht aus, daß sie
ihre Persönlichkeit nach Kräften geltend gemacht und die Dutzendmenschen,
wenn sie ihnen unbequem wurden, von sich abgeschüttelt, auch der Menschheit
als solcher allerlei wenig schmeichelhaftes ins Stammbuch geschrieben haben.
Aber Gott sei Dank, sie hatten besseres zu thun, als die Götter dieser Erde
zu spielen. Dagegen hat man das in bestimmten ausschließenden Kreisen wohl
öfter gethan und einen Kultus des Adelsmenschen, des Genies, der Persönlich¬
keit gepredigt, der wohl angethan war, schwache Köpfe zu umnebeln; in den
Himmel gewachsen sind die Bäume darum aber doch nicht. Während der fran¬
zösische Grandseigneur den Herrn der Erde darstellte, wurde der dritte Stand
alles, während die Romantiker ihrem „Ich" Altäre errichteten, blieb Goethe,
den man so gern auch zu weiter nichts als zu einem Virtuosen der Persönlichkeit
und leeren Egoisten herabsetzen möchte, nichts Menschliches fremd, und so
werden wohl auch die Persönlichkeiten der Zukunft, wenn sie, „skrupellos in
der Wahl ihrer Mittel," ihre geniale Kraft auf Kosten der Schwächern frei
bethätigen wollen, die nötige Korrektur finden. Eine wirklich große Per¬
sönlichkeit trägt diese Korrektur schon in sich selbst, eine Herrennatur in dem
Nietzschischen Sinu. die wirklich jenseits von Gut und Böse wäre, hat es nie
gegeben und wird es nie geben, es sei denn — im Irrenhause.
in Morgen des Sylvestertages 1874 wurde ich über Land zu
einem Kranken geholt. Es lag tiefer Schnee, und wir konnten
nur Schritt fahren, sodnß es gegen drei Stunden dauerte, ehe
wir hinkamen. In sehr mißmutiger Stimmung kehrte ich heim.
Da hätte man nun einmal, sagte ich mir, so ziemlich einen ganzen
Tag dienstlich zugebracht, aber womit? Im Schlitten sitzen ist doch keine Leistung.
Und das Abendmahl spenden, mit dem Kranken — es war kein Sterbender —
ein wenig plaudern, das ist doch auch eigentlich keine Leistung; der Pastor
des Ortes hätte nur eine halbe Stunde dazu gebraucht. In dieser lebhaften
Empfindung eines unbefriedigten Daseins hatte ich zwei Briefe zu erbrechen.
Der eine kam von der Regierung. Diese fand es damals angemessen, neben
der Peitsche doch auch ein wenig das Zuckerbrod zu Probiren, und arbeitete an
der Aufbesserung schlechter Pfarreien königlichen Patronats. Ich hatte eine
Anzahl Berichte und Berechnungen einzuschicken gehabt und war vom Landrat
vernommen worden. Der Brief brachte mir nun die erfreuliche Kunde, daß
beschlossen worden sei, die Knratie Harpersdorf aufzubessern um 11 Thaler
13 Silbergroschen 7 Pfennige oder so ähnlich. Der elf Thaler entsinne ich
mich genau; von den Silbergroschen und Pfennigen weiß ich nur, daß welche
dabei, und daß die Zahlen möglichst ungerade waren; es war der Betrag, der
an dem bisherigen Pfarreinkommen zu 500 Thalern fehlte. (Zu dem Ent¬
schlüsse, das geringste Einkommen der katholischen Geistlichen auf 1800 Mark
festzusetzen — das der evangelischen auf 2400 Mark —, hat sich die Negierung
erst ein paar Jahre später aufgeschwungen.) Man wird begreifen, daß diese
Aufbesserung nicht eben geeignet war, die gedrückte Stimmung in eine gehobne
zu verwandeln. Wer weiß, ob nicht eine andre Ziffer, etwa 111 statt 11,
eine Stimmung erzeugt hätte, in der ich den zweiten Brief gleichmütiger ge¬
lesen und beantwortet haben würde. Dieser zweite kam vom ErzPriester und
enthielt ein Rundschreiben nebst einer Liste, in die Beiträge für die neu aus¬
geweisten Priester eingezeichnet werden sollten. In dem Rundschreiben hieß
es u. a., der Fürstbischof habe bei der Weihe gesagt, es schmerze ihn tief, daß
er den Neupriestern nicht einmal den Bissen Brot gewähren könne; so wolle
man denn dem Hochwürdigsten (wenn ich nicht irre, zu irgend einem Jubiläum,
das er nächstens feiere) die Freude machen usw. Ich schrieb neben meinen
Namen in die Liste: Wenn einer der brodlosen Amtsbruder zu mir kommt, so
will ich meinen kargen Bissen Brot mit ihm teilen, aber Geld zeichnen zu einer
Sammlung, die eine Demonstration gegen die Staatsgesetze bedeutet — nimmer¬
mehr! Ich fügte dann noch in einem besondern Briefe an den ErzPriester bei,
der Bischof habe dnrch die letzte Weihe von Neupriestern gegen die kanonischen
Gesetze verstoßen. Da nämlich im Mittelalter die vielen olsrioi v^g.dunäi
großes Ärgernis gaben, so haben die Konzilien Beschlüsse gefaßt, die ins kano¬
nische Recht übergegangen sind, wonach der Bischof keinem die höhern Weihen
erteilen darf, dessen anständiger Lebensunterhalt nicht entweder durch das eigne
väterliche Vermögen oder durch ein kirchliches Benefizium gesichert ist. In der
Regel wird erfordert, daß der zu Weihende schon ein Benefizium, eine Pfarr-,
Domherrn- oder Klosterpfründe habe, die ihm das Recht auf die Bitte um die
Priesterweihe verleiht, und für diesen tiwlus ovre>u'Al tritt der tiwws Mri-
w-onü nur subsidiär ein (Oono. "IM. Lesslo XXI, Laput II. Schon die Über¬
schrift des Kapitels ist ein vernichtendes Urteil über die Handlungsweise der
Bischöfe; sie lautet: ^rosutur g. sacris orcliuibv.8, cM von IiÄvcmt, rucks ol?<zrö
IMsmt; aber freilich: silöirt IsAes iutsr arma). Später, als die Kirchenregie¬
rung immer büreaukmtischer und das Institut der Hilfsgeistlichen neu ausge¬
bildet wurde, erfand man für diese noch den tiwlus wöiisas. Dieser Tischtitel
wird entweder von einem Privatpatron verliehen und besteht darin, daß sich
dieser verpflichtet, dem zu Weihenden eine seiner Pfarreien zu geben, sobald
sie frei wird, oder ihm, wenn er vor einer solchen Vakanz brotlos wird, ein
Jahrgeld zu zahlen. Gelingt es dem zu Weihende» nicht, bei einem Privat¬
patron anzukommen, so muß ihm der Bischof selbst den Titel gewähren. Für
gewöhnlich bedeutet dieser bischöfliche Tischtitel eine Anweisung auf das Eme¬
ritenhans; diesen Titel habe auch ich, und wäre ich katholischer Priester ge¬
blieben, so süße ich jetzt, weil ich „untauglich" bin, als „Stübelpater" in einem
Stübchen des Priestcrhauses zu Neisse. Die sämtlichen während des Kultur¬
kampfs geweihten Geistlichen konnten darin freilich nicht untergebracht werden,
aber, das schrieb ich dem ErzPriester noch, wenn der Bischof, anstatt die Vor¬
schrift des kanonischen Rechts zu beobachten und den vermögenslosen unter den
Kandidaten zu sagen: Ich kann euch jetzt nicht weihen; suchet ein Unterkommen
in anßerpreußischen Diözesen oder wendet euch einem andern Lebensberufe zu!
die jungen Leute durchaus weihen wollte, so hatte er die Pflicht, sie aus seiner
eignen Tasche zu erhalten, und diese Tasche hätte ausgereicht. Denn sein Ein¬
kommen, das wußte ich von meinem Freunde, dem Schulrat A., belief sich auf
150000 Thaler. Wenn er jedem Neupriester ein Jahrgeld von 400 Thalern
zahlte, so konnte er mit 120000 Thalern dreihundert stellenlose Neupriester
erhalten, und so hoch ist ihre Zahl, so viel ich weiß, nicht angeschwollen, denn
selbstverständlich nahm die Zahl der Theologen nach Ausbruch des Kultur¬
kampfs reißend ab. Auch sind die Theologen später — das Alumnat wurde
ja auch aufgelöst — wirklich in außerpreußische Diözesen gegangen, um dort
die Weihen zu empfangen.
Wie gewöhnlich in solchen Fällen, überlegte ich erst nach Absendung dieser
Briefe, was ich wieder angerichtet hatte, und sah nun das Ende meiner katho¬
lischen Zeit unaufhaltsam Herannahen. Die Aktenstücke aus dieser letzten Krisis
finde ich nur noch zum Teil vor. Ein Schreiben des ErzPriesters vom
26. Januar 1875 lautet: „Euer Hochwürden teile ich ergebenst mit, daß ich
Ihrem Wunsche gemäß Ihr Schreiben vom 2. des Monats und die Auslassung
auf dem Zikular allen Konzirkularen des hiesigen und einigen des Liebenthaler
und des Naumburger Archipresbyterats, mit denen ich zusammengekommen bin,
vorgelesen habe. Alle haben sich sehr darüber betrübt und mir beigestimmt,
daß es meine Pflicht sei, Ihr Schreiben an die Hochwürdige Behörde einzu¬
reichen. Letzteres gedenke ich, so schwer es mir auch fällt, in etwa acht bis
zehn Tagen zu thun, da keine Aussicht ist, daß Sie mir erklären würden, Sie
seien in Ihren Äußerungen zu weit gegangen; denn wie dem Gelbsüchtigen
alles gelb, so erscheint Ihnen alles, was die Hochwürdigsten Bischöfe thun,
schwarz. Recht schmerzlich bewegt, zeichnet ergebenst
Dieser Nachfolger T.s im Erzpriesteramte war Pfarrer von Löwenberg
und ein ausgezeichneter Charakter. Er hatte ein sehr dürftiges Einkommen
und widmete seine ganze Kraft und die Geldmittel, die er zusammenzubringen
wußte, der Schule und Liebcswerken, namentlich einem Waisen- und einem
Krankenhause. In Voraussicht dessen, was min kommen mußte, beschloß ich,
mich dem Bischof Reinkens zur Verfügung zu stellen, weiß aber nicht mehr,
wann ich diesen Entschluß dem ErzPriester kundgegeben habe. Daß er sofort
ausgeführt worden ist, ersehe ich aus einem Schreiben des altkatholischen
Bischofs vom 31. Januar; ich hatte ihm zugleich mitgeteilt, daß ich mit Rück¬
sicht auf meine kränkliche Mutter, der ich einen Umzug bei rauhem Wetter
nicht zumuten könne, bis zum 1. Mai in Harpersdorf zu bleiben gedächte.
Dasselbe scheine ich, einem noch vorhandnen Schriftstücke nach zu schließen,
dem ErzPriester geschrieben und ihn gebeten zu haben, das unvermeidliche bis
dahin zu verschieben.
Am 26. Februar kam der ErzPriester. Meine Mutter, die von den Dingen,
die vorgingen, keine Ahnung hatte, war sehr erfreut. Während sie Kaffee
bereitete, eröffnete mir Aust, daß ich exkommunizirt sei, und daß er den Auf¬
trag habe, die Exkommunikation auch den beiden Kirchenvorstehern mitzuteilen.
Er fragte nach den Häusern, und da sich die Lage nicht leicht genau beschreiben
ließ, erbot ich mich, mitzufahren. Ach nein, sagte er, das wäre doch wohl
zu viel verlangt. Dann fragte er: Glauben Sie an die Gottheit Christi? —
Ja, antwortete ich. — O, dann kommen Sie wieder zu uns! — Hierauf gingen
wir ins Zimmer der Mutter und tranken mit ihr Kaffee. Bei anbrechender
Dunkelheit gingen wir, wie gewöhnlich, auf ein Plauderstündchen zum Kantor
hinüber. Meine Mutter, die am Fenster saß. rief plötzlich: Da kommen ja
Jäkel und Scholz im Schnee gewatet, was wollen denn die heute noch? Ich
log: Es wird wegen der Kirchenrechnung sein, und ging hinaus, sie zu em¬
pfangen. Ich führte sie in Begleitung des Kantors, den ich mit drei Worten
von dem Geschehenen unterrichtete, in die Schulstube. Sie waren ganz zer¬
schmettert und sagten nicht viel, nur, daß sie eben den Befehlen des Bischofs
nachkommen, die Gemeindemitglieder in Kenntnis setzen und für ihre Person
meinen Gottesdienst meiden würden. Dann nahmen sie Abschied und gingen.
Nachträglich erfuhr ich. daß Aust zuerst in ein falsches Haus geraten war und
dort die Exkommunikation verlesen hatte. Eine Frau hatte ihm dann gesagt:
Sie wollen wahrscheinlich zum andern Jäkel; wir sind nicht katholisch. Im
richtigen Hause hatte dann die Mutter Jäkel gerufen: O Jekersch. wenn der
Herr a gutes Wort giebt, do darf a doch wull bleiben! A is halt doch sihr
a rechtschoffner Herr und immer der erste el der Kerche. Ja, das gute Wort
will er eben nicht geben, hatte der ErzPriester erwidert.
Nun ließ sich die Sache vor der Mutter nicht länger verbergen. Es fiel
nur doppelt schwer, davon anzufangen, weil sie den ganzen Tag bis zum
Abendessen ungewöhnlich heiter gewesen war. Nach der Mahlzeit sagte ich:
Mutter, es steht uns eine große Veränderung bevor. Sofort erriet sie die
Bedeutung der beiden Besuche und brach in Thränen aus. Nachdem der erste
Sturm vorüber war, kamen wir dann natürlich auch auf das Materielle zu
sprechen. Ich versicherte, daß es ihr an nichts sehlen solle, und erzählte ihr,
was mir Reinkens in Aussicht gestellt habe. Aber darauf gab sie nichts: Ach,
meinte sie, was werden dir denn die dummen Altkatholiken bieten können! Ich
erwiderte, wenn meine Erwartungen nicht in Erfüllung gehen sollten, so ge¬
traute ich mir, mit der Feder das Nötige zu verdienen. Was willst du denn
schreiben? sagte sie (du dummer Kerl, dachte sie ohne Zweifel, sprach es aber
mit Rücksicht auf meine geistliche Würde nicht aus), was willst du denn
schreiben? 's ist ja schon alles geschrieben! Damit hatte sie freilich Recht;
aber die Welt ist nun einmal so närrisch, daß sie das tausendmal geschriebn
immer wieder geschrieben haben will und anch noch Geld dafür bezahlt, sodaß
man thatsächlich von der Feder leben kann. Ich äußerte dann noch, in nnserm
Heimatstädtchen, wo ihre Seele eigentlich mehr weile, als am jetzigen Auf¬
enthaltsort, werde sie sich gewiß recht behaglich fühlen. Sie war eine jener
spröden Frauen, die ihre Zuneigung nicht äußern können und Versuche der
Kinder, sie zu liebkosen, schroff abweisen, was eine herzliche Vertraulichkeit
erschwert; aber ich werde nie den Ton vergessen, in dem sie auf jene Be-
merkung erwiderte: Ich will ja nichts, als bei dir sein! Da wurde es mir
zweifelhaft, ob ich recht gehandelt hätte. Indes, wa6 hilft die Grübelei über
geschehene Dinge, die sich nicht ungeschehen machen lassen!
An demselben Abend noch schrieb ich an den Fürstbischof: „Heut Nach¬
mittag war der Herr ErzPriester Aust bei mir, um mich von einer Verfügung
Euer Fürstbischöflichen Gnaden in Kenntnis zu setzen, laut welcher ich der
Exkommunikation und Suspension verfallen sei und aufgefordert werde, mein
Benesizium niederzulegen. Letzteres würde ich auch ohne Aufforderung im
Laufe der nächsten Monate gethan haben und thue ich insofern sofort, als ich
zugleich mit diesem der königlichen Negierung zu Liegnitz als Patron meinen
bevorstehenden Weggang anzeige. Da ich jedoch die Rechtskraft der über mich
verhängten Zensuren nicht anzuerkennen vermag, gedenke ich meine Amts-
sunktionen auszuüben, solange ich hier verweile. Hierzu glaube ich schon meiner
Gemeinde verpflichtet zu sein, weil unter den obwaltenden Umständen eine
provisorische Verwaltung der Stelle bis zum Amtsantritt meines Nachfolgers
unmöglich ist." (Die definitive Besetzung war damals, wo das Spcrrgesetz
noch nicht erlassen war, noch möglich, weil die Negierung Patron war, die
Anzeigepflicht des Bischofs daher wegfiel.)
Die im Alumnat tief eingeprägte Vorstellung, daß ein Exkommuuizirtcr,
der die Messe liest, damit ein Sakrilegium, also die furchtbarste aller Sünden
begehe, saß doch noch so fest, daß mir am andern Morgen bei der Messe die
Kniee schlotterten. Im Laufe des Tages kam das Kirchenblatt, das einen
heftigen Angriff auf mich enthielt. Ich schrieb an demselben Tage folgendes
an die Redaktion der Schlesischen Zeitung:
Es ist mir in der Seele zuwider, tels große Publikum mit meinen persön¬
lichen Angelegenheiten behelligen zu sollen. Da aber die neueste Nummer des
Schlesischen Kirchenblatts meinen „Abfall" benutzt, um die altkatholische Sache herab¬
zusetzen, so halte ich mich zu folgenden Bemerkungen verpflichtet, um deren Auf¬
nahme ich ergebenst bitte. „Jentschs dreistes und komisch-unvernünftiges Poltern
gegen Unfehlbarkeit und Konzil ist noch in frischer Erinnerung." Möglich, daß ich
mich komisch ausgedrückt habe; ich bin kein Klassiker. Aber mein Wille war gut,
und ich hätte gewünscht, nicht nur poltern zu können, sondern mit der Donner¬
stimme eines Luther das deutsche Volk aufzuwecken aus der Lethargie, mit der es
das römische Unheil über sich ergehen ließ, das ich in seiner vollen Größe gleich
anfangs begriffen habe. „Indessen leistete er den kirchlichen Forderungen Genüge."
Das habe ich nicht gethan, sondern in meinem teilweisen Widerruf viel weniger
ausgesprochen, als man von mir verlangte, „und als er kurze Zeit darauf die
Knratie Harpersdorf erhielt, gab er der kirchlichen Behörde so befriedigende Er¬
klärungen bezüglich des Vatikanischen Konzils, daß dieselbe kein Bedenken tragen
konnte, ihm die kleine Seelsvrgstelle anzuvertrauen." Als Kaplan in Grüssau,
unter der Botmäßigkeit eines Pfarrers, war ich beständig der Gefahr ausgesetzt,
gemaßregelt zu werden. Ich wußte, was das heißt, von Liegnitz her: von den
Katholiken wie ein Aussätziger gemieden werdeu, von gebildeten Protestanten sich
sagen lassen müssen, daß man „sehr edel" gehandelt, aber doch eigentlich eine Dumm¬
heit begangen habe, bei keinem Menschen wirksame Unterstützung finden, ohne An¬
schluß an jemand, ohne einen Pfennig Geld in der Tasche und ohne die geringste
Aussicht auf eine Existenz herumlaufen. Das alles indes hätte ich gern ertragen,
wenn ich allein gestanden hätte. Ich wurde unausgesetzt vou meinen Verwandten
bestürmt. Meine kränkliche Mutter hing ganz von mir ab. Sie betrachtete zudem
gleich den meisten Katholiken eine Trennung von der Hierarchie als einen Abfall
von Gott. Eine ihr mißfällige Entscheidung konnte sie aufs Krankenlager werfen,
Was dann anfangen? Ich mußte also zunächst eine relative Sicherheit suchen in
einer selbständigen Stellung. Ich erhielt die hiesige Kuratie. Das geistliche Amt
aber machte die Zusendung des Dekrets von meiner Erklärung abhängig, „daß ich
mich den Entscheidungen des Vatikcmums rückhaltlos unterwerfe." Unter dem Druck
der oben dargestellten Verhältnisse, hermetisch abgeschlossen von jeder sympathischen
Einwirkung, in einem an Unzurechnungsfähigkeit grenzenden Zustande der Ver¬
wirrung gab ich die verlangte Erklärung ab. Sie war eine Lüge. Ich habe es
mir nie verhehlt und habe sie bitter bereut. Es fehlte nicht an Material zu So¬
phismen, um die Lüge hinwegzudisputiren. Ich wußte, daß es den Breslauer
Herren nicht um meinen Glauben, sondern bloß um meine Unterschrist zu thun
sei. Ich wußte, daß in meiner nächsten Nähe mehrere Geistlichen die sogenannten
Adhäsionserkläruugeu unterschrieben hatten, ohne an die Unfehlbarkeit zu glauben;
daß die Protestbischöfe sich unterworfen und nach der Unterwerfung so wenig ge¬
glaubt haben als vorher, daß demnach „sich unterwerfen" und „glauben" im ultra¬
montanen Sprachgebrauch nicht identisch sind. Ich wußte, daß der Herr Fürst¬
bischof vou Breslau noch immer „sehr schlecht auf Rom zu sprechen" sei, und daß
darum seinem ultramontanen Sekretär „der Boden unter den Füßen brenne." Ich
durfte demnach hoffen, daß sich der genannte Herr noch zum Widerstande gegen
Rom ermannen werde; dann hätte meine Unterwerfung nichts andres als ein vor¬
läufiges Schweigen bedeutet. Aber ich habe das alles mir felbst gegenüber nicht
zur Beschönigung meines Fehltritts benutzt. Ich habe seitdem ein böses Gewissen
gehabt. „Und jetzt erst, nach beiläufig vier Jahren, riskirt Jentsch den offnen
Abfall von der Kirche; wahrscheinlich erscheint es ihm jetzt gefahrloser für die eigne
teure Person." Erstens giebt es jetzt eine kirchliche Organisation, der ich mich
««schließen kann, damals gab es keine. Zweitens ist jede Aussicht auf eine Reaktion
gegen Rom unter legaler Führung (legal im juridischen Sinne genommen; vor
dem Gewissen ist die gegenwärtige Führung gerechtfertigt) geschwunden. Drittens
ist es mir jetzt eher möglich als damals, die Existenz meiner Mutter zu sichern.
"Wahrscheinlich hat er bereits eine »altkatholische« Sinekure bei Herrn Reinkens
in Aussicht." Natürlich habe ich den altkatholischen Bischof, Herrn Reinkens, ersucht,
mir zu einer altkatholischen Pfarrei zu verhelfen. Was in aller Welt sonst sollte
denn ein Geistlicher thun, der nie einen andern Glauben als den altkatholischen
gehabt hat, wenn es altkatholische Pfarreien giebt? Ob ich eine erhalten werde,
weiß ich noch nicht; auch uicht, ob es im bejahende» Falle eine Sinekure sein wird.
Nur das weiß ich, daß meine hiesige Stelle eine Sinekure ist, daß fast alle
Stellen, die ich innegehabt habe, solche gewesen sind ^Liegnitz machte eine Aus¬
nahme^, daß unter alle» Qualen, die ich im Leben kennen gelernt, die Qual er-
zwungner Unthätigkeit die größte ist, und daß ich sehnlichst wünsche, mir mein Brot,
«"statt wie bisher mit Müßiggang, endlich einmal mit ehrlicher Arbeit zu ver¬
dienen. „Unserm Gewissen und unsrer Mannesehre wäre eine solche Situation
unerträglich." Meinem auch; eben deswegen mache ich ihr ein Ende.
Auf die heftigen Erwiderungen der katholischen Blätter habe ich nichts
mehr erwidert.
Sei es nun, daß die Kirchvntcr mit der Ausrichtung ihres Auftrags
bis zum nächsten Sonntag nicht fertig wurden, sei es, daß manchen die Neu¬
gier trieb, oder daß die Leute meinten, einmal sei keinmal, die Sünde werde
wohl nicht unverzeihlich sein — der nächste Sonntagsgottesdienst war noch
ziemlich besucht. Nach der Predigt verlas ich folgende Erklärung:
Woche unter uns ereignet hat. Ich halte es für meine Pflicht, euch die Lage klar
zu machen. Ihr wißt, daß ich in den Grundwahrheiten des katholischen Glaubens
mit euch eins bin; ihr wißt aber auch oder habt wenigstens gemerkt, daß ich in
der Beurteilung der kirchlichen Zeitfragen von der Auffassung der geistlichen Be¬
hörden abweiche; ich erkenne die Beschlüsse des Vatikanischen Konzils nicht an und
halte die von der deutschen Reichs- und preußischen Staatsregierung erlassenen Ge¬
setze, die kirchliche Angelegenheiten zum Gegenstande haben, für giltig. Ihr werdet
vielleicht sagen: bei dieser Gesinnung hättest du eine römisch-katholische Seelsorg-
stellung gar nicht annehmen sollen. Darauf würde ich antworten: als ich hierher
kam, hatte sich die Lage noch wenig geklärt und war noch ein Ausgleich der ent¬
gegengesetzten Richtungen zu hoffen. Mittlerweile sind die Gegensätze so schroff ge¬
worden, daß man fie als unvereinbar und unversöhnlich bezeichnen muß. Unter
diesen Umständen ist es mir, wenn ich ein ehrlicher Mann bleiben will, nicht mehr
möglich, mein hiesiges Amt zu behalten. Es wären, wollte ich hier bleibe», nur
drei Fälle möglich, Entweder ich trete mit meiner Überzeugung offen hervor,
dann ist die Exkommunikation unvermeidlich. Oder ich verheimliche meine von der
eurigen und der des Diözesanbischofs abweichende Überzeugung ganz und gar, dann
bin ich ein Heuchler. Oder ich handle und rede mit vorsichtiger Zurückhaltung und
diplomatischer Zweideutigkeit, dann bin ich nicht viel besser, und überdies fehlt jenes
gegenseitige rückhaltlose Vertrauen, ohne welches die Wirksamkeit des Seelsorgers
gar nicht denkbar ist. Also mußte ich endlich zu dem Entschlüsse gelangen, mein
hiesiges Amt aufzugeben. Ich habe eine Gelegenheit wahrgenommen, den Herrn
Erzpriester vou meinem Entschlüsse in Kenntnis zu setzen, zugleich aber erklärt, daß
ich bis zum Amtsnutritt meines Nachfolgers ruhig fortzumntiren gedenke. Ich hoffte,
die geistliche Behörde würde, um ärgerliche Vorfälle zu vermeiden, mit ihren Ma߬
regeln bis zu meinem Abgange warten. Diese meine Hoffnung hat sich nicht er¬
füllt. Der Herr Fürstbischof hat durch den Herrn Erzpriester mir und den Kirchen-
Vorstehern eröffnen lassen, daß ich exkommunizirt sei, und daß Katholiken sündigten,
wenn sie dem vou mir abgehaltnen Gottesdienste beiwohnten. Aus Gründen, die
ich euch uicht auseinandersetzen darf, erkenne ich die Rechtskraft der Exkommuni¬
kation nicht an. Demnach steht die Sache so: ich gedenke den Gottesdienst in ge¬
wohnter Weise abzuhalten und alle Obliegenheiten meines Amtes zu erfüllen, bis
mein Nachfolger eintreffen wird, d.i. vielleicht zwei bis drei Monate hindurch.
Die geistliche Behörde sagt: wenn ihr diesem Gottesdienste beiwohnt, so sündigt
ihr. Stellvertretung ist unter den obwaltenden Verhältnissen nicht möglich; ein von
der Staatsregierung nicht anerkannter Vertreter würde an der Ausübung seiner
Funktionen polizeilich verhindert werden. Es sei ferne von mir, daß ich Über¬
redungskünste anwendete, um euch zur Teilnahme um dem von mir abzuhaltenden
Gottesdienste zu bewegen. Wer es vor seinem Gewissen verantworten zu können
glaubt, der komme, er wird nichts andres finden als bisher; wer glaubt, das sei
Sünde, der bete zu Hause oder gehe in eine benachbarte Kirche. Einige Kinder
werden von mir für die heilige Kommunion vorbereitet; deren Väter bitte ich, mir
zu erklttreu, wie sie sich zu verhalten gedenken: ob sie die Kinder weiter in meinen
Unterricht schicken wollen oder nicht, und im bejahenden Falle, ob sie wünschen,
daß ich auch die heilige Kommunion am Weißen Sonntag abhalte, oder ob sie auf
meinen Nachfolger warten wollen. Ebenso bitte ich die Väter der Ministranten,
mir zu erklären, ob sie ihren Söhnen gestatten wollen, daß sie mir ministriren oder
nicht. Denen, die etwa heute meinen Gottesdienst zum letztenmale besucht haben,
danke ich herzlich für das mir geschenkte Vertrauen und Wohlwollen. Gedenket
meiner im Gebet, wie ich eurer gedenken will.
Die Anwesenden haben das wesentliche dieser Erklärung den benachbarten
Geistlichen berichtet, durch die es in die katholischen Blätter gekommen ist. die
sich anerkennend darüber aussprachen.
Nach Tische erschien der Kantor bei mir. ein braver, viel duldender
Mann — er hatte Gichtknoten um Händen und Füßen und konnte kaum uoch
gehen —, und nahm unter Thränen von mir Abschied; wir hatten sehr gut mit
einander gelebt. Er bat mich, ihn seiner kirchlichen Obliegenheiten zu entbinden
— nur das Läuten, das ja nicht im exekrirten Sanktuarium, sondern in der
Vorhalle geschieht, wolle er noch weiter besorgen—, und teilte mir mit, daß
die Väter beschlossen hätten, ihre Kinder weder in den Erstkommunikanden-
unterricht noch zum Ministriren in die Kirche zu schicken. Nur ein Schneider
stellte mir seinen Sohn als Ministranten zur Verfügung. Der Mann besuchte
dann auch meinen Gottesdienst weiter. Außerdem kamen meine Mutter, meine
Köchin, ein paar alte Frauen") (Empfängerinnen der Stiftungsgroschcn und
hie und da eines Tellers Suppe) und einigemal die (protestantische) gnädige
Frau vom Niederhofe. Am zweiten Sonntage nach Ostern wurde mir bei der
Verlesung des Evangeliums vom guten Hirten, besonders bei der Stelle: „Der
Mietling aber sieht den Wolf kommen, verläßt die Schafe und flieht, und der
Wolf raubt und zerstreut die Schafe," und in der Predigt darüber sehr un¬
behaglich.
Es versteht sich von selbst, daß ich nicht einen Finger gerührt und nicht
ein Wort gesprochen habe, um den Kantor oder irgend ein andres Mitglied
der Gemeinde zu mir herüberznziehn; das würde ich für ein Verbrechen ge¬
halten haben. Das Gefüge kirchlicher und religiöser Vorstellmigeu, in dem
die Seele des gemeinen Mannes die Gleichgewichtslage gesunden hat, zu er-
schüttern, ist nur dem erlaubt, der der Überzeugung lebt, daß das Volk mit
seinem bisherigen Glauben zeitlichem oder ewigem Verderben verfalle, und daß
er, der Apostel, den einzige» Weg zum zeitlichen oder ewigen Heil weise. Einmal
wurde ich aufgefordert, eine Beerdigung vorzunehmen; der evangelische Kantor
war so freundlich, sie mit seinen Singjungen zu verschönern. Sonst ist nichts
vorgekommen. Ob etwa Nachbargeistliche Krankenbesuche oder Taufen verrichtet
haben, daran kann ich mich nicht mehr erinnern. Nur dessen entsinne ich mich
noch, daß der Propst Hühner den Herrn von Kamptz gefragt hat, ob ich ihn
denunziren würde, wenn er in die Lage käme, in Harpersdorf kirchliche
Handlungen vornehmen zu müssen. Darüber konnte ihn Kamptz, der mich genau
kannte, vollständig beruhigen. Das Denunziren liegt meinem Geschmack so fern
wie möglich, und die Unvernunft der Maigesetze empfand vielleicht kaum ein
ultramontaner Geistlicher so lebhaft wie ich, wenn ich auch in meiner ganz
verrückten Lage nicht daran denken konnte, dagegen aufzutreten. Männer wie
den vortrefflichen, in den weitesten Kreisen hochgeschützten Propst Hübner oder
den edeln Aust, der sich dreißig Jahre lang für königlich preußische Schulen
geschunden hatte, ohne je einen Pfennig dafür zu bekommen, einsperren, weil
sie in einer Nachbarpfarrei einen Kranken versehen hätten (und das wäre ihnen
doch vorkommenden Falls begegnet, wenn sich ein Denunziant gefunden hätte),
nein, das war um an den Wänden hinauszulaufen. Und alle nicht fanatisirten
oder durch ein Parteiinteresse voreingenommnen Protestanten empfanden natür¬
lich ebenso. Der Graf Nostitz, erzählte mir Kamptz einmal, habe Hühnern
gesagt: Na, wenn Sie eingesperrt werden, alter Propst, so werden wir, darauf
können Sie sich verlassen, schon dafür sorgen, daß Sie im Gefängnis einen
guten Tropfen bekommen; und zu einem Whist besuchen wir Sie auch. Und
wäre ich in die Lage gekommen, zu einer dringenden Amtshandlung in einer
Nachbargemeinde aufgefordert zu werden, so würde ich sie unbedenklich ohne
die Erlaubnis des Oberpräsidenten vorgenommen haben. Wenn ich in der
oben mitgeteilten Ansprache die Maigesetze für giltig erklärt hatte, so meinte
ich damit nicht, daß der Einzelne verpflichtet sei, sie auch in solchen Füllen
zu beobachten, wo die Beobachtung ungereimt wäre und eine höhere Pflicht
verletzen würde, sondern nur, daß die Verwaltungsbeamten und die Richter
diese Gesetze anwenden dürften, ohne dadurch ihr Gewissen zu beschweren, und
daß sich der Übertreter die Strafe gefallen lassen müsse. Das lief nun aller¬
dings so ziemlich auf die Erlaubtheit des passiven Widerstandes hinaus, die
die ultramontanen Blätter predigten.
(Schluß folgt)
ein Dichter in alter und in neuerer Zeit hat einen so gewaltigen
und andauernden Einfluß auf die verschiedensten Völker und
Zeiten ausgeübt wie Homer. Bei den Griechen nahm er die
Stelle unsrer Bibel ein. Die Jugend lernte viele Verse von
ihm auswendig und bildete daran ihre religiösen Begriffe; die
dramatischen Dichter wie die bildenden Künstler entlehnten ihm ihre schönsten
und großartigsten Motive; die Geschichtschreiber sahen ihn als die erste Quelle
an; die wissenschaftliche Kritik leitete von ihm ihre Kunstgesetze ab und wandte
ihm namentlich in der Alexandrinischen Zeit eine ganz besondre Thätigkeit zu.
Von den Griechen ging die Bewunderung auf die Römer über. Eine Über¬
setzung der Odyssee in schwerfällige saturnische Verse war das erste Schulbuch
der Römer, von dem wir sichere Kunde haben. Homer kannte jeder gebildete
Römer und wußte eine Anzahl von Versen auswendig, wie schon im zweiten
Jahrhundert vor Christo das Beispiel des Scipio zeigt, dem beim Anblick des
brennenden Karthagos oder bei der Nachricht vom Tode des Tiberius Gracchus
bekannte homerische Verse auf die Lippen kamen. Ja der größte römische
Epiker, Virgil, glaubte nichts Besseres thun zu können, als nicht nur in der
Anlage seines Epos Homer genau zu folgen, sondern auch ganze Szenen,
namentlich Gleichnisse von ihm in sein Gedicht aufzunehmen. Wenn auch
später das überfeinerte Rom und das zur Mystik neigende Mittelalter Virgil
hoher stellte als Homer, ja dieser wie die ganze griechische Litteratur lange
Zeit im Abendlande fast in Vergessenheit geriet, so genoß er doch beim Wieder-
aufleben der griechischen Litteratur seit dem vierzehnten Jahrhundert, außer
bei den Franzosen, die in gewisser Beziehung den Römern der Kaiserzeit ähn¬
lich waren, um so größere Bewunderung. Diese erreichte bei uns in Deutsch¬
land seit der Mitte des vorigen Jahrhunderts ihren Höhepunkt. Man empfand
den eigentümlichen Reiz der homerischen Dichtungen namentlich im Vergleich
zu Virgil und deu höfischen Epen des Mittelalters, und es bildete sich der
Gegensatz zwischen „Volksepos" und „Kunstepos," Worte, in die man die
Eigentümlichkeit der auf Volksttberlieferung beruhenden epischen Dichtung und
der künstlich erfundnen Erzählung zu fassen suchte.
Aber dieser Gegensatz ist verfehlt. Denn auch die homerischen Dichtungen
sind Kunstepen im höchsten Sinne des Wortes: sie sind geradezu „klassisch"
und deshalb auch seit den ältesten Zeiten Gegenstand der Erklärung in der
Schule. Und gerade das ist das Wunderbarste an ihnen, daß sie trotzdem
nichts von ihrem eigentlichen Zauber verloren haben. Ich wüßte, etwa von
Horaz abgesehen, keinen Schulschriftsteller, der auch im spätern Alter noch so
erfreut, wie er einst die Jugend begeistert hat. Diese einzige Thatsache schon
läßt es begreifen, daß man Homer für das größte Dichtergenie gehalten hat,
was die Welt bisher hervorgebracht hat, aber auch, wie groß die Verwunderung
und Aufregung nicht nur unter den Gelehrten, sondern unter allen Gebildeten
war, als vor mehr als hundert Jahren der Philologe Friedrich August Wolf
mit der Behauptung auftrat, die Ilias — denn nur diese zog er in seinen
Zweifel hinein — sei nicht die Schöpfung eines einzigen Dichters, sondern
eines Sammlers, der verschiedne von einander unabhängige Stücke ziemlich
mechanisch vereinigt habe. Die Gründe für diese Behauptung waren äußer¬
licher Art und sind von ihm nicht erschöpfend behandelt worden. Er hielt es
zunächst für sicher, daß in den Zeiten, wo Homer gelebt haben müsse, die
Schrift noch nicht erfunden, jedenfalls noch nicht so gebräuchlich gewesen sei,
daß man Gedichte dieses Umfanges aufgeschrieben habe; ebenso unmöglich
schien es ihm zu sein, daß sie allein durch das Gedächtnis fortgepflanzt worden
wären. Dazu fand er in der Ilias einige Widersprüche, die mit der Auf¬
fassung von einer einheitlichen Dichtung unvereinbar seien.
Wir können jetzt unbedenklich behaupten, daß Wolfs Gründe widerlegt
sind; damals aber machte seine Schrift, die als eine Einleitung zu den home¬
rischen Gedichten erschien, ungeheures Aufsehen. Alle Gebildeten, namentlich
die Dichter nahmen entweder für ihn oder gegen ihn Partei. Von Goethe ist
bekannt, daß er in seinem Urteil schwankte, zuerst begeistert auf Wolfs Ge¬
danken einging (z. B. in der Elegie „Hermann und Dorothea," wo er den
Mann feiert, „der endlich vom Namen Homeros kühn uns befreiend, uns auch
ruft in die vollere Bahn"), dann aber „wieder mehr als je von der Einheit
der Gedichte überzeugt" war. Schiller dagegen war, ebenso wie Wieland, stets
ein entschiedner Gegner Wolfs, fand den Gedanken, diese Gedichte zerreißen
zu wollen, geradezu „barbarisch" und sah in der „Continuität" und „Reci¬
procität" der Handlung ihre wirksamste Schönheit. Die Wirkung von Wolfs
Schrift aber ist weiter gegangen; sie hat die theologischen Untersuchungen über
die Bibel ebenso beeinflußt wie die Geschichtsforschung. Man fing erst jetzt
an, gründlich das „Quellenverhältnis" zu untersuchen, z.B. zu fragen, wie
es mit der Abfassung des Pentateuch stehe, welches das Verhältnis der
Synoptiker zu einander sei, oder aus welchen Quellen Livius geschöpft habe
und welchen Wert diese hätten.
Solange man aber nur Möglichkeiten >erwog, wurde die eigentliche „Ho¬
merische Frage" wenig gefördert, und sie wäre wohl schon längst aus der
Welt verschwunden, wenn nicht Karl Lachmann mit dem schärfsten kritischen
Verstände die Ilias untersucht und darin soviel Unebenheiten und Widersprüche
entdeckt hätte, daß der Glaube an eine einheitliche Schöpfung fortan als Thor¬
heit kritikloser Köpfe erschien.
Die Odyssee war lange von diesem Berwerfnngsurteile verschont geblieben.
Einzelne Angriffe im Sinne Landmanns blieben ziemlich unbemerkt, bis Adolf
Kirchhofs auch ihren bisher viel bewunderten Aufbau, den noch Wolf als das
größte Erzeugnis griechischen Geistes gepriesen hatte, als das Werk eines
elenden Stümpers hinstellte, der ein älteres, auch schon nicht mehr einheit¬
liches Gedicht mit verschiednen Zusätzen, die er teils selbst gemacht, teils ans
andern Dichtungen entlehnt habe, meist ohne Sinn und Verstand versehen
habe. Diese Ansicht stellte der große Gelehrte zunächst (1859) in einer Aus¬
gabe der Odyssee als ein „Fazit ohne Rechnung" auf, holte aber später in
einer Reihe von Aufsätzen den Beweis nach und hatte damit den größten
Erfolg. Beide Meister, Lachmann und Kirchhofs, haben viele Schüler gefunden,
die ihre Ausführungen ergänzten und sie im wegwerfenden Urteil über Stellen,
die jene noch unbeanstandet gelassen hatten, noch übertrafen. Ja ihr Einfluß
war so groß, daß selbst Männer, die das Auge offen behielten für die klar
hervortretende Einheitlichkeit des Plans und der Handlung, nicht nur einzelne
Verse und Versreihen, sondern ganze Bücher willig preisgaben und in dem
verdammenden Urteil über solche Teile der homerischen Gedichte, für die das
Schlagwort „elender Nachahmerstil" allgemeine Aufnahme fand, mit den ver¬
wegensten Lachmannianern und Kirchhoffianern übereinstimmten.
Nichts beweist wohl aber die einzige Größe von Homers Dichterbegabung
deutlicher, als die Thatsache, daß er auch diese mit dem größten Scharfsinn
ein ganzes Jahrhundert hindurch geführten Angriffe glücklich bestanden hat,
daß jetzt Männer, von dem verschiedensten Standpunkt ausgehend, durch ge¬
schichtliche, ästhetische und rein philologische Betrachtung zu dem Ergebnis
gekommen sind, Ilias und Odyssee seien wirkliche Einheiten, Erzeugnisse eines
großen Dichters, nicht bloß Sammlers, und nicht wesentlich verschieden in
ihren Unebenheiten und Widersprüchen von alten und neuern Dichtungen.
In dem an erster Stelle in der Anmerkung genannten Werke sucht zu¬
nächst Knötel^) auf Grund eines mit dem erstaunlichsten Fleiße aus den ver¬
schiedensten Quellen gesammelten Materials Homer als geschichtliche Persön¬
lichkeit nachzuweisen und von seinem Leben ein Bild zu geben, bei dem freilich
zwischen Wahrheit und Dichtung nicht immer geschieden wird, weil die „Quellen"
nicht streng auf ihren Wert geprüft und manche Lücken in der Überlieferung
durch kühne Schlüsse ergänzt werden. Knötel holt weit aus. Für ihn wird,
was bisher allgemein als sagenhaft gegolten hat, z. B. die Herrschaft des
Minos, die Einwanderung des Kadmos, die Herrschaft des Kekrops, Er¬
zählungen von Tantalvs, Lnomedon, Tros und unzähliger andrer zur wirk¬
lichen Geschichte. Noch vor zehn bis zwanzig Jahren würde man für der¬
artige Annahmen nur ein Lächeln gehabt haben; seit aber die Ausgrabungen
in Ägypten und in den Euphratlcindern durch sichere Denkmäler eine hohe
Kultur mehr als viertausend Jahre vor unsrer Zeitrechnung nachgewiesen
haben, seit namentlich die letzten Ausgrabungen in Ägypten die überraschende
Thatsache ergeben haben, daß die Verwendung der Säulenhalle zu architek¬
tonischen Zwecken, die bisher als Kunstform für ein Erzeugnis griechischen
Geistes galt, sich wenigstens neunzehnhundert Jahre vor unsrer Zeitrechnung
schon in Ägypten findet, und daß um dieselbe Zeit kühne Unternehmungen
zur Erforschung Afrikas ausgehen, die wir am liebsten erst unserm Jahrhundert
zusprechen mochten, dürfen wir auch größere Unternehmungen von Ägypten
oder von den Euphratländern aus, die zur Unterwerfung größerer Teile von
Griechenland oder von Kleinasien geführt haben, nicht mehr schlechthin in das
Reich der Fabel verweisen. Jedenfalls muß die Möglichkeit zugegeben werden,
daß sich bei griechischen Schriftstellern der spätern Zeit, die bestimmte Nach¬
richten aus dieser alten Zeit geben, eine ältere, vielleicht wohlbegründete Über¬
lieferung erhalten hat. Eine solche bestimmte Quelle ist z. B. für Knötel eine
Inschrift auf dem in Xanthos gefundnen Pfeiler, die nach seiner Ansicht die
ältere Geschichte Lykieus enthielt und zwischen 470 bis 460 v. Chr. angefertigt
war (II, S. 69 ff.). Wenn wir ihm also auch nicht überallhin folgen können,
so wundern wir uns jedenfalls nicht, wenn er (II, 64) schreibt: „Nach be¬
stimmter Angabe fiel die Einnahme und Zerstörung Trojas 715 Jahre vor
den Zug Alexanders des Großen, also ins Jahr 1049 v. Chr., demnach
84 Jahre — nach Thukydides 80 — vor den Einfall der Herakliden in den
Peloponnes (965), ferner 272 Jahre nach der Ära des Menephthes (1321)
und 273 vor den Anfang der Olympiadenrechnung, also fast genau in die
Mitte zwischen diese beiden vollständig gesicherten Arm"; und (S. 79): „Nach
der etruskischen Zeitrechnung fiel die Stiftung des Tuskerstaates neun Säkula
vor 44 v. Chr. sein Komet und Cäsars Tod, Anfang des zehnten), die im
einzelnen schwankend, im Durchschnitt IIIV^, etwa 1003 bis 1004 Jahre er¬
geben. Der Tuskerstaat, ein Bund von zwölf Städten, wäre demnach um
1047 v. Chr., also genau zur Zeit der Zerstörung Trojas gestiftet worden" —
dann die Sage von Äueas damit in Verbindung bringt. Daß übrigens wirklich
ein großer Zug von Griechenland aus nach Kleinasien stattgefunden habe, der
trojanische Krieg also geschichtlich sei, nehmen jetzt auch andre Forscher auf
diesen: Gebiete an, wenn auch über die Zeit und den Ort, von wo die Unter¬
nehmung ausgegangen ist, keine Übereinstimmung herrscht.
Etwa hundert Jahre nach Trojas Einnahme setzt Knötel (mich den zu¬
verlässigsten Angaben des Altertums) die Blütezeit Homers, von dem er nun
auf Grund der Hymnen, die er alle für echt homerisch hält, und der fälsch¬
lich dem Herodot zugeschriebnen Epigramme, sowie vereinzelter andrer Angaben
bei alten Schriftstellern folgendes Lebensbild entwirft: Er war geboren in
Smyrna; seine Herkunft ist dunkel, da ein Vater nicht sicher bekannt ist, seine
Mutter eine Flötenspielerin gewesen sein soll. Er gehörte also wohl einer
„fahrenden Sängerfamilie" an. Doch muß er sich bald hervorgethan haben
und an einen Fürstenhof als Sänger gekommen sein. Denn was Homer singt,
ist nichts weniger als „Volkslied" im gewöhnlichen Sinne des Wortes; es be¬
handelt vielmehr die Thaten und Anschauungen der Führer und Fürsten des
Volks. Das niedre Volk wird in seinen Dichtungen fast gar nicht erwähnt:
in der Ilias höchstens einmal, wenn wir annehmen, daß Thersites, der Aga-
memnon schmäht und dafür von Odysseus gezüchtigt wird, dem „Volke" an¬
gehörte. In der Odyssee spielt zwar Eumüvs, der „göttliche Snuhirt," eine
gewisse Rolle; dafür macht ihn aber auch der Dichter zu einem Fürsteukiude,
das nur durch die Untreue seiner Wärtern, in die Sklaverei gekommen ist und
uun Knechtsarbeit verrichten muß. Er bleibt jedoch selbst hier der „Ordner der
Männer," wie ein Völkerfürst der Ilias. Es muß ans diesen Punkt hier nach¬
drücklich hingewiesen werden, damit der falsche Begriff von Volksdichtung, den
man noch immer mit Ilias und Odyssee wie mit unsern Nibelungen verbindet,
endlich ausgerottet wird.
Der Fürstenhof, an dem Homer zunächst dichtete und sang, war nach
Knötels Annahme der der Arcaden und Hektoriden in Skepsis in der Troas.
Die Gründe, die er dafür vorbringt, möge man bei dem Verfasser selbst nach¬
lesen (II, S. 21 ff.); sie sind äußerst bestechend, reichen aber nicht ans, die
Gründe, die gegen die Annahme sprechen, daß die Ilias sür Troer gedichtet
sei, zu widerlegen, sondern sie beweisen nur den hohen Grad von Unpartei¬
lichkeit, den der Dichter erstrebt und erreicht hat. Zwar haben schon im Alter¬
tum manche den Dichter zu einem Troer machen wollen, weil er dem troischen
Könige und vor allem seinem heldenhaften Sohne Hektor so viel edle Züge
giebt; aber trotz dieser Liebe, mit der er den Helden und seine Gattin schildert,
bleibt er doch immer ein Grieche und denkt sich Griechen als Zuhörer. Ich
habe in dem oben mit angeführten Programm (Die Bedeutung der Widersprüche
S. 19 ff.) gerade auf den Widerspruch aufmerksam gemacht, der sich in der
Behandlung Hektors durch die ganze Ilias hindurch zieht, und der sich nur
aus der Herkunft des Dichters erklären lasse. Während nämlich Hektor in
allgemeinen Ausdrücken überall als der furchtbarste Kriegsheld erscheint, vor
dem die Griechenfürsten zittern, tritt er im Einzelkampf hinter allen griechischen
Helden zurück, selbst ein Menelaos kann zuletzt über ihn triumphiren. Nicht
einmal eine Wunde bringt er einem Haupthelden bei, obwohl doch reichlich dazu
Gelegenheit ist, und den Patroklos tötet er erst hinterrücks, als dieser von
Apollo durch einen Schlag betäubt und wehrlos gemacht und von Euphorbos
die vielleicht schon tödliche Wunde empfangen hat. Der griechische National-
stolz wollte eben die Überlegenheit der Feinde im offnen Kampfe nicht aner¬
kennen, und Homer stand unwillkürlich unter diesem Einfluß.*) Auch Knötel
nimmt übrigens an, daß Homer aus unbekannten Gründen später Skepsis ver¬
lassen habe und mit einem Sängerchor in Griechenland herumgezogen sei, um
seine Gedichte vorzutragen — natürlich auch nur an Fürstenhöfen.
Seine Gedichte fanden viel Beifall und regten zur Nachahmung an. Bald
mußte der Dichter die Beobachtung machen, daß der „neueste Gesang immer
der beliebteste sei" (Ob. 1, 351—52). Um deshalb nicht von Nebenbuhlern ver¬
dunkelt zu werden, wenn er immer nur vom troischen Kriege sänge, begann er
ein zweites umfangreiches Gedicht, das ebenso sehr in der Märchenwelt spielt,
wie die Ilias wirkliche Kämpfe schildert. Anmutig ist dabei der Scherz des
Dichters (vgl. Knötel II, S. 299), daß er den Odysseus diese Märchen von dem
Khklopen, Aiolos, den Lästrygonen, Skhlla und Charybdis, Kirke und Kalypso mit
der ernstesten Miene von der Welt erzählen, ja die Zuhörer ausdrücklich er¬
klären läßt, daß er wahrhaft sei und nicht wie ein listiger Schelm und Schwindler
auftrete (Ob. 11, 363—369). Doch fand er, nach Knötel (I, 263 u. ff.), bei
seinen Zeitgenossen nicht die Anerkennung, die er sür seine großen Werke, die
„Tochter des Zeus," hätte erwarten können. Denn als er nach langem Wandern
erblindet in seine Vaterstadt Smhrna zurückkehrte und die feierliche Anerkennung
seiner Werke etwa zum Zwecke des Vortrags bei den großen Festen (wie es
später durch die Vorschrift des Solon oder Peisistratos in Athen geschah) ver¬
langte, stieß er auf den Widerspruch eines Prhtanen, dem vielleicht, wie später
den Philosophen, die Behandlung der Götter zu frei und unehrerbietig schien,
und wandte sich deshalb nach Kymü. Doch auch in dieser, gar zu sehr made-
riellen Genüssen hingegebnen Stadt wurden seine Gedichte nicht nach Gebühr
bewundert. So wanderte er weiter und gelangte nach mehreren Zwischen¬
stationen nach Chios, wo er willige Aufnahme und in Krevphylos einen lauten
Bewunderer fand. Ihm, der sein Schwiegersohn wurde, übergab er auch seine
beiden großen Dichtungen, die nun von diesem und seinen Nachkommen weiter
gepflegt und verbreitet wurden. Zur Anerkennung des großen Meisters nannten
sie sich „Homeriden" und stifteten ihm ein Heroon. Von hier gelangten die
Gedichte durch Abschriften — denn der Gebrauch der Schrift ist unbedenklich
für diese Zeit anzunehmen — selbst in ferne Städte, so z. B. durch Lykurg
nach Lakedämon. Der Ruhm dieser Dichtungen überstrahlte allmählich alle
andern, sodaß Dichter und Sänger andrer Dichtungen, namentlich aus dem¬
selben Sagenkreise, zu ihrer Empfehlung nichts besseres thu» konnten, als sie
„homerisch" zu nennen. So ist es zu erklären, daß die sogenannten „kyklischen"
Epen, die die Ilias und die Odyssee ergänzen und teils die Vorgeschichte des
Kriegs, teils die Einnahme der Stadt und die Rückkehr der Helden behandeln,
vielfach Homer zugeschrieben wurden und erst im vierten Jahrhundert und noch
später sicher ihm abgesprochen worden sind.
Knötel sieht also in Homer eine bestimmt ausgeprägte Persönlichkeit, in
Atlas und Odyssee seine großen Werke, deren Einheit und innere Zusammen¬
gehörigkeit er durch eine Reihe vortrefflicher Beobachtungen (II, 332 bis 392)
zu erweisen versucht. Die neuern Untersuchungen hat er völlig unbeachtet ge¬
lassen. Widersprüche läßt er gar nicht als solche gelten oder sucht sie durch
einfache Verbesserung des Textes zu beseitigen.
Ähnlich denkt und verfährt auch Oskar Jäger in dem oben angeführten
Aufsatze. Er glaubt aus den Gedichten — das Lebensbild des Dichters ist
ihm gleichgiltig — ganz bestimmte dichterische Eigentümlichkeiten zu erkennen,
die durchaus nicht einer Vielheit von Dichtern gemein sein konnten; so in der
Anwendung von Gleichnissen oder in der Vorliebe für Tiere, namentlich für
Pferde und Hunde. Während Goethe z. V. ein entschiedner Hundefeind war,*)
zeigt Homer eine entschiede Liebhaberei für Hunde: „Was Ob. 14, 30 steht,
daß Odysseus, als Eumäos Hunde auf ihn losstürzen, sich niedersetzt und klug
berechnend den Stock fallen läßt, wird, wie in der Stelle bei Plinius Natur¬
geschichte 8, 40, so von modernen Hundekundigen bestätigt; eine nicht minder
feine Bemerkung ist 16, 162, wo die Hunde auf die Erscheinung der Göttin
reagiren; nur Odysseus und die Hunde sehen sie, und diese bellen nicht, sondern
Ziehen sich winselnd zurück — Tiere mit scharfen Sinnen merken das Unheim¬
liche, Außergewöhnliche, wo es der Mensch mit seinen stumpfen Sinnen nicht
oder noch lange nicht merkt —, und in der unvergleichlichen Geschichte vom
Hunde Argos im siebzehnten Buche hat derselbe Dichter dem ganzem Ge¬
schlecht ein unvergängliches und wohlverdientes Denkmal gesetzt." Ähnliche
Liebe für die Tierwelt und sorgfältige Beobachtung ihres Lebens und Treibens
zeigt der Dichter in unzähligen Gleichnissen, die eine gewaltige Kluft von allen
andern Dichtungen trennt.
Wie Knötel, weist auch Jäger die Bedenken Wolfs gegen die Möglich¬
keit der Verbreitung so großer Epen in so alter Zeit zurück. Selbst wenn die
Schrift, deren Vorhandensein im Epos selbst in der bekannten Stelle der Ilias
(6, 168) vorausgesetzt wird, noch nicht zum Aufschreiben so großer Dichtungen
verwendet worden wäre, genügte eine Art Hieroglyphenschrift, um die Reihen¬
folge der einzelnen Szenen festzuhalten, und das Gedächtnis leistete das übrige.
Denn wenn es im fünften Jahrhundert in Athen noch Leute gab, die den
Homer auswendig wußten, wieviel eher können wir diese Gabe in jener alten
Zeit und bei Menschen voraussetzen, deren einziges Interesse diesen Gedichten
zugewendet war. Die Odyssee giebt uns in Demodokos auch wirklich ein
Beispiel von einem solchen Sänger, der ohne weiteres auf die Aufforderung
eines Gastes hin ein Gedicht aus dein troischen Sagenkreise frei ans dem
Gedächtnis — denn er ist blind — vorträgt. Die vielen Wiederholungen
und überhaupt das Formelhafte in der Sprache erleichterten die Aufgabe.
Ist durch diese Untersuchungen und Darlegungen wenigstens die Möglich¬
keit erwiesen, daß ein großer Dichter Homer gelebt und die unter seinem Namen
gehenden großen Werke verfaßt hat, so führen ästhetische Erwägungen über
die Kunstform der Gedichte entschieden zu der Annahme, daß nur ein wirk¬
licher Dichter, nicht ein mechanischer Scnnmler, ein „Flickpoet" oder „stümper¬
hafter Redaktor" oder gar eine Kommission gelehrter Männer der Schöpfer
dieser Einheiten sein kann. In dieser Beziehung ist schon das Urteil des
Aristoteles, des feinsinnigsten Kritikers des Altertums, bezeichnend, der ihre
Einheit im Unterschied von mnngelhaftern Dichtungen darin sah, daß sie einen
bestimmten Anfang und ein Ende hätten, und daß ein Plan durch das Ganze
gehe. So könne man aus der Ilias und der Odyssee auch nur je eine Tra¬
gödie bilden, während sich aus den sogenannten kyklischen Epen drei, vier, ja
acht Tragödien ableiten ließen. Es hat also diesen Dichtungen an der innern
Einheit gefehlt, sie haben auch keinen kunstvollen Anfang gehabt, wie Ilias
und Odyssee, und ebenso war ihr Schluß nicht so notwendig, daß sie nicht
etwa auch noch weiter geführt werden konnten. Diesem Urteil des großen
Kritikers siud nun nicht nur die Alten, die doch noch Vergleiche zwischen den
verschiednen epischen Dichtungen anstellen konnten, da sie noch vorhanden Ware»,
fast ohne Ausnahme gefolgt, im besondern auch Horaz in der ^rs xostiou.,
sondern auch unsre Kritiker und Dichter bis auf Wolf. Hielt doch noch der
scharfsinnige Lessing die homerischen Gedichte für so fest gefugt, daß er meinte,
NW» könne Herkules eher seine Keule, als Homer einen Vers abringen. Aber
auch nach den Angriffen Wolfs, Landmanns, Kirchhoffs und unzähliger andern
ist von den verschiedensten Kritikern immer Mieder auf die doch offenbar in
den Gedichten hervortretende Einheit hingewiesen worden, und das ist auch
von Knötel und Jäger geschehen, von keinem aber in so umfassender, eigen¬
tümlicher Weise, als von Hermann Grimm in den beiden oben in der An¬
merkung genannten starken Bänden.
(Fortsetzung folgt)
is Herr Thiers den Vorschlag machte, Paris mit einer Wüste zu
umgeben, gab er das Losungswort zu allen Verheerungen, die seit¬
dem über diese lachenden Landsitze hereingebrochen sind. Daß seiner
Anweisung nicht sofort durch die Sendlinge der Pariser Regierung
gründlicher Folge geleistet wurde, daß mau, um der Belagerungs¬
armee vollständig das Obdach zu entziehen, die Ortschaften nicht vom
Boden vertilgte, war einzig der Schwierigkeit dieser Aufgabe zuzuschreiben. Wären
bloß Kartenhäuser umzublasen gewesen, die Arbeit wäre geleistet worden. Da es
Gebäude von Kalk und Stein einznrcißeu galt, erwies sich die Mühe als zu groß.
Man glaubte — soweit es nicht Herrschaftssitze waren, wo man die Dienerschaft
zurückgelassen hatte — genng gethan zu habe», wenn mau die Bewohner mit ihren
Habseligkeiten auftrieb, die Fenster und Spiegel zerschlug, die Weinkeller leerte
und allein häuslichen Komfort den Gamus machte. Nichts wäre freilich unge¬
rechter, als wenn man den greulichen Zustand, in dem sich die meisten Ortschaften
um Paris befinden, einzig den Franzosen zuschreiben wollte. Man soll selbst den
Teufel nicht schwärzer malen, als er ist. Ein so gründliches Verwohnen mensch¬
licher Behausungen vollzieht sich nicht von einem Tage zum andern. Es setzt
Muße, Langeweile voraus und nicht minder öftern Wohnungswechsel. Der Fort¬
ziehende hinterläßt dann den Nachfolgern die ganze Summe von Unordnung, Not¬
behelfen , Zertrümmerungen und Verunstaltungen, die die natürlichen Begleiter
jedes Quartieruehmeus in unbewohnten und dürftig oder gar nicht möblirten
Häusern im Feindeslaude sind. Der Nachbewohner findet bereits einen unleid¬
lichen Znstnnd vor und richtet sich uach seiner Weise wieder ein, ohne mit manchem
Kor dem Vermächtnis des Vorgängers ganz aufräumen zu können. Und so wird
es denn mit jedem Tage unsaubrer und nnwähnlicher.
Ich schreibe dies nach den blutigen Maruciagen in meinem Quartier, das,
wie so viele in demselben Orte — es ist das städtische Dorf Champs —, keine
Spur von jenen andern, von französischer Seite vorgenommneu Verivüstungen aus¬
zuweisen hat, und das, da es dennoch den traurigsten Anblick gewährt, ein Beispiel
bietet von dem Verwohnen, wie ich es eben geschildert habe. Ich füge hier gleich
hinzu, daß daran weder Mutwille noch Zerstörnngswut ihren Anteil gehabt hat,
und daß ich selbst während meines kurzen, heute endenden Verweilens, soweit die
Kälte zum Heizen nötigte, und dieses wieder dazu zwang, vorhandne Gegenstände
zu verbrennen, die Verheerung mit fortsetzen mußte. Gerettet vom Feuertode
- aber auf wie lauge? — wurden von mir die Bücher des Hausherrn, nachdem
sie ein dienstfertiger Geist bereits dazu verurteilt hatte; dagegen habe ich einen
Pack scinbcr geschriebner Noten verheizt, ferner Zeichenbücher eines Schülers oder
einer Schülerin, nicht minder eine Masse, wie ich hoffe, wertloser, wenigstens längst
mit Füßen getretener Kleidungsstücke, und endlich eine, wenn nicht gnr zwei Maler-
staffeleicn. Auch das riesige Kopfende einer Mahagonibettstelle, das zerbrochen zur
Hand war, habe ich wenigstens schon vor meinem Kamin liegend vorgefunden.
Vor uns hat Champs Württemberger beherbergt, jetzt ist es mit Sachsen
belegt, zum Teil — unser Quartier z. B. — mit solchen, die den ganzen Tag
im Feuer gestanden haben und sich für morgen auf neue Anstrengungen gefaßt
machen müssen. Alles erreichbare Holz ist schon vor unserm Eintreffen längst auf¬
gebraucht worden. Zäune, Wäschpfähle, Leitern, Haublocke, Hühnersteigen — unsre
Vorgänger haben notgedrungnerweise mit allem aufgeräumt. Die Kälte ist bitter.
Wir sind im Finstern eingerückt, hatten uns einzurichten, wie es eben ging; das
Kaminfeuer sollte zugleich das Herdfeuer vertreten. Da mußte denn Vnndale ge¬
spielt werden.
In welcher Progression sich solche Selbsthilfe steigert, sehe ich jetzt, wo wieder
von bannen gezogen werden soll. So ziemlich mit allem, was Hof und Garten
an brennfähigen Gegenständen vorher noch nicht hergegeben hatten, sind wir ans
Ende gelangt. Eben wird unter meinem Fenster das mächtige Gestell einer
Gartenschaukel ungesagt; eine Mahagonischublade, eine Zeit lang noch als Auf¬
bewahrungsort einer Menge von Schriftstücken, Schulzeugnissen, Briefen und
Familienreliquien respektirt, ist heute ihres Inhalts entleert; sie steht, mit Asche
gefüllt, im Hausgange.
Übrigens tritt noch etwas andres hinzu, um den Besitzstand des Abwesenden
empfindlich zu schädigen: das Mobilwerden des Hausrath in solchem Sinne, daß
bei einer Trnppenverlegung immer ein Teil davon mit umzieht. Viele Orte sind
ganz ohne Matratzen, Stühle, Tische und sonstige wünschenswerte Dinge. Andre,
wie z. B. Champs, bieten nach dieser Seite hin noch einige Auswahl. Dergleichen
wird nnn auf die Wanderschaft gebracht. In meinem Zimmer steht ein großer
Fischkessel als Wasserbehälter. Er wird heute nach Le vert galant mitgenommen
werden, mit meiner Einwilligung, denn wir haben dergleichen schon lange dort
vermißt. Eine hölzerne Wanduhr ist auch in Gefahr, dahin mit umziehe» zu müssen,
doch sind wir wegen Uhren drüben nicht in Verlegenheit, und daher gedenke ich
Einspruch zu erheben. Kaffeemühlen, Trichter und ähnliche oft schwer entbehrliche
Dinge sind herkömmlicherweise auf fortwährender Wanderschaft im Belageruugs-
gürtel, und da, soweit dieser reicht, sämtliche Thüren offenstehen, und nur der
Einquartierte als jeweiliger Besitzer des vorhandnen Inventars respektirt wird
— immer die Herrschaftssitze mit zurückgelassener Dienerschaft ausgenommen —,
so dürften wohl nur wenige Häuser noch ihre eignen Möbel haben.
Wer sind nun die Leutchen gewesen, mit deren Hausrat aufzuräumen auch
mir friedlichem Beobachter beschieden gewesen ist? Unter den auf dem Estrich
des bescheidnen Hauses und im Stroh des Stcilles verstreuten Scharteken, Büchern
und Papieren habe ich einige heute aufgelesen, um aus ihnen womöglich einige An¬
haltepunkte für die Beurteilung der so bitter heimgesuchten Familie zu gewinnen.
Denn wenn inmitten des unvermeidlichen allgemeinen Ruins der eine Fall auch
nicht mehr Teilnahme zu beanspruchen hat als der andre, und wenn bei dem furcht¬
baren Umfang unsrer eignen Opfer diese Teilnahme in der That nur eine sehr
beiläufige sein kann, so stehen wir doch dem Feinde mit hinreichend menschlichen
Empfindungen gegenüber, um uns für das Zugrundegehen so mancher eingefriedeten
Existenz ein offnes und nicht gleichgültiges Auge zu bewahren. Verlernen wir auch
das noch, so kosten uns unsre Siege mehr, als sie uns kosten dürfen.
Ob ein positiver Befehl diese und andre Bewohner des Ortes fortgetrieben
hat, oder ob es die Angst vor den „Barbarei," gethan hat, wird mir aus deu
Briefe», die mir vorliegen, nicht klar. Der ganze Zustand des Hauses läßt aber
keinen Zweifel: weder Monsieur Gustave Petit hat Zeit gehabt, seiue Bücher einzugraben,
uoch Madame Flavie Petit ihre Nippsachen, ihre Kleider, ihr Nähzeug, noch der
siebzehn- oder achzehujnhrige Maurice seine Schmetterling- und Stciusammlungen,
noch endlich Mademoiselle Valentine ihre Strohhüte, ihren Sonnenschirm, ihre
Schularbeiten, ihren Reitsattel, ihre getrockneten Bonquets, ihre redselige Kor¬
respondenz mit drei bis vier lieben Freundinnen. Alle diese Habseligkeiten hat die
flüchtige Familie im Stich gelassen, die einen noch unberührt, z. B. die vortreff¬
lichen natnrwissenschaflichcn Sammlungen des Sohnes, die andern, je nachdem sie
dem Bedürfnis des Augenblicks dienten, über alle Zimmer verstreut. Auf dein
Kaminsims des von uns zwei Kriegskorrespondenten — Robert Waldmüller
und dem Timeskorrespondenten Master Augustus Kelly — bewohnten, mit dem
Gerümpel und den aufgehäuften Verkehrsüberbleibseln zahlloser Quartiervorgänger
überfüllten Zimmerchens steht unversehrt unter Glas eine Alabasteruhr; zu beiden
Seiten haben zwei Alabastervasen den Einqnartiernngssturm glücklich überstanden,
ein sprechender Beweis gegen die Ausnnhmslvsigkeit des uns nachgesagten xsuio
<lo clvswuotivn. Ein brauner Ambrarvseukranz hängt an der Wand, blaue Blumen-
ö-infer winken von einem Nippbrett herab neben Zierkürbissen, Nadelbüchsen,
Riechfläschchen, Gebnrtstagstassen und ähnlichen Erinnerungen. Eine Schwarz¬
wälder Uhr, die unsre Vorgänger aufgezogen hatten, und die wir ebenfalls im
Gang erhalten, tickt neben dem Kaminspiegel, alles fast bis zur Unkenntlichkeit
blind von Staub, Fliegenspuren und Ruß. Über einem der beiden Betten des
Zimmers hängt ein eisernes Kruzifix.
In andern Zimmern — das Haus hat eine Unzahl winziger Räume —
hängen Bilder an den Wänden, besonders Kopien in Öl, eine leidliche Leda neben
sehr geschmacklosen Modekupfernachahmnngen. Wer diese Werke geschaffen hat,
darüber schweigt die sonst so vielseitige Korrespondenz. Die Musikalien dagegen
gehören Valentine.
Doch genug von diesem Drum und Dran. Zwei Photographien auf Glas,
°>e ich aus dem Trümmerwust gerettet habe, will ich in nicht leicht erreichbarer
Höhe ein die Wand hängen. Es sind zwei Kinderbilder, das eines sitzenden Knaben
von etwa sieben Jahren, und das eines kleinen, lässig stehenden Mädchens von
vielleicht fünf oder sechs Jahren, das eine Puppe im Arme hält. Es siud offenbar
in einigen Briefen erwähnten Kinder Maurice und Valentine, wie sie vor
einem Jahrzehnt ausgesehen haben mögen. Das Mädchen hat schwarzes Haar und
^A^'ze Augen, dazu eine sehr große Stirn, nnter der sie mit augenscheinlichem
-""ßtrcmen gegen den ans sie gerichteten Apparat des Photographen hervorblickt.
Bor mir liegt eine Anzahl weiß beliebter Papptafcln Vcilentinens, die sie ein
ihrem vierzehnten Geburtstage mit dem Verzeichnis ihrer Tagesbeschäftigungen be¬
schrieben hat, für jeden Tag der Woche eine Tafel. Sie datiren vom 23. Sep¬
tember 1868 und geben, im Zusammenhange gelesen, ein ganzes kleines Lebensbild.
Hier die Übersetzung einer dieser Tafeln:
Dienstag in Champs. Valentine Petit. Um 6 Uhr (weniger ein Viertel) auf¬
stehen und mich ankleiden. O (Um 7 Uhr in den Stall gehen, dem Esel zu trinken
geben, ihn draußen im Freien anbinden, und zwar wo Grünes ist; seine Streu um-
stvbern.) Um ^28 frühstücken. (Um "/,,8 tairo I«z xansemoiit,, eomms äisent les
eoebors, d. h. miniren Esel striegeln, bürsten, ihm die Füße waschen usw. Daun
frisches Stroh in seine Krippe stecken, wenn sie leer ist.) Um 8'/g ins Haus
gehen, meine Stilübung arbeiten und meine Kammer in Ordnung bringen. Um
lO'/y mich frisiren und umkleiden. Um 11 Frühstück. (Gegen ^12 meinem Esel
zu trinken geben und ihm Stroh bringen, wenn er dessen bedarf.) Spielen. Um 1
wieder ins Hans. Stilübung, Fertigmachen, Abschreiben, Nähen, Lesen. Um
4 Uhr Klavierunterricht; (um 5 meinem Esel Hafer geben;) um 5^/,, mit Klavier
fortfahren oder alle meine Stücke durchspielen; um Mittagsessen; um 6^
spielen oder lesen (dann vor Dunkelwerden meinem Esel sein Lager bereiten, ihm
Stroh und Heu in seine Krippe thun, und zuvor ihm zu trinken geben). Um
9 Uhr auf mein Zimmer gehen, meine Uhr aufziehen und schlafen gehen. O Dieses
nehme ich mir vor, alle Dienstage zu thun, gerechnet vom 23. September 1368,
ein welchem Tage ich vierzehn Jahre alt geworden bin, mit Vorbehalt wegen ein-
getretner Hindernisse. Valentine Petit.
Die eingeklammerten Sätze hat, wie es scheint, die Lehrerin durchstrichen; sie
betreffen- sämtlich den Esel. Die morgens und abends vorkommenden Ringe be¬
deuten vermutlich das Abbeten des Rosenkranzes.
Ähnlich sind die übrigen Wochentafeln, doch enthält die des Donnerstags eine
von der Lehrerin nicht durchgestrichue Erwähnung des Esels, indem um 12 Uhr
Valentine mit ihrem Eselswagen ihren Lehrerinnen bis zur Eisenbahn entgegenfährt
und sie nachmittags um 4 Uhr wieder fortbringt. Dieser festliche Tag ist durch
eine Blnmengnirlande ausgezeichnet.'
Vom 18. Mai des folgenden Jahres sind einige Brieskonzepte da an I-raie.
^äölv, worin Valentine ihre Tagesordnung etwas zwangloser beschreibt. Sie hat
keinen Wecker und steht daher nicht immer pünktlich auf. Um 6 Uhr bringt ihr
aber Marie, die Köchin, eine Tasse Eselsmilch ans Bett, „denn ich habe dir schon
mitgeteilt, daß ich eine Eselin habe, und diese hat wieder uns xctiro litis vt pg.r
e,onse«in!nov vllo a. <w Ig.it,, und die bekomme ich wegen meiner Gesundheit zu
trinken." Darnach steht sie gewöhnlich ans, zuweilen schläft sie aber auch wieder
ein, neulich bis 7^/z Uhr. Nach dem Aufstehen verrichtet sie ihr Gebet und geht
dann hinunter, um Schokolade zu trinken. Hierauf wird etwas „flanirt," dann folgen
die bekannten Arbeiten, dann Spielstuude (oui, ^0 Mis!), Frühstück und ein Ritt auf
Brünette, der lieben Eselin u. s. f.
Diese Briefe werden durch Zuschriften der Freundinnen ergänzt, darunter
einige von 1870. Im Mai dieses traurigen Jahres — Valentine hat inzwischen
ihre premiki'L communion gemacht und schwärmt in Empfindungen über diesen schönen
Tag — handelt es sich um das übliche Schmücken des Marienaltnrs. I^'amio
Violine, sendet ihr dazu zwei kleine Vasen; auf die Maurice, nach Valcntinens
Vorschrift, Buchstaben gemalt hat. Es werden Verabredungen getroffen, wie die
Freundin über Villiers nach Champs in die Messe kommen könne usw. Valentine
hat übrigens mich <nach der jetzigen Pariser Erziehungsmethode) etwas Englisch
gelernt, und empfängt englische Briefe von einer Pariser Freundin, P. Le Rouget.
Diese ist ebenfalls im Begriff, ihre erste Kommunion zu machen, und hat deshalb
viel zu thun, versichert übrigens, ans Valentinens Ball sei es reizend gewesen; sie
und anch Leouie hatten sich vortrefflich vergnügt, und sie hoffe sehr, Valentine
werde, ehe sie wieder für sechs Monate aufs Land gehe, noch die Abendgesellschaft
im Hause der Schreiben» mitmachen. Dazwischen wieder die Kommunion: „Heute
über einen Monat! Wie sehr ich deu Tag herbei wünsche, kannst du dir nicht vor¬
stellen."
Diese Freundin Caroline, mit der Valentine nach lauger verstohluer Zuneigung
glücklich auf den Dufnß gekommen ist, wird zu ihrer Firmelung in einem langen
und von Gefühl überströmenden Briefe beglückwünscht. „In diesem Augenblick
gerade wirst du die Absolution empfangen und folglich dir keine Sünde mehr vor¬
werfen können. O wie du ruhig sein mußt und wie viel glücklicher noch bei dem
Gedanke», a.no ton ciivin ^osus va so äomror a, toi äomain, oni nonain! 01» ver! Ja,
loro eommrmion, o'est lo Ms bog.» Mir ctg l-r vio!" Außerdem wechseln in diesen
Briefen immer die Bitten: die Freundin möge für die Freundin beten; bald kommt
die eine, bald die andre ans diesen Liebesdienst zurück; und Valentine schreibt ein¬
mal : wenn auch die Freundin am Tage vielleicht ihrer vergessen haben sollte, am
Abend werde sie sich doch beim Beten gewiß ihrer erinnern, xriöro si clouoo ot
l>AroabIo cui r>o sorg, prosauo a.no clos romoreimouts Ä. Oiou, an oui! Oar o.no xour-
rais-tu lui clomauclor, si co n'ost lo bouluzur clos antros, var pour toi imo to lÄut it av
plus? Was brauchst du mehr, will sie sagen, als das Glück, das die erste Kom¬
munion dir ins Herz gegossen haben wird? . ^
Im ganzen macht das alles keinen ungünstigen Eindruck. Die Pünktliche Art,
wie die Tochter erzogen wird, die herzlichen Worte, mit denen sie die Lehrerinnen
erwähnt, die Sammelliebhaberei des Sohnes, das harmlose Geschwätz der Freun¬
dinnen, die kleine Bibliothek, der Geschmack für Musik und Malerei, die überaus
>ii»bliebe Einrichtung, die, Genügsamkeit in Bezug auf den Raum, es ist ein be¬
scheiden zugeschnittnes Hauswesen, das von dem großen Babel nur wenig berührt
wird. Von dem Vater ist selten die Rede, auch der Mutter gedenkt die Tochter
wir beiläufig. Desto beredter ist sie in Bezug auf ihre blühenden Kirschbäume,
>dren ausgedehnten, reizend gelegnen Garten und — ihre Brünette, von deren
Töchterchen es heißt: ^o xonss avoo Mihir ein clouxiömo climauodo av ^um, vais
iwüotor clos clrag-vos, vt nous iülons lÄiro un splouclicio daxtömo a. ig Wo av Lrnnotto,
Mo nous nowworons (Ärolinö, soulomont Lotto nouvollo ülloulo no sorg x^s aussi cloueo
^tuo Sir wöro.
Wohin mögen diese glücklich sorglosen Leutchen verschlagen sein? Muß Mr.
Gustave Petit als Södentaire die Wache beziehen? Ist Maurice am Ende gar unter
denen gewesen, die ich gestern ans dem Schlachtfelde von Villiers liegen sah? Tran¬
ige Zeiten! —
Soweit mein damaliges Erinnerungsblatt. Als ich später einmal meine
Spiere aus jenen denkwürdigen Tagen durchblätterte, kam mir der Einfall, der
nemen Herrin Brünettes eine Zeile zu schreiben und um Auskunft zu bitten über
cas Ergehen aller derer, die ohne ihr Wissen und Wollen in jener blutigen Mnrne-
woche ,„xjn Interesse in Anspruch genommen hatten. Ich fügte hinzu, daß ich
^sonders auch wissen möchte, ob die beiden Photographien den Kriegstrnbel glück-
uch überstanden hätten.
Die Antwort gab der Vater. Sie lautete nicht tröstlich. Bei Gelegenheit
einer spätern Einquartierung war das Haus in Flammen aufgegangen, und die alte
Mutter des Besitzers hatte der Schreck getötet.
Glücklicherweise läßt sich auch von gelinder verlanfne» Heimsuchungen erzählen.
Hier noch ein paar von meinen Tagelmchblätter» aus der Zeit der Friedensunter-
handlungen nach Besetzung der Forts:
Die Belagerungsnrmee hat sich zwar näher um Paris zusammengeschoben; anßer
den Forts findet sie aber in den von den Franzosen geräumten Orten fast nirgends
ein wirkliches Unterkommen, denn das lange Hin- und Herbombardircn ist nicht
ohne gründliche Schädigung ganzer Wohnuugsbezirke abgegangen. Daher werden
auch so ziemlich alle bisher zum Belageruugsgürtcl gerechneten Dörfer nach wie vor
von uns inne gehalten, und die Einwohner dürfen nnr dahin zurückkehre», wo wir
den Raum uicht felbst brauchen. Sie lassen es sich aber nicht nehmen, wenigstens
ihr Eigentum wieder einmal mit eignen Augen zu sehen, und da giebt es denn
oft wunderliche Szenen. So.neulich in Livry, wo die sächsischen Schützen liegen.
Es läge mir sehr daran, sagte ein solcher Hausbesitzer, der zu Besuch kam,
einmal zu scheu, wie das Wasser in meinem Brunnen beschaffen ist.
Sind Sie wohl Wasserdoktor?
Das gerade nicht.
Aber Sie meinen, wir hätten Ihren Brunnen vergiftet?
Wie sollte ich!
Also bloße Neugierde?
So ungefähr.
Schöpfen Sie denn, so viel Ihnen beliebt. Eimer, Strick und Winde, alles
ist in bester Ordnung.
Der Besitzer schmunzelt und blickt in seinen Brunnen hinab.
Nun, mein Herr?
Die Sache ist — beginnt er schüchtern —
Sie brauchen sich nicht zu geniren!
Nicht doch, aber die Sache ist — er zieht ein Fünffrankenstnck aus der Tasche.
Würden mich die Herren wohl einmal in meinem Eimer in die Tiefe hinablassen?
Für fünf Franks in Ihren eignen Brunnen hinab? Gewiß!
Der Manu wird in die feuchte Tiefe hinabgelassen. Nach einer Weile giebt
er das Zeichen, ihn wieder hinauszuziehen. Als er glücklich wieder über den Rand
ist, dankt er verbindlichst und geht von dannen.
Die Schützen sehen ihm verwundert nach. Wenn Sie etwa morgen noch
einmal hinab wollen, ruft ihm einer nach, so seien Sie ja nicht blöde.
Ich danke, giebt der Franzose zur Autwort und zeigt auf ein eisernes
Kästchen, das er unterm Arm verborgen hält. Ich hatte nur ein solches Andenken
zurückgelassen.
Und mit seinem glücklich wieder gehobnen Schatze machte er sich davon.
In Anlnay verlief eine ähnliche Schatzgräbergeschichte in andrer Weise, doch
bis jetzt wenigstens auch nicht zum Schaden des rechtmäßigen Besitzers. Er hatte
mit großen- Lamento die unwirtlichen Räume seiner kleinen Villa durchwandert,
und da er dem Weinen nahe schien, so ließen ihn die gutmütig beschwichtigenden
Qnartiergäste endlich mit seinem Schmerz allein.
Nach einer Weile kommt er ganz vergnügt aus dem Garten zurück.
Nun, mein Herr? denn der Belagerungssoldat titulirt jede» Franzmann „mein
Herr"; »icht wahr, Sie habe» sich Ihre» Schade» »och einmal besehen? Verhältnis¬
mäßig ist es Ihnen noch gut gegangen?
Gewiß! I'out va, bien, Wut og, trss bisn!
Sind das sonderbare Kcinze. sagen die Soldaten, als der Franzose mit vielen
Höflichkeiten von dannen getänzelt ist.
Sonderbare Kauze? ruft einer, der eben mit einer Tute Schnupftaback vom
Marketender heinikommt. Verwünschte Gauner sinds! Hat er mich nicht mit den,
halben Franken fortgeschickt, als ich ihm eben in deu Garten folgen wollte? Und
ich lasse mich auch wahrhaftig aus Gutmütigkeit fortschicken! Während dessen hat
er einen Schatz im Garten ausgegraben. Jetzt lacht er sich ins Fäustchen!
So wars aber gar nicht gewesen. Ausgegrabeu hatte der Franzose nichts,
wie ein Augenzeuge nachher aussagte. Nur in seinem Garten umgesehen hatte er
sich. Der war uun freilich von den Soldaten wie alle übrigen Gärten des
Belagerungsgttrtels schon vor Monaten um und um gewühlt worden, bis sie sich
dabei beruhigt hatten, hier liege nichts verscharrt. Jetzt war das Gegenteil klar;
aber wer will, wo Bäume, Stauden und Gemüse über einem solchen Fleckchen
Erde die harmlosesten Mienen machen, den Ort des Verstecks genau herausfinden?
Mags drum sein, war denn auch schließlich das Ende neuen Überlegens. Und
so bleibt der Schatz wohl, wo er liegt, bis Aulnay wieder von seinen rechtmäßigen
Besitzern bewohnt sein wird.
Die zweite Februarwoche begann mit dem Protest
von 69 großen Städten Preußens gegen das Lehrerbesoldungsgesetz nud der Grün¬
dling eines preußischen Städtetages. Erfreulich ist die dadurch eingetretene Ver¬
schärfung des Gegensatzes zwischen Stadt und Land freilich nicht, aber man kann
es den Magistraten nicht verargen, daß sie sich endlich einmal zur Abwehr der
agrarischen Angriffe ans die Interessen der städtischen Bevölkerung aufraffen. Wäre
es ihnen nicht'um bloße Abwehr, sondern um einen Angriff zu thun, so würden
sie sich im Vergleich mit dem Bunde der Landwirte sehr ungeschickt benommen
haben, denn sowohl in den Reden und Resolutionen wie in der an den Landtag
gerichteten Petition kommt nichts vor, was mit agitatorischer Kraft zu packen ge¬
eignet wäre. Nicht einmal das von Teos gesammelte Material, auf das, nachdem
es die Nationalzcitung abgedruckt hatte, die Berliner Korrespondenz einen mi߬
lungnen Angriff unternommen hat. haben sie verwertet. Teos ergänzt dieses Ma¬
terial in Ur. 20 der sozialen Praxis. Die Verwendung der Staatszuschüsse auf
dem Lande erinnert einigermaßen an die Schulz-Wecken. So hat einmal ein süd¬
deutscher Dorfschulze die Worte „zu Schulzwecken" gelesen und sich von dem Ertrage
einer Schulstiftuug Wecken backen lassen. In Ostelbien sind es nicht die Schulzen,
sondern die Rittergutsbesitzer, die so schön lesen können.
Die Jnterpellation Heyl wegen der Zustände in der Konfektion und Wäsche¬
fabrikation am 12. hat uns das seltne Schauspiel einer vollkommnen Einigkeit
aller Reichstagsfraktionen nnter sich und mit der Regierung beschert. Der Sozial¬
demokrat Fischer benahm sich dabei höchst ungeschickt und unpolitisch; anstatt sich
über den Sünder zu freuen, der Buße thut, siel er mit einer durch nichts gerecht¬
fertigten Wut über die zur Abhilfe bereiten her und rückte ihnen alle ihre alten
Sünden vor. Wenn der nationalliberale Antrag angenommen wird, so werden
damit die Hauptübelftände der Konfektion gehoben fein. Freilich wird es daun
mit der „Blüte" dieses Gewerbes als eines Exportgewerbes vorbei sein, und Tausende
von Schneidern und Nähterinnen werden sich ein andres Brot suchen müssen und
vorläufig — nicht finden; diesen Umstand haben die Grenzboten schon in der
vorigen Nummer Seite 349 hervorgehoben. Die Gefahr ist freilich nicht groß,
denn der Hausindustrie gegenüber scheint die Regierung, wie sich die Frankfurter Zei¬
tung ausdrückt, noch an einer zu weit gehenden Zaghaftigkeit zu leiden. Als be¬
merkenswert hebt dasselbe Blatt mit Recht hervor, daß auch Hitze die Bestimmung,
wonach Werkstätten, in denen nur Familienmitglieder beschäftigt werden, der Auf¬
sicht der Gewerberäte entzogen bleiben, ganz entschieden beseitigt wissen will; wider¬
spricht doch im allgemeinen keine Partei so energisch wie das Zentrum dem Ein¬
dringen der Staatsgewalt in das „Heiligtum der Familie." Ju Breslau haben
sich die beiden streitenden Teile klüglich geeinigt; die Unternehmer haben ein paar
Zugeständnisse gemacht, und die Arbeiter haben sich damit begnügt.
Dasselbe Schauspiel erhebender Eintracht bot der Reichstag am 13. bei der
Vorlegung des Weißbuchs über Transvaal; sogar Bebel, der natürlich in das dem
Auswärtigen Amt erteilte Vertrauensvotum nicht einstimmen konnte, gestand ihm
doch zu, daß es sich in dieser Angelegenheit vollkommen korrekt benommen habe.
Daß dank der Umsicht und Besonnenheit der Regierung in der Krisis unsre Be¬
ziehungen zur englischen Negierung, wie der Staatssekretär von Marschnll ver¬
sicherte, „keinen Augenblick aufgehört haben, gute, normale und freundliche zu sein,"
ist gewiß erfreulich; aber wenn das unersättliche England von seinen afrikanischen
Plänen nicht absteht, unsre Regierung dagegen in ihrem Entschluß, eine Änderung
des sea-tus c^no in Transvaal nicht zu dulden, fest bleibt, so wird über kurz oder
lang die diplomatische Kunst versagen. Schon aus diesem Grunde verstehen sich
Flottenvermehrungspläne von selbst. Aber die ausschlaggebenden Politiker werden
sich klar machen müssen, welchen Weg sie zu einem größern Deutschland einschlagen
wollen, und zu welchen Konsequenzen jeder von ihnen führt. Die in den letzten
beiden Jahren ganz agrarisch gewordne Schlesische Zeitung — nur in der Währungs¬
frage lavirt sie noch — ermunterte in ihrem Leitartikel vom 9. den Bund der
Landwirte, auszuharren bis zum Ablauf der Handelsverträge, und verkündigte mit
Sperrdruck: „Kündigung aller überhaupt kündbaren Handelsverträge und die
Schaffung eines hohen autonomen Zolltarifs — das find Forderungen, welche alle
diejenigen mit Schärfe erheben müssen, die es gut meinen mit unsrer heimischen
Landwirtschaft." Wir haben, wie unsre Leser wissen, gegen das Ideal eines sich
selbst genügenden Reiches nach dem Vorbilde Chinas nicht das geringste einzu¬
wenden. Nur bitten wir immer, nicht zu vergessen, daß eine gewisse Größe die
vomlitw «wo guk ion der Verwirklichung dieses Ideals ist. Wenn wir in Zukunft
einmal Westrußland, den Balkan und Vorderasien hätten, dann würden wir die
Zollantonomie so gut durchsetzen können, wie heute die Vereinigten Staaten.
Wollen wir dagegen, als Englands Konkurrenten, englische Bahnen wandeln, oder
vielmehr fahren, so müssen wir uns in die Thatsache fügen, daß das nur bei
unbeschränkter Handelsfreiheit möglich ist.
Reine Agrarierpartei zu werden, trägt die konservative Partei doch noch Be¬
denken. Es giebt noch wirklich ideal gestimmte Gemüter in ihr, die es mit dem
Christentum ernst meinen, wie der schöne Protest v. Oertzens gegen das Ver-
halten des Kreuzzeitnngskomitees in Sachen Hammersteins in Ur. 7 der Christlichen
Welt beweist. Und die Konservative Korrespondenz weist die Forderung der Deut¬
schen Tageszeitung zurück, daß an die Stelle der bisherigen „überlebten" Parteien
„eine deutsche staatserhaltende Partei der Zukunft" treten soll von ausgesprochen
agrarischen Charakter, wenn auch mit den Devisen: national, christlich, kvuigstreu
verbrämt. Die Konservative Korrespondenz glaubt, daß eine konservative Partei,
die ihren Idealen treu bleibt, ohne die materiellen Interessen des Volks zu ver¬
nachlässigen, auch heute noch lebensfähig und den Aufgaben des Staatswesens ge¬
wachsen sei, warnt vor Demagogie und rechnet es zu den Pflichten des echten Kon¬
servativen, christliche Liebe zu verbreiten. Sehr schon! Nur hätte man das bedenken
sollen, ehe man den Christlich-Sozialen den Abschied gab.
Vorläufig fragen die volkstümlichen Wortführer der Konservative» nichts nach
idealen Rücksichten und agitiren unermüdlich im agrarischen Sinne weiter. Auch
Fühliugs Landwirtschaftliche Zeitung, die bis ins vorige Jahr hinein als techuisch-
vkonomische Lehrerin und Ratgeberin ihrem Namen Ehre machte, bringt seit einiger
Zeit in jeder Nummer Agitationsartikel. Sie fährt fort, den Antrag Kanitz zu
empfehlen, und putzt zu diesem Zweck im dritten Heft u. a. ein Paar alte Laden¬
hüter wieder auf, deren Wertlosigkeit wir längst dargethnn haben. So den „Zwischcn-
handelszuschlag" bei der Brotbcreitung. Zwischenhaudelszuschlag nennt sie nämlich
den Verdienst des Müllers und des Bäckers. Die Berechnungen des Verfassers
stimmen insoweit mit den unsern (Grenzboten 1894, Heft 22, S. 408) überein,
als auch nach ihm 100 Pfund Roggen uugefnhr Jos Pfund Brot geben. Wir
hatten gesagt, die Kleie reiche zur Ablohuung des Müllers hin, sodaß sich in die
Differenz zwischen Roggenpreis und Brotpreis nur der Händler, die Eisenbahn und
der Bäcker zu teilen hätten. Klapper behauptet, die Kleien deckten die Spesen des
Müllers und des Bäckers, und läßt Transport und Händlerverdienst ganz außer
Rechnung. Daß die Kleie auch für die Spesen des Bäckers reiche, namentlich bei
den Mietpreisen und Steuern der Großstädte, glauben wir schlechterdings nicht.
Aber nehmen wir an, es sei so. Arbeiten denn die Müller und die Bäcker bloß
zum Vergnügen? Wollen sie nicht außer dem Ersatz ihrer Spesen anch den Lebens¬
unterhalt für sich und ihre Familien? Wollen sie nicht etwas erübrigen? Hat ein
Bäcker, der vou seinem vierzehnten Lebensjahre ab die allnächtliche Plackerei aus¬
gestanden hat, nicht das Recht, nach einem Kapital zu streben, das ihn in Stand
setzt, sich mit dem funfzigsten, spätestens dem sechzigsten Jahre zur Ruhe zu setzen?
Nach den unverdächtigen Erhebungen des Bundes der Landwirte war voriges Jahr
>n Berlin der Durchschnittspreis des Doppelzentners Roggen 11,65, des Doppel¬
zentners Brot 20 Mark, sodaß dem Müller und dem Bäcker nach Klappers nicht
einwandfreier Berechnung 8 Mark 35 Pfennige, jedem von ihnen 4 Mark 17 Pfen¬
nige über die Spesen bleiben. Das ist doch wahrhaftig kein übertriebner Gewinn; wer
weiß, ob Herr Klapper Lust hätte, gegen eine Entschädigung von 4 Mark 17 Pfen¬
nigen jede Nacht zwei Zentner Teig durchzukneten und zu verbacken. Will er aber
den Bäckern verbieten, Vermögen 'zu sammeln, so muß ers auch den Kaufleuten,
den Fabrikanten und den Gutsbesitzern verbieten. Giebts etwa keine reichen Guts¬
besitzer? sind die Magnaten arme Leute? Wie uennts doch Ahlwardt? Gewalt-
eigcntum! Also die ewigen Angriffe auf die Bäckerei haben nur dann einen Sinn,
wenn man sich zum Kommunismus bekennt und den Satz aufstellt, daß jedem der
seinen Leistungen entsprechende Lebensunterhalt zugemessen werde» müsse, und daß
er mehr uicht erwerben dürfe. Zu demselben Ergebnis führt der von Klapper
breit getretne Satz, den man jetzt oft Hort, der deutsche Konsument habe „kein Recht
auf ein billigeres Brot, als den deutschen Herstellungskosten entspricht." Der Satz
ist in dieser Form unsinnig; es fällt in unsrer auf die freie Konkurrenz gegrün¬
deten Wirtschaftsordnung keinem Konsumenten ein, ein Recht ans billigen Preis
geltend zu machen. Wohl aber hat er das Recht, zu kaufen, wo ers am billigsten
findet, und die Frage ist nur, ob der Staat das Recht habe, ihm dieses Recht zu
beschränke» oder zu nehmen. Nun hat ja Klapper recht, wenn er sagt, dieses Recht
habe sich der Staat durch die Schutzzölle längst beigelegt, aber wir Arbeiter alle:
Handarbeiter und Kopfarbeiter, Weber und Schneider, Schlosser und Schreiner,
Buchbinder und Buchhändler, Zeitungsschreiber und sonstige Publizisten haben nicht
minder recht, wenn wir sagen: gut, dann wollen wir alle mit einander geschützt
und verstaatlicht sein; sichert der Staat den einen den Lebensunterhalt, so muß er
ihn allen ohne Ausnahme sichern, und da sind wir wieder glücklich beim Kommu¬
nismus angelangt.
Das schönste ist, daß die Patrone des „Mittelstandes," zu denen anch Klapper
gehört, immer gleichzeitig mit der linken Hand einreißen, was fie mit der rechten
aufbauen. Während sie fortwährend gegen den „Zwischenhandel" eifern und eine
große Zahl ihrer Anhänger zu Gunsten gewisser Klassen von Produzenten allen
„Zwischenhandel" durch Konsumvereine und Produktivgenossenschaften beseitigen will,
werden gleichzeitig im Reichstag und im sächsischen Landtage Gesetze gemacht, die,
Wenn sie durchgehe», den Konsumvereinen das Leben aufs äußerste erschweren und
viele von ihne» vernichte» werde». Wir gönnen den Gewürzkrämern ihre sauer
verdienten Groschen von Herzen, aber wie kommen Leute, die Politiker heißen
wollen, dazu, den Gewllrzkrämern zuliebe die Konsumvereine und gleichzeitig durch
andre Genossenschaften die Bäcker als unnütze Zwischenhändler totschlagen zu wollen?
(Um Mißverständnissen vorzubeugen, bemerken wir, daß Klapper nicht zu den
Leuten gehört, die die selbständigen Bäcker beseitigen wollen; er will ihnen nur
durch die Kanitzische Preisbefestigung die Möglichkeit nehmen, die übermäßigen Ge¬
winne zu erzielen, zu denen ihnen seiner Ansicht nach die dnrch Spekulation ver¬
ursachten Preisschwankungen verhelfen. Auf seine sehr künstlichen Berechnungen
einzugehen lohnt nicht die Mühe.)
Im Sinne
der Botschaft Kaiser Wilhelms I. zu wirken und dabei nicht immer erst auf den
Staat zu warten, das ist jetzt die Losung auf sozialpolitischen Gebiete. In diesem
Sinne zu wirken, das war schon lange vor dem Jahre 1881, ehe man noch an
soziale Gesetzgebung dachte, die Losung unsrer Militärvereine. Lange, ehe es ein
Krankenversicherungsgesetz gab, betrachteten es die Militärvereine als eine ihrer
Hauptaufgaben, ihre kameradschaftliche Gesinnung vor allem durch Unterstützungen
in Kraukheits-, Unglücks- und Todesfällen zu bethätigen. Feste Bestimmungen dar¬
über wurden schon von den ersten Militärvereinen, deren Gründung in die letzten
dreißiger Jahre fällt, in ihre Satzungen rin ausgenommen. Was auf diesem Ge¬
biete auch mit geringen Mitteln geleistet werden kann, zeigt die Thatsache, daß von
den Vereinen des königlich sächsische» Militärvereinsbnndes seit ihren, Bestehen bis
jetzt 5 Millionen Mark ein U»terstütznngen gezahlt worden sind, nicht mit gerechnet
die Beihilfen ans der Bundeskasse, den fehr bedeutenden Stiftungen für Kameraden
über sechzig Jahre, für Witwen, für Söhne von Kameraden zur Berufsausbildung,
sowie aus der vom Bunde unabhängigen Jnvalidenstiftuug vom Jahre 1864.
Ein neues Unternehmen auf sozialpolitischen Gebiete haben nun seit einiger
Zeit die Militärvereiue durch Errichtung unentgeltlicher Arbeitsnachweise für ge-
diente Soldaten ins Leben gerufen. Hier bietet sich nicht bloß der kameradschaft¬
lichen, sondern auch der patriotischen Thätigkeit dieser Vereine ein weites und aus¬
sichtsreiches Arbeitsfeld; wird doch gerade die Stellenvermittlung von der Sozial¬
demokratie mit Vorliebe benutzt, um neue Anhänger zu gewinnen, namentlich unter
den von den Truppen zur Reserve entlassenen Mannschaften. Diesen vor allem
soll die Wohlthat der Einrichtung zu gute kommen, doch darf der Arbeitsnachweis
überhaupt von allen alten Soldaten in Anspruch genommen werden, gleichviel ob
sie Mitglieder der Vereine sind oder nicht. Die Vermittlung ist für beide Teile,
für Arbeitsuchende wie für Arbeitgeber, völlig unentgeltlich. Die Mittel zur Be¬
streitung der Kosten werdeu vou den Vereinen durch freiwillige Beiträge auf¬
gebracht.
Die zweckmäßige Regelung der Arbeitsvermittlung ist eine so wichtige sozial¬
politische Aufgabe, daß wir diesen neuen Versuch mit großer Frende begrüßen und
ihm den besten Erfolg wünschen. Manche frühern Bestrebungen dieser Art von
Gemeinden und Berufsgenossenschaften siud freilich gescheitert, andre vermögen uur
notdürftig weiterzubestehen, wenn es anch nicht an solchen fehlt, die recht an¬
erkennenswerte Erfolge aufzuweisen habe». Erhebungen darüber werden für Preußen
von dem königlichen statistischen Bureau in Berlin angestellt, die Veröffentlichung der
Ergebnisse soll nahe bevorstehen. Im vorliegenden Falle scheinen uns die Ver¬
hältnisse so günstig zu liegen wie nur möglich. Die deutschen Militär- und Krieger¬
vereine haben sich, mit ganz geringen Ausnahmen, zu sechs starken Verbänden zu¬
sammengeschlossen, dem deutschen Neichskriegerverband mit dem deutschen Krieger¬
bund an der Spitze, dem bairischen Vetercmenbnnde, dem königlich sächsischen
Militärvereinsbunde, dem württembergischen Kriegerbunde, dem badischen Militär-
Vereinsverbande und dem Landesverbände der militärischen Vereine im Großherzog¬
tum Hessen. Diese sechs Verbände wieder, die zusammen etwa 17 000 Vereine mit
ziemlich 2 Millionen Mitgliedern umfassen, werden vom 18. Juni dieses Jahres
ab, dem Tage der Einweihung des Kniser-Wilhelm-Denkmals auf dem Kyffhcinser,
eine Vertretung ihrer gemeinschaftlichen Interessen in dem ständigen Ausschuß für
die Verwaltung des Denkmals erhalten. Ist sonach schon innerhalb jedes einzelnen
dieser großen Verbände die Möglichkeit geboten, sich über Angebot und Nachfrage
in den verschiednen Landesteilen leicht zu unterrichten, so können sich zu weiteren
Ausgleich die Verbände mit einander in Einvernehmen setzen.
Der einzige Einwand, der gegen diese Art des Arbeitsnachweises erhoben
werden könnte, ist der, daß er nur auf ehemalige Soldaten Rücksicht nimmt. Allein
viel einseitiger noch waren alle bisherigen Versuche, die entweder örtlich oder ans
einen bestimmten Erwerbszweig beschränkt waren, während sich in diesen beiden
Richtungen die Stellenvermittlung der Militärvereine keine Grenze gefleckt hat.
Bedenkt man ferner, wie fehr die nicht im Heer eingestellten Arbeiter in dieser
Beziehung im Vorteil sind, da sie ihrem Berufe ohne Unterbrechung obliegen können,
und daß für sie auch die mancherlei Geldopfer wegfallen, die der Militärdienst
"uferlegt, so darf man den gedienten Soldaten diese Bevorzugung wohl gönnen.
Übrigens sind uus Fälle bekannt geworden, wo Geschäftsstellen der Militärvereine,
Wenn nuf irgeud einem Gebiete besonders starkes Stellenangebot, dagegen keine
Nachfrage aus den Kreisen gedienter Soldaten vorhanden war, frei von jeder Eng¬
herzigkeit, auch Nichtsoldaten auf ihre Bitte Arbeit nachgewiesen haben.
Genauere Nachrichten liegen uns auch hier wieder aus Sachsen vor. Zwar
>>t es vorläufig noch nicht gelungen, die Einführung unentgeltlicher Arbeitsnachweise
Kur Angelegenheit des ganzen Bundes zu mache», weil man den Bezirksvorstehern,
um deren Arbeitskraft ohnehin schon Weitgehende Anforderungen gestellt werden,
so weit sie sich nicht freiwillig beim erboten, die außerordentliche Mehrbelastung
nicht aufnötigen zu dürfen glaubte. Wohl aber entschlossen sich einige Bezirke (den
Amtshauptmannschaften entsprechend), unter andern Leipzig, Döbeln und Grimma,
die Sache auf eigne Hand ins Werk zu setzen. Der Erfolg übertraf alle Erwar¬
tungen. So konnte der Bezirk Leipzig im ersten Jahre seines Bestehens 591 alten
Soldaten Arbeit nachweisen, und im Bezirk Grimma gingen allein im ersten Monat
11V Gesuche um Arbeitsvermittlung ein, denen ein Angebot von 143 Stellen der
verschiedensten Berufsarten gegenüberstand, ein Beweis, welches Vertrauen der Ein¬
richtung von den Arbeitgebern entgegengebracht wird. Das Bekanntwerden dieser
Ergebnisse hatte zur Folge, daß sich uicht nur weitere sächsische Bezirke, z. B. Dresden
und Rochlitz, und einzelne Vereine entschlossen, die Arbeitsvermittlung bei sich ein¬
zuführen, sondern daß anch aus andern Teilen Deutschlands Anfragen eingingen
mit der Bitte um nähere Mitteilungen über die sächsischen Einrichtungen. Auch die
Tagespresse, z. B. die Kölnische Zeitung, trat für die aus Sachsen kommende An¬
regung warm ein und empfahl das dort gegebne Beispiel für ganz Deutschland.
So regt man sich denn jetzt allenthalben im Reiche. In mehreren Bezirken
des deutschen Kriegerbundes, in der Rheinprovinz und in Schlesien, sind die Vor-
bereitungen im Gange, ja, wie wir hören, beabsichtigt der ganze deutsche Kriegcr-
bnnd, der stärkste aller deutschen Verbände (9400 Vereine mit 776 000 Mit¬
gliedern), noch in diesem Sommer dem Beispiele seiner sächsischen Kameraden zu
folgen. Der Verband der badischen Militärvereine hat schon vor längerer Zeit in
.Karlsruhe eine Arbeitsvermittlungsstelle errichtet, ebenso der Breisgnuer Militär-
verbaud in Freiburg. Das Unternehmen ist also auf dem besten Wege, die Aus¬
dehnung zu gewinnen, die im Interesse der Sache wünschenswert ist. Sind erst
überall im deutschen Reiche derartige Vermittlungsstellen vorhanden, die sich als¬
dann zum Zwecke gegenseitigen Austausches vou Angebot und Nachfrage, etwa durch
ein besondres Organ, in beständiger Verbindung uuter einander erhalte», dann wird
der unentgeltliche Arbeitsnachweis der Militärvereine unter den sozialpolitischen
Einrichtungen eine hervorragende Stellung einnehmen.
Ein Nichtjurist, der vom Entwurf eiues
bürgerlichen Gesetzbuches mir Bruchstücke keimt und sich zu einem Urteil darüber
nicht berufen fühlt, erlaubt sich doch die Bemerkung, daß der darin wenigstens
stellenweise verwendete Juristenstil ein wirkliches Unglück sei. Die Werkstatt,
Meister Konrads Wochenblatt (ein sehr verbreitetes gut geschriebncs Organ der
liberaleren Richtung des Handwerkerstandes, das größtenteils technischen Inhalts
ist und von den Politischen Vorgängen, soweit sie das Handwerk nicht berühren,
nur eine kurze Übersicht giebt) erklärt sich in Ur. 1l sehr entschieden gegen die
Behauptung der Juristen, daß der Anspruch, ein bürgerliches Gesetzbuch müsse ge¬
meinverständlich sein, absurd sei. Der Meister Konrad entgegnet: „Da hört doch
alles auf! Ein Gesetz ist doch dazu da, daß man sich darnach richte; es verbietet
entweder etwas oder erlaubt etwas oder setzt ein Verhältnis zwischen dem und
jenem fest. Wie soll einer nun wissen, was erlaubt und was recht ist und was
uicht, wenn die Sätze so verdreht sind, daß es einer beim besten Willen nicht
versteht? Ja selbst, daß ein Gesetz nur schwer verständlich ist, ist schon ein Schade
und ein schweres Unrecht; denn was Recht ist, soll dem Volke so eingehen, daß
es mit ihm verwächst und eins wird mit seinem Denken und Fühlen." In Ur. 17
beschwert sich der Meister Konrad darüber, daß die Redakteure der großen Zei-
tungen seine Klage zwar gelesen, aber keines Wortes gewürdigt hatten, und führt
zur Rechtfertigung seines Urteils den Z 248 des Entwurfs an: „Hat der Schuldner
einen bestimmten Gegenstand herauszugeben, so bestimmen sich vom Eintritts der
Rechtshängigkeit an, soweit sich nicht aus dem Schuldverhältuis oder dem Verzüge
des Schuldners zu Gunsten des Gläubigers ein Andres ergiebt, die Ansprüche des
Gläubigers auf Herausgabe oder Vergütung von Nutzungen, sowie aus Schaden¬
ersatz wegen Unterganges oder Verschlechterung und der Anspruch des Schuldners
auf Ersatz von Verwendungen nach den Borschriften, welche für das Verhältnis
zwischen dem Eigentümer und dem Besitzer vom Eintritte der Rechtshängigkeit des
Eigentumsanspruchs gelten." Von diesem scheußlichen Satze versteht der gemeine
Mann gar nichts, und der wissenschaftlich Gebildete mir so viel, daß er auf einen
andern Paragraphen — vielleicht sind es auch mehrere — verwiesen wird, und
wenn die eben so klar sind, weiß er dann so wenig wie der gemeine Mann. Sollte
es wirklich unmöglich sein, in verständlichen Deutsch zu sagen, wie es mit einem
Gegenstande zu halten sei, der sich im Besitz des einen befindet, während der
andre einen Anspruch darauf hat? Oder sollte es wirklich die Würde der Rechts¬
wissenschaft fordern, daß die Sache als Geheimnis behandelt und in einer nur für
Juristen verständlichen, oder vielleicht auch nicht einmal für diese zweifelfreien Aus¬
drucksweise gesagt wird? Recht merkwürdig ist ein Umstand, der in der Sozialen
Praxis Ur. 19 Sy. 624 hervorgehoben wird. Im vorigen Entwurf lautete der
8 752 Abs. 1: ,,Wer in einem der in den 746—748 bezeichneten Fälle für
einen von ihm verursachten Schaden deshalb nicht verantwortlich ist, weil ihm
Vorsatz oder Fahrlässigkeit .nicht zur Last fällt, hat gleichwohl den Schaden in so¬
weit zu ersetzen, als die Billigkeit nach den Umständen des Falles, insbesondre
nach den Verhältnissen der Beteiligten, eine Schadloshaltung erfordert und ihm
!>urch dieses nicht die Mittel entzogen werden, deren er zum standesgemäßen Unter¬
halt sowie zur Erfüllung seiner gesetzlichen Unterhaltspflichten bedarf." Diese Vor¬
schrift ist nicht allein verständlich, sondern sie war auch, wie die Soziale Praxis
sagt, ,,eine der glücklichsten Schöpfungen, die während der gesamten Beratungen
des bürgerlichen Gesetzbuchs entstanden sind: sie ist wirklich dem Vvlkscmpsiudeu
abgelauscht und böte, selbst in ihrer Isolirung, die Grundlage für eine deutsch-
rechtliche Gestaltung des Schadenersatzes aus sogenannten unerlaubten Handlungen
und einen wertvollen Ansatz für die Berücksichtigung der Billigkeit im Recht über¬
haupt." Und diese vernünftige Borschrift ist im neuesten Entwurf uhue Ersatz und
ohne Angabe des Grundes weggelassen werden.
Hermann Useuers Versuch einer Lehre von der religiösen
^egriffsbildung, der unter dem Titel Götternamen im Verlage von Friedrich
^oben in Bonn erschienen ist, faßt die Deutung des mythologischen Problems
w einer völlig originellen und sehr viel tiefern Weise auf, als es von irgend einem
seiner Vorgänger geschehen ist. Da es unmöglich ist, einem so gedankenreichen
Werke hier ausführlich gerecht zu werden, beschränken wir uns darauf, einige Einzel¬
heiten herauszugreifen, aus denen man leicht ersehen wird, wie weite Perspektiven
Usener jedem eröffnet, der sich für Religionsgeschichte und das Verständnis von
Maubenssachen interessirt.
Demeter und ihre Tochter Persephone werden in alten Kulten vielfach als
--Herrinnen" in mehreren synonymisch gleichbedeutenden Ausdrücken bezeichnet. Usener
'"eist «ach, daß der Ausdruck Herrin ursprünglich kein Atribut weder der Mutter
noch der Tochter, sondern die Benennung einer selbständigen, ihnen nebengeordueten
Gottheit gewesen ist. So stellt der abstrakte Name „Herrin" einen früher ge¬
bildeten mythologischen Begriff dar als die mehr sinnlichen Namen Demeter und
Kore, und wenn er später deren allgemeiner Beiname wird, so ist er nur in der
amtlichen Mythologie — um diesen Ausdruck zu brauchen — zu einem wenig be¬
deutenden Beinamen hernbgesuuken, während das Volk zum Teil fortfährt, bei
seinen altgewohnten „Herrinnen" zu schwöre». Ja diese Bezeichnung setzt sich
nicht allein ucich Rom fort, wo besonders die Göttermutter äowina, heißt, sondern
der Verfasser weist auch im christlichen Heiligenkalender eine Domina nach. Vom
höchsten Interesse sind — um diese Bemerkung hier gleich anzuschließen — die
durch den Verfasser zusammengestellten Listen von Heiligen, die heute in der
katholischen Kirche verehrt werden, und die von altheidnischen, ins Christliche um¬
gedeuteten Göttern oder Dämonen herstammen.
Seine tiefgehenden Forschungen faßt Usener kurz in den Sätzen zusammen:
Die Bedingung für die Entstehung persönlicher Götter ist ein sprachgeschichtlicher
Vorgang. Indem die Benennung eines wichtigern Sondergottes durch ländliche
Veränderung oder durch das Absterben des entsprechenden Wortstammes den Zu¬
sammenhang mit dem lebendigen Sprachschatze verliert und ihre Verständlichkeit ein¬
büßt, wird sie zum Eigennamen. Erst wenn er in einen Eigennamen gebunden
ist, erhält der Gottesbegriff die Fähigkeit und den Antrieb zur persönlichen Aus¬
gestaltung in Mythus und Kultus, Dichtung und Kunst.
Von diesem Staudpunkte ans erscheinen anch die menschlichen Eigennamen in
neuer Beleuchtung und offenbaren ihr wahres, innerstes Wesen. Denn in den
ältesten Zeiten inniger Verwandtschaft der Geschlechter mit ihren Familiengöttern
spiegeln sich in den Namen der Menschen die von ihnen verehrten Götter wieder,
ja die Menschen, überzeugt von ihrer direkten göttlichen Abstammung, benennen sich
selbst unbefangen mit den Namen ihrer göttlichen Ahnen.
Vergleichende Sprachforschung, Religionsgeschichte und Philosophie vereinigen
sich in dem Werke Useners mit der methodischen philologischen Forschung, um den
Urzeiten Griechenlands ihre Geheimnisse abzulauschen und das Nachwirken uralter
Vorstellungen bis in die spätesten Zeiten, ja bis in die Gegenwart herein zu ver¬
folgen. Dabei tritt jedoch der Verfasser in ebeu so scharfe» als berechtigten
Gegensatz zu der unhistorischen philosophischen Spekulation, der er den Vorwurf
macht, sie übersehe, daß es jenseits der Herrschaft der für uns geltenden Logik und
Erkeuutuislehre lauge Abschnitte der Entwicklung gegeben hat, worin sich der mensch¬
liche Geist langsamen Schrittes zum Begreife» und Denken durcharbeitete und unter
wesentlich Verschiednem Gesetze des Vorstellens und Sprechens stand. Im Gegensatze
hierzu geht Useners ganzes Streben dahin, durch Sprachivissenschaft und Mythologie
die Vorgänge des unbewußten und unwillkürlichen Vorstellens aufzuhellen, dn der
Sprung von deu Einzelwahrnehmungen zum Gattungsbegriff weit größer sei, als
wir mit unsrer Schulbildung und mit einer Sprache, die gewissermaßen schon selbst
für uus denke, auch nur zu ahnen vermögen.
le Deutsch, hie Polnisch! So lauten die Kampfrufe in den
deutschen Ostmarken. Es wird gekämpft mit geistigen Waffen
und mit Geld. Der Kampf ist aber nicht unähnlich einem
Schachspiel. Das Spiel steht so, daß Deutsch einige gute Züge
thun kann.
Zu den deutschen Streitkräften gehört jetzt die Ansiedlungskommission in
Posen und der Verein zum Schutze des Deutschtums in den Ostmarken, auch
genannt der Hansemann-Ltennemann-Tiedemann-Verein, oder noch kürzer der
H-K.T.-Verein, nebst der Landbank dieses Vereins und einer Gewerbebank, die,
wie mau hört, noch begründet werden soll.
Auf polnischer Seite steht die römisch-katholische Kirche, in den deutschen
^stmarken vertreten durch den polnischen König in xartidus inbäsliurn, den
Erzbischof von Posen, dann die polnische Landbank und die polnische Ge¬
nossenschaftsbank.
Es giebt aber auch neutrale Mächte in diesem Kampfe; dazu gehört die
Generalkommissiou in Bromberg. Auch kennt man eine Macht, die weder neutral
ist, noch es auch mit einer der beiden Parteien hält. Das ist der preußische
Staat als solcher.
Endlich ist da noch eine Macht, die von dem ganzen Streite nichts hören
will, obgleich ihr der Streit in beiden Ohren gellen sollte. Diese Macht ist
das deutsche Volk mit seiner starken Geisteskraft. Deutsches Volk, höre! und
spiele mit in dem Spiel, darin der Einsatz deine eigne Ehre ist.
Es stehen also noch nicht alle Figuren auf dem Schachbrette, die darauf
stehen sollten. Die aber, die es schon thun, haben folgenden Wert im Spiele.
Die Ansiedlungskommission in Posen, eine preußische Staatsbehörde und
eine Schöpfung aus der Zeit des Fürsten Bismarck, ist begründet mit einem
Kapital von hundert Millionen Mark, die der Staat zur Verfügung gestellt
hat. Das Geld ist bereits zum größer» Teile verwendet. Mit ihm hat die
Ansiedlungskommission Grundbesitz angekauft, fast nur Großgrundbesitz, und zwar
überwiegend polnischen Großgrundbesitz oder solchen deutschen, der in der
deutschen Hand noch nicht befestigt war. Diesen Großgrundbesitz verwaltet die
Ansiedlungskommission eine Zeit lang, bis er sich zum mittlern und kleinen
landwirtschaftlichen Betrieb eignet, und thut ihn dann, meist zu Rente, aus
an deutsche Bauern in größern und kleinern Höfen in reicher Abstufung, aber
doch so, daß der mittlere Besitz und Betrieb in der Mehrheit ist, und die Größe
einer Ansiedlungsstelle durchschnittlich etwa sechzig bis siebzig Morgen beträgt.
Die Ansiedlungskommission leistet die tüchtigste Arbeit, die dauerhafteste
Besiedlung, die in der Welt gefunden wird. Man kann annehmen, daß, wenn
die hundert Millionen ausgegeben sind, mit ihnen etwa 40000 Deutsche an¬
gesiedelt sein werden, alles in allem gerechnet, nämlich Erwachsene und Kinder.
Diese 40000 Deutschen werden, so darf man weiter rechnen, ein Achtzigstel des
Bodens von Westpreußen und Posen einnehmen. Die Ansiedlung ist so wurzel
echt, daß man diesen geradezu angesetzten Ansiedlern noch andre zurechnen und
auf das Guthaben der Ansiedlungskommission setzen darf, diese andern gleichsam
lieferbar in den Ostmarken nach einer Reihe von Jahren. Denn der Vorhut der
geradezu angesetzten Ansiedler kommen andre nach und siedeln sich in der Nähe
einer Hauptansiedlung in den umliegenden Dörfern an oder schieben sich in die
Hauptansiedlung selbst ein, indem die Stellen verkleinert werden.
Trotz alledem wird die treue und aufopfernde Thätigkeit der Ansiedlungs¬
kommission die Wagschale zu Gunsten der deutschen Bewohner in den Ostmarken
nicht wesentlich senken. Denn die von ihr geförderten Zahlen sind zu niedrig;
sie werden überschwemmt von der Bevölkeruugswelle, die in Deutschland vou
Osten nach Westen geht und viel deutsches Blut aus den Ostmarken mit sich
führt. Wohl wären die hundert Millionen imstande, diese Strömung umzu¬
kehren und die Welle gleichsam bergauf zu treiben, wenn die mit dem Geld
arbeitende Behörde nicht zu schwerfällig, zu beamtenmäßig wirtschaftete, statt,
wie sie sollte, geschäftsmäßig, kaufmännisch, bartartig. Denn, volkswirtschaftlich
betrachtet, ist doch die Ansiedlungskommission eine staatliche Landbank mit einem
Grundkapital von hundert Millionen Mark. Die Ansiedlungskommission aber,
wie sie. ist, gleicht einem übersorgsamen Gärtner, dessen gütiges Herz es nicht
erträgt, wenn einer seiner lieben Pflänzlinge vergeht. Wenn sonst ein Gärtner
einen großen Obstgarten anlegt, so weiß er, daß ihm zuerst jedes Jahr ein
Teil der heranwachsenden Bäume erkrankt, verkommt, abstirbt. Rechnet der
Gärtner aber schlecht und liebt er seine Bäume zu sehr, so kann er wohl solches
Absterben und Verkommen verhindern; wenn er nämlich neben jeden Baum
einen Wärter stellt, der ihn das ganze Jahr hegt und pflegt und abraupt usw.
Macht es aber der Gärtner so, dann kostet ihn jeder Baum mehr sür die
Aufzucht, als er nachher während seiner Tragezeit einbringt. Darum würde
der Gärtner härter und nüchterner, aber richtiger und wirtschaftlicher handeln,
wenn er gleich einen gewissen Bruchteil der Obstbäume „zur Vernichtung"
rechnete und die Pflege nicht weiter triebe, als sie wahrscheinlich Geld ein¬
bringt. Dann schließt zuletzt die Rechnung mit Gewinn. So aber ist die An¬
siedlungskommission nicht; sie ist eben jener übersorgsame Baumwirt. Das ist
sehr lieb und freundlich gegen die Ansiedler, aber es ist nicht praktisch. Doch
es scheint, daß dieser liebenswürdige Fehler von einer staatlichen Baukverwal-
tung untrennbar ist. Darum wäre es vielleicht besser, man gründete mit eineni
Teile des noch nicht verwendeten Geldes eine Ansiedlungsbank nach dem Muster
der Zeutralgenvssenschaftskasse, gäbe ihr jenen einmaligen festen Staatszuschuß
und behielte sie unter Staatsaufsicht. Dann würde öffentliches Geld gespart
und wahrscheinlich zahlreicher angesiedelt werden. Jetzt ist die Thätigkeit der
Ansiedlungskommission in Posen zwar höchst lobens-, aber leider nicht hundert
Millionen Mark wert.
Der Verein zum Schutze des Deutschtums in den Ostmarken ist erst vor
zu kurzer Zeit begründet worden, um schon jetzt über seine Wirksamkeit ein
tiefer gehendes Urteil abgeben zu können. Da aber seine drei Begründer, die
man nach der gehässigen Anfeindung von polnischer Seite auch die drei Männer
im feurigen Ofen nennen kann, hervorragend tüchtige Männer, Landwirte und
Geschäftsleute sind, so darf man das beste erhoffen. Die von dem Verein
gegründete Landbank soll fünf Millionen Grundkapital haben und wird hoffentlich
geschäftsmäßiger und wirksamer verfahren, als die Ansiedlungskommission mit
ihren hundert Millionen. Mit dem Ankauf eines großen Gutes, Karchvwo,
in Westpreußen ist. nach Zeitungsnachrichten, ein erfreulicher Anfang gemacht
worden. Wir nehmen um, daß das Gut besiedelt werden soll. Auf Besied¬
lung beschränkt sich jedoch die Thätigkeit des H.K.T.-Vereins nicht; gerade
zuerst war er nur auf anderm Gebiete thätig. Er bezweckte ursprünglich den
Zusammenschluß und die gegenseitige Beihilfe der Deutschen in den Ostmarken, mit
Unterstützung durch die Deutschen von außerhalb. So half der Verein deutschen
Geschäftsleuten, die von dem jetzt sehr beliebten Boykottiruugsverfahren der
Polen bedroht waren; jetzt will er zu ähnlichen Zwecken eine Gewerbebank
neben der Landbank gründen. Der Verein führt ferner deutsche Ärzte und
Rechtsanwälte in die Ostmarken; denn die polnischen Ärzte und Rechtsanwälte
sind, neben den Geistlichen, die eifrigsten Wühler für die polnische Sache. Wir
hoffen endlich, daß der H.K.T.-Verein durch deutsche Theateraufführuugen,
deutsche Volksbibliotheken und Wanderredner den entsprechenden polnische»
Bestrebungen entgegenwirken wird oder diese Dinge doch bereits für die Zu¬
kunft vorgesehen hat.
Aber ebenso wenig wie die Ansiedlungskommission die natürliche ostwest-
liebe Bevölkerungswelle hat stauen oder sonst durch Einführung deutschen
Blutes hat wett machen können, ebenso wenig glauben wir, daß der H>K,T.¬
Verein sich als geistige Macht den auf polnischer Seite stehenden kirchlichen
Mächten auf die Dauer gewachsen zeigen wird. Denn ein Verein von so
loser Verfassung wie der H.K.T.-Verein bewahrt selten auf lauge Zeit den
Geist der Stifter. Gleichwie der geringe Jahresbeitrag für einen solchen Verein
nur ein verschwindend kleiner Teil des Einkommens der Mitglieder ist und
sein kann, ebenso ergreift der Verein Herz und Sinn der Mitglieder uur zu
einem kleinen Teil. Sobald seine Ziele nicht mehr im Vordergründe des
Tagesgesprächs stehen, erlahmt seine Wirksamkeit. Wir schätzen den Verein
hoch, namentlich den Eifer und die Tüchtigkeit seiner drei Hauptvertreter.
Aber wir warnen vor der Meinung, daß der Verein, wie er ist, schon dem
Deutschtum zum Siege verhelfen könne. Damit soll nichts nachteiliges gegen
den Verein gesagt sein, den wir vielmehr dringend jedem Deutschen empfehlen,
sondern uur etwas zum Wohle des deutschen Volks.
Denn den deutschen Schachfiguren von der weißen Farbe stehen mächtige
schwarze Figuren auf polnischer Seite gegenüber. Von diesen schätzen wir zwar
die beiden polnischen Bankgründnngen, nämlich die polnische Genossenschafts¬
bank und die polnische Landbank, nicht so hoch im Werte, wie das gewöhnlich
geschieht. Als Schachfiguren können wir sie höchstens den Springern gleich¬
stellen. Die eine dieser Banken rühmte sich kürzlich, wenn wir uns recht er¬
innern, daß sie mit ihrem zwischen ein und zwei Millionen Mark betragenden
Grundkapital, dessen erhöhte Einzahlung übrigens jetzt nicht recht vorwärts
gehen will, etwa zwei Drittel so viel polnische Ansiedler in kürzerer Zeit au¬
gesetzt habe, als die Ansiedlungskommission deutsche Ansiedler in längerer Zeit.
Nehmen wir diese prahlende Behauptung einmal für richtig an, fo ist doch
zu erwägen, daß Ansiedler nicht bloß gezählt, sondern auch ihrem Ansiedlungs-
wertc mich verglichen werden müssen. Manche Ansiedler sind lebendige Frucht-
bäume, die Wurzel schlagen und künftig anch neue Edelreiher zu weitern Pflan¬
zungen darbieten, manche Ansiedler dagegen tote Stöcke, die nur scheinbar
angepflanzt und für vertrauensselige Gläubiger grün angestrichen sind. Wir
glauben Grund zu der Annahme zu habe», daß die Ansiedler der polnischen
Banken zum guten Teil letzterer Art sind, und daß sie daher gleichsam wie
untergepflügte Lupinen, als Gründüngung sür künftige deutsche Ansiedler werden
dienen können. In diesem Sinne rufen wir den beiden polnischen Banken ein
heiteres Glückauf zu. Übrigens dürften auch diese Erfolge der polnischen
Banken im wesentlichen erst ermöglicht sein durch die Rentenguts- und Renten-
bankgcsetze von 1890 und 1891, das heißt durch die Mitwirkung der General¬
kommission, die allerdings uach dem Gesetze nicht wohl versagt werden kann,
wenn sonst die rechtlichen und wirtschaftlichen Voraussetzungen für eine Be¬
siedlung vorliegen.
Eine weit gefährlichere Schachfigur als diese beiden polnischen Banken ist
die römisch-katholische Kirche. Es steht ja im Widerspruch zu dem Schalmei-
gesänsel in einer der letzten Enchkliken, aber es ist dennoch gewiß, daß die
katholische Kirche dem deutschen Volke noch immer nicht vergessen kann, daß
Luther unser war und im Geiste noch ist. Während unter den großen Kaiser¬
geschlechtern des Mittelalters die Ausbreitung des Deutschtums Hand in Hand
ging mit dem Vordringen des christlichen, römischen Glaubens, wofür das
alte polnische Gnesen selbst ein Wahrzeichen bietet, ist jetzt Rom der ge-
schworne heimliche Feind der Deutschen noch immer, obwohl die deutschen
Katholiken die tüchtigsten und wertvollsten Söhne der Kirche sind. Aber die
römische Kirche will es in ihrem Eifer nicht sehen, daß niemals katholische
Polen dem geisttötenden, ewig fremden moskowitischcn Aberglauben einen Damm
entgegensetzen können, sondern nur deutsche Evangelische und deutsche Katho¬
liken, beide im deutschen Reiche unangetastet von einander und wetteifernd in
ihrem Glauben und ihren Einrichtungen. Wir gebrauchen diese starken Worte
nicht, weil wir dächten, die Schachfigur Rom ließe sich damit von der schwarzen
auf die weiße Seite hcrübersetzeu. Das wäre Mohrenwäsche. Rom Pflegt
seine weltliche Politik uur etwa aller fünfhundert Jahre zu ändern, vielleicht nach
dem Muster jenes indischen Gottes mit dem fünshnndertjnhrigen Nundreisebillet.
Die evangelische Sache ist aber noch nicht fünfhundert Jahre alt; viel weniger
sind es die Teilungen Polens. Wir glauben daher auch nicht, daß die kleinen Zu¬
geständnisse, die hie und da den deutschen Katholiken in Posen gemacht werden,
jene deutschen Predigten an jedem vierten Sonntag und dergleichen, Anzeichen der
Wendung römischer Politik seien. Es sind nnr notgedrungne, mühsam ent¬
rissene, kluge Schachzüge. Rom überspannt den Bogen nicht, wenn er zerbrochen
werden kann durch die Annäherung an das protestantische Bekenntnis. Der
tiefe deutsche Geist darf nicht zu tief in die römischen Ränke schauen, sonst
wird er protestantisch. Jene Zugeständnisse sind also ein Zeichen der Furcht,
nicht des Friedens. Wir lassen uns daher auch nicht täuschen durch den der¬
zeitigen Zwiespalt zwischen der Kirche und den marklosen, zum Sozmlismns
neigenden polnischen Zwcrgbanern in Oberschlesien. Die feindlichen Brüder
werden sich schon wieder versöhnen. Zur Zeit ist es wahrscheinlicher, daß sich
Rom mit dem Sozialismus verbindet, als mit dem Deutschtum. Zwischen
uns und ihnen ist kein Frieden. Wie könnte auch Frieden sein mit jenem
polnischen Schachkönig in Posen? Im polnischen Adel rühmt sich fast jede
Familie königlicher Abkunft. Natürlich, denn in jenem Musterstaat ist schlie߬
lich jeder einmal irgendwo, irgendwie und irgendwann König gewesen. Aber
an der königlichen polnischen Abkunft hängt es nicht. Auch unter dem frühern
Erzbischof war die Stellung der Kirche nicht anders, obwohl dieser ein Deutscher
von Geburt war. Rom versteht es ja meisterhaft, die Eigenschaften eines
Mensche,,, die der Kirche nicht genehm sind, auszureißen oder sonst unschäd-
lich zu machen und trotzdem den so verstümmelten Menschen zu erhalten als
nützliche schwarze Schachfigur. Das macht die nur geistige, aber doch so that¬
sächliche Gewalt Roms über die Seelen.
In der Endabrechnung des deutschen Volks steht Rom immerdar auf der
linken Seite. Nicht um es zu andern, sagen wir das, sondern damit sich nie¬
mand trügerischen Erwartungen hingebe. Aber du, Rom, hüte dich vor der
blendend weißen Gestalt, vor dem deutschen Erzengel Michael mit den strah¬
lenden, treuen blauen Augen!
Bis jetzt ist freilich, allein durch die geistige Macht Roms, trotz der un¬
bestreitbaren wirtschaftlichen Überlegenheit der Deutschen, trotz des bei weitem
größern Kapitals ihrer kämpfenden Banken, trotz des H.K.T.-Vereins, die Über¬
macht dennoch auf Seiten der Polen.
Könnten linn die neutralen Mächte, die weder zur weißen noch zur
schwarzen Seite gehören, also wohl eine unbestimmte graue Farbe tragen, das
Spiel wenden, wenn sie auf dem Schachbrett bei Weiß stünden?
Die Generalkommission in Bromberg verfährt bei ihrer Besiedlung nach
den Gesetzen von 1890 und 1891. Da diesen Gesetzen der nationale Gesichts¬
punkt fremd ist, so kann ihn auch die Generalkommission nicht berücksichtigen.
Aber auch sonst, wirtschaftlich, ist das Verfahren ein andres als bei jenen An-
siedlungsbcmken, die größtenteils selbst die Unternehmer bei der Besiedlung sind.
Hier dagegen liegt das Besiedlungsunternehmen in der Hand des zerteilenden
Grundbesitzers. Zwischen ihm und dem vorsprechenden Ansiedler vermittelt die
Generalkommission nur, indem sie dem Grundbesitzer, also z. B. auch der gro߬
grundbesitzenden polnischen Bank, das reine Kaufkapital in Rentenbriefen über¬
weist, während die Rente von den Ansiedlern durch die Nentenbank eingezogen
wird. Trotz dieser bloß vermittelnden Stellung vermöchte die Generalkom¬
misston dennoch Einfluß auf die Auswahl der Ansiedler zu gewinnen, da sie
für die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Ansiedler, die zugelassen werden
wollen, gewisse Grundsätze zur Anwendung bringen kann. Es ist uns nicht
bekannt, wie weit sie ihren Einfluß hierbei grundsätzlich ausübt. Sie könnte
aber sicherlich, wenn sie wollte, durch geschickte Normirung der Zulassungs¬
bedingungen die Polen thatsächlich ausschließen. Denn „deutsch" und „polnisch"
ist nicht nur ein Unterschied der Sprache, der politischen Partei und des
Glaubensbekenntnisses, sondern auch ein Unterschied der wirtschaftlichen Leistungs¬
fähigkeit. Der polnische Adel hat jahrhundertelang Verschwörungen ange¬
zettelt, und der polnische Bauer ist bis zuletzt thatsächlich der Sklave des Adels¬
gewesen. Diese Thätigkeiten und jene Duldungen konnten keine guten Land¬
wirte hervorbringen.
Sehr strenge Anforderungen würden also die Polen thatsächlich von der
landwirtschaftlichen Ansiedlung fast ganz fernhalten. Aber wir sind nicht
dafür, daß die Generalkommission diesen krummen Weg einschlage. Denn wir
stimmen für ehrliches, deutsches Spiel auch den Feinden gegenüber. Und wir
möchten es auch zur Zeit nicht für zweckmüßig halten, die Gesetze zu ändern
und die Ansiedlung polnischer Bauern zu verbieten. Denn bei der vielfach
schwankenden Leitung des Staats fürchten wir, daß die praktisch äußerst schwie¬
rige Frage, was im einzelnen Falle deutsch oder polnisch sei, einer schwankenden
Auslegung unterliege. Dann aber würde der Haß nur gemehrt, nicht aber
der deutschen Sache geholfen Werbern
Inzwischen hat die Generalkommission in Bromberg in den wenigen
Jahren ihres Bestehens eine weit umfangreichere Thätigkeit entwickelt als die
Ansiedlungskommission, wenn auch ihre Saat lückiger aufgeht. Die Thätig¬
keit der Generalkvmmission in Breslau für das polnische Oberschlesien über¬
gehen wir, wegen ihrer geringern Bedeutung für die Frage des Volkstums.
Und nun endlich die aschgraue Figur, der preußische Staat als solcher.
Die harte Bezeichnung wird gebraucht aus wahrer Liebe. Der Staat Friedrichs
des Großen und Bismarcks ist so stark, daß er, allzu großmütig, das Gewürm
verschont, das ihm zu Füßen kriecht, ob es gleich giftig ist und hinterrücks
beißt. Wir dürfen aber den Schlangenbiß in der Ferse nicht dulden, weil
wir feststehen müssen in dem Ringkampfe mit den Völkern dieser Erde, in dem
Ringkampfe, der jetzt eben wieder anhebt um unser deutsches Dasein. Diese
Duldsamkeit ist noch eine unsrer Schwächen aus der „guten alten" Zeit, die
zwar alt, aber schlecht ist.
Aber wir wissen trotzdem nicht, ob wir ein schärferes Vorgehen aller
preußischen Behörden gegen das Polentum für jetzt vorschlagen sollen. Denn
wir fürchten, es wird nicht lange vorhalten. Hält es aber nicht vor, so schafft
es nur Märtyrer, ohne den Starrsinn zu brechen.
Auch die politische Windrose hat die Eigenschaft, sich zu drehen. Und
ehe der Mann nicht da ist, der des Windes nicht achtet, so lange ist es besser,
der Wind dreht sich möglichst wenig. Denn ein störrisches Tier macht man
nicht kirre durch Schlagen heute und dnrch Streicheln morgen, sondern durch
gleichmüßige strenge Zucht. Von den gegenwärtigen Rembrandterziehern er¬
warten wir nicht, daß sie diese Stetigkeit gegenüber dem Polentum festhalten
werden. Darum ist es klüger und praktischer, hier weder etwas zu fordern,
noch zu erwarten, sondern sein Haupt anderswohin zu wenden und die Hilfe
anzurufen des alten deutschen Vvrstreiters, des deutschen Erzengels Michael
>nit seinem starken Geiste.
Das ist nun eine bilderreiche und bunte Sprache. Aber nicht die Bilder
sind gemeint, sondern wahrhafte und ernste Dinge. Der Ruf ergeht an den
deutschen Geist in der Wissenschaft und in der Treue.
Es wird gefordert: 1. die geistige und wissenschaftliche Eroberung des
Polenlandes durch Gründung zweier Hochschulen in Danzig und Posen oder
^n den historisch beziehungsreichern Städten Marienburg und Gnesen; 2. die
Gründung eines neuen deutschen Ordens in der Marienburg zur Ausbreitung
des Deutschtums, eines lebendigen Ordens mit möglichst wenig Uniform oder
äußern Abzeichen, aber mit deutscher Begeisterung und Treue und mit jesuiten¬
ähnlicher Zucht.
eins eine Quelle und Fundgrube „sensationeller" Berichte für
alle General- und Lokalanzeiger ist doch lange genug der Vrau-
weilersche Prozeß*) gewesen! Mit welcher sittlichen Entrüstung
haben die Zeitungen der verschiedensten Schattirungen ihren Lesern
davon Kenntnis gegeben, was für Zustände in den staatlichen
Straf- und Korrektionsanstalten herrschen oder herrschen können! Zwar ist
Redakteur H. wegen Beleidigung des Direktors Schellmann in Vrauweiler
verurteilt worden, aber die allmächtige öffentliche Meinung glaubt doch nur
an einen Pyrrhussieg des staatlichen Beamten. In vielen Kreisen der Straf¬
anstaltsbeamten dagegen bedauert man den Direktor Schellmann. Kennt man
ihn doch als einen pflichttreuen Beamten, dem es möglich gewesen ist, selbst
im Korrektionshause, einer Sammelstätte der verworfensten Dirnen, Zuhälter,
Vagabunden und all des lichtscheuen großstädtischen Gesindels, sich noch soviel
Optimismus zu bewahren, daß er auf dem letzten Strafanstaltsbeamteukongresz
in Braunschweig zu Pfingsten 1894 fast als der Einzige für die Insassen
dieser Anstalten eintrat und noch Glauben an die Möglichkeit ihrer Besserung
forderte. Wie kann es aber möglich sein, daß man in unsern Tagen noch
Strafmittel anwenden kann wie die ominöse Brauweilersche Halsbinde? Direktor
Schellmann hat sie jedenfalls vorgefunden und keinen Auftrag erhalten, sie
abzuschaffen. Da nun zur Zeit ein einheitliches deutsches Strafvollziehungs-
gesetz noch zu den frommen Wünschen gehört, die den verbündeten Regierungen
ziemlich regelmäßig von dem Kongreß, deutscher Strafanstaltsbeamten ans Herz
gelegt werden, so konnte es geschehen, daß sich in den giltigen Einrichtungen
einer Anstalt aus frühern Zeiten eine Strafart erhielt, auf die freiwillig zu
verzichten immerhin ein Wagnis ist, da durch thatsächliche Beseitigung einer
gefürchteten Strafart die Disziplin einer Anstalt auf Jahre hinaus gelockert
und zerstört werden kann, zumal wenn eine Anstalt wie Brauweiler Zucht
und Ordnung aufrecht zu erhalten hat unter der Hefe der dichtgedrängtesten
Bevölkerung in dein Jnduftriebezirke des Rheinlands. Für das Rechtsbewußt-
sein dieser Provinz ist es doch immerhin von pädagogischen Werte, wenn die
Kölner, Düsseldorfer, Elberfelder Dirnen und Zuhälter vor Brauweiler einen
heldenmäßigen Respekt haben und den Aufenthalt in dieser Anstalt nicht zu
den angenehmsten Erinnerungen ihres sonst so mühelosem Lebens zählen. Wenn
ferner aus den Verhandlungen dieses Prozesses hervorgeht, daß mit eiserner
Strenge die Erfüllung eines hohen Arbeitspensums in solchen Arbeitshäusern
gefordert wird, deren Bestimmung es ist, Müßiggängern und Tagedieben das
Arbeiten zu lehren, so ist das vom Standpunkte einer vernünftigen Straf¬
vollziehung eine Forderung, die durchaus gerechtfertigt ist. Die Strafanstalt
darf für ihre Insassen nie ihre Schrecken verlieren, denn sonst ist der Rück-
fälligkeit noch weiter als ohnehin schon Thür und Thor geöffnet. Es ist ein
gutes Zeugnis für eine Anstalt, wenn sie gefürchtet, ein schlechtes, wenn sie
von einer bestimmten Klasse ihrer Insassen gelobt wird. Die eiserne Disziplin,
die angestrengten Arbeitsleistungen der Sträflinge können also keinen Vorwurf
gegen den Direktor von Vrauweiler begründen.
Wohl aber waren die Federbetten der öffentlichen Meinung schnell bei
der Hand, gegen den Direktor aus seinem Schweigen zu der von Aufsehern
angewandten Prügelstrafe die bittersten Vorwürfe abzuleiten. Hier liegt in
der That ein Mißstand vor, dem man einmal öffentlich ins Angesicht schauen
muß. Nach unsern heutigen Strafvollziehungsbestinunungen ist die Prügel¬
strafe in Gefängnissen verboten, in Zuchthäusern erlaubt; also da, wo sie noch
Pädagogisch heilsam wirken könnte, hat man sie aufgehoben, im Zuchthaus, wo
man nach menschlichem Ermessen dieser Hoffnung weniger Raum geben kann,
hat man sie bestehen lassen. Die Herren vom grünen Tisch, die mit wenigen
Ausnahmen den praktischen Gefänguisdienst gar nicht kennen, halten begeisterte
Reden für die Abschaffung der Prügelstrafe, und auf den Kongressen der
Strafanstaltsbeamten, wo sie durch die Macht ihrer Stellung auf den Gang
der Verhandlungen und die Fassung der Beschlüsse großen und ausschlaggebenden
Einfluß ausüben, berufen sie sich gewöhnlich auf die Thatsache, daß vor vielen,
vielen Jahren einmal das Aufsichtspersonal irgend einer Anstalt darum ein¬
gekommen sei, man möge sie von der entwürdigenden Pflicht entbinden, die
Prügelstrafe zu vollziehen. Das ist aber schon lauge her. Die heutigen Unter¬
beamten der Strafanstalten rekrutiren sich aus den Militäranwärtern. Dieses
Personal hat den großen Vorzug, an eine militärische Pünktlichkeit, an eine
straffe Organisation, an Findigkeit, Schlagfertigkeit, Subordination gewöhnt
i>u sein. Die Schattenseite ihrer Erziehung besteht in der mechanischen, gleich-
giltigen Auffassung ihres Berufs und des erzwungnen Gehorsams, der innerlich
der Ausführuugsart des Befehls sehr gleichgiltig gegenüberstehen kann. Dieselben
Aufseher werden um Einführung der Prügelstrafe Petitioniren, wenn sie sich
dadurch versprechen dürfe», die Stimmung irgend eines Dezernenten für sich
zu gewinnen. Wer die wirkliche Gesinnung dieser Leute kennt, der wird ent¬
decken, beiß, wenn sie könnten, wie sie möchten, mit verschwindenden Ausnahmen
fast alle ihre Stimme für die Prügelstrafe erheben würden. Denn jeder Straf¬
anstaltsbeamte weiß aus eigner Erfahrung davon zu erzählen, wie die Gefangnen
darauf aus sind, ihre Aufseher, ihre vermeintlichen Treiber und Peiniger, zu
ärgern, zu betrügen, zu hintergehen, auf alle erdenkliche Weise zu chikaniren.
Gerade die Pflichttreuesten und gewissenhaftesten Unterbeamten, die nicht bloß
mechanisch, nicht innerlich gleichgiltig die Obliegenheiten ihres undankbaren
Berufs erfüllen, sind den gewissenlosesten Chikanen und den elendesten und
niedrigsten Verleumdungen der Strafgefangnen ausgesetzt; verbünden sich doch oft
die Gefangnen, um durch Klatschereien, anonyme Briefe usw. einen Beamten
zu ruiniren. Infolgedessen ist es nur natürlich, daß ein Direktor im internen
Kreise erzählen konnte: Nicht einer, nein, zehn, zwölf Aufseher melden sich,
wenn ich einen Freiwilligen fordere, der die Prügelstrafe an dem oder jenem
viehisch verrohten Gauner, der schon die ganze Anstalt geärgert und gekränkt
hat, von Rechts wegen vollziehen soll. Denn zu den elendesten Gefühlen gehört
es für einen solchen Beamte», sich über das nichtswürdigste Subjekt ärgern zu
müssen, ohne strafen zu dürfen. Jeder mutwillig zerstörte Gegenstand trügt
dem Aufseher einen leise ausgesprochnen, mitunter auch recht derben Tadel ein.
Das muß er verhüten. Seine Vorgesetzten wollen eine möglichst niedrige Zahl
in dem Register der Disziplinarstrafen eines Jahres sehen. Der Aufseher soll
instruktionsgemäße Ordnung halten, soll alles verhüten, immer aber sind Ge¬
fangne da, die heimlich die Ordnung zu hintertreiben suchen. Sieht er ihnen
die geringste Störung der Hausordnung nach, so muß er dasselbe auch andern
gegenüber thun und giebt sich damit in die Hände der Gefangnen. Macht er
andrerseits Anzeige, so thut er es mit dem Gefühl, daß man diese Anzeige
nicht immer gern sehe. Muß uun diese Meldung, wie es vielfach an kleine»
Strafanstalten der Fall ist, erst an einen Staatsanwalt als Gefüngnisvorstand
abgegeben werden, der oft noch an einem ganz entfernten Orte wohnt, so
kommen erst noch skrupulöse Anfragen, ob der Aufseher auch alles korrekt be¬
obachtet habe. Protokollveruehmungen stellen die kleinsten in Frage kommenden
Umstünde fest. ?Ärturmnt moros. Eine Woche nach der Anzeige trifft die
Strafverfügung ein, der Strafgefangne erhält einen Tag Kostabzug, ein bis drei
Tage Dunkelarrest oder sonst eine geringfügige Strafe, die dem Ärger des
Beamten, auch wenn er ohne Leidenschaft darüber nachdenkt, nicht im entferntesten
schon den andern Gefangnen gegenüber Genugthuung leistet. Dies erzeugt in
ihm ein erbitterndes und entmutigendes Gefühl. Er sagt sich: warum sollich
mich denn ärgern, warum soll ich mir denn Mühe geben, wenn man mir nicht
einmal soviel Vertrauen schenkt, daß ich solch einem garstigen Lümmel in:
Augenblick seiner Unverschämtheit eine Ohrfeige versetzen darf? Die wirksamste
Strafe ist immer die, die den Übelthäter bei der That entlarvt und erreicht,
die wertloseste, ja geradezu verderblichste Art des Strafens ist die, die mit
kalter Gleichgiltigkeit ohne inneres Interesse an dem Ziele der Besserung vom
grünen Tisch aus nach Reglements und Paragraphen mechanisch bestimmt wird.
Wer straft, muß gewissermaßen einen elektrischen Strom aus sich in die Seele
des Bestraften hinüberleiten, dem strafenden muß der Bestrafte anfühlen, wie
er selbst Schmerz über die Notwendigkeit der Strafe empfindet. Die Disziplinar¬
strafen des heutigen Gefängnisshstems mit ihrem Dunkelarrest bis zu vier
Wochen, mit ihren Hungerkuren, mit Entziehung des weichen Lagers usw. haben
immer mehr diesen persönlichem Charakter der Strafe verloren und einen sach¬
lichen angenommen, der wie die Kostabzüge bei jungen Gefangnen viel un-
menschlicher, viel verbitternder und grausamer wirkt, als die Prügelstrafen einer
Zeit, die doch stärkere Nerven hatte als die Menschen heutzutage, die bei dem
Worte Prügelstrafe ein gelinder Schauder überläuft. Da dringen wohl einmal
dunkle Gerüchte zu dem Ohr auch eines Strafanstaltsdirektors, daß der oder
jener stramme Aufseher hin und wieder einmal, statt eine langweilige Anzeige
vorzulegen, einem bösen Schlingel eine wohlverdiente Ohrfeige gegeben habe.
Hoffentlich fragt der Direktor nicht. Thut er es doch, nun, der Not gehorchend,
nicht dem eignen Triebe, greift der Aufseher vielleicht auch einmal zur Notlüge;
oder er gesteht es ein, dann wird er ernsthaft zurechtgewiesen. Aber für ge¬
wöhnlich ignorirt man beiderseits das Gerücht, indem man von der Annahme
ausgeht: es wär schade um jeden Hieb, der seinen Beruf verfehlte. Daß ein
solches System Mißhandlungen mit sich bringen kann, liegt auf der Hemd.
Gäbe es eine ehrliche Prügelstrafe, die dem Bedürfnis der Erziehung zu Hilfe
käme, dann ließe sich alles so leiten, dann könnte man sein Personal so er¬
ziehen, daß allen Roheiten vorgebeugt werden könnte. Umgekehrt entsteht leicht
eine Heuchelei zwischen Ober- und Unterbeamten, die von beiden Seiten durch¬
schaut, aber nicht gelüftet wird. Es ist ein praktisches <MsiÄ non movers.
Der Gefangne selbst hat in der Zeit seines Anstaltslebens selten den Mut, in
die Bresche zu treten und der verantwortlichen Stelle gegenüber seine Beschul¬
digungen zu erheben; von der ekelerregenden, lügnerischen Feigheit eines Ge¬
fangnen macht sich ein Laie gar keinen Begriff. Er zieht es vor, nach wieder-
erlaugter Freiheit unkontrollirbare, anonyme Schmähbriefe zu schreiben, die bei
einem guten Gesängnisdirektor dahin wandern, wohin sie gehören, in den Ofen.
Durch Schaden klug gewordne Aufseher suchen deshalb dem Bedürfnis nach per¬
sönlicher Strafgewalt durch kleine Mittel, die nicht gerade ungesetzlich sind, im
Interesse ihres eignen Dienstes zu Hilfe zu kommen. In dieser unbefriedigender
Stimmung und in diesem Verhältnis, das leicht in Vertuschung ausarten kann,
leben viele Aufseher dem Gefangnen und dem Vorstande gegenüber. So hat
auch Direktor Schellmann zugegeben, es sei ihm bekannt geworden, daß einzelne
Aufseher der Brauweilerschen Anstalt notgedrungen zur Prügelstrafe gegriffen
hätten, denn er wisse, daß Autorität das erste und letzte Lebenselement der
Aufseher sei. Solange keine Anzeige vorlag, und solange er glaubte, daß jene
Aufseher Maß und Ziel kennen würden, mag ihm diese Art der Prügelstrafe
als einem im Gefängnisdienst ergrauten Beamten nicht so unsympathisch
erschienen sein. Aus manchen Anzeichen könnte man allerdings schließen, daß
unsre Strafanstaltsbeamten in ihrer überwiegenden Mehrheit die Prügelstrafe
verwürfen. In der Pfingstwoche 1894 tagte der Strafanstaltsbeamtenkongreß
in Braunschweig. Auf der Tagesordnung stand auch ein Thema über diese
heikle Frage. Als die Beamten aus den verschiednen deutschen Bundesstaaten
zusammenkamen, war der Berichterstatter entschuldigt ausgeblieben, zum großen
Bedauern aller, die die Stimmung über die Prügelstrafe gern kennen gelernt
und dieses interessante Thema, über das man heute so ungern feine wahre
Herzensmeinung äußert, einmal „angeschnitten" hätten. Einer gewissen Un-
aufrichtigkeit konnte man bei der Besprechung hie und da begegnen. Preußen
war auf dem Kongreß verhältnismüßig schwach vertreten. Strafanstaltsdirek¬
toren, von denen bekannt war, daß sie das Odium der Prügelstrafe auf sich
nehmen, hatten vorgezogen, nicht zu erscheinen. Von andern konnte man im
Privatgespräch wohl hören, daß so mancher hartgesottne Kujon, der den Be¬
amten mit bewußter Bosheit das Leben sauer machen wollte, sich durch eine
gute Portion ungebrannter Asche hatte zureden lassen. Wie interessant wäre
das gewesen, wenn diesen Gelegenheit gegeben worden wäre, aus dem reichen
Schatz ihrer Erfahrungen öffentlich einige Proben zum besten zu geben. Eigen¬
tümlich war es — vielleicht ist aber diese Beobachtung nur zufällig —, daß
die süddeutschen Strafanstaltsbeamten mehr der Abschaffung der Prügelstrafe
zuneigten, während ein großer Teil der norddeutschen Beamten ihr nicht so
abhold waren. Die biedern, rundlichen Schwaben und die feuchtfröhlichen Baju-
varen sahen merkwürdigerweise gar nicht so aus, als ob ihre Humanitäts¬
beteuerungen in der Praxis nicht doch manchmal eine heilsame Korrektur
fänden durch handgreifliche Berührung der fünf Finger mit dem frechen Mund¬
werk so eines heillos mißratnen Gassenjungen. norddeutsche, aber auch recht
viele süddeutsche verlumpte und verlodderte Buben von 14 bis 17 Jahren
haben manchem schon oft den Gedanken nahegelegt: Wie heilsam wäre diesen
Jungen doch eine wohlbemessene Tracht Prügel gewesen! sie hätte mehr Ein¬
druck gemacht, als die kümmerlichen kurzen Freiheitsstrafen, die den Leumund
ewig trüben, den Nimbus des Gefängnisses zerstören und diesen Jungen in den
Augen ihrer Spießgesellen einen gewissen romantischen Schimmer verleihen.
Die internationale kriminalistische Vereinigung strebt dem rapiden Wachs¬
tum des Verbrechens, der erschreckenden Rückfälligkeit des Verbrechertums durch
Erziehung der jungen und durch Unschädlichmachung der Gewohnheitsverbrecher
zu begegnen. Dazu schlägt sie die bedingte Verurteilung vor. Diese legt
einen Teil der Strafmacht des Staats aus den Händen der Richter in die der
Strafanstaltsbeamten. Der Deutsche hält ja aber den Richterspruch leicht für
etwas unfehlbares; ein Wort Bismarcks macht auf manchen nicht so tiefen
Eindruck wie der Urteilsspruch eines Richters. Infolge dessen haben sich viele
Juristen im Bewußtsein ihrer Würde gegen die bedingte Verurteilung sehr ab¬
lehnend verhalten; ein andrer als der Richter, hieß es, sei nicht imstande, die
Zeitdauer der Strafe zu bestimmen. Nun muß ja zugegeben werden, daß die
bedingte Verurteilung ein zweischneidiges Schwert ist. Dem reuigen Sträf¬
ling kann sie sehr bald die Freiheit wiedergeben, gegen den verstockten Ge¬
wohnheitsverbrecher wird sie zur wirksamen Waffe, da sie das Recht giebt,
ihn lebenslänglich einzusperren. Wie komisch unten aber andrerseits den Straf¬
anstaltsbeamten manche Urteile an! Wegen der allergewöhnlichsten Kuppelei
bekommt ein ganz verworfnes Subjekt ein Jahr Gefängnis und fünf Jahre
Ehrverlust. Was macht einem ehrlosen Menschen der letzte Teil der Strafe
aus? Wenn das Urteil gelautet hätte fünf Jahre Gefängnis und ein Jahr
Ehrverlust, das hätte auf diesen hartgesottnen Taugenichts einen ganz andern
Eindruck gemacht. Das Streben der internationalen kriminalistischen Vereini¬
gung hat seinen Grund in der Erkenntnis, daß man mit dem heutigen Straf¬
gesetzbuch dem Verbrechertum gegenüber nicht auskommt. Das alte Abschreckungs-
shstem mit der Forderung: mehr Hunger, mehr Prügel! wieder herzustellen, sieht
man mit Recht als etwas Verfehltes an. Aber das Berechtigte an diesem Ge¬
danken, den das deutsche Sprichwort so glücklich formulirt „Strafe muß sein,"
sollte man doch uicht verloren geben. Die heute geltende Anschauung, den
Zweck der Strafe fast ausschließlich in der Erziehung zu suchen, hat der Em¬
pfindung weiter Volkskreise nach ebenfalls bankrott gemacht, denn das Ver¬
brechertum hat nicht abgenommen, sondern wenigstens in demselben Maße wie
früher, wenn nicht in höheren Maße zugenommen. Als deshalb in der letzten
Jahresversammlung der Rheinisch-westfälischen Gefängnisgesellschaft zu Düssel¬
dorf Oberstaatsanwalt Hamm aus Köln die Forderung der internationalen
kriminalistischen Vereinigung ablehnte und verschärfte Zuchthausstrafen, wenn
nötig auf Lebenszeit, gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher forderte, erklärten
die Strafanstaltsbeamten, eine Verschärfung sei unmöglich, unsre Mittel, die
Zuchthausstrafe zu verschärfen, seien erschöpft. Staatsanwalt Appelius aus
Eelle meinte, die Galeerenstrafen und die travtwx torvös der Franzosen seien
in Deutschland etwas unvolkstümliches. Das traurige Ergebnis war: die
Strafanstaltsbeamten sind mit ihrer Weisheit zu Ende. Das erlösende Wort
für die „bedingte Verurteilung": Deportation, Strafkolonie, Prügelstrafe sowohl
"is gerichtliche Strafe für junge Gefangne wie als Disziplinarstrafe im Ge¬
fängnis und im Zuchthaus ward nicht gesprochen.
So vermeidet man es in allen Versammlungen der Fachleute, offen und
ehrlich über die Notwendigkeit einer Wiedereinführung der Prügelstrafe zu
sprechen. Kommen dann auf einmal die sogenannten Enthüllungen der soziab
demokratischen, demokratischen und freisinnigen Presse über Roheiten, Mißhand¬
lungen usw., dann empfindet man es mit Recht in weiten Kreisen als eine
Unaufrichtigkeit, daß man in so vielen Fachversammlnngen die Prügelstrafe von
sich weist, während in andern Kreisen die Schreckenskunde von Mund zu
Munde geht: der oder jener Aufseher in der Strafanstalt soundso ist ein
schlimmer Geselle, mit dem kommt man nur gut aus, wenn man ihm seinen
Willen thut. Man gehe um die Prügelstrafe nicht herum, wie die Katze um
den heißen Brei. Wenn ein braver Schulmeister einem verwöhnten Mutter¬
söhnchen die Hosen angespannt hat, wenn ein Schutzmann einen widerspenstigen,
unflätigen und vor keinem Mittel zurückschreckenden Zuhälter in der Notwehr
auf dem Revier durch ein paar Säbelhiebe zur Räson bringt, dann zetern die
Soldschreiber der obengenannten Presse in allen Tonarten über Brutalität usw.
Wie oft wäre ein Wort darüber am Platze, wie verhältnismäßig geringen
Schutz die zuletzt genannten, die doch auch Menschen sind, bei den Gerichten
finden! Wenn sich ein Schutzmann hat auf den Leib treten lassen müssen, wenn
ihm die Uniform zerrissen, der Helm eingetrieben worden ist, wenn die ekel¬
haftesten Schimpfnamen über ihn ergangen sind, dann soll er „korrekt" handeln
und Strafantrag stellen, damit sein Gegner, Wenns hoch kommt, eine Gefängnis¬
strafe von zwei oder drei Monaten erhält. Ist das für solche Mißhandlung
eine Genugthuung? Ist es ihm zu verdenken, wenn er lieber mit der flachen
Säbelscheide dazwischenhaut? Daß unter der stillschweigenden Anerkennung der
gesetzlich verpöntem Prügelstrafe mehr Ausschreitungen vorkommen können, als
unter der gesetzlichen Regelung dieser Frage, ist die feststehende Überzeugung so
manches Fachmannes. Daß solche „Enthüllungen" wie die des Brauweilerschen
Prozesses so peinlich wirken, daran tragen die Strafanstaltsbeamten einen ge¬
wissen Teil der Schuld. Es wird von manchem als nicht ganz aufrichtig em¬
pfunden, wenn man im Interesse der Zucht und Ordnung das Bedürfnis nach
schweren körperlichen Strafen fühlt, und mit Rücksicht auf eine abhängige,
klatschsüchtige Presse oder aus einer zur Schau getragnen aber durch die nackte
Wirklichkeit längst überwundnen Humanitätsduselei das Ding nicht bei seinem
Namen zu nennen wagt. Selbstverständlich fällt es keinem Strafanstalts¬
beamten ein, irgend welcher Roheit das Wort reden zu wollen. Daß in
Brauweiler infolge einer Disziplinarstrafe ein Menschenleben zu Grunde ge¬
gangen ist, wäre nicht zu rechtfertigen, wenn nicht der Tod dieses Sträf¬
lings vielleicht in einem unglücklichen Zusammentreffen dieser Strafe mit
andern unvorhergesehenen Ursachen seinen Grund gehabt hat. Aber daß ein
Korrektionshaus wie das zu Vrauweiler in Köln, Düsseldorf usw. in dem
guten Rufe steht, von seinen Stammgästen als ein Ort der Höllenqual auf
Erden angesehen zu werden, bei dessen Nennung sie erbleichen, daß eine solche
Anstalt nicht auskommen kann ohne die denkbar schärfsten Diszipliuarmittel,
ohne die energischste Anspannung aller körperlichen und sittlichen Kräfte, so lange
der Arzt den Züchtling für fest und arbeitsfähig erklärt, ist eine Thatsache,
der man unerschrocken ins Gesicht sehen muß, es sei denn, daß man dem Ver¬
brecher ein größeres Daseinsrecht zugesteht als dem sittlich strebenden Willen.
Wer den Bmuweilerschen Prozeß als Fachmann verfolgt hat, den überkam ein
aufrichtiges Bedauern, daß die vielleicht das Maß etwas übersteigende sittliche
Strenge eines von hohem Idealismus erfüllte» Mannes dem Gezeter und dem
Klatsch preisgegeben werden mußte. Der Kundige bedauert alle Mißgriffe,
aber die Mißgriffe bedeuten bisweilen nichts andres, als daß ein Beamter sich
hat hinreißen lassen, der von dem sittlichen Ernst seiner Aufgabe durchdrungen
aus dem Bann der Phrase entronnen war. Mißgriffe sind gewiß nie zu recht¬
fertigen; aber zuweilen darf man für sie das so oft der Laxheit als Deckmantel
dienende Wort in Anspruch nehmen: weck ooinpreuärö o'sse Wut x^rclonusr.
eine neunte Frage lautete: „Ist Aussicht vorhanden, daß die un¬
schönen Doppelbezeichnungen, die nur schwer richtig zu schreiben
sind ^Kaiser-Wilhelm-Straße, Robert-Schumann-Straße, in Berlin
gar: Prinz-Louis-Ferdinand-Straße), durch Vermittlung des Ver¬
eins wieder ausgemerzt werden können?" Einige Vereine haben
hierauf gar nicht geantwortet, einunddreißig haben mitgeteilt, daß in ihren
Städten solche Namen nicht vorkommen; Stuttgart schreibt dazu: „Kommt
nicht vor, und wird hoffentlich nie vorkommen," und Zittau: „Sie fehlen
glücklicherweise noch." Fünfundvierzig andre Vereine geben Doppelnamen um:
Aachen hat nur einen Friedrich Wilhelm-Platz. Annaberg: „Die Benennungen
»Kaiser Wilhelm-Straße« und »König Albert-Straße« haben sich rasch einge¬
bürgert; für Ausmerzung dieser Benennungen besteht keine Aussicht." Aus
Beiram schreibt der Stadtbauinspektor Borermann: „Es sind hier nur vor¬
handen Richard Wagner- und Friedrich-Wilhelm-Straße, die voraussichtlich
bleiben werden. Im übrigen ist keine Neigung vorhanden, Doppelnamen zur
Straßenbezeichnung einzuführen"; Oberlehrer Leithäuser dagegen: „Ich habe
verschiedentlich dnrch Aufsätze in Zeitungen eine Änderung angestrebt und mich
auch jüngst wieder deshalb an die Behörde gewandt." Von den beiden Ber¬
liner Antworten lautete die eine: „Völlig ausgeschlossen," die andre wenigstens:
„Die Aussicht dürfte für Berlin sehr gering sein. Etwas mehr Aussicht ist
dagegen vorhanden, daß bei Neubenennungen solche Straßennamen nicht mehr
gewählt werden." Blankenburg: „Nein (Albert Schneiderstraße, Friedrich
Auguststraße, Ludwig Rudolfstraße), da es sich hier um Benennungen handelt,
die ganz neuerdings erst zu Ehren bestimmter Persönlichkeiten gemacht worden
sind." Bochum: „?? Hier selten, nur zwei: Kaiser Friedrichsplatz, Kaiser
Wilhelm-Straße." Braunschweig: „Nein! Man wird fortfahren, zu schreiben:
Kaiser-Wilhelmstraße, Friedrich-Wilhelmstraße." So geht es weiter; die meisten
antworten, zum Teil sehr scharf, mit „Nein" und führen vorhandne Beispiele
in den verschiedensten Schreibungen an; Breslau erwähnt dabei Namen wie
„Heilige Geiststraße und Goldne Radegasse," die ja auch in gewisser Beziehung
hierher gehören, andrerseits aber doch wieder dem „Deutschen Sprachverein"
ähnlich sind. Heilbronn schreibt: „Wir haben eine Wilhelmsstraße (benannt
nach dem König Wilhelm von Württemberg), aber einen Kaiser-Wilhelm-Platz.
Als unlängst eine Straße nach Ludwig Pfau getauft wurde, ging der Antrag
Ludwig-Pfaustraße zu schreiben nicht durch, sie wurde Pfaustraße benannt."
Koblenz schreibt: „Haben wir bisher nicht gehabt, ist aber leider trotz dem
Widerspruche unsrer Vorstandsmitglieder sür eine kurze, neue Straße einge¬
führt: »Prinzessin Luisen-Weg«; eine Luisenstraße hatten wir schon." Leit-
meritz hat eine „Dr.-Fleischergasse"!! Bezeichnend ist, was Mettmann schreibt:
„Statt Kaiser-Wilhelm-Straße schreibt man hier Wilhelm-Straße"; ähnlich
Münden: „Neue Bahnhofstraße wird meist nur Bahnhofstraße, ebenso die
Fuldabrückenstraße immer nur Brückenstraße genannt"; und Wilhelmshaven:
„Das Volk hat hier von selbst dem Friedrich-Wilhelms-Platz einfach den Namen
Wilhelmsplatz gegeben." Der gesunde Sinn des Volks sträubt sich eben gegen
diese unbequemen Doppelnamen. Besondre Beachtung verdient die Bemerkung
auf dem Wcseler Bogen: „Es giebt hier eine Johann Sigismund-Straße,
Bürgermeister Baur-Straße (!!), Großer Kurfürst-Straße (!!). Keine Aussicht,
zumal der Verein wenigstens die beiden ersten Namen gar nicht für fo schlimm
hält." Also den dritten, ganz ungeheuerlichen doch wenigstens! Nun es wird
wohl auch bald eine Friedrich der Großestraße geben! Giebt es doch in Wien
sogar eine Kaiser-Franz-Josefs-Regierungs-Jubiläums-Brücke! Leider läßt nur
etwa ein halbes Dutzend der Antworten wenigstens die Aussicht durchblicken,
daß wenigstens in Zukunft solche Doppelnamen vermieden werden; die vor-
handnen auszumerzen, dagegen sträuben sich die meisten, weil es sich meist um
die Ehrung von Wohlthätern der betreffenden Städte handelt, die angeblich
nur mit den Vornamen deutlich zu erkennen sind, und weil die, die den Straßen
diese Namen gegeben haben, noch im Regimente sind und auf keinen Fall das,
was sie eingeführt haben, felbst wieder beseitigen werden. Das muß man
um wohl oder übel gelten Kissen, und auch das, daß man, wenn man
eine Straße nach einem Fürsten Karl Friedrich nennen will, sie nicht Karl-
Straße oder Friedrich-Straße nennen kann, man müßte denn auf einen etwas
eigentümlichen Ausweg verfallen, wie er hier in Bonn — wie mir scheint —
gefunden worden ist, wo von zwei nahe bei einander in gleicher Richtung
laufenden Straßen die eine Klemens-Straße und die andre August-Straße
heißt (nach dem Kurfürsten Klemens August(?), dem im nahen Poppelsdorf
eine Klemens-August-Straße geweiht ist). Nun ist es jn recht schön, und ich
selbst trete warm dafür ein, in Straßennamen die Erinnerung an bestimmte,
in der Geschichte der Stadt hervorragende Persönlichkeiten rege zu halten,
weshalb man auch z. B. in Düsseldorf die Graf-Adolf-Straße nicht Adolf-
Straße nennen will; aber nochmals: Wie sollen wir diese Namen schreiben?
Ich bin für zwei Bindestriche, auch andre sind dafür. Und doch ist die
Schreibung mit zwei Bindestrichen.weder ganz richtig, noch schön. Dr. Wein¬
meister sucht auf folgende Weise einen Ausweg aus der Schwierigkeit; er
schreibt: „»Kaiser-Wilhelm-Straße« ist falsch, weil man nicht »Kaiser-Wilhelm«
schreibt; »Kaiser Wilhelm-Straße,« oder gar »Kaiser Wilhclmstrciße« ist auch
nicht richtig, weil — entgegen dem Sinne — hier Wilhelm und Straße enger
verbunden sind als Kaiser und Wilhelm. Ich mache nun einen Vorschlag,
der besonders im Drucke deutlich hervortreten wird, deutlicher als in der
Schrift. Man schreibe »KaiserWilhelm-Straße,« indem man das W dicht an
das vorhergehende r anhängt, also ohne Zwischenraum (spatium) zwischen
Kaiser und Wilhelm." Das ist aber nur eine Umgehung des als richtig
anerkannten Bindestrichs durch eine neue, bisher im Deutschen ganz unbekannte
Schreib- und Drnckweise, die einzuführen doch überflüssig ist. Auch ein andrer
Vorschlag hat wohl kaum Aussicht auf Erfolg, ein so bequemer Ausweg er
auch gerade für unsern Fall wäre. Herr von Pfister in Darmstadt möchte
im Gegensatze zu Professor Trautmann das genitivische Binde-s namentlich
bei den Straßennamen überall wieder einfügen; dann hieße es nicht mehr
Friedrich-Straße, sondern Friedrichs-Straße, also die Straße Friedrichs, auch
nicht mehr Ernst-Ludwig-Straße, sondern — wenn wir noch weiter ins Ur¬
sprüngliche zurückgehen, keine Zusammensetzung, sondern wirklichen Genitiv an¬
nehmen — Ernst Ludwigs Straße, ebenso Kaiser Wilhelms Platz usw., also
mit Weglassung der Bindestriche. Ich will hier auf die s-Frage nicht ein¬
gehen, dem Einflüsse des Wohlklanges und des Sprachgebrauches in den ein¬
zelnen Städten wird darin ein großes Feld einzuräumen sein; in Annaberg
heißt es z. B. amtlich Museum-Gasse, im Volksmnnde aber Museumsgasse,
amtlich Johannes-Gasse, im Volksmunde aber Johannisgasfe. Professor Erbe
ü> Stuttgart schreibt: „Unbewußt hat man des Wohllauts wegen seit Jahr¬
hunderten in Zusammensetzungen mit »Stadt« usw. das s ausgelassen, und
zwar im ganzen germanischen Sprachgebiet; vergleiche in Preußen Karlshafen
und Karlstadt, in Baiern Karlsgrün und Karlstein, in Österreich Karlsbad
und Karlstift, in Baden Petersthal und Peterzell usw., ferner in Holland
Willemsoord und Willemstad, in Schweden Karlskrona und Karlstad, im eng¬
lischen Sprachgebiet Edwardsville und Edwardstone."
Meine zehnte Frage lautete: „Ist die in der Zeitschrift des deutschen
Sprachvereins von 1894, Spalte 117, gegebne Einteilung nebst dem Nach¬
trage (Sy. 227—228) erschöpfend? oder kommen Straßennamen vor, die sich
nicht einordnen lassen? Welche sind das? Und wie soll dann eingeteilt werden?"
Hier haben alle Vereine mit wenigen Ausnahmen die erste Frage gar nicht
oder mit „Ja" beantwortet. Einzelheiten, die angegeben werden, weiß ich bei
meiner Einteilung doch unterzubringen; nur Elberfeld, Wesel und Zittau
schlagen andre Einteilungen vor. Ich habe nun mit Berücksichtigung dieser
Vorschläge eine neue Einteilung gemacht, die ich hier nebst den Vorschlägen
zu richtiger und einheitlicher Schreibung vorlege.
Die Straßen werden bezeichnet:
Eine Abkürzung vou Straße, Gasse, Platz zu Ser., G., Pi. dürfte unter
Umständen allgemein zu empfehlen sein.
Was meinen doppelten Vorschlag zur Schreibung von 4 a, d, o und ä «,
auch von 5 angeht, so sei erwähnt, daß Annaberg z.B. die Schreibung in
einem Worte empfiehlt. Aber weshalb tragen wohl die neuesten Straßen¬
schilder in Berlin und einigen andern großen Städten Aufschriften wie Karls
Platz, Neu Gasse, Ost Straße? Offenbar nur um größte Deutlichkeit zu er¬
reichen, indem vollständige Trennung beliebt wird,") Gerade der größern
Deutlichkeit halber möchte ich nun auch für Straßenschilder die Schreibung
in zwei Wörtern, aber natürlich mit Bindestrich, für die genannten Fälle
vorschlagen; unbedingt zu empfehlen ist sie bei solchen Verbindungen, wo das
bestimmende Wort drei oder mehr Silben hat, z. B. Tiergarten-Straße, nicht
Tiergartenstraße. Vermieter werden muß aber, worüber in mehreren Ant¬
worten geklagt wird, daß nun in einer Straße auf einigen Schildern z. B.
Karl-Straße, auf andern aber Karlstraße (oder gar Carlstraße) steht; die
Schilder jeder einzelnen Straße müßten einheitlich geschrieben sein. Für die
Schreibung in einem Worte wird angeführt, bei Briefaufschriften schreibe man
die Straßennamen gerne in einem Zuge. Gut, mag das jeder thun, wo es
richtig ist. Aber selbst dort, sowie in Zeitungen und Wohnungsanzeigern ist
wie bei den Schildern die andre Schreibung der Deutlichkeit halber zu
empfehlen.
Was sollen nun unsre Sprachvereine in ihren Städten zu erreichen suchen?
Nun zunächst die Befolgung der mitgeteilten Regeln, wie auch richtige An¬
wendung des Bindestrichs überhaupt; giebt es doch wirklich kaum noch Laden¬
schilder, auf denen dieser Unhold nicht mindestens einmal da steht, wo er nicht
soll, und da nicht, wohin er gehört; G. Wustmann schreibt von Leipzig:
„Jedes vierte oder fünfte Schild in Leipzig enthält irgendeinen Unsinn." Ist
es denn nicht auch wahrhaft beschämend, daß eine Staatsanstalt die Aufschrift
trägt: „Triersches-Institut" (s. Grenzboten 1894, S. 114), daß eine Menge
von Straßenschildern im deutschen Reich Aufschriften tragen wie Karl Straße,
Kaiser Platz.*) Im Hohne habe ich wohl gesagt: Es kann noch dahin kommen,
daß man Vor- und Familiennamen künftig durch Bindestrich verbinde; ge¬
glaubt habe ich an die Möglichkeit aber doch nicht, bis ich vor kurzem auf
einem Nheindampfer die Inschrift las: „Mathias-Stinnes"! So weit wären
wir also glücklich auch!**)
Vor allem möge auch nicht weiter geduldet werden, daß ans neuen Straßen¬
schildern der Bindestrich überall unterdrückt wird. Zu vermeiden suchen soll
man, daß die unter 1 und 2 besprochnen, meist geschichtlich und kulturgeschicht¬
lich wertvollen Straßenbezeichnuugcn, die anch das Volk in seinem gesunden
Sinne noch immer beibehält, willkürlich verändert und entstellt werden.
Aber wie sollen wir das alles erreichen? Landgerichtsrat Bruns in
Torgau schreibt: „Es empfiehlt sich, zur Erreichung des Zieles, daß die
Straßennamen richtig geschrieben werden, mit den Malerinnungen und den
Zeitungsleitungen in Verbindung zu treten. In Städten, die sich ausdehnen,
müssen die dort bestehenden Sprachvereine dahin wirken, daß den in der Zeit-
schrift des Sprachvereins Spalte 35 (1895) aufgestellten Grundsätzen,*) sowie den
Spalte 114—119 (1894) dargelegten**) entsprochen werde, wenn neue Straßen
benannt werden." Das sind wichtige und beherzigenswerte Vorschläge.
Etwas andres regt Professor Stier in Neu-Ruppin an; er schreibt: „Ich
halte gut gewählte Straßen- und Flurbezeichnungen für ein vorzügliches Mittel,
vaterländische Gesinnung zu pflegeu und Anknüpfungspunkte für den Unterricht
in der Heimatkunde zu bieten. Man könnte zwar streiten, ob ein geschicht¬
licher oder der Sprachverein Borschläge dazu zu liefern habe. Aber wenn
der Allgemeine Deutsche Sprachverein als Verdeutschungsbnch Ur. 4 ein
„Deutsches Namenbüchleiu" sür Personen bietet, so liegt dieselbe Ver¬
anlassung vor, ein solches sür Ortsnamen zu bieten; jn ich glaube, daß das
wichtiger ist und auch leichter Eingang finden würde. Ein Magistrat, der
(wie neulich der mistige) in einer Sitzung elf neue Straßen zu benennen hat,
wird sicherlich geneigter sein, die Vorschläge eines ihm vorgelegten Büchleins
zu berücksichtigen, als ein Vater, der seinem Kinde einen Namen sucht." Gewiß
auch ein Vorschlag, der der Beachtung des Gesamtvvrstandes des Sprach¬
verein« wert ist.
Endlich noch die Frage: Was ist schon erreicht? Czernowitz schreibt: „Gegen
die (falsche) Schreibung des eben zum erstenmale erschienenen Adreßbuches wird
der Zweigverein am nächsten Vereiusabend Stellung nehmen." Aus einem Be¬
richt in der Zeitschrift des Sprachvereins (X, 150) geht denn hervor, daß „der
Herausgeber sich bereit erklärte, in der nächsten Ausgabe die wenigen Fehler,
die ihm vorgeworfen worden sind, zu verbessern." Von Reichenberg heißt es
bei Frage 10: „Der Zweigverein Reichenberg hat gelegentlich der Herausgabe
eines neuen Adreßbuches unter Zugrundelegung nebenstehender Veröffent¬
lichungen betreffs sprachrichtigen Druckes der Straßennamen erfolgreich Ein¬
fluß genommen." Am eingehendsten hat sich der Stuttgarter Sprachverein
mit der Angelegenheit beschäftigt; er hat an den Gemeinderat im September
vorigen Jahres eine ausführliche Eingabe gemacht, in der die Erhaltung alter
Namen, die Verminderung unnötiger Fremdwörter und ungelenker Zusammen¬
setzungen (Kaiser-Wilhelms-Platz^) und die richtige Schreibung der Straßen¬
namen gefordert werden; für diese letzte sind Regeln beigefügt, die sich mit den
meinigen decken. Der Gemeinderat hat darauf in Aussicht gestellt, daß er von
den Anregungen des Vereins Gebrauch machen werde.
Und hier in Bonn? Nun unser Oberbürgermeister, der auch Mitglied
unsers Vereins ist, sowie der Bürgermeister von Poppelsdorf haben die Be¬
rücksichtigung unsrer Wünsche zugesagt, und es scheint in der That, daß die zuletzt
angebrachten Schilder wirklich jetzt die richtige Schreibung führen. Vergebens habe
ich leider den Herausgeber unsers „Adreßbuches" zu bewegen gesucht, die richtige
Schreibung einzuführen; nur bei den wenigen Namen mit Eigenschaftswörtern
(z. B. Koblenzer Straße) sollte er die Trennung stattfinden lassen, er behauptete
aber, das nehme zu viel Platz weg, auch störe es z. B. in der Liste das ein¬
heitliche Bild! Als ob das nicht auch „gestört" würde durch die stets auch
von ihm getrennt gedruckten Namen: Endenicher Allee, Poppelsdorfer Allee,
Kölner Chaussee usw. Hoffentlich druckt er nicht künftig der Einheitlichkeit
des Bildes zuliebe auch Endenichercillee usw.; er ist sonst ein eifriges Mitglied
unsers Vereins.
Der Leser verzeihe, wenn ich zuweilen etwas abgeschweift bin von meinem
eigentlichen Gegenstande; Gelegenheit dazu war nur zu häufig gegeben. Den
dankenswerten Stoff habe ich aber trotzdem nicht ganz verwerten können;
einige andre Dinge, die mit der Frage zusammenhängen, werde ich gelegentlich
an andrer Stelle besprechen.
rima kümmert sich um alle Bedenken, die gegen die Einheit der
Gedichte vorgebracht worden sind, ebensowenig wie Knötel, er
betrachtet Ilias und Odyssee als das, als was sie überliefert
sind, als einheitliche Werke und sucht nun dem schaffenden
Genius nachzugehen und so ein Verständnis für die Handlung
und die Charaktere zu gewinnen. Vergleiche mit den Schöpfungen andrer
großen Dichter, namentlich Dantes, Shakespeares und Goethes, ja selbst großer
Künstler, wie Raphael, dienen dazu, die Kunst Homers anschaulich zu machen
und sie richtiger würdigen zu lernen. Es ist begreiflich, daß seine Urteile
häufig zum Widerspruch herausfordern, und daß auch sonst neben großen
Vorzügen in der Darstellung Schattenseiten nicht fehlen,*) die den Genuß an
der Lektüre des Buches stören. Im ganzen aber muß anerkannt werden, daß
Grimm viel gethan hat, um Szenen, die die zersetzende Kritik als elende Er¬
zeugnisse vou Nachdichtern verworfen hat, richtig zu erklären und ihre Be¬
deutung für die ganze Dichtung ins rechte Licht zu setzen. So halt er, um
ein Beispiel zu geben, den ziemlich allgemein verworfnen zehnten Gesang der
Ilias (die Dolonie) für echt, weil er „Dinge" enthalte, „die dem Gedicht nicht
fehlen dürfen." Er soll ganz besonders der Charakteristik des Menelaos ge¬
widmet sein, von dem Grimm (II, 29 ff.) ein ganz eigentümliches Bild ent¬
wirft und dabei meint, daß der Dichter bei der Schilderung des Helden in
den vorangehenden Gesängen „schon die Verhültnisfe im Ange habe, die im
zehnten erst ihre ausreichende Begründung erhalten." Ähnlich schreibt er zum
siebzehnten Gesänge (II, 217): „Die, welche ein zufälliges Zusammenkommen
der Ilias aus allerlei aneinander sich reisenden Volksliedern für möglich
halten, möchte ich fragen, ob die Wirkung des siebzehnten Gesanges denkbar
sei ohne den Hinblick auf das Folgende und auf das Vorhergegangne. Ob
die Aristeia des Menelaos verständlich wäre ohne Kenntnis seiner durch alle
Gesänge sich merklich machenden Charaktermischung: des erfolglosen Helden¬
tums, des ewigen Wollens, das immer wieder von Erwägungen des eignen
Schicksals und von bösen Zufällen unterbrochen wird. Je mehr wir uns dem
Abschlüsse der Ilias nähern, um so feiner wird die moralische Ausarbeitung
der einzelnen Gestalten; jedoch nur derjenigen, auf die es dem Dichter an¬
kommt."
Doch billigt Grimm durchaus nicht alles, was wir jetzt in Ilias und
Odhsfee lesen. Wenn die Darstellung seinen Anforderungen nicht entspricht,
glaubt er, daß der ursprüngliche Text verloren gegangen oder verstümmelt
worden sei. Ja er versucht, wie nur irgendein philologischer Kritiker, den
ursprünglichen Zusammenhang durch eigne Phantasie zu ergänzen. Bezeichnend
dafür ist (I, 45 sf.) die Behandlung des Anfangs des zweiten Gesanges, der
sich wohl mehr als irgend ein andrer Gesang der Ilias hat meistern und
Äuderungsversuche gefallen lassen müssen. Ich will deshalb näher auf ihn
eingehen und daran zugleich meinen Standpunkt zur homerischen Frage dar¬
legen. Ich bin der Ansicht, daß weder Knötels noch Jägers noch Grimms
Ausführungen ausreichend sind, die Angriffe, die Homer erfahren hat, abzu¬
schlagen. Es genügt nicht, den Leugnern der Einheit gegenüber auf die ge-
schichtliche Überlieferung oder auf die Vorzüge der Dichtung hinzuweisen und
zu thun, als wäre alles vortrefflich und untadlig, und wenn uns etwas nicht
so erscheint, sofort (wie Grimm und die meisten Verteidiger der Einheit) eine
Verderbnis des ursprünglich vortrefflichen Textes anzunehmen, sondern wenn
wir Fehler und Unebenheiten in der Darstellung finden, so müssen wir zu¬
nächst fragen: Weshalb ist der Dichter, der doch den Gang der Handlung sonst
so angemessen zu gestalten weiß, so verfahren, und was hat er mit diesem
offenbaren Fehler erreicht?
Diese Betrachtungsweise ist geboten für alle Dichter, nicht bloß für Homer.
So planvoll schaffende Dichter wie Lessing, Schiller und Goethe bieten zahl¬
reiche Beispiele auffallender, in Wirklichkeit ganz unmöglicher Szenen, von denen
ich eine Reihe in dem genannten Programm: „Die Bedeutung der Wider¬
sprüche usw." angeführt habe. Ich erinnere hier nur an das Gespräch der
beiden Königinnen in Schillers Maria Stuart (HI, 4), das der Dichter selbst
„eine moralisch unmögliche Situation" genannt hat, das auch nicht geschichtlich
ist, ja auch nach der ganzen Anlage der Handlung unerwartet kommt. Wenn
trotzdem Schiller gerade diese Unterredung in den Mittelpunkt der ganzen Hand¬
lung gestellt hat, so muß er dazu wichtige ästhetische Gründe gehabt haben,
die ihn über alle Schwierigkeiten hinwegsehen ließen,*) Daß diese Auffassung
richtig ist, bestätigt uns in willkommner Weise das eigne Gedächtnis Goethes
bei einem ähnlichen „Fehler" in seiner Dichtung. In einem Gespräche mit
Eckermann (am 5. Juli 1827) kommt die Unterredung auch auf die Helena im
Faust. Dabei erklärt Goethe: „Aber haben Sie bemerkt, der Chor fällt bei
dem Trauergesang ganz aus der Rolle; er ist früher durchgehends antik ge¬
halten oder verleugnet doch nie seine Mädchennatur, hier aber wird er mit
einemmal ernst und hoch reflektirend und spricht Dinge aus, woran er nie
gedacht hat und auch nie hat denken können." Eckermann antwortet, daß er
das wohl bemerkt habe, fügt aber hinzu: „Solche kleine Widersprüche können
bei einer dadurch erreichten höhern Schönheit nicht in Betracht kommen. Das
Lied mußte gesungen werden, und da kein andrer Chor gegenwärtig war, so
mußten es die Mädchen singen." Und Goethe erwidert lachend: „Mich soll
nur wundern, was die deutschen Kritiker dazu sagen werden. Den Franzosen
wird der Verstand im Wege sein, und sie werden nicht bedenken, daß die Phan¬
tasie ihre eignen Gesetze hat, denen der Verstand nicht beikommen kann und
soll." Ganz wie Goethe hier einen Unterschied macht zwischen den Anforderungen
des Verstandes und den Schöpfungen der Phantasie, so noch in den Gesprächen
vom 27. Januar 1827 und vom 2». Januar 1827 („Diese intendirte Änderung
war eine Forderung des Verstandes, und ich wäre dadurch bald zu einem
Fehler verleitet worden. Es ist dies ein merkwürdiger ästhetischer Fall, daß
man von einer Regel abweichen muß, um keinen Fehler zu begehen.") Was
aber Goethe von der Forderung seines Verstandes sagt, der ihn bald zu einem
Fehler verleitet hätte, gilt von der reine» Verstandeskritik noch heute. Sie
achtet nicht darauf, daß bei der Ausführung ihrer Forderung auch große Schön¬
heiten der Dichtung zu Grunde gehen würden.
Betrachten wir unter diesem Gesichtspunkt den Anfang des zweiten Ge¬
sanges der Ilias, so werden wir finden, daß die Anstöße der Darstellung alle
ihre Erklärung in der Erreichung eines höhern Zweckes, in der Durchführung
eines künstlerischen Planes finden. Der Dichter beginnt die Ilias bekanntlich
mit dem Streite zwischen Agamemnon und Achill, infolgedessen sich Achill vom
Kampfe zürnend zurückzieht; er führt uns also mitten in die Handlung hinein.
Wäre nun dieser Streit und seine Lösung alleiniger Zweck des Dichters, so
könnte er freilich sofort zu den Kämpfen weitergehen, die die Griechen in so
große Not brachten, daß sie sich bittflehend an Achill wenden mußten, wenn
sie nicht unter Hektors Streichen erliegen wollten. Nun aber ist der Plan
des Dichters viel umfassender. Er will uns ein Bild geben von dem ge¬
waltigen Ringen zweier Volker. Dabei muß er natürlich auch den Grund
dieses Kampfes angeben und sein Ende, wenn nicht schildern, so doch ganz un¬
zweifelhaft hinstellen. Bei diesem Plane ist der Streit der beiden Helden nur
Nebenzweck; er dient nur dazu, den Haupthelden, der allen weit überlegen ist,
für einige Zeit vom Schlachtfelde zu entfernen und so Raum zu schaffen für
die Entfaltung der Kräfte der übrigen Helden und ein wechselvolles Bild der
Kämpfe zu geben. Da nun Homer nicht, wie es ein unbegabter Dichter gethan
hätte, den Krieg g.d ovo erzählen wollte (vgl. die ^rs vootioa des Horaz,
136—137), sondern uns mit bewundernswürdiger Kunst gleich mit den ersten
Versen in den Krieg hineinversetzt hat, und zwar in die letzte Zeit des Krieges,
so mußte er an irgend einer Stelle das zum Verständnis der Handlung not¬
wendige nachbringen. Dies ist der Zweck der Bücher 2 bis 7, der nur zu
lange verkannt worden ist und deshalb zu unrichtiger Ansicht über ihre Ent¬
stehung geführt hat. Unsre Romanschriftsteller, die uns noch dem Vorgänge
Homers auch mitten in die Handlung hineinversetzen, bringen den notwendigen
Anfang der Handlung entweder ohne alle Verbindung am Anfang des zweiten,
dritten oder noch spätern Kapitels einfach nach, oder sie lassen den Helden an
irgend einer passenden oder unpassenden Stelle in Nachdenken versinken und
dabei sein vergangnes Leben an seiner Seele vorüberziehen, oder wenden noch
weniger zu billigende Mittel um, um uns mit dem zum Verständnis nötigen
oder wünschenswerten bekannt zu machen. Homer, wohlgemerkt, der erste,
wenigstens nach unsrer Kenntnis der Litteratur, der eine so künstlerische, vom
Natürlichen abweichende Anordnung des Stoffs versucht hat, ist dabei so ver¬
fahren, daß er eine Verbindung zwischen dem ersten und dem zweiten Gesänge
bestehen läßt und uns fast unbemerkt sowohl die Dauer, als den Anfang und
den Grund des Krieges angiebt.
' Das Mittel dazu, das natürlich leicht, wie alle ähnlichen, zu tadeln, aber
sehr schwer durch ein andres zu ersetzen sein dürfte, ist der Traum, den Zeus
dem Agamemnon schickt, um ihn zum Kampfe anzuspornen, wobei die im ersten
Gesänge geschilderte Lage vorausgesetzt wird. Es bedürfte wohl einer besondern
Ermutigung zum Kampfe für die Griechen, da sich ihr Hauptheld grollend
zurückgezogen hat. Man sollte nun freilich erwarten — und das haben auch
alle reinen Verstandeskritiker gethan —, daß der so angespornte Agamemnon
die Griechen sofort zum Kampfe führen werde. Statt dessen beruft er die
Fürsten, teilt ihnen den Traum mit und erklärt ihnen ganz unerwartet, er
wolle die Menge dadurch versuchen, daß er sie zur Rückkehr in die Heimat
ausfordre. Und keiner der Fürsten macht ihn auf das Bedenkliche seines Planes
aufmerksam; es folgt vielmehr nur eine kurze Bemerkung Nestors über den
Traum selbst, dann die Volksversammlung, in der, wie vorauszusehen war,
der Vorschlag die entgegengesetzte Wirkung hat, die Agamemnon gehofft hat:
das Volk stürzt in hellen Haufen zu den Schiffen, um ins Vaterland zurück¬
zukehren. Da dies Verfahren Agamemnos ganz unbegreiflich, ja in Wirklich¬
keit unmöglich erscheint, so haben alle Kritiker, die die Stelle nur für sich be¬
trachten und nicht weiter sehen oder Auffallendes bei andern Dichtern zur
Erklärung heranziehen, hier eine „Störung des ursprünglichen Zusammen¬
hangs" angenommen. Leider ist auch Grimm, der doch so bewandert in der
Litteratur der verschiedensten Völker und Zeiten ist, in diesen Fehler verfallen.
Er glaubt, daß ursprünglich Odysseus dem Könige den Rat gegeben habe,
das Volk zu versuchen, um eine Bestätigung für den Traum des Zeus zu
haben. Wie ist es aber denkbar, daß der schlaueste aller Griechen einen so
thörichten Vorschlag thun sollte, dessen Folgen er doch voraussehen mußte,
und daß die andern Fürsten, vor allen Agamemnon, dem nicht entschieden wider¬
sprochen hätten?
Ich halte diese Lösung der Schwierigkeit für die unglücklichste, weil sie
auf etwas für die Handlung unwesentliches, einen bloßen Notbehelf, den Traum
Agamenmons, ein Gewicht legt, das ihm in keiner Weise zukommt. Der Dichter
geht vielmehr über die Absicht Agamenmons, das Volk zu versuchen, die ja
an sich unverständlich ist, in der Versammlung der Fürsten ganz kurz hinweg;
er läßt sie von andern nicht angreifen, weil sie nicht verteidigt werden kann —
ganz wie er in der Odyssee (7, 242 ff.) den Helden die Frage der Arete nach
seinem Namen übergehen läßt, ohne Gründe für sein Verschweigen anzugeben,
weil sich eben keine Gründe angeben lassen. Deshalb aber Homer sür einen
„Stümper" zu halten, wie es eine unbillige Verstandeskritik thut, die ein
Dichterwerk wie ein geschichtliches oder philosophisches Werk behandelt, geht
nach dem, was ich oben über das Verfahren unsrer größten Dichter gesagt
habe, nicht an. Ein solches verwerfendes Urteil würde nur dann berechtigt
sein, wenn sich ein „höherer Zweck" nicht nachweisen ließe. Dieser aber liegt
ganz offen da. Die Versuchung des Volks dient dem Dichter dazu, uns in
die Zeit, wo der Krieg spielt, und in die Stimmung der Griechen im zehnten
Jahre des Krieges zu versetzen, wie die spätern Reden einzelner Helden, des
Nestor, des Odysseus, auf den Anfang und das Ende des Krieges zugleich
hinweisen und der dritte Gesang, neben andern Aufklärungen, uns den Grund
und Gegenstand des Krieges vor Augen führt. Um dieses Zweckes willen
läßt der Dichter den Agamemnon etwas thun, was in Wirklichkeit kaum Mög¬
lich wäre; die Ermutigung, die Agamemnon dnrch den Traum erfährt, dient
notdürftig dazu, sein Thun einigermaßen begreiflich zu machen, wie in der
oben aus Schiller angeführten Stelle Elisabeths Eitelkeit, welche Leicester
anstachelt, um die Zusammenkunft der beiden Königinnen zu ermöglichen. Zu
genaueren Abwägen aber kommt erst beim Lesen der kritische Zweifler. Denn
»die Phantasie des Hörers wird so unablässig in Anspruch genommen — erst
durch den Traum, dann durch die lärmende Volksversammlung, den Aufbruch
zur Heimkehr, das Dazwischentreten des Odysseus, die Bestrafung des Ther-
sites —, alle diese Bilder reihen sich so lebendig und ununterbrochen vor
unsern Augen an einander, daß wir zu kritischen Einwendungen zunächst gar
keine Zeit haben" (L. Erhardt, Die Entstehung der homerischen Gedichte
S. 2»).
Dieses eine Beispiel mag hier genügen, um meine Auffassung gegenüber
der neuern Homerforschung, selbst Grimm gegenüber, der doch sonst so be¬
müht ist, die Einheit der homerischen Gedichte zu beweisen, anschaulich zu
machen/') Ich bin der Ansicht, daß nicht nur kleinere Versehen und Unacht¬
samkeiten, wie sie zu dem Urteile des Horciz führten: HuÄNÄoaus vomis clor-
initiit Loinörus, sondern auch schwerere Anstöße und Unebenheiten nicht gegen
die einheitliche Auffassung der Gedichte sprechen, wenn wir den Grund zu dem
Widerspruche in einer bestimmten Absicht des Dichters entdecken können. Denn
ähnliche Widersprüche finden wir auch in entschieden einheitlichen Werken selbst
hochbegabter Dichter. Dabei ist zu bedenken, daß wir durch nichts berechtigt
sind, in Ilias und Odyssee Werke wie aus einem Guß anzunehmen, bei denen
der Dichter von vornherein nach einem bestimmten Schema einen Tag nach dem
andern gearbeitet habe. Schillers Don Carlos, doch auch das Werk eines
Dichters, hat sich viele Umgestaltungen gefallen lassen müssen, Dante hat an
seiner Divina Commedia sein ganzes Leben gearbeitet, wie Goethe an seinem
Faust. Besonders bezeichnend aber ist in dieser Hinsicht das Geständnis Wie-
lands über die Entstehung seines Oberon: „Psychologisch kann ich mirs nun
doch ganz gut denken, daß Homer progressiv und nach und nach selbst die zwei
Epopöen nach vorhandnen Plane zusammengesetzt habe. So ist mein Oberon
entstanden. Ich hatte die ihm zu Grunde liegende Fabel als faktische Über¬
lieferung im Kopf. Nun war es mir ein organischer Keim in meiner Seele,
der nach und nach immer mehr Sprossen und Blüten aus sich hervortrieb.
Ich habe nie einen eigentlichen Plan dazu entworfen, wie sich etwa manche
Maler zu einem historischen Gemälde eine Skizze vorzeichnen. Ein dunkles
Gefühl hat mich von einem zum andern geleitet, und die genetische Dichter¬
kunst hat so lange fortgewirkt, bis alles in einander griff und zu einem Ganzen
verschmolz. Warum sollte es mit dem Homerischen Erzeugnis nicht ebenso
stehen?" Die letzte Frage ist unzweifelhaft berechtigt, namentlich wenn man die
Zeit, wo Homer lebte, erwägt, eine Zeit, die von logisch strenger Disposition
eines Werkes noch nichts wußte, obwohl sie mit sicherm Gefühl häufig auch
die beste Einteilung gefunden hat. So ist es z. B. denkbar, daß der Dichter
erst nach und nach Patroklos zu dieser Bedeutung für die Handlung heraus¬
gearbeitet hat (wie Schiller im Don Carlos den Marquis Posa) oder sich erst
während des Dichtens entschlossen hat, die Telemachie in die Odyssee einzu¬
legen. Ist doch selbst Goethes Hermann und Dorothea, obwohl in ganz
kurzer Zeit entstanden, während der Arbeit dem Dichter von sechs auf neun
Gesänge gewachsen, und nicht weniger bekannt ist, wie Schiller im Wallenstein
einzelne Teile bald bedeutend erweitert, bald zusammengezogen hat. Bei Homer
haben wir keine derartigen litterarischen Angaben, aber das hindert doch nicht,
eine ähnliche Art des Schaffens bei ihm vorauszusetzen. So kann auch manches
ein späterer Zusatz sein, aber nicht von einem geistlosen Rhapsoden, sondern
von dem Dichter selbst, der dies oder jenes näher begründen wollte. Auch
hierfür liegt uns eine Erklärung eines Dichters, keines geringern als Goethes
selbst, vor. Er schreibt (am 19. April 1797): „Einige Verse im Homer, die
für völlig falsch und neu ausgegeben werden, sind von der Art, wie ich einige
selbst in mein Gedicht (Hermann und Dorothea), nachdem es fertig war, ein¬
geschoben habe, um das Ganze klarer und faßlicher zu machen und künftige
Ereignisse beizeiten vorzubereiten."
(Schluß folgt)
^Mlö
^WUU
MWWn der Dramatischen Handwerkslehre von Avonianus
(Berlin, Hermann Walther, 1895) haben wir eine außerordent¬
lich fesselnd geschriebn? „Technik" des Dramas vor uns. Der
Verfasser, ein bekannter Dichter und Kritiker, keunt das Leben
in Nord- und Süddeutschland, er kennt die Großstadt und die
Verhältnisse der Bühne genau. Er ist alt genug geworden, sich nicht mehr
durch das erste Beste imponiren zu lassen (seltsamerweise verwandelt sich ganz
vereinzelt seine Kritik, wo man es am wenigsten begreift, nicht bei dichterischen,
sondern bei kritischen Arbeiten, in eine Hochachtung, die doch mehr als Höf¬
lichkeit zu sein scheint), er steht auch als Beobachter selbst bereits außerhalb
der Interessen, von denen aus die Thecitcrwelt regiert wird, und will nun
das ist sein Vorsatz — aus einer reichen Erfahrung jungen dramatischen
Dichtern zeigen, vor was für Fehlern sie sich am meisten zu hüten haben. Er
spricht über die Wahl des Stoffes, über die Führung der Handlung, über die
Sprache und über moderne und alte Bühnentechnik, mit reichlichen Beispielen
nus Dramen von Shakespeare bis in die allerneueste Zeit. Seinem Stand¬
punkt nach ist er modern, insofern er nicht über Shakespeare zurückgeht, uus
das Altertum erläßt und die Schicksalstragvdie und die in den letzten Jahren
so vielfach besprochne tragische Schuld. Er hält sich also nur an das moderne
Leben. Aber er ist keineswegs modern in dem unangenehmen Sinne, den die
heutige Theaterwelt und die allerneueste Bühnentechnik erfunden und ausge¬
bildet hat. Hier greift er energisch und wohlthuend mit seiner Kritik ein und
Zeigt an den ältern Mustern das Nachahmenswerte, was zu weiteren Studium
für den Dramatiker von heute den Ausgangspunkt abgeben soll. Er hat also
junge Dichter im Ange, und die meisten davon verunglücken nach den ersten
dramatischen Versuchen; das zeigt er an zahlreichen Beispielen. Solchen Dichtern
möchte er helfen und sie vor Enttäuschungen bewahren. Aber sein Buch ist
vor allem doch auch ein Lesebuch für jeden gebildeten Menschen, um so mehr,
als die „Handwerkslehre" die verbrauchten Ausdrücke des ästhetischen Wort¬
vorrats vermeidet und einfach und deutlich zu jedermann über die Sachen spricht.
Der leitende Gedanke, der immer wieder zum Vorschein kommt, ist, daß ein
Drama kein Lesestück sein soll, sondern ein Bühnenstück. Ein Drama kann zu
Micr angenehmen, sogar zu einer erhebenden Lektüre werden, aber es soll ge-
schrieben sein für die Aufführung. Es soll Handlung haben, denn nur die
läßt sich darstellen, und nur sie interessirt. Nun zeigt er uns an einer großen
Reihe von Dramen, vom Hamlet bis zur „Familie Selicke," was „aktuell" ist,
und was nicht. Sein Führer ist Shakespeare (der vom Avon), und zwei längere
Aufsätze über die Handlung des Hamlet gehören zu den glänzendsten Abschnitten
des Buches, das alles in allem genommen eine wahre Wohlthat ist gegenüber
so manchem, was wir seit Freytags Technik des Dramas haben genießen
müssen.
Hat man dieses durch und durch lebensvolle Buch aus der Hand gelegt,
so kommt einem Shakespeares zweiter mittelalterlicher Dramen¬
cyklus von Dr. E. W. Siepers (Berlin. Reuther und Reinhard, 1896),
das nachgelassene Werk eines kürzlich verstorbnen ältern Gymnasiallehrers, der
sich mehrfach mit Shakespeare beschäftigt hat, allerdings vor wie ein erratischer
Findling, ein Zeugnis fleißiger Gedankenarbeit aus einem frühern Zeitalter.
Dieser Band von drittehalbhundert Seiten behandelt Richard II., den ersten
und zweiten Teil von Heinrich IV. und Heinrich V. An diesen vier Stücken
wird uns erstens der „Entwicklungsgang des Königtums" gezeigt, zweitens
der „Entwicklungsgang der Menschheit" und endlich drittens — auf über
hundert Seiten— Shakespeare „als Interpret der Johanneischen Logosidee."
Wir geben die Abteilungen wörtlich, damit man die Ausdrücke nicht für will¬
kürlich untergeschoben halte. Der Herausgeber des Buches, ein Privatdozent
des Englischen an einer deutschen Universität, sagt uns nach einigen abfälligen
Bemerkungen über A. W. Schlegel und Gervinus, die wissenschaftliche Er¬
kenntnis Shakespeares hätten in Deutschland in der Zeit vor 1840 nur drei
Männer gefördert: Goethe, Herder und Solger. Darauf heißt es: „Siepers
ist einer der bedeutendsten derer, die diese Richtung fortsetzten." Wir müssen
ihm für diese Behauptung die Verantwortung überlassen.
Auch Kuno Fischers Streifzüge wider die Unkritik (Heidelberg,
Winter, 1896) beschäftigen sich mit dem Drama, aber dem deutschen. In den
drei ersten Aufsätzen über Lessings Nathan und Faust wendet sich Fischer
gegen zwei Gegner, die kaum irgend jemand kennt, und die die Ehre littera¬
rischer Befehdung auch nicht verdienen. Lassen wir sie darum namenlos. Die
Arbeit eines Dritten — „Ein Faustkommeutator" (der vierte Aufsatz) —
bringt uns aber gar in den Bereich des hellen Blödsinns. Was sür eine
Überwindung muß es doch den ästhetischen Kritiker von anerkannten Geschmack
gekostet haben, diese früher in Zeitungen und Zeitschriften erschienenen vier
Aufsätze zum zweitenmale zum Druck zu gebe»! War es wirklich nötig? Selbst
in Bezug auf Nummer fünf und sechs, über Goethes Iphigenie und die histo¬
rische Persönlichkeit des Antonio im Tasso — gegen Düntzer — dürfte man
die Frage thun. Denn Kuno Fischer hätte auch ohne diese Wiederholung
seiner Ausführungen Recht behalten, weil er von vornherein Recht hatte.
An diese kritischen Arbeiten über das Drama schließen wir die Besprechung
einiger dramatischen Dichtungen. Da ist zunächst Luther, ein dramatisches
Gedicht von Friedrich M. Mühlhausen (Leipzig, Wigand, 1896). Es
ist nicht leicht, gegenüber einer wohlgemeinten und ernsten Dichtung über einen
schönen und großen Gegenstand einen Standpunkt zu gewinnen, wie ihn der
Beurteiler sich schuldig ist, und der zugleich dem Dichter, wenn man ihn fragen
wollte, gerechtfertigt erscheinen würde. Luther bleibt immer Luther, und was
wirksam ist an einer derartigen Dichtung, das wirkt meistens trotz des Dichters
und ohne sein Verdienst. Auf der andern Seite aber ist es gewiß doppelt
schwer, in einem Drama über Luther neues und eignes Verdienst zu zeigen.
Doch wir wollen uns auf einen etwas festern Boden begeben. Der Verfasser
schreibt, abgesehen von einer Prosaszene, in fünffüßigen Jamben. Es scheint,
als ob er diese unscheinbaren, reimlosen Verse für leichter gehalten Hütte.
Größere Vorgänger vor ihm haben manchmal behauptet, sie wären im Gegen¬
teil schwerer als gereimte. Jamben bestehen ja bekanntlich nur aus Hebungen
und Senkungen. Aber wie steht es damit z. B. in folgenden Versen:
-lustmiitvus <is,i Iionoros.
Ja.
oder folgenden:
Getrost.
Welch eine That so grauenvoll
Liegt dir auf dem Gewissen? Öffne mir
Mein Sohn, dein Herz.
oder vollends:
Ehernen Klanges. Bist, Uuselger du
oder:
Und ich, ich muß begehren, ich bin so
Geboren, ich kann ja nicht heilig sein!
oder:
Ich gehe, um
Fräulein von Bora herzurufen.
Und sehr viel häufiger noch, als uns solcher Widerstreit von Wort- und
Verston an die Ohren schlägt, langweilen uns die bedeutungslosen Flickwörter,
die nur die Aufgabe haben, die Silbenzahl vollzumachen. Man höre z. B.
folgendes:
Nein!
Wir müssen alle, jeder selber, sterben,
Ein jeder muß selbst auf die Schanze, muß
Selbst mit dem Tode und dem Teufel ringen.
oder folgenden Dialog:
Und was ist es denn?
Zürnt nicht mit mir, von Herzen mein' ich ja
Es gut mit euch.
Gerade euch kann ich
Es ja nicht sagen.
Katharina, sagt,
Bin ich es, der Geächtete?
Ja, ihr!
Wie kann man auf dem Höhepunkte des Dramas, wo sich Luther und Katharina
fürs Leben verbinden, sie fo sprechen lassen und sich dann noch einreden, das
wäre gedichtet!
Karta Bühring ist der Titel eines „Frauendramas" in vier Akten von
Laura Marholm (München, Albert Lange, 1895). Es spielt in einem
Nordseebade und führt uns in moderne bürgerliche, recht angefressene Ver¬
hältnisse. Die treibende Kraft des Stücks ist ein aufgeblasener, vor lauter
Eitelkeit halb verrückter jüdischer Litterat, Dr. Collander, der seine ziemlich
einfältige Frau schlecht behandelt und dafür Verhältnisse unterhält, zunächst mit
der Frau eines phlegmatischen Großkaufmanns Eschenmeyer, einer Art von Gans,
und dann — im Laufe des Stücks — mit Karia Bühring, einer Violinvirtuosin.
Von Herrn Eschenmeyer und einem ernsthaften Anbeter der Karta, Baron
Wetterberg, zur Rede gestellt und geohrfeigt, muß er schließlich mit Frau und
Kindern abreisen. Karia, die Heldin, hat inzwischen dem Baron ihre Hand
versprochen, bekommt aber über diesen Schritt Reue, weil es zwischen ihr und
Collander schon zu weit gekommen ist, und — greift zum Revolver. „Vor¬
hang." Das wäre die Fabel. Die Verfasserin hat das Stück für die Bühne
geschrieben, aber „es enthält noch etwas andres und mehr." Die Frauen
darin sind nämlich „jede innerhalb ihrer Lebensstellung und Begabung typisch."
Schlimm genug für sie! Und weiter: „Die echten Frauenrollen, in denen sich
das Weib als Weib fühlt und seine unbewußte Natur nach außen spielt(?),
werden immer seltener. In Karta Bühring habe ich eine solche zu schaffen
versucht." Über den Wert dieser Schöpfung werden immerhin dem Leser
einige Zweifel bleiben, und für den Fall, daß das Stück zur Aufführung
kommen sollte, scheint die Verfasserin selbst ein Bedenken angewandelt zu haben,
das sie mit der vielsagenden Bemerkung erledigt: „Die Szenenwirkung wird
wesentlich von der Expansionskraft der Darstellerinnen getragen." Freilich!
Denn wie will mans uns glaublich machen, daß dieser Collander, dem Karia
Vühring zuruft: „Was Sie eigentlich für eine Bocksphystoguomie haben,"
und der sich selbst mit den bocksbeinigen Satyrn vergleicht, in dieser „typischen"
Frauenwelt soviel Unheil anrichten kann!
Da zeigt uns gerade zur rechten Stunde eine kleine, anspruchslose Jugend¬
arbeit von Franz Nissel, was ein Drama ist: „Ein Wohlthäter, Schau¬
spiel in drei Akten," in Nissels dramatischen Werken (Dritte Folge, Stutt¬
gart, Cotta, 1896) von seiner Witwe herausgegeben. Lauter einfache Leute.
Ein Bauer, seine Tochter Marie, sein Knecht Andres, den er als Kind hilflos
an der Hecke gefunden und in sein Haus genommen hat. Die jungen Leute
sind einander gut, der wohlhabende Mann will den armen Burschen zum
Schwiegersohn. Aber diesen drückt der Gedanke, daß er dem Alten nicht nur
die Frau, sondern auch das Gut verdanken soll. Er geht trotzig davon und
kommt erst nach Jahren zurück, als der Alte, durch unverschuldetes Unglück
von Haus und Hof getrieben, sich durch die Hände seiner kränkelnden Tochter
ernähren lasten muß. Nun das Wiedersehen und gleich darauf ein einfacher,
alltäglicher Schluß: Andres und Marie. Aber wie ist das geschildert!
spannend, Teilnahme fordernd, und doch so schlicht, wie das Volk redet. Hier
hätte Avonianus auch zeigen können, was „Handlung" ist. Dabei ist das
Stück eine reizende Geschichte, die sich anch vortrefflich zum Lesen eignet.
„Ein dramatisches Gedicht in vier Aufzügen" nennt sich endlich Nabucv
von F. Fontana, deutsch von Bertha von Suttner (Dresden, Pierson,
1896). Fontana ist ein talentvoller, witziger, unruhiger und unbefriedigter
Norditaliener, halb Franzose von Neigung und als Journalist bei einem Teile
der Franzosen sehr beliebt. Geschrieben hat er so ziemlich über alles mögliche
und ist ein echter lin as siöolö-Mensch; mit nichts zufrieden, macht er überall
seine spöttischen Fragezeichen und ist immer noch geistreicher als seine Vor¬
gänger. Wo sie auf ihren Füßen gingen, versucht ers auf den Händen.
Das etwa ist der Charakter seines Feuilletons und einer Art von krauser
Satireudichtung, wodurch er seit lauger Zeit bekannt ist. Nun hat er auch
Dperntexte und Dramen geschrieben, und Ludwig Fulda, der uns dieses in
einem Vorwort mitteilt, lehrt uns zugleich, daß der Nabuco ohne Zweifel zu
seinen besten Arbeiten gehöre, sowohl wegen der schönen leidenschaftlichen
Sprache, als wegen des originellen „Wurfes." Wir dürfen uns also auf
etwas besondres gefaßt machen.
Die Fabel ist ziemlich einfach. Nabuco d. h. Nebukadnezar, umgeben von
einer Schar von Feldherren und Höflingen, die bis auf zwei oder drei weiter
keine Aufgabe zu haben scheinen, als daß sie uns durch ihre wunderlichen,
schwer auszusprechenden Namen einige Unbequemlichkeit bereiten — Nabuco
kehrt von einem siegreichen Feldzuge nach Babylon zurück. Sein Übermut
kennt keine Grenzen mehr. Plötzlich aber fängt er an, auf allen Vieren zu
kriechen, winselt wie ein Hund, leckt seinen Unterthanen die Hand. Sie legen
'
ihm ein Halsband um und schmieden allerlei Pläne, ihn zu entthronen. Noch
ein zweites mal fällt er in diese tierische Rolle, als er kaum genesen, wiederum
seinen Tyrannengelüsten folgt und einen Feldzug plant. Beidemale errettet
ihn aus dieser schlimmen Lage und giebt ihm menschlichen Verstand zurück die
Liebe zu der schönen Daira. Das ist der Zauber, auf dem das Stück beruht.
Daira hat schon als Kind sein Herz gewonnen, und zwar mit gelben Rosen
aus ihrem Garten. Dann hat er sie vergessen, aber sie umstrickt ihn aufs neue,
und diese Liebe und ein ziemlich träges, nach unsern Vorstellungen etwas lang¬
weiliges Genußleben bilden das Gegengift gegen den tierischen Wahnsinn und
bieten ihm zugleich Ersatz für Thron, Herrschaft und Krieg, was alles Nabuco
am Ende mit Freuden aufgiebt, um ganz mit Daira und ihren gelben Rosen
zu leben. In allen wichtigen Augenblicken kehren diese gelben Rosen wieder,
und zuletzt, als sich der König mit seiner Geliebten für immer ins Privatleben
zurückzieht, benutzt er noch sein Schwert, um einen Zweig solcher Rosen abzu¬
schneiden, und wirft es dann fort. Dem Diener aber, der es aufheben will,
ruft er zu: „Nein, laß es liegen!" Dann fällt der Vorhang.
Wer das originell nennt, mit dem ist nicht weiter zu rechten. Daß die
italienische Sprache schön ist, läßt sich auch nicht leugnen, und daß es die
Sprache dieses Stücks ebenfalls sei, wollen wir auch der Übersetzung gern
glauben. Aber das allein genügt doch noch nicht, uns den Eindruck zu ge¬
währen, daß wir hier eine außergewöhnliche Leistung zu verehren hätten. Denn
daß sie nach Fuldas Worten „mit der konventionellen historischen Jamben¬
tragödie nichts gemein hat" (was der geneigte Leser auch ohnedies gemerkt
haben wird), thut es doch auch nicht allein. Nun belehrt uns aber der Dichter
selbst, daß sein Drama ein, wie er hofft, erfolgreicher Protest gegen den Krieg
sein soll, und die Übersetzerin hat das Stück deswegen übersetzt, „um dem edeln
Werk ihres Lebens einen neuen Bundesgenossen zuzuführen," wie Fulda sagt.
Alle drei haben sich also in diesem schönen Gedanken zusammengefunden, und
da uns der Dichter versichert, daß dies nur das erste sei von vielen Stücken
verschiedner Gattung, die „alle der Propaganda gegen den Krieg nützen können,"
so ist zu hoffen, daß auf diesem Wege auch noch einmal etwas wirksameres
gesunden wird, als die gelben Rosen des bellenden Nebukadnezar. ^
Die Nationalzeitung urteilte über die Zirkus¬
versammlung des Bundes der Landwirte: „Sie war von Anfang bis zu Ende
eine Orgie des Unsinns und der unverantwortlichsten Volksverhetzuug." So grob
sind wir nicht; wir sagen bloß: Die Versammlung entsprach durchaus dem Bilde,
das wir gleich nach der Gründung des Bundes von ihm entworfen haben, und an
dem auch nur einen Zug zu ändern er uns die ganze Zeit seines Bestehens hin¬
durch leine Veranlassung gegeben hat. Dem Herrn von Ploetz müssen wir sogar
eine bei der bekannten Bundesart erstaunliche Bescheidenheit nachrühmen, denn er
begann mit dem Bekenntnis: der Bund hat zwar den Landwirten bisher nur geringe
Vorteile gebracht, aber usw. Die bedeutendste der positiven Leistungen des an
Mitgliederzahl und Stimmkraft gewaltigen Bundes scheint dnriu zu bestehen, daß
er den Mitgliedern mehr als 700 000 Zentner Duugmittel verkauft hat; die alten
Bauernvereine, die dergleichen jahrzehntelang besorgt haben, ohne daß das Zeitungs¬
publikum auch uur vou ihrem Dasein Kenntnis erhalten hätte, werden darüber
lächeln. Auch bei der Darstellung der Notlage der Landwirte fangen die Herren
an, von ihren Übertreibungen, über die ja doch jeder Verständige lacht, zurück¬
zukommen. Anfangs hieß es, wenn der Staat nicht augenblicklich helfe, würden
die meisten Gutsbesitzer noch vor Ablauf des Jahres von Haus und Hof müssen.
Diesmal versicherte Dr. Roesicke bloß, in Schlesien arbeiteten 34 Prozent aller Bauern
mit einem Defizit. Vielleicht beleuchten wir nächstens einmal die Defizitberechnung
an ein paar Beispielen. Übrigens fangen doch auch die Städte an, Stimmkraft zu
bekommen. Der Oberbürgermeister von Breslau hat auf den 22. Februar zu einem
schlesischen Stttdtetage eingeladen und im Einladungsschreiben das Versäumnis der
Berliner Bürgermeisterversammlung gut gemacht, indem er einige der Punkte an¬
giebt, in denen die Begründung der den Gutsbesitzern im Schnlgesetzentwurf zu¬
gedachte» Begünstigungen unhaltbar ist. Unter anderen hebt er hervor, daß diese
Begründung, um eine hohe Schullast der Landgemeinden herauszurechnen, in diese
Schullast auch den Ertrag der Schuläcker und Schulstiftuugen gezogen habe.
Doch sind es eigentlich nicht diese Dinge, um deretwillen wir heute den Bund
der Landwirte erwähnt haben, sondern wir wollten bloß an seinen konservativen
Charakter erinnern. Zwar haben wir immer noch keinen amtlichen Aufschluß darüber
erhalten, ob der Bund für den Kern der positiven Partei oder diese als der Nähr¬
boden des Bundes anzusehen sei, und ob zwischen den Leitern der beiden Or¬
ganisationen, soweit sie nicht ein und dieselben Personen sind, ein regelmäßiger
Gedankenaustausch stattfindet, aber soviel steht doch wohl fest, daß sich die beiden
Organisationen größtenteils decken wie zwei Kreise, von denen jeder als Sonderwesen
bloß in Gestalt einer schmalen Mondsichel erscheint, und daß die Bundesmitglieder
mit verschwindenden Ausnahme» auf deu Parteinamen konservativ hören. Nun giebt
es zwar eigentlich keine allgemein anerkannte Begriffsbestimmung des Wortes kon¬
servativ; vielleicht werden wir erfahren, was es bedeutet, wenn die Versammlung
zustande kommt, die der edle Massow plant. Er ist selbstverständlich mit dem Be¬
nehmen der Konservativen sehr schlecht zufrieden und will, daß — nicht ein dentsch-
konservativer Parteitag — sondern „eine allgemeine christlich-konservative Versamm¬
lung ans allen Teilen des Reiches" einberufen werde; so schreibt er im Rcichsboten.
Also wir wissen zwar nicht genau, was eigentlich konservativ sei, aber wir wissen
doch einiges von dem, was von den preußischen Konservativen bisher zu diesem
Begriff gerechnet und was von ihm ausgeschlossen wurde. Unter anderm haben
sie sich stets gerühmt, getreue und gehorsame Unterthanen Seiner Majestät des
Königs zu sein, haben den Parlamentarismus verabscheut und behauptet, die Minister
seien nur Diener des Königs und der Volksvertretung nicht verantwortlich, und
haben nicht selten die Opposition gegen die Regierung, die nach dieser Auffassung
Opposition gegen den König selbst ist, als eine Verletzung des dem Monarchen
schuldigen Gehorsams verurteilt. In letzter Zeit haben sie dann zwar das Recht,
das ehemals nur die Liberalen geltend machten, Seiner Majestät getreueste Op¬
position zu sein, auch für sich in Anspruch genommen, was sich mit der oben be¬
zeichneten orthodoxen Doktrin nicht ganz leicht vereinigen läßt; aber daß diese
preußisch-konservative Lehre auch noch aufrecht erhalten werden könne, wenn man
das Recht in Anspruch nimmt, die Minister des Königs zu beschimpfen, das halten
wir für schlechterdings unmöglich. Es ist das aber vom Bunde der Landwirte
und von seinen Organen sehr oft und in der Zirkusversammlung, also vor einer sehr
großen Öffentlichkeit, in stärkster Weise geschehen. Das gegen den vorigen Reichs¬
kanzler geschleuderte gemeine Wort, das wir hier nicht abdrucken können, rechnen
wir nicht dazu. Caprivi ist ein Ausnahmefall. Er ist ein für allemal zum Azazel
in die Wüste geschickt worden, und es ist ein für allemal ausgemacht, daß ihm
die Schuld alles Unheils, das im Reiche geschieht, aufgeladen werden müsse; und
da er mit einer in unsrer Zeit beispiellosen Noblesse und einer in allen Zeiten
seltenen Unerschütterlichkeit des Charakters schweigt, als hätte ihn wirklich der Azazel
verschlungen, so kann man, um seinem Ärger über selbstverschuldete Mißerfolge Luft
zu machen, ihm jede Nichtswürdigkeit nachsagen, ohne Furcht, widerlegt zu werden,
und ihm ohne Gefahr einer Beleidigungsklage jedes Schimpfwort an den Kopf werfen.
Also Caprivi ist vogelfrei. Aber auch von den derzeit regierenden Ministern Seiner
Majestät hat man in Ausdrücken gesprochen, die zur Auflösung der Versammlung
geführt haben würden, wenn sie in einer freisinnigen, demokratischen oder sozial-
demokratischen Versammlung gefallen wären. Demnach hat der Begriff konservativ
— und dieses ist die politische Bedeutung der Zirkusversammluug — eine Änderung
erfahren: es ist einem preußischen Konservativen erlaubt, die Minister des.Königs
öffentlich zu beschimpfen.
Dagegen entsprach es ungemein dem in Preußen hergebrachten Sinne des
Wortes konservativ, was der Herr Minister von der Recke am 13. Januar in der
Neichstagsdebatte über das Vereinsrecht sprach. Zwar wenn er versicherte, man
sei in den Einzelstaaten sehr zufrieden mit den bestehenden Vereinsrechten, so klang
das gar zu naiv im Munde eines Staatsmanns (er müßte denn gescherzt haben;
doch wird nicht berichtet, daß er dazu gelacht habe). Aber wie schön stimmt es
zu dem konservativen Grundsatze: Nuhe ist die erste Bürgerpflicht, daß er zu er¬
kennen gab, das ganze Vereinswesen sei ihm als eine Ruhestörung und die De¬
batte darüber als ein Feuerchen machen neben einem Pulverfaß sehr zuwider. Die
Gegner des Vereiusfexentnms würden jedoch wahrscheinlich irren, wenn sie den
Minister für ihren Bundesgenossen ansähen; recht viel Skat-, Cigarrenspitzen-
sammel-, Nadfahr- und andre Sportvereine dienen vielmehr ruheliebenden Staats¬
männern zur Beruhigung. Es wäre interessant, zu wissen, ob der Bund der Land¬
wirte zu den Vereinen gehört, die dem Minister des Innern gefallen, oder zu den
seiner Ansicht nach bedenklichen; sein Vorgänger hatte, wenn wir nicht irren, eine
entschiedne Vorliebe für ihn.
Österreich ist bekanntlich der Staat, der, immer langsam voran, immer erst
ans Ziel kommt, wenn die andern schon lange darüber hinaus sind, und daraus
erklärt es sich vielleicht, daß in einem Augenblicke, wo mein in der ganzen Kultur-
welt so ungeheuer konservativ wird, der Donaustaat plötzlich liberal-demokratische
Anwandlungen bekommt und zu einer Erweiterung des Wahlrechts seiner Unter¬
thanen schreitet, während es Sachsen zu verengern im Begriff steht und im deut¬
scheu Reiche die Verengerung geplant wird. Die Sozialdemokraten lassen natür¬
lich kein gutes Haar an Badenis Entwurf — der Taaffische war in der That
liberaler —, aber die neue, zweiundsiebzig Mitglieder zählende Kurie, darin ist alle
Welt einverstanden, könnte immerhin ein Dutzend Arbeitervertrcter in den Reichstag
bringen, in dem bis jetzt Pernerstorffer, mir hie und da von Krouawetter unter-
stützt, die Arbeiterinteressen fo ziemlich allein vertreten hat, und das ist bedeutend
mehr, als die Herren im Königreich Sachsen ihren Arbeitern zu bewilligen ge¬
sonnen sind. Die Leistung Badenis ist um so staunenswerter, als er, wie er als
Gebieter Galiziens bewiesen hat, wahrhaftig nicht zu den Herren gehört, denen der
Pöbel ungestraft die Nachtruhe oder die Verdauung stören darf, und die Hechte
im parlamentarischen Karpfenteiche werden ihm doch nicht wenig Unruhe bereiten.
Was veranlaßt ihn also? Ist er vielleicht doch keiner von den echten Österreichern,
die „olle Strapotzigen entbehren können, ansgennmmeu n Schloaf"? Der abge-
gnngue Statthalter von Böhmen, Graf Thun, scheint einer gewesen zu sein; we¬
nigstens wird ihm im Enthebnngsdetret die Anerkennung dafür ausgesprochen, daß
er seiue Fürsorge fürs Land „mit Hintansetzung aller persönlichen Mühen be¬
thätigt" habe. Freilich giebt es Leute, die behaupten, die Beamten der kaiserlich
königlichen Kanzlei verstünden ihr eignes Deutsch uicht und hätten eigentlich das
Gegenteil sagen wollen, das regierende polnische Ministeriuni aber sei auch nicht
das geeignete Organ, das Deutsch seiner Kanzlisten in das Deutsch Goethes zu
übersetze». Also bedarf Badeui vielleicht der Aufregung? Oder treiben ihn tiefere
Beweggründe? Glaubt er wirklich vielleicht, daß das. niedere Volk ein nicht ganz
Zu vernachlässigender Bestandteil des Staates sei, und daß man ihm einige Zu¬
geständnisse machen müsse? Das würde ja eine Erschütterung der konservativen Idee
in dem konservativsten, feudalsten und klerikalsten der drei mitteleuropäischen Gro߬
staaten, der Dreibundstaateu bedeuten!
In Westeuropa, wo die liberalen Ideen ihren Ursprung haben, wundert man
sich nicht eben, wenn die konservative Macht des Besitzes, die übrigens auch dort
fest genug gegründet steht, einmal ein wenig erschüttert wird, und namentlich in
Frankreich ist man immer auf kleine, durch die zusammengepreßten Dünste der Unter¬
welt verursachte Erdstöße gefaßt, von denen man ja im voraus weiß, daß sie die
Schichtung der Gesellschaft nicht wesentlich zu verändern vermögen. Trotzdem hat
die politische Welt mit Spannung der Lösung der Frage geharrt, ob Bourgeois
und die radikale Kammermehrheit, ob der „konservative" Senat und die „gute"
Presse siegen würden, diese gute Presse, die mit Recht entrüstet darüber ist, daß
ihr die gegenwärtige Regierung den Brotkorb der Bestechungsgelder höher gehängt
und dadurch die Existenz nicht weniger großen Zeitungen bedroht hat. Der Senat
hat nachgegeben, und anstatt der von den staatserhaltenden prophezeiten Revo¬
lution erlebte man eine so vergnügte, von Heiterkeitsausbrüchen begleitete Sitzung,
wie sie diese ehrwürdige Körperschaft vielleicht noch niemals zum besten gegeben
hat. Daß es die Unerbittlichkeit ist, mit der Bourgeois und Ricard die großen
Nnanzschwindler verfolgen, was den Konflikt zwischen Senat und Regierung herauf¬
beschworen hat, scheint der Sympathie vieler anßerfranzösischen Konservativen für die
^^nzösischen Konservativen Eintrag zu thun.
wird allein Anschein nach
durch die gegenwärtige Ansstandsbewegung keine wesentliche und dauernde Abstellung
erfahren. Nur ein durchgreifendes Vorgehen der Regierung, gestützt auf die Mit¬
arbeit der besitzenden Kreise, zumal der Frauen, kann das Übel an der Wurzel
fassen und sein Weiterfressen verhindern. Ob das durch deu Hehlschen Antrag ver¬
anlaßt werden wird, ist zweifelhaft; zunächst sind umfangreiche „Erhebungen" für
nötig erklärt worden, vielleicht wird auch ein bischen Statistik „aufgemacht" werden,
beides über Dinge, die man längst kennt, auch ohne zu erheben und zu zähle».
Die an der Hausarbeit, namentlich für die Berliner Konfektions- und Wäschgeschäfte,
beteiligte weibliche Arbeiterschaft ist aus gruudverschiedneu Bestandteilen zusammen¬
gesetzt, ergänzt sich fortwährend aus so weiten, und mannichfaltigen Kreisen, daß der
Streik als Kampfmittel vou vornherein aussichtslos erscheinen mußte und seine Unter¬
stützung durch Geldmittel, wie Wildenbruch und andre in einer an sich erfreulichen
Gefühlsaufwallung angeregt hatten, mehr schaden als nützen kann. Die Deutsche
volkswirtschaftliche Korrespondenz hat in ihrem Urteil über diese Sammlungen einmal
nicht so ganz Unrecht — ausnahmsweise! Unter den Arbeiterinnen für die genannten
Geschäfte spielen zunächst die vielen Tausende von Töchtern gebildeter Familien eine
große, traurige, oft recht falsch beurteilte Rolle. Wie mau zu sagen pflegt, und wie
diese Damen namentlich selbst nicht laut genug versichern können, wenn sie einmal
Auskunft geben müsse», hat diese Arbeit nur den Zweck, nebenher ein kleines Taschen¬
geld für Luxusausgaben zu verschaffen. Und doch ist das meistens nicht der Fall.
Die wenigen Groschen — es sind das gerade die ärgsten Hungerlöhne —, die diese
„verschämten" Arbeiterinnen verdienen, sind leider nnr zu oft dringend nötig zum
Leben der Fnmilie neben deu für die großstädtische» und die Staudesverhältuisse
kleinen Gehalte», Pensionen, Rente» der Väter und Mütter, selbst wenn die Ein¬
nahme» von „Zimmerherren" und „Pensionärinnen" nicht fehlen. Es ist eben das
Elend des vermögenslosen Beamtentums, namentlich des höhern und mittlern, das
diese Dame» aus dem Westen zur Konkurrenz mit der Arbeiterwitwe ans dem vierten
Stock im dritten Hofe im, Südosten zwingt. Wenn ein Berliner Versicherungsagent,
dessen Sohn eben Assessor geworden war, kürzlich klagte, daß der Richter bis zum
Oberlandesgerichtspräsidenten hinauf doch Proletarier bleibe, von auskömmlichen
Einkomme» jedenfalls gar nicht sprechen könne, dann gab er der in der Berliner
„Gesellschaft" herrschenden Anschauung einen durchaus zutreffende« Ausdruck. Ob
der preußische Finanzminister für solche Erscheinungen Verständnis hat? Das Rezept:
der tüchtige Beamte muß reich sein, Geld ererbt, verdient oder erarbeitet haben —
hilft leider dem altpreußischen Beamtentum über die heutige Unerträglichkeit der
sozialen Stellung in Berlin nicht hinweg. Nach vielen tausende« zählen ferner die
Frauen der kleinen Beamten im Staats- und Privatdienst, der Boten, Schaffner,
auch der Schutzleute usw., die sich je mich der in der Hauswirtschaft zu erübrigenden
Zeit, leider oft weit über das im Interesse der Hauswirtschaft und Kindererziehung
gebotene Maß hinaus, sich zur Wäsche- und Mäutelnäherei drängen, trotz der Hunger-
löhne, die dafür gezahlt werden. Es steckt in diesem kleinen Beamtentum Berlins
ein unendlich wertvoller Fonds, den man hegen und pflegen sollte mit aller Liebe
und Sorgfalt. Ist es den Leuten zu verdenken, wenn sie nach Nebeneinnahmen
durch die Arbeit ihrer Frauen trachten inmitten eines mehr als irgendwo dem
äußern Schein, huldigenden Kleinbürgertums, dem das „Protze»" der höchste Genuß,
das erste, Lebensglück zu sein scheint?
Nicht, schlechter, zuweilen besser ist der tüchtige Arbeiter daran. Aber wie viele
sind „tüchtig" vou deu Tausenden, die alljährlich zuströmen und trotz alles Elends
nicht wieder fvrtznbekommen sind? Hier säugt ein beachtenswerter Unterschied in
der Frauenarbeit an, die Fabrikarbeit und die Hausarbeit. So groß das Elend
in der Hausarbeit werden kauu und thatsächlich wird, so ist doch ein wesentlicher
Unterschied zwischen der Fabrikarbeit und der Hausarbeit zu Gunsten der Haus¬
arbeit zu luacheu und ivird ganz entschieden in den Arbeiterkreisen selbst gemacht.
Gerade die ans ihre Familie und ihre» Hausstand haltenden Arbeiter wollen uicht,
daß ihre Frau „in die Fabrik geht," Freilich nur allzu oft kommen in Berlin die
Fälle vor, wo die verheirateten Arbeiter selbst bei gutem Wochenverdienst einen er¬
staunlich hohen Teil davon für sich persönlich verbrauchen., ungerührt davon, daß
die armen Frauen sich allein oder mit den heranwachsenden Kindern von früh bis
spät mit der Hausarbeit abmühen für eine» Lohn, um dessen vierfachen Betrag dein
Murne uicht einfallen würde, auch nur von der Wirtshausbank aufzustehen. Die
nichtswürdige „Ausbeutung" der Hausarbeiterinucu durch die eignen Ehemciuuer,
mich wenn die Ehen „wild" geblieben sind, recht hell zu beleuchten, wäre eine wirk¬
lich verdienstliche Aufgabe. Das steht fest, daß die sozialdemokratische Agitation in
Berlin in dieser Richtung nur geschadet, nicht gebessert hat, trotz alles Lärmens für
die Rechte der Frauen. Alle schon „ausgemachten" Arbeiterbudgets, in denen für
„Zerstreuung" und „Vergnügen" jährlich zwei oder drei Mark figuriren, können
den, der sehen und hören will, darüber nicht täuschen, welch übergroßer Prozentsatz
der Arbeiterlöhue sich gerade in den Arbeitervierteln, in den Haus für Haus als
„Bedürfnis" anerkannten, erstaunliche Mieter abwerfenden „Destillationen" und
„Restaurationen" niederschlägt. Und »un schließlich die Masse der ledigen Arbeite¬
rinnen, die vom Verlassen der Schule an sich dem Mäntelnähen widmen, eine bunt
zusammengewürfelte Schar, an technischen und moralischen Eigenschaften ebenso ver¬
schieden wie bezüglich der Herkunft. Unendlich viele arbeiten auch hier nur „nebenher,"
froh über die Ungebundenheit, die die Hausarbeit gegenüber der Werkstellenarbeit
gestattet. Monat für Monat kommen die Rekruten dazu aus der Reihe der Dienst¬
mädchen, die vor ein, zwei Jahren aus der Provinz zugezogen und nun „klug"
gemacht, dem Joche des Gesiudedieufles entlaufen, um im Elend der Hans- und
Schwitzarbeit „selbständig" zu leben. Wer „mit Spreenmsser getauft" ist, wie nur früher
fügte, dient überhaupt nicht, er kommt sich in dem elendesten Hcmsarbeitsclend tausend¬
fach „nobler" vor als das Mädchen, das in bürgerlichem Haushalt „in Stellung" ist.
So liegen die Dinge, und nun wundre sich jemand über die berühmte
„Leistungsfähigkeit" der Berliner Dameumäntel- und Wäschekonfcktivn! Nun komme
einer und stelle ohne weiteres das Elend ab, durch Streiks oder durch Gewerbe-
iuspeltivu und Wertstätleuzwaug! Nur wenn die Quellen des Elends, das das Über¬
maß von Arbeitskräften allerlei Art dem Elend der Berliner Franenhansindnstrie
in die Arme treibt, abgegraben werden, können jene außer» Mittel wirklich helfen.
Wird die Berliner Gesellschaft lin Ah -Molo dazu imstande sein ohne Zeichen und
Wunder? Wir glnnbeus nicht. Die Berliner Gesellschaft und die Berliner Presse
werden bald genug das Hausarbeitseleud als „ausgefallncn" Artikel behandeln, der
weder Inserenten noch Leser schafft..
S
oviel bisher über das Ergebnis
der umfassende« Untersuchung bekannt geworden ist, die gegen das Personal der in
Frankfurt a. M. einmündenden Züge eingeleitet worden ist, handelt es sich dabei
un, Unterschleife, die in großem Maßstabe teilweise schon seit Jahren verübt worden
sind; die sonstigen damit verquickten Vergehen, wie Kuppelei, können als von neben¬
sächlicher Bedeutung hier nnßer Betracht bleiben. Aufs neue treten uns hier die-
selben Erscheinungen entgegen, wie schou früher in dein bekannten Schaffnerprvzessen
in Berlin, Stettin und Hamburg, Erscheinungen, die weit über den Rahmen einer
innern Verlvaltinlgsaugelegenheit hinausgehen und überall berechtigtes Aufsehen er¬
regt haben, sowohl um ihrer selbst willen als auch wegen der Umstände, unter denen
sie ans Licht gezogen worden sind.
Bei allen Verkehrsmitteln, die der Beförderung größerer Massen dienen, ist es
von jeher überaus schwierig gewesen und hat andauernd ausgedehnter Kontrollma߬
regeln bedurft, um Fahrgeldhinterziehuugeu nach Möglichkeit zu verhüten. Natür¬
lich ist die Verlockung dazu um so größer, je höhere Beträge in Frage kommen, je
leichter sie ausführbar und je schwieriger sie aufzudecken sind. Einen indirekten Be¬
weis dafür bieten die Pferdebahnen, bei denen sich eine öftere unerwartete Kontrolle
durch eigens dazu bestellte Aufsichisbeamte im allgemeinen als ausreichend erwiesen
hat, dem Anreiz und der Gelegenheit zu Hinterziehungen der verhältnismäßig gering-
fügigen Fahrgeldbeträge entgegenzuwirken. Hier kann es sich sogar fragen, ob die
Anwendung eines kostspieligen Koutrvllverfahreus und die damit verbundne Belästi¬
gung der Fahrgäste auch im richtigen Verhältnis zu dem damit erreichten Nutzen
steht. Und diese Frage wird überall da verneint werden müssen, wo es sich um
den, Verkehr ans beschränkten Strecken mit einheitlichem, niedrigem Fahrpreis handelt,
und wo die Gelegenheit zur Mitwirkung des Fnhrpersonals bei Fahrgeldhiuter¬
ziehungen im Hinblick auf die von der Gesamtheit der Fahrgäste bewußt und un¬
bewußt geübte Kontrolle fast ausgeschlossen ist. Anders ist es im Eisenbahnverkehr.
Abgesehen davon, daß hier von einem wirksamen Einfluß des Publikums auf die
Verhütung von Mißbräuchen kaum irgendwo die Rede sein kann, ist bei den ver¬
hältnismäßig großen Beträgen des Fahrgeldes der Anreiz unvergleichlich viel höher.
Das bedarf keiner nähern Darlegung. Aber auch die Gelegenheit ist hier in viel
höherm Maße vorhanden, und die Wahrscheinlichkeit einer Entdeckung viel geringer.
Wie ist über die Hartnäckigkeit hergezogen worden, mit der die Eisenbahnen
ans der Unübertragbnrkeit aller zu mehr als einer Fahrt berechtigenden Fahrkarten
bestanden und ihr schließlich anch gesetzliche Anerkennung verschafften! Den aller¬
wenigsten dürfte bekannt sein, daß das nicht bloß geschehen ist, an zu verhüten,
daß die mit solchen Fahrkarten verbundne Preisermäßigung anch nnter andern Vor¬
aussetzungen ausgenutzt werde, als nnter denen sie gewährt worden ist. Ob die
verhältnismäßig wenigen Rückfahr-, Rundreise- und ähnliche Karten, die von ihren
ursprünglichen Inhabern wegen irgend welcher Behinderung nicht vollständig aus¬
genutzt werden konnten, in die Hände andrer Reisenden übergingen, um von diesen
vollends abgefahren zu werden, war an und für sich von, keiner großen Bedeutung,
besonders auch nicht in finanzieller Hinsicht. Aber diese Möglichkeit hatte andre
schwere Mißbräuche und Übelstände zur Folge, denen mit allen Kräften begegnet
werde» mußte. So lauge die seit dem 1. Oktober v. I. auf allen Haupt- oder
Bollbahuen des preußischen. Staatsbahnuetzes durchgeführte Bahnsteigsperre noch nicht
bestand, wurden bekanntlich die Fahrkarten ausschließlich von den die Züge begleitenden
Schaffnern beim Einsteigen der Reisenden oder doch unmittelbar darauf am oder
im Zuge, vielfach während der Fahrt von den Trittbrettern aus geprüft, durchkocht
und vor dem Endziel der Reise abgenommen und den Zugführern übergeben. Da,
wo die Bahusteigsperre noch nicht eingeführt ist, geschieht das noch heute. Die Zug¬
führer hatten die abgeuomninen Fahrkarten auf der Station, ans der ihr Dienst bei
einem Zuge zu Ende ging, sämtlich abzuliefern. Bei den Fahrkarten mit längerer
Gültigkeitsdauer (Rückfahrkarten, Svmmerheften, Nnndreiseheften), die von ihrem In¬
haber mehrere Tage oder noch länger vor Ablauf ihrer Giltigkeit ausgenutzt wurden,
war nun eine »ochmälige, unter günstigen Umständen eine mehrfache mißbräuchliche
Benutzung möglich, wen» der Schnffner die Fahrkarte vor Beendigung der Rück¬
reise nicht durchlochte und sie nach Abnahme zurückbehielt, statt sie an den Zug¬
führer abzuliefern, Wnr er so in den Besitz einer für die Rückfahrt oder einen
Teil davon noch nicht entwerteten Karte gekommen, deren Giltigkeit noch nicht ab¬
gelaufen our, so stand nichts mehr im Wege, daß er sie entweder selber ans der
Strecke, für die sie formell noch galt, von neuem an deu Mann brachte (und an
Reisenden, die sich kein Gewissen daraus machen, die Eisenbahn zu betrügen, wird
es leider nie fehlen), oder er konnte sich dazu eines Vermittlers, etwa in Gestalt
eines Hotelportiers bedienen, an den die unterschlngneu Fahrkarten sofort in einem
Briefumschlage abgingen. Dieser Weg ist so häufig benutzt worden, daß es in ein¬
zelnen größern Städten in frühern Jahren ein öffentliches Geheimnis war, wo man
zu „billigen" Fahrkarten aller Art gelangen konnte. Die öffentliche Meinung wurde
damit irre geführt, daß es sich dabei vorgeblich nur um solche Fahrkarten handeln
sollte, die von ihren ursprünglichen Inhabern nicht hatten ausgenutzt werden können,
und niemand machte sich ein Gewissen daraus, die günstige Gelegenheit zu billige»
Reisen zu benutzen. Es liegt ans der Hand, daß ein solcher Mißbrauch um so
leichter ist und um so ausgedehnter betrieben werden kann, je länger eine Fahr¬
karte gilt, lind das ist der hauptsächlichste Grund für deu Widerstand, den die
Eisenbahnen der weitern Vermehrung solcher Fahrkarten und besonders jeder weitern
Ausdehnung ihrer Giltigkeitsdauer entgegensetzen. Außerdem konnten einzelne Per¬
sonen ihre Beförderung als „blinde Passagiere" erreichen, wenn sie sich mit dem
Fahrpersonal darüber zu verständige» wußten und es gelang, sie bis zu ihrem
Reiseziel unangefochten durchzubringen.
Alle Versuche der Eisenbnhnverlvaltnnge», mit ihrem eignen Anfsichtspersonal
den geschilderte» Hinlerziehungen und besonders der betrügerischen Wiederverwen¬
dung bereits ansgenntzter Fahrkarten ans die Spur zu kommen und ihnen vorzu¬
beugen, hatte» im großen und ganzen uicht den gewünschten Erfolg, Selbst die
Wiederholte Heranziehung von Beamte» aus ander» Bezirken zu unvermutete» Zng-
revisivnen erwies sich meist als unwirksam. Die betrügerischen Beamten hatten in
der Regel eine feine Witterung für solche Revisvreu, selbst wenn sie ihnen unbe¬
kannt waren und mit gewöhnlichen Fahrkarte» reiste». Und wurde einmal eine
»icht dnrchlvchte Fahrkarte oder el» Reise»der mit »»giltiger oder ohne jede Fahr¬
karte betroffen, so war es meist außerordentlich schwierig, deu betreffenden Schaffner
einer betrügerische» Absicht zu überführe». Er brauchte nur dabei zu bleibe», daß
es sich nur »», el» (bei starke,» Andrange entschuldbares) Versehen handle.
Die Bahnsteigsperre hat in erster Linie den Zweck, den immer wiederkehrenden
zahlreichen Unfällen vorzubeugen, die daraus entstanden, daß es die Schnffner trotz
aller strengen Verbote uicht lassen konnten, oft much gar nicht vermeiden konnten,
die ihnen obliegende Prüfung der Fahrkarten von den Trittbrettern der fahrenden
Züge aus vorzunehmen. Außerdem bezweckt die Bahnsteigsperre, im Interesse der
ordnungsmäßigen Abfertigung der Züge und der Reisenden selbst die Bahnsteige
möglichst von alle» überflüssigen und, wenn sie in großen Massen erscheinen, geradezu
störenden Begleitern freizuhalten. Ein dritter Vorteil der Bahnsteigsperre aber ist,
daß sie Fahrgeldhinterziehnugen der geschilderten Art durch das Fahrpersonal, wenn
nicht innnöglich macht, so doch wesentlich erschwert, indem sie die Prüfung der
Fahrkarten und ihre Abnahme an zwei verschiedne Stellen verlegt, deren Verstän¬
digung unter einander überaus schwierig ist. Wie sind nun trotz der Bahnsteig¬
sperre Jahrgeldhiuterziehuugeu in dem vorliegenden Umfange möglich gewesen?
Soweit bis jetzt zu übersehen ist, hauptsächlich dadurch, daß die Bahnsteigsperre
noch nicht auf allen in Frankfurt einmündenden und auslaufenden Bahuliuien ein¬
geführt ist, umueutlich noch uicht auf der anscheinend am uieisteu betroffne» hessischen
Ludwigsbahn. Hier bedürfte es nur einer Verständigung des Fahrpersonals mit
den Bahnsteigschaffner», um Reisende auch ohne jede Fahrkarte ungefährdet durch
die schmale Pforte z» bringen. Aber mich die Bahnsteigkarten scheinen dabei eine
Rolle zu spielen. Diese hatten ja vor allem den Zweck, dem Publikum deu Über¬
gang zu der neuen Einrichtung zu erleichtern. Daß sie nebenbei für die Verwal¬
tung eine nicht unbeträchtliche Einnahmequelle geworden sind, ändert daran nicht
das mindeste. Ob es richtig war, den abgeschlossenen Bahnsteig gegen eine noch
so geringfügige Gebühr, die dem wohlhabenden Publikum kein empfindliches Opfer
auferlegte, für die Arme» und Ärmsten aber oft unerschwinglich war, gewissermaßen
durch el»e Hinterthür wieder zu öffnen, ist eine Frage, die hier nicht erörtert
werden soll. Soviel ist sicher, daß mit den Bahnsteigkarten den Reisenden und dem
Fnhrpersonal ein neues, und wie verschiedne, namentlich auch die neuesten Er¬
sahrungen gezeigt haben, sehr geeignetes Mittel zu Fahrgeldhinterziehnngen in die
Hand gegeben ist. Eine notwendige Folge davon war, daß die Prüfung der Fahr¬
karten bedeutend perschärft und außer durch die Bahnsteigschnffner nach wie vor
dnrch das Fnhrpersonal und die zu beider Beaufsichtigung bestellten Beamten geübt
werden mußte. Die den Reisenden daraus erwachsende Belästigung wird von ihnen
oft sehr unangenehm empfunden und nur widerwillig ertragen, nud sie hat ohne
Zweifel dick dazu beigetragen, die an und für fich nützliche und notwendige Ein¬
richtung der Bahnsteigsperre beim Publikum in Verruf zu bringen.
Will man Vorkommnisse der besprochnen Art so dick als möglich verhüten, so
wird man die Bahnsteigsperre allgemein durchführen und darauf denken müssen,
eine Erleichterung, die im Grunde nur hinsichtlich kranker und hinfälliger Reisenden
am Platze ist, uicht vou der Lösung eiuer Bahnsteigkarte abhängig zu mache».
Namentlich aber wird man zur endgiltigen Beseitigung aller Rückfahrt-, Nundreise-
und sonstigen Fahrkarten mit längerer Giltigkeitsdaner schreiten müssen. Und das
ist selbstverständlich nur dann möglich, wenn die Fahrpreise allgemein so weit herab¬
gesetzt werden, daß Erhöhungen gegen die jetzigen Fahrpreise, auch gegen die im
Nundreiseverkehr u. dergl. in. bestehende» Ermäßigungen, die ihren Charakter als
Ausnahmen ohnehin längst verloren haben, unter allen Umständen vermieden werden.
Daß diese Ermäßiguuge», die jetzt hauptsächlich für die wohlhabendern Bevölkerungs--
klaffe» von Nutzen sind, dann allen Kreisen gleichmäßig zu gute kommen würde», ist
ein weiterer Umstand, der, zumal in unserer Zeit mit ihren immer schärfer hervor¬
tretenden sozialen Gegensätzen, für eine Umgestaltung unsrer Personengeldtarife spricht.
Mit dem Reformplan von 1391 war die preußische Staatseisenbahnverwaltnng nahe
daran, diese Umgestaltung zu verwirklichen. Die Hindernisse, die sich damals der
Ausführung entgegenstellten, werden hoffentlich nicht dauernd unüberwindlich sein.
Zum Schluß noch etwas über die Rolle der in die Frankfurter Vorgänge ver¬
wickelten Polizeibeamten. Als die Verwaltung erkannte, daß sie mit ihrem eigne»
Personal den Betrügereien nicht beikommen konnte, für deren dauerndes Bestehen
starke Verdachtsgründe sprachen, rief sie die Hilfe der Geheimpolizei ein. Zum
erstenmale geschah dies in den achtziger Jahren in Berlin. Bei Unterweisung der
in entgegeukommeuder Weise zur Verfügung gestellten Beamten wurde diesen, soviel
bekannt, ausdrücklich eingeschärft, daß sie sich jeder anreizenden Thätigkeit, jeder
Verleitung zu betrügerischen Handeln dem ihnen zur Beobachtung überwiesenen
Fahrpersonal gegenüber strengstens zu enthalten hätten. Dies geschah auch, und
dennoch gelang es, die Schuldige» in mehreren Fällen zu überführen. Ähnlich ging
es in Stettin, wo dieselben Beamten mich größere Erfolge hatten, und mich in
Hamburg. Bei der bekannten Vorsicht, deren sich die leitenden Stellen in derartigen
schwierigen Lagen ganz besonders befleißigen, ist kaum anzunehmen, daß bei dem
Vorgehen gegen das Personal der in Frankfurt einmündenden Züge anders ver¬
fahren worden sein sollte, als in frühern Fällen, um so weniger, als die damals
gemachten Erfahrungen keinen Anlaß zu einer Änderung des bisherigen Ver¬
fahrens boten.
Es ist uns ein in diesen Tagen ver¬
sendeter Protestanfrnf in die Hand gekommen, der sich richtet gegen „die sich immer
wiederholenden Amtsentsetzungen solcher evangelischen Geistlichen, die ihre von
der Kirchenlehre abweichende Überzeugung amtlich oder öffentlich aussprechen."
Als Verfasser des Protestes nennt sich Gottfried Schwarz, früher evangelischer
Pfarrer in Binau. Die leitenden Gedanken in den beiden Thesen des Ausrufs
sind: 1. Die Bezeugung der Wahrheit ist die höchste Pflicht der Kirche nud ihrer
Diener. Da die Wahrheit aber kein Sterblicher besitzt, kann dieser Grundsatz nur
das Aussprechen der persönlichen Überzeugung fordern. Wird also dieses verboten,
so wird damit überhaupt die Bezeugung der Wahrheit verboten. So ist zu pro-
testiren „gegen diese Verbote und Amtsentsetzungen, weil sie in offenbarem Wider¬
spruche mit dem Willen Jesu Christi sind." 2. Die Kirchenregierungen erheben
durch solche Eingriffe für sich den Anspruch auf Unfehlbarkeit. So ist auch zu
Protestiren „gegen diese Verbote und Amtsentsetzungen, weil dadurch in der evan¬
gelischen Kirche dieselbe Mcuschenherrschaft aufgerichtet wird, die in der rö¬
mischen besteht."
Dieser Protest ist nicht der Ruf einer vereinzelten Stimme. Schwarz wirbt
um zustimmende Unterschriften für seinen Aufruf, und er wird sie finden, das ist
keine Frage; es sind ihm andre Rufer vorausgegangen, unzählige stimmen ihm
wenn auch stillschweigend zu und werden ihm weiter zustimmen. Darf da achtlos
an solchen Worten vorübergegangen werden? Das muß allen klar sein, hier treten
Widersprüche ans Licht, die unsrer Kirche ans Herz greifen. Hier muß sich
jeder eine klare Überzeugung darüber zu schaffen suchen, wo das Recht und die
Wahrheit ist, und was Pflicht eines jeden ist, um dieser Wahrheit zum Siege
zu verhelfen.
Der Unbefangne sieht nun freilich bald, daß hier nicht das Recht einfach auf
der einen, das Unrecht ans der andern Seite zu suchen ist. Der Protest hat zu¬
nächst Recht; das Aussprechen der persönlichen Überzeugung darf nicht verboten
werden, keine menschliche Lehre in der Kirche darf Unfehlbarkeit beanspruchen.
Aber sieht Schwarz nicht, daß hierauf den kirchlichen Behörden die Antwort leicht
gemacht ist? Deine persönliche Überzeugung, werden sie sagen, darfst du ruhig aus¬
sprechen, nur nicht als Prediger, der gegen die Lehre der eignen Kirche predigt,
und Unfehlbarkeit nehmen wir auch für unsre Meinung keinen Augenblick in An¬
spruch. Und wenn sie das sagen, so haben sie auch Recht.
Wir verzichten darauf, Rede und Gegenrede, wie sie sich nun weiter folgen
könnten, hier auszuführen, wir wollen nur die entscheidende Frage anregen: wie
ist da nun Recht und Unrecht zu scheiden, wo ist die Wahrheit, wie kann die Kluft
zwischen diesen Gegensätzen überbrückt werden?
Was hat die Kluft geschaffen? Die Kirche glaubt, daß in den Bekenntnissen,
auf die sich die Predigt gründen soll (und sie soll sich darauf gründen, weil es
die Kirche glaubt), der wahre Inhalt der Schriftlehre niedergelegt sei. Es ist
richtig und notwendig, daß die kirchlichen Behörden von dieser Stellung nicht ohne
Grund abweichen, daß sie nicht das, was die Kirche lehrt, umstoßen, weil ein
Einzelner etwas andres lehren will. Wer wenn alle empfinden, daß dieser Ein¬
zelne doch die Wahrheit ausspricht, was ja doch möglich ist? Dann hat sich aller¬
dings das Bekenntnis der Kirche eine Umgestaltung gefallen zu lassen, denn es
will und muß das ausdrücken, Was sich den Gläubigen als Wahrheit darstellt;
oder da wir ja in der Schrift den Prüfstein der Wahrheit haben, können wir ge¬
nauer sagen: die Kirche muß ihr Bekenntnis umgestalten, wenn sich herausstellt,
daß sie in irgend einem Punkte der Schriftlehrc nicht den entsprechenden Ausdruck
gegeben hat.
Wir denken, es ist klar und braucht eigentlich nicht erst gesagt zu werden,
daß es sich hierum allein handeln kann; nun und nimmer aber ist zu Perlangen,
daß die Kirche einem Prediger, der doch nun einmal ihr dienendes Glied ist, frei¬
stelle, zu lehren, was er wolle, sei es nun in Einheit oder im Widerstreit mit der
Lehre, die sie selbst als biblisch ansieht. Dies gilt natürlich alles sür die Kirche
und die Kirchenverfassung, die wir überkommen haben, die heute besteht, für die
noch in starrer Buchstäblichkeit gefaßte Geltung des Schriftwortes als „Normnl-
priuzip" unsers Kircheuglaubens. Ob das alles ideal ist, ist ja eine andre Frage;
aber jedenfalls können die kirchlichen Behörden, die wir haben, nicht anders handeln,
als sie thun.
Aber ist hier nicht die Gelegenheit zu fragen, ob nicht die, die in Kirche oder
Schule Diener unsers Glaubens sind, selbst etwas thun können, um neue frische
Luft durch die Fenster hereinzulassen, wenn sie sich in Gefnngnisntmosphare fühlen?
Vielleicht läßt sich hiermit in Zusammenhang bringen, daß ein großer Teil unsrer
Geistlichen anfängt, ihr Amt im gewissen Sinne als Nebensache zu betrachten und
lieber ein bischen am Karren der sozialen Frage mit zu ziehen. Wir wollen uns
nicht darüber täuschen: sie meinen gewiß zum Teil, damit der Menschheit augen¬
blicklich einen größern Dienst zu leisten als mit der Predigt vom Heile; und auch
vielleicht der Kirche, indem sie hoffen, ihr gerade dadurch die Massen zurück¬
zugewinnen. Aber wir würden uns dabei gewaltig betrügen, wenn die, die da
draußen vor der Kirchthüre stehen, so manches Wort, das dabei jetzt fällt, buch¬
stäblich nähmen: Endlich hat sich die Kirche ans ihre wahre Pflicht besonnen!
Endlich macht man Ernst mit dem Evangelium Jesu! „Das Reich Gottes kommt
nicht mit äußerlichen Geberden." Wenn wir nicht auf die ewige innere Kraft
des Christenglaubens vertrauen dürften, wir könnten fürchten, unser Volk würde
demnächst vergessen haben, daß die Kirche ein unsichtbarer Gcistesbund, nicht ein
Konsumverein oder dergleichen ist. Wahrhaftig, sozial sollen unsre Geistlichen
sein, sozial bis in die Knochen, aber darin sollen sie nicht ihr Christentum sehen,
sondern nur eine Frucht an dem reichen Baume ihres Christentums, eine Frucht,
die auf andern Bäumen auch treiben könnte, wenn auch nicht so saftig und kräftig
wie hier.
Nun alledem gegenüber darf man hier wohl wieder einmal daran erinnern,
daß unsre Kirche doch noch recht viel an neuer, frischer Ausgestaltung ihres eigent¬
lichen Amtes zu thun hat. Das, was wir zu fordern haben von Kirche nud
Schule, ist, daß sie uns eine Gemeinde erziehen und bilden, die die frischere Luft
verträgt, nach der man sich sehnt. Oder glaubt man, daß sie sie jetzt schon ver¬
tragen werde?
Um den Ernst der Lage zu verdeutlichen, brauchen wir nur an ein bestimmtes
Beispiel zu erinnern, das in den letzten Jahren gerade Anlaß zu heftiger Aus¬
einandersetzung gegeben hat. Man denke daran, wie viele Herzen das „geboren
von der Jungfrau" in ihrem Glauben beunruhigt hat. Man denke aber auch,
wie andrerseits konservative Kreise dies Wort als Eckstein ihres Glaubens bezeichnet
haben, und eine ernstliche Beunruhigung kann eben nur entstehen infolge einer
solchen Schätzung dieses Satzes. Eine ganze Anzahl unsrer Theologen halt es
nun für erwiesen, daß eine übernatürliche Zeugung Jesu gar nicht anzunehmen sei
(wahrhaftig uicht aus „Wuuderschcu," sondern lediglich aus Grund wissenschaftlicher
Erwägungen). Die kirchlichen Behörden teilen diese Ansicht nicht, werden sich anch
Wohl in nächster Zeit nicht dazu entschließen, sie anzunehmen, und so werden die
Amtsentsetzungen fortgehen ganz uatnruotivcudigerweise, aber — leider Gottes!
Nehmen wir aber einmal an, die ganze Kirche würde die Annahme eines
Tages als Thatsache anerkennen müssen. Was würde die Folge sein? Jeder
selbständig in seinem Glauben gegründete Christ würde dadurch uicht ernstlich be¬
rührt werden. Aber die Millionen, denen man dies als Eckstein des Glaubens
gepredigt hat, und die es in angelernten Halbglauben hingenommen haben? Die
große Menge des noch kirchlich gebliebner Volkes, das — wir wollen uns darüber
nicht täuschen — seinen Autoritäts- und Buchstnbeuglauben hat heute wie vor hundert
Jahren, bei uns wie drüben bei den Römischen, diese große Menge würde in die
furchtbarste Verwirrung geraten, und wer hätte sich daun die Schuld zuzuschreiben?
Dieser gordische Knoten läßt sich nicht durch eine Gemaltthat zerhauen, nein,
hier sollen eben Kirche und Schule die Gemeinde in langsamer, ernster Arbeit zu
einem reinern, tiefern Verständnis darüber zu führen suchen, was wesentlich ist um
nnserm Glauben und was nicht, sollen zu einer reifern Auffassung vou unsrer
Stellung der Bibel gegenüber führen, zu einem geschichtlich klareren Verständnis
ihres Inhalts. Aber damit die kirchlichen Behörden solche Bestrebungen selbst
fordern, anstatt zu versuche» sie zu unterdrücken, muß diese Forderung von unsrer
konservativen, „gläubigen," positiven (oder wie man sie sonst nennen will) Geist¬
lichkeit selbst erhoben werden. Als ein Beispiel dafür, daß dies nicht unmöglich
>>t, möchten wir unsern Lesern bei dieser Gelegenheit die von Professor Schreber-
"our in Leipzig verfaßte These (Schlußsatz zu seineu neun Thesen über Jesu Lehre
vom Reiche Gottes) mitteilen, die das Sächsische Kirchen- und Schulblatt in einer
seiner letzten Nummern gebracht hat. Sie lautet: „Bei der gegenwärtig in unsern
Kirchen und Schule» herrschenden Lehrweise wird von Jesu wirklicher Verkündi¬
gung und Lehre kein deutliches, wo uicht ein falsches Bild gegeben, insofern deren
geschichtliches Verhältnis zu den Gedanken des israelitischen bez. jüdischen Volkes
nicht hinreichend klar gestellt wird. Infolge dessen besteht nicht nur die Gefahr,
daß eigentümlich israelitische Angelegenheiten bei uns wie allgemein christliche, und
veraltete Nebengedanken jeuer Zeit wie dauernd wertvolle behandelt werden, sondern
kann auch das Verhältnis des Alten Testaments zum Neuen nicht richtig gefaßt
und es kann die gesamte heilige Schrift, namentlich können die Briefe des Apostels
Paulus nicht recht verstanden werden, sodaß die besonnene Würdigung der nun
von ihrem geschichtliche» Boden losgelösten einfachen Lehren von der Rechtfertigung
"AZ Glauben ohne des (mosaischen) Gesetzes Werke und von der entscheidenden
Geltung der heiligen Schrift (Neuen Testaments) und selbst das schlichte Verständnis
der Lehre von dein Werke und der Person Jesu Christi (des Messias Jesus)
ernstlich in Frage gestellt ist, um so mehr als mangels gründlicher Vertrautheit
mit der Lehre Jesu unter uns judaiflische, pietistische und englisch-methodistische
Einflüsse sich bei diesen wie bei andern Lehrstücken entstellend geltend machen. So-
weit dieses der Fall ist, widerspricht die gegenwärtige Lehrweise und die dadurch
bedingte vielgeschäftige kirchliche Praxis, wie berechtigten Anforderungen wissen¬
schaftlichen Denkens und dem Gewissen unsers deutscheu Volkes, so dem Sinne
der heiligen Schrift und der Bekenntnisse unsrer evangelisch-lutherischen Kirche."
Richtet sich auch die Forderung dieser These zunächst nur auf einen einzelnen
Punkt, so ergiebt sich doch daraus die allgemeine Folgerung: Klares geschichtliches,
Verständnis der Schrift auch für die Gemeinde, nicht nur für die Theologen!
Möchte man diese Forderung immer klarer hervorheben und auf ihre Praktische
Erfüllung hinarbeiten. Das ist die Hauptsache: bewähren es Pfarrer und Lehrer
an jeder einzelnen Gemeinde, an jedem Christenherzen, das sie unterweisen, und
bewährt es sich so an unsrer ganzen Kirche, daß der Geist lebendig macht und
uicht der Buchstabe, denn werden auch die kirchlichen Behörden wissen, was sie zu
thun haben, und dann erst werdeu sie thun können, was sie thun müssen.
Aus Leipzig erhalten wir eine Zuschrift
(ohne Namen), worin es heißt, daß in dem Aufsätze von Wttlfing über die Ver¬
wirrung in der Schreibung unsrer Straßennamen doch eigentlich eine rein ortho¬
graphische Frage zu einer Wichtigkeit aufgebauscht sei, die sie gar nicht habe. Da
es nicht unmöglich ist, daß auch andre Leser diese Ansicht haben, so möchten wir
ihr doch sofort entgegentreten. Die Redaktion hat sehr wohl gewußt, was sie that,
als sie dem Aufsatz von Wülfing in den Grenzboten Aufnahme gewährte. Es
handelt sich hier keineswegs um eine orthographische Frage, sondern um eine Frage
der Logik, und daß es Leute giebt, die das gar uicht sehen, ist eben so traurig,
wie das Vorhandensein der ganzen Frage selbst. Durch die abgeschmackten Wort¬
zusammensetzungen, die uns die neue Orthographie aufnötigen will (infolge¬
dessen, vorderhand u. ahnt.), mag sich ja das Urteil darüber, wann wir ein
Wort und wann wir zwei oder mehr Wörter vor uns haben, in manchen Köpfen
etwas abgestumpft haben. Aber so stumpf kann es doch uoch uicht geworden sein,
daß man sich einbildet, ein Hauptwort und das zugehörige flektirte Eigenschafts¬
wort könnten zu einem Worte zusammenwachsen! Eine Zusammensetzung aus Haupt¬
wort und Eigenschaftswort ist immer nur dann möglich, wenn das Eigenschafts¬
wort in der Form des unflektirten Wortstammes erscheint. Hochgenuß ist ein
Wort, aber hoher Genuß sind zwei Wörter, die nie jemand zusammenziehen
wird zu Hohergenuß. Man hat allerdings in einzelnen Fällen wirklich die
Thorheit begangen, auch solche Zusammensetzungen zu schreiben, z, B. das Hohe¬
lied, die Langeweile. Aber man braucht ja solche Zusammensetzungen nur zu
flektiren, um sofort zu sehen, wie unmöglich sie sind. Man kann doch nicht
schreiben: des Hohenliedes, der Langenweile, mit andern Worten: man kann
doch nicht ein Wort in der Mitte und am Ende flektiren! Man kann doch
vernünftigerweise nur schreibe«: des hohen Liedes, der langen Weile.
Ganz ebenso unsinnig ist es, zu schreiben: Franz vsischestraße, G rim maisch e-
straße. Nicht um ein Haar besser aber steht es mit Zusammensetzungen wie
Leipzigerstraße, Frankfurterstraße; auch sie sind vollkommen sinnlos. Die
von Ortsnamen abgeleiteten Bildungen auf —er werden auf zweifache Weise ge¬
braucht: substantivisch und adjektivisch. Stehen sie im substantivischem Sinne, se>
müssen sie selbstverständlich mit dem Hauptwort, zu dem sie gehören, zusammen¬
gesetzt werdeu; ebenso selbstverständlich ist es aber, daß sie vom Hauptworte ge¬
trennt bleiben müssen, wenn sie im adjektivischen Sinne stehen. Keinem Menschen
fällt es ein, zu schreiben: der Frankfurterbürgermeister, der Frankfurter-
bahnhof, der Frankfnrterbuchhandcl. Warum schreibt man also: die Frank¬
furterstraße? In allen diesen Fällen steht Frankfurter im adjektivischen Sinne
(für fraukfurtisch). Frankfurterstraße kannte nur eine Straße bedeuten, auf
der lauter Frankfurter wohnen, wie Fleischergasse, Gerbergasse, Töpfer¬
gasse die Gassen bezeichnen, wo ehemals die Fleischer, die Gerber, die Töpfer
wohnten. Eine Berliner Versammlung ist eine Versammlung, die in Berlin
stattfindet, eine Verlinerversammluug eine Versammlung, zu der lauter Ber¬
liner kommen. Die Herrnhuter Gemeinde ist die Gemeinde der Stadt Herrn¬
hut, aber eine Herrnhutergemeinde kann in jeder beliebigen andern Stadt sein.
Wer in dieser Unterscheidung eine „rein orthographische Frage" sieht, kann uns
aufrichtig leid thun. Am Ende ist es gar noch eine „rein orthographische Frage,"
ob jemand ein Fremdenbuch von einem fremden Buch, einen kranken
Wärter von einem Krankenwärter und el» liebes Lied von einem Liebes¬
lied unterscheidet.
In dem vortrefflichen Artikel von K. Lange: „War Dürer
ein Papist?" (Ur. 6) wird Anton Springers als eines Katholiken gedacht. Ich
erlaube mir zur Berichtigung zu bemerken, was vielleicht mich den Verfasser jenes
Artikels interessiren wird, daß Professor Springer gleich nach seiner Berufung an
die Universität Leipzig bei mir seinen Übertritt zum Protestantismus, den er
innerlich längst vollzogen hatte, auch formell vollzogen hat, und zwar mit dem
ausdrücklichen Wunsche, nach der Verkündigung des Unfehlbarkeitsdogmas von
niemand mehr als Glied der römischen Kirche angesehen zu werden. Dies zur
Steuer der Wahrheit, wenn es etwa Herrn A. Weber einfallen sollte, den Ge¬
lehrten Springer für die katholische Welt in Anspruch zu nehmen und sich dafür
auf den Aufsatz seines Gegners zu berufen.
Kleine Lvrik Es ist doch hübsch, wenn die Musen den früher erkornen
Wohnsitzen nicht unireu werden, und ganz besonders nett und nnterchaltend .se es.
an dem sei» ausgestatteten Göttinger Mu enalmauach für 1896 (D.etercchsche
Verlagsbuchhandlung) zu sehen, wie verschieden sich here.es das p.nge Blut der
Musensöhne je nach Herkunft und Temperament anch in solchen Fe.ertagsaußerungen
anläßt Bei dem einen verwandelt sich die Erinnerung an eme Fer.eure.se nach
Venedig in eine schwermütige „Novellette" von einem Mönch der ihn in einer
der Lagnnenkirchen umhergeführt hat. Der Mnge Baron ans Münsterland schafft
dagegen Sagen feiner lieben Heimatgegend zu Balladen und Se.mmnngsb.idem
um- Moor Heide Nebel, alles melancholisch. Wieder anders macht es der Ham¬
burger Pät'rizierssoh.n Lustspiel und Satire, also leichteres Blut! Aber ganz so
blasirt und Weiterfahren ist der junge Herr doch sicherlich noch nicht wie sein
»Pierrot im Bnllsaal." Besonders hübsch, gemütvoll und stimmungsvoll sind
kleine Prosaerznhluugen eines Osnabrückers, „Erinnerungen aus Schottland." In
denen ist wirklich Erlebtes und psychologische Beobachtung. Und so geht es weiter.
Formgewandt und fertig zeigt sich der hmmoversche Gutsbesitzerssohn, sein und
wohlgestellt — man sieht das an den Stoffen: Pferde und Jagd, Gesell¬
schaft usw. Er versucht sich in verschiednen Formen und giebt alle erdenklichen
Stimmungen. Aber so vielerlei an Sehnsucht und Liebe und Enttäuschung und
Entsagung und trotz alledem nicht versagender Lebenslust kaun man doch nicht wohl
schon anfang der Zwanzig aus seinem eignen Innern gewonnen haben. Und
daran leiden seine Gedichte. Es sind nette Verse, aber meistens mich nicht mehr.
Hätten auch nicht gerade soviel zu sein brauchen — über zwanzig Gedichte. Dann
waren vielleicht noch mehr andre zu Worte gekommen, und es ist doch gut, wenn
es möglichst viele sind, die außer ihrem Fach und ihrem Vergnügen noch etwas
treiben.
Über fünfzig Verehrer Scheffels haben sich zusnmmengethcm und als Zugabe
zu einem Denkstein, den sie dem Dichter in Mürzzuschlag gesetzt haben, ein kleines,
hübsch ausgestattetes Scheffelgedenkbuch mit Erinnerungsverseu und ähnlichen
kleinern poetischen Gaben erscheinen lassen (Dresden, R. von Grumbkow, 1395).
Was die eigentlichen „Dichter" beigesteuert haben, ragt nicht gerade hervor. Das
beste ist vielleicht ein Vers von M. Greif:
Solchen bescheidnen Leistungen gegenüber, wie sie übrigens das Bändchen vereinigt,
nimmt sich freilich ein Ton, wie dieser — von einem andern — sehr komisch aus:
Das ist nicht angebracht. Da sind unsre Göttinger Studenten doch bescheidner,
und ihr Musenalmanach darf sich getrost neben dem Scheffelgedeukbuch sehen lassen.
Eine Art Lyrik sind auch, wenngleich nicht in Versen geschrieben, Emil
Ertls Liebesmärchen (jetzt zweite Auslage. Leipzig, Liebeskind. 1896). Es
sind ja nicht alles Märchen, z. B. gleich das schönste von allen, „Der Stöckel¬
vater," ist eine ergreifende, tiefe und wahre Dorfgeschichte. Ein altes Schenk-
mädchen im Gebirgsdorf wartet auf die Wiederkehr ihres in die Fremde gegaugne»
Schatzes, weil der Stöctelvnter, das holzgeschnitzte Christusbild droben in der
Kapelle, ihrs durch Kopfneigen versprochen hat, daß er kommen sollte; sie wartet,
bis sie eisgrau und blind geworden ist, und endlich kommt er, halbtaub und mit
einem Stelzfuß statt des abgeschossenen Beins. Und sie werden glücklich mit ein¬
ander. Schon um dieser eiuen Geschichte willen haben wir das Buch lieb ge¬
wonnen. Also lesen!
nsre beiden Borschläge werden manchem seltsam erscheinen; wir
wollen daher versuchen, sie auch dem Zweifler härtlich und an¬
nehmbar zu machen.
Ehe man aber erwarten darf, daß der mächtige Helfer im
Streit, der deutsche Erzengel Michael, für die Deutschen Partei
ergreift, muß man vor allem selbst Partei nehmen. Ja, Partei nehmen, und
sich der Partei unterordnen, das ist eine Sache, die dem Deutschen so schwer
wird. Er mochte immer unparteiisch sein.
Diese seltsam fürchterlichen Gedanken Dantes können sich auch die parteilosen
Deutschen gesagt sein lassen. Die Verblendung, denen die Polen im Jahre
^848 ihre Triumphe verdankten, weil sie es verstanden, sich in das Unschulds¬
kleid der Freiheit zu hüllen, ist noch immer nicht von den Deutschen gewichen.
Noch immer giebt es Querkopfe unter uns, die auf die Bedrängnis der Ballen
"n russischen Reiche hinweisen und sagen: Was wir dort für verwerflich halten,
dürfen wir selbst nicht gegen die Polen ausüben. Wenn diese Querkopfe
wenigstens so viel Gefühl für politische Vergeltung Hütten, daß sie sagten:
Eben weil wir die Unterdrückung der Deutschen in den Ostseeprovinzen nicht
hindern wollen oder können, darum wollen auch wir unterdrücken, so lange
es angeht, damit wir im ganzen keine Einbuße an der Ausdehnung des
deutschen Volkstums erleiden und der dortige Verlust hier wieder wett gemacht
werde. Aber selbst bei diesem Gedankengange hat sich der Deutsche schon zu
viel vergeben. Woher hast du, Deutscher, denn Ursache, dich ohne weiteres
dem Moskowitertum gleich niedrig zu achten? Hast du nicht Anlaß, ohne
Überhebung zu behaupten, daß die Eindeutschung der Ballen ein Rückschritt
der Gesittung sei, dagegen die Verdeutschung der Polen keines einzelnen Polen
Nachteil, sondern ihr Segen, derart, daß der polnische Widerstand dawider
dem Trotzen des Kindes gegen die Erziehung gleich geachtet werden darf?
Ja noch weiter: Woher nimmst du dir, Deutscher, denn das Recht, so als
Richter des Guten und Bösen über den Völkern zu sitzen, in einer Sache,
wo du doch selbst beteiligt bist? Ist es nicht dein Recht wie deine Pflicht,
dich unter die Parteien zu setzen, dich dann aber auch für edler und besser zu
halten und zu erklären als alle andern Parteien, nämlich die andern Völker?
Das thun doch selbst die kümmerlichsten Völker, ja gerade die Polen selbst.
Und da willst du, Deutscher, darauf verzichten, dein Volkstum so weit und
so lange auszudehnen, als du es kannst? Gefühlvoller Narr! Bedenke doch,
daß es im Streite der Völker uicht um Mein und Dein geht, sondern daß es
ein Ringen um den Sieg der höhern Gesittung ist, womit niemandem an
seinem Leib oder Gut ein Schaden geschieht. Oder war es ein Unrecht, daß
Alexander die Perser besiegte und Asien dem griechischen Geiste erschloß?
So ergreife doch Partei, rücksichtslos Partei, du deutscher griechenbegeisterter
Schwärmer, und erkünstle nicht eine Gleichgiltigkeit, die den Namen Verrat
verdient!
Denn bei dem Kampf um die Ostmarken ist es unser deutsches Dasein,
das auf dem Spiele steht.
Das Gebiet des deutschen Reichs ist im Verhältnis zu den riesenhaften
Anballungen des nordamerikanischen, des britischen und vor allem des russischen
Reichs sehr klein; und gar verschwindend, wenn man erwägt, welche Aus¬
dehnungsmöglichkeiten jenen Reichen noch offen stehen, während sie dem unsrigen
verschlossen sind. Um so dringender ist für uns das Gebot, alles Land, das
wir einmal haben, auch ganz und gar zu dem unsrigen zu machen. Deutsch¬
land ist heute mindestens in demselben Maße darauf angewiesen, wie Preußen
im achtzehnten Jahrhundert, stets seine ganze Kraft zum Einsatz bereit zu
halten und immer gute Führer zu haben. Denn wenn die Kraft des deutschen
Staates seit der preußischen Zeit auch stark gewachsen ist, so ist doch die
Kraft unsrer Nachbarn noch viel stärker gewachsen. Wenn uns nun einmal im
Ernstfall eine thatkräftige Leitung fehlen sollte, glaubt man, daß dann die jetzt
polnischen Ostmarken getreu zu uns halten werden? Sie werden unsichere
Neutrale sein, so lange die Zuchtrute über ihnen hängt; sobald sich aber die
kleinste, für uns unglückliche Gelegenheit bietet, werden sie unsre offnen Feinde
sein. Dadurch wird aber das Gebiet, auf dem wir unsre Kräfte entwickeln,
aus dem wir neue Kräfte ziehen, und auf das wir bei Unglücksfällen zeitweise
zurückweichen können, noch mehr beschränkt, als es schon ist. Die deutsch¬
russische Grenze ist in ihrem Laufe und wegen der Bodengestaltung ihres Ge¬
ländes für Deutschland ohnehin schon außerordentlich ungünstig und ist, auch
wie sie jetzt ist, nur so lange erträglich, als die Russen selbst auf einen kühnen
und überwältigenden deutschen Angriff im Kriegsfalle rechnen und daher die
Weichsellinie als Strich für den Aufmarsch betrachten. Diese Lage wird für
uns um so ungünstiger, je mehr die russische Angriffs- oder Verteidigungs-
grnndlage nach der deutschen Grenze hin vorrückt. In dieser Bewegung
scheinen aber die Russen begriffen zu sein. Wie ungünstig muß dann erst
unsre Lage werden, wenn das östliche Posen und das südliche Westpreußen
als unsichere Landschaften in Rechnung gestellt werden müssen! Dann ist Ost-
Preußen, die Grundlage Preußens und wichtig auch als Pferdeland, abge¬
schnitten, Schlesien in der Flanke gefaßt und Berlin unmittelbar bedroht.
Gewiß hoffen wir, daß diese außerordentliche Ungunst der Verhältnisse durch
tüchtige Vorbereitung, durch deutsche Tapferkeit und Kriegskunst ausgeglichen
werden wird, wie es in ähnlicher Weise bei der fast noch ungünstigern Lage
1870 geschehen ist. Aber, so fragen wir, ist es klug, diese sofortige deutsche
Überlegenheit, die man zwar wünscht und hofft, als ständige und sichere Größe
und nicht vielmehr als eine veränderliche in die Rechnung zu setzen? Ist es
ferner auch selbst im Frieden richtig, wenn die 1813 so herrlich erprobte
Grundfeste Ostpreußen immer ein fast abgeschnittner Außeupvsten deutschen
Wesens bleibt, dem es an dem verbindenden Übergange nach Schlesien, nach
den Marken und nach Westdeutschland fehlt?
Somit deutet alles darauf hin, daß wir uns mit der Erhaltung der
jetzigen nationalen Vinnengrenze zwischen Deutschen und Polen in den Ost¬
marken nicht begnügen dürfen, sondern daß wir die Ostmarken durch und durch
deutsch machen müssen. Das fordert die Erhaltung unsers deutschen Daseins.
Dieses Ziel zu erreichen, hat nun der H.K.T.-Verein den Hebel durchaus
an der richtigen Stelle eingesetzt. Der Gegensatz deutsch und polnisch ist, wie
schon bemerkt, vor allem ein Gegensatz der Sprache, dann auch des Bekennt-
nisses, ferner ein wirtschaftlicher Gegensatz, endlich ein Gegensatz der Ab¬
stammung, wenn auch dies am wenigsten. Denn es ist bekannt, daß eine viel¬
fache Vermischung deutschen und polnischen Blutes stattgefunden hat, daß uralte
deutsche Adelsgeschlechter durch deu Einfluß der Frauen und der Kirche polnisch
geworden sind, daß die jetzt polnischen „Bamberger" durch ihre Gesichtszüge
und ihre Tracht den fränkischen Ursprung erkennen lassen. Alle diese Dinge
in der deutschen Richtung zu bewegen und nur das Glaubensbekenntnis zu
lassen, wo es ist, dafür ist die Sprache der einzige Hebel. Nicht weil hier
die deutschen Laute sind und dort die polnischen, sondern weil die Sprache
die Trägerin und Vermittlerin der Gesittung ist, und weil, wer deutsch hört
u«d spricht, auch deutsch fühlen, dentschfreundlich sein muß. Diesen Thatsachen
entsprechend handelt der H.K.T.-Verein, und seine Bundesgenossenschaft ist
daher hoch zu schätzen. Aber nicht zu hoch. Es ist nicht zu erwarten, daß
der Verein über die von ihm selbst ursprünglich bezeichneten, aber innerlich
wohl nicht ernstlich als Grenze gemeinten Ziele hinaus wirksam sein wird.
Er wird hoffentlich das Deutschtum in seinem jetzigen Bestände schützen, aber
schwerlich die Verdeutschung der jetzt ganz polnischen Landesteile Preußens
herbeiführen, die doch zur Sicherheit Deutschlands unbedingt notwendig ist.
Bei allen derartigen Vereinen, dem deutschen Schulverein, der deutschen
Kolonialgesellschaft, dem allgemeinen deutschen Verbände und auch dem H.K.T.-
Verein ist die Verfassung viel zu lose, als daß den achtungswerten und
schätzbaren Bestrebungen ein Erfolg gegenüberstehen könnte, der auch nur den
aufgewandten Geldmitteln entspräche, geschweige denn der opfervoller Arbeit
einzelner Mitglieder. Ein Verein, der mit der römischen Kirche kämpfen will,
soweit sich diese dem Polentum dienstbar macht, muß eine Verfassung haben,
'die an Vereinszucht und Ergreifung der ganzen Persönlichkeit seiner Mitglieder
mit der römischen Kirche wetteifert. Die anfängliche Begeisterung verfliegt
rasch, wenn die tägliche Not und Drangsal aufhört; und gar zum Angriffe
bedarf es einer innerlich lodernden Begeisterung, die des äußern Anreizes ent¬
behren kann. Wir brauchen daher einen Verein, der seine Mitglieder ganz
und gar ergreift, sie gleichsam auflöst und sie dann zu ausschließlichen Werk¬
zeugen seiner idealen Ziele neu formt, also nicht eigentlich einen Verein, sondern
einen Orden nach dein Vorbilde des deutschen Ordens, doch mit noch strengerer
Zucht, nämlich mit der Zucht des Jesuitenordens. Wir halten einen solchen
Orden, dessen ideale Grundlage die deutsche Gesittung sein muß, auch in unsrer
angeblich nüchternen, in Wirklichkeit aber sehr begeisterungsfähigen Zeit durchaus
für möglich, ja sogar für zeitgemäß. Es erscheint denkbar, daß ein solcher
Orden aus dem H.K.T.-Verein hervorgeht, vielleicht wenn sich dieser Verein
einmal in dem Hochschlosfe der Deutschmeister zu Marienburg versammelt
und die alten Erinnerungen unter dem Eindruck jenes steinernen Heldengedichts
wach werden.
Wir haben in Deutschland zur Zeit eine ganze Reihe schwärmerischer
Naturen, die neben einer gewissen Überschwänglichkeit doch eine unbeugsame
Willenskraft haben, und deren trotziges Selbstbewußtsein durch die Ordenszucht
erst gezähmt, daun aber zum Herrschen im Orden berufen werden kann. Sind
nicht die jetzt zum Teil unthätigen und grollenden Bahnbrecher unsrer Kvlonial-
bemegung solche Männer? Und ist nicht schon nach ihnen ein neues Geschlecht
herangewachsen, in dem es gewiß zahlreiche, im Geheimen nach ähnlichen
Thaten dürstende Jünglinge giebt? Warum sollen wir diese Kräfte ungenutzt
lassen?
Aus sorgfältig erprobten, nicht zu zahlreichen Ordensrittern muß sich dieser
neue Orden zusammensetzen, die unter selbstgewählten Obern ein strenger Ordens-
gehorsam zusammenhält. Ihren Obern müssen diese Ordensritter, unbeschadet
der Reichs- und Landesgesetze, unbedingte Treue und Gefolgschaft schwören
und Gehorsam bis zum Tode. Ihre Seele, ihren Leib und ihr Vermögen müssen
sie ohne Vorbehalt in den Dienst des Ordens stellen und nach den Befehlen
der Ordensobern, die mit dem Gesamtordcn gleichzeitig ihr Schutz und ihre
Zuflucht sind, zum Wohle des Deutschtums ihr Leben lang arbeiten. Unwill¬
kürlich drängt sich hier das Vorbild des Jesuitenordens auf. Und wir scheuen
diesen Vergleich uicht, wir weisen auf ihn hin. Zeigt der Jesuitenorden doch,
daß auch in unsrer angeblich ideallosen Zeit noch zahlreiche Menschen von
hoher geistiger Kraft sind, denen das ganze eigne Leben, der ganze eigne Vor¬
teil ein Nichts ist, in Rauch aufgeht, vor der idealen Selbstaufopferung für
die Ziele ihres Ordens. Und sicherlich sind doch die Gedanken, die wir mit
dem Worte „deutsch" umfassen, nicht weniger rein, edel und begeisternd, wie
die treibenden Gedanken des Jesuitenordens. Lernen wir von der Kriegskunst
dieses Ordens, der jedem starken Volkstum feindlich ist, und benutzen wir seine
eigne Technik, um sein Werkzeug, die römische Kirche, so weit und so lange sie
dem Polentum dienstbar ist, zu bekämpfen. In der Ordenstechnik ist der Je¬
suitenorden bewunderungswürdig. Ahnen wir den Leib nach, aber hauchen
wir dann dem Leibe eine edle deutsche, begeisterte, treue Jünglingsseele ein.
Unser andrer Vorschlag knüpft an mehr gegenwärtige deutsche Geistes¬
einrichtungen an, an die Universitäten. Zur Erhaltung und Erhöhung deut¬
schen Sinnes haben neben den Thaten der preußischen Könige und Bismarcks
hauptsächlich die deutschen Universitäten beigetragen. Sie sind sogar von den
Unglückstagen Preußens im Jahre 1806 an bis zur Morgendämmerung des
neuen Reichs in den sechziger Jahren fast die einzigen Bewahrer des heiligen
Feuers der Vaterlandsliebe gewesen. Auch in Zukunft werden die Universi¬
täten diese Stellung im deutschen Geistesleben einnehmen und in nebligen
Zeiten das Licht nicht verlöschen lassen, wenn man täppische Eingriffe in ihre
Gerechtsame unterläßt und geringfügige Irrungen übersieht.
Man gründe daher neue Lichtbringer dieser Art im Feindeslande, in den
Ostmarken, zwei neue Universitäten in den Provinzen Westpreußen und Posen.
Diese beideu preußischen Provinzen entbehren ja auch bis jetzt allein der Uni¬
versitäten. Man gründe sie mit vollen Fakultäten, und zwar mit theologischer
Fakultät sowohl für evangelische als auch sür katholische Theologie. Als Sitz
dieser Universitäten kommt in Westpreußen in Betracht Danzig oder Marien¬
burg, in Posen die Stadt Posen oder Gnesen. Wählte man Danzig und Posen,
so würde man nach dem Grundsatze handeln, daß Universitäten in den wirt¬
schaftlichen Mittelpunkten der Landschaften liegen müssen, für die sie bestimmt
sind, damit an den anderweitigen Interessen solcher Mittelpunkte sich die rein
geistigen Interessen der Universität immer von neuem entzünden, verjüngen und
vor Einseitigkeit bewahren. Wählte man Marienburg und Gnesen, so würde
man nach dem selbst in England und Amerika vielfach befolgten Grundsatze
verfahren, die Universitäten gerade abseits von solchen Verkehrsmittelpunkten
zu legen, damit sie gleichsam ihre geistige Reinheit bewahren. Bekanntlich
liegen auch die meisten deutscheu Universitäten derartig „idyllisch," aber die
Universitäten Berlin, Breslciu, Königsberg, Kiel liegen in Verkehrsmittelpunkten.
Abgesehen von solchen allgemeinen, wohl nicht den Ausschlag gebenden Er¬
wägungen spricht für Danzig seine mannichfach anziehende Lage und Umgebung
und seine große deutsche Vergangenheit, für Marienburg die Benutzbarkeit der
Räume des Hochschlosses zu Universitätszwecken und die erhebenden geschicht¬
lichen Erinnerungen, während die sonstigen Verhältnisse Marienburgs zur Zeit
uicht anziehend wirken können. Für Gnesen, das in besserer Verkehrslage ist
als Marienburg, läßt sich geltend machen ein gewisser Reiz der Umgebung,
dann die geschichtlichen Beziehungen — es ist der uralte geistige Mittelpunkt des
Polentums, den man mit der deutschen Universität recht ins Herz treffen
möchte —, auch die Beziehung auf den Sachsenkaiser und die Ausbreitung des
Christentums von dort aus. Posen kann an empfehlenden Eigenschaften nicht
viel mehr aufweisen, als daß es eben Provinzialhauptstadt und ein Verkehrs-
mittelpnnkt von gewisser Bedeutung ist. Alles in allem genommen spricht also
das meiste für Danzig und Gnesen.
Von den Einwendungen, die hiergegen gemacht werden können, streifen
wir zunächst die Kostenfrage. Es ist selbstverständlich, daß Preußen die
Kosten aufbringen kann. Ohne Zweifel würden auch die Provinzen Opfer
bringen, ebenso wegen der notwendigen Baulichkeiten die erwählten Städte,
so gut und mit noch mehr Ursache als bei Kasernenbauten für Regimenter.
Denn Regimenter können, wenn es die militärischen Rücksichten fordern, wieder
weggenommen werden, bei Universitäten ist das viel unwahrscheinlicher. Auch
bringt eine Universität mehr Geld in die Stadt als ein Regiment Soldaten.
Der notwendige Staatszuschuß ist also davon abhängig, ob man eine Ver¬
deutschung der Ostmarken für notwendig und neue Universitäten diesem Zwecke
für dienlich hält. Beides -zu beweisen, ist die Absicht dieses Aufsatzes; möchte
er zunächst zu einer öffentlichen Erörterung der Sache führen.
Weitere und gewichtigere Einwendungen sind, ob nicht überhaupt eine
Vermehrung der Universitäten wenig wünschenswert sei, und ob nicht befürchtet
werden müsse, daß diese neuen Universitäten einen zu schwachen Besuch haben
würden. Wir gehören nun nicht zu denen, die mit Rücksicht auf die thatsäch¬
lich vorhcmdne Überfüllung der höhern Berufsklassen den Universitätsbesuch
eher einschränken, also Universitäten eher eingehen lassen möchten. Beschränkt
muß werdeu das Brotstudium auf den Universitäten, freilich auch das nicht
durch Gewaltmaßregeln, sondern durch Aufklärung und geringere Begünstigung
des Vrotstudiums als jetzt. Nicht beschränkt darf aber werden das Studium
zu höherer geistiger Kraft und zur Ausbreitung der Wissenschaft. Dies ramene-
lich deswegen nicht, weil sich Deutschland immer deutlicher zu einem Erziehungs¬
mittelpunkt weiterer Ländergebiete, ja Erdteile ausbildet. Lassen wir die beiden
bisher allein hierin vernachlässigten preußischen Provinzen auch an diesen Vor¬
zügen deutscher Gesittung teilnehmen! Schon die Gerechtigkeit verlangt es,
diese beiden Provinzen nicht hinter den andern zurückzusetzen. Der übermäßig
angewachsenen Universität Berlin wäre es überdies recht dienlich, wenn sie sich
ein wenig erleichterte durch Abzweigung nach Osten hin und so auf ihr selbst
ein regeres wirkliches Universitätsleben ermöglichte.
Der Besuch der neuen Universitäten würde nicht gering sein, namentlich
dann nicht, wenn man sie eigentümlich ausstattete. Zunächst würden sich ihnen
Studenten aus den Heimatprovinzen und aus der deutschen Diaspora in
Nußland zuwenden. Aber es käme weiter darauf an, ihnen auch aus dem
Westen Studenten zuzuführen, gleichsam zu geistiger Befruchtung der Ostmarken.
Hier kommt uns nun eine Bestrebung helfend entgegen, die im deutschen Leben
zur Zeit unverkennbar vorhanden ist, nämlich die Bestrebung, auch Universitäten
zu haben, die ein großes Gewicht auf die körperliche Ausbildung legen neben
der geistigen und dem entsprechend ausgestattet sind. Es hat hierbei sicherlich
die Beobachtung englischer Universitäten eingewirkt. Auch hier dürfen wir
uns nicht scheuen, das fremde Vorbild maßvoll und unter Wahrung deutscher
Eigentümlichkeit zu benutzen, das Vorbild ebenfalls eines Feindes, eines
werdenden Feindes. Ist doch diese Weiterbildung fremder Errungenschaften auf
deutschem Boden eine Hauptwurzel unsrer Kraft. Die englische Charakterstärke,
die zum Teil in ihren Universitäten begründet ist, aber darf man wohl, freilich
vorsichtig, nachahmen. Keineswegs gleich an allen deutschen Universitäten;
aber gerade hier in den neuen Universitäten der Grenzmarken wäre der Nähr¬
boden für einen solchen Versuch vorhanden. Denn nicht nur die ruhmreichen
Erinnerungen der Grenzlande, sondern auch ihre gegenwärtige Lage in der
Nähe des Feindes fordert gewissermaßen eine mehr ritterliche, militärische
Ausbildung in Verbindung mit der geistigen. Würden die beiden neuen Uni¬
versitäten so ausgestattet, und zwar reichlich ausgestattet, so würde die neue
Spielart auch im Westen Anklang finden, vor allem bei denen, die der reinen
Freiheit auf den übrigen deutschen Hochschulen nicht gewachsen sind, hier aber
in der gleichzeitig ritterlichen und geistigen Ausbildung zu ganzen Männern
werden konnten.
Dann würde aus diesen neuen Hochschulen, wie man nach dem Muster
eines Wortes aus dem deutschen Grenzroman, aus Freytags „Soll und Haben,"
sagen kann, eine Schar thatenfroher, leibesschöner, geisteskräftiger Jünglinge
herausspringen, die in der Eroberung eine Lust fanden. Das schwermütig
schöne und nur vielfach verkannte östliche deutsche Grenzgebiet würde dann
uicht minder begeistert als Heimat geliebt werden, wie es schon jetzt mit Ost¬
preußen geschieht.
So berühren sich zuletzt unsre beiden Vorschläge, deutsche Universitäten,
die deutsches Licht in das finstre Polentum ausstrahlen sollen, und ein neuer
deutscher Orden, der seine Ordensritter nicht mit Dekorationen behängt, sondern
sie innerlich durchglüht mit Begeisterung für das Deutschtum, nach dem Worte
des Dichters aus den Freiheitskriegen:
Laßt diesen neuen deutschen Orden das berühmte Wort Bismarcks vom 6. Fe¬
bruar 1888 als Wahlspruch annehmen: „Wir Deutschen fürchten Gott und
sonst nichts in der Welt." Als Wappen aber nehme der Orden an: das Bild
des deutschen Erzengels Michael. In diesem Wappen und Wappenspruch ver¬
einigt sich uralter mystischer Glanz mit moderner thatenfreudiger Kraft.
lie diese Erwägungen reichen aus, Wolfs Einwendungen gegen
die Einheit der homerischen Gedichte zu entkräften. Aber damit
ist die schwierige Frage nach ihrem Ursprünge noch nicht er¬
ledigt. Denn es ist nicht bloß, wie es Knötel, Jäger und
Grimm thun, der Inhalt zu berücksichtigen, sondern auch die
Form. Die homerischen Gedichte sind in einer ganz eigentümlichen Sprache
überliefert, die in der Hauptsache das Gepräge des ionischen Dialekts trägt,
daneben aber noch reichlich Spuren andrer Dialekte (des üolischen und attischen)
zeigt. Hierzu kommt noch eine andre Eigentümlichkeit: die ungewöhnlich häu¬
fige Wiederholung ganzer Verse oder Versteile, ja langer Versreihen. Wie
weit diese Wiederholungen gehen, zeigt die Thatsache, daß nicht weniger als
1804 Verse zusammen 4730mal vorkommen; ja wenn man von geringfügigen
Änderungen absieht, so sind es 2118, die 5612mal erscheinen. „Rechnet man
zu diese» noch die, die sich in ihren beiden Hälften oder in ihren einzelnen
Teilen wiederholen, so beträgt die Zahl 9253 (It. 5605. Ob. 3648) fast genau
ein Drittel sämtlicher Homerverse" (E. Schmidt, Parallelhomer, S. VIII). Und
auch diese Zahl wird noch bedeutend vermehrt durch vereinzelt vorkommende
Wiederholungen in andern Versen. In solchem Umfange finden sich jedenfalls
Wiederholungen von Versen oder Verstellen auch nicht annähernd bei irgend
einem uns bekannten Dichter. Auf sie hat deshalb auch in neuerer Zeit die
Kritik besonders ihr Augenmerk gerichtet. Da man fand, daß einzelne Wen¬
dungen, ja ganze Versreihen an der einen Stelle besser in den Zusammenhang
Päßler als an einer andern, so wurde der auf den ersten Blick überzeugende
Grundsatz aufgestellt, daß sie nur an der ersten Stelle ursprünglich gestanden
hatten, an der zweiten oder dritten aber mehr oder weniger geschickte Nach¬
ahmung sein müßten. Damit war aber ein Mittel gefunden, nicht nur „echtes"
von „unechtem" zu unterscheiden, sondern auch das Alter der einzelnen Teile
von Ilias und Odyssee wenigstens relativ zu bestimmen, und von diesem Mittel
ist reichlich Gebrauch gemacht worden.
Man mußte jedoch mißtrauisch über seinen Wert werden, wenn man sah,
daß es zu Widersprüchen in der Auffassung führte, daß die einen eine Stelle
für schön und echt hielten, die andre gerade als Erzeugnis „elenden Nach¬
ahmerstils" ansahen, und umgekehrt. Deshalb habe ich die ganze Frage ein¬
gehend untersucht (a. a. O.) und bin zu dem Ergebnis gekommen, das bisher
uuwiderlegt geblieben ist, daß diese Wiederholungen allein kein hinreichendes
Mittel bieten, das Alter einzelner Teile der homerischen Gedichte zu bestimmen,
da, von andern Gründen abgesehen, sich selbst in den besten Teilen der home¬
rischen Gedichte, in solchen, die die Kritik für die ältesten erklärt hat, sehr zahl¬
reiche wiederholte Verse finden, die zum Teil hier weniger passen als an andern
Stellen, und umgekehrt, daß in dem allgemein als ganz spät angesehenen vier¬
undzwanzigsten Gesänge der Odyssee noch immer Szenen vorkommen, die hier
angemessener sind als in frühern Gefangen, vor allein aber, daß die Wieder¬
holungen so ziemlich in gleichem Verhältnis in ältern und jüngern Teilen An¬
wendung finden.
Wie ist diese überraschende Thatsache zu erklären? Man könnte annehmen,
daß der Dichter, wie wir es von neuern Dichtern bestimmt wissen, einzelne
spätere Teile früher gedichtet habe als die. die ihnen der Handlung nach vor¬
ausgehen. Aber dazu stimmen dann wieder nicht andre Szenen oder Verse,
da sie hier schlechter passen als an der andern Stelle. So ist eine andre
Erklärung vorzuziehen, die uns zugleich einen Blick thun läßt in die Dich¬
tungsweise Homers und zu einer richtigern Wertschätzung seiner Kunst führt.
Die Sprache Homers ist wie keine andre formelhaft. Das geht soweit,
daß in einzelnen Verbindungen die Sprache erstarrt oder versteinert genannt
werden kann, d. h. gewisse Ausdrücke sind vielleicht schon vom Dichter nicht
mehr verstanden, sicher nicht mehr lebhaft empfunden worden. Es gehören
dahin vor allem die stehenden Beiwörter, die sich immer um derselben Stelle
des Verses finden oder immer nur mit denselben Eigennamen verbunden werden.
Sie sind uns zu einem großen Teile völlig unverständlich, für einzelne sind
die verschiedensten Bedeutungen (z. B. für «r^/so/c^, das Voß mit „un¬
fruchtbar" übersetzt) aufgestellt worden, oder sie werden selbst dann angewandt,
wo sie für die augenblickliche Lage nicht passen. So hebt am hellen Tage Nestor
in der Ilias, Polyphem in der Odyssee die Hände zum „gestirnten" Himmel
empor, und die Gewänder, die Nausikaa zum Strande fährt, um sie zu waschen,
werden auch in diesem Zustande „glänzend" und „schimmernd" genannt. Es
sind das eben stehende Beiwörter des Himmels oder der Wüsche; die augen¬
blickliche Lage kommt dabei gar nicht in Betracht. Aber das Formelhafte in
der Sprache Homers geht noch viel weiter. Bestimmte Handlungen, wie
das Bereiten von Mahlzeiten, Essen, Trinken, Aufstehen, sich Ankleiden, Schlafen¬
gehen, Opfervorbereitnng und Ausführung, Ankunft und Abfahrt der Schiffe
und andres werden immer rin denselben Worten oder nur mit geringen Ab¬
weichungen geschildert und dabei große Härten nicht vermieden. Ja noch mehr:
selbst Ausbrüche der Leidenschaft, des Zornes und der Liebe, der Freude und
der Trauer, Anrufung der Götter zu Gelübden oder Verwünschungen, bestimmte
Befehle und Auftrüge, Kampfesschilderungen tragen ein außerordentlich gleich¬
müßiges, formelhaftes Gepräge, das auf lange Kunstübung zurückgehen muß.
Bringen wir damit in Verbindung, daß in den homerischen Gedichten ein
reicher Sagenschatz als bekannt vorausgesetzt wird, daß wir nicht selten An-
spielungen auf Sagen finden, die von der Handlung in den Gedichten selbst
weit abliegen und für uns zum Teil ganz unverständlich sind oder erst dnrch
Anmerkungen der Scholiasten oder durch spätere Überlieferung verständlich
werden, so ist ein Schluß wenigstens auf das relative Alter Homers und seine
Bedeutung als Erfinder und Gestalter des Stoffes möglich. Es muß eine
sehr lange Zeit epischen Gesanges und sagenfreudigen Schaffens voraus¬
gegangen sein, und die Erzeugnisse dieses Dichtens müssen Gemeingut, wenn
nicht des ganzen Volks, so doch sicher der Sänger und der Fürstengeschlechter
geworden sein. Jeder Sänger muß an diesem Stoff auch die eigentümliche
epische Sprache gelernt und die Fähigkeit gewonnen haben, Lieder längern
oder kürzern Inhalts mit mehr oder weniger wörtlicher Anlehnung an eine
bereits vorhandne Form zu dichten und vorzutragen. Diese Annahme wird
vollständig bestätigt durch Zeugnisse aus den homerischen Gedichten selbst. In
der Ilias singt Achill, der tapfre Held, als er sich grollend vom Kampfe
zurückgezogen hat, die „Nuhmesthaten der Männer" (IX, 189), also doch wohl
epische Lieder, und in der Odyssee fordert Odysseus den Sänger Dcmodokos
auf (VIII, 487 ff.), das Lied vom hölzernen Pferd und Trojas Einnahme zu
singen, und der Sänger geht ohne Zögern auf diesen Wunsch ein. Es wird
also die Kenntnis dieses (wie vieler andrer Lieder) nicht nur (zufällig) bei dem
Helden, sondern auch ohne allen Zweifel bei dem Sänger vorausgesetzt.
Ist aber deshalb Ilias und Odyssee in ihrer jetzigen Gestalt das Er¬
zeugnis des „dichtenden Volksgeistes," wie es noch in letzter Zeit Erhardt
(Die Entstehung der homerischen Gedichte, Leipzig, 1894) genauer auszuführen
unternommen hat, oder das Werk eines „stümperhaften Redaktors" oder „Flick-
Poeten," der aus den verschiedensten größern oder kleinern Lappen ein buntes
Kleid von häßlichem Ansehen zusammengeschnitten und so grob genäht hat, daß
überall die Nähte noch sichtbar sind, ja zum Teil aus den Flecken noch ein
volles prächtiges Gewand hergestellt werden kann? Ich sage nein, weil ich in
der eigentümlichen Gestaltung des Stoffes das Wirken eines großen Dichters
zu verspüren glaube. Wer der entgegengesetzten Ansicht ist — und es sind
deren heute nicht wenige —, bedenkt nicht, daß das Material zu einem Ge¬
bäude noch nicht das Gebäude selbst ist, daß die Farben noch nicht das Ge¬
mälde selbst sind, daß es, um das Gebäude, um das Gemälde herzustellen, einer
schöpferischen That bedarf. Die drei größten griechischen Tragiker, Nschhlos,
Sophokles und Euripides, haben denselben, schon lange vorher im Epos be¬
handelten Stoff zum Gegenstand ihrer großartigen Tragödien gemacht, und
doch wie verschieden ist, obwohl sie dieselbe bekannte Sage behandelten, des
Aschylos Orestie (oder richtiger nur seine Choephoren) von des Sophokles und
Euripides Elektra! Wer würde nicht jede dieser Dichtungen als das eigenste
Werk ihrer Dichter gelten lassen? Oder, um ein uns näher liegendes Beispiel
zu wühlen, wie verschiedenartig ist, obwohl der geschichtliche Stoff derselbe ist,
die Behandlung der Jungfrau von Orleans bei Shakespeare (in Heinrich IV,
T. I), bei Voltaire (La Pucelle) und bei Schiller! Jede dieser Dichtungen
trägt durchaus das Gepräge ihres Schöpfers, ist sein eigenstes Werk. Was
hindert uns, anzunehmen, daß Homer genau ebenso der überlieferten Sage,
die bereits in bestimmter Form die Thaten der Helden vor Troja und ihre
Leiden auf der Rückkehr sang, gegenüberstand, daß er ihr seinen Geist ein¬
gehaucht und Werke geschaffen hat, die alle, die vor ihm und nach ihm den¬
selben Stoff behandelten, vollständig verdunkelt haben, wie es auch bei Schillers
Jungfrau von Orleans gegenüber den Dichtungen seiner Vorgänger der Fall ist?
Freilich kommt für Homer noch etwas hinzu: er hat nicht den Sagenstoff,
sondern auch Sprach- und Versgut seiner Vorgänger in reichlichsten Maße
benutzt. Das beweist nicht nur das Eigentümliche der Sprache (die Mischung
der Dialekte) und das Formelhafte im Ausdruck, sondern auch der kunstvolle
Bau des Verses, der diesen Wohllaut, diese Geschmeidigkeit erst nach langer
Kunstübung erreichen konnte. Aber auch dieser Umstand schmälert seinen Ruhm
mir wenig, macht vielmehr sein Schaffen nur begreiflicher, da er nun nicht
mehr in einsamer, unnahbarer Höhe wandelt, wie kritiklose Bewunderung lange
geglaubt hat, sondern andern Dichtern in der Art seines Schaffens menschlich
uühertritt. Denn ganz wie er, verfuhr Shakespeare mit dem „herrenlosen
Gute" dramatischer Dichtung, das er vorfand. Unzählige Verse, ja ganze
Szenen hat er ihnen entlehnt, wie gelehrte Untersuchung festzustellen noch im¬
stande gewesen ist. Und so verfuhren auch die frommen Liederdichter des fünf¬
zehnten und sechzehnten Jahrhunderts, die sich selbst nicht scheuten, bekannte
Volkslieder durch Änderung weniger Worte und Beibehaltung der Melodie
in geistliche umzuwandeln.") Ebenso ist, um nur dies eine Beispiel noch zu
erwähnen, Goethes „Heidenröslein" ans einem alten Volksliede, zum Teil
unter wörtlicher Benutzung, entstanden. Niemand aber zweifelt daran, daß
dieses Gedicht trotzdem Goethes volles Eigentum ist.
In den zuletzt angeführten Fällen können wir die „Quellen," aus denen
der Dichter geschöpft hat, noch nachweisen. Bei Homer ist das unmöglich;
dennoch berechtigt uns nichts, zu glauben, daß er anders verfahren sei. Das
Maß seiner Abhängigkeit von seinen Vorgängern wird sich, da uns deren Dich¬
tungen bis auf den Namen selbst verloren sind, nie nachweisen lassen; ich
muß die Versuche der Neuern, dies durch eine scharfsinnige Analyse der Ge¬
dichte oder sorgfältige Beobachtung des Sprachgebrauchs oder der Eigentümlich¬
keiten im Versbau zu erreichen, für verfehlt halten. Die Analyse der Gedichte
geht nur von Forschungen des Verstandes aus und trägt der Phantasie des
Dichters zu wenig Rechnung.
Ist nun die angespannte hundertjährige Arbeit auf diesem Gebiete der
Forschung vergeblich gewesen, weil wir die Ergebnisse selbst der vorsichtigsten
Gelehrten ablehnen müssen? Nein, so steht es doch nicht. Alle menschliche
Erkenntnis geht nie in ganz gerader Linie vor sich. Irrungen und Umwege
liegen in der menschlichen Natur begründet, und der Streit ist, wie schon ein
alter Philosoph erkannt hat, der Vater wie von allem andern, so auch von
jeder wahren Erkenntnis. Die homerische Frage ist nur den Weg aller großen
Streitfragen, nicht bloß der wissenschaftlichen, sondern auch der religiösen und
politischen gegangen. Der entschiedne Angriff auf die blinde Bewunderung,
die Homer in der letzten Hälfte des vorigen Jahrhunderts genoß, hat freilich
vorübergehend dahin geführt, daß er bei nicht wenigen geradezu in Verachtung
geriet, daß jeder angehende Forscher auf diesem Gebiete sich nach dem Beispiel
berühmter Meister durch scharfen Tadel dieses oder jenes Teiles der Gedichte
einen Namen zu machen suchte. Aber der Angriff auf den Dichter hat auch
die Verteidigung geweckt, und nach manchen verunglückten Versuchen sind wir
zu einer gerechten Würdigung seines Schaffens und seiner Kunst gelangt.
Das Wunder, daß am Anfange der für uns erreichbaren griechischen
Litteratur ein vollendetes Kunstwerk steht, hat durch die Forschung der letzten
hundert Jahre seine ausreichende Erklärung gefunden. Homer steht eben nicht
am Anfange, sondern auf dem Höhepunkte der epischen Dichtung der Griechen
Die Untersuchungen, die einen „Kern" aus Ilias und Odyssee und andrerseits
fremde Zusätze auszuscheiden unternommen haben, sind zwar darin als ge¬
scheitert anzusehen, daß sie die verschiednen Bestandteile bis auf den Vers
glauben sondern zu können, aber sie haben es doch im höchsten Maße wahr¬
scheinlich gemacht, daß schon vor Homer nicht bloß Einzellieder, sondern auch
größere zusammenhängende Dichtungen vorhanden waren, an denen sich Homer
ein Muster nehmen und die er in seinen Werken verwenden konnte. Zu dem¬
selben Ergebnis führen die Beobachtungen des Sprachgebrauchs. Wenn wir
selbst in den besten und ältesten Teilen der Dichtungen viel formelhafte
Wendungen und ganze Versreihen finden, die bei strenger Beurteilung an der
betreffenden Stelle nicht ganz passen, so beweist das, daß Homer auch das
vorhandne Versgut reichlich benutzt hat, an der einen Stelle mit größerm, an
der andern mit geringerm Glück — wie es menschlich ist. Aber — und das
hat Homer zum wirklichen Dichter gemacht — diese Abhängigkeit ist keine
sklavische, sie hat die mächtige Entfaltung dichterischer Eigenthätigkeit nicht ge¬
hindert. Gerade wo er zum Herzen spricht, wo er selbst am meisten innerlich
erregt erscheint, ist auch seine Sprache freier und edler, während Szenen, die
für die Handlung gleichartiger sind, auch sprachlich oft die größten Anstöße
bieten und deshalb zu so wegwerfenden Urteil geführt haben. Aber auch
damit steht Homer nicht allein da. Ich will nur auf den ähnlichen Wechsel
bei Shakespeare hinweisen, und auch von Schiller ist bekannt, daß er die
Dichtungen, die ihn gemütlich interessirten, auch sprachlich edler und erhabner
gestaltet hat.
Der Streit über Homer ist mit außerordentlicher Heftigkeit und Er¬
bitterung geführt worden; schonungslos und in den stärksten Ausdrücken haben
die Gegner einander angegriffen wie nur irgend in einer religiösen oder wirt¬
schaftlichen Frage. Wenn jetzt auch auf diesem Gebiete, wie im achtzehnten
Jahrhundert nach den erbitterten Religionskämpfen im sechzehnten und sieb¬
zehnte» Jahrhundert, größere Ruhe eingetreten ist, so mag uns das ein Trost
sein und zugleich die Hoffnung geben, daß andre Streitfragen, in denen wir
jetzt mitten drin stehen, und die uns durch ihre Heftigkeit erschrecken, allmählich
einer ruhigern und gerechtern Auffassung Platz machen werden.
aß das Glück ohne Wahl und Billigkeit seine Gaben verteilt,
Pcitroklus begraben liegt, und Thersites zurückkommt, wissen wir
und würden es auch ohne die klassische Fassung in Schillers
„Siegesfest" jeden Tag neu erfahren. In tausendfältiger Gestalt
wiederholt sich die Ungleichheit des Glücks, und keiner vermag
das innere Gesetz zu ergründen, das hierbei waltet. Es ist wohlfeil, wenn die
Würfel auf dem Tische liegen, zu beweisen, daß sie gerade so und nicht anders
fallen mußten, wohlfeil, Erfolg und Mißerfolg auf Notwendigkeiten zurück¬
zuführen. Wie viele hervorragende Männer der Litteratur, darunter auch solche,
die eine tiefe und bleibende Wirkung auf ihr Volk geübt haben, sind ohne ein
würdiges litterarisches Denkmal geblieben! Und andre, deren Bedeutung dem
Wert und der schöpferischen Kraft jener Hervorragenden nicht entfernt gleich¬
kommt, werden in liebevollen und wohlausgeführten Bildern dem Gedächtnis
der Nachwelt überliefert. Solcher Betrachtungen kann man sich nicht erwehren,
wenn man eine Biographie des liebenswürdigen Lustspiel- und Schauspiel¬
dichters Gustav zu Putlitz in drei stattlichen Bänden vor sich sieht,^) inner¬
halb dieser breiten, aber lnhalt- und lebensvollen Biographie auf Briefe unsers
größten historischen Nomandichters Wilibald Alexis stößt und sich vergegen¬
wärtigt, daß der Dichter des „Cabanis," der „Hosen des Herrn von Bredow"
und des „Isegrim" bis zur Stunde ohne den bescheidenste» Denkstein, ohne
einen biographischen Aufsatz geblieben ist, der über das Maß eines Konver¬
sationslexikonartikels hinaufginge. Eine gewisse Art der Weltbetrachtung wird
sagen, daß sich auch in dieser Ungleichheit im Tode die ungerechte Ver¬
teilung der Lebensgüter zwischen zwei Männern fortsetze, die noch dazu nahe
und langjährige Freunde gewesen sind; sie wird betonen, daß, wie dem
jüngern der beiden Freunde die Abstammung von einer alten Herrenfamilie
der brandenburgischen Mark, der sichere Besitz unverlierbarer Erbgüter, das
reiche Behagen und die kostbare Muße eines Landedelmanns, die gebietende
Stellung als Leiter zweier Hofbühnen geschenkt, dem andern, ältern, die über¬
mäßige Arbeit des fortgesetzten litterarischen Erwerbs auferlegt war, der er die
Möglichkeit zu seinen freien und großen, im eigentlichen Sinne poetischen
Werken mühsam und in langen Pausen abringen mußte, so auch der von der
Gunst des Schicksals getragne Putlitz eine eingehende, jede Lichtseite seines
Wesens und Strebens hervorhebende Lebensgeschichte von liebevoller Hand er¬
halten habe, während Wilibald Alexis, dem weit größern und tiefer wirkenden
Schriftsteller, bis heute nicht einmal eine flüchtige Skizze seines Lebens und
Werdens zu teil geworden sei. Zuletzt liegt doch nur eine zufällige Ver¬
kettung von Umständen dieser Ungerechtigkeit zu Grunde. Putlitz schied aus
der Mitte einer zahlreichen, blühenden Familie, hinterließ eine Gemahlin, die
den größten Teil seiner litterarischen und künstlerischen Entwicklung begleitet
hatte, die zum Willen auch die volle Fähigkeit besaß, das treueste Lebensbild
zu entwerfen und in den Erinnerungen an den Gatten ihre eignen besten
Erinnerungen neu belebte. Wilibald Alexis dagegen war schon einige Jahre
vor seinem wirklichen Tode dem Leben entrückt, sein Haus scheint sich nach
dem Tode des Hauptes rasch aufgelöst zu haben, niemand zeigte ein unmittel¬
bares persönliches Interesse an der Errichtung eines biographischen Denkmals.
So ergiebt sich für den gerecht urteilenden Freund der deutschen Dichtung aus
der Ungleichheit des letzten Glücks beider Dichter nur zweierlei. Zuerst, daß
die klaffende Lücke in unsrer biographischen Litteratur in Bezug auf Wilibald
Alexis über kurz oder lang ausgefüllt werden muß. Sodann, daß die Existenz
eines dreibändigen Werkes über Gustav zu Putlitz für die Beurteilung und
Geltung seiner poetischen Leistungen und Versuche nicht schwerer ins Gewicht
fallen darf, als die knappen, einfachen Artikel, mit denen mehr als einer seiner
besten Zeitgenossen etwa in der Allgemeinen deutschen Biographie bedacht
worden ist.
Gewisse Übel tragen überdies ihre Heilkraft in sich selbst. Kommt es dem
Gedächtnis und der Würdigung eines Dichters zu gute, daß sein Leben liebevoll
«ut eingehend geschildert, daß uus Entstehung und Aufnahme seiner Werke
unmittelbar nahegerückt wird, wirkt die Lebensgeschichte sogar doppelt, wenn
das in ihr gespiegelte Dasein ein solches ist, das der Phantasie der meisten
Menschen als wünschenswert, ja beneidenswert erscheint, so hat die Sache doch
auch eine andre Seite. Tritt aus all der Gunst der Verhältnisse, aus all
ihrer fesselnden Schilderung doch uur eine mäßige Entwicklung hervor, so
liegt die Frage nahe, ob nicht gerade die äußern Vorzüge einer bevorrechteten
Existenz zum Hemmnis größerer Entwicklung geworden sind? Es mag wahr
sein, daß in allen Fällen der innere Trieb des Schaffens, der künstlerische
Fleiß im Verhältnis zum Talente stehen. Wie aber, wenn diesem Trieb und
Fleiß durch die gesellschaftliche Atmosphäre, in der der Träger des Talents
lebt, unsichtbare, doch höchst fühlbare Schranken gesetzt werden, wie. wenn die
geistige Genügsamkeit, „die alles schreckt, was tief ist," den Dichter in einem
Bann hält, der ungeahnten Einfluß auf ihn übt, wie, wenn die gesellschaftliche
Gewohnheit, die Form über den Gehalt zu setzen, eine unbewußt lähmende
Wirkung auf die Anläufe einer künstlerischen Natur hervorbringt? Und wenn
nun gerade die Ausführlichkeit, die pietätvolle Erinnerung, der das Kleinste
wert und wichtig erscheint, diese Thatsache unbewußt ins hellste Licht setzt, so
wird doch sicherlich die auf den ersten Blick behauptete Ungerechtigkeit mehr
als ausgeglichen, und die Wahrheit kommt, unbeschadet der Teilnahme und
Pietät, zu ihrem Rechte.
Das Geschlecht der Putlitz, von denen der Dichter Gustav zu Putlitz ab¬
stammte, deren Name schon in den Kämpfen der ersten Hohenzvllernmark-
grafen mit den trotzigen alten Junkerfamilien der Mark hervortrat, deren Senior
Erbmarschall der Kurmark Brandenburg hieß, und die seit Jahrhunderten, wie
alle ehemaligen Kämpfer vom Kremmer Damm, getreue Vasallen der Hohen-
zollern geworden waren, war auf den Rittergütern Groß-Pankow, Retzin u. a.
in der Priegnitz angesessen. Eine lange Reihe von tüchtigen Soldaten und
Landwirten hatte dem alten Geschlecht angehört, ehe ein künstlerisches Talent
in dem Herrenhause von Retzin (wo Gustav zu Putlitz am 21. März 1821
geboren war) heranwuchs. Die behaglich schlichten Verhältnisse, die bis in die
fünfziger Jahre unsers Jahrhunderts in den meisten Familien des norddeutschen
Landadels vorherrschten, kamen der Erziehung und Entwicklung des geistig
begabten Knaben in entscheidender Weise zu gute. Frau vou Putlitz erzählt:
„Die gleichmäßige Lebensweise im Hause der Eltern wurde nur durch den
regen Verkehr mit dem nahen Pcmkower Familienkreise, sowie mit einigen
Nachbarfamilien unterbrochen; unter den letztern war es besonders die Familie
von Möllendorf in Krampfer, mit der Gustavs Eltern sehr befreundet waren.
Die Verkehrsmittel im ersten Drittel dieses Jahrhunderts waren im Vergleich
zur Gegenwart unglaublich wenig ausgebildet. Zuerst machte eine Chaussee
zwischen Berlin und Hamburg ein leichteres Fortkommen möglich. Im Herbst
1846 wurde dann die Hamburger Eisenbahn dazugefügt, aber in Gustavs
Kindheit und Jugend fuhr man noch mit eignen Pferden und Wagen von
Retzin nach Berlin, eine Reise, die sich alljährlich zur Zeit des Wollmarkts
für Gustavs Vater wiederholte, und öfters benutzten die Eltern die Gelegenheit,
um die auf dem Wege liegenden Verwandtenhäuser von Herrn von Nysselmann
in Schönwalde und Herrn von Nedern in Warsdorf aufzusuchen, in denen die
Schwestern von Gustavs Mutter als Hausfrauen walteten. Die ältesten Kinder
wurden mitgenommen und feierten mit der Mutter fröhliche Tage im Kreise
der Verwandten, während der Vater seinen Geschäften in Berlin nachging-
Im Herbst wurden dann meist die Besuche erwidert, und das kleine Haus in
Retzin gewährte schon damals in einfacher, herzlicher Weise die Gastfreundschaft,
die es sich auch in fernern Tagen bewahrt hat." Wer sich diese Zeilen beleben
kann, dem leuchtet eine Fülle von Knabenglück, von frischer Jugendlust in
Haus, Feld und Wald entgegen.
Bis zum zwölften Jahre erfreute sich Putlitz dieser ländlichen Freiheit
ohne Einschränkung, Gouvernante und Hauslehrer erteilten ihm und seinen
Geschwistern den ersten Unterricht. Aber 1834 wurde er dem Gymnasium des
Liebfrauenklosters in Magdeburg und zugleich dem Alumnat dieser Schule an-,
vertraut und verbrachte fortan nur noch die Ferien in Retzin. Er hatte das
seltene Glück, unter seinen Lehrern eine Persönlichkeit von idealem Charakter¬
voll feinem und tiefem Geist zum Freunde zu gewinnen, Ferdinand Immer-
mann, den jüngern Bruder des Dichters Karl Immermann. Dieser wußte
das litterarische Interesse des Jünglings zu wecken und zu steigern und er¬
schloß ihm nicht bloß das Verständnis der Dichtungen seines Bruders, sondern
einer ganzen Reihe von poetischen Erscheinungen. Bei Immermanns Grund-
anschauungen läßt sich kaum zweifeln, daß der junge Putlitz stärkere Neigungen
zur Romantik in sich aufnahm, als sich selbst in seinen Märchenstrauß „Was
sich der Wald erzählt" kundgeben.
Das Gegengewicht gegen eine ausschließliche Geltung romantischer Elemente
und traumhafter Sehnsucht nach der blauen Blume suchte und fand dann der
angehende Student der Rechte in seinen ersten Berliner Semestern im fran¬
zösischen Schauspiel der preußischen Hauptstadt, in dem damals fast aus¬
schließlich Seribe herrschte. Und der Einfluß der geselligen Kreise, denen er
durch seine Geburt angehörte, sorgte dafür, daß Putlitz in der Schätzung der
leichten, aber geschickt gebauten, im Dialog höchst lebendigen Stücke des fran¬
zösischen Bourgeoisdramatikers fester verharrte, als es einem jungen deutscheu
Dichter der vierziger Jahre eigentlich gemäß war. In der Auffassung aristo¬
kratischer Kreise standen Scribes Lustspiele schon um ihres „guten Französisch"
willen in großer Achtung, und Putlitz ließ offenbar diese Auffassung mit der¬
selben jugendlichen Naivität gelten, mit der er Immermanns tiefere poetische
Empfindung und kritische Feinheit auf sich hatte einwirken lassen.
Aus der weitern Jugendgeschichte des werdenden Dichters sind nur einige
Punkte hervorzuheben. Von Ostern 1842 bis zum Sommer 1843 studirte er
in Heidelberg, trat dann in das Korps Gnestphalia ein und stand im letzten
Semester als Senior an der Spitze dieser Verbindung. Den Winter von
1843 zu 1844 verbrachte er wieder in Berlin, wo er sich abwechselnd in den
Hörsülen und in geselligen Kreisen bewegte, diente dann sein Freiwilligenjahr
beim zweiten Garderegiment ab und arbeitete als Referendar beim Berliner
Kriminalgericht. Seine liebenswürdige Persönlichkeit und seine frische Lebens¬
lust erwarben ihm überall Freunde/ Durch den Verkehr in einem der letzten
litterarischen Salons im alten Berlin, dein des Fräulein Solmar, trat er
zuerst zu einigen hervorragenden Schriftstellern und Künstlern in persönliche
Beziehungen. Wichtiger wurde für ihn die Erneuerung und Vertiefung der
Freundschaft zu Marianne Immermann, der jungen Witwe des Dichters des
„Merlin" und des „Münchhausen." Er hatte Marianne Niemeyer, die nur
ein Jahr älter als er selbst war, schon in seinen Magdeburger Gymnasiasten¬
tagen kennen gelernt, zwischen damals und jetzt lagen ihre begluckendsten und
schwersten Erlebnisse, die Verlobung und Heirat mit Karl Jmmermcinn und
.dessen früher Tod uach einjähriger Ehe. Die Beziehung zu dieser Frau wurde,
wie die Biographie hervorhebt, für die beiden außergewöhnlichen Naturen von
großer Bedeutung. Marianne war durch ihre ersten Erlebnisse „viel gereifter
als ihr junger Freund, sodaß der Einfluß, den sie aus ihn ausübte, oft einen
mentorartigen Charakter annahm."
Mit dem Frühling des Jahres 1845 begann eine Korrespondenz, die bis
zum Tode der Freundin, vierzig Jahre hindurch währte. Gleich in einem ihrer
ersten Briefe spricht sie ihrem Schützling unumwunden aus: „Ich komme auf
einen Punkt, über den ich Sie schon einigemale gescholten habe, wie Sie zu
sagen beliebten, doch spreche ich nur meine Meinung aus. Daß ich auf Sie
halte und Ihre Anlagen nicht gering schätze, das wissen Sie ja, aber Sie
haben unter diesen Anlagen eine, die ich für gefährlich halte, nämlich den Hang
zum Dilettantismus." Bei seinem theatralischen Debüt mit dem Lustspiel
„Die blaue Schleife" ruft sie ihm ehrlich und tapfer zu: „Lieber, wie Sie
vor der Hand das Theater zu betrachten scheinen, so will es mir nicht vorkommen,
als ob es der Mühe lohnte, seine Interessen zum Mittelpunkt eines Lebens
zu machen. Sie scheinen weder an die sittliche noch an die ästhetische Er¬
ziehung des Publikums zu denken, wenn Sie darauf eingehen, dasselbe mit
der beliebten Alltagsspeise zu füttern, die der Athener seinem Demos giebt, und
jene Erziehung kann doch allein dem herabgekommnen Institut zu seiner Würde
verhelfen." Eine solche Frau war vollkommen imstande, den jungen Schrift¬
steller über sich selbst aufzuklären. Eins aber ermaß sie nicht. Zu seiner Ver¬
teidigung erwidert Putlitz: „Ich will über die Stelle nicht streiten, die die
Jutrigueustücke in der Poesie einnehmen, aber es ist eben der Geschmack des
jetzigen Publikums, und man kann es dem dramatischen Schriftsteller — ich
sage nicht Dichter — nicht verargen, wenn er sein Werk ebenso gut nach dem
Pariser Modejournal zuschreitet, als der Schneider seinen Rock. Der junge
Autor muß sich auf dem gern betretenen Wege einschleichen; später vielleicht
kann er diesem Wege selbst ein Ziel geben." Marianne wußte nicht, daß hinter
dieser Selbstverteidigung etwas ganz andres, viel unüberwindlicheres lag, als
die wenig wühlerische Lust eines jungen Dramatikers am platten Bühnenerfolg.
Die Gewohnheit des Aristokraten, die Durchschnittsmeinung und allgemeine
Stimmung seines besondern Lebenskreises zu respektiren, im Einklang mit dem
meist schlechten Geschmack der guten Gesellschaft zu bleiben, spielte bei Putlitzens
ersten dramatischen Anläufen ganz ersichtlich mit. Und die Verhältnisse lagen
in dieser Beziehung in den vierziger Jahren für den werdenden Dichter so un¬
günstig als möglich. Seit dem Niedergang der Romantik und dem Emporkommen
der liberal angehauchten Tendenzpoesie kehrte der größere Teil des deutschen
Adels gerade den tiefern und ernstern Leistungen der deutschen Litteratur un¬
willig den Rücken, gefiel sich in der Begünstigung des Nichtigen, scheinbar
Harmlosen, des Frivolen oder zur Abwechslung des bewußt Frommen —
beides oft hübsch neben einander. Wer vorzugsweise in diesen Kreisen lebte,
mußte es schon für einen Gewinn halten, wenn er überhaupt Teilnahme für
das bescheidenste Stück wirklichen Lebens erweckte. Und selbst das bescheidne
Stück sollte gesehen werden, nicht wie es Putlitz recht gut hätte sehen können,
sondern wie es hier durch die Brillen der Gesellschaft und dort durch die
Nergrößernngs- und Vergroberungsglüser der theatralischen Hcrkömmlichkeit
erschien. Daß Putlitz, statt sich auf seine eignen Augen zu verlassen, von
vornherein alle diese Gläser unbesehen und ungeprüft aufsetzte, hat seine Ent¬
wicklung sehr wesentlich beeinträchtigt.
Denn andrerseits, wie viel frische Lust und guter Wille, wie viel heitere
Stimmung und behagliche Teilnahme an einfachem Menschenglück, wie viel
scharfer Blick für Launen und komische Widersprüche der menschlichen Natur,
wie viel charakteristische Schilderung und wie viel sichere Gestaltungskraft
steckt doch in der ganzen Folge der ein- und zweiaktigen Stücke, mit denen
Putlitz in den nächsten Jahren die Bühne gewann. Die wirksamste» davon:
„Badekuren," „Familienzwist und Frieden," „Herz vergessen," „Nur keine
Liebe," „Der Brockenstrauß," „Die Waffen des Achill," „Seine Frau," „Der
Weg der Liebe," „Das Schwert des Damokles," „Spielt nicht mit dem Feuer,"
„Das Ständchen," „Brandenburgische Eroberungen," „Die alte Schachtel" usw.
haben sich Jahrzehnte hindurch fast auf allen Theatern gehalten und sind noch
immer die Zuflucht aller Liebhaberbühneu, weil in der That ein Stück Leben
und frische Wirklichkeit aus ihnen wirkt, weil man fühlt, daß der Verfasser
dieser kleinen Scherze einem sittenspiegcluden und echt komischen Lustspiel unser
gewesen ist, als ganze Folgen von Theaterschriftstellern. Putlitz hatte das
Zeug zu einem norddeutschen Bauernfeld in sich. Aber es gelang ihm nicht,
nachdem die Weiche einmal falsch gestellt war, in das richtige Gleis zu kommen,
in dem die theatralische Brauchbarkeit das Untergeordnete, weil Selbstverständ¬
liche, die Verkörperung der (poetischen) komischen Idee und die charakteristische
Belebung der Gestalten das Endziel bleibt. Putlitz täuschte sich keineswegs
darüber, daß er vou diesem Endziel noch fern sei, und es fehlte ihm auch nicht
an Mahnungen von außen. Wenn er eingestehen mußte, daß er in seiner
besondern Lage (er wohnte seit 1849 wieder ans dem Gute Retzin, das er
wenig später zur eignen Bewirtschaftung übernahm) allzusehr auf sich ange¬
wiesen sei, seine Stoffe mit niemand durchsprechen, sich in seiner Umgebung
weder Rat noch Mut holen könne („mein Vater hat ganz andre Interessen,
namentlich aber keins fürs Theater. Er ist niemals ins Theater gegangen.
Meine Mutter hält zu viel vom Verfasser, um nicht alles herrlich zu finden,
und meine Schwestern haben viel mehr Interesse als Kritik"), so setzte er doch
immer hinzu, daß er bei seiner litterarischen Arbeit Vergnügen empfinde, und
daß er unwillkürlich immer wieder ans Theater denke. Umsonst rief ihm
Marianne, die sich inzwischen mit einem Hamburger Wolff wieder verheiratet
hatte, energisch zu: „Laß vor allem dich nicht verführen, den Genuß des
Schaffens für ein ausreichendes Lebenselement zu halten, dieser Irrtum würde
dich entschieden unglücklich machen," umsonst sagte sie ihm gerade heraus, daß
sie seine hochbegünstigte äußere Lage nicht für ungefährlich halte, daß ihr
aber auch in dieser Lage ernste Arbeit als die beste Hilfe für den jungen
Dichter erscheine, und daß gerade das am meisten seine Produktivität fördern
werde, was ihn scheinbar von ihr abziehe. Er stimmte allem zu, was ihm
die Freundin ans Herz legte, er wußte sehr gut, daß Wissen dem Dichter
not thue, wenn er nicht einseitig und schal werden soll, er scheute auch die
ernste Arbeit nicht. Aber diese Arbeit bezog sich meist und immer wieder auf
das Studium des theatralisch Wirksamen, auf die geschickte Zusammendrünguug
seiner kleinen Erfindungen. Der andern, der Hauptarbeit des Dichters: der ohne
Leiden und Kämpfe nicht zu gewinnenden Herrschaft der Phantasie über den
Weltreichtum und die Weltmannichfaltigkeit, die Schärfung des künstlerischen
Blicks für Seelen wie Zustände, dem Ringen nach höchster Wahrheit, wich
Putlitz unbewußt aus. Wer vermöchte klar zu unterscheiden, welchen Anteil
hieran eine ursprüngliche Unzulänglichkeit seiner Natur, die Gewöhnung an
das Schaffen nnter äußern Bedingungen, und endlich die Atmosphäre gesell¬
schaftlicher Überlieferungen und Umgebungen hatte? Im Jahre 1854 schrieb
ein so scharfer Prüfer wie Fr. Hebbel, der mit Putlitz in Mnrieubad näher
verkehrte, über den märkischen Dichter: „Er ist ein höchst gebildeter Mensch,
der in manche Tiefe geschaut hat, wenn seine Poesie auch leicht wie ein
gaukelnder Schmetterling darüber schwebt," und aus den mitgeteilten Briefen
von Putlitz läßt sich erkennen, daß er sich wahrlich nicht überschätzte, wenn
er sich „ein vielseitiges Interesse für alles Geistige" zusprach. Aber der Mangel,
deu er zu Zeiten selbst empfand, lag tiefer, und seine Freundin irrte sich ge¬
waltig, wenn sie von einer Versenkung des Dichters in die Geschichte seine
Beseitigung erwartete.
Daß es Gustav zu Putlitz auch in seiner Landeinsamkeit nicht an An¬
regungen und Eindrücken fehlte, beweist kein Teil seiner Lebensgeschichte besser,
als die Erzählung von der Netziner Aufführung der Oper „Rübezahl," die
erste, die Frau von Putlitz aus eigner goldner Erinnerung giebt. Da Putlitz
bei einem Winteraufenthalt in Berlin dem Komponisten Fr. von Flotow
näher getreten war und ihm den Text zur Oper „Indra" geschrieben hatte,
so war er auf deu Einfall gekommen, mit Flotow zusammen eine kleinere Oper
„Rübezahl" für die Aufführung im Hanse zu schaffen. Flotow kam zu diesem
Zwecke selbst nach Retzin, ebenso fand sich der Düsseldorfer Maler Camphausen
ein, der einen Vorhang und Dekorationen malte, und dessen Frau die Weib-
liebe Hauptpartie singen sollte. Mitwirkende Kräfte für Soli, Chor und Or¬
chester wurden auf allen Nachbargüteru geworben, im Hause des Dichters
herrschte das bewegteste, an Szenen aus „Wilhelm Meister" erinnernde Leben.
Zu den Geladnen gehörten zwei junge Gräfinnen Königsmarck, Anna und
Elisabeth, die Töchter des ehemaligen Adjutanten des Prinzen (und nachmaligen
Königs und Kaisers) Wilhelm, von dem benachbarten Gut und Schloß Berlitt.
Gräfin Anna war für eine Solopartie der Oper, Grafin Elisabeth für Mit¬
wirkung im Chor und dann, da sie Harfe spielte, zur Übernahme der Harsen-
Partie eingeladen. Gräfin Elisabeth erzählt von ihrem Eintreffen in Retzin:
.Es herrschte allgemein sehr guter Wille und die größte Harmlosigkeit und
Freiheit im Verkehr. Auch traten mir Gustavs Mutter und Schwestern, die
ihm halfen die Honneurs des Hauses zu machen, gleich sehr herzlich entgegen.
Nach dem Diner ging es in die Probe. Das improvisirte Theater war ein
wahres kleines Meisterwerk. In einem Holzstall nahe am Haufe hatte Gustav
mit Hilfe Camphausens eine allerliebste Bühne hergestellt. Zwei Dekorationen,
ein Nokokozimmer und eine schlesische Baude mit dem Blick aus die Schnee¬
koppe hatte Camphausen gemalt, auf dem Vorhang den alten Berggeist, der
der Oper den Namen lieh, angebracht. Der Zuschauerraum, durch das Or¬
chester von der Bühne getrennt, war in Parkett und Logen eingeteilt, die sehr
hübsch mit rotem Stoff und Goldborten verziert waren. Flotow um.Klavier
dirigirte, er hatte zwei Doppelqnartetts ans Perleberg und ans Pritzwalk als
Orchester vereint. Hinter dem Bühnenraum war ein Zelt angebracht als
Garderobe. Solisten und Choristen waren dreiundzwanzig, und man kann sich
denken, welches muntere Treiben allein durch die Mitwirkenden entstand. Ich
fand mich sehr schnell in die Situation und war entzückt von dem bunten
Treiben, in dem jeder mit größtem Eifer und gutem Willen sein Bestes gab.
Gustav war der liebenswürdigste Hausherr und verständnisvollste Regisseur
"l einer Person und darauf bedacht, es seinen Gästen, die zum größten Teil
auch Mitglieder der kleinen Truppe waren, behaglich zu machen."
In diesen fröhlichen Tagen und während dieser künstlerischen Anstren¬
gungen, die von einem vollständigen Gelingen der Opernanfführung gekrönt
wurden, verliebte sich Gustav zu Putlitz in Elisabeth Königsmarck, und auch
die junge Gräfin faßte eine tiefe Neigung für den ritterlichen Dichter. Im
Garten von Berlitt folgte wenige Wochen später die Verlobung des jungen
Paares. „In jenen Stunden, sagt die Verfasserin schlicht, entschied sich das
Glück meines Lebens, das ich achtunddreißig Jahre fest und treu mit dem ge¬
liebten Mann genießen durfte." Am 13. Mai 1853 fand die Hochzeit des
Gutsherrn von Retzin statt, dem glücklichen Sommer in der Stille des Land¬
lebens folgte im Frühherbst eine Rheinreise, die sich bis Baden-Baden er¬
streckte.
Die Verhältnisse der jungen Eheleute erlaubten auch fernerhin den Auf-
enthalt in Retzin durch einen mehrmonatigen Winteraufenthalt in Berlin zu
unterbrechen, wo Putlitz mehr litterarische Anregungen fand, als er bedürfte.
Er fuhr fort, den mißgünstigen Prophezeiungen und Klatschereien zum Trotz,
die seine Heirat mit der Gräfin Königsmarck als das Ende seiner poetischen
Bestrebungen bezeichneten, Lustspiele und Schauspiele zu schreiben, er begann
jetzt auch einzelne Erzählungen zu entwerfen und auszuführen. In einem
Briefe (vom 3. Januar 1858) an Wilibald Alexis sagt er: „Produziren und
sich produktiv fühlen ist eine wunderbare Gottesgabe, und ich weiß nichts
schöneres, als die Keime, die im eignen Herzen wachsen, die die eigne Phan¬
tasie entfaltet, im Geheimen zu Pflegen, bis sie, nach Jahren oft, ans Licht
treten." Aber in demselben Briefe folgt auch das Geständnis: „Uns geht es
gut im behaglich stillen Hanse, im bescheidnen Wohlstand, zwischen den drei
blühenden Kindern. Ich weiß keine Ehe, die glücklicher wäre, als die meinige,
und möchte hinzufügen, ich weiß keinen Menschen, der glücklicher wäre als ich.
Die Götter des Altertums Hütten einen solchen Ausspruch uicht hören dürfen,
unser Gott weiß, daß ich ihn in Demut ausspreche, und wird ihn wie ein
Dankgebet aufnehmen. Ein herber Tropfen in diesem Glücksbecher ist mir oft
meine poetische Begabung und ihre Resultate. Wenn ich geschaffen habe, wuchs
es wie eine Blume und verflog wie eine Seifenblase. Mir geht es, wie unserm
Freunde Holtet: zuviel Talent, um zu schweigen, und uicht genug, um in tüch¬
tiger Weise durchzudringen."
Wunderbar, wie sich in diesem Ausruf des Dichters Selbsterkenntnis und
Täuschung paaren. Putlitz konnte mit dem „tüchtigen Durchdringen" natür¬
lich nicht den äußern Erfolg im Auge haben. Der viel aufgelegte und viel
gepriesene Dichter der Märchen „Was sich der Wald erzählt" und „Luauci,"
der Lnstspielverfafser, dessen kleine Stücke über alle Bühnen gingen und mit
ebenso viel Behagen gespielt als gesehen wurden, hätte am allerwenigsten Ur¬
sache gehabt, über Mangel an Anerkennung zu klagen. Nein, er vermißte im
Ernst die tiefere, nachhaltige Leistung, die künstlerisch reife Schöpfung. Es
entging ihm uicht, daß in seiner Erfassung und Spiegelung des Lebeus zuviel
Vergängliches und Flüchtiges sei. Gleichwohl faßte er kein Mißtrauen gegen
die leichte und rasche Art der Produktivität, er ahnte nicht, daß er gerade auf
dem Lebens- und Gesellschaftsgebiet, auf dem er sich am sichersten und gleichsam
zu Hause fühlte, durch einen geheimen Zwang der Bildung und Gewöhnung
verhindert werde, in die Tiefen hinabzusteigen, in denen die schwersten Auf¬
gaben, aber auch die dauerndsten Kränze des dichterischen Schaffens liegen. Er
argwöhnte nicht, daß zwischen gewissen angeerbten Anschauungen und dem dich¬
terischen Drange auf den Grund der Erscheinungen zu sehen, ein unüberwind¬
licher Widerspruch vorhanden sei. Das Schicksal hatte ihm sür die spätesten
Tage erschütternde persönliche Lebenserfahrungen vorbehalten; der hundertste
Teil der schmerzlichen Blicke in die Wahrheit der Dinge und die Abgründe im
Gemüt, die Putlitz später thun mußte, würde in der Zeit seiner frischen
Schaffenslust ausgereicht haben, seiner Spiegelung der umgebenden Welt den
unvergänglichen Grund zu geben, der ihr fehlte.
Putlitz selbst hoffte, durch den Wechsel der Stoffe, durch größere Maße
und einen bedeutender» Hintergrund seinen poetischen Gebilden bleibendes Leben
zu verleihen. Am Ausgang der fünfziger Jahre schrieb er sein erstes (und
bestes) vaterländisches Stück „Das Testament des großen Kurfürsten." Be¬
gonnen wurde dieses erfolgreichste Werk des Dichters in der Einsamkeit seines
Landguts in der Priegnitz, in einer Atmosphäre, die der Gestaltung und dem
Kolorit des Schauspiels günstig sein mußte, beendet in Wien, wohin ihn der
Wunsch zog, der ins Auge gefaßten ersten Darstellerin der Hauptrolle, der
Burgschauspielerm Julie Rettich, ihre Partie mundrecht zu machen. Halm,
als Freund seiner Freundin, als erfahrener Bühnenpmktikns. erteilte dabei
Ratschläge, die Putlitz mit bescheidner Unterordnung befolgte. Die erste Aus¬
führung fand in Breslau statt. Frau von Putlitz berichtet davon, die Leute
im Parkett hätten eine langweilige Fortsetzung der „Makkabäer" erwartet. „Das
Stück von Otto Ludwig war zwei Tage vorher ohne allen Erfolg gegeben
worden. Anna blickte mich an, ich sie, und nicht sehr ermutigt sahen wir den
Vorhang sich heben. Aber es kam ganz anders, denn von Akt zu Akt stieg
der Beifall, der zum Schluß eine solche Höhe erreichte, daß er alles mit fort¬
riß." Unmittelbar nachher erfreuten sich Putlitz und die Seinigen der gleichen
Erfolge in Wien und Berlin. „Diese drei ersten Testamentsanfführungen ge¬
hörten mit zu den schönsten Erinnerungen in Gustavs Leben und sind unvergessen
geblieben, so viele andre Erfolge auch später an ihn herantraten."
Wer hätte dem liebenswürdigen, das Beste erstrebenden, sein Bestes
gebenden Dichter solche Erfolge und Erinnerungen mißgönnen mögen? Doch
was wollen sie bedeuten, sobald man den Maßstab des eigentlichen bleibenden
poetischen Wertes anlegt? Frau von Putlitz rühmt den rauschenden Erfolg
gegenüber Ludwigs „Mattabäern." Aber die „Makkabäer" werden dieses und
das nächste Jahrhundert überdauern, weil ihre mächtigen Gestalten so von
innen heraus und mit dem poetischen Tiefblick in das Wesen der Welt ge¬
schaffen sind, wie Putlitz eben nicht zu schaffen vermochte. Er verharrte denn
"und zunächst auf dem Wege, den er mit dem historischen Schauspiel betreten
hatte, schrieb einen ..Waldemar." einen „Don Juan d'Austria," Stücke, die
ihm kaum mehr als jene Achtungserfolge brachten, wie sie Dramen höhern
Stils gegenüber üblich sind, dann hatte er mit dem Schauspiel „Wilhelm von
Dranien in Whitehall" wieder Glück. Es war die Zeit, wo sich Maeanlays
englische Geschichte in aller Händen befand, und der große Orcmier von allen
liberal Gestimmten als einer der wohlthätigsten Heroen verehrt wurde. Putlitz
selbst scheint freilich damals mehr Freude an seinen in der That vortrefflichen
"Vrandenbnrgischen Geschichten" (unter denen die ..Vernaner Bierflasche" ein
kleines Meisterstück ist) erlebt zu haben, als an seinem Drama. Er schrieb
(2. Juni 1860) an Gisbert von Vincke: „Das schlimme bei dramatischen Ar¬
beiten ist, daß, wenn wir fertig sind, der letzte Stein, die Aufführung, von
andern gelegt werden muß. Wir gehen dann immer um das unfertige Haus
herum, und das giebt eine Spannung, die uns beim Neubau höchstens bis zu
den Fundamenten gelangen läßt. Schließlich poltert das alte Haus um und
schlägt das neu begonnene mit in Trümmer. O wer es lassen könnte, für die
Bühnen zu schreiben!" Und wenig später gestand er sich und andern, daß
trotz der Bühnenerfolge seinem „Wilhelm von Oranien" der erwärmende Herz¬
schlag fehle, daß er „im Stoff brauchbar, technisch richtig gezimmert, aber
schwung- und gemütlos, was man im gewöhnlichen Leben ledern nennt" er¬
scheine. Hier ist einmal etwas von der erbarmungslosen Selbstkritik, mit
der der echte Künstler sich selbst überwinden muß, ehe er die Welt über¬
windet.
Leider war es Putlitz nicht vergönnt, in stillem Schaffen die Erkenntnis
ausreifen zu lassen, daß er „zu den Müttern hinabsteigen" müsse. Die Folgen
seiner äußern Lebensstellung machten sich geltend. Er mußte sich als Guts¬
besitzer zum Abgeordneten des preußischen Landtags wählen lassen, er wurde
dem Königshofe durch die Ernennung zum Kammerherrn nahe gerückt und in
die Fesseln jener eigentümlichen glanzvollen Unfreiheit geschlagen, die keinem,
der diesen Lebenskreisen nahe tritt, erspart bleibt. Da er sich einmal die volle
Unabhängigkeit des amtlosen Landedelmannes nicht bewahren konnte, durfte es
der Dichter zunächst als ein besondres Glück ansehen, daß ihm 1863 der Groß-
herzog von Mecklenburg-Schwerin die Intendanz seines Hoftheaters an Flotvws
Stelle antrug. Die Aufgabe raubte ihm ja auch einen guten Teil seiner Frei¬
heit und seiner Muße, aber sie stand wenigstens in besserm Zusammenhang
mit seinen eigentlichen Lebensinteressen, als der Kammerherrndienst. Prächtig
ist die Stelle der Biographie, die erzählt, wie Putlitzens Söhne den Entschluß
ihres Vaters aufnahmen. „Im ganzen reizte das Neue ihre jugendliche Phan¬
tasie, aber befriedigt waren sie doch erst, als Gustav ihnen erklärte, daß sie
Preußen bleiben würden, denn der Partikularismus steckte tief in den Herzen
dieser echten Söhne der Mark."
Seine Aufgabe faßte der neue Bühnenleiter mit angebornem Geschick und
dem frischen Anteil an dem ewig wechselnden Leben und Treiben der Bühne
an, der für eine solche Stellung schlechthin unentbehrlich ist. Mit der Über¬
nahme der Schweriner Intendanz, deren Leiden und Freuden Putlitz schon
selbst in seinen „Theatererinnerungen" geschildert hat, wird die biographische
Darstellung der Frau von Putlitz ausführlicher und breiter, die Zahl der
interessanten Menschen, zu denen der Bühnenleiter in ein näheres oder ferneres
Verhältnis trat, mehrt sich bestündig, und für neuere Litteratur- und Theater¬
geschichte werdeu sowohl die persönlichen Aufzeichnungen der Frau von Putlitz,
als die der Biographie einverleibten Briefe an und von Putlitz eine schätzbare
Fundgrube bleiben.
Nach einer Reihe von Jahren (1867) zog es Putlitz vor, die Schweriner
Theaterleitung aufzugeben und sich dem wohlgemeinten Drängen des Kron¬
prinzen Friedrich Wilhelm von Preußen zu fügen, der den Dichter zum Hof¬
marschall wünschte. Die Stellung forderte eine dauernde Übersiedlung nach
Berlin. Frau von Putlitz sagt: „Beide Herrschaften (der Prinz und seine
Gemahlin, die Kronprinzessin Viktoria) sprachen sich sehr beglückt aus über
Gustavs Eintreten in ihren Dienst, und ich hatte wenigstens die befriedigende
Empfindung, daß das vollste Vertrauen der Herrschaften Gustav seine Stellung
erleichtern würde, denn ich kann es nicht leugnen, daß ich mich sehr schwer
in die neuen Verhältnisse hineindachte und das häufige Getrenntsein schmerz¬
lich empfand."
Es fragte sich, ob der Dichter gewinnen würde, was der Mensch in diesen
neuen Verhältnissen unzweifelhaft verlor. An einer reichen Fülle äußerer Ein¬
drücke und Erlebnisse konnte es ihm nicht fehlen. Reisen, Feste, Begegnungen
aller Art drängten sich in ununterbrochner Folge, seine einflußreiche Stellung
gab ihm in dem großen Jahre 1870 Gelegenheit, im größten Stil in patrio¬
tischer Hilfs- und Liebesthätigkeit zu wirken. Die Biographie spiegelt Be¬
wegung. Wechsel und Drang dieses Lebens sehr anschaulich wieder. Ob eS
den Dichter bereicherte, ihm tiefere Offenbarungen aus Weltlauf und Menschen¬
geschick gewährte, ob es ihn auch nur in dem Sinne beglückte, daß er sich
Poetisch dadurch angeregt fühlte, wird nicht recht ersichtlich. Über seinen Briefen
aus dieser Zeit liegt oft ein Hauch der Verstimmung, der Müdigkeit. That¬
sache ist, daß ihn all diese Pflichten und Genüsse nicht an litterarischer Ar¬
beit hinderten. Er schrieb den Roman „Die Nachtigall" und einige neue kleine
Stücke, immer wieder stellte sich heraus, daß auch von ihm das alte Komö¬
diantenwort galt: „Wer auf den Brettern ein paar Schuhe zerrissen hat, der
kann nicht wieder davon los." Im Frühjahr 1873 kam der Großherzog
Friedrich von Baden nach Berlin, ließ Putlitz rufen und trug ihm die Lei¬
tung seines Hoftheaters an. das vorher unter Eduard Devrients Leitung ge¬
standen hatte. Obwohl Putlitz im ersten Augenblick die weite Entfernung von
seinen Gütern als ein unüberwindliches Hindernis betrachtete, begann er sich
doch bald mit dem Gedanken zu befreunden, Frau Elisabeth von Putlitz aber
schrieb an die getreue Freundin Marianne in Hamburg: „Du siehst, wie die
Entschließungen der nächsten Zeit wahrscheinlich unsre ganzen Verhältnisse um¬
wandeln werden. Wenn ich alles ganz objektiv betrachte, kann ich nnr Gott
danken, daß Gustav in eine Thätigkeit kommt, die ihm lieb ist, der er ge¬
wachsen ist. und die neben mancherlei Schwierigkeiten doch reichen Ersatz im
Schaffen selbst gewährt. Dem muß sich alles andre unterordnen." Diese
Briefstelle wirst rückwärts ein Licht auf die Berliner Jahre des Dichters.
Im August 187Z übernahm Putlitz die letzte große äußere Aufgabe seines
Lebens. Von da an bis zum Frühling 188ö hat er an der Spitze des Karls¬
ruher Hoftheaters gestanden. Gesundheitsrücksichten und der Umstand, daß mit
dem Tode seines Vetters Hermann zu Putlitz das Seniorat seiner Familie,
die Würde des Erbmarschalls der Kurmark und der Sitz im preußischen Herren¬
hause auf ihn übergingen, drängten ihn am Ende dieser Periode, um seine
Entlassung zu bitten, die der Großherzog nur ungern gewährte. Doch schon
fünf Jahre früher (im Sommer 1883) hatte ihn durch den freiwilligen Tod
seines hochbegabten Sohnes Stephan, der eben die Professur der National¬
ökonomie an der Universität Halle antreten sollte, in der tiefen Tragik dieser
Katastrophe und der sie begleitenden und ihr folgenden Umstände, ein Schlag
getroffen, den er zwar zu überwinden suchte, aber nicht zu überwinden ver¬
mochte, sodciß seine Biographin mit Recht sagt: „Er war seitdem doch ein ge-
brochner Mann."
Die Einzelheiten seiner zweiten Bühnenleitung, die die Biographie vor¬
führt, gehören der Theatergeschichte an; zum Reformator des Theaters fühlte
Putlitz keinen Beruf, aber seine Persönlichkeit und seine Kunstanschauung schlössen
ein Herabgleiten des ihm anvertrauten Kunstinstituts zur bloßen industriellen
Unternehmung von vornherein aus.
Wichtiger als die einzelnen Akte und Erfolge seiner Jntendantenthätigkeit
sind für uns die Zeugnisse neu angeregter Lust des Schaffens, als deren be¬
bedeutendste die beiden bürgerlichen Schauspiele „Rolf Bernb" und „Die
Idealisten" gelten müssen. Beide, namentlich das erstgenannte, beweisen, daß
Putlitz allmählich begriffen hatte, was der deutschen Bühne und der dramatischen
Litteratur vor allem not thue: ein Gesellschnftsdrama aus der Mitte unsrer
Zustände heraus. Dies hatte ihm ohne Zweifel schon früher vorgeschwebt,
aber es war bei seinem Streben nach leichter und überraschender Bühnen¬
wirkung nie entscheidend zur Geltung gekommen. Nun, in Schauspielen mit
ernsten Konflikten, bewährte Putlitz nicht nur hellen Blick und warmes Herz
für die deutsch-bürgerliche Welt, aus der er im wesentlichen schöpfte, sondern
auch erhöhte Kraft der Gestaltung und gesteigertes technisches Geschick für
Anlage und Führung einer Handlung. Die beiden Schauspiele hatten die
glänzendsten Theatererfolge; „Rolf Bernb" hinterläßt auch bei der einfachen
Lesung den Eindruck eines wohlgegliederten, durch Handlung, Charakteristik und
Sprache gleichmäßig befriedigenden Werkes. Ja man könnte hoffen, daß dieses
Schauspiel in Verbindung mit einigen spätern Erzählungen Putlitzens (unter
denen „Das Frölenhaus" durch eigenartiges Kolorit und anmutigen Ton des
Vortrcigs ausgezeichnet ist) den Namen und die Geltung des Dichters auf
künftige Tage bringen würde, wenn nicht eine Betrachtung Zweifel erweckte.
Auch in dieser glücklichsten seiner Erfindungen scheute er davor zurück, die
Menschendarstellung bis zu dem Grade zu verschärfen und zu vertiefen, den
Ausdruck zu der Beseelung, Knappheit und Kraft zu erhöhen, die unvergänglich
sind und sich unvergeßlich einprägen. Immer wieder stand ihm infolge seiner
Erziehung, seiner gesellschaftlichen Atmosphäre und seiner künstlerischen Gewohn¬
heit der äußere Schein der Dinge über ihrem innersten Wesen, die Bühne über
dem Leben. „Rolf Bernb" ist ein mit sicherer Hand gebautes Schauspiel
und läßt an theatralischer Wirksamkeit viele bedeutendere Dichtungen hinter sich.
Aber nach einem unerschütterlichen Gesetz steht die Sache doch so. daß der
Theatererfolg des Tages, des Jahres, des Jahrzehnts beinahe ausschließlich
dieser Art von geschickten, technisch tadellosen Werken gehört. Doch eben dieser
Erfolg verbürgt keine Dauer. Die Dramen, die, in langen Zwischenrünmen
wiederkehrend, erst nach wechselndem Glück und Mißgeschick nur schwer die
Bretter gewinnen, die um der Größe und Eigentümlichkeit ihrer Welt- und
Menschendarstellung, um der innern Gewalt ihrer Gestalten, um des unver¬
gänglichen Hauchs echten Lebens willen, trotz starker theatralischer Mängel, nach
Menschenaltern wieder ergreifen und fesseln, die nicht der Bühne angepaßt sind,
sondern denen sich die Bühne bis auf einen gewissen Punkt anpassen muß
und, sobald die Zeit gekommen ist, auch anpaßt — sind mit wenigen Aus¬
nahmen auch die, die den eisernen Bestand der bleibenden dramatischen Lit¬
teratur bilden. Selbst in seiner letzten, reifsten Periode gelangte Putlitz uicht
dahin, das von ihm poetisch zu verkörpernde Stück Leben für großer, wichtiger
und wirksamer zu halten, als die szenische Überlieferung, die unbedingte Über¬
einstimmung mit wirklichen und vermeinten Bedürfnissen der Bretter.
Der Dichter überlebte das letzte Scheiden aus seiner theatralischen Thätig¬
keit kaum ein Jahr, er starb am 5. September 1890 auf seinem Stammgutc Retzin.
Die Biographie, die sein Leben und Schaffen so ausführlich schildert, rückt in
schlichter Wärme vor allem das Bild des vorzüglichen und liebenswürdigen
Menschen, des geistig Strebenden, der in freiwillig übernommner Pflicht rastlos
thätig war, dem Leser nahe. Sie wird aber auch der Anlaß sein, daß die
Persönlichkeit des Dichters treuer und deutlicher in der Erinnerung lebt, als
es die Theaterzettel, auf denen der Name Gustav zu Putlitz ja noch lange
wiederkehren wird, bewirken könnten.
s war um 6. August 1894, früh nach 7 Uhr, als ich an der See¬
burgbrücke in Kiel ein Boot nahm, um mich nach der „Branden¬
burg" hinüber rudern zu lassen. Es handelte sich nicht um einen
kurzen Besuch des mächtigen Schlachtschiffs, sondern um eine längere
Fahrt in See zur Erprobung der Maschinen, zu der mich ein
jüngerer, mir seit Jahren befreundeter Offizier mit freundlicher Er¬
laubnis des Kommandanten eingeladen hatte. Der Himmel war in seinem untern
Teile bewölkt, ein feiner weißer Dunst lag über der glatten, graublauen Wasser¬
fläche der Kieler Fvhrde und verhüllte wie mit einem dünnen Schleier die er¬
wachende, lärmende Stadt mit dem Mastenwalde ihres Handelshafens, das hohe
alte Schloß, die grünen Laubmassen der herrlichen Düsternbrooker Allee mit den
Anhöhen dahinter und den reizenden Villen in ihren Gärten, dem mächtigen, rot¬
gelben Bau der kaiserlichen Marineakademie, gegenüber die Häuser von Ellerbeck,
die langen Werkstättengebäude und die Masten und Schlote der kaiserlichen Werft.
Nur wenige Kriegsschiffe lagen auf dem „Strom," in der Mittellinie der Fvhrde:
ganz hinten nach dem Handelshafen zu die „Kaiserin Augusta," in Reparatur
begriffen und also nicht im Dienst, dann der neue Kreuzer „Gefion," ein mäch¬
tiges Schiff mit drei Schornsteinen und zwei Gefechtsmasten, der alten schlanken
Namensschwester Eckernförder Angedenkens möglichst unähnlich, endlich der kleine
„Hildebrand," ein Panzer vierter Klasse von gedrungnem Bau mit einem Mast.
Dazwischen streckte sich der riesige, lange Rumpf der „Brandenburg," einförmig
graublau gestrichen vom Topp bis zum Wasserspiegel, ohne irgend welches
blinkende Metallstück, denu auch die Geschütze trugen dieselbe Farbe, sodaß in
der That ein modernes deutsches Kriegsschiff auf See nur ganz verschwommne
Umrisse zeigt und bei einigermaßen nebligem, „tiesigen" Wetter von Wasser und
Himmel kaum zu unterscheiden ist. Nur vorn, an dem scharfen, weit ausladenden
Rammbng glänzte der rote brandenburgische Adler in vergoldeten Verzierungen,
und am Heat kochte die Nationalflagge vom Stock. Wie anders nahm sich früher
ein großes Kriegsschiff ans, in seinen schlanken, eleganten Linien, mit seinen
langen Reihen von Stückpforten und Weißen Bnttcriestreifen, aus denen die blanken
Geschütze hervorsnhen, mit dem vergoldeten Schnitzwerk am Heat, der weißen
Gallionfigur am Bug, der ragenden, hohen und breiten Takelage! Auf See ver¬
mochte noch vor zehn Jahren in größerer Entfernung nur ein geübtes Auge ein
Kriegsschiff von einem größern Handelsdampfer zu unterscheiden, vor allem an der
Stellung der Masten und der Breite der Racien; hente erkennt auch die unschul¬
digste Landratte ein Panzerschiff, wenn sie nur einmal eines gesehen hat, ans
der Stelle, denn alle Ähnlichkeit ist verschwunden. Unter Ausbauten aller Art,
Kajüten, Kommandohaus, Kommandobrücke, Panzertürmen und großen, an den
Seiten aufgehängten Booten (auf der „Brandenburg" zwölf), verschwindet beinahe
das Deck, das nicht mehr die schöne, glatte, freie Fläche bildet wie ehedem; aus
dem ganzen, schwer übersichtlichen Gewirr ragen ein paar Gruppen hoher Venti¬
lationsröhren, zwei oder drei kolossale, turmartige Schornsteine und ein paar, vom
Wasserspiegel aus gerechnet, etwa 20 Meter hohe, 1 Meter starke, hohle, von
Warten aus Drahtseilen gehaltne Masten auf, die unter der letzten Stenge für
den Flaggenstock den gepanzerten Gefechtsmars, ein rundes, korbartiges Eisengefäß
mit Maschinengewehren und Schnellfeuergeschützen lind unter diesem eine raaen-
artige Querstange, für die Signalgebuug (Signalraa), vorn aber je einen großen
elektrischen Scheinwerfer tragen. Von Takelage ist keine Spur mehr zu sehen,
die bewegende Kraft des Eisenkolosses bilden lediglich seine Maschinen.
So lag an jenem Morgen auch die „Brandenburg" vor mir. Erst allmäh¬
lich kamen mir die gewaltigen Maße zum Bewußtsein: 110,5 Meter Länge,
19,5 Meter größte Breite (ungefähr die Länge eines Wohnhauses von 7 bis
8 Fenstern Front) zwischen den nach unten etwas ausgebauchten Seitenwänden;
fast 7 Meter, etwa zwei Etagenhöhen, ragte das hohe Vorderschiff ans dem Wasser,
während das Achterschiff beinahe um die Hälfte niedriger (3,5 Meter über dem
Wasserspiegel) liegt, und 7,5 Meter tief taucht das ausgerüstete, armirte und be¬
mannte Fahrzeug. Eine endlose Reihe von runden Fenstern (Ochsenaugen, bull
e^L, im Mntrosendeutsch Bullaugen), die von fern wie kleine Öffnungen aussehen und
doch einem Menschen zur Not gestatten, sich durchzuzwängen, zieht sich rings um
den Rumpf, wie bei großen Passagierdampfern, im Vorderschiff in doppelter Reihe
über einander, achterm die „Kammern" der Offiziere, vorn die Mannschaftsräume
bezeichnend, und an den Seiten hängen die langen stählernen Spieren herab,
die das Torpedoschutznetz ausspreizen können. Von dem mächtigen Pauzergürtel aus
Nickclstahl (40 Centimeter stark, vorn 30 Centimeter) sah man gar nichts, von
der furchtbaren Artillerie- und Torpedoausrüstung nnr wenig: einige Paar riesiger
Geschützrohre, die ans kuppelartiger Bedachungen herausstarrten, eine Reihe kleinerer
Geschütze etwa mittschiffs in der Gegend der Schornsteine und die Öffnungen
der Laneierrohre für die Torpedos (im ganzen sechs). Inzwischen war mein
Boot hinangekommen und legte am Fallreep (Treppe) der Backbordseite an, ziem¬
lich weit achterm. Da ich erwartet wurde, machte der obensteheude Fallreeps¬
gefreite keine Schwierigkeiten, und mit wenigen Schritten war ich an Deck, ange¬
sichts des mittlern Panzerdrehturms hinter den Schornsteinen und vor der Offiziers¬
messe mit der Kommandantenwohnnng und zwei Offizierswohnungen, die in einem
achteckigen, auf Deck stehenden kastenartigen, natürlich grau gestrichen, durch „Bulleys"
und „Skylights" (Oberlichtfenster) erhellten Aufbau bereinigt sind. Ein Gang trennt
beide Teile. Beim Eintreten erstaunte ich über den verhältnismäßig großen, wenn
auch etwas niedrigen Runen der hellgemalten Messe, in der ganz bequem einige
Dutzend Personen speisen können und die dienstfreien Offiziere sich gewöhnlich tags¬
über aufhalten. Ein paar Tische und eine Anzahl Stühle, drei Sofas, ein Büffet¬
schrank mit Gläsern, zwei große Wandspiegel und ein Zeitungsgestell bildeten die
Ausstattung des einfach-behaglichen saalartigen Gerlachs; an den Wänden hingen
die Bilder von Kaiser Wilhelm I. und II., Bismarck, Moltke u. a. in.. an der
einen Querwand ein großer Stich in Eichenrahmen, die brandenburgische Flotte
unter dem Großen Kurfürsten darstellend, ein Geschenk des Kaisers (nach dem
Gemälde in seinem Arbeitszimmer).
Vom ersten Augenblick an war ich gewissermaßen in die Hausgenossenschaft
aufgenommen, und die Offiziere — außer dem Kommandanten waren neun an
Bord, nicht ganz die volle Zahl, dazu zwei Ärzte und vier Ingenieure mit
Osfiziersrcmg — behandelten mich mit einer Art von höflicher Vertraulichkeit,
der Kommandant nicht ausgeschlossen, sodaß ich mich vollkommen frei bewegen
und überall hingehen konnte, bis auf die Kommandobrücke und ius Kartenhaus.
Trotzdem und trotz kundigster Führung war es nicht so leicht, sich in diesem
verwickelten Bauwerk auch nur des Oberschiffs zurecht zu finde». Ganz frei lag
nur das geräumige Achterdeck mit dem hintern Panzerdrehtum hinter dem Gro߬
mast, das, wie das ganze Deck überhaupt, nicht mehr von einer mehr als
mannshohen starken Bordwand (Reeling), sondern nur mit einem luftigen brust¬
hohen Eisengeläuder umgeben ist. Steile Eisentreppen führen auf das flache
Dach der Messe (achteres Aufbaudeck), eine eiserne Lnufbrncke von diesem über
den mittlern Panzcrturm hinweg nach dem ebenso hohen Vordeck (vorderes Auf-
bnudeck), das mittschiffs zur Seite der Schornsteine die Panzerbatterie zu sechs
Geschützen birgt und an mehreren Stellen noch Geschütze hinter Panzerschilder trägt,
während in zwei vorspringenden Allsbauten vor dem Fockmast Geschütze stehen,
die nach vorn und seitwärts feuern können. Oben auf dem Vordeck liegt endlich
der dritte Panzerturm, den äußersten Teil des Vordecks vor sich, auf dem die kolossalen
Anker an ihren Ketten ruhen, die nur mit Dampfkraft niedergelassen und aufge¬
nommen werden können, und hinter jenem Turm, zwischen ihm und dem Fock¬
mast, erhebt sich auf der umfänglichen Kommandobrücke das aus Panzerplatten ge¬
wissermaßen ausgemauerte und mit einem etwas übergreifenden Panzerdach gedeckte
Kommandohaus, das nur in Augenhöhe schmale Glasscheiben enthält. Das ist
der Platz des Kommandanten im Gefecht; hier laufen, wie im Gehirn des Men¬
schen die Nervenstränge, die zahllosen Telegraphenleitungen und Sprachrohre zu¬
sammen, die ihm gestatten, nach allen Teilen des gewaltigen Schiffskörpers seine
Befehle zu geben, denn im Kampfe hat nur er den freien Blick über das Schiff
und das Schlachtfeld, eine ungeheure Aufgabe, die ein ungewöhnliches Maß von
ruhiger Selbstbeherrschung und sichern, klaren Blick voraussetzt. Die Offiziere
und Mannschaften verschwinden dann in den gepanzerten Räumen, auch die Leute
sür das Ruder stehen an dem in diesem Falle gebrauchten ausfallend kleinen
Steuerrad im Kommandohanse. Gewöhnlich wird aber das Schiff von dem Panzer¬
deck des Kommandohauses aus gesteuert. Hinter diesem erhebt sich noch das
Kartenhaus.
Während dieser kleinen Inspektionsreise war die Mannschaft beschäftigt, das
Deck (aus Teakholz) „aufzuklären," zu reinigen, und leichte, dünne braune Rauch¬
schleier, die den Schornsteinen entstiegen, zeigten an, daß sich die Maschinen in leb¬
haftere Thätigkeit setzten. Kaum bemerkbar hatte das Schiff bereits von der roten
Boie, die selbst auf dem Grunde fest verankert ist und den Schiffen das zeitraubende
Aufbringen des eignen Ankers erspart, losgeworsen und begann sich langsam mit
Hilfe seiner Zwillingsschrnuben um seine Achse zu drehen, ohne seinen Platz zu
verändern, so leicht und dem Drucke der Hand so gehorsam, als ob es sich um
eine Nußschale handelte. Denn es galt, vor der Abfahrt die auf diesen Eisenschiffen
sehr starke und bei jedem ganz verschiedene Deviation der Magnetnadel festzustellen.
Inzwischen war noch ein Boot an Land gefahren, das ans das Signal „Jolle
zurück" wiederkehrte, und die Schiffsprllfuugskommisfion, ein Kapitän zur See und
mehrere Ingenieure, waren an Bord gekommen.
Kurz darnach, um ^9, begann das Schiff zu laufen, fast unmerklich. Die mir
wohlbekannten Gestade der Föhrde glitten vorüber, rechts die freundlichen Ort¬
schaften und die Batterien bei Möltenort, links das liebliche Düsternbrook und das
hohe Bellevue mit dem Torpedoschulschiff „Blücher" und den beiden hohen schwarzen
Rümpfen der „Hansa" und des „Prinzen Adalbert," die jetzt als Matrosenkasernen
dienen, unten am Strande, dann die noch leeren, riesigen Schleichen des Nordost¬
seekanals bei Holtenau, endlich die langgestreckten, hohen Fronten der Kasernen bei
Friedrichsort und die grünen Wälle der starken Forts, die den Eingang der Föhrde
decken. Als wir um 9 Uhr, also nur nach einviertelstündiger Fahrt, den weiß-roten
Leuchtturm vou Friedrichsort passirten, kam uus ein einlaufender Dampfer entgegen,
der zufällig eine Musikkapelle an Bord hatte; sie begrüßte uus unter dem unwillkür¬
lichen Eindrucke des stolzen Schlachtschiffs mit „Deutschland, Deutschland über alles."
Eine Viertelstunde später ließen wir den weiß-rot-weißen Leuchtturm von Bull hinter
uns, um^/z10 das Feuerschiff „Stoiker Grund"; mit 14 Knoten (Seemeilen zu 1,8 Kilo¬
meter) Geschwindigkeit in der Stunde (also 25,2 Kilometer) ging die „Branden¬
burg" in die offne See hinaus. Die hohe, zum Teil bewaldete Küste wurde zu
einem undeutlichen graublauen Streifen und begaun zu versinken, ein blauer Himmel
strahlte über dem leicht bewegten Meere, doch bald tauchte rechts die ziemlich hohe
Küste von Fehmarn auf, mit dem Kirchturme von Burg, einer weithin sichtbaren
Landmarke für den Seefahrer. Währenddem nahm der „Dienst" seinen ruhigen
Gang, als ob das Schiff im Hafen gelegen hätte. Geschütze und Handwaffen
wurden geputzt, der Kommandant versammelte den größten Teil der Mannschaft,
dem Anschein nach mehrere Hundert, auf dem geräumigen Achterdeck zu einer An¬
sprache, dann traten die Divisionen zur Musterung an, wobei es merkwürdig ruhig
und fast ohne lautes Kommando zuging, zwischen durch gingen Signale zur Übung
der Leute und des Signcilkadetteu in die Höhe, die teils international vereinbarte
und daher allgemein bekannte, teils besondre der eignen Kriegsmarine sind und
deshalb streng geheim gehalten werden. Ein Segelexerzieren, früher die wichtigste
Übung, ist auf diesen Schiffen natürlich unmöglich, zum Leidwesen manches Offi¬
ziers? die Matrosen sind jetzt wesentlich Artilleristen und werden daher jetzt zum
Teil aus Laudersatz ergänzt (scherzhaft „Zuckerbäcker"). Der wachthabende Offizier,
von einem Seekadetten unterstützt, in Waffenrock, Schärpe, Säbel und Mütze „ging"
seine Wache, jedesmal vier Stunden, ein andrer gab mit dem ersten Steuermann
(der selbst nicht steuert) mit Hilfe der Seekarte und des Kompasses bei jeder
Wendung den Kurs an und trug ihn auf der Karte durch eine gerade Linie ein,
und der riesige Bau gehorchte dem leichten Drucke der Hand am Rade so willig,
wie ein gutgeschultes Roß dem Zügel; uur bei stärkerer Drehung neigte er sich
leise auf die Seite, um sich sofort wieder aufzurichten. Ein breiter, schneeweißer
Streifen im Meere, das Kielwasser, bezeichnete bis an den Horizont die zurück¬
gelegte Bahn, rauschend und klatschend schlugen die aufgerührten Wellen an die
Wandungen und spritzten durch die Bulleys der Osfizierskammern unter Deck,
obwohl diese doch etwa 3 Meter über dem Wasserspiegel liegen, und vorn am
scharfen Rammbug, der die Fluten wie ein Messer durchschnitt, rauschten die
grünlichweißen Schaumwogen der „Bugwelle" beinahe bis zum Gallionbilde des
roten Adlers herauf. Deun der Eisenkoloß lief jetzt mit 16 bis 17 Knoten Fahrt
(30 Kilometer in der Stunde) und 8000 Pferdckräften aus seinen 12 Kesseln, also
beinahe mit Volldampf (der bei künstlichem Gebläse bis auf 10 000 Pferdekrttfte
gesteigert werden kann), und verbrauchte dabei, eine Pferdekraft und eine Stunde
zu 0,85 Kilogramm Kohlen gerechnet, in jeder Stunde 6800 Kilogramm west¬
fälischer Kohle, wie sie jetzt in unsrer Marine fast ausschließlich verwendet wird. Und
doch quollen nur dünne, braune Rauchwolken aus den Schornsteinen, und der
Gang des Schiffes war so ruhig, daß man unter Deck kaum an dem dumpfen
Rollen der ungeheuern Schraubenwellen etwas von der Bewegung bemerkte, weiter
Vorn aber auch das nicht wahrnahm. Eine Empfindung von der Schnelligkeit der
Fahrt gewann man, da ja ans offner See jeder Maßstab fehlt, nur dann, wenn
man etwa 'auf dem Austritt des aufgenommnen Fallreeps ganz frei über dem
Wasser stand und die Wellen längs der Seiten vorüberschießen sah.
Wir befanden uns bereits zwischen der mecklenburgischen Küste und der dänischen
Insel Laaland, ohne übrigens etwas von beiden zu sehe», als um 12 Uhr das
Zeichen zum Mittagessen sür die Mannschaften gegeben wurde. Dichtes Gewimmel
von Blaujacken erfüllte die Decks, in dein weiten Raum über dem Oberdeck
(Batterie) wurden die an der Decke hängenden Tische herabgeholt und aufgestellt,
und die Leute nahmen nach ihren Divisionen ihre Plätze ein, während das Essen
aus der Kombüse (Küche) hereingetragen wurde. Die Offiziere benachrichtigte kurz
darnach ein scharfer Trompetenstoß, sich, wie sie sagten, „klar zum Essen" zu
machen. Denn auch in dieser Beziehung besteht an Bord eine strenge Etikette,
die ein nachlässiges oder anch nur bequemes Sichgehenlassen völlig ausschließt.
Tadelloser Anzug, zur Hauptmahlzeit Waffenrock, sonst Zacket, versteht sich von
selbst, Mütze, Säbel und Fernglas sind draußen auf dem Gange vor der Messe
aufzuhängen; wer sie mit hereinbringt, zahlt eine kleine Strafe. Der Kom¬
mandant speist gewöhnlich für sich allein, die Kadetten dürfen die Messe nur
als Gäste eines Offiziers oder in dienstlichen Angelegenheiten betreten. Für
die Bestellung der Tafel sorgt der Meßvorstand, der rangälteste Seeoffizier
führt den Vorsitz, und in der That verfügte die „Brandenburg" über eine
vorzügliche Küche und ebenso vorzügliche Weine; bürgen doch auch die vortreff¬
lichen Kühlvorrichtungen, die tief unten die Vorratsränme mit einem dichten Ge¬
flecht von Wasserröhren umgeben, für die tadellose Erhaltung aller Vorräte. Der
Ton bei Tisch war selbstverständlich ebenso höflich als ungezwungen, die Unter¬
haltung lebhaft, und es war eine wahre Frende, diese frischen, gesunden, kräftigen,
energischen und doch einem dienstlichen Befehle blind gehorsamen Männer so
bei einander zu sehen. Ohne Schwärmerei und ohne jede Prütension gehen sie
doch ganz auf in ihrem Berufe, der sie mit Leib und Seele beherrscht. DaH Wohl
ihrer Flotte ist ihnen Herzenssache, ihr kräftiges Aufblühen eine nationale Angelegen¬
heit ersten Ranges, und sie wissen sehr wohl, was nationale Angelegenheiten sind
und wo und wie sie zu vertreten sind. Denn da ist keiner, der nicht ein
gut Stück Welt gesehen hätte. Von China und Japan und von den Wundern der
Magellanstraße sprachen sie wie unser einer von Rügen oder von Venedig, und der
größte Wunsch der jüngern ist, wieder einmal „hinauszugehen." Sehr zurückhaltend,
wie es Offizieren ziemt, äußerten sie sich über unsern Kaiser und den Prinzen
Heinrich, aber überall klang die warme Sympathie hindurch; Prinz Heinrich
genießt offenbar den Ruf eines vorzüglichen Seemanns. Und niemand kennt sich
besser unter einander als die Seeleute. Denn jeder trägt seine besondre schwere
Verantwortung, vom Kommandanten bis zu den Seekadetten hinunter. Ein junger
Leutnant kommandirt die Panzerbntterie, ein Kadett zwei Geschütze, ein andrer
die Dampfpiuaß, jeder natürlich mit der zugehörigen Mannschaft; auf dem wacht¬
habenden Offizier ruht die ganze Verantwortung für die Sicherheit des Schiffs
und seiner Bemannung von ovo Köpfen, und ein falsches Kommando oder ein
Irrtum in der Kursbestimmung kann das größte Unheil heraufbeschwören. Dies
Bewußtsein der Verantwortung giebt allen aber auch Ernst, Entschlossenheit,
Selbstgefühl. Und das muß für gar vieles entschädigen. Es ist doch im Grunde
ein hartes, entbehrungsreiches Leben. Auf zusammenhängende Nachtruhe hat der
Offizier nur selten Anspruch, nämlich in einem Turnus von vier Tagen nur in
einer Nacht („Freiwache"); ist ihm in der ersten Nacht die beliebte „Hundewache"
(von 12 bis 4 Uhr nachts) beschieden, so schläft er weder vorher noch nachher
ordentlich, obwohl man an Bord „schlafen lernt," und dazwischen läuft noch der ge¬
wöhnliche Dienst. Liegt das Schiff im Hafen, so giebt es ja immerhin einige
Abwechslung; aber sonst sind die Offiziere lediglich auf sich selbst angewiesen und
zum engsten Zusammenleben genötigt. Der einzige Raum des Schiffs, wo sie etwas
mehr Bequemlichkeit finden, ist die Messe, ihr Salon und ihr Speisezimmer; die
„Kammern," meist unter Deck an der Außenwand des Schiffs, sind zwar ver¬
hältnismäßig geräumig und ziemlich hoch, aber doch in ihrer Ausstattung auf das
Notwendigste beschränkt, wenn das Schiff läuft, infolge der Nähe der Maschine
meist ziemlich warm und doch im Winter wegen der Eisenwände oft empfind¬
lich kalt, jedenfalls nicht besonders einladend zu längerm Verweilen. Der Offi¬
zier ist also entweder im Dienst, also unter Hunderten von Menschen, oder mit
seinen Kameraden zusammen, allein eigentlich nur, wenn er schläft, und das auch
nur vom Leutnant zur See aufwärts; von den Unterleutnants haben mehrere eine
Kammer zusammen. Nur der Kommandant, auf einem Panzerschiffe ersten Ranges
ein Kapitän zur See mit Oberstenrang, hat eine umfänglichere, bequeme Wohnung,
die ein Offizier nur im Dienst oder wenn er eingeladen wird, betritt. Diese strenge,
scheinbar pedantische Etikette allein macht das enge Zusammenleben so vieler doch
sehr verschiedenartiger, aus allen Teilen Deutschlands stammender Männer — die
Mehrzahl sind Binnenländer —, die zudem ziemlich häufig wechseln, überhaupt
möglich. Nur wenn jeder so fest an seinem Recht und seiner Ehre hält, wie er
die des andern achtet, und nur wenn jeder jedem als Gentleman begegnet, kann
er unbefangen mit ihm Verkehren.
Während des Mittagessens und der Unterhaltung konnte man zuweilen fast
vergessen, daß der Ort das Deck eines mit Volldampf fahrenden Kriegsschiffs
war. Nur ein leises, gleichmäßiges Rauschen erinnerte daran, sonst war von
der Arbeit der riesigen Maschinen nichts zu spüren und durch die offenstehenden
Fenster nichts sichtbar, als die gerade Linie des Horizonts. Erst an der engsten
Stelle der Ostsee, zwischen der Insel Falster und der mecklenburgisch-pommerschen
Küste, fesselte manches die Aufmerksamkeit. Der Himmel war wolkenlos, ober der
Horizont „diesig"; nur undeutlich sah man das weit draußen verankerte dänische
Feuerschiff vor Gjedser Otte, dann das von Gjedserriff auf der einen, Darsser
Ort als einen verschwimmenden blaugrauen Streifen auf der andern Seite. Einige
Dampfer, eine lange Rauchwolke nach sich ziehend, darunter die schlanke Fache des
Erbgroßherzogs von Oldenburg, „Lenscchn," kreuzten unsern Kurs, dann ein präch¬
tiger Dreimaster unter vollen Segeln, der die Aufmerksamkeit auch der Offiziere
erregte. Denn dem echten Seemanne geht bei einem solchen Anblick das Herz
auf; die immer mehr oder weniger rußigen Dampfer mit ihrem Ölgeruch von der
Maschine her liebt er eigentlich nicht, und am wenigsten die Panzerschiffe. „Die
Dinger sehen doch wunderlich aus, eigentlich häßlich," sagte einer zu mir, als am
nächsten Tage die „Wörth," eines der Schwesterschiffe der „Brandenburg," aus der
Werft herausdampfte. In der vierten Nachmittagsstunde kam die prachtvolle, steil
abstürzende, weiße Kreideküste der dänischen Insel Möen in hellster Beleuchtung in
Sicht, dann wurde der Kurs auf Bornholm gesetzt. Bei der Schnelligkeit, mit
der wir liefen, mußten wir seine Granitfelsen gegen Abend vor uns haben. Da
bestimmte die Liebenswürdigkeit des ersten Offiziers den Kommandanten, den Kurs
zu ändern und auf Rügen zu steuern, um bei dem schönen Wetter den „Bade¬
gästen," d. h. den nichtsecmännischen Teilnehmern der Fahrt, ein besondres Ver-
gnügen zu machen. Gegen i/z6 Uhr kam das prachtvolle Jnselhaupt des Dorn¬
busch auf Hiddensö in Sicht, dann steil aufragend das weiße Vorgebirge von
Arkona mit dem Leuchtturm, zu dessen Füßen die Brandungslinie deutlich sichtbar war,
später das freundliche Lohne an seinem bebuschten Abhange, endlich die hohen Kreide¬
felsen von Stubbenkammer mit der grünen Stubbenitzwaldnng darüber. Wir näherten
uns der malerischen Küste bis ans wenige Kilometer, und das Schiff war von dort
aus ebenso gut zu sehen, wie wir an Bord alle Einzelheiten am Gestade, sogar
einzelne Menschen, deutlich unterscheiden konnten. Der Dienst war für diesen Tag
für die Mannschaften zu Ende, die Jnstruktionsstunde vorbei, das Deck zum
zweitenmal gründlich gewaschen. Dicht gedrängt standen die Leute an der Steuerbord¬
seite, um sich des Anblicks und der Ruhe zu erfreuen, auch die rußigen Gestalten
einiger Heizer waren aus dem Maschinenraum aufgetaucht und genossen der Abendkühle.
Gegen 7 Uhr lag Saßnitz, mit seinen Villen amphitheatralisch an der Küste aufsteigend,
vor uns. Am Hafendamm ankerte die schneeweiße Kreuzerfregatte (jetzt Kadetten¬
schulschiff) „Stein," mit der wir Signale tauschten, am Strande drängten sich die
Menschen, um das mächtige Panzerschiff, ein ungewohntes Bild, zu sehen, auch mehrere
Segelboote kreuzten draußen, und eins, dessen Insassen uns mit Hurra begrüßte»,
geriet derart in unser Kielwasser, daß es wie ein Ball auf- und abtanzte. Während
die „Brandenburg" noch weiter längs der Küste auf das Jagdschloß über der Granitz
und auf Mönkgut zulief, sank die Sonne als blutroter Ball hinter Rügen, dunkel¬
blau wurde das Land, und rötliche Lichter zitterten über die grünschillernde, leise
wogende See, bis sich alles in blaugraue Schatten hüllte und die Farben ver¬
schwanden. Angesichts des in der Ferne aufblitzenden Leuchtfeuers der Greifswalder
Ole, gegen ^8 Uhr, legte das Schiff um und ging durch die dunkelnden Wellen
nordwärts. Hätte es die Fahrt in der zuletzt eingeschlagnen Richtung fortgesetzt,
so wäre es etwa zwei Stunden später in Swinemünde gewesen, hätte also die
Strecke von Kiel bis dorthin in ungefähr elf Stunden zurückgelegt. Die Flagge
wurde niedergeholt, das scharfe Pfeifen der Bootsmannsmaate (Unteroffiziere) rief
die Mannschaften zum Aufmachen der Hängematten unter Deck, und um 9 Uhr hieß
es: „Ruhe im Schiff."
So ganz buchstäblich war das nun allerdings nicht zu verstehe». Die Herren
Seekadetten (im Range von Portepeesähnrichen des Landheeres), deren die „Branden¬
burg" neun zählte, darunter zwei Sachsen, frische, lebenslustige, junge Leute,
die schon alle im Mittelmeer und in Westindien gewesen waren, die Hoffnung der
Marine, hatten um die Ehre gebeten, einige der Offiziere und der „Badegäste"
in ihrer „Messe" abends bei sich sehen zu dürfen. Diese Kadettenmesse liegt unter
Deck ziemlich weit achterm an Backbord, in achtungsvoller Entfernung von der
Kommandantenwohnung und der Offiziersmesse, ein recht enger Raum mit sechs
„Bulleys," der vou einem großen Tisch, einer Bank und einigen Sesseln fast völlig
ausgefüllt wurde und keinerlei freie Bewegung gestattete, aber doch noch ein Pianino
enthielt. Das ist der einzige Raum, den die Kadetten für sich haben; bei Nacht
winkt ihnen wie den Matrosen nur die Hängematte uuter dem Hauptdeck. Aber
das thut der Fröhlichkeit keineswegs Eintrag. Es wurde nicht bloß gegessen und
getrunken, und zwar mit Hilfe eines der Burschen, auf dessen fortschreitende gesell¬
schaftliche Erziehung sein Herr nicht wenig stolz war, sondern auch gespielt und ge¬
sungen (beiläufig durchweg uicht Studentenlieder, denn „Kadetten sind keine Stu¬
denten," sondern meist Texte von zweifelhaftem poetischem Werte aus irgend
welchem Hafen irgend welches Weltteils) und sogar in Tischreden einiges geleistet.
Dazu rauschte draußen die See, und die frische Luft wehte durch die geöffneten
Fenster. Als ich nach 10 Uhr aus dem trotzdem sehr heißen Raum an Deck kam,
war es ein wunderbarer Eindruck. Nur die dunkeln Gestalten der Wachthabenden
tauchten hie und da auf, schweigsam, aufmerksam; auch der Kommandant blieb die
ganze Nacht an Deck wegen des beengten Fahrwassers. Ringsum breitete sich das
dunkle Meer, über dessen kurze Wellen bald da bald dort ein Lichtschimmer
aus dem elektrisch beleuchteten Schiffe zuckte, darüber funkelte der Sternen¬
himmel, und dazwischen brauste das riesige Schiff, rauschend, dampfschnaubend,
funkensprühend, und ließ einen breiten, schneeweiß schäumenden, schimmernden Streifen
bis fern an den dunkeln Horizont hinter sich. Kein Leuchtfeuer blinkte, keine rote
oder grüne Laterne verkündete ein sich nahendes Fahrzeug, einsam zog die „Branden¬
burg" ihre Bahn an Bornholm vorüber nach der Südküste Schwedens hin.
Unten schlief bereits alles, Hunderte von Männern in ihren Hängematten,
ein wunderlicher Anblick, schweigend standen die Posten, hie und da glühte ein
elektrisches Licht. Die Nacht verging ruhig, das Anschlagen der Wellen und das
gleichmäßige dumpfe Rollen der Schrauben unterbrachen die Stille kaum, sondern
steigerten sie gewissermaßen. Am nächsten Morgen gab es ein ganz andres Bild. Alles
war grau in grau gehüllt, in hoher Luft rollte der Donner, und der Regen prasselte
auf das Deck, auf dem die wachthabenden Offiziere in gelben Ölröcken umher-
wandelten, denn wir liefen soeben unter einem Gewitter durch. Zu sehen war
nichts als graue, mißfarbene See, und das alsbald beginnende Scheuern des Decks
trieb in die Offiziersmesse zum soliden Frühstück. Bereits befanden wir uns auf
der Höhe vom Gjedserrisffeuerschiff, und um 7 Uhr kam Fehmaru in Sicht. Eine
geplante Expedition in die Maschinenräume mußte unterbleiben, weil dazu eine Art
Bergmannsauzug gehört hätte; dafür wurden die übrigen Innenräume näher be¬
sichtigt, die durch senkrechte, quer- und längsschiffs laufende Schotten in eine Anzahl
wasserdicht zu schließender, für gewöhnlich durch Thüren zugänglicher Abteilungen
geschieden werden: der Raum im Achterteil, wo durch die mächtige Ruderpinne,
einen Stahlbalken von mehreren Metern Länge, wenn alle Steuerräder oben unbrauchbar
geworden sind, mit Hilfe von Dampfsteuerapparaten im Notfalle noch gesteuert wird,
das Lazarett (mit nur wenigen leichten Kranken), ganz im Vorderteile des Schiffs, und
der Torpedoraum am Bug, wo friedlich und glänzend einige dieser verderblichsten von
allen Waffen des modernen Seekriegs lagen. Zum Schutze gegen feindliche Ge¬
schosse derart führt die „Brandenburg" ein Netz aus Drahtringen von etwa 5 Centi-
Nietern Durchmesser, das für gewöhnlich in einer „Krippe" rings um das Haupt¬
deck liegt. Auch die Rieseugranaten der 28-Ceutimetergeschütze (zu 225 Kilogramm
Gewicht) in den Panzertürmen gaben ein Bild von der furchtbaren Ausrüstung
des Schiffes. Nicht ohne Grauen konnte man sich ihre Wirkung vorstellen. Auch
über die nicht betretene» Teile des Schiffes gaben genaue, in den Gängen an den
Offizierswohnungen aufgehängte Pläne der einzelnen Decks (Stockwerke) lehrreiche
Auskunft, und von der unendlich verwickelten Maschine, die ein modernes Schlacht¬
schiff vorstellt, gab es einen Begriff mehr, daß fünfundsiebzig verschiedne kleinere
Maschinen an Bord durch den Dampf des zwölften Kessels in Bewegung gesetzt
werden können.
Inzwischen näherten wir uns bei aufklarenden Wetter rasch dem Eingange
der Kieler Föhrde. Ein paar Divisionen schwarzer Torpedoboote übten draußen,
bald in Kiellinie, bald in dichtgeschlvssener Reihe fahrend und dichte schwarze Rauch.
Wolken ausstoßend. An ihnen vorüberlaufend ging die „Brandenburg" mit allmählich
sich vermindernder Geschwindigkeit in die Bucht hinein. Es wurde Befehl gegeben,
die Dampfbnrkaffe klar zu machen, das größte Boot, einen Schraubendampfer von
15 Tonnen, der ein kleines Geschütz aufnehmen kann, und es war interessant,
zu sehen, wie das geschah. Noch während der Fahrt begann sich einer der riesigen
eisernen Ladebäume um den Fockmast, der am Ende vier Ketten mit starken Haken
trug, langsam zu senken, während schon die Maschine der seitwärts am Vordeck
Steuerbord in den „Davids" hängenden Bartaffe geheizt wurde. Als das Schiff
gegen 11 Uhr an seinem alten Ankerplätze hielt und wieder an der Boie festlag,
kamen jene Ketten herunter, und die Haken wurden am Bord der Bartaffe ein¬
gehakt; dann hob der Baum das ganze Boot mit seiner Bemannung aus seiner
Lage, schwang es nach außen und senkte es auf die Wasserfläche nieder. Kaum
waren die Haken losgemacht, so setzte sich die Schraube in Bewegung, und das
Fahrzeug schoß dem Lande zu. Dann kam das Boot des Präses der Schiffs-
prüfuugskommission heran, um ihn abzuholen, das Fallreep senkte sich; darauf
trat die Wache ins Gewehr, und auch der Kommandant ging an Land. Erst
mehrere Stunden nachher verließ ich den gastlichen Kreis der Offiziere und die
„Brandenburg."
Was die Prüfung der Maschinen auf dieser sechsundzwanzigstüudigen Fahrt,
fast immer unter Volldampf, ergeben hat, habe ich damals nicht erfahren. Aber eins
war mir unvergeßlich eingeprägt. Ein Schiff derart ist wie eine Welt für sich, ein
Triumph menschlicher und vaterländischer Technik, mit all ihren Hilfsmitteln aufs
scharfsinnigste gebaut und ausgestattet, eine Zusammenfassung physischer, geistiger und
moralischer Macht, wie nichts sonst auf der Welt, ein verderbendrohendes, flammen¬
speiendes Ungeheuer für den Feind, eine starke Schutzwehr für unser Reich, wenn
eiserne Herzen hinter den eisernen Panzern schlagen.
n einem Hänschen, das etwas außerhalb der kleinen Stadt lag,
wohnten der Baron und die Baronin Ravenstein. Der Baron war
ein älterer, zierlich gewachsener Herr mit stark gefärbtem Schnur¬
bart und sehr artigen Auftreten; die Baronin mochte etwa zwanzig
Jahre jünger sein als ihr Mann und konnte oft noch etwas sehr
jugendliches in ihrem Wesen haben. Sie war gutmütig und frisch,
hatte Freude an Witzen und lustigen Geschichten, und die Leute sagten, sie sei viel
klüger als der Baron und langweile sich mit ihm. Ob diese Behauptung richtig
war, konnte aber niemand mit Sicherheit nachweisen. Jedenfalls lebte das Ehe¬
paar in vollständiger Einigkeit neben einander hin, und wenn der Baron sehr
regelmäßig dreimal täglich ins Wirtshaus, aber niemals mit seiner Frau spazieren
ging oder sich sonst mit ihr öffentlich zeigte, so kam das einfach daher, daß er keine
Zeit für sie und sie keine für ihn hatte. Das war vou jeher so gewesen. Der
Baron saß entweder in der Weinstube oder schrieb an einem Buche über Schu߬
waffen, das er schon seit Jahren in Arbeit hatte; die Baronin malte, kochte, nähte,
strickte, rauchte Cigarre», pflegte arme Leute, kurz, sie that alles, was eine Frau
thun, und was sie nicht thun soll. Denn sie machte mich häufig Schulden. Ihren
Man aber schien sie niemals nötig zu haben, weder bei ihren guten noch bei ihren
anfechtbaren Thaten, und deshalb hatten sich alle ihre Bekannten daran gewohnt,
sie ohne ihn einzuladen und ihn niemals bei ihr im Hause zu sehen. Auf der andern
Seite sprach der Stammtisch, an dem der Baron die Hälfte seines Tages verbrachte,
niemals von der Baronin. Aber es gab niemand in der kleinen Stadt, der sich
nicht längst um die beiden Menschen gewöhnt gehabt hätte. Sie waren eben nicht
eins, sondern zwei ganz getrennte Persönlichkeiten, und das erfuhren insbesondre
manchmal die Kaufleute, wenn sie sich etwa an den Baron wandten, um eine Rech¬
nung seiner Frau Gemahlin bezahlt zu bekommen. Er drehte dann sehr nachdenklich
seinen tiefschwarzen Schnurbart und räusperte sich.
Also wieder nicht bezahlt! Wenn ich meine Frau gelegentlich sehe, lieber Herr
Meier, dann will ich es ihr sagen. Ich mache mir einen Knoten ins Taschentuch,
sehen Sie?
Aber der Knoten im Taschentuch half doch nichts, er sagte ihr niemals etwas,
und die Lieferanten mußten schon die Baronin selbst aufsuchen.
Sie wurden dann sehr freundlich angenommen. Ach bitte, sehen Sie sich doch!
Wollen Sie nicht eine Cigarre? Es ist eine gute Sorte — von Ihnen selbst! Ach,
dabei fällt mir ein, ich habe sie wohl noch gar nicht bezahlt! Wie leichtsinnig! Sind
Sie mir böse?
Der Schuldner war schon lange nicht mehr böse. Er ärgerte sich nur, daß er
nicht den hundertsten Mahnbrief geschrieben hatte, anstatt sich dem Klänge dieser
frischen Stimme und dem harmlos freundlichen Blick dieser Augen auszusetzen. Die
Baronin hatte eine merkwürdig jugendliche Stimme, obgleich sie über vierzig Jahre
alt war. Nun kniete sie vor einem kleinen Schrank nieder, aus dem beim Öffnen
alles mögliche hervorquoll, und holte ganz von unten ein verstaubtes Bild hervor.
Sehen Sie, das ist eine Viehherde, die habe ich gemalt! Sie müssen es nicht
verkehrt halten, dann ist es nicht zu erkennen; aber wenn Sie es gerade vor sich
Hinhalten und das Licht hell darauf fallen lassen, werden Sie doch die Kühe darauf
fehen können! Ich werde das Bild fertig malen und es zu verkaufen suchen. Nicht
wahr, Herr Meier, so lange darf ich noch mit der Bezahlung der alten, dummen
Rechnung warten? Oder muß ich die alten Tassen dort überm Kamin verkaufen?
Sie sind das letzte Andenken von meiner Großmutter!
Nein, erwiderte Herr Meier, die Baronin mochte die Tassen nicht verkaufen. Herr
Meier kam sich Plötzlich wie ein Barbar vor; denn es fiel ihm ein, daß die Baronin
vor einigen Wochen seinen kleinen Jungen auf der Straße mit einem Loch in, Kopfe
gefunden, ihn mitgenommen, ihn gewaschen und verbunden hatte. Weil er zornig
auf Frau von Ravenstein war, hatte er sich nicht bedankt; um stotterte er seinen
Dank und murmelte dabei, daß er gern einen Strich durch die Rechnung machen
wolle, wenn nur keine neuen Schulden ausliefen.
Die Baronin lächelte, ihre kleine Gestalt richtete sich aber sehr gerade in die Höhe.°
Oh, Sie bekommen Ihr Geld schon, sagte sie mit einer Handbewegung. Es
war nämlich einer von den Widersprüchen in ihrem Eharnkter, daß sie sich nichts
schenken lassen wollte, trotz ihrer Neigung zum Schuld eumachen; und wirklich, nach
einiger Zeit bezahlte sie ihre Rechnung. Der Antiquitätenhändler in Frankfurt wußte,
wie sie es machte, und Herr Bieter ärgerte sich, daß er sie gemahnt hatte.
So war es immer mit Fran von Ravenstein. Die Leute fanden allerhand an
ihr auszusetzen, und sie hatte auch ihre unleugbaren Schwächen; aber jeder, der
mit ihr in Berührung kam, mußte ihr doch zugethan sein.
Es gab sogar Damen, die sie zu kopiren suchten, und zu diesen gehörte Frau
von Zehleneck, eine Verwandte und Jugendbekannte Ada Navensteins, die als Witwe
in der kleinen Stadt lebte und ungemein lebenslustig war. Sie brach zwar jedesmal
in Thränen aus, wenn sie am Kirchhofe vorüberging, weil er sie an ihren toten
Mann erinnerte; aber da sie diesem Manne bei seinen Lebzeiten mehreremale fort¬
gelaufen war, so wunderte sich niemand, wenn sie nach dem Weinen bald wieder
lachte. Sie stand in dem Rufe, daß sie gern eine zweite Ehe eingegangen wäre,
aber es hatte sich noch niemand gefunden, der sie hätte heiraten wollen.
Das kommt von meinen fünf Kindern, sagte sie zu Ada Ravenstein, als sie
dieser einmal ihre Vereinsamung klagte. Ich Hütte zwei Partien machen können,
aber die Kinder! Und sie sind doch alle im Kadettenkvrps oder bei Verwandten
untergebracht! Ihretwegen könnte ich schon heiraten! — Bei diesen Worten sah sie
in den Spiegel, der eine sehr wohlkonservirte dunkle Dame mit funkelnden Augen
zurückgab. — Wahrhaftig, Ada, ich kann es noch mit manchem Backfisch aufnehmen.
Ada nickte. Sie strickte gerade für den Armenverein und war friedlich ge¬
filmt; deshalb sagte sie nichts. Amelie Zehleneck freute sich dieses zustimmenden
Schweigens und sprach weiter.
Du hast es gut, Ada! Keine Kinder, einen Mann, der sich gar nicht um dich
kümmert — wirklich zu nett! Wenn ich mir denke, wie Julius manchmal mit mir
war! Nun, er ist tot, Friede seiner Asche! Er ist manchmal scheußlich gegen mich
gewesen, aber übers Grab hinaus trage ich ihm nicht das geringste nach! Weißt
du übrigens, daß Wolly Nössiug hierher zieht?
Die Baronin, die ihrer Freundin mit einem flüchtigen Lächeln zugehört hatte,
blickte auf.
Graf Nössiug zieht hierher? Ich habe kein Wort davon gehört!
Ja, sagte Amelie. Gestern ist schon ein Kaffee ihm zu Ehren gegeben worden.
Seine Frau ist seit einem Jahre tot, sein Sohn ist irgendwo auf der Schule oder
auf der Universität — er kommt hierher! Sie seufzte und blickte wieder in den
Spiegel.
Weshalb bist du denn so traurig? fragte Ada harmlos.
Aber Liebste, du weißt doch, daß Rössing und ich eigentlich verlobt waren?
Ach, es ist lange her, ich war siebzehn Jahre alt, aber ich glaube sicher, daß
er meine erste Liebe war! Die seine war ich, das hat er mir damals mehr als
einmal gesagt. Es wäre alles so gut gegangen, wenn nicht der dumme Krieg ge¬
kommen wäre, der uns die dänische Einquartierung bringen mußte. Es war ein so
niedlicher kleiner Leutnant dabei! Herr von Petersen hieß er allerdings, und ich
dachte mir gar nichts bei seinen Aufmerksamkeiten, aber Wolly muß sich plötzlich
etwas dabei gedacht haben! Er schrieb mir einen Absagebrief; ich ärgere mich noch,
wenn ich an den denke! Nun, da war die Geschichte aus, und jeder von uns hei¬
ratete einen andern!
Rössing soll sehr glücklich mit seiner Fran gelebt haben, sagte die Baronin.
Frau von Zehleneck zuckte die Achseln. So sagt man! bemerkte sie kurz.
Aber die erste Liebe bleibt doch die erste Liebe. Das mußt du doch auch wissen;
du warst ja auch mit einem Schleswig-holsteinischen Offizier so gut wie verlobt. Ich
glaube, sein Vater war Bäcker, und deine Großmutter prügelte deinen Anbeter, als
die Sache herauskam. So erzählte wenigstens mein Vater.
Die Baronin hatte ihr Strickzeug in den Schoß gleiten lassen und machte ein
spöttisches Gesicht.
Was dein Vater erzählte, war bekanntlich niemals wahr! bemerkte sie gleich-
mutig. Du wirst dich erinnern, daß, als er tot war, keiner aus seiner Familie zur
Beerdigung kommen wollte, weil jeder glaubte, er löge nur. New, Großmutter hat
den kleinen Fritz Neumann niemals geprügelt, dazu war sie denn doch zu sehr große
Dame, aber aus dem Hause komplimentirt ist er worden. sein Vater war auch
kein Bäcker, sondern ein Kaufmann, und er selbst ein halber Student. Es war eine
Kinderei! setzte sie halb lachend hinzu.
Wer er war doch deine erste Liebe! rief Frau von Zehlencck. Hast du eigent¬
lich nie wieder etwas von ihm gehört?
Frau von Ravenstein strickte schon wieder. Ich glaube, er ist nach Amerika
gegangen, antwortete sie ruhig.
Die Freundin stand auf. Also deine erste Liebe ist in die Ferne gegangen, und
die meine kommt wieder. So sind die Geschicke der Menschen verschieden.
Als sie Abschied genommen hatte, saß Frau von Ravenstein eiuen Augenblick
mit nachdenklicher Miene da und vergaß ihr Strickzeug. An den blassen schleswig-
hvlsteinischen Offizier, der auf ihrem elterlichen Gut einquartiert gewesen war, hatte
sie lange nicht gedacht. Nun stand er plötzlich vor ihr, jener lange, blonde
Mensch, der so wenig sprach und keine besonders feinen Manieren hatte, der aber
doch von allen wie ein Held angestaunt wurde. Denn er war von den Dänen ver¬
wundet worden, ein Held, ein Vaterlandsverteidiger! Ada hatte sich mit ihren siebzehn
Jahren natürlich gleich in ihn verliebt, sie hatte von ihm geträumt und hätte sich
gern von ihm entführen lassen, wenn jemals die Rede davon gewesen wäre. So
weit war es aber, Gott sei Dank, nicht gekommen. Die Baronin empfand wirklich
Dankbarkeit gegen Gott bei diesem Gedanken, aber sie wurde doch auch von einer
vorübergehenden Rührung erfaßt, wenn sie dachte, wie unglücklich sie eine Zeit lang
nach dem Abschied vou Fritz Neumann gewesen war. Ein dunkler Platz in der
großen Allee vorm Herrenhnuse stand plötzlich in ihrer Erinnerung. Dort hatte Fritz
Neumann ihr den ersten und letzten Kuß gegeben, und sie hatte lange Zeit nicht
ohne tiefe Bewegung an diesem Fleck Erde vorübergehen können.
Ja, das waren vergangne Zeiten! Die Baronin lachte etwas vor sich hin,
und als jetzt ihr Mann den Kopf in die halb geöffnete Thürspalte steckte, rief sie, er
möchte doch hereinkommen.
Herr von Ravenstein gehorchte sofort. Er war eigentlich nicht gewohnt, nach¬
mittags mit seiner Frau zu sprechen, und hatte nur aus flüchtiger Neugier in ihr
Zimmer gesehen. Aber er war viel zu höflich, um dem Wunsche seiner Gattin nicht
zu entsprechen.
Warst du in der Weinstube, Rolf? fragte sie thu jetzt.
Natürlich; da bin ich ja um diese Tageszeit immer!
War es interessant?
Der Baron sah sie etwas erstaunt an.
Ja, es war ausnahmsweise interessant, und es freut mich, daß du mich darnach
fragst. Zwei fremde Herren aus Hamburg waren da, wir kamen aufs Pistolen¬
schießen zu sprechen, und ich habe ihnen etwas vorschießen müssen. Erst im Zimmer,
dann im Garten. August, der Kellner, war allerdings erst etwas ängstlich, als ich
ihm den Thaler aus den Fingern wegschießen wollte, nachher aber besann er sich.
Sehr hübsch war es, als er mir später ganz ahnungslos das Profil seiner Gestalt
zuwendete, und ich ihm den obersten Knopf ans seiner Jacke schoß!
Ravenstein hatte sehr lebhaft gesprochen. Es war die größte Freude seines
Lebens, weit und breit für den besten Pistolenschützen zu gelten, und er übte die
Kunst so oft wie möglich aus.
Seine Frau sah ihn mit einem nachsichtigen Lächeln an. Nun, wunderten
sich auch die Herren aus Hamburg über dich?
Gewiß! Sie sagten, ich würde sofort eine Anstellung bei Nerz bekommen.
Auch die andern Bekannten lobten mich; mir der Sanitätsrat War in seiner Unken-
stimmung nud sagte, ich würde mich noch einmal totschießen. Aber er war schlechter
Laune. Denn der alte Etatsrat, der vor einiger Zeit hierhergezogen ist, und den
wir alle nicht leiden können, hat eine» Podngraanfall gehabt und unsern Doktor zu
seinem Leibarzt gemacht. Diese Ehre hat ihn riesig verstimmt, der Etatsrat ist eben
zu langweilig.
Was wollten denn die Herren ans Hamburg hier? fragte die Baronin, die
gern etwas neues hörte.
Es waren zwei Unterhändler, die das Gut Freseühageu an einen reichen Herrn
verkauft haben. An irgend jemand aus Amerika oder Australien, ich habe nicht
drauf geachtet.
Er wird vielleicht mir aus Bremen oder Lübeck sein, meinte Ada gleichgiltig.
Ihr Mann stand auf. Auch möglich, sagte er. Ich habe nicht darnach ge¬
fragt. Aber es ist irgend ein Fremder mit einem sehr gewöhnlichen Namen. Und
nun darf ich mich wohl zurückziehen, liebe Ada? Denke dir, mir sind heute alle
Kapitelüberschriften meines Buches eingefallen! Wenn ich die einmal habe, wird das
Werk bald fertig sein, ich muß mich an die Arbeit setze».
Rolf Ravenstein ging, und seine Fran legte ihr Strickzeug zur Seite und ver¬
tiefte sich in einen französischen Roman. Es war ihr so selbstverständlich, daß ihr
Mann sich mit nichts anderm als Pistolenschießen, am Stammtisch sitzen und ge¬
legentlich etwas Schreiben beschäftigte, daß sie niemals über sein thatenloses Da¬
sein nachdachte. —
Diese Unterhaltung hatte im Frühling stattgefunden. Nun hatte sich ein
warmer Sommer mit den milden, sonnenlosen Tagen eingestellt, wie sie im Norden
so häufig sind, und die Bnrvuin saß viel in ihrem Garten. Der war wenig ge¬
pflegt und bestand nur aus einigen zerzausten Blumenbeeten, aber er hatte eine sehr
geräumige grüne Laube und einen wundervollen Blick auf deu blauen Landsee und
seine sauft ansteigenden Ufer. Auch der Baron war oft im Garten. Entweder schoß er
hier nach Glaskugeln, die er in die Luft warf, oder er saß bei seiner Frau und sah ihr
bei ihren Beschäftigungen zu. Früher hatte er das nicht gethan, aber in diesem
Jahre war er so allmählich in die Gewohnheit gekommen, hin und wieder mit Ada
zusammen zu sein, und es gefiel ihm ganz gut. Obgleich er vor bald zwanzig
Jahren nicht ans Liebe, sondern auf den Wunsch seines ältern Bruders, des
Mnjoratsherrn, geheiratet hatte, war ihm doch das Zusammenleben mit seiner Frau
immer ganz bequem gewesen. Bon Liebe hatten beide niemals gesprochen. Von
solchen Dingen wisse Ada noch gnr nichts, hatte ihre Großmutter damals gesagt,
die die Heirat zu stände brachte. Ada war ein vermögensloses adliches Mädchen
und mußte sich freuen, eine standesgemäße Partie machen zu können.
Der Baron mußte in diesem Sommer manchmal an die alte hochmütige Dame
denken, vor der er immer Angst gehabt hatte. Wie gut, daß ihr Ada gar nicht
ähnlich sah! Er blickte zufrieden ' in ihr schmales, etwas farbloses Gesicht, das
sich gerade eifrig über ein Buch vou David Strauß beugte. Der Pastor hatte neu¬
lich von der Kanzel davor gewarnt; nun hatte die Baronin ein Armband verkauft,
um die verbotue Frucht kennen zu lernen. Aber sie war nicht immer auf das
Lesen versessen. Oft saß sie müßig und unterhielt sich mit Graf Waldemar Rössing,
der seit einigen Wochen seinen Wohnsitz in der kleine,: Stadt aufgeschlagen hatte
und sie oft besuchte. Er war ein mittelgroßer Herr mit kurzgeschornen, eisgrauen
Haaren und einem Nnnbvogelgcsicht, ans dem dunkle, unruhige Augen blickten.
Seine Art zu sprechen war uicht immer angenehm, da er sich über viele Menschen,
besonders über die Frauen lustig machte und gern kleine boshafte Geschichten von
ihnen erzählte. Aber er fühlte sich doch oft einsam, und da er die Baronin von
früher her kannte, so plauderte er gern mit ihr: von seinem Hanse, das er sich
ebeu gekauft hatte, von seinem Sohne, der viel Geld brauchte, vou alten Familien¬
geschichten. Er war außerdem ein guter Menschenkenner, und Adas Charakter gefiel
ihm trotz mancher Eigentümlichkeiten.
Sie sind ein merkwürdig gleichgiltiges Wesen, sagte er einmal zu ihr. Ihr
Enthusiasmus, Ihre plötzliche Nächstenliebe sind nur Ausflüsse von Stimmungen,
und im ganzen empfinden Sie wenig!
Sie sah ihn erstaunt und belustigt an.
Also ganz empfindungslos? Ich weiß doch nicht — sie wurde nachdenklich.
Aber von Stimmungen hänge ich allerdings ab und hätte in dieser Beziehung gut
ins Mittelalter gepaßt. Heute könnte ich mich im Vollgefühl meiner Sünde halbtot
geißeln, und morgen wüßte ich nicht wohin mit meiner Lebensfreude und Lebenslust!
Lebensfreude! Der Graf machte ein verdrießliches Gesicht. Das Wort macht
Zahnschmerzen!
Besuchen Sie Amelie Zehleneck! riet die Baronin. Dann werden Sie viel¬
leicht etwas besser gestimmt! Sie ist schon sehr böse auf mich, weil sie meint, daß
ich Sie vou einem Besuch bei ihr zurückhielte!
Der Graf wurde noch grämlicher.
Mit Amelie mag ich nichts zu thun haben, sagte er. Sie hat viele Ahnen
und ist vom ältesten Adel, aber sie weiß uicht, was adliche Gesinnung ist. Ich bin
zwar selbst niemals viel wert gewesen, aber bei Amelie ärgere ich mich doch.
Aber sie war doch Ihre erste Liebe, platzte Ada heraus.
Eben deswegen, sagte Rössing gelassen. Wenn man merkt, daß man in seiner
goldnen Jugend einen so niederträchtig schlechten Geschmack gehabt hat, dann ärgert
man sich. Wäre Amelie vor zwanzig Jahren gestorben, dann würde sie in meinem
Herzen mit einem kleinen Heiligenschein weiter leben. Es ist ungeschickt von ihr,
daß sie nicht tot ist, denn sie ist eine wandelnde Enttäuschung für mich. Vor etwa
zehn Jahren, als ich sie wiedersah, habe ich dies empfunden. Da trafen wir uns
auf irgend einem Hoffest. Sie war sehr geschminkt, kokettirte nach allen Seiten,
und als sie mich sah, that sie einen Schrei, der gefühlvoll klingen sollte. Nachher
sagte jemand, sie wäre beinahe ohnmächtig geworden, weil sie ihre erste Liebe wieder
gesehen hätte. Das war ich; und ich schämte mich schon damals dieser ersten Liebe!
Die Baronin hatte ihrem Besuch nachdenklich zugehört. In den Romanen
wird die erste Liebe immer gepriesen, sagte sie jetzt halb verlegen. Denn es kam
ihr so vor, als würde sie sich auch nicht freuen, ihrer ersten Liebe wieder zu be¬
gegnen.
Man darf sie ebeu niemals wiedersehen! versicherte Rössing im Weggehen,
und obgleich Ada ihn einen gefühllosen Menschen schalt, so war sie doch seiner
Meinung.
Sie ahnte nicht, daß das stille Leben der kleinen Stadt doch noch eine Über¬
raschung für sie zu Tage fördern sollte. Diese war das Plötzliche Auftauche»
Herrn Friedrich Nenmnnus, desselben Herrn, - der sie einmal im Dunkeln geküßt
hatte. Der Baron brachte ihn eines Tages nach Hanse. Er war der neue Be¬
sitzer des schönen alten Gutes Fresenhagen, der an den Stammtisch der Weinstube
gegangen war, um Bekanntschaften zu machen, und der mit dem Baron gleich
Freundschaft geschlossen hatte. Der Baron hatte sehr viel Interesse für Landwirt¬
schaft. Er war vor seiner Verheiratung schon auf zwei Höfen bankrott geworden
und konnte deswegen sehr gut Ratschläge erteilen, und Herr Neumann verstand fast
gar nichts von der Bewirtschaftung eines Gutes, und noch viel weniger von der
Behandlung seines Wildstandes. Da war es denn gut, daß er sich gleich an den
Baron wandte, der ihm mit Wonne alles sagte, was er wußte, und ihn mit sich
nach Hause nahm, um ihm ein Buch über die Jagd zu leihen.
Iran von Ravenstein war im Zimmer ihres Mannes, als dieser mit dem
Besuch eintrat. Sie war bei der Vorstellung sehr überrascht, faßte sich aber schnell
und betrachtete nicht ohne Interesse die magre, etwas vornübergebeugte Gestalt des
Jugendfreundes, den die Jahre nicht verschönt hatten. Er war noch gerade so
blaß wie damals, und seine hellen Augen blickten etwas verschwommen. Seine
Stimme aber klang gleichmäßig ruhig, und der starke englische Accent, den er
sich angewöhnt hatte, verlieh ihr etwas angenehm fremdartiges.
Neumann regte sich ebenso wenig bei dem Wiedersehen ans. Er sprach voll¬
ständig harmlos Von den alten, vergnügten Zeiten, erwähnte häufig seiue zarte
Gesundheit, die ihn nötige, auf dem Lande zu leben, und legte einigen Nachdruck
darauf, daß seine frühere Verwundung ihm noch immer zu schaffen mache. Diese letzte
Bemerkung rührte den Baron. Er war auch Schleswig-holsteinischer Freiheitskämpfer
gewesen, das lustige Soldatenleben hatte ihm gut gefallen, und an seiue Kameraden
dachte er mit großer Freundlichkeit. Neumann war also, von Achtundvierzig her,
sein Kamerad, und daß sein Kamerad vom Kriege her noch Schmerzen hatte, that
ihm sehr leid. Obgleich er sonst eigentlich niemand einlud, ihn zu besuchen, so
forderte er doch Neumann dringend dazu auf, und der neue Gutsbesitzer, der sich
in seinem alten Herrenhause und unter den vielen neuen Menschen ungemütlich
fühlte, kam nur zu gern.
(Fortsetzung folgt)
Margarine,
Zucker, Getreidehandel, das wäre so ungefähr der gegenwärtige Inhalt unsers poli¬
tischen Lebens; kaum daß die Handwerker und Krämer noch manchmal am Schluß
einer Versammlung des Bundes der Landwirte ihre Stimmchen erheben und piepen:
Wir sind auch uoch da! Den Herrn Minister Preßt jener Inhalt Angstschweiß aus.
Am 24. Februar stand der Eisenbahnministcr im Kreuzfeuer zwischen Ost und
West; die Herren vom Rhein wollten die Staffeltarife beseitigt haben, die den
Absatz von Vieh des Ostens bei ihnen erleichtern, wogegen sich natürlich die Herren
aus Ostelbien tapfer wehrten. Ganz ähnliche Gefechte werden bei den österreichisch-
nngarischen Ausgleichsverhandlunge» geliefert; die Agrarier von Eis und die In¬
dustriellen von Trans wünschen eine Zollschranke zwischen den beiden Reichshälften
zu errichten, während die Agrarier von Trans und die Industriellen von Eis für
ihre Waren freien Eingang beim Zwillingsbruder fordern. Excellenz Thielen seufzte
in jener Debatte: Wohin soll es kommen, wenn wir uns gegen das Ausland ab¬
sperren und auch noch im Irland gegen einander! Wohin es kommen soll? Es ist
ja schon dort, oder vielmehr wir sind schon da! Bekenne sich eine Negierung zum
Protektionismus, so verpflichtet sie sich, jedermann seine Konkurrenten vom Leibe
zu halten und dafür zu sorgen, daß jeder Gewerbtreibeude so wohlfeil wie möglich
einkaufen und so teuer wie möglich verkaufe» könne. Hat man das erst überall
im Lande begriffen, so prnsentirt jeder Angehörige der produktiven Stände, wie
sich heute die Unternehmer mit Vorliebe nennen, den Ministern seine Rechnung,
und die mögen nun sehen, woher sie die Mittel nehmen zur Einlösung ihrer Ver¬
bindlichkeiten. Bisher sind diese produktiven Stände immer noch von Zeit zu Zeit
in der Abrechnung mit den Regierungen gestört worden, bald durch die Forde¬
rungen der Arbeiter, bald durch Beratungen darüber, wie man diese lästigen Leute
loswerden könne durch eine Änderung der Verfassung, der Form des politischen
Lebens. Wie schön es erst werden wird, wenn dieses Ziel erreicht ist und die
„Produktiven" ganz unter sich sind, das läßt einen die steigende Erbitterung ahnen,
mit der die Nationalliberalen und die Konservativen einander bekämpfen. Zwar
sind beide Zuckerinteressenten, aber schließlich haben sich die nationalliberalen Fabri¬
kanten doch darauf besonnen, daß nicht alles Zucker ist, was sie produziren, und
sie fangen ganz ernsthaft an, ihre agrarisch gesinnten Parteigenossen abzustoßen.
Was noch ideale Ziele verfolgt, das wird sich der am 26. Februar in Frankfurt
am Main gegründeten christlich-sozialen Partei anschließen oder eine zweite neue
Partei gründen müssen. Gegen Naumann hat sich die neue Stöckerpartei zwar
„abgegrenzt," aber in den Verhandlungen traten doch zahlreiche und starke Sym¬
pathien für ihn hervor.
Die geplante Verfassungs- und Wahlrechtsänderung wird zunächst in solchen
Kleinstaaten durchgeführt, die sich bisher eines liberalem Wahlsystems erfreuten
als Preußen, In Anhalt und in Weimar ist sie fertig, im Königreich Sachsen
dem Abschluß nahe. In Weimar erinnerte der sozialdemokratische Redner an die
Zeiten Karl Augusts und Goethes, von der der neue Pharao, d. h. die Wei-
maraner der höhern Zensusklassen, nichts weiß. In Sachsen opponiren zwar außer
der sozialdemokratischen Arbeiterschaft auch angesehene Mitglieder der bürgerlichen
Klaffen gegen den Plan, und zwar nicht bloß berühmte Universitätslehrer, sondern,
was schwer ins Gewicht fällt, sogar Fabrikanten, aber nach allem, was vorgefallen
ist, würde der Rückzug eine so starke Beschämung der Landtagsmehrheit und der
Regierung bedeuten, daß diese beiden Mächte, um ihr zu entgehen, wohl fest bleiben
werden. Und ist die Sache in Sachsen fertig, dann wird man sie im Reiche in
die Hand nehmen. Dort wird der Widerstand noch bedeutend heftiger werden,
weil sich außer den Arbeitern noch andre sehr große Bevölkerungsgruppen und
Interessenkreise in ihrem Besitzstande bedroht suhlen werden, aber — die Ver¬
bündeten Regierungen haben die Macht, und so hängt die Entscheidung allein
von ihrem Willen ab. Wenn dann geschehen ist, was schon so lange gedroht hat,
wird den Sozialistenführern ihre Dummheit in ihrer ganzen Größe offenbar
werden; haben sie doch das Unheil durch pöbelhafte Beschimpfungen der ..Mords¬
patrioten" im vorigen Sommer und durch ihre« kindischen Antrag auf Erweiterung
des bestehenden sächsischen Wahlrechts mutwillig heraufbeschworen. Geplant waren
ja die Wahlrechtsäuderuugen schon vor diesen Schwabenstreichen, aber ohne sie
würde man weit länger Zeit gebraucht haben, dafür Stimmung zu machen, und
in der Politik heißt es gar oft: Zeit gewonnen, alles gewonnen. Wenn dann
der vierte Stand aus der Volksvertretung ausgesperrt sein oder nur noch eine
ganz uuliedeutende Zahl von Mandaten behalten haben wird, werden sich die
Herren Sozialdemokraten vielleicht endlich dazu verstehen, vom hohen Pferde des
unfehlbaren Marxismus herabzusteigen und als Volksfreunde, die sie doch sein
Wollen, mit andern aufrichtigen Volksfreunden Hand in Hand an der Besserung der
sozialen Zustände innerhalb der gegenwärtigen schlechten Gesellschaftsordnung — alles
Irdische ist und bleibt schlecht — zu arbeiten.
Auch an andern idealen Zielen wird es dann nicht fehlen, über die sich der
Bürgerstand mit dem Arbeiterstande leicht einigen könnte, wenn sie dann auch, uach
erfolgter Verkürzung der Volksrechte, freilich uur noch uuter weit ungünstiger»
Bedingungen verfolgt werden können. Die bürgerlichen Kreise sind zwar nicht
satisfaktionsfähig und haben nicht die Offiziersehre, aber so unempfindlich sind sie
doch nicht, daß sie es nicht als Schmach empfinden sollten, wenn sich überall, wo
zwei oder drei Bürger zu einer Unterredung versammelt sind, ein Polizist ein¬
findet, um sie zu überwachen. In Sangerhausen hielten einige Männer zur Er¬
örterung religiöser und historischer Fragen regelmäßige Zusammenkünfte im Hause
eines Geistlichen und sind dann in eine Gastwirtschaft übergesiedelt. Kürzlich haben
der Veranstalter der Zusammenkünfte und der Wirt Strafmandate bekommen; der
Wirt erhob Widerspruch, ist aber vom Schöffengericht abgewiesen worden. Wollen
die Herren ihre kleine Akademie aufrecht erhalten, so müssen sie jede Zusammen¬
kunft vierundzwanzig Stunden vorher bei der Polizei anmelden und sich einen ehe¬
maligen Unteroffizier als Aufpasser und Wortentzieher gefallen lassen; und wenn
sich die Gesellschaft wieder in das Haus des Geistliche» zurückzieht, wer weiß, ob
ihr die Polizei nicht auch dahin nachfolgt! In Sprvttau ist die an vielen Orten
übliche Stadtverordnetenvorversammlung unter Polizeiaufsicht gestellt worden. Das¬
selbe war schon längere Zeit vorher in einer rheinischen Stadt geschehen, deren
Namen wir vergessen haben. Eine sehr verständige Entscheidung hat vor zwei
Jahren der Regierungspräsident von Bitter in Oppeln gefällt, als sich der Bürger¬
verein eines Städtchens seines Bezirks die Polizeiaufsicht nicht wollte gefallen
lassein die Polizeiverwaltung sei zwar zur Beaufsichtigung der Versammlungen
formell berechtigt gewesen; von diesem Rechte Gebrauch zu machen liege jedoch
so lange kein Anlaß vor, als nicht ganz besondre Umstände dazu zwingen sollten,
was bisher nicht der Fall gewesen sei und wohl auch künftig nicht der Fall sein
werde. Aber was hilft uns ein verständiger und wohlmeinender Regierungspräsident?
Liegt doch das Beschauende eben darin, daß die Behandlung der Bürger in dieser
Beziehung von dem größern oder geringern Verstände obrigkeitlicher Personen ab¬
hängig ist, anstatt daß ihnen ein Recht gesetzlich gewährleistet wäre, das sich für
erwachsene Menschen von selbst versteht. Was nützt es uns, daß den Deutsche»
heute i» alle» fünf Erdteilen sein viol8 Hornia-ni-w sum vor ungerechten Angriffen
und Beschimpfungen schützt, wenn er daheim zeitlebens ein aussichtsbedürftiger Schul¬
bube bleibt?
Unter diesen Umständen folgt ein großer Teil des deutschen Volks mit ängst¬
licher Spannung der Beratung des bürgerlichen Gesetzbuchs, von deren Ausgange
es abhängt, ob wir wenigstens ein erträgliches Vereinsrecht bekommen werden.
Im Entwürfe wird dieses Recht teils aufs äußerste beschränkt, teils dem Belieben
der Einzelstaaten anheimgegeben, und der Regierungsvertreter hat erklärt, die An¬
nahme der Änderungsvorschläge der Kommission würde dem Bundesrate das ganze
Gesetzbuch unannehmbar machen. Dieses Unglück wäre zu ertragen. Zwar die
Männer, die ein gut Stück ihrer Lebensarbeit auf den Entwurf verwendet haben,
würden einem leid thun, aber das deutsche Volk würde ihm keine Thräne nach-
weinen. Wenn der gemeine Mann in Deutschland sonst keine Schmerzen hätte als
die von der Vielheit und Verschiedenheit der geltenden Zivilrechte verursachten, so
wäre er Adam im Paradiese. Und der Begriff des gemeinen Mannes reicht in
diesem Falle sehr hoch hinauf: hat doch der Freiherr von Stumm offenherzig be¬
kannt, daß er sich beim französischen Recht der Rheinprovinz ganz wohl fühle.
Gegen den Schluß der Woche ward uns die beruhigende Gewißheit, daß doch
sogar im preußischen Abgeordnetenhaus!! die idealen Interessen noch nicht ganz
ausgestorben sind. Am 28. Februar, uach einem kurzen Geplänkel zwischen dem
Polen Jazdzewski und den: Kultusminister, eröffnete Herr Bachem mit schwerem
Geschütz eine konfessionelle Schlacht, deren Plan sich allmählich dermaßen verschob,
daß sie mit einem leidenschaftlichen Duell zwischen dem freikonservativen von Zedlitz
und dem konservativen von Heydebrand schloß.
Der Mittel¬
rheinische Beamtenverein verbreitet durch das Frankfurter Journal und durch Zu¬
schriften an die Redaktionen einen Vorschlag zur Reform des Staatsschuldeuweseus,
der den Mittelstand stützen und der Macht des Großkapitals entgegenwirken soll.
Das Sinken des Zinsfußes schädigt den Mittelstand oder — um dieses vieldeutige
Wort zu vermeiden — die mittlern Einkommcnklassen auf doppelte Weise; den
einen unter den kleinen Rentnern verkürzt es das Einkommen bis zu einem Grade,
daß sie in Not geraten, die andern legen ihre Spargroschen in exotischen Papieren
an und setzen sich so der Gefahr aus, es zu verlieren. Zur Abhilfe wird fol¬
gendes vorgeschlagen. Der Staat (d. h. bei uns das Reich und die Einzelstaaten)
scheidet seine Anleihen in inländische und ausländische. Die inländischen sind für
die kleinen Rentner des Inlands bestimmt, die durch möglichst bequeme Einrich¬
tungen aufgemuntert werden, ihr Vermögen ausschließlich darin anzulegen. Sie
werden ohne Vermittlung der Banken durch Staatskassen emittirt, mit 4 Prozent
verzinst, nur an Personen vergeben, die die Zinsen im Inlande verzehren (im Aus¬
lande weilende Besitzer erleiden einen Zinsenabzug), und ihre Käufer werden nur
zu einem Höchstbetrag — etwa bis zu 4000 Mark jährlicher Rente —- ins Staats¬
schuldbuch Eingetragen. Die ausländische Anleihe wird so niedrig als möglich, etwa
mit 3 Prozent verzinst, auf dem gewöhnlichen Wege durch Fiuauzleute emittirt
und steht samt den ausländischen Werten deu Großknpitalisteu zur Verfügung.
Die Ausführbarkeit des Borschlags zu begutachten, überlassen wir den Finanz-
verständigen. Der Zustand, daß die kleinen Rentner beinahe ausschließlich Gläubiger
des eignen Staates sind, ist in Frankreich bekanntlich längst vorhanden und in
Preußen durch die Einrichtung des Staatsschuldbuchs angestrebt worden; es würde
sich also nur um die Scheidung in zwei Arten von Rente handeln, über deren
Möglichkeit wir, wie gesagt, das Urteil den Sachverständigen überlassen. Verständig
finden wir den Vorschlag und glaube» auch, daß seiue Ausführung heilsam wirken
würde. Die übertriebnen Erwartungen allerdings, die der Benmtenverein darauf
zu setzen scheint, teilen wir nicht. Das Übel der vorherrschenden Papierwerte kann
durch eine Reform zwar gemildert, aber nicht aufgehoben werden. Bei vorherr¬
schender Naturalwirtschaft in einem Lande, wo die überwiegende Mehrzahl aus
ländlichen Grundbesitzern besteht und noch Land übrig ist, bedarf man der Papier¬
werte uur in geringem Umfange. Der alt gewordne Bauer braucht kein Geld,
sondern nur ein Ausgedinge auf dem Hofe, den der Sohn übernommen hat; die
Kosten der Erziehung der Kinder werden ans dem Ertrage der Wirtschaft bestritten,
und die erwachsenen Kinder werden mit Land ausgestattet. Bei uns besteht der
größere Teil der Bevölkerung aus Leuten, die keinen Fuß breit Land haben. Der
Geschäftsmann, der Litterat, der Handwerker, der sich zur Ruhe setzen will, der
kleine Beamte, der zu seiner kleinen Pension einen Zuschuß braucht und seinen
Kindern etwas hinterlassen möchte, sie alle sind darauf angewiesen, Ersparnisse zu
machen und diese in Papierwerten anzulegen. Selbst der Bauer muß nach solchen
streben, wenn er viel Kinder hat, da diese bei der herrschenden Bodenknappheit
nicht alle mit Land ausgestattet werden können, und er selbst setzt sich gern als
Rentner zur Ruh, da ihm der Hof zu eng wird und dem Sohne die Auszahlung
des Leibgedinges schwer fallt. Und wenn nun ein Volk so fleißig und sparsam
ist wie das deutsche, so macht es alljährlich gewaltige Ersparnisse, die eine gewaltige
Masse von Papierwerten erfordern. Diese alle im Inlande zu beschaffen, wäre
ohne Herabdrückung des Zinses auf 2, auf 1 Prozent nicht möglich. Aktien sind
wegen des schwankenden Ertrags der Industrie keine geeigneten Papiere für kleine
Rentner. Eine erhebliche Vermehrung der Hypotheken würde den Grundbesitz er¬
drücken. Sollte aber das Anlagebedürfnis ausschließlich durch Staatsschuldschcine
gedeckt werden, so müßte unsre Staatsschuld so hoch steigen wie in Frankreich, wo
der Staat den Rentnern den dritten Teil oder die Hälfte der Rente, die er ihnen
zahlt, in Form von Steuern wieder abnimmt. Unter diesen Umständen würde
auch nach Durchführung der vorgeschlagueu Reform der Anreiz zum Erwerb un¬
sicherer Papiere bestehen bleiben, da dem kleinen Rentner auch vier Prozent,
namentlich der immer teurer werdenden Wohnungen wegen, nicht genügen.
Im einzelnen enthält der Artikel des Frankfurter Journals mehrere schiefe
und falsche Bemerkungen, die durch die Unklarheit über den Begriff „Geld" ver¬
anlaßt sind. Unter der beklagten Minderwertigkeit des Geldes wird das einemal
die Billigkeit der Edelmetalle und das andremal die Billigkeit des Leihkapitals
verstanden. Das sind aber zwei sehr verschiedne Dinge. Bei den Indianern des
neu entdeckten Amerikas bekamen die Spanier Gold für einen Pappenstiel, aber
Leihkapital gab es dort nicht, und bei uns bedarf es zur Aufnahme eine Mil¬
liardenanleihe keiner hundert Millionen in Gold. Auf diese Vermischung zweier
verschiednen Begriffe ist es zurückzuführen, daß der Verfasser u. a. glaubt, die Kon-
vertiruugen machten die Waren teurer. Wareuverteuernng kann wohl durch starke
Vermehrung der Edelmetallausbeute, aber niemals durch Herabsetzung des Zins¬
fußes bewirkt werden. Daß die Wohnungen teurer werden, hängt gnr uicht mit
deu Geldverhältuisseu zusammen, sondern kommt allein von der Vermehrung
der Bevölkerung bei gleichbleibender Bodenfläche. Über die Preisveränderuugen
haben wir uus zur Genüge ausgesprochen. Was an Meinungsverschiedenheiten
übrig bleibt, mögen die Bcamtenvereiue und die Herren vom Bunde der Landwirte
unter einander abmachen. Die ersten klagen darüber, daß der Geldüberfluß alle
Dinge teuer, die andern, daß die Geldknappheit alle Dinge wohlfeil mache, und
beide —- vertreten den Mittelstand.
Professor Brück in Breslau hat in seiner Bro¬
schüre: „Fort mit den Zuchthäusern!" (Grenzboten 1894, Heft 32, S. 286) den
Ersatz unsrer zweckwidrigen Freiheitsstrafen durch die Deportation vorgeschlagen.
Das Schriftchen hat allgemeines Aufsehen erregt, ist vielfach besprochen worden,
und das Ergebnis war, daß seine Ansicht zwar ziemlich allgemein als richtig „im
Prinzip" anerkannt wird, daß aber die meisten Juristen und Gefängnisbecimtcn
allerlei Bedenken gegen die Ausführbarkeit geltend machen. Diese Kritiker fertigt
Brück in einer neuen Broschüre ab: Neu-Deutschland und seine Pioniere
(Breslau, Wilhelm Kocbner, 1896) und sucht darin außerdem nachzuweisen, daß
Deutschsüdwestafrika ein für Deutsche durchaus geeignetes Ansiedlungsgebiet sei und
nicht allein, wie man gewöhnlich sagt, als Viehweide, sondern anch als Ackerland
verwertet werden könne. Die Pioniere zur Erschließung dieses Gebiets aber, die
Straßen, Hafen- und Bewässerungsanlagen zu bauen hätten, haben wir: „Sie
sitzen daheim in unsern Strafanstalten und machen der ehrlichen Arbeit Konkurrenz,
sie essen das Brot unsrer ehrlichen Bevölkerung, ohne dieser oder sich selbst zu nützen.
Im Vaterlande vergeuden wir die Kräfte, während es in unsern Kolonien an
Händen fehlt." Natürlich müßten die Verurteilten, nachdem sie einige Jahre im
Staatsdienste gearbeitet hätten, mit Land ausgestattet werden. Wie weit Brucks
Ansicht über Südwestafrika zutrifft, vermögen wir nicht zu beurteilen, aber wir
stimmen ihm nicht allein „im Prinzip" bei, fondern auch darin, daß Probiren über
studiren geht, und daß es die höchste Zeit ist, endlich einmal einen Anfang zu
machen, da der gegenwärtige Zustand schlechthin unerträglich ist und bald unhaltbar
werden wird. Auch noch aus einem andern Grunde ist es die höchste Zeit, daß
durch die Ausführung dieses Planes die deutsche Einwanderung in unsre Schutz¬
gebiete erleichtert werde. Unglaublich aber wahr! Schon ist leider „ein großer
Teil besiedlungsfähigen Landes an eine kleine Zahl von Erwerbsgesellschnften, die
zum Teil ihren Schwerpunkt in England haben, vergeben," schon wird im deut¬
schen Kvlonialkalender sür 1896 vor der Einwanderung nach Südwestafrika ge¬
warnt, wenn man nicht über ein Vermögen von 15 — 20 000 Mark verfüge!
Über die Verhandlungen des Reichstags wird
der deutsche Reichsbürger trotz alles Überflusses an Tageszeitungen doch recht er¬
bärmlich unterrichtet. Vollständig bringt sie von unpolitischen Zeitungen nur der
Reichsanzeiger. Dieser wird aber in weiten Kreisen nicht gelesen. Von den poli¬
tischen Tagesblättern dagegen teilt fast keines die Reichstagsverhandlungen ihren
Lesern wirklich vollständig mit; die überwiegende Anzahl giebt entweder überhaupt
nur einen kurzen Auszug aller Reden oder bringt doch nur die vollständig, die
gerade ihrem Parteistandpunkte entsprechen, während sie die Wiedergabe der Reden
der Gegner so stiefmütterlich wie möglich behandelt. Da sich nun aber der Deutsche
selten mehrere Zeitungen hält, noch seltner Zeitungen andrer politischen Richtungen,
so kommt es, daß er eine objektive und getreue Berichterstattung über die Reichs¬
tagsverhandlungen überhaupt nicht erhält, und wenn er sie sich einmal verschaffen
will, genötigt ist, womöglich soviel verschiedne Zeitungen zu lesen, als es Partei-
schattiruugen im politischen Leben Deutschlands giebt. Das ist ganz unerträglich.
Jeder hat Anspruch darauf, daß die Verhandlungen des Reichstags nicht nur öffent¬
lich, sondern auch allen zugänglich sind. Dn ihnen nicht jeder in Person beiwohnen
kann, so muß ihm wenigstens die vollständige Berichterstattung über ihren Verlauf
gegeben werden, und das wäre so leicht möglich in unserm Zeitalter der Steno¬
graphie und der Druckerpresse! Die stenographischen Berichte des Reichstags müßten
von Reichs wegen unmittelbar nach den Verhandlungen in besondern Blättern ge¬
druckt und herausgegeben werden, sodaß sie für jedermann um billiges Geld, das
nur etwa die Druckkosten zu decken brauchte, zu haben wären und ebenso wie eine
Zeitung bezogen werden konnten. Wir glauben, daß dann bald jede Zeitung diese
Blätter ihren Abonnenten als Beilagen zukommen lassen würde. Jedenfalls wäre
es aber jedem ermöglicht, sich die getreuen Berichte billig zu verschaffen. Wenn
dadurch der einzelne darauf hingewiesen würde, nicht immer bloß die Reden seiner
Parteimänner anzuhören, so wäre das sicher kein Schade.
Wenn sich die Regierung dieser Aufgabe nicht unterzieht, sollte sich dann nicht
vielleicht ein Privatunternehmer finden und unsern Vorschlag ausführen?
Die soziale Lage der deutschen Ärzte und ihre Verbesserung durch die Verstaat¬
lichung der kassenärzilichcn Praxis mit Einschluß aller Familienangehörigen. Von Dr. oval.
Ed. Trilling. Leipzig, Gustav Font, 1395
Es ist ein erfreuliches Zeichen der Zeit, daß es sich in allen Ständen regt,
um für den eignen Stand bessere Lebensbedingungen zu erkämpfen unter gleich¬
zeitiger Berücksichtigung der Bedürfnisse andrer oder des Ganzen. In diesem Sinne
will anch die bortreffliche Schrift Trillings wirken. Der Verfasser schildert die
Nöte der ärztlichen Standes in oft recht kräftiger Weise und weist mit berechtigter
Schärfe auf die Gefahr für die Allgemeinheit hin, die in einem Niedergange des
ärztlichen Standes liegen würde. Er will die Folgen übermäßiger Konkurrenz und
besonders der Abhängigkeit gewisser ärzlicher Kreise von den oft nur halbgebildeter,
oft geradezu sozialdemokratischen Mitgliedern der Krankenkassenvorstände beseitigen
durch die Verstaatlichung der kassenärzlichen Praxis. Den von ihm vorgeschlagnen
Einschluß aller Familienangehörigen können wir nicht billigen, da wir, so not¬
wendig uns die staatliche Fürsorge für die Erhaltung des erkrankten und erwerbs¬
unfähigen Familicnernährers erscheint, doch davor warnen müssen, dem Arbeiter
jegliche eigne Willensbethätigung zur Bewahrung seiner Familie vor Not und Elend
abzunehmen. Wir thun nicht nnr gut, solche Geschwindschritte in den kommunistischen
Staat hinein möglichst zu vermeiden, sondern wir müssen uns auch hüten, die
Charakterentwicklung des Einzelnen, die durch unsre ganze heutige raschlebige Zeit
sowieso schon Einbuße genug erleidet, durch übermäßige Bevormundung noch mehr
zu schwächen.
So sehr wie wir aber den Grundgedanken der vorliegenden Arbeit, die ein¬
heitliche staatliche Zusammenfassung der Krankenversicherung, billigen, so wenig können
wir dem Verfasser folgen in seinen Ausführungen über die Art des Verhältnisses,
in das die Ärzte zu dieser Staalskrankenknsse treten würden. Sein Vorschlag, den
Ärzten, die an der Krankenkasse teilzunehmen wünschten — und das würden bei
der Niesenausdehnung der Versicherung, mit Ausnahme einiger Koryphäen der
Wissenschaft, wohl sämtliche deutsche Ärzte sein —, zu gleichen Teilen, unabhängig
von ihren Leistungen, ein einmal festgesetztes Honorar, gleichsam eine staatlich ver¬
bürgte Einnahme zuzusichern, mag ja manchem dnrch die Natur und die Verhältnisse
zurückgesetzten, auch manchem trägen und nachlässigen Arzte wie Engelsmusik in den
Ohren klingen; der ganze Vorschlag sieht aber dem Antrag Kanitz so ähnlich, wie
ein El dem andern.
Trotz dieser Einwände wünschen wir dem fiir seinen Stand begeisterten Verfasser
zahlreiche Leser und empfehlen seine Schrift unsern ärztlichen Freunden, wie auch
den Verwaltungsbeamten und Abgeordneten, die sich für den Gegenstand interessiren,
ganz besonders aber auch Herrn Staatsminister von Bötticher, der daraus vielleicht
manche Belehrung über den Wert des Kurpfuschertums im Verhältnis zur Thätigkeit
unsrer staatlich approbirtcn Ärzte schöpfen wird.
rofessor Hasbach ist dem größern Publikum zuerst durch seine
gründlichen Untersuchungen über Adam Smith bekannt geworden;
die Grenzboten haben sie 1892 im 15. Heft besprochen. Seit¬
dem hat er sich wiederholt in England aufgehalten, um die dor¬
tige Landarbeiterfrage zu untersuchen. Die Frucht seiner Studien
liegt in einem Buche vor, das als 53. Band der Schriften des Vereins für
Sozialpolitik erschienen ist: Die englischen Landarbeiter in den letzten
hundert Jahren und die Einhegungen von Dr. W. Hasbach, Professor der
Staatswissenschaften an der Universität Kiel. Mit einem Anhange über die
ländlichen sozialen Verhältnisse in Dünemark und Schweden von W. Schar-
ling und P. Fahlbeck (Leipzig, Duncker und Humblot, 1894). An dem ersten
Vnche hatten wir auszusetzen, daß der reiche Stoff unübersichtlich angeordnet
sei, entschuldigten das aber damit, daß die Unzahl einander kreuzender geistiger
Strömungen, die zu berücksichtigen waren, der Darstellung Schwierigkeiten be¬
reitet hatte. An demselben Fehler leidet das vorliegende Buch, aber der Ent¬
schuldigungsgründe giebt es hier noch mehr und stärkere, denn da sich viele
der aufzuklärenden Vorgänge schlechterdings noch nicht haben aufklären lassen,
so kaun man auch von dem Verfasser nicht gut verlangen, daß er sie den
Lesern völlig klar mache. Eins freilich hätte er wohl vermeiden können; er
drückt sich oft nur andeutungsweise aus, sodaß man schon einigermaßen mit
den englischen Verhältnissen bekannt sein muß, um ihn zu verstehen. So heißt
es z. B. Seite 345 in dem Bericht über das Gesetz vom 27. Juni 1892, das
die Schaffung kleiner Bauernwirtschaften ermöglichen und befördern soll: „Die
Größe der Güter ist beim Kauf 1 bis 50 Acres bezüglich (?) 50 Pfund Sterling
lor tke xrrrxosös ok tlnz inooins ox, bei der Pacht 1 bis 15 Acres bezüglich
15 Pfund Sterling." Hier vermutet man zwar, daß die Wertangabe das bezeichnen
soll, was man in Preußen den Grundsteuerreinertrag nennt, aber warum wird
dann nicht deutlich gesagt: 1 bis 50 Acres oder 1 bis 50 Pfund Sterling
Grundsteuerreinertrag?
Läßt die Form manches zu wünschen übrig, so entschädigt dafür der
reiche Inhalt; das Buch bietet außer einer wertvollen Materialsammlung sehr
beachtenswerte Ansichten und Urteile des Verfassers. Es giebt, über den Titel
hinausgreifend, eine Übersicht der ganzen englischen Agrcirgeschichte der letzten
vierhundert Jahre. Diese Übersicht und die darin enthaltnen Belege aus den
Quellen bestätigen durchaus, was wir selbst gelegentlich und in der Kürze über
englische Agrarverhältnisse vorgebracht haben, namentlich in folgenden Punkten.
Erstens sind die gegenwärtigen englischen Grundbesitzverhältnisse das Ergebnis
eines großartigen Landraubs, der sich beinahe durch vier Jahrhunderte hin¬
durchzieht, und der gewöhnlich mit dem Worte me-Iosui-öL bezeichnet wird, ob¬
wohl nicht alle Einhegungen einen Raub bedeuteten, und obwohl dieser Raub
auch ans andre Weise: durch Pachtkündigungen und Pächteraustreibungen be¬
wirkt worden ist. Die Bezeichnung kam dadurch in Mode, daß sich schon im
Mittelalter der Brauch festsetzte, der bis auf den heutigen Tag beibehalten
worden ist und dem Bilde der englischen Landschaft ihren eigentümlichen Cha¬
rakter aufprägt, jede für den Privatgebrauch von der Gemeindeflur abgesonderte
Acker- oder Wiesenfläche mit einer Hecke zu umziehen; dadurch wurde das,
was die Gemeinde an den Gutsherrn verloren hatte, den Augen sichtbar, und
an diese sichtbaren und fühlbaren Hecken heftete sich die Erbitterung, mit der
die große englische Vauerntragödie die Gemüter des gemeinen Volks in Eng¬
land erfüllt hat. Hasbachs Darstellung weist sehr verschiedne Arten von Ein-
hegungen nach. Der Pächter oder Freibauer hegte den seinem Hofe zunächst
gelegnen Wiesenfleck zur Aufzucht der Kälber ein; bei der Gemeinheitsteilung
wurde die Gesamtheit der dem Bauer zugeschriebnen und sür ihn zusammen¬
gelegten Ackerstücke eingehegt. Der Gutsbesitzer hegte seinen Löwenanteil ein,
den er bei der Separation ergattert, oder die Schafweide, die er nach der Ver¬
treibung seiner Pächter geschaffen hatte. Es wurden zu allen Zeiten ver¬
einzelte Einhegungen lediglich auf Wunsch der Berechtigten vorgenommen, in
mehreren Perioden aber wurden die Einhegungen als eine allgemeine Maßregel
grafschaftenweise durchgeführt. Von den beiden Hauptperioden fällt die eine
ins fünfzehnte und sechzehnte, die andre ins achtzehnte Jahrhundert; in der
ersten diente die Maßregel vorzugsweise der Schafzucht, in der zweiten wurden
mehr Gemeinweiden für den Körnerbau abgesondert, der damals durch ratio¬
nellere Kultur ertragreicher ward. In die erste Periode fiel die Vertreibung
der Klosterpächter, die man sich nicht gewaltsam zu denken hat, sondern nur
als Nichterneuerung des Pachtvertrags, der mit dem Aufhören der klösterlichen
Grundherrschaft als erloschen angesehen wurde. Das war ja juristisch korrekt
gehandelt, stand aber im schneidendsten Widerspruch mit der Idee der Kirchen¬
güter oder vielmehr mit ihren beiden Ideen. Denn nach der altkirchlichen Idee war
das Kirchengut das xatriinouium xg-uvöruw und durfte nimmermehr reichen
Leuten geschenkt werden. Nach der wirtschaftlichen Idee der mittelalterlichen
Monarchen und Grundherren aber, die die Klöster mit Grundbesitz ausstatteten,
sollte die verständige Leitung des Besiedlungswerkes durch gebildete Männer,
was ja die Geistlichen des frühern Mittelalters waren, Wüsteneien in Kultur¬
land verwandeln und mit einer fleißigen und wohlhabenden Bevölkerung an¬
füllen. Die Bauern, die durch die Maßregel in Proletarier verwandelt wurden,
machten etwa ein Fünftel der englischen Bauernschaft aus. Die zweite Pe¬
riode der Einhegungen siel mit der Verdrängung der kleinen Pächter durch
große zusammen. Bei dem steigenden Reichtum der Kaufleute und Fabrikanten
fehlte es nicht an Leuten, die ihr Geld in der immer einträglicher werdenden
Landwirtschaft anzulegen Lust hatten, und den Landlords waren große Pächter
angenehmer als kleine, nicht bloß wegen der bequemern Renteneinziehuug,
sondern auch weil sie von der rationell betriebnen Großwirtschaft höhere
Renten hofften, und weil sie an den Gebäuden sparten, die sie im Staude zu
erhalten verpflichtet waren, wenn von einem halben oder ganzen Dutzend Pacht¬
höfen immer nur einer stehen blieb und die übrigen weggerissen wurden. Has¬
bach untersucht die Rechtsfrage in Beziehung auf alle diese Vorgänge, nament¬
lich auf die Einhegungen, und kommt zu dem Ergebnis, daß zwar sehr viel
Ungerechtigkeit, aber kein Unrecht im juristischen Sinne verübt worden sei.
Natürlich! Die herrschenden Stände werden sich gehütet haben, etwas gesetz¬
widriges zu begehen! Das Recht der Erbpächter z. B. wurde nicht verletzt,
aber man machte ihnen das Leben schwer, u. a. dadurch, daß man sie durch
Verdrängung der kleinen Zeitpüchter- und Kötterfcimilien der Arbeiter be¬
raubte, und chikcmirte sie so lange, bis sie „freiwillig" abzogen. Die Frei¬
sassen aber wurden auf mehrfache Weise ruinirt. Sie verloren die Arbeiter,
sie wurden bei der Gemeinheitsteilung so verkürzt, daß es ihnen an Vieh¬
weide gebrach, und die Landmesser und Advokaten machten ihnen so große
Kostenrechnungen, daß sie in Schulden gerieten. Das Verfahren des damaligen
„intelligenten" Gutsherrn beschreibt Hasbach nach den Quellen. „Zuerst kauft
er in Pfarreien und Gemeinweiden so viele Grundstücke wie nur möglich an,
bringt alle Manors in seinen Besitz, wenn mehrere vorhanden sind, schreibt
einen Gesetzentwurf mit Paragraphen nieder, die für ihn günstig sind, und
ernennt Landmesser und Kommissare, vorläufig ganz im Stillen. Dann werden
die wegen ihres Geschlechts und Standes unkundigen Gutsbesitzer j^? gemeint
sind ohne Zweifel die kleinen, die ?60moi^ bearbeitet, bis sie ihre Namen
unter die Petition ans Parlament setzen. Hartnäckigere sucht er bei einem
guten Dinner geschmeidig zu machen; gelingt es nicht, dann fallen Andeutungen
und Drohungen. Nun wird den übrigen durch Zirkular mitgeteilt, daß sich
die bedeutendsten Grundbesitzer mit ihm zu einer Petition vereinigt hätten.
Auch da reicht der Große zuerst Zuckerbrod, den Widerspenstigen aber droht
er mit allem, was er an Macht besitzt, g,8 g. nrg.At8trg.t6, g.8 g. tora ot' eilf
nrgnor, Ä8 g.11 impropristor ok eilf.tMros ^Zehntberechtigter^. Wer hat den
Mut, dagegen aufzutreten und zu behaupten, daß die Mehrheit gegen den
Plan sei? Und wem, es nicht am Mut fehlt, wer will die beträchtlichen
Kosten auf sich nehmen, die die Opposition im Parlament erfordert? Nun be¬
ginnen die Einhegungskommissare ihre Thätigkeit; ihre Entscheidung ist that¬
sächlich endgiltig. Wenn an die Vierteljahrssitzungen appellirt wird, dann ist
der, gegen den vorgegangen werden soll, mit im Kollegium. Die Kommissare
sind gewöhnlich Sachwalter (irttoriuzz^) und werden von dem oder denen er¬
nannt, die das meiste Interesse an der Einhegung haben. Sie wiederum haben
ein Interesse daran, die zu verpflichten, von denen sie ernannt werden, denn
das Geschäft ist einträglich. Haben sie zur Zufriedenheit ihrer Auftraggeber
gewirkt, dann dürfen sie hoffen, weiter empfohlen zu werden. Im Parlament
gehen dann die Gesetzentwürfe dnrch, ohne Beachtung zu erregen. Außer den
Gutsherren sind die Geistlichen an den Einhegungen interessirt, denn je größer
diese sind, desto mehr wächst der Zehnt." An einer andern Stelle, wo von
der Verdrängung der Ackerhäusler die Rede ist, sagt Hasbach: „Sie standen
zu vielen Interessen im Wege. Der rentenbegierige Lnndlord, der zehnt¬
vermehrende Geistliche, der Großpächter, der gern die ganze Weide für sein
Vieh gehabt Hütte, und dem der landpachtende und viehbcsitzende Tagelöhner
zu selbständig war: sie stimmten darin überein, daß die Köller (ooUg.o'ör8) dem
Interesse der Gesamtheit geopfert werden müßten." Mit diesen kleinen Zeit¬
pächtern, die so gut wie gar kein juristisches Recht hatten, sondern bloß die
allgemeine menschliche Daseinsberechtignng, die ja im Rechtsstaate nichts gilt,
wurde natürlich nicht viel Federlesens gemacht; sie wurden einfach fortgejagt,
und ihre Hütten wurden weggerissen oder niedergebrannt. Ebenso erging es
den 8^UÄtt6i-8 oder d»rÄg,rii8, Leuten, die sich in herrenlosen Einöden angesiedelt
hatten, wenn man ihr Land oder ihre Arbeitskraft begehrte.
Das zweite, was uns von Hasbach bestätigt wird, ist die planmäßige
Vernichtung des kleinen Grundbesitzes zu dem Zweck, den Großunternehmern,
sowohl industriellen als landwirtschaftlichen, billige und allezeit willige Ar¬
beiter zu schaffen. Wie soll denn eine große Gutswirtschaft oder ein großes
industrielles Unternehmen zustande kommen und bestehen, wenn alle Familien
im Lande vom Ertrage ihres Ackers und ihrer Weide leben? Die englischen
Politiker und Volkswirte des siebzehnten und des achtzehnten Jahrhunderts
waren keine nervenschwachen alte Jungfern, wie die norddeutsche Allgemeine
Zeitung, die in Ohnmacht oder in Krämpfe fällt, wenn man die nicht durchweg
schönen politischen und wirtschaftlichen Dinge mit ihrem richtigen Namen nennt.
Sowohl die Gegner wie die Freunde der großen agrarischen Umwälzung haben
unverblümt ausgesprochen, um was es sich handelte. Ganz in Übereinstimmung
mit Marxens Arbeitswerttheorie wird schon im sechzehnten Jahrhundert be-
hehauptet: Ibs vbolv vggM ok tus doa7 ok tus rsalins risstll ont ok t.b.6
lavours ana vorlas ot tds common xeoxlo. Ein Anonymus von 1649 schreibt:
vög-led Ma strsngtll M oonntrios g.rs in tdk xoor; lor ins/ av all
Zre^t ana neosssary vorlas, g-na eh.s^ MÄlcg up eilf ing.iinz von)- Anet
strsnAtü ok tus armisL. Und John Bekker 1696: ig.tour ot tus xoor dewZ
tus minss ok tuo rien. . . . ?tlo rioli it^of no otlisr og^ ok livinA, but Kz^
ed.6 labour ok tus ottiers. ^itbout ins Ig.voursrs elle^ og.nnot lxz ri<z^, lor —
aber das wollen wir lieber deutsch hersetzen: Wenn einer 10000 Acres,
10000 Pfund Geld und 10000 Stück Vieh, aber keinen einzigen Arbeiter hätte,
was würde er bei all seinem Reichtum sein, als ein gewöhnlicher Arbeiter?
Ebenso deutlich sind die Aussprüche der Freunde des entstehenden Kapitalismus.
Flctcher of Saltonn, ein berühmter „Liberaler" der zweiten Hälfte des sieb¬
zehnten Jahrhunderts, bekannte offenherzig, das herrliche Gebäude der englischen
Freiheit, d. h. der Freiheit der durch keine starke Königsgewnlt gezügelten
Reichen, könne nur bestehen, wenn die Masse des Volkes zu hoffnungsloser
Sklaverei verdammt bleibe. Im vorigen Jahrhundert wurde allerdings schon
ein bischen geheuchelt. Häufig kehrte in den Schriften der Agrarpolitiker die
Klage wieder über die „Faulheit" der kleinen Pächter; wenn man sie zur
Arbeit haben wollte, entschuldigten sie sich damit, daß sie nicht Zeit hätten,
da sie ihren eignen Acker und ihr eignes Vieh besorgen müßten; man erklärte
es daher für eine durch das Gemeinwohl gebotne Notwendigkeit, sie dadurch
„fleißig" zu machen, daß man ihnen ihren eignen Acker nahm. Da wurden
sie denn schließlich allerdings so fleißig, daß nicht allein die Männer, sondern
auch die Frauen und Kinder bis zum fünften Lebensjahre herunter auf den
Feldern der Großpächter unter der Peitsche des Aufsehers arbeiteten. Eine
andre Art Heuchelei bestand darin, daß man die beiden Ausdrücke Weiden und
Wüsten für ein und dasselbe ausgab — die Juristen, meint Hasbach, träfe
dabei keine Schuld; sie hätten einfach den Agrariern geglaubt — und die Ein¬
hegung aller „Wüsten" forderte, um sie urbar und für das Gemeinwohl nutzbar
zu machen; unter diesem Vorwande wurde den kleinen Gemeinfreien und Pächtern
die Nutzung der Gemeinweideu entzogen.
Damit ist auch schou das dritte ausgesprochen: .für die Ansammlung
großer Privatreichtümer bildet das Volkselend die Voraussetzung. Es ist das,
wie man bei Hasbach nachlesen kann, von vielen englischen Beobachtern offen
ausgesprochen worden. Man hat es vor Augen gehabt, wie mit dem Wachstum
des Reichtums der Wenigen das Wachstum der Massenarmut gleichen Schritt
hielt, man hat anch den ursächlichen Zusammenhang deutlich erkannt. Der
Arbeiter, so heißt es oft, darf kein Land bekommen, oder er darf wenigstens
nicht soviel bekommen, daß er selbst Landwirt werden kann, denn dann hört
er auf, Arbeiter oder wenigstens billiger Arbeiter zu sein; kann er dann doch
seine Bedingungen stellen, weil ihn der Ausfall der Lohnarbeit nicht in Not
stürzt. Optimisten, darunter ein Mann, der durch seinen Pessimismus berühmt
geworden ist, fahren hartnäckig fort, zu behaupten, das berüchtigte englische
Arbeiterelend sei bloß eine Übergangserscheinung gewesen, und seine Leiden
würden durch die Wohlthat einer allgemeinen Hebung der untern Klassen, die
darauf gefolgt sei, weit überwogen. Das ist einfach nicht wahr. Das Elend
eines völlig besitzlosen, jeder Willkür der obern Klassen preigegebnen Proletariats
war im Mittelalter unbekannt; es ist durch den modernen Großbetrieb erst
geschaffen worden. Es hat am Ende des fünfzehnten Jahrhunderts begonnen
und dauert fort bis auf den heutigen Tag; wenn wir uns auf England und
auf die Zeit beschränken, wo die Zahl der Besitzlosen, der vom Boden los¬
gelösten, die Mehrheit bildete, dauert es jetzt schou mehr als anderthalb hundert
Jahre, und ein Ende dieser „Übergangsperiode" ist vorläufig noch gar nicht
abzusehen. Es ist dadurch eine deutlich sichtbare Verschlechterung der leiblichen
und der geistig-sittlichen Konstitution der ürmern Mehrzahl des Volkes ver¬
ursacht worden. Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts sprachen ihr Entsetzen
darüber aus, als sie schöne Mädchen auf dem Acker schwere Männer- und
sogar Zugvieharbeit verrichten selben; natürlich waren da die Mädchen des
niedern Landvolkes am längsten schön gewesen. Patrioten brachen in bittere
Klagen darüber aus, daß sich vor ihren Augen das stämmige, gesunde, schöne,
selbstbewußte und tapfere englische Landvolk in ein Gesindel ohne Kraft und
Schönheit, ohne Ehrgefühl und ohne eine Spur von Sittlichkeit verwandelte.
Zu Almosenempfängern und Kirchspielsklaven geworden, von der Hand in den
Mund lebend, in den Kot getreten, ohne Hoffnung auf Besserung, mit ihrem
elenden Tagelohn dem Kneipenwirt haftbar, waren die Nachkommen der stolzen
und tapfern Aeonen Ausbunde von Liederlichkeit, die keinen andern Genuß
mehr kannten, als den Geschlechtsgenuß und den Branntweinrausch, und die
jede sich darbietende Gelegenheit zu Verbrechern machte. Was vom Reichtum
gilt, das gilt vou dem reichtumschaffeuden Großbetrieb, wenigstens vom Privat¬
großbetrieb; er erzeugt Volkselend und ist nur bei Volkselend möglich. Der
landwirtschaftliche Großbetrieb, schreibt Hasbach Seite 380, nach der Dar¬
stellung seiner Lebensbedingungen, „ist also mit einer starken, gesunden, kauf¬
kräftigen ländlichen Bevölkerung unverträglich."
Das vierte ist die Wahrheit, daß die „Not der Landwirtschaft" mit dem
kapitalistischen Betrieb gleichzeitig entsteht und von ihm unzertrennlich ist. Bei
vorherrschender Naturalwirtschaft kann der Bauer, kann der mit Frvhnbauern
wirtschaftende Großgrundbesitzer nicht zu Grunde gehen. Das schlimmste, was
ihnen begegnen kann, ist, daß sie nach schlechten Ernten krumm liegeu müssen,
nämlich die Freibauern und die Frvhnbauern; was der Gutsherr braucht, trägt
das Land unter allen Umstünden. Nur die Versorgung der Kinder kann bei
eintretender Vodenknappheit Verlegenheit bereiten. Sobald aber kapitalistisch
abwirtschaftet wird, d. h. nicht mehr hauptsächlich zu dem Zweck, den Besitzer,
seine Familie und seine Arbeiter mit den Naturalerträgen des Gutes zu er¬
nähren, sondern zur Erzielung eines Geldüberschusses, der den Gutswert be¬
stimmt und diesen zum Gegenstande von Speknlationsverkäufen und Käufer
und von Erbteilungen macht, tritt man in einen Zirkel ein, aus dem es keinen
Ausweg giebt. Jede Erhöhung des Reinertrags erhöht den Gutswert. Dieser
erhöhte Gutswert wird bei Käufer bezahlt, bei Erbteilungen und bei der Auf¬
nahme von Hypotheken zu Grunde gelegt. Aber keine Wertsteigeruug geht
ins Unendliche, und bei jedem der unvermeidlichen Rückschläge gehen alle die
zu Grunde, die beim Kauf, bei der Abfindung von Miterben und bei der Aus¬
nahme von Hypotheken mit dem Werte der guten Jahre gerechnet haben. Weil
dem so ist, wird von den Landwirten die Gesetzgebungsmaschine zur künstlichen
Steigerung der Grundrente gehandhabt und dadurch die Katastrophe zunächst
zwar hinausgeschoben, zuletzt aber verschlimmert. Das hat die englische Land¬
wirtschaft, seitdem sie kapitalistisch geworden ist, reichlich erfahren; ihre Ge¬
schichte ist eine Geschichte landwirtschaftlicher Krisen. Weder haben ihr zu der
Zeit, als sie sich auf die Wollproduktiou verlegte, die Wollausfuhrverbote
geholfen und das Gesetz, wonach die Toten in Wolltüchern begraben werden
mußten, noch im vorige» und im Anfange des laufenden Jahrhunderts die
Getreidezölle. Daß gerade unter dem „Schutz" der Getreidezölle die letzten
Reste des englischen Bauernstandes zu Grunde gegangen sind und das Ar¬
beiterelend seinen höchsten Grad erreicht hat, hebt auch Hasbach hervor. Der
Schutzzoll, schreibt er, „kann für die Landwirtschaft eines großen Landes nie
dieselbe Bedeutung haben, wie für die Industrie. Erstens läßt sich feci ihr^
das Angebot der geschützten Ware leichter vermehren als in der Industrie.
Insbesondre wenn ein Zoll auf Getreide gelegt ist, sind die Kosten der Be¬
stellung einer größern Fläche mit Getreide gar nicht zu vergleichen mit den
Auslagen, die die Herstellung neuer Werke, die Vergrößerung der Betriebe,
die Anschaffung neuer Maschinen verursacht. Huuderttciusende von Acres können
ohne große Vermehrung des fixen Kapitals in aller Stille zur Erzeugung der
geschützten Frucht herangezogen werden, und das Angebot wächst so in einer
ungeheuern Weise. Seit Gregory King aber weiß man, daß das stärkere An¬
gebot von Getreide einen verhältnismäßig tiefern Preisfall erzeugt als bei
andern Waren. Zweitens ist es den Landwirten unmöglich, durch Ver¬
abredungen, Kartelle, die Warenmenge dem Bedarf anzupassen, weil sie viel
zahlreicher send, als die Produzenten eines geschützten gewerblichen Artikels.
Drittens sind die Industriellen in der Lage, das gewünschte Warenauantnm
zu erzeugen, während der Landwirt von Sonnenschein und Regen abhängig
ist; er wird immer zu viel oder zu wenig erzeugen. Die englische Wirtschafts¬
geschichte beweist es unzweideutig, daß nur eins der Landwirtschaft einen hohen
Preis zu verschaffen vermag: schlechte Ernte bei völliger Absperrung des
Landes"; niemand aber, meint er, werde die Rückkehr der Zeiten von 1815
bis 1836 wünschen, wo die englische Arbeiterbevölkerung geradezu an Hungers¬
not litt. Zur Erstrebung hoher Reingewinne und dadurch selbstverständlich
zur Herbeiführung von Krisen wird die kapitalistisch betriebne Landwirtschaft
geradeso wie die Industrie noch besonders durch den Umstand gestachelt, daß
ihr bei guten Aussichten theoretisch unbegrenzte Gewinne winken, und das
stachelt zugleich zu einer ebenfalls unbegrenzten Arbeiterausbeutung, da ja Ver¬
minderung der Produktionskosten ein Hauptmittel zur Erzielung hoher Rein¬
gewinne ist. Kampfmeher schreibt in einer Broschüre „Junker und Bauer":
„Die Magenwünde des Grundherrn bildeten früher gewissermaßen die Grenze
der Ausbeutung seiner hörigen Arbeiter, erst die Produktion für den Markt
gestaltete diese verhältnismäßig günstigen Verhältnisse um."*) Darin unter¬
scheidet sich die Lage der englischen Landwirtschaft von der deutschen, daß dort,
seitdem es fast nur noch Pachtwirtschaften giebt, die Pächter, bei uns dagegen
die Grundeigentümer selbst von den Krisen betroffen werden. Dadurch wird
die Wirkung der Krisen verschärft, was sich darin zeigt, daß die englischen
Landwirte den Marktaussichten rascher folgen als die deutschen durch Ver¬
größerung oder Verringerung der Anbaufläche, durch Vermehrung oder Be¬
schränkung des Viehbestandes, und daß in Krisen englische Pächter in verhältnis¬
mäßig größerer Zahl zu Grunde gehen als deutsche Gutsbesitzer. Der englische
Pächter steht zum renteheischenden Landlord in einem ähnlichen Verhältnis
wie der deutsche Gutsbesitzer zum Hypothekengläubiger. Hasbach hätte erklären
sollen, wie es kommt, daß die Landlords verhältnismäßig wenig von den
Krisen betroffen werden und oft lieber eine Pachtwirtschaft eingehen lassen,
als daß sie die Rente entsprechend herabsetzen. Was sie befähigt, ihre Nenten-
ansprüche entweder durchzusetzen oder ganz auf landwirtschaftliche Rente zu
verzichten, dürften besonders zwei Umstände sein: ihr großer Reichtum, der
zum Teil aus industriellen und Handelsunternehmungen und aus dem Aus¬
land und den Kolonien fließt, sodaß sie den Ausfall einiger Gutspachtzinseu
nicht zu beachten brauchen, und der Umstand, daß sie einen Teil ihres Grund
und Bodens als Bauplätze verwerten können. Selbst die Lumpenviertel Londons
bringen den Lords, denen die Grundstücke gehören, mehr ein, als eine hundertmal
so große mit Weizen bebaute Fläche bei hohen Getreidepreisen bringen würde.
Auch stehen ja die Wohnungen der meisten Industriearbeiter, mögen sie in
Städten oder in sogenannten Dörfern liegen, auf den Grundstücken großer
Landlords. Hasbach teilt mit, daß in der Zeit der hohen Armensteuer viele
Landlords ihre ganze Steuerleistung von den Armen selbst in Gestalt von
Hausrente wiedererhalten haben.
Fünftens sehen wir auch bei Hasbach, wie auf der Loslösung der kleinen
Besitzer und Pächter vom Boden der ganze heutige Gesellschaftszustand Eng¬
lands ruht. Die Scharen der proletarisirten Nachkommen der ländlichen Be¬
völkerung mußten in die Städte zusammenströmen, und sie machten die Aus¬
dehnung der Industrie sowohl notwendig als auch — durch das reichliche
Angebot billiger Arbeit — lohnend. Lohnend aber, und sogar schon möglich,
nur unter der Voraussetzung des Exports, da die ländliche Bevölkerung die
Erzeugnisse der heimischen Industrie desto weniger zu verdauen vermochte, je
spärlicher und je proletarischer sie wurde. Und nachdem sich die englische
Exportindustrie ins Maßlose ausgedehnt hat, kann der Getreideimport nicht
mehr entbehrt werden, nicht bloß weil die englische Landwirtschaft den Bedarf
der Jndustriebevölkerung selbst bei intensivster Ausbeutung aller landwirt¬
schaftlich verwertbaren Flächen nicht mehr zu decken vermöchte, was von Theo¬
retikern angefochten wird, sondern noch aus einem andern Grunde, den unsers
Wissens vor Hasbach noch niemand hervorgehoben hat: wenn England nicht
ungeheure Massen Nahrungsmittel einführte, womit sollten denn da seine
Zndustrieartikel bezahlt werden? Die Agrarstaaten, nach denen es vorzugsweise
exportirt, können doch uur mit Lebensmitteln und Rohstoffen zahlen; die Roh¬
stoffe aber reichen zur Bezahlung nicht hin. Also England würde einen Teil
seines Exports und ein Teil seiner Arbeiterbevölkerung würde sein Einkommen
verlieren, wenn seine Exportwaren nicht zu einem großen Teil mit Lebens¬
mitteln bezahlt werden könnten. Die Einsicht in diese Verhältnisse ist i« Eng¬
land zu allgemein verbreitet, als daß dort noch einmal eine Agrarierbewegung
nach dem Muster unsrer deutschen Einfluß gewinnen könnte. Die englischen
Pächter und Landlords seufzen und klagen gleich den unsern und spinnen
wie diese schutzzöllnerische und bimetallistische Hirngespinste, aber sie wissen,
daß das Hirngespinste sind, und denken nicht daran, damit ernsthaft Politik
zu treiben. Selbst sieben bimetallistische Minister bilden noch kein bimctal-
listisches Ministerium.
Sechstens findet auch Hasbach, und zwar durch genaue Berechnungen,
daß die Landwirtschaft beim Großbetrieb nicht mehr, sondern weniger Erzeug¬
nisse liefert als beim Kleinbetrieb. Der Großbetrieb liefert einen größern
Überschuß, das heißt: wenn er auf derselben Fläche dieselbe Lebensmittelmenge
erzeugt wie eine Anzahl von Kleinbetrieben, so geschieht es mit einer geringern
Arbeiterzahl, sodaß also für den Verkauf mehr übrig bleibt. Und deswegen
fördern landwirtschaftlicher Großbetrieb und Großstadt einander gegenseitig; in
demselben Maße wie der eine, muß auch die andre wachsen. Die durch Zu-
sammenziehung von Landgütern übrig gemachten Menschen müssen in den
Städten zusammenströmen, und dort könnten sie nicht leben, wenn keine Gro߬
betriebe bestünden, die ihnen die Nahrungsmittel nachschickten. Das geht bis
zu dem oben bezeichneten Punkte, den England längst überschritten hat, indem
es aus den angeführten zwei Gründen der ausländischen Nahrungsmitteleinfuhr
bedarf, sodaß für die Jndustriebevölkerung dieses Landes der inländische land¬
wirtschaftliche Großbetrieb heute eigentlich nicht mehr nötig ist. Also der
Großbetrieb erzeugt dieselbe Lebensmittelmasse auf derselben Fläche mit weniger
Menschen, aber er erzeugt auf dieser selben Flüche nicht mehr Nahrungsmittel,
sondern oft weniger als der Kleinbetrieb. Was dem Kleinbetrieb an Kunst¬
mitteln der modernen Ackerbautechnik etwa abgehen mag, das wird reichlich
aufgewogen durch die jedem Fleckchen Acker zugewendete sorgfältige und an¬
haltende Arbeit. Mungs Ausspruch, daß eigner Grundbesitz (und schon ge¬
sicherte Kleinpacht) Sand in Gold verwandle, hat sich noch stets, namentlich
sehr deutlich in England bewährt. Es ist wahr, daß der Kleinbauer nicht
solches Prachtvieh erzeugt wie der rationelle Großwirt (Prachtvieh bloß vom
Standpunkte des allein auf hohen Gelderlös sehenden Kapitalisten aus; an
sich sind die intelligente, frei weidende Alpenkuh und die Kuh des kleinen
Mannes, die ihm als treue Freundin den Acker bestellen hilft und selbst das
nur mäßig gemästete Schwein des armen Mannes weit erfreulichere und in
der Stufenleiter der lebenden Wesen höher stehende Geschöpfe als die im Stall
gezüchtete Kuh des Großguts, die bloß als Milchbereitungsmaschine behandelt
wird, und der unförmige Fettklumpen, der ursprünglich ein Schwein gewesen
ist). Aber dafür war das Vieh vor der Vernichtung der kleinen Wirtschaften
und vor Einhegung der Gemeinweiden weit zahlreicher als jetzt. Jeder tage¬
löhnernde Ackerhäusler hatte seine Kuh, seine paar Schweine, Ziegen, Schafe
und vor allem sein Geflügel; es gab in ganz England keinen kleinen Mann,
der nicht seine gebratnen Tauben, Enten und Gänse, seine Eier und Milch
für seine Kinder gehabt hätte. Heute wäre beim armen Engländer der bloße
Gedanke an Geflügelbraten lächerlich, und statt der Milch hat er schlechten
Thee. Alle diese schönen Dinge wachsen nicht mehr für ihre Pfleger, sondern
werden nur noch „für den Markt produzirt."
Siebentens bestätigt Hasbachs Darstellung unsre Ansicht, daß die Aristo¬
kratie, gleichviel ob die Herrschenden Großgrundbesitzer, Großindustrielle, Gro߬
händler, Finanzbarone oder eine Beamtenkaste oder eine Mischung von cilledem
sind, die schlechteste Regierungsform ist. Die Masse des Volks besteht immer
aus Armen und aus Wenigbemittelten, und da deren Interesse im Gegensatz
zu dem der Reichen und Vornehmen steht, so befindet sich, wenn diese herrschen,
das Volkswohl in den Händen seiner Gegner. Das natürlichste wäre, das;
das gemeine Volk seine Angelegenheiten selbst ordnete. Aus bekannten Gründen
ist das jedoch bloß in kleinen Vauernstaaten möglich, wie heute noch die
Schweizer Urkantone sind und auch die Burenrepublik in Transvaal zu sein
scheint. Im Großstaat würde das Volkswohl am besten bei einem unum¬
schränkten Monarchen, bei einem wohlwollenden Despoten aufgehoben sein,
wenn es bloß auf dessen guten Willen ankäme. Denn unter zehn Menschen,
also auch unter zehn Monarchen, giebt es immer höchstens einen, dem die
Leiden seiner Mitmenschen Vergnügen machten, und der nicht lieber als Wohl¬
thäter gepriesen, als als Unhold verabscheut werden mochte. Und wenn der
eine von schlechtem Charakter klug ist, so wird er seinen schlechten Neigungen
nur im engen Kreise seiner nähern Umgebung die Zügel schießen lassen, das
Volkswohl' aber fördern, weil er weiß, daß es die Masse ist, die ihm die
Steuern und die Soldaten liefert. In der That kann man sich nichts humaneres
denken als die Arbeiterschutzverordnungen der russischen Zaren von Peter dem
Großen an, die mit ihren guten Absichten in diesem Stück der westeuropäischen
Kultur um hundertfünfzig Jahre vorausgeeilt sind.") Auch fuhren die Be¬
amten eines Autokraten mit den großen Herren, die den Absichten des Mon¬
archen widerstreben, eine ganz andre Sprache als westeuropäische Minister und
Regierungspräsidenten. Den Fabrikanten, die ihre Gutachten gegen die im
Jahre 1860 vorgeschlagne Anstellung von Fabrikinspektoren abgaben, antwortete
Graf Baranow, der Gouverneur von Twer, ihre Versicherung, daß sie das
Wohl des Staates und der Arbeiter wahrnahmen, sei Lüge, ihre Entrüstung
Heuchelei, ihre Interessen stünden im Gegensatz zu denen von Staat und Volk,
und sie selbst seien Sklavenhändler. Der Fehler an den vortrefflichen Ma߬
regeln der russischen Herrscher ist nur, daß sie dem Volke nicht das geringste
nützen. Der Despot eines großen Reiches ist bei all seiner Macht das hilf¬
loseste Wesen von der Welt; es ist ihm schlechterdings unmöglich, die wirk¬
lichen Zustände kennen zu lernen und seinen Willen durchzusetzen. Gerade die
heilsamsten seiner Verordnungen haben am wenigsten Aussicht, durchgeführt zu
werden. Das russische Arbeiterelend kann sich daher kühn dem englischen an
die Seite stellen und ähnelt diesem, wie es vor fünfzig Jahren war, auch
darin, daß es nicht selten zu Brandstiftungen und andern Verbrechen führt,
die nicht etwa das Erzeugnis einer planmäßig geleiteten Arbeiterbewegung
sind, sondern eben darum, weil eine solche nicht möglich ist, begangen werden.
Denn der russische Bauer — auch die Fabrikarbeiter bleiben in Rußland be¬
kanntlich noch Bauern — ist zwar das geduldigste Schaf auf Gottes Erdboden,
aber zuweilen treibt ihn die übermäßige Grausamkeit seiner Peiniger doch zu
Verzweifluugsthateu. Wenn demnach dem Volke des Großstaats weder die
Demokratie noch die Monarchie, jedes für sich allein, helfen können, so wird
die Verbindung von beiden das beste sein: eine Verfassung, die, ohne die Großen
ohnmächtig und mundtot zu machen, dem gemeinen Volke eine gesetzliche Ver¬
tretung seiner Interessen gewährt, dem Monarchen die Entscheidung vorbehält
und Verwaltung und Negierung unter die Kontrolle einer durch keine Polizei-
und Justizchikanen beschränkten Öffentlichkeit stellt. Die Erhaltung des deutschen
Bauernstandes verdanken wir ohne Zweifel hauptsächlich zwei Umständen:
dem Fehlen einer herrschenden Aristokratie in den letzten Jahrhunderten und
der kontinentalen, zur Unterhaltung stehender Heere zwingenden Lage unsers
Landes. Die deutschen Krautjunker waren zu arm und zu unwissend, eine
ganz Deutschland umfassende organisirte politische Macht bilden zu können;
kaum daß der Adel einer kleinen Landschaft fest zusammenhielt. Die großen
deutschen Adlichen aber wurden Souveräne und kamen dadurch zu ihren Bauern
in ein ganz andres Verhältnis als die englischen Lords; während diese auf
privatwirtschaftliche Ausnützung ihres Bodens angewiesen waren und die
Bauern als Konkurrenten Vertrieben, mußten sich die kleinen deutschen Sou¬
veräne auf ihre Bauern als auf Steuerzahler, Soldaten und Pferdezüchter
stützen und auf deren Erhaltung bedacht sein. Am meisten Energie haben darauf
bekanntlich die Hohenzollern verwandt, in deren Gebieten es auch am nötigsten
war; ist es ihnen doch trotz aller aufgewandten Mühe nicht gelungen, zu ver¬
hüten, daß wenigstens strichweise, in Pommern, in Ost- und Westpreußen, in
Posen, in einem Teile Oberschlesiens annähernd englische Zustände entstanden
sind. In England ist es mit dem Bauernstande reißend bergab gegangen
von der Zeit an, wo man keine Landmacht mehr brauchte, weder für Kriege
gegen Frankreich, noch für Bürgerkriege, und wo die Aristokratie dem König
alle Macht nahm. Es ist aber wohl zu beachten, daß die englischen Aristo¬
kraten eben unter dem starken Königtum, das sie hinderte, Souveräne zu werden,
das geworden sind, was sie zu einem Landschaden gemacht hat: Großgrund¬
besitzer, und daß die Dinge bei uns in Deutschland ganz ebenso, nur der Zeit¬
folge nach umgekehrt, verlaufen können. Das heißt, nachdem die ehemaligen
kleinen Souveräne zu bloßen Großgrundbesitzern herabgedrückt worden sind,
können sie sich durch privatwirtschaftliche Ausbeutung ihres Besitzes schadlos
halten und den Bauernstand, an dessen Erhaltung sie kein unmittelbares Inter¬
esse mehr haben, vernichten.
Das wären so die hauptsächlichsten unsrer Ansichten, die wir bei Hasbach
bestätigt finden. Über den eigentlichen Gegenstand seiner Arbeit mögen sich
die Leser aus dem Buche selbst unterrichten. Wir beschränken uns hier auf
ein paar Bemerkungen. Das eigentümliche des englischen Arbeiterwesens im
vorigen Jahrhundert und im Beginn des laufenden besteht in seiner Verquickung
mit dem Armenwesen. Der vom Boden losgelöste Arme ist vimxsr, Kirch¬
spielarmer. Das Kirchspiel ist zu seiner Erhaltung verpflichtet und gewährt
ihm den notdürftigen Lebensunterhalt, dafür verwertet es seine Arbeitskraft.
Die Kirchspielarmen werden auf Märkten oder durch private Abmachungen ver¬
kauft oder vermietet. Da der freie Arbeiter natürlich keinen höhern Lohn er¬
langen kann als seine Konkurrenten, die Kirchspielarmen, die in Masse ange¬
boten werden, dabei aber in arbeitsloser Zeit dem Hunger preisgegeben ist, so
bleibt ihm nichts übrig als selbst Muxsr zu werden, sich zur Sicherung seines
Unterhalts in die Sklaverei zu begeben. Der einzelne junge Mann kann es
bei noch so großer Anstrengung und Tüchtigkeit nicht höher bringen, als eben
zum „Existenzminimum"; mehr zahlt man ihm nicht; will er mehr haben, so
muß er sich Kinder verschaffen, denn für jedes Kind wird ein Zuschuß ge¬
währt. Er heiratet also so früh wie möglich und zeugt so viel Kinder wie
möglich; dadurch wird seine Lage ein wenig erträglicher, bis seine Kinder aus
dem Hause kommen und sein Tagegeld wieder abnimmt; er endet gewöhnlich
im Arbeitshause. Ebenso muß sich die Magd, die keinen Mann bekommt, un¬
eheliche Kinder anschaffen, wenn sie es etwas weniger schlecht haben will. Es
versteht sich, daß die ländlichen Arbeiter ebenso schlecht behandelt werden wie
die in der Industrie, nur daß ihre Arbeit nicht in gleichem Grade gesund¬
heitsschädlich und den Knochen und Gliedmaßen verderblich ist. Man muß
bis auf die schlimmsten Auswüchse der altrömischen Sklaverei zurückgehen, um
auf eine ähnliche Herabwürdigung und Mißhandlung des Menschen zu stoßen;
die altgriechische bietet kein Seitenstück dazu. Selbstverständlich wanderten alle
jungen Leute aus, die sich noch die erforderliche Thatkraft gewahrt hatten und
die die Mittel aufzutreiben vermochten; die Arbeiterorganisationen unsers Jahr¬
hunderts verwenden einen Teil ihrer Einnahme darauf, den Genossen, die Lust
dazu haben, die Ab- oder Auswanderung zu ermöglichen. Neben dein System
der Kirchspielarmen, denen das Gesetz von 1834 ein Ende machte, bildete sich
das Gangsystem aus, von dem wir in Deutschland durch die seit Einführung
des Zuckerrübenanbaus überHand nehmenden Wanderarbeiter einen Begriff be¬
kommen haben. Übrigens ist die ältere Arbeitsverfasfung nicht überall in Eng¬
land zu Grunde gegangen; namentlich im Norden findet man noch Verhält¬
nisse erhalten, die denen unsrer deutschen Heuerleute und Jnseen ähnlich sind;
dort ist der ländlichen Arbeiterbevölkerung anch noch ein höherer Grad leib¬
licher und sittlicher Gesundheit erhalten geblieben.
Was auch den ländlichen Arbeitern eine Bewegung zur Besserung ihrer
Lage ermöglichte, das war einerseits der Interessengegensatz zwischen Industrie
und Landwirtschaft, der zur Folge hatte, daß die Landlords die industriellen,
die Fabrikanten die ländlichen Arbeitergreuel aufdeckten, andrerseits die eng¬
lische Vereins-, Versammlungs-, Rede- und Preßfreiheit. Zwar die ersten
sechs ländlichen Arbeiter, die, durch Hunger und Überarbeit zu einem Entschluß
gestachelt, 1834 einen Gewerkverein zu gründen versuchten, wurden zur De¬
portation verurteilt, aber die öffentliche Meinung ließ diesen Unterdrückungs-
versuch nicht zum System werden. Es wurden Vereine gegründet, Versamm¬
lungen unter freiem Himmel abgehalten, und in neuerer Zeit schickt die I^rut
Ro8t>org,t,ion I^ÄZus rotangestrichne Wagen (rsü ours) in die Grafschaften, die
Betten für die Agitatoren enthalten, Tausende von Druckschriften in ihrem
Innern bergen, und von denen aus die Agitatoren, jeden Abend in einem
andern Dorfe, Reden halten. Die ländlichen Arbeitervereine richten wegen der
Armut ihrer Mitglieder nicht viel aus, wie denn auch die neuer« Gewerk¬
vereine der ungelernten Industriearbeiter schon wieder in der Auflösung be¬
griffen sind. Aber die Bewegung hat die Aufmerksamkeit der Politiker auf
die ländlichen Verhältnisse gelenkt, und man ist jetzt ziemlich allgemein über¬
zeugt, daß sich ein Zustand, der das platte Land entvölkert, die Menschen in
Riesenstädten zusammendrängt und einen großen Teil des Volkes leiblich ver¬
kommen und sittlich verwildern läßt, auf die Dauer nicht wird halten können.
Schon hat man durch ein wenig Schulzwang die Kinderarbeit eingeschränkt
und mit einer Reihe von Gesetzen die Wiederansässigmachung der Landarbeiter
angebahnt. Drei Acres und eine Kuh ist seit langem das Losungswort nicht
allein der Landarbeiter, sondern auch der Gesetzgeber geworden, und man ist
noch weiter zu dem Plane fortgeschritten, auch den Bauernstand wieder¬
herzustellen. Außer den ootwAö Z-Mgus (Grundstücken unmittelbar am Häuschen
des Arbeiters) und den iülotinöuts oder llslä glu-äsns (größern Grundstücken
im freien Felde, die dem Arbeiter durch Pacht oder Kauf zugänglich gemacht
werden) arbeitet man an der Schaffung eines neuen Bauernstandes durch Be¬
gründung von small lwläing'8, kleinen selbständigen Landwirtschaften. Das
eingangs erwähnte Gesetz vom 26. Juni 1892 verfolgt denselben Zweck wie
die preußischen Ansiedluugs- und Nentengütergesetze. Beim Kaufabschluß muß
ein Fünftel der Kaufsumme bezahlt werden, die übrigen vier Fünftel sind
binnen fünfzig Jahren zu tilgen; ein Viertel kann als ewige Rente auf dem
Gute stehen bleiben. Die Größe dieser sirMI KoläwZs soll sich zwischen 1 und
50 Acres, also 1^ und 80 preußischen Morgen bewegen. Für die Arbeiter
wurde dann in der Weise gesorgt, daß den Kirchspielräten die Befugnis erteilt
wurde, zwangsweise Land zu pachten, es zu Parzelliren und die Ällotmönts an
Einwohner zu verpachten. Welchen Erfolg diese Maßregeln haben werden,
muß abgewartet werden; jedenfalls ist die Vernichtung der alten Bauernschaft
ein leichteres Werk gewesen, als es die Schaffung einer neuen sein wird. Doch
war die Zahl der kleinen Besitzungen und Pachtungen schon vor diesen Gesetzen,
von 1873 bis 1890, in erfreulicher Zunahme begriffen; die Feldgärten ver¬
mehrten sich von 242542 auf 441024, die kleinen selbständigen Bauerwirt¬
schaften allerdings in weit geringerm Maße: von 294729 auf 308348. und
darunter sind auch noch 25680 Zwergbetriebe von weniger als einem Acre.
Aus dem Anhange Scharlings ersehen wir, daß sich der kleine Baueru-
staat Dänemark noch vollkommen gesunder Zustände erfreut, weil in ihm die
Anhäufung von Großgrundbesitz auf gesetzlichem Wege verhindert worden ist.
In Schweden machen sich ungesunde Zustande auf dem Lande und demgemäß
eine ländliche Arbeiterfrage schon bemerkbar.
Das ländliche Idyll, wie es Vater Haydns Jahreszeiten in Worten und
Tönen malen, ist kein leerer Traum und kein Hirngespinst. Es ist millionen¬
fach dagewesen und ist auch heute noch tausendfach vorhanden, wie wir aus
eigner Anschauung wissen, wenn sich auch seine wirklichen Gestalten und Farben,
in der Nähe gesehen, grober ausnehmen, als in einer idealisirenden Kunst¬
schöpfung. Eine der wichtigsten Fragen unsrer Zeit ist, ob die Arbeit der
zerstörenden Mächte, der es auch bei uns in Deutschland ausgesetzt ist, ihren
Lauf haben, oder ob es uns erhalten bleiben und in größerm Umfange neu
geschaffen werden wird. Die Mächte, die an seiner Zerstörung arbeiten, haben
wir oft genug bezeichnet. Vielleicht die gefährlichste unter ihnen ist im Augen¬
blick das Agrariertum, das unter dem Vorwande, den Bauernstand erhalten
zu wollen, gesetzliche Maßregeln durchzusetzen sucht, die nur dem Großgrund¬
besitz nutzen- Den Bauer, der noch zufrieden und einträchtig mit seinem Ge¬
sinde und seinen Tagelöhnern wirtschaftet, fuchen die agrarischen Agitatoren
in die rein kapitalistische Wirtschaftsweise hineinzudrängen und hineinzuängstigen,
indem sie ihm vorrechnen, daß er seinen Arbeitern viel zu viel gebe und für
seine Produkte viel zu wenig erhalte, und indem sie ihm zu einem „rationellen"
Betrieb verhelfen, der vorübergehend zwar seine Einnahmen erhöhen kann, ihn
aber dafür allen Gefahren der schwankenden Konjunktur aussetzt.
leder einmal hat der schmähliche Zusammenbruch eines viel ge¬
nannten Berliner Rechtsanwalts, seine Flucht und seine steck¬
briefliche Verfolgung wegen ehrloser Vergehen gegen das Straf¬
gesetz die Öffentlichkeit beschäftigt und erregt. Es läßt sich nicht
behaupten oder gar nachweisen, daß sich die Zahl der strafbaren
Handlungen, die Rechtsanwälte in ihrem Beruf begehen, mehr vergrößert habe,
als es die sehr vermehrte Anzahl der Personen, die sich diesem Berufe widmen,
erklärlich erscheinen läßt. Was aber dem, der das Rechtsleben unsers
Volkes beobachtet, schwere Bedenken erregen muß, ist die Veränderung, die
immer mehr in dem ganzen Wesen der Anwaltschaft Platz greift, und der
Gegensatz, in den der Anwalt immer mehr zum Richter tritt, und der schon
jetzt zu sörmlicher Feindschaft ausartet. Die Ausbrüche dieser Feindschaft
kommen in Berichten hauptstädtischer Zeitungen ab und zu zur Kenntnis des
großen Publikums; viel häufiger verhallen sie in den Räumen der Gerichts¬
zimmer, aber immer hinterlassen sie eine steigende gegenseitige Verbitterung.
Wie sich das Wesen der Anwaltschaft in Preußen seit fünfzig Jahren
geändert hat, wird sofort klar, wenn mau sich das Bild eiues preußischen
Justizkommissarius der vierziger Jahre vergegenwärtigt und ihm das eines
modernen Rechtsauwalts von — um sagen wir von dem Typus des Fritz
Friedmann gegenüberstellt. Jener ein etwas steifer, trockner, grober Herr,
selten von größerer allgemeiner Bildung, aber sehr ehrenwert, dieser ein geist-
uud kenntnisreicher, über alles absprechend urteilender Herr, aber seiner Klientel
gegenüber ein höchst geschmeidiger Lebemann, richtiger vivzur, da das deutsche
Wort das Gemeinte nicht völlig deckt; jener sestsitzend in einer ihm vom Staate
zugewiesenen, aber fast immer örtlich beschränkten Praxis, dieser darauf an¬
gewiesen, sein Leben, an das er große Ansprüche macht, durch erbitterten Kampf
gegen die Konkurrenz zu gewinnen, und seine Thätigkeit auf alles Erreichbare
ausdehnend.
Dem Justizkommissar folgte in den fünfziger Jahren der Rechtsanwalt
und Notar. Auch dieser war vom Staate angestellt, meist schon in reifern
Jahren, es war ihm ein bestimmter Bezirk, ein bestimmter Gerichtshof zuge¬
wiesen, und auch jetzt noch ging die Praxis selten über diesen Bezirk hinaus.
Schärfer schon wurde der Kampf gegen die Konkurrenz der andern Kollegen.
Immerhin war die Zahl der bei einem Gericht angestellten Anwälte nur niedrig,
und so war die Gegenpartei in der Auswahl ihres Vertreters auf eine oder
doch nur wenige Personen beschränkt, die Praxis also auch hier noch immer
ohne großen Kampf gesichert. Auch dieser Rechtsanwalt und Notar fühlte
sich als Beamter der Rechtspflege, und so entspann sich durch langjähriges
Zusammenwirken an einem Gerichtshofe zwischen den Richtern und deu An¬
wälten, soweit uicht persönliche Differenzen vorkamen, die aber im amtlichen
Verkehr streng unterdrückt wurden, häusig, ja meistens ein gutes Verhältnis
von Kollegialität.
Diese auch heute noch zahlreich vorhandnen Anwälte zeigen in der Führung
ihres Amts und ihres Lebens durchschnittlich ein andres Wesen, als das ihnen
jetzt nach Freigebung der Advokatur nachrückende junge Geschlecht, das ihnen
die Praxis bedrängt und ihre früher gesicherten Einnahmen bedroht. Ein Teil
dieser ältern Anwälte giebt den Kampf gegen die Jüngern auf und zehrt von
den Resten der frühern Praxis, die immer mehr abbröckelt, ein andrer Teil
kämpft weiter, indem er sich den Geschäftsbetrieb der Jüngern anzueignen sucht,
sich auch wohl mit einem von ihnen verbindet, wobei er uicht ohne bitteres
Gefühl sieht, daß er es doch nicht so recht versteht, ein kleiner Teil endlich
sieht in fester, gewinnbringender Praxis dem Treiben behaglich zu, da es ihm
nicht mehr viel schaden kann, weil er sein Schäfchen im Trocknen hat.
Wie lange aber noch, und diese Vertreter des Anwaltstaudes sind ver¬
schwunden! Werden dann die, die an ihre Stelle treten, in ihrer Gesamtheit
geeignet sein, den preußischen Anwaltstand, der an Ehre, Treue, Zuverlässig¬
keit und Gewissenhaftigkeit an der Spitze der Berufsgenossen aller Nationen
stand, jedenfalls von dem keines andern Kulturvolkes übertroffeii wurde, auf
seiner Höhe zu halten? Nicht nur in den Kreisen der Richter, sondern auch
in den Kreisen der ältern Anwälte wird diese Frage bedenkliches Kopfschütteln
errege».
Stellt man sich aus den Standpunkt des Richters und fragt: Was ver¬
langen wir von einem Rechtsanwalt? so wird in alle» Fällen die Antwort
lauten: Der Anwalt soll helfen, das Recht zu finden, sei es im bürgerliche»
Rechtsstreit, sei es im Strafverfahre». Er soll ein Helfer sein für die der
Formen des Rechts unkundige Partei, er soll darauf achte», daß nicht durch
Verletzung oder Nichtbeachtung der vorgeschriebnen Form der Rechtsuchende
sein Recht ganz verliert und Unrecht leiden muß, er soll dafür sorgen, daß
materiell alles beigebracht werde, was zur Findung des Rechts durch den
Richter und zur Beseitigung von Fehlsprüchen nötig ist, aber er soll nicht im
bürgerlichen Rechtsstreit durch verschleppende Anträge, durch Bestreiteu der
offenbare» Wahrheit und Behaupten von Unrichtigem die Entscheidung hin¬
ziehe» und den Richter verwirren, er soll nicht im Strafverfahren durch allerlei
Manöver den Thatbestand zu verdunkeln und den Schuldigen der verdienten
Strafe zu entziehen versuchen.
Es ist kein Zweifel, daß die Zahl der Anwälte wächst, die solche Ver¬
schleppungen, Verwirrungen und Verdunklungen oft in sehr geschickter Weise
herbeiführe», denen es nicht darauf ankommt, das Recht zu fördern, sondern
nur darauf, im Interesse des Ansehens ihrer Geschäftskunde und damit ihres
Gewinns möglichst viel Prozesse zu gewinnen und als Verteidiger den An¬
geklagten „rausznreißen," selbst wenn sie überzeugt sei» müssen, der Mann sei
schuldig, oder das Recht sei bei der Gegenpartei.
Es wird so oft behauptet, die Güte des Richterstaudes gehe herunter, ja
sei schon heruntergegangen. Man folgert das aus dem Zurücktreten der Richter
von der Führung politischer Parteien, aus manchen in die Öffentlichkeit ge¬
brachten der Menge unverständlichen Sprüchen. Es wird behauptet, die Richter
müßten ja wenig unterrichtete Leute sein, denn die Studenten der Rechtskunde
thäten ans der Universität nichts andres, als trinken, bummelu und das
rüde Drohuenleben von Kvrpsstndeiiten führen. Das müßte man aber doch
von alle» Juristen, namentlich auch von den Verwaltungsbeamten und von
den Rechtsanwälten behaupten können, denn auch sie waren einst Studenten
der Rechtskunde. Alle solche allgemeinen Behauptungen halten die Prüfung
nicht aus. Sie werden leichthin ausgesprochen; die, die sie aufstellen, sind
meist grämliche lÄuil^tores teinxoris aeU, oder sie leiten von einzelnen Fällen,
die in die Öffentlichkeit gedrungen sind, ein Urteil über die Gesamtheit ab.
Es kann unbestritten bleiben, daß bei deu Korps eine Art der Lebensführung
an die Öffentlichkeit tritt, die niemandes Billigung finden kann, der deu Ernst
des Lebens kennt, ebenso unbestritten ist, daß sich der Bestand der Korps vor
zugsweise aus deu mehr bemittelten Studenten der Rechtskunde bildet; be¬
achtet man aber, daß auf 3—4000 Studenten der Rechtskunde vielleicht
20 Mitglieder von Korps kommen, da die Anzahl der Korpsstudenten der
Anzahl der Studirenden gegenüber äußerst gering ist, so wird man die Un¬
richtigkeit des Schlusses von der Trägheit dieser wenigen auf die Gesamt¬
heit ohne weiteres einsehe». Andrerseits würde es Wohl überraschen, wenn fest¬
gestellt würde, wieviel Prozent dieser ehemaligen Drohnen sich nicht nur
in hervorragenden Stellungen befiudeu, sondern auch als anerkannt tüchtige
Männer dastehen. Ganz im Gegenteil kann dreist behauptet werden, daß die
jünger» Richter durchschnittlich über ein das Mittelmaß ansehnlich überschrei¬
tendes theoretisches Wissen gebieten; in der Praxis tritt bei ihnen ein oft zur
Kleinlichkeit neigendes und zu einer vollständigen Verkennung der Forderungen
des Lebens ausartendes Kleben am Buchstaben, eine gewisse Ungewmidtheit im
schriftlichen Ausdruck, sowie eine unnötige Barschheit gegen das rechtsuchcude
Publikum hervor. Ferner fällt dem ältern auf, daß — ganz im Gegensatz zu
deu sechziger und siebziger Jahren — ein liberal oder gar ein fortschrittlich ge¬
sinnter Assessor kaum noch zu finden ist, und wenn schon, dann ist es in neun
von zehn Fällen sicherlich el» jüdischer Assessor. Aber Unkenntnis des prak¬
tischen Lebens und übermäßige Barschheit sind Fehler, die der Jugend ankleben
und mit der zunehmenden Erfahrung und der wachsende» Erkenntnis, daß der
Richter für die Rechtsuchenden und nicht diese für ihn basirt, verschwinden.
Kommt nnn el» Fehlgriff eines junge», sonst vielleicht recht fähigen und tüch¬
tige» Richters bei der jetzige» Öffentlichkeit des Verfahrens in die Presse und
damit zur Kenntnis der Menge, flugs ist da wieder ein vernichtendes Urteil
von dem einzelnen Fall auf die Gesamtheit fertig. Auch Mißgriffe, nament¬
lich in der Strafrechtspflege, die ja vorzugsweise die Öffentlichkeit beschäftigt,
werden sofort der Minderwertigkeit des jetzigen Nichterpersonals zugeschoben.
Wenn aber das Richterpersonal der Zahl nach nicht imstande ist, sein Arbeits¬
pensum, das sich täglich häuft, mit der Ruhe zu erledigen, die die Wichtigkeit
auch der geringste» Strafsache erfordert, wenn es mir immer heißt: ihr müßt
fertig werden, dürft keine Neste haben, es muß schnell gehen, dann kann es
wohl kommen, daß auch die fähigsten, gewissenhaftesten Richter unter der Last
der ihnen aufgebürdeten Sachen erlahmen. Daß sich jetzt so wenig Richter an
den politischen Kämpfen beteiligen, liegt wohl in der Verflachung der politischen
Überzeugungen und in dem Zurücktrete» extremer Parteiaiifichte» überhaupt,
dann aber auch in der amtlichen Überbürdung, die thatsächlich sehr wenig Zeit
zu andern Dingen läßt. Ein Schluß auf Minderwertigkeit des Wissens oder
des Charakters dürfte aus dieser Zurückhaltung nicht zu ziehen sein.
Eine große Anzahl tüchtiger und sehr tüchtiger Männer wird immer noch
dem Richterstnnde entzogen dnrch die Entsagung, die der Richter der Verwal-
tnngslanfbahn gegenüber hinsichtlich seiner Einkünfte und — wenn das zweifel¬
haft sein sollte — jedenfalls hinsichtlich der äußern Ehren üben muß. Die
Verwaltung nimmt bei der jetzigen Massenhaftigkeit des Angebots nur solche
Juristen für ihren Bedarf an, die die Prüfungen hervorragend bestanden haben
— Fälle von Konnexionen u. dergl. außer Acht gelassen. Sie eröffnet dem
fähigen jungen Beamten dadurch, daß seine Leistungen immer den entscheidenden
Stellen bekannt werden, die Möglichkeit schneller Beförderung. Aber auch ohne
außergewöhnliche Beförderung wird der zur Verwaltung übernvmmne Gerichts-
asfessor zu einer Zeit Regierungsrat, wo der gleichaltrige Kollege in der Justiz
vielleicht erst ein oder zwei Jahre Amtsrichter ist und auf die Ernennung zum
Rat, die ihn wieder im Range gleichstellt, mindestens noch zehn Jahre warten
muß. Nach fünfundzwanzig Jahre etatsmüßiner Anstellung wird der erstere
unfehlbar Geheimer Regierungsrat und damit, sowie durch die Orden, die er
inzwischen ohne besondres Verdienst, nur weil er ein der Reihe war, erhalten
hat, in den Angen der Menge ein hervorragender Man», mag auch sein eigent¬
licher Wirkungskreis noch so unbedeutend sein. Es liegt uns nichts ferner,
als für den Richter gleiche Titel usw. zu beanspruchen; wer Richter ist und
seinen Beruf so hoch hält, wie es dieser verdient, wird in seiner bedeutungs¬
voller» Wirksamkeit und seiner Unabhängigkeit reichen Ersatz für äußern
Prunk finden, aber es berührt doch eigentümlich, wenn einem Richter erst nach
fünfzig- oder sechzigjähriger treuer Thätigkeit der Titel Geheimer Justizrat
verliehen wird, it'N>mit> wäre zu wünschen, daß auch der inhalt¬
lose Ratstitel für deu Richter wegfiele. Amtsrichter, Landrichter, Oberlandes-
nchter, Reichsrichter müßten ihre Ehre und ihre» Stolz in der Bezeichnung
als Richter suchen und würden ihn auch sicher darin finden. Aber bei der
strebenden Jugend darf man heute solche Erwägungen nicht voraussetzen, darum
wenden sich viele ab von der undankbaren Dame Justitia. Was aber bleibt,
sind die — und es ist Gott sei Dank die Mehrzahl —, deren Ideal eben der
schöne und unabhängige Richterberuf ist, oder auch solche, die nicht in die Ver¬
waltungslaufbahn eintreten können, und zu diesen gehört der schon erwähnte
jüdische Assessor.
Der jüdische Gerichtsassessor — einen jüdischen Regierungs- oder gar
Fvrstasfessor giebt es uicht — ist gegenwärtig eine ganz eigentümliche Erschei¬
nung in unserm Rechtsleben. Außer dem Lehramt und einigen Stellen der
Medizinalverwaltung ist dem Juden, der sich dem Staatsdienst widmen will,
thatsächlich nur die Richterstellung offen geblieben, obwohl ihm Ah jurs keine
andre Laufbahn verschlossen ist. In den staatlichen Verwaltungen wird man
aber nie ans einen höhern Beamten jüdischer Religion, auch verhältnismäßig
selten auf getaufte Juden treffen, ebenso wenig in den untern Stellungen.
Dort freilich wohl wegen der mangelhaften Bezahlung und des geringen Ein¬
flusses. Zu billigen ist unsers Erachtens diese thatsächliche Ausschließung der
Juden aus dem größten Teil der Verwaltung vom rechtlichen Standpunkte
nicht. Solange der Staat von seinen jüdischen Bürgern gleiche Pflichten ver¬
langt, muß er ihnen auch gleiche Rechte gewähren. Theoretisch thut er es
anch, kein Gesetz schließt aus, daß sich ein Jude zur Verwaltnngskarriere oder
zur Forstkarriere melde. Aber wenn überhaupt Meldungen junger jüdischer
Juristen für Verwaltuugslaufbahneu eingehen, so werden es doch nur sehr
wenig sein. Warum? Weil wohl mit Recht vorausgesetzt wird, daß die
Meldenden doch nicht angenommen werden, dann aber auch, weil die gesell¬
schaftliche und kollegiale Stellung den jüngern Kollegen gegenüber eine uner¬
trägliche werden würde. Die Präsidenten der Oberlandcsgerichte aber nehmen
jeden jüdischen Rechtskandidaten um, sobald er den gesetzlichen Erfordernissen
genügt, und mit Recht, denn ihre Richtschnur ist das Gesetz und nur das
Gesetz, vor dem persönliche Zu- oder Abneigung schweigen muß. Und die
kollegiale Stellung der jüdischen Referendare, Assessoren, Richter, ist sie besser,
als sie bei der Verwaltung sein würde? Bis vor etwa zehn Jahren war sie
es gewiß. Die vorhandnen jüdischen Richter gehören jedenfalls nicht zu den
untüchtigen, man darf behaupten, daß sie sich fast ohne Ausnahme selbst in
der Stellung als Amtsrichter, die ihnen mannichfache Schwierigkeiten bietet,
Geltung und Achtung zu erringen wissen, und daß sie bei den Landgerichten usw.
geschätzte Mitglieder sind. Im letzten Jahrzehnt hat aber infolge der deutsch-
nntivnalen Bewegung auf den Hochschulen der Antisemitismus auch Eingang
in die ihm lange verschlossenen Nichterkrcise gefunden. Unter deu Referendaren
und Assessoren begegnet der jüdische Kollege jetzt immer mehr im besten Fall
kalter Höflichkeit, wird aber sonst gesellschaftlich bohkottirt. Dem ältern Ge¬
schlecht, das der Ansicht ist, daß gleichen Pflichten auch gleiche Rechte gebühren,
will solch uukvllegialisches Treiben nicht recht erscheinen; aber gegen den Zug
der Zeit ist auch hier schwer cmzukämpse». So kommt es, daß sich die jüdischen
Referendare und Assessoren nach den großen Städten ziehen, wo ihre gesell¬
schaftliche Isolirung weniger fühlbar wird, daß immer weniger von ihnen auf
eine Anstellung als Richter warten, und daß sie schließlich, soweit sie nicht bei
Banken und größern Jndustrieunternehmuugcn ankommen, vorzugsweise zur
Rechtsanwaltschaft gehe», zu der sie ihr tüchtiges Wisse,? und ihr scharfer Ver¬
stand hervorragend befähigt, in der sich aber auch die Schattenseiten ihrer
Natur in hohem Grade geltend machen können, und in die sie von Anfang an
und ganz natürlich die Absicht mitbringen, den Richtern die mannichfach er¬
littenen gesellschaftlichen Zurücksetzungen bei jeder passenden Gelegenheit nach
Kräften heimzuzahlen. Dnß diese Absicht manchem vielleicht unbewußt ist, ist
ebenso selbstverständlich, wie daß sie nie ausgesprochen wird, aber vorhanden
ist sie, und ans dieser latenten Feindschaft erklärt sich manches unliebsame Vor¬
kommnis.
Aber auch das würde sich zu einer wirklichen Schädigung unsers Rechts-
lebens nicht ausbilden können, solange nicht ein uuverhältnismäßiges Über¬
wiegen des jüdischen Teils der Rechtsanwaltschaft eintritt. Leichthin wird ja
auch behauptet, daß ein solches uuverhältnismäßiges Überhandnehmen schon
jetzt eingetreten sei; aber eine genauere Prüfung führt zu dem Ergebnis, daß
das eigentlich uur in Berlin, dort allerdings in auffälliger Weise, geschehen ist.
Den Kammergerichtsbezirk zunächst außer Acht gelassen, ergiebt folgende Tabelle
die Gesamtzahl der Ende 1895 in den einzelnen Oberlandesgerichtsbezirken zu¬
gelassenen Rechtsanwälte, einschließlich der bei den Oberlandesgerichten selbst,
und die Anzahl der Juden unter ihnen:
Bei dem fortwährenden Wechsel in den Personen mögen sich die einzelnen
Zahlen verändert haben, die Prozentsätze find jedenfalls annähernd dieselben
geblieben und ergeben im allgemeinen kein Überwuchern des jüdischen Teils der
Anwaltschaft. Freilich ist dabei zu berücksichtigen, daß sich die jüdischen Anwälte
hauptsächlich an den Sitzen der Landgerichte niederlassen, und an solchen zum
Teil mehr jüdische als christliche Anwälte vorhanden sind, z, B. in Thorn
und Posen.
An den Landgerichten des Kammergerichtsbezirks sind Rechtsanwälte zu¬
gelassen nach folgender Zusammenstellung:
Auch aus dieser Zusammenstellung ergiebt sich der Zug der jüdischen Anwälte
zu den großen Verkehrsmittelpunkten. Prenzlau und Ruppin, in vorzugsweise
landwirtschaftlichen Kreisen, huben keinen jüdischen Anwalt.
Nun über Berlin. Es ist von Interesse, hier zunächst die Zahl der
Richter festzustellen. Einschließlich der Präsidenten und Direktoren sind thätig:
Dagegen sind zugelassen:
Die Anzahl der Anwälte übersteigt also die Anzahl der Richter um 236, d. i.
um 56 Prozent, auf 100 Richter kommen 156 Anwälte.
Von den Anwälten des Kammergerichts sind 37 jüdischer Konfession,
also 54 Prozent
Die Gesamtzahl der jüdischen Anwälte beträgt 354, also 4,54 Prozent sämtlicher
Anwälte des Staats. Vor Freigebung der Advokatur wurde auf je zwei Richter
durchschnittlich ein Anwalt angestellt; das mag zu eng bemessen gewesen sein,
dem Bedürfnis würde ein Anwalt auf einen Richter genügen, wie sich deutlich
in der zweitgrößten Stadt Preußens, in Breslau zeigt, wo auf 97 Richter
99 Anwälte kommen, ganz unverhältnismäßig ist aber die Anzahl der Anwälte
in Berlin bei dem Landgericht und Amtsgericht I, wo 1,75 Anwälte auf
je eine» Richter kommen, wobei noch zu bedenken ist, daß fast ein Drittel der
Richter, nämlich die, denen die freiwillige Gerichtsbarkeit obliegt, mit den
Anwälte» »ur wenig zu thun haben. Und das wird noch anwachsen! Nehmen
nur einmal den Zustand von 1885 beim Landgericht und Amtsgericht I.
Damals waren als Richter einschließlich der Präsidenten und Direktoren
164 Richter; als Anwälte waren zugelassen 229 (darunter »9 jüdische). Die
Richter sind in den zehn Jahren vermehrt worden um 12». Die Zahl der
Anwälte hat sich vermehrt um 292, also um mehr als das Doppelte gegen
die Vermehrung der Richter! Der Prozentsatz der jüdischen Anwälte betrug
damals 39 Prozent, er hat sich also vermehrt um 15 Prozent!
Diese Zahlen sprechen für sich selbst, besonders wenn man berücksichtigt,
daß der Prozentsatz der jüdischen Gesamtbevölkerung Berlins ganz »iedrig ist.
Er betrug:
für 1895 ist er noch uicht festgestellt, wird aber kaum 5,50 Prozent erreiche»,
er ist in dreißig Jahren »ur »in etwa 2 Prozent gewachsen. Daß dem gegen¬
über der Prozentsatz der jüdische» Anwälte sowohl als ihr Anwachsen ganz
unverhältnismäßig und deshalb für das Ganze gefährlich ist, bedarf wohl
keines Beweises. Das kaun jedenfalls nicht geleugnet werden, daß in Berlin
mit der übermäßige» Anzahl der Anwälte überhaupt der Konkurrenzkampf
unter ihnen immer erbitterter werden muß zum Nachteil des Rechts, daß der
Anwalt immer welliger bleibt, was er nach unsrer deutsche» Rechtseutwicklung
sei» und bleiben müßte: ein Anwalt des Rechts, und immer mehr zum Ge¬
schäftsmann wird, dem sein Wissen, seine Gesetzeskenntnis die Ware ist, die
er für Geld und möglichst viel Geld verkauft. Die Einnahmen, die solchen
findigen Geschäftsleuten zufließe», sind so gewaltig, daß dagegen der Gehalt
des Reichsgerichtspräsidenten gering erscheint. Gewiß erreichen nicht viele und
durchaus nicht alle fähigen oder gerade die fähigsten solche Einnahmen, ja
mancher Anwalt in Berlin hat sogar hart ums Dasein zu kämpfen. Bei den
höchst mangelhaften Banlichkeite» der Justizverwaltung in Berlin ist so ein
junger Anwalt, der treppauf treppab laufen muß, an einem Tage vielleicht
vo» der Königsstraße nach Moabit, von Moabit nach der Neuen Friedrichs¬
straße oder nach dem Tempelhofer Ufer gehetzt wird, uicht zu beneiden, zumal
wenn ihm »ur kärglicher Lob» dafür wird; aber auch die in ihren Einnahmen
zurückbleiben, sind immer eine Gefahr für das Recht und das Verhältnis zu
den Richtern, denn je „schneidiger" sich bei öffentlichen Verba»dluuge» ein
Allwalt gegen den Richter benimmt, umsvlmhr glaubt er sich der Klientel zu
empfehlen und zu höher» Einnahmen zu kommen. In früherer Zeit flogen
mich manchmal scharfe Worte zwischen den Vorsitzenden und den Verteidigern
hin und her, die seiner Zeit berühmten Verteidiger Deycks, Holthvsf u. a.,
von den neuern Mnnclel, Sello u. a. waren teiuesivegs geneigt, sich ein Blatt
vor den Mund zu nehmen, aber die Entgegnungen blieben doch immer sachlich
und ohne den Beigeschmack, den z. B. die Nedegcfechte im Prozeß Heintze
hatten. An den Gerichtshöfen der Provinz geht es ja im allgemeinen ruhiger
zu, und wenn sich einmal eine größere Meinungsverschiedenheit zeigt, hat sie
selten ärgerliche Folge». Aber ein Vorsitzender einer Berliner Strafkammer, der
wöchentlich mindestens zweimal sechs bis sieben, auch neun und zehn Stunden
anstrengende Verhandlungen zu leiten hat, der auch ab und zu in einer ciiusv
völcidiv eine ganze Reihe von Tagen ununterbrochen verhandeln muß, der
dabei jetzt genötigt ist, womöglich auf jedes Wort zu achten, und der den
offnen und — was noch schlimmer — den versteckten Angriffen rücksichtsloser
Verteidiger ausgesetzt ist, hat für seinen wirklich nicht bedeutenden Gehalt dein
Staat eine unverhältnismäßig große Arbeit zu leisten. Wer solche Arbeit
länger als drei Jahre aushalten soll, muß eine beneidenswerte Ruhe, ein
Riesengedächtnis und Nerven wie Schiffstane haben. Und das gilt nicht bloß
von den Vorsitzenden, sondern überhaupt von einem große» Teil der Berliner
Richter, sie sind so überbürdet, daß sie schließlich, nur um ihr Pensum ab¬
zuarbeiten, zu einer handwerksmäßigen Erledigung der Geschäfte geradezu ge¬
zwungen sind, oder sich so abarbeiten müssen, daß sie, was jetzt immer öfter
geschieht, eine Versetzung in die Provinz anstrebe». Das traurige Ende des
Laudgerichtsdirektvrs Brausewetter bestätigt diese Behauptung. Dieser »»glück¬
liche Richter war ehe» Wege» seines lebhafte» Temperaments nicht imstande,
in seinem schwere» Amt die Ruhe zu bewahren, die nun einmal nötig ist an
einer Stelle, die so der öffentlichen Kritik ausgesetzt ist. Nun lese man aber
die Nachrufe in einem Teil der hauptstädtischen Presse! Welcher Groll macht
sich darin noch einmal gegen den unglücklichen Toten Luft! Da findet man
bestätigt, was oben von der latenten Feindschaft gesagt ist.
Aber selbst der überHand nehmende Geschäftssinn der Anwälte möchte noch
ohne Schaden überwunden werden. Es kommt aber »och eins hinzu, was
namentlich in Berlin und andern großen Städten unangenehm ausfällt: ehr¬
liche Arbeit und tüchtiges Streben »lachen immer bescheiden; wer sich in seinem
Berufe anält, tritt zurück gegen den, der, von Hause aus wohlhabend oder
vom Glück begünstigt, bei reichen Einnahmen auch ein reiches Leben führen
kann, oder der skrupellos durch auffälliges Auftreten, selbst bei nicht aus-
reichenden Mitteln, sein Ziel zu erreichen sucht. Und da zeigt sich jetzt
unleugbar in großen Städten el» neuer gesellschaftlicher Thpns in dem „jungen
Anwalt." I» den Salons der June,L llnaiuzs, ans den Festen und Verstimm-
lungen der Litteraten, der Künstler, der Lebemänner, auf den Rennplätzen trifft
man den laut schwadronirenden, nach der neuesten Mode gekleideten, „Herr
Doktor" genannten jungen Rechtsanwalt. Man wird in seinem immer „geist¬
reichen" Slang unangenehm eine sich und alle Welt ironisirende Lebens-
anschauung bemerken. Wein das philisterhaft erscheint, dem wäre zu wünschen,
daß er einmal ein Stündchen in dem Anwaltszimmer eines große» Berliner
Gerichtshofs zuhören und beobachten könnte. Je höher man den Stand des
Rechtsanwalts stellt — und wir gehören zu denen, die ihn dem Nichter-
stcmde gleichstellen —, je mehr wird man wünschen, daß in ihm der Ge¬
schäftssinn nicht überwuchre und daß ihm alle Frivolität der Lebensauffassung
fernbleibe.
Wie aber soll, wie kann geholfen werden? In einer Zeit, die jeder Auf¬
sicht, jeder Autorität, jeder Beschränkung abhold ist, wird eine Beaufsichtigung
etwa durch die Gerichtspräsidenten, selbst eine Beschränkung der Zahl gar nicht
oder uur sehr schwer durchzuführen sein. Gegen den Minister, der das auch
nur ernstlich versuchte, würde der größte Teil der hauptstädtischen Presse ein
entsetzliches Halloh anstimmen. Und doch wird man nach den angegebnen
Zahlen nicht umhin können, dem Gedanken einer Beschränkung der Anzahl
(immöruL vlimsus) näherzutreten, denn die Zeiten des Imssvr ksiro, laissW »Uhr
scheinen vorüber zu sein.
Wirklich helfen kann allerdings nur das, was aus dem Anwaltstande,
von seiner gesetzlichen Vertretung selbst geschieht, um die unsaubern Elemente
abzustoßen. Sollte es auch dazu schon zu spät sein? Was würde wohl ein
richterlicher Disziplinarhof gegen einen Richter erkennen, der in der dreistesten
Weise fast öffentlich Ehebruch treibt, der wahnsinnig an der Börse spielt, der,
ein-, zweimal finanziell niedergebrochen nud von seinen Freunden gerettet,
immer von neuem unter Bruch des Ehrenworts sein wüstes Treiben beginnt
und seine Pflichten vernachlässigt? Würde der wohl mit einem Verweis oder
einer Geldstrafe wegkommen, und wenn er die herrlichsten Erkenntnisse auf¬
setzen könnte? Ist da die Anwaltkammer auf der Höhe ihrer Aufgabe, oder
wird vom Richter von vornherein ein höherer sittlicher Ernst und eine ehr¬
barere Lebensführung verlangt oder vorausgesetzt, als von einem, der Anwalt
und Schützer des Rechts sein soll? Gewiß würden sämtliche Anwälte gegen
eine solche Annahme protestiren, und sie wäre ja auch verderblich für unser
Rechtsleben. Soll das Rechtsleben unsers Staates sich auf der Höhe erhalten,
die früher unser Stolz gewesen ist, so ist es neben anderm unbedingt erforderlich,
daß die beide» Faktoren der Rechtsfindnng und Rechtsprechung einander gleich¬
wertig sind und bleiben, und daß sie sich nicht grundsätzlich feindlich gegenüber¬
stehen.
in Narren kennen zu lernen, braucht man nicht die Zeit des Kar¬
nevals abzuwarten, obwohl die dazu am meisten geeignet scheint,
denn da kommen uns so viel Narren in den Weg, daß es oft
schwer hält, die andern Menschen aus der Menge herauszufinden,
umsomehr, als diese leicht auch für Narren gehalten werden, gerade
weil sie an der allgemeinen Narrheit nicht teilnehmen. Nicht viel
anders aber ist es im Leben auch. Mnu fühlt sich deshalb versucht, zu fragen,
woran man denn eigentlich den wirklichen Narren erkenne. Kleider machen zwar
Leute, aber das Maskenkleid allein macht offenbar noch nicht den Narre»; den»
wird es nicht mich von manchem angelegt, der keiner ist, und geht nicht mancher
Narr auch ohne Verkleidung herum? Ein andres altes Sprichwort sagt: An vielem
Lachen erkennt man den Narren; aber das ist mich nicht richtig, da es unverkenn¬
bare Narren giebt, die vou einem geradezu tierischen Ernst erfüllt sind, während
wir ans der andern Seite Menschen viel lachen sehen, die wir keineswegs als
Narren, sondern im schlimmsten Falle nur als einfältig bezeichnen können, und das
ist etwas andres als närrisch. Denn die Einfalt, deren höherer Grad die Dumm-
heit ist, besteht in einem Mangel um geistigen Anlagen, namentlich an Auffassung
und Urteil, und ist also das Gegenteil der Klugheit, unter der wir eine gute
Fähigkeit zum Erkennen der Dinge, insbesondre auf dem Gebiete des praktischen
Lebens begreifen. Ein Narr aber ist an und für sich noch kein dummer Mensch, eher
das Gegenteil. Dafür, daß er dumm sei, spricht nicht, daß er nach dem Sprich¬
worte mehr fragt, als zehn Weise beantworten können; denn ein dummer Mensch
fragt nicht viel. Aber freilich, hat dieses Sprichwort Recht? Es bringt die
Narrheit zur Weisheit in Gegensatz, und das läßt sich nicht rechtfertigen. Weis¬
heit hängt etymologisch mit Wissen zusammen und bezeichnet einen Zustand, wo
man durch praktische Lebenserfahrung soviel Erkenntnis erworben hat, daß man
nunmehr weiß, wie es sich mit den Dingen verhält. Vorher konnte man das nicht
wissen, also auch nicht weise sein, selbst wenn man von Hause aus klug war.
Zwar behauptet wieder ein andres Sprichwort, erst durch Schaden werde man
klug; aber das ist auch nicht richtig ausgedrückt: durch Schaden wird man weise.
Denn auch ein kluger Mensch kann sich in übel angebrachten Vertrauen betrügen
lassen, solange es ihm an Weltkenntnis fehlt; so lange ist er eben nicht etwa ein
Narr, sondern dem Kinde gleich, das die böse Welt noch nicht kennt, ein Thor,
ein Unwissender, wie Parsival, der reine Thor, der nach Richard Wagners Auf¬
schlüssen erst durch Mitleid wissend geworden ist. Allerdings nennt Wolfram von
Eschenbach seinen thörichten Zustand tumvusit,, aber er zeigt damit nur, daß er es
mit der Synonymik ebensowenig genau nimmt wie die Sprichwörter, wenn nicht
etwa, wie es so oft geschehen ist, das Wort im Laufe der Jahrhunderte seinen
Begriff gewechselt hat. Denn wenn sich auch ein dummer Mensch, weil ihm die
Fähigkeit abgeht, in ausreichendem Maße zu erkennen, im einzelnen Falle auch als
Thor erweisen wird, so ist doch der Thor nicht notwendigerweise dumm, er hat
eben nnr noch nicht die nötige Erfahrung und kann, wenn er solche erwirbt, weise
werden, was dem Dummen schwerlich jemals gelingt. Denn Dummheit ist, wie
es spöttischerweise heißt, eine Gabe Gottes, richtiger wohl eine Fügung, gegen die
sich nichts machen läßt, wie denn auch selbst Götter vergeblich dagegen kämpfen.
Wenn also Narrheit ebensowenig mit Dummheit wie mit Thorheit verwechselt
werden darf, so stimmt sie doch in einem Punkte mit diese» Eigenschaften überein,
nämlich darin, daß sie zum Lachen reizt. Zwar ob ein thörichtes oder gar dummes
Verhalten nicht eher die Gefühle des Ärgers oder des Mitleids weckt, mag dahin¬
gestellt bleiben. Aber wie oft wird nicht auch darüber gelacht, freilich meist aus
Schadenfreude in dem behaglichen Gefühle, daß man selbst doch besser dran sei.
Ans ein so unedles Motiv nun ist die dnrch Narrheit hervorgerufne Heiterkeit nicht
zurückzuführen; hier ist sie vielmehr die rein ästhetische Wirkung des Komischen.
Da das Komische bekanntlich im allgemeinen darin besteht, daß ein gewisser scharfer
Gegensatz zwischen Meinung und Wirklichkeit in überraschender Weise hervortritt,
so kann auch das Wesen der Narrheit nur in einem solchen Gegensatze liegen.
Bei näherer Prüfung erweist sie sich denn in der That als eine Verkehrung der
vernünftigen Erkenntnis der Dinge in ihr Gegenteil, also als eine Unvernunft, die,
an einem bestimmten Punkte hervortretend, sich mit den Thatsachen, wie sie sich der
vernünftigen Anschauung darstellen, in Widerspruch setzt, und auf deren Grundlage
sich dann die Handlungsweise des Menschen durchaus folgerichtig und insoweit
vernunftgemäß entwickelt: sie würde wirklich vernttuftig sein, wenn es die An¬
schauung wäre, aus der sie hervorgeht; so aber ist sie mir mit dein Scheine der
Vernunft bekleidet und im Grnnde eben närrisch, und sie steht im beständigen
Gegensatze zur nüchternen Wirklichkeit. Gerade dadurch aber wirkt sie komisch.
Man könnte hiergegen einwenden, daß, wenn es sich so verhielte, die Narrheit
ja eigentlich mit den dnrch Geisteskrankheit erzeugten Wahnideen zusammenfallen
würde, die das folgerichtige Handeln des Kranken durchaus uicht beeinträchtigen,
in ihrer praktische» Bethätigung aber keineswegs komisch wirken. Die Ähnlichkeit
läßt sich »icht verkennen. Aber der Unterschied liegt darin, daß es sich bei der
Narrheit nicht um eine krankhafte Geistesstörung handelt. Der närrische Mensch
als solcher erfreut sich vielmehr vollkommner geistiger Gesundheit und unterscheidet
sich von normalen Menschen nur dadurch, daß er nicht wie diese seine gesamte
Handlungsweise uuter die Leitung der Vernunft stellt; diese setzt vielmehr an dem
einen oder ander» Punkte ihre Thätigkeit aus und erteilt einer ihr widerstreitenden
geistigen Macht das Wort, deren Entscheidungen dann die Grundlage für das
weitere Borgehen des Menschen bilden. Jene geistige Macht aber ist das, was
dus eigentliche Wesen des Menschen ausmacht, sein Wille, sein Herz mit seinen
tausend rätselhaften Regungen. Zum Glück widerstreiten diese uicht grundsätzlich
der Vernunft oder lassen sie doch in der Regel das letzte Wort behalten, sonst
würde von ihr in dem Thun und Treiben der Menschen gar bald nicht mehr soviel
zu spüren sein, als es immerhin doch noch der Fall ist. Denn was hilft ver¬
nünftige Überlegung bei dem, dem der Sinn unverrückbar nach der entgegengesetzten
Seite steht? Er muß seinen Willen haben, und die Vernunft muß schweigen. Ge¬
rode dieser Fall kommt häufig genug vor; darum giebt es so viel Narrheit in
der Welt.
Ist das nun ein Unglück? In vielen Fällen macht es sicherlich wenig aus,
^se es vielmehr gar nicht so übel, der Narrheit zu begegnen, da sie eine erheiternde
Abwechslung in die ernste Eintönigkeit des Lebens bringt. Schon Horaz sagt:
vulvo sse äLsipors in looo, d. h. es ist ganz nett, am richtigen Orte einmal närrisch
zu sein. Es kommt mir darauf an, den richtigen Ort zu finden. Wo z. B. von
der Thätigkeit eines Menschen das Wohl und Wehe andrer abhängt, da ist die
Narrheit nicht angebracht. Darum müsse» sich die Fürsten und Herren vor ihr
hüten. Heutzutage kommt ihnen ja die Volksvertretung und die Presse, die ihre
Handlungen ans Schritt und Tritt bewachen, sehr dabei zu Hilfe. Aber in alter
Zeit, wo man diese wohlthätigen Einrichtungen noch nicht kannte, und die Herrscher
also ganz auf sich allein gestellt waren, hatten sie es nicht so leicht. Zwar konnten
sie sich verständige Männer zu Ratgebern wählen; aber das genügte nicht, es
mußten anch charaktervolle Männer sein, die sich nicht scheuten, dem Gebieter offen
und ehrlich die Wahrheit zu sagen, und das war schwer, weil es ungnädig aufge¬
nommen werden konnte, da die Wahrheit, wenn sie unangenehm ist, von niemand
gern gehört wird. Etwas andres ist es, wenn sie in der anmutigen Hülle des
Scherzes vorgetragen wird: das kann dem, der sich belehren lassen will, ebenso
gut Aufklärung geben und braucht ihn, wenn er überhaupt Spaß versteht, nicht zu
verletzen, weil er es äußerlich, als Spaß behandeln und den ernsten Kern für sich
im Stillen herausschälen kann. Darum sagt wieder Horaz: liiclsuclo ctiesre. vsrum
a.uiä vet^t? d. h. warum soll man nicht mit lachendem Munde gründlich die Wahr¬
heit sagen? Gewiß; in der Sache bleibt es sich gleich, die Form aber macht einen
gewaltigen Unterschied. Ans diese Erkenntnis ist die Einrichtung der Hofnarren
zurückzuführen, wie sie sich in alten Zeiten regelmäßig im Gefolge regierender Per¬
sönlichkeiten fanden. Sie waren nichts weniger als Narren, sondern im Gegenteil
Leute von sehr gesundem Urteil und praktischer Lebenserfahrung, die außerdem noch
Witz und Takt haben mußten. Denn sie hatten unter anderen die Aufgabe, deu
Narren zu spielen und dabei insbesondre in dem vergrößernden Spiegelbilde ihres
närrischen Gebahrens ihrem Herrn seine eigne Handlungsweise zu zeigen und ihn
dadurch auf Fehler aufmerksam zu machen. Das erforderte ohne Zweifel eine nicht
geringe geistige Befähigung, und so finden wir in der That, z. B. in den Shake-
spearischen Dramen, daß gerade die Narren oft die tiefsinnigsten Anschauungen des
Dichters vortragen und seine geistreichsten Gedanken aussprechen. Takt aber hatten
sie deshalb nötig, weil sie mit der menschlichen Schwäche und den Launen des Ge¬
bieters zu rechnen hatten, der leicht finden konnte, daß der Scherz zu weit ge¬
trieben sei, und das dann dem armen, ehrlichen Narren übel vergalt. Gerade des¬
halb aber mußte dieser bei allem Takt auch ein freimütiger, unerschrockner Mann
sein und durste sich bei einem Herrn von edler Sinnesart um so eher etwas
hercinsuehmeu, wen» er diesem in herzlicher Treue zugethan war. Beispiele von
solchen treue« Hofnarren siud aus der Geschichte verschiedne bekannt; es sei an
Kaiser Maximilians des Ersten Narren Kunz von der Rosen erinnert, von dem
Züge der rührendsten Liebe und Anhänglichkeit an seineu Herrn berichtet werden.
Diese Hofnarren waren also Narren aus Absicht und Beruf, freiwillige Nnrreu.
Seitdem sie aus der Mode gekommen sind, giebt es nur noch unfreiwillige, wie
solche zu alleu Zeiten auf Gottes Erdboden gewandelt sind und wahrscheinlich bis
ans Ende, der Tage wandeln werden. Die Narrheit stirbt nicht aus, heißt, es ja.
Das klassische Vorbild dieser unfreiwilligen Narren ist, die allbekannte Schöpfung
des spanischen Dichters Cervantes, der sinnreiche Junker Don Quixote de la Mancha.
Seine Narrheit besteht darin, daß er, der sich durch eifriges und anhaltendes Roman¬
lesen in den hohen, edeln Geist der alte» Nitterzeiteu versenkt und verliebt hat,
von diesem Geist erfüllt, in der ihn umgebenden gemeinen Wirklichkeit die Welt
seiner Ritterromane erkennt und sich dieser Anschauung gemäß in seiner Umgebung
bewegt, wobei es denn geschieht, daß er Schafherden eilf feindliche Heere, Wind¬
mühlen als Riesen und eine gemeine Bnnernmagd als Edeldame ansieht und be¬
handelt. Diese Narrheit pflegt, wie vielleicht maucher aus seiner Erfahrung bestätigen
kann, uns alle in den Knabenjahren, wenn auch in andrer Form und schwächerm
Grade, heimzusuchen, wenn wir mit der lebhaften Auffassung und Teilnahme dieses
Lebensalters in den Zauberbann der homerischen Gesänge, des Nibelungenliedes
oder auch nur der Cvvperschen Jndianerromane geraten. An der Erscheinung des
Don Quixote machen wir übrigens die merkwürdige Wahrnehmung, daß die komische
Wirkung, die seiue Narrheit wie alle Narrheit hervorbringt, einen leichten Zusatz
von Wehmut erhält. Das rührt daher, daß er in seinem närrischen Thun und
Treiben vou edeln, großen Beweggründen geleitet wird: er will der Ungerechtigkeit
wehren, die bedrängte Unschuld schützen und dergleichen, kommt damit aber immer
übel an, weil sich die Dinge eben nicht so Verhalten, wie er sich einbildet, und so
erweckt er unser Mitleid.
Das ist nun ein Gefühl, das von der unfreiwilligen Narrheit gewöhnlich nicht
wachgerufen wird. Eher schon bereitet sie Ärger und Verdruß. Denn die Willens-
rcgungen, denen sie entspringt, sind meist nicht von der edelsten Art.
Nur eine Narrheit giebt es, die die allerverschiedensten Wirkungen auf den
von ihr Befallenen wie ans seine Umgebung ausübt, den reichsten Segen stiftet und
das größte Unheil anrichtet, und die deshalb einzig in ihrer Art dasteht, eine
Narrheit, in der der Wille seiue eigentliche Elementargewalt zum Ausbruch kommen
läßt, seine schaffenden, erhaltenden und zerstörenden Kräfte äußert. Wer kennte sie
nicht! Es hat sie wohl jeder mehr oder weniger an sich selbst einmal erfahren,
und wäre er der verhärtetste Hagestolz, dann vielleicht gerade am meisten, und
denkt in spätern Jahren, je nachdem, mit Lust oder mit Reue daran zurück. Ja
ja. „so ein verliebter Narr verpufft euch Souue, Mond und alle Sterne zum
Zeitvertreib fürs Liebchen in die Luft." Und wenn es bloß das wäre! Er macht
oft schlimmere Streiche.
Soweit kommt es bei andern Narrheiten nicht, soviel es deren giebt. Schon
vor vierhundert Jahren hat sie Sebastian Braut in seinem Narrenschiff unter mehr
als hundert Nummern behandelt, indem er dabei an erster Stelle sich selbst, und
zwar als Büchernarren, mit folgenden Worten vorstellte:
Diese Gattung von Narren ist auch heutzutage noch nicht ausgestorben. Ihre be¬
sondre Eigentümlichkeit besteht darin, daß sie, uneingedenk der Wahrheit: Was man
nicht nützt, ist eine schwere Last — die Geistesschätze, die andre gehoben haben,
um sich aufhäufen, ohne die Aussicht und auch ohne die Absicht, sie jemals sich
selbst zu eigen zu machen und sich daran zu freuen. Es treibt sie nur die Lust
an dem zwecklosen Besitz, und darin ist offenbar keine Vernunft. Ja wenn mau
SU jedem Buche, das man kauft, auch die Zeit und vielleicht auch den Verstand
taufen könnte, die nötig sind, es zu lesen! Von derselben psychologischen Natur
wie diese, Liebhaberei ist -überhaupt das Bestreben. Geld und Gut anzusammeln
>ab das, -was man hat, - festzuhalten ^ lediglich zu ^d^ es, zu besitzen.
Das ist der Geiz, der sogar für ein Laster gilt, und mit dem von, unwirtschaft¬
lichen Leuten nicht selten die Tugend der Sparsamkeit verwechselt wird, obwohl
sie sich von ihm doch wesentlich dadurch unterscheidet, daß ,hier das Ansammeln
und Festhalten von Geld und Gut ein Mittel zur Erreichung vernünftiger Zwecke
bildet, als da sind: Sicherstellung für die Zeit der Not oder das Alter, sorgen¬
freie Lage von Weib und Kindern u. dergl. Der Geizige denkt daran nicht; eifrig
sammelt er Schätze und hütet sie ängstlich, bloß weil ihm das Bewußtsein ihres
Besitzes Befriedigung gewährt, anch die Vorstellung, daß er sich mit seinem
Mammon alle Freuden des Lebens verschaffen konnte, wenn er wollte. Aber er
will eben nicht, und meistens kann er es auch nicht mehr; denn der Geiz stellt
sich, wo er überhaupt auftritt, regelmäßig erst im Alter ein, wenn mit der Kraft der
jüngern und mittlern Jahre die Fähigkeit, das Leben zu genießen, verloren gegangen
ist; am meisten Aussicht, im Alter ein Geizhals zu werde», hat der, der in der
Jugend das stärkste Verlangen nach Lebensgenuß gehabt hat: als Greis hält er
ihn zu Gold erstarrt in deu Händen, was, abgesehen von allem andern, doch eine
unbegreifliche Narrheit ist.
Teilweise in derselben Willensrichtung, nämlich der Frende am zwecklosen
Besitz, bewegt sich die Leidenschaft der Sammler aller Gattung, namentlich von
Altertümern, Münzen, naturgeschichtlichen Gegenständen, Briefmarken usw., soweit
dabei nicht ein wissenschaftliches oder künstlerisches Interesse im Spiele ist, das aber
in manchen Fällen beim besten Willen nicht festzustellen ist. Hier wirkt eben regel¬
mäßig noch ein andrer Beweggrund mit, nämlich das Verlangen nach der für
jedermann behaglichen Lage, vor andern etwas vorauszuhaben, ein offenbar närrisches
Verlangen, wenn es sich auf Dinge richtet, die an sich geringen oder gar keinen
Wert haben.
Handelt es sich gar noch um eine Modeneigung, wie bei der heutzutage so
weit verbreiteten Vorliebe für alte Möbel- und Hausratstücke, alte, abgenutzte
Teppiche und dergleichen, so sehen wir eins der kräftigsten Narrheitsmotive wirken,
nämlich das der Mode.
Die Mode kann unbedenklich als eine der höchstgebietenden menschlichen Narr-
heiten bezeichnet werden, insofern ihre Herrschaft so allgemein anerkannt ist, daß
gerade umgekehrt der, der sich ihr absichtlich entzieht, als Narr erscheint und Anstoß
erregt, weshalb ein Weiser Mann — ist es nicht gar Kant gewesen? — den Und
gegeben hat, lieber ein Narr in der Mode, als außer der Mode zu sein.
Das Wesen dieser eigentümlichen Erscheinung zu ergründen haben selbst
denkende Köpfe für eine lohnende Aufgabe gehalten. Zu diesen gehört der berühmte
Rechtsgelehrte Professor Jhering, ein überaus geistreicher Mensch. Er findet das
soziale Motiv der Mode, wie er es nennt, darin, daß jedes Mitglied der mensch¬
lichen Gesellschaft eifrig bestrebt ist, die Stufe, die es darin einnimmt, neben den
thatsächlich oder vermeintlich niedrigern Stufen äußerlich erkennbar zu machen,
indem es dazu die Erkennungszeichen der hohem Stufen benutzt und so deren
Inhabern sich äußerlich gleichstellt. Dadurch entsteht eine unaufhörliche Bewegung,
die, von den höchstgebietenden Magazinbesitzern und Modisten geleitet, in den
obersten tonangebenden Schichten anhebt und sich bis in die untersten fortpflanzt.
Diese sind nun freilich eigentlich nicht mehr in der Lage, einen Vorrang zu kenn-
zeichnen, aber sie bringen es doch fertig, indem sich der eine Berufs- oder Standes¬
genosse männlichen oder weiblichen Geschlechts vornehmer dünkt als der andre, und
demgemäß es den feinen Leuten gleichzuthun sucht. So kann eine Fabrikarbeiterin
oder Stallmagd ihre Überlegenheit den andern gegenüber dadurch zum Ausdruck
bringen, daß sie ihren Sonntagsstaat durch ein Kleid mit den anmutigen weit¬
bauschigen Ärmeln ergänzt. Jedenfalls zeigt sie dadurch, daß sie den „Damen"'
dieses Merkmal glücklich abgeguckt hat. Es kommt überhaupt bei der Mode
wesentlich darauf an, daß sie von den nachfolgenden Gesellschaftsklassen begriffen
wird. Bis das geschieht, kann sie sich halten und üppig entfalten, natürlich mir,
so lange es die Leiter der Modeindustrie gestatten. Wenn aber erst die breiten
Schichten des Publikums dahintergekommen sind, was ..Chic" ist. dann ist es
für die obern Zehntausend die höchste Zeit, sich etwas neues auszudenken. oder
von den tonangebenden Geschäften vorschreiben zu lassen, und das geht dann wieder
denselben Gang, indem es schnell oder langsam bis nach unten durchsickert, um
durch das nächste Neue verdrängt zu werden. Sollte aber einmal dieser Prozeß
den unermüdlichen Erzeugern der Modewaren zu lange dauern, dann kürzen sie
ihn mit machtvoller Hand ab. indem sie soviel des allerneusten auf deu Markt
werfen, daß die fashionabeln Kreise ihre Freude daran haben und die alte» un¬
modernen Sachen unmöglich länger behalten können. Und gehorsam und geduldig
machen sie alle die Moden mit — Männlein und Fräulein, vornehmlich die
Fräulein. Dabei wird auf Schönheit oder Zweckmäßigkeit uicht im geringsten
Rücksicht genommen; im Gegenteil, man möchte oft glauben, daß die Mode darauf
ausgehe, das Ebenbild der Gottheit zur greulichen Mißgestalt umzuwandeln und
den Meuscheu an der Erledigung der ihm gestellten Aufgaben ans Schritt und
Tritt zu hindern. Sie zwängt den Hals des Mannes in steife Kragen von einer
Höhe, daß er kaum den Kopf bewegen kann, verbirgt seine wohlgebildeten Schenkel
in scharfgefalzte Hülsen von der Weite eines halben Meters, versieht die holde
Frauengestalt mit ungeheuerlichen Auswüchse» an deu Schultern und andern Körper¬
teilen und hat, wie man sich noch erinnern wird, zeitweilig den Damen die
Glieder so zusammengeschnürt, daß sie nur mit Mühe gehen konnten. Über das
alles ist so oft gespottet und geklagt worden, daß man fürchten muß, lästig zu
fallen, wenn man es nur erwähnt. Aber es ist nötig, um klarzumachen, daß die
Mode auf einem Beweggrund bericht, der von der Vernunft nicht geleitet wird.
Wenn er nämlich, wie man wohl zugeben darf, in der That darin besteht, sich in
äußerlichen Dingen über die einen zu erheben und zu den andern aufzuschwingen,
dann ist er ja weiter nichts als Eitelkeit, d. h. die Luft an Dingen, die jedes
wahren Werth ermangeln. Strebt einer, dem Grundsatze NodlaWv oblixo getreu,
darnach, sich als Angehörigen seines Standes dadurch kenntlich zu machen, daß er
sich eines ehrenhaften Lebenswandels und feiner Sitte befleißigt, oder will er sich
über die große Masse erheben, indem er den Geist ausbildet oder Kenntnisse
sammelt, so läßt sich das vom Standpunkt der Vernunft aus nur billigen; denn
das ist alles des Schweißes der Edeln wert. Aber eine „Robe" oder ein Hütchen
nach einem bestimmten Modell für sich bloß deshalb zu beschaffen, weil es die
Fürstin X auf dem letzten Frtthjahrsrenuen getragen hat, ist bloße Narrheit und
um so größere Narrheit, als sie viel Geld kostet; denn Neuheiten stehen bekanntlich
hoch im Preise.
Wie mit der Kleidermode, so steht es aber mit allen andern Moden, z. B.
anch mit der Sprachmode. Wenn die Narrheit, von „Gasglühlicht Alter" zu reden,
statt von „Auerschem Gasglühlicht," an eine alte Geschäftsfirma das Wort „Nach¬
folger" anzuhängen (Dorothea Weise Nachfolger) auf alle erdenklichen Waren aus-
gedehnt und bis zum kleinsten Dütchenkrämer herunter durchgesickert sein wird,
wenn es in einer großen Stadt gar leine andern Geschäftsfirmen mehr als „Nach¬
folger" geben wird, dann müssen sich die, die angefangen haben, natürlich wieder
etwas neues aussinnen, hoffentlich das nächste mal etwas vernünftigeres!
(Schluß folgt)
eumaun war niemals ein sehr großartiger Charakter gewesen, obgleich
er für die Freiheit gekämpft hatte; aber er gehörte vielleicht nicht
zu den schlechten Menschen. Er dachte vor allein an sich, that aber
mich andern nichts zu leide und hatte das lebhafte Bedürfnis, mit
gebildeten, womöglich auch vornehmen Menschen zu Verkehren. Dieses
Bedürfnis hatte er immer gehabt, und sein Aufenthalt im Westen von
Nordamerika hatte es nicht verringert. Dort hatte er nämlich fast zwanzig Jahre ge¬
lebt und ein nuscheinend recht beträchtliches Vermöge» erworben. Gelegentlich erzählte
er diese Thatsache, aber nichts näheres von seinem Leben dort. Es fragte ihn auch
niemand darnach. Er war ein früherer Offizier und Waffenbruder Ravensteius, das
war für den ausschlaggebenden Stammtisch in der Weinstube genügend; und Raven-
stein machte sich von dem Leben in Amerika eine so allgemeine, freundliche Vor¬
stellung, daß er gar nicht weiter darüber nachdachte, was man dort wohl thun
könne. Nach seiner Ansicht schoß mau dort sehr kapitale graue Bären und löschte
seinen Durst später an einer Quelle, deren Steine goldhaltig waren. Dort mußte
man also sehr leicht reich werden können, und es that dem guten Baron nur leid,
daß er nicht in seiner Jugend auch einmal drüben gewesen war. Die Baronin hatte
noch liebenswürdigere Gedanken über Amerika. Die grauen Bären waren ihr
gleichgültig, sie dachte mehr an Paradiesvögel und Diamanten und an ein fröh¬
liches, sorgenloses Leben, ohne Rechnungen und ohne Mahnbriefe. Wenn um auch
Herr Neumann gelegentlich eine Äußerung that, die darauf schließen ließ, daß die
Paradiesvögel nud die Diamanten nicht gerade eine hervorragende Rolle in seinem
Leben gespielt hätten, so achtete doch Ada wenig darauf. Sie war im Laufe des Sommers
wieder ganz vertraut mit Nenmnnn geworden, und wenn sie auch sein etwas un¬
geschicktes Wesen manchmal langweilte, so ergötzte es sie doch, ihn etwas erziehen
zu können. Sie gewohnte ihm seine englischen Redensarten, seinen schweren, eng¬
lischen Accent ab, sie gab ihm einige Anweisungen in der feinern Lebensart, und
der ehemalige Leutnant lernte schnell und eifrig. Er hatte doch das Bewußtsein,
daß ihm etwas abhanden gekommen sei, und seine Gelehrigkeit machte der Baronin
Freude. Zum Dank für ihre Geduld war Neumann der aufmerksamste Zuhörer bei
deu Erzählungen des Barons. Obgleich er einen guten Inspektor angenommen hatte,
fragte er doch den Baron bei jeder Kleinigkeit um Rat; er ließ sich von ihm im
Pistolenschießen unterweisen, obgleich er selbst ein guter Schütze z» sein schien, und
er hatte eine liebenswürdige Art, Blumen oder Früchte vou seinem Gute mitzu¬
bringen, die sehr angenehm war,
Ravenstein our denn much sehr glücklich über seinen neuen Umgang. Die Ba¬
ronin aber entdeckte eines Tages, daß sie Neumanns überdrüssig werde. Wenn sie
über ihn nachgedacht Hütte, würde ihr vielleicht zum Bewußtsein gekommen sein, daß
etwas Unklares, Dunkles in seinem Charakter war, das sie nicht ergründen konnte.
Aber Ada hatte niemals Lust gehabt, nachzudenken. Er langweilte sie mit seiner
trocknen Art zu sprechen, seiner Unfähigkeit, lustig zu sein — weiter nichts. Da
dachte sie daun eigentlich gar nicht mehr an, ihn, auch nicht, wenn er dicht neben
ihr saß, und freute sich, Graf Rössing zu haben, mit dem sie plaudern und lachen
konnte.
Der Graf kam oft zu ihr in die grüne Laube, um seinen Nachmittagskaffee
bei ihr zu trinken, und dann wußte er immer etwas neues. Manchmal war es
etwas trauriges, manchmal etwas lustiges, aber es war doch eine Abwechslung, und
die schonen Augen der Bnrvnin strahlten auf, wenn sein scharfgeschuittues Gesicht
vor ihr erschien.
Sie sind meine Rettung ans Neumanns Langeweile! sagte sie einmal zu ihm.
Der Graf lachte. Schelten Sie nicht auf Neumann, ich glaube, er betet
Sie an!
Mich? — Ihr Gesicht nahm einen verächtlichen Ausdruck an. Meinetwegen,
feste sie dann gleichgiltig hinzu. Er ist sehr nett gegen meinen guten Rolf. Aber
es ist sonderbar: der Mensch weckt eine Sehnsucht in mir, etwas zu erleben, etwas
besondres, merkwürdiges, wie ich es früher gar nicht gekannt habe! Ich bin ganz
zufrieden mit meinem kleinen Dasein hier gewesen. Rolf ist gut gegen mich —
manchmal habe ich Sorgen, manchmal keine; manchmal bin ich mit Leidenschaft
fleißig, manchmal mit Leidenschaft faul, und ich freue mich immer am Sonnenschein,
am Wasser und am Buchenwald. So war es, und so sollte es bleiben bis um
mein seliges Ende. Und nun ist es anders geworden. Sobald ich Neumann sehe,
dann kribbelts mich irgendwo, und ich meine, in die weite Welt zu müssen — weit,
weit weg von hier!
Die Baronin hatte lebhafter gesprochen, als es sonst ihre Art war, und Rössing
horte ihr mit einem belustigten Lächeln zu. Das sind Stimmungen, wie Sie sie oft
gehabt und immer gleich wieder vergessen haben, erwiderte er. Der gute Neumann
ist wirklich eine >V neutrale Persönlichkeit, daß ich mir einen besondern Einfluß,
den er auf Sie ausüben könnte, gar nicht vorzustellen vermag.
Ja ja, es sind Stimmungen! sagte die Baronin hastig, dann stand sie auf,
um dem Besprochnen entgegenzugehen, der gerade in Begleitung ihres Mannes
in deu Garten trat. Herr Neumann sah allerdings noch gerade so blaß aus, wie
bei seiner Antrittsvisite, aber ganz so neutral, wie ihn der Graf nannte, war er
denn doch nicht. Er war bereits etwas lebhafter in seinem Auftreten geworden,
und der Umgang mit den eidlichen Herren schien ihm recht angenehm zu sein. Jeden¬
falls suchte er sich immer vou seiner liebenswürdigsten Seite zu zeigen, und heute
kam er mit einer dringenden Einladung für Ravenstein und deu Grafen. Beide
sollten ihn an einem der folgenden Tage zum frühen Mittagessen besuchen und ihm
wegen der Anlage eines Wildparks mit ihrem Rate zur Seite steheu.
Seine Einladung wurde freundlich angenommen. Auch Graf Rossing hatte
seine Schwächen und sah gern anerkannt, daß er vou der vornehmen Führung
eines Gutes am meisten verstand.
Die kleine Gesellschaft im Garten our also sehr heiter. Der Bnron hatte
einen Kasten mit Glaskugeln geholt, warf sie in die Luft und schoß darnach.
Er traf sie allemnl, nud Neumann, der es ihm nachzumachen versuchte, ärgerte sich
ein wenig, daß er, der so gut mit Pistolen zu schießen verstand, es dem Baron
doch nicht gleichthun konnte. Aber der Ärger war nur vorübergehend, denn plötzlich
erschien ein Besuch, der Fritz Neumanns Interesse erregte. Es war Frau von Zehleneck,
sehr jugendlich gekleidet und unter einem weißen Schleier so hübsch zurechtgemacht,
daß sie selbst dem aufmerksamen Beschauer kaum dreißig Jahre alt erschien.
Amelie war lange nicht bei ihrer Freundin gewesen. Sie legte es ihr zur
Last, daß Graf Rössiug ihr bis dahin noch keinen Besuch gemacht hatte, und erging
sich, andern Menschen gegenüber, in sehr bittern Bemerkungen über die Baronin.
Auf die Länge aber sagte ihr der Zustand des Beleidigtseins nicht zu, und da sie
gehört hatte, daß sowohl der Graf wie der reiche fremde Gutsbesitzer oft am,
Nachmittage bei Ada zu finden seien, so stellte auch sie sich ein.
Die Baronin begrüßte ihre Freundin mit ruhiger Freundlichkeit und wandte
sich dann zu den Herren. Ehe sie aber ein Wort der Vorstellung sagen konnte,
war Amelie mit ausgestreckten Hände» auf den Grafen zugegangen.
Wir kennen uns, lieber Graf, sagte sie mit zitternder Stimme und einem senti¬
mentalen Augenaufschlag.
Gewiß, Gnädigste, wir kennen uns sogar sehr gut! versetzte der Angeredete,
sich kurz verbeugend. Er schien die ausgestreckten Hände nicht zu sehen und lächelte
so eigentümlich, daß ihn Frau von Zehleneck unsicher anblickte und sich gleich zu
Herrn Neumann wandte.
Dieser war nicht so abweisend wie Rössing. Er hatte schon unausgesetzt die
großgewachsene und noch sehr schlank gebliebne Gestalt der auffallend gekleideten
Dame betrachtet und sah ihr jetzt fest in die dunkeln Angen. Bald saß er neben
der neuen Erscheinung und hörte andächtig auf ihre Unterhaltung.
Frau von Zehleneck hatte sehr viel vornehme Familienverbindungen, besonders
nach Dänemark hin, und sie erzählte lebhaft von ihnen, als sie merkte, wie
viel Eindruck sie damit hervorbrachte. Lehnsgrafen und Barone, Minister und
Generäle, ja sogar einige Prinzen flogen nur so um Nenmmms Ohren, sodaß er
sich ganz dem gewöhnlichen Erdenleben entrückt vorkam. Gelegentlich erzählte
Amelie auch, daß ihre fünf Kinder nicht bei ihr lebten, weil sie immer bei den
Verwandten sein sollten. Aber darauf hörte Neumann nicht; er dachte nur an die
vornehmen Leute, mit denen er vielleicht einmal bekannt werden könnte, und die
blitzenden Augen der Dame gefielen ihm gut.
Um die Baronin bekümmerte er sich heute gar nicht. Diese fühlte sich aber nnr
erleichtert, daß er anderweitige Beschäftigung gefunden hatte. Ravenstein hatte sich
wieder seineu Pistolen zugewandt. Er war sehr guter Laune, weil er fast keine
Glaskugel verfehlte, die Rössiug in die Luft warf, und erzählte dabei kleine, unbe¬
deutende Geschichten, die Nieder Anfang noch Ende hatten, denen aber der Graf doch
gutmütig zuhörte.
Der Sanitätsrat behauptet immer, ich schösse mich noch einmal tot, sagte der
Baron. Der Sanitätsrat ist eine alte Unke! Die Hamburger sagen, ich wurde
bei Nerz Riesenerfolg haben.
Eins von beiden würde ich einmal versuchen, murrte Rössing etwas un-
geduldig.
Rnvenstein lachte. Da wäre es denn doch noch zweifelhaft, welches von den
beiden das größere Übel wäre. Was meinst dn, Ada? sagte er, indem er sich zu
seiner Frau wandte, die sich neben die Herren gestellt hatte.
Mit ernsthaften Dingen soll man keinen Scherz treiben, erwiderte sie unmutig.
Aber es wäre doch kein ernsthaftes Ding, wenn ich im Zirkus Kunstschütze
würde! rief der Baron. Ich würde vielleicht meine Finanzen dabei in Ordnung
bringen!
Das würde dir schwerlich gelingen, sagte Ada lächelnd. Du weißt, wir können
beide nicht mit Geld umgeben!
Er nickte etwas bekümmert, dn ihm einfiel, daß er heute gerade um eine be¬
deutende Summe gemahnt worden war und nicht wußte, wie er sie aufbringen
sollte. Er hatte gerade gnr kein Geld, und der Majoratsherr, sein Bruder, konnte
ihm auch nicht helfen.
Erschießen ist eigentlich ein anständiger Tod, begann er plötzlich, und der
Sanitätsrat sagt —
Seine Frau legte ihm die Hand auf deu Arm.
Du sollst nicht solche häßliche Sachen sprechen, Rolf! Denkst du denn gar
nicht an deine Frau?
Er sah sie freundlich, wenn anch etwas erstaunt an.
An dich? Nun natürlich, Ada. Du hast eigentlich einen bessern Mann ver¬
dient, einen, der etwas könnte und etwas hätte! Sieh mal, Rössiug, da fliegt eine
Taube! Jetzt soll die mal ihr Leben lassen!
Der Graf hatte die letzte Unterhaltung des Ehepaars nicht mit angehört. Er
war an eines der Beete getreten und hatte sich eine Rose ins Knopfloch gesteckt.
Nun schoß der Baron, und schwer fiel die Taube auf die Rosenbüsche.
Bald darauf gingen beide Herren mit Neumann in die Weinstube. Neumann
war anfangs tief in Gedanken versunken; erst als das Ziel fast erreicht war, wandte
er sich an den Grafen.
Ist Frau von Zehleneck wirklich Witwe? fragte er.
Ganz gewiß und wahrhaftig! lautete die in etwas spöttischem Tone gegebne
Antwort. nette Dame, wie?
Sehr nett! bestätigte Neumann mit einem Anflug von Begeisterung. Dann
wurde er aber gleich wieder bedächtig. Sie erinnert mich an eine andre, hin, an
eine andre Dame, mit der ich früher verkehrt habe.
Wird eine schöne Pflanze gewesen sein! dachte Rössiug, aber er sagte es
nicht. Wenn Neumann ein Gimpel war und sich saugen ließ, dann war es seine
eigne Sache.
Als er am folgenden Tage bei Ravensteius vorsprach, um mit dem Baron
die gemeinschaftliche Fahrt nach Fresenhcigen zu verabreden, fand er diesen nicht
zu Hause, und Ada war in gedrückter Stimmung. Zuerst wollte sie nicht fügen,
was sie verstimmte, allmählich aber kam es doch heraus.
Rolf und ich sind beide in scheußlicher Geldverlegenheit, Graf! Ihnen kaun
ich es ja gestehen. Sie gehören, Gott sei Dank, nicht zu den taktvollen Menschen,
die einem nach solchem Geständnis anonym hundert Thaler schicken oder einem sagen,
sie hätten selbst so viele Ausgaben, sie könnten nicht helfen, kurz, die einen nur
demütigen. Lachen Sie mich aus — das wird mir gut thun, denn ich bin sehr
traurig. Wo bleibt alles Geld, das ich in die Finger bekomme? Vor zwei Jahren
erbte ich vou Taute Leonore fünftausend Thaler; wenn ich von dieser Summe
hente auch nur noch eine Mark mein eigen nenne, dann will ich sie in Gold fasse»
und mit Diamanten besetzen lassen!
Auf Borg? fragte der Graf lachend, und als sie vollkommen ernsthaft zu¬
stimmte, sagte er tröstend: Hoffentlich ist bald einmal eine alte Erdkarte von
Ihnen so freundlich, das Zeitliche zu segnen! Dann sind Sie wieder von aller
Not befreit!
Ach, reden Sie nicht so häßlich! unterbrach ihn Ada. Ich möchte selbst nicht
sterben, wie kann ich das andern wünschen? Die schwarze Erde kommt früh
genug! — Sie schauderte ein wenig. — Nein, da opfere ich lieber meinen Nest-
bestnud Meißner Porzellan! Der Mann in Frankfurt bezahlt recht gut, und
schließlich habe ich noch immer Geld gehabt, meine Schulden zu bezahlen, wenn es
auch manchmal lange genug dauerte, bis alles wieder in Ordnung kam. Am Ende
kommt alles besser, als man denkt!
Mit diesen Redensarten tröstete sie sich selbst, nud als ihr der Graf nun eine
lustige Geschichte erzählte, wurde sie wieder ganz vergnügt.
Nössing war aber doch nachdenklich, als er seine Freundin verließ. Er hätte
ihr gern geholfen, wenn es in seiner Macht gestanden hätte, aber er hatte auch nur
bescheidne Mittel und mußte für seinen Sohn sparen, der trotz seiner Jugend ziem¬
lich viel Geld brauchte. Außerdem gehörte er auch nicht zu den Naturen, die sich
viel Sorgen machen. Als er an einem der folgenden Tage mit Ravenstein nach
Fresenhagen zu Neumann hinausfuhr, war er sehr guter Linne, und auch der Baron
blickte vergnügt um sich, während der Wagen durch Wald und Flur dahinrollte.
Famoses Wetter! sagte er. Und wie der Weizen herrlich steht! Gerade so,
wie ans meinem ersten Hofe, wo die Bauern von weither kamen, um meine Felder
herumgingen, die Pfeife im Munde, und bei jedem dritten Schritt ausspuckten. Denn
sie konnten sich nicht denken, daß ein Baron etwas von der Landwirtschaft ver¬
stehe. Nun — bankrott bin ich ja auch zweimal geworden. Doch es kam nicht
vom Weizen, ich weiß nicht, woher es kam! Aber wenn ich einen Thaler in der
Tasche habe, dann brennt er mich, bis ich ihn habe fliegen lasten!
Er sah so zufrieden bei diesem Bekenntnis aus, daß Nössing lachen mußte.
Nun, heute wirst du wohl nicht gebrannt, du scheinst ganz erleichtert zu sein!
Ravenstein machte eine Handbewegung. Pah — sprechen wir nicht vom
Gelde — wir können ohne Mammon leben! Ich bin immer froh, wenn ich nichts
in der Tasche habe!
Er sprach harmlos, aber der Graf dachte plötzlich an Adas sorgenvolles Gesicht
und ärgerte sich über deu Freund.
Du hättest eigentlich nicht heiraten sollen, sagte er mit etwas scharfem Ton.
Die arme Ada!
Ravenstein, der zufrieden in die grüne, sonnenbeglänzte Welt um sich geblickt
hatte, wiederholte das Wort halb in Gedanken.
Die arme Ada? Nun ja — er stockte einen Augenblick. Sie hals eigentlich
nicht sehr glänzend bei mir gehabt. Im Grunde genommen wollte ich auch gar
nicht heiraten, und alles kam nur, weil mein Bruder mir zuredete, nud Adas Gro߬
mutter es gleichfalls zu wünschen schien. Die arme Ada! Sie hätte einen bessern
Mann bekommen können — aber sie ist immer sehr gut gegen mich gewesen.
Er hatte langsam, halb träumend gesprochen. Den Grafen überkam die un¬
angenehme Empfindung, als hätte er ein Kind geschlagen, das sich nicht wehren
kann. Darum legte er halb zärtlich die Hand auf Navensteins Schulter. Sei nicht
verdrießlich, Alter! Du und deine Frau, Ihr seid beide reizende Menschen, und
ich wünschte nur, Ihr könntet etwas besser mit dem Gelde umgehen!
Da steht Rehwild! rief der Baron hastig. Eine Ricke mit zwei Kälbchen —
siehst du sie?
Der Wage» fuhr jetzt schon durch partartige Anlage», und sehr bald hielt
er vor dem alten Fresenhagner Herrenhause, einem roten Backsteinbnn aus dem
vorigen Jahrhundert mit einigen Sandsteinverziernngen im Zopfstil.
Herr Neumann stand oben an der Treppe und empfing seine Gäste mit großer
Höflichkeit. Obgleich ihn keinen Augenblick seine ruhige Bedächtigkeit verließ, so
merkte man ihm doch an, wie ihn der Besuch der zwei Herren erfreute. Er selbst
war im Gesellschaftsanzug, und seine Augen leuchteten befriedigt, als er sah, daß die
Gäste den Frack angelegt hatten, und daß der Graf sogar einen kleinen Orden um
den Hals trug.
Er hatte für die glänzendste Aufnahme gesorgt. Die kleine Tafel in dem
großen Gnrteusaal, an dessen Wanden allerlei Stuckverzierungen und sehr viele
Spiegel angebracht waren , funkelte von Krystall und Silber; alle Speisen waren
mit großer Sorgfalt zubereitet, und eiskalt perlte der Sekt in den flachen Schalen.
Während die drei Herren in dem kühlen Gemach fröhlich allem Guten zusprachen,
hatten sie durch die weit offenstehenden Gnrtenthüreu einen angenehmen Ausblick auf
die grünen Rasenflächen des Parks und das verschiedne Laub seiner Baumgruppen.
Die Sonne schien, die Vögel sangen, die ganze Welt schien im Frieden zu liegen
und zur Freude aufzufordern.
Neumann war ein sehr aufmerksamer Wirt; als der Baron sich mit den andern
von der Tafel erhob, hatte er das Gefühl, als hätte er unglaublich viel Cham¬
pagner getrunken. Aber er bemerkte zufrieden, daß er ihn noch vertragen konnte.
Er trat mit Rössing auf die Garteuterrasse hinaus, wo der Kaffee eingenommen
werden sollte, und setzte sich in einen Schaukelstuhl. Er war sehr vergnügt ge¬
wesen, so heiter wie lange nicht. Es kam Wohl daher, daß er gar kein Geld
mehr hatte. Das gab ihm ja immer ein Gefühl der Erleichterung. Träumerisch
blickte er in den Hellbanen Hinuuel über sich, an dem kleine Weiße Wolken zogen,
dann sagte er plötzlich: Arme Ada! Aber kein Mensch horte uns ihn; Graf Rössing
hatte sich an das entfernteste Ende der Terrasse gesetzt und ein Kissen unter
seinen Kopf geschoben. Er war schläfrig geworden und wollte einen Augenblick
nachdenken.
Neumann war ins Haus gegangen. Als er zurückkehrte, brachte er mehrere
Kisten Cigarren und ein blaukpvlirtes Knötchen, das er vor den Bnron stellte.
Dieser öffnete es halb in Gedanken, wurde aber dann aufmerksam und griff nach
dem Inhalt. Es waren zwei kleine, zierlich ausgelegte Pistolen von ganz besondrer
Form und sehr schöner Arbeit, beide doppelläufig und geladen.
Russische Waffen, erklärte Neumann, der die Liebhaberei des Barons kannte
und Lust verspürte, die beiden kostbaren Stücke den Herren zu schenken. Er wußte
nnr nicht recht, wie er es anfangen sollte, und schob die Absicht vorläufig hinaus.
Inzwischen kam der Kaffee, und nachdem der Baron eine Tasse getrunken hatte,
erfaßte ihn seine alte Neigung zum Schießen. Im Sitzen schoß er zwei Sperlinge tot,
die über den Dachfirst zu deu Herren heruntersahen, dann eine Schwalbe im Fluge.
Darauf griff er nach der zweiten Pistole und ging die Treppe der Terrasse hinunter,
in deu Garten. Dabei Pfiff er leise vor sich hin und schien nach einem Ziele für
die nächsten Schüsse zu spähen. Dann verschwand er in einem Boskett, und gleich
darauf hörte man einen Schuß.
Dieser Mörder! sagte der Graf halb verdrießlich. — Er war plötzlich wach ge¬
worden und griff nach Kaffee und Cigarre.— Nun hat er wieder einem armen Bögelchen
das Lebenslicht nusgeblaseu! Wenn wir öfter kommen sollten, dann müßten Sie
dem Baron Glaskugeln halten!
Das werde ich mit dem größten Vergnügen thun, versicherte Neumann, ob-
gleich es ja den. Vögeln eine Freude sein muß, von der Meisterhand des Herrn
Baron zu fallen.
Nössing gähnte. Wenn er mit Neumann allein war, fand er ihn langweilig.
Nachdem beide Herren noch eine Zeit lang über gleichgiltige Dinge gesprochen hatten,
stand der Graf auf.
Wo steckt Ravenstein eigentlich? Er kann doch dort im Bostett nicht darauf
lauern wollen, ein Wild mit seiner Pistole zu schießen?
Es steht eine Bank dort, erwiderte Neumann. Vielleicht hat er sich einen Augen¬
blick zurückgezogen, um etwas zu schlafen.
Beide Herren schritten langsam über den knirschenden Kiesboden, bis sie an
die Büsche und Bäume kamen, wohin Ravenstein gegangen war. Jelängerjelieber-
staudeu, Jasmin- und Fliederbüsche standen eng zusammen, und über ihnen erhoben
sich einige Ahornbäume. Es war eine kleine Wildnis, aber in der Mitte stand,
von Rasenflächen umgeben, eine Bank. Vor ihr lag der Baron. sein Kopf ruhte
auf abgefallenen Jasminblüten, und seine Augen waren weit geöffnet.
Als der Graf mit einem Schreckenslaut auf ihn zustürzte, versuchte er zu
lächeln. Ada, arme Ada! murmelte er, die Hand hebend. Es war, als wenn
er noch mehr sagen wollte, aber er konnte die Worte uicht mehr formen. Zwei, drei
mal setzte er an, dann gab er den Versuch auf.
Er sprach auch uicht wieder, obgleich er noch einige Stunden lebte. Er war
durch die Lunge geschossen, und der Sanitätsrat, den man durch einen Zufall, als
man nach einem Doktor eilte, auf der Landstraße getroffen hatte, nahm an, daß
er mit der Pistole in der Hand gestolpert sei. So war es auch wohl: niemand
konnte sich etwas andres denken. Graf Rössing und Neumann mußten beide zu¬
geben, daß der Baron sehr viel Champagner getrunken hatte und vielleicht nicht
ganz sicher gewesen sei. Vielleicht hatte er den Hahn der Pistole gespannt, um
einen Vogel zu schießen, hatte es dann vergessen, um gleich darauf durch eine un¬
vorsichtige Bewegung zu fallen. Vielleicht — ach es gab noch viele Vielleicht. Nur
das eine war bald eine traurige Gewißheit: ein toter Mann im Nebenknbinett des
Gartensaals!
(Fortsetzung folgt)
le erste Lesung des Etats in dem reichsländischen Parlament ist
äußerlich in derselben ruhigen und höfliche» Weise verlaufen, die im
allgemeinen für den Ton des vielgeschmähten „Rentnerparlaments"
^ bezeichnend ist. Aber bei aller Salonfähigkeit, die auch bei derartigen
> Politischen Debatten hier immer festgehalten zu werden pflegt, ist doch
die Entschiedenheit aufgefallen, mit der diesmal von verschiednen
Seiten des Hauses auf die Thatsache hingewiesen worden ist, daß eine tiefe Un¬
zufriedenheit für die Politische Stimmung der Bevölkerung im Reichslande charak-
tcristisch ist. Wieder einmal ist von dem lothringischen Abgeordneten Jeanty das
böse Wort von der im Lande herrschenden „Kirchhofsrnhe" in die Debatte geworfen
worden, das vor langen Jahren zuerst von einem Professor der Straßburger Uni¬
versität zur Kennzeichnung der Stimmung im Lande angewendet wurde. Und von
demselben Redner ist aus dem Ausfall der letzte» Wahlen der Schluß gezogen
worden, der sich dem unbefangnen Beobachter von selbst aufdrängt: daß die Un¬
zufriedenheit im Lande gewaltig im Zunehmen begriffen ist.
Daß diese nicht mehr wegzuleugnende Unzufriedenheit die verschiedensten Ur¬
sachen hat, ist selbstverständlich; wir erinnern nur an die skandalösen Steuerverhält¬
nisse, die immer uoch im Reichslande bestehen, und die es mit sich bringen, daß
mancher Beamte oder Professor, der aus Gehalt und Privatvermögen 12 000 Mark
und mehr einnimmt, kaum mehr Steuern entrichtet als mancher kleine Geschäfts¬
mann, der sich kümmerlich durchschlägt. Es ist deshalb von vornherein nicht ernst¬
haft zu nehmen, wenn von manchen altelsässischen Politikern die Sache so hin¬
gestellt wird, als ob der berühmte Diktaturparagraph und die „Ausnahmegesetze"
allein die Ursache dieser weit verbreiteten Unzufriedenheit wären. Die Unrichtig¬
keit dieser Anschauung würde aufs glänzendste widerlegt werden, sobald sich die
Regierung entschlösse, mit den „Ausnahmegesetzen" gründlich aufzuräumen; sie würde
für deu Augenblick bis in die nltrademokratischen Kreise hinein in allen Tonarten
gelobt und gefeiert werden, aber nach einer kurzen Übergangszeit würde das alte
Lied des Mißvergnügens, wenn auch in andrer Tonart, von neuem ertönen.
Noch viel unrichtiger jedoch ist die entgegengesetzte Ausicht, als ob nur gewisse
politische Hetzer und Agitatoren, nicht aber die eigentliche Bevölkerung sich um die
sogenannten „Ausnahmezustände" kümmerten, eine Ansicht, die bis vor kurzem in
Altdeutschland sehr verbreitet war, da ein großer Teil der Zeitungen in Berlin,
Hamburg, München usw. schließlich nur uoch mit offiziösen Korrespondenten im
Reichslande Verbindungen hatte. Wie wenig auch diese Ansicht der wirklichen Sach¬
lage entspricht, das konnte man aus deu bitterbösen Kritiken sehen, die von allen
Seiten an dem Abgeordneten von Weißenburg, dem Sohne des Reichskanzlers, geübt
wurden, als er das unglückliche Wort aussprach, „die elsässische Bevölkerung sei
zufrieden, wenn sie gute Tabakernte habe, sie habe aber nicht Zeit und Lust, sich
um Diktatur und Ausnahmegesetze zu kümmern." In Wirklichkeit liegt die Sache
nach den übereinstimmenden Eindrücken unbefangner Beobachter wesentlich anders.
Der Diktaturparagraph, das kulturgeschichtlich interessante Arsenal der alten franzö-
sischen Gesetze (die älteste noch in Kraft befindliche Verordnung datirt vom Dezember
1607!), der ganze Wirrwarr von gesetzlichen Bestimmungen, in denen sich kaum die
Juristen selbst zurechtfinden, die gelegentlichen Mißgriffe, die von den Behörden mit
Anwendung oder Nichtnnwendung einzelner Bestimmungen gemacht werden, endlich
der Mangel eines obersten Verwaltungsgerichts, an das man sich gegen Übergriffe
von Beamten und Behörden wenden könnte, alles das zusammen hat im weitesten
Umfange in der reichsläudischeu Bevölkerung eine Stimmung erzeugt, die für die
Verwaltung und Rechtspflege eines staatlichen Gemeinwesens nicht gerade schmeichel¬
haft ist, die man aber in ungeschminkter Offenheit natürlich für gewöhnlich nur in
engern Kreisen zu hören bekommt.
Auch wir glauben, daß dabei der Diktaturparagraph im allgemeinen nicht die
Hauptsache bildet. Der Diktaturparagraph ist eine Waffe, zu der nicht wegen
Kleinigkeiten gegriffen wird, und deren Handhabung nicht der ersten besten staat¬
lichen Behörde, sondern dem kaiserlichen Statthalter persönlich anvertraut ist. Auch
der jetzige Statthalter aber genießt in der reichsländischen Bevölkerung eine Ver-
ehrung und ein Vertrauen, das bei der kurzen Dürer seiner Amtszeit geradezu auf¬
fallend ist: das starke Gerechtigkeitsgefühl dieses Mannes, das wohlwollende Interesse
für das Geschick aller, mit denen er in Berührung kommt, sein schlichtes, jedem äußern
Schein abholdes Wesen haben ihm die wärmsten Sympathien aller im Fluge er¬
worben. Man weiß von ihm, daß der Diktnturparagraph auch weiterhin in der
gleichen maßvollen Weise angewendet werden wird, wie es bisher geschehen ist. In
der That spielt der Diktaturparagrnph, ebenso wie die eigentümliche staatsrechtliche
Stellung des Neichslaudes, für die Stimmung der Bevölkerung keine ausschlaggebende
Rolle. Immerhin läßt sich nicht bestreiten, daß die Aufhebung der Diktatur von
den gllustigsteu Folgen für die politische Stimmung des Landes sein würde. Der
Diktaturparagraph ist für die skrupellose Opposition eine viel zu bequeme und wirk¬
same Waffe, als daß sie es unterlassen hätte, der Bevölkerung diesen in Wirklichkeit
nur so selten angewandten Paragraphen als einen politischen Popanz hinzustellen,
ihr diese außerordentliche Gewalt des Statthalters gleichsam als die lebendigste
Verkörperung der Ausnahmegesetze einzureden, die systematischen Klagen über den
Ausnahmezustand in den aufreizenden Hinweis zuzuspitzen, daß die Elsässer nur als
Bürger zweiter Klasse behandelt würden. Mit der Aufhebung der Diktatur allein
aber würden diese Klagen keineswegs beseitigt werden, wenn nicht gleichzeitig auch
der staatsrechtliche Zustand der Reichslandes völlig abgeändert würde. In letzterer
Hinsicht aber muß jeder, der in die rechtliche Lage einigen Einblick hat, dem Staats¬
sekretär von Puttkamer beistimmen, wenn dieser immer wieder auf die groszen
Schwierigkeiten hinweist, die bei einer durchgreifenden Abänderung dieses staatsrecht¬
lichen Verhältnisses zu überwinden wären; es liegt doch vor allem klar auf der
Hand, daß die Einfügung reichsländischer Vertreter mit Stimmberechtigung in den
Bundestag weiter nichts als eine thatsächliche Verstärkung der staatsrechtlichen Stel¬
lung Preußens bedeuten würde, ohne daß sachlich für das Reichsland damit
irgendwie besser gesorgt wäre als bisher. Auch sollte mau doch der Thatsache
mehr Rechnung tragen, daß Elsaß-Lothringen nicht etwa ans einem selbständigen
Staatswesen zu einer „Reichsproviuz" degradirt, sondern aus einem in keiner
Weise bevorzugten einfachen Departement zu einem staatlichen Gebilde erhoben
worden ist, das wenigstens thatsächlich mit den übrigen Bundesstaaten in den
meisten Punkten auf gleicher Stufe steht. Was dagegen die Aufhebung der Diktatur
betrifft, so kaun in der That nicht geleugnet werden, daß die Kreise, die für diesen
berühmten § 10 schwärmen, auch uuter den Altdeutschen im Lande immer kleiner
werden; uyd selbst nnter den Verteidigern der Diktatur siud sehr viele, die sie
offen oder heinilich nur als ein bequemes Machtmittel gegen die unbequem werdende
Sozialdemokratie beibehalten wissen wollen, was jedoch mit dem eigentlichen
Sinn und Zweck des Paragraphen nicht im Einklange steht. Die Versicherung
der Regierung, sie brauche die Diktatur gegen die von außen kommenden Einflüsse,
stößt auf eine von Jahr zu Jahr wachsende Ungläubigkeit; selbst in sehr regierungs¬
freundlichen Kreisen erlangt die Ansicht immer mehr Geltung, daß der Regierung
auch so noch Machtmittel genug zu Gebote stlludcu, fremden Einflüssen zu begegnen.
Dazu kommt dann noch, daß es im Auslande, vor allem bei unsern westlichen
Nachbarn, gewiß einen tiefen Eindruck macheu würde, wenn das deutsche Reich die
Verhältnisse in der Westmark für konsolidirt genug erklärte, um mit dem gemeinen
Recht hier regiere» und der Diktatur entbehren zu können. Sollte sich aber die
Notwendigkeit herausstellen, auf die weggelegte Waffe zurückzugreifen, so würde sich
die Regierung wohl jederzeit leicht die entsprechenden Vollmachten wieder ver¬
schaffen können.
Ganz anders wird das Gefühl eines „Ausnahmezustandes" in der Bevölkerung
geweckt durch Maßregeln, aus denen der einfache Mann aus dem Volke mit seiner
durch keine wissenschaftliche Bildung verdorbnen Logik den Schluß zieht, daß auch
andre Behörden und Beamte als der persönliche Vertreter des Kaisers bedenklich
weitgehende diskretionäre Befugnisse haben oder sich anmaßen dürfen. Und der¬
artige Vorkommnisse haben wir ini Elsaß die Jahre her leider so manche zu ver¬
zeichnen gehabt. Als die von dem Statthalter unterdrückte sozialdemokratische Volks¬
zeitung in neuer Gestalt wieder auftauchen sollte, ging die Nachricht durch die Presse,
daß das Wiedererscheinen des Blattes von dem Bezirkspräsidenteu verboten worden sei.
Das war — die Richtigkeit vorausgesetzt — eine Maßregel, die von dem Statt¬
halter ans Grund des Diktaturparagraphen getroffen werden konnte, die dagegen,
wenn sie von dem Bezirkspräsidenteu ausging, mit dem Artikel 1 des Gesetzes vom
11. Mai 1863 in Widerspruch stand. Ein andres Bild. Wir haben den unglaub¬
lichen Zustand, daß der einfache Kreisdirektor auf Grund des Dekrets vom 29. De¬
zember 1851 ohne weiteres die Schließung jeder Wirtschaft verfügen kann: 1. zu¬
folge einer einzigen Verurteilung wegen Zuwiderhandlung gegen die den Berufszweig
der Wirte betreffenden Gesetze und Verordnungen und 2. als Maßregel der öffent¬
lichen Sicherheit. Auf dieser Grundlage ist — um ein besonders interessantes Beispiel
anzuführen — am 28. September 1892 der Beschluß eines Kreisdircktors zustande
gekommen, in dem es von einer Wirtin, die sieben Jahre straflos ihre Wirtschaft
betrieben hatte, hieß, daß sie wegen Überschreitung der Polizeistunde mit einer
Geldbuße von drei Mark bestraft worden sei, „somit" nicht die nötige Gewähr für
eine ordnungsmäßige Wirtschaftsführung biete; die Gastwirtschaft wurde geschlossen.
Daß es sich in Wirklichkeit nur darum handelte, daß man in dem Lokale einen Ver¬
sammlungsort von Sozialdemokraten vermutete, wußte jedermann. Die Untersuchung
aber, die man wegen AbHaltens einer unerlaubten Versammlung einleitete, mußte ein¬
gestellt werden. Die verflossene Volkszeitung hatte damals wahrlich Recht, wenn sie
zu dem Vorfalle die Randglosse machte: „Der Schlag, der damit geführt werden
soll, trifft nicht uns, sondern das derzeitige Regiment!" Daß derartige Wirtschafts-
schließnngen, wie sie in Markirch usw. vorgekommen sind, in der Bevölkerung den
Eindruck eines Ausnahmezustandes erwecken, wer kann sich darüber wundern? Nun
erst die herrlichen Bestimmungen, deren wir uns auf dem Gebiete des Preß- und
Vereinswesens erfreuen! Nicht viele in Deutschland dürften wissen, daß nach dem
Artikel 3 des Gesetzes vom 16. Juli 1850 jeder Zeitungsartikel, der Politische, philo¬
sophische oder religiöse Fragen behandelt, bei einer Geldstrafe von 500 und
1000 Franks „von dem Verfasser unterzeichnet sein muß," jede falsche Unterschrift
aber mit Geldstrafe von 1000 Franks und 6 Monaten Gefängnis geahndet wird.
Diese Bestimmung, durch die die Anonymität der Presse aus der Welt geschafft ist,
besteht zu Recht, sie wird nur — wie es bei Leoni in seinem vorzüglichen Buche
über das reichslündische Staatsrecht heißt — „nicht mehr beachtet." Wenn aber
sieben angesehene, persönlich ehrenhafte Männer eine ultramontane Versammlung ein¬
berufen nud die Anzeige, statt bei dem Kreisdirektor, bei dem Bürgermeister ein¬
reichen, dann muß — weil es eine veraltete Bestimmung will — ein großer Prozeß
eingeleitet werden, der mit der Verurteilung der sieben zu je drei Mark ausgeht.
Auf Befragen im Landesausschuß erklärte die Negierung, sie habe den Prozeß lebhaft
bedauert, aber die Vorschriften des Gesetzes müßten ohne Rücksicht auf die Personen
befolgt werden. Man kann sich weitere Einzelheiten sparen. Daß ein derartiger
Wirrwarr von veralteten Gesetzesbestimmungen und eine für den Laien und auch
für andre manchmal schwer verständliche Handhabung der Rechtspflege die bittere
Empfindung von Ausnahmezuständen entstehen lassen müssen, ist doch Wohl klar.
Man braucht sich nur den Eindruck auf das Volk zu vergegenwärtigen, wenn ein
überaus gemäßigtes Volksblatt (die Straßburger Neuesten Nachrichten) vor Jahresfrist
von einem Fall erzählte, „wo jemand nach französischem Rechte freigesprochen wurde,
wo aber der Staatsanwalt durch alsbaldige Heranziehung eines deutschen Paragraphen
eine Verurteilung zuwege brachte." Und als im Januar vorigen Jahres die Um¬
sturzvorlage mit ihren weitgehenden diskretionären Vollmachten im Reichstage ver¬
handelt wurde, und der preußische Justizminister Vertrauen zu den deutschen Ge¬
richten verlangte, da sprach — am 14. Januar 1895 — ein so zahmes Blatt,
wie das Elsässer Journal, den Satz aus: „Offen und ehrlich — dieses Vertrauen,
das der Minister zur Voraussetzung der Annahme eines solchen Gesetzes macht,
es existirt nicht mehr in weiten Kreisen des Volkes, es ist durch die Erfahrungen,
die man seit Jahrzehnten mit der Rechtsprechung in Politischen Dingen und zwar
gerade bei uns im Elsaß gemacht hat, vernichtet worden."
Kann man es dem schlichten Bauern oder gar dem von sozialdemokratischer
Agitation umgebnen Arbeiter übelnehmen, wenn er sich einer solchen Sachlage gegen¬
über in die Meinung hineinlebt oder hineinreden läßt, die Regierung habe nur
deshalb in all den fünfundzwanzig Jahren eine Säuberung des Rechtszustandes
von Bestimmungen, die mit den heutigen Verhältnissen und mit dem Rechtsgefühl
der Bevölkerung unvereinbar sind, noch nicht vorgenommen, weil sie gegenwärtig
Machtmittel in der Hand hat, die nur bei ganz außergewöhnlich gestalteten Ver¬
hältnissen möglich sind? Dem gegenüber verfängt es nicht, wenn der Regierungs¬
vertreter im Reichstage verlangt, man solle doch nicht „die Landesgesetze als Aus¬
nahmegesetze bezeichnen." Das Volk sieht einfach in diesen „Landesgesetzen" und
ihrer Handhabung abnorme Zustände, für deren Kennzeichnung ihm kein besserer als
der unwillkürlich aufreizende Ausdruck der „Ausnahmegesetze" zur Verfügung steht.
Diese Erschütterung des Gefühls der Rechtssicherheit ist um so stärker, als es
auch heute noch kein Oberverwaltnngsgericht giebt, an das sich der wenden könnte,
der überzeugt ist, das ihm von staatlicher Seite Unrecht geschehen ist. Als 1879
das Verwaltuugsgesetz von Elsaß-Lothringen im Reichstage beraten wurde, erklärte
der Unterstaatssekretär Herzog am 21. Juni jenes Jahres: „Es wird, wie ich
annehme, eine der ersten Aufgaben des Ministeriums in Elsaß-Lothringen sein,
eine derartige Einrichtung zu beraten und vorzubereiten." Mehr als einmal ist
inzwischen — so namentlich im Landesausschusse von 1892 durch den Abgeordneten
Dr. Gunzert — diese Frage wieder angeregt worden, und die Regierung selbst hat
Wiederholt Erklärungen abgegeben, wonach man annehmen konnte, daß sie demnächst
in dieser Sache den entscheidenden Schritt thun würde. Aber immer und immer
wieder ist diese Hoffnung getäuscht worden. Man hat im Lnndesausschusse trotz
der verhältnismäßig guten Finanzlage des Landes auf die Kosten hingewiesen, mit
denen eine solche Einrichtung verbunden wäre — auch in der Debatte vom 5. Februar
wieder, in der ebenfalls die Frage des Oberverwaltuugsgerichts von neuem be¬
rührt wurde; als ob bei einer Frage von solcher Tragweite die Kosten, die übrigens
durchaus nicht so groß wären, überhaupt in Betracht kommen dürften!
Wenn wir ohne jede Voreingenommenheit die ganze Sachlage überblicken, so
drängt sich die Empfindung auf, daß es ein folgenschwerer Fehler der Negierung
gewesen ist, daß sie nicht längst aus einigen unsrer besten Juristen eine Kommission
zusammengesetzt hat zur Untersuchung der Frage, wie viel von dem alten Gesetzes¬
kram nicht mehr in unsre Zeit Paßt. Wir geben zu, daß die Regierung in den
letzten Jahren, da man ernsthaft mit der bevorstehenden Vollendung des allgemeinen
bürgerlichen Gesetzbuchs rechnen konnte, sich immer schmerer entschloß, eine gründ¬
liche Säuberung unsrer „Landesgesetze" vorzunehmen. Wir mochten aber doch dem
Wunsche Ausdruck geben, daß wenigstens jetzt, wenn das bürgerliche Gesetzbuch
glücklich unter Dach und Fach gebracht ist, sofort die Vorkehrungen sür eine solche
Reinigung der Rumpelkammer unsrer reichsländischen Gesetzgebung getroffen werden.
Mehr noch als vor drei Jahren gilt heute, was damals die gewiß nicht oppositionelle
Straßburger Post mit den Worten ausgesprochen hat: „Wir vertrauen fest darauf,
daß die reichsländische Regierung bald den immer dringender werdenden Wünschen
der Bevölkerung entgegenkommen und Sorge tragen werde, daß mit dem französischen
Gesetzeszeng aufgeräumt werde, das nach zweiundzwanzigjtthrigem Bestände des
deutschen Reichslandes nicht mehr hierher gehört. Wir wissen die Schwierigkeiten
vollkommen zu würdigen, die der großen gesetzgeberischen Umgestaltung entgegen¬
stehen, aber Schwierigkeiten sind da, um überwunden zu werden, und bei diesem
wichtigen Werke müssen alle Kräfte angespannt werden."
Wir sind überzeugt, daß die Regierung mit Aufhebung der Diktatur, mit
einer gründlichen Säuberung unsrer Landesgesetze und mit der Einrichtung einer
ordentlichen Verwaltungsrechtspflege in hohem Maße zur Gesundung unsrer poli¬
tischen Verhältnisse beitragen würde. Daß auch damit noch keine allgemeine Zu¬
friedenheit herbeigeführt wäre, daß auch dann noch tausende von Stimmen für
sozialdemokratische Kandidaten abgegeben werden würden, das wissen wir recht wohl.
Immerhin wären damit gewisse Dinge aus unserm politischen Leben beseitigt, die
in besondern: Maße verbitternd auf weite Volkskreise wirken.
Wenn wir vor acht Tagen dem preußischen Abgeordneten¬
hause idealistische Anwandlungen nachrühmten, so bezog sich das bloß auf die For¬
derung eines Schulgesetzes, die von der konservativen und von der Zentrumspartei
wieder einmal erhoben wurde; der Parittttsstreit, d. h. der Streit um Geld und
Beamtenstellen, sah schon weniger ideal aus. Die politische Rechenkunst, d. h. die
Kunst, dnrch die Addition gegebner Zahlen jede beliebige Summe herauszubekommen,
die man gerade braucht, glänzte dabei durch Leistungen, die sogar Herrn Miquel
imponirt haben dürften. Zwanzigmal zu viel und auch zwanzigmal zu wenig sollen
die Katholiken bekommen. Auf der katholischen Seite besteht der Hauptkniff darin,
daß das, was der Staat auf Grund rechtlicher Verpflichtungen der katholischen
Kirche auszahlt, gar nicht gerechnet wird; das sei ja nur ein ungenügender Ersatz
für den Ertrag der säkularisirten Kirchengüter; nnr was der Staat freiwillig leiste,
dürfe ans beiden Seiten gerechnet werden. In dieser Zumutung offenbart sich die
Unvernunft des historischen Rechts so handgreiflich, wie es seine Gegner nur
wünschen können. War es doch schon ein unerträglicher und ganz unvernünftiger
Zustand, als in rein katholischen Ländern ein Fünftel bis ein Drittel des Grund
und Bodens uoch immer der Kirche, d. h. dem Klerus gehörte, nachdem dieser Grund
und Boden, der zur Zeit der Schenkung an die Kirche keinen Ertragswert gehabt
hatte, kostbar geworden war; und nun wird gar der Rechtsanspruch auf diesen
ganzen alten unhaltbar gewordnen Besitz vom Klerus, der Minderheit der Bevölke¬
rung, erhoben! Das historische Recht ist immer nur soweit Recht, als es sich mit
den Anforderungen der Gegenwart verträgt, und darf niemals zu einer Herrschaft
der Toten über die Lebenden werden, darf niemals die Mehrheit der Lebenden
vom Mitbesitz der Erde ausschließen zu Gunsten einer Minderheit, die ihr Besitz¬
recht ans das Recht längst Verstorbner stützt. Nur insoweit darf und soll das Recht
historisch sein, als es bei den unvermeidlichen Besitzwechseln, die der Fluß des
Lebens rin sich bringt, die von Depossedirung bedrohten schonend zu behandeln
und die schmerzlichen Stöße der Übergänge zu mildern hat. Natürlich gilt das
nicht bloß vom kirchlichen Besitz.
Im Reichstage wütete die erste Märzwoche hindurch der Zuckerkrieg. Mau
kaun uicht sagen, daß sich dabei Engen Richter als großer Stratege bewährt hätte.
Es war so unklug wie möglich, die Feindschaft gegen die Großgrundbesitzer hervor¬
zukehren und ihnen zu sagen: wir, d. h, die Freisinnigen, werden alles aufbieten,
das Gesetz zu verhindern. Wenn es nun wirklich durchfällt, dann werden die Herren
vom Bunde der Landwirte alles, was sie selbst gegen den Entwurf gesagt und ge¬
schrieben haben, in Vergessenheit zu bringen suchen und den Bauern aufs neue
Vorreden, eine für sie heilsame Maßregel sei von den der Landwirtschaft feindlichen
Manchesterleuten vereitelt worden. Das stärkste, was gegen den Entwurf gesagt
werden kann, ist aus den Reihen der Konservativen und der Bündler gesagt worden,
im Reichstage von dem konservativen Abgeordneten Staudy, und außerhalb vou jenem
Herrn Ruppert auf Rnnsern, der vor drei Jahren als Rufer im Streit die große
Agitation eingeleitet hat, die sich zunächst den Bund der Landwirte als Organ
schuf. Ließe man die Vertreter der Landwirtschaft ganz allein und mengte sich gar
nicht ein, so würde der Entwurf wahrscheinlich an ihrer Uneinigkeit scheitern; käme
aber auch ein Kompromißantrag zustande, und würde dadurch der Zucker ein wenig
verteuert, so wäre das gar kein Unglück, er bliebe immer noch wohlfeil genug.
(Beim Margariuegesetz, das nicht bloß einen Teil der Landwirte, sondern die ge¬
samte ärmere Bevölkerung mit einer ernstlichen Schädigung bedroht, dürfte man
freilich so nicht sprechen.) Durch die Einmischung der Freisinnigen und Sozial¬
demokraten ist eine kostbare Gelegenheit verscherzt worden, die Agrarier zu zwingen,
sich selbst vor aller Welt Ä,et adsuräuin zu führen. Sie haben sich durch die Forde¬
rung eines neuen Zuckersteuergesetzes in unlösbare Aufgaben verbissen, und an diesen
mußte man sie sich die Zähne allein ausbeißen lassen. Es gilt: die Interessen¬
gegensätze zu schlichten zwischen den alten westlichen und den jungen östlichen Fabriken,
zwischen den Fabriken und den Rübenbanern, zwischen den Landwirten, die schon
Rüben bauen, und denen, die erst welche bauen wollen, und alle diese Gegensätze
können nur durch Kompromisse geschlichtet werden, mit denen keiner der Beteiligten
zufrieden ist. Endlich gilt es, auf diesem beschränkten Gebiete die allgemeine Auf¬
gabe zu lösen, die die Agrarier den Regierungen stellen, daß sie die Produktion
fördern, aber den mit vermehrter Produktion notwendig verbundnen Prcisrückgaug
hindern sollen.
Von den Kriegen, die zur Zeit in Osterreich geführt werden, hat in der ersten
Märzwoche der zwischen den Montecchi und Capuletti des Wiener Spießbürgertums
den größten Lärm gemacht. Die Neue Freie Presse hatte wieder Gelegenheit, in
tragischen Posen mit der größten Tragödin des Jahrhunderts — dafür gilt ihr
ja wohl Sarah Bernhard — zu wetteifern, und ihre Schauspielerkünste haben ihr
diesmal so wenig genutzt wie die vorigen male. Es ist kaum glaublich und doch wahr,
daß dieses Blatt, das sich immer noch „freie" Presse nennt, den Beamten, die
antisemitisch gewählt haben, vorwirft, sie hätten ihren Amtseid gebrochen, indem
sie oppositionell wählten, da sie verpflichtet seien, auch bei den Wahlen den Willen
der Regierung gehorsam zu vollstrecken. Dergleichen hört man ja anderwärts auch,
aber wenigstens nennen sich Leute, die diese Ansicht hegen, gewöhnlich nicht liberal.
Die Ansicht ist ebenso unsinnig wie unmoralisch. Wenn sich die Regierung mit
der Gewalt, die sie hat, nicht begnügt, sondern auch noch in der Volksvertretung
oder gar im Gemeinderat, um den es sich hier handelt, Sitz und Stimme haben
will, dann mag sie die Anzahl Von Vertretern, die sie zu haben wünscht, direkt
ernennen, aber nicht verlangen, daß sie ihr die Beamten durch „freie" Wahl besorgen.
Hält sie es aber für ungehörig, daß Staatsbeamte gegen sie stimmen, so mag sie
ihnen das Wahlrecht entziehen und sie so der Versuchung, etwas unpassendes zu
thun, überheben. Anders verhält sich die Sache, wo die Regierung das Organ
der Parlameutsmehrheit ist, und „dem Sieger die Beute gehört." Hier stimmen
alle Beamten freiwillig für die Regierung, weil sie ja, wenn die Opposition siegt,
ihre Stellen verlieren. Sollte es wahr sein, daß Badeni im Falle der Wieder¬
wahl Lnegers die Autonomie der Reichshcmptstndt aufheben und ihr den Prinzen
Liechtenstein zum Bürgermeister geben will, so würde er dadurch beweisen, daß
er, wenn auch kein großer Staatsmann, so doch, wie die vornehmen Polen meistens,
ein verfl— gescheiter Kerl ist. Dafür wird er ja auf jeden Fall sorgen, daß er
mit seinen Leuten oben bleibt im politischen Nationalitäten- und Klassenchaos des
Kaiserstaats; was aber aus den in verkrachte Jndenliberale, einfältige Antisemiten
und Klerikale gespaltenen Deutschen werden soll, das weiß Gott. Am meisten
Kopfzerbrechen wird dem polnischen Grafen die Arbeiterfrage verursachen, die der
Karwiner Bergnrbeiterstreik für den Augenblick wieder brennend macht. Eine Reihe
furchtbarer Grubenunglücke und reichliches Blutvergießen bei den vorigen Streiks
sind dazu erforderlich gewesen, den Herren im Reichsrat und bei der Regierung
die Ohren so weit aufzuknöpfen, daß sie jetzt hören, was im untersten Stockwerk
des sozialen Baues vorgeht. Ja sie haben ihre alte Art schon so weit abgelegt,
daß am 2. März der Dringlichkeitsantrag Pernerstorffers auf Erlaß eines Gesetzes
wegen der Lohnzahlungstermine (die Arbeiter beschweren sich diesmal vorzugsweise
über die monatliche Lohnzahlung) angenommen, und daß kein Widerspruch laut
wurde, als er von den „Schändlichkeiten" sprach, die im Grubenrevier begangen
würden, und im Zusammenhang damit die Besitzer: die Rothschild, Gutmann,
Larisch, Wilczek, Salm, Erzherzog Friedrich mit Namen nannte.")
„Schändlichkeiten" kommen bei uus im Reiche nicht vor, aber die Beschwerden
und Gefahren der Grubenarbeit sind nicht viel geringer, wie die hundert Opfer der
Katastrophe auf der Kleophasgrnbe wieder beweisen. Die Gefährlichkeit ist nicht auf
die Grubenarbeit beschränkt, sondern erstreckt sich auch auf die ganze moderne In¬
dustrie, zu der auch die in moderner Weise betriebne Landwirtschaft zu rechnen ist.
Die Zahlen der Unfallversicherung des Jahres 1895 (309163 angemeldete, 75 954
entschädigte Unfälle, darunter 6280 tötlich verlaufne) beweisen aufs neue, daß
sich der Dienst des Arbeiters in der Industrie vom Kriegsdienste in Beziehung
auf Gefährlichkeit kaum mehr unterscheidet, wobei noch an die zahllosen Fälle zu
erinnern ist, wo die Beschäftigung mit Giftstoffen oder uuter sonst gesundheits-
widrigen Verhältnissen auch ohne Betriebsunfälle Siechtum zur Folge hat. Wer
diesen mörderischen Charakter der modernen Arbeitsweise nicht im Auge behält,
der kaun die Arbeiterbewegung der heutigen Zeit nicht richtig beurteilen.
Das italienische Parlament ist nichts weniger als eine wirkliche Volksvertre¬
tung und seiner Mehrheit nach Crispis Bundesgenosse gewesen, hat aber dennoch
dessen Rücktritt mit lebhaftem Beifall begrüßt. Eine Würdigung der Crispischen
Regierung verschieben wir bis ans die Zeit, wo ihre volkswirtschaftlichen Wirkungen
zu Tage treten werden; für heute nur eine nebensächliche Bemerkung. Die lei¬
tenden Kreise sind sehr schnell mit der Forderung bei der Hand gewesen, Baratieri
müsse vor ein Kriegsgericht gestellt werden. Das ist neufranzösische Manier; die
alten Römer, die sich sowohl auf Politik wie auf den Krieg nicht schlecht verstanden
haben, dachten darüber anders. Macchiavelli rechnet es (im 31. Kapitel der Oiscorsi)
zu den gewichtigsten Beweisen ihrer Weisheit, daß sie nach Niederlagen, wenn
böser Wille daran schuld war, menschlich straften, wenn nur Mangel an Einsicht
oder unverschuldetes Unglück vorlag, durch Ehrenbezeugungen trösteten, anstatt zu
strafen. Ein andrer Maßstab der Beurteilung würde an die in Aussicht gestellte
Ministeranklage anzulegen sein, wenn es damit, was wir allerdings nicht glauben,
Ernst werden sollte; denn die würde sich im vorliegenden Falle wohl noch auf
ganz andre Dinge erstrecken, als auf eine verfehlte Kriegsunternehmung.
Das Juteresse, das sich uach Vollendung des Hanptbahn-
netzes und bei dem immer weiter vorschreitender Ausbau der Nebenbahnen mehr
und mehr den Lokal- oder Kleinbahnen zuwendet, bekundet sich auch in der Fach¬
litteratur. Der umfassenden Darstellung der „Grundzüge des Kleinbahnwesens"
von dem Negierungsbcmmeister Friedrich Müller (Berlin, Will). Ernst und Sohn,
1895) ist kürzlich ein Buch gefolgt: „Die Kleinbahnen, ihre geschichtliche Entwick¬
lung, technische Ausgestaltung und wirtschaftliche Bedeutung," für die Bedürfnisse
der Praxis dargestellt von A. Hanrmann (Berlin, Siemenroth und Troschel, 1896).
Der Verfasser steht als Generaldirektor des Georgs-Marien-Bergwerks- und Hütten-
Vereins schon seit langem mitten im praktischen Leben. Daß er die Ergebnisse seiner
vielseitigen Beobachtungen und Erfahrungen auch klar und anziehend darzustellen
weiß, hat er schon früher bewiesen, („Das Eisenbnhngeleise," Leipzig, 1891, und
„Reisenotizen," 1895). Der Verfasser beginnt mit einer Charakteristik der Klein¬
bahn, der er — in knapper Form — eine interessante Übersicht über die allgemeine
Entwicklung des Kleinbahnwesens in Deutschland wie im Auslande folgen läßt.
Der zweite und dritte Abschnitt behandeln den Bau und den Betrieb der Klein¬
bahnen, veranschaulicht durch 178 gute Holzschnitte. Der vierte und zugleich letzte
Abschnitt beschäftigt sich mit der Kleinbahn in der Volkswirtschaft, ihren Kultur¬
aufgaben, den Vorarbeiten, der Konzession, der Herstellung, dem Tarif, den zu¬
lässigen Anforderungen an ihre Leistungsfähigkeit und ihrer Rentabilität. Während
der zweite und dritte Abschnitt besonders dem Techniker Anregung und Belehrung
bieten werden, sind der erste und vierte Abschnitt namentlich für den nichttechnischen
Leser von Interesse.
Der Verfasser des Aufsatzes in Ur. 9
giebt gegen den Schluß Mittel und Wege an, sowohl die jetzt vorhandnen Unrichtig¬
keiten zu beseitigen, als auch für die Zukunft weitern Unrichtigkeiten vorzubeugen.
Über die Straßentafeln, deren Eigenschaft als amtliche Bekanntmachungen in der
Entscheidung des preußischen Oberverwaltuugsgerichts vom 25. Juni 1891 an-
erkannt ist, und für die nicht etwa Privatleute, sondern städtische, unter Um¬
ständen vielleicht auch staatliche Behörden zu sorgen haben, seien noch einige Be¬
merkungen gestattet. Die unrichtige Schreibweise kann ohne Zweifel nur in ver¬
schwindenden Ausnahmefällen auf unmittelbares Verschulden oder Unwissenheit
der Verantwortlicher städtischen Verwaltungsbeamten zurückgeführt werdeu, sondern
hat höchstens in Nachlässigkeit ihren Grund. Die Bemerkung der Redaktion in
der Fußnote auf Seite 419, daß die Fabriken, die die Schilder herstellen,
solchen Unsinn liefern, und die Behörden, die den Auftrag erteilen, sich das ge¬
fallen lassen, trifft den Nagel auf den Kopf. Mau muß nur wissen, wie die
Sache in der Regel vor sich geht. Wenn Straßenschilder erforderlich sind, so werden
untere Beamte mit der Zusammenstellung einer Liste beauftragt, und wenn sich
nicht einer der städtischen obern Verwaltungsbeamten die Mühe nimmt, die Liste
auf die Richtigkeit der Schreibweise zu prüfen, so bleibt eben das stehen, was der
Subalterne geschrieben hat, und die Fabriken arbeiten darnach. Viele Städte haben
nun ihre Straßentafeln von Fabriken in Emailarbeit herstellen lassen und werden,
da die Tafeln nicht gerade billig sind, schwerlich geneigt sein, solche mit unrichtigen
Bezeichnungen einfach wegzuwerfen. Leichter wird die Abstellung des Übelstandes
da sein, wo noch in alter Weise die Straßennamen auf Blechtafeln oder unmittelbar
an die Häuser gemalt sind. Hier kann mit wenig Kosten Abhilfe geschafft werden.
Was aber die Vermeidung einer unrichtigen Schreibweise sür neu herzustellende
Tafeln betrifft, so scheint es mir, daß Herr Landgerichtsrat Bruns in Torgau (der
vorschlägt, mit den Maleriunungen in Verbindung zu treten) und Professor Stier
(der den Rat giebt, daß der Sprachverein als solcher Eingaben an die Stadt¬
verwaltung mache) die Schwierigkeiten doch überschätzen. Ich möchte den Bürger¬
meister sehen — oder richtiger, ich mochte ihn nicht sehen —, der einer anch nur
mündlichen Anregung, sei es beim Glase Bier, sei es in einer förmlichen Unter¬
redung in seinem Amtszimmer, nicht gern Folge gäbe und bereitwillig die Hand
dazu böte, daß offenbar unrichtige Bezeichnungen vermieden würden! Dazu bedarf
es doch wahrlich nicht erst eines Beschlusses des Magistrats, das kann und wird
er allein machen. Zufällig habe ich etwa vierzehn Tage vor dem Erscheinen des
ersten Teils des Aufsatzes in den Grenzboten etwa neunzig Straßentafeln anfertigen
lassen müssen. Ohne Anregung von außen habe ich selbst das ganze Verzeichnis
durchgesehen und, nach privater Besprechung mit Sachkundigen wegen einzelner
zweifelhafter Fälle, die Unrichtigkeiten beseitigt. Sicherlich geht es auf diese ein¬
f
Von Nutzungen und von dem Ansprüche des Schuldners auf Ersatz von Ver¬
wendungen."
Es mag sein, schreibt unser Einsender, daß der Satz auch in seiner jetzigen
Fassung nicht zu den bessern des Gesetzbuches gehört, jedenfalls aber ist er gerade
stilistisch gebessert. Ausdrücke wie Rechtshängigkeit, Besitzer, Eigentümer sind un¬
entbehrlich. Wollte man diese und ähnliche durch Sätze umschreiben, so würde
aus dem Gesetzbuch ein Monstrum werden. Ein jedermann verständliches Gesetz
hat es leider noch nie gegeben und wird es nie geben.
Wir haben dem nur hinzuzufügen, daß der Satz auch in seiner jetzigen Fassung
infolge der Häufung abstrakter Begriffe für einen gewöhnlichen Menschen völlig unver¬
ständlich ist. Er ist auch schlecht deutsch. Für bestimmt sich heißt es gut deutsch:
richtet sich, in dem Satze, der mit soweit beginnt, steht das sich an falscher Stelle,
und ein andres ist ein häßlicher Juristenlatinismus; deutsch heißt es: etwas andres.
Handwörterbuch der Staats Wissenschaften von Conrad, Elster, Lexis
und Loening. Erster Supplemcntband. Jena, Gustav Fischer, 189S
Dem vorliegenden Ergänznngsbande des Handwörterbuchs, das unsrer Em¬
pfehlung nicht weiter bedarf, soll spätestens im Frühjahr 1897 ein zweiter folgen,
dem ein Register über beide Bände beigegeben werden wird. Da sich die politischen
und wirtschaftspolitischen Gegenstände und Verhältnisse allesamt im Fluß einer un-
unterbrochnem und teilweise sehr raschen Entwicklung befiudeu, so häuft jedes Jahr
neuen Stoff an, und die Besitzer des Handwörterbuchs werden wünschen, daß wo¬
möglich jedes Jahr ein Ergänzungsband erscheine. Der vorliegende enthält in seinen
ungefähr hundert Artikeln (nnter andern Aktiengesellschaften, Ansiedlungsgesetz, Apo¬
thekenwesen, Arbeiterschutz, Banken, Binnenschiffahrt, Bodenbesitzreform, Brotpreise,
Einigungsämter, Gcmeindefinanzen, Gewerbestatistik, Handelspolitik, Handwerk, Ko¬
lonien, Landwirtschaftskammern, Steuerreform, Universitäten) eine Menge wichtiger
und wertvoller Nachträge. Die Ausführungen Dr. Hauptes über den Befähigungs¬
nachweis und Professor Max Webers über das Börsenwesen werden hoffentlich bei
den bevorstehenden Entscheidungen der Gesetzgebung über diese Gegenstände Beach¬
tung finden. In dem Artikel über die gegenwärtige Agrarkrisis in Deutschland
kommt Professor Conrad ans Grund eines reichen statistischen Materials zu dem
Ergebnis, das wir aus persönlicher Bekanntschaft mit Landwirten längst gewonnen
haben, „daß bedrohliche Verhältnisse nur im Osten vorliegen, und auch hier nur
bei dem großen Grundbesitz," und zwar, wie aus mehreren Stellen hervorgeht, nur
bei einem Teile des Großgrundbesitzes; gerade die größten Grundbesitzer find so
reich, daß sie die etwaige Verminderung von Einkommen und Vermögen, die der
mäßige Rückgang des um die Mitte unsers Jahrhunderts unnatürlich hoch gestiegnen
Bodenwerts jetzt erfährt, sehr leicht verschmerzen können. Die augenblicklich brennende
Agrarfrage als Bauernfrage zu bezeichnen — das geht aus der Statistik unzweifel¬
haft hervor —, ist schlechterdings unzulässig.
nglmid hat sich seit der Schlacht von Waterloo nicht mehr im
europäischen Feldkriege gezeigt, und seit dem Krimfeldznge, der
eigentlich dein Belagerungskriege einzureihen ist, wurde über¬
haupt kein Schuß mehr aus englischen Gewehren oder Geschützen
in Europa gehört. Das ist nun über achtzig und über vierzig
Jahre her. Allerdings vor fünfundzwanzig Jahren, in dem von Gambetta
entzündeten französischen Volkskriege wurde manche englische Feuerwaffe abge¬
feuert, und mancher brave deutsche Wehrmann mußte dafür zur ewigen Heimat
abgehen; aber der Mann, der das tötliche Geschoß aus englischer Waffe ent¬
sandte, war kein Sohn des stolzen Albions, nur der, der die Waffe verkauft
hatte, war, trotz der Neutralität Englands, ein englischer Kaufmann. Und das
ist der Schmerz Englands, daß dieses schöne und bequeme Handelsgeschäft jetzt
in keiner Weise mehr gelingen will. Das achtzehnte Jahrhundert ist ins Meer
der Ewigkeit gesunken, und die schönen Subsidienvecträge, durch die man für
englisches Geld so billig deutsches Blut erkaufte und dafür, wahrend sich die
Völker des europäischen Festlandes rauften, die Schätze Indiens und unerme߬
liche Länderstrecken in fremden Weltteilen einheimste, werden heutzutage nicht
mehr abgeschlossen. Es will auch durchaus nicht mehr gelingen, Russen und
Türken an einander zu Hetzen, vou Chinesen oder Japanern, noch besser von
Chinesen und Japanern Zugestüudnisse als Meistbegünstigter zu erlangen,
Revolutiönchen in Venezuela zur Abrundung englischer angrenzender Gebiete
zu benutzen; ja nicht einmal Bauernrepnbliken konnten bezwungen werden, kurz,
es ist vorbei mit Englands Schacher. Das Kritimnig, mich tus vavss ist
leeres Wortgeklingel.
Woher kommt das? Haben das die Engländer nicht ahnen können? Aller¬
dings, und sie haben es auch geahnt. Schon vor vielen Jahren hat ein eng¬
lischer Seeoffizier sein Vaterland ans die Entwicklung der französischen Flotte
aufmerksam gemacht, indem er namentlich auch hervorhob, daß der französischen
Flotte ihre rasche Bemannung einen bedeutenden Vorsprung vor der englischen
verschaffen würde. In dem Aufsätze in Heft 34 der Grenzboten von 1895,
wo Wislieenns die Betrachtungen eines sachverständigen Engländers über die
verschiednen bei Eröffnung des Nordostseekanals vertretnen Kriegsschiffe euro¬
päischer Seemächte einer Kritik unterwirft, finden wir schon gewissermaßen eine
Bestätigung dieser Ansicht. . Auch die Vorzüge deutscher Kriegsschiffe vor eng¬
lischen werden von Wislicenus klar und richtig in dem erwähnten Aufsatze her¬
vorgehoben. Wir hören, daß Frankreich das erste Panzerschiff — 1^ Oloirs —
baute, und daß dieses das Vorbild wurde für das später gebaute erste eng¬
lische Panzerschiff „Warrior," daß „Warrior" aber trotzdem seinem Muster
nachstand. Wir hören ferner, daß jetzt Frankreich und nicht England die besten
Kriegsschiffbaumeister hat. Sogar die kleine deutsche Seemacht ist vorbildlich
für England geworden: sie war es, die zuerst eine Anzahl von Kriegsschiffen,
die zu einem Geschwader zusammengestellt werden und als solches vereinigt
fechten solle», uach gleichem Muster baute, eine Einrichtung, die für die Lei¬
tung der Schiffe im Gefecht gewiß von unberechenbarem Vorteil ist. Auch ein
hoher englischer Seeoffizier hat ans die Entwicklung der deutscheu Seemacht
schon vor Jahren seine Landsleute warnend aufmerksam gemacht, und er hat
Recht gehabt, denn schon jetzt baut Deutschland seine Schiffe selbst und im
eignen Lande, und der erwähnte Vorzug der französischen Flotte vor der eng¬
lischen in der raschem Bemannung trifft für unsre Flotte uoch in erhöhtem
Maße zu. Unser Mobilmachuugsplan sichert der Flotte, dank unsrer vorzüg¬
lichen Landwehrbezirkseinteiluug und unsern geordneten Mcigazinverhältnissen,
wo alles bis zum letzten Tau und Nagel für jedes Schiff abgezählt bereit
liegt, eine ebenso schnelle Kriegsbereitschaft wie unserm Landheere. Hören wir
dagegen, was Lord Rcindolph Churchill in einer Rede an seine Wähler am
3. Juni 1887, also vor noch nicht zehn Jahren, über die Marine Englands
gesagt hat. Die Rede ist gedruckt, und von einem Widerspruch nichts bekannt
geworden. „Als im Jahre 1886 — erzählt er — angesichts der schwierigen
politischen Lage Europas auch England vor einer Mobilmachung seiner Flotte
stand, fehlte für die Maschinengeschütze (Revolverkanonen) der Panzerschiffe jeg¬
liche Munition; es war nichts davon in den Magazinen vorhanden. Das ge¬
waltige Panzerschiff »Monarch« kam in den Hafen und hatte zwei neue schwere
Kanonen für seine Türme nötig. Es waren aber keine vorhanden. Wie half
man sich? Man nahm zwei schwere Kanonen, die für die Forts von Spithead
und Portsmouth bestimmt waren und brachte sie an Bord des »Monarch.«
Also trotz einer jährlichen Ausgabe von mehr als 30 Millionen Pfund Ster¬
ling für Marinezwecke mußten zwei Forts entwaffnet werden, um einen Panzer
zu bewaffnen. Das Artilleriedepartement im Kriegsministerium konstruirte
1883 oder 1884 die sogenannte 43-Tons-Kmioue und bestellte bei Armstrong
fünfzehn Stück davon. Obwohl Armstrong die Konstruktion als fehlerhaft be¬
zeichnete, mußte er doch die Kanonen anfertigen. Noch nach der Anfertigung
warnte ein Direktor der Armstrongwerke vor ihrem Gebrauch. Trotzdem kamen
vier auf den großen Panzer »Collingwood.« Schon beim zweite» Schuß mit
nur halber Ladung sprang eins der Geschütze. Dennoch sind vier der Ge¬
schütze für den »Collingwood« bereitgestellt, also für ein Kriegsschiff der bri¬
tischen Flotte. Der »Ajax« und der »Agamemnon,« zwei große Panzerschiffe,
liefen 1883 vom Stapel, Sie waren erbaut für große Angriffskraft und
Schnelligkeit. Bei der Erprobung fand sich, daß sie dem Steuer nicht folgten,
sobald sie mehr als acht Meilen in der Stunde laufen sollten. Der »Colling¬
wood« von der sogenannten Admiralsklasse ist so unrichtig gepanzert, das; er
an einem halben Dutzend Punkten zum Sinken getroffen werden kann. Dazu
sind, wie gesagt, seine Kanonen so schlecht, daß sie schon bei halber Ladung
springen, unmöglich also mit Vertrauen und Erfolg von den Matrosen bedient
werden können." Noch schlechter als „Collingwood" sollen die Panzerschiffe
„Victoria" und „Sans Pareil" sein. So rechnet Churchill der Admiralität
nach, daß sie in dreizehn Jahren achtzehn Schiffe gebaut hat, die für ihren
Zweck, den Krieg, unbrauchbar sind. Ich kann hier nicht auf alle weitern
Anklagen eingehen, die Churchill noch gegen die Marinebehörden seines Vater-
landes nnsspricht, z. B. die, daß die Kohlenstationen im Auslande schlecht ein¬
gerichtet seien, daß man Verpflegungsgegenstände, wie Büchsenfleisch nach
Australien, Zucker und Nun nach Jamaika, Thee nach Hongkong von Eng¬
land ans an die dort stationirten Schiffe sende, während doch diese Dinge an
Ort und Stelle billiger zu beziehen seien, mir eins noch will ich nach Chur¬
chills Angabe» erzählen: „Als die französische und die englische Flotte l881
vor Alexandria lagen, überließ die französische den Engländern das Bombar¬
dement der Stadt. Die englischen Schiffe »Alexandra,« »Temeraire« und
»Monarch,« alle drei schwere Kriegsschiffe, feuerten eine Anzahl von Granaten
aus ihren elfzöllige» Kanonen. Was war ihre Lage nachher? Gesetzt, der fran¬
zösische Admiral hätte sich der Landung der Engländer widersetzen wollen, die
Engländer Hütten ihm ohne weiteres »achgebe» müsse»; de»» sie hatte» für
jede ihrer schweren elfzöllige» Kanonen nur noch zehn Schuß, und was das
Schlimmste war, in dem großen englischen Arsenal der Insel Malta befand
sich auch nicht der geringste Vorrat mehr an Munition für diese Geschütze.
Außerdem hatten die Granaten so schlechte, unzuverlässige Zünder, daß ein
großer Teil der Geschosse nicht zersprang."
Die oben aufgeführten Kriegsschiffe befinden sich, wenn auch teilweise
umgebaut, uoch heute in der englischen Kriegsmarine, wie man sich im
Jahrgange 189L des Gothaischen Kalenders überzeugen kann. Die Stärke
der britischen Flotte wird dort anf 212 neuere und 235 ältere Schiffe an¬
gegeben, aber ausschließlich Torpedoboote und armirte Handelsdampfer ver-
schicdner Art. Zu den neuern Schiffen werden die von 1886 bis 1895, zu
den ältern die von 1865 bis 1886 gebauten und die zwischen 1890 und 1894
umgebauten Schlachtschiffe gerechnet. Im Bau befinden sich noch 4 Panzer¬
schlachtschiffe, 13 Kreuzer und einige kleinere Schiffe. Zum Kanalgeschwader
aber gehören nur 4 Schlachtschiffe, und einschließlich dieser stehen überhaupt
an den Küsten des Vereinigten Königreichs 144 Schiffe aller Art, ohne die
Torpedofahrzengc. Alles übrige ist in den Kolonien verteilt. Das ist freilich
eine gewaltige Flotte, der wir, abgesehen von unsern zahlreichen Torpedo¬
fahrzeugen, im ganzen nur 89 Schiffe und Fahrzeuge, darunter 21 Panzer¬
schiffe, 13 Panzerkanoncnboote und 18 Kreuzer gegenüberzustellen haben. Aber
wenn wir die Angaben Churchills über die Fähigkeit der Schiffe bedenke»,
wenn wir ferner aus dem Aussatz von Wislieenus lernen, daß der „Agamemnon"
der englischen Flotte noch hente Vorderladegeschütze führt, wenn wir bedenken,
daß die englische Schiffsmannschaft noch heute durch Werbung ergänzt werden
muß, daß das sogenannte fliegende Geschwader, das England nach der De-
lagoabai entsenden will, um bei weitern Verwicklungen mit Transvaal zur
Stelle zu sein, immer noch nicht fertig und namentlich noch nicht mit der
erforderlichen Mannschaft versehen ist, so braucht man sich vor der englischen
Seemacht nicht allzusehr zu fürchten. Es fällt aber weiter ins Gewicht, das;
Deutschland in einem Seekriege mit England gewiß nicht allein stehen würde,
da ihm Rußland und Frankreich zur Seite sind, der Nvrdvstseekanal die Ver¬
einigung der deutschen und russischen Seestreitkräfte wesentlich erleichtert, und
was vor allem hervorzuheben ist, daß russische, frauzöstsche und namentlich
deutsche Geschwader alljährlich Übungen unternehmen, die ähnlich denen des
Landheeres, Führer und Mannschaften für das Gefecht vorbereiten. Das ist
in England weit weniger der Fall, und nur dadurch erklärt es sich auch, daß
sich bei einer englischen Scedienstübung vor etwa zwei Jahren die beiden Ge¬
schwader, die gegen einander fechten sollten, gar nicht begegneten! Was helfen
also viele und vielleicht auch gute Schiffe, wenn die Kanonen nichts taugen,
die Mannschaften aus allen Ecken zusammengesucht und die Führer mangelhaft
eingeübt sind.
Die Engländer kennen diese Mängel ihrer Seemacht sehr wohl, sie haben
deshalb Deutschlands aufstrebende Macht immer mißtrauisch beobachtet. Das
wissen wir ja am besten aus unsern Kriegen wegen Schleswig-Holstein von
1848 bis 1864. Unverhohlen sprach es in einem Artikel von Palmerstons
Leibjournal, der Norning- 1'o8t vom 6. April 1861, ein Engländer aus, man
dürfe Preußen nicht in den Besitz dieser Länder kommen lassen, weil es da¬
durch den Kieler Hafen, diesen prachtvollsten Kriegshafen und ein Land er¬
werben würde, durch das die Bemannung seiner Schiffe gesichert sei; denn die
Küsten Schleswig-Holsteins wimmelten von tüchtigen Seeleuten. Mir selbst
ist in der Unterhaltung mit einem Engländer aus deu höchsten Kreisen, der
seinen Wohnsitz dauernd in Deutschland genommen hatte, folgendes begegnet.
Er fragte mich, es kann 1867 oder 1868 gewesen sein: „Glauben Sie, daß die
Erfolge Preußens von Dauer sein und zur Einheit Deutschlands führen
werden? — Gewiß, antwortete ich. ^ Glauben Sie auch, daß Deutschland
eine Seemacht werden wird? — Allerdings, das glaube ich auch, und zwar
ganz sicher! — Nein, das glaube ich nicht! — Verzeihung, aber da tritt der
Engländer zu Tage." Mein Gönner wandte mir den Rücken zu und ließ mich
stehen. Herr Wislieenus sagt mit Recht: „Es ist den Engländern unbequem,
daß wir tüchtige Seeleute und gute Schiffe haben; deshalb ziehen sie vor, sich
selbst zu täuschen und sich weiszumachen, unsre Schiffe wären nur für die
Ostsee gut, aber bis nach England, der Insel im Atlantischen Meere, könnten
sie kaum herüberkommen. Sie fürchten, daß »Festeuropa« unter Deutschlands
kräftiger Führung ihrem Weltreich gefährlich werden könnte."
Geradezu thöricht ist es, wenn sich die Engländer durch die Jusellcige
ihres vereinigten Königreichs für völlig geschützt vor einem Einfall fremder
Truppen in ihrem eignen Lande halten. Sie mögen sich doch nur in der
Geschichte umsehen! Ist nicht Cäsar zwei Jahre hinter einander, 55 und
54 v. Chr., in England gelandet? Haben nicht die Angelsachsen unter Hengist
und Horsa im Jahre 449 n. Chr. einen Einfall in England gemacht und dem
Lande eigentlich durch dauernde Besitznahme seinen Namen gegeben? Sind denn
die Dänen nicht im elften Jahrhundert in England gelandet und haben das
Reich erobert und Knut den Großen zum Könige von England gemacht? Noch
in demselben Jahrhundert kommt der Normanne Wilhelm, später der Eroberer
genannt, landet und schlägt den König Harald bei Hastings 1066. Von den
verschiednen Kronprätendenten, wie dem Herzog von Monmouth u. a., denen
wenigstens die Landung jedesmal gelang, will ich schweigen. Nur Wilhelms
von Oranien will ich noch gedenken, der im November 1688 landete, König
wurde und seinen anfangs Vertriebnen, dann aber in Irland gekanteten Gegner
Jakob II. Stuart am Bohncfluß schlug. An gelungner Landungen hat es
also in der englischen Geschichte nicht gefehlt, und auch Napoleon wäre 1803
nicht davor zurückgeschreckt, wenn ihn nicht die Verhältnisse ans dem Festlande
zurückgehalten hätten. Aber auch heute noch würde eine Landung in Eng¬
land und eine Eroberung des Landes gelingen, denn die englische Flotte kann
nicht überall sein, und daß sie über deutsche, französische und russische Ge¬
schwader, oder auch nur über eines von ihnen siegen wird, ist keineswegs sicher.
Daß aber die englische Landarmee auch nur drei oder vier deutschen Armee¬
korps Widerstand zu leisten vermöchte, das glauben die Engländer selber nicht,
und unsre Leser werden es auch nicht glauben, wenn ich ihnen nun auch noch
das englische Landheer nach englischen und deutschen Quellen schildere.
Da wende ich mich zunächst wieder an Churchill, der in seiner Rede
betont, daß er für alle seine Angaben die Verantwortung übernehme. Nach-
dem er in dem allgemeinen Teil betont hat, daß die Flotte Englands „auf
dem Papier" und nach der Zahl der Schiffe doppelt so stark sei, als die
Preußens und Frankreichs zusammen, geht er zu der damaligen (1887) vor-
handnen Bewaffnung des Landheeres über. Zunächst nennt er, gestützt auf
General Lord Wolscleys Aussage, das Geschütz der reitenden Artillerie
das schlechteste in Europa. Auch das Geschütz der Feldartillerie sei minder¬
wertig, ebenso die Gewehre der Infanterie. Ebenso urteilt er über die
Säbel der Kavallerie, die Hirschfänger der Matrosen und die Bajonette der
Infanterie, also über alle blanken Waffen. Sie hätten sich in dem ägyptischen
Feldzuge gebogen und wären in der Biegung stehen geblieben, entbehrten also
der Federkraft. Das ist ja nun allerdings in den letzten zehn Jahren anders
geworden. Man hat neue Waffen eingeführt und dnrch Solinger Waffen¬
schmiede, die man nach Birmingham berief, die Fabrikation verbessert. Aber
andre Fehler, die Churchill rügt, können nicht in kurzer Zeit verbessert werden.
Dahin gehört der mangelhafte Zustand der Festungen, von denen er sagt, daß
keine einzige richtig und genügend armirt und verproviantirt sei, manche sogar
jeglicher Armirung und Proviautiruug entbehrten. Malta z. B. sei ungenügend
und unrichtig armirt und nicht hinreichend proviantirt, um seine Besatzung
auch mir drei Wochen zu erhalten. Ferner hat England nicht ein einziges
schweres Geschütz in Vorrat, auch durchaus uicht den geringsten Vorrat an
Munition für Geschütze. Als weitern Beweis sür den Leichtsinn Englands
in militärischen Dingen und für die Unzuverlässigkeit der einschlägigen Be¬
hörden erzählt er, daß bei der Expedition nach Khartum die Truppen erst im
Gefecht entdeckt hätten, daß ihre Granaten von stärkeren Kaliber waren als
die Geschütze, also gar nicht in die Geschützrohre geladen werden konnten!
Die Schrapnells waren gar uicht oder nicht vollständig gefüllt und mit
schlechten Zünder versehen, sodaß sie nicht explodirten.
Solche Fehler, nach deutschen Begriffen fast Verbrechen, lassen auf eine
allgemein vorhcindne sträfliche Unzuverlässigkeit der Verwaltung schließen, und
um diese auszurotten, dazu bedarf es jahrelanger durchgreifender Erziehung
zur Ordnung und Pünktlichkeit, wie sie das deutsche Heerwesen seinen Führern
und ganz besonders den Hoheuzollernfürsten verdankt. Churchill schreibt die
riesigen Ausgaben, die England für seiue Wehrfähigkeit trotz aller dieser
Mängel macht, dem Unverstande der leitenden Behörden, der Überzahl von
Beamten, dem steten Wechsel in den höhern Beamtenstellen und den dadurch
veranlaßten hohe» Pensionen der ebenfalls Wechselnden zahlreichen Unter¬
beamten zu. Er behauptet, daß das britische Reich 51 Millionen Pfund
Sterling auf seine See- und Landmacht verwende, 31 Millionen mehr als
das deutsche Reich und 20 Millionen mehr als die französische Republik, und
glonbt nachgewiesen zu haben, daß England trotzdem, verglichen mit diesen
beiden Großmächten, zu Wasser und zu Lande Verteidigungslos sei und ganz-
lich unvorbereitet dastehe. Am Schlüsse ruft er aus: „Können wir angesichts
der gegebnen Schilderung unsrer militärischen Lage, deren Nichtigkeit ich gegen
jedermann aufrecht erhalte, von irgendeinem Einfluß Englands im Rate
Europas sprechen? Haltet ihr es nicht für äußerste und offenbare Narrheit,
wenn ein Minister — wenn es überhaupt einen solchen giebt — von Wider¬
stand gegen Rußlands Vorschreiten im Südosten Europas durch Militärmacht
träumt? Ein Minister, der bei dieser militärischen Lage des Landes eine aus¬
wärtige Politik treiben wollte, wie sie anscheinend einige befürworten, wäre
ein Wahnsinniger!"
Seit dieser Rede Churchills sind bald zehn Jahre verflossen. Abgesehen
von dem schönen Tauschvertrage, der England die Insel Sansibar und das
große Witulcmd, uns aber die Insel Helgoland eintrug, die nach und nach
von den Meereswellen weggespült werden wird, hat das britische Reich nichts
erreicht; wo es auch auszutreten suchte, ist es über Depeschen und thörichte
Entrüstungsmeetings nicht hinausgekommen und hat den Dingen ihren Lauf
lassen müssen. Die Schäden, die Churchill rügt, lassen sich auch in zehn
Jahren nicht bessern. Als Beweis dient die fieberhafte Thätigkeit, mit der
jetzt wieder Schiffe gebaut, Uniformen angefertigt werden usw. So stoßweise
darf in einem Staatswesen, das kriegsbereit sein will, überhaupt nicht ver¬
fahren werden. Jeden Tag fertig zu sein, dazu gehört eine stetige nicht nach¬
lassende Thätigkeit. Von Moltke erzählt man, er habe während der Mobil¬
machung 1870 Romane gelesen. Das mag eine Anekdote sein. In Wahr¬
heit konnte er sich das erlauben, denn seine Arbeit war fertig, und alles
war bereit.
Daß die englische Landmacht in den letzten Jahren keine oder so gut wie
keine Fortschritte gemacht hat, beweist uns auch ein eben erschienenes Buch: Das
englische Heer einschließlich der Kolonialtruppeu in seiner heutigen Gestaltung.
Von le Juge, Hauptmann ü. 1-i fünf des Kadettenkorps, Militärlehrer bei der
Hauptkadetteuanstalt (Leipzig, Zuckschwerdt n. Co., 1896). Der Verfasser hat
außer eignen Beobachtungen alles benutzt, was an englischen Originalangaben,
englischen, deutscheu und französischen Zeitschriften nnr zu erreichen war. Er
lobt, was zu loben ist, muß aber doch sagen, daß das englische Volk hente
mehr als je das Verlangen zu hegen scheine, den wahren Wert seiner Wehr¬
kraft zu Lande, neben dem unbestrittenen (?) der Flotte, einer gründlichen
Prüfung zu unterziehen und zu untersuchen, wo und wie sie erhöht, die
Organisation der Armee verbessert und die Kraft der gesamten Landes¬
verteidigung gehoben werden könne. Er giebt auch zu, daß das die Kreide¬
felsen Old Englands umspielende Meer heutzutage nicht mehr als Schutz der
heimischen Küste gegen kriegerische Unternehmungen großer andrer Militär¬
staaten angesehen werden könne. Um so weniger, füge ich hinzu, als es nie
ein Schutz gewesen ist.
Nach le Zuge beträgt das stehende Heer Englands im Kriegsfalle
222151 Mann. Davon gehen für Ägypten, Indien und die übrigen Kolonien
114341 Mann ab, sodaß für die Heimat 107 810 Mann verfügbar bleiben.
Nimmt man an, daß die Verteidigung der Heimat den Milizen, der Frei¬
willigen und der Ieomcmry, die bekanntlich nicht ohne ihre Zustimmung außer¬
halb Englands zu dienen brauchen, überlasten bleibt, so wären für einen Krieg
im Auslande diese 107810 Mann nebst Armee- und Milizreserve, zusammen
114260, im ganzen 222070 Mann verfügbar. Davon gehen aber bei einer
Mobilmachung mindestens 10 Prozent ab, es blieben also 199863 Mann,
le Inge sagt, daß man in England sogar 15 Prozent bei einer Mobilmachung
abrechnen müsse, daß ferner im Falle eines Krieges mit dem Auslande auch
die auswärtigen Stationen verstärkt werden müßten, daß dazu aber, wenn
man nun wirklich die nötigen Mannschaften als vorhanden annehmen wolle,
hinsichtlich deren Ausrüstung „nicht weniger als alles" fehle. Bisher sei
dafür auch nicht das kleinste Stück vorgesehen, noch irgendein Organisations¬
plan ins Auge gefaßt worden. Es fehlt also an Truppen, fehlt an Aus¬
rüstung, es sehlt an den so notwendigen Trains — Train besteht überhaupt
erst seit 1870 in England —, und endlich ist die Disziplin, wie ja bis in die
letzte Zeit vielfach durch die Zeitungen bekannt geworden ist, höchst mangel¬
haft. Trunkenheit und Desertion übersteigen das Maß dessen, was in dieser
Beziehung bei andern Heeren vorkommt. Eine Zusammenfassung der Heeres¬
teile in höhere Verbände, wie Brigaden, Divisionen und Armeekorps, besteht
bis auf den heutigen Tag im Frieden nicht. Diese Verbände werden erst bei
der Mobilmachung gebildet. Die Truppe kennt also im Kriegsfalle ihre Kom¬
mandeure nicht, der Kommandeur kennt die Truppe nicht, nicht einmal seinen
eignen Stab. Was das heißt, haben die süddeutschen kleinen Staaten im
Mainfeldzuge 1866 zur Genüge erfahren. Die englischen Manöver erstrecken
sich kaum auf das, was wir Divisionsmanöver nennen. Daher wohne» stets
so viel englische Offiziere den deutschen Herbstübungen und denen andrer
europäischen Großstaaten bei. Die französische Zeitschrift novus co oorols
miliwirs vom Januar 1896 hebt diesen Umstand ausdrücklich hervor und er¬
klärt ihn nur damit, daß die englischen Offiziere eben zu Hause nichts in der
Führung großer Verbände lernen können, le Inges Buch bestätigt also im
großen und ganzen, was Churchill schon vor zehn Jahren gesagt hat.
Erst in den letzten Jahren hat man in England begonnen, ein Gefühl
für die Minderwertigkeit der eignen Wehrkräfte zu bekommen. Aber dieses
Gefühl ist noch nicht zu der Stärke gediehen, daß die allgemeine Wehrpflicht
eingeführt würde. Und doch kann kein Staat auf die Dauer bestehen, wenn
er nicht das Schwert in die eigne Hand nimmt, um seiue Grenzen zu ver¬
teidigen. Noch weniger aber kann ein Staat, dessen Wehrverfasfuug zu Lande
und zur See ans dem Werbesystem beruht, so anmaßende Forderungen stellen,
Wie es England thut. Jedenfalls können wir und alle andern Völker, die mit
Englands Interessen in Widerstreit geraten, ruhig auf unserm Recht bestehen.
Möchte doch namentlich in Deutschland die Stimmung erhalten bleibe», die
die Depesche des Kaisers nach Transvaal und die bekannten Neichstags-
BMA
5/V>«Uf»>user verstorbner Freund, der berühmte Rechtsgelehrte Otto Bahr,
hat einmal nachgewiesen, daß sich das Durchschnittseinkommen
des Arbeiters, wenn das Gesamteinkommen aller Deutschen gleich¬
mäßig verteilt werden könnte, nur um wenig über hundert Mark
erhöhen würde.*) Selbstverständlich würde sich das aber praktisch
gar nicht einrichten lassen, den» wenn man wirklich durch eine kommunistische
Staatseinrichtung Gleichheit der Einkommen schaffen wollte, so würden sofort
unzählige Einkommen, z. B. alle, die ans der Herstellung von Luxusgegen¬
ständen entspringen, aber auch noch viele andre, die mit der Lebensführung
der obern Stände zusammenhängen, überhaupt wegfallen, und der kommu¬
nistische Staat könnte wohl in die Lage kommen, sich künstlich höhere Stände
schaffen zu müssen, für die die große Menge wieder zu arbeiten vermöchte.
Jedenfalls geht aus dem Bährschm Nachweis hervor, daß bei einer allgemeinen
Teilung das einzelne Durchschnittseinkommen nur eine geringe Steigerung er¬
fahren würde, unzählige Betriebe aber, die jetzt auf dem Unternehmergewinn
aufgebaut sind, sofort ruinirt werden müßten, und damit auch die Existenz der
Arbeiter, die ihren Unterhalt bei diesen Betrieben finden. Die „Teilung," d. h.
die Erhöhung des Arbeitereinkommens, wäre der Ruin der Betriebe, der Ruin
der Betriebe aber Vernichtung des Arbeitereinkommens. Diese einfache und
klar auf der Hand liegende Thatsache wird durch die Verhältnisse im Buch¬
druckgewerbe sehr deutlich illustrirt. Eine Darstellung der Sachlage und der
Folgen, zu denen der jetzt wieder drohende Streik führen könnte und unter
Umständen führen muß, wird für manchen unsrer Leser interessant und schon
aus dem Grunde nützlich sein, weil sie auch auf die Lage andrer Industrie¬
zweige Licht werfen kann.
Die Arbeiter des Druckereigewerbes verlangen eine Verkürzung der Arbeits-
zeit und Lohnaufschläge ^) die zusammen fiir die Druckereibesitzer eine Erhöhung
der Betriebskosten um 25 bis 30 Prozent bedeuten würden. Der Reingewinn
einer Druckerei wird aber, den Kapitalzins eingeschlossen, im allgemeinen
10 bis 15 Prozent nicht übersteigen und in vielen Füllen sogar noch darunter
bleiben. Es ist also klar, daß bei den jetzigen Druckpreisen die verlangte
Lohnerhöhung, also bei den Preisen, die die Druckereien jetzt ihren Auftrag¬
gebern berechnen, außerhalb der Möglichkeit liegt, und die Frage ist, ob diese
Preise sich beliebig erhöhen lassen. Wären sie unveränderbar und bildete
ihre jetzige Höhe die natürliche Grenze, so stünde fest, daß das Verlangen
der Arbeiter eine Verrücktheit wäre; die Druckereien könnten es nicht erfüllen,
und sie könnten nicht einmal die Hälfte bewilligen, denn anch dann wären sie
schon brach gelegt: der kleine Vorteil des für die Arbeiter Erreichbaren fräße
schon den ganzen Unternehmergewinn. Die Prinzipale müßten die Arbeit ein¬
stellen, und die Arbeiter hätten überhaupt nichts mehr. Es wäre der Beweis
geliefert, wenigstens für dies eine Lebensgebiet, daß es mit dem schönen Traum
von dem Glück, das die allgemeine Teilung bringen müßte, nichts wäre, er
zerrönne vor der harten Wirklichkeit.
Ja, wenn die Voraussetzung zuträfe! wird eingeworfen- Freilich, es bleibt
zu untersuchen, ob es Grenzen für die Preisstellung der Prinzipale giebt, und
ob nicht der Lvhnaufschlcig, den die Gehilfen fordern, einfach von den Auftrag¬
gebern der Drucker und weiter vom Publikum, von den Bücherkäufern, Zeitungs¬
lesern usw. eingeholt werden kann. Bei dieser Untersuchung wird sich aber
ergeben, daß die Dinge nicht willkürlichen Einwirkungen, sondern innern Ge¬
setzen gehorchen, und daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen können,
nicht einmal in den ganz bescheidnen Himmel, den sich die Druckereiarbeiter
erwerben möchten. Es ist aber anch eine zweite Frage zu stellen: ob näm¬
lich die Forderung der Lohnerhöhung überhaupt berechtigt ist, und diese soll
vorweg beantwortet werden. Jede Arbeit ist ihres Lohnes wert. Welcher
Lohn ist min aber der der Leistung eines Arbeiters des Druckereigewerbes
angemessene?
In einer normalen Durchschnittsdruckerei in den Mittelpunkten des Vuch-
drnckgewerbes mit Durchschuittsarbeit, die also nicht ganz besondre Kenntnisse
und Geschicklichkeit erfordert, bringt es der normale Arbeiter, der das nor¬
male Maß von Geschicklichkeit und Fleiß hat, auf einen Lohn von 1400 bis
1800 Mark jährlich, bei einer Arbeitszeit von angeblich zehn, in der That etwa
neun Stunden") und dem Überverdienst, den die höher bezahlten Überstunden
der geschäftlich lebhaften Zeiten eintragen, die alljährlich periodisch wiederkehren.
Dieses Einkommen bildet aber nicht die höchste Grenze des Erreichbaren, es
kommen vielfach erheblich höhere Löhne vor, auch abgesehen von den Einkommen
der leitenden und Aufsichtsbeamten, die aber auch dem Arbeiterstand angehören,
also in Wochen- oder Monatslohn stehen und sich fortwährend aus den ein¬
fachen Arbeitern rekrutiren. Kann man einem solchen Einkommen gegenüber von
einer wirtschaftlichen Notlage der Buchdruckerciarbciter sprechen, etwa wie bei
den Konfektionsarbeitern? Die Antwort wird natürlich Nein! lauten. Die Ar¬
beit, die allerdings Geschicklichkeit und Übung verlangt, aber in der Hauptsache
doch mechanisch betrieben wird, ist gut bezahlt, auch wenn viele Leute nicht die
genannte Einnahme erreichen, durch Unfähigkeit oder Lässigkeit. Wir haben
nichts dagegen, wenn jemand so viel wie möglich ans seiner Arbeit zu machen
sucht, wenn er sie so teuer verkauft, als ihm erreichbar ist, und wenn er bei
den Gelegenheiten, wo dem Unternehmer besondrer Gewinn erwächst, auch seiner¬
seits Vorteil zu haben wünscht. Aber wir meinen, es sei ein frevelhaftes
Beginnen, wenn man ohne alle wirkliche Not und ohne triftigen Grund - denn
die Führer der Gehilfenschaft müssen uns erlauben, die Bewahrung ihrer Macht¬
stellung, zu der der Krieg geführt wird, nicht als einen triftigen Grund an¬
zusehen — einen Streik vom Znune bricht und die Existenz von tausenden
von Familien aufs Spiel setzt, wie es in diesem Augenblick wieder bei den
Buchdruckern geschehen soll.
Es ist ganz ausgeschlossen, daß die, die den Streik herbeiführen wollen,
die politische Leitung der Sozialdemokratie, im Unklaren darüber sein könnten,
daß sie hier eine Truppe in den sichern Tod schicken. Die Arbeiter selbst wissen
vielleicht nicht, zum Teil jedenfalls nicht, was sie thun. Sie glaube» sich
einem selbstsüchtigen Unternehmertum gegenüber, das ihnen die Thore eines
Paradieses verschlossen hält; ihr enger Gesichtskreis verhindert sie, die Gesamt¬
lage zu übersehen. Es ist ganz ehrlich, wenn sie in ihren Blättern die Frage
an ihre Prinzipale richten, ob es nicht recht wäre, daß diese, statt mit den
Verlegern und andern Auftraggebern, mit ihren Arbeitern gemeinsame Sache
machten. Das wäre freilich das Natürliche, wenn es eben die Verleger wären,
die einen märchenhaften Unternehmergewinn einsteckten, von dem sie egoistisch
ihren Druckern nichts zukommen lassen wollten. Wir wollen hier nicht auf
die Verhältnisse des deutschen Verlagsbuchhandels eingehen. Es giebt gewiß
Verleger, die großen Gewinn haben, und nicht jeder Verleger, der warm sitzt,
denkt daran, auch denen etwas zu gute kommen zu lassen, die für ihn arbeiten.
Im ganzen ist aber der Verlagsbuchhandel ein Sport oder ein Lotteriespiel,
nur kein Spiel, bei dem man mühelos einsetzt, um mühelos zu gewinnen,
sondern ein mühevolles Streben, das doch in nenn von zehn Fällen äfft.
Das ist eine Sache für sich. Es lohnte sich vielleicht, einmal über diese Dinge
zu schreiben. Hier handelt es sich mir darum, unsre erste Frage zu beant¬
worten, ob der Lohnznschlag, den die Druckereiarbeiter fordern, auf die Auf¬
traggeber der Druckereien, und dabei zunächst auf die Zeitungs-, Zeitschrifteu-
und Bücherverleger und deren Abonnenten und Käufer abgewälzt werden könnte.
Das ist aber nicht der Fall. Die Vuchdruckereibesitzer haben zum Teil die
Absicht, den Arbeitern ihren guten Willen dadurch zu zeigen, daß sie wenigstens
in bescheidnen Maße deren Wünschen entgegenkommen; sie hoffen eben, sich
bei ihren eignen Auftraggebern Ersatz holen zu können ; aber anch sie sind
dabei wohl nicht ganz klar über die Sachlage. Der Verlagsbuchhandel hat
selbst mit Schwierigkeiten zu kämpfen, die für ihn aus den Verhältnissen im
Druckgewerbe erwachsen. Die Zeitschriften- und Zeitungsverleger haben zum
großen Teil gar keinen Spielraum: eine Erhöhung ihrer Kosten kann ihre
Unternehmungen lebensunfähig machen; bei kontraktmäßigen Lieferungen, wie
Ncgiernngsarbeiten, sind die Buchdrucker gebunden — es wird wenig Gebiete
geben, wo sie ohne weiteres Preisaufschläge wagen dürften.
Wenn das Publikum von einem Streik hört, und, wie hier, von einem
allgemeinen, der ein ganzes Gewerbe in ganz Deutschland umfaßt, so nimmt
es an, daß in der That einer Gesamtheit von Arbeitern eine Gesamtheit von
Prinzipalen gegenüberstehe. Aber die Sache liegt bei den Buchdruckern ganz
anders. Der Lohntarif, der die Grundlage der Forderungen der Arbeiter
bildet — eigentlich ist es eine ganze Reihe von Tarifen für ganz verschiedne
Leistungen —, wird uur in einer Anzahl von Städten streng eingehalten und
hat eigentlich überhaupt nur für eine beschränkte Arbeitergenossenschaft Geltung,
die bei weitem nicht die Gesamtheit aller im Gewerbe Angestellten umfaßt.
Neben den Hauptstädten des Druckgewerbes besteht eine namhafte Druckerei¬
industrie verstreut im ganzen Lande, in den kleinen und großen Provinzial-
städten. Diese Städte haben ihre eignen Lokal- und Provinzialblätter, und deren
Druckereien haben schon längst begonnen, neben den Aeeidenzarbeiten (kleinern
Drucksachen, wie Rechnungen, Zirkularen, Katalogen usw.), die ihnen aus dem
Ortsbedarf zufallen, größere Arbeiten, Werkdruck, zu übernehmen und sich darauf
einzurichten. Es sind große Druckereien entstanden, die lebhaft mit den Hcmpt-
druckorten konkurriren, und sie sind dazu wohl imstande, weil sie, und das
ist der wesentliche Punkt, Arbeiter beschäftige», die dem Streikverbande nicht
angehören und nicht nach dem Tarif bezahlt werden, der dem Verband gegen¬
über als Grundlage gilt/") Die Prvvinzialdruckereien arbeiten nicht zu Tarif-
preisen und bezahlen bedeutend niedrigere Löhne, als den Verbandsmitgliedern
bezahlt werden müssen; während sich z. B. der einfache Wochenlohn der tüchtigen
Durchschnittssetzer in Leipzig (ohne Überstunden) um 30 Mark dreht, beträgt
er in der Provinz nur 18 bis 19 Mark. Entsprechend ist es bei den Drncker-
löhnen usw. Daraus, und außerdem aus dem Umstände, daß die Provmzial-
drnckereien billigere Werkstätten und andre Ersparnisse haben, entspringt ihre
Konkurrenzfähigkeit.
Aus diesen Verhältnissen ergiebt sich um folgendes. Die Provinzial-
druckereien sind natürlich nicht imstande, in allen Dingen mit den Großstadt-
drnckereien zu konkurriren. Es giebt hundert Dinge, die besondre Einrichtungen,
besondres Material, besonders geschulte Kräfte, das Ineinandergreifen ganz ver-
schiedner Betriebe und Gewerbe erfordern; daraus ist eben die großartige Entwick¬
lung der Hauptdrnckstätten hervorgegangen, und nicht jede Provinzialstadt kann
sich das nach Belieben schaffen. Aber bei der überwiegenden Masse der glatten
und einfachen Arbeit, die auch den großen Plätzen die Hnupteinnahme schafft,
kann die Provinz mit Leichtigkeit kvnkurrirend auftreten, und sie thut es in
immer stärkeren Maße. Ja es kann sehr leicht in einem für die Großstädte
verhängnisvollen Umfange geschehen, und das ist es, worauf die Lohnerhöhung,
die von den Verbcmdslenten gefordert wird und durch den Streik erzwungen
werden soll, hinführen würde. Nissen die Provinzialstädte einen großen Teil
der Arbeit an sich, die jetzt den Grvßstadtdruckereien ihren Gewinn bringen,
so könnten diese trotz der besondern Leistungen auf manchen Gebieten, die
mir sie bieten können, leicht ruinirt werden. Ein blühendes Gewerbe könnte
vernichtet werden und damit die Existenz des besten und wertvollsten Ar¬
beiterteils, der jetzt sein gutes Auskommen hat.
Der Berlagsbuchhandel hat um ein großes Interesse daran, daß dieser
Unsinn nicht zustande kommt. Ein großer Teil aller bessern und schwierigern
Druckarbeit verlangt wohleingerichtete Mittelpunkte, in denen sich alles ver¬
einigt, was der Industrie dienen kann, und gutgeschulte Arbeiter, und der Buch¬
handel muß sie lebensfähig erhalten und schützen, das ist sonnenklar, denn
es ist eine Lebensfrage für ihn selbst. Er kann sie aber nur schützen, wenn er
ein Hinaufschrauben der Löhne auf eine Höhe verhindert, die der Provinz
das Übergewicht giebt. Das ist der Grund, weshalb auch der Verleger dieser
Zeitschrift, woraus ihm die sozialdemokratischen Blätter einen Vorwurf machen,
trotz seiner Arbeiterfreuudlichkeit, in der That aber wegen ihr, die Verleger-
crklärnng unterzeichnet but, die sich gegen die Lohnerhöhung — oder vielmehr
gegen die Bewilligung höherer Druckpreise — wendet und den Streik zu ver¬
hindern sucht, und er wird mit allen Mitteln eine Vereinigung des gesamten
Verlagsbuchhandels herbeizuführen suchen, die imstande sein wird, einen ent¬
scheidenden Einfluß auf die Lvhnverhültnisse zu gewinnen. Es handelt sich
nicht um die Versagung berechtigter Wünsche, im Gegenteil, er gäbe von Herzen
gern mehr, wo es ginge und wo er könnte; sondern es handelt sich um die
Notwendigkeit der Erhaltung eines wertvollen und vernünftigen Bestehenden,
und um den Schutz der Arbeiter selbst. Nicht aus einer vorhandnen Not sind
sie zu retten, sondern vor einer drohenden sind sie zu bewahren, in die sie
gestürzt werden sollen.
Denn was würde mit ihnen geschehen, wenn sie sich durch deu Streik
die geforderte Lohnerhöhung zu erzwingen suchten und wirklich erzwangen?
Die Verleger haben unter sich selbst scharfe Konkurrenz. Ein Buch, das billig
in der Provinz gedruckt werden kann, schlägt leicht eines, das in deu Hanpt-
druckstädten mit höhern Kosten gedruckt wird und deshalb auch einen höhern
Preis haben muß oder andernfalls nur weniger abwerfen kann. Die Verleger,
die sich der Prvvinzialdruckereien bedienen, sind also in vielen Dingen leistungs¬
fähiger als die andern. Der Wettstreit hat aber seine Grenzen, und die sichere
Folge der vom Verband erzwungnen Lohn- und Preiserhöhung wäre, daß
alle Verleger mit allen Druckauftrügen, bei denen es möglich wäre, in die
Provinz, also dahin, wo es billig ist, gingen und gehe» müßten. Und die
Folge für die Arbeiter wäre, daß sie ihre gute Arbeit an den Hauvtplcitzen
verlören — in weit größerm Umfange, als sie ahnen, denn es würden nicht
nur etliche Hände frei werden, sondern dnrch die unbedingt eintretende Schließung
einer Reihe von Betrieben, deren tausende —, und daß sie der Arbeit in die
Provinz folgen und sich ihr auf Gnade und Ungnade ergeben müßten. Sie
würde» nicht ihren Tarif mit hinaustragen können, sondern zu den Be¬
dingungen frohnten müsse», zu denen es die Provinzialarbeiter schon zu
thun gezwungen sind. Jeder, der die Dinge kennt, weiß, wie es dort steht,
und daß es eine Unmöglichkeit für die Sozialdemokratie ist, die Streitbewegung
in die Provinz hinaufzutragen. Sie hat nur Macht, wo sie sich auf die ge¬
schlossene Gewerkschaft stützen kann, und das kann sie nur in den großen Städten.
Der Streik wäre ein unerhörter Frevel gegen die Arbeiter. Das sagen
wir der sozialdemokratischen Leitung und auch deu Arbeitern, die es hören
wollen und verstehen können. Es würden wieder laufende von Familien ins Elend
gestürzt werden — was ein Streik für die Familien der Arbeiter bedeutet,
bleibt ja gewöhnlich verborgen, aber man blicke dann nur in die Arbeiter¬
häuser! —, und nicht mir vorübergehend, sondern für immer. Die Arbeiter
haben zum Teil jetzt noch an den Folgen, des letzten mißlungnen Streiks zu
kauen, soweit sie nicht damals überhaupt aus dem Gewerbe gedrängt worden
und untergegangen sind; allmählich haben sich die tüchtigen wieder in die
guten Stellen emporgearbeitet und warm gesetzt, und wieder sollen sie für die
untüchtigen und für politische Zwecke geopfert werden, mit Hilfe der blöd¬
sinnigen Tarifgleichmacherei. Ob sie wolle» oder nicht, hilft ihnen nichts;
dank der straffen Gewerbeorganisation müssen sie über die Klinge springen,
wenn es der Verbandsvorstand verlangt, und viele thun es mit offnen Augen,
aus idealen Gründen, weil ihnen die Verbandssache ein Heiligtum ist, oder
verzweifelt, weil sie aus Furcht unfreie Männer find.
Im Augenblick ist ja, wie aus den Zeitungsberichten bekannt geworden
ist, die Entscheidung wegen des Streiks hinausgeschoben worden — die
Zeitungen berichten über eine friedliche Beilegung, von der aber gar keine
Rede ist; es ist jetzt rein aus formellen Gründen überhaupt uoch nicht in die
eigentlichen Verhandlungen eingetreten worden, und die Arbeiter haben sich
dazu bequemen müssen, obgleich sie, oder ihre Leiter, am liebsten sofort los¬
geschlagen hätten, die Verhandlungen bis dahin zu verschieben, wo sie eine
zur Verhandlung als berechtigt anerkannte Kommission gewählt haben werden,
das ist-im April. Darüber wird die nach ihrer Meinung beste Zeit zum
Streik vergangen sein, und die Stimmung ist im Augenblick ziemlich kleinlaut.
Die Führerschaft giebt zu erkennen, daß sie im Mai in keine» Kampf mehr
eintreten würde. Damit ist dieser aber keineswegs aufgegeben, im Gegenteil,
er wird auf alle Fülle im Herbst oder spätestens übers Jahr doch eingeleitet
werden, denn die Führerschaft hat die Kämpfe nötig, wenn ihr nicht die Fäden
aus der Hand gleiten sollen.
Der Streik wird aus alle Fälle versucht werden, so lange die sozial¬
demokratische Partei Interesse daran hat, die Massen in Unruhe zu erhalten
— früher waren die Buchdruckergchilfeu eine Gewerkschaft, die die Sozial¬
demokraten über die Schulter ansah —, und so lauge die Tarifverhältnisse die
Handhabe dazu bieten. Deshalb werden Verleger und Drnckereibcsitzer ge¬
meinsam zu erwägen haben, wie sie diesen ewigen Beunruhigungen vorbeugen
können, ohne den Vorteil der festen Tarife, die für Arbeiter und Prinzipale
gleich nützlich sind, aufzugeben. Die vernünftigen Arbeiter werden es zufrieden
fein. Und noch eins muß herbeigeführt werden — es ist die Pflicht der Re¬
gierung darauf hinzuwirken, wenn sie klar sieht, wo das Volk zu seinem
Schaden mißbraucht wird —, daß die Elemente, die am leichtesten der politischen
Irreführung unterliegen, der Sozialdemokratie entzogen werden, und dieser die
Mittel, die sie von diesen Elementen um leichtesten für ihre Zwecke erhält:
die jungen Leute dürfen nicht freie Verfügung über ihren vollen Verdienst
behalten vor ihrer Großjährigkeit.
Auch auf diesem Gebiete haben ja die Dinge und Verhältnisse eine viel
tiefer gehende Wurzel, als die meisten sehen. Die Arbeiterschaft sieht das Elend
um sich,") und auf ihrer Seite entspringt das Verlangen nach den Lohn¬
erhöhungen nicht durchaus selbstischen Zwecken, sondern dem Wunsch, den be¬
schäftigungslosen Genossen Arbeit zu verschaffen. Das will man durch die
Herabsetzung der Arbeitszeit erreichen, die zur Einstellung von mehr Arbeitern
zwingen würde. Aber man sieht eben zweierlei nicht: daß die mögliche Lohn¬
grenze, d. h. für die Druckereien und ihre Auftraggeber die Kosteugrenze, sehr
bald erreicht ist, und daneben, daß dem beschäftigungslosen Teil der Arbeiter¬
schaft nicht geholfen werden kann. Von vornherein ist als selbstverständlich
anzunehmen, daß er in der Hauptsache der unfähige und untüchtige ist. Ihn
können sich die Unternehmer nicht nufzwingen lassen. Es ist schlimm für diese
Leute, aber sie sind eben überflüssige Menschen, überflüssig und unbrauchbar
für das Gewerbe. Haben wir aber nicht trotzdem die Pflicht, für sie zu sorgen?
Nein, für sie als Buchdrucker nicht; wie weit für sie als Mitmenschen, ist eine
andre Frage, aber die große Frage ist eben: wie! Hätten wir Boden, uns
auszubreiten, so gäbe es auch die Not nicht, unter der ein Teil der Druck-
arbciter leidet. Die überflüssigen und minderwertigen Kräfte könnten ab¬
gedrängt und auf Gebiete geführt werden, wo sie doch ihren Unterhalt fanden.
Dann wäre auch die goldne und vernünftige Zeit für die Streike gekommen,
die wir im Prinzip gar nicht verwerfen. Dann könnte der tüchtige Arbeiter
leichter als jetzt seinen Preis nach seinem Werte stellen; wir wären nicht senti¬
mental wegen der Unternehmungen, die unausführbar würden — es wird un¬
endlich viel gedruckt, was nicht wert ist, gedruckt zu werden —, oder wegen der
Betriebe, die zusammenbrechen müßten, weil sie nicht imstande wären, anständige
Löhne zu gewähren — ihre Arbeiter hätten andre Unterkunft. Jetzt muß
jeder Betrieb gehütet und geschützt werden, der überhaupt Lohn giebt, und
die Produktion muß geschützt werden, die die Betriebe unterhält. Gott gebe,
daß einmal leichtere und gesündere Verhältnisse eintrete,,, und daß es in nicht
zu serner Zeit geschieht. Was wir für nötig halten, um sie herbeizuführen,
wissen unsre Leser. Unter den jetzigen Verhältnissen einen Gewaltstreich ver¬
suchen, hieße mit dem Kopfe durch die Wand rennen wollen, es wäre ein Be¬
ginnen, das sich an denen rächen würde, denen man helfen will oder helfen
zu wollen vorgiebt.
er Übelstand, daß viele musikalische Meisterwerke unausgeführt
bleiben und weitern Kreisen bloß dein Namen nach bekannt werden,
wird niemals ganz verschwinden. Man sollte aber kein Mittel
unversucht lassen, die Programme unsrer großen Kouzertinstitute
zu vervollkommnen und den Spielvorrat der angesehenern Bühnen,
bei aller wünschenswerten Mannichfaltigkeit, immer reiner und edler zu ge¬
stalten. Dazu gehört auch das Modernisiren, Ausbessern und Umdichten ver¬
alteter Texte. Wenn ein Stück edler Musik nicht recht lebensfähig und volks¬
tümlich werde» will, so liegt das häufig mir an Äußerlichkeiten. Wie oft
hört man das Urteil: die Komposition sei außerordentlich schön, aber der
benutzte Text sei schwach, mangelhaft und unbefriedigend! Nun, die Wahl des
Textes ist nichts kleines. Wenn Schumann nach der prächtigen Dichtung „Das
Paradies und die Perl" eine so dürftige Poesie wie „Der Rose Pilgerfahrt"
in Angriff nimmt, so ist der Schade sozusagen unheilbar. Der Liebhaber und
Kenner erfreut sich der einzelnen musikalischen Schönheiten, aber das Werk
befriedigt nicht als Ganzes. Doch giebt es auch Schöpfungen, wo nachgeholfen
werden kann, wie bei Mozarts ..Zauberflöte" und Webers „Oberon." Die
Vorwürfe gegen das Textbuch gehen oft zu weit. Der Kern der Arbeit ist
vielleicht nicht ohne einen gewissen Wert, und die einzelnen mißratenen Stellen
lassen sich ändern.
Von besondrer Bedeutung für die Musikpflege der Gegenwart und Zu¬
kunft ist die Neueinführung und Verbreitung der Nachsehen Kantaten. Was
hierbei die Textbearbeitung betrifft, so genügen bei den Kirchenkantaten leichte
Änderungen. Hie und da kann gekürzt, gestrichen und zusammengezogen werden.
Ausdrücke, die uns ästhetisch stören, können neuen, bessern Lesarten weichen.
Das Biblisireude kann, wo es zu stark hervortritt, gemäßigt werden. Die
Evangelischen scheuen sich zwar sehr, das sprachliche Kleid ihres religiösen
Glaubens dem Fortschritt zu unterwerfen. Aber Bachs Kunst darf nicht in
Schranken gehalten werden. Sie soll auch zu denen dringen, die freier em¬
pfinden und allgemein menschliche Ideale pflegen. Das Deutsch der Luther¬
bibel, so teuer und ehrwürdig es sonst jedem gebildeten Vaterlandsfreunde
erscheinen wird, ist nicht mehr maßgebend, wo es sich darum handelt, zu einer
wesentlichen Erneuerung und Auffrischung von Religion und Kunst beizutragen.
Vor hundert Jahren war man in der Bearbeitung biblischer Gegenstände weit
unbefangner und selbständiger. Wie vortrefflich ist z. B. die Textdichtung zu
Haydns „Schöpfung," die freilich aus den goldnen Tagen einer freien, auf¬
geklärten Frömmigkeit stammt! Wie würde diesem klassische!? Werke gegenüber
eine denselben Gegenstand behandelnde Poesie geraten, wenn sie gegenwärtig,
etwa in Berlin, amtlich auszuarbeiten wäre!
Unter den Nachsehen Kantaten befinden sich mehrere Gelegenheits¬
kompositionen im engern Sinne, deren Texte eine sehr radikale Umarbeitung ge¬
funden haben. Man gedenkt da in erster Linie der herrlichen „Trauerode" auf
den Tod der Kurfürstin Christine Eberhardine. Wenn man aber die Umdichwng,
die Wilhelm Ruft hier vorgenommen hat, mit dem Original vergleicht, so muß
man sich sagen, daß dergleichen Erneuerungen zu weit gehe«. Die ursprüng¬
liche Dichtung ist in diesem Falle durchaus nicht schlecht. Sie ergeht sich
meist in allgemein menschlichen Betrachtungen, die jederzeit von neuem erhebend
wirken können. Die paar besonders gefärbten Stellen, wo die Städte Torgau
und Pretsch, die sächsischen und polnischen Flüsse, der König August usw. er¬
wähnt werden, drängen sich nicht auf. Wozu denn ein vollständiges Abstreifen
des besondern zeitlichen und örtlichen Charakters? Sollte es sich nicht über¬
haupt empfehlen, solchen Werken, die in einer mühsam erreichten Sphäre der
Allgemeingiltigteit doch nur blässer und schwächer werden, das kräftigere und
anziehendere geschichtliche und örtliche Gepräge zu lassen? Die weltlichen Kan¬
taten Bachs sind allerdings, was ihre Genießbarkeit für die jetzige Zeit angeht,
sehr verschieden. Da ist z. B. das wunderschöne Stück „Phöbus und Pan,"
das nur weniger Nachbesserungen bedarf, um, sorgfältig einstudirt und viel¬
leicht auch szenisch gehoben, alle Gebildeten zu entzücken. Da ist aber auch
die „Bauernkantate," deren geniale Musik der Vorführung vor größere Kreise
harrt, deren unsinnig burlesker Text jedoch entschieden erst eine ziemlich gründ¬
liche, verfeinernde Bearbeitung verlangt. Hier möchte man sogar eine Be¬
seitigung oder wenigstens Zurückdrängung des Mundartlichen befürworten, da
dieses in der Bauernpoesie Piecmders nicht sowohl originell als vielmehr or¬
dinär wirkt. Den „Zufriedengestellten Aotus" hat man annehmbarer zu mache»
gesucht, indem man das Namensfest des Professors August Müller in ein
Keltcrfest umgewandelt hat, wobei, statt der weisheitsvollen Pallas und ihres
Schützlings, Bacchus und seine edle Gabe gefeiert werden. Vielleicht wäre
hier wieder eine weniger einschneidende Operation am Platze gewesen. Genug,
man behandle diese Werke von Fall zu Fall, und man wird viel schönes und
gutes der Vergessenheit entziehen.
Der Ruhm deutscher Art und Größe tritt gerade in der Musik bedeutend
hervor. Dennoch baut sich eine besonders beträchtliche Zahl klassischer Kom-
Positionen über Dichtungen fremder Zunge auf. Wir müssen auch bei großen
Deutschen, wie Händel, Gluck, Mozart, manche Übersetzungsthätigkeit vornehmen,
ehe ihre Werke dem nationalen Kunstleben ganz zu gute kommen können. Dieses
Übersetzen hat seine eignen Schwierigkeiten. Als Wieland einst das Ltadat niÄtsr
mit Beibehaltung des Rhythmus in deutsche Reime brachte, nannte er das
„eine Ruderknechtsarbeit."*) Vollends mühsam wird aber die Aufgabe, wenn
mau dabei Schritt für Schritt auf die Wendungen einer gegebnen Musik Rück¬
sicht zu nehmen hat. Nachdem man lange Zeit mit Schlechtem oder Mittel¬
mäßigem vorlieb genommen hatte, treten seit ein paar Jahrzehnten, allerdings
vereinzelt, auf diesem Gebiete höchst verdienstliche und interessante Leistungen
zu Tage. Es sei nur an die äußerst umsichtige und ansprechende Don Juan-
übertragnng Bernhard von Guglers erinnert, die der im Leuckartschen Ver¬
lage herausgegebnen Prachtausgabe des Mozartschen Meisterwerks zu Grunde
gelegt ist. Derselbe Gelehrte hat auch Liosi lÄn wees vortrefflich bearbeitet,
eine Oper, die freilich nicht viel Liebesmühe verdient. Ähnliche Treue zeigen
die Verdeutschungen von Peter Cornelius. Die Rücksicht auf die Musik kauu
aber auch übertrieben werden. Der poetische Rhythmus braucht nicht ge¬
opfert zu werden, wenn man doppelte Lesarten zuläßt, nämlich solche für die
Säuger ^ die sich natürlich nur um die musikalische Ausführung und nicht
um die Versfüße zu kümmern haben — und solche für die Leser der Text-
dichtuug, die sich den Eindruck einer glatten Versifilation nicht fortwährend
verderben lassen möchten. Überhaupt müßte man bei Opernbüchern und Konzert-
progmmmen mehr auf äußere Gefälligkeit und Lesbarkeit sehen, dagegen in den
Partituren, Stimmen usw. Treue gegen das Original und Rücksicht auf die
Eigenheiten der Komposition zum Ausdruck bringen.**)
Zum Glück können manche Meisterwerke mit lateinischen Text, wie Messen,
Hymnen u. dergl., sowie auch italienische Arien, wie die von Händel, mit Bei¬
behaltung der ursprünglichen Sprache vorgeführt werden, ohne daß man zu
fürchten braucht, damit unpatrivtisch zu handeln. Denn es ist doch wohl auch
einem größern Publikum nicht zuviel zugemutet, wenn es sich in solchen Fällen
mit einer dem eigentlichen Text nur beigedrucktem, ungesungnen Verdeutschung
begnügt, die dann freier gehalten sein kann. Das Lateinische und Italienische
hat seine Vorzüge, die in solchen Stücken mit zur Geltung kommen.
In den letzten Jahrzehnten sind bisweilen außerordentlich mühevolle und
künstliche Umarbeitungen älterer Bühnenwerke unternommen worden. Man
denke an die Wiederaufnahme von Webers „Silvana," wo Ernst Pasquö zu
deu einzelnen Nummern des Komponisten ein ausführliches, nagelneues Zauber-
märcheu hinzugedichtet hat, oder an die Neueinrichtung des Haydnschen „Apo¬
thekers" (1^0 Lp6?iīz), wo die drei Akte der Eiseustadter Handschrift in einen
einzigen zusammengezogen worden sind. Auch solche Ausgrabungen sind unter
Umstünden erfolgreich. In einigen Fällen scheint man freilich zuviel Arbeit
an undankbare und unrettbare Dinge verschwendet zu haben. Ein lohnendes
Gebiet dürften gewisse Operetten von Gluck sein. Als vor einigen Jahren auf
der Dresdner Hvfbühne der „Betrogne Kadi," musterhaft vorbereitet, aufge¬
führt wurde, war man allseitig aufs angenehmste überrascht. Wien sah bei
der Enthüllung des Denkmals der Kaiserin Maria Theresia ein Glucksches
Schäferspiel „Die Maienkönigin," das Max Kalbeck frei nach Favart bearbeitet
hatte. Auch dieses Stück wirkte höchst anmutig. Übrigens harren auch noch
die großen Hauptwerke Glucks, obgleich unvergessen, einer glücklich neuerudeu
Hand. Es wäre zu wünschen, daß hier einmal größere Fortschritte sichtbar
würden. So wie von Richard Wagner seinerzeit die „Iphigenie in Antis"
durch einen neuen Schluß vervollkommnet worden ist, müßte auch für die
übrigem Reformopern des Meisters, namentlich für „Alceste," etwas neues ge¬
schehen, wenn auch vielleicht in maßvollerer und minder durchgreifender Weise.
Ob dann endlich auch wieder Cherubinis „Lodoiska" auss Theater kommen
und die Textdichtung zur „Elisci" umgearbeitet werden wird? Wir wollens
hoffen.
n der Reihe der neuern norwegischen Erzähler, die neben den fran¬
zösischen und russischen die Ehre haben, von unsern Jüngsten als
mustergiltig angestaunt zu werden, zeichnet sich Jonas Lie, der
Verfasser der Romane „Ein Malstrom," „Der Lotse und sein Weib,"
„Hof Gilje," durch zwei sehr bemerkenswerte Eigenschaften ans. Er
ist kaum weniger Tendcnzschriftsteller, als die Herren Björnson, Kiel¬
land, Hamsun und andre, er haßt Schweden und die Schweden mit herzlichem
Normaunenhaß, er sieht in allen Mensche» und Verhältnissen, die mit den alten
dänischen Überlieferungen des Landes oder der Union mit Schweden zusammen¬
hängen, die Keime zum Bösen und zum Verderben, er vertritt die realistische Bil¬
dung gegenüber der humanistischen als das einzige Heil; aber er hat dabei die
Fähigkeit und das Recht des Dichters gewahrt, die Menschen mit eignen Angen zu
sehen und zu prüfen. Gelegentlich schildert er selbst ans Jnngnorwegen Gestalten
und Zustände, die zeigen, daß menschlicher Wert und Unwert uicht von Jung und
Alt abhängt, wie man uns so gern glauben machen möchte. Sudan» hal sich Jonas
Lie zwar ziemlich weit zu der Klippe hinziehen lassen, an der sich heute der große
Strom des Lebens spaltet, und an der jeder Wirbel vorgiebt, der Strom zu sein.
Aber er hat sich nicht nur das Bewußtsein erhalten, daß der Strom großer, breiter,
herrlicher ist als die einzelne Untiefe oder Stromschnelle, sondern trägt auch sicht¬
lich eine Sehnsucht in sich, aus dem volle» Strom zu schöpfen, seine poetischen
Motive und Gebilde dem ganzen Reichtum der Wirklichkeit abzugewinnen. Durch
alle die genannten Romane läßt sich der stille Kampf verfolgen zwischen unbe-
fangner Lebenswiedergabe und Tendenz, zwischen individuell poetischer Darstellung
und zeitgemäßer Manier, aber nirgends deutlicher, zusammengefaßter, als in seinem
neuesten Buche: Großvater, einem Roman, der in deutscher Ausgabe soeben bei
Richard Tumbler in Berlin erschienen ist und der zwar zunächst die Aufmerksamkeit
des Publikums auf sich ziehen wird, das jeder modernen „Sensation" entgegenlechzt,
daneben aber doch Elemente und Szenen ausweist, die auch andre Leser anziehen
und fesseln können. Freilich bleibt „Großvater" eine düstere und peinliche Familien¬
geschichte, eines der vielen Erzeugnisse, bei denen die Nachwelt stammen wird, wie
wenig wohl es deu Meuschen unsrer Tage in ihrer Haut gewesen ist. Aber wenn
wir nicht schließlich ganz aufhören wollen zu lesen, so können wir an den Büchern
dieser Art uicht gleichgiltig vorübergehen.
Der ersten Forderung an einen guten Roman, daß schon die bloße Silhouette
der Handlung ungefähr eine» Begriff, wenn auch keinen erschöpfenden, von dein
Inhalt geben müsse, genügt das neueste Werk des norwegischen Erzählers bis auf
einen gewissen Punkt. Aber leicht ist es gerade nicht, die Borgänge wieder¬
zuerzählen, weil diese nicht unmittelbar, sondern in ihrer Wirkung ans den alternden
Mann dargestellt sind, von dem der Roman seinen artikellosen Titel führt. Dem
Verfasser mag sich die Widerspiegelung der erschütternde» Familientragödie im
Geiste eines Alternden, aber Geistesklaren zunächst als eine wohlthätige Abdämpfung
der herben Konflikte und grellen Gegensätze dargestellt haben. Gleichzeitig dient
aber diese Voraussetzung dazu, in dem greisen Beobachter und Mitspieler des
dunkeln Stücks Erfahrungen und Empfindungen zu wecken, die er trotz seines viel¬
bewegten Lebens uicht gekannt hat. Ja rückwirkend beleuchten die ergreifenden
fptttcrn Erlebnisse des Großvaters Episoden aus seinem eignen frühern Leben und
bringen ihm erst zum klaren Vewußtseiu, was er früher besessen und verloren hat.
So empfinden wir, daß die nur scheinbare Ruhezeit des Emeritus zwischen Kinder»
und Enkel» zur inhaltvollsten und bedeutsamsten seines Daseins wird.
Der alternde Held hat seine Laufbahn als Offizier der Orlogsflotte, der nor¬
wegischen Kriegsmarine, begonnen und hat nach einer heftigen Zeitungsfehde aus
ihr scheiden und das friedlichere Amt eines Zollinspektors übernehmen müssen.
Beim Beginn des Romans ist er aber anch als solcher pensionirt und lebt im
Hause seines Sohnes, der Korpsarzt bei der norwegischen Armee ist und nebenher
in einer der kleinen norwegischen Städte praktizirt, deren Hintergrund für die
gesamte neuuorwegische Novellistik so charakteristisch wie unentbehrlich ist. Der alte
Zollinspektor findet im Hause des Sohnes eine stattliche Frau, eine stolze Schön¬
heit mit hervorragendem musikalischein Talent (das das Entzücken der Kleinstadt und
vor allen des Gesellschaftskönigs dieses Nestes, des Konsuls Wiugaard, ist), findet
blühende Enkel, unter dene» die älteste Tochter nach der Großmutter, des Zollinspektors
verstorbner Gattin, Terna heißt und eben im Begriff ist, ins Leben hinauszutreten.
Er findet aber gleichzeitig eine dunkle Wolke über dem Hause schweben. Die eigen¬
willige schöne Frau, zu deu Naturen gehörig, die nur schwer von der Jngend Ab¬
schied nehmen, sich in bescheidnen Verhältnissen nie bescheiden können, erscheint von
vornherein in einem bedenklichen Zwielicht. Ihr Gatte, der Arzt, von dem Be¬
wußtsein gequellt, daß sich Frau Stephanie in seinem Heim nicht heimisch findet,
von geheimem eifersüchtigen Mißtrauen erfüllt, nicht sicher, ob er ihre Liebe besitzt,
und doch jeden Gedanken weit von sich weisend, die Freiheit seiner Frau zu be¬
schränken, ihren Launen und Wünschen schrankenlos nachgebend, steht zwischen Vater
und Frau, zwischen Frau und Kindern mit dem dumpfen Gefühl, daß er der Lage
nicht gewachsen sei. Der alte Zollinspektor und, was schlimmer ist, die halberwachsenen
Kinder ahnen, daß Glück und Ehre des Hauses bedroht sind, aber umsonst versucht
der Großvater deu Sturz in die Tiefe aufzuhalten. Die Frau, die längst zu Konsul
Wingaard in einem schuldvollen Verhältnis steht, entwickelt dem vertrauenden wie
dem mißtrauenden Gatten gegenüber wahre Schlangenkünste und das verderbliche
Talent, ihre verbotnen Wege in Dunkel zu hüllen. Für den Großvater ist ihre
Natur von dem Augenblick um durchsichtig, wo sie auf dem ersten Ball, ans dem
ihre eben erwachsene Tochter miltanzt, den ersten jungen Anbeter, der Interesse an
ihrem Kinde zeigt, an sich zieht und mit ihrer Koketterie bestrickt. Die Atmosphäre
um das Haus und in dem Hause des Arztes wird täglich schwüler, der Aufent¬
halt auf einer kleinen ländlichen Besitzung bringt nur vorübergehend Erleichterung.
Der Großvater merkt, daß sich die älteren Kinder mehr und mehr von der Mutter
abwenden, daß sich der Sohn voll innerlicher Verzweiflung gegen die Erkenntnis
der wahren Sachlage wehrt. Er möchte eine Katastrophe abwenden, die immer
näher rückt, und möchte zugleich dem Dache entfliehen, unter dem ihm nicht mehr
Wohl ist. Nun kommt der zweite Winter, das einsame Häuschen auf dem Lande
liegt verschlossen. Der Korpsarzt kann aber nicht umhin, von Zeit zu Zeit dort
einzusprechen. Mit einemmal entdeckt er Spuren, daß es nicht immer einsam dort
gewesen ist. Ein Blitzstrahl jähen Argwohns zuckt vor ihm nieder, er verrät seinem
Vater genug vou der leidenschaftlichen Sorge, die ihn erfaßt hat, aber er verschließt
den furchtbaren und finstern Vorsatz zu einer Art Gottesgericht in seiner Brust.
Wenn Stephanie unschuldig ist, wenn sie keine Zusammenkünfte in dem verschlossenen
Sommerhaus hält, so wird sichs ja bald zeigen. Umgekehrt: wenn sie schuldig ist,
so wird sie die Rache unfehlbar heute oder morgen ereilen. Die schöne Frau, zu
deren Charakteristik ihre Naschhaftigkeit gehört, hat einen großen Topf Himbeergelee,
ihre Lieblingsnäscherei, in einem Schrank des Landhauses verschlossen aufbewahrt.
Der Korpsarzt, der gewiß zu sein vermeint, daß niemand außer Stephanie zu
diesem gelangen kann, vergiftet es mit einem raschwirkenden tötlichen Gift. Es
fällt ihm nicht ein, daß doch ein verhängnisvoller Zufall irgend einen Unschuldigen
zu dem vergifteten Gelee führen könne, seine eignen Kindern, die Frau mit deu
Kindern, oder auch einen armen hungrigen Einbrecher, der nichts andres als Lebens¬
mittel in dem verlassenen Häuschen sucht. Er ist überzeugt, daß in der einen
Wagschale die vollkommene, von ihm noch immer heimlich gehoffte Schuldlosigkeit
der Frau und die Unberührtheit der vergifteten Näscherei, in der andern das ge¬
heime Stelldichein mit Wingaard, ein verbrecherisches Picknick und der Tod der
Schuldigen liegt. Und es kommt, wie er gerechnet hat. An einem Winterabend,
an dem Frau Stephanie außer dem Hause, angeblich auf Besuch bei einer Freundin
weilt und schon mit Bangen erwartet wird, donnert plötzlich der Schlitten des
Konsuls vor das Haus des Arztes, der totenbleiche Schuldige stottert etwas vou
einer zufälligen Begegnung mit Frau Stephanie und daß er ihr eine Plötzliche
Schlittenfahrt nach dem Landhause vorgeschlagen habe, dort sei sie jählings in
beängstigender Weise erkrankt, schleunigste Hilfe thue Not. Der Arzt, dessen Schicksal
in diesen Minuten entschieden ist, bittet mit eisiger Ruhe seinen Vater, ihn zu
begleiten, läßt sich zum Schauplatz der Katastrophe führen und entwickelt hier in
der Abfertigung des Konsuls, in der Unsichtbarmnchung der Spuren ihres und
seines Verbrechens, in der Erledigung aller notwendigen Maßregeln eine Kälte und
Festigkeit, die nun erst verrät, wie die Eifersucht und die wilde Wut über sein
getäuschtes Vertrauen in seinem Herzen gekocht hat. Nur der Großvater zeigt so
viel Erbarmen, daß er wenigstens eine Decke über die Leiche der unglücklichen
Frau wirft, der Mann behandelt die Neste der Vergifteten wie etwas, das ihn
nichts mehr angeht.
Es gelingt ihm, die Spuren der Schuld wie die des eignen Verbrechens, mit
dem die Schuld gestraft wurde, vor den Augen der Welt zu tilgen. Aber er tilgt
sie nicht in seiner Seele. Von Stund an fühlt er sich müde, arbeitsunfähig, durch
eine geheime Macht in dem Kern seines Wesens zerrüttet. Er ordnet seine Familien-
Verhältnisse, das heißt er legt sie in die Hand des Vaters (dem nun im höchsten
Alter Pflichten, Verantwortungen, aber auch Empfindungen und Einsichten An¬
wachsen, von denen der biedre Alte kaum etwas geahnt hat) und begiebt sich frei¬
willig in eine Nervenheilanstalt. Er würde in ein Büßerkloster gehen, wenn er
nicht ein gut lutherischer Normann wäre. Der Großvater aber erlebt an den
Enkeln Glück; namentlich Terna, das Ebenbild, die jugendliche Neuverkörperuug
ihrer Großmutter, Terna, die unter der Schuld der Mutter anfänglich zu erliegen
scheint (sehr schön ist es, wie sie der Liebe als der Lüge zu entrinnen trachtet),
erhebt sich, von der treuen starken Liebe eines wackern Jugendgespielen getragen,
tapfer über ihre unheimlichen Jugenderlebnisse, deren ganze Schwere und Tiefe
sie freilich nicht kennt, verscheucht mit ihrer Reinheit und dem Hauch ihrer warmen,
wahren Nntnr den Alp der „erblichen Belastung." Die Gestalt und das Innen¬
leben dieses Mädchens sind der Lichtstrahl in der düstern Erfindung und zeigen
am stärksten, daß sich Lie ein Stück von dem Ursprünglichen seiner Dichteranlage
gewahrt hat, obwohl er sich Von der Modeströmung ein beträchtliches Stück weiter¬
treiben läßt, als ihm gut und uns lieb ist.
Bezeichnend für die ganze Weltanschauung, die der Korpsarzt vertritt, ist das
harte, unvermittelte Nebeneinander des schrankenlosen Vertrauens und des tod¬
bringenden Rncheverlangens. Derselbe Mann, der es kleinlich und unter seiner
Würde findet, seine Frau nach irgend einer Richtung hin zu beschränken, der sich
nicht der Schwäche der menschlichen Natur erinnern will, fühlt anch keine Regung
des Erbarmens, des Mitleids, er stellt dem eignen, erst vergötterten Weibe das
Gift hin. wie einer Ratte. Die kleinstädtische Künstlerin ist wahrlich keine Natur,
an der mau tiefen Anteil nehmen könnte, aber gegen die weltrichterliche Rolle,
in der Doktor Gunnar die Schuldige aus der Reihe der Lebenden tilgt, empört
sich die Empfindung des Unbefangnen. Wer ist dieser Mann, und wer verbürgt
ihm denn, von allem andern abgesehen, daß Fran Stephanie gerade nur auf ihren
Liebeswegen, nur in Gesellschaft ihres Liebhabers das Landhaus betreten wird?
Das von dem Korpsarzt augerufue Gottesgericht erinnert an altnordische Balladen,
in denen Gifttränke gebraut werden, Frauenrache nach tötlichen Kräutern und
Metallen greift. Neu und schlechthin häßlich und verletzend ist es, diese Waffe in
Mttnnerhcmd zu sehen. Die Bedeutung, die in diesem Lieschen Roman dem Ans-
scheiduugspriuzip gegenüber dem Mitleidsprinzip gegeben wird, erscheint brutal. Man
erhebt neuerdings Zetergeschrei gegen die Anwendung dieses Wortes, aber es giebt
kein andres Wort, das den Nagel so auf den Kopf träfe.
Da Lies Roman sowohl seiner Erfindung als der sorgfältigen, im einzelnen
höchst lebendigen, anschaulichen und stimmungsvollen Ausführung nach zu den besten
Büchern seiner Art zählt, und da der Verfasser durch frühere Produktionen berech¬
tigte Anerkennung erworben hat, so giebt das Buch auch Anlaß genug zu allge¬
meinem Betrachtungen. Es ist leicht wahrzunehmen, daß Lies Talent im Einfachen,
wir möchten beinahe sagen im Idyllische», jedenfalls im menschlich sympathischen
und Rührender seine stärksten Wurzeln hat. Sieht man nun, wie ein solches
Talent Schritt für Schritt in die Schilderung des Dämonischen, in die mcmierirte
und pessimistische Wiedergabe der Nachtseiten des Lebens hineingedrängt wird, so
ermißt man erst die volle Stärke der Zeitstimmung und der herrschenden littera¬
rischen Mode, die man vergeblich mit dem vornehmer» Name» eines Stils be¬
zeichnet. Lie gehört nicht zu den Naturen, die i» aller Zeit und unter allen Um¬
ständen ihren freien und eigne» Wuchs behaupten. Der Odem der Zeit berührt
solche Talente stark und giebt schon ihren ersten Schößlingen Richtung nud Rinde,
auch wenn die Wurzel» echt sind. Vor el»em Menschenalter würde der Norweger
von Dickens beeinflußt worden sein, heute ist ers von Turgenjew und Daudet und
natürlich von seinem Landsmann Ibsen. Es ist aber wichtig, daß trotzdem ein
Stück eignen Lebens »»d eig»er Empfindung mit zu Tage kommt, und das läßt
hoffen, daß die seltsame Mischung äußerlicher u»d innerlicher Meisterschaft, die uns
in dem Roman „Großvater" entgegentritt, nicht immer dieselbe bleibe», sonder»
vielleicht einmal die innere zum Siege gelangen wird. Denn eine gewisse Vir¬
tuosität erzählender Technik, die natürlich auch den Romanen Lies eigen ist, scheint
doch so sehr Gemal»g»t geworden zu sein, daß man auf sie keinen Wert mehr
legen kann. Um so höher» lege» wir auf die Regungen eines tiefern Lebens
und einer reinern Erkenntnis, die in dem Dniikel dieses Romans die Silberblicke
abgeben.
le Eitelkeit, die wir in der Kleidermode am Werke sehen, ist über¬
haupt der Stamm, c>» dem die meisten närrische» Früchte wachse».
Deal einmal ist das Jage» »ud Hasche» »ach vergänglichen Gegen¬
ständen, das ihr Wesen ausmacht, so allgemein verbreitet, daß sich
fast kein Mensch völlig frei davon weiß, und da ferner gerade des¬
halb jeder darauf rechnen kann, daß, wen» er eine oder die andre
der schimmernden Seifenblasen erhascht, er auf seine Mitmenschen Eindruck macht
und wohl gar ihren Neid erweckt, so giebt das feinern Egoismus eine um so
kräftigere Anregung, nach jene» Glücksgüter» z» trachte», zumal da es im all¬
gemeinen nicht so schwer ist, sie zu erlangen, wie die echten und wahren, wenn
es auch manchmal Unruhe und Ärger genug kostet. Ist er dann am Ziele und
wird von den andern bewundert und beneidet, dann kann das sogar die Wirkung
haben, daß er in seiner eignen Achtung steigt, was ein unsägliches Wohlbehagen
hervorbringt. Mancher freilich, der nach Früchten gesucht hat, überzeugt sich zu
seinem Mißvergnügen, daß er mir Schalen in der Hand hält; aber viele andre
siud mit solchen Schalen ganz zufrieden, sie freuen sich innig über das angenehme
Äußere, womit sie die Natur nach der allgemeinen oder mich nur nach ihrer eignen
Meinung ausgestattet hat, über den Rang, den Titel, den Orden, der ihnen zuteil
geworden ist, über den vornehmen Umgang, den sie gefunden haben, und sie
schreiben dergleichen eine sehr große Steigerung des Werth ihrer Persönlichkeit zu.
Diese glückliche Gemütsverfassung ist das, was man Eitelkeit im engern Sinne
nennt, und sie braucht nur in Worten oder Handlungen zum Ausdruck zu kommen,
um die allbekannte Erscheinung des eiteln Narren zu enthüllen.
Ein Tropfen von seinem Blute rinnt wohl auch in den Adern der sogenannten
Bergfexen, die ihre Lebensaufgabe dnriu finden, die höchsten Spitzen in der
kürzesten Zeit zu erklimmen. Zwar kann das Verlange», die körperliche Kraft und
Gewandtheit, sowie den Mut und die Ausdauer, die dazu nötig sind, zu bethätige»
und zu üben, an und für sich gewiß nicht als närrisch bezeichnet werden; da es
aber hier für einen Zweck geschieht, der weder wissenschaftlicher, noch sittlicher,
überhaupt nicht vernünftiger Art ist, so läßt sich den Bergfexen der Vorwurf der
Narrheit nicht ersparen. Wer sie beobachtet hat, muß allerdings zugeben, daß sie
dem Publikum gegenüber von ihren Großthaten wenig Aufhebens machen, sich
also insoweit von Eitelkeit frei zeigen; aber in dem verhältnismäßig kleinen Kreise
der Genossen von der Kraxlerznnft suchen sie die Befriedigung ihres Ehrgeizes;
da werden sie eigentlich auch allem verstanden und nach Gebühr gewürdigt, und
da sonnen sie sich in dem Ruhme, die kühnsten Bergsteiger zu sein, und nähren
von diesem Ruhm ihr Selbstgefühl. Es mag ja auch vorkommen, daß einer oder
der andre felbst auf diesen Ruhm keinen Wert legt; dann kann ihn nur das Motiv
treiben, seinen Willen gegenüber unüberwindlich scheinenden elementaren Schwierig¬
keiten durchzusetzen und mit der Gefahr zu spielen. Denn um heilsame Gymnastik
in ausreichendem Maße zu treiben, braucht er doch uicht lebensgefährliche Berg¬
besteigungen zu unternehmen. Und wie soll man dann sein Thun und Treibe»
anders als närrisch nennen, wenn mau nicht gar annehmen soll, daß es sich um
eine Gemütsstörnng handle? In der That wird man zu eiuer solchen Annahme
bisweile» fast gewaltsam gedrängt. In einem Berichte, den ein Mitglied des
deutsch-österreichischen Alpeuvereius im 24. Bande der Vereinszeitschrift über eine
von ihm im August 1892 zuerst und ohne Führer unternommene Besteigung der
bis dahin für unbezwinglich gehaltenen Nordwestwcmd des Groß-Venedigers er¬
stattet hat, heißt es wörtlich: „Ich war mir klar bewußt, daß ich die Gefahr zur
vierten Potenz erhob, wenn ich nicht angeheilt und allein des Nachts ein verwickeltes
Kluftnetz nach mächtigem Nenschneefall durchschritt." Dann weiter: „Den Pickel
ließ ich unausgesetzt tastend vorgreifen und rechts und links bohren; das Knie
hatte ich gebeugt, den Oberkörper fast horizontal gelegt, alle Nerven fieberhaft
angespannt. Und wenn ich dann mit dem Bein dennoch plötzlich versank, ohne
sogleich zu wissen, ob es das aufklaffende Grab sei, da Päckte mich das Grausen,
als würde mir ein Spiraldraht durch mein Rückenmark gerissen — aber blitzschnell
hatte ich mich mit breiten Armen aufs Antlitz geworfen, und leise tastend schob
ich meinen Leib aus dem unheimlichen Rachen. Endlich kam es sanfter. Mögen
sie mich übrigens nach Lust verketzern, die langweiligen Theoretiker und Moralisten
des Alpinismus: ich stehe im Dienste eines höhern Herrn als der alpinen Theorie,
ich gehorche der geheimnisvollen Stimme, die aus meinem Uubewußtsciu herauf-
tönt, heute drängend, morgen hemmend." Nachträglich bemerkt der Erzähler noch,
daß er das mit Schnee angefüllte Kluftnetz ebensogut hätte vermeiden und umgehen
können, sodaß er sich also den beschriebnen Gefahren ganz überflüssiger Weise aus¬
gesetzt hat. Ist eine solche Handlungsweise nicht etwas ganz andres als gesunde
Narrheit? Sie zeigt, wohin diese führen kann, wenn sie zu Weit getrieben wird.
Bei gesunden, widerstandsfähigen Naturen ist übrigens die Gefahr einer solchen
krankhaften Ausartung nicht groß: sie machen das tolle Treiben mit, aber es hat
ihnen nichts an, sie gehen unversehrt daraus hervor und wundern sich manchmal
später, daß sie solche Narren gewesen sind.
Das kann man auch auf ander» Gebieten beobachte», wo sich der menschliche
Wille in einer Weise regt, der zu folgen der grübelnden Vernunft nicht immer
gelingen will. Wie benutzt er z. B. die sogenannte akademische Freiheit, die dem
jungen Manne aus deu gebildeten Kreisen winkt, wenn er die Schuljahre glücklich
hinter sich hat? Es ist die Blütezeit des Lebens, in die er dann eintritt, eine
Zeit, wo der leicht empfängliche Geist und das jeder Regung zugängliche Gemüt
des Jünglings die Samenkörner aufnehmen solle», aus denen sich später die Frucht
entwickelt, die ih» befähige» soll, de» Lebensaufgabe» des Mannes gerecht zu werde»,
eine Zeit also, deren Gehalt die Grundlage für das ganze künftige Leben bildet,
und die deshalb unendlich kostbar, und um so kostbarer ist, als sie nur ein paar
kurze Jahre umfaßt. Und wozu werden diese verwendet? Um mit einem Kosten-
aufwande, der manchmal später hinreichen muß, den Ma»» samt seiner Familie
zu unterhalten, mit Eifer und Unsere»gu»g in den strenge» und mit unerschütter-
lichen Ernste beobachteten Formen des Komments unermeßliche Massen von Bier
zu vertilgen, die für das praktische Leben wenig wichtige Kunst des Fechtens zu
erlernen und zu üben, dabei sich gegenseitig die Gesichter zu zerschneiden, wenn es
das Unglück will, anch zu verstümmeln, und sie in langwieriger Kur immer und
immer wieder auszuheile». U»d während dessen liegt das Leben sozusagen im Sonnen¬
schein, der Frühling lacht, und die Schätze der Wissenschaft warten darauf, von
dem frische» Geiste des Jünglings gehoben zu werden. Ja, sagt man, der junge
Mann i»»ß erzöge» —, sein Charakter muß ausgebildet werden. Nun, es mag
dahingestellt bleiben, ob ein junger Mann von guter Familie nicht schon ans dem
Elternhause und der Schule soviel Erziehung mitbringt, daß er imstande ist, sich
durch Selbsterziehung weiterzuhelfen und seineu Charakter selbst auszubilden. Bei
vielen läßt sich das sicher anlehnen, und die Erfahrung bestätigt es, daß sich
mancher schon auf diesem Wege zu einem harmonisch durchgebildeten, männlichen
Charakter entwickelt hat. Aber es mag zugegeben werden, daß es für andre, um
dieses Ziel zu erreiche», notwendig oder wenigstens nützlich ist, in einen fest¬
geschlossenen Kreis von Alters- und Berufsgenossen einzutreten, wie ein solcher
z. B. jedes Offizierkorps mit seiner dienstlichen und außerdienstlichen Disziplin ist,
in dem der junge, eben der Schule entwachsene Offizier seine Erziehung für das
soziale Leben vollendet. Daß aber für den gebildeten jungen Mann im Zivilstande
der Kneip- und Paukkvmment das einzige oder auch nnr das beste Erziehungs¬
mittel bilde, dürfte doch wohl in Zweifel zu ziehen sei»; ließen sich doch vielleicht
andre Formen des akademischen Zusammenlebens finden, in denen die männliche
Kraft und Gewandtheit in leiblicher wie in seelischer Hinsicht auf edlere Art ent¬
faltet, geübt und gestärkt werden könnten. Denn das läßt sich doch nicht leugnen,
daß man anch unter denen, die den Kontinent „durchaus studirt mit heißem Be-
mühn," hin und wieder einen findet, der trotz alledem gewisse Mängel in seiner
Erziehung erkennen läßt.
Mit unsern jungen Dünen ist es ein andres Ding. Deren Erziehung ist
durchaus vollendet, wenn sie in die Gesellschaft eintreten, und es handelt sich für
sie zunächst darum, ihre Jugend zu genießen. Das kostet viel Toiletten, viel
schlaflose Nächte und nicht selten auch ein Stück Gesundheit. Aber wieviel Ver¬
gnügen giebt es denn, das ganz umsonst und beqnem zu haben wäre? Wenn man
nnr die unerschütterliche Überzeugung hat, daß es wirklich ein Vergnügen sei, dann
wird es durch die Opfer, die es erfordert, mir erhöht.
Das weiß jeder, der im Sommer Erholungsreisen macht, wie es unter ge¬
bildeten Leuten, denen es ihre Mittel nur irgendwie erlauben, Sitte ist. Die Ent¬
behrungen und Beschwerden, die sie dabei manchmal zu ertragen haben, sind nicht
unbeträchtlich: tagelang in Hitze, Staub und Steinkohlenqualm und bei unablässigem
Lärm und Geräusch der verschiedenste» Art ans Bahnhöfen und im Eisenbahn¬
wagen zu verweilen und sich zu langweilen und dann, eingekeilt in die fürchterliche
Enge primitivster Wohn- und Schlafrnume, auf harten Sitzen nud in schmalen,
kurzen Betten, bei mangelhafter Waschvvrrichtung und uuter kümmerlicher Ernährung
des Leibes für schweres Geld einige Wochen zuzubringen — das ist keine Kleinig¬
keit für einen Kulturmenschen, der es bei sich zu Hause besser hat. Freilich, wenn
ihn dann Gottes freie Natur mit ozonreicher Luft, mit Wald- und Wiescnduft,
mit erquicklichen Wanderungen über Berg und Thal für alle jene Opfer entschädigt,
dann mögen diese immerhin kein zu hoher Preis sein. Aber kommt es nicht auch
manchmal vor, daß einer in seiner Sommerfrische, selbst wenn er das schönste Wetter
hat, von jenen Gaben der Natur wenig oder gnr keinen Gebrauch macht, sei eS,
daß ihn körperliche Zustände darin verhindern, oder daß er einfach zu beqnem ist?
Er sieht sich die Berge lieber von unten an. Oder ist nicht bei manchem die
Natur zu Hause ebenso schön, ja noch schöner als an dem Orte, den er zur Sommer¬
frische wählt? Wozu macht er sich dann alle die Mühe? Er will eben den Genuß
eiuer Sommerfrische haben und läßt sich nicht von dem Glauben abbringe», daß
eine solche unter allen Umständen ein Genuß sei, obwohl sich dieser oft erst bei der
Heimkehr einstellt, wo mancher mit einem Seufzer der Erleichterung ausruft: Zu
Hause ists doch am besten! Soll es doch sogar Leute geben, die nur, um diesen
Genuß zu haben, im Sommer auf Reisen gehen!
Im allgemeinen darf man wohl behaupten, daß auch bei der Reiselust unsrer
Tage die Mode ein gewichtiges Wort mitspricht. Es gehört eben auch zu den
Kennzeichen der »ach Bildung und Besitz maßgebenden Klassen, daß sie Erholungs¬
reisen machen, und wer sich nicht der Gefahr aussetzen will, für außerhalb dieser
Klassen stehend angesehen zu werden, der fühlt sich verpflichtet, wenn auch nicht
deu Winter im Süden, so doch wenigstens im Sommer einige Wochen in den
Bergen oder an der See, jedenfalls anderswo als zu Hause zuzubringen, und
wenn er in dieser Hinficht noch Bedenken hegen sollte, so werden diese durch seiue
bessere Hälfte schnell zerstrent. Denn die Frauen sind ja weit eher geneigt, sich
ohne Murren dem Machtgebot der Mode zu unterwerfen. Dafür hüten nud pflegen
sie auch die Sitte in allen ihren Erscheinungsformen; mir solche schließen sie viel¬
leicht von ihrem Schutze aus, die geeignet sind, den Mann dem Hause zu entfremde»,
und zu diese» gehört vor allen eine Sitte, die unter dem Namen der Vereins¬
meierei bekannt ist und als eine besondre Eigentümlichkeit des deutschen Mannes
angesehen wird, weshalb mau auch schon behauptet hat, daß, wenn drei Deutsche
sich irgendwo zusammenfanden, sie vor allen Dingen einen Verein gründeten. Diese
Leidenschaft hat als Motiv die Vorstellung, daß das menschliche Streben und
Handeln am besten mit vereinten Kräften zum Ziele gelange. Mit einer gewissen
Einschränkung kann das ja auch als richtig bezeichnet werden. Handelt es sich
darum, etwas auszuführen, wozu es verschiedner Fähigkeiten oder Verrichtungen
bedarf, dann mag das ja, da die einen in verschiednen Maße unter die Menschen
verteilt sind, und die andern nicht alle von einem einzigen übernommen werden
können, am besten dadurch geschehe», daß alle, die durch die eine oder die andre
Fähigkeit hervorragen oder zu einer bestimmten Verrichtung geneigt sind, sich zu¬
sammenschließen und unter einheitlicher Leitung, jeder an seinem Teil, das gemein¬
same Ziel zu erreichen suchen: sie bilden dann einen Organismus, worin jeder als
dienendes Glied die ihm zukommende Arbeit thut. Aber wo diese Voraussetzungen
nicht zutreffen, da richtet eine einzelne befähigte und kraftvolle Persönlichkeit mehr
aus als ein Verein, zumal da ein solcher regelmäßig in der Mehrzahl höchstens
ans Dnrchschnittsgrößen bestehen wird. Dies beruht darauf, daß in geistigen
Dingen, um die es sich jn hier allem handelt, nicht die Menge, sondern die Stärke
der Kräfte maßgebend ist, ja daß, wie man beobachtet haben will, sogar tüchtige
Kräfte, wenn sie vereinigt zu wirken unternehmen, in ihren Äußerungen sich gegen¬
seitig hemmen und lahm legen, so wie es Schillers Epigramm ausspricht:
Jeder, sieht man ihn einzeln, ist leidlich klug und verständig;
sind sie in oorvoro, gleich wird euch ein Dummkopf daraus.
Übrigens heißt es ja auch: viele Köche verderben den Brei. Der Gedanke und
der Wille sind eben so persönlicher Natur, daß sie vom Einzelnen ausgehen müssen,
um ihre Macht zu entfalten, und so bestätigt auch die Erfahrung, daß wahrhaft
große und edle Gedanken nie durch Vereinsbeschlüsse, sondern immer nur von Ein¬
zelnen geboren und verwirklicht worden sind. Natürlich müssen diese ihre Gemeinde
haben, die jene Gedanken aufnimmt und weiter verbreitet, bis sie Gemeingut werden,
und wenn das unter anderm in der Form des Vereins geschieht, so läßt sich nichts
dagegen sagen. Aber darauf ist es bei einem Verein nicht abgesehen; ein solcher
beruht auf republikanischer Grundlage, d. h. jedes Mitglied ist berechtigt, in parla¬
mentarischer Form und Ordnung seine Meinung zu äußern, und es pflegt von
diesem Rechte um so mehr Gebrauch zu machen, je mehr es der Redegabe mächtig
und darin vielleicht andern, geistig bedeutendem Mitgliedern überlegen ist, gerade
um diesen gegenüber einen Vorzug geltend zu machen, den es nach dem Inhalte
seiner Reden nicht hat, und das kann für die Zwecke des Vereins nicht förderlich
sein. Trotzdem werden auf allen Gebieten des geistigen Lebens, mögen sie der
Politik, der Religion, der Wissenschaft oder der Kunst angehören, unermüdlich Ver¬
eine gegründet, die ihre Tage abhalten und mit endlosen Reden ausfüllen, ihre
Beschlüsse fassen, in denen sie selten unterlassen, irgend etwas „freudig zu begrüßen"
oder etwas anderm „voll und ganz zuzustimmen," ihre Vereinszeitschrift heraus¬
geben und — ihre Jubiläen feiern. Oder geschieht das alles vielleicht gerade des¬
halb, weil so mancher das unbezwingliche Bedürfnis hat, sich reden zu hören oder
als leitende Persönlichkeit eine Rolle zu spielen? Dann wäre es von den andern
allerdings sehr liebenswürdig, ihm dazu Gelegenheit zu geben, obwohl auch sie meist
ihre Rechnung finden werden; denn jedes richtige Vereinsstatnt pflegt unter andern
den Paragraphen zu enthalten: Jedes Mitglied ist verpflichtet, so viel in seinen
Kräften steht, die Verarmung der Bierbrauer zu verhüten, und dieser Zweck läßt
sich unzweifelhaft am besten mit vereinten Kräften erreichen.
Doch genug! Wir haben bisher die Narrheit teils im allgemeinen, teils in
einzelnen Erscheinungsformen gewissermaßen von außen betrachtet. Wie man aber,
um sich über ein merkwürdiges, verzwicktes Bauwerk zu unterrichte», nicht draußen
stehen bleibt, sondern schließlich hineingeht, die Gänge und Winkel durchforscht und
prüft, wie sich die Welt von innen gesehen aufnimmt, so empfiehlt es sich, um das
Wesen der Narrheit und ihre Bedeutung völlig zu ergründen, auch bei ihr den
Standpunkt von innen einzunehmen, d. h, darauf zu achten, wie sich der närrische
Mensch selbst zu der Narrheit und der Außenwelt verhält. Da wird man denn
gewahr, daß, wie das Sprichwort sagt, jedem Narren seine Kappe gefällt; er hält
sie keineswegs für ein unbequemes und auffallendes Kleidungsstück, sondern für ein
sehr praktisches und geschmackvolles, und schaut mit tiefem Ernst darunter hervor in
die Welt hinein, und gerade das ist es, was ihn eigentlich erst zum Narren macht,
und wodurch er, von wenigen Ausnahmen abgesehen, so unwiderstehlich komisch
wirkt. Er hat keine Ahnung davon, daß er sich mit der Vernunft irgendwie in
Widerspruch setzt, er ist vielmehr der festen Überzeugung, daß gerade das, wodurch
er, wie ihm wohl bewußt ist, sich von andern unterscheidet, einen höhern Grad der
Anlage oder der Erkenntnis darstelle, ans den er alles Recht habe, stolz zu sein.
So somit sich der Geizige in dem Gedanken an seine Bedürfnis- und Anspruchs¬
losigkeit, der Modenarr freut sich über seine Richtung aufs Bornehme, der Vereins¬
meier ist von der Überzeugung durchdrungen, daß er eine für die Menschheit segens¬
reiche Thätigkeit ausübe, und für den Alpeufex steht es außer Zweifel, daß der
Gipfel der Naturbetrnchtuug und des Naturgenusses auf den höchsten Spitzen der
Alpen erreicht werde, wo man nichts als Schnee, Eis, Felsen und Wolken sieht,
obwohl man das bequemer haben kann, wenn man sich zur Winterszeit in einer
wüsten Gegeud auss freie Feld stellt, uur daß man auf den Schneefernern auch
in und über den Wolken steht und dem Himmel bedeutend näher gerückt ist.
Diese Überzcuguugstreue des närrischen Menschen übt auf leicht bestimmbare
Naturen bisweilen die Wirkung ans, daß er sie mit seiner Narrheit ansteckt; sie
denken, was einer so festhält, damit muß es seine Richtigkeit haben, und so ge¬
schieht, was das Sprichwort sagt: Ein Narr macht viele Narren.
Daß aber jeder in seiner eignen Narrheit einen Vorzug sieht, um deswillen
er sogar geneigt ist, vernünftige Leute zu verachten, beruht offenbar in einem Irr¬
tum über die ihn auszeichnende Willensrichtung, die, mag sie nnn in Eitelkeit,
Hochmut, Genußsucht oder sonst etwas bestehen, ihn zu einer unvernünftigen und
deshalb zweckwidrigen Handlungsweise führt: dn er sie selbst für vernünftig hält,
so kann sie seiner Meinung uach uur einem großen, edeln Streben entspringen. Er
täuscht sich also über sich selbst, indem er sich für besser hält, als er ist, und das
ist eine Meinung, von der einer crfahruugsmnßig am schwersten abzubringen ist.
Gerade deshalb aber merkt es der närrische Mensch nicht so leicht, daß andre nicht
seiner Meinung sind, ihn für einen Narren halten und über ihn lachen, und wenn
er es merkt, so pflegt er es gnr übel zu nehmen, während er eine Narrheit, die nicht
in sein Fach fällt, an andern ohne Mühe erkennt und sich weidlich daran ergeht.
Bisweilen aber mag es dem einen oder dem andern widerfahren, daß ihm der
Schleier von den Augen fällt, und er überrascht ausruft: Was bin ich für ein
Narr! Dann schämt er sich vielleicht, unwillkürlich muß er aber auch über sich selbst
lachen; und wie er sich nun mit allem Ernst daran macht, den verkehrten Kurs zu
ändern, dabei aber gewahr wird, welch ein saures Stück Arbeit das ist, fängt er
in>, seine Mitnnrrcn mit andern Augen einzusehen. Er lacht auch noch über sie,
nun aber mit größeren Recht; denn er versteht sie jetzt, er fühlt mit ihnen und ist
gewillt, so viel in seinen Kräften steht, ihnen zu helfen.
Diese ans Ernst und Heiterkeit gemischte Stimmung ist das, was nun Humor
»eunt, ein seltsames Wort für diesen Begriff; denn es heißt eigentlich Feuchtigkeit,
und es scheint, eilf solle es den Gegensatz bezeichnen zu der Trockenheit, mit der
der Verstandesmensch bloß das erkennt, was in den Bereich seiner fünf Sinne
tritt. Der Humorist ist mehr Gefühlsmensch; er sieht weiter und tiefer.
Und wer es dahin gebracht hat, der macht auch noch Weitere Entdeckungen.
Er wird mit Staunen inne, daß vieles, was als Narrheit angesehen wird, diese
Bezeichnung gar nicht verdient, obwohl es der Alltagsvernnuft zu widerstreiten
scheint. Wann wird wohl der unwillige Ausruf: Ich werde doch kein Narr sein!
am häufigsten gehört? Wenn jemandem zugemutet wird, gegen sein eignes Interesse
zu handeln, sollte er auch selbst andern dadurch helfen können, also wenn Opfer
von ihm gefordert werden. Die Vernunft des praktischen Durchschnittsmenschen
reicht eben nicht weiter, als sein Egoismus gehen will. Nach der einen Seite
kann er darin allerdings kein Ende finden, nämlich wo es sich um deu eignen
Besitz und Genuß handelt; um dieses Ziel zu erreichen, wünscht er sich manchmal
noch mehr Erleuchtung, als er hat. Wo aber das Wohl der andern in Frage
steht, der Volksgenossen, der kommenden Geschlechter, außer etwa soweit zu diesen
seine Kinder und Kindeskinder gehöre», da geht er nur soweit, als es ihm keine
Beschwerde macht, und das ist bald geschehen. Wer weiter gehen will, der ist in
seinen Angen ein Narr und wird als solcher von ihm behandelt.
Das haben in alter und neuer Zeit viele erfahren, die mit großem Herzen
und erleuchteten Geiste Gedanken faßten und auszuführen unternahmen, die, über
den gewohnten Gesichtskreis des persönlichen Interesses hinausgehend, den Keim
einer für die Gesamtheit segensreichen Entwicklung in sich bargen. Sie sind von
ihrer Zeit nicht verstanden worden. Narren und Schwärmer hat mau sie genannt,
ausgelacht und auch angefeindet hat man sie, bis eine spätere Zeit, die die Mühsal,
mit der jene Gedanken einst durchgebrochen und zur That geworden waren, nicht
mehr vor Augen hatte, wohl aber sich an dem Genuß der Früchte erfreute, die in
der Sonnenglut des Kampfes und dem Regen des Schimpfs und Spottes aus¬
gereift waren, die großen Bahnbrecher erkannte und in dankbarer Verehrung
würdigen lernte. Ist es da zu verwundern, wenn auch der christliche Glaube und
die Umgestaltung, die er in Gesinnung und Wandel des einzelnen Menschen be¬
wirkt, bis zur Stunde unzähligen als eine unbegreifliche Narrheit erscheint? Der
Apostel Paulus sagt es selbst: Das Wort vom Kreuz ist eine Narrheit denen, die
verloren werden. Aber er sagt auch ein andermal: Da sie sich für weise hielten,
sind sie zu Narren geworden. Sie haben aber keine Ahnung davon, und wenn
man sich ans ihren Standpunkt stellt, muß man zugeben, daß sie ganz vernünftig
denken, wie z. B. jener Landwirt, von dem das Evangelium des Lukas erzählt.
Er hatte eine Ernte gemacht, die so reich war, daß er sich genötigt sah, seine
Wirtschaftsgebäude zu erweiter«, und in der beruhigenden Aussicht, auf lauge Zeit
Von Nahrungssorgen befreit zu sein, glaubte er sich nunmehr einem ruhigen Lebens¬
genuß hingeben zu dürfe». Was läßt sich vom vernünftigen Standpunkte aus
dagegen einwenden? Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr, diese Nacht wird man
deine Seele von dir fordern; und wes wird es sein, das du bereitet hast? Er
hatte den Fehler begangen, seine Willensthätigkeit auf die Erscheinungswelt zu be¬
schränken, wie es Faust mit den Worten ausspricht:
Das Drüben kann mich wenig kümmern,
Schlägst du erst diese Welt zu Trümmern,
Die andre mag darnach einstehn.
Aus dieser Erde «willen meine Freuden,
Und diese Sonne scheinet meinen Leiden;
Kann ich mich erst von ihnen scheiden,
Dann mag, was will und mun, geschehn.
In dieser Gesinnung zu leben und zu sterben — das ist die größte Ncirrheit.
s war ein kleines, dürftig moblirtes Zimmer, in das man Raven-
stein getragen Halle. In die Wände waren ebenfalls Spiegel ein¬
gelassen, die mit halb blinden Augen auf den stillen Gast herabblickten.
Rvssing hatte eine ganze Weile »eben seinem toten Freunde ge¬
sessen, obgleich ihm der Tod immer entsetzlich gewesen war. Er Halle
lauge mit dem alten Smütätsrat gesprochen, der sich, trotz aller
Trauer über diesen Unglücksfall, nicht einer gewissen Befriedigung darüber erwehren
konnte, daß seine Prophezeiung, der Baron würde sich noch einmal selbst erschießen,
in Erfüllung gegangen war. Nun, wo er doch nichts mehr machen konnte, nuißte
er endlich weiter zu einem Schwerkranken fahren, und Rössing ging langsam in das
anstoßende Zimmer.
Hier saß Neumann, den Kopf in die Hand gestützt, und blickte finster in den
Park. Die Schatten des Abends begannen über den Nasen zu fallen, und durch
die Bäume ging das leise Rauschen des Windes. Der Besitzer von Freseuhageu
war so blas/und verstört, daß ihn der Graf mit Teilnahme betrachtete/ Er selbst
hatte sein Gleichgewicht noch nicht wieder erlangt, und es berührte ihn augenehm,
daß mich der Fremde so erschüttert war.
Ich muß in die Stadt fahren, um die Baronin vorzubereiten, sagte er.
Ein entsetzliches Unglück! murmelte Nenmnnn. Und daß es gerade bei mir
geschehen mußte! Meine Pistolen! Was werden die Leute sage«! Ich werde gewiß
Unannehmlichkeiten habe»!
Unannehmlichkeiten? Der Graf, der sich neben Nenmnnn gesetzt hatte und
manchmal leise aufstöhnte, sah ihn fragend an.
Nun ja, hier in Deutschland kommt bei allen solchen Fallen doch sofort das
Gericht und steckt seine Nase hinein. Mit diesen Leuten mag ich nichts zu thun
haben.
Neumann hatte heftiger gesprochen, als es sonst seine Gewohnheit war; nun
stand er auf und ging im Zimmer hiu und her. Der Graf sah ihn mit seinen
scharfen Augen an und vergaß für einen Augenblick seine Trauer.
Das Gericht wird Ihnen nichts anhaben können, bemerkte er ruhig. Die
Herren werden wohl herkommen und sich die traurige Geschichte von uns erzählen
lassen; weiter kann aber doch gar nichts geschehen.
Sehr unangenehm! sagte Neumann stehen bleibend, indem er die Angen starr
auf einen Punkt heftete.
Der Graf blickte ihn noch einmal an. Sind Sie so bange vor den Gerichten?
fragte er etwas spöttisch.
Neumann bis; sich auf die Lippen. Unsinn! Warum sollte ich bange sein! Ich
mag nur mit diesen Leuten nichts zu thun haben, wie ich schon einmal sagte. Aber
Sie haben Recht : ich muß leider Ihren Wagen bestellen.
Während Neumann das Zimmer verließ, legte der Graf beide Hände vor die
Augen. Er war kein Gefühlsmensch und lachte oft über die Sentimentalität unsrer
Tage. Aber wie er sich vorstellte, daß er nun mit der schrecklichen Botschaft vor Ada
treten sollte, zitterte ihm doch das Herz in der Brust.
Aber es kam besser, als er gedacht hatte. Ada wollte zwar zuerst nicht fassen,
daß das Entsetzliche wahr sei, war dann tieftraurig und gebeugt, aber doch vou Anfang
an gefaßt. Sie bekam keine Weinkrämpfe, wie sie der Graf allen Frauen bei einer
Trauerbotschaft zutraute; sie warf sich nicht auf die Erde und raufte ihr Haar nicht:
sie saß nach den ersten Schrcctenslauten ganz still und faltete die Hände.
Er war immer sehr gut, wiederholte sie, während ihre. Thränen leise flössen —
mehr sagte sie nicht über ihren Manu.
Es war nur eine kleine Grabrede, aber sie gefiel dem Grafen doch nicht schlecht.
Als nach einigen Tagen der Hanptpastvr des Ortes dem Baron die Trauerrede hielt
und es für seine Pflicht hielt, den Toten nach allen Richtungen zu loben, obgleich
er ihn bei Lebzeiten nicht hatte ausstehen können, da mußte Nössing wieder an die
Worte der Frau vou Ravenstein deuten, die so wenig und doch alles enthielten,
was vom Baron gesagt werde» konnte.
Ada war auch sonst keine untröstliche Witwe. Sie war eben für die Ver¬
änderung, und der Umstand, daß sie so viel Beileidsschreiben und Besuche erhielt,
that ihrem Herzen wohl. Und obgleich ihre Finanzen durch den Tod ihres Mannes
uoch viel schlechter geworden waren, so bestellte sie doch gleich ein teures Grabmal
für ihn. Stundenlang konnte sie jetzt sitze» und über die Inschrift darauf nach¬
denken. Sie las bei dieser Gelegenheit viele Kapitel der Bibel durch, und wenn
sie nicht mehr lese» »kochte, da»» ging sie langsam in ihrem kleinen Garten auf
n»d »ieber. A» dem Platz, wo Raveiistei» »ach Glaskugel» geschossen hatte, stand
sie manchmal eine Viertelstunde und sah ernsthaft vor sich hin.
Als der Herbst kam, mußte Nössing seiner Gesundheit wegen nach dem Süden.
Er that es widerstrebend; ihm kam es vor, als ließe er die Freundin sehr einsam
zurück. Sie sagte aber kein Wort, als er Abschied nahm, und als er davon sprach,
daß sie gewiß viel allein sein würde, nickte sie nnr flüchtig.
Es ist manchmal ganz gut, allein zu sein und ein wenig nachdenke» zu können!
sagte sie.
Nössing hatte das unangenehme Gefühl, daß sie ihn nicht einnnll entbehren
würde. Da ging er denn verdrießlich fort und schalt ans alle Weiber.
Nachdem er abgereist war, machte Neumann bei Fran von Ravenstein einen
Bestich, und sie nahm ihn freundlich auf. Er war nur zum Koudoliren bei ihr
gewesen und hatte sich seitdem von der Stadt und ihrem Umgang ferngehalten.
Mit dem Baron Ravenstein war ihm auch der beste Freund vom Stammtisch ver¬
loren gegangen; den andern Herren stand er unsicher gegenüber, und der Graf
Nössing hatte etwas unheimliches für ihn bekomme». So hatte er in Zurück-
gezogenheit gelebt, obgleich ihn das Gericht, wie es natürlich war, wegen. Raven-
steins Tod nicht belästigt hatte, und erst als er hörte, daß der Graf abgereist sei,
meldete er sich wieder bei der Baronin.
Seine Gedanken waren oft bei der liebenswürdigen, uoch immer jugendlichen
Frmi gewesen. Die Stunden bei ihr standen ihm in angenehmster Erinnerung,
und auf Freseiihage» fühlte er sich einsam. Als er sie nun vor sich sah, in tiefe
Trauer gekleidet und doch freundlich, da bewegte sich etwas in seinen. Innern, das er
schon lauge vergesse» geglaubt hatte. Es fiel ihm plötzlich ein, das; Ada seiue Jugend¬
liebe gewesen sei, das; sie noch sehr gut aussehe, und das; es für ihn nur angenehm
sein könne, eine vornehme Frau zu heiraten. Seine Stellung würde in der ganzen
Gegend eine andre werden, wenn er mit den, halben Adel versippt und verschwägert
würde, er selbst wäre nicht mehr einsam, und außerdem thue er ein gutes Werk.
Denn alle Welt sprach von Adas Schulden, die schon lange selbst das den vornehmen
Leuten erlaubte Mas; überschritten hatten.
Trotz seiner äußern Bedächtigkeit war Neumann doch ein Mann schneller Ent¬
schlüsse. Er besuchte Frau von Ncweiistein eine Woche hindurch jede» Tag, und dn
er sich nicht anstrengte, unterhaltend zu sein und anch nicht lange blieb, so machte
er keinen ungünstigen Eindruck auf sie. Er sprach jedesmal vom Baron, und seine
ruhige, anscheinend mitfühlende Art rührte die verwitwete Frau. Nachdem die erste
Neuheit von ihrer Trauer abgestreift war, bekam sie nicht mehr viel Besuch und
hatte oft einsame Stunden. Nun kam Neumann und zeigte ihr seine Treue. Das
war immerhin gut von ihm; und als er nun, nach achttägigen täglichem Sehen,
alles Ernstes um ihre Hand anhielt, fiel Ada nicht gleich in Ohnmacht, wie sich
dies für eine eben verwitwete Fran Wohl geschickt hätte, sondern sie horte ihm
schweigend zu.
Für eine ältere Frau ist es nie ohne Reiz, einen Heiratsantrag zu bekommen,
und Neumann sprach sehr vernünftig. Die Liebe lies; er ganz aus dem Spiel;
nicht einmal vou der ersten sprach er, weil er schon gar nicht mehr an sie dachte,
aber seine Worte klangen doch wohlthuend. Er wollte nicht von einer baldigen Ver¬
einigung reden, dn diese keinesfalls vor Ablauf des Trauerjahres erfolgen durfte und
auch dann noch hinausgeschoben werden konnte; er wollte nur das Recht haben,
Frau vou Ravenstein als Freund und Berater zu besuchen und ihr nahe zu stehen,
bis sie ihn endlich vielleicht würdig finden würde, ihm ihre Hand zu reichen und
Herrn, vou Fresenhagcn zu werden. Er sprach wirklich gut und mit einer leichten
Verlegenheit, die ihm nicht schlecht stand und die daher kam, das; er die Verbindung mit
Ada augenblicklich sehr lebhaft wünschte und immer fürchtete, fie würde nein sagen.
Aber das that sie doch uicht. Sie machte allerdings ein etwas zweifelndes Gesicht
und seufzte mehreremal, als wenn sie sich nicht recht entschließen könnte; dann aber
streckte sie Neumann zögernd die Hand entgegen. Sie dachte plötzlich an ihre erste
Liebe und daran, daß es doch eigentlich lustig sei, ihr wieder zu begegnen. Was
ihre Großmutter wohl gesagt haben würde! Das war eigentlich der Grundton ihrer
Gedanken und stimmte sie heiter. Es war eine ruhige Verlobung. Weder Neu-
mnuu noch die Baronin machte viel Gefühlsanfwand. Er war zufrieden, daß er
bald in der adlichen Gesellschaft festen Fuß fassen würde, wie es sich für einen
Gutsbesitzer gehörte, und als er sich von seiner Braut trennte und über die Straße
nach dein Wirtshaus ging, Wo sein Wagen stand, pfiff er el» Lied vor sich hin, was
ihn selbst so überraschte, daß er einen Augenblick stehen blieb und nachdachte, was
denn eigentlich passiert sei. Dann Pfiff er weiter.
Die Baronin war, nachdem sie Neumnnn verlassen hatte, in das Zimmer ihres
verstorbne» Mannes gegangen. Es war ein sehr einfach eingerichtetes Gemach,
mit einem alten Schreibtisch aus Tannenholz und einem Reitstuhl davor, der ehe¬
mals vielleicht gute Tage gesehen hatte. Nun war er alt und schäbig wie die
ganze andre Einrichtung. Nur an den Wänden hingen einige schöne Waffen, und
auf dein Schreibtisch lagen beschriebne Blatter, Das war das Vues über Waffeu-
kuude, das der Baro» seit zwanzig Jahren hatte schreiben wollen, über dessen
Anfang er aber nie weit hinausgekommen war, obgleich auf einem der Blätter
alle Kapitelüberschriften aufgezeichnet standen. Die Baronin wischte hier täglich
den Staub ab, gerade so, wie bei Lebzeiten ihres Mannes, und gerade so wie sonst
lachte sie auch in dieser Zeit gutmütig über die kleinen litterarischen Versuche, auf
die Rnveusteiu so stolz gewesen war. Heute aber setzte sie sich in einen knarrenden
.Korbstuhl und weinte. Dn aber niemand sie fragte, weshalb sie so traurig sei, so
sagte sie es auch keinem.
Frau von Zehleneck war eine Zeit lang verreist; als aber der Herbst heran¬
nahte, kehrte sie zurück. Sie war sehr verstimmt weggegangen, weil sich Graf Rössing
nicht um sie bekümmert hatte, ihre Laune wurde auch riethe besser, als sie bei
ihrer Rückkehr erfuhr, er halte sich im Süden auf. Obgleich sie auf fünf Gittern
zu Besuch gewesen war und ein ganzes Arsenal von Schönheitsmitteln verbraucht
hatte, war es ihr doch schließlich klar geworden, daß diese Mittel ihren Zweck ver¬
fehlt hatten. Sie hätte mit ihrer Hilfe gern einen Mann gefangen, aber es hatte
sich kein Mann fangen lassen.
Als sie nnn an einem grauen Novembertage ihre Freundin Ada besuchte, lag
die Welt ebenso gran vor ihr, und ihre Stimmung war so trübe, daß sie bei¬
nahe weinte.
Das Leben ist doch eine fatale Einrichtung! klagte sie nach der ersten Be¬
grüßung. Man wird alt, die Kinder werden schauderhaft groß, und man weiß nicht,
was man mit sich anfangen soll.
Ada fühlte sich selbst nicht ganz frisch, und wenn es ihr auch nicht ganz klar
war, was ihr fehlte, so konnte sie doch begreifen, daß andre Menschen gerade so
wie sie das Leben langweilig fänden,
Wo sind deine schöne», silbernen Armleuchter geblieben? fragte Amelie, die
Luchsaugen hatte und jede Lücke bemerkte.
Die Baronin zuckte die Achseln. Man muß sein Herz uicht an tote Gegen¬
stände hangen, selbst wenn sie von Silber sind, sagte sie leichthin. Damit wußte
Frau von Zehleneck, daß die alten, schön gearbeitete» Erbstücke verkauft seien. Dieser
Gedanke heiterte sie etwas auf: sie hatte es gern, wen» es andern Leuten auch
uicht besonders gut ging; und als sich im» vollends die Thür öffnete und Herr
Neumann eintrat, wurde sie geradezu fröhlich. Reiche und ledige Gutsbesitzer
waren für sie das anziehendste, was es auf der Welt geben konnte; sie be¬
dauerte uur immer, daß a»f dieser arme» Welt mir wenig so bevorzugte Menschen
zu finde» seien.
Bald waren Herr Neumann und Frau von Zehleneck in angenehmster Unter¬
haltung. Obgleich sie sich uur einmal gesehen hatten, war es doch, als kennten sie
sich schon lange, und sie fanden die verschiedenartigen Gesprächsstoffe. Sehr be¬
deutend war ihre Unterhaltung uicht; die funkelnden Augen Frau von Zehlenects
thaten, aber das ihrige, und Ada, die sich etwas abseits gesetzt hatte, seufzte er¬
leichtert auf. Seit den vierzehn Tagen, die sie nun mit Neumann heinilich verlobt war,
hatte sie sich schmählich mit ihm gelangweilt, jn manchmal war es ihr vorgekommen,
als hatte er dasselbe öde »ut stumpfsinnige Gefühl, mit dem sie zu kämpfen
hatte. Das war aber el» Irrtum gewesen. Neumann langweilte sich nicht bei
der Baronin, oder wenn er es that, dann hatte er niemals etwas andres gethan.
Aber er fühlte sich nicht ganz »»befangen i» ihrer Gegenwart: es war ihm immer,
als erwartete sie mehr vo» ihm, als er ihr gebe» konnte, »ut diese Empfi»d»»g trug
nicht zu seinem Behagen bei. In Iran von Zehleneck fiihlte er mit richtigem In¬
stinkt etwas verwandtes; er und sie verstanden sich schnell.
Du solltest mich bald einmal »nieder besuchen! sagte Ada, als Neumann fort war
und nun mich Frau von Zehleneck sich anschickte, Abschied zu nehmen.
Ich komme morgen wieder! rief Amelie und umarmte die Freundin gerührt.
— Sie wurde immer gerührt und zärtlich, wenn sie einen Mann zu erobern hoffte.—
Dieser Neumann ist wirklich sehr nett! fuhr sie fort. Wie hübsch von ihm, das; er
dich oft zu besuchen scheint! Natürlich thut er es, weil dein guter Mann bei
ihm gestorben ist. Wirklich sehr rücksichtsvoll! So etwas findet man nicht leicht bei
der heutigen Männerwelt!
Als Frau von Ravenstein allein war, versuchte sie gleichfalls, günstiges über
Neumann zu denken. Aber es wurde ihr schwer. Besonders, weil sie ungern an
ihn dachte. Manchmal nahm sie sich fest vor, wenigstens zehn Minuten an ihn zu
denken, aber länger , als eine Minute hatte sie es noch nie fertig gebracht. Sie
wußte es nach der Uhr. Die Gedanken zerflatterten ihr immer, und wenn sie sich
besann, woran sie eigentlich gedacht hätte, war es immer ihr Mann gewesen. Sie
sah ihn beständig vor sich! wie er mir seinen Pistolen geschossen, wie er so
glücklich an seinem Buche geschrieben hatte, wie er immer zufrieden und immer gut
mit ihr gewesen war. In den ersten Jahren ihrer Ehe war sie oft ungeduldig, launisch,
verdrießlich gewesen. Das war damals, als sie noch Ansprüche ans Leben gemacht
hatte, als dieses ihr viel geben sollte und ihr nach ihrer Meinung nichts gab als
einen alten Mann. Aber dieser Mann war immer gut, immer geduldig gewesen.
Er hatte sie nicht ausgelacht, wenn sie mit ihren kindischen Einfällen zu ihm kam,
er war immer derselbe geblieben — immer — immer. Würde Neumann auch so
gut, so geduldig sein? Würde er Verständnis haben für ihre veränderlichen Stim¬
mungen und Allsichten, die von heute auf morgen wechseln konnten? Jetzt war er
sehr höflich, sehr ruhig und gemessen; aber würde er so bleiben? War nicht manchmal
ein sonderbar unruhiger Blick in seinen Augen, ein Zucker um seinen Mund, das ihr
mißfiel? Wenn die Baronin bei diesem Punkte angelangt war, dann schob sie plötzlich
alle Gedanken zurück, zündete sich eine Cignrette an und vertiefte sich in einen fran¬
zösischen Roman. Oder sie suchte den sonderbarsten alten Kram aus ihren Koffern
hervor und breitete alles um sich ans. Es kam ja auch die Weihnachtszeit, wo sie
billige Geschenke für die Armen haben wollte.
'
Frau von Zehleneck und Herr Neumann sahen sich nun öfter bei der Baronin.
Zuerst wurde er sichtlich lebhafter; dann aber kam eine Zeit, wo er nachdenklich
und still in seiner Sofaecke saß und ans das Gespräch der beiden Damen hörte,
die sich hin und wieder mit einander unterhielten. Frau von Zehleneck war die
interessantere. Sie wußte sehr viel gute Geschichten, sie war oft boshaft, und dann
hatte sie eine sehr geschickte Art, die Unterhaltung auf ihre vornehmen Verwandten
zu bringe», was Neumann sehr imponirte. Außerdem wurde sie täglich jünger und
hübscher; wenigstens fand das Neumann. Die Baronin dagegen sah sehr an¬
gegriffen aus und war blaß geworden. Sie dachte auch augenblicklich nicht daran,
über andre Menschen zu sprechen, und ihre vornehme Verwandtschaft war ihr immer
gleichgiltig gewesen. Aber sie dachte viel an Weihnachten und daran, wie sie
den armen Kindern eine Freude machen könnte, und wenn Frau von Zehleneck
eine Geschichte beeudet hatte, in der mindestens ein Graf vorkam, dann zog Ada
Ravenstein ein Stück Wollenzeug ans einander und sagte zufrieden: Daraus kann
noch eine kleine Unterjacke werden!
Um Weihnachten war sie immer so, etwas zerstrent und nachdenklich und in
einem gewissen Wvhlthätigkeitsra»sah bedingen. Dus ging um Neujahr vorüber; dann
erzählte sie selbst die lächerlichsten Geschichten von sich und erklärte Weihnachten für
die dümmste Einrichtung der Welt. Neumann mußte das natürlich noch nicht, und
wenn Frau von Zehleneck nicht gewesen wäre, würde er sich sehr uubehnglich gefühlt
habe». Es war ihm schon fast zur Gewohnheit geworden, wenn Amelie ging, sich
auch zu empfehlen und sie nach Hause zu begleiten. Dann sprachen sie immer
über Frau von Ravenstein. Das heisst, Amelie redete, und er horte zu.
Natürlich fiel es Amelie nicht ein, gutes vou Ada zu reden, das that sie über
keinen Menschen; sie lachte über die Freundin und ihre Schwächen und hatte eine
geschickte Art, ihre Fehler ins rechte Licht zu stellen.
Die arme Ada! sagte sie einmal. Sie hat ein merkwürdiges Talent, milden
größten Vermögen fertig zu werden. Rolf Ravenstein war reich, als er sie hei¬
ratete; nun ist kein Groschen da, und sie muß ihr Silberzeug verlaufen, lind dabei
haben diese Menschen nichts vou ihrem Gelde gehabt.
In Wahrheit hatte Rolf Nnvenstein niemals Vermögen gehabt; er war
ein ebenso schlechter Haushalter gewesen wie seine Frau, die nur mit Hilfe einiger
kleine» Erbschaften den Hausstand immer über Wasser gehalten hatte. Das wußte
Neumann natürlich nicht, und so begann er sich zu ängstigen. Er wollte ja gern eine
vornehme Frau haben; aber mußte es gerade Ada Ravenstein sein? Diese Fragen
beschäftigten ihn täglich mehr und mehr; und eiues Morgens, als er ganz uner¬
wartet zu Ada eintrat, war er noch blässer als gewöhnlich.
Es war eben vor Weihnachten, und die Baronin hatte ans alten Cigarreu-
kisteu allerhaud Pnppenmöbel gesägt, die sie jetzt zusammenpochte und keimte. Dabei
summte sie ein Weihnachtslied vor sich hin und schien ganz fröhlich zu sein.
Guten Morgen, Neumann! sagte sie freundlich. Wollen Sie mit kleben helfen?
Das ist nett von Ihnen! Ich habe auch noch ein paar sehr schwierige Nägel einzuschlagen,
bei deuen Sie mir Ihre kräftige Hand leihen müssen! Sie geben Ihren Leuten
doch auch einen Tannenbaum?
Aber Neumann saß ihr schweigend und unthätig gegenüber. Er fühlte sich
so unbehaglich, daß er kaum wußte, was er antwortete, als ihn Fran von Raven-
stein nach seinem Befinden fragte. Erst aus ihrem bedauernden Kopfschütteln ent¬
nahm er, daß er gesagt habe, es gehe ihm schlecht.
Luftveränderung ist immer gut, sagte sie freundlich. Sie sollten ein wenig
reisen, denn Sie sehen wirklich schlecht aus. Ist das uicht eine allerliebste kleine
Wiege? Nur aus Cigarreuhvlz? Können Sie uicht auch so etwas machen?
Nein! sagte Neumann. Er war aufgestanden und riß an seinem Hemdkragen,
der ihm plötzlich zu eng wurde. Dann begann er in abgerissenen Sätzen zu sprechen.
Was er sagte, wußte er später selbst uicht mehr; es ergab sich nur aus der Ant¬
wort der Baronin.
Sie hatte ihre kleinen Gerätschaften beiseite gelegt und war gleichfalls auf¬
gestanden. Eine leichte Röte flog über ihr Gesicht, und sie streckte ihm beide Hände
entgegen.
Lieber Herr Neumann, sagte sie, ich verstehe Sie — Ihr damaliger Wunsch
war eine Übereilung. Ihr Wort gebe ich Ihnen zurück, und nicht wahr, wir wollen
Freunde bleiben? Es ist auch besser so, setzte sie mit anmutigen Lächeln hinzu.
Neumann starrte sie mit dem dunkeln Gefühl an, eine große Dummheit be¬
gangen zu haben. Aber er war einmal im Zuge und wollte das thun, was er
sich in der letzte» schlaflose» Nacht ausgedacht hatte. Füufzigtnuseud Mark! sagte
er und legte ein großes Paket, das er schon die ganze Zeit unbeholfen »»ter dem Arm
getragen hatte, in Adas Hände. Zur Bezahlung der Schulden! setzte er in einem
Tale hinzu, der zugleich wohlwollend und ermahnend klingen sollte. Er hatte sich
eigentlich eine ziemlich lange Rede ausgedacht, sie ober in diesem Augenblick voll¬
ständig vergessen. Besinnen konnte er sich anch nicht weiter darauf, denn sein Paket
flog ihm vor die Füße, und Ada stand so hoch aufgerichtet vor ihm, daß er unwill¬
kürlich zusammenschrumpfte. Äann lachte sie hell ans und zeigte nach der Thür.
Weiter that sie nichts. Aber Neumann verstand sie doch. Er ging und nahm das
Paket wieder mit sich. Als er langsam über die Straße schritt, kam es ihm vor,
als hätte er Prügel bekommen.
Ada stand einen Augenblick regungslos, dann ging sie schnell in das Zimmer
ihres verstorbnen Mannes. Dort setzte sie sich vor den Schreibtisch und strich leise
über die alte, häßliche Tischplatte.
Nun habe ich wirklich einmal etwas erlebt, Rolf! sagte sie leise. Aber es hat
mir doch nicht besonders gefallen. Es wäre nicht geschehen, wenn du noch hier
wärest, Rolf!
Sie weinte plötzlich bitterlich, und diesmal wußte sie, warum. Als aber der
Weihnachtsabend kam, war sie doch wieder heiter und lachte herzlich bei ihrer
Armenbescherung über die kleinen Kinder, die sich alle an sie herandrängten und ihr
ein Verschen aussage» wollten. Sie blieben meist stecken bei ihren Deklamationen,
besonders die Knaben, und ein kleiner Junge stammelte unter hervorquellenden
Thränen: Ich bin klein, und mein Herz ist gar nicht rein!
Der hat die Menschheit erkannt! sagte Graf Nossing, der plötzlich neben ihr stand.
Sie faßte mit einem kleinen Jnbellaut nach seiner Hand. Ach, Wally, wie
nett, daß Sie wieder da sind! Ist Ihre Gesundheit nun ganz in Ordnung?
Nein, sagte er verdrießlich. Ich fühle mich hnudeeleud und wollte mir schou
zweimal das Leben nehmen. Nur über die Art und Weise war ich im Unklaren,
und darüber hab ichs vergessen. Aber Weihnachten im Süden ist eine so lang¬
weilige Geschichte, daß ich wirklich nach dem Norden mußte, um mir den Schwindel
hier wieder einmal mit anzusehen.
Es ist kein Schwindel, sagte die Baronin ernsthaft.
Er zuckte die Achseln, stellte sich aber doch unter den brennenden Lichterbaum
und sah in alle die kleinen glnckstrahleuden Gesichter um ihn. Es war keine gro߬
artige Bescherung, sie bestand nur aus Kleinigkeiten; alle Beschenkten aber waren
froh und dankbar, und das Zimmer war voll von Wcihnachtsduft. Die Baron in war
überall bei ihre» Schützlingen. Hier half sie eine neue Jacke anziehen, dort malte
sie Figuren ans eine neue Schiefertafel; mit Nossing sprach sie erst wieder, als die
kleine Gesellschaft nach Absingen eines Weihnachtsliedes von ihren Angehörigen ab¬
geholt worden war.
Wie die Bande falsch singt! murrte er, als beide zusammen in dem kleinen
Wohnzimmer saßen. Hols-kein non oantat. Dn sollten Sie mal die kleinen Italiener
singen hören!
Es war gar nicht so falsch, verteidigte die Baronin ihre Schützlinge. Und
selbst, wenn es falsch klang — an die richtige Adresse ists doch gekommen! Aber nun
sogen Sie einmal, Graf, 'weshalb sind Sie immer so entsetzlich mißgestimmt? isiud
Sie nur mich dem Norden gekommen, um über alles zu brummen?
Graf Rössiug antwortete nicht gleich. Er fuhr mit der Hand durch sein
borstiges Haar und rückte auf seinem Stuhle hin und her.
Ich bin gar nicht schlechter Laune, Persetzte er dann mit dem beleidigten Ton,
den die meisten Leute annehmen, wenn ihnen die Wahrheit gesagt wird. Ich
ärgere muh nur über allerlei. Zu», Beispiel über die Klatschsucht dieser vorzüg¬
lichen Kleinstadt. Wissen Sie, daß von Ihnen gesagt wird, Sie würden Neninnnu
heiraten — diesen Neumann!
Das war kein Klatsch, das war die Wahrheit, erwiderte die Baronin ruhig.
Aber es ist Gott Lob! vorübergegangen. Er sah es schließlich eher ein als ich, aber
ich glaube doch, ich hätte es auch nicht fertig bringen können.
Sie müssen mir alles erzählen, sagte Rössing herrisch.
Sie gehorchte, wurde bei der Erzählung immer heitrer, und als sie zu dem
Hauptpunkte, den fünfzigtausend Mark gekommen war, lachte sie.
Denken Sie, fünfzigtausend Mark! Ich weiß noch immer nicht, was er eigent¬
lich damit gewollt hat. Jedenfalls hat er es fertig gebracht, mich eine Viertelstunde
lang nicht zu langweilen. Aber ums haben Sie, Rössing?
Der Graf war aufgestanden, kreidebleich, und holte schwer Atem.
Ich null mich Freseuhagen! Ihn zur Rede stellen — Reitpeitsche — der
Hallunke, der —
Er fand leine Worte, sodaß ihn die Baronin wieder in den Sessel zurückdrückte.
seien Sie kein Narr, Rössing! Der Mann hat mich nicht beleidige» Wollen, und
wenn er es gewollt hätte — er konnte es gar nicht: ich lasse mich nicht von ihm
beleidigen. Er that mir überhaupt leid, als er so still mit seinem Mammon davon¬
ging; er kam mir vor wie ein geprügelter Hund. Hoffentlich findet er bald eine
nette Frau.
Wie konnten Sie aber auch den Wahnsinn begehen und sich halb und halb
mit diesem Kerl verloben! schalt der Graf, dessen Zorn sich nun gegen Ada wandte.
Sie senkte kleinlaut den Kopf. Es war sehr verkehrt vou mir, aber ich dachte,
es ginge vielleicht. Erinnern Sie sich nicht, daß ich immer meinte, ich würde noch
etwas durch ihn erleben? Meine Ahnung hat mich nicht betrogen. Und dann war
er doch meine erste Liebe.
Rössing mußte nun doch lachen. Da sehen Sie nnn, was es mit der ersten
Liebe auf sich hat!
Ihre erste Liebe — entgegnete Ada.
Aber er machte eine abwehrende Handbewegung: Verderben Sie mir den
hübsche» Abend nicht! Ich fühle mich schon bedentend wohler und hätte nichts
gegen ein Glas Punsch einzuwenden.
Und ich habe gestern in einem ganz versteckten Kästchen einen Diamantring
gefunden, den ich lange verloren geglaubt hatte, rief die Baronin. Da habe ich
einigen Gläubiger» eine Weihnachtsfreude gemacht und mir eine gute Sorte Wein
getauft. Sie sollen sehen, mein Punsch wird Ihnen munden.
Worauf »vollen wir denn anstoßen? fragte er, als die dampfende Kanne von
Ada ans den Tisch gesetzt wurde.
Darauf, daß ich keine Dummheiten mehr mache! rief sie. Dann sah sie mit
glänzenden Augen in die Ferne. Hoffentlich will mich kein Mensch mehr heiraten.
Ich glaube, ich könnte ihn hassen. Rolf war doch der beste! Und sie trank hastig
ihr Glas leer, weil ihr plötzlich die Stimme versagte. Dann aber wurde sie sehr
heiter und konnte gar nicht begreifen, daß der Graf in sich gekehrt blieb.
Dieser reiste übrigens bald nach Neujahr wieder fort. Es wurde sehr kalt,
und er wollte dem rauhen Welter aus dem Wege gehen. So blieb denn die
Baronin recht allein; Frau von Zehleneck kam Plötzlich nicht mehr, und wenn sie
einmal erschien, dann war es nnr ein kurzer Besuch, den sie der Freundin machte.
Aber Ada entbehrte den Verkehr nicht. Sie hatte angefangen, für Geld zu malen,
und freute sich wie ein Kind darüber, daß ihr eine Berliner Firma einige Schälchen
und Gläser zu geringem Preis abgenommen hatte. Sie machte großartige Pläne,
wie sie im Laufe des Frühlings und Sommers nach der Natur malen wollte, und
entbehrte keinen Menschen. Auch nicht Herrn Neumann, der sich seit Weih¬
nachten nur sehr selten in der Stadt zeigte nud nicht ganz sicher schien, ob es
ihm dort ferner gefallen würde. Im Februar aber erhielt er einen Brief von
Frau von Zehleuech die ihn fragte, ob er gestorben sei? Wenn nicht, dann möchte
er sie doch einmal besuchen.
Neumann atmete tief anf, als er diesen Brief erhielt; dann schlug er in einem
neu erworbnen Adelslexikon die Familie der Zehlenecks nach, grübelte lange und
führ an demselben Nachmittag in die Stadt.
(Schluß folgt)
Wie wunderlich, daß gerade in den Blättern, die sich am
meisten durch ihre Feindschaft gegen den Liberalismus hervorthun, fortwährend an
unserm Reichstag herumgenörgelt wird! Es ist wahr, die Neichsboten schwarzen
viel, aber das ist ja gerade vornehm. Die am exklusivsten aristokratische par¬
lamentarische Körperschaft Europas, das englische Oberhaus, hat sich, um Beschlüsse
zustande bringen zu können, schon längst genötigt gesehen, ihre Beschlußfähigkeits¬
ziffer anf drei herabzusehen. Und was liegt an der Zahl der Stimmender, wenn
nur die Gesetze schön sind, die man macht. Und wie schön sind die, wie müssen
sie jedem Feinde modernen liberalen Unfugs das Herz erfreue»! Steht man doch
im Begriff, der Börse, diesem schon in der Apokalypse so anschaulich beschrieb»«,:
Tier, die Hörner zu stutzen und den gefräßigen Rachen mit einem Maulkorb zu
verschließe», was weder der Beschluß „Eines Ehrbaren Kaufmanns" der freien
Reichsstadt Hamburg uoch der „Schntzverbnnd gegen agrarische Übergriffe" hindern
wird, und gleichzeitig räumt man mit den letzten Resten der Gewerbefreiheit auf.
Wen» wir die Zwangsinnung und den Befähigungsnachweis »och nicht haben, so
liegt das nnr daran/daß sich die Züuftler an das schwierige Geschäft der Ab¬
grenzung der Gewerbe selbst nicht hinanwage» und diese interessante Aufgabe der
Regierung zuweisen, die sich seit Jahre» mit Orgauisatiouspläueu abplagt, ohne
für ihre Entwürfe Dank zu ernten. Was wir noch weiter zu erwarten haben,
das hat ein Pessimist in der Versammlung des Deutschen Handelstags vom 10.
ausgesprochen. Der bekannte nationalliberale Generalsekretär Bneck meinte, für die
beklagten Leiden der Landwirtschaft gebe es eine Radikalkur: man dürfe nur die
Eisenbahnen zerstören und die Dampfer versenken, aber soweit würden die Ver¬
treter der Landwirtschaft wohl nicht gehe» wolle»; einer aber aus der Versamm¬
lung rief: Das kommt noch!
Es ist nicht immer ganz leicht, den Gedankengängen der rückwärts revidirenden
Patrioten unsers Reichstags zu folgen und im voraus zu erraten, was sie in einem
bestimmten Falle wünschen werden. So z. B., da sie doch allesamt sehr fromm
sind, den Frommen aber die Kneipen als Kapellen des Teufels gelten, könnte man
sich, in Norddeutschland wenigstens, recht wohl denken, daß eines schönen Tages
einmal die Schließung aller Schankwirtschaften beschlossen, die Branntweinbrennerei
verboten und der Genuß der unschädlichern nnter den alkoholischen Getränken, des
Weines und des Bieres, nnr daheim gestattet würde, was den Flaschenbierhandel
zur Notwendigkeit machen würde. In der That hat ja dieser Handel bis jetzt
schon recht wohlthätig gewirkt; sehr viele Männer gehen seltener ins Wirtshaus,
seitdem sie den Trunk für zehn Pfennige daheim haben können, für den sie im
Wirtshause fünfzehn Pfennige und ein Trinkgeld geben müssen, Statt dessen er¬
leben wir es, daß der fromme Herr Sabatier dem Flaschenbierverkauf am liebsten
den Garaus gemacht hätte, was doch nur den Sinn haben kann, daß er den
Wirtshausbesuch zu fördern sucht. Gilt vielleicht in den bairischen Zentrnmskreisen
das Kneipensitzen für eine Art Andacht? Oder gehören die Gastwirte zu den be¬
sonders schutzbedürftiger Mitgliedern des Mittelstandes? Handelt es sich vielleicht
gar uni den Schutz irgend eines großen Münchner Brauers, der sich beim Aus-
schank auf seinem Keller besser steht als beim Verkauf ins Haus? Die neuen Be¬
schränkungen werden viele Existenzen vernichten; armselige Existenzen, wenig achtungs-
werte Existenzen, Schmarotzerexistenzen — mag sein! Aber sie sind einmal da;
wo werden sie für die Verlorne unproduktive Arbeit Ersatz finden durch produktive
Arbeit? Wahrscheinlich doch nirgends anderswo, als in Armenarbeitshäusern und
Zuchthäusern; freilich, die Vermehrung der Strafanstalten, der Polizeibecnntcn, der
Denunziationen, der Strafprozesse, die eine Wirkung der zahlreichen neuen Be¬
schränkungen sein muß, entspricht ja wohl ebenfalls dem herrschenden antiliberalen
Geschmack.
Also auf dem Standpunkte dieses Geschmacks ist an unserm Reichstage wirk¬
lich nichts auszusetzen, nußer etwa, daß er noch zu bescheiden und zu schüchtern ist.
Man hat diese Dinge in frühern Zeiten weit kräftiger betrieben. Das sieht man
z. B. an einem byzantinischen Gesetzbüchlein, von dem vor zwei Jahren eine fran¬
zösische Übersetzung erschienen ist: Iio Invro ein l^rokot, on 1'sein as I'Dmpvrour
I^non to Lag'o sur los Lorporations av LIvnstantiuopIo. 'Ir^äuetiou t'ra,uya,iso ein tsxto
L'i'co alö (xenvvo xar -luIöL Rieols, prokessvur ü, la, 1«'aoult>ü clvs Isttros. ^.von uns
introcluction se äos notss vxpliLÄtivss, Keuizvo ot IZ^Jo, Oeoi'A ot> Oomp., 1394. Vorher
schon hatte Nicole den griechischen Text herausgegeben unter dem Titel: ^«1^0^
^«</>«5 5<) Die Korporationen standen nämlich unter
dem Eparchcu oder Stadtpräfekten. In der Einleitung schreibt der Herausgeber:
„In welchem Lichte erscheint uus hier das gewerbliche Konstantinopel des neunten
Jahrhunderts? Es ist das Paradies der Monopole, der Privilegien und des Pro¬
tektionismus. Nicht allein sind die Gewerbe hermetisch gegen einander abgesperrt,
sondern ihr Betrieb ist auch tausend Beschränkungen unterworfen. Der Staat mischt
sich in alles, beaufsichtigt alles; so oft es ihm beliebt, dringt er in die Werlstättten
ein, durchwühlt er die Vorräte, prüft er die Bücher. Alles reglemeutirt er. Er
bestimmt, an welchem Tage, auf welchem Platze, zu welchem Preise eine jede Ware
verkauft werden soll. Er setzt den Unternehmergewinn wie den Arbeitslohn fest.
Der Fabrikant darf seine Rohstoffe nicht nach eignem Ermessen auswählen und ein¬
kaufen; die Korporativ» kauft ein, und jedem einzelnen wird nach dem Maße seiner
Einzahlung zugeteilt. Die Korporation darf sich auch nicht nach Belieben durch
neue Mitglieder ergänzen, ebenso wenig dürfen Unternehmer und Arbeiter nnter
sich und unabhängig von der Obrigkeit den Arbeitsvertrag schließen. Um der Haupt-
stadt die ausschließliche Ausnutzung gewisser Fabrikationsweisen zu sichern, werden
die Fremden eilf Verdächtige behandelt; man weist ihnen bestimmte Herbergen an,
stellt sie unter Polizeiaufsicht, beschränkt ihr Aufenthaltsrecht und setzt einen Höchst¬
betrag der Waren fest, die sie mitnehmen dürfen. Dem Präfekten steht zur Durch¬
führung dieser Gewerbeordnung nicht allein ein ganzes Heer von Beamten zur
Verfügung, sondern auch die Einrichtung, daß die Mitglieder der Korporationen
strengstens verpflichtet sind, einander gegenseitig zu denunziren."
Leo — er regierte von 886 bis 911 — führt das Gesetz mit folgendem Bor¬
wort ein. „Nachdem Gott das Weltall erschaffen und so eingerichtet hatte, daß -
Ordnung und Harmonie darin herrschen, grub er mit eignem Finger das Gesetz
in Tafeln und machte es bekannt, um eine heilsame Zucht zu üben und zu ver¬
hindern, daß nicht die Mitglieder der großen Menschenfamilie schnudlicherweise über
einander herfielen und die schwächern von den stärkern erdrückt würden. Er wollte,
daß einem jeden das Seine auf der Wage der Gerechtigkeit zugewogen wurde.
Deshalb hat es Unsrer Durchlaucht gefallen, Anordnungen zu treffe», die sich aus
dem göttlichen Gesetz ergeben, damit das menschliche Geschlecht regiert werde, wie
es sich ziemt, und damit keiner keinen unterdrücke."
Heben wir ein paar Proben heraus. „Die Goldnrbeiter dürfen weder Kupfer
noch Gewebe noch andre Stoffe kaufen, die andern Korporationen vorbehalten sind,
nnßer zu ihrem persönlichen Gebrauch. — Wenn ein Goldarbeiter erfährt, daß eine
Fran Gold, Perlen oder Edelsteine zum Verkauf anbietet, so hat er den Präfekten
zu benachrichtigen, damit diese Gegenstünde nicht etwa ins Ausland verschleppt
werde». — Ein Goldarbeiter, der mehr als ein Pfund Gold anschafft, ohne es
sofort dem Präfekten zu melden, wird, wenn er ein Sklave ist, Eigentum des
Fiskus; wenn er ein Freier ist, wird er ausgepeitscht und zahlt ein Pfund Gold
Buße. — Die Goldarbeiter dürfen nicht in ihren Wohnungen arbeiten, sondern nur
in den ihnen angewiesenen Werkstätten in der Mittelstraße. — Die Seidenhändler
dürfen andre als seidne Stoffe nur für ihren persönlichen Gebrauch kaufen und
nichts dergleichen verlausen. Auch dürfen sie solche Seidenstoffe, die den Bewoh¬
nern der Hauptstadt vorbehalte» sind ses wnreu die roten und violetten Purpur-
stvffe> nicht an Auswärtige verkaufen. Die Fremden sind im Gasthaus zu über¬
wachen, daß sie nicht verbotue Stoffe mitnehmen. Wer ihnen zur Gesetzübertretung
behilflich ist, wird ausgepeitscht, geschoren und mit Konfiskation bestraft. — Bei
Eröffnung des Marktes > heißt es in den Vorschriften für die Praudioprateu, die
ausschließlich mit syrischen Stoffen zu handeln hatteuj leistet jedes Mitglied der
Korporation seine Beisteuer, und nach deren Maße teilt ihm dann der Exarch zu,
wos von der Zufuhr auf ihn kommt. — Ein Mctaxoprat jso hießen die Rohseide-
Händlers, der außerhalb der Stadt reist, um Einkäufe zu mache», wird a»s der
Korporation ausgeschlossen. — Der Metaxvprat, der Rohseide an Juden oder für
die Ausfuhr aus der Stadt verlauft, wird ausgepeitscht und geschoren. — Wen»
el» Katartarius jso hießen die Seidcnznrichters rohe Seide »»zugerichtet wieder
verkauft, so wird er ausgepeitscht, geschoren und aus der Korporation ausgestoßen.
Ausgeschlossen wird auch ein Katartarius, wenn er geschwätzig, grob oder streitsüchtig
ist. — Ein Seidenfabrikant (Serikarius), der dem Gewerbeinspektor den Eintritt in
die Werkstatt wehrt, wird ausgepeitscht und geschoren. Wenn er Rohseide mit
dem Safte der Purpurschnecke färbt, wird ihm die Hand abgehackt. Wenn er,
ohne es dem Präfekten zu melden, an Auswärtige verkauft, erleidet er die Kon¬
fiskation. — Wer einen Gewerbegeuossen durch Steigerung der Miete aus seiner
Werkstatt verdrängt, wird ausgepeitscht, geschoren und aus der Zunft ausgestoßen. —
Ein Parfümeriehändler darf nicht mit Gewürzen handeln; man hat zwischen den
beiden Gewerben zu wählen und sich für das eine zu entscheiden. — Die Wachs-
zieher dürfen ihre Waren nicht zum Verkauf hernmschicken; je zwei Wachszicherlädcn
müssen mindestens dreißig Klaftern von einander entfernt sein. — Gewttrzkrmner
dürfen kein Wachs für den Wiederverkauf einkaufen. — Ein Seifensieder, der wahrend
der Fastenzeit und an Fasttagen mit tierischem Fett arbeiten läßt und so seine Ar¬
beiter besudelt, wird ausgepeitscht, geschoren und aus der Zunft ausgestoßen. —
Die Fleischer dürfen nur auf dem Strategionplatz und nicht in Nikomedien oder
sonstwo Vieh einkaufen. — Zur Ausübung der Schweinemetzgerei wird ein gutes
Leumundzengnis erfordert. — Den Bäckern wird bestimmt, wieviel sie auf die
ihnen zugewiesene Getreidemenge beim Brotverkauf an eignem Verdienst, Lohn für
die Arbeiter und sonstigen Kosten drnufschlagen dürfen.
Wir sind weit entfernt davon, zu behaupten, daß der Kaiser Leo durch diese
Gewerbeordnung den Namen des Weisen verwirkt habe. Auch die an sich unver-
nünftigsten Beschränkungen können unter Umständen notwendig und damit ver¬
nünftig werdeu, und wir kennen Byzanz nicht genau genug, um beurteilen zu
können, ob es eine solche Zunftordnung brauchte. Was wir hervorhebe» wollten,
ist nur dieses, daß es eben der letzte verkümmerte Zweig der alten Kulturwelt war,
der zur Zeit seines Absterbens eine solche Zunftpolizei brauchte, wie es dann,
sechshundert Jahre später, anch wieder das mittelalterliche Bürgertum in der Zeit
seines Niedergangs und seiner Auflösung gewesen ist, das sich selbst und dem der
Staat mit solchen Mitteln zu helfen gesucht hat.
hat eine
dankenswerte Behandlung erfahren in einer soeben (im 17. Heft der Statistik des
Hamburgischen Staates) veröffentlichten Arbeit des Dr. W. Nenkemcmn: Die Aus¬
wanderung über Hamburg in deu Jahren 1837 bis 1894 nebst Beiträgen zur
deutschen und internationalen Wanderung. Besonders anzuerkennen ist, daß der
Hamburgische Statistiker über dem Zahlcnwerk nicht die prinzipielle Frage der
Auswanderung mißachtet, sondern gerade ihr eine so hervorragende Stelle anweist,
wie es bei prinzipiellen Fragen in den statistischen Abhandlungen der Neuzeit leider
sehr selten geschieht.
Ob es für das deutsche Reich nützlicher ist, daß Auswanderung stattfindet
oder nicht und in welchem Grade, hängt nach dem Verfasser in erster Linie von
dem Stande der Übervölkernngsgefahr ab, sodann aber von deu besondern kolonialen
Verhältnissen und von den fortlaufenden Beziehungen der Ausgewanderten zum
alten Heimatlande. Die Hauptsache ist die Übervöllernngsfrage. Benkemcmn will
zunächst von der beliebten Unterscheidung von „absoluter" und „relativer" Über¬
völkerung nichts wissen. Wenn „absolute" einen „Sinn" habe, meint er, so ist
es „Unsinn." „Relative" Übervölkerung dagegen sei eine bloße Tautologie, den»
wie auch die Frage der Übervölkerung im allgemeinen und im bestimmten Falle
aufgefaßt werde, in welcher Form und in welchem Grade sie auftreten möge, immer
werde darunter ein Verhältnis (eine „Relation") von Bevölkerung zu etwas anderm
verstanden: zur Fläche, zum Knltnrlande, zu den Unterhaltsmitteln, zum Volks¬
einkommen usw., und in dem Sinne, wie diese Frage vom volkswirtschaftlichen
Standpunkte der Bevölkeruugslehre zu betrachten sei, seien alle die vielfältigen Be¬
ziehungen und Bedingungen materieller, wirtschaftlicher, technischer, sittlicher, recht¬
licher und sozialer Natur zusammengenommen in Betracht zu ziehen. Die Begriffs¬
bestimmung könnte kurz gefaßt so laute«: „Übervölkerung liegt da und dann vor,
wenn — unter den gerade bestehenden Wirtschafts-, Rechts- usw. Verhältnissen —
nicht alle auf Arbeitsverdienst angewiesenen Arbeitsfähigen auf dem erreichten Niveau
der Lebenshaltung angemessenen eignen Erwerb und Unterhalt finden. Darunter
fällt auch der Zustand, wo die Arbeitsgelegenheit zwar noch gerade ausreicht, das
Einkommen aber nicht genügt, um den eignen Unterhalt, sowie den der zu zahl¬
reichen Angehörigen und die Leistungen an die Allgemeinheit (Gemeinde, Staat usw.)
zu bestreiten." Das deutsche Reich werde man zur Zeit als „übervölkert" bezeichnen
müssen; was aber nicht bedeute, daß Deutschland seine Bevölkerung nicht mehr zu
ernähren, oder daß es nicht „nnter veränderten Verhältnissen" selbst eine weit
größere Volksmnsse aufzunehmen vermöchte.
Von entscheidender Wichtigkeit ist nach des Verfassers Ansicht, wie sich die
„Wissenschaft," die „maßgebenden Politischen Faktoren" und die „öffentliche Mei¬
nung" zu der Frage stellen. Hinsichtlich der Beurteilung der Gesamtfrage scheine
sich erst in der „Wissenschaft" eine bestimmte überwiegende Auffassung geltend zu
machen, während bei den andern Interessenten eine feste Meinung und bestimmte
Maßnahmen in Betreff der Volksvermehrung oder Geburteuverminderung zur Zeit
noch nicht hervorgetreten seien, wie es doch z. B. im siebzehnten und im vorigen
Jahrhundert in einem der Volkszunahme günstigen und um die Mitte dieses Jahr¬
hunderts vielfach im umgekehrten Sinne der Fall gewesen wäre. Was die Herab¬
setzung der Anzahl der Geburten betreffe, so seien der Natur der Umstände gemäß
erfolgreiche Einwirkungen hierauf nicht so leicht ausführbar, wenigstens, wenn man
sich auf „sittlich zulässige" Vorschläge beschränken und nicht mit den Neu-Malthusianern
zu bedenklichen und verwerflichen Mitteln greifen wolle. Namentlich erwiesen sich
gerade die Bevölkernngsschichten am unzugänglichsten, bei denen Enthaltsamkeit und
geringere Geburtenzahl am wünschenswertesten erschiene.
Infolge dessen richte sich das Augenmerk der geistig und politisch leitenden
Kreise in erster Linie oder auch ausschließlich auf die gleichsam positiven Seiten
des Gegenstandes, insbesondre ans innere Kolonisation und Begünstigung besondrer
Wirtschaftsformen (Rentengüter, Heimstätten), Steigerung des Absatzes am Welt¬
markt, Sicherung des Absatzes durch eigne Kolonien, Handelsniederlassungen n. tgi.,
Auswanderung in der Weise, daß sie vermehrten Absatz inländischer Erzeugnisse
und gesteigerten Handelsverkehr in Aussicht stelle.
Die Gesamtlage schildert der Verfasser wie folgt: „Wenn nicht der Überschuß
der Gebornen über die Gestorbnen bald zu fallen beginnt, was nicht zu erwarten
ist, zumal da die Sterblichkeit feit Jahren merklich geringer wird, so ist mit Wahr¬
scheinlichkeit auf eine starke Auswanderung, und wenn dieser Hindernisse bereitet
würden oder sich ihr wirklich oder vermeintlich günstige Ziele nicht mehr bieten
sollten, wäre auf umfangreiche Arbeitslosigkeit, Verminderung der Löhne und Ab¬
wärtsbewegung der Lebenshaltung zu rechnen. Betrachtet man die Ausfuhr des
deutschen Reichs, namentlich von Jndustrieerzeugnissen. sowie die Einfuhr, hier
namentlich an Rohstoffen und Nahrungsmitteln, berücksichtigt man ferner, daß dieser
Austausch fast ausschließlich mit fremden, souveränen Staaten geschieht, von ihrem
Verhalten also wesentlich abhängig ist, so kann man nicht anders, als die allge¬
meine wirtschaftliche Lage als schwierig und gefahrvoll ansehen."
Der Verfasser hält also die Auswanderung, und zwar eine starke Auswande¬
rung aus Deutschland für nötig mit Rücksicht auf die Übervölkernngsgefnhr. In
Bezug auf die für die Nützlichkeit der Auswanderung weiter in Betracht kommenden
„fortdauernden Beziehungen der Ausgewanderten zum alten Heimatlande" glaubt
er die tröstliche Ansicht Leroy-Beaulieus (im MonomiLw 1885 geäußert) wieder-
holen zu können, daß die im Auslande wohnenden Deutschen nicht für das Vater¬
land verloren seien, selbst wenn sie in der Völkerschaft, bei der sie sich nieder¬
gelassen hatten, aufgingen, denn sie blieben wenigstens lange Zeit hindurch „die
besten Förderer der deutschen Industrie und des deutschen Handels, überzeugte und
freiwillige Commis Voyageurs, entschiedne und willige Beschützer, zähe und inter-
essirte Verbreiter."
Auf das interessante und mit vollster wissenschaftlicher Zuverlässigkeit vom Ver¬
fasser dargebotne, sehr umfangreiche statistische Material wollen wir hier nicht ein¬
gehen. Hoffentlich wird die ganze Arbeit nicht zu dem beschaulichen Dasei» verdammt
sein, das neunzig Prozent unsrer statistischen amtlichen „Veröffentlichungen" haben.
Die Gefahren, die für Deutschland aus einer unzureichenden Würdigung der
Übervölkerungsfrage und einer ungenügenden Politik des Naumschaffens nach außen
und im Innern erwachsen müssen, sind dnrch die Benkemcmnsche Arbeit jedenfalls
allen, die es angeht, ernsthaft genug vor Augen geführt.
ist kürzlich in Berlin
gegründet worden. Nach den darüber vorliegenden Zeitungsberichten scheint sich
der kleine Überrest der deutschen Manchesterschule, wie er in der „Freisinnigen Ver¬
einigung" des Reichstags und in der „Volkswirtschaftlichen Gesellschaft" noch fort¬
besteht und in der Stadt Berlin sogar noch eine herrschende Rolle spielt, in dem
neuen Verbände zur Führerschaft für berufen zu halten. Wer die agrarischen Über¬
griffe ernsthaft bekämpft wissen und der Regierung in ihrem Widerstände gegen
sie einen festen Rückhalt im Volke geschaffen sehen will, kann diese Erscheinung nur
beklagen. Niemand ist weniger berechtigt und weniger befähigt, zum Kampfe gegen
die Jnteressenwirtschast, die besonders scharf in den agrarischen Ansprüchen zum
Ausdruck kommt, aufzurufen, als jene orthodoxen Manchestcrleute. Die Herren
haben sich zur Patenschaft bei dem neuen Verbände gedrängt, sie werden seine
Totengräber werden. Die Wissenschaft ist, Gott sei Dank, mit der Frage fertig,
wie tief die Epigonen Adam Smiths gerade in Deutschland das sittliche Niveau
des Wirtschaftslebens herabgedrückt haben. Für sie sind die Herren von der so¬
genannten „klassischen Nationalökonomie" tot und begraben, sie spricht nicht mehr
von ihnen. Sie hat genug mit der Aufgabe zu thun, in dem Denken, Empfinden
und Gebahren des Volkes die Schäden auszubessern, die in zwei bis drei Menschen¬
altern das Dogma von dem alleinseligmachenden Eigennutz angerichtet hat. Mit
den Ladenhütern der Manchesterdoktrin, wie sie die „Freisinnige Vereinigung" jedem
Fortschritt gegenüber noch immer auf Lager hat, kauu sie sich nicht mehr abgeben.
Aber anch im Volke haben denn doch diese Ladenhüter allmählich jede Zugkraft
verloren. Die Kommune Berlin und die Kaufmannschaft von Berlin sind nicht
das deutsche Volk, uicht einmal das Berliner. Also auch als Wahlmanöver ist es
verkehrt, daß ^sich jene Herren zur Führcrrolle vordrängen. Und vollends als
Stütze der Negierung langen sie gar nicht. Ein Verband soll die Regierung stark
macheu, dessen Führer die orthodoxen Vertreter der Lehre vom „schwachen Staat,"
vom „Nachtwächterstaate" sind? Davor möge uns der Himmel bewahren, daß die
Regierung auf diesen Leim geht. Mehr könnte ihre Stellung und die Sympathien
des deutschen Volkes für den rvouvr av droucv, an dem sich die Wogen eigennütziger
Interessenpolitik mehr als einmal in Preußen gebrochen haben, nichts in der
Welt erschüttern. Herr von Ploetz und seine Leute können sich freuen, daß das
Ungeschick der Berliner nationalökonomischen Orthodoxie den berufnen Kämpfern
gegen die agrarischen Übergriffe, vorläufig wenigstens, die Beteiligung um dem
neuen Schutzverbande gründlich verleidet hat.
Der Kolonialetat hat am 13. und 14. d. M.
im Reichstage zu einer Verhandlung Anlaß gegeben, die wieder die schon oft auf¬
getauchte Frage hervorruft: Ist es statthaft, daß in unsern öffentlichen parlamen¬
tarischen Versammlungen über außerhalb stehende Personen in einer Weise verhandelt
und abgeurteilt wird, wie es hier geschehen ist?
Da ist ein Mann von einem Reichsboten schwerer Verbrechen angeklagt worden,
öffentlich, so öffentlich, wie vor keinem Gericht, denn diese Verhandlungen werden
in ganz Deutschland, in der ganzen Welt gelesen, die Verhandlungen selbst des
Reichsgerichts nur von wenigen. Es erheben sich Verteidiger, es erheben sich neue
Ankläger, der Mann wird muss gröbste beleidigt mit Schimpfworten, er wird des
Galgens für wert erklärt, ihm wird Verbrechen auf Verbrechen zur Last gelegt.
Und der Mann ist nicht zur Stelle, er kann sich uicht verteidigen, er hat keinen
berufnen Verteidiger. Wenn sich alles, was wider ihn vorgebracht worden ist,
nachträglich als falsch herausstellte, welche Genugthuung würde ihm werden? So
gut wie keine, denn wenn dann auch gelegentlich im Reichstag seine Unschuld an¬
erkannt, in einigen Blättern davon Notiz genommen würde — darauf würde man
kaum achten. Aber die mit allem Pomp und Lärm des gesetzgebenden Körpers
erfolgte Verurteilung — die bliebe im Gedächtnis aller. Wenn elende Zeitungen
verkennte«, weil sie wissen: es bleibt doch was hängen, auch wenn nachher ein
Widerruf kommt — nun, man nennt das Niederträchtigkeit. Aber solche Wir¬
kungen können auch ohne Absicht von verständigen Blättern ausgehen, und auch
von gesetzgebenden Versammlungen. Das müssen wir aufs tiefste bedauern, denn
es tritt alle Gerechtigkeit mit Füßen. Diese Art von angemaßter Rechtsprechung
ist weder mit dem Recht noch mit der Würde des Hauses vereinbar. Das Hans
ist nicht kompetent dazu, in völlig formloser Weise zu Gericht zu sitzen und abzu¬
urteilen in Sachen, ans die sonst die allerpeinlichsten Rechtsformen beim Verfahren
in Anwendung kommen. Daß es thatsächlich aber auf eine Gerichtssitzung hinaus¬
läuft, was wir hier erlebt haben, ist zweifellos, nur ist es eine in den Formen
unsers Volksgerichts vor tausend Jahren oder in den Formen der Gerichte, die
Dr. Peters vielleicht in Afrika gesehen oder vielleicht selbst gar abgehalten hat.
Für unser Land und unsre Zeit ist es unerträglich, zu wissen, daß man um Ehre
und Namen gebracht werdeu kann ohne Form und Recht. Oder soll Dr. Peters
bei den Herren, die ihn Mörder und wie sonst noch nannten, herumgehen und sich
sein Recht suchen?
Nehmen wir an, Dr. Peters sei alles dessen schuldig, was gegen ihn vorge¬
bracht worden ist. Auch dann ist es sein Recht und aller Recht, zu fordern, daß
er vor ein ordentliches Gericht gestellt werde, und es ist zu verdammen, wenn er
statt dessen hier öffentlich - beschimpft wird. Denn weiter ist es nichts, was hier
geschehen ist. Aber Dr. Peters könnte ja auch weniger oder gar nicht dessen schuldig
sein, was vorgebracht worden ist. Was dann? Werden diese Leute, die Ehre und
Moral der Wilden 'in Afrika so schön verteidigen, dem Dr. Peters seine Ehre
wiedergeben? Können das diese Leute? Es wäre zum Lachen, wenn nicht das,
was Dr. Peters geschehen ist, jedem andern auch ganz Unschuldigen geschehen könnte,
über den sich ein Herr Reichsbote Babel oder Richter einmal geärgert hat, Haben
wir noch Richter in Berlin, so mögen diese urteilen, nicht Herr Richter oder
Herr Bebel.
Wie uns scheint, hat sich die Regierung durch frühere ähnliche Fälle auf einen
falschen Boden drängen lassen. Ist es Sache der Regierung, den Verteidiger zu
spielen vor dem Gerichtshof des Reichstags und gegenüber persönlichen Anklagen?
Kann ich meine Ehre als Reichsbeamter für gesichert halten, wenn sie zur Diskussion
und mein amtliches Verhalten zur Untersuchung gestellt werden kann, nicht vor
einem Disziplinarhof oder Kriminalgericht, sondern vor einer Versammlung von
Volksvertretern in öffentlicher Sitzung? Wäre es nicht besser gewesen, wenn der
Vertreter der Regierung sich jedes eignen Urteils über seine Beamten an diesem
Orte enthalten und sich auf die kompetenten Gerichte berufen hätte? Müßte er nicht
seinen Beamten, auch wenn er von dessen Schuld, die gerichtlich nicht festgestellt
war, persönlich überzeugt war, gegen eine solche öffentliche Bloßstellung schützen?
Sollte es seine Pflicht sein, solche Angriffe anders zu beantworte», als mit der
Bestreitung der Kompetenz des Reichstags, die Diskussion solcher Sachen von ihm
zu verlangen? Spricht die Tradition gegen ein solches Verhalten der Regierung,
so hat sie doch die Möglichkeit, diese üble Tradition zu breche». Und endlich,
warum haben sich die Ordnuugspartcie» auf die Diskussion eingelassen? Wäre es
nicht besser, wenn man in künftigen Fällen den Beschimpfungen Dranßenstehender
- da sie nun einmal gesetzlich gestattet sind — wohldiszivlinirtes Schweigen unter
Protest entgegensetzte? Wäre es uicht möglich, solche Beschuldigungen, wenn sie
einmal erhoben sind, sofort an eine Kommission zu verweise», in der über sie mit
Ausschluß der Öffentlichkeit verhandelt werde» könnte? Hier ist eine Lücke in unsern:
Verfassuugslebeu, die dringend der Ausfüllung bedarf.
In seinem Leben des Generalfeldmarschalls Hermann von Boden
stellt Friedrich Meinecke in dem bis jetzt erschienenen ersten Bande (Stuttgart,
I. G. Cotta) die Zeit von 1771 bis 1814 auf Grund ausgebreiteter archivalischcr
Studien dar. Eine Hauptquelle des Verfassers bildeten die Schätze des Boyenschen
Nachlasses in dem Tümplingschen Familienarchiv in Thalstein bei Jena, die ihm
durch Frau von Tümpling, geborne von Voyen, erschlossen wurden.
Mit großer Liebe und in ausführlichster Weise wird die Vorzeit Boyens dar¬
gestellt. Erstens war er ein überzeugter Verehrer der fridericianischen Kriegsweise
und Soldatenausbildung, der in dem originellen General von Günther sein Vor¬
bild sah. Günther war, wie Meinecke erzählt, einer von den Männern, die man
dahin stellte, wo es galt, Schlendrian und Mißbräuche auszukehren. So schickte
ihn Friedrich der Große als einen, der Haare auf den Zähnen habe, zu dem
schwarzen Husarenregiment, mit dem er unzufrieden war: das Bvsniakenregiment,
schon durch seinen Ursprung ein origineller Truppenteil, wurde durch ihn eine in
ihrer Art klassische Truppe, nicht elegante, aber zähe und ausdauernde Reiter, durch
Kühnheit, Wachsamkeit und Behendigkeit vorzüglich geeignet zum kleinen Kriege,
voll hingebenden Vertrauens zu ihrem Führer und von tüchtigem Korpsgeist erfüllt.
Unter Günther kämpfte Boyen im Jahre 1794 in Polen und schloß sich dein
Manne aufs engste an, dessen Charakter und Denkweise man am klarsten in
den Worten ausgedrückt findet, die er einst zu Boyen sprach: „Sehen Sie, wenn
man zu Pferde steigt, muß man nur militärische oder gottselige Gedanken haben."
Der andre Zug seines Wesens führte ihn auf ernsthaft betriebne theoretische
militär- wie allgemeinwifsenschaftliche Studien. Als denkender Offizier ließ er sich
gern von der Strömung der Zeit mit forttragen; von der Vervollkommnung der
Menschheit und der Möglichkeit des ewigen Friedens träumend, suchte er besonders
den ersten dieser Gedanken praktisch in seinem Berufe auszuführen, und hielt es
für nötig, sich dazu durch Erwerbung einer festern philosophischen Grundlage zu
befähigen. So begann er sich autodidaktisch mit dem Studium der Philosophie,
besonders der Kantischen, zu beschäftigen. Die Soldaten schienen ihm das nächste
und bequemste Material für die allmählich durchzuführende Vervollkommnung der
Nation zu bieten. Bon diesem Gedankengange bis zu dem der allgemeinen Wehr¬
pflicht ist nur ein Schritt: Boyen nahm die Ideen auf, die gewissermaßen in der
Luft lagen, und wurde Scharnhorsts treuester Mitarbeiter in jener Zeit, wo die
allgemeinen Humanitätsbestrebungen durch die gransame Notwendigkeit, den Staat
gegen Napoleon mittels Erweckung der geistigen Kräfte wehrhaft zu machen, philo¬
sophische Spekulationen in die harte Wirklichkeit umsetzten. Der Nachweis dieses
innern, naturnotwendigen Zusammenhanges zwischen geistiger Bildung und Prak¬
tischen Heerwesen, den neuen Gedanken und dem alten Staatswesen scheint uns
einer der wertvollsten Teile des Werkes zu fein. Wird die Forderung der all¬
gemeinen Wehrpflicht, wie es hier geschieht, als organisches Ergebnis der gesamten
Bildungsbestrebungen der Zeit nachgewiesen, so verliert Scharnhorst nichts von seiner
tragischen Größe; im Gegenteil erscheint er erst recht als einer jener schicksalvollen
Männer, die ihr Genius zu Dolmetschern eines ganzen Volks gemacht hat.
Bis zum Freiheitskriege bewegte sich Boyens Thätigkeit mehr in der Stille,
in den äußern Gang der Begebenheiten trat er nur ein, als er im Dezember 1812
mit wichtigen Depeschen des russischen Kaisers an Friedrich Wilhelm III. abgesandt
wurde. Er mußte notgedrungen seinen Weg durch Österreich nehmen und wurde
durch Metternichs Schurkerei an der Grenze aufgehalten. Sah doch Metternich
in Boyens Patriotismus nichts weiter als „einen neuen Beweis der unbegreiflichen
Leichtfertigkeit und Indiskretion, die diese ganze Klasse von Individuen bei allen
Gelegenheiten an den Tag legt." Liest man die Geschichte jener Tage, so weiß man
uicht, worüber man sich mehr Wundern soll: ob über die unbegreifliche Verblen¬
dung Österreichs, in Napoleon einen Mann erblicken zu wollen, der sich jemals
von den Ostmächten in seinem Ehrgeiz beschränken lassen würde, oder über die
Gutmütigkeit der Verbündeten Österreichs, die Metternichs verräterisches Spiel mit
Lammsgeduld ertrugen.
Wenig erfahren wir von Boyens Wesen und Persönlichkeit; die Gräfin Sophie
Schwerin berichtet nur, Boyen habe lange auf dem Gute Kerkow bei ihnen im
Quartier gelegen, und eine gewisse steife und zierliche Pedanterie, die dem Kon¬
versationston vieler damaligen preußischen Offiziere infolge ihrer gelehrten Beschäf¬
tigungen anklebte, habe sie veranlaßt, an ihm einige kleinen Lächerlichkeiten zu finden.
Doch ihr Gemahl, Graf Wilhelm Ziele«, verwies ihr das, da er diesen in Ge¬
sellschaft so steifen Mann an seiner wahren Stelle gesehen hatte: Boyen war da¬
mals Chef des Generalstabs im Hauptquartier Bülows, und der Graf konnte kaum
fassen, wie man einen solchen Posten unter einem so starken Drange der Umstände
und Geschäfte mit so viel Ruhe und Klarheit ausfüllen könne.
Ausführlich legt der Verfasser das Mißverhältnis dar, das sich zwischen
Bernadotte und dem unter ihm kommandirenden General von Bülow ausbilden
mußte. In wie idealistischen Sinne man damals auf preußischer Seite die Menschen
beurteilte, sieht man wohl am deutlichsten daraus, daß Bülow zuerst meinte, Berna¬
dotte dürfe am leichtesten dadurch zu exaltiren sein, daß man ihm vorstelle, er
könne ein Gustav Adolf werden: Bernadotte, der die schwedische Krone nur als
Notbehelf betrachtete für den Fall, daß ihm die Nachfolgerschaft Napoleons ent¬
ginge, und dem überhaupt als echtem Napoleonischen Marschall auf niemand sonst
etwas ankam, als auf sich selbst! Daß man von ihm irgend eine wirksame För-
derung der Sache der Verbündeten erwarten konnte, erscheint geradezu als un¬
begreiflich, wenn man hört, daß er im Laufe einer Unterredung am 24. September
1813 ausrief: „Was habe ich denn für Interesse daran, mich ans dem Kontinent
zu schlagen? Ich gehe zurück, nehme Norwegen und sehe mir Von dort die Fehler
an, die ihr machen werdet. Ich habe meine Armee gegen den Wunsch des schwe¬
dischen Volkes hergeführt und mir eine schwere Aufgabe aufgehalst; nichts andres
kann mich dafür entschädigen, als die Liebe und der Gehorsam meiner Unterthauen."
Aus dieser Stinnnnng erklärt sich sein laues Verhalten am Tage von Groß-
beeren und sein völliger Verzicht darauf, den Sieg der preußischen Truppen durch
energische Verfolgung des Feindes auszunutzen. Statt dessen hegte er, wie Meinecke
sagt, bald für seine rechte, bald für seine linke Flanke Besorgnis. Bald fürchtete
er von Davoust und der Niederclbe Schlimmes, bald beunruhigte thu die Nachricht
von dem Zurückweichen der schlesischen Armee, bald wieder fürchtete er einen Vorstoß
Napoleons von Bautzen her. Darüber ließ er dann den vor ihm stehenden Feind
wieder zu Kräften kommen und erklärte Bülow, der immer wieder zu schnellem
Handeln drängte, es gelte, systematisch vorzugehen. Im schärfsten Gegensatz hierzu
steht das Versälle» Bülows und seines Genernlstabschefs mit ihren Truppen ebenso
wie bei Großbeeren, so auch in der ruhmvollen Schlacht von Dennewitz.
Wir können der weitern Darstellung des Feldzugs bis zum Friedensschluß
nicht folgen, sondern heben nur ans der Erzählung des Verfassers das kleine
Stimmungsbild hervor, wie am 2. November 1813 zwei ältere Offiziere, in ihre
Mäntel gewickelt, an der einen Ecke eines Tisches in Göttingen in ihr Gespräch
vertieft sitzen, während die jungen Lnndwehroffizierc, die sonst um den Tisch sitzen,
den tapfern Bülow und den klugen Boyen preise» und leben lassen, bis ihnen klar
wird, daß die Gefeierte» neben ihnen sitzen.
Nach dem erste» Pariser Friede» zum Kriegsminister ernannt, konnte sich
Boyen mit voller Hingebung der D»rchftthr»»g seines Lebenswerkes, des Wehr-
gesetzes, widmen. Wir setzen zum Schluß die Worte her, mit denen der Verfasser
diese seine großartigste Leistung charakterisirt. Das subjektive Verdienst Boyens,
sagt er, die Verbindung vou Klugheit und Mäßigung mit tief innerer Überzeugung,
erhält erst das rechte Licht durch den objektiven Wert seines Werkes. Eine geniale
Verbindung von Altem und Neuem war geglückt. Boyen ließ sich nicht hinreißen
von solchen, die ihm sonst innerlich sehr nahestanden, und die schon glaubten, daß
der Militärgeist in dem Geiste des Volkskriegs untergehen, daß die stehenden
Armeen zum Heile der Welt vernichtet werden würden. Er war ein Zögling des
Heeres Friedrichs des Großen und wußte durch eigne Lebenserfahrung, welche
kriegerische und sittliche Kraft in dem Geiste des Offizierkorps, in der festen Dis¬
ziplin, in den Traditionen der Ehre und des Ruhmes lebte. Nichts wesentliches
von diesem alten, ererbten Gute wurde jetzt preisgegeben; ein neues, großes kam
hinzu, die Errungenschaft des achtzehnten Jahrhunderts, die in Deutschland am
reinsten und keuschester aufgeblüht war: die sittliche und geistige Entfaltung des
Individuums und damit im engsten Zusammenhange die Entfaltung der Nation,
des Volksgeistes. Noch war diese letztere erst in ihren Anfängen, das Wehrgesetz
von 1814 wies ihr einen Weg, auf dem sie sich ohne gefährliche revolutionäre
Zuckung mit den alten, fortbestehenden Mächten des öffentlichen Lebens vereinige»
konnte. Es erzog de» Staat für das Volk und das Volk für de» Staat u»d
schmolz ihre Kraft zusammen zu einer neuen Waffe, dauerhaft, gediegen und von
unerhörter Wucht, die noch uach zwei Generationen zerschmetternd niedcrsaustc auf
die, die es versäumt halten, sich eine gleiche zu schmieden.
ngesichts der Thatsache, daß der Gegensatz zwischen Christen und
Muslimen neuerdings zu den bekannten Mordszenen geführt hat,
wird vielfach darüber gestritten, welche Partei an diesem Aus¬
bruch des Fanatismus die Hauptschuld trage. Derartige Er¬
eignisse müssen tiefer liegende Ursachen haben; da die politische
Frage dabei allzu stark betont wird, ist es angebracht, sie einmal zurücktreten
zu lassen und mehr den sozialen und religiösen Gegensatz einer Betrachtung
zu unterziehen. Ich räume zwar ein, daß eine richtige Politik der Türkei
gegenüber, namentlich was die Stellung der Mächte zu ihr betrifft, in unsrer
Zeit von hervorragender Bedeutung ist. Da gilt vor allem das Losungswort,
den Zusammenbruch der Türkei und eine etwaige Teilung um jeden Preis von
der Gegenwart abzuwälzen. Infolge des Grundsatzes, daß eine Einmischung in
die innern Angelegenheiten, dieses Reichs unter allen Umständen vermieden
werden müsse, versteigen sich die Diplomaten aber anch so weit, an die Lebens¬
fähigkeit der Türkei zu glauben, und die Tagespresse folgt ihnen blindlings,
da sie die einschlägigen Fragen nicht vom allgemein menschlichen und sittlichen
Standpunkt, sondern nur von dem der hohen Politik oder der Finanz zu be¬
trachten geneigt ist. Die Diplomaten aber begnügen sich damit, gelegentlich
einzeln — wie schwer war es, in der Dardcmellcnfrage eine Einstimmigkeit zu
erzielen! — einigen türkischen Staatsmännern gute Ratschlüge zu erteilen.
Auch die bedeutendern Schritte, die der Türkei gegenüber gethan worden sind,
indem man sie drängte, den berühmten Hatti Scherif von Gülchane 1839 und
nach dem Krimkriege den Haiti Humajun mit zahlreichen Verheißungen von
Reformen zu erlassen (man vergleiche darüber G. Rosen, Geschichte der Türkei,
Leipzig, 1867), haben nur teilweise Erfolg gehabt. Es ist das durchaus natür-
lich; denn der Sultan, als Nachfolger der Khalifen, konnte mit den herge¬
brachten Staatsgrundsätzen und -gesetzen, die ja auf religiöser Grundlage
beruhen, nicht mit einemmale brechen, und zur Durchführung der Reformen
fehlten die dazu erforderlichen Beamten, teilweise auch freilich der gute Wille.
Es wäre jedoch unbillig, wenn wir nicht auch die Fortschritte, die gemacht
worden sind, anerkennen wollten. Vor allem hat die Türkei darnach gestrebt,
ihre Macht auch in den entlegnen Teilen des Reichs zu befestigen, teilweise
sich auch neue Gebiete thatsächlich zu unterwerfen. So haben die Türken
z. B. in Arabien, besonders auch im Süden, festen Fuß gefaßt. Vielfach wurde
der türkische Einfluß in den asiatischen Provinzen auf Landstriche ausgedehnt,
die bisher beinahe ganz unabhängig gewesen waren. Auch die Verwaltung
und die Justiz wurden verbessert. Natürlich bekamen diese Zentralisations-
bestrcbungen auch die nichtmuslimischen Unterthanen zu spüren, deren Kirchen¬
vorstände bisher oft auch weltliche Befugnisse und Rechte, ja sogar die Recht¬
sprechung gehabt hatten. Wie überall, wo eine Zentralisation durchgeführt
wird, wurden auch hier Sonderinteressen geschädigt; freilich konnte die Frage
aufgeworfen werden, ob mit den Neuerungen auch immer wirkliche Besserungen
verknüpft waren.
Die Völker, die die Unterthanen des Sultans bilden, sind in Bezug
auf Charakter, Anschauungen und Sitten zu verschieden, als daß es gelingen
könnte, sie in kürzester Frist unter einen Hut zu bringen. Vor allem sind
unter ihnen drei gänzlich verschiedne Völkerstämme vertreten; erstens die
Türken, zweitens Indogermanen: Griechen, Kurden, Armenier, drittens Se¬
miten, d. h. Araber und Armnüer, letztere die Reste der vorislamischen Be¬
völkerung Syriens und der Tigris- und Euphratländcr. Die Türke» und die
Kurden sind sämtlich Muhammedaner, ebenso größtenteils die Araber; die
Griechen und die Armenier und Aramäer dagegen Christen. Eine auch nur
einigermaßen zuverlässige Statistik der Völkerstämme und Religionsgemein¬
schaften des türkischen Reichs giebt es freilich nicht. Im 42. Bande von Peter¬
manns Mitteilungen (1896, I) ist der Versuch einer Statistik der armenischen
Bevölkerung auf Grund der besten Angaben gemacht; darnach würden in den
Provinzen, in denen die Armenier am zahlreichsten sind, 726750 Armenier
neben 3619625 Mnslimen und 283000 andern Christen wohnen; nach der An¬
sicht des Verfassers jenes Aufsatzes würde etwa ein Aufschlag von 25 Prozent
dazu kommen. Auch ist dort der Nachweis versucht, daß selbst in den wich¬
tigsten von Armeniern besetzten Bezirken diese bloß ein Viertel der Bevölkerung
ausmachen.
Es steht außer Frage, daß, abgesehen vielleicht von gewissen geistig sehr
verwilderten und verwahrlosten christlichen Sekten, z. B. den Jakobiten, die
Christen in Bezug auf Kultur vielfach den Muslimen überlegen sind. Be¬
sonders in den Ländern und Städten, in denen schon seit längerer Zeit euro-
pciische Missionare wirken und Schulen blühen, ist dieser Unterschied augen¬
fällig; nicht nur machen sich die verschiednen christlichen Sekten in Bezug auf
die Schulen in einer Weise Konkurrenz, die bloß der allgemeinen Bildung zu
gute kommt, sondern selbst die Muslimen haben sich diesem wohlthätigen
Einfluß nicht entziehen können. Übrigens ist auch von der Regierung für
Schulunterricht einiges gethan worden. Auch in Handel und Gewerbe treten
die Christen hervor, sie zeigen häufig mehr Unternehmungsgeist als ihre mus¬
limischen Mitbürger; ob sie sich durch größere Ehrlichkeit vor ihnen aus¬
zeichnen, muß freilich dahingestellt bleiben. Man wird auch nicht verlangen
können, daß die Christen, die zu Wohlstand gelangt sind, die geistigen und sitt¬
lichen Fähigkeiten haben, ihren Reichtum gut anzuwenden. Bei vielen Christen
ist jedoch Genügsamkeit und Sparsamkeit ebenso zu finden, wie bei den Türken.
Das gilt namentlich auch von den Armeniern; häufig verlassen sie zeitweilig
ihr unfruchtbares Verglcmd, um sich in der asiatischen und europäischen Türkei
einiges Geld zu erwerben. Selbst der armenische Lastträger, der um geringe
Vergütung zu arbeiten gewohnt ist, kann übrigens in der Regel lesen und
schreiben; des Abends sieht man ihn mit einer armenischen Zeitung beschäftigt.
Überhaupt aber werden sich die orientalischen Christen schon bei der zuneh¬
menden Berührung mit abendländischen Glaubensgenossen, der Katholik dnrch
die Verbindung mit Rom, der Anhänger der orthodoxen griechischen Kirche
dnrch die Verbindung mit Griechenland und Rußland, immer stärker des Zu¬
sammenhangs mit der europäischen Christenheit bewußt. Ebenso wissen die
Protestanten, unter denen amerikanische, englische und deutsche Missionare
wirken, viel besser Bescheid, wie es außerhalb der Türkei zugeht, als die Mus¬
limen. Und doch sind diese die herrschende Nasse, die Träger des Staats. Es
kann nicht ausbleiben, daß sie darum vielfach ihren Grimm gegen die auf¬
strebenden, ihnen wirtschaftlich so oft überlegnen Christen nur schlecht verhehlen
können. Natürlich ist der Haß und Neid gegen die im Lande angesessenen
Europäer im Grunde ebenso stark; da diese jedoch aber durch ihre Konsuln
beschützt werden, kann er sich gegen sie nicht Luft machen und ladet sich mehr
auf die eingebornen Christen ab. Diese sind dagegen geneigt, wo es nur
immer angeht, die Hilfe der europäischen Konsulate in Anspruch zu nehmen.
Es ist somit kein erfreuliches Bild, das die sozialen Verhältnisse der
asiatischen Provinzen des türkischen Reichs zeigen: mit den gewöhnlichen
Mitteln wird die Regierung kaum Meister über ihre Unterthanen. In einem
lehrreichen französischen Werke über Algier (Nocmrs, vouwmss se wstitMons
ciös wcliAMks as l'^Igvris xg,r Ils I^ieutsnÄnt-Loloneä Villot, 3 sei. Z?alis, 1888)
ist auch von der Türkenherrschaft in Algier die Rede; da wird geschildert, wie
trefflich es die Türken verstanden haben, ihre Herrschaft auszuüben, ohne für
die beherrschten Völker irgend etwas nützliches zu schaffen, dadurch, daß sie
die Zwietracht der Eingebornen benutzten und bald diese, bald jene Partei
unterstützten, und dadurch, daß sie alle fähigern Eingebornen unterdrückten.
Das war ungeschminktes Turkmenen; eine ähnliche Politik ist im Grunde heute
noch maßgebend. Wie geschickt haben die Türken lange Zeit in Syrien die
Feindschaft zwischen den Drusen und den Maroniten benutzt! im Jahre 1860
sind sie selbst nicht davor zurückgeschreckt, den Drusen das Signal zur Ermordung
der Christen in Damaskus zu geben, ja sich daran zu beteiligen. Daß infolge
der damaligen Einmischung Frankreichs der Libanon einen christlichen Pascha
erhielt, hat in Verbindung mit der Zerbrockluug der europäischen Türkei die
Ansprüche der Christen gesteigert. Von vornherein für unberechtigt kann man
ihre Ansprüche nicht erklären; jedenfalls bezeugen sie, daß es der Türkei trotz
aller Versprechungen und teilweise vvllzognen Reformen nicht gelungen ist, die
christliche Bevölkerung, von einzelnen Personen abgesehen, an sich zu ketten.
Noch immer kennt der Orientale kein Vaterland, sondern er hat bloß An¬
hänglichkeit an seine besondre Nationalität oder seine Religivnsgenossenschaft.
Daher wäre das Bestreben, eine nationale Partei zu schassen, aussichtslos,
besonders solange sich die Fürsorge für das wirtschaftliche Wohlergehen der
Bevölkerung auf das Notwendigste beschränkt. Die spärlichen Eisenbahnen, die
die Türkei bis heute aufweist, sind den Europäern zu verdanken; die wenigen
Straßen, die in der Nähe der Küsten angelegt worden sind, beweisen für ein
Reich von so großer Ausdehnung uicht viel. Unter den Augen europäischer
Konsulate ist in größern Verkehrsmittelpuukteu endlich einmal eine Spur von
Sanitätspolizei zu verspüren. Die Verpachtung der Steuern hat aufgehört;
aber mit der Steuererhebung sind immer noch Übelstände verknüpft, die den
wirtschaftlichen Aufschwung hindern. Während die Sicherheit durch festere
Polizeimaßregeln zugenommen hat, ist andrerseits eine stramme Zensur ein¬
geführt worden, die ohne absolut zuverlässige Beamte bloß lächerlich ist. Der
Glaube, daß die Regierung einst den Bodenreichtum, überhaupt die natürlichen
Hilfsquellen des Landes, deren alleinige Ausbeutung sie sich ängstlich vor¬
zubehalten sucht, ohne fremde Hilfe zu heben imstande sein werde, ist nirgends
stark. Daher rührt die Unzufriedenheit in allen Teilen des türkischen Reichs,
es ist kein Wunder, daß sie sich in Schlägereien Lust macht. Gerade die viel¬
fach bloß angebahnten, aber nicht mit Energie fortgesetzten und halb oder in
falscher Weise ausgeführten Reformen regen die Bevölkerung auf und ver¬
schärfen uicht selten die vorhandnen Gegensätze. Ein moderner Staat könnte
ja die Türkei erst werden, wenn sie dem Grundsatz, daß ihr Recht auf dem
Islam aufgebaut sein müsse, völlig entsagte; damit würde sie aber die Musliueu
tief verletzen. Längst ist z. B. die Zuziehung der Christen zum Militärdienst,
sodaß diese auch hierin dieselben Pflichten und Rechte wie ihre muslimischen
Mitbürger hätten, beschlossene Sache und im Haiti Humajuu von 1856 ver¬
brieft. Die alte Anschauung aber, daß jeder von der Türkei geführte Krieg
ein Dschihad, d. h. ein Glaubenskrieg gegen die Ungläubigen, insbesondre die
Christen sei, überwiegt immer noch und vereitelt die Konskription der Nicht-
muslimen; die Christen müssen „Militärpflichtersatzsteuer" bezahlen. Daß
übrigens gerade in militärischer Beziehung dank den zahlreichen europäischen
Jnstruktvren und Generalen in der Türkei große Fortschritte gemacht worden
sind, ist durchaus nicht in Abrede zu stellen; im allgemeinen ist Haltung wie
Gesittung der türkischen Truppen bedeutend gebessert; einzelne Rückfälle in
Barbarei kommen freilich, wie die neusten Ereignisse zeigten, noch immer vor.
Bekanntlich sind die türkischen Diplomaten, was geschicktes Ausweichen,
Verschleppung unbequemer Fragen und Verhüllen der Thatsachen betrifft, den
europäischen vielfach nicht bloß ebenbürtig, sondern sogar überlegen. Nach den
Berichten unabhängiger Augenzeugen sowohl als aus innern Gründen können
wir dem von den Türken vielfach aufgesprengten Gerücht, die Armenier hätten
bei den jüngsten Ereignissen mit dem Angriff auf die Kurden und Türken be¬
gonnen, nicht recht Glauben schenken. Daß Kurden mit vollem Wissen der
Türken schon mehr als einmal im tiefsten Frieden ohne Veranlassung ans die
Christen losgelassen worden sind, mag hier nur wieder ins Gedächtnis zurück¬
gerufen werden; man denke an die Greuelthaten Betr Chans im Jahre 1843
(vergl. unter anderm G. P. Badger, Ills ^LstoriMs g.na tlnzir Rituals. Bd. I.
London, 1852, S. 268 ff.). Es ist geradezu undenkbar, daß die Armenier,
wie nach Zeitungsberichten in dem Briefe des Sultans an die Kaiserin Viktoria
gestanden hat, die Greuelszeneu dadurch hervorgerufen hätten, daß sie im
Gebete begriffne Muhammedaner durchgeprügelt hätten. Im ganzen sind die
Armenier ein durchaus friedliches Volk, und wenn auch in gewissen Gegenden
die Wildheit ihrer kurdischen Nachbarn auf sie übergegangen sein mag, so hüten
sie sich wohl mit diesem als besonders grausam bekannten Gesindel anzubinden.
Die Thätigkeit des armenischen Komitees, von dem soviel die Rede war, mag
noch so verderblich gewesen sein, was Aufreizung und Beschaffung von Waffen
betrifft, die Versprechungen der Engländer, die Ansprüche der Armenier unter¬
stützen zu wollen — aus Gründen höherer Politik —, mögen Thatsache sein;
dennoch wird es mir, wie ich die ans asiatischem Boden angesessenen Armenier
kenne, schwer, daran zu glauben, daß sich diese hätten verführen lassen, den
Streit zu beginnen und tapfer in ihr offenbares Verderben zu rennen. Ich
glaube gezeigt zu haben, daß genügender Zündstoff in den innern sozialen
Verhältnissen der Türkei liegt, um derartige Ausbrüche begreiflich erscheinen
zu lassen, und zwar vor allem von muslimischer Seite. Den Anspruch der
Armenier, vor dem rohen kurdischen Raubgesindel geschützt zu sein und ihm
mit Waffen entgegentreten zu können, finde ich ebenso begreiflich, als daß sie,
wenn sie angegriffen werden, sich zu wehren suchen. Sollen wir wirklich gegen¬
über barbarischen schuldlosen Abschlachtungen ganz gleichgiltig bleiben? Das
geht doch noch weit über die Maßreglungen der Protestanten in Rußland
hinaus! Und wenn auch diese Sympathien die Gewebe der europäischen Diplo-
matie durchbrechen, ist es doch angebracht, dem Gefühl Ausdruck zu geben,
daß hinter der offiziellen Nichteinmischung, koste es, was es wolle, doch noch
Leute vorhanden sind, die nicht bloß für alle möglichen guten Zwecke, für die
man heutiges Tages in Anspruch genommen wird, den Tierschutz einbegriffen,
einigen Sinn und einiges Gefühl bewahrt haben, sondern die derartige Greuel
vom allgemein menschlichen und sittlichen Standpunkt zu betrachten geneigt
sind, trotz dem Verdikt der Tagespresse.
Bei einer Erörterung der religiösen Fragen ist es nötig, etwas weiter
auszuholen. Es kann nämlich geradezu die Frage aufgeworfen werden, ob
der Islam mit den Grundgesetzen eines modernen Staates — dazu will man
ja die Türken bringen oder giebt sie schon dafür aus — überhaupt vereinbar
sei; wenn das nicht der Fall ist, so entsteht die weitere Frage, ob der Islam
fähig ist, eine Weiterbildung über sich ergehen zu lassen. Zunächst gilt es, die
Lage zu beleuchten, in der sich der Islam gegenwärtig befindet. Da ist zu
betonen, daß das Mißgeschick aller Art, die Zerbröcklung des türkischen
Staates, der Umstand, daß der Orient gegenüber Europa und Amerika wirt¬
schaftlich in der Entwicklung zurückbleibt, bei den Muslimen größtenteils nicht
etwa den Gedanken wachgerufen hat, es möchte bei ihnen das und jenes faul
sein, sondern häufig nur ihre Verblendung vermehrt hat: diese Giauren ver¬
stehen alles, sie sind uns in der That auf dieser Welt überlegen, dafür aber
werden sie einmal alle in der Hölle braten, wahrend es uns im Paradiese
wohl ergehen wird. Die Muslimen fühlen sich den Christen gegenüber heute
wieder mehr und mehr als Einheit; die Kraft des Panslawismus und die Pro¬
paganda, die der Islam entwickelt, hat erst vor einigen Jahren ein ausgezeich¬
neter Arabist, der Holländer Snouck-Hurgronje, der sich ein Jahr in Mekka
aufgehalten hat, anschaulich geschildert (Mekka. II. Aus dem heutigen Leben.
Haag, 1389). Es ist kein Geheimnis, wie unaufhaltsam der Islam in Afrika
Boden gewinnt, überall sucht er sich nicht nur zu behaupten, sondern vor¬
zudringen, auch in Indien steht er in hohem Ansehen. Wo er einmal Fuß
gefaßt hat, ist er bekanntlich nicht auszurotten: die christliche Mission ist ihm
gegenüber völlig machtlos. Das rührt hauptsächlich daher, daß der Muslim
gelehrt wird, das Christentum — zunächst handelte es sich allerdings nur um
die christliche Religion des siebenten Jahrhunderts — als Idolatrie, im Gegen¬
satz zum Monotheismus befindlich, kurz als eine Vorstufe zu seiner Religion
zu betrachten. Die orientalischen Kirchen aber, mit denen der Muslim des
vordern Orients in Berührung kommt, sind wenigstens teilweise oder bis vor
kurzem auf dein Standpunkte jener Zeit stehen geblieben. Eine Vergeistigung
der Religion, wie sie das Christentum in Enropa besonders durch die Re¬
formation erfahren hat, kaun der Muslim schon deswegen nicht annehmen,
weil er unsre Religion bloß von der dogmatischen, nicht von der ethischen
Seite zu betrachten gelehrt wird.
Wie sich ein mehr oder weniger gebildeter Muslim heutzutage dem
Christentum und der europäischen Kultur gegenüberstellt, zeigen am besten
zwei Bücher aus der jüngsten Zeit. Im Jahre 1893 erschien wieder einmal
eines jener zahllosen Touristenbücher, in denen die Zustände des Orients,
diesmal Ägyptens, in Bezug auf Wissenschaft, Kultur und Religion vom
Standpunkt eines Mannes, der für fremde Anschauungen nicht den geringsten
Sinn hat, sehr hart beurteilt werden; ich meine das Buch des Duc d'Harcourt,
I/lZMxw se los ZZMxtiöns. Eine Inhaltsangabe des Werkes bitte ich mir
zu erlassen. Viel interessanter und für meine Zwecke von Bedeutung ist die
Gegenschrift eines ägyptischen Muslim, betitelt: LsL l'^Mön.?, rvxonM g.
N. 1e Duo et'Ugreanrt pM I^show-^iriin, oonseillör g. ig, cour ä'^xpel an
pairs. I.o Lairs, 1894. Auch diese Schrift ist kein Meisterstück; aber sie ist
von Bedeutung, weil sie zeigt, wie ein gebildeter Muslim die europäischen
Zustände betrachtet. Kassen Bei, der in Montpellier studirt hat, verallgemeinert
allerdings, da er ganz Europa uach seiner Kenntnis französischen Wesens be¬
urteilt, noch viel stärker als sein Gegner, dem er solch falsches Verallgemeinern
vorwirft. Es zeigt sich bei ihm, wie unmöglich es für einen Orientalen ist,
sich in eine ihm fremde Kultur einzuarbeiten; die ist ihm wesentlich etwas
rein äußerliches. Wie ganz andre Erfahrungen machen wir in dieser Beziehung
gerade mit Armeniern, die sich an unsern Universitäten einfinden! Die scheuen
in der Regel vor keiner Geistesarbeit zurück.
Auch bei Kassems Buch übergehe ich die ersten Kapitel, in denen der Ver¬
fasser mit seinem Gegner leichtes Spiel hat. Mit Rechts kann Kassen darauf
hinweisen, daß die muslimische Gesellschaft vorläufig den Sozialismus nicht
zu fürchten hat. In stärkern Gegensatz zu unsern Anschauungen gerät Kassen
erst vom sechsten bis zum neunten Kapitel, wo er die Frauenfrage behandelt. Da
wirkt es geradezu erheiternd, wenn er die Polygamie, die übrigens aus wirt¬
schaftliche» — nicht aus sittlichen — Gründen im Orient selten ist, wieder
mit dem alten Schlagwort verteidigt, sie sei immer noch besser, als daß die
meisten Europäer neben ihrer Frau noch eine Mätresse hielten! Den freien
Umgang der beiden Geschlechter in unsrer Gesellschaft, besonders auf Bällen
und dergleichen, kann er bloß unter dem Gesichtspunkt betrachten, daß der eine
Europäer dem andern seine Frau zum Flirtage, woraus häufig Verführung
und Ehebruch folge, überlasse! Ich will auf die Einzelheiten, die beweisen,
daß der Verfasser von der Mehrzahl der Ehen in Europa keine Ahnung hat,
sowie auf seine Lobpreisungen der muslimischen ehelichen Verhältnisse nicht
weiter eingehen. Es stimmt mit seinem Standpunkt überein, daß Kassen auch
das Eheleben Muhammeds als durchaus normal betrachtet und die vielen
vom Propheten eingegangnen Ehen durch die Politik entschuldigt. ?fut-on
86 llZursr sßriöusöinvnt-, heißt es dann weiter, va'un Komme <züi s'sse äonne
ig. tÄvNö as rvtorinsr ig. roli^ion, los inozur8, les lois an morale kntivr, se
Mi g, roglisv esttv glAgntssquö entrspriso, ait Is lorups as wöusr ig, vis et'un
xstit erevv ?grisi6n? . . . LisrtöL, Noligniscl a alle „ein'it aiws les tsiuuiss,^
MW on Aurg.it tort 6'incluir c^u'it 1ö« giins xour lsur vorps. II los giins
oonrins it giinc; ig xrivrö, xuisqu'it g, «onlonüu los clsux ägns um mßuiö
amour. — Lgxicmti sgt. Im geraden Gegensatz dazu hebt A. Müller in seinem
Werke „Der Islam im Morgen- und Abendland" (Bd. I, Berlin, 1835)
treffend hervor, wie Muhammed die Gelüste seines Herzens mit den Bestim¬
mungen Allahs „verwechselte," und was für traurige Folgen dies für den
ganzen Orient gehabt hat. Selbst der Anfang, der in Ägypten mit der Frauen¬
bildung gemacht ist — nach der Statistik erhalten neben 155186 Schülern
2837 Schülerinnen Unterricht —, wird ans die allgemeine Anschauung, daß
das Weib eine Ware, ein Ding ist, noch lange Zeit keinen Einfluß üben.
Diese Proben sollen nur den Beweis liefern, wie befangen selbst ein in
Europa gebildeter Muslim heute noch sein und wie trefflich er es verstehen
kann, dem Publikum Sand in die Augen zu streuen. Die letzten Kapitel des
Buches sichren uns nun wieder zu unserm eigentlichen Gegenstande zurück, da
sie wesentlich eine Verteidigung des Islams als Religion enthalten. Verteidiger
will übrigens Kassen nicht sein; nach ihm ist der Islam überhaupt die natür¬
liche Religion, die beste Fahne, unter die sich die gesamte Menschheit scharen
könnte, kurz die Religion der Zukunft. In dieser Beziehung giebt er auch nur
der allgemeinen natürlichen Ansicht seiner Glaubensgenossen Ausdruck. Dem An¬
spruch, allgemeine Weltreligion zu werden, entsagt der heutige Islam weniger als
je; neu und verblüffend sind nur die von ihm vorgebrachten Gründe. Gleich¬
wohl verlohnte es sich wohl kaum der Mühe, sich weiter damit zu beschäftigen,
wenn nicht in einer viel gelesenen Zeitschrift (Berliner Rundschau vom 10. Juli
1895) ein hervorragender Reisender, G. Schweinfurth, unter dem Titel „Die
Wiedergeburt Ägyptens im Lichte eines aufgeklärten Islam" Kasfems Arbeit
einem größern Leserkreise gegenüber mehr als nötig herausgestrichen hätte. Er
sagt geradezu: „Die Thatsache, daß ein mohammedanischer Ägypter imstande
war, in so vorurteilsfreier, so warmfühlender Weise und zugleich so philo¬
sophisch klar, wie es Kassen-Emin gethan, seine Ansichten niederzuschreiben,
ist ein Ereignis von mehr als litterarischer Bedeutung und zugleich der beste
Beweis für die Richtigkeit (sie) der in dem Buche verfochtenen Ansichten."
Schweinfurth hat völlig Recht, wenn er betont, daß der Europäer die
Tugenden, z.B. die Ehrenhaftigkeit, die Mäßigkeit, die Gastfreundlichkeit der Mus¬
limen im Orient oft genug erprobt und schätzen lernt, auch im Grunde von Fana¬
tismus nicht zu leiden hat. Mir ist es aber immer so vorgekommen, als sei
im allgemeinen der Charakter diesen Orientalen angeboren und von der Re¬
ligion unabhängig. Der Grundzug von dem, was der Araber wuruvg, und
llilni, d. h. virtus, Charakter in eminenten Sinne nennt, ist namentlich auch
bei den Muslimen nicht zu verkennen, die mit sogenannter Kultur, oder besser
Hnlbkultur, also auch mit den Regierungskreisen in wenig oder gar keine Be¬
rührung kommen, ja vielleicht bei ihnen noch stärker entwickelt, als bei den
zivilisirtern Orientalen. In dieser Beziehung verdienen namentlich die Zentral¬
araber hervorgehoben zu werden. Auch die Lernfähigkeit der Beduinen, mit denen
übrigens die Bauernbevölkerung Zentralarabiens die größte Ähnlichkeit zeigt,
wird von dem besten Kenner jener Gegenden, dem kühnen Reisenden Dougthy
(^ravels in ^.rMa vWsrta, (üanibiiä^s, 1888) oft genug gerühmt; freilich ist
ihm auch wilder Fanatismus nicht selten entgegengetreten, sodciß er in die
Worte ausbricht: van do danäsä ont? eh.6 (uso) vWÄon okreli^ion
Z,na tligir rvbdsr-lites ^rgsämss-z ok ins sxoil. Mit der Religion läßt sich
eben auch ein Geschäft machen; das zeigt vor allem auch die Nachbildung des
Islam, die wir unter dem Namen Mahdismus kennen und deren weltliche
Antriebe uns neuerdings stallr Pascha (Feuer und Schwert im Sudan, 1896)
so deutlich vor Augen gestellt hat.
Wenn ich dies alles in Betracht ziehe, so fällt es mir in der That sehr
schwer, Kassems Urteil beizupflichten, wenn er z. B. behauptet, die muslimische
Religion habe die reinste Moral, die man je gekannt habe. Je öfter ich den
Koran gelesen habe, um so fadenscheiniger ist mir immer die sogenannte Pflichten¬
lehre erschienen, besonders wenn man die stark in den Vordergrund tretenden
rituellen Pflichten abzieht. Wenn Kassen vollends von Muhammed rühmt: ?oro
1» vis as Nolminsä sse rsniMs as dsanx oxeraxlks, so macht ja diese im Ver¬
laufe der Entwicklung des Islams fortschreitende Tendenz, aus dein Propheten
den höchsten Heros zu machen, der Jdealisationsfühigkeit der Muslimen alle
Ehre; aber bekanntlich beruht dieser Zug nur auf dem Vorbilde andrer Re¬
ligionen, und es ist stark zu bezweifeln, daß diese Vergötterung — der Sache
nach kann man es wohl so nennen — im Sinne des Religionsstifters selbst
gelegen habe. Ich selbst denke freilich viel zu konservativ, als daß ich dem
Islam zumutete, durch Preisgeben seiner Glaubensideale sich seiner eignen
Stützen zu berauben. Aber ich protestire gegen die Zumutung, zu glauben,
daß das, was uns Kassen bietet, ein „aufgeklärter Islam" sei.
Nach Kassen ist der Islam schon so, wie er ist, imstande, die geistigen
Bedürfnisse der Menschheit zu befriedigen. Ganz besonders bemüht sich der
Verfasser, d'Harcourts Urteilen gegenüber zu beweisen, daß der Islam nie¬
mals der Entwicklung der Wissenschaft im Wege gestanden habe. Er beruft
sich dabei auf Stellen des Koran und Aussprüche des Propheten. Mit welcher
eigentümlichen Logik Kassen dabei verfährt, kann man z. B. daraus ersehen,
daß in dem Koranversc 6, 97: „Und Gott ist der, der für euch die Stern¬
bilder hingestellt hat, damit ihr euch durch sie in den Finsternissen zu Land
und zu Wasser leiten laßt," die Astronomie empfohlen sein soll. Es ist hier
nicht am Platze, zu untersuchen, was Muhammed unser seinem „Wissen"
eigentlich verstanden hat; galt ihm doch vor allem auch die Religion als
„Wissen"; daß er von „Wissenschaft" keine Ahnung hatte und haben konnte,
kann nur ein Muslim leugnen. Aber auch die wissenschaftliche Thätigkeit der
Araber überschätzt Kassen; den Satz Dx Orients lux in weitem Umfange auf
alle Araber anzuwenden, kann bei dem heutigen Stande unsrer Kenntnisse nur
jemand wagen, der von den Leistungen der verschiedensten Völker, vor allem
auch des Altertums, keine Ahnung hat. Ich mache es Kassen nicht zum Vor¬
wurf, daß er die eigentümliche Rolle, die die Araber in dem Ganzen der wissen¬
schaftlichen Entwicklung gespielt haben, nicht begreift. Zu vermissen ist aber,
daß man bei ihm nichts von den freidenkerischer Richtungen unter den Arabern
hört; wenn diese gesiegt hätten, so wäre der Islam allerdings in Gefahr
gekommen, Schiffbruch zu leiden. Aber seit dem endgiltigen Sieg der mus-
lemischen Orthodoxie im zehnten Jahrhundert, der übrigens nicht ohne Kampf
erfolgte, ist der Islam in der That verknöchert. Darin, daß seit einem
Jahrtausend keine Veranlassung mehr vorgelegen hat, ketzerische Meinungen
zu verfolgen, liegt bloß ein Beweis , daß das Denken der Orientalen sich
seither großenteils in den hergebrachten, ausgefahrnen Gleisen bewegt und
sich von den engen Fesseln der muslimischen Religion nicht zu befreien ver¬
mocht hat.
Der Islam kennt keinen eigentlichen geistlichen Stand. Ist das ein Mangel
oder ein Vorzug? Triumphirend ruft Kassen aus: Leo lÄit, <zuo lions
n'g,v0us as cjn<Z3lion rs1i^isv.8s <mi mein,8 ^sus ÄiM8 votrs irulrelis. Mu8
n'a.von8 xg-s ü, Liier: Is olerAs, vonn, 1'frühren! xni8 ein'it n'sxists pg.8. Von
der Thätigkeit eines christlichen Geistlichen hat er weder im protestantischen
noch im katholischen Sinne eine Ahnung; er kann nur über die Charlcitcme
spotten, die den Gläubigen Lourdes anpreisen. Der Islam braucht in der
That keine „Seelsorge"; er ist ja so einfach; er wendet sich immer an die Ver¬
nunft des Menschen; ja es soll ein Ausspruch Muhammeds vorhanden sein:
die Religion ist die Vernunft. Aber diese Phrase von der natürlichen Re¬
ligion zeigt schlagend, daß sich der Verfasser noch immer in Gedankenkreisen
bewegt, die bei uns infolge der Vertiefung religionsgeschichtlicher Forschungen
nun wohl endgiltig aufgegeben sind. Der Gegensatz von Glauben und Wissen
wird so auf die einfachste Weise aus der Welt geschafft. Da ferner der Ra¬
tionalismus ^den Grundzug der Religion des Islam bildet, so ist es klar, daß
der Gebildete wie der Ungebildete ihr in gleicher Treue anhängt, daß sie ver¬
möge ihrer Einfachheit so weite Verbreitung gefunden hat und noch immer
findet. Der Islam verlangt ja nur Anerkennung der Einheit Gottes und
seines Gesandten , sodann die Erfüllung der Pflichten: das Gebet fünfmal am
Tage zu verrichten, das Fasten im Ramadan zu, Halten, den vierzigsten Teil
de.r Habe als Armenabgabe (!) zu geben und wenn irgend möglich nach Mekka
zu wallfahren.^ (Z'sse.K doues.notrs rsliAov, sagt Kassen mit Stolz. In der
That ist diese „Religion, der, Zukunft" höchst einfach und ,verführerisch. Auch
der gelehrte Verfasser des Artikels der Rundschau scheint davon entzückt zu
sein, er sieht „in dem rituellen Drill der Massen einen hervorragenden Kultur¬
hebel und bewundert auch bei dieser anscheinend geringfügigen Veranlassung
den weitausblickenden Geist des Religionsstifters."
" Es wäre aber durchaus verkehrt, den Islam darnach zu beurteilen. Wenn
diese Religion nur daraus bestünde, wovon Kassen spricht, so hätte jener andre
deutsche Reisende Recht, der den Franzosen einst den Rat gab, den Islam mit
Stumpf und Stiel auszurotten. wenn sie in Algier Ruhe bekommen wollten.
Wer den Orient genauer kennt, wird nicht bei der Bewunderung des Rituals
stehen bleiben, sondern anerkennen, daß der reine Monotheismus des Islam
die schönsten Früchte wahrer Frömmigkeit' und Gottergebenheit — das letztere
bedeutet jn Islam — gezeitigt hat und noch zeitigt. In dieser Richtung der
Berinnerlichung, ich möchte sagen Entrationalisirung, liegt die einzig mögliche
Zukunft für diese „einfache" Religion, nicht auf dem Wege seichter Aufklärung.
Die halte ich geradezu für ein Unglück. Durch einen solchen Ausbau würde
auch der im Islam doch mehr oder weniger stark betonte Fatalismus beseitigt
werden, ferner auch dem Hochmut entgegengearbeitet werden, der heute — man
mag sagen, was man will — das Kennzeichen des Muslimen ist; wer die
oben genannten Pflichten erfüllt, steht ja nach der landläufigen Ansicht weit
über jedem Andersgläubigen. , - /
Von der Notwendigkeit einer derartigen Entwicklung findet sich bei Kassen
keine Andeutung, er ist durchaus ein Kind des vorigen Jahrhunderts: er er¬
wartet alles Heil von der Schulbildung und dem Ausbau des Wissens. Andrer¬
seits ist er wieder gläubiger Muslim und zweifelt nicht daran, es mit seinen
Volksgenossen bleiben zu können. Glücklicherweise hat er keinen Schimmer von
Verständnis für religiöse Aufgaben, für Kultur- und Religionsgeschichte. Der
Koran ist für ihn das abschließende letzte Wort Gottes; daß die Frage, wie
es mit dem Jnspirationsbegriff eigentlich steht, einmal im Verlaufe der Zeit
von der Wissenschaft aufgeworfen werden könnte, kommt ihm nicht in den
Sinn. Er hängt noch an demselben sinnlichen Jnspirationsbegriff, den Mu¬
hammed selbst zur Grundlage seiner Religion machte. Diese Jnspirations-
lehre, die jede Ausscheidung des zeitlich Bedingten im Koran verhindert, ist
ein schwerer Hemmschuh sür die Entwicklung einer unabhängigen Wissenschaft
gewesen; man denke nur an eine ernsthaftere Geschichtsforschung. Es ist schwer,
zu denken, daß der Islam, sobald an dem Glauben seiner unbedingten Auto¬
rität gerüttelt wird, noch Bestand haben kann; denn wenn die Anhänger Muham¬
meds erst sollten einsehen lernen, wie sehr ihr Prophet im Grunde von ir¬
dischen Gewährsmännern abhängig war und wie schwer bei ihm die Grenze
zu ziehen ist zwischen Selbstbetrug und wissentlicher Täuschung andrer Leute,
sällt der Islam dahin. Das Schlimmste ist, daß Muhammed aus Politik viel¬
fach sogar dem arabischen Heidentum Zugeständnisse machte, um die Bekehrung
der Mekkaner zu erzielen, sodaß sein vielgepriesener Monotheismus stark mit
Fetischismus versetzt wurde. Muhammed war neben dem Politiker ein sehr
mittelmäßiger Religionsstifter. In dieser Beziehung stand er, von anderm zu
schweigen, tief unter den großen israelitischen Propheten, wie Amos, Hosea,
Jesaia. Die geschichtlichen Ansichten, denen ein Religionsstifter huldigt, können
ja durchaus irrig sein, und doch kann sein Werk Nutzen stiften; es ist auch für
die große muhammedanische Welt weder möglich noch wünschenswert, daß sie zu
geschichtlicher Erkenntnis, zu einer klaren Anschauung über die Entstehung ihrer
Religion gelange. Ich werde aber Kassen niemals zugeben, was er behauptet:
1,'ozuvis Hus Nodanieä g, g-oeoinplis, an ckcmvlö xoint as vus röliZieuss se
xolitihuk, äexasLL su xrauclsur, ÄWeuMs, en rWultats, tout 00 c^us 1'ssvrit,
dumain g, proäuit cis-us 1ö xassö 1s xrsssnt.
Aus allen diesen Gründen stelle ich in Abrede, daß der Islam einer Auf¬
klärung in dem guten Sinne unsrer Reformation sähig sei. Jedenfalls ist die
muhammedanische Welt noch lange nicht reif dazu, eine solche Aufklärung zu
ertragen. Die Bewegungen, die im Verlaufe von etwas mehr als hundert
Jahren im Islam hervorgetreten sind, weisen nach einer ganz andern Weiter¬
bildung hin; sie waren großenteils reaktionär und hatten eine politische Spitze.
Auch Kassen ist im Grunde, ohne es zu merken, reaktionär, trotzdem daß er
die Bildung und die durch sie erreichten wie die zu hoffenden Vorteile preist:
eine ernsthaftere Bevormundung der islamischen Welt lehnt er ab, da er weder
die Fähigkeit noch den Willen hat, sich ein Verständnis für europäische Geistes¬
arbeit, sagen wir auch für das Christentum, zu erringen.
Ich habe mich nur deshalb so eingehend mit seinen Ansichten beschäftigt,
weil wir ihn als Typus eines modernen Muslims betrachten dürfen. Auf
religiösem Gebiet ist heute der Gegensatz des Islams gegen die christliche Welt
stärker als je. Aber auch auf politischem Gebiete zeigt sich der Ausfluß solcher
Denkweise; in den armenischen Wirren sehen wir nur ein weiteres Anzeichen
davon. Unter den gegenwärtigen Verhältnissen kommt jedes Stützen der
ottomanischen Herrschaft dem Islam zu gute, den die Türkei unverhüllt auf
ihre Fahnen schreibt. Nur durch wirkliches Zusammenhalten könnten die so¬
genannten christlichen Mächte die Türkei dazu zwingen, thatsächlich ihre innern
Verhältnisse so zu ordnen, daß solche Greuel nicht wieder vorkämen. Den
Diplomaten kann es freilich gleichgiltig sein, ob irgendwo in der Ferne so
und so viel wehrlose Menschen hingeschlachtet oder dem Hungertode preis¬
gegeben werden; der Diplomat hat bloß zu verhindern, daß daraus größere
Verwicklungen zwischen den europäischen Mächten entstehen. Ob sich aber
nicht dieser Grundsatz der Nichteinmischung in die innern Angelegenheiten der
Türkei doch noch einmal rächen wird, und ob es nicht angebracht wäre, der
berechtigten Unzufriedenheit der christlichen Unterthanen nicht aus humanen
— die kann man nicht verlangen —, sondern aus politischen Gründen Rechnung
zu tragen, wird die Zukunft lehren; vorläufig können sich die Türken ins
Fäustchen lachen.
Der Zweck des Vorstehenden ist erfüllt, wenn hin und wieder einem Leser
die Folgen der heutigen Politik, vor allem die enge Verbindung der sozialen
und der religiösen Frage in der Türkei in eine von dem gewöhnlichen Urteil
der Tagespresse etwas abweichende Beleuchtung gerückt worden ist.
eilen einer raschen Aufklärung, deren Denken namentlich durch
die Naturwissenschaften angeregt zu werden Pflegt, bedeuten für
die Kunst gewöhnlich Zeiten eines überwiegenden Realismus,
wo nicht eines mehr oder weniger fröhlichen oder groben Na-
^ turalismus. Ein Naturalismus der deutschen Malerei läuft z. V.
im fünfzehnten Jahrhundert neben dem ersten eindringenden naturwissenschaft¬
lichen Denken her, das wir überhaupt erlebt haben, in unserm Jahrhundert siegte
der Realismus in der Kunst über die Romantik gleichzeitig mit dem Empor¬
dringen der Naturwissenschaften über die romantische Philosophie, und auch
die Aufklärungszeit des achtzehnten Jahrhunderts hat ihren Realisten, ja be¬
scheidnen Naturalisten gehabt: Daniel Chodowiecki. So konventionell uns
die Gestalten und Szenen seiner schlichten kleinen Bilder zur Minna, zum
Werther unwillkürlich anmuten, in ihrer Zeit stellten sie doch einen großen
Fortschritt zu freierer Komposition, zu unmittelbarer Wiedergabe der Natur
dar gegenüber den Rokokopüppchen und -grüppchen, wie sie in seiner Jugend
mode waren, und wie er sie selbst als junger Handwerker in Menge gemalt
hat, und gegenüber den unwahren weichlichen klassizistischen Idealgestalten vieler
seiner Zeitgenossen. Nachdem ihm einmal die Schuppen von den Augen ge¬
fallen waren, zeichnete er unablässig nach der Natur. Akte zwar zu zeichnen
— er begann damit, als er bereits über dreißig Jahre alt war und schon seit
zehn Jahren als ein guter Maler galt — ist ihm nur wenige Jahre möglich
gewesen.*) Dafür suchte er sich zu entschädigen und zugleich seine Fertigkeit
zu ergänzen dadurch, daß er sich daran machte, was ihm die Natur so bot,
stehend, gehend oder reitend mit Bleistift und Skizzenbuch zu erHaschen; davon
berichtet er in seiner Selbstbiographie in schlichten, herzlichen Worten: „Ich
zeichnete nebenher. War ich in Gesellschaft, so setzte ich mich so, daß ich die
Gesellschaft, oder eine Gruppe daraus, oder auch nur eine einzige Figur über¬
sehen konnte, und zeichnete sie so geschwind, oder auch mit so vielem Fleiß,
als es die Zeit oder die Stätigkeit der Personen erlaubte: bat niemals um
Erlaubnis, sondern suchte es so verstohlen wie möglich zu machen, denn wenn
ein Frauenzimmer (und auch zuweilen Mannespersonen) weiß, daß mans zeichnen
will, so will es sich angenehm stellen und verdirbt alles, die Stellung wird
gezwungen. Ich ließ es mich nicht verdrießen, wenn man mir auch, wenn ich
halb fertig war, davonlief; es war doch so viel gewonnen. Was habe ich da
zuweilen für herrliche Gruppen mit Licht und Schatten, mit allen den Vor¬
zügen, die die Natur, wenn sie sich selber überlassen ist, vor allen den so ge¬
rühmten Idealen hat, in mein Taschenbuch eingetragen! Auch des Abends bei
Licht habe ich das oft gethan; kein besseres Studium, um große Partien, Licht
und Schatten hervorzubringen. Ich habe nach Gemälden wenig, nach Gips
etwas, viel mehr nach der Natur gezeichnet. Bei ihr fand ich die meiste Be¬
friedigung, den meisten Nutzen; sie ist meine einzige Lehrerin, meine einzige
Führerin, meine Wohlthäterin. Wo ich sie finde, werfe ich ihr einen Kuß,
wenn es auch nur in Gedanken ist. zu: dem reizenden Mädchen, dem präch¬
tigen Pferde, der herrlichen Eiche, dem Strauche, dem Bauernhause, dem Pa¬
laste, der Abendsonne und dem Mondlicht — alles ist mir willkommen und
mein Herz und Griffel hüpfen ihm entgegen. Aber wie sehr werde ich be¬
trübt, wenn mit aller Mühe und Sorgfalt ich das nicht zu erreichen vermag,
was sie mir vorzeigt. Dann entschuldige ich mich mit dem so richtigen Aus¬
spruche: All unser Wollen, all unser Streben ist Stückwerk. Und das Bild,
das ich mit meinem in sich selbst gekehrten Auge ein der innern Kugel meiner
Hirnschale sehe, ist ganz anders als das, was meine schwache Hand durch den
unvollkommnen Griffel aufs Papier bringt." Diese Ehrlichkeit des Empfindens,
das demütige Suchen in der Natur und sein unermüdlicher Fleiß haben ihn
an die Spitze der deutschen Zeichenkunst seiner Zeit gerückt und ihr als Führer
den Weg vorwärts zeigen lassen, haben ihm geholfen, daß er, wie sein neuer
Biograph") sagt, seinen Beruf erfüllte, dem Realismus in seiner Kunst zum
Durchbruch zu verhelfen und damit feine Zeitgenossen, die Künstler wie das
Publikum aus dem Bann überlebter Formen zu befreien. Indem er sich zum
Darsteller seines Zeitalters, wie es wirklich war, und also zum treuen Inter¬
preten der mannichfaltigsten Charaktere machte, gab er der Kunst einen neuen
Inhalt von unendlicher Keimfähigkeit. Was andre deutsche Maler und Zeichner
damals nur wie zufällig, bruchstückweise und unvollkommen, ohne Konsequenz
und ohne Energie zu bringen wußten und daher verloren gehen ließen, das
hielt er fest zusammen und rundete es zu einem einheitlichen Werke ab.
Chodowiecki gehört zu den vielen deutschen Künstlern, die aus dem Kunst¬
handwerk emporgewachsen sind, und zwar ist es die Familie der Mutter, der
er seine Anlage und seinen Trieb zu danken hat. Wohl hat er selbst wieder¬
holt nicht ohne Stolz auf seine polnische Abkunft hingewiesen, sich oft genug
die richtige Aussprache seines Namens Cho-do-wi-ez-ki ausgebeten, und sein
Vater, der Kaufmann Gottfried Chodowiecki in Danzig, hatte sich nicht nur
als Kaufmannslehrling am Farbenkasten vergnügt, sondern liebte auch noch in
spätern Jahren, in Miniatur zu kopiren. Aber Daniel Chodowieckis Art ist
deutsch, und wie sein Vorname auf den Großvater mütterlicherseits weist, so
auch seine Begabung. Während Herr von Oettingen das Geschlecht der
Chodowiecki an der Hand einer alten Familienchronik bis in die Mitte des
sechzehnten Jahrhunderts hinauf verfolgt, mögen daher hier aus Quellen des
Leipziger Ratsarchivs einige Angaben über die Ayrer folgen, denen des Künstlers
Mutter entstammt. Am 29. Mai 1661 wurde der Zuckerbäcker Daniel Arnold
Ayrer. Bürger von Leipzig. 1669 kaufte er hier von den Erben Kaspar Anckel-
manns ein Haus. Anckelmcmn war Gold- und Silberarbeiter gewesen und
1652 ganz jung gestorben. Seine Witwe hatte den Danziger Handelsmann
Joachim Dunkler geheiratet. So kam Ahrer wohl mit den Gold- und Silber¬
arbeitern und mit Danzig in Beziehungen. Am 8. September 1697 starb der
alte Ayrer siebzigjährig in Leipzig. Bei dem Erbvergleich, zu dem es zwischen
den drei Söhnen und der Tochter kam, handelte es sich außer um das Leip¬
ziger Haus noch um eine Gold- und Silberwarenfabrik in Zerbst und eine in
Danzig. Der jüngste Sohn, Daniel Adrian Ahrer, der in Zerbst seine Frau',
eine Nvfugive, kennen gelernt hatte und 1696 mit ihr nach Danzig gegangen
war, behielt auch nach dem Vergleich, bei dem er sich vertreten ließ, das
Danziger Geschäft. Den künstlerischen Sinn, der sich mit der andauernden
Beschäftigung mit Gold- und Silberarbeiten immer mehr in der Familie ent¬
wickeln mußte, bethätigten von seinen Kindern der Sohn Antoine Andrv. der
bereits in den dreißiger Jahren des achtzehnten Jahrhunderts ein eignes
Berliner Quincailleriegeschäft leitete, und Fräulein Justine, Chodowieckis Tante,
deren kleine Miniaturmalereien gelegentlich im Geschäfte ihres Bruders ver¬
trieben wurden. Des dritten Geschwisters der beiden, der Maria Henriette
ältester Sohn ist Daniel Chodowiecki. Wie sein jüngerer Bruder Gottfried,
wurde er für den Handel, die Thätigkeit des Vaters, bestimmt, aber bei
beiden Brüdern hat sich der Ahrersche Kunstsinn dadurch Bahn brechen
können, daß beide in das Berliner Geschäft kamen. Gottfried wurde schon un¬
mittelbar reich dem frühen Tode des Vaters, im April 1740 zu seinem Paten,
dem Onkel Ayrer, gegeben, drei Jahre später folgte ihm der sechzehnjährige
Daniel, und damit waren beide auf die schon zu Hause gern geübte Miniatur¬
malerei gewiesen, namentlich das Kopiren von allerhand verwendbaren kleinen
Kupferstichen auf Tabaksdosen, Putzschächtelchen, Stockknäufe und andre Schmuck¬
sachen dieser Art. An einen geregelten Unterricht, eine gründliche Weiterbildung
im Zeichnen und Malen dachte der Onkel dabei nicht.
Ein erster Anstoß kam von außen. Um 1740 kam in Berlin die Technik
der Emailmalerei auf, und die Mode forderte alsbald ihre Anwendung zum
Schmucke von kostbaren Kleinodien wie von solchen billigern Waren, wie sie
das Ayrersche Geschäft in der Hauptsache erzeugte und vertrieb. 1746 oder
1747 entschloß sich darum Antoine Ayrer, seine Neffen die neue Technik lernen
zu lassen, die ihren Farbensinn auch für andre Malereien anregen konnte, denn
die Emailfarben nehmen im Feuer und durch die Glasur eine prachtvolle Leb¬
haftigkeit an und lassen, wo sie durchsichtig sind, das Metall, worauf sie sitzen,
wirksam durchschimmern. Ein erster Versuch schlug fehl; der Lehrer, ein ehe¬
maliger Goldschmied, verstand das Brennen nicht. Desto besser gelang ein
zweiter 1749. Diesmal war ein Haid aus Augsburg, ein Verwandter und
Schüler des Pferde- und Schlachtenmalers Georg Philipp Rugandas ihr Lehrer,
ein Meister im Brennen, der die Brüder bald soweit vorwärts brachte, daß
sie der Onkel aus dem Geschäft fast ganz in die Malerstube übersiedeln ließ:
ihre Leistungen im Emailliren waren einträglicher geworden als ihre Kommis-
dienste. Seinem engern Anschluß an Haid und seiner Gründlichkeit verdankte
es der ältere Daniel, daß er jetzt seinen Bruder auf einmal überflügelte:
Haid hatte ihm akademische Aktfiguren zum Studiren und nachzeichnen ge¬
geben, er selbst hatte sich dazu Stiche nach Watteau und Voucher angeschafft
und namentlich an diesen für genauere, charakteristischere Zeichnung und leichtere
Komposition viel gelernt. Er wurde ganz von der Beschäftigung mit dem
Handel befreit, wagte sich dafür zum Entzücken seines Onkels an Dosen von
Gold, die dann mit Brillanten besetzt wurden, und verwandte dabei statt der
Kopien auch eigne Erfindungen, die er mit großer Lust ausführte und teuer
bezahlt erhielt. Diese selbständige Weiterentwicklung führte in den nächsten
Jahren zu einer Lockerung des Verhültnisfes zu dem Onkel, wonach auch
Gottfried trachtete, und im Sommer 1754 kam man überein, daß das Ayrersche
Geschüft, das bereits in der Schuld der Brüder stand, herauszahlen sollte,
was es ihnen schuldete, und fortan ihre Kunstwaren gegen ein Drittel des
Erlosch vertreiben sollte. Auch dieses Band löste sich bald, als der Onkel
nach wenigen Jahren starb. Damit waren die Brüder völlig auf sich gestellt.
Beide bezeugen das gute Zutrauen, das sie zu ihrer Zukunft hatten,
dadurch, daß sie sich im nächsten Jahre verheirateten, beide mit Mädchen der
französischen Kolonie Berlins, in deren fördernde Kreise sie damit eintraten.
Die meisten Juweliere und Quincailleriehändler Berlins waren Mitglieder der
Kolonie, und so sehlte es den beiden nicht an Absatz ihrer Miniaturen und
Emaille», der ältere, zugleich der begabtere und fleißigere, erhielt auch bald
Aufträge, Tabatiereu für den Hof des .Königs und der Prinzen zu malen.
Aber neben der Beschäftigung in diesem nach französischen Mustern arbeitenden
Kunsthandwerk und unter ihr wurde der Drang nach einer selbständigem und
wahrem Kunst in Chodowiecki immer energischer. Immer fleißiger machte er
sich daran, die Natur selbst, namentlich die Menschen aller Stände und Alter
in unablässigen Privatstudien und Skizzen nachzubilden, in die nächsten Jahre
fallen auch seine Abzeichnungen, immer entschiedncr trieb es ihn, den Schritt
vom Kunsthandwerker zum Künstler zu thun. Deutlich im Begriff dazu er¬
scheint er uns zum erstenmal in drei Miniaturporträts, die um 1760 ent¬
standen sind und von denen eins ihn selbst darstellt: sie tragen zum erstenmal
in voller Ehrlichkeit den Stempel jener schlichten, unmittelbaren Auffassung,
die allen seineu spätern gelungner Werken zu Grunde liegt.
Freilich sollte es ihn immer noch einmal von dem Pfade abdrängen, den
ihm. der bürgerlich aufklärende Geist der Zeit, der auf breite Schichten wirken
wollte, und seine eigne nur in der Kleinkunst geübte Entwicklung wiesen. Das
Ideal, in höheren Stile zu schaffen, ein Meister der Tafelmalerei, des historischen
Ölgemäldes zu werden, zog ihn abseits auf eine Bahn, die nicht die seine war,
ans der sich ihm in Farbe und größern Maßstab Schwierigkeiten entgegen¬
stellten, die er nicht mehr bewältigen konnte. Soweit diese Ölbilder nichts
andres sind als künstlerisch verhüllte Portrütgrnppen, wie der „Federball,"
eine bürgerliche Gruppe im Parke, auf der unter andern er selbst und seine
Frau, diese deu Federball schlagend, dargestellt ist, oder das „Charpiezupfen"
oder der „Winterabend," die durchaus auf seinen Studien beruhen und fast
nur Menschen darstellen, denen er nahe stand und für die er deu wahren
Ausdruck in sich fand, so weit leistete er auch hier erfreuliches. Seinen übrigen
Gesellschaftsstückcn kaun man nachsagen, daß sie zu französisch und doch nicht
französisch genug sind, auch der „Abschied des Jean Calas von seiner Familie"
hat nicht aus technischen Rücksichten ein berühmtes Bild werden können, sondern
seines Inhalts und seiner seelischen Auffassung wegen. Berühmt und bekannt
geworden ist er aber auch nicht als Ölbild, sondern in den beiden Rndirnngen
Chodowieckis.
Etwa gleichzeitig mit dem Beginn seiner Ölmalerei hatte sich Chodowiecki
zuerst mit der Radirnadel versucht, doch hatte er das Radiren lauge nur als
künstlerische Zerstreuung getrieben, fast während des ganzen siebenjährigen
Krieges. Von da an aber, als ihm die Aufträge von Miniaturen etwas mehr
Zeit ließen, als er begann, sich mit dem Gedanken vertraut zu machen, daß
er zu einer großen Historienmalerei nicht berufen sei, »ahn er die Nadel öfter
zur Hand. Und rasch trat sie nun fast ganz an die Stelle des Bleistifts.
Die reizenden Blättchen der Skizzenbücher werden seltner, dafür mehren sich
die Radirungen entsprechender Gegenstände. Den ersten großen Erfolg beim
Publikum und darauf eine Menge Auftrage von Verlegern und Unternehmern
brachte ihm die erste Radirung seines „Abschied des Calas" in Originalgröße.
Immer mehr arbeitete er nun darauf hin, den Übergang vom Maler zum
Radirer zu vollziehen. Aber erst etwa 1775 steht der Künstler als das da,
wozu ihn seine Begabung berufen hatte, wozu ihn seine gewissenhafte Klein¬
arbeit schließlich schaffen mußte. Nun begannen die illustrirten Almanache
und Kalender seinen Namen durch ganz Deutschland zu tragen, die siebziger
Jcihre verknüpften ihn mit einer reich emporquellenden und drängenden Zeit
der deutschen Litteratur, und in den Bildern zu Basedows Elementarwerk schuf
er ein Bilderbuch, das eine außerordentlich große Zahl von Zeitgenossen unter¬
richtet und herangezogen hat, und das zu uns noch höchst eindringlich von des
Künstlers ehrlichem und anspruchslosen Realismus redet. Die Größe seiner
Wirksamkeit in der bürgerlichen Kultur jener Zeit läßt sich nur mit der un¬
erhört breiten Wirkung der Aufklärung vergleichen, in deren Dienst er ja
auch vielfach bewußt arbeitete; u. ni. hat er Nicolais Roman „Sebaldus Noth¬
anker" illustrirt, ja sich gerade dieser Arbeit mit ganz besondern: Nachdruck
gewidmet, obgleich sein eignes Gewissen, dessen Tiefe die Plattheiten des Na¬
tionalismus abstießen, dabei gelegentlich beunruhigt wurde. Die meisten übrigen
von ihm illustrirten Romane sind längst vergessen, nur ein kleiner Teil hat
heute noch Verehrer, etwa Jung-Stillings Leben, Hippels Lebenslüufe, Pesta-
lozzis Lieuhard und Gertrud, Campes Robinson der Jüngere, Jean Pauls
Unsichtbare Loge. Eine Menge Gedichtsammlungen gingen mit seinen Bildern
hinaus, von Bürger, den Brüdern Stolberg und Götter bis zu Matthisson
und der Romantik, Schwänke, wie die von Langbein, Märchen, unter andern
die der Kaiserin Katharina von Nußland, auch die vielgelesenen Schriften des
Wandsbecker Boten. Von unsern Klassikern ist ihm nur Herder entgangen;
Gellerts Fabeln. Klopstocks Hermannsschlacht. Lessings Minna. Wielands
Idris, Schillers Räuber und Kabale und Liebe hat er mit Bildern ausge¬
stattet, ja auch Bilder zum Werther, Götz, Clavigo, zur stelln, zum Triumph
der Empfindsamkeit, zu Claudine, zu Erwin und Elmire und zuletzt zu Her¬
mann und Dorothea teils selbst radirt, teils nach eignen Zeichnungen von
andern radiren lassen. Dazu kamen noch die Arbeiten für Lavaters Physio-
gnomische Fragmente, jahraus jahrein Illustrationen für Kalender, überdies
endlich eine stattliche Anzahl von Einzelblüttern auf Bestellung und auf Spe¬
kulation — Chodowiecki hat nach langem Emporarbeiteil schließlich zwischen
1770 und 1795 eine schöne Zeit der Ernte gehabt.
Er hätte es nicht gekonnt ohne das heitere ruhige Heim seiner Familie,
ohne eine bürgerlich geordnete und sittlich durchleuchtete Lebensführung. Seine
Ehe ist so schön verlaufen, wie sie 1755 froh begonnen hatte. Von sieben
Kindern wuchsen fünf auf, schlichte, glücklich angelegte Wesen, die drei ältesten
künstlerisch begabt und dementsprechend vom Vater, doch ohne Nachdruck, ge-
fördert. Das ganze glückliche Behagen, das ihm die Familie gab, spricht sich
prächtig in einer seiner vorzüglichsten Radirungen aus, dem <üg,vin6t> et'un
xöintrs, das er 1771 der alten Mutter im fernen Danzig widmete, als sie
ihn un? Bilder der Seinigen gebeten hatte. Er selbst, an seinem Maltischchen
am Fenster rechts hinten sitzend, lugt durch die große Brille nach dem Mittel¬
tisch herüber, um den die übrigen beschäftigt sind, und ist wohl eben dabei,
eins seiner Kinder zu zeichnen. Die beiden Jungen sitzen rechts am Tisch,
dem Vater zunächst, der ältere zeichnet mit kindlicher Emsigkeit einen Reiter,
der jüngere guckt gemütlich zu, den Kopf auf den Arm gelegt, und plaudert
dabei in den Bruder hinein. Dann folgt dem Beschauer gerade gegenüber in
dem großen Lehnstuhl der Familie das Nesthäkchen, an der rechten Hand von
der zweiten Tochter gehalten, die sich stehend an die sie streichelnde auch
stehende und die ganze kleine Gesellschaft froh und treu überschauende Mutter
lehnt, während die älteste Tochter, der Mutter Ebenbild, am linken Ende des
Tisches ein großes Bilderbuch gespannten Auges und mit einem heitern Spiel
um den Mund betrachtet. Welcher Fortschritt in der Zeichnung, der Kom¬
position und vor allem in der intim-naturalistischen Auffassung der Gruppe
gegenüber dem nur neun Jahre ältern Seekatzschen Bilde der Familie Goethe!
Bei Seekatz ist alles Pose oder Spielerei, Personen wie Szenerie sind un¬
natürlich durch und durch, und vor der Menge von Zeichenfehlern kommt das
Auge gar nicht zur Ruhe, bei Chodowiecki ist alles schlichte Wahrheit, und
jedes Antlitz spiegelt eine Seele wieder.")
Seit dem Ende der siebziger Jahre riß der Tod manche Lücke in Chodo-
wieckis Familienkreis. Die Mutter, der Bruder, eine Schwester starben ihm,
schwer traf ihn der Heimgang seiner Frau im Juni 1785. Eben hatte sich
die zweite Tochter verheiraten wollen, die erste war es schon seit Jahr und
Tag, und wie sie heranwuchsen, folgten den beiden seine übrigen Kinder. Als
das Haus leer war, hat Chodowiecki zuletzt in Pension in der eignen Wirt¬
schaft gelebt, Kinder und Enkel zu Fuße und zu Pferde besuchend und mit
reger Teilnahme die Schicksale seines Geschlechts überblickend, bis ihn am
7. Februar 1801 ein sanfter Tod hinwegnahm.
Das ausgeführte Bild des Mannes, von dem wir hier eine Skizze ge¬
geben haben, finden unsre Leser in dem sorgfältigen, mit Liebe geschriebnen
Buche Oellingers. Viele werden es zur Hand nehmen, ohne dem Verfasser im
einzelnen seine Arbeit nachzufühlen und sich an ihr Zug für Zug zu erfreuen;
genug, daß diese an dem Ganzen ihren Genuß haben. Wer das Buch zugleich
als Kunstwerk eines gemütvollen und gewissenhaften Arbeiters betrachtet, wird
obendrein auf jeder Seite seiue kleine besondre Freude haben. Von der Doppel¬
aufgabe allerdings, die sich der Verfasser setzt, die Persönlichkeit Chodowieckis
darzustellen und ihre Beziehungen zu dem Geiste ihres Jahrhunderts, kommt
der zweite Teil entschieden zu kurz trotz der sorgfältigen Darstellung der Ber¬
liner Kunstverhältnisse unter Friedrich Wilhelm I. und Friedrich II., trotz der
eingestreuten Betrachtungen über Klassizismus und Realismus und trotz den
vielen saubern Porträts zeitgenössischer Künstler. Die Aufgabe, Chodowiecki
als Erzeilguis und Ausdruck seiner Zeit darzustellen, ist nur gestreift. Desto
liebenswürdiger ist seiue Person behandelt worden. Wie fein hat der Verfasser
aus der That allemal auf den Trieb zurückgeschlossen und nun rein historisch,
scheinbar naiv aus der Seele des Künstlers heraus erzählt! Wie hat er sich
in sein Sehen hineingelebt, und wie unbefangen steht er ihm doch aus der
andern Seite gegeuüber! Wie geschickt sind die Bilder, von denen das Buch
eine große Anzahl als Illustrationen enthält, neben den schriftlichen Quelle»
als Quellen herangezogen worden! Von der Anordnung dieser Illustrationen
sagt der Verfasser im Anhang bescheiden: „Es war nicht möglich, für jedes
Kapitel nur solche Abbildungen zu verwenden, die genau in die gerade be¬
handelten Jahre fallen. Die Reihe unsrer Illustrationen zeigt daher die künst¬
lerische Entwicklung des Meisters uicht ganz in ihrer richtigen Folge." Aber
man sehe mir, mit wie viel Lust und feinem Sinn die nicht den Jahren des
Malers entsprechenden Bilder mit Beziehung auf ihren Inhalt verteilt sind!
Auch die Sprache des Buches lädt weitere gebildete Kreise zum Lesen ein, sie
fließt zwar nicht leicht, zeugt aber dafür von gewissenhafter Behandlung.
^MWK
^H-^!ein Bruder Robert, der lwplnn, kam, sobald er vernommen hatte,
was in seinen Augen das größte Unglück war. Er redete nicht
viel, wollte nur wissen, wie alles stehe, machte keinen Versuch,
auf mich einzuwirken, und sprach über die brennenden Fragen
gar nicht. Dafür eröffnete er uns, daß er ins Kloster gehen
wolle, und zwar ins Kloster der nnbeschnhteii Karmeliter in Graz. Warum
denn gerade dahin? fragte ich, warum nicht lieber in einen der Orden, die
sich mit den Wissenschaften beschäftigen, zu den Benediktinern oder den Jesuiten?
Eben darum, erwiderte er, weil dort die Wissenschaften nicht betrieben werden,
und weil ich da nicht zu Predigen brauche. Er schwankte nämlich im Glauben
und wollte sich selbst entfliehen. Seinen Entschluß hat er ausgeführt; er
studirt aber doch fleißig und schriftstellert auch.
Am 4. März wurde dem Landtage das Sperrgesetz vorgelegt, dessen An¬
nahme im voraus sicher war. Da war ich denn einerseits froh, daß ich den
Bruch vollzogen hatte. Denn da meine Besoldung aus der RegieruugSkasse
floß, so hätte ich, um sie fortbeziehen zu können, mich schriftlich zur Befolgung
der neuen Gesetze verpflichten müssen und hätte mich also dem Bischof und
der Gemeinde gegenüber genau in derselben Lage befunden wie nach der Ex¬
kommunikation. Hätte ich aber die von der Regierung geforderte Erklärung
verweigert, so wäre mir mein Gehalt gesperrt worden, und ich hätte mich in
der dümmsten Lage besunden, die man sich denken kann, Märtyrer zu werden
sür eine Sache, die ich mißbilligte. Andrerseits that es mir sehr leid, daß
nun die Gemeinde um die Aussicht kam, einen Geistlichen zu erhalten. An
die Negierung schrieb ich am 30. März, daß ich, da ich uuter diesen Umständen
unmöglich auf einen Nachfolger warten könnte, nnr noch bis zum 1. Mai
dazubleiben gedächte, und bat, mir den Beamten zu bezeichnen, dem ich über¬
geben könnte. „Wäre es ein weltlicher Beamter, fügte ich bei, so würden
die beiden Kirchenvorsteher wahrscheinlich in der Mitwirkung zur Übergabe
einen Bruch ihres Amtseides sehen; da ich den beiden braven Männern die
daraus für sie entstehenden Gewissensbedrüngnisfe und möglichen Unannehm¬
lichkeiten ersparen möchte, so bitte Eine usw. ich gehorsamst, falls es zulässig
erscheint, einen Geistlichen, vielleicht den Herrn ErzPriester Aust, beauftragen
zu wollen." Der Oberprüsident trug dem Regierungspräsidenten und dieser
dem Landrat auf, mich zu sondiren, ob ich nicht lieber in Harpersdorf bleiben
wolle. Der Landrat ersuchte den Herrn von Kamptz, ihm die heikle Aufgabe
abzunehmen, und dieser sagte: Ich werde ihn geradezu fragen. Meine Antwort
fiel so aus, wie er vermutet hatte, daß ich auch dann nicht bleiben würde,
wenn mein Herz an Harpersdorf hinge, wovon das Gegenteil der Fall war.
In einem Privatschreiben an einen Herrn bei der Regierung bemerkte ich noch,
das Anerbieten, mich nach Möglichkeit zu schützen, sei ja sehr freundlich, könne
mir aber nichts nützen; denn die Regierung habe nicht die Macht, auch nur
ein einziges altes Weib, geschweige denn die ganze Gemeinde andern Sinnes
zu machen, und darauf allein komme es an; Schutz sei nicht nötig, da mir
ja niemand nach dem Leben trachte oder Schaden zufüge. Dann wurde noch
der Landrat geschickt, mich zu Protokoll zu vernehmen, wie ich es mit dem
Stelleneinkommen halten, ob ich es fortbeziehen oder darauf verzichten wolle;
eine höchst überflüssige Belästigung des Landrath, nachdem ich selbst um baldige
Wiederbesetzung der Stelle gebeten hatte; natürlich erklärte ich, daß ich vom
Tage meines Weggangs an auf keinen Pfennig mehr Anspruch machte. Die
Regierung ordnete dann an, daß ich dem Rittergutsbesitzer von Kamptz zu
übergeben hätte, und gestattete die Mitwirkung des ErzPriesters Aust; ich bat
daher diesen, am 30. April die Übergabe vorzunehmen. Er antwortete am
27., vor zwei Uhr nachmittags könne er Nichterscheinen; „doch muß ich zuvor
in Breslau aufragen, resp, mir das Kommissorium erbitten, ob und bevor ich
Herrn von Kamptz übergeben darf, im verneinenden Falle gebe ich durch einen
expressen Boten Nachricht. Mit vielen Grüßen und aufrichtiger Teilnahme usw."
Aust mußte dann melden, daß er nicht kommen dürfe. Am Übergabetage waren
daher nur der Herr von Kamptz, der Kantor und die beiden Kirchenvorsteher
gegenwärtig. Diese beiden weigerten sich zivar nicht, die Kassenschlüssel heraus¬
zugeben, enthielten sich jedoch nach der ihnen zu teil gewordnen Instruktion
jeder weitern Mitwirkung. Dem Gutsherrn wurden die Gebäude und Grund¬
stücke, das Inventar, die Registratur und die Kassen ordnungs- und vor-
schriftsgemüß übergeben, den Kirchenschlüssel aber behielt der Kantor in Ver¬
wahrung.
Abschiedsbesuche konnte ich natürlicherweise nur den wenigen Gemeinde¬
mitgliedern machen, die mich nicht in den Bann gethan hatten. Dazu gehörte
auch eine alte Tagelöhnerin in Neudorf am Gräditzberge, zwei Stunden von
Harpersdorf, eine jener sinnigen Frauen, die ein inneres religiöses Leben haben,
und die sich den Inhalt der Predigten merken. Sie gab mir zart zu ver¬
stehen, daß sie meine Handlungsweise keineswegs billige, wenn sie auch noch
in meinen Gottesdienst komme. Mit einem bedeutungsvollen Blick auf das
Kruzifix und einem andern auf mich sagte sie: Wenn man die Leiden des Herrn
annvereman,aereareuneaeoesnemas
uf der Seite der Welt zu finden sein können, die Welt aber in jedem Sinne
ar es doch, was im Kulturkampfe hervortrat. Daß meiner Ansicht nach auch
as Gottcsreich der Kirche mit sehr viel Welt versetzt sei, mochte ich der guten
rau nicht sagen. Herzbrechend war der Abschied beim Nachbar Gottlieb
rüttner, obgleich der nicht zu meiner Gemeinde gehörte. Seine Frau hielt
ie Schürze vors Gesicht und schluchzte laut. Hütte man in dieser hage-
üchnen Frau eine so tiefe Empfindung gesucht, dachte ich, und sing an, sie
u trösten. „Was nutzt das olls, stieß sie unter strömenden Thränen hervor,
enn Sie wern (werden) fort sein — do werd nimme gelüut warn (werden) —
nd wenn ma das Gleckla nimme hiert — do weeß ma gar nimme me —
enn ma vom Felde rei giehn hohl — die Aperua (Erdbirnen, Kartoffeln) zu¬
etzen." Da war ich nun in der glücklichen Lage, in die man sonst nicht
o leicht kommt, ireTränenauenblicklich trocknen zu können, da ja der
antor sein Läutamt auch ferner versehen sollte. „Is das wohr? Nu do is
chun gutt."
In der letzten Woche brachte ich die Mutter nach Landeshut. Die Tante
aß an der Maschine wie immer, klapperte weiter wie immer und sagte bloß:
ch kann dich nicht verurteilen. Der Abschied fiel der Mutter sehr schwer;
ar es doch sehr unwahrscheinlich, daß sie mich noch einmal wiedersehen würde.
nd bald darauf nahm auch der jüngste Sohn für immer Abschied. Am
ötigen hat es ihr ja nicht gefehlt in ihren letzten beiden Lebensjahren — sie
arb im Frühjahr 1877 —, da auch der andre Bruder, der Apotheker, seine
chuldigkeit that, aber daß sie keinen ihrer Söhne mehr wiedersehen sollte,
ar doch hart für sie. Am 1. Mai, es war ein Sonntag, las ich früh um
nf Uhr noch einmal die Messe in der Kapelle und fuhr dann ab. Es war
ine interessante Fahrt. Wir hatten einen schlimmen Winter hinter uns, der
is in den April gedauert hatte. Der 1. Mai begann mit einem heitern
rostmorgen; das Gefilde war mit Reif bedeckt; die Natur war noch tot. Am
ndern Tage sah ich um Bamberg ausgeschlagne Bäume, und in Erlangen,
o ich bei Otto Haßler, dem altkatholischen Pfarrer der fränkischen Gemeinden
r ist vor kurzem als christkatholischer Pfarrer von Basel gestorben), einen
ag blieb, war es ganz Frühling; in Baden dann hatte der Wonnemond schon
ine volle Pracht entfaltet. Das Ziel meiner Fahrt war Offenburg. Die
ortige altkathvlische Gemeinde hatte mich eingeladen, an Himmelfahrt Gottes¬
ienst zu halten. Sie stand noch mit einem andern Geistlichen in Unterhand¬
ng und wollte dann wählen. Die Wahl fiel auf mich.
Von den Erfahrungen, die ich als altkatholischer Geistlicher und dann als
ublizist gemacht habe, gedenke ich später einmal Rechenschaft abzulegen; dabei
ird auch das Bild der in den letzten Jahren gewonnenen konfessionslosen
Weltansicht zu ergänzen sein, daS ich in den Geschichtsphilosvphischen Gedanken
gezeichnet habe. Für diesmal will ich mit einer kurzen Darlegung meiner
Auffassung des Altkatholizismus schließen. Da ich im Jahre 1875 noch keine
ernstlichen Zweifel an den christlichen Grundwahrheiten hegte, in den katho¬
lischen Gedankenkreis eingelebt war und die Seelsvrgethätigkeit lieb hatte, so
wünschte ich mir nichts, als eine Stelle, wo man die gewohnte Thätigkeit aus¬
üben konnte, ohne mit ultramontanen Zumutungen geplagt zu werden. Dazu
wäre Gelegenheit geschaffen worden, wenn die altkatholische Bewegung zu einem
Schisma geführt, d. h. größere Volksmassen von der römischen Kirche abge¬
sprengt Hütte. In Schlesien war daran gar nicht zu denken; ich schrieb denn
auch 1875 an Reinkens, in Schlesien finde die Bewegung keinen Boden, was
er mir ein wenig übel nahm. Aber in Baden schien es den Zeitungsberichten
nach werden zu wollen; ganze Gemeinden, hieß eS, träten der Altkatholiken¬
gemeinschaft bei, viele Wärteten nur ans einen Geistlichen, um deu Schritt zu
thun, an nichts fehle es, als an Geistlichen. Und in Privatbriefen ans Baden
wurde mir bestätigt, das; die Aussichten vortrefflich seien; überall habe man
in den städtischen Vertretuugskörpern die Mehrheit. Wie es um diese Mehr¬
heiten stand, sollte ich sehr bald erfahren. Da in den Städten katholischer
Gegenden die geistig regern und die durch Besitz und Bildung einflnßreichern
Leute, namentlich die Beamten, die Rechtsanwälte, die akademisch gebildeten
Lehrer, die Ärzte, die Kaufleute, die Fabrikanten und — die Gastwirte meistens
teils Protestanten, teils liberale oder indifferente Katholiken sind, so versteht
sich ihre Mehrheit in den Stadtverordnetenversammlnngen und Gcmeinderäten,
bei denen ja durch den Wahlmodus sür das Vorherrschen von Besitz und Bil¬
dung, oder doch von Besitz, gesorgt ist, von selbst; nur in Rheinland und
Westfalen scheinen die Dinge nicht ganz so ungünstig für den Katholizismus
zu liegen. So lange zwischen den Konfessionen ein leidlicher Friede herrschte,
ließen sich die Katholiken diesen Zustand gefallen, wenn sie anch manchmal ein
wenig murrten. Als aber der Kulturkampf deu Katholizismus in seiner Existenz
zu bedrohen schien und Altkatholiken anfingen, den Nömischkathvlischen ihre
Kirchen „wegzunehmen," wurde die Sache anders. Zwar bewilligte das preußische
wie das badische Altkatholikengesetz den Altkatholiken bloß den Mitgenuß der
Kirchen, aber da den römischkathvlischen Geistlichen verboten wurde, Amtshand¬
lungen in Kirchen zu verrichten, die durch den „sakrilegischen" Gottesdienst der
neuen Ketzer „exekrirt" seien, so wurde die Mitbenutzung zum Alleinbesitz. Gelehrte
wie Neusch mochten Bände zusammenschreiben, um nachzuweisen, daß dieses
Verfahren wider das kanonische Recht sei, da sakrilcgische Messen nicht zu den
Handlungen gehörten, durch die eine Kirche exekrirt^) werde, die Bischöfe thaten,
was der Augenblick gebot, und dieser gebot ein solches Verfahren, denn da sich
die altkatholischen Geistlichen anfänglich nicht die geringste Abweichung vom
römischen Ritus gestatteten, so würden, wenn beide Parteien dieselbe Kirche
benutzt hätten, viele aus Neugier oder der bequemern Zeit wegen den alt¬
katholischen Gottesdienst besucht und sich daran gewöhnt haben; es ist ja ganz
dasselbe, würden sie sich gesagt haben. Zu diesen Gefährdungen des Katholi¬
zismus kamen die täglichen Beschimpfungen in den großen Zeitungen wie in
den kleinsten Blättchen. Natürlich ließen es die Katholiken am Wicderschimpfen
nicht fehlen, aber da sie anfänglich nur sehr wenig Organe hatten, so ver¬
mochten sie den gewaltigen Chorus der Gegner nicht zu überschreien, und dieser
wurde von den meisten Ohren im deutschen Vnterlande allein gehört. Dadurch
aber sahen sich auch solche indifferente Katholiken der gebildeten Stände, die
nicht sofort der Altkatholikengemeinschaft beigetreten waren, zur energischen
Parteinahme für eine ihnen an sich gleichgiltige und vielleicht sogar wider¬
wärtige Sache gedrängt. Wie das Schimpfen psychologisch wirkt, das war
mir schon vor 1870 an einem an sich ganz unbedeutenden Falle in Liegnitz
klar geworden. Vier Nechtsanwcilte, drei Katholiken und ein Jude, sitzen beim
Wein. Der Jude unterhält seine Kollegen mit schlechten Witzen über Papst,
Pfaffen und katholischen Aberglauben. Von den drei Katholiken weiß keiner
mehr, wie es in einer Kirche aussieht, und der angesehenste unter ihnen,
Justizrat P., ist als erklärter Freigeist bekannt. Trotzdem spricht dieser nach
einer Weile: Meine Herren, wenn ich nicht irre, sind Sie beide ebenfalls katho¬
lisch; ich sehe nicht ein, warum wir von diesem Juden unsre Konfession be¬
schimpfen lasten sollen; wenn Sie einverstanden sind, verbitten wir uns das.
Und sie waren einverstanden. Mit der Konfession ist es wie mit dem Stande;
mag man ihr auch innerlich entfremdet sein, so lange man ihr noch äußerlich
angehört, empfindet man ihre Beschimpfung als eine persönliche Beleidigung.
So schlössen sich denn in den katholischen Gegenden die ultramontanen Mehr¬
heiten der Gemeinden zu energischer Gegenwehr zusammen, und um die halb
protestantischen, halb liberal katholischen Mehrheiten in den städtischen Körper¬
schaften war es überall da geschehen, wo nicht der Zensns für Protestanten,
Altkatholiken oder Juden den Ausschlag gab.
Die Altkatholikengemeinden waren Honoratiorengesellschaften. Eine Dame
fagte mir einmal: Wenn man sich in der Kirche so umsieht — wir sind doch
eine recht gewühlte Gesellschaft. Ich erwiderte ihr, daß mir an dieser gewählten
Gesellschaft gar nichts liege, und daß mir Handwerker, Fabrikarbeiter und Tage¬
löhner lieber sein würden. Bei den paar gewöhnlichen Leuten, die zu so einer
Gemeinde gehörten, wurde einem sehr rasch klar, wie sie zu ihrer „altkatho¬
lischen Überzeugung" gekommen seien, wenn man sich nach ihren Erwerbsver¬
hältnissen erkundigte; der war Schreiber beim Rechtsanwalt A., jener Haus¬
hälter beim Kaufmann B., ein dritter hatte städtische Arbeit, und der Bürger¬
meister war altkatholisch usw. Freilich sind in Baden auch eine Anzahl
ländliche Altkatholikengemeinden entstanden. Das ist in Dörfern geschehen,
deren Oberhäupter in regem und engem Verkehr mit städtischen Autoritäten
standen. Die Bauern waren in Baden weniger widerstandsfähig als anderwärts,
weil damals der Wessenbergische Sauerteig noch nicht ganz ausgefegt war.
Also mit einem großen Schisma, in dessen Schoße man ein gemütliches
Stillleben hätte führen können, wie es die Angehörigen des kleinen holländischen
Schismas anderthalb hundert Jahre geführt hatten, war es auch in Baden
nichts. Ich sah demnach in der Altkatholikengemeinschaft nur noch einen
Notbau für Katholiken, die weder ultramoutan fein noch sich entschließen
konnten, Protestanten zu werden. Und dieses Obdach schien sehr bald durch
die „Jungen," die Stürmer und Dränger in der kleinen Gemeinschaft, gefährdet
werden zu sollen. Da der Fortgang der Sache den hochgespannter Erwar¬
tungen und kühnen Prophezeiungen nicht entsprach, so behaupteten diese Herrn,
das liege nur an der greisenhaft furchtsamen, seigen, zögernden Kompromi߬
politik der ältern Führer, namentlich der Münchner und der Bonner Pro¬
fessoren; wenn man das Volk fortreißen wolle, müsse man kühn reformiren.
Zunächst forderten sie die deutsche Messe und die Aufhebung des Zölibats.
Ich trat dieser Richtung ganz entschieden entgegen. Ich fand, daß die Bonner
Professoren schon viel zu viel reformirt hätten. Wie lag denn die Sache?
Die Altkatholiken behaupteten, sie hielten „am alten katholischen Glauben" fest,
während die „Vatikaner" von ihm abgefallen seien. Dieser Behauptung hatten
die Staatsregierungen geglaubt, und darauf hin hatten sie den Altkatholiken
den ihnen nach der Kopfzahl gebührenden Anteil am örtlichen Kirchenvermögen
und den Mitgebrauch der Kirchen zugesichert. Wenn nun aber die Reformer
aus ihrem Kirchenwesen etwas ganz andres machten, wie konnten sie da noch
die Rechte beanspruchen, die den „im alten katholischen Glauben treu ver¬
harrenden" zugesichert worden waren? Das war die juristische Seite. Nicht
minder bedenklich stand es um die ideelle. Am Katholizismus festhalten, wie
er bis zum Jahre 1870 geworden war, aber das neue Dogma als der Tra¬
dition und den alten Konzilien widersprechend zurückweisen, das mochte ein
recht beschränkter Standpunkt sein, aber es war ein wirklicher fester Boden,
auf dem ein beschränkter und eigensinniger Mensch stehen und sich halten
konnte. Folgert man dagegen: wie dieses letzte Dogma seinen Ursprung nicht
dem Geist Gottes, sondern menschlicher Gewalt, List und Selbstsucht verdankt,
so ist es auch schon mit frühern Dogmen ergangen, dann befindet man sich
eben nicht mehr auf dem katholischen Boden der Autorität und Tradition,
sondern auf dem protestantischen Standpunkte des subjektiven Urteils, und für
solche, die ans diesem Standpunkte stehen, eine neue Kirchengemeinschaft gründen
wollen, ist das überflüssigste von der Welt, da wir ja den Protestantismus
haben. Reinkens hatte dieser Richtung schon viel zu viel nachgegeben, indem
er die altkatholische Episkopalkirche des dritten Jahrhunderts, wie sie von
Cyprian beschrieben wird, als das zu verwirklichende Ideal hinstellte. Ab¬
gesehen davon, daß man ebenso leicht das römische Reich des Valerianus.
unter dem Cyprian enthauptet worden ist, wie die Kirche jener Zeit wieder¬
herstellen könnte, ist es ganz willkürlich, bei Cyprian stehen zu bleiben. Wenn
die Entwicklung der Kirche von Cyprian abwärts dem Willen Gottes und der
Idee Christi nicht entsprochen hat, warum sollte es' von Cyprian aufwärts
anders gewesen sein? Wenn der Papst und die Ohrenbeichte nicht göttliche
Einrichtungen, sondern geschichtliche Produkte sind, warum sollen der Bischof
und die Messe nicht auch geschichtliche Produkte sein? Soviel steht doch wohl
fest, daß die Apostel und ihre Schüler, die als die ersten Bischöfe angesehen
werden, weder mit Salböl zu ihrem Amte eingeweiht worden sind, noch eine
hohe spitze Mütze und einen vergoldeten Hirtenstab getragen haben.") Geht
es einmal ans Aufräumen mit dem Menschenwerk in der Kirche, dann darf
man nicht bei Cyprian halt machen; steckt doch schon das Neue Testament voll
Menschenwerk; oder giebt es einen protestantischen Universitätsprofessor in
Deutschland, der es wagen würde, die Geschichte von den Teufeln, die mit
Christi Erlaubnis in eine Herde Schweine gefahren sein sollen, für eine gött¬
liche Offenbarung zu erklären, die man zu glauben verpflichtet sei? Fängt
man erst einmal an, das göttliche Kleinod des Glaubens rein zu putzen vom
Rost menschlicher Zuthat, dann geht das Putzen so lange fort, bis dem sauberer
zuletzt — nichts mehr in der Hand bleibt. Diese Erfahrung hatte man im
Protestantismus längst gemacht, und es war wirklich überflüssig, sie noch
einmal von neuem machen zu wollen.
Indes die Reformbewegung verlief nicht so gefährlich, wie sie sich ange¬
lassen hatte. Nachdem die jüngern Geistlichen die Aufhebung des Zölibats
durchgesetzt hatten, legte sich der Neformeifer, die Verdeutschung der Messe
führte nicht zu der naheliegenden Kritik der katholischen Lehre von der Messe,
und aus der kritischen Behandlung der Kirchengeschichte, die Janus (Dvlliuger-
Huber) angebahnt hatte, und die vou einigen kleinern Geistern noch eine Zeit
lang fortgesetzt worden war, wurden weiter keine praktischen Folgerungen ge-
zogen. Man begnügt sich jetzt in den altkatholischen Gemeinden mit einem
verdünnten Katholizismus, der ebenso kritiklos genossen wird, wie der inhalt¬
reichere der alten Kirche, und ist schon froh, nur von Rom losgekommen zu
sein. Natürlich haben sich auch in diesen kleinen Gemeinden die soziologischen
Gesetze bewährt. Wie es meistens Gruppen befreundeter Familien gewesen
waren, die sich seinerzeit dem Altkatholizismus angeschlossen hatten, so haben
dann das Gemeindcleben und die gesellschaftliche Absonderung von den römisch¬
katholischen Mitbürgern die Gemeindeglieder noch näher mit einander verbunden;
Gemeindefamilienabende, Vortragsabende und Vereine sorgen für einen leb¬
haften und zum Teil recht herzlichen Verkehr. Aber die Aussicht, daß die
deutsche Altkatholikengemeinschaft das Jahr 2000 erleben konnte, ist sehr gering.
Eine kleine zerstreute Religionsgemeinschaft wird mit der Zeit von den großen
Gemeinschaften, in deren Schoße sie lebt, aufgesogen. Da sich die Zahl der
Altkatholiken zur Bevölkerung Deutschlands wie 1 : 1000 verhält, so beträgt
die Wahrscheinlichkeit für altkatholische junge Leute, ein Ehegespons derselben
Konfession zu erhalten, nur eiutausendstel, in gemischten Ehen aber werden die
Kinder, wie man sich denken kann, meistens in der Konfession des andern
Gatten, also evangelisch oder römisch-katholisch erzogen. Nur solche kleine
Kirchengemeinschaften (von Nationalitüten und Sprachgemeinschaften gilt das¬
selbe) können sich halten, deren Mitglieder auf einem Haufen beisammen wohnen
(dieses Vorteils erfreuen sich die Altkatholiken nur in einigen Gegenden Badens,
wo denn auch ungemischte altkatholische Ehen vorkommen), oder die sich, wenn
sie zerstreut wohnen, durch auffällige Eigentümlichkeiten von ihrer Umgebung
absondern. Die Altkatholiken Pflegen es sehr übel zu nehmen, wenn sie eine
Sekte genannt werden. Allerdings sind sie das nicht, aber um ihre Zukunft
würde es besser bestellt sein, wenn sie eine wären, wenn sie sich entweder durch
einen fanatisch sestgehaltnen absonderlichen Glaubenssatz, oder durch auffällige
Gebräuche oder Kleidung von ihrer Umgebung absonderten und auf Heiraten
mit Glaubensgenossen angewiesen wären, denn nur dadurch könnte dem Auf¬
saugungsprozeß vorgebeugt werden.
Auch sieht es uicht darnach aus, als ob der kleinen Gemeinschaft in ihrem
kurzen Leben noch die Lösung großer Aufgaben zufallen sollte, von denen einige
ihrer Mitglieder und wohlmeinende protestantische Freunde immer noch zu
träumen scheinen. Die altkathvlische Gelehrsamkeit, deren bedeutendste Ver¬
treter außer Döllinger Neusch und Langen sind, hat die theologische Wissen¬
schaft, namentlich die Kirchengeschichte, mit einer Anzahl wertvoller Spezial-
forschungen bereichert, aber einen neuen, epochemachenden Gedanken nicht zu
Tage gefördert, und von den Epigonen ist, seitdem die Führer teils tot, teils
dem Tode nahe sind, nichts mehr zu erwarten. Der kirchlichen Gührung unsrer
Zeit eine Bahn gewiesen und im Dunkel der theologisch-philosophischen Wirrnisse
ein Licht aufgesteckt zu haben, kann sich der Altkatholizismus auch nicht rühmen;
im Gegenteil würde er, wenn er größere Erfolge gehabt hätte, die Verwirrung
nicht unwesentlich vermehrt haben, denn er enthält einen ganzen Knäuel von
Widersprüchen, Er proklamirt den Grundsatz der freien Forschung und beruft
sich zugleich auf die alten Konzilien. Er legt den einen Konzilien größere,
den andern geringere Autorität bei, obgleich man weiß, daß es auf allen Kon¬
zilien, auch auf den allerältesten, sehr menschlich zugegangen ist. Seine her¬
vorragendsten Laienmitglieder sind größtenteils politisch Liberale, die, als das
Wort noch Mode war, den Fortschritt auf ihre Fahne geschrieben hatten, die
Daseinsberechtigung ihres Kirchenwesens aber gründen sie auf die unbefugten
Neuerungen, die der Papst eingeführt habe, während nach dem alten kirchlichen
Grundsatze in Glanben und Kirchenverfassung nichts geändert werden dürfe.
Freunde des Fortschritts gegen päpstliche Neuerungssucht Protestiren zu sehen,
ist ein mehr peinliches, als erhebendes Schauspiel. Wenn die heutige Zeit,
wie im Staate, so auch in der Kirche eine straffere Zentralisirung zu fordern
schien, so konnte ein gläubiger Katholik vom Gesichtspunkte eines vernunft¬
gemäßen Fortschritts aus gegen die vatikanischen Dekrete gar nichts einzuwenden
haben. Einwendungen waren allerdings berechtigt, aber nur nicht in der Form:
der Papst macht eine neue Kirche, wir wollen die Alten bleiben. Zunächst
mußte die ultramontane Bewegung allen weltlich Gesinnten höchst widerwärtig
sein; wer gar nicht oder so wenig wie möglich mit religiösen Dingen belästigt
werden will, dem sind natürlich Mönchskutten, neue Andachten, Papstbilder in
allen Schaufenstern, Prozessionen, kirchliche Ansprüche an den Staat und was
die kirchliche Reaktion des neunzehnten Jahrhunderts sonst noch mit sich bringt,
ein Greuel, und mag er seine Abneigung so stark aussprechen, wie er will,
ich nehme es ihm nicht übel, nur soll er sich nicht einbilden, daß er ernst
genommen werden wird, wenn er seiner Gegeuagitation den Mantel der Glaubens-
treue umhängt. Tief religiöse Gemüter waren mit Recht schon darum ent¬
rüstet über die weitere Erhöhung der päpstlichen Gewalt, weil der Papst, der
sie anstrebte, ein bigotter Mann war, der allen Aberglauben und eine in
Äußerlichkeiten aufgehende Frömmigkeit schützte und förderte. Aber auch diese
hatten ihren Protest nicht gegen die Neuerung an sich zu richten, sondern
dagegen, daß nicht im rechten Sinne geneuert werde; sowohl die Überspannung
der Papstgewalt wie der Aberglaube waren beides recht alte Übel. Wenn
endlich ein Kirchenpolitikus gefunden hätte, daß der Kirche, damit sie sich der
Gegner besser erwehren könne, eine Verstärkung der Zentralgewalt notthuc,
so hätte er zwar, wie gesagt, gegen die Lehre vom Universalepiskopat und
vom päpstlichen Stuhle als der höchsten Instanz in Glaubenssachen nichts
einwenden dürfen; wenn er aber im übrigen ein gewissenhafter Mann war, so
mußte er sich gegen die Form dieser Verfassungsänderung oder, wenn man
will, dieser Kodifizirung einer thatsächlich schon bestehenden Verfassung sträuben.
Daß solche Änderungen, die ja nützlich und nötig sein können, mit Schrift-
Worten begründet und in Form von Dogmen verkündigt werden, die man um
der ewigen Seligkeit willen zu glauben habe, das ist für einen klar sehenden
und dabei einigermaßen feinfühligen Mann unerträglich. Aber freilich, bei
längerer Beschäftigung mit den kirchlichen Dingen bemerkt man wohl, daß es
sich mit vielen andern Dogmen nicht anders verhält. Und so zieht man denn,
wenn man folgerichtig denkt, den Schluß, nicht daß eine neue Kirchengemein¬
schaft zu gründen sei, sondern daß man sich von allen kirchlichen Streitigkeiten
zurückzuziehen habe.
Nicht wenige haben den Altkatholizismus, wie vordem schon den Deutsch¬
katholizismus, als Vorstufe zur Gründung einer deutschen Nationalkirche be¬
grüßt. Eine Zeit lang gestehe ich selbst diesem Trugbilde nachgejagt zu sein.
Ihm schließlich den Rücken zu kehren, bewog mich nicht allein die geringe
Ausdehnung der Bewegung, bei der an einen Einfluß auf die Geschicke des
deutschen Volkes gar uicht zu denken ist, sondern auch ein andrer, viel wich¬
tigerer und viel tieferer Grund. Nachdem der betäubende und berauschende
patriotische Lärm der siebziger Jahre verklungen war, besann ich mich wieder dar¬
auf, daß ja die Idee der Nationalkirchen durch und durch unchristlich, unbiblisch
sei. Das gehört ja eben zum Wesen der christlichen Idee, daß die Scheidewand
zwischen den Völkern, sofern sie Christen sind, aufgehoben sein soll, und daß
es in Christo weder Juden noch Griechen giebt, sondern daß sie alle eins
sind in ihm. Nationalkirchen wie die spanische, die russische, die abessynische
können nnter Umständen recht nützlich sein und sind, wo sie bestehen, ohne
Zweifel unvermeidliche geschichtliche Produkte gewesen, aber im Namen Christi
darf sie der denkende Geist nicht fordern. Auch wenn man das Neue Testament
nicht mehr im orthodoxen Sinne für eine göttliche Offenbarung hält, ist es
doch etwas so erhabnes, daß die Ehrfurcht vor ihm abhalten sollte, in seinem
Namen eine Forderung zu erheben, die offenbar schnurstracks wider seinen Geist
und sogar wider seinen Buchstaben geht.
So bin ich denn bei der Auffassung der Altkatholikengemeinschaft als einer
Nothüttc stehen geblieben, benutze das Obdach, das sie mir gewährt, noch heute,
und gedenke es nicht zu verlassen. Ich schätze das Christentum zu hoch, als
daß ich ihn: durch förmliche Trennung vom Leibe der Christenheit Verachtung
bezeugen sollte, und da ich mit meinen Überzeugungen in der römisch-katho¬
lischen Kirche nicht geduldet werden könnte, unter den evangelischen Kirchen
aber keine finde, zu der ich mich hingezogen fühlte, fo liegt für einen noch¬
maligen Konfessionswechsel kein Grund vor. selbständig denkende Männer
haben, wenn sie nicht frivol sind, in den Kirchen wie den Kirchen gegenüber
immer einen schweren Stand. Man kann selbständig zu denken gewöhnt sein,
ohne ein großer Gelehrter oder ein epochemachender Philosoph zu sein, daher
braucht es nicht als Anmaßung ausgelegt zu werden, wenn ich mich auf
Leibniz berufe. Ihn hatte der Landgraf Ernst von Hessen-Nheinfels (ihr Brief-
Wechsel ist von Chr. von Rommel herausgegeben worden, Frankfurt, 1847)
einmal gefragt, warum er der katholischen Kirche, deren Glauben seiner innern
Überzeugung entspreche, nicht auch äußerlich beitrete. Leibniz antwortete: „Es
kann kommen, daß in der Kirche, so untrüglich sie in den zur Seligkeit not¬
wendigen Glaubensartikeln ist, einige andre Irrtümer oder Mißbräuche in die
Seelen sich einschleichen, und indem man von denen, die ihr anzugehören
wünschen möchten, die aber den Beweis des Gegenteils jener Irrtümer zu haben
glauben, die Annahme eben dieser Irrtümer fordert, versetzt man sie in die
Unmöglichkeit, in der äußern Gemeinschaft zu sein, so lange sie aufrichtig sein
wollen." Er sührt dann einige Fälle ans frühern Zeiten an und bekennt von
sich, daß er einige philosophische Ansichten hege, die von der herrschenden
Theologie verworfen würden, obwohl sie seiner Überzeugung nach weder der
Schrift, noch der Tradition, noch den Beschlüssen der Konzilien widersprachen.
Diese seine Ansichten verschweigen, das gehe nicht an; da müßte er auf das
verzichten, was er für seine Lebensaufgabe ansehe. „Wäre ich in der römischen
Kirche geboren, so würde ich nur dann auftreten, wenn man mich ausschlösse
und mir auf die Weigerung, gewisse herkömmliche Meinungen zu unterschreiben,
die Gemeinschaft versagte. Jetzt aber, da ich außerhalb der Gemeinschaft Roms
geboren und erzogen bin, wird es weder aufrichtig noch sicher sein, sich zum
Eintritt zu melden, wenn man weiß, daß man vielleicht nicht aufgenommen
würde, wenn man fein Herz entdeckte. Man würde eine ausdrückliche Bei¬
stimmung zu Dingen verlangen, die mir mißfallen. Solch ein Eintretender
müßte stets seine Gedanken verbergen, oder sich dem Spruch aussetzen: turxiu8
sjioiwr W-un ron aämiltiwr llosxss." Was von dem gebornen Protestanten
gilt, das gilt in noch höherm Grade von dem „abtrünnigen" Katholiken, und
doppelt, wenn er katholischer Priester gewesen ist. Hat er sich gar der Publi¬
zistik gewidmet, so kann er ja nicht eine Woche leben, ohne sein Herz auf¬
zudecken.
„f einmal war es wieder Frühling geworden, Grus Rvssiug ging
in dein grünenden Buchenwalde spazieren und horte uns den Schlag
der Nachtigall. Er ärgerte sich halb und halb über die süßen
Laute, die ihn von Buche zu Buche verfolgten, und baun stand er
doch wieder still und horchte auf sie.
Rössing hatte leinen sehr guten Winter gehabt, trotz der Riviera
und der musikalischen Italiener. Das Podagra hatte ihn gequält, und sein Sohn, der
eben zur Universität gegangen war, hatte die Weihnachtsferien benutzt, um mit einer
niedlichen Tänzerin auf Reisen zu gehen. Das war gewiß recht unterhaltend für
den jungen Mann gewesen, der Vater aber mußte den Beutel ziehen und fluchte.
Er war so mißmutig geworden, daß er, obgleich er schon vierzehn Tage heimgekehrt
war, die Baronin erst ein einziges mal besucht hatte. Da hatte er sie sehr heiter
vor ihrer Staffelei getroffen, den Kopf voller Pläne und dabei sehr entzückt von
einem neuen Roman, den ihr eine Bekannte geschickt hatte. Über des Grafen
Rückkehr freute sie sich sehr, aber nicht so, wie er es im Stillen noch immer ge¬
hofft hatte. Er hatte nach Neumnuu und der Zehleneck gefragt. Sie wußte von
beiden nichts, entsann sich aber dann doch, daß Herr Neumann in vielen Familien
der Stadt Verkehren sollte. Sie ging noch nicht wieder in Gesellschaft und schien
es auch nicht zu entbehren.
Nössing mußte heute viel an sie denken, obgleich er sich vorgenommen hatte,
es nicht zu thu». Sie war doch sehr einsam, wenn sie auch nicht darüber klagte,
und diesem Neumnuu, diesem Spitzbuben, der es gewagt hatte, sie zu beleidigen,
dem ging es gut, viel besser als ander» Leuten ! Als der Graf bei diesem Ge¬
danken angelangt war, befand er sich mitten im Walde vor einem kleinen Buchcn-
unterholz, in das ein schmaler Pfad hineinführte. Er schlug thu ein und sah
erst wieder um sich, als er an einer Lichtung stand. Hier war eine Bank unter
mehreren hochragenden Buchen, und auf dieser Bau! saßen Neumann und Fran
von Zehleneck. Ob sie sich zärtlich umschlungen hielten, konnte der Graf zu seinem
Bedauern nicht sehen, obgleich er sich eine Lorgnette vor die Augen hielt, aber er
nahm es sofort an. Einen Augenblick stand er regungslos und hörte auf Amelie
Zehlenecks Lachen. Es klang triumphirend durch den stillen Wald, und die Nachti¬
gallen schienen zu erschrecken und schwiegen still. Dann aber saugen sie weiter,
und auch der Graf wandte sich leise ab. Niemand hatte ihn bemerkt, und als ihn
wieder das Waldesdunkel umfing, konnte er seinem Zorn nach Beliebe» Luft mache»,
wen» er welche» empfand. Aber er sagte kein Wort. Langsam und mit gefurchter
Stirn wanderte er weiter. Erst nach einer Stunde kehrte er um und ging der
Stadt wieder zu, und als er jetzt zum zweitenmale an den: Unterholz vorüberkam,
trat Neumann gerade heraus. Er schien etwas zu erröten, grüßte aber mit großer
Liebenswürdigkeit, fragte nach Rössiugs Befinden und schloß sich ihm ohne weiteres
an. Dabei hatte er etwas siegesbewußtes im Auftreten, was den Grafen um so
»lehr ärgerte, als er früher bescheiden gewesen war.
Sie sollte» doch bald einmal nach Fresenhagen kommen, Herr Graf, sagte er
während des Gesprächs. Ich baue jetzt, und es wird sehr hübsch dort.
An Fresenhagen knüpft sich für mich gerade keine angenehme Eri»ner»»g, er-
erwiderte Rössing etwas scharf.
Neuman» zuckte die Achseln und veränderte ein wenig die Farbe. Nun ja,
daß Herr vo» Ravenstein bei nur sterben mußte, war traurig, sehr traurig. Kein
Mensch beklagt es mehr, als ich. Aber sterben müssen wir doch alle einmal, und
der alte Herr hatte doch schließlich sein Lebe» ausgelebt!
Er hatte mit höflicher Gleichgültigkeit gesprochen, und der Graf, der sich auch-
manchmal alt und nutzlos vorkam, sah ihn mit einem böse» Blick von der Seite a».
Wenn er einmal tot wäre, würde Neumann ähnlich über ihn spreche», dachte er.
Kannten Sie nicht Fran von Ravenstein von früher her? fragte er nach
einer Weile.
Neumann stutzte, dann begann er etwas zu stottern. Gewiß — gewiß! Sie
war ja sozusagen meine erste Liebe. Na, aber die erste Liebe — er stockte und
wischte sich über die Stirn. Die erste Liebe —, wiederholte er noch einmal, die
hat ja meistens keinen Bestand!
Es fiel ihm noch ein andrer Satz ein, den er über die erste Liebe sagen
wollte, aber Rössing kehrte ihm ohne Gruß den Rücken, und Neumann sah ihm
mit unbehaglichen Gefühlen nach.
Als der Graf an diesem Nachmittage die Weinstube betrat, war sie, wegen
des schönen Wetters, fast leer. Nur in einer Fensternische saß der dicke Bürger¬
meister und brütete über einem Brief, den er fortwährend hin und her wandte.
Rössing beachtete das Stadtvberhanpt nicht weiter. Seitdem die Bürgermeister
nicht mehr studirte Leute zu sein brauchten, verachtete er sie alle. Der Bürger¬
meister gehörte eigentlich gar nicht an seinen Stammtisch; nur gelegentlich, wenn er
etwas ganz neues wußte, durste er dort sitzen. Heute aber schien er nichts zu
wissen und hatte sich deshalb sofort ans Fenster gesetzt.
Der Graf trank langsam sein Glas Portwein und griff nach der Zeitung,
aber er hatte keine Lust zu lesen, daher setzte er sich plötzlich zum Bürgermeister.
Nun, Stadtväterchen, haben Sie einen Liebesbrief bekommen, daß Sie ihn
so oft lesen müssen?
Das nicht, Herr Graf! erwiderte der Gefragte, den Brief vorsichtig glättend.
Ich glaube nur, daß er französisch ist, und es ist schon so lange her, daß ich das
in der Schule gelernt habe. Nun wollte ich eigentlich einen der Herren hier
fragen, ob sie mir nicht ein wenig bei der Übersetzung helfen wollten. Alles kann
ich wirklich uicht verstehen!
Da der Bürgermeister ein ehemaliger Gutsverwalter war, so war seine Un¬
kenntnis der fremde» Sprachen verzeihlich, und Rössing nahm ihm ohne.weiteres den
Brief aus der Hand.
Er ist ja englisch geschrieben, bemerkte er nach einem flüchtigen Blick in
dus Schreiben.
So, englisch, sagte der Bürgermeister. Früher konnte ich es sehr gut, jetzt
bin ich etwas ans der Übung.
Rössing hörte nicht ans ihn. Er hatte das Schreiben überflogen und faltete
es lnugsain wieder zusammen.
Der Brief ist von dem amerikanischen Generalkonsulat in Hamburg, das
will von Ihnen erfahren, ob hier in der Nähe oder in der Stadt ein gewisser
Fritz Neumann lebt, der früher in Nebrasta, in Sandy Blnffs gewohnt hat.
Wissen Sie, ob Herr Neumann ans Fresenhagen einmal in Nebrasta gewesen ist?
Der Bürgermeister schüttelte den Kopf. Er machte ein ehrerbietiges Gesicht,
denn der reiche Herr Neumann flößte ihm Hochachtung ein. Nein, ich weiß es
nicht und habe auch nie etwas darüber gehört, sagte er. Das heißt — er besann
sich plötzlich — es ist schon einmal ein Brief an mich gekommen. Der war Wohl
auch englisch, aber sehr schlecht geschrieben. Wir konnten ihn nicht entziffern, weder
mein Sekretär noch ich. Der Schreiber nahm nachher noch die Briefmarke, weil
es eine amerikanische war, und der Brief wanderte in den Papierkorb. Wir hielten
die Sache für eine Bettelei, denn die jungen Leute sagten, der Brief wäre wohl
von einer Frau geschrieben.
Der Graf hatte scharf zugehört, nun trank er seinen Wein ans, bestellte sich
noch ein Glas und steckte das Schreibe» des Konsulats in die Tasche. Beautworte»
Sie diesen Brief noch nicht, sagte er. Ich muß doch in diesen Tagen Geschäfte
halber nach Hamburg und kann mich einmal beim Konsulat erkundigen, was die
Sache eigentlich bedeutet. Ihre Antwort kommt noch immer früh genug.
Gewiß thut sie das! — Der Bürgermeister beantwortete deutsche Briefe nicht
sehr eilig, fremdsprachige mußten noch ganz anders warten, wenn sie überhaupt er¬
ledigt wurden, und bei diesem Schreiben hoffte der Bürgermeister, der Graf würde
mich die Antwort, übernehmen. Man plauderte noch el» Weilchen zusammen, dann
trat der Graf laugsam den Heimweg an. Er war etwas heiterer gestimmt als
Porher, deshalb ging er noch einen Augenblick bei seiner Kousine, der Komtesse
Jsidore, Por, die bei ihrem Thee saß und dabei Patience legte. Sie war sehr
zufrieden, denn schon zum drittenmale war alles gut ausgegangen.
Gut, daß du kommst, Wally! rief sie ihrem Vetter entgegen. Dn sollst hente
in acht Tagen bei mir zu Abend essen. Ich gebe eine größere Gesellschaft: drei¬
zehn Personen. Du weißt, ich nehme immer dreizehn Personen, weil ich die gerade
setzen kann. Einer sagt ja auch meistens ab, und wenn nicht, dann schadet es nichts;
ich bin nie abergläubisch gewesen, und dreizehn Personen haben sich immer gut bei
mir amüsirt.
Wer kommt denn? fragte Nössing.
Die Komtesse nannte einige Namen. Amelie Zehleneck und Neumann muß ich
übrigens auch einladen, setzte sie etwas kleinlaut hinzu. Gegen Neumann hast du
natürlich nichts einzuwenden — er ist still und reich, das sind Eigenschaften,
gegen die kein Mensch etwas sagen kann. Aber Amelie — die alte Dame hustete
etwas — ich mußte sie wirklich einmal nehmen, weil sie doch durch ihren Vetter
Bodo halb und halb mit mir verwandt ist. Du sollst auch nicht bei ihr sitzen.
Ich werde wohl nicht kommen, murrte Rössiug.
Aber Wally, ich habe nenn Damen und Pier Herren, dn mußt kommen! Was
thut es eigentlich, daß Amelie —
Meine erste Liebe war? ergänzte der Graf wieder heiter. Nein, es thut auch
nichts. Wenn ich hier bin, erscheine ich, sonst aber darfst dn nicht böse sein, wenn
der Dreizehnte ausbleibt.
Er ging und nickte nur noch flüchtig, als ihm die Konsine nachrief, daß er
nicht zu spät kommen folle, da sie einen Fischauflauf geben wolle, der das Warte»
uicht vertragen könne.
Sind Sie Donnerstag bei Jsidore? fragte er andern Tags die Baronin,
die er eigentlich noch lange nicht hatte wieder besuchen wollen; jetzt saß er doch
neben ihr, weil er sie doch fragen mußte, ob er ihr in Hamburg etwas be¬
sorgen könne.
Sie schüttelte den Kopf. Ich bin nicht eingeladen.
Neumann ist dort und Amelie. Man ladet sie schon zusammen ein, es wird
also wohl bald eine Verlobung geben.
Wirklich? Fran von Ravenstein, die an ihrer Staffelei saß, mischte einige
Farben und sah träumerisch auf ihre halbfertige, etwas unwahrscheinlich aussehende
Landschaft.
Freuen Sie sich darüber, oder wundern Sie sich? fragte Rössing, der sie ge¬
spannt beobachtet hatte.
Keins von beiden! erwiderte sie ruhig. Vielleicht werden sie glücklich mit
einander.
Meine erste Liebe und Ihre erste Liebe! spottete er.
Sie lachte. Sie siud eifersüchtig, Wally. Mir scheint doch, daß Sie Neu¬
mann beneiden.
Nein, versetzte er kurz. Wenn mir einer von beiden Teilnahme einflößt, dann
ist es nicht er — ich habe sogar ein Gefühl — er stand Plötzlich auf. Haben Sie
etwas in Hamburg zu besorgen? fragte er leichtern Tones. Ich habe dort eine
Zusammenkunft mit meinem Bruder und werde wohl einige Tage fort sein.
Aber die Baronin hatte nichts zu besorgen, wie sie lachend versicherte. Er
sah sie argwöhnisch an und ging mit verdrießlichem Gesicht davon. Sie aber hatte
nur gelacht, weil sie augenblicklich gar kein Geld hatte, um etwaige Besorgungen
damit zu bezahlen. Sie hatte gerade diesen Morgen ihr letztes Markstück einem
Bettler gegeben, und aus Frankfurt, wohin sie ihr letztes Porzellan geschickt hatte,
war noch keine Antwort gekommen.
Als Rössiug aus Hamburg zurückkehrte, war es gerade Donnerstag, also der
Tag, wo er bei seiner Kvnsine essen sollte. Aber er hatte keine Lust, hin¬
zugehen. Erstens hatte er sich in Hamburg mit seinein Bruder gezankt, was ihn
nachträglich noch verstimmte, und dann war noch ein andrer Grund, der es ihm
geraten erscheinen ließ, den Abend nicht in die Gesellschaft zu gehen. Er schrieb
eine Absage und bekam sofort einen sehr aufgeregten Brief von der Komtesse, daß
er sie nicht im Stich lassen dürfe. Drei Gäste hatten noch kurz vorher abgesagt,
darunter ein Herr; Rössiug mußte kommen.
Komtesse Jsidvre hatte in ihren Briefen öfters eine gewisse beschwörende Art,
die ihre Wirkung selten verfehlte. Wenn man nicht that, was sie wollte, dann
rief sie das Gedächtnis verschiedner Verstorbnen an, die doch ganz gewiß auf ihrer
Seite gewesen wären. An Rössiug schrieb sie, sein guter Vater würde sich im Himmel
darüber wundern, daß sein Sohn so ungefällig wäre, und sie erreichte dem, auch
mit diesen Worten, daß der Sohn mit einem sehr mürrischen Gesicht bei ihr
erschien.
Es war schon spät. Die Gesellschaft war vollzählig zusammen, und die Köchin
stand schluchzend in der Küche vor dem zusammengefaltenen Fischauflnnf. Die
Komtesse, die vou dem Schicksal des Vorgerichts schou durch verschiedne drohende
Botschaften unterrichtet worden war, faßte hastig ihres Vetters Arm, um sich von
ihm zu Tische führen zu lassen, und Nössing hatte erst Gelegenheit, die andern
Gäste zu begrüßen, als sich alles gesetzt hatte. Steif verbeugte er sich nach allen
Senem vor den Stiftsdamen, die aus dem benachbarten Fräuleinkloster gekommen
waren, vor dem kleinen Leutnant, der mit einer kaum erwachsene» Tischdame das
junge Element in dieser soliden Gesellschaft bildete, und vor Fran von Zehleueck
und Neumann, die ihm gegenüber saßen und sehr strahlend aussahen.
Amelie hatte eine neue Haarfrisur, die ihr einen sehr jugendlichen Anstrich gab
und Neumann betrachtete sie mit einem ganz verliebten Ausdruck. Er hatte den
steifen Gruß des Grase» mit derselben Steifheit erwidert; da er jetzt ziemlich festen
Fuß in der Gesellschaft gefaßt hatte, so fand er es nicht notwendig, gegen Nössing
besonders artig zu sein. In den Wochen seines Verkehrs mit Frau vou Zehleneck
hatte er sich schon ein festeres Auftreten angewöhnt, konnte auch schon etwas durch
die Nase sprechen, was ihm vornehm erschien. Heute Abend nnterhie.le er sich be¬
sonders gut mit seiner neuen Freundin, und wie er in dem hübschen kleinen E߬
zimmer der Komtesse Jsidore an ihrer Seite saß, kam ein wunderbares Gefühl des
Behagens und Geborgenseins über ihn, ein Gefühl, das sich auch in seinen Zügen
ausprägte, denn Jsidore flüsterte ihrem Vetter zu: Der gute Herr Neumann sieht
wirklich gar nicht schlecht aus. Zuerst fand ich ihn häßlich.
Nun, schön ist auch etwas andres, erwiderte Rössiug verdrießlich.
Jsidvre schlug ihn ans die Hand. Schönheit vergeht, lieber Wally, und ich
wünschte, deine schlechte Laune verginge anch! Es ist doch sonderbar, setzte sie klagend
hinzu, wenn Nur nicht dreizehn sind, dann habe ich immer das Gefühl, es müsse
etwas schreckliches Passiren, oder die Leute nmüsirten sich nicht bei mir. Das ist
eigentlich noch schrecklicher. Wally, sei brav! Wie war dein alter Vater immer
reizend!
Der Graf mußte lachen, dann wandte er sich an seine Nachbarin zur
Linken, eine Klosterdnme, und sprach eifrig mit ihr, wahrend Komtesse Jsidore hier
und dort ein Wort einschaltete. Das Fischgericht schmeckte gut, trotz seiner einge-
snnknen Form, und der Rheinwein dazu belebte die Geister. Die Unterhnltnng
wurde allgemein, die beiden Klosterdamen, auf die der Graf einredete, sprachen
schon nicht mehr von ihrem Pastoren, mit dem sie sonst jede Unterhaltung ein¬
leiteten, sondern erzählten von einem Ballfest, das ihre „Priorin" geben wollte, und
Neumann und Frau von Zehleneck drückten sich unter dem Tisch verstohlen die Hände,
während der kleine Leutnant seiner Tischdame einige zarte Andeutungen über das
Mädchen machte, das er sich dereinst als Lebensgefährtin wünschte.
Nach dem Fischgericht kamen die Schnepfen, ein andrer Wein und mit ihm
die Pause, von der man sagt, das; ein Engel durchs Zimmer fliege.
Wie geht es eigentlich Ada Ravenstein? fragte eine der Klosterdame» über
den Tisch, ins allgemeine hinüber.
Sehr gut, gab Komtesse Jsidore halb zerstrent zur Antwort. Sie geht noch
nicht ans, sonst würde ich sie eingeladen haben. Aber, bitte, liebe Baronesse, Sie
nehmen ja fast gnr nichts!
Ja, die arme, arme Ada! sagte Frau von Zehleueck in klagenden! Tone
,zu der Fragerin gewandt. Sie soll fast alle ihre Sachen verkauft haben. Schreck¬
lich, nicht wahr?
Aber sie lachte bei dieser Frage und sah Neumann kokett vou der Seite an.
Dieser hatte schon ziemlich viel getrunken, sonst würde er sich Wohl nicht an
der Unterhnltuug beteiligt haben. Nun lachte er ziemlich laut, lehnte sich in seinen
Stuhl .zurück und erwiderte in seinem angenommnen näselnder Ton: Schrecklich,
wirklich schrecklich! Was macht man zuletzt mit diesen vornehmen Herrschaften, die
nichts mehr haben? Kommen sie ins Armenhaus, oder was wird mit ihnen?
Seine Frage klang gesucht unangenehm, und obgleich Frau von Zehleneck
lachte und einige lustige Worte erwiderte, wurden doch die andern alle still. Die
Klosterdamen richteten sich sehr steif in die Höhe, und selbst Komtesse Jsidore, die
durch ihre Pflichten als Wirtin sehr in Auspruch genommen war, blickte unwillig
zu dem Sprecher hinüber.
Haben Sie auch alles, Herr Neumnuu? rief sie. Bitte, essen Sie doch und
vergessen Sie den Nanenthaler nicht! — Es klang, als wollte sie ihrem Gast den
Mund stopfen.
Herr Neumann mag deinen Wein wahrscheinlich nicht, sagte Graf Nössing
Plötzlich mit scharfer Stimme. Er ist in Amerika gewohnt gewesen, Petroleum mil
Whisky vermischt zu trinken. Oder war es Whisky mit Petroleum?
Die kleine Gesellschaft wurde totenstill. Nur Herr Neumann stotterte einige
Worte, aber kein Mensch verstand sie.
Ein famoses Land, dieser Westen von Amerika! fuhr Graf Nössing fort. Ich
war eben in Hamburg und habe mich mil dem amerikanischen Konsul über mancherlei
unterhalten, das mich sehr interessirte. Ein sehr netter Herr und sehr unterrichtet. Er
kannte Sie übrigens mich, Herr Neumann, und ist auch einmal in Ihrer Schnapsschänke
in Sandy Blnffs in Nebrasla gewesen, der Sie jahrelang mit so viel Erfolg
vorgestanden haben. Damals waren Sie aber nicht zu Hanse; Herr Reed meinte,
Sie wären wohl gerade im Gefängnis gewesen, wo Sie ja einigemal waren, weil
Sie zuviel Petroleum i» den Schnaps gegossen hatten. Das mochten die Leute
selbst dort nicht nud hatten nicht übel Lust, Sie zu leeren und zu febern!
Um Gottes Willen! Komtesse Jsidore wurde ganz fassungslos. Dn erzählst
schreckliche Geschichten, Wally! Laß doch die Schnepfen noch einmal herum geheim
Der Graf gehorchte. Sie sind ausgezeichnet, sagte er dabei. Bitte, Herr
Neumnnn, nehmen Sie doch auch noch ein Stück! Unsre Schnepfen sind besser
als die amerikanischen, obgleich das Leben dort allerdings viel abwechslungsreicher
ist. Es muß sehr interessant sein, nicht allein die Bekanntschaft des Volkscharakters
in ausgiebigster Weise zu machen, während man den Leuten Branntwein verkauft,
souderu auch in nahe Berührung mit den Gefängnis- und Zuchthansantvritätcn zu
kommen. Herr Need erzählte, Sie wären auch im Zuchthaus gewesen, Herr Neumann,
weil Sie mit einigen Banlränbern gemeinsame Sache gemacht hätten. Aber Sie
hätten den Znchthausdirektor bestochen und wären bald wieder herausgekommen.
Neumann war kreideweis; geworden, und seine Lippen zitterten.
Das ist ein — ein Mißverständnis! brachte er endlich mühsam heraus, während
die übrige Tischgesellschaft anfing, leise mit einander zu flüstern.
Ein Mißverständnis? wiederholte der Graf. Er hatte sich ein Glas Wein
eingeschenkt nud nippte jetzt leise darau. Nun, das mag sein. Die Leute lügen
heutzutage jn alle. Vielleicht auch die Dame, die sich Frau Sally Neumann nennt
und schon mehrere Briefe an Herrn Rced in Hamburg geschrieben hat, weil ihr
Mann nach Deutschland gegangen sei und nichts wieder von sich habe hören lassen.
Die Briefe sollen nicht gerade sehr orthographisch geschrieben sein; Iran Neumann
scheint früher Sängerin bei einem hernmzieheiiden Theater gewesen zu sein, wie man
aus einige» Andeutungen schließen kann, aber —
Frau von Zehleueck hatte bis dahin regungslos und wie erstarrt dagesessen.
Jetzt fuhr sie auf, und ihre Augen sprühte». Sie faßte Neumnun um Arm.
Neumann, weshalb schweigen Sie zu diesen uuerhvrteii Behauptungen? So
sprechen Sie doch, so fordern Sie ihn doch, den — den —
Wollen Sie vielleicht Verleumder sagen? fragte Graf Nössing lächelnd. Er
nahm: wieder eine» Schluck Wem.
Der Wein ist wirklich sehr gut, liebe Jsidore, kannst du mir vielleicht einige
Flaschen davon überlassen? Es kann ja sein, Iran von Zehleueck, daß Frau Sally
Nenmaim auf diese» Name» keinen Anspruch hat, ihren Trauschein hat Herr
Reed nicht gesehen. Aber da sie beschlösse» hat, ihre» Gatten selbst in Deutschland
aufzusuchen, so werden nur uns vielleicht später von der Wahrheit ihrer Angaben
überzeugen könne», wenn nicht Herr Neumann die Freundlichkeit hat, uns über
diesen interessanten Fall aufzuklären.
,f)err Neumann, nehmen Sie doch noch ein Stück Schnepfe! jammerte Kom¬
tesse Jsidore, die die Worte des Grafen kaum noch verstanden hatte und mit Ent¬
setzen bemerkte, daß niemand mehr aß. Nur der Leutnant und das junge Mädchen
naschten Kompot und flüsterten mit einander, in dem beruhigten Gefühl, daß sie
die ganze Sache doch nicht verstünden. Auch Neumann hörte nicht ans die Auf¬
forderung der Wirtin. Er lehnte regungslos in seinem Stuhl und warf eine» hilfe¬
suchende» Blick zu Frau von Zehleueck hinüber. Diese aber rückte Plötzlich von ihm
weg und richtete mit lauter Stimme eine Frage a» eine der .Wosterdamen. Da der
Graf nicht mehr sprach, w»rde die Unterhaltung plötzlich lebhaft Jeder quälte sich,
so gut er lviiiite, über etwas zu sprechen, nu das er gar nicht dachte, und unter
dem Schutze dieses Stimmengesnmms konnte sich Fritz Neumann still entfernen. Er
preßte ein Taschentuch vors Gesicht. Jeder nahm stillschweigend an, daß er Nasen-
bluten habe, und selbst Komtesse Jsidore verlangte keinen Abschied von ihm, Sie
wollte ihm allerdings in ihrer Zerstreutheit nachrufen, er solle bald einmal wieder¬
kommen; dann aber fiel ihr doch noch rechtzeitig ein, das; es wohl besser wäre,
wenn er fortbliebe.
Amerika ist doch ein sonderbares Land, sagte sie klagend zu einer der
Klvsterdmnen. Da pnssirt immer so viel, wovon man hier keine Ahnung hat. Und
Wally sagt alle diese Sachen vor der Eistorte! Ich kann Neunninn wohl nicht nichr
einladen, aber ein Stück Eistorte hatte ich ihm doch gegönnt. Die macht Schie-
mann so gut. Aber das kommt davon, wenn wir nicht dreizehn bei Tische sind.
Dann wird es immer ungemütlich.
Urgemütlich war die Gesellschaft allerdings, denn Frau von Zehleueck wurde
plötzlich unwohl und mußte nach Hause. Sie sagte, es käme davon, daß sie kein
Eis vertragen könnte, und man glaubte ihr natürlich, aber die Stimmung blieb doch
gedrückt, und die Komtesse sagte, sie wollte niemals »nieder eine Gesellschaft
geben, in der ein Mann wäre, von dein mau nicht wüßte, was er in Amerika
gethan hätte.
Am folgenden Tage besuchte Graf Rössiug die Baronin Ravenstein. Er traf
sie nicht an der Staffelet, sondern vor einem alten Spinnrade.
Können Sie nicht spinnen? fragte sie ihren Besuch. Ich möchte es so gern
lernen und weiß doch niemand, der mirs zeigen könnte. Nur die alten Frnnen im
Armenhause verstehen die Kunst noch, aber vor der Zeit mochte ich nicht mit diesen
Damen Bekanntschaft machen.
Weshalb malen Sie nicht mehr? fuhr Rössiug sie heftig an.
Ada zuckte die Achseln. Ich mag es nicht mehr, ich habe auch nicht genug
Talent — der Kunsthändler ans Berlin hat mirs geschrieben. Ich glaube es fast
selbst. Nun null ich spinnen, wie meine Großmutter, und ebenso wenig denken
wie sie. Sie kannte nur das Handbuch des dänischen Adels und ist glücklich dabei
gewesen. In ihren letzten Jahren las sie auch etwas in der Bibel, aber weil ihre
Familie nicht drin vorkam, fand sie sie nicht unterhaltend.
Sie sind heute böse, Ada! sagte der Graf.
Sie schob das Spinnrad hastig von sich. Ja, ich bin böse — ans Sie, Wally!
rief sie. Was haben Sie gestern dem armen Geschöpf, dem Neumann gethan?
Jsidore war heute bei mir, und obgleich sie mehr von ihren Schnepfen als von
Ihnen sprach, so habe ich doch genug gehört.
Ich habe nur die reine Wahrheit gesagt, erwiderte der Graf finster. Meinen
Sie, daß ich das aushalten konnte, ihn glücklich und frech da sitzen zu sehen und
mit der Zehleneck über Sie lachen zu hören?
Lachte er über mich? Pah — weshalb ließen Sie ihn nicht gewähren? Ich
freue mich aufrichtig, wenn ich andern Menschen zur Unterhaltung dienen kann.
Er ist ein Schurke, begann Rössing wieder.
Aber Ada machte eine ungeduldige Bewegung. Ich glaube es ja — aber nur
Sie hätten es ihm nicht sagen sollen, gerade Sie nicht. Sie stehen mir zu nahe,
und es kann aussehen wie eine Rache von mir — eine unedle Rache. Ich habe
aber keine Veranlassung, mich an Herrn Neumann zu rächen, dazu ist er mir zu
gleichgiltig.
Sie haben Fischblut! rief der Graf. Ich aber sage: Auge nur Auge, Zahn
um Zahn —
Bitte, kommen Sie mir nicht mit der Bibel, Graf! Sie wissen übrigens
ja gar nicht, was drin steht, sonst würden Sie nicht so rachsüchtig sein!
Nein, ich weis; gar nichts mehr! rief er aufgeregt. Nur eins, nur eins,
daß -
Daß der arme Wurm doch immerhin meine erste Liebe war? unterbrach sie
ihn lachend. Gerade deswegen hätten Sie ihn doch ein wenig schonen müssen.
Schon ans Mitleid mit meiner Dummheit und Schwäche. Und nun muß ich Sie
verabschieden, denn dort kommt meine Waschfrau über die Straße. Sie will zu
mir, ich sehe es an ihrem Gesicht, und da sie mich armen Leuten und nach ihren
vielen Kindern riecht, wie Sie selbst einmal gesagt haben, so dürfe» Sie nicht mit
ihr zusammentreffen. Gehen Sie und seien Sie ein andermal braver!
Als der Graf nach wenigen Minuten über die Straße ging, atmete er
tief auf.
Sie ist klüger als ich, murmelte er, wenigstens zwanzigmal vernünftiger. Das
hätte eine schöne Geschichte geben können!
Er blieb stehen und schlug sich heftig auf die linke Brust. Stille, du da
drinnen! Ich will mich freuen, daß ich so davongekommen bin. Hast dn mich ver¬
standen? Ich null mich freuen!
Aber er ging doch langsam, wie ein ganz alter Mann, seinem Hanse zu und
sah gar uicht freudig aus.
Am folgenden Tage verreiste er ans längere Zeit, und da eines Frau von
Zehleneck nach Dänemark ging, was sie immer that, wenn sie etwas unangenehmes
erlebt hatte, so mochten die Weisen des Städtchens Recht haben, wenn sie behaupteten,
in der Gesellschaft bei Komtesse Jsidore sei etwas sehr merkwürdiges geschehen. Und
dabei kamen sie erst allmählich dahinter, daß Herr Neumann plöhlich von Fresen-
hagen verschwunden war und nichts mehr von sich hören ließ. sein Gut stand
zum Verkauf, und ein reicher Herr aus Bremen erwarb es, ehe die Leute ganz
genau wußten, was eigentlich mit Neumann geschehen war. Sie erfuhren es auch
niemals ganz gennn; nur später, viel später tauchte das Gerücht auf, er sei in
Nebraskn oder noch weiter im Westen Amerikas von einer eifersüchtigen Fran er¬
schossen worden. Aber es war nur ein Gerücht, das niemals seine Bestätigung
gefunden hat, und es ist leicht möglich, daß Herr Neumann noch heute seine
Mischung vou Petroleum und Whisky weiter verschenkt. Jedenfalls sprach man
nur sehr flüchtig vou ihn,, da gerade in dein Frühling, in dem er verschwand, eine
Typhusepidemie in der Stadt ausbrach, die viel von sich reden machte und alle
andern Ereignisse gleichgiltig machte. Besonders in der ärmer» Bevölkerung forderte
die Krankheit ihre Opfer, und die Wohlhabenden packten ihre Koffer und reisten
in aller Stille ab.
Auch an die Baronin gelangte die dringende Aufforderung einer Verwandten,
schnell zu ihr ans ihr Gut'zu kommen , aber Ada telegrnphirte ein kurzes Nein.
Sie hatte die kranken Kinder ihrer Waschfrau zu sich ins Haus genommen. Der
eine kleine Junge, der nach ihrem verstorbnen Manne Rolf hieß, war in Lebens¬
gefahr. Aber sie pflegte ihn wieder gesund, ebenso die andern Kinder; an dein
Tage aber, wo sie wieder allein war und gerade darüber nachdachte, ob sie
nicht uuter die Schriftsteller gehen und das Buch ihres Mannes vollenden sollte,
ergriff sie ein Schwindel. Sie mußte zu Bette gehen, und obgleich sie sich die
beschriebnen Blätter unters Kopfkissen legte, um sie gleich beim Besserwerden zur
Hand zu haben, kam sie doch nicht mehr dazu, sie zu lesen. Sie verlor bald die
Besinnung und starb mich wenigen Tagen, ohne Kampf und ohne Schmerze». Nur
einmal, kurz vor ihrem Tode, griff sie mit einem Ausruf des Schreckens nach den:
kleinen Manuskript unter ihre», Kissen Sie glaubte wohl, es sei nicht mehr da —
da gab man es ihr in die Hand, und dort ist es geblieben, als sie in den Sarg
gelegt wurde.
Es war ein sonniger Maientag, als die Baronin zur letzten Ruhestätte
gebracht wurde. Die Leute, die sie dort hingeleiteten, bedauerten, daß sie den
blauen Himmel nicht mehr sehen und die Vogel nicht mehr singen hören könnte — sie
wurde sich daran gefreut haben. Verwandte und Freunde waren uicht mit unter
den Leidtragenden, die kamen alle erst später. Auch Graf Rössiug konnte erst
einen Tag nach der Beerdigung kommen. Er war in der kurzen Zeit sehr alt ge¬
worden, und nun stand er finster vor dem frischen, unter Blumen begrabnen Hügel.
Von allen Seiten waren Kränze gekommen, von reichen und armen Leuten, von
vornehmen nud geringen. Selbst die, denen die Baronin Geld schuldete, und ihrer
waren nicht wenige, hatten Rosen auf ihr Grab gestreut. So erzählte der Toten¬
gräber dem Grafen, der schweigend zuhörte nud kein Wort erwiderte. Er war so
in Gedanken versunken, daß er nicht bemerkte, wie Fran von Zehleneck leise neben
ihn getreten, war, und er fuhr zusammen, als sie ihn anredete.
Wir haben einen großen Verlust gehabt, lieber Graf, sagte sie weinerlich.
Meine arme, liebe Ada! Wie werde ich sie entbehren! Heikle Morgen erst bin ich
hier angekommen; sonst, wie gern hätte ich sie gepflegt!
Die letzten Sätze hatte Amelie etwas stockend hervorgebracht; der Graf sah sie
zu starr an. Als er aber gar nicht antwortete und sich mir schweigend abwandte,
trat sie an seine Seite.
Walls, sagte sie hastig und leise. Warum sind Sie immer so schlecht gegen
mich! Wir standen ehemals doch anders mit einander! Haben Sie das ganz ver¬
gessen?
Nein, erwiderte der Graf ruhig, vergessen habe ich es nicht. Er war stehen
geblieben und sah Fran von Zehleneck fest in die Angen. Ich weiß es noch ganz
genan, und ich schäme mich noch immer vor mir selbst. Aber dann, tröste ich mich
mit dein. Gedanken, daß jeder die erste Liebe durchmachen muß. Gerade so, wie
die erste Cigarre und den ersten Rausch. Zuerst ist es schön, nud die Folgen sind
abscheulich.
Sie beleidigen mich! murmelte die Dame.
Er zuckte die Achseln. Sie haben es uicht besser gewollt. Auch mochte ich
Ihnen noch etwas sagen. Man spricht immer so viel von der ersten Liebe, als
wenn sie etwas heiliges wäre, und doch ist sie gewöhnlich die erste große Dunnnheit
des Lebens, wie man um Ada Ravenstein und an mir bemerken kann. Sie liebte
einen Fritz Neumann, und ich — nnn Sie wissen ja! Aber man spricht niemals
von der letzte» Liebe. Vielleicht deswegen, weil man n»S arme, alte Menschen
eines tiefern, Gefühls nicht mehr für fähig hält. Aber da Sie noch Gefühl
zu haben scheinen, so möchte ich Ihnen doch erzählen, daß die da — er wies
ans den Hügel —, die dort unter den Rosen schläft, für mich sehr reizend, sehr
liebenswert, sehr anziehend war. Trotz ihrer Schulden, trotz ihrer verschiednen
Stimmungen und trotz ihrer falschem Freunde, die sie. gleichgiltig ins Armenhaus
hätten, gehen sehen. — Sie werden jetzt einen KaM geben und erzählen, ich hätte
sie unglücklich geliebt. Thun Sie das; man wird den Geschmack des ältern
Mannes bedeutend besser finde«, als den des jungen. Leben Sie wohl!
Der Graf war langsam den Kirchhvfsweg hinuntergegangen. Fran von
Zehleneck sah ihm sprachlos nach. Sie wollte lachen, aber sie konnte nicht; dann
versuchte sie es mit Thränen, und diese flössen reichlich. Sie wurde sogar so gerührt,
daß sie sich vornahm, el» andrer, besserer Mensch zu werden, aber sie, vergaß
dabei ganz, daß sie diesen Vorsah schon hundertmal gefaßt und niemals aus¬
geführt hatte.
So war es auch diesmal; uach acht Tagen gab sie wirklich den Kaffee und
verlästerte den Grafen nach allen Regeln der Kunst. Er machte sich nichts daraus;
ihm war das Leben sehr gleichgültig geworden, obgleich er es mit einer gewissen
vornehmen Wurde weiter trug.
Vor einigen Jahren ist er gestorben, wahrend Frau von Zehleneck noch lebt.
Sie ist noch ganz wie früher, bis auf die Veränderungen, die das Alter um ihr
hervorgebracht hat. Niemand liebt sie; jedermann aber fürchtet sie. Sie gehört
zu den Leuten, von denen man, wie der landläufige Ausdruck ist, Geschichten
schreiben kann. Sie weiß viel, und sie erzählt noch mehr, als sie weiß; nnr von
einem Gegenstande schweigt sie beharrlich: von der ersten Liebe.
Seit jener Niederlage des Christentums, die ge¬
wöhnlich als sein Sieg bezeichnet wird, leidet die Kulturwelt an dem ungeheuern
Widerspruch zwischen Ideal und Wirklichkeit, der in unsern Tagen so weit ge¬
diehen ist, daß sogar das christliche Ideal nur uoch dem Namen nach unser
Ideal ist, und daß Kierkegaard berechtigt war, die Christlichkeit der Christenheit
eine Selbsttäuschung zu nennen. Voltaire hat diese Selbstbelügung — z. B. im
Ingenu — mit blutigem Hohne gegeißelt, und Hartpole Lecky hat mit wissenschaft¬
lichem Ernst die tiefe Schädigung dargelegt, die sie dem Charakter der europäische»
Völker zugefügt hat; sie hat ihn mit UnWahrhaftigkeit durchtränkt und die edle,
stolze, männliche Offenheit und Wahrhaftigkeit der Alten Verbanne. Der wahrhaf¬
tige und offne Luther hat diesen Zustand zwar für seine Person überwunden, aber
für die christlichen Völker konnte er ihn nicht überwinden, weil ihn die Ereignisse
von seiner ursprünglichen Absicht, inmitten der getauften Heidenschaft eine Ge¬
meinde der wirklich Gläubigen zu sammeln, abgedrängt und zur Gründung neuer
Stantskirchen gezwungen haben. Ohne Zweifel wird diese Schädigung der Völker,
die doch im Rate der Vorsehung beschlossen sein muß, von anderweitigen Vorteilen
überwogen, indes mit diesen haben wir es heute uicht zu thun, sondern nur mit
einem andern Nachteil, der aus jenem ersten fließt, mit den Verlegenheiten, die
die sogenannte Christlichkeit den Politikern bereitet. Nachdem man einmal bis zu der
verkehrten Idee des christlichen Staats fortgeschritten war. konnte es nicht fehlen,
daß schließlich auch an die Politik das Ansinnen gestellt wurde, sie müsse christlich
sein. Hölzernes Eisen, kühlendes Feuer, lebendige Leiche, steinerner Geist — was
immer man sich ungereimtes denken mag, es wird kaum ein so widerspruchsvolles
und unmögliches Ding sein wie die christliche Politik. Denn das Wesen der christ¬
lichen Gesinnung besteht in der Selbstverleugnung und opferwilligen Liebe, in dem
Verzicht auf irdische» Genuß und Besitz um des Himmelreichs willen, die
Politik aber ist der geordnete Kampf der irdischen Interessen. So wird denu dem
Kladderadatsch täglich Stoff geliefert zu Satiren gleich der ans den Reichsboten
in der Nummer vom 15. März, und so kann es denn nicht fehlen, daß, wenn
Bebel der deutschen Christenheit, wie in den Peterstagen wieder einmal, den
Spiegel der christlichen Moral vorhält, ein blitzdummes Gesicht herausschaue.
Die Kvlouinlpolitik läßt ihrer Natur nach den Unsinn am schärfsten hervor¬
treten. Die spanischen Konquistadoren, hinter die sich der Regierungsvertreter in
seiner Verlegenheit flüchtete, huldigten einem mit jeder Barbarei verträglichen rohen
Aberglauben, den sie für die christliche Religion hielten, den ober heute kein Mensch
mehr dafür hält. In einer Zeit dann, die auch noch einigermaßen naiv war,
hüllten sich die englischen Kattunhändler in das Apostelgewand, das aber längst aller
Welt zum Gespött geworden ist. Man nimmt es ihnen trotzdem nicht weiter übel,
wenn sie es beibehalten, wie ihr speaker im Parlament seine Allongenperücke bei¬
behält, und wie man die Gewohnheit beibehält, Hör U^sse^ sagen zu lassen, was
die Parlamentsmehrheit dem Lande zu sagen hat; man läßt sie von Humanität
und Christentum salbadern, wenn sie einen neuen Raubzug vorhaben, ohne groß
zu Protestiren, denn niemand wird mehr dadurch getäuscht, man weiß, daß das
zum Kostüm gehört. Aber wenn sich ein andrer Staat im Lichte unsers kritischen
Jahrhunderts das Apostelgewand erst anziehen will für koloniale Unternehmungen,
so blamirt er sich nicht bloß, sondern bereitet sich ernstliche Verlegenheiten. Durch
Kolonisation wird manchmal Kultur verbreitet, wie es durch die griechische, durch
die römische in Bnrbarenländern und durch die deutsche im slawischen Osten ge¬
schehen ist, manchmal auch nicht. Die Kolonisation mag hie und da die Lage der
Eingebornen verbessern, öfter bewirkt sie das Gegenteil. Mag sie aber Kultur
schaffen oder Kultur zerstören, die Unterworfnen beglücken oder zu Grunde richten,
niemals ist Kulturverbreituug oder Beglückung der Unterworfnen ihr Zweck, nie¬
mals verfolgt sie andre Zwecke als selbstsüchtige: die Befriedigung gewisser Bedürf¬
nisse oder Leidenschaften der Kolonisatoren. Ohne Zweifel, es giebt wirkliche
Christen und wirkliche Apostel, die zu den Heiden gehen aus keiner andern Absicht,
als um Seelen zu retten und das Reich Gottes auszubreiten. Aber die verbitten
sich den Beistand der Politik. Kommen sie zu bösartigen Heiden und werden sie
umgebracht, so freuen sie sich des Märtyrertodes, dessen sie gewürdigt werden, und
kommen sie zu gutartigen Naturmenschen, so gelingt es ihnen wohl, ein Para-
diescheu folgsamer, glücklicher Kinder zu schaffen, das Bestand hält, so lange es
klein bleibt, und — so lange es die weißen Christenbrttder mit ihrem Besuch ver¬
schonen. Wo Missionare und Kolonisatoren zusammenwirken, da hat bis jetzt noch
immer zu guter letzt der Missionszweck dem Kolonisationszweck geopfert werden müssen.
Der Kvlonisationszweck ist selbstsüchtiger Art, und nicht an der christlichen Moral
können die Mittel zu seiner Verwirklichung gemessen werden, sondern nur an
ihm selber.
Damit soll nicht etwa eine Billigung der Roheiten und Grausamkeiten aus¬
gesprochen werden, die sich einige Deutsche in unsern Kolonien haben zu Schulden
kommen lassen. Daß solche Ausschreitungen nicht allein unnötig, sondern geradezu
zweckwidrig, also schon vom Standpunkte der nationalen Selbstsucht aus verwerflich
sind, wissen wir aus viele» Zeugnissen von Sachverständigen, unter anderm aus
dem offnen Schreiben des Herrn von Eltz an Peters, von dem man sich nur
wundern muß, daß es nicht gleich nach seinem Erscheinen im Oktober 1892
allgemein verbreitet und von den Behörden beachtet worden ist. Dagegen ist hervor¬
zuheben, daß diese Ausschreitungen in einem ursächlichen Zusammenhange mit dem
trostlosen Zustande unsrer amtlichen Moral stehen, und daß es gar nicht zu ver¬
wundern wäre, wenn sie im größten Maßstabe überhnud nähmen. Die natürliche
Moral der edlern Heidenvölker enthält einen starken Gerechtigkeitssinn, Menschen¬
freundlichkeit und Mitleid, Wahrhaftigkeit und Treue, den Trieb der nützlichen
Thätigkeit und den Grundsatz des Maßhaltens. Diese Moral verbietet weder das
Streben nach Reichtum noch den sinnlichen Genuß innerhalb der von der Gerechtig¬
keit und Mäßigung gezognen Grenzen, noch tausend andre Dinge, die das Neue
Testament verbietet, die sich aber im bürgerlichen und im politischen Leben von
selbst verstehen. Wohl aber verbietet diese natürliche Moral unnütze Grausamkeiten
und andre Bestialitäten, Schuftigkeit und Niederträchtigkeit, und ein Volk von gesundem
sittlichem Instinkt unterscheidet mit unfehlbarer Sicherheit zwischen einem Manne,
der fremde Menschenleben dem berechtigten Selbsterhaltungstriebe oder einem ver¬
nünftigen politischen Zwecke geopfert hat, und einem brutalen Wüterich oder einem
Schurken. Der deutsche Christ aber erlernt in der Schule die Moral der Selbst¬
verleugnung, und daun tritt er hinaus in eine Welt, worin der Kampf selbst¬
süchtiger Interessen grimmiger tobt, als je in einer frühern Zeit, wenn auch meistens
in weniger gewaltthätigen Formen, Ist er ein denkender Kopf — und wer würde
heute nicht zum nachdenke» gezwungen —, so zieht er den Schluß, daß die christ¬
liche Moral nnr eine ka,bis c-cmvonuo sei, und da er zugleich predigen hört, daß
es eine andre als die christliche Moral nicht gebe, so schließt er weiter, daß die
Moral überhaupt nichts sei als ein Gewebe von Redensarten und konventionellen
Formen, mit denen man seiue selbstsüchtigen Bestrebungen zu verhüllen habe, wenn
man in der Welt fortkommen wolle. Da solchergestalt der Widerspruch zwischen dem
Handeln und dem Mornlgesetz selbstverständlich und unvermeidlich ist, so kommt es
ans ein Mehr oder Weniger des Widerspruchs nicht an. Die natürliche Moral
stellt den Unterschied ans zwischen dem Menschen und dem Unmenschen, dem ehr¬
lichen Manne und dem Schurken; das erste kann man ohne übernatürlichen Gnaden¬
beistand sein, das zweite braucht man nicht zu sein. Die christliche Lehre dagegen
unterscheidet zwischen dem Sünder und dem Heiligen, und da der Durchschnitts¬
mensch ein Sünder, also so wie so vor dem Richterstuhl dieser Moral nichts
wert ist, so verschwindet ihm der Unterschied zwischen Mensch und Unmensch,
zwischen dem ehrlichen Manne und dem Schuft. So verliert der Einzelne für
sich selbst den sittlichen Halt und verliert das Volk, verliert zuletzt auch die Obrig¬
keit den Maßstab der sittlichen Beurteilung, und man darf sich nicht wundern,
wenn unter der schützenden Hülle der aus Redensarten und Umgangsformen be¬
stehenden christlichen Gesittung'nicht selten greuliches geschieht.
Die Kirchen sind Staatssache, ganz gewiß, denn sie sind mit Besitz und andern
Machtmitteln ausgerüstete Körperschaften; aber die Religion ist wirklich allerprivateste
Privatsache, und Privatsache ist es auch, wie ein Mann, der weder auf sein welt¬
liches Bürgerrecht und auf irdischen Besitz und Genuß uoch ans sein Christentum
verzichten will, den Kompromiß zustande bringt; kein andrer hat sich darum zu
kümmern, und keiner hat über seines Nächsten Gewissen zu richten. Aber dem
Staate, wenn er sich als Vertreter des Christentums aufspielen will, zu sagen: Du
machst dich lächerlich und bringst dich selbst, die Religion und die Moral in Gefahr,
dazu sind wir berechtigt. Doch verkennen wir nicht die Schwierigkeit seiner Stellung';
ein vielhundertjähriger geschichtlicher Prozeß hat Religion und Kirche, Kirche und
Staat mit einander verflochten, und was so mit einander verwachsen ist, das kann
nicht auf einen Ruck von einander loskommen. Wir werden uns also gedulden
müssen. In Frankreich und in Italien hat man dieser Fiktion bereits entsagt;
keins von beiden macht auf den Titel eines christlichen Staates Anspruch. Dafür
leiden sie ab und zu an andern Fiktionen, die jedoch, wie sie das Bedürfnis des
Tages erzeugt, auch rasch und leicht wieder überwunden werden können. Italien
ist soeben mit zwei Fiktionen auf einmal fertig geworden, mit der Fiktion, daß
seine Ehre die Eroberung von Abesshnien fordre, und mit der Fiktion, daß eine
den Staat bedrohende große sozialistisch-anarchistische Verschwörung die unumschränkte
Gewaltherrschaft Crispis notwendig mache. Mit der Erklärung der ersten und
dem Zusammenhange zwischen beiden beschäftigen wir uns wohl noch einmal. Was
die zweite anlangt, so ist sie durch so grobe Täuschungen zustande gebracht worden,
daß man sich dabei wieder einmal versucht fühlte, zu rufen: Es giebt wirklich keine
Öffentlichkeit! Colajanni hat am 7. März 1894 im Lvvolo nachgewiesen, daß
Crispi Depeschen gefälscht hat, um die ganz planlose sizilianische Hungerrevolte als
das Ergebnis einer großen Verschwörung erscheinen zu lassen. Der Marchese
ti Rudiui, der uicht ein alter Verschwörer und Revolutionär wie der Advokat und
Geschäftchenmacher Crispi, sondern ein reicher Grcmdseigneur von uraltem Adel ist,
war gegen deu Verdacht, ein Bundesgenosse von Sozialdemokraten und Anarchisten
zu sein, gefeit und durfte daher die „Zuchthäusler" befreien, ihre drei vor¬
nehmsten vom jubelnden Volke in Rom feierlich empfangen und sie in die De-
putirtenkammer einziehen lassen, ohne für seine Person einen Tadel zu fürchten.
Und indem dieser Einzug ohne die geringste Störung erfolgt ist, hat er damit be¬
wiesen, daß die angeblich den Staat bedrohende Gefahr nicht vorhanden war. Die
Gefahr, die den Staat wirklich bedroht, ist die verzweifelte wirtschaftliche Lage des
Volkes, und ob Rndinis unbestreitbar guter Wille und seine klare Einsicht in die
Natur der Übelstände hinreichen werden, diese Gefahr zu überwinden, das darf
allerdings bezweifelt werden, wenn man es auch gern hoffen möchte.
In Nummer 44 des Jahrgangs 1395 brachte die
Gartenlaube auf der ersten Seite ein Bild mit der Unterschrift „Der Heimat zu":
ein junges Mädchen sitzt sinnend auf dem Achterdeck eines Schiffs, das den New-
yorker Hasen verläßt. In dem Text zu diesem Bilde heißt es, das junge Mädchen
habe einige Jahre bei lieben Verwandten, die einst von Deutschland eingewandert
seien, zugebracht und in dem Verkehr mit seinen Konsilien „selbst etwas vom Schliff
einer jungen Amerikanerin angenommen," Dieser offenbar ohne alle Hintergedanken
niedcrgeschriebne Satz ist wieder einmal recht bezeichnend für unsre Selbstachtung.
Zunächst ist es dem deutschen Michel über jeden Zweifel erhaben, daß ihm die
Ausländer, mit Ausnahme etwa der Patagonier, Hottentotten, Eskimos und ähn¬
licher Zeitgenossen, in gleichen Lebensverhältnissen von vornherein an Feinheit und
Vornehmheit ungeheuer überlegen sind. Als charakteristisches Beispiel für diese
Ansicht wird mir immer eine Äußerung e^nes akademisch gebildeten Deutschen in
der Erinnerung bleiben, die ich vor etwa drei Jahren einmal hörte: als er hörte,
daß sich der deutsche Kaiser Charlehs Tante habe Vorspielen lassen, sagte er: „Ein
vornehmer Engländer würde das nie thun." Natürlich, so eine stocksteife englische
Familie, in der der Hausherr selbst zum einfachen Mittagessen im Familienkreis
im Frack und die Damen tief ausgeschnitten erscheinen, in der die ganze Gesell¬
schaft vor lauter 8N<Mug' Krämpfe bekommt, wenn ein kleines Kind einmal vom
Tischbein oder gnr von Leibweh redet, kann uns gewiß als nachahmenswertes
Vorbild dienen!
Geradezu empörend ist es aber, daß der Schreiber des Gartenlaubentextes
die Töchter der einst eingewanderten lieben Verwandten ohne weiteres als Ameri¬
kanerinnen bezeichnet, und doch kann man ihm leider nicht Unrecht geben. Solch
„liebe Verwandte" selbst pflegen im Auslande noch halbwegs Deutsche zu bleiben.
Sie beschaffen sich, nicht selten mit großen Kosten, zu Weihnachten einen Tannen¬
baum, sie feiern den Geburtstag des deutschen Kaisers, telcgraphiren begeisterte
Glückwünsche, lassen was drauf gehen, um sich einen guten Trunk deutschen Bieres
zu verschaffen, singen in rührseliger Stimmung wohl auch einmal „Ich weiß nicht,
was soll es bedeuten," aber damit scheint es genug zu sein. Im übrigen passen sie
sich dem Lande, worin sie wohnen, mit unheimlicher Geschwindigkeit an in Sitten,
Gebräuchen, Anschauungen und Kleidung. Der guten deutschen Vornamen, die sie
mitgebracht oder dort ihren Sprößlingen gegeben haben, scheinen sie sich nicht schnell
genug entledigen zu können. Ist es nicht aber anch eine erhaben schöne Zusammen¬
stellung: Paolo Meyer, Charles Schulz, Frank Müller? Und die Kinder der
lieben Eingewanderten? Nun, meist pflegt nur noch deren ehrliches deutsches Gesicht
daran zu erinnern, wes Stammes sie sind; viel ist es schon, wenn sie ihre Mutter¬
sprache noch radebrecheu lernen!"
Bringt ein Deutscher eine von den beliebten „schweren Engländerinnen oder
Amerikanerinnen als Frau nach Deutschland, so wird, wenn es die Verhältnisse
nicht völlig unmöglich machen, der Haushalt ganz nach den Gewohnheiten der Frau
zugeschnitten: um die Mittagszeit giebt es ein luirell, und das äinnvr wird gegen
Abend eingenommen. Geben sie eine Gesellschaft, so wird den Gästen mit den
ausländischen Gerichten aufgewartet. Im häuslichen Verkehr unterhalten sich die
Eheleute englisch; dabei freut sich der Manu sehr, daß er den englischen Unter¬
richt ans der Schule nun doch nicht ganz umsonst gehabt hat. Heiratet dagegen
eine Deutsche «ach England, so hat sie ihr Deutschtum im Nil abgelegt wie ein
altes Kleid. Das vortreffliche deutsche „Anpassungsvermögen" unterstützt sie dabei
außerordentlich. Daß sie sich etwa ihren Haushalt auf deutsche Weise einrichtete,
davon ist gar keine Rede. Es dauert nicht lange, so kann die teure Mutter in
Deutschland ihren Kaffeeschwesteru glückstrahlend erzählen: „Meine Tochter ist schon
ganz Engländerin geworden."
Wie anders die Amerikaner und Engländer! Sie sind und bleiben, wo sie
sich auch aufhalten mögen, Stockamerikaner und Stockeugläuder. Wir Deutschen
finden das selbstverständlich und macheu es ihnen dadurch leicht, daß wir alles
Ausländische an ihnen unbändig bewundern und sie damit in ihrem Selbstgefühl
nur bestärken.
Wie schrieb doch Lessing vor hundertunddreißig Jahren in seiner „Minna von
Barnhelm"? Nicccmt: „Nit? Sie sprek nit Französisch, Jhro Gnad?" Das
Fräulein: „Mein Herr, in Frankreich würde ich es zu spreche» versuchen. Aber
warum hier?" Es scheint, daß wir Heutigen diese Lehre ganz vergessen haben.
Es braucht nur einmal ein Fremdling mit Deutschen im Eisenbahnwagen zu fahren
und bei seinen Verhandlungen mit dem Schaffner zu erkennen zu geben, daß er
des Deutschen nicht mächtig ist, sofort pflegt sich einer der deutschen Mitreisenden
mit seinem bischen Englisch oder Französisch — die übrigen lebenden Sprachen
sind der überwiegenden Mehrheit der Deutschen nicht geläufig — dem Fremden
zur Verfügung zu stelle». Er begütigt sich uicht damit, was bei diesem Samariter¬
dienst doch völlig ausreichend wäre, dem Zugbeamteu auf Deutsch zu sagen, was
der Fremde will, mein, er wendet sich an den Fremden selbst und knüpft nur gar
zu gern mit ihm in dessen Muttersprache ein Gespräch an. und ein Hochgefühl
zieht in seinen Busen ein, wenn er, vollends vor Bekannten, mit seinen Sprach-
tenntnissen renommiren kann.
Im Sommer 1891 machte ich in größerer Gesellschaft eine Reise über Land
von Bergen nach Christinnia. In eigens gemieteten Wagen fuhren wir vom Morgen
bis zum Abend die vorher bestimmten Strecken. Es traf sich, daß ein französischer
Geistlicher, der mit der Post fuhr, einigemale in denselben Gasthof, wie wir, ein¬
kehrte und seine Mahlzeiten in demselben Zimmer einnahm, worin uns der Tisch
gedeckt war. Obwohl wir mit dem Franzosen in keinerlei Berührung gekommen
waren, konnte es sich einer von uns, ein Großindustrieller und Reichstagsabgeordneter
dazu, doch nicht versagen, sich einmal unaufgefordert zu dem abseits sitzenden Fremd¬
ling zu setzen und ihn aus Französisch anzureden, um? ja, um uns andern zu
zeigen, daß er Französisch Plappern könnte. Das Beste bei der Sache war, daß
sich der Franzmann schließlich als ein wütender Deutschenhasser bekannte und es
dem deutschen Reichstagsabgeordneten überließ, sich wie ein begossener Pudel zurück¬
zuziehen.
Durch viele drastische Beispiele ist längst dargethan, daß mancherlei in Deutsch¬
land hergestellte Waren ins Ausland gehen, um von dort in feiner „Aufmachung"
wieder zu uns zurückzukehren und mit entsprechendem Preisaufschlag dem deutschen
Publikum als ausländische Erzeugnisse aufgehängt zu werden; es hat, wie es scheint,
erst dieses Nachweises bedurft, um die Deutschen wenigstens einigermaßen zur Be¬
sinnung zu bringen. Daß aber die schwächliche Vorliebe für ausländische Waren
noch nicht ganz ausgerottet ist, liegt jetzt nicht so sehr an dem großen Publikum,
als an den Händlern und Fabrikanten. Man braucht »ur in ein größeres Geschäft
zu gehen und „bessere" Sachen zu verlangen, so wird einem alles als „beste eng¬
liche" oder „feinste französische Ware" und „echt amerikanisches Fabrikat" em¬
pfohlen. Mit einigen rühmlichen Ausnahmen kann mau gewisse Sachen, wie Seife,
Wohlgerüche, Pomaden, Briefpapier, Hüte usw., mit deutsche» Bezeichnungen mit
dem besten Willen nicht haben. Besteht man darauf, deutsche Waren zu kaufen,
so versichert einem der Kaufmann manchmal ganz naiv, daß die Sachen in Deutsch¬
land hergestellt, aber mir mit französischen, englischen oder amerikanischen Bezeich¬
nungen versehen seien, „weil es das Publikum nun einmal so wolle." Das Publikum
würde aber ganz anders wollen, wenn nicht durch das gekennzeichnete Thun der
Fabrikanten und Händler die deutsche Ware systematisch in Mißkredit gebracht würde.
Damit auch hier die Gegenüberstellung nicht fehle, wollen wir auf das Vorgehen
Englands hinweisen, das durch sein bekanntes manis in K-erwa-n/ alle deutschen
Erzeugnisse zu brandmarken und von sich und seinen Ausfuhrländern fernzuhalten sucht.
Im 9. Hefte der Grenzboten wird,
wohl von einem Strafanstaltsbeamten, die Einführung der Prügelstrafe in den Ge¬
fängnissen verlangt. Aber die Ansichten, die der Verfasser geltend macht, scheinen
mir so einseitig vom Standpunkte des Beamten entwickelt, daß ich versuchen möchte,
eine abweichende Meinung in dieser wichtigen Frage kurz zu begründen.
Die Prügelstrafe ist in Deutschland nur als Disziplinarstrafe (in England
z. B. noch jetzt als gerichtliche) in Zuchthäusern zulässig. Sie wird dort nur an¬
gewendet bei besonders schweren Verstößen gegen die Hausordnung —- besonders
bei Thätlichkeiten gegen die Beamten — unter Beobachtung bestimmter Vorschriften
und nur gegen männliche Verbrecher, denen die bürgerlichen Ehrenrechte durch
richterliches Urteil aberkannt sind (was bei jeder Verurteilung zu Zuchthaus als
Nebenstrafe verhängt werden kann). Daß sie aber auch für solche Fälle nicht un¬
entbehrlich ist, wird schon dadurch bewiesen, daß z. B. Baiern, Württemberg, Baden,
Bremen sie auch hier nicht kennen; allerdings ist mir nicht bekannt, ob in diesen
Staaten dafür nicht Lattenarrest und andre körperliche Strafen angewendet werden,
die aber doch von der Prügelstrafe wesentlich verschieden sind. Es handelt sich
hier aber nicht um ein Entweder — Oder, sondern um ein Mehr oder Weniger.
Nicht nur dann müßte allerdings die Prügelstrafe als schwerste Disziplinarstrafe
bestehen bleiben, wenn ohne sie ein Zuchthaus zu leiten unmöglich wäre (was nicht
der Fall ist), sondern schon dann, wenn ihr Wegfallen im ganzen mehr Schaden
als Nutzen bringen würde. Ob dies der Fall ist, darüber haben vor allem — aber
nicht allein — die Praktiker des Fachs zu entscheiden. Ich erwähne hier nur, daß
eine Autorität wie Krohne (in seinem Lehrbuch der Gefttugniskunde) sich sehr ent¬
schieden gegen diese Strafe ausspricht, da sie kein unfehlbares Mittel sei, von em¬
pörender Roheit sei und den letzten Rest von Ehrgefühl aus dem Bestraften hinaus¬
treibe. Der allgemeine Entwicklungsgang der Strafmittel, der eine fortschreitende
Milderung dieser Mittel ist, würde ihm Recht geben.
Aber in dem betreffenden Aufsatz handelt es sich nicht um das Zuchthaus,
sondern um das Gefängnis, und der Verfasser denkt auch nicht nur an die schwersten
Disziplinarvergehen; er will im Gegenteil die Prügelstrafe zur bessern Erhaltung
der gewöhnlichen Disziplin haben und zugleich — oder vorher? — zur Sicherung
der Stellung des Beamten. Statt daß dieser heute auch dem frechsten Lümmel
gegenüber keine augenblickliche Strafgewalt hat, sondern an den Direktor Bericht
erstatten muß, sodaß die Strafe erst dann vollzogen werden kann, wenn Zorn und
Ärger des Beamten verraucht sind, soll er die Erlaubnis bekommen, in solchen
Fällen durch einige Hiebe sich Respekt zu verschaffen und zugleich seinem Ärger
Luft zu macheu. Auch werde von vielen Beamten heute doch geprügelt, und diese
Ungesetzlichkeit erzeuge ein häßliches Vertuschungssystem. Also soll man dem Auf¬
seher die Vollmacht geben, die er nicht gut entbehren kann, und auch nicht stets
entbehrt — wenigstens thatsächlich — durch gesetzliche Erlaubnis.
Man sieht, der Verfasser verlangt die Strafe für ganz andre Fälle, als für
die sie im Zuchthaus heute angewendet wird. Nicht ausnahmsweise bei besonders
schweren Vergehen auf Anordnung des Direktors mit ärztlicher Genehmigung,
sondern nach Ermessen des einzelnen Aufsehers (dem natürlich bestimmte Normen
vorzuschreiben wären) soll sie angewendet werden, und auch wohl mit geringerer
Heftigkeit.
Für die Beamten gewiß sehr bequem. Dagegen kann aber uicht scharf genug
protestirt werden. Welche Roheiten würden wir bei dieser Einrichtung erleben!
Es kommen wahrlich schon hente in Deutschland mehr als genug Ausschreitungen
von Beamten vor, und es gehört ein starker Optimismus dazu, die traurigen Vor¬
gänge in Brauweiler so milde zu beurteilen und die Behauptung aufzustellen, daß,
wenn einmal ein Schutzmann in der Notwehr gegen einen frechen Zuhälter von
der blanke» Waffe Gebrauch machen müsse, dies erst durch die „Soldschreiber der
sozialdemokratischen, demokratischen und freisinnigen Presse" zu einer Roheit auf¬
gebauscht werde. Kein vernünftiger Mensch wird etwas dagegen einzuwenden haben,
wenn ein Schutzmann in der Notwehr sich hilft, wie er kann — das ist das
Recht eines jeden.^)
Aber daß auch außer dem Falle der Notwehr derartige Handlungen vor¬
kommen, ist durchaus uicht nur die Ausicht der demokratischen Zeitungsschreiber.
Ein Mann, dem man demokratische Gesinnungen nicht vorwerfen kann (im offiziellen
Deutschland ist das heutzutage ein Vorwurf!), Karl Jcntsch, schreibt z. B.: „Wie
häufig Mißhandlungen von Unterthanen durch die Polizei vorkommen, davon er¬
fahren die Anhänger der »Ordnungsparteien« wenig oder nichts, weil sie sozial¬
demokratische und demokratische Blätter nicht lesen, ihre eignen Parteizeitungen aber
diese Dinge grundsätzlich totschweigen. Es muß anerkannt werden, daß brutale
Polizeibeamte hie und da bestraft werden. Aber das kommt doch äußerst selten
vor; im allgemeinen schenken die Gerichte grundsätzlich der Polizei mehr Glanben
als dem Gemißhandelten, und dieser kaun schon froh sein, wenn er nicht noch wegen
Widerstandes gegen die Staatsgewalt verurteilt wird." (Betrachtungen eines Laien
S. 100.) Solche Fälle kommen sicherlich viel öfter Vor, als sie gerichtlich ver¬
handelt werden. Wie viel mehr würde nun in den Gefängnissen die ärgste Roh-
heit Platz greifen, wenn der Aufseher prügeln dürfte! Welch verkehrter Grundsatz,
eine Strafe deshalb zu fordern, weil sie dem strafenden gerecht wird! Die Be¬
amten sind doch um der Gefangnen willen da, nicht umgekehrt. Und welche Päda¬
gogik, eine Strafe von dem Verletzten im Zorn vollziehen zu lassen! Wenn Fälle
berichtet werden, wo sich zur Vollziehung der Prügelstrafe statt eines Beamten
zehn melden, so spricht das nicht eben gegen die Roheit dieser Leute. Und wie
machtlos würden die Gefangnen den Unterbeamten ausgeliefert sein! Man weiß,
was heutzutage die Beschwerde beim Militär für den sich Beschwerenden bedeutet.
Steht es damit im Gefängnis besser? Die Feigheit der Sträflinge, von der der
Verfasser erzählt, spricht nicht dafür — oder waren diese Leute in der Freiheit
schon ebenso feige? In einem neulich in München verhandelten Prozeß erklärte es
ein Offizier ausdrücklich für unmöglich, zu verhindern, daß ein Unteroffizier einen
Mann eine Beschwerde entgelten lasse. Die Nutzanwendung davon auf einen Straf¬
anstaltsdirektor und seine Beamten liegt auf der Hand. Und der Unteroffizier
darf doch nicht prügeln! Allerdings muß man zugeben, daß es ein Mißstnud ist,
wenn die Beamten thatsächlich die Prügelstrafe ohne gesetzliche Ermächtigung um¬
wenden; aber sie ihnen darum zu geben, hieße eine strafbare Handlung ganz frei¬
geben, weil sie öfter begangen wird.
Endlich ist aber auch der Optimismus bezüglich des Erfolgs der Prügelstrafe
nichts weniger als unanfechtbar. Wäre die Disziplin in unsern Gefängnissen so
arg, wie sie z. B. im vorigen Jahrhundert durchgängig war, und wäre die Prügel¬
strafe wirklich das Allheilmittel, das eine musterhafte Disziplin verbürgte, so
könnte ihre Einführung mit gewissem Recht verlangt werden. Das ist aber nicht
der Fall. Die Disziplin in unsern Gefängnissen mag zu wünschen übrig lassen,
sie ist aber jedenfalls niemals besser gewesen als heute. Und die Erfolge der
Prügelstrafe in früherer Zeit sind nicht geeignet, für sie Propaganda zu machen.
So hat mau in verschiednen Strafanstalten das Schweigegebot mit den härtesten
Strafen durchzusetzen gesucht, unzählige Prügel sind ausgeteilt worden — vergeblich.
Wir würden mit der Prügelstrafe im Gefängnis vermutlich dieselbe Erfahrung
machen. Da sie aber schon früher gemacht worden ist, so sollten wir uns auch
den Versuch schenken.
Die Prügelstrafe ist aber nicht nur im höchsten Grade brutal, sie ist auch eine
ehrenrührige Strafe, und diesen wichtigen Umstand muß man vor allem berück¬
sichtigen, wenn man vom Standpunkt des Sträflings aus, der maßgebend für die
Art der Strafvollziehung fein muß, unsre Frage betrachtet. Unser Strcisrecht kennt
ja Ehrenstrafen, die der Richter bei jeder Verurteilung zu Zuchthaus und uuter
bestimmten Voraussetzungen auch bei Verurteilung zu Gefängnis aussprechen kann. Es
würde zwar nicht dem Buchstaben, aber dem Geiste des geltenden Rechts widersprechen,
die Ehre eines Verurteilten der Strafgewalt der Gefäuguisverwaltung auszuliefern.
Natürlich könnte ja das Gesetz geändert werden, sodaß dieses Hindernis wegfiele.
Aber die Insassen unsrer Gefängnisse sind nicht durchweg Leute, denen man ihre
Ehre schädigen darf. Es wäre das ungerecht, weil sie durchaus nicht alle wegen
ehrloser Handlungen verurteilt sind; und es wäre unklug, weil man den so Be¬
straften amtlich aus der Gesellschaft der anständigen Menschen ausstößt, in die
zurückzukehren schon heute dem Entlassener schwer wird. Wie soll er es können,
wenn das letzte Gefühl von Ehre so geschädigt worden ist?
Nun könnte man ja daran denken, die Prügelstrafe nur für die einzuführen,
denen die bürgerlichen Ehrenrechte aberkannt sind. Dann bliebe aber ein so großer
Teil von dieser Maßregel unberührt, daß an eine allgemeine Besserung der Dis¬
ziplin nicht zu denken wäre; ja wenn sich diese Trennung auch uicht aus technischen
Gründen als undurchführbar erwiese, so würden doch leicht die uicht der Peitsche
nntcrworfnen die Disziplin jetzt um so mehr verletzen.
Das alles mag nun dem Praktiker sehr theoretisch erscheinen; aber ich kann
durchaus nicht zugeben, daß die Praktiker über solche Fragen allein entscheide» sollen.
Freilich soll die Thätigkeit des Praktikers nicht durch bürokratische Vorschriften
auf Schritt und Tritt gehemmt werden. Aber die Verwaltungsbehörde hat dafür
zu sorgen, das sämtliche Verwaltungszweige von einheitlichem Geiste durchdrungen
find. Sie kann es z. B. nicht jedem Strnfanstnltsdirektor überlassen, welche Dis¬
ziplinarstrafen er anwenden will. Sie hat ferner dafür zu sorgen, daß nicht in
einzelnen Gebieten Maßregeln ergriffen werden, die unsern allgemeinen Anschauungen
widersprechen. Und die Prügelstrafe, so wie sie in jenem Aufsatz verlangt wird,
wäre eine solche Maßregel.
Der Verfasser will aber die Prügelstrafe nicht nur zur Aufrechterhaltung des Dis-
ziplün er meint, in ihr, verbunden mit Deportation und Strafkolonien, zugleich
ein Mittel gegen das Anschwellen der Verbrechen gefunden zu haben. Die Inter¬
nationale kriminalistische Vereinigung stehe dem Übel ratlos gegenüber, die Auf¬
fassung der Strafe als Erziehung wiederspreche dem Empfinden des Volkes, so
bleibe also nur die Rückkehr zu schärfer» Strafmitteln übrig. Ich glaube aber
nicht, daß die Auffassung der Strafe als Erziehung dem deutschen Volke unsym¬
pathisch sei; wir haben ja mit dieser Auffassung noch gar nicht Ernst gemacht!
Und die Internationale kriminalistische Vereinigung steht doch wahrlich in Dentsch-
land erst am Anfang ihres Wirkens. Sicherlich aber wird sie niemals erreichen,
daß die Verbrechen aufhören. Das ist, wenn überhaupt, nur durch eine vernünftige
Sozial-, nicht durch Kriminalpolitik zu erreichen. Aufgabe der letztern ist nur. das
Verbrechen in seiner Abhängigkeit von den allgemeinen sozialen Verhältnissen zu
erforschen, darnach die Wirkung der Strafmittel zu berechnen und die Sozialpolitik
auf die Ursache» der Verbreche» hinzuweisen. Es ist das Verdienst der Inter¬
nationalen kriminalistischen Vereinigung, das Verbreche» als soziale Erscheinung ins
Ange gefaßt zu haben. Eine solche Betrachtung aber, die uns die Ursachen des
Verbrechens zeigt, warnt uns auch vor der Anwendung roher Strafmittel als un¬
gerecht und nutzlos. Viel barbarischere Strafen als die Prügelstrafe haben früher
das Verbrechen nicht zu beseitigen vermocht — die Prügelstrafe würde sich heute
nicht als wirksamer erweisen.
Nach den dem Reichstage
vorliegenden Entwürfen enthält das bürgerliche Gesetzbuch für das deutsche Reich
2359 Paragraphen, das Einführungsgesetz 217 Artikel. Gleichzeitig mit dem
bürgerlichen Gesetzbuche sollen eingeführt werden eine Gruudbuchordnnng, ein Gesetz
über die Zwangsversteigerung und Zwangsverwaltung des unbeweglichen Vermögens,
ein Gesetz über die freiwillige Gerichtsbarkeit einschließlich der Vormundschaftsord-
nung, ferner Änderungen des Gerichtsverfassungsgesctzes, der Zivilprozeßordnung,
der Konkursvrdnnng und des Handelsgesetzbuchs. Die Grundbuchordnuug umfaßt
nach dem Entwürfe vom Jahre 1889 79 Paragraphen, das Gesetz über die
Zwangsversteigerung usw. des unbeweglichen Vermögens nach dem Entwürfe von
demselben Jahre 245 Paragraphen. Von dem Gesetze über die freiwillige Ge¬
richtsbarkeit ist noch kein Entwurf veröffentlicht; auf mindestens 400 Paragraphen
wird man es aber schätzen dürfen. Die Änderungen des Gerichtsverfafsnngsgesetzes
werden etwa 40 bis 5V Paragraphen ausmachen. Eine vorliegende Zusammen¬
stellung der Änderungen der Zivilprozeßordnung, die unmittelbar mit den: bürger¬
lichen Gesetzbuche zusammenhängen, ergiebt 106 geänderte und 153 neue Para¬
graphen; dazu kommeu die geplanten, aber noch nicht veröffentlichten Änderungen
des Zustellungswesens, die mindestens auf 60 Paragraphen zu veranschlagen sind.
Die Änderungen der Konknrsordnnng umfassen nach der Vorlage 48 Paragraphen.
Die Änderungen am Handelsgesetzbuche sind noch nicht zusammengestellt; bei einem
mäßigen Anschlag kommt man auf etwa 100 Artikel. Summn Snmmcirum:
3817 Paragraphen und Artikel!
Wenn das deutsche Volk, nachdem sich dieser Paragraphenrcgen ergossen
haben wird, immer noch nicht ganz glücklich sein sollte — die Herren an den
grünen Tischen sind dann wirtlich nicht schuld daran; denn noch mehr Paragraphen
kann man billigerweise nicht von ihnen verlangen. Ich lasse meinen Sohn, der
bisher die Rechtswissenschaft studirte, Papiermüller werden!
In Heft 10 der Grenzboten wird Seite 496 Dr. Trillings
Schrift: Die soziale Lage der deutschen Ärzte usw. vou einem ungenannten Be¬
richterstatter anerkennend besprochen. Aber in zwei Punkten wird Trillings zweck¬
mäßigen Vorschlägen auffallenderweise widersprochen, nämlich hinsichtlich der Ein¬
schließung der Familien der Versicherten und der festen Anstellung der Kassenärzte.
Die staatliche Fürsorge für den erkrankten Arbeiter wird als berechtigt anerkannt,
vor dem Einschluß seiner Familie wird gewarnt, weil dem Arbeiter dadurch jede
eigne Willensbethätigung zur Bewahrung der Seinen vor Not und Elend abge¬
nommen würde. „Wir thun nicht nur gut, solche Geschwindschritte in den kom¬
munistischen Staat hinein möglichst zu vermeiden, sondern wir müssen uns auch
hüten, die Charakterentwicklung des Einzelnen durch übermäßige Bevormundung
noch mehr zu schwächen."
Nun, wenn dieser neue Schritt auf der längst betretnen Bahn Kommunismus
ist, dann war schon die ganze soziale Gesetzgebung Kommunismus, dann war auch
die Einführung der allgemeinen Schulpflicht und die Ersetzung der Privntschulhnlter
durch angestellte Lehrer verderblicher Kommunismus, dann ist unser ganzes Volks¬
leben seit alten Zeiten von kommunistischen Einrichtungen erfüllt. Will aber der
Verfasser etwa nur vor der allzuschnellen Reform warnen, vor dem Geschwind¬
schritt in den doch unvermeidlichen kommunistischen Staat hinein, dann meine ich:
Was doch geschehen muß, soll man ausführen, sobald die Notwendigkeit erkannt
ist. Geschwindschritt ist besser, als Immer langsam voran! Der gehemmte Fort¬
schritt der vierziger Jahre hat das tolle Jahr gezeugt. Notwendig aber ist der
Einschluß der Familienmitglieder zum Wohle der Arbeiter. Das haben einzelne
Kassen längst erkannt, und haben darnach gehandelt. Anderswo aber sind die ver-
heiratete» Arbeiter, die für die gleiche Maßregel eintraten, überstimmt worden
durch die Kurzsichtigkeit der Unverheirateten und die Engherzigkeit der Arbeitgeber.
Darum soll mau auch hier den wohlthätigen Gesetzeszwang anwenden, der bei
Schulpflicht, Wehrpflicht, Separation so heilsam gewirkt und auch in der sozialen
Gesetzgebung, trotz ihrem Stückwerk, gut gethan hat. Aber das Stückwerk genügt
nicht, es muß ganze Arbeit gemacht werden. Die Charakterentwicklung des Ein¬
zelnen schwächen, das will niemand. Davon kann auch hier gar uicht die Rede
sein? Selbstsucht und Unverstand werden durch deu Zwang gelähmt. Charakter
und Einsicht erhalten durch ihn nur freie Bahn. Zu Anfang dieses Jahrhunderts
hat mein Großvater in Svldin mit bewundernswürdiger Zähigkeit für die Sepa¬
ration gekämpft. Als endlich 1822 das Separationsgesetz erschien, hat er mit
seinen sieben Kampfgenossen darin keine Hemmung seiner Charakterentwicklung ge¬
sehen, sondern hat es mit Freuden als Mittel gebraucht, sein Ziel zu erreiche».
So werden auch die verheirateten Arbeiter ein Gesetz, das die Ihrigen in die
Krankenkassen einschließt, nicht als eine Schwächung empfinden, sondern als eine
Stärkung für den Kampf ums Dasein, der immer noch hart genug bleiben wird.
Die Unverheirateten aber werden sich leicht fügen und sagen, wie so oft: „Ach
wegen dem Pfeng!" Murren werden nur gewisse Arbeitgeber.
Wie will mau es aber rechtfertige», den Industriearbeiter!! eine gesetzliche
Wohlthat vorzuenthalten, die für die Bahnbeamten längst besteht? Man vergleiche
den Aufsatz von Dr. Hcrzfcld, Bnhuarzt in Berlin, über die Neuregelung der bahn¬
ärztlichen Verhältnisse in Ur. 10 der Deutschen medizinischen Wochenschrift vom
5. März d. I., Seite 158 und 159,. Da wird n. a. mitgeteilt- Die Augehörigen
der Kasseninitglieder haben gemäß den Satzungen Anspruch auf ärztliche Behand-
lung. Ist das dort etwa auch Kommunismus? Ja oder nein, gleichviel! Ein
solcher Kommunismus soll uns auch bei deu Industriearbeitern keinen Schrecken
einjagen.
Mit der staatlichen Zusammenfassung der Krankenversicherung erklärt sich der
Berichterstatter einverstanden. Nur von der Anstellung der Ärzte mit festem Gehalt
nach Drillings Vorschlag will er nichts wissen. Dabei scheint er Drilling teilweise
mißverstanden zu haben. Denn dieser will den Ärzten gar nicht einen festen Gehalt
zu gleichen Teilen zahlen, sondern er spricht von einer durchschnittlichen Besoldung
von 3000 Mark. Darin liegt schon, daß es auch höhere und geringere Besoldung
geben soll, und wie in andern Beamteuklassen, wird ja wohl auch beim ärztlichen
Stande der Wunsch, in eine bessere Stelle auszurücken, ein Sporn zu pflichttreuer
Thätigkeit sein. Wenn dabei der Herr Verfasser von manchem tragen und nach¬
lässigen Arzte spricht, dem Trillings Vorschlag wie Engelsmusik in den Ohren
klingen werde, so muß mau doch billig fragen: Ist wirklich der ärztliche Stand
vor andern gelehrten Berufen so ganz besonders mit Trägheit gesegnet? Werden
nicht auch andre Beamte mit festem Gehalt angestellt, ohne daß ihnen für jede
einzelne Leistung eine Art Stücklohn angerechnet wird? Und ist endlich vom Staate
zu erwarten, daß er sein Aufsichtsrecht gegen den ärztlichen Beamten weniger streng
üben werde als gegen andre Beamtenklassen? Davon, daß jeder Arzt mit festem
Gehalt angestellt werden müsse, wann und wo er will, soll ja gnr nicht die Rede
sein, sondern der Staat schreibt die Stellen mit bestimmtem Wohnsitz aus, in
der Weise, daß immer ans 1600 Versicherte ein Kassenarzt kommt. Natürlich hat
er die Auswahl unter den Bewerbern. Und gerade dann, wenn, wie der Bericht¬
erstatter meint, außer einigen Koryphäen der Wissenschaft alle deutscheu Ärzte die
Anstellung als Kassenärzte wünschen sollten, wird es ihm much für die entlegensten
Orte nicht nu einigen Bewerbern für die Auswahl fehlen. Freilich kaun er bei
einer solchen Verteilung nur etwa 15 000 Kassenärzte anstellen. Die übrigen
5000 bis 6000 um'istten leer ausgehen und warten, bis wieder Stellen frei werden,
wie das in andern Berufe» auch ist. Aber ob das wirklich so viel sein werden,
wie der Berichterstatter annimmt, ist doch sehr fraglich. Denn nicht bloß die
Koryphäen der Wissenschaft werden ans die Staatsanstellnng verzichten, sondern
anch die Badearzte, Spezinlärzte, Nniversitätsdozenten und die Inhaber einer reichen
Praxis. Drilling rechnet auf alle diese ungefähr 6000, und so kommt er zu dem
Schluß, daß zunächst für alle Bewerber gesorgt werden kaun. Dabei werden sich
entlegne Gegenden mit jungen Anfängern begnügen müssen und junge Anfänger
mit entlegnen Gegenden. Aber das ist für beide Teile weit besser als die jetzige Not.
Diese Forschungen zur Geschichte des Dramas und der Bühne in Deutschland
werden außerordentlich fleißig gefördert, und die Güte der Bände steigert sich er¬
freulicherweise mit der raschem Folge. Die vorliegende Arbeit, bereits der zweite
Beitrag Volkes, dient nicht etwa nnr der Ortsgeschichte. Erstens sind die Danziger
Verhältnisse ein leidliches Dnrchschnittsbeispiel für das Theaterweseu der großer»
deutschen Städte jener Zeit überhaupt — z. B. für die Art, wie die Aufführungen
der jungen Bürger und Handwerksgesellen, die von Schülern und die von aus¬
wärtigen wandernden Berufsschauspielern damals einander abgelöst haben —, und
zweitens verfolgt Bolle stets Schauspieler und Stücke, die vor der Danziger Bürger¬
schaft in jenem Zeitraum erschienen, rückwärts und vorwärts, soweit es heilte
möglich ist, und bietet aus diese Weise trotz der mmalistischeu Anordnung eine
ganze Reihe abgeschlossener kleiner Bilder. Überdies teilt er aus dem Nachlaß
eines Dauzigers zwei bisher unbekannte Schauspiele der englischen Komödianten
nach der Handschrist mit, die diesem von dem Hamburger Truppeuleiter Paulsen
überlassen worden sein werden, als sich (um 1670) die besten Schauspieltruppeu
vou der englischen Dramatik abwandten und dafür mehr und mehr französische
und italienische Stücke ausführten.
Diese Vorzügliche Übertragung der Frithjofssnge sei nlleu Freunden der schönen
Dichtung herzlich empfohlen, es ist die beste, die wir in Deutschland haben. Vor
allen Dingen haftet ihr nichts von der Angcnblicksnrbeit an, deren Stempel die
allermeisten Übersetzungen dem Original gegenüber tragen, sie ist frei von diesem
flüchtigen, zufälligen Charakter, sie trägt endgiltige Züge. Trotz der strengen Bei¬
behaltung der mannichfaltigen Originalformen haben die Strophen und Verse etwas
natürlich gesättigtes, wie man es in einer Übersetzung selten findet.
Das Bändchen ist auch so freundlich ausgestattet, daß es sich gut zu einem
Geschenk eignet.