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]]>Zeitschrift
für
Politik, Litteratur und Kunst
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^. MX 5
52. Jahrgang
Drittes Vierteljahr
Leipzig
Verlag von ^r. Wilh. Grunow
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(Die mit « bezeichneten nunder sind in szrösiern Aussähen
besprochen worden)
egimien wir mit einem Rückblick. In Preußen haben sich vor
1866 Regierung und Volk oft darüber beklagt, daß man um
der schlechten geographischen Gestalt des Landes willen und zum
Schutze des deutschen Volkes eine übermäßig schwere Waffen¬
rüstung tragen müsse, und die Einigung Deutschlands wurde
u. a. auch darum erstrebt, weil man davon in dieser Beziehung Erleichterung
hoffte. Nach 1870 ist nun die Last der Preußen nicht leichter und die der
Süddeutschen schwerer geworden. Kein Wunder, daß diese Enttäuschung und
der nicht bloß fortdauernde, sondern zunehmende Druck Mißstimmung erzeugt,
und daß diese Mißstimmung mit jeder Militärvorlage steigt. Diese Mi߬
stimmung auf Hetzerei zurückführen und den schwer lastenden Druck leugnen,
wäre ein staatsgefährliches und unpatriotisches Beginnen. Die Redensart,
daß eine Mark auf den Kopf doch wahrlich nicht zu viel sei, wenn man da¬
mit den Kosaken abhalten könne, der an der Grenze lauere, um die letzte
Kuh zu holen, die Weiber zu schänden und die Kinder zu spießen, ist eine
Albernheit. Erstens bedeutet diese eine Mark auf den Kopf fünf Mark auf
die Familie, und hat eine Familie ohnehin nicht so viel, als sie zum Leben
braucht, daun empfindet sie es schmerzlich, wenn durch indirekte Steuern die
karge Gütermenge, die sie sich zu erwerben vermag, um den Wert von weitern
fünf Mark vermindert wird. Zweitens bildet die Militärverwaltung bloß
einen unter vielen Verwaltungszweigen, und das Sparen in den übrigen zu
Gunsten des Militärs erzeugt hie und da die unwürdigsten und unerträglichsten
Zustände. Soll diesen abgeholfen und soll dabei auch noch den Bedürfnissen
der Provinzen, Kreise und Gemeinden Rechnung getragen werden, so kann
leicht aus der fünf eine fünfzig werden. Drittens kommen zu den fünfzig bis
sechzig Millionen, um die der gewöhnliche Etat erhöht wird, viele außer-
ordentliche Ausgaben, die durch Anleihen gedeckt werden müssen, daher
die Reichsschuld vermehren, die aus dem Steuerertrage verzinst werden muß,
auch in mehreren andern Beziehungen wirtschaftlich und sozial verderblich wirkt.
Viertens drückt das Militär nicht bloß durch die Steuern. Der kleine Bauer,
dem ein Sohn einberufen wird, muß statt dessen einen Knecht oder Tagelöhner
halten und glaubt außerdem auch noch den Sohn mit einem Zuschuß unter¬
stützen zu müssen. Von den Knechten und ländlichen Tagelöhnern, die zum
Militär kommen, bleiben viele in der Stadt, weil es ihnen da besser gefällt
als bei der täglich ungemütlicher werdenden Ackerarbeit, und den Knechten
ziehen die Mägde nach. So trägt der Militarismus noch zur Entvölkerung des
platten Landes bei. Der junge Handwerker aber, der Fabrikarbeiter, der Hand¬
lungsgehilfe findet, wenn er vom Militär zurückkommt, seinen Platz besetzt,
und diese Gefährdung seiner Existenz wiederholt sich bei jeder Übung. Der
Beamte kennt das freilich nicht, und er ist daher jederzeit bereit, das Lob des
Dienstes zu singen; sein Gehalt geht fort, und seine Stelle bleibt ihm. Dazu
kommt die Zurückdrängung des bürgerlichen Elements durch das immer breiter
hervortretende militärische: die Schädigung von Gewerbetreibenden durch Militär-
Werkstätten, Kandiren, Kasinos und Krümperfuhrwerke, von Arbeitern dadurch,
daß die Garnisonen bei manchen Gelegenheiten, z.B. für den Postdienst in
der Weihnachtszeit, Mannschaften zur Aushilfe stellen, die Verletzung des Ehr¬
gefühls, wenn die Uniform überall dem bürgerlichen Rock vorgeht, mag anch
in jener nur ein junger Leutnant, in diesem ein alter hochverdienter Mann
stecken. Die Arbeiter endlich sind dem Militarismus an sich feind, weil sie
wissen, daß er einen festen Damm gegen ihre Bestrebungen bildet. Bei vielen
wird ja freilich diese Gegnerschaft durch das persönliche Wohlgefallen am
Soldatenleben aufgewogen; allem die „Lust, Soldat zu sein," wird von Jahr
zu Jahr durch die zunehmende Strenge des Dienstes geringer, und je weitere
Kreise die Rekrutirung ergreift, desto größer wird unter den Ausgehobuen die
Zahl solcher, die sich nicht fürs Soldatenleben eignen. Der Soldatenberuf
ist ein Beruf wie jeder andre Beruf; wer sich für ihn am besten eignet, wird sich
gewöhnlich zum Schulmeister- oder Schneider- oder Schreiberberuf am schlech¬
testen eignen, und umgekehrt; vielseitige Persönlichkeiten, die zu allem taugen,
sind selten. Als Landsturmmann zur Wehr greisen, um Haus und Hof vor dem
eingedrungnen Feinde zu schützen, das kann jeder, und das thut jeder; aber
ein vollkommner Soldat sein, das kann nicht jeder für andre Berufsarbeiten
tüchtige Manu; vollkommne Soldaten aber sollen in den modernen Staaten
alle Dienstpflichtigen werden. Wenn man nun nicht bloß solche dazu nimmt,
die Anlage und Lust dazu haben, sondern alle leidlich gesunden Männer, so
entsteht daraus ein doppeltes Übel: wer Lust zum Soldatenleben hat, der
wird dadurch seinem bürgerlichen Beruf entfremdet, und wer keine Lust dazu
hat, dem fällt der Dienst sehr schwer, und das Militär wird ihm verhaßt. Über
kurz oder lang werden sich die europäische» Regierungen vor die Frage ge¬
stellt sehen, ob es möglich sei, aus allen Männern zugleich vollkommne Sol¬
daten und vollkommne Handwerker, Künstler. Gelehrte, Fabrikarbeiter und
Bauern zu machen, und ob nicht „das Volk in Waffen" eine nur vorüber¬
gehend berechtigte, auf die Dauer aber unhaltbare Einrichtung sei. Ein Volk
ist entweder ein eroberndes Volk und dann ein Soldatenvolk, schwach im
Ackerbau, den es durch Sklaven betreiben läßt, schwach in Künsten und Wissen¬
schaften, in Handel und Gewerbe, oder es ist ein Volk friedlicher Bürger und
Bauern, dann kann es kein Svldatenvolk sein, und der Offizier kann nicht die
erste Rolle spielen.
Wenn die Kartcllpresfe alle diese Schwierigkeiten einfach totschweigt oder
mit einigen patriotischen Redensarten abfertigt, so ist das teils ein frivoles
Treiben gedankenloser Lohnschreiber, die jederzeit bereit sind, heute für und
morgen gegen ein und dieselbe Sache zu schreiben, teils rührt es daher, daß
die guten und ehrlichen Patrioten, die überall dabei sind, wo der Ruf ertönt:
Mit Gott für König und Vaterland, in ihrer Begeisterung unfähig siud, nüch¬
terne Erwägungen anzustellen, endlich auch daher, daß diese Presse unter dem
Einflüsse mächtiger Interessentengruppen steht, denen jede Vermehrung des
Militärs Vorteil bringt.
Die Drohung mit Franzosen und Kosnken wirkt nicht mehr. Jedermann
sagt sich, daß wir zwar selbstverständlich unter den heutigen Verhältnissen
ein großes. starkes und gutes Kriegsheer haben müssen, daß aber bei einer
Friedensstärke von beinahe einer halben Million das Schicksal des Vaterlandes
unmöglich von 20000 oder auch 50000 Mann mehr oder weniger abhängen
könne. Die großen Worte der Regierungsblätter und der Patrioten von Beruf
ziehen um so weniger, weil Fürst Bismarck, der doch Wohl zu deu Sach¬
verständigen gehört, von Anfang bis zu Ende in den „Hamburger Nachrichten"
behauptet hat: 1. nicht die Annahme, sondern die Ablehnung der Vorlage
würde eine Friedensbürgschaft sein, 2. die Durchführung der Vorlage würde
— für die nächsten Jahre wenigstens — eher eine Schwächung als eine
Stärkung unsrer Kriegsmacht bedeuten. Am 8, November v. I. hat denn auch ein
nationalliberales Blatt Badens geschrieben: Wir möchten den sehen, der jetzt,
nachdem Bismarck gesprochen hat, es noch wagen würde, diese Borlage auch
nur mit einem Worte zu verteidigen! Zu allem Überfluß hat dünn noch ein
Blatt der Mittelparteien kurz vor dem Wahltage in seiner Herzensangst ver¬
raten, daß es sich ja gar nicht um Franzosen und Kosaken, sondern um die
Sozialdemokraten handle, das heißt also, daß wir mehr Soldaten brauchen
für den latenten Bürgerkrieg; denn nicht eine Verschwörerbande ist die Sozial-
demokratie, sondern der organisirte vierte Stand.
Nicht weniger unwirksam als die Schreckgespenster sind die ans volks¬
wirtschaftliche Erwägungen gegründeten Moralpredigten. Man rechnet uns
vor, daß alle unsre Nachbarn noch weit mehr fürs Militär ausgeben als wir.
Darauf antwortet der anonyme Verfasser des Buches: „Volksdienst; von einem
Sozialaristokraten" (und spricht damit gewiß den innersten Gedanken von
Millionen aus): Daraus folgt doch nur, daß die andern Völker noch dümmer
sind als wir! Man rechnet uns vor, wie reich das deutsche Volk sei, und
wie leicht es noch weit mehr aufbringen konnte, als gefordert wird. Ja doch,
ja! Unser Nationaleinkommen ist stattlich genug. Miquel hat allein bei den
obern Dreihunderttausenden Preußens 1500 Millionen Einkommen mehr ent¬
deckt, als diese Herren das Jahr zuvor selbst gefunden hatten. Niemand wird
behaupten wollen, daß sie mit dem, was sie vor der neuen Einschätzung selbst
angegeben hatten, uicht standesgemäß leben könnten. Sie brauchen von diesen
1500 Millionen nur deu dritten Teil als Finderlvhn auf dein Altare des
Vaterlandes zu opfern — natürlich alljährlich —, lind nicht allein die Kosten
der Militärvorlage sind gedeckt, sondern Staat und Reich sind aus allen
Finanznöten. Und dann werden sie auch einigermaßen berechtigt sein, in ihren
Blättern dem Mittelstande — das Proletariat muß aus dem Spiele bleiben;
ihm Opfer fürs Vaterland zuzumuten, wäre aus mehr als einem Grunde un¬
anständig —, dem Mittelstände also Opferwilligkeit predigen zu lassen. Wenn
sie vor dieser That, die bei der jetzt in ihren Kreisen flutenden hohen patrio¬
tischen Begeisterung keine vier Wochen mehr auf sich warten lassen kann, schon
jetzt predigen lassen und auf ihre Predigt ein andres Amen erwarten, als ein
höllisches Hohngelächter, dann sind sie dumm.
Stunde der Feind wirklich an der Grenze oder gar schon im Lande,
dann wäre zum Rechnen keine Zeit, und jeder, auch der Proletarier, würde
opfern, ohne zu fragen, was der reiche Nachbar opfert oder dem Vaterlande
schäbig entzieht. Daß dem Volk Opfer zugemutet werden für Zwecke, die es
nicht kennt, von denen es argwöhnt, sie möchten mit seinem Wohle sehr wenig
zu schaffen haben, daß auf jede „unwiderruflich letzte" Militärvorlage eine
neue folgt, das bringt das Volk zur Verzweiflung. Es fühlt sich wehrlos
in einen Schraubstock gespannt, dessen Schraube ohne Ende seine wirtschaftliche
wie seine Charakter- und Geisteskraft zu zermalmen droht. Auf die „mili¬
tärische Spannung," nicht auf „Intentionen der Regierungen" hat Graf Kal-
uoky das europäische Wettrüsten zurückgeführt. Das heißt deutlich gesprochen:
nachdem die europäischen Staaten fast sämtlich Militärstaaten und die Offizier¬
korps der herrschende Stand geworden sind, giebt es nichts, was den jedem
Stande natürlichen Expansionstrieb beim Militär noch eiuschrünken und
hemmen könnte. Und jeder Ruck, mit dem sich das Heer des einen Staates
ausdehnt, liefert den Heeren aller andern Staaten den willkommnen Vorwand
für eine entsprechende Vergrößerung.
Nun soll uicht geleugnet werden, daß diese militärische Spannung durch
die Lage Europas gerechtfertigt wird. Nur muß man endlich einmal auf-
hören, diese Lage so darzustellen, wie es alljährlich in den Thronreden aller
Staaten geschieht: unsre Beziehungen zum Auslande sind die besten, aber zur
Sicherung des Friedens brauchen wir mehr Soldaten. Wir Deutschen sind
keine kleinen Kinder, daß man uns eine Redensart, die einmal als diplo¬
matischer Notbehelf gestattet werden könnte, zwanzig Jahre lang alljährlich
zur Begründung von Gcsetzvorlageu auftischen dürfte. Die den Frieden be¬
drohende Kriegsgefahr ist kein geheimnisvolles, unfaßbares Gespenst, sondern
beruht auf Verhältnissen, die breit und körperlich vor aller Welt Augen da¬
liegen, die deutlich ausgesprochen und entweder auf diplomatischem Wege oder
durch einen Krieg beseitigt werden müssen. Die Redensart vom Rüster zur
Erhaltung des Friedens enthält einen unerträglichen Widersinn. Entweder
die Völker Europas find sämtlich industriell geworden und mögen wirklich keine
Kriege mehr führen, dann sind die Armeen rudimentäre Organe am Volks¬
körper, die vielleicht, gleich den Schwanzbürzelcheu der Hirsche und Rehe, noch
als Verzierung beibehalten werden könnten, aber denen die besten Säfte zuzu¬
führen Tollheit wäre. Oder irgend ein Volk, es mögen auch zwei oder drei
Völker sein, braucht und will den Krieg, dann „stelle" man den Störenfried und
bringe die Sache zur Entscheidung! Soldaten sind zum Kriegführen da, und kann
oder will man sie nicht mehr dazu gebrauchen, dann fort mit ihnen! Zur
Leibesübung reicht die Gymnastik hin und sind weder Magazingewehre noch
Kanonen noch Kasernen nötig, lind was die militärische Erziehung anlangt,
so können Ordnungsliebe und Reinlichkeit auch außerhalb der Kaserne gepflegt
werden, der militärische Gehorsam aber ist, als Eigenschaft eines ganzen Volkes,
eine sehr bedenkliche Tugend; er macht steif, bindet die Initiative und dörrt
den Geist ans. Preußen hat seinen Bedarf an Geist größtenteils aus deu
deutschen Kleinstaaten gedeckt, und unsre Kolonisationsversnche fallen zum
Teil darum so wenig befriedigend aus, weil unserm Volke unter der mili¬
tärischen Dressur die Spannkraft, die Selbständigkeit der Entschließungen, die
Fähigkeit, sich ohne Anweisung von oben in jeder Lage selbst zu helfen
— Eigenschaften, die den Engländer auszeichnen —, zum Teil verloren ge¬
gangen sind.
Zu dieser innerlichen Bindung tritt aber eine äußere. Der gesunde, in¬
telligente Deutsche, der auswandern möchte, um sich in der Ferne eine Existenz
zu gründen, darf gerade in den Jahren der frischesten Thatkraft und Unter¬
nehmungslust nicht fort. Die Militärpflicht hält ihn zurück, und zudem hat
mau sich daran gewöhnt, jede Auswanderung eines kräftigen Mannes als einen
doppelten Verlust fürs Vaterland anzusehen: außer dem Soldaten, meint man,
gehe auch ein Stück Kapital verloren. Das Gegenteil ist wahr: daheim geht
es verloren! Jeder im Nvlkskörper bleibende Blutstropfen, für deu die ent-
sprechende Verwendung fehlt, schlägt in Eiter um. Unser Volk wird dadurch
wahrlich nicht stärker, daß wir jährlich ein paar hunderttausend verkümmerte,
unzufriedne Arbeiter, Strolche, Schmarotzer aller Art mehr bekommen und zu
deren Bewachung so und so viel tausend Soldaten und Polizeibeamte bezahlen,
für ihre Unterbringung so und so viel Zuchthäuser, Irrenhäuser und Siechen-
häuser bauen und unterhalten müssen. Wenn dagegen der Überschuß alljähr¬
lich auswanderte, so würde uns alljährlich ein neues deutsches Volk von
kräftigen Baktern zuwachsen, die zugleich Abnehmer unsrer Jndustrieerzengnisse
sein würden. Und das wäre ein Zuwachs nicht allein voll Reichtum, sondern
auch von politischer Macht. Oder glaubt man, daß Rußland noch einen Krieg
gegen uns führen könnte, wenn es zehn Millionen Deutsche in seinem Schoße
hegte? Man eröffne dem deutschen Volke die Aussicht, daß die Rüstungen
auf eine solche Verbreiterung seiner wirtschaftlichen Grundlage abzielen, und
es wird die Militärvorlage mit Jubel bewilligen. Für einen greifbaren hohen
Zweck zu opfern läßt es sich ganz gewiß bereit finden.
Vor vierzehn Tagen ist an dieser Stelle auf die dem deutschen Volte ur¬
eigne Kriegslilst hingewiesen worden, die mit Friedensgcschwätz und polizeilich
erzwungner Philistersittsamkeit dämpfen zu wollen höchst unpolitisch sei. Sehr
richtig; nur scheint uns die Sache ein wenig anders zu liegen, als sie der
Verfasser jenes Artikels auffaßt. Der Krieg, wie er hente geführt wird, kann
dem kampflustigen Ritter so wenig Freude machen wie dem rauflustigen Burschen.
Nur das Ringen Brust an Brust, das Hauen und Stechen auf den Leib des
Gegners, wobei man dessen Blut spritzen sieht, befriedigt diesen Trieb; auf
Kommando im Kugelregen still stehen, oder ans Feinde schießen, die zwei¬
tausend Fuß weit entfernt stehen, dürfte schwerlich ein Vergnügen sein. Dennoch
würde der Krieg als Erlösung von unerträglichem Drucke wirken und, wenn
anch nicht um seiner selbst willen, so doch als Mittel zum Zweck mit Jubel
begrüßt werden. Was bei uns Millionen vor Wut wahnsinnig macht, ist das
Bewußtsein, die Empfindung, daß sie etwas tüchtiges leisten, sich eine an¬
ständige Existenz gründen könnten, daran aber durch die Verhältnisse gehindert
werden. Anstatt ein Brachfeld umzupflügen und sich und den Seinen ein
schönes Heim zu gründen, muß so mancher starke junge Mann in einer Gift¬
hütte Fcirbeu kochen lind dabei schwindsüchtig werden oder in einer Penne ver¬
faulen. Die Spannkraft, die ihn treibt, Widerstünde zu besiegen, und wovon
die Rauflust nur eine spielerische Äußerung ist, wird durch den Druck der
Verhältnisse in selbstmörderischen Gram oder giftigen Neid oder boshafte Mord-
lust umgesetzt. In England ist zwar durch die Selbstsucht der herrschenden
Klassen die Hälfte des Volks ähnlichem Siechtum verfallen, die andre Hälfte
aber, die sich die natürliche Spannkraft bewahrt hat, ist so glücklich, durch
keinerlei Schranken eingeengt zu werden, und so genügen denn ihrem Expmi-
sionsbedürfnis kaum alle fünf Weltteile; dein deutschen, an und für sich ganz
ebenso kräftigen und noch reicher begabten Volke sollen seine neuntausend
Quadratmeilen genügen! Der gesunde Junge steckt in der Zwangsjacke; er
strampelt, er heult, er kratzt und beißt. Die Tanten schreien: bindet ihn fester,
haut ihn! Und so geschieht es; aber natürlich, je mehr er geprügelt und je
fester er geschnürt wird, desto mehr rast er, und befreit man ihn nicht bald,
so wird nicht bloß ein Taugenichts, sondern ein Bösewicht daraus.
Noch ein andrer Punkt ist zu erwägen. Wenn Moltke gesagt hat, das
deutsche Volk werde die Errungenschaften von 1870 fünfzig Jahre hindurch
verteidigen müssen, so heißt das so viel wie: wir haben 1870 unser Ziel noch
nicht erreicht; Deutschland hat noch nicht die Gestalt und Größe, die es haben
muß, um unangreifbar und sicher dazustehen, es muß noch einen, vielleicht
noch eine Reihe von Kriegen führen, um dieses Ziel zu erreichen. Wollte
jemand die Worte des großen Strategen so verstehen, daß unser Volk fünfzig
Jahre lang der Gefahr von Überfällen ausgesetzt Gewehr beim Fuß dastehen
solle, ohne sich zu rühren, so hieße das, uns eine übermenschliche Geduld-
Prüfung zumuten, und schon nach fünfundzwanzig Jahren würde die Ungeduld
wie vor Paris „Macht doch endlich bum, bum, bum!" schreien und nicht mehr
zu zügeln sein. Ein Volk, das Jahrzehnte um seiner Sicherheit willen rüsten
müßte und die unerträgliche Spannung nicht durch einen Angriff zu lösen
wagte, würde nicht die Rolle der alten Römer spielen, sondern die der Kar¬
thager nach dem zweiten punischen Kriege.
Durch die Art nud Weise, wie Militärvorlagen behandelt zu werden pflegen,
wird die Lage der Regierung nicht eben verbessert. Zwei Leitmotive beherrschen
ihre parlamentarische Schlachteumusik: 1. In Militärsachen ist die Militär¬
verwaltung allein sachverständig. 2. Wer gegen uns stimmt, ist ein Feind
des Vaterlands. Der erste Satz ist unbedingt richtig, und deshalb hat es
keinen Sinn, im Parlament und in der Presse über Kadres und Manqueinents,
über das Verhältnis der Artillerie zur Infanterie u. tgi. zu disputiren. Läßt
man sich aber ans solche Erörterungen mit uns Laien ein, dann muß man
sichs auch gefallen lassen, wenn wir, die wir anf Autoritäten angewiesen sind,
uns unsre Autoritäten nach Belieben auswählen, Bismarck mehr glauben als
Caprivi, dem die Zahlenwut verspottenden Cnprivi von 1891 mehr als dem
Cnprivi vou 1893, und dem Kaiser Wilhelm, der vor reichlich einem Jahre
gesagt hat, eine kleinere gute Truppe sei ihm lieber als eine größere weniger
gute, mehr als demselben Kaiser Wilhelm, der später doch zum großen Mi߬
fallen der Konservativen diese Vorlage mit der zweijährigen Dienstzeit geneh¬
migt hat. Wenn aber auch der zweite Satz richtig sein sollte, wozu befragt
man dann überhaupt das Volk? Hat es einen Sinn, die Leute zu fragen, ob
sie Landesverräter sein wollen oder nicht, und den Beschlüssen einer landes-
verräterischen Mehrheit bindende Kraft zuzuerkennen? Entweder man hält den
Staatsbürger für berechtigt, auch eine Militärvvrlage abzulehnen, dann ist er,
wenn er es thut, kein Vaterlandsfeind; oder man glaubt, daß in Militürsachen
das Wohl des Baterlandes nur beim Monarchen geborgen sei, dann scheide
man sie von den Beratuugsgegenständen des Reichstags aus, und der Monarch
übernehme die ganze Verantwortung selbst persönlich und allein! Allenfalls
könnte er, um sich einigermaßen zu decken, ein Plebiszit, ein Referendum ver¬
anstalten, nicht über das Technische einer solchen Vorlage, wovon wir ja nichts
verstehen, sondern über folgende drei Fragen. 1. Wünscht ihr eine Verstärkung
des Kriegsheeres? 2. Wenn nicht, wollt ihr sie euch wenigstens gefallen lassen?
3. Ist das Volk imstande, die vermehrte Last zu tragen? Die Antwort Ware
einfach mit ja und nein zu geben, und alle Agitation und Beeinflussung wäre
ausdrücklich zu verbieten, da dem Monarchen alles daran liegen müßte, den
Willen und die Stimmung der Mehrzahl genau zu erfahren. Überwögen bei
allen drei Fragen die „nein," und bliebe er dennoch bei seinem Entschlüsse,
so wüßte er wenigstens ganz genau, welches Wagnis er damit unternähme.
Der Reichstag hätte dann nur über die Aufbringung der Kosten zu beraten,
und wenn er sich weigerte oder über die auszuschreibenden Steuern nicht
einigen könnte, so würde der Monarch, wiederum auf seine persönliche Ver¬
antwortung und Gefahr, das Geld nehmen, wo er es fände.
Die Reichstagsabgeordneten, die von mancherlei Rücksichten geleitet werden,
sind weit entfernt davon, den Dingen so auf den Grund zu gehen, wie wir es
oben gethan haben, und nach solchen Erwägungen ihre Entscheidungen zu
treffen oder die Negierung zur Annahme einer Politik mit klaren Zielen zu
zwingen. Anfänglich waren sie sämtlich gegen die Vorlage, die zur Rechten
wegen der zweijährigen Dienstzeit, die zur Linken teils aus grundsätzlicher
Abneigung gegen das Militär, teils aus volkswirtschaftlichen Gründen, alle
ohne Ausnahme, weil es die Wähler gern haben. Der Verfasser dieses Aus¬
satzes hat in einer kleinen Zeitung den damaligen Entrüstungssturm verspottet
und prophezeit, daß im letzten Augenblick Zentrum und Liberale die zur An¬
nahme erforderliche Anzahl von Abgeordneten abkommandircn würden, um,
nachdem sie durch die Opposition ihren guten Ruf als Volksmänner gewahrt
hatten, uun die Gefahr der Auflösung abzuwenden. Unvorhergesehene Er¬
eignisse haben diese Voraussagung, die sonst eingetroffen sein würde, zu schänden
gemacht. Das Zentrum, tief verstimmt durch die Preisgebung des Volksschul-
gesetzentwnrfs und daher von vornherein wenig geneigt, die Negierung zu
unterstützen, wurde durch die drohende Meuterei seiner Wähler gezwungen,
eine feste oppositionelle Haltung einzunehmen. Der Unwille der rheinisch¬
westfälischen Arbeiter und Kleinbürger darüber, daß im Zentrum die aristo¬
kratischen und regierungsfreundlichen Abgeordneten aus Schlesien die demo¬
kratischen vom Rhein in den Hintergrund zu drängen drohten, kam in der
Wahl Fusangels zum Ausdruck, und in Baiern fingen die Bauern, die ihrer
Natur nach für preußisches Wesen nicht schwärmen können, plötzlich an zu
rumoren. Sobald man deutlich sah, daß es den Ultramontanen mit der
Opposition voller Ernst sei, und daß sie keinerlei Kompromiß- oder Schacher-
gebauten nichr hätten, war dadurch den Nationalliberalen ihre Haltung vor¬
geschrieben. Denn wie das Zentrum vom Kulturkampf, so lebt die national¬
liberale Partei, die abgesehen von kirchlichen Dingen kein grundsätzlicher
Unterschied mehr von den Konservativen trennt, nur noch von der Befehdung
des Zentrums; sie mußte also fortan die Militürvorlage entschieden vertreten.
Nun geriet Eugen Richter in die gräßlichste Verlegenheit. Wollte er die
Militärvvrlagc retten, so mußte er eine sehr bedeutende Anzahl seiner Truppen,
ja sogar das Gros nbkommandiren und das Odium der Wähler allein auf sich
und seine Partei nehmen. Half er dem Zentrum die Vorlage zu Falle bringen,
so beschwor er die Ncichstagsaufivsuug herauf, vor der sich zu fürchten er
ernstliche Gründe hatte, wie üZura, zeigt, und außerdem kränkte er eine Anzahl
seiner alten Getreuen, nämlich die, deren Sinn nach dem Hofe steht; „Wadl-
strümpfler" nennt sie der „Vorwärts." In seiner Ratlosigkeit wählte er das
zweite Übel, das er für das kleinere hielt, und siehe da, es war das größere!
Verdient haben die Herren ihre Niederlage schon durch ihren mit der
Waffe frecher Lüge geführten Kampf gegen den Volksschulgesetzentwurf des
Grafen Zedlitz. Die Annahme des Gesetzes hätte die Volksschule nicht kon¬
fessioneller gemacht, als sie von jeher gewesen ist, aber es enthielt einen echt
liberalen, echt freisinnigen .Keim: die Zulassung von Privatschulen; einen
Keim, dessen Ausgestaltung eine Unzahl von Schwierigkeiten gehoben und, als
erster Schritt der Erlösung von büreaukratischen Zwange, auch für die Lösung
der Schulfrage im allgemeinen von segensreichen Folgen gewesen sein würde.
Gerade dieser echt freisinnige, echt liberale Keim aber war es, vor dem sich diese
liberalen und freisinnigen Ritter vom Geiste fürchteten. Ja, wenn die Frei¬
sinnigen eine zwar bürgerliche und ans dem Boden der gegenwärtigen Gesell¬
schaftsordnung stehende, aber wirklich demokratische Partei wären, die den
kleinen Mann gegen den Kapitalisten und die Volksrechte gegen Polizei¬
willkür verteidigte, dann müßte man ihre Zertrümmerung aufrichtig bedauern.
So aber sind sie zur Judenschutztruppe herabgesunken, bekämpfen nnr eine
Form des Großkapitals, den Großgrundbesitz, um die Aufmerksamkeit und den
Haß von den andern beiden Formen abzulenken, verhöhnen und hindern die
Bestrebungen der Handwerker und Bauern nach Unabhängigkeit vom Kapital,
stellen sich im Kampfe der Arbeit gegen das Großkapital ganz und gar auf
die Seite des letztern, und schreien selbst am lautesten nach der Polizei, der
Zensur und dein Staatsanwalt, wo immer der Wind der Freiheit nicht dem
Gegner, sondern ihnen ins Gesicht bläst.
Da hatten wir nun die eigentliche Bedeutung der Wahlen. Mit der Ver¬
nichtung des bürgerlichen Liberalismus ist die Periode des politischen Partei¬
lebens vorläufig geschlossen und eine neue eröffnet, in der das öffentliche
Leben nnr noch vom Klassengegensätze beherrscht wird. Nur zwei große Par¬
teien bleiben uns übrig: die der Reichen und die der Armen, die der sicher
Besitzenden und die der Proletarier und der in ihrem kleinen Besitz bedrohten.
Zwar wird dieses Ergebnis noch einigermaßen verhüllt, auf der einen Seite
dnrch die Macht des Besitzes, der Gewohnheit, der Beamtenschaft, auf der
andern Seite dnrch den konfessionellen Gegensatz und die Abneigung der Süd¬
deutschen gegen Preußen,") allein die neue große Scheidungslinie, die ans
innerer Notwendigkeit beruht, während die andern Grenzen mehr willkürlich
und zufällig erscheinen, ist deutlich erkennbar. Die Militärvorlage hat den
Anlaß zur Scheidung gegeben. Die dafür find, das sind die Reichen und
Mächtigen, auf der andern Seite stehen die Armen, Kleinen und Schwachen,
deren Zahl natürlich die größere ist. Die Konservativen haben noch eine im¬
posante Stimmenzahl aufgebracht, weil in den östlichen Provinzen die Macht
der Rittergutsbesitzer und Ortsvorsteher über die kleinen Leute sehr groß ist;
wozu dann noch die Pietät der alten Kriegervereinskameraden gegen die per¬
sönlichen Wünsche des Monarchen und ihre Vorliebe fürs Militär kommt. Zu
den Nationalliberalen gehören viele große Unternehmer und fast alle höhern
Beamten; viele von jenen beeinflussen ihre Arbeiter, die höhern Beamten ihre
Untergebnen. Fielen diese Beschränkungen hinweg, so hätten wir eine Million
oppositioneller Stimmen mehr. Doch fängt die konservative Partei namentlich
in Sachsen an brüchig zu werden; die Kleinhandwerker wenden sich dem Anti¬
semitismus zu, der nnr eine Abart der Sozialdemokratie ist. Die Zentrums¬
leute köunen den Armen zugerechnet werden. Zwar sind die oberbairischen
Bauern und die Gewerbtreibenden Rheinpreußens wohlhabender als die Be¬
völkerung Pommerns, aber dem katholischen Teile der Deutschen gehören wenig
große Kapitalisten an, und die sich etwa finden, die wählen meistens nicht
fürs Zentrum, sondern liberal. Das Zentrum ist eine dem Großkapital im
ganzen feindliche Partei. Die noch übrigen „freisinnigen" Wühler sind meistens
Leute, die sich vorläufig noch für zu gut und zu vornehm halten, sich zu
den „Arbeitern" zu rechnen; mit der Zeit werden sie diese Scham ablegen.
Damit ist allen Politikern, die Augen im Kopfe haben, und denen das
Wohl des Baterlandes ernstlich am Herzen liegt, das nächste Ziel ihrer Thätig¬
keit vorgeschrieben; es heißt: Rettung des Mittelstandes, des kleinen Besitzes,
so weit er noch vorhanden, Wiederherstellung, so weit er schon zu Grunde
gegangen ist. Aus dem Mittelstande und aus denen, die gern dazu gehören
möchten, oder die ihn neu gründen wollen, muß die Partei der Zukunft her¬
vorgehen. Diese hat die Regierenden auf den richtigen Weg zu drängen.
Constans hat in Toulouse u. a. gesagt, man müsse die Besitzenden nicht be-
drohen, sondern ihre Zahl vermehren. Das ist es! Aber um die Zahl der
Besitzenden vermehren zu können, muß man mit einer Politik und mit einem
wirtschaftlichen System brechen, die beide daraus berechnet sind, jeden vom
Volke alljährlich erarbeiteten Zuwachs am Nationalvermögen in die Taschen
derer zu führen, die schon überreich sind. Das Großkapital erzeugt Prole¬
tariat, das Proletariat Großkapital; beide sind mit einander zur Symbiose
verbunden. Keiner dieser beiden Auswüchse kann erhalten bleiben, keiner ver¬
tilgt werden ohne den andern. Sobald dem Polypen Großkapital die mit
Saugnäpfen versehenen Fangarme abgehackt werden, ergießen sich die Lebens¬
säfte von selbst in die niedern Regionen und werden dort zur Bildung lebens¬
fähiger Kleinwirtschaften verwendet. Welche Mittel zu diesem Zweck anzu¬
wenden seien, haben wir schon öfter angedeutet und werden wir noch weiter
auszuführen haben.
Das Schicksal der Militärvorlage ist gleichgiltig; ob wir ein Paar tausend
Mann Soldaten mehr oder weniger, ein paar Millionen Steuern und Schul¬
den mehr oder weniger haben, das macht die Dinge nicht viel schlimmer und
nicht viel besser, als sie sind, und ob bei der Balgerei der Parteien dieser oder
jener ein paar Mandate mehr zufallen (wir schreiben das vor den Stichwahlen),
das ist nicht minder gleichgiltig. Ist die Regierung in diesem Augenblicke,
wo ein so klares Licht aus unsre Lage fällt, nicht ganz von allen guten Geistern
verlassen, so hat sie größere Gedanken und wichtigere Sorgen.
Die einfachsten Ideen find fast immer die,
die sich dem menschlichen Geiste zuletzt dar¬
Laplace bieten.
Mez
^«ir entsprechen gewiß dem Wunsche vieler Leser dieser Zeitschrift,
wenn wir im folgenden die leitenden Grundgedanken Henry Georges
— des großen amerikanischen Denkers und Weltwirtschafts¬
lehrers —, eine Grnndwertstcner als soziales Heilmittel zu em¬
pfehlen, von einem seiner Anhänger, Herrn Bernhard Euleustein
in Berlin, hier darlegen lassen. Dieser schreibt uns:
Wir machen den Vorschlag, sämtliche Staats- und Gemeindesteuern, alle
Zölle und Abgaben abzuschaffen und sie durch eine „einzige Steuer" (Ar^is
t-rx) auf Grund- und Bodeuwerte — auf die Grundrente — zu ersetzen.
Die Steuer, die wir anraten, ist keine Steuer auf Immobilien. Denn
unter Immobilien versteht man den Boden mit den Gebäuden und sonstigen
auf oder in dem Boden festgelegten Verbesserungen. Auch wäre sie keine
Steuer auf Land. Denn wir würden nicht alles Land besteuern, sondern nur
den Boden, der nach Abzug des Bebauuugswertes noch einen Wert hat. Nur
solcher Grund und Boden würde, seinem Rentenwerte nach, zur Besteue¬
rung herangezogen werden.
Unser Steuerreformplan erfordert nicht die Einführung einer neuen Steuer.
Denn es besteht ja allenthalben noch eine Grund- und Gebüudestener, durch
die der Grundwert (die Grundrente) bereits mitbesteuert wird. Zur Durch¬
führung der Reform hätte man daher nur nötig, die alte Grundsteuer langsam
von Jahr zu Jahr (etwa um fünf Prozent der heute crziclbaren Grundrente)
zu erhöhen, bis die volle ökonomische Grundrente, die man auch zuweilen den
„unverdienten Zuwachs der Grundwerke" nennt, eingesteuert wäre. Die Ge¬
bäudesteuer aber würde wegfallen.
Daß die Grundrente allein für alle Bedürfnisse des Reichs, des Staats
und der Gemeinde vollauf genügen würde, darüber besteht kein Zweifel. Giebt
es doch im deutschen Reiche noch über achtzig Gemeinden, die aus altger¬
manischer Zeit noch einen Teil ihres Gemeindelandes als Gemeingut festge¬
halten haben, von denen einige noch sämtliche Staats- und Gemeindesteuer»
ihrer Bürger aus dem Pachtertrage bestreikn, ja zuweilen noch jedem Bürger
bares Geld herauszahlen können. Solchen Gemeinden ist dies möglich, ob¬
gleich sie fast alle in wenig begünstigten Gegenden liegen, wo der Vvdenwert
nicht hoch sein kann, und obgleich, wie gesagt, nur ein Teil ihres Bodens
noch Gemeingut ist.
Ich möchte nun kurz die Bordelle und die Gerechtigkeit von Henry
Georges Reformvorschlag darlegen.
Von der Grundwertsteuer als „einziger Steuer" könnte mau, unter vielen
andern, folgende günstigen Wirkungen erwarten.
Das Heer der Zoll- und Steuereinnehmer und die vielen Beamten, die
unser gegenwärtiges Steuersystem erfordert, könnten entbehrt werden, und die
vom Volte aufgebrachte Steuersumme würde nicht mehr durch die großen
Stcuercrhebungskosteu geschmälert werden. Die Finanzverwaltung und der
ganze Regierungsapparat würden wesentlich vereinfacht und deren Unkosten
bedeutend vermindert werden.
Wir wären die vielen lästigen Steuern und Zölle los, die jetzt zu
Steuerumgehungen sowie zu Betrug aller Art Veranlassung bieten, die die
Menschen in Versuchung führen und nur zu oft Tugenden höher besteuern,
die für ein Volk unentbehrlich sind: die Ehrlichkeit und die Gewissenhaftigkeit,
weil diese nicht betrügen können.
Der Grund und Boden aber liegt vor der Thür, er kann nicht weg-
getragen noch verborgen werden, und sein Wert ließe sich rascher und genauer
einschätzen als der Wert irgend eines andern Steuervbjckts oder Einkommens.
Die „Grundrentcnsteucr" ließe sich also auf die billigste Weise einziehen, ohne
die Volksmoral fortwährend in Versuchung zu führen, und die Volkswirtschaft
würde uicht mehr durch endlose Steuerprojekte beunruhigt werden.
Die „Grundwertsteuer" würde nuf mancherlei Weise den Volkswohlstand
außerordentlich heben:
1. Durch die Abschaffung der Steuerkasten, die heutzutage die Arbeit,
den Fleiß und die Sparsamkeit bedrücken. Denn wenn wir Häuser besteuern,
denn werden weniger Hänser gebaut. Wenn wir Getreide besteuern, dann
giebt es weniger Brot. Wenn wir Maschinen besteuern, dann werden weniger
Maschinen gebaut. Besteueru wir den Handel, so wird der Güteraustausch
gehemmt und verringert. Besteuern wir das Kapital, so vermindert sich das
Kapital, oder es wird vertrieben. Besteuern wir die Ersparnisse des Volkes,
so wird weniger gespart. Alle diese Steuern, die wir ausheben wollen, be¬
lasten die Betriebsamkeit und schädigen somit den Volkswohlstand. Wenn wir
aber die Grund- und Bodenwerte besteuern, so wird weder der Boden kleiner,
uoch seine Nutzbarkeit für die Gesamtheit geringer werden.
2. Im Gegenteil: die Besteuerung der Grundwerke Hütte die wohlthätige
Folge, daß Grund und Boden im allgemeinen sowohl zur Bebauung als zur
Arbeits- oder Heimstätte leichter und billiger zu haben sein würde. Denn die
Steuer würde es deu Grundeigentümern verleiden und unmöglich machen,
wertvollen Boden aus Spekulation — in Erwartung zukünftiger höherer Grund-
stückspreise — oder zu irgeud einem andern gemeinschädlichem privaten Zweck
brach liegen zu lassen. Während die Aufhebung der Steuern und Zölle auf
Arbeit und Arbcitserzenguissc den aktiven Faktor der Produktion — die
Arbeit — befreien würde, würde die Einsteuerung der Grundrente den passiven
Faktor — den Grund und Boden — ebenfalls befreien, weil die Steuer
die Spekulationswerte des Grund und Bodens vernichten und die Vorent¬
haltung des Arbeitsmaterials und der Naturkräfte, sowie des Arbeits- und
Wohnraumes des Erdbodens unmöglich machen würde.
Wer mit offnen Augen um sich blickt, wird gewahr werden, wie viel
Land, wie viel Baugrund, wie viel Bergwerke, Steinbrüche und Rohstoff¬
quellen aller Art jetzt zeitweise oder dauernd unbenutzt oder halb benutzt
daliegen. Er wird gleichzeitig Arbeiter in den Straßen und Kapitalien in den
Banken finden, die unbeschäftigt sind oder nur die Hälfte der Zeit arbeiten.
Bei einigem Nachdenken kann man sich leicht eine Vorstellung davon machen,
um wie viel größer die gesamte Produktion sein könnte, wenn alle Natur¬
schätze des Erdbodens, seine Kräfte und sein Heimstätteuraum sür jedermann
frei, d. h. zu den gleichen Bedingungen benutzbar wären.
3. Die drückende Besteuerung jeder Art von Arbeit und aller Arbeits-
fruchte auf der einen Seite, und die ungenügende Besteuerung der Grund- und
Bodenwerte auf der ander» Seite, sie sind die wirkliche Ursache der ungerechten
Verteilung des Wohlstandes. In wenigen Händen sammeln sich heutzutage
so fabelhafte Vermögen an, wie sie die Welt nie zuvor gesehen hat, während
die Volksmassen verhältnismäßig immer mehr verarmen.
Unsre heutigen Steuern und Zolle fallen natürlicherweise viel schwerer
auf die Armen nud die gewöhnlichen Arbeiterklassen, als auf die Reichen.
Denn sie erhöhen die Preise, sie machen ein größeres Kapital für alle Ge¬
werbe erforderlich und verschaffen somit den großen Kapitalbesitzern wesentliche
Vorteile. Werden doch manche Steuern und Zölle nur in der Absicht auf¬
erlegt, deu Großgrundbesitzern, den Großindustriellen, den Kartellen und Preis-
ringcn gesetzmäßige Vorteile zu sichern. Andrerseits ermöglicht die ungenügende
Besteuerung der Grundwerke einigen Menschen, durch Spekulativ» auf die
Steigerung der Boden- und Rohstoffpreise große Vermögen zu erwerben; Ver¬
mögen, die keine Vergrößerung des Gesamtwohlstaudes bilden, sondern ledig¬
lich die Aneignung einer Mvnopvlrente, eines Steuer- oder Tributrechts sind,
die es dem Besitzer gestatten, sich auf gesetzlichem Wege fremde Arbeitsfrüchte
anzueignen.
Die ungerechte Verteilung des Wohlstandes schafft nus einerseits eine
Klasse von arbeitslosen Drohnen und Verschwendern, die zu reich geworden,
und andrerseits eine Klasse von unfreiwilligen Arbeitslosen oder Halbbeschcif-
tigtcn, die ebenfalls Vergeuder von Zeit und Volkswohlstand werden, weil sie
zu arm und zu hilflos sind. Sie nimmt den Menschen mehr und mehr die
Möglichkeit, sich selbst zu beschäftigen, für sich selbst Kapital zu erarbeiten, auf
daß sie damit mehr und bessere Nahrungsmittel oder Güter für sich selbst
erzeugen könnten. Derlei Mißverhältnisse müssen den Gesamtwohlstand des
Volkes verringern.
4. Die heutige ungerechte Verteilung des Wohlstandes verhundertfacht
zwar die Millionäre, vertausendfacht aber auch die Notleidenden und Unglück¬
lichen, die Diebe und die Parasiten aller Art. Sie ist also die Ursache der
stetig anwachsenden Ausgaben für Polizei und Richter, für Gefängnisse und
Irrenhäuser — der weitern Schädigungen der Gesellschaft gar nicht zu ge¬
denken. Sie steigert die Geldgier bis zur Vergötterung des Reichtums und
läßt einen erbitterten Kampf ums Dasein entbrennen, bei dem immer mehr
Menschen zu Verzweifelten nud Spielern werden und als Trunkenbolde, Irr¬
sinnige oder Selbstmörder endigen. In diesem Kampfe kommen die gemeinsten
und ehrlosesten Mittel zu immer allgemeinerer Anwendung, und Meuscheu,
deren Thatkraft der ehrlichen Produktion gewidmet sein sollte, werden durch
die Not gezwungen, ihre Zeit und ihren Witz mit kleinlichen Betrügereien und
gegenseitiger Wegschnappcrei des kargen Verdienstes zu vergeuden. Von den
moralischen Folgen gar nicht zu reden, bringen solche Zustünde Volkswirtschaft-
liebe Verluste, die sich alle — so unwahrscheinlich das noch vielen klingen
mag — durch die Einführung von Henry Georges Grundrentensteuer ver¬
meiden ließen.
5. Die jetzigen Steuern, die wir abschaffen wollen, bedrücken hauptsäch¬
lich auch die Landbevölkerung in deu ärmern Gegenden, zumal da gerade der
ländliche Grundbesitz am tiefsten verschuldet ist und unbarmherzig ausgewuchert
wird. Wir glauben weder an absolute Vorzüge der Groß- noch der Klein¬
betriebe, weder in der Stadt noch auf dem Lande. Aber unter der unauf¬
hörlich wachsenden Doppelbesteuerung durch den Staat und die Hypothek, kann
sich der kleine Bauer uicht halten, er muß mehr und mehr verarmen. Anstatt
als Kleinbauer die für die Volksernährung so wichtigen, heute den ärmern
Klassen meistens unerschwinglichen Kleinwirtschaftsprodukte zu erzeugen, muß
der Landmann als bodenloser Proletarier dem etwas höhern Lohn nach in
die Stadt ziehen, um als Fabrikarbeiter oft höchst überflüssige wertlose Luxus¬
waren für die Wohlhabender» zu verfertigen.
Die „Grundrentensteucr" würde nun das Landmonopol und die Hypothek,
die natürlich mitbesteuert werden müßte, langsam aber sicher zerstören/") Sie
würde die Ursache der ungesunden Verdichtung der Bevölkerung wegräumen
und die Stadt- und Landbewohner besser verteilen. Muß doch das ärmere
Stadtvolk heute in elenden Mietkasernen, in sogenannten Wohnungen leben,
weil die leeren Baugrundstücke rings um die Städte auf Spekulation zu enormen
Preisen festliegen und dem arbeitslosen Bauhandwerker vorenthalten werden,
sodaß der Heimstättenerzeuger von Beruf oft kaum noch eine Schlafstelle in
jenen Pesthöhlen erschwingen kann. Wer wollte oder könnte die Folgen solcher
Mißstände ans die wirtschaftliche, körperliche und geistige Gesundheit des Volkes
abschätzen? Eine kräftige, gerechte Besteuerung des Grund und Bodens würde
sehr bald diesen unwürdigen Zuständen ein Ende machen. —
Betrachten wir nun auch die sittliche Seite der Reform und ihre Ge¬
rechtigkeit.
Das Recht auf Eigentum gründet sich nicht auf menschliche Gesetze, die
es so oft verleugnet und verletzt haben. Es beruht auf einem Naturgesetz.
Es ist klar und bestimmt, und jede Verletzung dieses Rechts durch einzelne
»der durch den Staat ist eine Verletzung des Gebotes: „Du sollst nicht
stehlen."
Der Mensch, der einen Fisch sängt, eine Rübe pflanzt, ein Kalb aufzieht,
ein Haus baut, einen Rock näht, ein Bild malt, eine Maschine baut oder
eine Oper Lomponirt, hat auf alle diese Dinge ein ausschließliches Eigentums¬
recht. Er hat das Recht, solche Güter zu verschenken, zu verkaufen oder zu
vererben. Denn die Natur giebt nur der Arbeit und der Arbeit allein. Wir
glauben daher, daß wahres, gerechtes „Eigentum" nur aus „eigen Thun"
entstehen könne.
Durch wessen „Thun" ist aber die Erde entstanden? Welcher Mensch
könnte die Erde mit ihren Urstoffen oder auch nur einen Teil von ihr als
seine Arbcitsfrucht beanspruchen? Welches Naturrecht kann man anführen, das
dein einzelnen Menschen gestattete, die Erde zu verkaufen, zu verschenken oder
gar noch mit seinein Willen über sie zu verfügen, nachdem er selbst ein Erden¬
kloß geworden ist?
Weil nun die Erde nicht von uns gemacht worden ist, sondern nur ein.
zeitweiliger Aufeuthalt für die kurze Dauer unsers Erdenlebens ist, ans der
ein Menschengeschlecht dem andern folgt, und weil wir alle zweifellos mit der
Erlaubnis unsers Schöpfers auf dieser Erde weilen, kann doch offenbar nie¬
mand ein ausschließliches Recht auf den Erdboden beanspruchen.
Das gleiche Recht aller Menschen auf den Erdboden ergiebt sich ans
dem gleichen Recht auf das Leben. Denn wer es verneint, wer behauptet: das
Recht, die Erde als Wohn- und Arbeitsstätte zu besitzen und ihre Urstoffe zu
benutzen, komme nur einigen Menschen zu, der bestreitet den andern boden¬
losen Menschen das Recht, zu leben, er macht ihr Dasein auf dieser, ihnen
nicht gehörenden, Erde von dem guten Willen und den Bedingungen jener
Grundeigentümer abhängig.
Es muß nun zwar ein Recht auf ausschließlichen Besitz von Grund und
Boden geben. Denn der Mensch, der ihn bebaut und benutzt, muß einen
festen Besitz haben, um die Früchte seiner Arbeit in Sicherheit zu genießen.
Aber dieses Recht des Besitzes hat seine Grenze in dem gleichen Anrecht
aller Menschen.
Da sich aber der Erdboden bei unsern heutigen wirtschaftlichen Verhält¬
nissen nicht in gleiche kleine Stücke zerteilen läßt, da viele heute gar nicht un¬
mittelbare Grundbesitzer sein können oder wollen, so läßt sich ihr Eigentumsrecht
an den Grundwerken, die sie mit erzeugen helfen, auch auf andre Weise wahren.
Um das gleiche Anrecht aller Bürger an den Erdboden zu sichern, braucht
man nur an das Vorrecht des Besitzes die Pflicht einer gleichwertigen jähr¬
lichen Entschädigung zu knüpfen, die der Gesamtheit, also mittelbar wiederum
jedem einzelnen zu gute kommt.
Wenn man Hänser, Ernten, Möbel, Kapital oder Güterwohlstand in
irgend einer seiner Formen besteuert, so nimmt man dem einzelnen, was recht¬
mäßig dem einzelnen gehört. Man verletzt das Eigentumsrecht, und es wird
im Namen der Gesellschaft ein Raub an dem einzelnen begangen. Wenn man
aber die Grund- und Bodenwerte besteuert, dann nimmt man dem einzelnen,
was gerechterweise nicht ihm, sondern der Gesellschaft zukommt. Denn nur
die Gesellschaft erzeugt Rentenwerte, der einzelne kann nur Güter produziren.
Wird dagegen der gesellschaftliche Grund- und Bvdeuwert einzelnen
Bürgern gelassen, so macht er andre Bürger, oft auch den Staat und die
Gemeinde jenen Steuer- oder tributpflichtig.
Man bedenke, wer den Grund- und Bodenwert hervorbringt. Er ent¬
steht nicht aus Produktionskosten, wie der Wert von Häusern, Schiffen, Mehl
und andern Dingen, die durch Arbeit erzeugt wurden. Denn der Erdboden
ist nicht von Menschen gemacht, sondern von Gott erschaffen worden. Die
ökonomische Grundrente entsteht nicht ans der auf den Boden verwandten
Arbeit. Auf diese Weise entstandner Wert wird Verbesserungswert, im Juristen¬
deutsch „Melioration" genannt. Der Wert eines leeren Grundstückes hängt
vielmehr von den Vorzügen ab, die es von der Natur oder durch seine ört¬
liche Lage bekommen hat, und die es begehrter machen als andre Grundstücke.
Die Käufer oder Pächter find daher bereit, für besseres Land eine Prämie
in Gestalt vou Kaufpreis oder Rente (Grundpacht) zu bezahlen für die Er¬
laubnis, es zu bebauen und zu benutzen. Diesen Wert könnte man anch den
..Gesellschaftswert" des Grund und Bodens nennen, denn er ist nur der Ge¬
sellschaft zu verdanken. Die Gerechtigkeit gebietet also, daß die Gesellschaft
den durch ihr Dasein und ihr „eigen Thun" geschaffnen Grund- und Boden¬
wert als ihr „Eigentum" in Anspruch nimmt.
Man muß sich ferner den Unterschied zwischen dem Wert eines Hauses
und dem Wert eines Grundstückes klar machen. Der Wert eines Hauses, sein
Bauwerk, ist, gleich dem Wert andrer Waren, durch die Thätigkeit einzelner
Menschen und deren Kapital erzeugt worden. Folglich gehört er rechtmäßiger¬
weise dem einzelnen Erzeuger. Aber der Wert des Grund und Bodens ent¬
steht nur aus dem Dasein und dem Wachstum der Gesamtheit, durch ihre
allgemeinem Verbesserungen und öffentlichen Einrichtungen. Folglich gehört
er gerechterweise der Gesnnnheit.
Nicht durch die Arbeit der 13000 Grundeigentümer Berlins ist der Wert
leerer Vaugrundstücke bis auf Millionen Mark für den Morgen gestiegen, sondern
infolge des Zuwachses der Bevölkerung auf 1600000 bodenloser Einwohner,
durch die riesigem Ausgaben der Stadtverwaltung und infolge der Spekulation,
die diese Grundwerke längst über die ökonomische Rente hinaus auf eine spe¬
kulative Monopvlrente getrieben hat.
Der Grund- und Bodenwert bildet also unzweifelhaft das Volksvermögen,
ans dem die Volksausgaben bestritten werden sollten. Er stellt in seinem
jährlichen Ertragswert eine Volksrente dar, die das Volk mit gutem Recht
als seinen gemeinsamen Lohn für seine gemeinsame Thätigkeit betrachten kann.
Es ist offenbar ein Naturgesetz, nach dem die ökonomische Grundrente mit
der Kopfzahl der Bevölkerung, mit den Fortschritten und Erfindungen im
Wirtschaftsleben, überhaupt mit der Volkskultur in geradezu mathematischem
Verhältnis steigt. Die ökonomische Grundrente muß daher für die Bedürf-
nisse der Gesellschaft eingezogen werden. Verkennt die Gesellschaft dieses so¬
ziale Naturgesetz, so bleibt der Wert, der, wegen der Unvermehrbarkeit des
Grund und Bodens und seiner Rohstoffe, das stärkste Monopol bildet,
das es giebt, der Spekulation überlassen, und die spekulative Monopvlreute
wird immer höher und höher hinaufgeschraubt. Denn die Spekulation in
Erdbodenwerten aller Art erzeugt einen künstlichen Land- und Rohstoffmangel,
indem sie Grundstücke der Bebauung vorenthält und die Erdbodenschätze, die
Urstoffe: Kohlen, Eisen, Kupfer, Blei, Stein, Thon, Salze u. s. w.
zeitweise ungehoben und unbearbeitet läßt, um einerseits die Preise dieser,
zweifellos für alle Menschen erschaffnen, zur Arbeit und zum Leben unent¬
behrlichen Wohnflächen und Rohstoffe in die Höhe zu treiben, andrerseits die
Löhne hinabzudrücken. Denn je teurer die Urstoffe und je höher die Rente,
desto billiger muß der Arbeitslohn werden. Besteuert also der Staat die
Arbeit und die Arbeitsfrüchte anstatt die Monopolwerte der Erde, so ver¬
stößt er gegen die Gesetze der Natur und gegen die Gebote der Gerechtigkeit.
Die Verteidiger von Henry Georges Ideen glauben nun nicht, daß diese
Steuerreform die menschliche Natur ändern würde. Das wäre eine für Menschen
unlösbare Ausgabe. Aber die Reform würde Zustände schaffen, die es der mensch¬
lichen Natur ermöglichten, sich zum Guten zu entwickeln, anstatt sie zum Schlechten
zu verleiten, wie es unsre heutigen ungerechten wirtschaftlichen Verhältnisse
thun. Sie würde den Arbeitslohn erhöhen und eine so große Gütererzeugung
veranlassen, wie wir sie uns heute gar uicht vorstellen können. Sie würde
die rationellste Ausnutzung des Bodens erzwingen. Sie würde eine gerechte
Verteilung des Wohlstandes, dem Fleiß und den Fähigkeiten entsprechend, be¬
wirken. Sie würde also die heutige soziale Frage lösen und die sich immer
dichter ansammelnden Wolken von dem Horizonte unsrer Zivilisation ver¬
scheuchen. Sie würde unverschuldete Arbeitslosigkeit und Armut ganz un¬
möglich machen. Sie würde den seclenverderbenden Mammonkultus vernichten.
Sie würde dem brutalisirenden Mangel und dem überflüssigen entsittlichenden
Luxus ein Ende bereiten. Sie würde es den Menschen ermöglichen,
wenigstens so ehrlich, so wahr, so liebevoll und so hochherzig zu sein, wie
sie gern sein möchten, wie sie aber uuter den heutigen wirtschaftlichen Ver¬
hältnissen so oft nicht sein tonnen. Sie würde die quälende Furcht vor
Mangel und Not verbannen. Sie würde selbst die wirtschaftlich Schwächsten
in die Lage versetzen, sich einen ausreichenden Lebensunterhalt zu verdienen,
und sie sogar der höhern Knlturgenüssc teilhaftig werden lassen. Kurz, die
Reform würde den Weg zu einem Zeitalter der Gerechtigkeit anbahnen.
Dies sind einige der Hauptgründe, die den großen Denker und Welt¬
wirtschaftslehrer Henry George veranlaßt haben, eine Grundwertsteuer als
„einzige Steuer" zu empfehlen. Um jedoch seine Lehre von der wirtschaft¬
lichen Gerechtigkeit ganz zu verstehen, muß man seine meisterhaft geschriebnen
Werke kennen lernen. Sein Hauptwerk „Fortschritt und Armut" ist ohne
Zweifel das bedentendste Buch, das je über die soziale Frage geschrieben
worden ist. Die Bibel ausgenommen, hat, zum großen Ärger aller „Pro¬
fessoren der Nationalökonomie," in diesem Jahrhundert kein Buch eine solche
Verbreitung in der Welt gefunden.") Es ist der cionirg-t sovig-l dieses Jahr¬
hunderts.
Daß an die Erde, an ihre Urstoffe und Kräfte alle Menschen ein An¬
recht haben, der Gedanke ist so alt wie die Welt. Die größten Denker und
Reformatoren haben ihn verfochten, und zu allen Zeiten, fast bei allen Völkern
war das Recht jedes einzelnen Bürgers an den Boden seines Vaterlandes in
irgend einer Form anerkannt. Aber es ist hauptsächlich die streng logische
Beweisführung, daß die heutigen sozialen Übelstände auf die Vernachlässigung
dieses Menschenrechts zurückzuführen sind, es ist die Feststellung des Gesetzes
der Güterverteilung, die Darlegung des Verhältnisses des wirklichen Kapitals
zur Arbeit, es ist die glänzende Widerlegung des Gottesdieners und Kiuder-
mörders Malthus, es ist der Nachweis, daß nur eine Steuer auf die ökono¬
mische Rente heute das richtige und allein mögliche Heilmittel sein kann, es
^se endlich die nncrschrockne, drei Kontinente umfassende Agitation für diese
Wahrheit, worin bis jetzt das unsterbliche Verdienst Henry Georges besteht.
Der IinM uniquö der Physiokraten sollte eine Steuer auf den Pro¬
duktionsertrag des Landes, folglich eine Steuer auf die Arbeit werden. Er
war demnach der swglo ox nur so ähnlich wie das El der Pflaume. Henry
George und seine Freunde empfehlen die singls tax nicht als eine raffinirte
Erfindung zu Gunsten der Staatsfinanzen, sondern weil die Reform als Gruud-
und Eckstein für die Erhaltung des Staatsgebündes durchaus notwendig ist,
und weil die Gesellschaft ohne wirtschaftliche Gerechtigkeit nicht bestehen kann.
Wir sind der festen Überzeugung, daß nur Ideen und Opfer unsre
Zivilisation noch retten können. Daß die Gedanken Henry Georges in Deutsch¬
land noch so wenig gewürdigt, daß sie von den Feinden seiner Reform und
sogar von den Freunden seiner Ziele noch immer nicht ganz verstanden werden,
es leider eine bedauerliche Thatsache. Es bestätigt dies nur wieder die Wahr¬
heit von Drapers Ausspruch: „Völkern neue Ideen beizubringen ist nicht die
Sache eines Tages.""")
s ist keine seltene Erscheinung, daß Werke bei ihrem Erscheinen
wenig Beachtung finden, aber mit der Zeit einen großen Leser¬
kreis erobern und damit auf das geistige Leben des Volks
Einfluß gewinnen. Sie Pflegen nicht zu den schlechtesten zu
gehören. Für den Urheber freilich hat das häufig etwas Tra¬
gisches; deun ehe er den Ruhm seiner Schriften genießt, ist er selbst dahin¬
gegangen, mit offner Klage ans den Lippen, oder im stillen verbittert wegen
der Erfolglosigkeit seiner Arbeit.
Die „Allgemeine Pädagogik" Joh. Friedr. Herbarts gehört zu diesen
Werken. Im Jahre 1806 erschienen, ist sie erst in unsern Tagen vou solcher
Bedeutung geworden, daß man sie mit Recht zu den bewegenden Knltur-
mächten rechnen kann. Bei ihrem Hervortreten wurde sie so wenig beachtet,
daß der Verfasser später klagte: „Die arme Pädagogik konnte nicht zu Worte
kommen." Die herrschende philosophische Richtung wirkte für die Aufnahme
des Buches sehr ungünstig. Fichte blühte noch, Schelling nahm den Anlauf
zur Theosophie, Hegel legte mit seiner Phänomenologie des Geistes den Grund
zu seinem schnellwachsendcn Ruhm. Dazu die große Fruchtbarkeit auf päda¬
gogischen Gebiete, die Nachwirkung der philanthropischen und Pestalozzischeu
Bewegung. Erschienen doch ungefähr zu derselben Zeit die pädagogischen
Werke von Pölitz, Schwarz, Riemeher, Jean Paul, Sunbcdisseu, Niethammer,
Wolke, Arndt. Stephani und Grnser. Aber wo sind diese geblieben, und wie
steht Herbnrts Werk heute dn? Sie alle gehören zum größten Teil der Ge¬
schichte der Pädagogik an, dieses lebt und wirkt wahrhaft fort, in tausend
Kanälen die Gedanken der deutschen Erzieher befruchtend und die wissenschaft¬
liche Pädagogik leitend.
Und was ist es um, was diesem Werke seine Bedeutung verleiht? Das,
was Jean Paul in der Vorrede zu seiner Levaua vou ihm rühmt: „Wo
Herbart die Muskel und Bogenseune des Charakters stärken und spannen
will, da tritt er kräftig in das besondre.und bestimmte hinein, und mit schönem
Rechte, da sein Wort und sein Gedankengang ihm selber einen zusprechen.
Gewiß bleibt für die Erziehung der Charakter das wahre Elementarfeuer."
Das ist es aber, was auch den Kernpunkt von dem kürzlich erschienenen
Buche Fr. Schultzes*) bildet, der sich damit an Herbart und an Ziller, den
energischen Vertreter der Herbartischen Gedanken, anschließt. Sein Buch ist
als ein neues Zeichen für die Lebenskraft dieser Gedanken zu betrachten, als ein
neuer Beweis dafür, daß fie immer mehr die erzieherischen Kreise zu beherr¬
schen und damit das geistige Leben des heranwachsenden Geschlechts zu be¬
stimmen anfangen.
Ganz im Sinne der Herbartischen Pädagogik stellt Fr. Schultze an die
Spitze seines Buches die Bestimmung über das Hauptziel aller Erziehungs¬
thätigkeit. Wie dieses Ziel bestimmt wird, davon hängt der Charakter der
gesamten Erziehung ab. Im allgemeinen kann man sagen, sind die Zwecke,
die sich die Erzieher setzen, so verschieden, wie sie selbst. Sie werden dabei
von den Ansichten geleitet über das, was dem Leben seinen Wert giebt. Gut,
wenn sich diese Ansichten wenigstens zu voller Klarheit durchgerungen haben.
Aber bei nicht wenigen besteht' das Erziehungsziel in einem allgemeinen Ge¬
danken, dem es an scharfer Gliederung und Ausarbeitung im einzelnen fehlt,
der in einem unbestimmten Komplex alles dessen besteht, was ihnen als
wünschenswert und erreichbar erscheint.
Der Versasser der „Deutschen Erziehung" gehört nicht zu diesen. Mit
Herbart hat er einen klaren, fest umrissenen Erziehungszweck vor Augen. Er
ist sich deutlich bewußt, daß die Erziehung, ohne ein bestimmtes, scharf ge¬
zeichnetes Ziel vor Augen zu haben, in der Irre schweifen muß. Er weiß,
daß das Ziel der Erziehung nicht außerhalb des Zöglings gesucht werden
darf, sondern in diesem selbst, also in einer bestimmten Gestaltung des ünßern
und innern Lebens, die sich durch bewußte Thätigkeit hervorbringen läßt.
Der Verfasser verurteilt deshalb in den schärfsten Ausdrücken deu Stand¬
punkt des platten Militarismus, da mit ihm notwendig die Entwicklung der
Selbstsucht verbunden ist. Weiter kann er auch nicht das Heil erblicken in
dein Einleben in ein kirchliches Shstem. So sehr er einer echten Frömmigkeit
das Wort redet, so energisch wendet er sich gegen jede theologische Verüußer-
lichung, gegen jede dogmatische Engherzigkeit. Ebenso weist er eine politische
Erziehung zurück, wie sie im Altertum bei den Spartanern verwirklicht, von
Plato theoretisch in seiner Staatslehre entwickelt worden ist. Die Folgerungen
dieses Standpunktes hat die heutige Sozialdemokratie gezogen: die Kinder,
das Erzeugnis freier Liebe, sollen den Eltern gleich nach der Geburt ge¬
nommen und in großen Staatsanstalten ausgezogen werden. Ohne daß sie zu
wissen nötig hätten, wer ihre Eltern sind, haben sie den Staat als Vater, die
Gesellschaft als Mutter zu verehren. Hat jemand Lust zu solcher Staats¬
dressur?
In der utilitarischen, in der kirchlichen und politischen Erziehung herrscht
nicht das rein menschliche Interesse, sondern der Zweck eines andern, dem sich
der einzelne als Mittel zu unterwerfen hat. Der richtige Standpunkt ergiebt
sich nach der Ansicht des Verfassers, wenn wir fragen: Ans welchem Inter¬
esse erziehen Vater und Mutter ihre Kinder? Antwort: Weder um des Staates,
noch um der Kirche, sondern um der Kinder selbst willen, ans Liebe zu ihnen,
um ihres eignen Wertes willen. Maßgebend ist das rein menschliche Inter¬
esse, das die Eltern an den Kindern nehmen. Hier tritt die natürliche Grund-
wurzel aller Erziehungsthätigkeit zu Tage. Das Kind soll in erster Linie
um seiner selbst willen, aus rein menschlich-natürlichen Gründen erzogen werden.
Die Erziehung will vor allem den Menschen im Zögling sich frei entwickeln
lassen.
Dieses Streben nach rein menschlicher Erziehung tritt uns nun geschichtlich
in verschiednen Formen entgegen. Der Verfasser nimmt zu diesen Stellung,
und zwar so, daß er unsre heutige Kultur zunächst analysirt, um denn die
einseitige Betonung einer einzelnen Richtung zurückzuweisen.
Nach dem Verfasser setzt sich unsre Kultur aus drei Bestandteilen zu¬
sammen: 1. Die älteste und grundlegende Schicht ist der ans dem klassischen
Altertum zu uns sprechende Geist. Wissenschaft und Kunst werden durch ihn
noch heute stark beeinflußt, wenn auch das Bestreben nach Ablösung von diesem
Einfluß deutlich zu bemerken ist. Mit den idealen Elementen, die er mit sich
führt, durchdringt er bis zu einem gewissen Grade noch heute unser Leben,
aber ausschlaggebend ist er schou lange nicht mehr und darf es auch nicht
sein. Denn als zweite Schicht tritt hinzu der Geist des Christentums, der
an sittlichem Wert den antiken überragt. Er bildet die eigentliche Grundlage
für die Gestaltung der sittlichen Verhältnisse unsrer Lebensführung. Als dritte
und jüngste Schicht erscheint der realistische Geist der modernen Naturwissen¬
schaften und der modernen Technik mit seinen großartigen Errungenschaften,
mit den vielfachen Umwälzungen auf dem wirtschaftlichen Gebiete, den Ver¬
kehrserleichterungen und allen den Einrichtungen, in denen die Herrschaft des
Menschen über die Natur ins Ungemessene vergrößert erscheint.
Ans diesen drei Schichten setzt sich unsre heutige Bildung zusammen.
Einseitig und darum ungenügend muß jede pädagogische Richtung genannt
werden, die nur eines dieser Elemente anerkennt und die andern verachtet, nur
eines als Hauptziel gelten lassen und die andern entweder ganz verneinen oder
ungebührlich zurückdrängen will. Deshalb verwirft der Verfasser die einseitig
humanistische wie die einseitig realistische Richtung. Auch kann er weder den
ästhetisch-künstlerischen Standpunkt in seiner einseitigen Ausprägung anerkennen,
noch den moralistischen, wie ihn die Nationalisten uns hinterließen.
Worin erblickt nun der Verfasser das absolut wertvolle Ziel der Er¬
ziehung? Das Musterbild, sagt er, das dem Erzieher vorschweben soll, ist
der vollendete Mensch, eine ideale Persönlichkeit oder das Ideal der Persön¬
lichkeit, die alle guten menschlichen Eigenschaften bis zur Vollendung har¬
monisch in sich entwickelt hat, die, wie sie die Welt in ihrem Sein und Wirken
mit allem Verständnis erfaßt, so anch mit ganzer Kraft auf sie zurückzuwirken
strebt. So wie Herbart, der hierin ganz Kantianer ist, erblickt auch der Ver¬
fasser das Rückgrat der Persönlichkeit in der Hauptrichtung, die der Wille des
Meuscheu verfolgt. Diese Hauptrichtung ist stets maßgebend für alle übrigen
Interesse» und bestimmt all sein Denken und Handeln. Welche besondre
Richtung nnn unser Wille einschlagen möge, ob er sich künstlerisch oder ge¬
lehrt oder kaufmännisch interessire, eines wird von jedem gefordert, daß sein
Wille wahrhaft sittlich sei. daß er ein sittlicher Charakter sei. so verschieden
auch sonst seine Beschäftigung sein möge. Die sittliche Reinheit des Willens,
die wahrhafte Lauterkeit unsrer Gesinnung, das allein ist in der Welt das
schlechthin Nchtuugswerte. Demnach ist sittliche Charakterbildung auf Grund
vielseitiger geistiger Befruchtung das Hauptziel aller wahrhaft menschlichen Er¬
ziehung. Unsre'Zöglinge dem Ideal der Persönlichkeit möglichst anzunähern.
das muß als die eigentliche und wahre Aufgabe aller pädagogischen Bestre¬
bungen betrachtet werden.
Damit stellt sich der Verfasser auf den Boden der idealistischen Ethik.
Und als Erzieher kann er auch nicht anders, sobald er von der Überzeugung
durchdrungen ist, daß das nachwachsende Geschlecht höhern Zielen zuzuführen
sei- Zwar soll heute die idealistische Ethik abgewirtschaftet haben, aber doch
Wohl nur in den Köpfen von Leuten, die von der Phrase des naturwissen¬
schaftlichen Zeitalters geblendet keinen absoluten Maßstab gelten lassen wollen,
sondern den jeweiligen Entwicklungsstnndpnnkt der Gesellschaft als maßgebend
betrachten; oder die dem Neoeyniker Nietzsche nachlaufen, berauscht von den
frechen Worten, die er deu Zeitgenossen in die Ohren gießt. Schon hat man
auch eine physiologische Pädagogik verkündigt, aber, wie uns scheint, mit mehr
Enthusiasmus als Besonnenheit. Oder bedeutet etwa die Spencersche Päda¬
gogik für uns Deutsche einen Fortschritt? Gott soll uns davor bewahren,
unser höchstes erzieherisches Streben darin zu erblicke», daß man dem Zögling
beibringe, wie er am besten seine Kapitalien anlegen und am feinsten kochen
könne. Denn das sind doch schließlich die Folgerungen eines Standpunktes.
dem eine normative Ethik eitel Thorheit ist.
Da das vorliegende Buch für weitere Kreise bestimmt ist, so hat der
Verfasser das Ideal der Persönlichkeit in mehr populärer Weise umschrieben
und namentlich in negativer Hinsicht das hervorgehoben, was einer sittlich
gerichteten Persönlichkeit fern liegen soll. Daß dabei die sittlichen Verirrungen
unsers Geschlechts eine große Rolle spielen, ist nur natürlich, dn ein Päda¬
gogischer Schrifsteller unsrer Tage, der ans Veredlung des heranwachsenden
Geschlechts hinwirken will, nicht an ihnen vorüber gehen kann. Bei Herbart
und Ziller wird das Ideal der Persönlichkeit allerdings in rein philosophischer
Weise bestimmt, sodaß die Persönlichkeit ganz erfüllt und durchdrungen ge¬
dacht wird von den ethischen Ideen, den sittlichen Musterbildern für mensch¬
liches Denken und Thun. Hier tritt der Zusammenhang zwischen den philo¬
sophischen Grundanschauungen und den pädagogischen Folgerungen scharf und
bestimmt hervor. Und dies ist es gerade, was der Philosophie Hcrbarts eine
Lebenskraft sichert, die bei andern philosophischen Theorien nur ein frommer
Wunsch bleibt. Ohne Zweifel vollziehen sich in unserm Jahrhundert die
Kulturbewegungen weit mehr als ehedem unter der Mitwirkung planmäßig
vorbereiteter Arbeit, die zu erstrebenden Fortschritte werden scharf ins Auge
gefaßt. Das bezieht sich vor allem auch auf die Erziehung, da ja sie es ge¬
rade ist, die sich durchaus ihres Zieles bewußt die jugendlichen Geister in
eine Bahn zu bringen sucht, die bestimmend für das ganze Leben sein soll.
Wo sich eine Erzichnngstheorie ans bestimmte philosophische Grundlagen
ethischer nud psychologischer Natur stützt, da giebt sie diesen selbst erst
wahres Leben und sichert ihnen eine breitere Wirkung. Wie der mächtig fort¬
wirkende Einfluß der Kantischen Philosophie im kategorischen Imperativ ge¬
sehen werden muß, so der Einfluß der Herbartischen in seiner ethischen Jdeen-
lehre. In den Kreisen der Fachphilvsophen im allgemeinen als abgethan
betrachtet, ist sie in der That gegenwärtig mehr als irgend ein andres philo¬
sophisches System im Leben der Nation wirksam, wenn man die erzieherischen
Mächte, die in Bewegung gesetzt werden, überhaupt in der Entwicklung der
Völker etwas gelten lassen will.
Wir haben es schon hervorgehoben, daß sich das Schnltzische Buch gleich-
falls in den Dienst der idealistischen Ethik stellt, die immerfort daran mahnt,
daß die sittlichen Spannkräfte im Volke nicht erlahmen dürfen, wenn wir nicht
rettungslos dem Verfall entgegengehn wollen. Und es ist gut, wenn von
allen Seiten her Bundesgenossen beiströinen, um dem uiederzieheuden Einfluß
einer naturwissenschaftlichen Moral entgegenzutreten. Wenn mich der Inhalt
der Erziehungsmaßregeln noch so sehr von der Verschiedenheit der Völker
und Zeiten abhängen und damit historisch bedingt sein mag, der Haupt-
crziehungszweck ist davon unabhängig als ein sittlicher zu denken. Wie anders
sollen denn anch Erziehungsmaßrcgeln, die aus dem jeweiligen Volksethos
herauswachsen, kritisirt und reformirt werden? Wenn das Sittliche allein
durch die Sitte bestimmt werden, wenn es mit der Kulturentwicklung wechseln
soll, dann ist jede pädagogische Frage bedeutungslos. Ein bewußtes, folge¬
richtiges Handeln des Erziehers ist uur dann denkbar, wenn bei allen
seineu Maßregeln der wachsende sittliche Wert nicht nur wie ein zufälliges
Nebenprodukt erwartet, sondern von vornherein in bestimmter Weise beab¬
sichtigt wird. Darum muß an die Spitze ein Erziehungsziel treten, das von
der normativen Ethik seinen bestimmten Inhalt erhält. Im andern Fall er-
Weist sich diese Spitze als hohl. Der Verfasser des vorliegenden Buches hat
diesen Fehler vermieden, indem er als leitenden Gedanken für alle Erziehungs¬
thätigkeit die Ausbildung eines sittlichen Charakters hinstellt, der die Welt
in ihrem Sein und Wirken mit vollem Verständnis zu erfassen und auch mit
ganzer Kraft auf sie zurückzuwirken strebt.
Nachdem der Verfasser mit der Aufstellung des Hauptzieles die Grund¬
richtung seiner Pädagogik bestimmt hat, verfährt er durchaus angemessen,
wenn er sich nun anschickt, die Frage zu beantworten, wie weit es möglich
sei, das heranwachsende Geschlecht diesem Ziel anzunähern. Der ethischen
Zielbestimmung folgt notwendigerweise der psychologische Nachweis über die
Möglichkeit der Verwirklichung, ein Problem, das anch ausgedrückt werden
kann durch die Frage uach der Möglichkeit des Besserwerdeus. Seit langer
Zeit hat dieses Problem die denkende» Köpfe beschäftigt. Und immer wieder
drangt sich die Untersuchung heran, wie viel in der Bildung des heranwach¬
senden Geschlechts der Notwendigkeit und wie viel der Freiheit, was der
Natur, was der Kunst, was der Vererbung und was dem Erwerb zuzuschreiben
sei. Die einen huldigen der Ansicht, die Erziehung mache alles aus dem
Menschen, die andern behaupten, die Erziehung mache gar nichts aus ihm.
Die neuere Erziehungswissenschaft, die im Anschluß an Herbart aufs sorg¬
fältigste die Errungenschaften der Psychologie zu verwerten bestrebt ist, hält
sich von beiden Extremen fern, dn sie sich weder mit den Thatsachen der Er-
fahrung, noch mit dem Wesen des menschlichen Geistes vereinigen lassen.
Auch der Verfasser steht auf diesem Boden und folgt den Weisungen einer
Psychologie, die den Thatsachen der Erfahrung nicht widerspricht und die
Möglichkeit der Einwirkung auf die Bildung des jugendlichen Geistes deutlich
<^'ge, indem sie damit die Macht und die Schranken der Erziehung klar auf¬
deckt. Die Schranken liegen in den angebornen Anlagen, die nicht der Psychade
angehören, wohl aber auf der eigentümlichen Einkörpernng des Seelenwesens
in dem physischen Organismus beruhen. Die Macht der Erziehung zeigt sich
in den erworbnen Anlagen. In dem Auf- und Ausbau unsers Geisteslebens
fielen die erworbnen Vorstellungen eine ebenso wichtige Rolle, wie die an¬
gebornen Anlagen. Deshalb muß die Absicht des Erziehers darauf gerichtet
^in, diese erworbnen Vorstellungen so zweckmäßig zu gestalten und zu ver¬
enden, daß sie dem höchste» Ziele der Erziehung, der harmonischen Ausbil¬
dung des Geistes und der Grundlegung eines sittlichen Charakters, wirklich
^chprecheu. Kann der Erzieher nach seinem Erziehungszweck die erworbnen
Erstellungen im Geiste des Kindes erzieherisch gestalten und dadurch den
wirksamsten Einfluß auf die Belebung oder Abtötung der angebornen Anlagen
bewirken, so braucht er an der Macht der Erziehung nicht zu verzweifeln,
Indern darf die begründete Hoffnung hegen, seinen Zögling dem Ideal der
-Persönlichkeit näher 'zu bringen.
Das ist genau der Standpunkt der Herbartischen Pädagogik. Nicht nur
in den ethischen, sondern auch in den psychologischen Voraussetzungen schließt
sich also der Verfasser diesem scharfen, vorsichtig und nüchtern vorgehenden
Forscher an. Er sagt sich, daß die Erreichbarkeit eines aufgestellten Zieles
nur da möglich ist, wo man im psychischen Leben auf einen sich gleich bleibenden
Zusammenhang von Ursachen und Wirkungen, auf feste Gesetze des psychischen
Geschehens rechnen kann. Mit dieser Gesetzmäßigkeit ist aber zugleich eine
große Beweglichkeit der Vorstellungen verbunden. Jede Vorstellung äußert
sich infolge ihrer Gegensätze gegen andre wie eine Kraft. Hierdurch kommt
Bewegung in die Masse der Vorstellungen; es bilden sich Verschmelzungen,
Verbindungen, reihenförmige Anordnungen u. s. w,, die nach bestimmten psy¬
chischen Gesetzen verlaufen. Beweglichkeit und Gesetzmäßigkeit bilden die Angel¬
punkte der geistigen Thätigkeit. Damit ist der Begriff der Bildsamkeit ge¬
geben und die theoretische Möglichkeit der Erziehung dargethan.
In dem ersten Hauptteil des Werkes (Kapitel 1 bis 4) wird von dem
Verfasser außerdem das Verhältnis der Individualität zu dem Haupt¬
ziel dargelegt. Die Frage, wie Has allgemeine Ziel auf jeden einzelnen Zög¬
ling angewendet werden muß, wird im Sinne der Herbartischen Pädagogik
dahin beantwortet, daß die individualistische Lösung der allgemeinen Aufgabe
der Erziehung bei jedem einzelnen Zögling ein zweites großes Gesetz der Päda¬
gogik bildet, nicht minder wichtig und wertvoll, als die Bestimmung über das
Hauptziel der erzieherischen Thätigkeit. Ju ihm liegt Würde und Wert der
individuellen Entwicklung begründet gegenüber den Standpunkten, die das
Individuum herabwürdigen wollen zu dem willenlosen Mittel irgend einer
sozialen Gestaltung, wie dies z. B. im Jesuitenorden der Fall ist. Ihn würde
man, wenn es sich nur um religiöse Dinge handelte, ruhig unter uns
dulden können, da der Protestantismus keine Berechtigung zu existiren hat,
wenn er nicht die Konkurrenz des Jesuitenordens auszuhalten vermag, wohl
aber kann das Erziehungssystem der Väter Jesu nicht geduldet werden, da
es in seiner Einseitigkeit dem künftigen Staatsbürger zum Verhängnis werden
kann. Aus pädagogischen, nicht aus religiösen Gründen muß man den Orden
unsern Grenzen fernhalten.
Nach der theoretischen Grundlegung wendet sich der Verfasser nunmehr
den praktischen Aufgaben der Erziehung zu.
Hier werden folgende Fragen behandelt: 1. Wie können wir die Kinder
an die äußern Ordnungen des Lebens gewöhnen? 2. Wie können wir den
sittlichen Charakter und das Gemüt der Kinder bilden? 3. Wie müssen wir
durch systematisch-methodischen Unterricht die Vorstellungswelt der Kinder im
Sinne des höchsten Erzichungszweckes gestalten? Es sind die drei Begriffe:
Regierung der Kinder, Zucht, Unterricht, nach denen Herbart seine Erziehungs¬
theorie abhandelt gegenüber der gewöhnlichen Einteilung in Unterricht und
Zucht. Die Darstellung des Verfassers ist auch in diesem Teüe außerordent¬
lich ansprechend. Besonders da, wo er von Charakterbildung spricht, folgt
man ihm gern, weil sein frischer, gesunder Sinn die in der Erziehung der
Eltern gerade in unsern Tagen hervortretenden Schäden scharf geißelt und
weil man überall fühlt, daß der Verfasser selbst ein Charakter ist, daß es
ihm Ernst ist um die Gedanken, die er vorbringt.
Ebenso energisch wie maßvoll bekämpft er die in der Schulerziehung be¬
merkbaren und von vielen unter mannichfachen Wehklagen vorgebrachten teil¬
weise recht traurigen Zustände. Er greift das Ding am rechten Ende an.
Die Wurzel alles Übels erkennt er in dem falschen Schulsystem: „Unsre Schulen
sind mehr Fach- als Erziehuugsschulen. ihre Lehrer mehr Fachspezialisten als
Pädagogen. Ein Hauptübelstaud, der in der Überbürdnngsfrage noch viel zu
wenig beachtet ist, ist die Überbürdung der Schüler mit Fachlehrern. Der
junge Schulamtskandidat, der von der Universität kommt, hat steh in den
allerseltensten Füllen gründlich mit Pädagogik beschäftigt. Warum sollte er
auch, wenn im Examen die pädagogische Prüfung nur eine Nebenrolle spielt
wenn er nicht zum Besuch eines pädagogischen Seminars verpflichtet ist/)
wenn selbst ein Kultusminister, der wohlgemerkt von Haus aus Jurist ist,
erklärt hat. Kinder zu behandeln werde der junge Lehrer ebenso gilt von selbst
in der Schulstube lernen. wie der Referendar die Behandlung von Verbrechern
in der Gerichtsstube?" Diese Ansicht ist noch sehr weit verbreitet, und nicht
bloß unter den höhern juristische» Beamten. Deshalb ist es freudig zu be¬
grüßen, daß der Verfasser so kräftig dafür eintritt, daß die von den Universi¬
täten kommenden jungen Lehrer pädagogisch besser vorgebildet werden. Nur
dadurch, daß unsre Lehrer wahrhaft Erzieher werden und ihre spezialistischen
Gelüste unterdrücke» lernen, kann eine Besserung eintreten. Diese Forderung
bedeutet so viel, als daß sich die Lehrer an den höhern Schulen eine gründ¬
liche Philosophische Allgemeinbilduug aneignen müssen, statt an irgend einer
Ecke des großen philologischen Wissensgebietes zu versinken. Zu dieser philo¬
sophischen Bildung gehört aber selbstverständlich auch die ästhetische.
Daß auch in diesem Punkt unsre Lehrer arg vernachlässigt sind, hat der
Versasser ebenfalls deutlich erkannt und gut herausgehoben. Da, wo er die
Forderung aufstellt, daß der erziehende Unterricht mit begeisterter Hingebung
die Interessen des Gemüts zu pflegen hat, weist er ans die Pflege der Kunst
hin als den Unterrichtsgegenstand, der am tiefsten von allen auf die Entwick¬
lung des Gemüts einzuwirken berufen sei. „Die Kunst ist einer der mäch¬
tigsten Hebel echter Herzensbildung, und die ästhetische Erziehung des Menschen
eine der höchsten Aufgaben der Pädagogik."
Auch hierin geben wir dem Verfasser vollständig Recht. Wie Herbart,
vielleicht angeregt durch den persönlichen Verkehr mit Schiller, auf die nahe
Verwandtschaft des Schönen und Sittlichen seine allgemeine Ästhetik im Sinne
der Kalokagathie der Griechen gründete, so betrachtet auch Schultze das wahr¬
haft Schöne als Vorstufe zum Guten. Durch das ästhetisch Reine kommen
wir auch dem sittlich Reinen nahe, die Anbetung des Schönen führt zum Gottes¬
dienst des Guten. Aber auch wenn dies nicht so wäre — und Gegner betonen
ja hänfig, daß sich gerade Künstler durch Frivolität auszeichneten —, so würde
doch die Nötigung bestehen bleiben, in unsre Jugend das ästhetische Interesse
so stark als möglich einzupflanzen. Und zwar aus zwei Gründen. Dem ein¬
zelnen entgeht ein großer und reiner Genuß, der ihm aus den Gebilden der
Kunst zuwächst, wem: er für diese Gebilde ganz verständnislos bleibt; ein so
groszer Genuß, daß, wer ihn gekostet hat, ihn um die Welt nicht hergeben
möchte gegen irgend einen Eindruck, der ihm aus andern Quellen zuwächst.
Wie sehr ist jeder einzelne zu bedauern, dem solche Höhepunkte des Menschen¬
lebens fremd bleiben! Bei dem ästhetischen Genießen wird die Lebendigkeit des
Seelenlebens in einer Weise gesteigert, wie sie kaum von andrer Seite her in
solcher Tiefe hervorgerufen werden kann. Bei der Vertiefung in das Kunst¬
werk sucht der Mensch dieses innerlich zu erfassen; dabei fühlt er, hinaus-
gehoben über die gemeine Wirklichkeit, eine starke Erhöhung und Erweite¬
rung seines geistigen Seins. Seine Seele wird von dieser Freudigkeit ganz
erfüllt. Indem er die Seele des Kunstschöpfers gleichsam in sich aufnehmen
will, um das wahrhafte Große zu erfahren, das die Wirklichkeit überfliegt,
werden die Sinnes- und Geisteskräfte zu erhöhter Thätigkeit gesteigert und be¬
lebt. Und das geschieht ohne merkliche Anstrengung, da sich ja der Mensch
bei Betrachtung des Kunstwerks wesentlich nachsühlend verhält. Alle Teile
unsers Seelenlebens werden mit innerer Befriedigung gleichsam getränkt in der
Ahnung eines unergründlichen, aus vielen Quellen im Kunstwerk zusammen¬
fließenden Reichtums. Wenn uns auch die Fortschritte im Denken mit starken
Lustgefühlen erfüllen, so ist hier die Befriedigung noch eine andre, da der
Genuß des Kunstwerks zugleich unsre Sinne befriedigt und die Seele erweitert.
Und dieser Genuß sollte dem Zögling unsrer Erziehungsschulen fremd bleiben?
Das wäre auch aus einem nationalen Grunde zu bedauern. Für jeden,
der sehen will, ist es offenkundig, daß die Entwicklung des Schönheitssinnes
in nnserm Volke sehr zurückgeblieben ist. Für die Fachschulen hat man diesen
Mangel in den letzten Jahrzehnten durch einen zweckmüßigen Zeichenunterricht
auszugleichen gesucht, aber in den Erziehungsschulen, namentlich im Gym¬
nasium, ist man von dieser Bewegung ganz unberührt geblieben.
Wenn daher der Verfasser schreibt: „Mit richtigem Verständnis ihres
Wertes hat die Schule die Kunst auf einen hohen Thron gesetzt und huldigt
ilr^. wie einer Königin," so können wir dies nur in sehr beschränktem Sinne
zugeben. Es ist wahr, durch die Übung im Gesang, durch das Lesen klas¬
sischer Dichtungen hat die Schule das Verständnis sür einzelne Teile der
Kunst gut angebahnt, aber wie steht es mit der Einführung in die bildenden
Künste? Da klafft doch wohl eine große Lücke, sodaß ein Weckruf, wie ihn
Professor Lauge in seinem Buch ..Die künstlerische Erziehung der deutschen
Jugend" erhebt, zu rechter und zu höchster Zeit erschallt. Möchte er nur
überall gehört werden!
In den ketten beiden Kapiteln (11 und 12) entwickelt der Verfasser die
allgemeinen Grundlagen des erziehenden Unterrichts, soweit sie sür den ge¬
bildeten Erzieher überhaupt vou Wichtigkeit sind. Er geht dabei ans von der
„bahnbrechenden und ausschlaggebenden Unterscheidung zwischen dem Fach- und
dem Erziehungsunterricht." Der Verfasser will nur von dem zweiten reden.
Ihn will er sür unsre Kinder fordern; alle Reform des Unterrichts habe heute
gar keinen andern Sinn, als den, unsre Jngendschulen, die sich fälschlich mehr
und mehr in Fachschulen verkehrt haben, woraus alle ihre Mängel entstanden
sind, wieder in Erziehnngsschuleu zu verwandeln, in Schulen, die nicht in
erster Linie darauf bedacht sind, Kenntnisse zu vermitteln, sondern die Erziehung
des Hauses in wirksamer Weise zu unterstützen.
Erziehungsschnlen eben sind solche, in denen alle Thätigkeit des Lebens,
den Unterricht eingeschlossen, auf das eine Ziel losgeht: die Gesinnung zu bilden.
Erziehender Unterricht ist willenbildender Unterricht. Als solcher veranlaßt
er den Schüler, daß er sich immerfort Arbeitsziele setze und damit zur Selbst¬
thätigkeit ansporne. Ferner strebt der erziehende Unterricht in psychologisch
richtiger Weise die Aufmerksamkeit des Schülers stetig zu erregen und ^sich so
wertvoll zu gestalten, daß er ein lebhaftes vielseitiges Interesse im Schüler
hervorruft.
Auch in diesen Partien fußt der Verfasser durchaus auf dem Boden der
neuern Didaktik, die ihre tiefste Anregung von Herbart empfangen hat. Über
die Abweichungen, die wir in seinem Buche bemerkt haben, können wir uus
hier nicht weiter verbreiten, da sie dem Leserkreis der Grenzboten wohl fern¬
liegen. Ebenso können wir nicht näher darlegen, weshalb wir der vor-
geschlagnen Organisation des Schulwesens unsre Zustimmung versagen müssen.
Im zwölften Kapitel giebt der Verfasser ein Beispiel für die methodische
Behandlung eines Lehrstoffs nach der Theorie der Formalstufen, die sich immer
mehr Anerkennung erwirbt, da sie gegründet ist auf die Gesetze des psychischen
Geschehens, wie sie in jedem normal angelegten Geiste zu verlaufen pflegen,
und bereits so starke Verbreitung gewinnt, daß es bald angebracht sein dürfte,
vor falschen Auslegungen zu warnen.
Damit haben wir in kurzen Umrissen die theoretischem Darlegungen der
"Deutschen Erziehung" umschrieben. Sie soll sich, wie es am Schlüsse des
Werkes heißt, darstellen als „der himmlische Zusammenklang einer reichen^'
Allgemeinbildung mit einem festen sittlichen Charakter in einer starken und
urwüchsig ausgeprägten Individualität."
Der Schlußsatz spiegelt deutlich den Geist wieder, in dem das Ganze ge¬
halten ist. Er ist durch und durch gesund. Ist es gleich nur eine Theorie,
die hier vorgetragen wird, so giebt sie doch der Praxis einen vortrefflichen
Maßstab. Wollte sich diese nur immer eines solchen Maßstabes bedienen und
nicht in bequemem Schlendrian in dem gewohnten Geleise weitertrottcn. Das
Schultzische Buch ist vortrefflich geeignet, in seiner klaren, warmen, hie und
da sogar hinreißenden Sprache die Geister zu wecken, die Familien hinzuweisen
ans die heiligste aller Pflichten, die ihnen geworden, und die Schulleiter auf¬
merksam zu machen auf das, was der Schulerziehung in Verbindung mit dem
Hause in erster Linie notthut.
Wir fürchten nicht, daß das Buch das Schicksal des Werkes teilen wird,
auf dessen Schultern es steht. Das Ende des Jahrhunderts ist mit seinen
sozialen Aufgaben so in die Erziehungsfragen verflochten, daß die Schrift
gewiß nicht unbeachtet bleiben wird. Auch sind die Zeitgenossen auf die Lektüre
dieses im besten Sinne populär geschriebnen Werkes weit besser vorbereitet,
als die Zeitgenossen der Herbartschen allgemeinen Pädagogik, die vielfach nichts
mit dem Buche anzufangen wußten. Überflutet werden wir freilich jetzt auch
mit Erziehuugsschriften, noch mehr als die Zeitgenossen Herbarts am Anfang
des Jahrhunderts, aber aus der Flut dieser Schriften hebt sich das vorliegende
Buch doch so vorteilhaft ab, daß es sicher seinen Weg gehen wird.
s ist ein eigen Ding um den Humor, diesen leichtfüßigen Gesellen.
Man hört bald hier bald dort seine muntern Weisen klingen, im
schlichten Volkslied, im behäbigen Epos, im stolzen Roman, in
der derben Satire; aber will man den Burschen hervorlocken,
ihn betrachten und betasten, so schlägt er uns ein Schnippchen
und ist nirgends zu fassen. Gleich dem harmlosen Hirtenbuben hat er es
gern, wenn wir seinem süßen Liede lauschen, aber er leidet es nicht, daß
wir nach seiner Flöte greifen, um sie zu untersuche», zu zerlegen und am Ende
gar zu zertrümmern. Ohne Bild geredet: man kann den Humor zwar em¬
pfinden, aber nicht streng logisch definiren; man kann darum wohl sagen, wie
er ist und wie er sein soll, man wird sich aber vergeblich bemühen, mit kurzen,
trocknen Worten anzugeben, was er ist. Es fehlt zwar in unsrer Litteratur
nicht an kurzen Definitionen des Humors, aber keine ist zutreffend, geschweige
denn erschöpfend. Das kluge Wort des Altmeisters Kreißig behält noch immer
Recht: „Vom 5)umor und seiner künstlerischen Offenbarung gilt allen Ästhetikern
Zum TroK noch immer das Wort, mit dem die Schrift den Gottesatem der
Schöpfung bezeichnet: Du hörest sein Brausen wohl, aber du weißt uicht, von
wannen er kommt, noch wohin er führt."
Doppelt erschwert wird die Erkenntnis des Humors dadurch, daß er
einen Bruder hat, der ihm sehr ähnlich sieht; das ist der Witz. Erst wenn
man beide Brüder ueben einander sieht, merkt man den Unterschied. Freilich
schlüge diese Doppelgängerei zu Gunsten des unbedeutendem der beiden
Brüder, des Witzes, ans; er, der mit beiden Füßen im Leben steht, giebt
sich gern für den olympischen Bruder ans, der doch so selten herabsteigt
von seiner Götterhöhe in das Getriebe der Sterblichen, der feinen Vasallen,
den Witz, ruhig gewähren läßt. Aber bei allen Unterschieden haben beide doch
manches mit einander gemein. Einen Humor ohne Witz kann man sich gar
nicht vorstellen, ebenso wenig wie ein Gemüt ohne Verstand. Leider ist aber
die umgekehrte Erscheinung heutzutage keine Seltenheit mehr, es giebt nur
allzu viel Witz ohne Humor, wie es eben auch recht viel Verstandesmenschen
ohne Gemüt giebt. Und dieser Vergleich hat einen tiefern Grund; denn that¬
sächlich steht der Humor im engste» Zusammenhang mit dem Gemüte, ebenso
wie der Witz mit dem Verstände; der Witz ist ein Talent des Verstandes, der
Humor dagegen eine edle, ja vielleicht die edelste Perle des Gemüts.
Wollen wir noch weiter in das Wesen des echten Humors eindringen, so
müssen wir nach seinen Erscheinungsformen fragen. Der wahre Humor ist
natürlich, ursprünglich und unerschöpflich; er quillt hell sprudelnd hervor, rein
"ut lauter wie der unversiegliche Bergquell; er ist naiv und ungeschminkt
"ne ein lächelndes Dorfkind, dem unbewußt ein sichrer Takt die Worte lehrt,
dem kein Gefühl die Brust durchbebt, das nicht unmittelbar ans dem Herzen
stammte. Frei und leicht wie ein gütiger Lichtelf schwebt der Humor dahin,
immer lachend und scherzend, lindernd und versöhnend, nie höhnisch und ver¬
letzend. Wahr, doch ohne gehässige Übertreibung, zeigt er die Schwächen der
Menschen, aber nicht um sie zu geißeln und zu lüstern, sondern nur um sie
gemeinsam mit andern herzlich zu belachen. Sein Spott wird zur harmlos
heiter» Ironie, sein Tadel zur lustige», bald ausgelassenen, bald pathetischen
Strafpredigt, deren „göttliche Grobheit" immer nur ergötzlich wirkt; seine Ver¬
zweiflung endlich zur wehmutsvollen Rührung, deren liebenswürdige Komik
^zaubert und ansteckt. Der wahre Humor kann also mir wohlthun und er-
freue», jede andre Tendenz liegt ihm fern.
Anders sein mehr irdisch gearteter Bruder, der Witz. Freilich steht seine
Wirkung nicht in notwendigen Gegensatze zu der des Humors, aber sein Wir¬
kungskreis liegt mehr in den niedern Sphären der Beurteilung; nur selten
klimmt er einmal zu den sonnigen Höhen hinan, auf denen sein Bruder thront.
Während dieser fast nie von seinem überirdischen Wohnsitz herabsteigt in das
gemeine, alltägliche Leben, trifft man seinen weniger wählerischen Doppelgänger
überall, in allen Lebenslagen, bei jeder Menschcnklcisse. Herr Witz fühlt sich
auch überall Wohl, in den feinsten Salons ist er ebenso zu Hause wie in den
verkommensten Schenken der inissra Md8, ihm steht der Frack so gut wie die
Arbcitsbluse. Auch das Reich seiner Äußerungen hat viel weitere Grenzen,
denn obwohl Vasall seines edlern Bruders, herrscht er doch absoluter als jener,
und alles beugt sich seinem Szepter. Während der Humor seiner Götterwürde
nie etwas vergiebt, auch bei der Schilderung des niedrigsten seine Vornehm¬
heit bewahrt, ist dem Witz alles erlaubt. Ihn hält keine Schranke, denn er
kennt ja keine Standesrücksichten, er darf necken, tränken, demütigen, höhnen,
schmähen, ja selbst verwunden, denn seine oberste Absicht ist nicht zu erfreuen,
sondern zu korrigiren und zu kritisiren; zu diesem Zweck aber verachtet er zu¬
meist den leichten Schlag der Pritsche, die sein Bruder liebt, und schwingt
lieber die Geißel.
Darnach kann es nicht Wunder nehmen, daß gerade in unserm kritik¬
lustigen Zeitalter, wo mau die scharfen Worte liebt, der Witz eine Ausbildung
erhalten hat, wie kaum je zuvor. Auszulachen, zu verspotten, zu tadeln und
zu kritisiren versteht ja niemand so gut als der Vertreter des tlo as siöelö,
da niemand so gut wie er „den Splitter in seines Bruders Auge sieht." Die
Vertreter echten Humors dagegen (nicht die sogenannten „Humoristen," von
denen es ja noch immer wimmelt) sind leider heutzutage ebenso wie einst, zur
Zeit des Diogenes, die wahren Menschen „mit der Laterne zu suchen." Denn
zum wirklichen Humoristen gehört eben nicht nur ein scharfes Auge für die
Fehler der Zeitgenossen, sondern vor allem ein Helles, horniges Gemüt, ein
warmes Herz, ein edler Gerechtigkeitssinn, eine feine Harmonie der ganzen
innern Persönlichkeit und erst zuletzt ein sprudelnder Witz, ohne den es freilich
nicht abgeht. Wo sind aber heutzutage die Dichter, die all diese kostbaren
Eigenschaften in sich vereinigten? Die Witzblätter schießen auf wie die Pilze
nach dem Sommerregeu, aber die echten Humoristen sterben aus; Reuter
und Scheffel sind dahin; ein paar andre wandeln noch unter uns, aber wie
lange noch? tönt die bekümmerte Frage. Schon kommen sie uns vor wie
hochragende Säulen, umleuchtet von dem Mvrgenrot einer neuen, andern
Zeit. Der junge Nachwuchs, und damit die zuversichtliche Zukunftshoff¬
nung, fehlt. Zwar wird unser litterarischer Markt Jahr für Jahr von
„Humoresken" überflutet, aber meist sind diese gerühmten „Humoresken" nicht
einmal komische Geschichten, geschweige denn „Geschichten voll köstlichen Hu¬
mors," wie sie so oft von freigebigen Kritikern genannt werden.
Bezeichnend für die moderne Litteratur ist die SpezialHumoreske. Der
eigentliche 5minor ist universal, er hat es nicht nötig, sich auf em für ihn
besonders günstiges Gebiet einzuschränken, nein, er gießt seine warmen Strahlen
über das ganze Menschenleben aus. Um so eher sucht sich der Witz em be¬
sondres Gebiet der Thätigkeit ans, er versteift sich mit Vorliebe auf gewisse
menschliche Verhältnisse, die von vornherein zum Komischen neigen, z. B. aus
das Soldaten-, das Bade-, das Kriminal- oder das Theaterleben. Greifen
wir nur eine Gattung aus deu vielen heraus, die Gymnasialhnmoreske, als
deren glücklicher Vater sich Ernst Eckstein rühmt. Schon bei dem „Meister"
selbst ist von eigentlichem Humor herzlich wenig zu verspüren. Meist ist es
ein schlechter Jugendstreich, der mit satirischer Bosheit und allerdings manch¬
mal recht witzig und geschickt erzählt wird, aber zuletzt bleibt bei dem auf¬
richtigen Leser'doch ein wenig befriedigender Eindruck zurück. Mau hat das
Gefühl: hier ist ein Mißstand gegeißelt worden; wenn er auch freilich sehr
komischer Art ist, so ist er doch nicht ganz so harmlos, wie es nach all den
Scherzen scheint, nur lacht man sich darüber hinweg. Dem Leser wird nicht etwa
das sonnige, wonnige Ghmnasiastenglück in deu erquickenden Farben des Hu¬
mors gemalt, souderu eine flüchtige Skizze geboten, die der Witz des Autor«
in wenigen schnellen. aber um so schärfern Strichen entworfen hat. Noch
schlimmer geht es bei den Nachtrctern Ecksteins her. Und doch könnte gerade
das frohe Gymnasiastenleben mit seinen tausendfachen kleinen Schulnöten, mit
seinen unnötigen und doch so romantischen Leiden heimlichen Liebeswehs, mit
seinen stolzen Trümmer einer großen Zukunft so reichen Stoff bieten für
wirklichen Humor, wie er z. B. bei Kügelgen und einigen andern zu finden
ist- Aber bei ihnen sind eben die echten kleinen Hnmoresken nur reizende
Episoden in einem großen Ganzen, mit der modernen „Spezialhumoreske" und
ihren effektvolle Lichtern haben sie nichts gemein. Schon die ganze Art der
Behandlung ist grundverschieden. Kügelgen erzählt uns naiv und treuherzig
von seiner Jugend, vielleicht auch mit einem Anflug gutmütigen Spottes,
völlig in der harmlosen und unbefangnen Art der betreffenden Zeit, die er
möglichst objektiv zu schildern sucht. Eckstein dagegen will gewisse Zustände
im Gymnasialleben möglichst grell beleuchten, um sich über deu Helden seiner
Humoreske und — zugleich über den Leser lustig zu machen. Dort ruhige,
objektive Darstellung, hier Tendenz. Der einfache, wahre und dabei echt
humoristische Kügelgen nötigt uns zu einem heitern, manchmal vielleicht auch
etwas wehmütigen Lächeln, der übertreibende, sarkastische, witzige Eckstein bringt
uns zu einem schadenfrohen, manchmal auch verbitterten Gelächter. Welche
Wirkung vorzuziehen ist, darüber kann man ja streiten, doch mancher Leser
der vielgerühmten Gymnasialhumoresken Ecksteins hat wohl schon mit den
Worten des Dichters gesprochen: „Man merkt die Absicht, und man ist ver-
stimmt."
Die moderne Humoristik, so paradox es klingen mag, will von wirklichem
Humor gar nichts wissen. An dieser traurigen Thatsache sind aber nicht bloß
die Dichter, sondern zum großen Teile mich das Publikum schuld. In den
letzten Jahrzehnten ist nach und nach der Zeitgeschmack ein andrer geworden:
der moderne Leser will gar nicht vor allem erquickende Lektüre, dazu fehlt
ihm schon viel zu sehr die Naivität der Väter, er will vor allem pikante Lek¬
türe haben, die seine Bosheit kitzelt; er will nicht mehr den idealen Humor
— der dünkt ihm altfränkisch —, er will die Satire, die seiner Meinung nach
allein für unser modernes Leben paßt. Und er hat vielleicht nicht Unrecht
damit.
Jede Zeit trägt ihren besondern Stempel, und bei allem liebenswürdigen
Optimismus gegenüber der Gegenwart läßt sich doch nicht leugnen, daß sie
für die ungestörte Entfaltung eines echten Humoristen so wenig geeignet ist
wie kaum je eine andre Zeit. Die Litteraturgeschichte läßt sich ja ebenso
wenig schablonisiren wie die Weltgeschichte, aber dennoch ist es wohl nicht
zuviel gesagt, daß unsre Zeit mit allen großen Kulturperioden das Schicksal
teilt, daß sich unter dem scharfen Kontrast der Erscheinungen nur selten der
Witz zu der lichten Höhe des Humors erhebt, um so mehr aber in den
Leistungen beißender Satire glänzt; man denke nnr an die nachperikleische und
an die Cnsarenzeit. Einen entscheidenden Einfluß auf den Zeitcharakter übt
jedenfalls die Politik, der man ja geradezu nachsagt, daß sie den Charakter
verderbe, namentlich die Parteipolitik, die heutzutage auf Kosten unsers National¬
bewußtseins vorherrscht. Sie dient lediglich dazu, daß die Nisse und Unter¬
schiede im Volke immer weiter auseinander klaffen, die Geister immer heftiger
aufeinander platzen. Wahrhaftig eine für den Humor recht ungeeignete Zeit!
Und in der That, wohin man blickt, im Roman, in der Novelle, im
Liede und selbst im Drama schwindet mehr und mehr die humoristische Epi¬
sode; Unzufriedenheit, Spott und damit die Satire drangt sich in den Vorder¬
grund. Zwar wartet das scheidende Jahrhundert noch immer eines wahrhaft
großen Satirikers, aber im Zeitalter der Satire leben wir schon lange. Und
die moderne Satire ist recht eigentlich ein Kind des Witzes. Damit soll nicht
gesagt sein, daß es nicht auch einen Humor der Satire geben könne, nein,
die großen Satiriker des sechzehnten Jahrhunderts zählen ganz gewiß mich zu
den größten Humoristen aller Zeiten, aber ihre Satire ging eben nicht aus
von giftiger Laune, pessimistischer Weltverachtung oder gar grimmiger Verzweif¬
lung, sondern sie entsprang aus keckem Übermut, derbem Freimut und aus¬
gelassener Lust zum Widerspruch in einer philiströsen und dabei aufgeblasenen
Zeit. Ihr Meister und Vorbild war der muntere Horaz, aber nicht der ver¬
bitterte Juvenal. Ein Muruer, ein Fischart, selbst ein Rabelais war bei aller
beißenden Ironie, bei allem schonungsloser Spott doch immer von tiefem,
sittlichem Ernst erfüllt; ihr Humor war oft derb und wild, aber ihre Ab-
sichten waren gut, sie beruhten ans der festen Überzeugung, eine hei ige Pflicht
an ihren Mitmenschen zu erfüllen. Wo über finden sich solche Absichten bei
unsern modernen Satirikern? Man sucht sich ja nnr über das Elend der
Gegenwart hiuwegzuwitzelu, um es zu vergessen; man macht sich lustig über
die Welt, weil mau im legten Grunde an ihr verzweifelt.
Die moderne Satire wird daher vollends unsrer humoristischen Impotenz
uicht abhelfen, sondern sie eher verschlimmern, dafür sorgt schon unsre hastende,
nimmer rastende Zeit. Während der Witz zu alleu Zeiten und uuter allem
Umständen, wennauch freilich in verschiednen Maße, emporgesproßt ist. erblüht
die Blume des Humors uur selteu und unter besondern Verhältnissen. Nicht
in dem Wirbel schnelllebiger Jahre, nicht unter deu Stürmen welterschüttern-
der Ereignisse, sondern nur auf dem Boden ruhiger Zeiten grüne der Humor
üppiger. Die Zeiten nach der Reformation, die trägen Friedensjahre vor
1813, vor und nach 1848 haben unsre besten Humoristen erzeugt; in diesen
Jahrzehnten gab namentlich ein reich entwickeltes und meist verwickeltes Ge¬
sellschaftsleben, verbunden mit einem beschaulichem Familienleben ^loff für die
Lachlust des launigen Beobachters. Fast scheint es, als dürfte man darnach
den Schluß wageii, auch die Gegenwart sei nach den gewaltigen Stürmen der
deutschen Reichsgründung besonders geeignet, dem Humoristen als Studienfeld
M dienen; aber der Schein trügt. Trotz der zwanzig langen Friedensjahre
haben wir noch keine Ruhe, auf die äußern Kämpfe sind innere gefolgt und
werden weitere folgen. Zwar in der Kunst hat sich bereits ein glückverhei¬
ßender Bote gezeigt, die hübschen Zeichmmgen deS Hamburger Künstlers
Alters haben bei dem deutschen Publikum selbst Oberländers geistvolle Kari¬
katuren ausgestochen. Aber erst die kommende Zeit wird lehren, welcher Taube
Noahs dieser Vorbote gleicht; vor der Hand wenigstens zeigt unsre Litteratur,
daß für die Entwicklung neuen Humors die Wasser noch nicht gefallen find.
Bis auf deu heutigen Tag ist der Humor, wohl in enger Verbindung
mit dem vielgerühmten deutschen Gemüt oft als ein besondrer Vorzug des
„Volkes der Dichter und Denker" bezeichnet worden, und wenn man diese
etwas prahlerische Vehauptuug nicht recht festhalten konnte, war man so gnädig,
wenigstens die Engländer gütigst mit einzuschließen. Ganz abgesehen nun davon,
daß wir auf dem Gebiete des Humors thatsächlich hinter den Engländern
zurückstehen (man denke nnr an Shakespeare und Dickens), so liegt doch eine
gewisse Wahrheit in jener kühnen Behauptung. In den Litteraturen andrer
Volksstümme sind die Humoristen erst recht dünn gesät. Bei den Slawen
kann man von einer humoristischen Litteratur überhaupt kaum sprechen. Bei
den Romanen liegt es schon in ihrem ganzen Naturell, in ihrem feurigen,leicht beweglichen Volkscharakter begründet, daß sie die wechselvolle, wenn
auch niedrigere Sphäre des Witzes vorziehen. Der Germane grübelt, der
Romane sprüht Funken. Während bei dem Germanen das Gemüt den Ver-
stand langsam überwindet, übertäubt bei dem Romanen der Verstand oft schnell
das Gemüt; denn den Romanen das Gemüt ganz absprechen zu wollen, hieße
sie zu Dreiviertelmenschen degradiren. Immerhin kennt die Litteraturgeschichte
auch einen respektabel» romanischen Humor! auch die eifrigsten Dentschtümler
kommen doch nicht um Cervantes und Rabelais herum. Der Witz vollends
erscheint bei den Franzosen in einer Vollendung, wie wir Deutschen sie wohl nie
erreichen werden.
Hier haben aber die Franzosen einen gefährlichen Rivalen. Die Juden
sind es, die mit ihnen um die Palme des Witzes ringen, und zwar mit wach-
sendem Erfolg. Das jüdische Volk gehört ja unzweifelhaft zu den begabtesten
Völkern des Erdkreises; aber je mehr bei ihnen der Verstand herrscht, desto
mehr tritt das Gemüt in den Hintergrund. Daher ist die Thatsache leicht
erklärlich, daß die Juden nicht nur wie die Romanen einen wenig entwickelten,
sondern überhaupt gar keinen Humor haben; denn zum wirklichen Humoristen
gehören Charaktereigenschaften, die dein Juden völlig abgehen. Auch hier
sieht man recht deutlich, daß Juden und Deutsche zwei innerlich unver¬
einbare Nationalitäten sind. Der Deutsche hat vor allem ein tiefes Gefühls¬
leben, er ist offen, gutmütig, gelegentlich auch etwas derb, alles Eigenschaften,
die dem Humoristen zu statten kommen; der Jude reflektirt in erster Linie, er
ist äußerst klug, gewandt, dabei kühl berechnend und von großer Geistesgegen¬
wart. So ist er der geborne Vertreter des Witzes, besonders des prägnanten
Augenblickswitzes mit dem boshaft-satirischen Beigeschmack; selbst der geist¬
reichste Franzose versteht es nicht so gut wie er, mit einem einzigen Wort
eine ganze Sache ins Lächerliche zu ziehen. Dafür zeugen die Namen vieler
jüdischen Schriftsteller, die fälschlich mit dem Ehrentitel „Humoristen" geziert
werden, während sie doch nur dem „erhabnen Vorbilde" Heines nacheifern,
freilich ohne ihn zu erreichen. Sie führen ja geradezu das Szepter auf dem
Gebiet der modernen Humoristik und tragen die Hauptschuld daran, daß sich
das deutsche Publikum allmählich daran gewöhnt hat, jeden scharfen Geistes¬
blitz und leider auch manchen oft recht faden, wenn nur recht boshaften Witz
für echten Humor zu halten.
Es wird Zeit, daß sich auch hier das deutsche Volk aufrafft und sein
nationales Selbstbewußtsein wiederzugewinnen sucht. Dann wird sich auch
einst aus der Asche Reuters und Scheffels ein neues Geschlecht erheben, das
unserm Volke wieder zeigen kann, was echter deutscher Humor ist.
Welt, wie bist du so wunderschön! Hütte ich mit weitgeöffneten
Armen ausrufen mögen, mis ich, dem Geschäftsgewühl entronnen,
an einem der ersten schonen Frühlingstage draußen auf den Höhen
stand und das Panorama von Kansas City überblickte. Früher,
in Newhork, hatte mich das Hasten und Jagen der neuen Welt
tre dazu kommen lassen. Wenn man um des eignen Broterwerbs willen
duftender Mitbewerber wird, verliert man den Überblick. Hier, wo ich ruhiger
Beschauer war, mich nicht in den Strudel mit hineinziehen zu lassen brauchte,
lag auf einmal das Großartige des Geheimnisses der neuen Welt wie eine
Offenbarung vor mir. Wo war es je dem Menschengeiste so leicht gemacht
worden, sich auszuleben wie hier?
Was war Italien sür die auswandernden griechischen Kolonisten im Ver¬
gleich zu diesen unermeßlichen Länderstrecken, die sich hier das beengte alte
Europa in so kurzer Zeit mit so vervollkommneten Mitteln und so glänzendem
Erfolg erschlossen hat? Eine neue Welt ist hier erstanden durch den stetig von
Osten nach Westen fortschreitenden Völkerwanderuugsstrom der europäischen
Auswanderung des neunzehnten Jahrhunderts. Hier lag sie vor mir, altes
und neues wunderbar durch einander gemischt.
Hier ragte aus den Bäumen der Wartturin einer funkelnagelneuen Ritter¬
burg, dort das Prachtportal einer Villa modernsten Stils; nnter mir im
Grunde sprengte ein zigeunerhaft drapirter Cow-Bos, ein Hirtenjunge, aus
dem Zeltlager kommend, durch die Büsche, dort surrten die Wagen der elektrischen
Bahn auf ebner Straße nach der von Rauchwolken bedeckten Stadt, von der man
in der Ferne nur eine Zahl qualmender Schornsteine erblickte, die sich von
dem blauen Horizonte, dem Thale des Missouri, dunkel abhoben.
Es war an einem jener vorzeitigen sonnigen Frühlingsmorgen im Februar,
als ich mich mit Freund Karl, dem alleswissenden Zeitungsmann als Führer,
auf die „Wvhnungsuche" begab. Ein passendes Häuschen sür eine oder zwei kleine
Familien hier zu finden, ist nicht schwer. Alle die Hänser ringsherum sind
mehr oder weniger von bescheidnen Zuschnitt. Man hat die Wahl, in welches
man zuerst treten will, nachdem man sich in der Nachbarschaft die Schlüssel
von einem halben Dutzend geholt hat.
Sobald uns der Kabclbahuwageu aus dem räucherigen Straßengewühl in
diese lichten? Teile der Oberstadt herausgetragen hatte, vergoldete die liebe
Sonne ein ganz andres Straßenbild als das, das sich in der Geschäftsgegend
unsern Blicken geboten hatte: schnurgerade, breite Baumalleen mit kleinen und
großen von Gärtchen umgebnen Villen aus Holz oder Röthlein, das waren
die Straßen. Bor den Häusern standen oft alte Bäume. Wo die Nivel-
lirungsarbeiten die Straße vor den Hausgrundstücken sehr vertieft hatten, er¬
hoben sich kleine Rasenterrassen, in deren Mitte eine Freitreppe hinaufführte.
Kascrnenartige Häuserreihen gab es, hier wo man nur wohnte, aber nicht Ge¬
schäfte trieb, gar nicht mehr. Jedes Grundstück war in sich abgeschlossen, freund¬
lich einladend. Es war kaum ein Häuschen, in dessen Gärtchen sich nicht ein paar
Obstbäume oder Eschen, auch Eichen oder Kastanien über dem geschnitzten Dach
oder über dein zierlichen Sims der Balkonthür oder des Erkers ausgebreitet
hätten. Wie hübsch mußte sich das alles erst im Sommer aufnehmen, wenn
das sprießende Grün den etwas grellroten oder leuchtend gelben Hausanstrich
unterbrach und beschattete!
Nach kurzem Aufenthalte vor dem letzten der dampfenden und brausenden
Maschinenhäuscr, wo auf den vielen hier einmündenden Schienensträngen die
Kabelbahnwagen ans- und einlaufen, war es in sanfter Steigung durch schöne
Garten- und Villenstraßcn immer höher und höher gegangen, bis wir ein
weites Hochland vor uns hatten. Dies war vor Jahr und Tag noch Wildnis
gewesen. Jetzt durchzogen auch dieses schon gerade Chausseen, an deren Seiten
das Land in Gevierte abgeteilt und stellenweise schon bebaut war. Hie und
dn gab es noch eine Fläche Eichengestrüpp, dann kam wieder eine italienische
Villa mit piuieuartigeu Kiesern, dann wieder ein Geviert Urwald und dahinter
die Villa eines Arztes, deren Aufgangstreppe zu beiden Seiten statt mit Prell¬
steine» mit Mamutwirbeln geziert war.
Ich fragte nach dem Besitzer. Wie mir mein Führer sagte, hatte er sich
das Anwesen allerdings nicht, wie ich zu hören hoffte, durch seine Praxis,
sondern dnrch Spekulation erworben. Ebenso auch der Rechtsanwalt dort in
der Florentiner Villa; auch er war uicht dnrch sein Corpus M-i8, sondern
durch Landspeknlntivn zu seinem Reichtum gekommen. Es war das überhaupt
hier das A und das O. Sie schienen alle der Worte des sterbenden Uankce-
vaters an seinen Sohn eingedenk gewesen zu sein: „Sohn, Geldmacher mußt
du. Wenn du kannst, auf ehrliche Weise. Aber gemacht werden muß es!"
Freund Karl, der endlich mit mehreren Schlüssclbündcii beladen ankam, war
froh, daß mir alles so gut gefiel, denn er wollte mich doch gern hier behalten.
Es war ein wahres Schinuclküstchen, in das wir zuerst eintraten. Wir
hatten uns eins der nächsten ausgesucht, das mit seinem im Sonnenschein blau-
glänzenden Schieferdach und mit seinen Nundtürmchen verlockend aus den
Eichen hervorlugte.
Das Vorderzimmer ist meist das Wohnzimmer (?g.r1or), hat an der
Breitseite einen großen marmorgetäfelten Kamin und nach vornheraus ein
breites schönes Erkerfenster, oft mit bunten Butzenscheiben. Das Fenster reicht
bis zur Erde und dient auch als Balkonthür nach der Veranda zu, die sich-
vor dein Hause hinzuziehen Pflegt. Es giebt bei seiner großen Breite auch
dem Hinterzimmer, das durch eine gewaltige Schiebethür von dem Vorder¬
zimmer getrennt ist, genügendes Licht. Schiebt man nach beiden Seiten die
Thüren in die Wände zurück, so hat man statt zwei geräumiger Stuben einen
Gesellschaftssaal, durch dessen Fenster man ans die Eichen des Gefildes hinaus¬
blickt, das vor nicht langer Zeit noch Jndicmergebiet gewesen ist.
Das gedämpfte Licht, das durch die bunten Scheiben der Hausthür auf
den meist getäfelten Hausflur fällt, verbreitet Behagen, und der Eintretende
fühlt sich nicht ratlos und verlassen, wie in den meisten dunkeln Vorsülen
unsrer großstädtische» Häuser. Wie würde aber erst eine deutsche Hansfrau
entzückt sein, wenn sie die in die Wände eingelassenen hölzernen Wandschränke,
die überall angebrachten Waschvorrichtungen, die Dampfheizapparate sähe, die
mit Wasserleitung und Kochofen jederzeit in Verbindung zu setzen sind ebenso
wie mit der Badewanne im obern Stock! Fahrstühle befördern durch einfachen
Handdruck lautlos die Kohlen aus dein Keller in die Küche, die Speisen aus
der Küche in das daranstoßende Eßzimmer. Wie schnell doch die neue Welt
die alte in diesen Dingen überflügelt hat! dachte ich. Wie thöricht, daß man
mit souveräner Verachtung alles dessen, was Amerikanertum heißt, selbst in
unsern deutschen Großstädten das alles unbeachtet läßt und nichts davon lernen
will! Wie sagt der Vaecalciureus im Faust?
Goethes Ansicht über Amerika, zugleich ein neues Thema sür die Goethe¬
forschung!
Trotz vieles Überladnen und Geschmacklosen ist hier doch alles zweckmäßig
und für die Mehrzahl, die wir in Enropa die breite Mittelklasse nennen würden,
sehr brauchbar. Freilich stehen normännische Kastelle neben mvdernisirten Block¬
hütten, venetianische Paläste neben Nürnberger Patrizierhäusern; dort platzt
grell leuchtend ein rotlackirtes Malepartus mit Wall, Zugbrücke und Graben
mitten heraus aus der stattlichen Reihe graubrauner Schnörkelhäuser, die be¬
anspruchen, den spezifischen Stil von Kansas Cith zu zeigen: einen mehr an ein
Orgelgehäuse als an ein Wohnhaus gemahnenden Barokstil. Aber das alles ist
ein Versuchen und Probiren, wie man unter der einladendsten Außenseite dem
Publikum, auch dem ärmern, das billigste und zweckmäßigste Heim bieten könne.
Selbst unter der Schneedecke müssen diese zierlichen Bretterhäuschen uoch einladend
und freundlich aussehen. Und der Ärmere, der sich nicht ein ganzes mieten
kann, findet genug solche „Hütten" quergeteilt und für zwei Familien ein¬
gerichtet. Niemand wird in menschenunwürdiger Weise beiseite gestoßen, wie
es in unsern Großstädten im vierten Stock des zweiten Hinterhofs doch der
Fall ist. Selbst der weniger bemittelte, der in den großer» Mietshäusern, mit
Hof und Gartenanlage in der Mitte, einen oder einen halben Flur für den
Preis von vierzehn bis sechzehn Dollars monatlich bewohnt, fühlt an nichts,
daß er ein Mensch zweiter und uicht erster Klasse ist. Das wird sorgsam
vermieden. Das Wohnungselend der deutschen Großstädte giebt es hier nicht.
Man erstaunt über die Findigkeit der vielen Baumeister, die sich hier
über- oder auch unterboten haben müssen, um die Frage: Wie baut man billig
und doch hübsch und praktisch? zu lösen. Der monatliche Mietzins für eins der
eben beschriebne» Hüuscheu mit Garten beträgt fünfundzwang bis dreißig Dollars.
Auf vierzig steigt er nur in Zeiten künstlicher Hauffe, wenn z.B. gerade von
den großen reichen Bostoner Grundbesitzern eine kleine „Kunst- oder Garten¬
ansstellung" zum Wohl ihrer ncuangelegteN Stadt und zur Steigerung des dor¬
tigen Grundbesitzwertes in Szene gesetzt wird. Die hübsche Lage und die zierliche
Einrichtung war bei allen diesen Cvttagcs so einladend, daß Karl und ich genau
wußten, unsre Frauen würden jedes der Häuschen gern haben wollen. Waren
es in dem einen die buntfenstrigen Balkons mit Jalvnsicnvorrichtung, so waren
es in dem andern die saubern Marmorbadewannen und Marmorwaschtischchen,
war es hier die anheimelnde Veranda mit ihrem Schnitzwerk, so war es dort
der für die Hängematte und ein Lesestündchen wie geschaffne Seitengang oder
das mit Epheu und Wein zu umrankende breite Buchtfenster, das die Wahl
schwer machte. Fünfundzwanzig bis vierzig Dollars sind freilich nach unserm
Gelde hundert bis hundertsechzig Mark, aber wenn man die Preise nach dem
Maßstabe der Nahrungsmittel und der Einnahmen ins Deutsche übersetzt, so
entspricht das doch alles in allem einem monatlichen deutschen Mietpreise von
vierzig bis sechzig Mark, deun man rechnet: ich komme in Nordamerika un¬
gefähr ebenso weit mit einem Dollar wie in Deutschland mit einem halben
Thaler.
Für diese Kleinigkeit ist man aber dann hier Herr in seinen vier Pfählen.
Nicht einmal die Obrigkeit hat sich hereinzudrängen. Der Polizist, der etwa
wegen Gesuudheitsauordnnngen oder ähnlichem vorspricht, wagt nicht einzu-
treten, bevor ihn die Frau oder der Herr des Hauses zum Eintritt aufgefordert
hat. Die Stadt kann sich freilich erlauben, einem lässigen Zahler von Gas¬
oder Wasserleitung beides abzudrehen, aber auch erst, nachdem der Eintritt '
gestattet worden ist. schlimmstenfalls muß er durch gerichtliches Verfahren
erzwungen werden.
1r0U86 i8 ogMs, sagt die amerikanische Hausfrau, stolz wie eine
Königin auf ihr Heim, ihre üssülsnoe, wie sie es gern nennt, wenn sie es
auch nur für ein Paar Monate inne hat, um dann wieder an einem andern
Geschäftsplatze ihr Glück zu versuchen.
Sie kann auch stolz sein auf ihr umfriedigtes Heim, denn da ist nie¬
mand, der es wagen dürfte, sie merken zu lassen, daß er in seinem Heim
mehr sei, mehr vorstelle, mehr sein wolle, ob das nun mehr kostet oder
weniger, ob es hübscher oder weniger hübsch ist. Und käme der Präsident
der Vereinigten Staaten an ihrer baumumrauschten kleinen Eingangsthür vor¬
bei, sie würde sich zwar freuen, ihm als Ebenbürtige an ihrem Kamin
die Hand zu schütteln, würde ihn nach seiner Frau und seinen Kindern
fragen, aber sie würde sich nicht vor ihm beugen, und wenn er glaubte, er
dürfe sie von oben herab behandeln, so würde sie ihm die Thür weisen. Das
ist das Recht, das mit jeder Amerikanerin und mit jedem Amerikaner geboren
ist, das Recht, Mensch zu sein, sich dem Höchsten gleich zu betrachten. Dies
Selbstbewußtsein verläßt den Amerikaner nie. Bei diesem Selbstbewußtsein
der Sinn für Traulichkeit in der Einrichtung des Hauses und das Aufgehen
in seir>)"< Kindern, das zusammen müßte eigentlich die glücklichsten Menschen
machen, wenn nur nicht die Geldjagd das ganze Dasein in Anspruch nähme!
Eben wurde drüben, jenseits der noch ungepflasterten Fahrstraße, an einem
niedlichen Gartenhäuschen, ans dem ein paar Möbel herausgetragen wurden,
die rote Fahne befestigt. Die rote Fahne bedeutet — Auktion. Eine große
Krähe flatterte von einem alten Eichbaum herunter, und wie auf ein gegebnes
Zeichen folgten ihr viele aus allen Windrichtungen in das kleine Eichendickicht,
wo sie wahrscheinlich einen Leckerbissen aufgefunden hatten. Und wie die
Krähen, so versammelten sich in wenigen Minuten vor der aufgehängten roten
Fahne Neugierige, die die Möbel derer kaufen wollten, die eben auszogen,
denen es also wohl hier nicht hatte glücken wollen.
Ja, wenn man der Sache auf den Grund blickt, grinst einem auch hier
nichts entgegen als Dollarjagd! Wie soll sich damit Glück und Behagen
vereinen? Wird dabei nicht der Mann zur gedankenlosen Arbeitsmaschine?
Von einem Beruf zum andern umspringen, fortwährend alles aufs Spiel
setzen, sich selbst, sein ganzes Familienglück, bedeutet dieses Glücksspiel nicht
Verlust jedes Glückes? Denn welcher Halt bleibt noch in der Seele eines
ewig gehetzten Mannes, der sein Leben als verloren ansieht, wenn er es
nicht bis zu einer halben Million oder doch zu Hunderttausenden gebracht
hat? Diese Geldjagd bei dem Mangel an tieferer Bildung macht die Männer,
während die Frauen die Königinnen spielen wollen, zu deren Handlangern und
Arbeitsknechten. Für alles Technische haben sie viel Sinn, aber zu der Höhe
und Weite weltbewegender Gedanken schwingen sie sich kaum auf. Sie haben
sie eben noch nicht gewonnen, die halbe Welt, und was sie gethan haben, ge¬
schah durch Ideen, die von der alten Welt ausgingen; weltbewegende Gedanken
sind bis jetzt noch nicht aus der neuen Welt gekommen. Die Denkweise hier
in der neuen Welt mit ihrer ewigen Glücksjagd ist zu banausisch, als daß
sie für die Welt erlösend wirken könnte.
Wir verließen das kleine Eichendickicht und traten hinaus auf die Jn-
depeudenee-Avenue, die prächtigste Villenstraße, die ich je in der alten und neuen
Welt gesehen habe. Mit siegcsgewissem Lächeln deutete mein Führer, als er
mein Staunen über diese Prachtstraße sah, ans all die ausgebreitete Herrlich¬
keit hin, als wenn er sagen wollte: „Alles das ist für euch da, ihr braucht
nur zuzugreifen. Wozu da noch zurück uach der alten Welt?"
Es war ein märchenhaft schönes Landschaftsbild, das dn vor mir lag.
Welche überschwengliche Freigebigkeit des Raumes, welche Breite der Fahr-
und Fußwege! Alles machte den Eindruck der Wohlhabenheit und Vornehm¬
heit. Zu beiden Seiten lagen weit ausgebreitet wohlgepflegte englische Parks
mit herrlichen Terrassen und Schattengängen, freien Wiesengründen und hohen
Baumgruppen, und darin Schlösser und Villen mit Springbrunnen und Teichen,
in denen sie sich spiegelten. Dabei hat diese prachtvolle Straße fast überall
Fernsichten hinab in das weite Missourithal. Sie begrenzt den l^erabhnng
einer der Hochebnen, und nußer ihrer breiten Anlage selbst wirkt großartig
der prachtvolle panoramaartige Hintergrund.
Durch diese Straße an einem Sommermorgen zu gehen, wie ich es nachher
öfter that, ist ein herrlicher Genuß. Hier weht balsamische frische Luft, weit
unten liegt die graubraune Dunstschicht mit dem fernen Gewühl der Stadt,
deren Lärm nicht zu uns dringen kann. Über uns ist klarer, blauer Himmel,
und die Glocken der Kühe und Schafe auf den Parkwiesen lassen uns vollends
vergessen, daß wir uns in einer Stadt befinden. Daran mahnt uns höchstens
der elektrische oder der Kabelomnibus oder der aus seinem Zweirade vorbei¬
sausende Stadtbriefträger oder an der Straßenecke die Apotheke mit ihren
großen, bunten Krystallflaschen im Schaufenster und ihrem marmornen Soda¬
wassergehäuse, wo der Spaziergänger für fünf Cents zwanzig Pfennige)
ein erfrischendes Glas Sodaercam in zierlichen, uickelstrahlenden Krhstallgläsern
bekommt. Strahlend und siegesgewiß lacht einen diese ganze Welt an, als
wollte sie sagen: „Das ist erst der Anfang, das erste Jahrhundert unsrer
Zivilisation; was werdet ihr erst am Ende des nächsten Jahrhunderts von
diesem Bilde sagen!"
Treten wir in eins dieser Häuser an der Jndependeuee-Avenue, so stimmt
alles, was der kunstsinnige Baumeister, den man von Europa hatte kommen
lassen, im Innern entworfen hat, harmonisch zum Äußern: da sehen wir wirk¬
liche, prächtige Arkaden, da glänzen Säulenkapitäle weiß und golden, die
Treppenläufer, die Teppiche sind, um in Färbung und Muster zur Anlage
des Ganzen zu passen, besonders gewebt, kurz, es ist alles aus einem Guß
und nach großartigem Zuschnitt hergestellt, wie es von dem schaffenden Geiste
des Baumeisters ersonnen war. Was aber gar nicht dazu paßt, das sind die
Menschen darin. Der Herr des Ganzen, ein Millionär, dessen Platz vor dem
prächtigen Nußbaumschreilüisch, im Bibliothekzimmer oder vor dem gewal¬
tigen Marmorkamin oder in dem prunkenden Eßzimmer im großen Ahn¬
herrnstuhl mit hoher gotischer Lehne gedacht war, er sitzt entweder oder
steht beim Frühstück in dem Stübchen unten neben der Küche, denn das
Eßzimmer ist ja nur zum Staate da, oder er hustete sich etwas in der Remise
oder im Garten zurecht, denn Gärtner und Kutscher sind gerade nicht vor¬
handen, oder er kommt höchstselbst mit einem Handkorb vom Markte nach
Hause, denn dein Mädchen kann man nicht trauen, oder er schaufelt eigen¬
händig im Winter den Schnee vor seiner Thür weg, statt ein Buch zu
lesen, denn Körpcrübung ist gesünder, Arbeit schändet nicht, und der Haus¬
knecht hat sich gerade wieder einmal seit einigen Tagen unsichtbar gemacht.
Dabei hat dieser Herr des Ganzen, früher vielleicht ein ehrsamer Handwerker,
nun Börsenspekulant und Politiker, jetzt eine wichtige politische Zeitung unter
sich, die er uicht liest, weil er sie nicht versteht, für die er nur Redakteure
u. s. w. besoldet. Was ihn aber beschäftigt, das ist das persönliche Eintreiben
des Mietzinses in seinen Miethäusern, das Eintreiben der versprvchnen Stimm¬
gelder von den in seiner Zeitung unterstützten Wahlkandidaten, das Lesen der
Kurslisten, das spekuliren in ?ropsrt^, in Grundstücken, denn das ist Ge¬
schäft, dafür lebt und stirbt er, „da liegt doch etwas drin" — nämlich Geld.
Gilt es, so etwas zu thun, so ist er jederzeit bereit, alles stehen und liegen
zu lassen und sein Bnggh selbst anzuschirren.
Das Leben der Familie bewegt sich zwischen Küche, Eßstübchen und
Schlafzimmer und im Sommer auf der Veranda, wo man sich auf den
Schaukelstühlen wiegt. Die Prunkzimmer sind meist verschlossen, und da selten
oder nie Gesellschaft gegeben wird, weiß die Familie, wenn sie gefragt wird,
wozu denn das alles dn sei, nichts zu erwidern, als: „Das erfordert der Stil,
das muß bei seinen Leuten nun einmal so sein." Vernünftiger sind da doch
noch die Leute, die ihre hohlen Pianinos aufklappe» und Wäsche hineinlegen oder
ihre Prunkschränke und Klaviere auseinander falten und darin schlafen. Dann
kommen doch wenigstens die größern Räumlichkeiten noch zur Geltung. Es
giebt hier große Möbelfabriken, von denen nicht nur derartige Aufklappmöbel,
Pseudopiauos und Psendoschränke gefertigt, sondern auch ganze Bibliothek¬
zimmer nach der Elle mit Inhalt versehen, ja sogar Ahnenbilder ans Bestellung
geliefert werden; man nennt europäische Geschäfte, die mit solchen Bildern in
den letzten Jahrzehnten einen schwunghaften Handel betrieben haben sollen.
Außer dieser Shoddh-Aristokratie giebt es natürlich auch wahrhaft vor-
nehme Familien, die die Räume in ihren Palästen richtig benutzen, wo die
Töchter wirklich musiziren und nicht Pferde putzen, wo die Söhne wirklich
Sport treiben und nicht mit den Niggern und Cowboys hinter den Ställen
herumlungern. Wo das aber der Fall ist, da hat es lange Zeit gekostet, das
einzuführen, denn Lölkmgclsinen sind sie doch fast alle, und die schwieligen
Hände passen selten zu Kunst und Wissenschaft. Erbt den guten Geschmack
der Sohn, so hält sich allenfalls noch durch eine Generation ein Schein
von Vornehmheit aufrecht. Meist kommt aber alles schon früher unter
den Hammer. Doch je mehr dieses verbohrte Knownothingtum, das nichts
von der Welt über seinen Horizont hinaus wissen, will, die große Masse be¬
fangen hält, um so kräftiger sind die Anstrengungen der Ausnahmen, die sich
davon loszumachen suchen. Der Amerikaner hat eine Feuerseele. Hat sich
bei ihm ein Gedanke zur Klarheit durchgerungen, so verfolgt er ihn mit einer
Energie ohne gleichen. Erfaßt er ein Studium mit Lust und Interesse,
so arbeitet er sich darin doppelt so schnell vorwärts als jeder andre, Tag
und Nacht ist er dabei mit einem Eifer, ja einem Fanatismus, der bis zum
Unsinn gehen kann.
Fast jede Familie, und wenn sie noch so sehr in der eben geschilderten
abgeschmackten Lebensart befangen sein mag, hat näher oder ferner ein Mit¬
glied, das auf diese Weise eine glänzende Ausnahme macht.
Die Mehrzahl dieser über das niedrige Durchschnittsniveau hervor¬
ragenden gehört dem neuen Zukunftsklnb, der Nationalunion an, die monat¬
liche Zusammenkünfte in dem elegantesten Kasino der Stadt hält und für die
Verwirklichung der Gedanken Vellamhs agitirt. In diesem Klub hatte ich,
dank der schon erwähnten Einführung, Gelegenheit, die geistige Blüte der Ge¬
sellschaft kennen zu lernen.
Man kommt hier nach englischem Muster abends im untadelhafter Ge-
sellschaftsanznge zusammen zu einem Vortrage und einer darauf folgenden
Unterhaltung bei einigen Erfrischungen. Hier hört man nur Leute sprechen,
denen das ernste Denken auf der Stirn geschrieben steht. Man erstaunt über
die Tiefe und Wucht der Gedanken, man vermutet sie uicht hinter den oft so
närrischen Außenseiten der amerikanischen Gesellschaft. Hatte ich schon in der
medizinischen Gesellschaft zu meiner freudigen Verwunderung einige Leute kennen
lernen, die die ganze Welt durchreist, sich bei den Universitätslehrern Frank¬
reichs, Englands und Deutschlands theoretisch und besonders praktisch gebildet
hatten und Kenntnisse und Fertigkeiten in der Bakterienbehandlnng besaßen, um
die sie mancher deutsche Arzt hätte beneiden können, so erschrak ich fast vor
der Unerbittlichkeit der Logik, mit der diese Redner und Nednerinnen im Na>-
tivualunionklub die Konsequenzen unsrer konventionellen Lügen zogen, in einer
Weise, die in Deutschland höchstens in streng wissenschaftlichen Abhandlungen
vorkommen dürfte, die aber in öffentlichen Bersammlnngen vor der Welt zu
äußern schwerlich von der Polizei geduldet werden würde. In einem Vortrage,
der die scharfe Grenze des Bellamismus und des Kommunismus hervorhob,
horte ich Sätze wie die folgenden, noch dazu von einer schwächlichen, jungen
Dame in schwarzem Seidenkleide vorgetragen: „Eine Maschine, die mehr Ar¬
beit absorbirt, als sie leistet, ist schädlich" — „Wirtschaftliche Moral ist
vernünftiger Egoismus" — „Es bedarf nur der vollkommenen Gleichberech¬
tigung, um Überfluß zu schaffen für alle." Nach diesen und ähnlichen Fest¬
stellungen der wirtschaftlichen Gesetze der Solidarität der Interessen, wie sie
Hertzka und Bellamy lehren, kam die Rednerin zu folgenden den Kommu¬
nismus und den Nihilismus verurteilenden Schlußsätzen: „Der Kommu¬
nismus ist die Nutzanwendung, die der Hunger aus dem Satze zieht, daß
die Arbeit der Menschheit nicht ausreicht, Überfluß für alle zu erzeugen,"
und: „Der Nihilismus ist die Schlußfolgerung der Verzweiflung, die aus der
Lehre sprießt, daß Kultur und Zivilisation unvereinbar seien mit wirtschaft¬
licher Gleichberechtigung." Ähnliche scharf zugespitzte Sätze, die es mir gelang
nachzuschreiben, schlössen auch einen zweiten Vortrag über die Ehe: „In Bel-
lamhs Staat, den wir gründen wollen, giebt es keinen andern Schutz der
Ehe, als den, der in der gegenseitigen Zuneigung der Gatten liegt." Über
die Auflösung der Ehe, die da, wo sie am meisten erleichtert sei, am
seltensten ausgeführt werde, hieß es schließlich: „Der Schauder vor dem
Gedanken, einem ungeliebten Wesen angehören zu müssen, verträgt sich
mit ehelicher Treue uicht bloß sehr wohl, sondern ist geradezu aus der
höchsten und reinsten Auffassung der Ehe hervorgegangen." Am Ende
der Besprechung einigte man sich in dem Gedanken der Ausführ¬
barkeit des Vellamyschen Zukunftsbildes, wie sie durch Hertzlas Rechen-
exempel nachgewiesen sei, natürlich unter Ausmerzung gewisser Unmöglich¬
keiten.
Der Gesamteindruck, den ich aus diesen Abenden mitnahm, war der,
daß ich es hier mit Leuten zu thun hatte, die nicht durch konventionelle
Schranken an der Durchführung ihrer Gedanken auf Schritt und Tritt ge¬
hindert waren, daß hier ein Denkerbund heranwuchs, mindestens ebenbürtig
denen auf den Akademien Europas, nur mit dem Unterschiede, daß er aus
jüngern, thatkräftigern, cntschlossneren Leuten bestand, von denen man eines
schnellern Überganges zur That gewärtig sein durfte.
Dies ist die Aristokratie des Geistes im Westen gegenüber der Geldaristo¬
kratie, die jene Jndcpcndenee-Avenue bewohnt. Nur wenige davon haben ihr
Heim dort. Die meisten bewohnen billigere Viertel, viele davon recht be¬
scheidne. Manche sind Lehrer oder Lehrerinnen an öffentlichen Schulen oder
gehören dem Post- oder Telegraphendienst um, andre sind Musiker von Fach.
Der in Europa so abfällig beurteilte Mangel ein Kunstsinn und Kunstgeschmack
bei deu Amerikanern, das möchte ich nebenbei bemerken, ist wie der Mangel
an Selbständigkeit in andern Geschmacksrichtungen hier mehr eine Übergangs¬
stufe zur Bildung neuer, eigner Formen, im Baustil ebenso, wie in der Mu¬
sik u. s. w. So urteilslos sich die geschilderten großen Massen, die „armen
Reichen," der Kunst gegenüber Verhalten, um so lebhafter zeigt sich wahres,
ernstes Kunststreben bei der Blüte des Geistes, unter der wir auch hier in
Kansas einige Deutschamerikaner treffen, allerdings weniger als in andern
amerikanischen Städten. Milwaukee, Chicago, Philadelphia, Se. Louis, New-
York sind viel deutschere Städte als Kansas City und die im übrigen Westen
und Südwesten.
So grundverschieden auch Inneres und Äußeres war, so oberflächlich und
gleißend vieles erschien, eines war gewiß: um abgethane Kleinigkeiten handelte
es sich hier nicht. Hier war Großes im Entstehen! Wenn ich auch mit dem amerika-
stvlzen Freunde Karl nicht in allein übereinstimmte, es handelte sich hier doch
um die ernstesten Gewissensfragen der Menschheit, die hier viel rascher der
Losung entgegenreifen als in der alten Welt. Eine Verschiebung des Schwer¬
punktes der Kultur nach Westen — nichts geringeres als das geht hier vor sich,
und dein Deutschtum ist ein nicht geringer Teil an dieser Arbeit zugefallen! Sich
hier auf einige Zeit einzuleben, um lernen zu können, das lohnte sich Wohl,
besonders für den, der schon vor Jahren durch eigne Arbeit in Newyork ein¬
gewurzelt war und als er dann wiederkam, alles so verändert fand, daß es
kaum noch wieder zu erkennen war.
Nach achttägigen Suchen hatten wir endlich ein für uns passendes
Häuschen in der schattigen Cherrystraße an einem buschigen kleinen Rasen-
abHange gefunden, und nach einigen weitern Tagen der Hnuseinrichtuug saßen
wir fröhlich plaudernd auf der vorder« Veranda. Unser Gespräch drehte sich
um die Schwierigkeit,, über fremde Länder zu urteilen, und um die Leichtig¬
keit, mit der Touristen über Amerika Feuilletonartikel schreiben. Denen gegen¬
über hatte Wilhelm Murr ganz Recht, als er, um Nicaragua zu durchreisen
und zu beschreiben, mit Federmessern und Photographien haustrte, nachdem er
sein Reisegeld in Newyork erst in Sicherheit gebracht hatte. Denn nur durch
den Broterwerb lernen wir Land und Leute kennen.
Als wir so sprachen, erinnerte sich Freund Karl eines Berliner Blattes,
das ihm eben heute auf der Redaktion in die Hände gefallen war, und worin
das reichshauptstädtische Selbstgefühl wieder einmal seine schönsten Blüten
trieb. Ein Feuilletonist beschrieb Newyork. Eigentlich ist Pangani, Saadani,
Sansibar, Kiloa heutzutage viel beliebter, hieß es da, doch läßt man sich,
wenn es gewünscht wird, auch wohl einmal herab, Amerika zu besuchen. Der
von dem absprechendsteu Berliner Chauvinismus durchdrungne Gigerl, der
Amerika zuvor nie gesehen hatte, traf gerade heißes und ständiges Wetter in
Newyork an, so konnte ihm nichts imponiren, und als schließlich sogar einer
der Kaufherren in Hemdsärmeln mit ihm aus dem Komptoir über die Straße
zum Stehschoppen ging, da war Newyork für ihn Vuxtehnde und die ganze
übrige neue Welt ungefähr dasselbe. Er beabsichtigt, nächstens ein Buch über
Amerika zu schreiben.
Berichtigung. Die Buch- und Aecideuzdruckerei von Grübel und Sommer¬
latte teilt uns mit, daß der „Führer durch Leipzig," der nächstens in hundert¬
tausend'Exemplaren unentgeltlich verteilt werden soll, nicht von dem „Berein zur
Hebung des Fremdenverkehrs" in Leipzig, sondern von ihr, der genannten Druckerei,
ohne alle Verbindung mit jenem Berein herausgegeben wird. Ihr Kritiker — fügt
sie hinzu — „soll unsern Führer ohne jede Bangigkeit erwarten. Denn sowohl
Karten und Pläne, als auch die geschichtliche Bearbeitung werden die Ansprüche
höher gebildeter Menschen befriedige» können."
Niemand wird sich mehr freuen als wir, wenn die Buch- und Accideuz-
drnckerei von Grübel und Sommerlatte diese stolze Zusage erfüllt. An Hilfsmitteln
dazu fehlt es ja nicht; man muß sie uur — kennen und gewissenhaft und mit Ge¬
schmack benutzen. Jedenfalls werden wir nicht versäumen, unsern Lesern von dem
Erfolg Mitteilung zu macheu.
Die Berliner Gymnasien haben es für zeitgemäß erachtet, der Fiirstenschnle in Pforte
zur Feier ihres Z50jcihrigen Jubiläums ihren Glückwunsch lateinisch darzubringen, und zwar
in jenem Botivtafcllcitein, dessen höchster Stolz es ist, den ganzen Glückwunsch vom ersten bis
zum letzten Wort in einen einzigen Satz zusammenzupressen. Hier ist diese bewunderns¬
würdige Leistung des deutschen Geistes vom Jahre 1893:
Illustrissim-w ssliol-w ?ortsnLi, olim Laxonionsi (!), unus Lorii8hio^ü rsZ'ins, »illo Aos
irovootos gulll^llaxint» Amos U»>irioü slootoris tortissiini se gg>xisotis»lui dsnislütato von-
ditav, xrivoixuui »ngustissimornm qM L»xouuw «z^u» Lornssonim »usxioiis se MuviLosutis,
Aiowv, rsstornw dootrina., sonswuti^, Kums-nitato insiZninm xrndontissimis oonsiliis ad
-i-niinos xnsrornm artibus tittorisnus ing'omnis lidoralissims srndiondos ita mstitntas, ut
multi inds vo-^dsrgnt -ulnlvsoontss, q.ni xostea s^rsAiis xosinatis, vxirnia, seisoti-d pdito-
sopkandi utiislzns littorarnm ^snsridus ominsntss roe non (!) in rsxnblio-r exosttsritvr hö
LvrvQtss Kornumii« summo dsoori tnturi (?) ssssnt, xrasosxtornm xr»ol äootrin» »t^us
indstsssa industria uodilltat»«, ckisoixulorum siuovr» xiot»es orrmtao, sollomuidus sssvn-
luribus ^'hin ehr lust^uratis nov^ devsra tustra xrog^srs g-djests., y^nah als XXV. wsnsis
nasi »voi AIXXÜOKZIII (hio!) o«1sdr»tllr» «se, reotorss xrasosxtorsscjuo Mmnasiorom
Lorolinonsium pio MÄtn1s,nor ant^ut<iuo ox animi sgntsnii-i, ut favsnts also oxiimo msximo
IiÄso alma litters-rum sodss 8n»in sibi Is-udsm 8from»3 in alios in^Ms mgAisssus öl^e^t,
tlnroat, MSZvÄt.
Man denke sich, daß dieser Bandwurm im Original mit lauter großen Buchstaben und
ohne alle Interpunktionszeichen gedruckt ist, daß nur durch die Zeilenabsätze, die aber mit
der Satzgliedernng nicht immer übereinstimmen, der Überblick etwas erleichtert wird, und
man wird sich ungefähr vorstellen können, welches Vergnügen el» Leser des Originals em¬
pfindet.
Und was ist schließlich der Inhalt? Wenn wir das Schriftstück für unsre des Lateins
unkundigen Leser hier übersetzen wollten, sie würden glauben, wir hätten falsch übersetzt, denn
sie wissen ja nicht, welche Banalitäten man nuausgelacht lateinisch sagen kann!
Im 10. Hefte der Zeitschrift „Vom Fels zum Meer" in einem unsäglich faden Ge¬
schwätz: „Mit dem Dampfschiff nach Loschwitz. Dresdner Frühlingsplauderci von H. Harten-
stein" steht S. 196: „Ist es doch geweihter Boden, den der Fuß in Loschwitz betritt. Hier
kam unser großer Dichter zu der Idee des Liedes an die Freude."
Bisher glaubte mau, daß Schiller in Loschwitz den Don Carlos, das Lied an die Frende
aber in Leipzig gedichtet habe. Herr Hartenstein und die Redaktion scheinen neue Quellen be¬
nutzt zu haben. _
Das „klassische" Muster der „I. G. Cotta'scheu Buchhandlung Nachfolger" findet Nach¬
ahmung: schon haben wir auch eine „Deichert'sche Verlagsbuchhandlung Nachfolger" und als
dritte im Bunde nun auch eine „Rackhorstsche Buchhandlung Nachfolger." Vivat hö^nous!
Das Leipziger Tageblatt berichtet in seiner Nummer vom 15. Juni über die Bekämpfung
der Nonuenraupe:
Um die hochwichtige Angelegenheit, die Nonne dnrch die Flaccerie zu bekämpfen, selbst
zu studiren und zu probiren und praktische Borschläge machen zu können, stellte Herr Ober¬
förster Goldberg in Glanchau verschiedne Versuche an mit dem von Dr. Hosmnnn in Regens-
burg entdeckten Bazillns. Das dazu erforderliche Raupenmaterial war Anfang dieses Jahres
von Herrn Forstmeister Schmidt in Ratibor bezogen. Aus diesem Material hat Herr Ober-
förster Goldberg die darin enthaltnen Bakterienarten herausgezüchtet, wobei er in der Weise
verfahren ist, daß er eine Idee von der aufgeweichte» Raupeumasse mit einem Tropfen
Nährgelatine mischte, von dieser Mischung wieder eine Idee entnahm, diese mit einem
zweiten Tropfen mischte und in der Weise fort operirte bis zum vierten Tropfen. Von diesem
vierten Tropfen nahm er abermals eine Idee, mischte diese n. s. w.
Nun komme noch einer und werfe dem Leipziger Tageblatt Geistesarmut vor! Bei
solchem Ideenreichtum!
en patriarchalische« Beziehungen in der Großindustrie nachzu¬
gehen, macht sich ein Buch*) zur Aufgabe, in dein mir einen
schätzenswerten Beitrag zur Lösung der sozialen Frage begrüßein
Die Ausdehnung des Fabrik- und Maschinenwesens hat eine Art
der Produktion geschaffen, bei der wir zwar den gewaltigen Auf¬
schwung unsers wirtschaftlichen Lebens bewundern, aber doch unser Bedauern
uicht unterdrücken können, daß so viele soziale Schäden damit Hand in Hand
gehen. Sollte jener Aufschwung ohne diese nicht erreicht werden können?
Sobald man sieht, wie mit der Ausdehnung der einzelnen Fabriken auch die
Unzufriedenheit der Arbeiter, die Neigung zur Selbsthilfe durch Aufständen.s.w.
wächst, selbst da wachst, wo die Leute eigentlich keinen Grund haben, mit ihrer
Lage unzufrieden zu sein, so möchte man sich versucht fühlen, die Anhäufung
von Arbeiten? in einzelnen Betrieben dafür verantwortlich zu machen. Denn
mögen sich auch in einzelnen Fabriken, wo die Arbeiter oft nach Hunderten,
jn nach taufenden zählen, die Hetzereien der Sozialdemokratie am freiesten er¬
gehen können, so kaun mau doch z. B. für den großen Aufstand der Berg¬
arbeiter in Rheinland-Westfalen nicht lediglich sozialdemokratische Aufreizungen
verantwortlich machen.
Wie erklärt sich dann aber die Unzufriedenheit? Zur Beantwortung
dieser Frage leitet uns das vorliegende Buch an. Schon sein erster Teil, der
1889 erschienen ist und bei der Kritik volle Anerkennung gefunden hat, bot
dazu schätzbares Material. Der dort angewandten eigentümlichen Methode be¬
gegnen wir auch in diesem abschließenden zweiten Teile, der länger auf sich
hat warten lassen, als den Freunden des Buches erwünscht war. Dieser Band
ist inhaltlich darum bedeutender, weil er sich mit den erwachsenen Arbeitern
und der ihnen gewidmeten Fürsorge beschäftigt; sein Umfang übertrifft den
des ersten Teils um das Doppelte. In dem einleitenden Briefe an einen
Arbeitgeber giebt der Verfasser über seine Auffassung der sozialen Frage Aus¬
kunft, indem er hervorragenden Sozialpolitiken! das Wort läßt, ihnen die
Ansichten und Erfolge bewährter Männer der Praxis gegenüberstellt und uns
so gewissermaßen das Material an die Hand giebt, seine Ansichten auf ihre
Nichtigkeit hiu zu prüfen.
Der Verfasser sieht die Veranlassung zu den sozialen Mißständen
allerdings in der Entwicklung, die unsre Großindustrie genommen hat,
und er hält es für notwendig, auf Mittel und Wege zu sinnen, wie diese
Auswüchse beseitigt werden können, ohne die Großiudnstrie zu schädigen oder
gar lahm zu legen. Am meisten beklagt er das Schwinden persönlicher Be¬
ziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitern, dessen Folge völlige Ent¬
fremdung, ja stellenweise die Unfähigkeit ist, einander zu verstehen. In dieser
Entfremdung sieht er die Hauptursache der Unzufriedenheit; daß sie aber diesen
Umfang angenommen hat, kann mir durch beiderseitiges Verschulden erklärt
werden. Mag es schwer und nicht jedem gegeben sein, eine große Anzahl
von Menschen liebevoll zu übersehen und mit ihnen Beziehungen zu pflegen,
so rechtfertigt das doch nicht, so wie es manche thun, in den Arbeitern nur
eine Ergänzung der durch sie überwachten Maschinen zu sehen und sie durch
eine kalte, sozusagen unpersönliche Art der Behandlung zu verletzen. Aber
ebensowenig läßt sich die Gleichgiltigkeit vieler Arbeiter gegen das Gedeihen
des Ganzen, dem sie ihren Unterhalt verdanken, rechtfertigen und das völlige
Verkennen der Thatsache, daß ein Fabrikbetrieb doch noch etwas mehr bedeutet
als ein Mittel zur Gewinnung materieller Werte. Beiden Teilen ist in der
Mehrheit das Bewußtsein dessen abhanden gekommen, was der modernen Ein¬
richtung der Fabrik seine sittliche Daseinsberechtigung giebt, daß nämlich — um
mit Göhre zu reden — die modernsten und großartigsten Bildungen mensch¬
licher Gebens- und Arbeitsgemeinschaft zugleich bestimmt sind, allen darin
beschäftigten, hoch und niedrig, durch ihre Arbeitsbeteiiigung und Arbeits¬
leistung gleich günstige Gelegenheit zur freudigen Bethätigung ihrer geistigen
Fähigkeiten und einer harmonischen Ausbildung auch ihrer sittlichen Persönlichkeit
zu bieten. Es kann keine großen sozialen Organisationen geben ohne sittliche
Gemeinschaft der beteiligten. Doch bis wir zu diesem Ziele gelangen, „handelt
es sich um einen Kompromiß zwischen Herrschaftsverhältnissen und dem Ideal
der Gleichheit, um konventionelle Formen des Verkehrs, des Vertragsabschlusses,
der Disziplin, die das erwachende berechtigte Selbstbewußtsein der untern
Klassen schonen, aber den erziehenden, leitenden Einfluß der höhern Klassen
erhalten; es handelt sich darum, das Herrschaftsverhältnis zu einem Erziehungs-
verhältnis umzugestalten, den größer« Einfluß der obern Klassen dahin zu
leiten, daß er nicht bloß zu größerm Besitzerwerb und Lebensgenuß benutzt,
sondern als ein verantwortliches Amt, als ein Beruf mit schwer wiegenden
Pflichten aufgefaßt wird."
Die Ausgleichung der schroffen Gegensätze ist uicht leicht, doch verzweifelt
der Verfasser nicht an ihrer Möglichkeit. „Alle diese Schäden — fragt er —
sollen also nnr mit meinem »Patriarchalismus« kurirt werden? Patriar¬
chalismus, ein Gewand für beinahe eben so viele Begriffe wie das Wort
sozial! Der von mir gemeinte will Befreiung, nur keine Emanzipation, will
erlösen, nicht loslösen, will kein Unterthanen-, sondern echtes Vasallentum."
Dieses hat mit dem feudalen, patriarchalischen Verhältnis, das, wie die So¬
zialdemokratie sagt, das ganze Mittelalter hindurch für Hörige und Leibeigene
geherrscht hat, nichts zu thun, sondern es soll ein Band sein, das den Arbeiter
mit dem Arbeitgeber verknüpft, wie den erwachsenen Sohn mit dem Vater.
Ein solches verbessertes und veredeltes Patriarchentum ist noch für lange Zeit
das einzig richtige Erziehungsmittel, wie überhaupt gewisse Elemente des pa¬
triarchalischen Zustandes so lange in der Welt fortdauern werden, bis die
Bildung und Gesittung der untern Klassen gänzlich anders geworden ist.
In diesem Sinne nun geht der Verfasser den patriarchalischen Beziehungen
in der Großindustrie uach, und mehr als zweihundert „Musterstätten," die er
zum größten Teile auf wiederholten Besuchen genau keimen gelernt hat, gaben
ihm das Material an die Hand. Der Umfang dieses Materials ist staunens¬
wert. Der Verfasser würde uns mit einem höchst verdienstlichen Werke be¬
schenkt haben, selbst wenn er sich ans die Schilderung dieser Musterstätteu
beschränkt hätte. Er hat aber auch eine Einleitung vorausgeschickt, die etwa
ein Fünftel des starken Bandes umfassend, in neun Abschnitten die ver-
schiednen Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Arbeitern bespricht und auf
das hin prüft, was sie sür den sozialen Frieden bedeuten.
Ein Annäherung wird am besten wieder auf dem Boden gemeinsamer
Thätigkeit erreicht werden. Darum beginnen die Untersuchungen mit den
„Arbeiterausschüssen." Gelingt es, für diese die richtige Zusammensetzung zu
finden, so sind sie das beste Vermittlungswerkzeug zwischen Arbeitgeber und
Arbeiter. Es ist selbstverständlich, daß dem Ausschuß kein Anteil an der tech¬
nischen und finanziellen Leitung des Betriebes zusteht. Aber wenn er bei
alleu das Wohl der Arbeiter betreffenden Fragen zu Rate gezogen wird, wenn
er an der „Fabrikordnung" mitarbeitet, so ermöglicht er ein ersprießliches Zu¬
sammenwirken, das sich weit über die Grenzen der materiellen Interessen beider
Teile hinaus erstreckt. Unbegreiflicherweise wollen viele Arbeitgeber von den
Ausschüssen nichts wissen; einigen erscheinen sie überflüssig, andern gefährlich.
Erklärlicher ist der Haß, womit die Sozialdemokratie die Arbeitsausschüsse,
dieses „Feigenblatt des Feudalismus," beehrt. Unbeirrt dadurch tritt der Ver¬
fasser, gestützt auf die Erfahrungen seiner Patriarchen, für die Ausschüsse ein,
da sie dem Arbeiter Gelegenheit geben, sich auszusprechen und vorhandne Mi߬
stände offen zu berühren, zum Vorteil des Unternehmers, dem sie sonst viel¬
leicht nie zu Ohren kommen würden. Weit entfernt also, Zündstoff zu häufen,
tragen die Ausschüsse dazu bei, Zündstoff zu beseitigen. Auch finden die be¬
fähigtere unter den Arbeitern hier ein natürliches Feld der Bethätigung und
der Befriedigung berechtigten Ehrgeizes. Wie soll es auch, zumal in umfang-
reichen Betrieben, dem Arbeitgeber anders möglich sein, verloren gegangne Be¬
ziehungen wieder oder gar uicht vorhanden gewesene neu anzuknüpfen! Auch
auf die Mitwirkung der Ausschüsse beim Erlaß der Arbeitsordnung kommt
viel an. Man kann sich leicht vorstellen, daß die Arbeiter Maßnahmen, die
aus sorgfältiger Veratnng mit dem Arbeitsausschüsse hervorgegangen sind,
mit ganz andern Augen ansehen, als einseitig vom Fabrikherrn angeordnete.
Sind die Arbeiter an der Festsetzung der Arbeitsordnung beteiligt, so wirkt
diese wie ein moralisches Band, das alle umfaßt, und diese Wirkung wird
sicherlich dann am wenigsten ausbleiben, wenn die Vorgesetzten ihren Unter¬
gebnen in der Erfüllung ihrer Pflichten mit gutem Beispiel vorangehen und
so fordernd auf den sittlichen Geist in der Fabrik einwirken.
Zu sehr wichtigen Erörterungen giebt die „Lohnform" Anlaß, deren glück¬
liche Erledigvng nicht bloß aus materiellen Gründen freudig begrüßt werden
würde. Vertreter der Theorie und einsichtige Praktiker sind bemüht, an dem
Gewinn des Unternehmens die drei Faktoren, auf deren Zusammenwirken es
beruht, Intelligenz, Kapital und Arbeit, in richtigem Verhältnis teilnehmen
zu lassen. Wenn diese Lösung gefunden wäre, so würde der Ursache der Auf¬
stände und damit den Aufständen selbst ein Ende gemacht sein. Daß eine
derartige Gewinnbeteiligung der Arbeiter in dem „Zukunftsstaat" der Sozial¬
demokratie, wie Stimmen ans diesem Lager offen erklären, nicht durchgeführt
werden kann, dürfte schwerlich ein Grund sein, sich mit ihr überhaupt uicht
abzugeben. Über die Notwendigkeit, dem Arbeiter im Interesse des Ganzen
über seinen gewöhnlichen Wochenlohn hinaus an dein Gewinn des Unternehmens
einen Anteil zu sicher!,, herrscht kaum noch Meinungsverschiedenheit, nur über
die richtige Form gehen die Ansichten auseinander. Es kommen Produktiv-
genossenschaften, Gewinnbeteiligung, Prämien und Akkordlöhne in Frage. Wenn
man unter Gewinnbeteiligung, nach der Ansicht des Verfassers, nur die Form
versteht, bei der den einzelnen Arbeitern eines Geschäftes ein bestimmter An¬
teil am Jahresgewinn vertragsmäßig gewährleistet ist, dürfte man ihr den
Vorzug geben, sobald man ihre Bedeutung für den sozialen Frieden prüft. Denn
während, wie Schmoller erörtert, Prämien und Akkordlöhne den einzelnen
zu höchster Leistung, unter Umständen aber auf Kosten der Mitarbeiter und des
Werkes anreizen, giebt die Gewinnbeteiligung jedem den stärksten Antrieb, den
Gesamterfolg der Unternehmung, die Gesamtblüte des Hauses zu fördern. Jene
lösen gleichsam den Arbeiter von seinen Genossen und vom Geschäft los und
steigern seinen Egoismus aufs höchste; diese erinnert den Arbeiter stetig an
die Interessengemeinschaft zwischen ihm und seinem Arbeitgeber.
Daß in einem Buche, wie dem vorliegenden, die eigentlichen Wohlfahrtsein¬
richtungen einen breiten Raum einnehmen, konnte man von vornherein annehmen.
Gleichwohl mißt der Verfasser ihre Bedeutung für den sozialen Frieden nicht
nach dem materiellen Werte der Zuwendungen, zu denen sich manche Arbeit¬
geber verstehen, ohne im übrigen ihnen ein besondres Interesse zuzuwenden.
Nur aus der verschiednen Art, wie die Wohlfahrtseinrichtungen getroffen und
ausgeführt werden, kann man sich erklären, warum dieselben Maßnahmen an
der einen Stelle wohl angebracht sind, an der andern sich als unfruchtbar, ja
sogar als schädlich erwiesen haben. Sie alle haben, so taillee auch das Urteil
der Patriarchen, nur einen halben Wert, ja sie verfehlen vielfach vollkommen
ihren Zweck und verletzen und verstimmen, wo sie versöhnen sollten, wenn sie
dem Arbeiter auferlegt werden, wenn einfach bestimmt wird: das und das wird
eingerichtet, das und das geschieht für euch. Ganz anders wird die Sache,
wenn auch hierbei den Arbeitern durch deu Arbeiteransschnß eine Mitwirkung
eingeräumt wird; aber stets ist wichtig und unerläßlich, daß der Arbeiter aus
allem die aus dem Herzen entspringende Bethätigung christlicher Nächstenliebe
herausfühlt, und dafür hat er eine sehr seine Empfindung. In den Abschnitten:
„Arbeitsstätte," „Wohnung" und „Ernährung und Beschaffung von Lebens¬
mitteln und Gebrauchsgegenständen" werden die getroffnen Einrichtungen einer
sorgfältigen Prüfung unterzogen. In dein Abschnitt über Wohnungen wird
ein Gedanke angeregt, dessen Durchführbarkeit nicht kurzweg von der Hand zu
weisen sein dürfte. „Darin stimmen wir überein, daß, wenn es möglich
wäre, die Industrie aus den großen Städten aufs Land zu werfen, wir ein
gutes Teil der sozialen Frage gelöst hätten. Daß dies nicht angeht, wissen
wir ebenso gut; aber die Arbeiterschaft aufs Land zu ziehen, so weit sie noch
Sinn dafür hat, das ist eine ernste und wichtige Aufgabe, nicht allein aus
politische« und sittlichen, sondern anch aus Gesundheitsrücksichten. Gegen die
schlechte Fabrikluft, die einseitige Körperstellung u. s. w. giebt es kein besseres
Gegenmittel als die Bewegung in frischer Luft. Selbst wenn der Arbeiter
einen längern Weg zur Arbeitsstätte und zurück machen muß, ist das keine
Last, sondern eine Wohlthat für ihn, die er nur meist nicht zu würdigen weiß.
Es giebt Fabrikherren, die, durchdrungen von dieser Überzeugung, ihren Ar¬
beitern zur Bedingung machen, daß sie außerhalb der Stadt wohnen. Vor¬
aussetzung für die Durchführung dieser Bestimmung ist allerdings die Einfüh¬
rung der englischen Arbeitszeit, aber es liegen bereits praktische Erfahrungen
darüber vor, daß sich die durchgehende Arbeit mit kurzer Mittagspause, in
der die Leute die Möglichkeit haben, einen Teller warme Suppe zu essen, ge¬
radezu als vorteilhaft gezeigt hat, daß die Arbeitsleistung, auch wenn die Ar¬
beit früher geschlossen wurde, und der Arbeiter somit einen größern Teil seiner
Zeit daheim zubringen konnte, erhöht wurde."
Von der Ansicht geleitet, daß eigner Besitz, sei es Geld, Haus oder
Garten, auch die Brust des Arbeiters mit Zufriedenheit und Selbstvertrauen
erfüllt, und je bescheidner und mühevoller erworben, desto wertvoller und
heiliger ist, ein Besitz, den preiszugeben selbst die Hetzereien gewissenloser Agi¬
tatoren nicht verleiten können, mit diesen Worten motivirt ein Arbeitgeber den
Entschluß, eine Fabriksparkasse sür seine Arbeiter zu errichten. Sparen ist
eine Kunst, die gelernt sein will, und zu der sich selten jemand aus freien
Stücken bequemt. Um so anerkennenswerter sind alle Versuche, den Sparsinn
zu wecken und zu erhalten. Darin sind die Patriarchen oft geradezu erfin¬
derisch. Das Nächstliegende und einfachste ist, daß sie deu Arbeiter» die Spar¬
gelegenheit möglichst erleichtern und sie in den Stand setzen, anch die kleinsten
Beträge verzinslich anzulegen. Andre feuern durch Prämien und hohe Ver¬
zinsung zum Sparen um; besonders verwerten viele die Jahresprämien und
Gewinnanteile, um die Arbeiter zum Sparen anzuhalten. Es kommt vor,
daß einzelne nur gegen die Verpflichtung, einen bestimmten Prozentsatz in der
Sparkasse niederzulegen, ihre Arbeiter zur Gewinnbeteiligung zulassen. In der
Weckung des Sparsiuns liegt zugleich etwas Erzieherisches. Denn Spar¬
samkeit ist der Weg zur Zufriedenheit, sie fördert Fleiß und Treue und giebt
den Arbeitern sittlichen Halt, Mut und Kraft, weiter zu bauen auf dem Boden
gesetzgeberischer Fürsorge wie der Selbsthilfe. Ja Spartheoretikcr sehen in
jedem Sparbuch sogar eine Beglaubigung für den Austritt aus den staats-
nnd gesellschaftsfeiiidlicheu Parteien; eine Spareinlage ist immer ein Damm
gegen kommunistische Gelüste.
Deshalb wird mau es dem Patriarchentum, wie es vom Verfasser ver¬
standen wird, nicht verargen, wenn es neben der moralischen Einwirkung auch
vor einem gelinden Sparzwange nicht zurückschreckt. Denn wenn das Sparen
seinen Zweck erreichen soll, so muß gleichzeitig eine gewisse Sperrung des
Sparbuches und eine gewisse Norm für die Zeit der Zurückzahlung vorgesehen
werden. Allerdings zeigt sich bei Fabriksparkassen eine Schwierigkeit in dem
Mißtrauen der Arbeiter, in der Furcht, der Arbeitgeber möchte, sobald er be¬
merkt, daß sie von ihrem Lohne etwas erübrigen, den Lohn kürzen oder in
den Unterstützungen kargen. Dem gegenüber wird es dem Fabrikherrn nicht
schwer werden, den Arbeitern das Gefühl beizubringen, daß er sich freut, wenn
sie vorwärts kommen, und daß der am ersten auf Förderung und Unterstützung
rechnen kann, der zu sparen weiß. Auch in diesem Falle wird der Arbeiter¬
ansschuß nicht versagen als ein Mittel, mißtrauische Bedenken der Arbeiter¬
schaft von vornherein zu beseitigen. Kommen aber erst die Tage, wo der
Arbeiter durch Alter oder Krankheit ganz oder teilweise am Arbeiten ver¬
hindert wird, dann wird er die Segnungen des Spargrvschens verspüren,
ohne die Bitterkeit deS Sparzwanges zu empfinden. Trotz aller staatlichen
Fürsorge ist er des Spcirens dringend bedürftig.
Es kommen auch Zeiten, wo die Patriarchen über die gesetzliche Ver¬
pflichtung hinaus und oft auch ohne diese ihren Arbeitern Zuwendungen zu
machen sich verpflichtet fühlen. Solche Zuwendungen wissen manche in eine
Form zu kleiden, aus der die persönliche Teilnahme anmutig hervorleuchtet.
Doch wenn auch der Verfasser der Opferwilligkeit einzelner die höchste An¬
erkennung zollt, so tritt er doch warm für die Unterstützungskassen ein, bei
denen den Arbeitern, mit der Pflicht der Unterhaltung, auch ein Anteil an
der Verwaltung zufällt. Die Gründe dafür liegen nicht weit: fie liegen in
der Bethätigung kameradschaftlichen Geistes, die durch die Fürsorge der Arbeit¬
geber uicht überflüssig gemacht wird. Höher jedoch als jede materielle Zu¬
wendung schlägt es der Arbeiter an, wenn der Fabrikherr dem erkrankten
Mitglied? der Fabrikgemeinschaft seine persönliche Teilnahme zuwendet: ein
Besuch bei einem erkrankten Arbeiter ehrt nicht ihn allein, sondern berührt
zugleich sämtliche Geschäftsangehörige wohlthuend. Und nun erst die wahrhaft
großartige Fürsorge für die Hinterbliebnen, von denen das Buch zu berichte»
weiß! Wie viel freudiger wird der Mann seine Pflicht thun, wie viel treuer
dem Hause anhängen, wenn er weiß, daß es den Seinen einst eine sichere
Zukunft gewährt, wenn er selbst nicht mehr für fie arbeiten kann!
Auf dein langen Wege durch die Wohlfahrtseinrichtungen in den Muster-
stätten der Patriarchen sind wir zu dem Schlußabschuitt gelangt, der der
„Erholung" gewidmet ist. In der richtigen Erwägung, daß eine wohlange¬
brachte Erholungszeit für den einzelnen das beste Mittel ist, neue Kräfte zur
Arbeit zu sammeln, und gemeinsame Erholungen ein vorzügliches Mittel, alle
in Eintracht zu verbinden, fördern die Patriarchen alle darauf gerichteten Be¬
strebungen eifrig durch Rat und That. Manche haben besondre Häuser ge¬
baut, um für alle Feste und Vereinsbeftrebnngen einen Mittelpunkt zu schaffen.
Dort finden Scherz und Ernst ihre Stätte: Pflege des Gesanges und der
Musik, Turnerei in ausgedehntem Maße, Spiel und Tanz, daneben Pflege
des Geistes durch Bibliotheken und volkswirtschaftliche Vorträge. Zweierlei
erscheint dabei für die Bestrebungen des Verfassers beherzigenswert. Erstens
bewegt sich dabei der Patriarch mitten nnter seinen Arbeitern. Der eine
schreibt: „Mehr als einmal bin ich bei Turnfestparaden als einfacher Turner
in Reih und Glied marschiert, und mein Kutscher ritt als Adjutant des Zug¬
marschalls neben uns und kommandirte mich wie die andern." Das hat
seinem Ansehn so wenig geschadet, wie einem andern, daß er je zehn seiner
Leute regelmäßig zu seinen Kegelabenden einlud. Das zweite betrifft die Mit¬
wirkung der Arbeiter bei der Leitung der Vereine und bei der Anordnung von
Fabrikfestlichkeiten. Die Selbstverwaltung weckt dus Ehrgefühl, und alle fühlen
sich gemeinsam verpflichtet, das; das Fest einen schönen Verlauf nehme. Fabrik¬
feste sind die beste Probe für den Geist, der die Fabrik beseelt. Bei einem
solchen Fabrikfestc hielt ein süddeutscher Patriarch eine Ansprache, die sich völlig
mit den Anschauungen des Verfassers deckt. Er sagte unter anderm: „Erstens
soll das Fest zeigen, wie sich das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeiter,
Vorgesetzten und Untergebnen heutzutage neu gestalten soll. Wir leben ja
heute in einer Zeit der größten Umwälzungen auf dem Gebiete der Industrie
nud des Erwerbslebens. Jenes Verhältnis soll nicht am Zahltag seinen Ab¬
schluß finden. Zweitens soll es zeigen, daß man auch mit geringen Mitteln
fröhlich sein kann und sogar fröhlicher, als wenn man im Übermaß und über
seine Verhältnisse lebt. Und drittens soll es zum Ausdruck bringen, daß eine
Fabrik, und wenn sie noch so groß ist, gewissermaßen eine Familie bilden soll,
wie seiner Zeit beim Handwerksbetrieb." Daß die patriarchalischen Beziehungen
auch in der Ncligionspflege ein Heilmittel für die Schäden unsrer Zeit er¬
blicken, kann bei der Erfahrung, daß von allen Einrichtungen zum Wohle der
Arbeiter die gottesdienstlichen und kirchlichen von dein nachhaltigsten und blei¬
bendsten Segen sind, nicht auffallen.
Die Beschreibung eines Fabrikweihnachtsfestes schließt der Verfasser — im
ersten Bande — mit den Worten: „Daß ich, um den Weihnachtsbaum recht
fein aufzuputzen, die Früchte nicht alle demselben Baum entnommen habe,
sondern die Äpfel von hier, die Birnen von dort, daß ich dabei ohne jede
andre Rücksicht Verfahren bin, den schönsten und eigentümlichsten Schmuck zu-
sammenzutragen, sodaß jeder an diesem Allerweltsweihnachtsbauln die Blumen
und Früchte findet, die er auch in dem eignen Garten ziehen zu können glaubt,
wer wird mir das verübeln? Wenn eS nur keine »künstlichen« Blumen und
Früchte sind. Sie entstammen aber alle solch gesegneten Gefilden, von deren
Pflege V. A. Huber sagt, sie würden die Ahneuprobe der Zukunft sein."
Wir glauben diesen Satz auf das ganze vorliegende Werk anwenden zu können;
auch in ihm finden wir keine „künstlichen" Blumen und Früchte. Was uns
die Freude an dem vielen Köstlicher, das das Buch birgt, herabdrückt, ist nur
die leidige Thatsache, daß die beschriebnen Mnsterstätten trotz ihrer statt¬
lichen Zahl die Ausnahmen und nicht die Regel sind: es sind „Oasen in einer
Wüste." Auch dem Verfasser wird es daher als die köstlichste Frucht seiner
Arbeit erscheinen, wenn sein Buch dazu beitrüge, viele zur Nachahmung dessen,
was seine Patriarchen leisten, anzufeuern.
inen Wesentlichen Bestandteil unsers Wirtschaftslebens bildet der
Austausch der Gitter. In den ersten Zeiträumen des mensch¬
lichen Zusammenlebens ging ohne Zweifel dieser Austausch an
den zur Benutzung oder zum Verbrauch bestimmten Sachen un¬
mittelbar vor sich. Hatte der eine Überfluß an Getreide, der
andre Überfluß an Vieh, so tauschten beide diesen Überfluß aus, und darin
lag sür beide ein wirtschaftlicher Vorteil. Mit der Erfindung des Geldes trat
die Änderung ein, daß dieses, das ja für sich selbst keiner Benutzung und keinem
Verbrauch unterliegt, den Austausch vermittelte. Wer sich also ein Gut, dessen
er zur Benutzung oder zum Verbrauch bedürfte, verschaffen wollte, gab dafür
so und so viel in seinem Besitze befindlichen Geldes hin. Dem andern Teile
war damit die Möglichkeit gegeben, sich für das Geld seinerseits wieder ein
Gut, dessen er bedürfte, zu verschaffen. So trat an die Stelle des unmittel¬
baren Austausches der Güter der Kauf. Auch der Kauf hat in seiner Grund¬
bedeutung den Zweck, den Genuß der Güter zwischen deren Erzeugern auszu¬
gleichen und relativ allen gemeinsam zu machen. So bildet er den wichtigsten
Bestandteil unsers Wirtschaftslebens.
Natürlich kann der, der eine Sache tauft, statt sie selbst zu benutzen, sie
auch gleich wieder verkaufen. Ja es kann schon bei dem Kaufe ein solcher
Wiederverkauf seine Absicht sein, wobei er einen höhern Preis wird beziehen
wollen, als er selbst bei dem Kauf gegeben hat. Er gewinnt alsdann die
Differenz zwischen dem von ihm gegebnen und dem von ihm bezognen Preise.
Allerdings wird dadurch der erste Verkäufer in gewissem Sinne benachteiligt.
Er würde gern selbst die Sache unmittelbar an den zweiten Käufer für den
höhern Preis verkauft haben. Und auch der zweite Käufer wird insofern be¬
nachteiligt, als er gewiß lieber die Sache unmittelbar von dem ersten Ver¬
käufer für den niedrigern Preis gekauft hätte. Aber beide können sich doch
deshalb nicht verletzt fühlen. Weder der erste Verkäufer hat den zweiten Käufer,
noch der zweite Künfcr den ersten Verkäufer aufzufinden gewußt. Deshalb
müssen sie sich gefallen lassen, daß der zwischen ihnen stehende Händler auf
ihre Kosten einen Gewinn zieht. Er zieht ihn als Belohnung für die wirt¬
schaftlich wertvolle Thätigkeit, einerseits den Verkäufer und andrerseits den
Käufer aufgefunden und so den Austausch zwischen beiden vermittelt zu haben.
Hierin besteht die Thätigkeit des Zwischenhandels, dieses durchaus berechtigten
Gliedes unsers Wirtschaftslebens.
Nun kaun ein wirtschaftliches Bedürfnis bestehen, Kaufgeschäfte, sei es
zur eignen Benutzung der Sache, sei es zum Wiederverkauf, in der Art abzu¬
schließen, daß das Geschäft erst zu einer bestimmten spätern Zeit erfüllt werden
soll. Der Käufer kann das Bedürfnis haben, sich für einen spätern Zeitpunkt
den Empfang der Ware zu einem jetzt schon bestimmten Preise zu sichern.
Der Verkäufer kann in ähnlicher Weise das Bedürfnis haben, sich für eine
Ware, die er erst zu einem spätern Zeitpunkt zu liefern imstande ist, schon
jetzt die Abnahme zu einem bestimmten Preise sichern. Auch das sind durch¬
aus berechtigte wirtschaftliche Interessen, denen das Recht seinen Schutz nicht
versagen kann.
Einen ganz eigentümlichen Charakter nehmen aber dergleichen auf Zeit
gestellte Kaufgeschäfte an, wenn eine Ware in Frage steht, bei der man nicht
erst nach einem Verkäufer und Käufer zu suchen braucht, die vielmehr infolge
eines ständigen Angebots und Begehrs an bestimmten Orten — nämlich an
den Börsen der sogenannten Börsenplätze — dergestalt gehandelt wird, daß
sich für sie ein jeweilig genau bestimmbarer Preis — der sogenannte Kurs¬
wert — bildet. Auch eine solche Ware kann natürlich zu dem Zwecke auf
Zeit gehandelt werden, daß durch die wirkliche Lieferung ein wirtschaftliches
Bedürfnis des Käufers, der sie empfangen will, und des Verkäufers, der sie
liefern will, erfüllt wird. Sie kann aber auch zu einem ganz andern Zwecke
gehandelt werden. ES ist nämlich klar, daß, wenn zu dem Zeitpunkt der ver¬
einbarten Lieferung der Kurswert der Ware im Vergleich mit dem dafür ver-
sprvchuen Preise gestiegen ist, der Käufer, der die Ware sofort wieder an der
Börse zum Kurswert losschlagen kann, damit einen der Differenz zwischen beiden
Preisen entsprechenden Gewinn macht, und daß er umgekehrt, wenn der Kurs¬
wert der Ware im Vergleich mit dem dafür versprochnen Preise gesunken ist,
einen dieser Differenz entsprechenden Verlust erleidet. Gewinn und Verlust
des Käufers sind dann zugleich Verlust und Gewinn des Verkäufers.
Dieses ständige, von zufälligen Umständen abhängende Schwanken des
Kurswertes bestimmter Waren eröffnet nun die Möglichkeit eines Geschäfts¬
betriebes, der wirtschaftlich eine ganz andre Bedeutung hat, als die des ge¬
wöhnlichen Güteraustausches. A kann zu B sagen: Die und die Ware hat
hente einen Kurswert von w. Vereinigen wir uns dahin, daß, wenn an dem
und dem Tage die Ware den Kurswert von ur^-x hat, du mir x heraus¬
zahlst; daß dagegen, wenn an dem fraglichen Tage die Ware einen Kurswert
von in —x hat, ich dir x herauszahle. Geht B hierauf ein, so haben sie
ein Rechtsgeschäft geschlossen, das auf nichts andres, als auf ein Spiel oder
eine Wette hinausläuft.
Rechtsgeschäfte dieser Art sind wirtschaftlich völlig wertlos. Denn darin,
daß der eine Geld gewinnt, der andre Geld verliert, liegt keine Vermehrung
des öffentlichen Wohlstandes. Deshalb, und weil zugleich solche Geschäfte
einer der gefährlichsten Leidenschaften der Menschen, der Spielsucht, fröhnen,
haben die Gesetze sie für unverbindlich erklärt, sodaß daraus keine Klage ge¬
stattet ist. Diese gesetzliche Vorschrift würde also auch das in Vorstehendem ge¬
dachte Differenzgeschäft treffen.
Nun kann aber dieses Rechtsgeschäft auch noch in einer andern, einer
verschleierten Form abgeschlossen werden. A schließt mit B einen auf Zeit
gestellten Kaufvertrag über die Ware in ab, wonach diese Ware zu einem jetzt
schon bestimmten Preise an einem bestimmten spätern Tage geliefert werden
soll. Nimmt dann am Lieferungstage A dem B die Ware nicht zu dem ver¬
einbarten Preise in Natur ab, und ist inzwischen der Kurswert der Ware ge¬
sunken, so löst sich der Anspruch ans dem Kaufvertrag in einem Entschädigungs¬
auspruch des B wider den A auf, der sich auf die Differenz der beiden Preise
richtet. Umgekehrt hat, wenn B nicht in Natur liefern will, A wider ihn
eiuen Entschädigungsanspruch, der der Differenz der beiden Preise entspricht.
Ist es min von vornherein Absicht beider Teile, daß gar nicht in Natur ge¬
liefert werden soll, so liegt es auf der Hand, daß der in der Form eines
Kaufs abgeschlossene Vertrag seiner wirtschaftlichen Bedeutung mich nichts
andres ist, als ein Differeuzgeschäft der oben beschriebnen Art.
Bei der rechtlichen Beurteilung von Rechtsgeschäften aber, die aus wirt¬
schaftlichen Gründen einer Beschränkung unterliegen, kommt es uicht darauf
an, wie die Parteien das Geschäft benennen, sondern darauf, was sein wirk¬
licher Inhalt und Kern ist.
Nun sind bei den Börsen solche Käufe und Verkäufe auf Zeit in bestän¬
diger Nbnng. Dabei kommen folgende charakteristischen Erscheinungen vor. Nur
bestimmte Papiere — die sogenannten Spekulationspapiere — sind Gegenstand
von Zeitgeschäften. Diese Zeitgeschäfte werden anch nicht über beliebige Quanti¬
täten, sondern immer nur über gewisse durch Übung festgestellte größere Ein¬
heiten oder deren vervielfachte Beträge geschloffen. So ist es z. B. bei der
Berliner Börse üblich, daß stets über fünfzig Stück Frauzosen, Lombarden,
Kreditaktien oder über Eisenbahnaktien, Bankaktien u. s. w. für fünfzehntausend
Mark gehandelt wird. Als Lieferungstag werden auch nicht beliebige Tage
bestimmt, sondern es wird stets auf den letzten des Monats (Ultimo) das Ge¬
schüft abgeschlossen. So bildet das Ultimogeschäft über Papiere der gedachten
Art in den bezeichneten festen Quantitäten einen Hauptbestandteil des heutigen
Börsenverkehrs.
Schon diese gleichmäßige Übung beweist den Charakter, der diesem ganzen
Geschäftsbetrieb innewohnt. Es ist ja denkbar, daß für jemanden wirklich ein
Kapital gerade am letzten des Monats verfügbar wird, und daß er wirklich
die Allsicht hat, dieses Kapital in einem der bezeichneten Papiere, und zwar
gerade in einem den gedachten Quantitäten entsprechenden Maße anzulegen.
Dann würde es sich, wenn er z.B. fünfzig Stück Kreditaktien, lieferbar am
letzten des Monats, kaufte, um einen wirklichen Kauf für den wirtschaftlichen
Zweck einer Kapitalanlage handeln. Aber es wäre doch sehr sonderbar, wenn
sich Käufe und Verkäufe, die in Wahrheit einem solchen wirtschaftlichen Zwecke
dienten, beständig in jener Schablonenhaften Form wiederholten. In Wahr¬
heit ist das undenkbar. Vielmehr kann man von vornherein annehmen, daß
diese Zeitgeschäfte mit verschwindenden Ausnahmen nichts andres sind als
Spekulationsgeschäfte, bei denen es den Abschließenden nur darum zu thun ist,
die Differenz zu gewinnen. Das ist auch eine ganz notorische Thatsache. An
diesem Spiele beteiligen sich aber nicht bloß Leute, die an der Börse zu Hause
sind, sondern auch unzählige andre ans dem großen Publikum, die der Spiel¬
teufel erfaßt hat.
Die große Mehrzahl der Börsenspieldilettanten schließt ihre Spekulations¬
geschäfte in der Form des Ankaufs von Börsenpapieren ab, spekulirt also auf
das Steigen dieser Papiere (5 1» dsusss). Sie geben einem Bankier des
Börsenplatzes Auftrag, eine bestimmte Quantität Papiere für sie zum Tages¬
kurs zu kaufen. Der Bankier meldet sofort den Ankauf als besorgt. Wohnt
der Spekulant nicht an einem Börsenplätze, so kam? er auch einen Bankier
seines Wohnorts angehen, der dann durch einen Bankier des Börsenplatzes
den Ankauf besorgen läßt. Ja es werden sogar von manchen Bankiers Agenten
und Reisende gehalten, die beauftragt sind, Leute, die ihnen begegnen, zum
Börsenspiel zu verlocken. Natürlich bezieht jeder Bankier für seine Bemühung
eine Provision. Mitunter fordert auch der mit dein Ankauf beauftragte Bankier
eine gewisse Deckung. Diese braucht aber nicht höher zu sein, als der etwa
zu erwartende Differenzverlnst. Kommt nun Ultimo, so meldet der Bankier
des Börsenplatzes: „Wir haben heute die und die Papiere für Sie in Empfang
und in Depot genommen und Sie dafür mit so und so viel (dem Ankaufs¬
preis) belastet." Nun ist also der Spekulant zwar Eigentümer der Papiere,
aber Besitzer ist der Bankier geblieben, der sie zu seiner Sicherheit für den
geschuldeten Kaufpreis inne behält. Hat der Spekulant Geld genug, sie zu
bezahlen, so kaun er sie vom Bankier einlösen; und dann kann er sie, wenn
sie inzwischen gefallen sind, liegen lasten, bis sie vielleicht wieder steigen.
Kann oder will aber der Spekulant die Papiere nicht abnehmen, so bringt sie
der Bankier, um sich für den Ankaufspreis bezahlt zu machen, wieder an der
Börse zum Verkauf. Sind inzwischen die Papiere gestiegen, so bleibt der
Bankier die Differenz dem Spekulanten schuldig, und dieser hat im Spiele
gewonnen. Ist aber inzwischen der Preis der Papiere gesunken, so bleibt der
Spekulant die Differenz dem Bankier schuldig; sie bildet seinen Verlust.
Dieses bis tief in die mittlern Schichten unsers Volkes eingerissene Börsen-
spiel erweist sich nun für weite Kreise höchst verderblich. Stunde sich die
Aussicht auf Steigen oder Fallen der Papiere stets gleich, so könnte nur an¬
nehmen, daß bei einem solchen Verkehr der Spekulant eben so oft gewinne
als verliere, daß sich daher Gewinn und Verlust für ihn ausglichen. In
Wahrheit liegt aber die Sache nicht so. Die Lage des Spekulanten, zumal
wenn er nicht an dem Börsenplätze zu Hause ist, ist insofern minder günstig,
als der Händler in der Regel die Verhältnisse besser übersieht und nur Ge¬
schäfte eingeht, bei denen die größere Wahrscheinlichkeit des Borteils für ihn
ist. Dazu kommt dann »och der Verlust, deu der Spekulant durch die stets
fällig werdenden Provisionen erleidet. Im allgemeinen hat also der Spekulant
(ähnlich dem Spieler am Ronlettctische) mehr Aussicht auf Verlust als auf
Gewinn. Gleichwohl verführt das Streben nach mühelosem Erwerb Unzählige
dazu, an der Börse zu spielen. Und daher kommt es, daß sich das Börsen¬
spiel für unser Volksleben so verderblich erweist. Gar viele, anscheinend ge¬
setzte und solide Männer, von denen niemand so etwas ahnt, spielen heimlich
an der Börse und richten ihr Vermögen zu Grnnde. Hier und dort hört
mau, daß ein Geschäftsmann, der anscheinend in blühenden Verhältnissen lebt,
bankerott geworden ist, vielleicht schwere Verbrechen begangen und viele Menschen
unglücklich gemacht, vielleicht auch dnrch Selbstmord geendet hat; und wenn
man nach dem Grnnde fragt, so heißt es: er hat an der Börse gespielt. Das
Vertraue» in Handel und Wandel leidet dadurch die bittersten Täuschungen.
Ebenso wie an der Fondsbörse werden auch an der Warenbörse Zeit¬
geschäfte, nicht immer im Sinne wirklicher Käufe und Verkäufe, souderu als
Spekulationsgeschäfte nbgeschlosfen; und leider beteiligen sich auch bei diesen
Geschäfte» oft solche, die nach ihren persönlichen Verhältnissen dem Waren¬
handel ganz fern stehen.
Unterläßt es der Vörsenspieler, die vielleicht vo» längerer Zeit her auf-
gelaufnen Differenzen zu bezahlen, so klagt sie der Bankier gegen ihn ein,
und damit kommt die Sache vor die Gerichte. Wie haben sich nun die Ge¬
richte diesem Unwesen gegenüber verhalten? Natürlich tritt für sie die Frage
hervor: Sind solche Zeitgeschäfte wirkliche Kaufgeschäfte, oder sind sie uicht
vielmehr bloß Hazardspiele, ans denen das Gesetz keine Klage gestattet? Da
habe» nun die Gerichte gesagt: Wir können, wenn der Vertrag in der Form
eines Kaufgeschäfts abgeschlossen ist, der Sache uicht ansehen, ob dabei im
wirtschaftlichen Sinne wirklich ein Kauf oder nur ein Differenzgeschäft be¬
absichtigt ist. Wir müssen also das Geschäft so nehmen, wie es sich seiner
äußern Erscheinung nach darstellt, d. h. als Kauf, und als solcher ist es
klagbar.
Wie sehr in dieser Richtung die Gerichte sür das, was anscheinend sonnen¬
klar vorliegt, bisher die Augen zu verschließen geneigt waren, dafür kann
folgendes Beispiel zum Beleg dienen. Ju einem Falle hatte der Agent eines
Händlers einen Kunden aufgefordert, in Roggen zu spekuliren. Er solle mit
der ganzen Sache dabei nichts zu thun haben, bekomme die Ware nicht zu
sehen, habe nichts zu liefern, nur die Differenz zu zahlen; worauf dann der
Angegangne erwiderte: Meinetwegen, ob ich da oder dort spiele, ist mir gleich-
giltig. Das Reichsgericht beurteilte diesen Fall dahin: es sei nur behauptet
worden, daß der Kunde über die wirtschaftliche Folge des Geschäftes und über
die Art der Abwicklung solcher Geschäfte an der Börse aufgeklärt worden und
seine Absicht, zu spielen, kund gegeben habe, dagegen nicht, daß auch der
Agent dieselbe Absicht kund gegeben habe. Für den gebildeten Laien sind
solche Entscheidungen der Gerichte schwer begreiflich.
Wie man nur auch über diese Richtung der Praxis und die in ihr
herrschend gewordne Nichtbeachtung der bei solchen Zeitgeschäften auf ein Spiel
hinweisenden Umstände denken mag, so kann doch zu den sonstigen Umständen
noch ein weiterer hinzutreten, der gewissermaßen dem Faß den Boden aus¬
schlägt, und der, wo er vorliegt, an der Natur eines solchen Geschäfts als
eines bloßen Spielgeschäftes keinen Zweifel läßt.
Es werden nämlich Zeitgeschäfte an der Börse nicht immer etwa nur in
dem Umfange abgeschlossen, daß der Käufer mit seinem Vermögen die ge¬
kauften Gegenstände auch wirklich bezahlen, der Verkäufer sie auch wirklich
liefern könnte. Vielmehr werden Zeitgeschäfte über Quantitäten abgeschlossen,
die weit über das Vermögen der Abschließenden hinausgehen. Wer ein Ver¬
mögen von 10 000 besitzt, läßt Effektenkäufe über 100 000, wer 100 000 be¬
sitzt, Warenkänfe für Millionen an Wert für sich abschließen. Ja es kommt
an der Warenbörse mitunter vor, daß Quantitäten gehandelt werden, die bei
weitem das übersteigen, was überhaupt von der betreffenden Ware in der
Welt vorhanden ist. Wo die Sache so liegt, da ist es doch gar nicht zu
verkennen, daß die Beteiligten nicht die Absicht gehabt haben können, ein durch
wirkliche Lieferung zu vollziehendes Geschäft abzuschließen, daß es ihnen viel¬
mehr nur um die Differenz zu thun gewesen ist.
Gleichwohl haben die Gerichte auch gegen diesen Umstand lauge Zeit die
Augen verschlossen. Endlich, endlich aber hat sich das Reichsgericht ermannt,
und seit dem Frühjahr 1L92 sind mehrfache Entscheidungen ergangen, die
aussprechen, daß, wo der Vermögensstand der Beteiligten der Art ist, daß
darnach an einen wirklich zu vollziehenden Kauf oder Verkauf der gehandelten
Mengen gar nicht gedacht werden kann, nur ein Differenzgeschäft vorliege, und
dann keine Klage statthaft sei. Darnach sind mehrfach Klagen auf Zahlung
von Differenzen, die aus Geschäften der gedachten Art aufgelaufen waren,
für unbegründet erklärt worden/")
Betrachte» wir nun zunächst, wie diese Praxis des Reichsgerichts, wenn
sie zur vollen Durchführung kommt, wirken wird, so liegt es freilich auf der
Hand, daß damit nicht alle in der Form von Kaufgeschäften sich bewegende»
Differenzgeschäfte aus der Welt geschafft sein werden. Jene Praxis stellt nur
für Geschäfte der fraglichen Art eine neue (auf dem Gebiete des Indizien¬
beweises liegende) Beweisregel auf, wonach in gewissen Fällen ihre unver¬
kennbare Eigenschaft als Differenzgeschüste angenommen werden soll. Daneben
können unzählige Geschäfte vorkommen, die in Wahrheit nichts andres als
Differenzgeschäfte sind, die aber von jener Beweisregel nicht erfaßt werden
und deshalb als legitime Kaufgeschäfte durchlaufe». Aber jene Beweisregel
würde doch gerade die schlimmste Art von Disferenzgeschäften treffen. Wen»
wohlhabende u»d reiche Leute Geschäfte über Quantitäten abschließen, zu deren
Bezahlung ihr Vermögen ausreicht, so wird, wenn sie dabei hineinfallen, von
dem Verlust regelmäßig nnr ein geringer Teil ihres Vermögens betroffen
werden, und sie werden darüber »icht zu Grunde gehen. Den Verlust, den sie
erleiden, mögen sie als Strafe für ihr leichtsinniges Spiel hinnehmen. Wahr¬
haft verderblich aber erweist sich das Vörscnsviel für die kleinen Leute, die
sich herbeilassen, Ultimogeschäfte über Quantitäten abzuschließen, die vielleicht
das Zwanzigfache ihres ganzen Vermögens ausmache». Denn alsdann kömie»
die von ihnen zu zahlenden Differenzen leicht ihr ganzes Vermögen erschöpfen,
ja sie vielleicht noch darüber hinaus in Schulden stürzen. Solchen Geschäften
würde durch die oben gedachte neue Praxis des Reichsgerichts die Spitze ab¬
gebrochen werden."') Es würde auch den kleinern Bankiers, die sich, lediglich
um ihre Provision zu gewinnen, dazu hergeben, solche Ultimogeschäfte zu ver¬
mitteln, ja sogar mitunter dnrch ihre Ratschläge ihre Kunden zu solchen Ge¬
schäften verlocken und verleiten, dieses üble Gewerbe gelegt oder mindestens
sehr erschwert werden. Sie würden genötigt sein, sich zu vergewissern, ob
denn auch ihre Kunden wirklich das Vermögen zur Deckung ihrer oft wahn¬
sinnigen Ankäufe besitzen; und wo dies nicht der Fall ist, wäre ein solcher
Geschäftsbetrieb für sie selbst gefährlich. In jeder Beziehung würde sich also
die neue Praxis als die größte Wohlthat unsers Verkehrslebens erweisen.
Kaum hat nun das Reichsgericht diesen neuen glücklichen Weg beschritten,
so tritt ein hervorragendes Mitglied dieses Gerichts, Senatspräsident Dr. Wiener,
auf und bekämpft wieder in einem öffentlichen Vortrage (der auch im Druck
erschienen ist) die neue Praxis. Er erkennt zwar an, daß das Börsenspiel,
namentlich das des kleinen Mannes, durchaus verderblich aus unsre Verhält¬
nisse wirke, aber — juristisch sei doch die Sache sehr bedenklich.
Es ist recht schwer, bei der gewundnen und überlasteten Sprache, in der
sich die Ausführungen Wieners bewegen, deren sachlichen Inhalt sich völlig
klar zu machen. Für den größten Teil der Leser dieser Blätter würden sie
kaum verstündlich sein. Verstehe ich sie aber recht, so sagt Wiener ungefähr
folgendes. Die rechtliche Natur des Kaufs wird dadurch nicht beeinträchtigt,
daß die Beteiligten nicht die für die Abnahme oder Anschaffung der Ware
nötigen Mittel haben. Wer eine an der Börse gehcmdelte Ware tauft, hat
auch, wenn er nur die Differenz bezahlen kann, stets die Mittel, dein Ver¬
käufer die Waren abzunehmen. Denn er braucht ja nur die Waren, vor oder
nach dem Liefcrnngstermiu, wieder an der Börse zu verkaufen, so hat er in
dem Preise derselben, zusätzlich der Differenz, das Mittel, um seinen Verkäufer
zu befriedigen. Und wenn der Käufer nicht in der Lage sein sollte, einen
Dritte« als Käufer ausfindig zu machen, so steht ihm doch nach der Ent¬
wicklung des Verkehrs der Händler oder Bankier selbst für den Abschluß des
Deckungsgeschäfts zur Verfügung. Der Verkäufer übernimmt also die Waren
zum Kurswerte, und der Käufer zahlt die Differenz. Dann ist das Geschüft
„effcktuirt." Der ungedeckte Teil des Kaufpreises wird durch Kompensation
bezahlt. Darnach ist man nicht „im Wege logisch zwingender Folgerung" zu der
Annahme genötigt, daß, weil der Käufer nicht die Mittel habe, die getaufte
Ware zu bezahlen, „nicht ein dem Kaufgeschäfte entsprechender Verpflichtungs¬
wille vorhanden gewesen sei." Nur dann, wenn eine „Simulation" vorge¬
kommen sei, zufolge deren die Beteiligten statt eines Kaufes ein Differenz¬
geschäft zu schließen beabsichtigt haben, sei die Annahme eines solchen gestattet.
„Eriy'tlicher Abschluß eines ^Kaufvertrags und Spielthätigkeit sind unvereinbare
Gegensätze."
So ungefähr lauten die Ausführungen Wieners, wenn man sie in
kurzes, gemeinverständliches Deutsch umzusetzen versucht. Ich halte sie für
ein juristisches Spiel mit Worten. Mag immerhin dadurch, daß der
Bankier die Papiere für seine Kunden als „angekauft und in Depot ge¬
nommen" meldet, der Kunde „Eigentümer" der Papiere geworden sein,
so ist doch dieses Eigentum, wirtschaftlich betrachtet, ohne alle Realität.
Denn eS haftet auf den Papieren der Preis, den der Bankier dafür zu
fordern hat, und ohne Zahlung des Preises giebt er sie nicht heraus.
Kann nun der Spekulant diesen Preis nicht bezahlen, so kann doch in der
Thatsache, daß nun der Bankier die Papiere für Rechnung des Spekulanten
wieder verkauft und den Preis von dessen Schuld absetzt, unmöglich eine
„Effektnirung" des Kaufes gefunden werden. Es ist nur eine Effektuirung
ganz in dem Sinne des Komödienspiels, das überhaupt durch den fraglichen
Geschäftsbetrieb unter dem Namen und in den Formen eines Kaufabschlusses
getrieben wird. In der That sagt der Bankier, um den Schein des Kauf¬
geschäfts aufrecht zu halten, bei Eintritt des Liefernngstermins zu seinem
Kunden: „Hier sind die Papiere! Willst du sie haben?" Muß nun darauf
der Kunde antworten: „Du weißt ja, daß ich sie nicht haben will, weil ich
sie gar nicht bezahlen kann," so ist damit doch sonnenklar erwiesen, daß der
Kauf nur eine leere Form gewesen ist, unter der der Spekulant ein Geschüft
abgeschlossen hat, das den einen oder den andern zum Bezug der Differenz
berechtigen sollte. Das kann auch nicht dadurch geändert werden, daß der
Bankier nun die Papiere „für Rechnung" seines Kunden verkauft.
Wenn Wiener zur Anfechtung von Geschäften der fraglichen Art nur den
Nachweis einer „Simulation," d. h. eines Scheinvertrags gelten lassen will,
so ist schwer zu fügen, was man sich darunter eigentlich deuten soll. Mußten
die Beteiligten etwa folgendermaßen gesprochen haben: „Wir wollen hier ein
Kaufgeschäft abschließen, das aber eigentlich gar kein Kaufgeschäft, sondern
nur ein Differcnzgeschäft sein soll"? So etwas kommt im Leben nicht vor,
und die Bertröstnng des Geschädigten auf eine solche Einrede der „Simulation"
würde stets ein leeres Wort bleiben. Nun sagt freilich Wiener: es solle nicht
behauptet werden, daß „die Möglichkeit des Erkennens einer Einrede der Si¬
mulation aus deu Umständen ausgeschlossen sei." Aber welche „Umstände"
sollen denn eine solche erkennen lassen? In Wahrheit liegt bei einem
solchen Geschäfte gar keine Simulation vor, und die Verweisung auf diese
leitet die Gerichte uur auf eine falsche Fährte. Die Beteiligten wollen den
Kauf mit seinen juristischen Folgen ganz ernstlich; nur in den wirtschaftlichen
Folgen des Geschäfts verfolgen sie einen andern Zweck. Die getaufte Sache
soll nicht geliefert, sondern statt dessen eine Entschädigung gezahlt werden, die
sich genau nach den Regeln des Kaufgeschäfts richtet. Bei einer kursmüßig
gehcmdelten Ware ist aber eine solche Entschädigung nichts andres, als die
Zahlung eines Spielgewinnes.
Es ist Wiener auch nicht entgangen, daß mau in neuerer Zeit erkannt
habe, wie gewisse auf Täuschung gerichtete Geschäfte, deren Anfechtung man
bisher unter den Gesichtspunkt der Simulation gebracht habe, richtiger nur
aus dem Gesichtspunkt eiuer Umgehung des Gesetzes anzufechten seien. Aber
auch diese Lehre ist bei ihm nicht bis zur praktischem Anschauung gediehen.
Er kann sich nicht in sie hineindenken. Und deshalb weist er sie für den vor¬
liegenden Fall aus nichtssagenden Gründen von sich ab. Es ist nicht richtig,
wenn Wiener sagt, daß ein „ernstlich abgeschlossener Kaufvertrag" und ein
Spielgeschäft unvereinbare Gegensätze seien. In der Form eines Kaufvertrags
(der juristisch ernstlich gemeint ist) kann ein Rechtsgeschäft abgeschlossen werden,
das im wirtschaftlichen Sinne nichts andres als ein Spielgeschäft ist, und
ans das deshalb auch die Gerichte, wenn sie die Gesetze ihrem Sinne und
Geiste nach anwenden wollen, die für das Spielgeschäft geltenden Regeln an¬
zuwenden haben. Daß dies Wiener verkennt, beruht auf einem, freilich in
der Juristenwelt weit verbreiteten Mangel des Sinnes für die Realität der
Dinge.
Wiener selbst schlägt ein andres Mittel zur Unterdrückung der „böswilligen
Ausschreitungen" des Börsenverkehrs vor. Es soll ein Strafgesetz nach Art
des Wuchergesetzes erlassen werden, wonach der, der die Unerfahrenheit oder
den Leichtsinn eines andern wissentlich und in gewinnsüchtiger Absicht durch
Börsengeschäfte ausnutzt, mit Strafe belegt werden soll. Der Nachweis dieser
Voraussetzungen soll dann auch die zivilrechtliche Uugiltigkcit des Rechts¬
geschäfts nach sich ziehen. Außerdem soll ein besonders leichtfertiger Geschäfts¬
betrieb bei Börsenmännern eine ehrengerichtliche Ahndung zur Folge haben.
Es ist eine seltsame Erscheinung, daß Wiener, der sich als ein Gegner der
Mißbräuche des Börsenspiels bekennt, das natürlichste und einfachste Mittel
zu deren Unterdrückung eifrig bekämpft, dagegen ein viel energischeres Mittel
vorschlägt, das nur deu einen Fehler hat, daß es schwerlich zur Wirksamkeit
kommen wird. Zunächst ist es sehr zweifelhaft, ob jemals ein solches Gesetz
bei uns erlassen werden würde. Zwar soll in der Börsenenqnetekommissio»
ein derartiger Vorschlag angeregt worden sein, und im österreichischen Abgeord¬
netenhause hat man darnach auch schon einen solchen Vorschlag formulirt. Ob
er aber Gesetz werden wird? Ich meinerseits würde einem solchen Gesetze nicht
das Wort reden. Es ist überhaupt ein Fehler, mit strafrechtlichen Vorschriften
da vvrzugehn, wo schon zivilrechtlicher Schutz ausreicht. Würde aber ein
solches Gesetz erlassen, so würde es doch wenig helfen, zunächst deshalb, weil
schon seinem Wortlaute nach die große Mehrzahl der verderblichen Fälle des
Börsenspiels nicht darunter fallen würde. Es würde aber auch nicht einmal
seinem Wortlaute nach zur Anwendung kommen, weil die Voraussetzungen,
die es fordert, zu schwer zu erweisen sind. Die Übertreibung, die in der Be¬
drohung mit Strafe liegt, würde sich dadurch rächen, daß die Gerichte um so
bedenklicher in der Anwendung des Gesetzes sein würden. Auch nach Erlas;
eines solchen Gesetzes würde also, nachdem der erste Schrecken vorübergegangen
wäre, alles beim alten bleiben.
Wer sich bewußt ist, wie sehr im Laufe der letzten Jahrzehnte das An¬
sehen der Gerichte darunter gelitten hat, daß sie sich nur allzu häufig den
wirklichen Lebensverhältnissen als entfremdet erweisen, der mußte die in dieser
Angelegenheit sich heranbildende neue Praxis des Reichsgerichts, nicht zum
wenigsten im Interesse der Justiz selbst, mit großer Freude begrüßen. Da
ist es denn wahrhaft schmerzlich, zu sehen, wie sich alsbald wieder eine Juris-
prudenz dagegen stemmt, die vielleicht manchen geistreich erscheinen mag, die
aber meiner Ansicht nach ohne innern Wert ist. Sollte sie durchdringen, so
würde damit nur eine der schlimmsten Eiterbeulen unsers Verkehrslebens ge¬
schont werden.
an an das Gymnasium die kaiserliche Mahnung ergangen ist,
daß es seine Zöglinge nicht zu Römern und Griechen, sondern
zu deutschen Männern erziehen möge, ist der Streit zwischen
dem humanistischen Gymnasium und dem Realgymnasium ziem¬
lich zum Stehen gekommen. Der einseitige Betrieb der alten
Sprachen ist verurteilt, den modernen Wissenschaften ist ihr Recht geworden —
was hätten die Realschulen noch zu sagen, oder wie könnten sie das, was sie
jederzeit gesagt haben und immer wieder sagen möchten, besser und wirksamer
ausdrücken! Die Schulen ohne Latein entwickeln sich nnter der stillen Teil¬
nahme der Ministerien immer kräftiger, und die Gymnasien, die bereits den
freien lateinischen Aufsatz und die Übersetzung aus dem Deutschen in das
Griechische in der Reifeprüfung auf dem Altare des Vaterländischen haben
opfern müssen, brauchen sich auch nicht zu beklagen. Die Schülerzahl ist die¬
selbe geblieben, ja sie hat sich an vielen Orten gesteigert, seit über den Schul¬
bänken eine mildere Luft weht.
Aber die Streitaxt ist trotzdem noch nicht begraben, und merkwürdiger¬
weise ist der Kampf im humanistischen Gymnasium selbst entbrannt. Die
Herren vom Gymnasium stehen gegen einander auf, und das Objekt des
Kampfes ist — das Griechische. Ist das Griechische ein notwendiger Be¬
standteil des Gymnasialnnterrichts, und wenn das der Fall ist, in welchem
Umfange soll es betrieben werden? Das ist der Streitpunkt. Fest steht, daß
es in dem jetzigen Umfange nicht lange mehr wird betrieben werden können, wenn
das Gymnasium den modernen Wissenschaften so weit Rechnung tragen soll, daß
es allgemeine Bildungsanstalt bleibt und nicht zur gelehrten Fachschule wird.
Das beste Bild dieses Kampfes um das Griechische geben zwei Schriften,
die in letzter Zeit einiges Aufsehen gemacht haben: Die Zukunft des grie¬
chischen Sprachunterrichts auf deu Gymnasien (Vortrag, gehalten in der
siebzehnten Generalversammlung des Vereins von Lehrern höherer Unterrichts¬
anstalten der Provinzen Ost- und Westpreußen zu Danzig am 19. Mai 1891
von Dr. Fr. Bahnsch, Professor am Königlichen Gymnasium zu Danzig.
Konitz, Wilh. Dupont, 1891); die andre: Der Streit um den griechischen
Sprachunterricht, von demselben Verfasser (Danzig, Saurier). Die erste
Schrift enthalt die Thesen und ihre Begründung, die zweite verteidigt diese
Thesen gegen die Fachgenossen, die das Griechische um jeden Preis festhalten
möchten, besonders gegen den Heidelberger Gymnasialrektor G. Uhlig, der gern
einmal aus der Hochburg des humanistischen Gymnasiums einen gewaltigen
Ausfall gegen die andrängende moderne Bildung macht. Gegen Bahusch hat
er freilich einen etwas schweren Stand, weil auch dieser ein seiner Kenner des
Griechischen ist und über eine reiche Erfahrung auf dem Gebiete des griechischen
Unterrichts in den verschiednen Klassen gebietet.
Die Thesen, die Bahnsch aufstellt, sind folgende: 1. Der griechische
Sprachunterricht kann heute nicht mehr (oder noch viel weniger als früher) sein
Ziel erreichen, die Schüler sprachlich so weit auszurüsten, daß sie fähig wären,
die griechischen Schriftsteller in der Ursprache mit einiger Sicherheit und Selb¬
ständigkeit zu lesen. 2. Die auf der Schule erworbnen Sprachkenntnisfe im
Griechischen verflüchtigen sich sehr schnell, weil später meist die Gelegenheit
fehlt, sie aufzufrischen und neu zu befestigen; sie sind notwendig nur für theo¬
logische und philologisch-historische Studien, sonst aber wohl ein Schmuck,
aber kein unentbehrliches Element wissenschaftlicher Bildung. ^. Die Schüler
werdeu in die griechische Litteratur viel leichter und gründlicher durch gute
Übersetzungen eingeführt. 4. Deshalb ist es vernunftgemäß, den griechischen
Sprachunterricht aus dem obligatorischen Betriebe zurückzuziehn und von der
dadurch frei gewordnen Zeit in den obern Klassen einen Teil (etwa zwei
wöchentliche Stunden) einem neu zu organisirenden Unterricht in der griechischen
Litteratur zu widmen, der sich auf deutsche Übersetzungen gründet. S. Diese
einschneidende Maßregel würde endlich Raum schaffen für die berechtigten und
auf die Dauer unabweislichen Wünsche der Gegenwart, die Aufnahme des
Englischen in den obligatorischen Unterricht und — einen gründlichern Betrieb
des Deutschen.
Die Gründi!, die Bahnsch für diese kühnen Behauptungen anführt, sind
von hohem Interesse. Er weist zunächst nach, daß die griechische Schullektüre
seit fünfzig Jahren bedeutend zurückgegangen ist. Während man früher Euri-
pides und Äschhlos, die beiden ersten Bücher des Thukydides und Platos
Phädon las, wagt man sich heute kaum noch an Sophokles Chöre und liest
vom Phädon höchstens das Anfangs- und das Schlußkapitel. Noch mehr ist
das grammatische Wissen zusammengeschrumpft, seit dem Griechischen durch den
Lehrplan von achtzig Lehrstunden entzogen worden sind. Schon jetzt
ist das grammatische Wissen weder für die Lektüre noch für das Übersetzen
aus dem Deutschen allsreichend. In den Mittelklassen, wo das Griechische
beginnt, schlägt man sich bis zur Ermüdung mit der Formenlehre herum, und
in den Oberklassen, bei der Lektüre, empfindet man es bitter, wie wenig sprach¬
liche Sicherheit überhaupt erreicht werden kann. Ist diese Plackerei mit den
Formen, fragt Bcihnsch, eine angemessene Übung der Geisteskraft? Und dann —
was bleibt von dem so mühsam erworbnen Wissen nach dem Abgang von der
Schule haften? Auch die wärmsten Freunde der altgrichischen Sprache und
Litteratur — und wer beide kennt, zählt sich zu ihnen — können sich der
Wahrnehmung uicht verschließen, daß die griechische Sprache — wohlgemerkt:
die Sprache — jetzt in dem Wissen und Können der Höhergebildeten eine recht
untergeordnete Rolle spielt. Das Griechische macht sich im praktischen Leben
der Gegenwart gar nicht und im wissenschaftlichen — wenn wir von Theo¬
logen, Philologen und Philosophen absehen — sehr wenig bemerkbar. Wo
kommt der Jurist oder der Mediziner durch seinen Beruf noch mit dem Grie¬
chischen in Berührung? Es ist schlechterdings nicht zu leugnen, daß jetzt die
wissenschaftliche Arbeit der Fachstudien ebenso wie die praktische Thätigkeit
weit vom Griechischen wegführt. Auch in dem, was sonst zur höhern Geistes¬
kultur unsrer Zeit gehört, tritt die griechische Sprache wenig hervor. Denn
die reiche Fülle großer und ursprünglicher Gedanken, die der griechischen
Litteratur ihren bleibenden Wert verleiht und unsre eigne befruchtet hat, ist
bei dem Übergange in unser Schrifttum vom griechischen Laute abgelöst, wird
deutsch gedacht und in deutschen Worten fortgepflanzt.
Aus diesen Gründen, behauptet Bahnsch, wird sich der obligatorische Be¬
trieb des griechischen Sprachunterrichts ans die Dauer nicht halten lassen. Er
wird in die weniger anspruchsvolle und deshalb keineswegs mißachtete Stellung
eines fakultativen Unterrichts zurücktreten und fortan — dem gehässigen Streit
der Parteien entzogen — eine stille Gemeinde von freiwilligen, glaubens¬
treuen und deshalb um so eifrigem Jüngern um sich sammeln. Obligatorisch
aber soll die Lektüre guter Übersetzungen sein, und sie wird viel tiefer in die
geistige Entwicklung des Schülers eingreifen, als es jetzt möglich ist, weil sie
in viel größrer Ausdehnung als jetzt wird betrieben werden können.
Man darf nicht glauben, daß der obligatorische Unterricht im Griechischen
sehr alt sei. Noch im Anfange unsers Jahrhunderts, also zu einer Zeit, wo
die Beschäftigung mit der griechischen Litteratur noch wahrhaft befruchtend
wirkte und vielfach die Geistesrichtung der Edelsten unsers Volks bestimmte,
war die Teilnahme am griechischen Sprachunterricht den Schülern ganz frei
gestellt. Selbst Friedrich August Wolf, den man auch jetzt noch gern als den
eigentlichen Begründer der preußischen Gymnasialpädagogik feiert, war durch¬
aus für den fakultativen Betrieb des Griechischen. In einem für die philo¬
sophische Fakultät zu Halle im Jahre 1803 entworfnen Gutachten riet er, das
Griechische nur für die Theologen und Gelehrtenschullehrer obligatorisch zu
machen. Erst in der neuen preußischen Prnfnngsvrdnuug vom Jahre 1812
tritt es als unumgängliche Vorbedingung zu Universitätsstudien auf. Wolf
hat seinen Unmut über diese Wendung der Dinge wiederholt in scharfen und
bittern Worten geäußert. Es half nichts, die Entwicklung des preußischen
Gymnasialnnterrichts ging unter dem strammen, jede Svnderansicht rücksichtslos
niederschlagenden Regiment Schutzes auf dem einmal betretnen Wege weiter.
Bräche man mit diesem System, das vor achtzig Jahren nnter dem Einfluß
einer damals in Gelehrtenkreisen mächtigen, jetzt längst verlaufnen Zeitströ¬
mung ziemlich gewaltsam in die Praxis eingeführt worden ist, so würde man
nicht altehrwürdiges beseitigen, sondern im Gegenteil um die glänzendste Zeit
des deutschen Geisteslebens anknüpfen.
Bahnsch, dem wir hier beinahe Wort für Wort gefolgt sind, geht nun
auf den Wert guter Übersetzungen ein. Der gewöhnliche Einwand lautet:
Übersetzungen können nie das Original ersetzen, selbst gute können es nicht.
Aber Shakespeare ist durch die Schlegel-Tieckschc Übersetzung, Homer dnrch
die Vossische deutsch geworden, warum sollte das nicht auch bei andern
Schriftstellern möglich sein? Und dann: Haben wir wirklich den vollen Genuß
der griechischen Sprache, wie ihn die Alten gehabt haben? Liegt dieser Genuß
etwa in der mühselig weiterschleichenden Pensenarbeit, die in langen Zeiträumen
nur einen kleinen Teil des ganzen Werkes bewältigt, oder in der stockenden,
unbeholfnen Übertragung des Schülers, oder etwa in der Aussprache? Eckstein
nannte die jetzt übliche Erasmnssche Aussprache geradezu rauh und breit und
meinte, daß von einem schönen Klänge der Sprache gar nicht die Rede sei.
Wenn uns die Alten hörten! In der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts,
in der klassischen Zeit des Humanismus, was erschien den Verehrern des Grie¬
chischen als das wichtigste? Gute Übersetzungen. Unsre großen Dichter ver¬
danken diesen Übersetzungen mehr als den Originalen, und seit dieser Zeit ist
die Übersetzungsknnst weit vorgeschritten. Man denke an Droysens Äschylus
und Aristophanes, an Geibels Tyrtäus, Sappyo und Theognis, an Langes
Herodot, mi Tafels Aenophon!
Aber machen es Übersetzungen nicht zu leicht? Ist es nicht sehr wahr,
daß nur im fremdsprachigen Unterrichte die Schüler jene strenge Gewohnheit
scharfen Anfmerkens erwerben, die für eine fruchtbare deutsche Lektüre voraus¬
gesetzt werden muß? Ist es nicht sehr wahr, was Cauer in seiner neuesten
Schrift „Unsre Erziehung durch Griechen und Römer" sagt: „Die Gedanken
der Schüler gleiten am deutschen Text ub, wie daS Rad an der zu glatten
Schiene: es fehlt an Reibung"? Nein, auch das ist kein stichhaltiger Ein¬
wand. Wenn das Eindringen in fremde Sprachgebiete so schwer ist wie beim
Griechischen, dann ist es nur für wenige philologisch begabte Schüler ein
Segen, für die Klasse aber, die Masse, ein Zurückhalten der geistigen Entwick¬
lung, und eine vergebliche Marter dazu. Warum in einen dichten Wald mit
der Axt in der Hand eindringen wollen, wenn von allen Seiten gebahnte Fu߬
pfade hineinführen? Die Hauptsache aber ist, daß wir Zeit gewinnen müssen
für die neuern Sprachen und vor allem für das Deutsche. Hier ist Reibung
genug, wenn man nur fahren und nicht darüber hinfliegen will. Wie sehr
auch die Altphilologen gegen jede Vermehrung der Stundenzahl für das Deutsche
Protestiren, der philosophische Gedankengehalt unsrer klassischen Litteratur, die
praktische Verwertung unsrer grammatischen Studien sür die Sprach- und
Schreibweise aller Gebildeten, das sind Schätze, die gehoben werden wollen,
und die sich ohne die schwerste Schädigung aller Stände nicht länger über¬
sehen lassen. Durch das Studium fremder Litteraturen und' fremder Sprachen
allein erfassen wir nimmer den Gedankengehalt unsrer Litteratur und den Geist
unsrer Sprache. Darum gilt es, das Studium der toten Sprachen soweit zu
beschränken, daß die nationale und moderne Bildung daneben nicht Schaden leide.
Mau sieht, daß diese Vorschläge, hervorgegangen aus den am Gymnasium
selbst gemachten Erfahrungen, viel weiter reichen, als die eifrigsten Verteidiger
der Einheitsschule zu gehen gewagt hätten, auch weiter, als es für die ein¬
heitliche Gestaltung des höhern Schulwesens unbedingt nötig ist. Diese ein¬
heitliche Gestaltung des höhern Schulwesens aber, diese Eingliederung der
Realgymnasien uno Realschulen oder höhern Bürgerschulen in den Organismus
des höhern Schulwesens ist eine unabweisbare Forderung des heutigen Unter-
richtswesens, eine Forderung übrigens, die nicht die Schulmänner stellen, sondern
das gesamte deutsche Volk, soweit es an höhern Schulwesen Interesse hat. Es
ist auf die Dauer unhaltbar, daß man den Eltern zumutet, über den künftigen
Beruf eines neun- oder zehnjährigen Knaben zu entscheiden. Mögen die für
das Griechische begeisterten Philologen immerhin einen Teil davon im Gym¬
nasium festhalte», der größere Teil der griechischen Sprachstudien wird doch
an die Universität abgegeben werden müssen. Diese Verschiebung wird nicht
bewirkt durch die Lehrer des Realgymnasiums, wie man hänfig in den Kreisen
der Gymnasiallehrer noch zu glauben scheint, sondern durch die steigende Be¬
deutung der zeitgemäßen Bildung und durch die Notwendigkeit, die gerechtesten
Forderungen der Öffentlichkeit zu befriedigen. Zu dieser einheitlichen Gestal¬
tung wäre es nötig, daß das Griechische erst in Obersekundn begönne, also
auf dem Gymnasium nur drei Jahre betrieben würde. Freilich würden dann
gute Übersetzungen griechischer Schriftsteller schon in den Mittelklassen gelesen
werden müssen. In den Oberklassen würde man dann die Schüler mit
den wichtigsten grammatischen Eigentümlichkeiten der griechischen Sprache
bekannt machen, um ihnen, d. h. den Theologen, Philologen und allen
denen, die sich einer ausschließlich gelehrten Laufbahn zuwenden wollen, das
Studium des Griechischen ans der Universität zu erleichtern. Dann könnte
die höhere Bürgerschule (Realschule) der natürliche Unterbau der gymnasiale!?
Anstalten werden, wie die Volksschule bis zum zehnten Lebensjahre der natür¬
liche Unterbau der höhern Bürgerschule ist. Dann würden auch die Mutter¬
sprache, die neuern Sprachen und die Naturwissenschaften zu ihrem Rechte
kommen, und kein vorurteilsfreier Gymnasialrektor, kein vorurteilsfreier Uni¬
versitätsprofessor, kein in der Praxis stehender vorurteilsfreier Jurist oder
Mediziner würde behaupte» können, daß das Bildungsziel dieser höhern
Schule geringer sei als das Bildungsziel des jetzigen Gymnasiums. Nach
dem, was jetzt auf dem Gebiete des Gymnasiums selbst vorgeht, rücken wir
diesem Ziele merklich näher. Hat doch die Generalversammlung des Vereins
von Lehrern höherer Unterrichtsanstalten Ost- und Westpreußens zu Pfingsten
1891 den Vortrag Bahnschs mit „vielseitigem Beifall" begrüßt, ja der Vor¬
stand dieses Vereins den Druck ausdrücklich gewünscht, und nnter denen, die
beistimmten, waren anch Philologen vom reinsten Wasser.
it andern deutschen Volksstämmen hat der Ostfriese das gemein,
daß er besondre Stände besonders gern aufs Korn nimmt, nament¬
lich die Advokaten, die Apotheker, die Müller, die Schneider
und — die Bauern. Der ostfriesische Marschbauer kann sich ein
bischen Neckerei schon gefallen lassen, denn er sitzt dick im Fett.
Man hat auch nichts davon gehört, daß einer unter den Agrariern gesehen
worden wäre. Ein großer Teil der Landwirtschaft besteht hier einfach darin,
daß das liebe Vieh im Frühling auf die saftigen Weiden getrieben und bis
zum Spätherbst Tag und Nacht dort gelassen wird. Wers so leicht hat, der
tröstet sich über allerhand Scherze leicht mit dem Gedanken, daß Neider besser
sind als Mitlcider.
Aber die Gerechtigkeit erfordert es, zu sagen, dnß der Ostfriese nicht l'loß
gern einen Scherz macht, sondern auch einen vertragen kann. Doch darf der
Scherz nicht zu weit gehen. Der Ostfricse laßt sich langmütig manches ge¬
fallen und schweigt dazu, aber das hat doch seine Grenzen, dann ist es aus,
und er wird deutlich. Ja dann kann die alte, gewaltthätige friesische Art mit ihm
durchgehn, und dann ist es ratsam, ihm zehn Schritte vom Leibe zu bleiben.
Der königlich schwedische Generalfeldmarschall Dodo Freiherr zu Jnn- und
Knyphausen, ein geborner Ostfricse, in dem sich die ostfriesische Art fast typisch
dargestellt hatte, war gewiß ein geduldiger Mann, er konnte sich Wohl gelegent¬
lich selbst über seine Geduld lustig machen, und doch hat es jener schwedische
Kapitän bei der Einnahme von Demmin erfahren müssen, was es heißt, einem
Ostfriesen in die Quere kommen. Knyphausen schlug nämlich eine Latte ans
seinem Kopf entzwei. Das war nicht gerade fein von ihm. Aber der Schwede
hatte ihn geärgert. Hauptsächlich durch Knyphausens Verdienst war Demmin
eingenommen worden. Gustav Adolf aber hatte befohlen, daß die schwedischen
Wachen, die die Thore bereits besetzt hatten, vor beendigtem Abzüge der Feinde
niemand von der eignen Armee in die Stadt ließen. Bon diesem Befehl hatte
Knyphausen keine Kenntnis und wollte in die Stadt. Da trat ihm der wacht¬
habende Kapitän in den Weg. Knhphausen hielt das für einen unpassenden
Scherz, die Latte war unglücklicherweise gerade zur Hand, und so krachte sie
auf das Haupt des Schwede», nieder. Die Sache hatte ja keine weltbewegenden
Folgen, aber sie zeigt doch, daß man im Umgang mit Ostfriesen vorsichtig
sein muß.
Auch mit Ostfriesinnen ist nicht immer gut Kirschen essen. Ich schweige
von einer der Ahnfrauen Knyphauseus, einer Dame vom Hanse Manninga,
die dem Rustringer Häuptling sihet Papinga nach der Bargerbnrer Schlacht
so unsanft an den Kragen wollte; ich schweige von der sattsam bekannten
Dame aus dem Hause den Brook, Fvelle, die den Beinamen „die Böse" (die
„Quade") führt. Aber wie ist Jeverlcmd von Ostfriesland ab und an Olden¬
burg gekommen? Weil eine Dame, das regierende Fräulein Maria von
Jever, deu Scherz uicht verstehen wollte, daß ein ostfricsischer Grafensohn Wohl
die Mitgift, aber nicht die Braut heimzuführen bereit war.
Der Ostfriesc ist auch ein Mensch von tiefem Gefühl. Jener Knyphausen,
der so schnell zur Latte griff, hatte ein Herz wie Gold nud war eine Seele
von einem Mann. Er hatte so viel Mitgefühl für Armut und Not, daß ich
ihm unbedenklich die Qualifikation zum Nrmenvatcr und Waisenvorsteher be¬
scheinigt hätte — einem General des dreißigjährigen Krieges! Doch hat es
der Ostfriese mehr innerlich. Er scheut sich, seine Gefühle merken zu lassen.
Er ist „hardfüchtig" — so nennt man einen, der schwer feucht wird, dem die
Thränen nicht locker sitzen, und der, wenn sie doch kommen wollen, sich ihrer
schämt und sie zerdrückt, noch ehe sie geboren sind. Der Ostfriesc ist ein mit-
leidiger Mensch, der keinem Tier etwas zu leide thun kann. Und doch auch
wieder ein Mensch, der sehr an sich selbst denkt und auf seinen Vorteil bedacht
ist. Wo er den nicht sieht, ist er schwer zu etwas zu bewegen. Das hat zu¬
weilen sogar für das wichtige Geschäft des Deichbaues gegolten. Der Ein¬
bruch des Dollarts, sagt man, hätte vermieden werden können, wenn recht¬
zeitig alle Beteiligten Hand angelegt Hütten. Aber nein: „Und wenn mir
das Wasser bis über die Lnnzenspitze hinausgehen sollte, für die da drüben
deinde ich nicht!" Gewiß ist, daß der ungeheure Schaden, den die Autoniusslut
1511 in der Jade angerichtet hat, leicht hätte wieder gut gemacht werden
können, wenn sich die beteiligten bald geeinigt und den gebrochnen Deich wieder
aufgebaut hätten. Aber der neue Deich kam erst achtzehn Jahre später zu-
stände und gab natürlich eine große Strecke dem Meere preis. Herzog Alba
ist gewiß nicht unser Mann, aber einmal hat er sich doch unsern Beifall er¬
worben. Die Ostfriesen sollten beleben. Er wollte auch die vom Adel dazu
heranziehe». Die wollten aber nicht und beriefen sich ans ihre verbrieften Rechte
und Privilegien. „Briefe habt ihr? Nun, so legt einmal bei der nächsten
Sturmflut eure Briefe zum Schutz an die Küste! Wenn sie das Meer achtet
und davor zurückweicht, dann will ich sie auch achten." Auf seinem Recht
besteht der Ostfriese mit hartem Kopfe, und trotz seines weichen Herzens: mit
selbstverschuldetem Unglück hat er kein Mitleid. Wenn sich einer in fremde
Sachen mischt und sich mit Dingen abgiebt, die ihn nichts angehn, dann darf
er, wen» er dabei zu Schade» kommt, nicht auf Mitleid rechnen. Das gilt
sogar, wenn es sich um sonst ganz nützliche und heilsame Dinge handelt, z. B.
wenn sich einer allzu sehr mit Ehrenämtern belasten läßt, und dann sein eignes
Geschäft dabei zu kurz kommt. Da heißt es einfach: Warum hat er den Spruch
nicht bedacht: tvM' iMlmLlitö» vn ckartsiu ung'lülclccm d. h. zwölf Ämter und
dreizehn Unglücke. Übrigens wird es dem Germanisten nicht uninteressant sein,
bei dieser Gelegenheit zu erfahren, daß das Wort a in ducht bei den Friesen
noch in lebendigem Gebrauch ist, das erste deutsche Wort, das der litterarisch
gebildeten Welt vor die Angen gekommen ist, weil es ein römischer Schrift¬
steller angeführt hat. Wir Neuhochdeutsche kennen es bloß noch in der Gestalt
von Amt.
Es ist übrigens kein Wunder, daß der Ostfriese das, was ihn aiigeht,
und das, was ihn nicht angeht, so reinlich von einander scheidet, er liebt ja
überhaupt die Reinlichkeit. Reinmachen ist der Hausfrauen halbes Leben. Sie
nennen es „schumeln," ohne Zweifel von „sehnen," denn es wird sehr
viel Seifenschaum dabei entwickelt. Die armen Männer! Die sind ja auch
dafür, daß alles hübsch rein ist, aber rein machen — welcher Schrecken!
Wenn dann nur wenigstens tüchtig gelüftet würde. Aber das ist unsre
schwache Seite, namentlich bei kleinen Leuten. Die machen nie ein Fenster
auf, buchstäblich nie. Freilich Urahne, Großmutter, Mutter und Kind sind
gar selten in dunkler Stube beisammen, sie bewegen sich fleiszig draußen in
der freien Natur, und da heißt es: „Wohlauf, die Luft geht frisch und rein!"
Ja, sie bläst gewaltig, aber die Leute sind dran gewöhnt. Nach ihrer Mei¬
nung „weht es ein wenig" bei einer Windstärke, die man im Reich einen tüch¬
tigen Sturm »euren würde. Mit dem Sonnenschein dagegen ist es so eine
Sache. Der ist hier selten, um nicht zu sagen „rar." Wenn Taeitus meint,
es habe noch niemals eine Einwanderung in Germanien stattgefunden, weil
er sich nicht denken könne, daß jemand in dieses niederdrückende Klima ziehe,
dessen Wiege nicht hier gestanden hat, so hat er augenscheinlich die Küste, also
unser Friesland, im Auge gehabt und ganz besonders den Mangel an
Sonnenschein. Der war von jeher groß, wie wir aus den allerältesten Schrift¬
denkmälern, den Bannsormelli, sehen können. Überall sonst wird einer gebannt,
„so weit die Sonne scheint." Im Altfriesischen aber ist dabei von Sonnen¬
schein nicht die Rede. Für Sonne lesen wir da Wind. ^Isv l-urgii »os all
vzmä üm aom, vo!l«ZQki> viy'ä, oder: Mo lanxd als vvyill v^vt «znäs Kzmt
sorgst, ZrL8 Aro^se, gnäo blosen blöket.
Doch gesegnet sei uns dieser ewige Sturm. Wir verdanken ihm Leben
und Gesundheit. Ostfriesland ist das gesündeste Land, das es geben kann,
jedenfalls die gesündeste Gegend in ganz Deutschland. Der Regierungsbezirk
Aurich hat die geringste Sterblichkeit in ganz Preußen. Das macht nur der
luftreinigende Wind. Wenn wir den nicht hätten, was würde aus den Be¬
wohnern eines Landes werden, das von tausend „Grahem," natürlichen oder
„gegrabenen," mit stehendem Wasser durchzogen ist? Dazu der miasmatische
Boden der Marsch, der seiner Entstehung nach mit Milliarden von verwesten
Seekrustentierchen durchsetzt ist! So augenehm ein „Granat" in frischem Zu¬
stande schmeckt, beinahe nach frischen Walnüssen, so schauderhaft ist sein Ge¬
ruch bei der Verwesung, die so schnell eintritt, daß an eine Versendung ins
Binnenland nicht zu denken ist. Ein sonderbarer Name — „Granat." Es
ist vermutet worden, er komme von den beiden Fühlhörnern des Tieres, Adam
und Eva genannt , die allerdings wie Gerstengranneu aussehen. Aber diese
Erklärung ist offenbar sehr gesucht. Sieht man den Granatlentcn genauer auf
den Mund, so merkt man, daß sie gar nicht Granat sagen, sondern daß sich
die Aussprache über Gamal, Gemal, Genae auf Genoat zu bewegt, und daß
man oft gradezu Genot hören kann. Und das wird wohl daS Ursprüngliche
sein. Genot ist Genosse. Der Hering hat den Namen von den Herden, in
denen er lebt. So hat unser Tierchen, das in so ungeheuern Mengen auf¬
tritt, daß es häufig als Düngemittel verwandt worden ist, den seinen von
seinem genossenschaftlichen Leben erhalten. Ein höchst nützliches Tierchen, das
hierzulande eine wichtige Rolle spielt, wenn es auch von so niederer Organi¬
sation ist, daß man sich jedenfalls keiner Schmeichelei schuldig macht, wenn
man von einem sagt, er habe einen Granatverstand oder ein Granatgedächtnis.
Noch eine Eigentümlichkeit Ostfrieslands muß ich als eine Folge des
starken Windes erwähnen. Wenn eS regnet — und es regnet hier so viel,
daß man beinahe fragen könnte, manu es denn eigentlich nicht regne —, so
regnet es hier nicht, mie in Deutschland, lotrecht, sondern wagerecht. Daher
ist ein Regenschirm hier kaum von Nutzen; er ist auch so schwer zu handhaben,
daß mau sich ihn am besten ganz abgewöhnt und es so macht wie die Ein-
gebornen, die sich ganz in Wolle - auch in ein wollenes Hemd, also Jägerianer
lange vor Jäger! — kleiden und es dann ruhig regnen lassen.
Muß das aber ein rauhes, unwirkliches Land sein! Wer möchte da
wohnen? so höre ich die Leserin fragen. Und in der That ist es schon mancher
Ostseeschwärmerin arg gegen den Strich gegangen, wenn der Gemahl an die
Nordsee versetzt wurde. Nein, hier ist aber anch gar keine landschaftliche
Schönheit! klagte so eine arme Versetzte. Aber ein Seeoffizier, der hier schon
akklimatisirt war oder, wie der gangbare technische Nnsdruck lautet, „schon
beinahe Schwimmhäute bekommen hatte," antwortete ihr: Gnädige Fran ver¬
gessen die Wolkenbildung! Ja die Wolkenbildung kann sich wirklich sehen
lassen. Überdies ist ja die Hanptsehenswnrdigkeit eines Landes nicht die „so¬
genannte" Natur, sondern der Mensch. Und der kann sich hier erst recht
sehen lassen. Noch heute hat er sich etwas von seinem alten stolzen Freiheits-
nnd Unabhängigkeitssinn bewahrt. Er ist zwar 1366 mit Freuden preußisch
geworden, wie er es schon einmal sechzig fruchtbare Jahre gewesen war; er
hat auch mit Freuden, so weit das bei ihm äußerlich bemerkbar ist, die Auf¬
richtung des neuen deutschen Reichs begrüßt, aber er ist doch in erster Linie
Ostfriese geblieben, „Stark nach außen, schwertgewaltig um ein hoch Panier
geschart" — das ist ihm schon recht; aber gerade bei ihm gehört als besonders
notwendig dazu: „innen reich und vielgestaltig, jeder Stamm nach seiner Art."
In seiner „Art" aber ist der Ostfriese der konservativste Mann von der Welt,
wenn er auch gelegentlich einen Deutschfreisinnigen in den Reichstag schickt;
weil er so deutsch und so freisinnig ist, meint er in seiner politischen Harm¬
losigkeit, ein Deutschfreisinniger sei sein Mann.")
Doch diese Plauderei soll nicht in ein politisches Lied ausklingen.
Ich wende mich auf ein andres, unverfänglicheres Gebiet. Ich wollte noch
eine Vorstellung geben von dem Reichtum der ostfriesischen Sprache an Sprich¬
wörtern, und ich wähle dazu das Kapitel vom Freien und Heiraten.
„Der Gott, der Muhammed sandte, ist kein Gott der Hagestolze," sagt
irgendwo jemand, das heißt: wo es noch mit natürlichen Dingen zugeht, da
wird fleißig geheiratet. Und so geht es hier zu. Es fehlt zwar nicht an
Stimmen, die davor warnen, kM nur örst, s-i.' Ap sodöxkor to sin Inmcl,
asu sermlst an alö stört öl >vo1 dkMFön laden. Auch wird auf die Umstände,
Schwierigkeiten und — Kosten hingewiesen; ä'r KürÄ rnör to 't d»ri8vn W 'u
Mr sello, was ins Hochdeutsche übersetzt etwa lauten würde: ernähren könnte
ich wohl eine Frau, aber kleiden? Wie leicht kann sich auch einer beim Freien
einen Korb holen, und wer den Schaden hat, braucht für den Spott nicht zu
sorgen: do lergZt'ä on voräsu, mut ütAiln to krvion, un<l do xriisoii (ge¬
priesen) vit ^vorÄon, Ah mut liMn K-ur to starkvn. Es ist ja bekannt, daß
eingefleischte Junggesellen immer neue Sprüche ersinnen, um einen vom Freien
abzubringen, ihn noch zu „retten," wie sie sagen; wenn aber einer erst Feuer
gefangen hat, dann predigen sie tauben Ohren. Und das ist gut. Bleiben
doch ohnehin schon so viele Mädchen sitzen, daß der Seufzer begreiflich ist:
alles Kruvt su 'n iuiui, sü,' (to meid, in-in dive it? nöt, und der Wunsch ver¬
zeihlich: karr ik MM erst 'u man, ^vat K»u me ander viellter (Mädchen) an?
Aber das muß man den Ostfriesen lassen, in einem Stücke sind sie sehr höflich
gegen unverheiratete junge Damen, sie setzen die Grenze der Heiratsaussichten
sehr hoch hinauf: däreus (Dirnen, d. h. Mädchen) aollter de tortig' un röter
(Rüben) >in Ktstklakvuä llstiden <is sollt verlsrsv. Also erst an der Pforte
des Schwabenalters heißt es: die ihr hier eintretet, laßt alle Hoffnung draußen.
Sicher unter vierzig war also die Maid mit dem schönen ostfriesischen
Namen Geste, von der das Sprichwort sagt: dat Aelt müder un (ZosKe -in,
sa do mir, do lcvvam d'r 'n treer in 't tius. Natürlich, denn alles, was in
dieses Fach schlägt, ist von jeher der Frauen Sache gewesen, das Wort Ver¬
lobung elettrisirt sie noch, wenn sie schon längst Großmütter sind, um wieviel
mehr, wenn sie etliche Tochter zu vergeben haben. Und daß der Bauer selbst
seine Fran mit nennt, zeigt, daß er ein „die Sachlage richtig erkannt habender"
Mann war, wie es in einem Bericht über die Seeschlacht bei Jasmund heißt.
Denn wie sagt das Sprichwort? De im de toller treib, mut de müder to
tründs tiolden. Da übrigens der Vater gleich wußte, daß der Freier Geste
anging, so scheint er nur diese eine Tochter gehabt zu haben. Wahrscheinlich
galt von ihm nicht: n tius tut dogt^rs is 'u Keiler tut sür bßr; er war wohl
vermögend, und das schreckt hier, wie überall, nicht ab. Im Gegenteil: r!Ke
tue doZters nu arme tue liattsrs Kurier todt :in 'n ins-n. Hoffentlich hat
aber der Freier nicht bloß auf Geld gesehen, denn: von imm 'u dwatjo
(albernes Ding) rund um 't solent,je, un 't sollatje is tertürd, blieb 't dvvatje
ol de llerd. Jedenfalls muß eine Fran verstehen, das, was der Mann ver¬
dient, zusammenzuhalten. Denn: -tolle is nor a,s duseud. Nur darf einer
nicht etwa bloß eine „Arbeitskraft" heiraten wollen; do 'u dro rund um 't solium
un döllvr um to legten, de setwt s!n llitend t-in viust net Seggen. Außer
dem Fleiß müssen auch noch andre Eigenschaften in Betracht gezogen werden.
Darum ist es das sicherste: elle trSi sin mrksrs leimt, den voce, lie, va,t Ire tiinlt.
Besonders bequem ist es einem gemacht, wenn man mit „ihr" in demselben
Hanse wohnt: dreien noter on baie is on ^rot gsmalc. Doch fehlt es auch
sonst nicht an Gelegenheit dazu, namentlich im Winter. Das in dem übrigen
Deutschland erst in den letzten Jahren allgemein aufgekommene Schlittschuh-
läufer junger Damen giebt es hierzulande schon seit unvordenklichen Zeiten.
Und das wird hier wie überall fleißig zum Freien und Sichfreienlassen be¬
nutzt. „Warum kommt denn deine große Schwester nicht mehr aufs Eis?"
„Mama sagt, sie hätte jn jetzt einen Bräutigam." Gewarnt aber wird vor
Mädchen, die gar zu viel auf dem Eis oder im Ballsaale gesehen werden, die
überhaupt „überall" sind, mit den Worten: as böses Mähr vsräsu rrx as
stg.1 söollt. Leider sind nicht alle Väter so gutmütig wie Göskes Vater, der
zu denken schien, die ganze Freierei seiner Tochter gehe ihn nichts an. Es
giebt Väter genug, die es als eine persönliche Beleidigung ansehen, wenn einer
ihre Tochter heiraten will. Darum begreifen wir das Wort: as irata tan
urru ing.la 'n bruä, un t'-rü. min I(ß8s 'ir 8slrut (ein Boot, nämlich indem er
den Kühe so aushöhlt, daß nur die Rinde bleibt), 60 mot es Mir uns Iisrrck.
Einem solchen Vater würdig zu bestehen, gilt es, sich mit tapferen Mute zu
wappnen. Wer das nicht kann, dem bleibt nur der Ausweg, eine Witwe zu
freien. Da wähle er aber womöglich eine kinderlose. Denn: as >vit Mem
-w pur, as llöcls fian Kr stsfkmäsr rür viirtsr8>vin. Übrigens ist es gut,
wenn „sie" uicht zu jung ist, namentlich wenn „ihm" bereits der Kopf an¬
fängt durch die Haare zuwachsen, denn: oläs IcsrvlL (Männer) un Mugs v!Ku
Fikt toi lcinäsr su KI KiKn (Keifen, Zank, Streit). Aber hübsch muß sie
immer sein, denn: 't og' >öl1 sie vat, sa as turas an-liux, as trsiäs us 'n
moi (schöne) vvlsllt (Mädchen).
Der Verlobung soll möglichst bald die Hochzeit folgen, ^n äsäs un Sir
drüä, as nruttou to 't bus Iiorut. Die Braut geht ja auch gern, wenn nur
die Zeit erst da wäre! Aber: sviZlisiä is 'n lirnASir tut, rum (aber) N^/
lcuincl sin M'su use, 8Ü as uni.la, as sourit Sö uru A^/ trüsu (Hochzeit macheu).
Endlich kommt denn auch der Mai. Wenn sie nur dann auch zusammen
glücklich werden und sich in rechtem ehelichen Frieden das Wort bewährt: tvZ
unäsr on <tot<su, lsröir (rasch) su. LprsKsn! Manchmal kommt es anders.
Es kann so weit kommen, daß der Mann zwar feierlich versichert: ne thu as
lrsr! aber — <Zo satt, dö unäsr as äisk! Oder es geht umgekehrt: 6r8t 't nö-
äi^es. 8-1 as Ksrsl, as llnüppsläs 1K 8w v!5 Oder der Mann wird wenigstens
ungeduldig und ruft ärgerlich: lox s-n as nur (Mond) um xlulc stsrsus!
Wenn die Frau freilich so eine ist, ivie die, vou der es heißt: oft (wer) Iiarr
äat av^t (gedacht), at>.t or n<>F 80 'n imvintsr IcruALN, Ir^rr 't vit' ssg'ä, as
narr 8ß liör rmäsrrolc »I uni 8Und Nartsn vsrköll, dann ist es kein Wunder.
Eine alte Erfahrung wird auch in Ostfriesland immer wieder nen: die
Frau mit ihrem ausgeprägten Familiensinn neigt auch nach der Verheiratung
mehr zu ihres Vaters Familie, als zu der ihres Mannes. „Zu Hause" sagt
sie ganz harmlos noch viele Jahre nach der Verheiratung und meint damit
nicht ihres Mannes, sondern ihres Vaters Haus. Da lob ich mir jene Dame
aus Neuseeland, die sich in eine größere Stadt Norddeutschlnnds verheiratet
hatte. Sie wurde in der ersten Zeit in jeder Gesellschaft auf ihr „Weither¬
sein" angeredet. Aber das hörte bald auf, denn jedesmal, wenn sie gefragt
wurde: „Wo sind Sie denn zu Hause?" antwortete sie kurz und treffend:
„Hier!" Anders die Ostfriesin. NW lock, heißt bei ihr nur die Verwandt¬
schaft von der Spindelseite, ihre Blutsverwandtschaft; nur das Volk nennt sie
so, dessen Namen sie als Mädchennamen getragen hat. So ist auch das
Sprichwort zu verstehen: Aoälok et^t, 't unius tan Mir lock is. sa 't, w!t', av
tvrsn L0 ro.it> liör Icsrot na, as Mi?-S-
Von den Schwiegermüttern will ich schweigen. Aber der lieben Kleinen
soll nicht vergessen werden. Sie sind freilich nicht nur lieb, sondern auch
teuer: <>o iidurs lMvbM, Storche) uögel (nötigt, einlädt) raus poZASii
lisddsu, d. h. 5!inter mache,: allerlei Kosten und geben dem Vater zu
raten auf. Er thut das aber gern. Freilich was zu viel ist, ist zu viel.
Mit Schaudern erzählt Freund Veninga von der Gräfin von Henneberg,
Wilhelm von Hollands Schwester, sie habe dreihundertfünfnndsechzig .Kinder
auf einmal geboren, die alle von ihrem Oheim, dem Bischof Otto von
Utrecht, getauft worden und gleich nach der Taufe mitsamt ihrer Mutter ge¬
storben seien. Der Grund sei der gewesen: die Gräfin hatte sich über eine
urna Frau, die Zwillinge bekommen hatte, aufgehalten und gemeint, so etwas
käme in höhern Ständen doch nicht vor. ^iisron» altre, t^rovcksu si<et sssr
doclroevot, >mal eisn ^maoKtiFön vsoirioli g'vösclsn, do SM ^ImoeßMkolÄ »su
äsr (tiÄWvns vulä-s Köpfen, unä dskestiFvn, uiul olru so mvlmion Kind, als
ä»ob int MW Fvvvu. Da hört natürlich die Freude auf. Aber für gewöhn¬
lich ist sie bei jedem Kinde gleich groß und gleich neu. Auch noch in anderen
Sinne als bei jenem Küster, von dem es heißt: M Icinäer, Ki seßou, s»' 6s
Xöster, Äo Stiel Ils cis ööxsvdiUmF in 6v which. Das Kind aber, das da
getauft wurde, hieß jedenfalls Jan. Denn wer hieße hier nicht Jan? Bald
wirds damit freilich vorbei sein. Aber bisher galt das Wort: ölige^öA
,7ion, dö sg.1 civF nur Ä,cMsr as Mös, sü-' alö dur, av M Irs sin ^ung' äöxsn.
Der Ostfriese ist ein liebevoller Vater. Besonders an dein Mann „ans
dem Volk" ist es ein schöner Zug, daß er so an seinen Kindern hängt, so
treu sür sie sorgt und so willig für sie jedes Opfer bringt. Sogar das Opfer,
daß der schweigsame Mann seinen Mund aufthut und mit ihnen spricht,
sogar schwatzt. Ja, so unglaublich es klingt, ich habe es selbst gehört: er
schwingt sich sogar zum Singen auf für sein — Kind. Ja, staune nur, lieber
Leser: l?risen eÄnwt! Aber fragt mich nur nicht, wie? Jener Pommer, der
nur einen Ton in der Kehle hatte, und der war falsch, war eine, um
nicht zu sagen ein Wachtel gegen einen singenden ostfriesischen Vater. Aber
wenn es nur dein Kinde Freude macht. Und das jauchzt fröhlich auf des
Baders Knie. Wahrscheinlich macht es mehr der Text als die Melodie, und
außerdem das damit verbundne Reiten: liox mir M-ni im als inölou t»,
uncia'8 miles lig,lor um Stro, lliitsr um fers um kaat—Icak—Jak <Spreu), clon
loyal mir xörch's in clrat'—air-i-t'—ars,k. Nun, für die Kinderstube mag es dem
Vater auch nachgesehen sei»; sollte er sich aber mit seinem Gesang einmal an
die Öffentlichkeit wagen, dann müßte die Polizei herbei, oder das Rcichs-
gesuudheitsamt, oder der Reichscholerakommissar.
„Jeder Stamm nach seiner Art." Es ist eine gesunde, kernige, vortreff¬
liche Art, eine handfeste und treue, die ostfriesische, auf die mau sich verlassen
kann. Sollte ich aber dem einen oder andern Leser zu viel von der ost¬
friesischen Schweigsamkeit geredet haben, dem gebe ich hier zum Schluß eine
Probe ostfriesischer Beredsamkeit, die beinahe vor einem Jahrtausend einen
schonen „Erfolg erzielt" hat. Bei einem Einfall der Wenden in Ostfriesland
hatten ihrer tausend in einem Dorf, genannt „die Schleuse," hundert Friesen
eingeschlossen und stürmten nun das Dorf mit solcher Heftigkeit, daß die Be¬
lagerten draus und dran waren, sich zu ergeben. Da redete ein Priester,
namens Gerlaens, die hundert Friesen also an: „Was ist es, was geschieht
hier? Seid ihr nicht Mnnuer, habt ihr nicht eure Schwerter mit den Händen
gefaßt? Die scheiden uns Wohl von unsern Feinden! Unsre Waffen können
uns befreien von den Feinden, wenn Nur aber unsre Rüstung ablegen, so ist
unser Leben ganz aufs Ungewisse gestellt. Wollt ihr euch nun den treulose»
Wenden ergeben, so doch kein Volk auf Erden lebt, das den Friesen verhaßter
wäre, dann werdet ihr ja alle, wie das Vieh, totgestochen. Deshalb richtet
eure Schwerter auf eure Feinde." So sprach der Priester, stürzte sich selbst
als erster auf den Feind, was er als Geistlicher doch gar nicht durfte, aber
er war eben ein Friese, riß die andern mit nach und sauste mit solcher Wucht
ans die Wenden, daß sie mit Schande abziehen mußten, >vol (obwohl) der-
sulvs (üsrlii,en« ini uni-nu-ii clor 8IinM.unM ven og'v verloren, uncl is int
«livlcv von avr bsvue Fövrmäot. Oörlliüveu is luz uivlit vviAÄAvävt Zsvvrclen,
8NNÄM' SVNL KrootmovälFNkit ssein hoher Mut) list't alle 8VNV siQvrtiö »vor»
>vunusu. ^tho veste list't, verluoollt, c>e8 8t»1t«zu list«Je8 »mover^vinlikö Zemootö.
erkwürdig! Sollte ich mich täuschen? Diese dunkeln Augen in
dem blassen Mädchengesicht, dieser Gang, wie sie dort die Lan¬
dungstreppe zu unserm Dampfer heraufkommt, diese Anmut, wie
sie sich nach den Ihrigen umsieht, nein, ich täusche mich nicht,
es ist das Nickelprinzeßchen, die wunderhübsche kleine Mexi¬
kanerin, die vor vier Jahren mit ihrem alten dicken Onkel, der der Haifisch-
onkel genannt wurde, auf diesem unserm Dampfer die Reise von Mexiko durch
den Golf hierher nach Newyork und dann weiter nach Hamburg machte. Ja,
sie ist es, wiewohl ich den Haifischvnkel unter den Passagieren, die die Landungs¬
treppe heraufkommen, nicht gewahr werden kann. Er ist vielleicht noch unten
im Gepückraum beschäftigt?
Aber wer ist der Herr dort im grauen Schlapphut, der, mit dem Pack-
träger verhandelnd, ihr zu folgen bemüht ist, einen Southamptonstreckstuhl
am Arm? Wenn er sich doch nur umdrehte, daß ich sein Gesicht sehen könnte.
Sollte es wirklich der bazillenentdeckungswütigc Kollege sein, der ihr damals
auf der Reise den Hof machte? Ach, jetzt ist er wieder im Gewühl ver¬
schwunden!
- Es war Ende September 1892, als ich, an die Schisfsbrnstung gelehnt,
das immer anziehende Schauspiel der Ankunft der neuen Passagiere im Hafen
von Newyork an mir vorüberziehen ließ. Selbst für den langjährigen Schiffs¬
arzt, der Welt und Menschen flieht und sich nur auf hoher See ganz glück¬
lich fühlt, ist die Ankunft der neuen Reisegenossen kurz vor Abgang des Schiffes
immer wieder interessant. Auf diesen eleganten Golfdampfern ist das Publikum
ein ganz andres als auf den Auswanderuugsschisfen, wo man von nichts hört,
als von Berlin, Newyork und Chicago und dem ewigen Dollar! Man hat es
hier meist mit Leuten von etwas weiteren Gesichtskreise zu thun. Als Menschen¬
feind, der man ja als Schiffsarzt so leicht wird, kommt man auf dieser Fahrt
zwischen Newyork und Veracruz oft mit fesselnden Persönlichkeiten zusammen,
die von der Welt und den Menschen auf unserm Erdkreise so viel gesehen
haben, daß sie Vergleiche anstellen können und frei sind von der Naivität der
Selbstbewundernng, die meist dem beschränkten Gesichtskreise der wenig Ge-
reisten entspringt. Aber eine so schöne, angenehme Fahrt wie damals vor
vier Jahren, als jene Gesellschaft ans der Hauptstadt Mexiko mit uns fuhr,
hatten wir doch nie wieder gehabt.
Sie hieß das „Nickelprinzeßchcn" unter uns Herren, weil sie die Stief¬
tochter des bekannten Nickelfürsten, eines reichen Geschäftsmannes war, der mit
dem Präsidenten Gonzales die berüchtigte Nickclrevolution in Szene gesetzt und
sich dadurch zum Millionär gemacht hatte. Die plötzliche Einführung der
Nickelwährung sollte Mexiko ans den englischen Finanzverlegenheiten befreien.
Der kleine Mann büßte von seinen Pfennigen, die er dort täglich fürs Leben
braucht, an jedem Tage mehrere ein, und es kam zu einer Empörung, wobei
die Läden geschlossen und unter das Volk gefeuert werden mußte. Präsident
Gonzales verlor zwar dabei etwas von seiner Popularität, entschädigte sich
aber dafür durch desto offnere Plünderungen, und wer am besten dabei fuhr,
das war der Pfiffige Hamburger Geschäftsmann, der diese Spekulation ersonnen
und die Geldtransaktivn mit bewundernswürdiger Geschicklichkeit eingeleitet und
ausgeführt hatte. Deun er konnte sich bald nach diesem Handel als Ehren¬
mann mit vollen Taschen zurückziehen und ließ sich in seiner Vaterstadt Ham¬
burg zum Senator ernennen. Sein schönster Lebensplan war somit in Er¬
füllung gegangen: solider Reichtum und ein Titel — über jeden Zweifel
erhaben!
Herr Schulze, den man in Mexiko nur noch den „Nickelschulze" oder auch
.den „Nickelfürsten" nannte, hatte in der Hauptstadt eine reiche mexikanische
Witwe geheiratet. Als er nach Hamburg ging, nahm er seine Frau mit; ihre
heranwachsende Tochter aber ließ er mit ihrem Onkel, dem Bruder seiner Frau,
erst später nachkommen, als seine unter ewigem Heimweh kränkelnde Frau die
Ihrigen um sich haben wollte, obwohl zwischen Senator Schulze und seiner
heranwachsenden Stieftochter gerade nicht das beste Einvernehmen bestanden
hatte. Sie konnte es ihrem Stiefvater nie vergeben, daß durch seine rück¬
sichtslose Spekulation ihr guter Onkel, der früher wohlhabend gewesen, nun
verarmt und nahezu ruinirt war. Wegen dieses Zwiespalts hatte sich Mar-
celita nicht entschließen können, als Don Gustavo Schulze mit ihrer Mutter
nach Hamburg fuhr, sie zu begleiten. Sie hatte es vorgezogen, ihren schmol¬
lenden Onkel zu pflegen. Als nun die Frau Senator in Hamburg krank
wurde, sollte alles wieder gut gemacht werden. Onkel und Nichte wurde»
aufs dringendste aufgefordert, alles vergangne zu vergessen und nach Hamburg
zu kommen, wo ihnen in dem vornehmsten Viertel der Stadt in der villenartig
eingerichteten Wohnung des Herrn Senator ein verlockendes Heim winkte,
weit eleganter und bequemer als das, das sie in Mexiko bewohnt hatten.
Das Schmollen des alten Onkels, der auf seinem Southamptoustuhl aus¬
gestreckt immer auf Deck saß und die unser Schiff umkreisenden Haifische be¬
obachtete, fütterte und mit seinem Revolver gelegentlich anzuschießen versuchte,
dieses Schmollen ging durch die Bemühungen der heitern Schiffsgesellschaft
bald in eine Art von Selbstironie und schließlich in ganz guten Humor
über, je mehr wir uns den Gestaden von Newyork näherten- Nun entstehen
ans dem Schiff unter einer einigermaßen muntern, von Seekrankheit verschonten
Gesellschaft leicht Spitznamen, da man sich anfangs, solange man den wirk¬
lichen Namen nicht kennt, schnell mit einem gemachten hilft. So war denn
der alte behäbige, graubürtige Mexikaner, der die Haifische studirte, bald zum
Haifischonkel geworden. Seine Philosophie hieß früher: Friß, oder du wirst
gefressen! Jetzt, ans dieser Fahrt, philosophirte er, nachdem er erst den Hai¬
fischen seinen Tribut bezahlt und sich dann wieder davon erholt hatte, folgender¬
maßen: „Sehen Sie die kleinen blauglänzenden, aalartigen Fischchen, die sich
dort auf den Seitenflossen des dicken grauen Ungetüms wiegen? Wie sie
heruntcrschlüpfen, sowie sich der Haifisch anschickt, nach meinen Apfelsinenstücken
im Wasser zu schnappen, und wie sie sich ihm wieder auf den Rucke» schmiegen,
sobald er ruhig dahinschwimmt! Sie lassen sich von ihm tragen und sind so
am besten vor ihm sicher! Sie sind nie vor ihm, immer ihm zur Seite oder
hinter ihm. Der Haifisch war ich früher, als ich noch etwas hatte, jetzt ge¬
höre ich zu den Begleitern." Nach und nach wurde er der Gemütlichsten einer.
Nur wollte er alles, was sich auf Haifische bezog, besser verstehe» und uns
immer gute Lehren geben, wenn wir vor Anker liegend hinten am Stern die
Haisischangel auswarfen. Seine treue Nichte sekundirte ihm dann, wenn er
von uns ausgelacht wurde, und hielt ihm die Stange.
Es war ihr nicht recht, daß sie hinter ihrem Rücken von uns das „Nickel-
prinzeßchen" genannt wurde, denn wenn auch ihr Privatvermögen durch den
Zusammenbruch ihres Onkels bei der Nickelspekulation ihres Stiefvaters nicht
angegriffen worden war und von dem Stiefvater während ihrer Unmündigkeit
verwaltet wurde, so wollte sie doch vou diesem und dem ganzen Nickel-
Handel, den sie um einmal verabscheute, nichts hören und behauptete einmal
ums andre, sie wüßte doch, daß sie und der Onkel es nicht lange in dem
kalten Deutschland aushalten würden, daß sie bald wieder nach ihrem son¬
nigen Mexiko zurückkehren würde, und sie bedauerte nur den Onkel, daß er
sich auf seine alten Tage noch den Strapazen dieser unnützen Reife unter¬
zogen hätte.
Am meisten aber von der ganzen Gesellschaft aus der Haupstadt Mexico
zog mich der deutsche Arzt und Kollege an, der, nachdem er sich genügend
Geld verdient hatte, um bequem leben zu können, nach Deutschland zurück¬
kehrte, um sich ganz besonders mit Bakteriologie und Hygieine zu beschäftigen,
mit der „Welthygieine," wie er sagte, denn die Hygieine sei eine internationale
Sache. Über den Gedanken an Reichsseuchengesetze lachte er. Giebt es Neichs-
seuchen? pflegte er zu fragen, wenn man ihn auf dieses Gespräch brachte.
Seuchen sind internationale Übel, und darum muß die Hygieine international
gehandhabt werden, und zwar nicht von büreaukratischen, juristischen, meta¬
physischen Standpunkte aus, sondern vom physischen, von Standpunkte der
Natnrgesetzgebnng! Er war, nachdem er den französischen Krieg als Arzt
mitgemacht hatte, lange Jahre im Auslande und in der Hauptstadt Mexiko
als dirigireuder Hospitalarzt angestellt gewesen und kehrte nun mit vollem
Herzen sich nach seinem großgcwordnen Vaterlande sehnend und wissenschafts-
uud entdeckungsdnrstig nach Berlin zurück. Das junge mexikanische Mädchen
aber mit den feurigen dunkeln Augen und dem blauschwarzen Haar hatte es
ihm angethan, ohne daß sie es wußte. Von seinen Juuggesellengelüsten war
er bekehrt, und so hing er, wenn er sich nicht für Bakteriologie und Welt¬
hygieine erhitzte, an ihren Augen und war trotz seiner Jahre geschäftig um
sie wie ein jugendlicher Liebhaber.
Trotz der Verschiedenheit unsrer Ansichten in vielen Stücken — ein eigen¬
sinniger Hagestolz wie ich und ein bekehrter Junggeselle wie er passen selten zu¬
sammen — trotz meines misanthropischen und seines optimistischen Wesens
stimmten unsre Ansichten doch in einem Punkte überein: in der Ausfassung
des ärztlichen Berufs; mir hatten sie uns beide zu ganz entgegengesetzten
Extremen geführt: mir stand der ärztliche Beruf so hoch, daß ich vou der
Misere der Praxis in Stadt und Land gar nichts mehr wissen wollte, sondern
mich aufs Meer zurückgezogen hatte, und ihm stand er so hoch, daß er noch
einmal am Born der Wissenschaft, in Deutschland, von neuem anfangen wollte
zu studiren, um womöglich die Anschauungen über die Notwendigkeit der
Alleinherrschaft der Naturgesetze zur Geltung zu bringen gegenüber den Halb¬
heiten der gesellschaftlichen und der büreaukmtischen Einrichtungen. In einem
Punkte waren wir ganz einig: daß es für den Arzt unwürdig sei, anzuziehen
an der großen Gesellschaftskarosfe, wo die Reichen obenauf sitzen und sich von
den Armen ziehen ließen, die unter den Peitschenhieben des .Kutschers „Hunger"
und des Dieners „Not" keuchen.
So kurz wie in dieser angenehmen Gesellschaft war mir noch nie eine
Seereise vorgekommen, und wir bedauerten es förmlich, als wir uns nun dem
Hafen von Newyork näherten und uns trennen mußten.
Plötzlich wurde ich durch einen Schlag auf die Schulter aus meinen Er¬
innerungen und Träumen geweckt: vor mir stand der Kollege aus Mexiko!
Ich hatte recht gesehen. Er war der Herr im grauen Überzieher mit grauem
Schlapphut, der, mit dem Streckstuhl um Arme, mir vorhin im Gedränge
nur seinen Rücken gezeigt hatte. Da stand er vor mir mit seinem dunkel¬
lockigen Haar und seinen zusammengczognen Augenbrauen, noch ganz so,
wie ich ihn vor vier Jahren nach Hamburg hatte abreisen sehen. Nur etwas
grauer geworden war er.
Nun, Sie unverbesserlicher Meergreis, wie geht es Ihnen? Freue mich,
Sie wieder hier zu treffen, wäre auf keinem andern Schiffe nach Mexiko
zurückgedampft. Sie war mir in zu schöner Erinnerung, die Fahrt mit Ihnen
auf dem Schiffe der Seligen, wie wir es nannte»! So redete er mich ein.
Eben gingen mir beim Anblick von ein Paar schwarzen Augen dieselben
Erinnerungen durch den Kopf, antwortete ich, indem ich die dargebotne Hand
kräftig schüttelte. Nun sagen Sie mir, wie in aller Welt kommen Sie wieder
hierher, noch dazu in Begleitung der schönen Mexikanerin, Sie entdeckungs-
wütiger Bazillenjäger? Haben Sie so schnell die Weltverbesferung in Deutsch¬
land satt bekommen, oder haben Sie gefunden, was Sie suchten?
Ich habe gesucht und gefunden, viel mehr als ich auf meiner Bazillen-
jcigd erwartet hatte, viel, viel mehr, und alles — für drei Mark dreißig!
So wenig hat Ihnen Ihr vierjähriges Forschen gekostet?
Nein, soviel hat man mir dafür bezahlt, Kommen Sie, ich wollte Sie
gerade abholen, vor Abgang des Schiffes, noch ein wenig herumzuspazieren.
Meine Frau ist bei ihrer Kabineneinrichtung beschäftigt, und da ich so glücklich
war. Sie, wie ich vermutete, hier zu treffen, so müssen Sie mir schon als
Cicerone dienen, denn ich habe die berühmte Brooklhnbrücke über diesen Meeres¬
arm noch nicht näher angesehen. Dann sollen Sie auch alles hören, was Sie
wissen wolle».
Da das Schiff erst spät abends abgehen sollte, hatten wir vollkommen
Zeit. Wir schlenderten hinunter, um uns nach einem kurzen Marsch durch das
Gewühl der Güterschuppen, der Markthallen, der Fährbvvtshallcn in das Chaos
der leicht bergansteigcnden Geschäftsstraßen nach dem Cityhallplatz zu begeben.
Da erzählte mir nun der Kollege, nachdem ich ihn zu seiner Verheiratung
beglückwünscht hatte, wie er Ferienkurse und Ärzteversammlnugen besucht und
wie er sich mit Begeisterung in die Arbeit für die gute Sache gestürzt habe,
wie er in Vorträgen die hohe Mission des Arztstandes für Seucheuabwendung
und Welthhgieiue nachgewiesen habe, und wie das in Berlin und anderswo
aufgenommen worden sei; wie er sich dann, um auch die ärztliche Praxis nicht
ganz zu vernachlässigen, in seinem Heimatstädtchen als Arzt eingerichtet und
wegen seiner Bemühungen um reines Trinkwasser von der Behörde mit Ver¬
weisen bedacht worden sei; kurz, welche Reihe von Enttäuschungen auf seine
großen Erwartungen gefolgt sei.
Schon hatte ihn, der bessere Anerkennung gewohnt war, die Sehnsucht
nach Mexiko gepackt. Da kam die Cholera. Das war ein Feld der Forschung
für ihn! Das Mikroskop mußte wieder heran, und als der Hamburger Senat
ein Ausschreiben nach Ärzten an die Universitäten ergehen ließ, meldete er sich
mit, seine Kenntnisse zu bereichern und seine Hilfe in den Dienst der Mensch¬
heit zu stellen, da wo sie es am meisten bedurfte.
Und wen traf er dort unter den vielen Hunderten von Kranken in dem
Chvlerahospital um der Eppendvrfer Chaussee? Als er die dunkeln Allgen der
wieder zum Bewußtsein erwachenden armen Sprachlehrerin mit dem blau-
schwarzen Haar und dem südländischen Gesicht gewahrte, die aus einem der
weniger reichen Stadtteile Hamburgs abgeholt und ins Hospital gebracht
worden war, da lebte die längst begrabne Liebe in seinem Herzen wieder auf,
die Liebe zu der schönen Mexikanerin, die er früher für unerreichbar gehalten
hatte, und der er nun als Lebensretter am Krankenbette gegenüberstand.
Herzbrechend waren die Ereignisse, die das junge Mädchen so weit ge¬
führt hatten, und die er später aus ihrem Munde erfuhr.
Das zarte Geschöpf konnte sich nicht in das Leben, das im Hanse des
Stiefvaters herrschte, eingewöhnen. Die kränkelnde Mutter starb bald nach
der Ankunft Marcelitas. Den Onkel, den die Kleine kindlich liebte und
verehrte, behandelte der Stiefvater »ut Härte. Es kam zu Zwistigkeiten,
wobei Mareelita die Partei des Onkels nahm. Heimweh nach dein schönen
Mexiko kam dazu, und hätte nicht der Stiefvater, so lange sie minderjährig
war, ihr Vermögen unter seiner Verwaltung gehabt, sie hätte schleunig damit
die Rückreise nach ihrer Heimat angetreten.
Als nun gar der alte Onkel der Schwester ins Jenseits nachfolgte, fühlte sie
sich in dem Hause des Herrn Senators Schulze ganz vereinsamt. Alle Pracht der
häuslichen Einrichtung vermochte ihr nicht hinwegzuhelfen über das innerlich
leere Leben, das sie führte, ohne Freundin, ohne Umgang, beiseite gestoßen
von einem Geldmenschen ohne Herz, der vor der Welt ihr Vater war. Sie
dachte oft mit Sehnsucht zurück an die Heimat und an die letzten lieben
Menschen, die sie kennen gelernt hatte, an die Reisegesellschaft auf dem Schiff.
Als sie nun nach der Krisis aus ihrer Betäubung erwachte und das Ge¬
sicht dessen über sich gebeugt sah, mit dem sie sich oft im Geiste beschäftigt
hatte, glaubte sie zuerst, sie träume. Überwältigend war nach all der Kälte,
unter der sie gelitten hatte, dieser warme Hauch von Liebe, der sie umfing,
als sie seine Stimme wieder erkannte.
Sie erzählte dann nach und nach, wie sie sich schließlich aus Widerwille»
gegen den Mann, der sie um ihres Vermögens willen zu seiner Frau zu
machen gedachte — die Habsucht des Mannes widerte sie an! —, um sich
seinen Anträgen nud seinem Zwange zu entziehen, aus seiner Wohnung ge¬
flüchtet, wie sie unter einem angenommenen Namen eine bescheidne Wohnung
in einem der billigern Stadtteile bezogen habe und dort durch spanische Sprach¬
stunden ihr Leben habe fristen wollen, bis es ihr gelänge, die Herausgabe
ihres Erbteils gerichtlich zu erzwingen. Denn sie war mittlerweile mündig
geworden und war fest entschlossen, jedes Mittel zu' ergreifen, um mit ihrem
Erbteil in die Heimat zu gelangen. Da befiel jenen Stadtteil die Cholera,
sie wurde von der Seuche ergriffen, und sie wäre ihr erlegen, wenn nicht die
Kochsalzeinspritzungen in die Venen Wunder an ihr verrichtet Hütten.
Es war gerade an jenem denkwürdigen Nachmittage, als die bekannten
Verhandlungen zwischen den Chvleraürzten und dem Hamburger Senat gepflogen
wurden wegen der knauserigen Art, womit die reichen Geldmänner die Ärzte für
ihre Benus»ngen abzufinden gedachten, an demselben Nachmittage, wo der Senat
das Ultimatum veröffentlichte: „Die herangezogenen Ärzte und Studirenden be¬
kommen nicht mehr als drei Mark dreißig Pfennige für den Tag und find
schleunigst aus der Anstalt zu entfernen," wurde der Herr Senator Schulz
durch einen Eilboten von einem der bekanntern Notare der Stadt an daS
Krankenbett seiner Stieftochter Mnrcelitn berufen.
Von Mexiko aus kannten sich der Arzt und der Senator sehr wohl. Die
herrliche Nickeltransaktivn, durch die der Senator zu seinem Reichtum ge¬
kommen war, war dem deutschen Arzt genügend bekannt, ja sogar offen von
ihm gebrandmarkt worden. Denn in der Hauptstadt Mexiko war der deutsche
Arzt durch seine kosmopolitischen Eigenschaften so gestellt, daß er vor dem
Hamburger Krösus in sxo nicht zu kriechen brauchte. Er hatte darüber in
den Zeitungen sein Urteil abgegeben, und es hatte dem Nickelfürsten große
Mühe gekostet, zu verhindern, daß die Nachrichten nach Hnmbnrg drangen,
denn das Hütte der Erreichung der Senatvrwürde im Wege gestanden. Nun
stand der vor jedem Windhauch eines solchen Gerüchtes zitternde Mann plötz¬
lich Ange in Auge seinem Widersacher, dem Arzte, und seiner Stieftochter,
deren Hand der Arzt begehrte, in Gegenwart des Notars gegenüber, der die
Volljährigkeit Mareelitas erklärte und die Herausgabe ihre? Erbteils und ihrer
Person beantragte.
Ein Blickwechsel, und — „Fürst Schulze" begriff die Lage. Er mußte
in alles willigen, was verlangt wurde, wenn nicht andres ruchbar werden
sollte, und an demselben Abend, wo eine anständige Bezahlung der ärzt¬
lichen Dienste im Cholerahospital von dem Herrn Senator verweigert wurde,
mußte er, ohne eine Miene zu verziehen, sehen, wie sein Wille durchkreuzt und
seiue Stieftochter, die er schon für seine sichere Beute gehalten hatte, ihm von
seinem Feinde entführt wurde. Eine größere Genugthuung als die Angst des
mit bleichem Antlitz davoneilenden Stiefvaters zu sehen, konnte Mnrcclita und
ihrem Bräutigam kaum werden.
Ehe dieser aber mit der Genesenen das Krankenhaus verließ, konnte er
nicht umhin, sich von dem Kassirer die drei Mark dreißig Pfennige für den
Tag wirklich auszahlen zu kahlen — diesem Arztlvhu, dessen die Nachwelt ewig
gedenken wird. —
Der Erzähler hatte geendet. Wir standen an der Brüstung der Brücke
und schauten hinab in die Menge der bunten, schnell dahinschießender Lichter
der Schiffe und Schiffchen, der schwimmenden turmartigen Speicher, der kleinen
Propellvrs und der großen Auswandererdampfer auf dem Meeresarme tief
unter uns. Die Abendsonne vergoldete die düstern Paläste, das Häusermeer
und die Freiheitsstatue draußen im Hafen. Nur ein roter Humes lagerte noch
ans all diesen Denkmäler» der Allmacht des Dollars.
Da zog der Kollege ein kleines Beutelchen mit etwas Geld aus der Brust-
tasche, und indem er unser Schweigen unterbrach, fragte er mich: Könnte ich
das nicht der Freiheitsstatue da drüben an ihren ausgestreckten Arm hängen?
Das würde schwer sein, erwiderte ich. Der Arm ist so groß und so hoch,
daß das Publikum auf Wendeltreppen darin auf und ab geht. So klein das
Sümmchen auch ist, ich würde raten, unter amtlicher Niederlegung einer
Stiftungsurkunde für die Republik Mexiko einen Fonds daraus zu bilden für
die durch die Nickelrevolution Geschädigten.
Ob man das jetzt Wohl erlaubte? fragte er.
Gewiß, Gonzales ist längst nicht mehr am Ruder, und sein Gegner Por-
firio Dinz würde sich freuen, damit einen der schlechten Streiche der voran¬
gegangenen Regierung festzunageln.
Gut, so sei das der Kern zu einem Jnvalidenfonds in Mexico. Was man
sich doch alles für drei Mark dreißig Pfennige leisten kann! Der „Nickelfonds"
soll er heißen.
Sie waren ja nicht auf die Vezahluug angewiesen, erwiderte ich, aber die
vielen des Geldes oft recht bedürftigen Kandidaten der Medizin, die mit Dran-
setzung ihres Lebens jener Aufforderung gefolgt waren, wie werden die sich
zurückgestoßen gefühlt haben dnrch diese Behandlung des ärztlichen Standes?
Einige davon beschlossen, sofort umzusatteln und ein andres Fach zu er¬
greifen, sagte er, andre und nicht wenige schüttelten den Staub von ihren
Pantoffeln, wie man jetzt in Deutschland sagt, und suchten die neue Welt auf.
Das ist auch ein Gewinn, erwiderte ich, sie haben die alte Welt verloren
und finden dafür eine neue — alles durch die drei Mark dreißig!
Zwischen der Hauptwahl und
der Stichwahl — denn so kann man unter den heutigen Verhältnissen bei der
übergroßen Zahl von Stichwahlen schon sagen — waren Wohl über dreitausend
Mecklenburger in Friedrichsruh zusammengekommen, um dem Fürsten Bismarck eine
Huldigung darzubringen. Am 15. Juni war, wie es in den Zeitungen immer
heißt, die „Wahlschlacht" gewesen, an der sich auch die Mecklenburger als konser¬
vative, freisinnige, sozialdemokratische und andre Hilfstruppen beteiligt hatten, und
am folgenden Sonntag, am 18. Juni, hatten sich aus allen Teilen des Landes,
aus Dorf und Stadt, Anhänger verschiedner Parteien und Angehörige aller Stände
einmütig vor dem einfachen Herrenhause im Snchsenwalde zusammengefunden, um
allen kleinen Partei- und Jnteressenhader dort zu vergessen.
Die Einheit! Es ist den Deutschen wahrlich nicht leicht geworden, die Ein¬
heit, die sie so schmerzlich entbehrten, zu errichten, und doch will es manchmal
scheinen, als ob die schwer errichtete wieder wanken wollte. Aber es scheint nur
so. Das Bedürfnis, mit den andern in einem großen Verbände zusammenzustehen,
ist in jedem Gliede des Ganzen viel zu lebendig, als daß der festgefügte Bau
wieder zerbröckeln konnte. Die deutschen Stämme, die Sachsen, die Süddeutsche»,
die Thüringer, die Schleswig-Holsteiner und die Oldenburger habe», indem sie nach
einander den Mitbegründer der deutschen Einheit begrüßten, den Wert anerkannt,
den der Reichsgcdanle für sie alle hat. Und darin liegt auch die Bedeutung der
Fahrt der Mecklenburger nach Friedrichsruh; man hat die Mecklenburger manchmal
als besonders „pnrtikulnristisch" verschrien, weil sie ihre Stammeseigeutümlichkeite»
uicht so bereitwillig aufgeben »volle», wie eS die zentralistischen Gleichheitsprvpheten,
die die Welt mit großstädtische» Augen anzusehen gewohnt sind, gern möchten;
man hat aber entschieden Unrecht, wenn man meint, daß diese Art von Partikula-
rismus, die ans der natürlichen Liebe zum engern Baterlande beruht, der Reichs-
eiuheit gefährlich wäre. Man hat vor und während der Reichstagswahlbewegnng
viel zu viel Wesens davon gemacht, daß sich auch in Mecklenburg „der Partiku-
lnrismus bedrohlich entfalte"; was will die Handvoll Stimmen, die die mit den
Ereignissen des Jahres 1866 unzufriedne „deutsch-mecklenburgische Rechtspartei" um
Is, Juni beim Wahllärm aufgebracht hat, im Vergleich zu den taufenden von Per¬
sonen sagen, die am 18. Juni als reichstrene Vertreter des ganzen Landes zum
Fürsten Bismarck gepilgert find?
Es giebt eine berechtigte und eine unberechtigte Art von Partikularismus.
Die eine verträgt sich vortrefflich »ut der Rcichseinhcit, so lange die Einheitlichkeit
nicht überspannt wird, die andre, die sich zur Anerkennung des geschichtlich Ge-
wordnen und Unabänderlichen nicht bequemen mag, kann das Reich nicht leiden, weil
es ihr nicht „herrlich" genug ist, aber sie ist keine Macht mehr, die Trennung und
Vereinzelung hervorrufen könnte. Sie würde höchstens wieder eine Macht werde»,
wenn man die Einheitlichkeit übertriebe. In der Rede, die Fürst Bismarck vor den
Mecklenburgern gehalten hat, sind die Stellen, die von dem Verhältnis des berechtigten
Partikularismus oder „Lokalpatriotismus," des „Heimatgefühls," zum Gesamtgefühl,
zum „Vaterlaudsgefühl" handeln, besonders beachtenswert. „Die unitarischen Be¬
strebungen — sagte der Fürst —, die manche meiner Landsleute gepflegt haben, mögen
sich für Theoretiker und andre Nationen eignen, für den germanischen Charakter halte
ich sie nicht für richtig." „Die Mecklenburger — meinte er — sollen Mecklenburger
bleiben; aber das Laud soll in einer solchen Beziehung zum Reiche stehen, daß es
freiwillig und gern mitwirkt an der großen deutschen Nation." Der deutsche geogra¬
phische PartikulnrismnS sei so weit überwunden, wie es überhaupt nötig sei.
Das Bestehen der Einzelstanten, die Erhaltung ihrer ererbten Besonderheiten
bedeutet also keine Zersplitterung mehr. Die Zersplitterung droht heute von einer
ganz andern Seite. Der schlimmste Partikularismus ist der „Fraktionspartikula¬
rismus," den sich der Deutsche anschafft, sobald ihm die engern geographischen
Verbände verloren gehen. Jede Partei ist bei uns zur Fraktionspolitik geneigt.
In seiner kurzen, schlagenden Weise bezeichnete der Fürst die „Krankheit," die wir
zu bekämpfen haben: „Die Eifersucht der Fraktionen, das ist der Krebsschaden, der
unserm Vaterlande anhängt." Die Volksvertretung und die staatliche Leitung oder
„Ministerium und Parlament" müssen gemeinsam die Gesamtheit der Intelligenz
und des Vertrauens aufdringe», die das Volk verlangen kam, und wenn sich dabei
ein „Minus" auf der eine» Seite herausstellt, so muß dies auf der andern gedeckt
werden. Keine Zersplitterung der Kräfte!
Die Worte des Fürsten haben eine Bedeutung, die über die Adresse, an die
sie zunächst gerichtet waren, weit hinausgeht. Die Mahnungen, die sie enthalten,
werden um so wirksamer sein, als sie in eine Zeit der Wahlbeweguug gefalle»
siud, deren Ergebnisse sich in ihrer ganzen Bedeutung uoch uicht übersehen lassen.
Was wir, nachdem die Wahlen beendet sind, vor allem brauchen, ist eine einheit¬
liche und geschlossene Thätigkeit aller an der Negierung beteiligten Gewalten, die
den „Fraktivuspartikularismus" überwindet, und um der das Volk die Festigkeit der
Überzeugung und eines kräftigen Willens merkt.
Die Zeitschrift „Volkswohl"
(herausgegeben von Dr. Viktor Böhmert in Dresden) bringt in ihrer Nummer vom
22. Juni als Leitartikel eine „Abhandlung" über die gelehrten Bibliotheken Deutsch¬
lands ans Grund des kürzlich von Dr. P. schwencke herausgegebnen „Adreßbuchs
der deutschen Bibliotheken." Der Verfasser ergeht sich in bittern Vorwürfen gegen
unsre gelehrten Bibliotheken, vor allem gegen die Stadt-, Kirchen- und Schul¬
bibliotheken. „Deutschland — sagt er — ist das bibliothekenreichste Land, und
auch an sehr großen, höchst wertvollen Bibliotheken sind wir reich, aber die Sach¬
kenner wissen, daß wir demnächst hinter Amerika und andern Ländern zurückbleiben
swerdeu?j und bezw. s»und bezw,« ist schon gesagtlj in einigen Dingen längst
zurückgeblieben sind. Es fehlt den allermeisten öffentlichen Büchereien bei uns das
rechte Leben, das Leben mit der Gegenwart, das Leben mit dem Volke. Sie
sind eine Art Museen geworden, in denen alte Scharteken sorgfältig gesammelt und
aufbewahrt werden, in denen Gelehrte Hansen und sich in die Kultur vergangner
Jahrhunderte vertiefen; der Kultur der Gegenwart dienen sie in sehr geringem
Maße. Sie siud dem Gesetze der Verknöcherung verfallen, dem leider jedes ge¬
meinnützige Unternehmen unterworfen ist, wenn ihm nicht immer wieder in Form
von neuen Anregungen, neuen Kritiken, neuer Mitarbeit frisches Blut zugeführt
wird." Von den Stadtbibliotheleu insbesondre klagt der Verfasser: „Sie wurden
in einigen deutschen Städten schon im sechzehnte» Jahrhundert eröffnet und waren
grundsätzlich jedermann zugänglich, aber allmählich gewannen die Stubengelehrten einer¬
seits, die Bürokraten fsielj andrerseits die Oberhand und sorgten absichtlich oder
unabsichtlich dafür, daß das Volk wegblieb und die Bücher recht geschont werden"
swerdeu?). Der Verfasser fordert dann dringend „eine Erneuerung des Bibliotheks¬
wesens. Einer Umwandlung und Neubelebung bedürfen vor allem die Stadt-
biblivlhckeu; fie haben nicht der Förderung der Gelehrsamkeit zu dienen, sondern
der Förderung der Volksbildung, der Versorgung aller Gemeindemitglieder mit
gutem Lesestoff. Die Gemeinden dürfen sich nicht damit begnügen, Volksschulen,
Realschulen, Ghmnnsien und Fachschule» zu uuterhcilteu; wenn sie die Kunst des
Lesens, den Durst mich Lektüre und Wissen wecken nud verbreiten fdie Kunst
wecken?), müsse» sie, zumal da sie es anch am besten und leichtesten können, allen,
die uach Nelehruug und edler Unterhaltung durch Bücher verlangen, diese Bücher
bequem darbieten." Unsre Sladlbiblivtheken also sollen so schnell als möglich in
Volksbibliotheken verwandelt werde».
Auf das Leipziger Tageblatt haben diese Ausführungen einen so überwäl¬
tigenden Eindruck gemacht, daß es in seiner Sonnlagsnummer vom 25. Juni die
ganze „Abhandlung" brühwarm nachgedruckt hat, sogar ebenfalls als Leitartikel (!)
und — natürlich ohne Angabe der Quelle. Nur den Satz über die „alten Schar¬
teken" hat es gestrichen, der scheint ihm doch Bedeuten gemacht zu haben, den
dummen Druckfehler aber „jeder gemeinnützige Unternehmer" (statt: „jedes gemein¬
nützige Unternehme»") hat es ahnungslos mit abgedruckt.
Hier but nun wieder einmal jemand über eine Sache geschrieben, von der er
nicht das geringste versteht. Was der Verfasser über die Geschichte unsrer Stndt-
bibliotheken sagt, but er sich einfach aus den Fingern gesogen. Wer nur die leiseste
Ahnung von der Geschichte der Litteratur und der Wissenschasten in Deutschland
but, der weiß, daß Vollslilterntnr und öffentliche Bibliotheken zwei Begriffe sind,
die sich im sechzehnten und noch im siebzehnten Jnhrhnndcrt vollständig ausschließe».
Alle öffentlichen Bibliotheken waren selbstverständlich gelehrte Bibliotheken und hatten
anfangs einen ganz beschränkten Benutzerkreis, der sich erst im Laufe der Zeit
allmählich erweiterte. Die Geschichte der Leipziger Stndtbibliothek kenne ich gennn,
genauer, als sie in Schwenckes „Adreßbuch" zu lesen ist. Sie mag zum Beweise
dienen. Die Anfänge der Leipziger Stadtbibliothek liegen im fünfzehnten Jahr¬
hundert. Sie ist weder von der Stadt, noch für die „Gemeinde" errichtet, sondern
von Gelehrten für Gelehrte gestiftet worden. Den ersten Grund dazu legte eine
Stiftung des Ordinarius der Leipziger Juristenfnknltnt, Dietrich von Buckensdorf.
Dieser vermnchte 1463 seine gesunde Bibliothek — lauter juristische Handschriften —
nebst einem Legnt, das jährlich vierzig Gulden Zinsen trug, dem Rate der Stadt
als Stiftung für einen Studenten, znnttchst ans seiner Verwandtschaft. Über die
Benutzung der Bücher bestimmte er, daß der Empfänger des Legates „die Bücher
bessern vou Jahre zu Jahre und nicht ärgern" jd. h. ärger machen, mißhaudelnj
sollte — eine nicht ganz leicht zu erfüllende Bestimmung. Im Jahre 1515 ver¬
mnchte Dr. Peter Freitag, ebenfalls ein Jurist — er war eine Zeit lang Leipziger
Stadtschreiber gewesen — für die Vergünstigung, daß ihm der Rat in einem der Stadt
gehörigen nen erbauten Hause auf Lebenszeit freie Wohnung gewährte, seine ganze
Bibliothek dem Rate, mit der Bestimmung, daß der Rue „eine bequeme, geraume
Liberarei" auf dem Nnthnuse banen lassen sollte, nach seinem Tode die Bücher
dort verwahren „und mit eisern Ketten an eisern Stangen, wie in der Klöstere
Liberarei, anschmieden lassen, daß niemandes Macht haben könne oder möge, einig
Buch wegzunehmen, mit ihme heimzutragen und uicht Widder zu brengen." Im
Jahre 1677 endlich starb in Leipzig der Oberhofgerichtsadvokat Ulrich Groß, der
ebenfalls seine ganze Bibliothek, die nicht bloß juristische Bücher enthielt, sondern
in allen Zweigen der Wissenschaft reich ausgestattet war, dem Unke der Stadt ver¬
macht hatte, dazu sein gesamtes Vermögen, mit der Bestimmung, dnß dieses der
„studirenden Stndtjugend allhier innerhalb der Ringmauer zu Nutzen angelegt und
verwendet," und daß für die Bibliothek „ein Bibliolhekarius umb ein leidliches
Solarium verordent" werden sollte, der „der studirenden Stadtjugend auf Begehren
die Bücher vorlegen, jedoch nicht nach Hause folge» lassen" sollte. Infolge dessen
mußte der Rat auf Beschaffung besondrer Bibliotheksränme außerhalb des Rat¬
hauses bedacht sein. So wurde die Bibliothek 1683 in einem Flügel des Ge-
mandhnuses untergebracht und dort 1711 der Bürgerschaft geöffnet. Bibliothekar
war stets ein Ratsherr, dein als „Observator" gewöhnlich ein Lehrer der Nikolai¬
schule beigegeben wurde. Geöffnet war die Bibliothek wöchentlich zweimal zwei
Stunden lang. Die Bücher durften nnr in der Bibliothek selbst benutzt werden.
Wer ausnahmsweise ein Buch mit »ach Hause nehmen wollte, mußte dazu dem
Observator die schriftliche Genehmigung des Bibliothekars, also des Ratsherrn, vor¬
legen. Diese Zustande haben bestanden bis 1835. Erst da wurde die Verwaltung
der Bibliothek dem bisherigen Observator übertragen, der nnn zum Bibliothekar
erhoben wurde, die frühere Beschränkung beim Ausleihen fiel hinweg, nud zu den
zwei Öffnungstngen in der Woche tum ein dritter. Seit 1881 ist die Bibliothek
täglich zwei Stunden geöffnet. Die Anschaffung neuer Bücher lag bis 1835 in
den Händen des Ratsherrn, der der Bibliothek Vorstand. Eine bestimmte Summe
war nicht ausgesetzt. Doch wurden durchschnittlich jedes Jahr ein paar hundert
Thaler aufgewendet, auf Bücherauktionen wurden oft sehr bedeutende Ankäufe ge¬
macht. Seit 1835 giebt die Stadt zu den Stiftungszinsen einen regelmäßigen
jährlichen Zuschuß. Gegenwärtig sind jedes Jahr für neue Anschaffungen 7500 Mark
verfügbar.
So also steht es um die deutschen Sladtbibliotheteu, die im sechzehnten Jahr¬
hundert „grundsätzlich jedermann zugänglich" waren, und in denen jetzt Stuben¬
gelehrte und Bureaukraten alte Scharteken bewachen.
Man kann und wird jedenfalls — sowie es die Umstände erlauben — mehr
thun,- man kann die Bibliothek täglich von früh bis abends öffnen, man kann Er¬
leichterungen und Bequemlichkeiten aller Art schaffen, man kann die Summe für
die Anschaffung neuer Bücher noch weiter erhöhen. Eins aber wird immer und
ewig unmöglich bleiben i aus einer wissenschaftlichen Bibliothek, die länger als zwei¬
hundert Jahre in streng wissenschaftlichem Geiste verwaltet worden ist, mit einem-
mnle eine „Volksbibliothek" zu machen. Das zu verlangen ist genau so thöricht,
wie wenn jemand verlangen wollte, man solle unsre Universitäten in Volksschulen
umgestalten.
Doch wozu noch eine Zeile verschwenden gegen Behauptungen nud Anschul¬
digungen, die auf solcher Unkenntnis beruhen! Man muß sich nur wundern, daß
die Zeitschrift „Volkswohl" diesem thörichten Gerede Aufnahme gewährt und das
Leipziger Tageblatt es schleunigst nachgedruckt hat, als ob die Nutzanwendung davon
auf Leipzig ganz besondre Eile gehabt hätte.
Bon einem in Leipzig lebenden Franzosen ist uns auf deu
Aussatz über die Fnustübersetzuug von Sabatier im 2t>. Hefte eine Erwiderung
zugegangen, die wir wegen der zahlreichen Fragen, die sie streift, und wegen des
vielfachen Interesses, das sie infolgedessen in Anspruch nimmt, vollständig ab¬
drucken. — Der Einsender schreibt:
?orwottoü d, un t'r-meais <M Imbito I'LIIswuKns äoMls ont mois ot «M
s'mtöroLuv vivomont », tonlos los uroäuotions iutollootuollo« ot arÜstj'Mos av es
pavs, alö vous soumottio Molques rötloxicms guo Iiü out su-Miroos ooitgiuos pag'o«
ein cloriüor nuinörv alö votro rovuo. ,Jo poux mi-rlor ctg l'artiolo <in'un av vos
eollÄdoiÄtsurs » oousa.org ni> l^ trcrcluetion ein I^use av tlootbo on vsrs turn^is xar
l?rim^vis Licbtüior. ^^rtiols n'ost us^s higro; ^js crois poure^ut savoir ein'it vonn
et'un xrotossour alö moiito, trof ostiiuo as vos loetours se assW bion intoicnö as
uotro ultor^duro. l^'aillours, siAnv AU non, it xaralt äans uns rovuo trof röpanäuo
se trof axxr6vivo > ot o'on ost ssssü xonr g.us ^'Maolio uno sörivuss imxortanoo K
la lottro vt ^ 1'ssprit av sse »rtiolv on un point qui tonolio no trof prös ovo
amour-propro uationg.1.'
— Vs ers« pres, aus-^jo; oirr, oren auro, es uost ni as >ir traäuvtion
als Labatior, ni as Is, oritiMö qu'on lÄit U. X MS js vouäriüs vous outrotvuir.
,Jo u'eel M uro sueorv Lotto trircluotiou. ^o pourrais voi>vunt!tut insiuuor ein'it ost
bion äitlioilo K un ultor-üour ä'avprooior si^ uno traäuetiou ä'uno cvnvro alö sg,
Ici-UAuo ela.ri8 uns liruZuo stiÄN^örs sse torno on mano^iso; ^jo mo gÄrclor-us diou
xour xart av ju^or uno er-uluotion s.Ilou>imclo alö vamlot on alö ^via., — moins
ouooro uno traäuotiou alö Huxo on alö Nnssot on vors cülomimcl«! 1>armi los
oxowpios av traäuotiou lmurouso imo vno 2t. X, ^o xourrcüs womo rolovor clos vors
äurs, äos inoxn.otituäos, äos invorsious vivlontes, «los oxm'ossions xoiuo trui<)aisos.
Aals Id, it'est xoint of qui no proooou^o, et ,jo in'alt-roborai unio.uomont aux von-
«Mratioll« Avuvralss c^ni 8vnd vonmio l'exoiclo se la eovolnsion alö I'al'kleko. N. X
eonsaore no xaZo et Äoinio, -— o'est deanooup xour un nrtiolo alö moias >Jo om<i
piiMS — a iutormor «es oompkct>lote8 Pi'une traclnotion alö Kootlio on krg.no»j8 v8t
mijvurä'Kul nit svöntzment tont ^ kalt sxovptionnol; o»r it p»Me c^no »I'on 8v clonnv
en Ir»nov uns veino äösssxörss (verzweifelte Mühe) xonr radaissor K kores et'iiyuros
(herunlerschimpfen) le pouM alö Ximt alö Oootlm et Ah Leotlmveu um rang- et'une
raoo baibnio (barbarische Rasse).« L.nssi 8v clomanclo-t-it, si la trncluotion cle
8i»dg.tisi' tix)nov!'u klein aeoueil mo>no anxres clos I'i'ane^is snsooxtidlos snooro cle
cinola.no intolliAenoo ot av cjuvla.no imvrvssionualiilitv (die einigermaßen verständnis¬
vollen und empfänglichen seiner Lmidsleule), var it lui somblo bion ein'K I'og'iirä
alö I'^IIvmagM doues taonltö alö oomvreuclro et av so Juif8or tonvlivr ait clisuaru
(untergehen) en I'rnnoo. (jnaut n la raison alö ovtto nmlvoillaueo s^8t6nati^no,
A. X no 1<c tronvo xas clans no8 closi>'8 as rovauolm, mais äaus »la blos8uio in-
onradlo luido » I» paullo als8 ?ran<?al8 nomo los Ms clistinKuos, Aauh lo bssoio
exnsperö .insgu'K la w»Ja<Iio alö rvnclrs giinmonnk (verzerren) ton8 les trsits alö vo
«züi 08t sllemancl.« ^in8i l'ablmo culi'ö la I<'r-inoo ot I'vVIIomugno 80 LI-LN80 ton8
les jours äavuntago; ja Ätnatiou u'oft riou wvius guv Avsespöröv (hoffnungslos): situ-
ation rovoltauto, var, innati8 c^no les nnoni8 vull^gout l'^llomnxno sans ossayor meum
alö in oonnnttro, uno nombronso ontoAxnio et'^IIonmncK oontinno 8crviloinont (unter-
thänig) K cloolarer dohn, oliarmallt, clivin tont so <mi vient alö I'autrv volo ein Mur.
'
^o vrois, Nousionr, u^voir ni altere ni nomo outr6 I» por8se alö votro o»IIii-
bvratenr; et voni- vou8 clnunor uno prenvo nonvollo alö ma bonne toi, ^o eonvions
alö hommo xrAoo amo nous sommos loin av ronclro ton^joars ploiuo jnstiov sux tiüvuw
inocintestablos alö I/Vllomil^no eontsmxoraiuo. Uno vert^imo vomMisanvo it nous
eoutontor cle vo o.ni so t'een olisi! non8 («zuelciuo por ,jn8t>liens et'uillonis x-dr I'ox-
trömo teoonclito et I.-d tanto valeur cle nos s^vauts, alö uns artisto», alö nos eori-
vuius), surtout notio eorum«M»vo möäiooro (los liuiZuos 6travKöre8 non8 vxpossnt
it bien als8 worm80«, a clos anpruoiativns otioitos, inoomMtos an nomo rnclioalo-
mont kktusses. «so oonviou8 enooro ein'it sorait aise alö trouvsr claus la Iittvrl>.ein-v
trui^isv clos üvruiörvs annvos uno oullootivu trof VMiöv alö xamxblots, et'in^jures
violoutos, alö ÄoseriMons luonsouxöros. No kauäi'int-ji x»8, vexvnäavt, non seulo-
mont laivo In xart cle I n-i'notion ä'un uenM bi c>8ciuoment arvaekö n 8es rovos as
xaix universelle par I» lluro reg.Illo, mais surtout SistinAuor clos -UlöK-rtions et'uno
xrosso av i>as vwAv le« approoinüons äos osprits moäöios, lies l'cantos serieuses.
L.Mronära.i-^0 it N, X ciuo «junncl U. alö >V>-/ovva, — an ^olouais — Sö tut morals
cle xublior alö.us la Revue clos Voux-Uvclävs un on cloux artioles absniäos sur
I<! totis tut toi on 1''rg,n<w guo i». mclilioation cle« artiolos suiviuits tut
suspoucluo. Al. X n'aurait-it in, xar I>asarä> ni »1^'^.lion-rAuo clenuis I^oibnix« alö
U. I-col-Lrttlil, ni los imm'ossions «lo vo^SKv alö U. I-icvisso? Osoiais fo nomo lui
i'ovomillimclor I» looturv ä'un onvingo tont rooont et'um av mes mais, I^no ttorssl
(l/^tuönes alö la Luröo) un i! tiouvorn, s'it sait bien uro, n vote av quelcinos ti'-nes
sntiriciues aoud les lZeilinois sont seuls a xatir, une trof oorciials svmpatbio nour
eort»ni3 vötös alö I'vsprit »Ilomsiui. II ost öl'nimout vtinu^o alö s'ntwrcler in uno
noto cle tonnsto alö U, av (-louoourt! I^se-vo la un clooument? 8i ^jo voulcus N8or
av la mowo motlwclo, oommo .j anrni8 toan ^'on d, äöoouvor arm8 les foninaux von-
sorvatours nu nntiouaux-Iidöraux Jo8 Ms her'ioux clos six äernivros sonminos,
nombro ä'outielüets oslumuionx, et'invontions stnpolmntos, av eitations porliclos, cle-
stinös !>. diou oonvainero los vloeteuis as l attituclo provoeauto alö la I''iiuiLo! .lo no
ssis yui, on 1«'rauos, n qualitio Jo oonplo nllomauä av »raoo dardaro«; o'est I».
sans oontroclit uno Arosso sottiso; inrcis ,jo nonwais mottro 80U8 les vsux alö U- X
voi-kam artiolv du Lorlinsr L»xM»et intitM »Dio ^Vildo Ratio»« on nous sommvs
in'ranxös So jolio kayon. Nais quoi! Do toNos xolömiMvs no pronvont rion; on
plutot, viles pronvont a volontö tont co (in'on vont, paveo (ZUS los arrnos 0UwIoMo8
no 8'öpnisöllt ^'annis. ^ Aix, ving't on ohne oitatioos ompnmtsvs !Aix ^'onrnanx on
AUX oainots ckos tonristvs, L'oppvsorius ckix» villKt se ohne eitations xnisöos aux
wümos souroos. Do hör^ve! M vomwontov» xas los knntnisivs Ass ^onrus-Ustos avso
lo msius ssrisux <zuo So« insorixtions So 1'^orovolo. Hu von Ah sovMvismo on
coelo »Smro hora-it, xonso, I» plus s»xo Ass pnilosopniss.
''
Nais ^jal in>.to don arrivor a uno disonssion moins oisouso, a dos kalts plus
prseis. ^.iwsi, K on oroiro U. X, lo I'rum^mis so bonodo Iss ^poux se los oroillo«
tonlos los lois ^n'it »'»Kie S'itpprvoisi- uns oouvio ^llomnnSo; sou xarti est pris
on no pone l'airaelior a I», dvato eontvinplatiou Äo lui-morio poui- attiror sou at-
tolltion für un livi o lui>rims K Koi'im on Du oonp, Ho mo i'verio ot in'in-
dig'no, (jul Äono, daus los vvrolvs sviontiiiMvs srnnynis, ixnoro los travnnx do
RA. Uoliulwltsi, Xoeli on SaooKol? tjni Äono n nioeonnu vio« nous l'admiradlo
mouvoinont MloloAiMS, issu alö l'^Ilvmsxno, o^ni n ronouvolö notro eonnaissaneo
Äo M co u'oft xns U im nommaxo xuremeut nlatonicino: ,j'u>j. oomnw
taut Ä'itntres ello?. roof, In Iloinöro Sans ?aesi> .^.nstoto daus IZouiw, i^norvoo
(laus Dnolunann, Doraoo Sans vrolli. Otkr. NüIIor ot WbbvvK, Vnrtins ot Droysou
out oto trgcluits; Nommson I'o, oto clonx lois, ot ^o vous xriv Äo oroiro amo
v'al xg.8 »ppris a ooniuütro los uoius Äo LolÄiomauu, S^bot ot 'IroitsoKKe Aauh los
uiusvos on Sans los Il!d1iotlio<iuo8 Äo I'^UsmaKno. Uons passous xonr no xas sa-
voir la KöoKraMo: nous avons xourtaut si bien xroüto (los motlioclos So Xiöpvrt
ot Äo Äustus I'oitKos qu'uno wiüson idllomÄllSs nsKvoig. 1'an Sormor avoo un in-
stitut oartvAiÄvnici»« krantzais la eoukootion S'uns cardo — do I'^llomaFiio!
'
^. vini Siro, no suis ni nistorisn, ni plüloloxuo, ni xooKianno, ot ma
didUoKravKie sur eos inatioros «vraie vno a oourt. Nais ^jo w'oooupv So plvilo-
soxnis, ot, Äoxuis tulit mois «zu« j'ötuSio l'stat Ses vtuÄss plnlosopdi^nos Sans
votro xa^s, /jo oonstato avoo uno xrokvnSv surpriso guo nous soiunios rosto8 plus
liÄölvs a la nlulosonluo allowanÄo «mo los a-llswanÄs msmss. vo n'ost izas sonlo-
inont Xant <M ost traÄnit, ooiumonto, Äolondn all rökutö Sans uns tonio do livres
an d'artiolo8 do lovno, o'ost Ho^ol, o'v8t I^vino, e'ost LodollinF, (in'on lit onooro
oligi! nous, ot (jul, tous ti'vis, sont toindos on ^llomagmo daus un oubli on so
moto partois lo totam on I'irons. Mus n'avions noire onooro do traduotion oomvlöto do
LodsUiuss; uiais un ^ouuo nrokvssvur s'ost attaolw a coelo muvrv oonsidö^adlo ot
ig Aouvornoiuont franoais a M8 a sa oliarKö los tun« do 1'vSitiou qu'amour ödi-
tour no voulait outvopvondro. l^armi los modoinos, Lolwpouliauov ot I/vt/.o, unis
UU. do Ilartmann, XvIIor, ^Vundt, MotWolw, Vailiingoi-, Vaulsou, Lsnno RrSwann,
Xuno I'isoKvr sont tradnils, amal^hos, disoutös, ot it u'ost pas d'annoo on um jounv
tu'ot'os8oui- do nkilosopl^lo no vionno on ^Iloniag'no aux üais do l'Ltat, — oommo
j'> suis vorn moi-nomo, — ötndior do xrös los nöritiors, nölss! pou noinbroux on
duoouragvs dos Alands xonsouis do l'ago llvioi^no do l'^llowaguo. lLn rovanekv,
(imo N. X so rassuro, lo nomdrv dos »adinlratonrs sorvilos« du Aonio si'auyais ost
fort rostioiut xaimi los anus aotnols do la pliilosonlno on /VlloiuaKno. (Zomdivn
liolas! pai'lui los vrotossvurs d'Dnivorsito in'out doiuandö si ^'otais do l'voolo do
Lousin an do volle do ^ontlios! Mutant domandor a un Vranysis s'it xrotoro Do-
lillo a I^a Darxo! Ignoio-t-on domo a vo point on ^lloivag'no <iuo la pais xkilo-
sovlüo trauoaiso dos oliuiuantos xroinioros annsos do vo siöclo a oto oolinsoo, do-
doi'too, rolkAuoo dans l'oubli xar uno ^jonuo öeolo So eritioistvs, Äo positivistos,
S'smpiristos — ot nomo do motaplivsiolous? quo coelo öeolo ost ploiuo do sövo
et a proÄuit Aos travaux Ä'un earaetsro trof seiontik^us et trof original? (juollv
est petto So« Matro on ein«, rovuos Mlosoplniuo aiivwanÄvs Mi » ötuSio' avoo
quviqnv äötaii vu psrkois asino simpisinont vns Is» travaux av An. Rsnouvior,
I^aviiolior, I<'oniilvo, Zjoutronx? Äo us saeiiv Mg nomo guo xorsonno ait ersann
ni etnäis Uains Äo iZiran, Jo ssul <züi soit rssto nioÄorno Äo8 p^ilosoplios An Äodut
av vo siöolv. v'^uxusts vowtv, it u'oxists su ^UoiunKuo qu'uno traäuvtiou aiirö-
xöv, ot !a. svulo ötuäo vowMtv qui ait paru «ur co Milosopiio no Antv Kuöro <^us
av äonx an trois ans, se fils sse Ä'un ^ösuitv!
i?arÄonnkü-moi, Nvnsieur, ^jo »Vvgare et transtorino co pia.iÄayvr on roqui-
sitoiro. Ä'on rovions a U. X qiii, ä'MIvnrs, spatio bisn n'avoir sonZö qu'sux
xroäuotions propreinvnt liMiÄÜ'of Ah M patrio. 8'it vu ost ausi, xormotton-moi
<lo vous iuiio observer n.u'it ost sioAuIivroment injnsto et'avussvr I» 1''ranoo ä'irrö-
inväiadle paullo sons xrotoxto lpr'ello no connait gnoro NR. Inders se. i^iuäau(lini ü'antonr8
ont öls <z» psrtiv tmänits), ot ä'omottro tont es Mola I'ranoe » ompruntü Äo trof douno
grneo a I'Momaxnv vu xlnlosopliiv, vo pliiloloxiv se on seionoos. IZt iranodoinont, si la
I''ranoo no port so xusssr äos travaux Klorivnx Äo Aonimsou ot Äollolinlioltx, a-t-vllo bvan-
eoup a prvnäro äans la. litttiraturo allvmancio oontvmporaiuo gu'vllo no tronvo ÄsM
VNW vllo? Vous lisvii 2!via ot Lourxvt, von« Wplm,al88W, an tIMtro, vnmas et
Vailloron: Mo nous oSro?.-vous on övlumxv Mrmi los cvnvro« Äo« voutvwporsius?
Nais, on vo point vnvorv, los aüinnatimi« Ah A-l. X sont ston^Sohne oxag'ol'vo8,
I^i80ü Jo8 xrvAiammvs Ah v08 1)'vos8: in n'y mlmqnv M8 un ssui Äo vo8 edot's-
Ä'oonvro olassiquos; von« ^ trouvsrvü moan Is ii-ioolitonswin Äo Hauff ot Soll uuÄ
Ilaiiou Äo N. 1<'ro.Mös. A an oontrairo ^o .jotto los >onx 8ur lo xroKramiuo Ä'ses
An MMNN80 rv^Ä Äo I-vixziiK, no vois, piirmi N08 oll,ssiqno«, qu'uno tlAKsÄio
Äo liaeinv, uno evmöÄio Äo Noiiörv ot. clvs oxtrnits Äo Le. Liao», v'oft maixro.
?ion sonlomont nos si6vo8 lisont vos olkissiqnos, mai8 no« iittoratvurs n'ont xas
L0880 Äo Jo8 vtuäior. 1?our no 1>1 KNÄI'0 <zuo Jo ti 08 röoonts vxvmziios, lo« ello8S8 <Zo IZonnot-
Unnrv sur i5ü>z>or, Äo OKnquvt für Xieist, Äo InelitondorKer für los poosios I^NWes 6v
Kovtlio, N-I88ont, WLINS on L.Ä0MÜANL, pour lo8 moiilvurs trnvnux <mi existent sur ess
su^jvts. Vno artis tlioso kort briilimto nous ksisait eonuaitro uuKllöro 1'^stilvtiqnö Äo
LvIu'IIvr. II n'ost mismo xas ^jusizn'a votrs plus jn-ovi>s.mo litt.fra.duro für laquollo nous
n'a^on8 quolquos icioos assvü xrvoisos: je vous ronvoie n I'art.lote »^IlomnAno« Äo la
»KranÄo lÄivMopvÄio« ot aux urtiolo8 Ah coelo nemo i^llsvolvpvÄis rolatits a vos von-
tomporains. Ä'si moi-iuöwo I'Iionnour Ah oollavorsr ä co vasts roousil se ^o puis vous
aslirmor quo rinn n'a ses no^IiFo xour Äonnor aux woinckrvs uotioos un varaetoro
Ä'aotuillitv. llünffn la liovno Aos iiovnes, xonsant avoe raison qu'um ^llsmainl 8ont pou-
vait parlor on xloino eonnaissanev Äo oauss Äo la littvratnro alö son pavs ot Äo son
tomxs, a llomands ü. U. LonraÄ um in'tiolo Wi -» lait eonnaltro a In l>'ranoo ^usqu'a
vos rönIistM se a vos ÄoeaÄents. I/iirtielo a ropA.rü VN allomancl, quolquos somainos
plus taret, Aauh Jo Äornior numöro Äo Jo »Lvssllsvliait« on von« pourro/ Jo uro. ^ sitor
vnevro la. lo'ovuv iuclvponÄanto <züi a pndliö Ä'oxeolloutos trnÄnetions Äo povtos woclorno«,
puero iintrvs Ah Ilanisrlinx ot Äo livuan, Äont los vouvrvs oomplötos vnd ä'aillonrs oto
traÄnito« vt pndüvos a pari. ,Jo von« sissualo onovrv In Lvvnv 60 I'vnsoig'nvmont
nos Janz>nos vivantcs <züi no co88o Äo tenir Jo por8vnnol vn8oignant an eoursnt An wouve-
nient. littorairo ot pvÄa^ng'loro Aos annoos I08 xins rsovntss. -i'ondlio Ap rappolor Jo sue-
vos trof Iwnoradlo Aos U'odor Äo A. liauptinann, sneevs ronrpvrts ciovant um pnbiiv
Ä'oliio, vt suivi äos apxroeiations ilattonsos Äo la prosso,'
X «v paulo, — on plutot spatio so plaintlrv, — Äo Iaclinirativn Äo hos
con>patrioto8 pour los couvro« <lo nos eorivains. II est heran^v vrainwnt, <zu'un
littvratsnr so fslivito si pou An lidöralisms Ä'o8pin ot Äo la suriositö Äo lovteurs
as sou xavs. Unis, loi ouevro, ,jo lions a rassuror i'üouorablo oritiquo äos Llroux-
dotou. I-a littoraturo kraueaise ost woins vounuo <in'it no le croit on ^IlsmÄKnv;
vllo l'sse an moins tres irroAuliöromout. Hu as >nos o.mis <pu out l'Iiounour as
s'ontretomr avvo N. Nommsvu s'apvrout, non sans stounsmout, quo i'illustro savant,
si disu g.u oouruut as doues uotrs liistoiro littörairo, no oouuaissn.it pos moins as
nom uvtro Arauä se vlior ^.liront Ah Vig'U)- (pouiquoi no pas oitsr os trait qui
u'oulsvsrs, risu ^ la Kloirv no ook lustorieu So xsuis?). ?arwi los oontvmxor»ins,
Is xoüt allomanä no va pa« toll^ours aux moillours in aux plus protonäs. ^'al
vu xrosc^us partout proloror (Aoorgo Oliuot K ?aut lZourgot, Il'rxmoois Loppeo a I^ovouto
av l'Islo, ,1'vus l'oooasion av tuiro a Lorliu uus ooutsrsnov sur Luli^v-ki'ruälmmmo
äovaut un public av prolossours av trauyais aoud los trois-lzuarts ig'uoraiollt Msqu'an
vom du pooto; ^jo no oouuais ä'aillours sur vol sorivaiu av Premier orckro MV
l'oxoollouto uotiov pudlioo ckaus los (?ron/.l)otou par A. Krotli. it!t aiosi An rohes.
Oirai-js nu mot av In, musiquo? 0u sorait mal vorn, pense, »u louäo-
maiu an triowxue öolataut av l» >Vs1Kiirv K ?«,ris, av parlor onoors an miluvais
vouloir an publio ki'Myuis. tut ron-u'iuW quo so suooss a suivi av trois aus eslui
as I^oueuKriu, ot quo äoxuis plus longtomps ouevro vu axxlimäissait VaKirsr an
tlioätro on l?rvvinog ot äaus la eoueorts svmplmuiquos K?aris. rosto, 'Wu.Kuor
ne xvuvait s'iniposor ^no an ^jour on l'oroillo kran^isv so sorait as^a^so av 1»
traäitio» vlassiqno ot xisparso, pur l'auäitiou ä'osuvros plus moäornos ot av krax-
mouts isnlss, a I'intvIUxvnoo av ostts musiquo si protonäs ot si vmnxlvxö. lZn
rovimvlie, l'^Ava»Nro dnnäo ousoro nos musioiens. IZorliozi a eine sou Apparition
l)ion aprss su. mon, ot iss '1'rv^sus, si ^o no mo trompo, out ^to äouuss xour la
promiors lois Lotto animo, ,7v no suslio p-is non plus <in'on äolmrs av I'^utriolio,
S.ULUUS soizuo alloumuäo so soit ouvorto sux opsrus av Loyor, av Laiut-LaüQL, av
NÄSSsust, av iMlv, av Koa-u'ä, i>. taut ä'osuvros puissantos, aoolamoos a Viouuo ot
a lZruxollos, mais c^ni out lo tort av u'avoir pas ouoors vinAt-trois s,us ä'ÄAo.
lZuooro uno lois, Nousiour, ^jo mo laisso outruiusr diou loin ot ^jo vous on
äomanäo paräon. -Jo voulais us röäigor in'uno simple noto, ot o'sse prssguo un
artiolo quo ^jo vous soumots. tjuv rossort-it clos pgKSS gui xreoeäo? (juo, eontraire-
mout u I'ussortiou av U. X, la I'rauoo rouä plus av Mstivo aux ^Iloumuäs c^us
l'^UvmuANv aux l^rauoais? M uuouuo umuiöro. II rosto !tU oautruiro öviäout c^no
äos äoux eötos on a mis ot mot vuooro doaueonp av manvaiso xi-Kve a so ronäro
rooiproquvmont Mstios. Mus it sorait vraiiuvut ä'uus vllo«zuantv iujustioo av Kurv
rotomdor os ^rive sur la l<'rauoo ssnls. Louvonons aussi Pio los äoelauui.lions
vaxuos, los xotius on iss oalouiuivs rmimssoos u'importe on ot roäitos a la lvgörs no
«out xas lÄitos pour tuiro oossor los maloutouäus et ealmsr la ins,non.iss Iiumvur. 8i,
oommo it lo laisse outeuäre, N. X ost av ooux cpii rogrotteut pu'un mur 60 limno so-
xaro äoux ponplo« oui äovraiout s'unir I'un ä 1'u.nero pour so vomplvtor rooiproWo-
mout, lo moillonr movou pour mottro un torwo ü ook peat av olmsos it'ost oortos pas av
lo (ioelaror irrömoäiadlo, ä on ontrotvuir los osprits, ni surtout ä'on oxu-Mror la. gravito;
as lois propos no pouvout qu'aiAiir se äöooura^or los osprits vvuviliatvur«.
'
lin äoruior mot pour oouoluro: Mo l^.klomm.Ano. proäuiso äos povtos, ass
rowaneiers, äos autours äraumticnios qui soieot äaus tour lire, clos oroatours av
Asnio oommo ^Vag'nor on musiquo; am'it apparaisso vuooro äos Kootlw, äos Koliiller
on simplomout äos ,7van ?-ni ot äos Hoiuo: ^0 vous M'ö quo, tut on tara, ils
s'imposorout an pudlio trauoais; ot, s'it ost uvoossairo quo quolom'un t.ravaillo ü
ir können nicht gerade sagen, daß uns die Ergebnisse der Wahlen
mit dem Gefühl der Befriedigung erfüllten. Selbst nachdem eine
sichere Mehrheit für die Heeresverstärkung gewonnen worden zu
sein scheint, mischt sich in das Gefühl der Freude ein bittrer
Tropfen, die Enttäuschung darüber, daß sich mehrere der alten
Parteien mit ihren inhaltslos gewordnen Formen nochmals über Wasser
gehalten haben, und daß die politische Parteizerstllckelung noch größer ge¬
worden ist.")
Denn was für Parteien und für Parteichen treten auf den Plan! Lasten
wir einmal die fünfzehn Gruppen an uns vorüberziehen, geordnet nach der
Zahl der Mitglieder: 1. Zentrum (96), 2. Konservative (74), 3. National¬
liberale (50), 4. Sozialdemokraten (44), 5. deutsche Reichspartei (24), 6. frei-
sinnige Volkspartei (24). 7. Polen (19), 8. Antisemiten (16), 9. freisinnige
Vereinigung-(12), 10. süddeutsche Volkspartei (11). 11. Wilde (9), 12. Welsen
(7), 13. Elsässer Protestler (7). 14. Elsüsser für die Militärvvrlage (3),
15. Däne (1).
Rechnen wir die nichtdeutschen Elemente ab, so bleibt immer noch genug
Zerklüftung übrig, um einen deutlichen Beweis für den Sondergeist zu geben,
der uns Deutschen ja immer eigen war. Am liebsten möchte jeder Deutsche
seinen eignen Kandidaten als Vertreter seiner ureigensten Wünsche, Gedanken
und Neigungen in den Reichstag schicken. Da dies nun nicht gut geht, so
wird eine möglichst große Zahl von Fraktionen und Fraktiönchen eingerichtet,
um den Sondergelüsteu Lust zu machen. Allerdings dürfte es nicht leicht sein,
diesen Stimmungen immer einen Ausdruck zu geben. Wir wären z. B. in
keiner geringen Verlegenheit, wenn wir — abgesehen von der Stellung der
Parteien zur Militärvorlage und von rein persönlichen Gegensätzen — die
Unterschiede zwischen den drei demokratischen Gruppen: freisinnige Vereinigung,
freisinnige Volkspartei, süddeutsche Volkspartei angeben nud sie etwa einem
Ausländer klar machen sollten. Ebenso sind die Unterschiede zwischen den Na¬
tionalliberalen und der Reichspartei so fein, daß der Zweifel wohl berechtigt
sein dürfte, ob die Spaltung gerechtfertigt werden könnte. Und trotz aller Spe-
zialisirung noch eine Gruppe von Wilden? Ist es etwa die Partei der poli¬
tischen Sonderlinge, die nirgends eine Zuflucht finden können? Da lobe ich
mir die Sozialdemokraten, das Zentrum und die Deutschkonservativen. Da
weiß mau doch, wo und wie. Da liegt die Existenzberechtigung doch
zu Tage.
Wir glaubten bisher, die politische Reife eines Volkes zeige sich darin,
daß die Hauptpunkte von den Nebendingen scharf geschieden würden, und das;
um die verschiedne Auffassung in den Hauptpunkten die Parteigruppirung
stattfinde. Sie tritt ja in der politischen Entwicklung nicht sofort und nicht
immer mit voller Schärfe hervor; aber ein gesunder Entwicklungsprozeß sollte
sie doch in immer hellere Beleuchtung rücken. Ist dies bei uns der Fall?
Es scheint nicht so. Denn eine gesunde Entwicklung wird ans eine Verein¬
fachung, auf einen Zusammenschluß der gleichen Bestandteile führen, nicht auf
eine Zunahme der Zersplitterung und Vereinzelung. In dieser spiegelt sich
vielmehr die ganze Rat- und Zuchtlosigkeit des Volkes in politischen Dingen.
Dies zeigt sich nun auch darin, daß Parteien, die sich überlebt, die ihre
Mission erfüllt haben, nur kraft der Gewohnheit noch weiter erhalten werden.
Reif für den Untergang, leben sie doch noch fort in den überkommuen, nun¬
mehr leer gewordnen Formen. Nur dann, wenn sie einen neuen, lebensvollen
Inhalt gewinnen könnten, würden sie das Recht auf ihr Fortbestehen erwerben.
Es genügt nicht, den unter langjährigen Kämpfen erworbnen Staat mit
seiner Verfassung gegen Angriffe zu verteidigen, sondern ihn lebenskräftig zu
erhalten. Der Umsturzpartei gegenüber, die sich auf den Boden der Republik
stellt, genügt es nicht, zu sagen, wir wollen die bestehende Ordnung schützen,
denn dabei kann sie allmählich immer mehr an Boden verlieren, bis sie ihn
unter sich zusammenstürzen fühlt, fondern es gilt, der bestehenden Ordnung
immer neue Grundlagen zu geben und sie so Tag für Tag neu zu erobern.
Vor allem sollte mau dahin streben, der Umsturzpartei die Spitze abzu¬
brechen, indem man wichtige Punkte ihres Programms zu den eignen macht.
Wo aber zeigte sich in der letzten Bewegung auch nur ein leiser Ansatz hierzu?
„Tod bis aufs Messer" hörte man in der Wahlbewegung den Sozialdemokraten
entgegenschleudern; als „Erbfeinde" wurden sie verdammt und ausgestoßen
aus dem nationalen Verband, sodaß sich die Frage auf die Lippe drängte:
Wie soll das enden?
Mögen die Radaumacher in der Sozialdemokratie noch so sehr wüten und
gegen die bestehende Ordnung der Dinge toben, so müssen doch die Vertreter
dieser Ordnung immer daran denken, daß sie nicht die gleiche Kampfesweise
anwenden dürfen, wenn sie nicht die Kluft unüberbrückbar machen, wenn sie
nicht auf eine gewaltsame Unterdrückung hinarbeiten und den Haß der untern
Stände auf die Spitze treiben wollen. Die Sozialdemokratie ist ein durchaus
notwendiger Pfahl in dem Fleisch unsrer Besitzenden. Ohne diesen Pfahl
ruhten sie auf dem Pfühl. Er ist der Stachel, der sie beständig an die
Pflichten erinnert, die sie gegen die Besitzlosen zu erfüllen haben. Unsre große
soziale Gesetzgebung wäre nicht ins Werk gesetzt worden, wenn nicht die an¬
stürmende Bewegung von unten die behagliche Ruhe oben gestört und der
Tritt der Arbeitermassen, wenn auch noch aus weiter Ferne, ein gelindes
Grauen geweckt hätte.
Mittlerweile sind diese schon näher gerückt, und sie werden noch näher
kommen; denn so muß es kommen, weil die Ordnnngsparteien viel zu sehr die
agitatorische Außenseite der Arbeiterbewegung bekämpfen, ohne sich die berech¬
tigte Innenseite zu Gemüte zu führen. Mit Schlagworten wie vom Teilen,
worüber jeder Sozialdemokrat nur lacht, da das Parteiprogramm damit nicht
getroffen wird, mit Witzen und freisinnigen Volksschriften wird nichts aus¬
gerichtet. Das haben wir gesehen. Der große Hägener Volkstribnn glaubte
die Sozialdemokratie vernichtet zu haben. In Wahrheit ist er ihr Vorfechter,
den jetzt schon sein Schicksal erreicht hätte, wenn die Nationalliberalen in der
Stichwahl den Mut gehabt hätten, unter zwei Übeln das kleinere zu wühlen
und für den Sozialdemokraten Mann für Mann eingetreten wären.
Denn wir hätten es nicht bedauert, wenn jetzt schon die Sozialdemokratie
siebzig oder achtzig Mann stark in den Reichstag eingezogen wäre, aus dem
einfachen Grunde: je stärker die Partei dort vertreten ist, desto gefahrloser
wird sie, und desto mehr wird sie dem, was berechtigt ist in ihrem Programm,
Geltung verschaffen. Eine große Partei, die sich an der Gestaltung der wirt¬
schaftlichen Dinge beteiligt, wird ohne zu wollen von ihrem revolutionären
Geist verlieren, weil ihr die Macht des Gewordnen zu greifbar entgegentritt.
An der Mauer der geschichtlichen Mächte hat sich schon mancher harte Kopf
zerstoßen, der vermeint hatte, die Welt mir nichts dir nichts ans den Angeln
zu heben. Was psychologisch besehen durchaus verfehlt ist in dem Programm
der Sozialdemokraten, die Verkennung der Kraft der heimatlich-vaterländischen
wie der religiösen Gefühle, und die Geringschätzung des individuellen Selb¬
ständigkeitsgefühls gegenüber der Gesamtheit, wird eben als der menschlichen
Natur zuwiderlaufend immer bekämpft werden müssen. Aber warum sollten
Wir nicht zu einem gemäßigten Staatssozialismus übergehen? Das ist schlechter¬
dings nicht einzusehen.
Das Wort wirkt ja heutzutage auf viele noch wie ein Popanz. Das
sind zum Teil unklare Köpfe, die uicht merken, daß wir im Staatssozialismus
bereits drin stecken, und daß es sich nur darum handelt, auf diesem Wege uoch
ein Stück weiter zu gehen. Und andernteils sind es ängstliche Gemüter, denen
ein falscher Begriff von individueller Freiheit im Kopfe herumspukt. Als ob
ich in meiner freien Bewegung gehemmt wäre, wenn ich Münchner Hofbräu
trinke, das der bairische Staat brant, oder wenn ich eine Staatseigarre rauche
oder ein Brötchen aus einer Staatsbäckerei esse!
Wir wären übrigens viel weiter bereits im Staatssozialismus vorgeschritten,
wenn die Nationalliberalen im Jahre 1878 den Mut gehabt hätten, auf den
Vorschlag des Reichskanzlers einzugehen und energisch für Einführung des
Tabaksmonopols einzutreten. Herr von Bennigsen soll aber damals bald auf
deu Rücken gefallen sein ob der kühnen Idee Bismarcks, der dann gezwungen
war, sich mit dem Zentrum zu verständigen, um anderweitig Geld zu schaffen.
Die Partei, die sich national nennt, hatte damals sehr wenig Recht dazu, so
wenig, wie kürzlich bei dem bekannten Angebot von zehntausend Rekruten.
Eine Partei, die wirtschaftlich so uneins ist, in der die individualistisch¬
egoistische neben der sozialistisch-humanen Denkweise herrscht und diesen Gegen¬
satz nur mühsam verkleistert, kann in der That heute unserm nationalen Leben
nur gelegentlich einen Dienst leisten.
Dauernd kann es nur eine Partei, die sich rückhaltlos auf den Boden
des Staatssozialismus stellt und der Sozialdemokratie ihre gefährlichste Waffe
aus der Hand nimmt. Das wäre eine Partei mit einem positiven Programm,
nach dem sich viele sehnen, die auf dem Boden unsrer Verfassung stehen, aber
die Nötigung begreifen, unserm nationalen Staat eine festere Grundlage zu
geben und ihn reicher auszustatten, nicht nnr für Schutz und Trutz, sondern
auch für die Werke des Friedens.
Es ist zwar bequem, der Neichsregierung die Pflicht zuzuschieben, für die
Beschaffung der nötigen Mittel die nötigen Vorschläge auszuarbeiten, um sie
dann kritisch zu prüfen; höher faßt jedenfalls eine Partei ihre Aufgabe, wenn
sie nicht auf solche Vorschläge wartet, sondern ihrerseits ein Programm aus¬
arbeitet, vertritt, verteidigt und Anhänger dafür wirbt, dessen Verwirklichung
sich als eine mächtige Stütze unsers nationalen Kaiserstaats erweisen und zu¬
gleich der revolutionären Partei den Boden entziehen würde.
Wir hoffen immer noch uns die Entstehung einer solchen Partei, einer
sozialistischen auf monarchischen Boden, einer Partei, die auf wirtschaftlich¬
finanziellem Gebiet mit aller Flickarbeit, der Hervorsuchuug neuer Steuer-
vbjektcheu u. s. w., bricht, planvoll für das Prinzip des Staatssozialismus
eintritt und für dessen allmähliche Verwirklichung arbeitet. Die Durchführung
des als richtig erkannten Prinzips richtet sich nach dem jeweiligen Bedürfnis.
Wollte man für jetzt die Verstaatlichung des Tabak- und des Getreidehandels
in Angriff nehmen, so würde man die Mittel reichlich schaffen, die nötig sind,
nosfen und nicht minder des Laienpublikums wollen wir deshalb hier einen
kurzen Überblick über den österreichischen Entwurf geben.
Die dem Entwurf zu Grunde liegende Organisation ist der unsrigen ähn¬
lich. Auch hier finden wir eine vierfache Gliederung der Gerichte. Es sollen
bestehen: Bezirksgerichte, in denen Einzelrichter urteilen (die also unsern Amts¬
gerichten entsprechen), Land- und Kreisgerichte als „Gerichtshöfe erster In¬
stanz" (entsprechend unsern Landgerichten), Oberlandesgerichte und ein oberster
Gerichtshof. Ähnlich wie bei uns, soll bei den Bezirksgerichten kein Anwalts¬
zwang stattfinden, wohl aber bei den höhern Gerichten. Nun aber kommt ein
gewaltiger Unterschied. Die sachliche Zuständigkeit der Bezirksgerichte geht bis
zu tausend Gulden, und insoweit sind also alle Sachen in erster Instanz vom
Anwaltszwange frei. (Bei uns geht die Zuständigkeit der Amtsgerichte und
die damit verbundne Freiheit vom Anwaltszwange bloß bis zu dreihundert
Mark, also kaum den sechsten Teil jener Summe.) Gegen jedes Urteil erster
Instanz findet die Berufung an das höhere Gericht, gegen jedes Urteil in der
Berufungsinstanz (auch das der Landgerichte) die Revision an den obersten
Gerichtshof statt. Nur in Bagatellsachen — Sachen bis zu fünfzig Gulden —
soll diese Revision ausgeschlossen sein. (Der Revision ist also, im Vergleich
mit der bei uns statthaften, eine größere Ausdehnung gegeben. Wir werden
sehen, mit welchen Mitteln das durchführbar gemacht werden soll.)
Wie unsrer Prozeßordnung liegt auch dem österreichischen Entwurf das
Prinzip der „Mündlichkeit" zu Grunde. Aber wie anders ist es dort aufge¬
faßt! Die dem Entwurf beigefügte» „erläuternden Bemerkungen" äußern sich
über die bei dem Entwurf maßgebend gewesenen Grundsätze, wie folgt:
Das im EntWurfe vorgeschlagne Verfahren ist ein öffentliches und mündliches,
in welchem das richterliche Urteil nicht mehr durch bindende Beweisregeln einge¬
engt wird; es entspricht also insofern zweifellos weitverbreiteten und oft gehörten
Wünschen und Erwartungen. Die Kraft und Ausschließlichkeit, mit der gerade
jene drei Eigenschaften betont werden, könnte zu dem Glauben verleiten, in
ihnen liege der Kern der Prozeßreform. Eine solche Meinung wäre irrig. Auch
ein öffentliches mündliches Verfahren kann wieder gut oder schlecht sein. Und bei
sonst zweckwidriger oder doch weniger zweckmäßiger Einrichtung desselben wäre es
leicht möglich, daß ungeachtet der Öffentlichkeit und Mündlichkeit des Prozesses und
ungeachtet der freien Beweisbeurteiluug in kurzem sich das meiste von dem wieder
einstellt, worüber jetzt mit Recht geklagt wird: namentlich die lauge Dauer und
die bedeutenden Kosten der Prozesse. Das übermäßige Hervorheben gerade jener
Eigenschaften hängt mit einer andern Erscheinung zusammen, die mit zu beachten
für das Glucken der Prozeßreform von größter Wichtigkeit ist. Man hat geraume
Zeit die Bedeutung gewisser Prozeßformen stark überschätzt. Mau legte ihnen einen
selbständigen Wert bei, den sie nicht besitzen, und ließ sich in diesem Glauben bei
der Ordnung des Verfahrens in erster Linie von der Logik dieser Formen leiten.
So erging es beispielsweise vor allem der Mündlichkeit. Ihr Nutzen für das
gerichtliche Verfahren kann nicht hoch genug angeschlagen werden. Aber diesen
Nutzen gewährt die Mündlichkeit nicht an und für sich, souderu nur, wenn und
soweit sie die Unmittelbarkeit des Verfahrens ermöglicht und verbürgt. Selbst in
letzterer Funktion giebt es jedoch für den Nutzen der Meerbuchten Grenzen. An
ihr festzuhalten, kann uuter Umständen einer oder beiden Parteien schwere Opfer
auferlegen. Der Wert der Mündlichkeit schwindet dann, so wie der Gegenwert
dieser Opfer ihn zu überzusteigen beginnt. Der übertriebne Kultus der Form läßt
solches Abwägen nicht gelten; er macht das Müudlichkeitserforderuis zu etwas Ab¬
soluten, als ob die Mündlichkeit schon kraft ihres Daseins die größten Vorteile
bieten möchte; ihr muß sich alles unterordnen. Es kann dann z. B. — und diese
Beispiele sind durchweg neuern Prozeßordnungen entnommen — auch der Inhalt
einer Urkunde nur durch mündlichen Vortrag der Partei zur Kenntnis des Gerichts
gebracht werden, das Ausbleiben der Partei auch bei einem der spätern Termine
ist vou den härtesten Folgen für dieselbe begleitet, der Rechtsstreit muß in der
Berufuugsiustanz ganz vou neuem verhandelt werden, ja der Mündlichkeit wegen
wird sogar das Rechtsmittelverfahren den gewöhnlichen Kontnmazialgrundsützeu
unterworfen u. s. w. Das ist kaum der richtige Weg, um zu einem praktischen,
fich gut bewährenden, die Parteien zufriedenstellender Verfahren zu gelangen. Durch
solche Übertreibung des Mündlichkeitsreqnisits würden sich die Anforderungen um
Zeit und Thätigkeit der Parteien im Vergleiche zur Gegenwart beträchtlich steigern.
Während jetzt die Last und Gefahr der Prozeßführung mit dem Fortschreiten des
Prozesses allmählich geringer wird, nimmt im Gegenteile bei so strenger Münd-
lichkeitskvnsequenz die Gefahr und Verantwortung für die Partei immer mehr zu,
es steht immer mehr auf dem Spiele; selbst im Bernfnngsverfahren kann sie noch
durch ein Ausbleiben von der Tagsatzung um deu besten Teil des Prozeßerfvlges
kommen. Bisher war es hinreichend, wenn die Parteien, was für den Prozeß
wichtig ist, einmal vorbringen; damit hatten sie die Sicherheit gewonnen, es werde
vom Richter beachtet werden. Jener Rigorismus der Mündlichkeit begnügt sich
damit nicht; wenn der Rechtsstreit in mehrere Verhandlungen und Tagsatzungen
zerfällt, giebt das Vordringen beim frühern Termine noch kein unbedingtes An¬
recht darauf, das Vorgebrachte bei der Urteilsfällnug berücksichtigt zu sehen.
Wenn nicht die Gesetzgebung, so schätzen doch sicher die Parteien die Prozeß-
einrichtungeu vorzugsweise vom Jnteresscngesichtspnukte ab. Finden sie dabei nun,
daß der mündliche Prozeß ihnen Verpflichtungen auferlegt, die durch keine ent¬
sprechenden Vorteile aufgewogen werden, daß durch die Mündlichkeit die Rechts¬
verfolgung vielleicht gar noch schwieriger, verantwortungsvoller, kompliziuter wird,
als sie bisher gewesen, denn würden sie wohl nicht anstehen, die Prozeßreform als
mißlungen zu bezeichnen, mag anch das Müudlichkeitsprinzip oder irgend ein andres
Formdogma im neuen Prozesse trefflich durchgeführt sein. Da ein neues Zivil¬
prozeßrecht wenn uicht allein, so doch hauptsächlich für die Rechtsuchenden geschaffen
wird, dürfte auch die Gesetzgebung alle Ursache haben, von vornherein bei der An¬
lage des neues Prozesses eben denselben Maßstab anzuwenden, den die Parteien
sofort an denselben anlegen werden: den der Zweckmäßigkeit, der Praltiknbilität.
Das ist auch die für die Vorschläge des Entwurfs bestimmende Auffassung; gerade
durch das stärkere Hervortreten des Nützlichkeitsgesichtspuukts dürfte sich derselbe
von vielen seiner Vorläufer unterscheiden. Er geht von dem Gedanken aus, daß
die Reformarbeit umsomehr Erfolg verheißt, um so dauernder befriedigen wird, je
ernster gegenüber allen einzelnen Einrichtungen und Instituten die Zweckmäßigkeits¬
frage aufgeworfen wird, je strenger und vorurteilsloser die Prüfung ist, und je
mehr dabei Zweckmäßigkeit und Nützlichkeit namentlich vom Parteienstandpunkte
beurteilt werden. Letzteres deshalb, weil die gerichtliche Rechtsverfolgung in ge-
wissen Sinne nur eine Art der Rechtsausübung, nur eines der Mittel zur Er-
langung des Rechtsgeuusses ist und daher so einzurichten sein wird, daß sie den
zu erzielenden Genuß thunlichst wenig schmälert und immer im richtigen Verhält¬
nisse zum konkreten Werte des Rechtsgenusses bleibt/")
Diese Darlegung bildet den entschiedensten Gegensatz zu der Prinzipien¬
reiterei, die beim Aufbau der deutschen Prozeßordnung und insbesondre für
die Behandlung der Mündlichkeit darin die entscheidende Rolle gespielt hat.
Im österreichischen EntWurfe ist die Mündlichkeit ein den verständigen Zwecken
des Prozesses dienendes wertvolles Element. Im deutschen Gesetze ist sie be¬
handelt, als ob sie Selbstzweck wäre, und damit wird sie zum Unsinn.
Den gedachten Worten der Begründung entspricht auch die ganze Ge¬
staltung des Prozesses. Der Richter ist hier nicht ein bloßer Pagode, der
vor sich mündlich verhandeln läßt und dann sein Urteil von sich giebt, im
übrigen aber sich um nichts kümmert. Vielmehr baut sich der Prozeß von
vornherein unter lebendiger Mitwirkung des Richters auf; und überall, wo es
zur Abkürzung oder Vereinfachung der Sache dient, ist der Richter berufen,
einzugreifen und die Sache in die Hand zu nehmen. Die Mündlichkeit wird,
im Hinblick daraus, daß sie einen mühevollen und für die Parteien kostspieligen
Bestandteil des Prozesses bildet, nur da verwendet, wo sie wirklich für die
Sache von Wert ist. Wir legen der nachfolgenden Darstellung das Verfahren
vor den Kollegialgerichten zu Grunde, dein übrigens auch das Verfahren vor
den Bezirksgerichten, nur unter größerer Vereinfachung, entspricht.
Die Klage wird bei dem Gericht eingereicht. Wegen objektiver Unzu¬
ständigkeit des Gerichts oder wegen mangelnder Prozeßfühigkeit der Partei
kann sie das Gericht sofort zurückweisen. Tritt das nicht ein, so wird vom
Vorsitzenden des Gerichts eine Tagsatzung anberaumt. Diese „erste Tagscitzuug"
wird vor einem einzelnen beauftragten Richter gehalten; der Verklagte braucht
dabei noch keinen Anwalt anzunehmen (wodurch die gütliche Erledigung der
Sache sehr erleichtert wird). Die erste Tagsatzung ist dazu bestimmt, vor allem die
Güte zu versuchen, auch zu scheu, ob sich nicht die Sache durch Verzicht, Ge¬
ständnis oder auch durch Ausbleiben des Verklagten (in welchem Falle sofort
Versäumnisurteil beantragt werden kann) erledigt. Außerdem ist diese Tag¬
satzung dazu bestimmt, daß gewisse Einreden, die sonst die Sache aufhalte» können,
(die Einreden der Unzuständigkeit des Gerichts, der Nechtsanhängigkeit, der
entschiednen Sache, der mangelnden Sicherheit für die Prozeßkosten) schon jetzt
vom Verklagten angemeldet und womöglich vorweg erledigt werden. Eignet
sich die Sache zur weiter» Verhandlung, so wird dem Verklagten die Er¬
stattung einer schriftlichen Klagbeantwortung binnen bestimmter Frist aufgegeben.
Alle Zustellungen besorgt das Gericht von Amts wegen (ein ungeheurer
Vorzug, wenn nur auf die argen Mißstände hinblickt, die bei uns aus der
„Zustellung durch die Parteien" hervorgegangen sind). Nur Advokaten können
unter einander auch Zustellungen von Hand zu Hand gegen Bescheinigung
vornehmen.
Reicht die schriftliche Klagbeantwortung nicht aus, um die Sache zur
mündlichen Verhandlung zu bringen, so kann in gewissen Fällen, wo ein be¬
sonders schwieriger Streitstoff vorliegt, der Vorsitzende nach Einholung einer
Gerichtsentscheidung ein „vorbereitendes Verfahren" anordnen. Dieses Ver¬
fahren spielt sich vor einem beauftragten Richter ab, der dann den Streitstoff
im einzelnen näher erörtert und feststellt. Die Parteien müssen dabei von
Anwälten vertreten sein. Ein solches Verfahren soll namentlich auch zur vor¬
bereitenden Erhebung vou Beweisen, die nicht Wohl bei der mündlichen Ver¬
handlung vor dem erkennenden Gericht erhoben werden können, stattfinden.
Liegt kein Grund vor, ein vorbereitendes Verfahren anzuordnen, oder ist
dieses beendet, so wird Termin zur mündlichen Hauptverhandlung anberaumt.
In der bis zu dieser laufenden Zwischenzeit können die Parteien noch weitere
Schriftsätze zur Geltendmachung ihrer Angriffs- und Verteidigungsmittel (Re¬
plik und Duplik) erstatten.
Das Gericht geht nicht (wie bei uns) blindlings in die mündliche Ver¬
handlung hinein, sondern es bereitet sie sorgfältig vor. Die Akten sind nicht
(wie bei uns) ein Ding, dessen Benutzung der Willkür des Richters überlassen
ist, sondern sie haben dem Richter zur Grundlage seiner vorbereitenden Thätig¬
keit zu dienen. Ziel der Vorbereitung ist, den ganzen Streitstoff womöglich
schon in der ersten Hauptverhandlung dem Gericht vor Augen zu führen und
es dadurch möglich zu machen, daß die Sache in einem einzigen Termin er¬
ledigt wird. Zu diesem Zwecke sind namentlich auch Beweismittel, deren Er¬
hebung voraussichtlich nötig wird, schon für diesen Termin zur Stelle zu
schaffen. Die mündliche Verhandlung umsaßt dann zugleich die Beweisauf¬
nahme und die Erörterung ihrer Ergebnisse. (Die mündliche Verhandlung ge¬
winnt dadurch eine große Ähnlichkeit mit der Hauptverhandlung in Straf¬
sachen, die ja auch das verständige Ziel verfolgt, den gesamten Streitstoff
vorzuführen und die Sache in einer einzigen Verhandlung zu erledigen.)
Hat ein vorbereitendes Verfahren stattgefunden, so werden dessen Ergeb¬
nisse von einem Mitgliede des Gerichts bei der Verhandlung nach den Akten
vorgetragen. Dasselbe gilt, wenn später eine Beweisaufnahme nicht vor dem
erkennenden Gerichte stattgefunden hat.
Das von den Parteien mündlich Verhandelte zerfließt nicht (wie bei uns)
in der Luft, sondern es wird seinein wesentlichen Inhalte nach durch das Pro¬
tokoll festgehalten. Dieses Protokoll diktirt der Vorsitzende gleich nach der
Verhandlung in Gegenwart der Parteien dem Schriftführer. Es kann dabei
auf die Schriftsätze und sonstigen Aktenstücke Bezug genommen werden. Auch
kann, wenn bei der mündlichen Verhandlung etwas vorkommt, was noch nicht
in den Schriften enthalten ist, der Vorsitzende von den Parteien eine sofortige
kurze Niederschrift des Vorgebrachten verlangen, die dann dem Protokoll bei¬
gefügt wird. (Es ist zu hoffen, daß durch diese Vorschrift mittelbar auch die
Erstattung von Replik und Duplik, da, wo sie nötig ist, erzielt werden wird;
deren völlige Freilassung sonst Bedenken erregen könnte. Haben die Parteien
ordnungsmäßig Schriftsätze erstattet, so wird das Protokoll regelmüßig lauten
können: „Es wurde übereinstimmend mit den Schriftsätzen verhandelt.")
Das aufgenommue Protokoll bildet dann auch für den weitern Verlauf
des Prozesses die Grundlage. (Der Prozeß braucht also nicht, wie bei uns,
mit jeder neuen Verhandlung wieder von vorn anzufangen.) Das Gericht hat
auf den Inhalt der Alten von Amts wegen Rücksicht zu nehmen. Erscheint
eine Partei bei einer spätern Verhandlung nicht, so kommt ihr trotzdem das
bei der frühern Verhandlung durch das Protokoll festgestellte zu statten. (Die
Parteien haben also nicht, wie bei uns, bei jedem Ausbleiben in einem Termin
immer wieder den Verlust des ganzen Prozesses zu gewärtigen.)
Um Verschleppung der anhängigen Prozesse zu verhindern, sind über
Terminsverlegnngen (Tagsatzungserstreckungen) in den ^ 145 fig. eingehende
Bestimmungen getroffen.
Die Berufung wird durch Einreichung einer Berusungsschrift bei dem Ge¬
richte erster Instanz erhoben. An Orten, wo nicht wenigstens zwei Advokaten
ihren Sitz haben, kann die Berufnngsschrift durch eine Erklärung zu Protokoll
ersetzt werden, die keiner Mitwirkung eines Advokaten bedarf. Die Berufungs-
schrift wird dem Gegner mitgeteilt, dem binnen bestimmter Frist eine Gegen¬
erklärung zusteht. Dann sendet das Gericht erster Instanz die Akten an das
Berufungsgericht ein.
Erweist sich die Berufung aus formellen Gründen als unzulässig, so er¬
kennt darüber das Berufungsgericht sofort durch Beschluß ohne mündliche Ver¬
handlung. Dasselbe geschieht, wenn das nngefochtne Urteil aus formellen
Gründen als „nichtig" aufzuheben und die Sache an die Vorinstanz zurück¬
zuweisen ist.
Andernfalls wird Termin zur mündlichen Verhandlung anberaumt, dieser
auch in gleicher Weise, wie es für die mündliche Verhandlung erster Instanz
geboten ist, vorbereitet. Im Termin hat ein Gerichtsmitglied den Sachverhalt
und den bisherigen Gang des Prozesses nach den Akten vorzutragen. Dann
werden die Parteien mit ihren Vorträgen gehört. Bleibt eine der Parteien
im Termin aus, so kommt ihr doch der Akteninhalt zu gute. Auch wenn beide
Parteien ausbleibe», wird uach den Akten entschieden. Die Parteien können
aber auch ans die mündliche Verhandlung ganz verzichten. Das Gericht ent¬
scheidet dann nach den Akten ohne öffentliche Verhandlung.
Revision an den höchsten Gerichtshof kann gegen ein Urteil zweiter In¬
stanz erhoben werden, das wegen Formmangels nichtig ist, oder das auf einer
unrichtigen rechtlichen Beurteilung der Sache beruht. Wegen des letzten Grundes
findet jedoch Revision nur dann statt, wenn keine gleichförmigen Urteile der
beiden Vorinstanzen vorliegen. Das Revisionsgericht entscheidet in geheimer
Sitzung ohne mündliche Verhandlung. Es kann jedoch, wo es im einzelnen
Falle erforderlich erscheint, eine mündliche Verhandlung anordnen. (Diese der
Ausdehnung der Revision und ihrer Behandlung gesetzten Schranken ermög¬
lichen es, die Revision auch wider die in der Berufungsinstanz ergcmgnen Ur¬
teile der Landgerichte zuzulassen.)
Das Revisionsgericht hat in der Regel in der Sache selbst zu entscheiden.
Nur wenn durch UnVollständigkeit der Verhandlung eine neue Verhandlung
notwendig wird, hat es die Sache an die Vorinstanz zurückzuweisen. (In
Deutschland bildet die beim Reichsgericht in der großen Mehrzahl der Fälle
eintretende RückVerweisung der Sache an die Vorinstanz, wodurch die Prozesse
unendlich verschleppt und verteuert werden, einen schweren Schaden der Justiz.)
Wegen einer frivol eingebrachten Revision kann das Gericht gegen den Revisions¬
kläger und nach Umständen gegen dessen Advokaten auf eine Mutwillensstrafe
(bis zu dreihundert Gulden) erkennen.
Aus der Vollziehungsinstanz möge noch folgendes hier erwähnt werden.
Der Gesetzentwurf über das Exekutionsverfahren bestimmt: „Zur Vornahme
von Exekutionshandlungen können bei einzelnen Gerichten besondre Vollstreckungs¬
beamte bestellt werden. Bei den Gerichten, wo solche nicht bestellt sind, er¬
folgt die Vornahme von Exekutionshandlungen durch Gerichtsdiener und durch
Beamte der Gerichtskanzlei." Wie sich aus den erläuternden Bemerkungen er¬
giebt, wird mit diesen Bestimmungen das Institut der selbständigen Gerichts¬
vollzieher „nach den damit inzwischen in andern Staaten gemachten Erfahrungen"
entschieden abgelehnt. Die Vollstrcckungsorgane sollen Beamte sein, die nicht
(wie bei uns) „im Auftrage der Partei," sondern im Auftrage und unter Lei¬
tung des Gerichts das Urteil vollziehen. Damit wird der Zwangsvollstreckung
die ihrer innersten Natur entsprechende Stellung angewiesen. Denn es ist
lächerlich, den Vollziehungsbeamten als im Auftrage der Partei handelnd an¬
zusehen, da die Partei die Handlung, mit der sie ihn angeblich beauftragt,
gar nicht selbst vornehmen kann.
Soweit unser Überblick. Es versteht sich von selbst, daß wir hier nicht
auf die Einzelheiten des Entwurfs eingehen können. In diesen mag sich ja
manches finden, wogegen sich Bedenken erheben lassen.*) Betrachten wir aber
den Entwurf im ganzen, so können wir nicht anders sagen, als daß wir den
besten Eindruck davon gewonnen haben; vor allem durch das sichtlich darin
bethätigte Streben, etwas Vernünftiges zu schaffen und deshalb die aufzu¬
wendenden Mittel stets in ein angemessenes Verhältnis zu dem zu erreichenden
Zweck zu setzen. Hier begegnen wir endlich einmal einem Prozeßgesetz, das,
statt von einem öden Doktrinarismus, von dem lebendigen Bewußtsein erfüllt
ist, daß der Prozeß um der Parteien willen da ist, und daß es in deren Inter¬
esse liegt, Dinge, die sich einfach und mit geringen Kosten abthun lassen, auch
in dieser Weise zu erledigen. Wir glauben auch, daß der Entwurf die Auf¬
gabe, die er sich in so wohlwollendem Sinne gestellt, im wesentlichen glücklich
gelöst but; und wir wünschen nur, daß er auch den weitern Weg, den er noch
zu durchlaufen haben wird, glücklich zurücklegen möge. Schwierigkeiten wird
er freilich genug finden. Denn die Erfahrung lehrt, daß jede Vereinfachung
des Prozesses bei einem Teile des Juristenstandes dem leidenschaftlichsten Wider¬
stande begegnet.
Für uns Deutsche aber hat dieser neue Entwurf die Bedeutung, daß er
die bitterste Kritik bildet gegenüber dem elenden Verfahren, das die Weisheit
des Ministers Leonhardt und seiner Helfer dem deutschen Reiche beschieden hat.
Halte» Sie sich immer gegenwärtig, daß
der nationale Geist mehr durch Charakter
als durch Wissen gewonnen wird. Die Ge¬
lehrten sind nicht immer die sichersten Stützen
Bismarck des Staates.
om erlebtem wir eigentlich unsern Jungen die unmenschliche
Menge des verschiedensten Zeugs ein? Die Frage beschäftigt
gegenwärtig mehr als einen. Nun ist der moderne Mensch in
einer sehr glücklichen Lage: er hat eine getreue Begleiterin, die
ihm eine bündige Antwort auf alle Fragen giebt, die man im
Mittelalter und im Altertum durch eignes Denken lösen mußte. Diese Wohl¬
thäterin der modernen Menschheit ist die Presse. Ich greife also zu meinem
Zeitungsblatt — einige nennen es ein Weltblatt, andre ein Halbweltblatt;
UM unser Heer und unsre Marine zu stärken. Und wahrscheinlich dürfte noch
genug übrig bleiben, um auch den Werken des Friedens ein gut Teil zuwenden
zu können. Nehmen wir dann eine progressive Einkommensteuer und eine pro¬
gressive Erbschaftssteuer bis zu 25 Prozent hinzu, so würde man wohl auf
Jahre hinaus sichre finanzielle Grundlagen geschaffen haben.
Dazu gehört freilich, daß die rein individualistische Denkweise, die seit
dem vorigen Jahrhundert nicht nnr das wirtschaftliche Gebiet beherrschte,
sondern auch die gesamte Denkmeise durchsetzte, sodaß die Veziehuugen zur Ge¬
samtheit stark in den Hintergrund traten, auf ihr rechtes Maß zurückgeführt
werde. Hüten wir uns nur, daß wir nach der Herrschaft des Individualismus
nicht dem andern Extrem anheimfallen, einem unbedingten Sozialismus, wie
ihn die sozialdemokratische Partei vertritt. Beide Betrachtungsweisen brauchen
nicht Gegensätze zu bilden, sondern können sich recht wohl vereinigen lassen.
Für jetzt haben wir nur zu wünschen, daß die sozialistische Denkrichtung
vordringe. Ihre Herrschaft wird zur Errichtung einer sozialistischen Partei
sühren, die allein die Sozialdemokratie auflösen kann. Mit den demagogischen
Elementen wird die Gesellschaft schon fertig werden.
s ist nun vierzehn Jahre her, daß bei uns die jetzt bestehende
Zivilprozeßordnung, angefertigt nach dem Muster der franzö¬
sischen, in Verbindung mit einer neuen Organisation der Ge¬
richte eingeführt wurde. Man hat seitdem über die Wirkungen
dieses Gesetzes reiche Erfahrungen machen können, und es hat
auch nicht ganz um öffentlicher Besprechung dieser Erfahrungen gefehlt. Gegen¬
wärtig ist nun in unserm deutschen Nachbarreiche, in Österreich, dem Abge¬
ordnetenhause der Entwurf einer Zivilprozeßordnung vorgelegt worden, bei
dem die bei uns gemachten Erfahrungen benutzt werden konnten und augen¬
scheinlich benutzt worden sind. Es ist interessant, zu sehen, in welcher Weise
dies dort geschehen ist. Man hat dabei offenbar einen viel unbefangnen Blick
gehabt, als bei uns, wo es noch heute viele Juristen giebt, die von der
ersten Begeisterung, mit der die deutsche Zivilprozeßordnung aufgenommen
wurde, nicht loskommen können. Zur Belehrung unsrer deutschen Fachge-
halten wir uns mit so feinen Unterscheidungen nicht auf — und finde da die
Antwort in folgender Form: „Was die Schule nicht leisten kann, sollte man
füglich nicht von ihr verlangen, weil man auf diese Weise ihr auch die Er¬
reichung dessen gefährdet, wozu sie imstande ist, nümlich dem Willen und dem
Wissen ihrer Zöglinge diejenige Bildung zu gewähren, durch welche sie be
fähige werden, demnächst als brauchbare Mitarbeiter an die schweren Aufgaben
der Zeit heranzutreten." Wenn ich nun wüßte, worin die Aufgaben der schweren
Zeit, nein, die schweren Ausgaben der Zeit — doch das ist ja eins! — be¬
stehen, und wie Wille und Wissen beschaffen sein müssen, um diese Aufgaben
zu lösen, so wäre ich vollkommen unterrichtet. Doch das sagt meine Wohl¬
thäterin nicht, wie es denn ihr einziger Fehler ist, das beste von dem, was
sie weiß, zu verschweige«. Ich muß also wohl oder übel an das unbequeme
Geschüft eignen Nachdenkens. Wissen und Wille sollen gebildet werdeu. Gut;
oder sagen wir lieber: Verstand und Charakter. Von der Ausbildung des
Körpers sehen wir ganz ab. Wie bildet man nun den Verstand? Nach der
Form, indem man ihn zu richtigem Denken erzieht; nach dem Inhalt, indem
man ihm von allen nützlichen Kenntnissen eine solche Auswahl übermittelt,
daß er die Fühlung mit der gesamten Geistesarbeit seiner Zeit auch dann nicht
verliert, wenn er später für einen bestimmten Beruf ausgebildet wird. Treffen
wir die Auswahl so, daß wir die Kenntnisse einteilen in internationale, an
denen alle Kulturvölker mehr oder minder mitgearbeitet haben, und in natio¬
nale, die aus der Gesamtheit eines Volkes hervorgegangen sind. Von den
internationalen wühlen wir für unsre Zwecke die Geschichte der bildenden Künste
und der Tonkunst und die Naturwissenschaften; von den nationalen genügen
uns die Sprachen der Völker, mit denen wir unmittelbaren Verkehr pflegen
müssen, sei es auf geistigem, sei es auf praktischem Gebiet.
So erhalten wir das Schema:
Es fehlt noch die Krone des Ganzen: die Philosophie als Wissenschaft von
dem, was die andern Wissenschaften voraussetzen. Da wir eine solche Wissen¬
schaft noch nicht haben, müssen wir auf die Bekrönung verzichten.")
Dieses Schema ist mit dem Mangel jeder menschlichen Einteilung be¬
haftet: es zieht feste Grenzen, die die Natur nicht kennt. Aber das schadet
nichts. Hat es doch andrerseits den Vorzug, eine feste Grundlage darzubieten,
von der ans man den Bildungswert der einzelnen Unterrichtsfächer beurteile«
kann. Und das ist immerhin etwas wert in einer Zeit, die den Bildungs-
stoff nach dem Grundsatz auswählt: Wer vieles bringt, wird manchem etwas
bringen. Ich wenigstens wüßte nicht, welcher andre Grundsatz dazu geführt
haben könnte, beispielsweise die Zinseszins- und Rentenrechnuug in den Lehr¬
plan der höhern Schulen aufzunehmen. Ist es wirklich ein notwendiges Ele¬
ment der Bildung, daß der Schüler imstande sei, auszurechnen, zu welchem
Kapital ein Pfennig, bei Christi Geburt auf Zinseszins gelegt, heute ange¬
wachsen wäre? Ich dächte, solche Spielereien aus der Unterhaltungsecke der
Familienjournale Hütten im ernsten Unterricht nichts zu suchen. Die Renten¬
rechnung ist eine Anwendung der allgemeinen Zinsrechnung, um die jeder Be¬
scheid wissen muß, auf besondre Fülle, eine Anwendung, die die Fassungskraft
des Schülers allerdings nicht übersteigt. Aber solcher Anwendungen allge¬
meiner Lehren auf besondre Fülle giebt es recht viele; hat man sich auf diese
beschränkt, weil vielleicht uuter den Schülern einer sitzt, der später Beamter
einer Lebensversicherung werden möchte? Das wäre dann freilich ein zu¬
reichender Grund, und in dieser weisen Beschränkung hätte sich wieder einmal
der „Meister" gezeigt. Übrigens ist die weise Beschränkung nicht immer so
harmlos, daß sie zu bloßer Zeitvergeudung führt. Da spielt auf allen höhern
Schulen in der Mathematik die Rechnung mit Logarithmen eine hervorragende
Rolle. Der Schüler lernt ja auch ganz erfolgreich damit rechnen, aber er
lernt es mechanisch. Nun wird freilich auch das Multipliziren schließlich rein
mechanisch betrieben. Doch das unterliegt wohl keinem Zweifel: ein vernünf¬
tiger Unterricht kann auch den mittelmüßig begabten Schüler soweit bringen,
daß er über die einzelnen Operationen des Multiplizirens jederzeit Rechenschaft
geben kann. Ist das gleiche Ziel in der Rechnung mit Logarithmen zu er¬
reichen? Nein, antwortet der gesunde Menschenverstand. Also hat diese Rech¬
nungsart auf der Schule nichts zu suchen, ist die weitere Folgerung. In der
That, sie hätte ganz gut dort wegbleiben können, denn im spätern Leben braucht
sie nur der Mathematiker von Beruf. Aber nein, unsre Büreaukraten wollten
mit aller Gewalt die Logarithmen im Schulunterricht haben, und sie verfielen
auf eine Auskunft von wahrhaft verblüffenden Tiefsinn. Von Anfang bis zu
Ende konnte die Lehre von den Logarithmen auf der Mittelstufe nicht vor¬
getragen werden, das sahen sie ein. Die ganze Sache der Oberstufe zuschieben,
das ging auch nicht, da diese dann zu schwer belastet wurde. Also — lehrt
man auf der Mittelstufe das Ende und holt den Anfang auf der Oberstufe
nach, oder auch nicht. Man bringt dem sekundärer bei, was ein Loga¬
rithmus ist, läßt ihn ein paar Regeln aus der Erklärung ableiten und giebt
ihm dann ein dickes Buch in die Hand, worin lauter Zahlen stehen. „Siehst
du, mein Sohn — sagt der Lehrer —, hier findest du zu jeder Zahl den Loga¬
rithmus und zu jedem Logarithmus die Zahl. Du hast zwar keine Ahnung,
wie der Verfasser dieses schönen Buches zu den Logarithmen gekommen ist,
denn wollte ich dir das auseinandersetzen, so würdest du in deinem jugend¬
lichen Unverstand das nicht begreifen. Aber ich, dein Lehrer, sage dir, das
sind die richtigen Logarithmen. Du wirst das also glauben, widrigenfalls
du so lange nachsitzen wirst, bis dein Glaube die nötige Kraft erlangt hat."
Und dem Primaner wird eines schönen Tages eröffnet: „Wir werden jetzt die
Funktion in eine unendliche Reihe entwickeln. Wundere dich nicht, mein
Sohn, wie uns diese unendliche Reihe hier hereinschneit. Es wird dir gehen
wie Saul, der ausging, seines Vaters Eselin zu suchen, und der ein Königreich
fand. Du gehst aus, eine unendliche Reihe zu entwickeln, und wirst plötzlich
die Logarithmen finden, mit denen du nun schon so lange und so willig ge¬
rechnet hast." Nicht wahr, diese Pädagogik hat Methode? Und wie herrlich
muß sich diese Methode nicht erst bewähren, wenn der Tragikomödie zweiter
Teil, der an das Ende den Anfang knüpft, gar nicht aufgeführt wird, wie es
meines Wissens auf den meisten Gymnasien geschieht.
Wenn eine Wissenschaft nach einer Methode gelehrt wird, die ihrem
Wesen schnurstracks zuwiderläuft, so kann sie in dem unentwickelten Verstände
natürlich mir Unheil anrichten. Wollen wir nun eine vernünftige Methode
für den Unterricht finden, so müssen wir auf das Wesen der Mathematik
etwas näher eingehen. Stellen wir aus demselben festen Stoff verschiedne
Körper her von gleichem Gewicht, gleicher Oberfläche und gleicher Farbe, so
unterscheiden wir an diesen Körpern, abgesehen von Geruch oder Geschmack,
noch eine Eigenschaft: ihre Form. Diese Eigenschaft allein ist für die Mathe¬
matik von Bedeutung. Aus der Betrachtung verschiedner Formen gewinnt
der menschliche Verstand den Begriff der Nanmgröße, den einzigen, den die
anschauende Mathematik stillschweigend voraussetzt. Gesetzt nun, wir Hütten
jene Körper von gleicher Schwere, Oberfläche und Farbe auch von gleicher
Form hergestellt, so bleibt uns außer der gemeinsamen Eigenschaft ihrer Form
doch noch ein andres bewußt, ihre Anzahl. So gewinnen wir aus der Be¬
trachtung gleicher Formen den Begriff der Zahlgröße, und diesen allein setzt
die rechnende Mathematik voraus. Wenn ich nun umgekehrt der Einheit einer
Zahlgröße eine bestimmte Form beilegen darf, so kann ich dnrch die Zahl¬
größe eine Raumgröße darstellen. Gebe ich der positiven Einheit z. B. die
Form eines Würfels von einem Meter Länge, so bestimmt die Zahl 27 einen
Würfel von drei Metern Länge, oder auch eine Säule von einem Quadrat-
Meter Grundfläche und siebenundzwanzig Metern Höhe. Eine gegebne Raum¬
größe ihrerseits kann durch eine Zahl dargestellt werden, sofern sie sich in
Raumgrößen von gleicher Form zerlegen läßt. Rechnende und anschauende
Mathematik haben also ein gemeinsames Gebiet, ans dem sie durch Zahlgröße
und Naumgröße gewisse Formen bestimmen, mit denen andre Formen ver¬
glichen werden können; es ist das Gebiet der messenden Mathematik. Nun
kann ich jede endliche Raumgröße in Teile von gleicher Form zerlegen, wenn
ich die Teile unendlich klein nehme. Wenn ich also der Einheit der Zahlgröße
die Form einer unendlich kleinen Raumgröße geben kaun, so kann ich jede
Ranmgröße durch eine Zahlgrößc darstellen. Dies in möglichst allgemeinem
Umfang zu thun, ist die Aufgabe der höhern Mathematik oder Infinitesimal¬
rechnung.
Der Bildungswcrt der ganzen Mathematik nun liegt darin, daß sie ihre
theoretische Betrachtung gründet auf die Betrachtung einer einzigen Eigenschaft
des Körpers, nämlich seiner Form. Das vermag keine andre Theorie. Schon
die ihr nahestehende Mechanik geht von zwei Eigenschaften aus: von der
Eigenschaft des Körpers, auf seine Unterlage einen Druck auszuüben, und von
der fernern, sich in einer bestimmten Richtung zu bewegen, wenn ihm die
Unterlage entzogen wird. Daraus bildet die Mechanik die Begriffe der Masse
und der bewegenden Kraft. Diese Begriffe lassen sich durch keine theoretische
Betrachtung verknüpfen, sondern wie die beiden Eigenschaften, denen sie ent¬
stammen, nur durch eine sinnliche, durch die experimentelle Bestimmung der
Anziehungskraft der Erde. Je mehr Eigenschaften ich nun in die Theorie
hineinziehe, um so weniger ist es möglich, die theoretische Betrachtung un¬
unterbrochen weiterzuführen, wie denn ebensowohl die Molekulartheorie ihre
Lücken hat als die Descendenztheoric. Die Mathematik dagegen führt ihre
Betrachtung stetig fort und zwingt dadurch den menschlichen Verstand zu folge¬
richtigem Denken. Wer aber ein begrenztes Gebiet in strenger Folgerichtigkeit
durchdacht hat, dem ist lässiges und sprunghaftes Denken fortan unmöglich.
Die Mathematik ist also in hohem Grade fähig, das zu geben, was unsre
Altertumsfcumtiker formale Bildung nennen.
Freilich nicht die Mathematik, die auf unsern höhern Schulen getrieben
wird. Sprünge, das ist dieser Mathematik gar nichts, die leicht und elegant
dahinhüpft wie ein Kautschukmann. Kaum hat sie die Rechnung mit Potenzen
dnrch, so schlägt sie fröhlich einen Purzelbaum, kehrt dabei diese ganze Rech¬
nungsart um und steht nun mit beiden Beinen und einer lächelnden Ver¬
beugung in der Rechnung mit Logarithmen. Nun geht es eine Strecke mensch¬
lich horizontal weiter. Da, ein unerwartetes Hindernis: ist man imstande,
zu einer gegebnen Zahl den Logarithmus zu berechnen? Das ist die Lebens¬
frage dieser Rechnungsart! Pah, was kümmert uns eine Lebensfrage.
Ein Anlauf, ein kühner Sprung, und schon sind wir drüber weg und rechnen
lustig mit Dingen, von denen wir nicht wissen, woher sie kommen. Aber
nicht immer gehts so lustig zu im mathematischen Unterricht. Sitzt da vor
den Schülern der alte Pythagoras, schlägt würdig ein Bein übers andre, legt
den Finger an die Nase und dvzirt: „Hypothesis: Das Dreieck da hat einen
rechten Winkel. Thesis: Das Quadrat über der Hypotenuse ist gleich der
Summe der Quadrate über den beiden Katheten." Und nun zieht er ein paar
„Hilfslinien" und beweist seine Behauptung so schlagend, daß sich auch der
hartnäckigste Zweifler gefangen geben muß, und die Schüler haben die Teile
hübsch in der Hand, fehlt leider nur das geistige Band. Es giebt Schulen,
die sich bemühen, die Euklidische Methode des Beweises durch eine anschau¬
liche zu ersetzen. Aber so lange es Schulen giebt, an denen die nichtsnutzigen
Kamblhschen Lehrbücher eingeführt sind, so lange werden diese „Mausefallen-
beweise," wie sie Schopenhauer in gerechtem Zorn genannt hat, Wohl noch
vorgetragen werden. Jede Mathematik, die überhaupt etwas beweisen will,
hat nicht den geringsten allgemeinen Vildnngswert. Denn eine Wissenschaft,
die etwas beweist, was dem Verstände nicht von selbst einleuchtet, stärkt nur
die Geisteskraft, durch die talentvolle Leute an der Börse ihr Profitcheu
machen. Diesen Leuten für ihren besondern Beruf etwas mit auf den Weg
zu geben, füllt aber nicht unter die Aufgaben der Schule. Den Verstand
gleichmäßig auszubilden, das vermag nur eine Mathematik, die entwickelt
statt zu beweisen, und zwar so entwickelt, daß das, was nach Euklidischer
Methode bewiesen wird, sich dem Verstand als unumgängliche Erkenntnis von
selbst aufdrängt. Solch ein Unterricht wird wohl noch so lauge ein schönes
Ideal bleiben, bis auf jeder Hochschule Geschichte der Mathematik gelehrt
wird. Aber wenn man ein Ideal auch nicht erreichen kann — sonst wäre es
ja kein Ideal! —, so kann man ihm doch näher kommen, und um den Weg
vorläufig zu ebnen, müßte man den Unterrichtsstoff nach zwei Grundsätzen
auswählen: er muß erstens der Art sein, daß ihn auch der Durchschnittsschülcr
mühelos bewältigen kann, und er darf zweitens nicht in die Breite gehen,
sondern muß stetig fortschreiten. Der ersten Forderung genügt nun im all¬
gemeinen alles, was anschaulich dargestellt werden kaun, also die ganze Geo¬
metrie. Aber der Unterricht, wie er jetzt betrieben wird, geht viel zu sehr
ins Breite. Die allgemeinen Sätze von der Proportionalität der Linien
— um nur einiges herauszugreifen — sind nicht zu entbehren. Ihre be¬
sondre Ausbildung aber zu der Lehre von der harmonischen Teilung ist für
den Mathematiker von Beruf oder Neigung zwar sehr interessant, für den
Durchschnittsschüler aber unbequemer Ballast. Im Laufe des Unterrichts sind
natürlich auch einfache Aufgaben zu lösen, z.B. aus drei gegebnen Stücken
ein Dreieck zu konstruiren. Aber mit gewissen Kvnstruktionsaufgnben, die am
schönsten durch einen „Kniff" zu lösen sind, wird von manchem Lehrer ge¬
radezu ein Sport getrieben; diese ganze Kunststückmacherei leistet für die all-
gemeine Bildung vollends nichts. Die rechnende Mathematik, die Arithmetik,
beginnt ebenfalls mit der Anschauung, mit der Betrachtung gleicher Formen
an der Rechenmaschine, an der die „vier Spezies" — übrigens eine schauder¬
hafte Bezeichnung — entwickelt werden. Nun läßt sich wohl nicht die ganze
Arithmetik anschaulich darstellen. Man wird aber der Fassungskraft des
Schülers immer noch gerecht, wenn man nur solche Zweige der Arithmetik
verfolgt, die sich von der Anschauung nicht weit entfernen, oder die zur An¬
schauung wieder zurückkehren. Man würde aus diesen Grenzen nicht leicht
heraustreten, wenn man Arithmetik und Geometrie vereinigen könnte, sodaß
die arithmetische Entwicklung nur da weitergeführt würde, wo sich ein Be¬
dürfnis dazu geltend macht. Da jedoch die alte Praxis noch zu tief wurzelt, der
die Mathematik Selbstzweck ist, so wird man einstweilen die Arithmetik selb¬
ständig neben der Geometrie herfuhren müssen, etwa bis zur quadratischen
Gleichung. Dann aber kann man sie endgiltig mit der Geometrie vereinigen
zur messenden Mathematik. Vollständig wird diese Vereinigung in der ana¬
lytischen Geometrie, die darnach strebt, jedes Gebilde im Raum durch eine
Zahlgröße darzustellen. Um dem Schüler diese Vereinigung der beiden Zweige,
die aus einer Wurzel entspringen, klar zu machen, bedarf es nur eines geringen
Teils der analytischen Geometrie der Ebne, nämlich der Lehre von den Kegel¬
schnitten, bezogen auf ein rechtwinkliges Koordinatensystem. Faßt man dies als
Ziel des mathematischen Schulunterrichts ins Auge, so kann man von hier aus
rückwärts leicht bestimmen, was man ans dem unendlichen Gebiet der Mathematik
für die Schule auszuwählen hat. Die Kegelschnitte sind ebne Kurven, ihre Glei¬
chung ist vom zweiten Grade; ihre Theorie setzt also voraus die einfachsten Sätze
der Planimetrie und die der Arithmetik bis zur Gleichung zweiten Grades. Dieser
Lehrstoff wäre in durchschnittlich zwei Stunden für die Woche sicher bequem zu
bewältigen. Ja man konnte ihn wohl noch nach zwei Richtungen erweitern.
Man könnte den Anfang der Stereometrie hinzuziehen, aber gleich in Gestalt
der mathematischen Geographie. Und man könnte einen Blick thun in die
höhere Mathematik. Die analytische Geometrie ist ja eigentlich schon höhere
Mathematik, denn da sie jede Naumgröße durch eine Zahlgrvße darstellen will,
so muß sie der Einheit der Zahlgröße die Form einer unendlich kleinen Raum¬
größe geben. Thatsächlich nun sind die Quadratur des Kreises, der Parabel,
der Ellipse Aufgaben der Infinitesimalrechnung, die sich zum Teil aus solchen
Aufgaben entwickelt hat. Vielleicht ließe sich hier auch die Summirung
einiger unendlichen Reihen anknüpfen, damit dem Schüler das Verfahren der
Rechnung mit unendlich kleinen Größen deutlich würde. Das Hütte den Vor¬
zug, die kindliche Meinung zu zerstören, als wäre die Infinitesimalrechnung
eine Erfindung der Herren Newton und Leibniz, von diesen verschmitzten
Köpfen wunderbarerweise ganz unabhängig von einander gemacht. Es ist aber
gar nicht nötig, hier nun die Logarithmen und trigonometrischen Funktionen
einzuschmuggeln. Es genügt, wenn der Schüler einsieht, daß auch die reinste
Theorie nicht vom Himmel fällt, sondern aus dem Bedürfnis erwächst.
Aus demselben Grunde aber sollte man auch nicht gleich mit der Theorie
ins Haus fallen. Den Sextaner verschone man gefälligst mit den sogenannten
Axiomen. Einem Neger, den man lesen lehren will, Goethes Faust in die
Hand geben, und einem Sextaner den Grundsatz predigen, wenn zwei Großen
einer dritten gleich seien, so seien sie auch einander gleich, das ist eins so
sinnvoll wie das andre. Keinem Sextanergemüt wird es einfallen, Wider¬
spruch zu erheben, wenn der Lehrer den Grundsatz stillschweigend anwendet.
Spricht er ihn aber aus, so verführt er deu Schüler, etwas selbstverständliches
für hohe Weisheit zu halten, und das ist vom Übel. Theoretische Sätze gehen
über den Knabenverstand hinaus. Aber gerade darum ist die Mathematik so
sehr geeignet, schon dem ganz jugendlichen Verstand die Zügel folgerichtigen
Denkens anzulegen, weil man zwischen theoretischer und sinnlicher Wirklichkeit
nicht zu unterscheiden braucht. Was die Mathematik aussagt, sagt sie von
der Form aus. Die Form aber ist eine Eigenschaft der festen Körper; also
kann man die Sätze der Mathematik an sichtbaren und greifbaren Körpern
ableiten, ohne daß von Axiomen die Rede ist. Hat die fortschreitende Praxis
des Unterrichts den Schüler erst an streng mathematisches Denken gewöhnt,
so kann man ihn auf der Prima etwa bei einem Rückblick auch die rein philo¬
sophischen Grundsätze, die Axiome finden lassen. Denn dem sattelfesten Mathe¬
matiker kann man den Wert der reinen Theorie schon deutlich machen, nicht
aber dem tastenden Anfänger. Ich würde mich aber wohl hüten, dem Primaner,
der die analytische Geometrie zu studiren beginnt, zu erzählen, die Einheit
dieser Mathematik sei die unendlich kleine Größe.
Wie die Mathematik kann auch die Biologie gelehrt werden, ohne daß
man den Schüler gleich mit der Nase auf die Theorie stößt. Darum gehört
von den internationalen Wissenschaften vor allen diese auf die Schule. Mit
einer physischen Beschreibung unsers Wohnorts, der Erde beginnend, hat sie
durch Botanik und Zoologie die Entwicklung organischen Lebens zu verfolgen
bis auf den Menschen und seine allgemeinen Lebensbedingungen. Der Mensch
nun begnügt sich nicht damit, die unbewußten Triebe zur Erhaltung des Lebens
zu befriedigen. Er entwickelt sich aus dem Zustande der Natur zur Kultur,
und in diesem Zustande regt sich schon früh der Trieb, eine vom Zufall be¬
freite Welt der Ideale zu schaffen, in der sich darstellt, was dem Menschen
über irdische Schranken hinaus als begehrenswert erscheint. Diese Ideale ver¬
körpert die Kunst, und darum gesellt sich zur Biologie mit Recht die Kunst¬
geschichte. Wer diese beiden Zweige der Wissenschaft, wenn auch nur in großen
Zügen, kennen gelernt hat, der ist imstande, die Fühlung mit dem Geistes¬
leben unsrer Zeit zu wahren. Denn er hat das kennen gelernt, was gleichsam
Leitmotiv der modernen Wissenschaft geworden ist, das Bestreben, überall die
geschichtliche Entwicklung zu begreifen, während die Wissenschaft des vorigen
Jahrhunderts darauf ausging, die gegebnen Dinge aus vernünftigen Begriffen
abzuleiten. Wie im einzelnen die Auswahl für den Unterricht zu treffen ist,
das zu erörtern ist hier nicht Raum. Nur eine Bemerkung sei noch gestattet.
Neben praktischen Übungen im Chorgesang scheint es mir dringend notwendig,
auch einen Umriß der Musikgeschichte zu geben. Der Unterricht wird freilich
dadurch schwieriger, daß man ihn nicht wie bei den bildenden Künsten durch
anschauliche Darstellungen beleben kann. Aber die Tonkunst ist im Laufe der
Zeit doch eine solche Kulturmacht geworden, daß man sie nicht auf ein paar
Gesangstunden beschränken sollte.
Die Schule hat nun, teils ans Rücksicht auf die Biologie, teils aus
Rücksicht auf die Technik, die an tausend Punkten in unser Leben eingreift,
auch physikalische und chemische Kenntnisse zu übermitteln. Nur diese beiden
Rücksichten sollten jedoch bei der Wahl des Unterrichtsstoffes maßgebend sein.
Die Molekulartheorie braucht nur der Physiker und Chemiker von Beruf zu
kennen, auf die Schule gehört sie nicht. Allein dafür hat die Schule zu
sorgen, daß ihre Zöglinge ein Mikroskop oder ein Telephon nicht austaunen,
wie unsre Großmütter die erste Eisenbahn.
Zu den nationalen Kenntnissen hätte ich auch wohl die Geschichte fremder
Völker zählen müssen. Wir wollen diese aber einstweilen zurückstellen und hier
nur die fremden Sprachen einreihen. Französisch und Englisch gehören unbe¬
stritten in den Unterricht. Betrachtet man die fremde Sprache als das Mittel,
das uns in den Stand setzt, mit einem fremden Volke unmittelbar zu ver¬
kehren, so steht man den: Streite um die klassischen Sprachen ziemlich kühl
gegenüber. Es ist wahr, unsre Kultur hängt an manchen Stellen mit der an¬
tiken zusammen. Ist es nun notwendig und möglich, uns mit der antiken
Kultur durch das Mittel der antiken Sprachen bekannt zu machen? Ich meine,
es ist nicht möglich, und ist das der Fall, so braucht man sich bei der Not¬
wendigkeit nicht lange aufzuhalten. Aus dem, was auf den Gymnasien an
Griechisch getrieben wird, gewinnt der Schüler schwerlich so viel Ahnung von
griechischem Geiste, als aus einer einzigen Besprechung und Betrachtung des
Parthenon und seiner Skulpturen. Unser Gymnasium wie das Realgymna¬
sium ist etwas halbes, und etwas ganzes wird es nicht, so lange man sich
der Erkenntnis verschließt, daß die Schule die klassischen Sprachen nicht mehr
in dem Umfange Pflegen kann, um den Unterricht fruchtbar zu machen. Der
Leute sind heute gar zu wenige, die sich nach der schönen Zeit zurücksehnen,
wo die Herrschaft über eine tote Sprache den Gebildeten vom Ungebildeten
schied. Man meint, die Schule thue Recht daran, wenn sie die Menschen
ausbilde, nicht für ein Traumleben, wie es nur wenigen Gelehrten beschieden
ist, sondern für das Leben, das den meisten bevorsteht, ein Leben in gährender
Zeit und in währendem Streit.
Ein solches Leben fordert um vor allem eine tüchtige Bildung des
Charakters. Aber was für einen Charakter soll die Schule dem jungen Ge¬
schlecht geben? Nun, einen guten natürlich, denn ein guter Mensch ist sich
bekanntlich selbst im dunkelsten Drange des rechten Weges wohl bewußt.
Nun giebt es aber außer gut und böse noch eine ganze Anzahl sittlicher Gegen¬
sätze, und es wäre zu wünschen, daß der junge Mensch für die Irrfahrten im
„dunkeln Drang" etwas vollständiger ausgerüstet würde. Doch, wie dem
auch sei, meiner Meinung nach ist es gar nicht Sache der Schule, die sittliche
Grundlage des Charakters zu legen, diese Aufgabe fällt der Familie anheim.
Wer nicht einen gewissen Schatz sittlicher Tüchtigkeit von Haus aus mit¬
bringt, aus dem wird Zeit seines Lebens nichts ordentliches, wenn ihn nicht
das Leben selbst in eine harte Schule nimmt. Freilich hat die Schule die
gute Charakteranlage zu Pflegen und die Entwicklung schlechter Seiten zu
hemmen, aber das kann nicht Gegenstand eines besondern Unterrichtsfaches
sein, jeder Lehrer und jede Stunde hat daran mitzuarbeiten. Schulzucht nennt
man das, und es ist nicht zu verwechseln mit militärischer Disziplin. Für die
formale Bildung des Charakters brauchen wir also nicht, wie sür die formale
Verstandesbildung, einen besondern Platz im Unterricht zu belegen. Welcher
Inhalt aber soll dem Charakter gegeben werden? wozu soll die Schule ihre
Schüler heranbilden? Nun, zu Deutschen. Das wäre ein Charakter? Nein,
das ist es leider noch nicht, aber es ist die höchste Zeit, daß es einer werde.
Deutsche mit dem Verstände sind wir nun lange genug, zu wissen, daß das
deutsche Reich eine vaterlandslose Gesinnung zwar dulden muß, ihre Umsetzung
in die That aber nur bis zu einer gewissen Schranke gestatten darf. Ich dächte,
es wäre um Zeit, daß wir nach und nach auch Deutsche vou Charakter
würden. Und ich dächte ferner, die Verbündeten Regierungen hätten das aller¬
größte Interesse daran, diese Umwandlung zu beschleunigen. Hat es ihnen
doch in allerjüngster Zeit Schwierigkeiten über Schwierigkeiten bereitet, sich
mit der Volksvertretung zu verständigen. Das sollte eine Lehre sein für die
Zukunft. Denn wo anders soll der deutsche Charakter, der eine Verständigung
da noch möglich machen müßte, wo der Verstand keine mehr findet, wo anders
soll der gebildet werden als an der Stätte, wo der ganze Mensch fürs Leben
vorgebildet wird? Wenn sich aber das Geschlecht, das seit dem großen Kriege
herangewachsen ist, als Deutsche fühlt, der Schule verdankt es das wahrhaftig
nicht. Denn die Liebe zum Mutterlande wird nicht dnrch Kaisersgeburtstags¬
feiern gehegt und gepflegt, dadurch schafft man nur „Patriotismus," und von
dieser Sorte haben wir genug und übergenug. Wir haben eine deutschkonservative
Partei und eine deutschsvziale, eine nationalliberale und eine — weiland —
dcutschfrcisinnige, und es soll mich nicht wundern, wenn sich nicht nächstens
noch eine dentschanarchistische bildet. Wo in aller Welt ist ein Volk, das bei
seinen Parteien den nationalen Grundzug nicht als selbstverständlich voraus-
setzte, das es für nötig hielte, diesen Grundzug noch besonders auszusprechen!
Wo in aller Welt aber ist auch ein Volk, das zwanzig Jahre lang das ge¬
achtelte und gefürchtetste der Welt war, und das immer noch nicht den Mut
gefunden hat, seine eigne hochentwickelte Kultur in den Mittelpunkt seiner
Jugenderziehung zu stellen!
„Wir Deutschen fürchten Gott und sonst nichts auf der Welt," hat je¬
mand gesagt. Aber der Mann hat sein stolzes Selbstvertrauen auf sein Volk
übertragen, und ich fürchte, er hat sich geirrt. Eines fürchten wir Deutschen
mehr denn je: an unsern eignen Wert zu glauben. In den Tagen der ärgsten
Zerrissenheit, da gab es wohl Dichter und Gelehrte, die die deutsche Kultur
an die Spitze der Menschheit stellten. Das große deutsche Reich aber wagt
es nicht, seine Jugendbildung in der Hauptsache aus eignen Mitteln zu be¬
streikn. Oder trüge nicht das Volk die Schuld an diesem kläglichen Rück¬
schritt? Läge sie in den Ministerien, diesen Reinkulturen für Bureaukraten?
In der That, man möchte fast glauben, dort oben herrsche immer noch die¬
selbe Angst vor jeder freien Regung des deutschen Volksgeistes wie nach den
Befreiungskriegen. Dieser Mangel an moralischem Mut aber könnte sich der¬
einst bitter rächen. Man hat kürzlich wieder versucht, die rheinischen Direktoren
höherer Lehranstalten für die Bekämpfung der „Irrlehren der Sozialdemokratie"
zu gewinnen. Der schlichte Unterthanenverstand steht stille ob solcher Tiefe
pädagogischer Weisheit. Wenn wir doch einmal bei der Bekämpfung von Irr¬
lehren sind, warum da nicht auch in der Schule die Irrlehren derer bekämpfen,
die da behaupten, die Prostitution sei ein notwendiges Übel? Vielleicht erzielen
wir dadurch einen ungeahnten Aufschwung der Sittlichkeit. Nein, das Rezept
ist bunt genug, nach dem unsre Bildung zusammengebraut wird, man verschone
uns mit weitem Zuthaten. Man gebe Direktoren und Lehrern endlich Raum,
ihre Schüler zu brauchbaren deutschen Bürgern zu erziehen, und man sorge
nach und nach für einen Lehrerstand, der zu dieser Art von Erziehung erzogen
ist, dann braucht man keinerlei Irrlehren mehr zu fürchten, radikale so wenig
wie reaktionäre.
Auf der Wiener Philologeuversammlung hat Professor Uhlig aus Heidelberg
gesagt, „die Natioualitätseiferer erstrebten wohl weniger eine gesteigerte natio¬
nale Bildung in den Schulen als die Verminderung der Kenntnis und Wert¬
schätzung fremder Kulturen. Man möchte jedes Volk mit einer chinesischen
Mauer umgeben." Klingt es nicht wie bitterer Hohn, von einer chinesischen
Mauer zu reden, wo wir es noch nicht einmal zu nationalem Selbstbewußt¬
sein gebracht haben? Gewiß muß die Wertschätzung fremder Kulturen ver¬
mindert werden, bis wir gelernt haben, unsre eigne richtig zu schätzen. Die
Kenntnis fremder Kulturen zu vermindern, darnach strebt niemand. Allerdings
giebt es einige Leute, die der Meinung sind, was die klassischen Sprachen
auf unsern höhern Schulen an fremder Kultur übermitteln, das lasse sich auf
bequemeren Wege vollständiger erreichen. Der Herr Professor hat denn
laut Zeitungsberichten auch scharf gegen das Mitreden der Laien in Unter¬
richtsfragen gerümpft. Ja, das möchte den Herren Wohl passen. Aber der
Kampf um die Schule ist kein Gelehrtenstreit, kein „Mönchsgezänk," es ist der
Kampf um die Zukunft des Reichs. Und da werden sich die Herren gefallen
lassen müssen, daß alle die ein Wort mitreden, die nicht nur sich, sondern
auch ihren Nachkommen das Vaterland erhalten wollen. Das Gut, das die
Väter mit ihrem Herzblut erstritten haben, wir wollen es erwerben, damit,
wenn nicht wir, so doch wenigstens die Enkel es wirklich besitzen.
Es scheint mir ein Fehler zu sein, daß man mit dem Verlangen nach
einem volkstümlichen Unterricht die Forderung verbunden hat, den Natur¬
wissenschaften noch mehr Raum im Lehrplan zu geben. Man erwartet, von
den riesigen Erfolgen der modernen Technik verführt, von den Naturwissen-
schaften Wunderdinge, die sie nie geleistet haben, und die sie nie leisten werden.
Man war es überdrüssig, den deutschen Geist in die Fesseln einer toten Kultur
schlagen zu lassen, und man warf sich blindlings der vaterlandslosesten aller
Wissenschaften in die Arme. Weil diese Wissenschaft in neuerer Zeit auch eine
Knlturmacht geworden ist wie keine andre, deshalb meinte man, sie müsse auch
einen Bildungswert besitzen wie keine andre. Aber so hoch auch die Natur¬
wissenschaft als Wissenschaft steht, der Schluß ist doch nicht berechtigt. Denn
moderne Kulturmüchte sind auch die Presse, die Mode, die Börse, das Theater,
ja schließlich auch das Tingeltangel, denen man doch kaum in ihrer All¬
gemeinheit irgend welchen Bildungswert zuschreiben kann. Wenn übrigens
nicht alle Zeichen trügen, so nimmt die Überschätzung der theoretischen Natur¬
wissenschaft fortdauernd ab. In dem Streit um die Schule würde sie schwerlich
noch eine Rolle spielen, wenn man ihrer nicht zu bedürfen glaubte, um die
Gleichberechtigung der Realgymnasien durchzusetzen. Dazu muß immer wieder
gezeigt werden, daß die Gymnasien für das Studium der Technik und der
Naturwissenschaften nur mangelhaft vorbereiten. In der That, da der Neal-
gymnasiast schon auf der Schule mehr von diesen Dingen gehört hat, so ist
er besser vorbereitet als der Gymnasiast, wobei nur noch die bescheidne Frage
Zu beantworten wäre, ob man etwa meint, daß einer von beiden überhaupt
gut vorbereitet sei. Jedenfalls müßte man folgerichtig nicht fordern, daß die
beiden Anstalten einander gleichgestellt würden, sondern daß dem Gymnasium
die Berechtigung entzogen würde, seine Schüler zum Studium der Natur¬
wissenschaften zu entlasten. Ein andrer Ausweg wäre dann freilich der, den
Zopf der alten Gelehrtenschule endlich abzuschneiden, der uns von der Zeit
des Magisters Philippus her noch hinten hängt. Was ist das heute für eine
ärmliche Aufgabe, die man unsern höhern Schulen immer noch stellen möchte,
„für die gelehrten Berufe vorzubereiten," die frischen Jungen schon auf den
Einsiedlerkrebs abzurichten, der sich in seinen gelehrten Beruf einkapselt und
glaubt, er sei. auch ein Mensch, Ich weiß wohl, es giebt auf deutschen Hoch¬
schule» noch eine andre Art von Einsiedlerkrebsen, die sich dort „studirens
halber" aufhält und die Kalkschale, mit der sie ihr mehr oder minder unver¬
dorbnes Gemüt nach und nach gegen jede nichtakademische Berührung ab¬
schließt, aus wesentlich anderm Stoff aufbaut. Aber das lernt sich außer¬
ordentlich leicht und bedarf kaum einer besonder» Vorbereitung auf der Schule.
Das braucht uns also nicht abzuhalten, der Schule die edlere Aufgabe zu
stellen, daß sie die Wurzel werde, aus der der weitverzweigte Baum des
deutschen Volkstums seine kräftigste Nahrung zieht.
Nun ist zwar schou längst das große Wort gefallen, das Deutsche müsse
im Mittelpunkt des Unterrichts stehn. Fragen wir einmal umgekehrt: was
muß das Deutsche lehren, um im Mittelpunkt des Unterrichts stehn zu können?
Wir hatten für die allgemeine Bildung des Verstandes zwei Hauptpunkte ge¬
funden. Einmal die Biologie als die Wissenschaft von der Entwicklung mensch¬
lichen Lebens überhaupt und ihren Bedingungen. Dazu tritt im deutschen
Unterricht die Lehre von der Entwicklung geselligen Lebens in der Kultur¬
gemeinschaft eines Volks, die deutsche Geschichte. An sie schließe sich, soweit
es notwendig ist, die Geschichte fremder Völker an, und ihr gehe, wie der
Biologie eine physische Erdbeschreibung, so eine Geschichte der antiken Kultur
in ihren Hauptzügen voran. Livius hübsche Geschichtchen ad urbs vouclita
brauchen dazu aber nicht im Urtext gelesen zu werden. Der zweite Haupt¬
punkt der Verstandesbildung war die Geschichte der internationalen Künste;
so bilde man den deutscheu Charakter zweitens an der Geschichte der nationalsten
Kunst, der deutschen Dichtkunst. Auch hier mögen sich fremde Litteraturen
nach Bedürfnis anschließen, besonders, sofern sie nicht schon im Unterricht der
fremden Sprachen behandelt werden. Eine wirkliche Geschichte der deutscheu
Dichtkunst aber, die nicht wie der gegenwärtige deutsche Unterricht uur von
wenigen Beeten spärlichen Honig sammelt, setzt die Geschichte der deutscheu
Sprache naturgemäß voraus. Deutsche Geschichte im vollkommensten Sinn
des Wortes, das wär also der Teil des Unterrichts, dem die Bildung des
Charakters zufüllt.
Ein Lehrplan, der sich dieses Ziel steckt, darf natürlich auch den Lehrer
nicht an so kurzem Zügel führen, wie einer, der nichts höheres zu erstreben
weiß als ein Abiturientenexamen. Innerhalb natürlicher Grenzen lasse man
dem Lehrer so viel persönliche Freiheit als möglich, und man räume vor
allem mit dem ängstlichen Fnknltätenzwang für das Staatsexamen auf. Aus
welchem Schubfach die ^ima urater ihre Weisheit verabreicht, darauf kommt
es nicht so sehr an. Gewisse Fächer werden für den Unterricht in einer Hand
vereinigt sein müssen, im übrigen aber sollte man froh sein, wenn ein Philo¬
loge Neigung zeigt, sich eine naturwissenschaftliche „Fakultas" zu holen, und
umgekehrt, und man sollte ihm das nicht nach Möglichkeit erschweren. Es
werden schon nicht viele eine so wenig einseitige Neigung verraten, dergleichen
gehört nicht zum guten Ton auf unsern Hochschule». Ich denke mir nun,
einem Lehrer, der etwa die drei deutschen Fächer: Geschichte, Sprache und
Litteratur vertritt, könnte der Lehrplan eine bestimmte Anzahl Stunden zu¬
weisen. Wie er die einzelnen Stunden zweckmüßig verwendet, ist seine Sache,
das heißt, er entwirft innerhalb dieses Nahmens einen eignen Lehrplan, was
allerdings nicht ganz so bequem ist wie ein gedruckter, und legt ihn dem Leiter
der Anstalt zur Prüfung vor. Genehmigt ihn der, so mag er darnach unter¬
richten. Ich glaube, diese Praxis bekäme Lehrern und Schülern gleich gut.
Doch das war nur eine Anmerkung.
el einer frühern Gelegenheit habe ich die wunderliche Behaup¬
tung eines Professors erwähnt, die Alten hätten das Mitleid,
wenigstens „als Tugendempfindung einer großen Zahl," nicht
gekannt. Ich wies damals vorläufig nur auf den berühmten
Satz des Aristoteles hin, die Tragödie solle Mitleid und Furcht
erregen, um diese Empfindungen zu reinigen, oder, wie es andre verstehen,
um das Herz von diesen Empfindungen zu befreien, etwa wie Goethe den
Werther schrieb, um die Wcrtherstimmung loszuwerden. Nachträglich nahm:
ich mir vor, doch einmal das griechische Drama auf diesen Gegenstand hin
anzusehen; ich las daher die drei Tragiker und den Aristophanes—in Über¬
setzung — hinter einander durch. Der Eindruck, den ich empfing, überraschte
mich. Ich fand, daß die Griechen, die Athener wenigstens, auf einer höhern
Stufe der Sittlichkeit gestanden haben, als man gewöhnlich annimmt, und daß
die Schätzung, die sie sowohl von unsern Theologen wie von den realistischen
Gegnern des humanistischen Gymnasiums zu erfahren Pflegen, ungerecht ist.
Ich faud aber auch, daß die Philologen an den Gymnasien die Ungunst, die
sie jetzt verfolgt, selbst verschuldet haben: warum peinigen sie die Schüler so
übermäßig lange mit Accenten und mit dem Unterschiede von ^ und ^
vo, anstatt sie mit der in den griechischen Dichtungen enthaltenen Geistesnah¬
rung zu speisen! Gewiß wäre Leichtfertigkeit und Oberflächlichkeit in der Ein-
prügung der Elemente nicht zu billigen; diese müssen festsitzen, wenn der In¬
halt in der Ursprache genossen werden soll. Aber man konnte wohl das eine
thun, ohne das andre zu lassen, wenn man etwas weniger pedantisch verführe.
Endlich fand ich, daß sich der Gelehrte, der die griechischen Sittenzustünde und
sittlichen Anschauungen so erschöpfend darzustellen unternähme, wie es Fried¬
länder mit denen des römischen Kaiserreichs gethan hat, um unser heutiges
Geschlecht verdient machen würde. Möchte der nachstehende Versuch, die Moral
der Athener, wie sie sich in ihrem Dram« spiegelt, in einigen lückenhaften Um¬
rissen zu zeichnen, als Anregung zu einem solchen Unternehmen dienen!
Unter Volksmoral kann man das einem hergebrachten oder obrigkeitlich
verordneten Sittenkodex entsprechende Verhalten verstehen, oder ein Verhalten,
das einer moralischen Gesinnung entspringt. Unsre Theologen sind im allge¬
meinen der Ansicht, Moral im zweiten Sinne habe erst das Christentum ge¬
bracht, während die jüdische wie die heidnische Moral nnr konventionell und
erzwungen sei. Für die Athener trifft das, soweit uns das Drama ihre Art
erkennen läßt, nicht zu: ihr Handeln, ihre Volkssitte entspringt einer ganz
eigentümlichen Sinnesart und ist deren ungezwungner natürlicher Ausdruck.
Um die Bedeutung der noch vorhandnen Dramen für die Beurteilung des
Volkscharakters richtig zu würdigen, muß man bedenken, daß es keine Buch¬
dramen waren, nicht ungelesene Werke unvcrstandner einsamer Dichter und
Denker, sondern daß sie unter der lebhaften Beteiligung und unter dem Beifall
des ganzen Volkes aufgeführt wurden und ihre Autoren zu gefeierten Männern
machten. Auch standen die drei großen Tragiker der Athener, wenn sie ihr
Volk zu allem Guten und Edeln ernährten, diesem ganz anders gegenüber als
die jüdischen Propheten dem ihrigen. Sie standen ihm eigentlich gar nicht
gegenüber, sondern mitten in ihm drin und sprachen seine innersten Empfin¬
dungen aus, während die Propheten der Juden eine Religion und eine Sitten¬
lehre verkündigten, die ihrem „am Herzen uubeschnittnen" Volke zuwider war,
sodaß sie gewöhnlich Verfolgung und manche von ihnen einen gewaltsamen
Tod erlitten. In der Rede des Stephanus, im siebenten Kapitel der Apostel¬
geschichte, wird dieses ungemütliche Verhältnis beschrieben. „Welchen der Pro¬
pheten — ruft der feurige Diakon — haben eure Väter nicht verfolgt!" und
beschwört so das Prophetenschicksal auf sein eignes Haupt herab. Auch den
Tragikern und Komikern Athens begegnete es Wohl, daß eines ihrer Stücke
abgelehnt wurde, weil eZ den Anschauungen des Volkes widersprach, oder daß
ihnen gar eine Geldstrafe auferlegt wurde; aber eben weil das uur ausnahms¬
weise vorkam, so folgt daraus, daß die Auschauungs- und Empfindungsweise
dieser Männer der ihres Volkes im ganzen entsprochen haben muß. Die
jüdischen Propheten verkündigten ein religiös-sittliches Ideal, das der großen
Mehrheit ihres Volkes unverständlich und zuwider war; daher erscheint ihre
Predigt uicht als Erguß der Volksseele, sondern als Offenbarung von oben.
Die griechischen Tragiker zeigten dem Volke sein eignes Ideal im Bilde; daß
das Leben dem Ideal nur sehr unvollkommen entsprach, versteht sich von selbst,
aber ohne Zweifel hat die Mehrzahl der Zuschauer gedacht: ein solcher Theseus,
ein solcher Neoptolcmos, eine solche Antigone, eine solche Äthra möchte ich
Wohl sein!
Jene eigentümliche Deukungs- und Sinnesart der Athener, der ihr Han¬
deln und ihre Lebensweise entsprang, hat mau mit Recht Humanität genannt.
Wahre Humanität wird ihnen heute von vielen abgesprochen, von christlichen
Apologeten wie von den Vertreter» jener modernen angeblich praktischen und
realistischen Richtung, deren Begriff vom Erhabnen und Schönen in den zwanzig-
stöckigen Hotels von Chicago, in den Kursgewinnen und Dividenden ihren
Ausdruck findet. Wir werden sehen, ob der hellenische Humanismus wirklich
nur Schein gewesen ist.
Es giebt unter den Tragödien des Aischylos eine, die uns gewissermaßen
seine, des Humanismus, Geburt vorführt: die Eumeniden. Orest, der Rächer
seines Vaters und Mörder seiner Mutter, ist, von den Rachegöttinnen ge¬
peitscht, ins Heiligtum des delphischen Apoll geflohen. Die Unholdinnen sind
entschlummert und lassen dem Unglücklichen einen Augenblick der Ruhe. Apoll
erscheint, verspricht ihn zu befreien und schickt ihn unter dein Schutze des
Hermes nach Athen, wo er sich an das alte Bild der Pallas setzen und es
fromm umschlingen soll. Der Schatten der Klhtaimnestra weckt die Ermüden
auf. Sie rasen, da sie gewahren, daß ihnen ihr Opfer entkommen ist, und
machen dem Apoll heftige Vorwürfe: „Uns greise Götter überrennst du junger
Gott! Den Muttermörder stahlst dn uns, und bist ein Gott!" Apoll aber
verjagt die allen Göttern, das heißt allen jungen Göttern verhaßten „Scheu¬
sale," die Ausgeburten der Urnacht, aus seinem Tempel:
FortI meiner Wohnung dürfet ihr nicht nahe sein!
Nein, da, wo mörderkopfendes, augauswühlendes
Gericht, wo Mordgemetzel, frevle Fehlgeburt,
Entmannung, Schändung, alles Jammers Übermaß,
Wo Aufgespießte jammerlant, Gesteinigte
Verröchelnd wimmern.
Also wo barbarische Unthaten von barbarischen Richtern barbarisch gestraft
werden, da gehören sie hin, nicht in das dein freundlichen Sonnengott ge¬
weihte Natioualheiligtum der Hellenen. Es folgt ein Streit des Gottes mit
den Eumeniden darüber, wessen Schuld die größere sei, Orests oder Klh-
taimnestras. Die Eumeniden behaupten, der Muttermörder sei der Schuldigere,
denn Klhtaimnestra habe nur den Gemahl erschlagen, und dieser sei ihr nicht
blutsverwandt gewesen. Darauf erwidert Apoll:
So ganz mißehrt wird und gering geschätzt von dir
Der großen Hera und des Zeus eidheilger Bund,
Mißehrt, verworfen Kypris auch mit solchem Wort,
Von der doch alles Liebste kommt den Sterblichen.
Geeint vom Schicksal ist des Manns und Weibes Bund,
Gerecht bewahret, höher» Rechts als selbst der Eid.
Und bist du ihnen, wenn sie sich morden, lau genug,
Sie nicht zu strafen, nicht ergrimmt sie anfznspähn,
So lengn' ich, daß Orestes du verfolgst mit Recht;
Denn dies, ich weiß es, sehr erfüllt es dich mit Zorn,
Das andre straffe du sichtlich viel gelassener.
Pallas Athene wird erforschen, was da Recht.
Im nächsten Akt erscheint Orest am Pallasaltar in Athen. Die Ermüden
folgen nach, erspähen ihn, drohen, ihm das Blut aufzufangen („lebendig mußt
du mich laben, nicht geschlachtet erst"), und schlingen um ihn den Reigen, in
grausem Gesang ihr Amt verkündigend: „Frevlern, deren Haupt sich gottlosen
Blutgreuel auflud, uachzuspähn, nachzuziehen, sie mit Verstörung, Wirrsinn,
Wahnsinn zu plagen, bis sie birgt Grabes Nacht; tot auch siud sie uicht er¬
löst." Athene erscheint, verhört die Klägerinnen und den Angeklagten, der
noch für sich anführt, daß seine Hand nicht mehr blutbefleckt, sondern durch
ein Opfer gereinigt sei, und erklärt dann, der Fall sei sehr schwierig; einer¬
seits könne sie den fromm um Schutz flehenden uicht verstoßen, andrerseits
sei zu befürchten, daß die beleidigten Eumeniden das Land mit Pest schlügen.
Sie wolle aus den Edelsten des Volkes Richter wählen, die in diesem ersten
Falle und anch in alle Zukunft über Blutschuld zu richten hätten. So setzt
sie den Areopag ein.
In dem nun folgenden Wechselgesange der Erinnyen werden zwei Ge¬
danken ausgesprochen, die später Athene in andrer Form wiederholt:
Wohl den Menschen; alle Zeit dient zu ihrem Heil die Furcht,
Und ein Herzenshüter muß
Bleiben stets; Zucht in Thränen lernen frommt.
Wer, in dessen Sinne nicht
Weilt und wirket rechte Furcht,
Seis ein Mensch, ein Volk, ein Staat,
scheut aus eignem Trieb das Recht?
Weder drum nnregiert
Noch in Herrenjoch zu sein
Lobe du.
Nachdem sich der Areopag versammelt hat, erscheint Apoll als Sachwalter
des Angeklagten, den er auch uoch durch die Mitteilung entlastet, daß er, der
Gott, selbst ihn durch einen Orakelspruch angestiftet habe, den Mord des Baders
an der Mutter zu rächen. Athene macht sodann den Mitgliedern des neuen
Gerichtshofes ihre Pflicht klar. An diesen Berg werde hinfort geknüpft sein
des Volkes Ehrfurcht, und ihre Schwester Furcht werde dem Frevel wehren
Tag und Nacht.
Nicht uuregiert und nicht gewaltbeherrscht zu sein,
Das sei dem Volk, fürsorgend rat ichs, hoch und wert!
Und nicht entfernt euch alles Furcht erweckende;
Denn welcher bleibet, wenn er nichts mehr scheut, gerecht?
Wenn diese Körperschaft unbestechlich und ehrenhaft bleibe, nur dem Frevler
zornig, für das Heil des Volkes wachend, wo alles schläft, dann würden die
Athener in ihm ein Bollwerk haben, wie sich seiner kein andres Volk und
Land erfreue, nicht der Scythe und nicht der nahe Peloponnes. Stimmen¬
gleichheit soll Freisprechung bedeuten, da Athene selbst ihre Stimme für Orestes
abgeben will; und da sich wirklich in beiden Urnen gleich viel Steinchen finden,
so ist er freigesprochen. Die Erinnyen rasen wiederum und verwünschen das
Land. Athene bietet ihnen Wohnung an nahe dem Hause des Erechtheus,
wo es ihnen an Ehren nicht fehlen soll.
Darum so schleudre nicht in unser Land umher
Den blntgewetzten Hader, Haßverwildcrung
Ins Herz der Jugend, Trunkenheit weinloser*) Wut
Noch Trutz entzündend wie in Hahnes Herzen laß
In meinen Bürgern Stätte du dem Ares sein
Des Bürgerkrieges und des Wechselseitgen Grimms.
Nein, außer Lande sei der ganz schon nahe Krieg,
Drin edler Wettkampf wird des Heldenruhmes sein.
Lange Zeit hören sie gar nicht auf das, was die Göttin spricht, endlich merken
sie auf, lassen sich überreden und segnen die Stadt:
Ihr deu Segen sag ich gern,
Ihr verkünd ich gnadenmild:
In stetem Blühn des Lebens Wohl, ein reich Gedeihn;
Aus Erdennacht aufwärts soll
Schmeicheln heitrer Sonnenschein.
Manneskraft, blühude Pracht, nahe »immer jäher Tod;
Und deu Menschen lieb und hold
Rüstet die bräutlichen Freuden, die deß ihr Gewalt
Habt, ihr Schwestern,
Urnachtkinder wie wir, Moiren,
Ordnende Mächte der Welt u. s. w.
Athene dankt ihnen und beruft das ganze Volk, das sie mit den Worten
begrüßt:
Komme deun, du liebstes Aug
Des Theseidenlandes, edelbürige Schar
Der Männer, Knaben, wasfensroher Jünglinge,
Der Mädchen, Frauen, greiser Mütter würdger Zug
Mit eurer Purpurfestgewaude Pracht geschmückt;
In frommer Ehrfurcht traget vor der Fackeln Glanz,
Daß diese Mitherrinnen eures Vaterlandes
Im Heil des Volks sich gnädig zeigen immerdar.
In feierlichen: Zuge werde,? die Ermüden in ihr neues Heiligtum geleitet.
Anlässe, den Areopag und die Eumeniden zu feiern, fand Aischylos in den
Zeitverhältnissen genug. Aber diese besondern Anlässe beeinträchtigen nicht
im mindesten die Grundansicht, die sich in diesem Drama deutlich ausspricht.
Es ist den Griechen mit Religion, Recht und Sitte wie mit ihrer Plastik er¬
gangen: lange Zeit blieb ihr Geist in orientalische Windeln und Gängelbänder
eingeschnürt, ehe er, im freundlichen Hellenenlande längere Zeit den orienta¬
lischen Einflüssen entzogen, ganz zu sich kam und seiner völlig mächtig wurde.
Im Orient war das Schuldbewußtsein mit der Angst vor den furchtbaren
Naturgewalten, vor dem sengenden Sonnenstrahl, dem lebentötenden Glutwind,
dem Erdbeben und der Überflutung durch große Ströme zu allerlei düstern
Phantasiegcstalten verschmolzen, die um so furchtbarer wirkten, als sie mehr
und mehr den priesterlichen und königlichen Despoten dienstbar gemacht wurden.
Grausames Wüten gegen die Verbrecher erzeugte immer ruchlosere Verbrechen,
und zuletzt forderten die Götterscheusale das Lebensglück und das Blut nicht
bloß der Schuldigen, sondern gerade der Unschuldigen als wohlgefälliger
Sühnopfer. Diesen Greueln machten die neuen Götter des Hellenenvolkes,
die Abbilder seines von solchem Spuk gereinigten Gemüts, ein Ende. Ver¬
nünftige Überlegung erwägt, ob der einer Unthat angeklagte etwa Entschul-
digungsgründe anzuführen habe, was bei Orestes der Fall war, da er in
einem Gewisfenskonflikt gehandelt hatte. Denn nicht aus Bosheit oder blinder
Wut hatte er die Mutter erschlagen, auch nicht übereilt hatte er gehandelt,
sondern erst auf den Antrieb des Apollon, der gleich Athene die Vernunft ver¬
tritt, d. h. also, nachdem er erwogen hatte, daß er in Ermangelung eines
andern Richters verpflichtet sei, den Vater an der Mörderin und ihrem Buhlen
zu rächen.*) Weil jedoch eine Blutthat, namentlich ein Muttermord, auch
unter solchen Umständen immer etwas schreckliches bleibt, so soll der Thäter
weder von Gewissensbissen ganz frei sein, nur daß diese ihn nicht zum Wahn¬
sinn treiben und nicht bis zum Tode plagen sollen, noch darf er ohne weiteres
losgesprochen werden; in der Stimmengleichheit liegt die Warnung, daß ein
Mörder noch keineswegs auf die Lossprechung sicher rechnen dürfe, wenn er
auch gute Gründe für seine That gehabt habe: ein Steinchen mehr in der
andern Urne bringt ihm den Tod. Auch ist die leibliche Befleckung durch eine
symbolische Handlung, durch ein Tieropfcr zu tilgen, damit der Mensch die
innerliche Verunreinigung, die er sich zugezogen hat, empfinde. Und die grausen
Bilder des Schuldbewußtseins, die Götter der Urzeit, sollen keineswegs aus
dem Gemüte und Gedankenkreise des Volkes verbannt, sondern mit der ge¬
läuterten Erkenntnis von ihrer Bedeutung erst recht darin aufgenommen werden.
Denn die neuen hellenischen Götter wollen zwar nichts andres als ein fröh¬
liches Gedeihen starker, gesunder, glücklicher Menschen, allein sie können das
der Urnacht und der Erde, dem geheimnisvollen Schoß aller Dinge, ent-
sprungne Gesetz nicht ändern, daß menschliches Glück und menschliches Leben
durch Frevel zerstört werden. Will sich also das Volk seine Fortdauer und
sein Glück sichern, so muß es die alten Götter, die des Frevlers Untergang
heischen, nicht minder ehren als die neuen, Leben, Lust und Liebe spendenden,
und es darf sich der heilsamen Furcht vor jenen nicht entschlagen. Nur soll
die Furcht durch Vernunft gezügelt werden und Abwehr des Frevels, Aus¬
rottung der Frevler nicht in sinnloses grausames Wüten ausarten. Das Drama
bedeutet also bei entschiedner Forderung eines schuldlosen Wandels die ebenso
entschiedne Ablehnung jener orientalischen Religion der Furcht und des Schreckens,
die aus den Göttern Fratzen und Scheusale macht, die Entmannung und Menschen¬
opfer fordert, die grausame Verschärfungen der Todesstrafe begünstigt, die auch
in der christlichen Zeit noch fortlebt und sich bald in dem Drohen mit ewigen
Höllenstrafen und in deren Ausmalung, bald in Selbstpeinigungen, bald in fana¬
tischer Verfolgung der Andersgläubigen, bald in einer barbarischen Strafjustiz
bethätigt. Die alten Rachegötter werden von den Griechen als Geschwister
ihrer neuen menschenfreundlichen, beide als Verkörperungen ein und desselben
ewigen Gesetzes erkannt, aber wie in der Natur die zerstörenden Gewalten den
aufbauenden dienstbar sein müssen, nicht umgekehrt, so wird auch für die sitt¬
liche Welt dasselbe Verhältnis festgehalten.
Ähnlich ist der Gedankengang im Pronietheus, oder vielmehr: ähnlich
würde er erscheinen, wenn uns nicht leider der zweite Teil, der entfesselte
Prometheus, verloren gegangen wäre. Nur hat die aller Folgerichtigkeit bare
Mythologie hier den Dichter gezwungen, die Rollen zu vertauschen, einen der
alten Götter, den Titanen Prometheus, als Menschenfreund, den Herrscher der
neuen Götter, Zeus, als Feind der Meuscheu und ihres Wohlthäters darzu¬
stellen. Wie sich in dem Verlornen Schluß der Konflikt beider Götterreiche in
die Harmonie einer sittlichen Weltordnung aufgelöst haben mag, kann man
aus Andeutungen des ersten Teiles erraten; Droysen hat diese Andeutungen
ausgesponnen und den mutmaßlichen Plan des Verlornen Dramas sehr über¬
zeugend entwickelt.
Diesen Geist der Menschenfreundlichkeit atmen nun alle uns bekannten
Stücke der drei großen Tragiker. Wo schreckliches und grausames verübt wird,
da geschieht es entweder im Wahnsinn, wie die oben erwähnte Unthat der
Mänaden und der Kindermord des rasenden Herakles, oder ans Gehorsam
gegen eine barbarische Volkssitte, einen noch nicht überwundnen Rest der Herr¬
schaft der alten Götter, wie das Opfer der Polyxena in der Hekabe des Euri-
pides und des Astyanax in desselben Dichters Troerinncn. Aber der vom
Wahnsinn zu sich gekommne ist, wenn er seine Unthat erfährt, untröstlich;
Herakles ist überzeugt, daß kein Land, keine Stadt ein Ungeheuer, für das er
sich nun hält, wird aufnehmen wollen, und nur dem beharrlichen und eindringlichen
Zureden des Theseus gelingt es endlich, ihn zu bewegen, daß er den Selbst¬
mordgedanken entsagt und auch noch dieses allerschwerste aller ihm vom Schicksal
auferlegten Leiden zu tragen beschließt. Wo aber Böses geschieht aus Frevel¬
mut, da trifft den Frevler ungemilderte Verurteilung; als freches Scheusal
wird Klytaimnestra in des Aischylos Agamemnon vom Chor gezeichnet. Und
doch ist Agamemnon nicht ohne Schuld gefallen. Schon ans der Hinfahrt
nach Ilion war er gewarnt worden durch ein Zeichen: zwei Adler weideten
vom GeWeide der tragenden Häsin. In den Hasenverschlingcrn erkannte Kalchas
die den Göttern mißfällige harte Art der Führer des Zuges:
Daß nur irgend ein Grollen der Götter nicht
Treffe die Jlionsgeißel, die prunkende,
Mit bösem Blick! Wahrlich, die lautere Artemis zurück den gier'gen
Flügelhunden des Baders,
Weil mit der Frucht sie die arme, bevor sie geboren, zerfleischten;
Sie haßt der Adler arges Mahl.
Und jede der Strophen, in denen der Chor diese Erinnerungen wach ruft,
schließt mit dem Ausruf: Das Gute siege!
Daß das Gute in der Welt, in der Menschennatur überwiege, läßt Euri-
pides den Theseus aussprechen, in dessen Person er die ätherische Art zweimal
verkörpert hat, in den Schutzflehenden und im rasenden Herakles. In den
Schutzflehenden läßt er ihn sagen:
Mit andern stritt ich manchesmal und eiferte,
Wenn eiuer sagen mochte, daß der Bösen Zahl
Auf Erden größer als die Zahl der Guten sei.
Ich hielt an anderm Glauben fest; ich meinte stets,
Mehr walte Gutes auf der Welt als Schädliches,
Denn wäre dies nicht, lebten wir nicht mehr im Licht.
Dem Gotte dank ich, welcher uns aus tierischem
Verworrnem Streben wilder Art das Leben schied,
Der uns den Geist einhauchte, der die Sprache hat,
Die Gedankeubotin.
Als Wohlthäter der Menschen, als hilfreicher Freund, als Beschützer aller
Unglücklichen erscheint Theseus, wo er nur auftritt. Führt er Krieg, so ge¬
schieht es nur, um ein Unrecht zu sühnen oder Unterdrückten zu ihrem Rechte
zu verhelfen. Auf das Flehen der Mütter der vor Theben gefallnen Sieben
bezwingt er (in den Schutzflehenden des Euripides) die Thebaner, aber fügt
der Stadt kein Leid zu, sondern zieht ab, nachdem mau ihm die Leichen, deren
Bestattung verweigert worden war, herausgegeben hat. Dieselbe Rolle läßt
Sophokles den Theseus im Ödipus auf Kolonos spielen, und da der Chor
vor Ankunft des Königs Bedenken trägt, ob der Fluchbeladne am heiligen
Orte geduldet werden dürfe, spricht Ödipus:
Wohl heißt es, aller Städte frömmste sei Athen,
Im Elend finde einzig der Vertriebne hier
Die Rettung; ihn zu schützen, sei sie stark genug.
Wie schlecht bewährt sich das an mir!
Aber Athen bewährt seinen Ruf. Voll Mitleid, armer Ödipus — redet ihn
der herbeigerufne Theseus an —, frag ich dich,
was ists.
Das du vom Staate und von mir zu bitten hast,
Du selbst und deine mühbeladne Führerin?
Verkünde mir es. Furchtbar lauten müßte, was
Du bittest, sonst verweigr' ich die Erfüllung nicht.
Der Zeit gedenk ich, da im fremden Land ich selbst
Erzogen ward als Fremder und wie keiner sonst
Viel Kämpfe mit des eignen Haupts Gefahr bestand.
Drum wend ich nimmer mich von einem Fremden ab,
Der so mir nahte, ohne Beistand ihm zu leisten.
Ich weiß, daß ich ein Mensch bin, und daß von dem Tag,
Der morgen sein wird, mir nicht mehr als dir gehört.
Denselben ritterlichen Sinn erweist sein Sohn Demophon den Vertriebnen
Kindern des Herakles, als ihr aufopfernder, aber greiser und ohnmächtiger
Beschützer Jolaos, durch des Eurystheus Mannen von Stadt zu Stadt gejagt,
mit ihnen nach Athen kommt, dort Schutz zu suchen. Als selbstverständliche
Pflicht des edeln Mannes bezeichnet Jolaos in den Herakliden, was er an
seinen Schützlingen thut.
Für seinen Nächsten schafft und wagt der edle Mann;
Doch wer das Herz auf eignen Vorteil nur gewandt,
Fromme nicht dem Staat, ist unverträglich im Verkehr,
Strebt sich allein zu heben. Selbst erfuhr ich das.
Aus Mitgefühl, weil mir Berwcmdtschast heilig war,
Trug ich, der eine, vieles Leid mit Herakles,
Als er mit uns war, während ich behaglich froh
In Argos wokmen konnte. Nun der Himmel ihn
Aufnahm, bewahr ich, Hilfe selbst bedürfend, hier
Des Helden Kinder unter meinen Fittichen.
Wo alte barbarische Sitte ein Menschenopfer fordert, da wird das Em¬
pörende daran wenigstens gebührend hervorgehoben. Schändlich würf, läßt
Euripides die Hekabe sagen, deren Tochter Polyxenci dem Schatten des
Achilleus geopfert werden soll,
schändlich wär es, Fraun zu morden, die
Ihr früher nicht gemordet, als ihr vom Altar
Sie risset; Mitleid fühltet ihr und Schoreel sie.
Verbeut in eurem Lande doch ein gleich Gesetz
Den Mord des freien Mannes und des Sklaven Mord.
Und da Odysseus dabei bleibt, man sei der Ehre des Achilleus dieses Opfer
schuldig, und Hekabe nun mit streben will, da spricht Odysseus:
An deiner Tochter Tod genügt; nicht Mord zu Mord
Zu fügen ziemt uns; o, bedürfts auch dessen nicht!
Es ist also nicht Mordlust, sondern nur die Macht des Aberglaubens, die
solche Opfer fordert. Sehr schön berichtet dann der Herold Talthybios über
das vollbrachte Opfer. Was soll ich sagen! ruft er beim Anblick Hekabes,
Kümmere dich der Menschen Los,
Zeus, oder nenn ichs Lüge, nenn ichs eiteln Wahn,
Zu glauben, daß noch ein Geschlecht der Götter lebt,
Da blinder Zufall alles lenkt, was menschlich heißt?
War diese nicht goldreicher Phryger Königin?
Und auf ihre Frage, wie man es mit der Hingeschlachteten gehalten habe:
Zwiefache Thränen willst du mir entlocken, Frau,
Um deine Tochter, denn bericht ich ihren Tod,
Thräne mir das Auge, wie am Grabe, da sie starb.
Er erzählt nun, wie vor den versammelten Danaern des Achilleus Sohn
Neoptolemos die Jungfrau bei der Hand den Hügel hinangeführt, dann aus
dem Becher gespendet und zum Vater gebetet habe, er möge jetzt, versöhnt
durch das Blut der reinen Jungfrau, dem Heere hold sein und ihm glückliche
Heimkehr bescheren. Doch als er nun den anserkornen Jünglingen gewinkt
habe, „dein armes Kind zu fassen," da habe die Jungfrau gerufen:
Ihr Sohn' Achaias, die verheert die Troerstadt,
Ich sterbe willig; keiner leg an mich die Hand!
Denn meinen Nacken biet ich dar mit frohem Mut.
Laßt mich, die Freie, ledig, bei den Himmlischen!
Damit ich sterb als Freie; denn im Totenreich
Sklavin zu heißen, schämt sich die Königstochter.
Da dröhnte Beifall; auch befahl den Jünglingen
Bon ihr zu lassen Agamenmons Herrscherwort.
Und als die Jungfrau dies Gebot des Königs hörte,
Nahm sie von hoher Schulter ihr Gewand und riß
Es bis zur Hüfte mitten durch, zum Nabel hin,
Und zeigte Hals und Busen, wie ein göttliches Gebild
S» reizend, senkt ein Knie zur Erde dann,
Und sprach von allen Worten dies hochherzigste:
Sieh her, o Jüngling! Wünschest du in meine Brust
Den Stahl zu bohren, bohre; wenn in meinen HalZ —
Wohlan, der Nacken ist gefaßt auf deinen Stoß!
Er, wollend und nicht wollend — denn sie jammert ihn —
Zerhaut des Atems Röhren ihr mit scharfem Stahl.
Des Blutes Quelle sprang; sie, im Sterben auch,
Trug viele Vorsicht, hinzusinken, wies geziemt,
Zu bergen, was man bergen muß vor Mannes Blick.
Und als im Todesstoße sie den Geist verhnucht,
Saum jeder Mann des Heeres ans ein andres Werk.
Die einen warfen Blätter aus die Tote hin
Aus voller Hand; die Scheiter türmten andre,
Die sicheren Stämme tragend; wer nicht trug, vernahm
Bon andern, welche trugen, dies hvhnvolle Wort:
Herzloser, stehst du müßig hier, hast kein Gewand
Für solche Jungfrau, keinen Schmuck in deiner Hand?
Sie willst du nicht beschenken, die so großgesinnt
Hinstarb, so mutig? Solche Kunde bring ich dir
Bon deiner Tochter; jn, du bist die glücklichste
Von allen Müttern und die unglückseligste.
Auch in den Troerinnen kann es Talthybios kaum übers Herz bringen, der
Andromache zu verkündigen, was die Danaer über ihr Söhnchen Astyanax
beschlossen haben:
Solchen Beschluß darf nur
Urkunden ein Mann, der mitleidlos
Und ohne Gefühl, nicht unsers Sinns,
Schamloser Vermessenheit huldigt.
Eurystheus in den Schutzflehenden und Lylos im Rasenden Herakles, die beide
die Kinder des Herakles umbringe:: wollen, finden für nötig, sich damit zu
rechtfertige::, daß nicht Grausamkeit sie treibe, sondern die Sorge für ihre
eigne Sicherheit sie zu solchem Handeln zwinge. Ja sogar Lhsfa, die per-
sonifizirte Raserei, sträubt sich, dem Gebote der Hera zu gehorchen und den
Herakles zu befallen: Und Straf ich liebe Menschen, ist mirs keine Lust.
Wie es den Athenern zuwider war, auch manchmal hart und grausam sein zu
müssen, und daß sie nur durch Notwendigkeit gedrängt oder durch Ärger und
Kummer verbittert auch einmal die rauhe Seite herauskehrten, sieht man recht
deutlich aus einer ergötzlich naiven Äußerung des Chors von Bürgern und
Bauern im „Frieden" des Aristophanes. Da ihnen Aussicht gemacht ist auf
die Wiederkehr des Friedens, machen sie ihrer Freude zuerst in lustigen Tänzen
und Sprüngen Luft, dann sagen sie:
Daß es mir beschicken wäre, diesen frohen Tag zu schaun!
Nicht als Richter sollst du dann mich mürrisch finden oder streng,
Noch von allzuherben Wesen, wie zuvor es wohl geschah;
Mildiglich bewahr ich mich,
Jugendlicher fühl ich mich ent-
bunden solchen Drangsals erst.
Also, Wenns den Leutchen mir gut geht, dann sprechen sie mit Vergnügen
jeden angeklagten Schelm los! Nun, das war freilich nichts weniger als
moderne Rechtsstaatsart; doch auch bei uns würde es einen Angeklagten bei
aller überzeugten Ehrfurcht vor der unbeugsamen und unbestechlichen Gerech¬
tigkeit der Justiz nicht gerade mit Hoffnung erfüllen, wenn er erführe, daß
der Richter von einem Zank mit seiner Frau oder mit Kopfweh in den
Termin kommt.
Wollten wir alle Äußerungen lebhaften und zarten Mitleids aus den
Trauerspielen zusammentragen, so würde ein ganzes Heft daraus werden.
Von jedem der beiden ältern haben wir eine förmliche Mitlcidstragödie, von
Aischylos den gefesselten Prometheus, von Sophokles den Philoktet. Euri-
pides aber zeigt sich überall so zartsinnig und weich, daß man für die Selb¬
ständigkeit eines Volkes bangen müßte, bei dem solche Gesinnung und Stim¬
mung zur unumschränkten Herrschaft gelangt wäre. Sie zu kennzeichnen, ge¬
nügen die oben angeführten Stellen. Nur das eine mag noch hervorgehoben
werden, daß, wie besonders des Euripides Hekabe und Troerinnen beweisen,
weder die Ausländer noch die Sklaven vom Mitleid ausgeschlossen wurden.
Auch aus dem Herbern Aischylos geht das hervor. Der von Troia heim¬
kehrende Agamemnon führt die Seherin Kassandra als Kriegsgefangne mit
sich. Nachdem er abgestiegen ist, spricht er zu seiner Gemahlin:
Dieses fremde Mädchen führ
Ins Haus mir freundlich; wer als Herr sich mild erzeigt,
Auf den herab sieht mild und gnadenreich der Gott,
Mit frohem Herzen trägt ja niemand Sklavenjoch.
Aus vielen Beulen als die schönste Blume mir
Vom Heer erlesen und geschenkt, so kam sie mir.
Da sie draußen bleibt, so muß Klytaimnestrn noch einmal aus dem Paläste
herauskommen, sie zu holen:
So komm hinein doch! dn, Kassandra, bist gemeint;
Nicht zürnte Zeus dir, daß er in unserm Hanse dich
Am Opfer teil läßt nehmen, mit den übrigen
Dienstboten hinzutreten an den heiligen Herd.
So steig herab vom Wagen! Laß den eiteln Stolz!
Denn auch Alkmenes Sohn, so sagt man, trug es einst,
Verlaufe zu leben und zu essen Knechtesbrot.
Kommt solches Schicksals Unvermeidlichkeit einmal,
So ist ein altbegütcrt Haus ganz augenehm.
Nur die sich Reichtum unerwartet ernteten,
sind ihren Sklaven immer hart und ohn Gebühr;
Bei uns erhältst du, was für recht und billig gilt.
Da Kassmidra stumm und unbeweglich bleibt, so wird Klytaimnestra, die sich
ohnehin zur verstellten Freundlichkeit gegen die — wie sie argwöhnt — Buhle
des verhaßten Mannes zwingen muß, sehr ungeduldig. Der Chor aber meint:
Ein klarer Dolmetsch thut der armen Fremden not;
Wie eines neugefangnen Wildes ist ihr Thun.
Klytaimnestra aber schilt sie eine rasende, worauf der Chor sagt:
Ich aber — Mitleid fühl ich, zürnen will ich nicht!
So komm, du Arme; deinen Wagen steig herab;
Dem Zwange weichend weih das neue Joch dir ein.
Semen milden Sinn bewahrte sich das Hellenenvolk auch noch unter der
Römerherrschaft, wie sein Widerwille gegen die Gladiatorenkämpfe beweist.
In Griechenland, sagt Friedländer im zweiten Baude seiner Darstellungen aus
der Sittengeschichte Roms (Bd. II., S. 426), „setzte die Bildung und Gesittung
des Volks der Einführung der Fechterspiele einen lebhaften Widerstand entgegen,
der immerhin soviel vermochte, daß sie dort nicht so allgemein wurden, wie
in den westlichen Provinzen. Doch freilich bewies die Gewohnheit ihre un¬
widerstehliche Macht auch hier. Dies hatte sich schon damals gezeigt, als
König Antiochus Epiphcmes zum erstenmale in Syrien und wahrscheinlich auch
in Griechenland Gladicitoreuspiele einführte. Zuerst erzeugten sie mehr Ent¬
setzen als Vergnügen; aber durch häufige Wiederholung und indem er die
Kämpfe anfangs nur bis zu Verwundungen, dann bis zum Fall eines Fechters
fortführen ließ, brachte er es dahin, daß sie Beifall fanden." Doch war es,
wie er weiterhin bemerkt, in Griechenland immer nur der Pöbel, dem sie ge¬
fielen; die Gebildeten waren einstimmig in ihrer Verurteilung, und ein Amphi¬
theater läßt sich nur in Korinth nachweisen, das, als römische Kolonie neu
gegründet, von rohem Volke ungriechischer Abstammung wimmelte.
Wer nie im Zorn erglühte,
Kennt auch die Liebe nicht:
Die Lieb ist süße Blüte,
Die bitterm Zorn entbricht;
Wie Rosen blüh» aus Dornen
. Und wunderlieblich stehn.
So steht auf scharfen Zornen
Auch Liebe wunderschön.
E. M. Arndt
inen gewaltigern, jähem und hcrzerhebendern Wechsel der Dinge
binnen wenigen Tagen hat wohl kaum je eine deutsche Stadt
erlebt und gesehen, als die alte Hauptstadt Ostpreußens in dem
schneidend kalten Januar des Jahres 1813. Eben noch war
Königsberg ein Mittelpunkt der französischen Depots und Truppeu-
nachschübe gegen Rußland, eine große Station für Hospitäler, Magazine und
Verwaltungsbehörden, unmittelbar nach Neujahr auch das Hauptquartier der auf
wenige Tausend geordneter Truppen und einige Zehntausend den Schrecknissen
der Beresinci und Wilnas entronnener halb erfrorner und zerlumpter Jammer¬
gestalten zusammengeschmolzenen „großen Armee" gewesen; König Joachim
Murat von Neapel, der seit der Fluchtfahrt seines kaiserlichen Schwagers von
Smorgonh nach Paris jene große Armee befehligte, hatte einige Tage hindurch
in dem leerstehenden Schlosse der Könige von Preußen Rast und Erquickung
nach russischen und litauischen Biwaks gesucht. In allen Straßen Königs¬
bergs hatten sich die Züge der ostwärts rückender Reserven und die Schwärme
der westwärts strebenden Flüchtlinge gekreuzt, fast in alle Häuser Königs¬
bergs hatten Einauartierte und Kranke ihr Elend, ihre Lumpen, ihre Schlacht-
und Frostwunden und die Keime des Nervenfiebers getragen. Noch an dem letzten
Tage des Jahres 1812 hatte eine Bekanntmachung des Oberbürgermeisters
Dr. Heidemann den Königsbergern Vorsicht wegen ansteckender Krankheiten
und die Verpflichtung eingeschärft, von jedem Sterbefall einer „fremden Militär-
Person" in Stadtwohnungen Anzeige auf dem Kneiphöfischen Rathause zu
macheu. Noch eben hatte man sich in allen patriotischen Kreisen zweifelnd
gefragt, ob n«an auf die Vernichtung des napoleonischen Heeres in Rußland
irgend eine unmittelbare Hoffnung bauen dürfe. Mußte man doch für mög¬
lich halten, daß der Befehlshaber des preußischen Hilfskorps der großen Armee,
der eiserne Aork, seine letzten Kräfte einsetzte, das Vordrängen der Russen nach
Preußen zu hindern, daß inzwischen die Besatzungen von Danzig und Thorn,
die Heerhaufen, die die Marken besetzt hielten, am Pregel oder an der Weichsel
gesammelt wurden und den Sieg alsbald zu den französische!? Fahnen zurück¬
führten.
Man las wohl gerade um Neujahr mit glühenden Augen und pochenden
Herzen das neunundzwanzigste Bulletin des Franzosenkaisers, das nur bestätigte,
was man seit Wochen wußte: den jammervollen Untergang der großen Armee.
Da mit einemmale durchbrach wie der Blitz das dichteste Gewölk das Gerücht
von dem Vertrage, den Generalleutnant Uork, der Generalgouvemeur von
Preußen, in der Mühle von Poscherun bei Tauroggen mit den russischen
Generalen abgeschlossen hatte, alle Beklemmungen und Besorgnisse. Wie die
Bürgschaft des Sieges, der Befreiung, der Wiederherstellung, erschien der
kühne Entschluß des preußischen Befehlshabers, seine unmittelbare Folge war
der beschleunigte und nunmehr fast fluchtühuliche Rückzug der französischen
und rheinbündischen Heeresreste, die vollständige Räumung Ostpreußens, der
Übergang des verfolgenden russischen Heeres über den Riemen. Am 5. Januar,
wenige Stunden nach dem Abmarsch der letzten Franzosen, war Graf Wittgen-
steins Vorhut in die ostpreußische Hauptstadt eingerückt, hatte Königsberg die
ersten Kosaken gesehen, die damals noch mit Hellem Enthusiasmus begrüßt
wurden. Am 7. Januar war Wittgenstein selbst eingetroffen und konnte das¬
selbe Quartier im königlichen Schlosse beziehen, das eben Napoleons tapfrer
und komödiantischer Schwager innegehabt hatte, am 8. abends langte Jork
an, der inzwischen seine Truppe» in den für neutral erklärten Landstrich
zwischen Memel und Tilsit verlegte hatte, und uun kam, um, eigenmächtig
wie er die Konvention von Tauroggen abgeschlossen hatte, wahrscheinlich aber
doch durch geheime Nachrichten aus Berlin gestärkt, das Generalgouvernement
der Provinz wieder in seine Hand zu nehmen. Bei der Kunde vou seiner Ankunft
atmeten tausende und abertauseude denn doch froher auf, als bei der Meldung
neuer russischer Generale. Mitten in dem Ernst des Augenblicks, mitten in dem
Elend einer Lage, in der nach Arndts Wort „Jammer und Tod als finstre
Gesellen umherschlichen," mochte man sich die festliche Begrüßung der Befreier
nicht versagen, veranstaltete am Abend des 8. Januar im Königsberger Theater
eine Festvorstellung, bei der Himmels beliebtes Liederspiel „Fanchon das
Leiermädchen" aufgeführt wurde, in das Herr Mosevius mit großem Erfolg
ein Lied „Die Welt ist eine Bierbouteille" einlegte, das wohl in kecker An¬
spielung auf die Zeitverhültnisfe und in der Wirkung ein Vorläufer unsrer
heutigen Kuplets gewesen sein mag. Die Zuversicht, die man mit einem
Schlage zu hegen begann, in der man selbst den Hohn wider die im Augen¬
blick verschwundnen fremden Bedränger nicht scheute, stärkte sich gewaltig an
der Erscheinung des gefeierte» Generals. Wohl drangen dunkle Kunden von
der Unschlüssigkeit in Berlin, von der bedrohlichen Stimmung des Hofes
über Joris vaterlandsrettende Eigenmacht, von den gewaltigen französischen
Rüstungen am Rhein und an der Seine bis zum deutschen. Norden. Aber
zu vollständig hatte man sich binnen wenigen Tagen von dem Gefühl der
Erlösung durchdringen lassen, zu hoch und brausend gingell die Wogen der
Hoffnung nach sieben fast hoffnungslosen, bittern und schweren Jahren, zu
tief war der Eindruck gewesen, den die jammervolle Wiederkehr der Trümmer
des großen Heeres, sieben Monate nach dem prunkvollen und drohenden
Auszug, auf die ostpreußische Bevölkerung gemacht hatte, zu bereit war
man, alles letzte, was mau besaß, zu opfern, um zu zagen, ja ernstlich an
dem glücklichen Ausgange der augenblicklichen Bedrängnisse zweifeln zu
können. Es war schlimm, daß der König so lange zauderte, zu sprechen, doch
er konnte ja nicht anders sprechen, als er nach Wochen und Monaten in der
That gesprochen hat, es war drückend, daß mau an der Seite eines Ver¬
bündeten rüstete, der noch der Feind, und wider einen Feind, der noch der
hohe Alliirte hieß, es verwirrte die einfachern Gemüter, daß die Begriffe
König und Vaterland, die auf diesem guten Boden immer eins gewesen waren,
jetzt auseinanderzufalleu schienen, es war ärgerlich, daß man Boten auf Boten
ans Hoflager in Breslau sandte, um nur die Zustimmung des Königs zu
all den Opfern zu erlangen, die man für ihn brachte. Aber im Grunde ge¬
nommen dachten alle wie jener tapfre Kandidat des Predigtamts von der
kurischen Nehrung, dem der ehrwürdige Generalsuperiutendent Borowski einen
milden Tadel erteilen mußte, weil er ausgerufen hatte: „Man darf unserm
alten Herrgott gar nicht zutrauen, daß er jetzt auch nur in einem Stücke wider
uns sein könnte."
In diesem wunderbaren Januarmonat (am 21. abends) traf über die
russischen Schlachtfelder und Brandstätten, von der grauenvollen Rückzugs¬
straße der großen Armee her mit dem gewaltigen Freiherrn vom Stein auch
der tapfere Professor Ernst Moritz Arndt, der genau ein Jahr zuvor seine Ent¬
lassung an der Greifswalder Universität genommen hatte und auf weitem Bogen
über Schlesien, Mührer und Galizien nach Rußland gegangen war, in Königs¬
berg ein. Arndt hat diese Episode seines vielbewegten Lebens in zweien seiner
autobiographischen Bücher, in den „Erinnerungen aus dem äußern Leben"
(Leipzig, 1840) und in seinen „Wanderungen und Wandlungen mit dem
Reichsfreiherrn Heinrich Karl Friedrich vom Stein" (Berlin, 1858) schwung¬
voll geschildert, noch nach vielen Jahrzehnten bewegte ihm die freudigste Er¬
innerung das Herz. Er hatte in Petersburg während des französisch-russischen
Krieges in Steins deutscher Kanzlei gearbeitet, er kam jetzt als die lirtera-
rische rechte Hand, der vertraute Berater Steins, der im Namen und in
Vollmacht des russischen Kaisers in Königsberg erschien und trotz harter Zu¬
sammenstöße mit den loyalen Ostpreußen die Kraft der Provinz für den hei¬
ligen Krieg rasch entfesselte. Da es sich doch vor allem darum handelte, das
in der Natur der Umstände liegende, im idealen Feuereifer gleichsam vorweg
genommene Bündnis Alexanders von Rußland und Friedrich Wilhelms III.
von Preußen erst zu verwirklichen, so eilte Stein milde Februar nach Kalisch
und Breslau, Arndt aber, der „tageblüttelud," patriotische Gedichte und
Flugschriften verfassend, in Königsberg genug für sich zu thun fand, blieb in
der ostpreußischen Hauptstadt, wo er in dem Hause der patriotischen Gebrüder
Nicolvvins Quartier genommen hatte. Ehe er auf deutschem Boden noch die
Feder anzusetzen vermochte, kündigte die Nieoloviussche Buchhandlung seine
in Petersburg gedruckten Flugschriften „Die Glocke der Stunde in drei Zügen
von E. M. Arndt" an, die sofort, da der aus Rußland mitgebrachte Vor¬
rat nicht weit reichte, nachgedruckt wurden. Jetzt und hier aber brachte ihm
jeder Tag eine neue, eine schönere Aufgabe, er half die Glut der Begeisterung
wie das Feuer des Hasses schüren und fühlte sich nach seinem eignen Be¬
kenntnis mit einemmale wieder jung. „Hier in Königsberg gab es nun ein
ganz neues gewaltiges Leben der Freuden und Wonnen und anch des bun¬
testen Getümmels, Lärms und Wirrwarrs. ... Nun war auch Stein dazu
gekommen, und die Augen aller Menschen waren auf ihn gerichtet, aus allen
Enden des Landes strömten die Männer herbei, teils in des eignen Herzens
Angelegenheiten, teils zu dem großen von Stein veranlaßten preußischen Land¬
tage gelockt und berufen. Mau begreift, daß dieses alles zusammengenommen
die Stadt in die außerordentlichste, lebendigste Bewegung und alle Herzen in
eine ungewöhnliche Teilhaftigkeit versetzt hatte. In diesem Ozean von stür¬
mischer Bewegung und Leben schwamm ich, ein glücklicher Tropfen, so mit,
allen hohen Versammlungen und dem Landtage und allen öffentlichen Fest¬
lichkeiten und allen Ehren- und Frcndengelagen fast immer mit beiwohnend
und in meinen Mußestunden mich der freundlichsten Treue und Liebe gleich-
gesinnter Genossen, alter und neuer Freunde in der Wonne des aufgehenden
deutschen Morgenroth so jugendlich erfreuend, als wäre ich plötzlich aus
meinen Vierziger in die Zwauzige versetzt worden." (Wanderungen und Wand¬
lungen mit dem Freiherrn vom Stein.) Und in den „Erinnerungen aus dem
äußern Leben" heißt es: „Dies waren leuchtende Tage, diese kriegesbangen
Tage, und jeder ward von der allgemeinen Gesinnung und Begeisterung mit
fortgetragen und emporgehalten. So bin auch ich damals getragen worden, ohne
daß ich mir das Verdienst ansprechen könnte, so reiner und edler Heber und
Schweber, als mich trugen, würdig gewesen zu sein. Ich wohnte und lebte in
dem Hause der Gebrüder Nieolovins, die mit Leib und Seele mit den Bessern
und Edlem ihres Vaterlandes strebten; ich lebte viel im Hause eines Jugend-
freundes, mit welchem ich vor fünfzehn Jahren manche fröhliche Donaufahrt
in Wien und Ungarn gemacht hatte, des Doktors Wilhelm Motherby, bei
welchem sich der Glanz der jugendlichen Welt versammelte, tapfere und begeisterte
Jünglinge: seine Brüder, die Motherby, Friccius, von Fahrenheit, von Barde¬
leben und andre, die dem Vaterlande in der Not nicht gefehlt haben; ich
lebte noch mehr, wirklich die meisten Königsberger Abende, in dem Hause des
Kanzlers Freiherrn von Schroeter, des Gemahls einer Dohnaschen Schwester.
Dort wohnte die herrliche Julie Scharnhorst, Gräfin Friedrich zu Dohna, die
schönste Erbin des väterlichen Geistes. Sie war die rechte Fürstin der Be¬
geisterung, damals von Jugend, Schönheit und Seelenhoheit strahlend. In
diesem Hause versammelten sich die Dohna sehr oft und was durch Würdig¬
keit, Gelehrsamkeit und Tapferkeit in Königsberg ausgezeichnet war."
Inmitten dieses hoffnungsfrohen Getümmels sprang bei Arndt die Ader
der patriotischen Poesie voll auf. Während er in Steins Auftrag seine
Büchlein „Katechismus für den deutschen Kriegs- und Wehrmann," „Was
bedeutet Landwehr und Landsturm?", seine „Kurzem und wahrhaftigen Er¬
zählungen von Napoleon Bonapartens verderblichen Anschlägen, von seinen
Kriegen in Spanien und Rußland, von der Zerstörung seiner Heeresmacht
und von der Bedeutung des gegenwärtigen deutschen Krieges" teils vollendete,
teils begann, strömten ans seiner Seele immer neue Klänge, in denen er
das Thema:
unablässig variirte. Das „Vatcrlandslicd" (Der Gott, der Eisen wachsen
ließ) und das „Lied vom Schill" hatte der Dichter von Petersburg mit¬
gebracht, in diesen Februar- und Märztagen von 1813 entstand in Königsberg
Arndts bekanntestes Lied „Was ist des Deutschen Vaterland," das millionen-
mcil in Zorn und Wehmut gesungen werden sollte, bevor es endlich eine
Wahrheit ward, ferner „Der Knabe Robert fest und wert," „Deutsches
Herz, verzage nicht", „Das Lied vom Chazot" und „Das Lied vom Gneisenau."
Des Dichters ganzes Wesen schien gleichsam in Eisen getaucht zu sein, seine
Seele nur die Lust der Schlachten, der lange ersehnten Rache zu atmen. Und
doch setzte viele Jahrzehnte später Arndt, da er als rheinischer Patriarch
die letzte große Sammlung seiner „Gedichte" ordnete und einen Teil dieser
Gedichte mit Jahreszahlen versah, die rotlenchtende 1813 nicht bloß über
die obengenannten vaterländischen Lieder, sondern anch über eine Reihe
von Klinggedichten und schmelzenden Liedern, doch stellte er Gedichte wie
„Frühling und Furina" und „Was Goldringlein sagen soll" zwischen „Des
deutschen Knaben Robert Schwur" und „Deutscher Trost" hinein, doch ließ
er zwischen seiner Elegie „Scharnhorst der Ehrenbote" und dein wie
Schmettern von Siegestrompeten erklingenden „Lied vom Feldmarschall"
(Was blasen die Trompeten? Husaren heraus!) Raum für die beinahe
Matthissonschen Klänge „An die Wehmut" und den idyllischen „Lebenstraum,
der Künftigen gemalt zu Reichenbach im Sommer 1813." Hier gab es in
Arndts Leben und Dichten ein Rätsel, um so mehr, als auch die vertrauten
Mitteilungen an die Rügische Freundin Charlotte von Kathen, die Ed. Langen-
berg als „Ernst Moritz Arndts Briefe an eine Freundin" (Berlin, 1878)
herausgegeben hat, für die Wintermonate 1813 und den folgenden Sommer
jeden Aufschluß versagen. Das Rätsel erscheint nun vollständig gelöst durch den
neuesten Beitrag zur „Arndtlitteratur," die von Heinrich Meisner jüngst
herausgegebnen Briefe an Johanna Motherby von Wilhelm von
Humboldt und Ernst Moritz Arndt.") Daß es erfreulicher sein würde,
wenn auch diese bedeutsame Episode in dem Leben des mannhaften Dichters und
Kämpfers in einer wirklichen, innerlich vollständigen, künstlerisch abgeschlossenen
Biographie, einem Buche über Arndt und seine Zeit verwertet, behandelt und
ins rechte Licht gerückt wäre, anstatt wiederum nur eine Sammlung inter¬
essanter Briefe abzugeben, braucht kaum gesagt zu werden. Doch gehören
die hier veröffentlichten Briefe (die 1890 auf der Auktion von R. Leyte
versteigert und von der königliche» Bibliothek in Berlin erstanden wurden)
zu den Materialpublikativnen, die ein besondres Recht und einen besonder»
Wert in Anspruch zu nehmen haben, sie können allerdings das Ver¬
ständnis des Seelenlebens Arndts fördern, sie werden, wie der Heraus¬
geber im Vorwort betont, überdies noch durch ihren Hintergrund, die großen
Jahre der deutschen Befreiungskriege und ihre Folgezeit, Interesse auch dort
erwecken, wo Arndt mit seinem starken Deutschtum ungerechterweise bereits
zu altertümlich geworden ist. Denn um es kurz zu sagen, sie offenbaren in
überraschender Weise, daß der starke, trotzige Vaterlandskümpfer in jedem
Betracht der Sohn seines Geschlechts war, daß er das tiefe Bedürfnis nach
inniger, seelischer Gemeinschaft mit einem liebenswürdigen Weibe in sich trug,
daß er eben in den berauschenden lenzhaften Winterwocheu zu Königsberg ein
Freundschaftsbündnis mit einer interessanten Frau schloß, das hart an die
Grenze leidenschaftlicher Liebe streifte, ja mehr als einmal diese Grenze über¬
sprang, ein Verhältnis, das ihn während der ganzen großen Zeit erfüllte,
ohne ihn doch vollständig auszufüllen, und das nach allem, was sich aus Arndts
Briefen an Johanna Motherby herauslesen läßt, sehr leicht zu einer Klippe
der Zukunft des ernsten Mannes hätte werden können. Der Herausgeber
glaubt in den brieflichen Zeugnissen des romantischen Verhältnisses den Beweis
zu finden, daß an dieser Freundschaft mit überquellender Leidenschaft „kein
sittlicher Makel haftet"; er wird leider erfahren, daß die gehässige Neigung
den Ehrenschild großer Naturen mit Schmutz zu beWerfen, die cynische Lust
an der Herabziehung alles Ungemeinen in die platte Gemeinheit und der
heuchlerische Tugenddünkel, in dem sich ein Teil der heutigen Welt gefällt,
die dunkeln und verfänglichen Stellen dieser Briefe ganz anders ausbeuten
werden, als er. Doch meinen wir nicht, daß die Briefe felbst darum Hütten
ungedruckt bleiben sollen; sie zeigen uns Arndt in hohen, verderbendrohenden
Wogen, aber sie zeigen ihn auch als deu mächtigen Schwimmer, der selbst
solche Wogen teilen und besiegen konnte. Die jugendlichen, „rauscherigen"
Abende im Hanse Wilhelm Motherbys, wie sie Arndt selbst nennt, die beiden
beseligenden Monate, in denen ihn neben dem Hoffnungsrausch für das Vater¬
land ein Freundschafts- und Liebesrausch überkam, klangen noch jahrzehntelang
in seinem Leben nach, und die Treue, mit der er die Erinnerung an die
innern Erlebnisse des Winters 1813 festhielt, mit der er Johanna Motherby
unter allen wechselnden Verhältnissen einen Platz in seinem Herzen und das
Recht auf seine Freundschaft wahrte, sind ein feiner und gewinnender Zug
mehr zu dem Bilde deS unvergeßlichen Mannes.
(Schluß folgt)
Wenn ich im folgenden abermals einen Verbesserungsvorfchlag
für unser Reichstagswahlrecht mache, so bin ich diesmal wenigstens in der glücklichen
Lage, mich nicht erst in einer langen Einleitung über Grundsätzliches verbreiten
zu müssen. Man wird wohl eben so einig darüber sein, daß sich gegen die Stich¬
wahlen grundsätzlich nicht viel einwenden läßt, als darüber, daß sie in der Praxis
zu einem Übel geworden find.
Mein Vorschlag ist nun der, die Stichwahl dadurch überflüssig zu machen,
daß der Wähler gleich im ersten Wahlgänge darüber entscheiden darf, welchem der
aufgestellten Kandidaten er sein Vertrauen schenken will, wenn der zunächst von
ihm gewählte nicht durchdringen sollte. Das ist sehr einfach in folgender Weise
durchzuführen.
Jedem Wähler wird gestattet, zwei Namen auf seinen Zettel zu schreiben,
von denen bei der Feststellung des Ergebnisses zunächst der erste berücksichtigt wird.
Die Wahlzettel aber, die zwei Namen enthalten, werden gleich ausgesondert. Er¬
giebt sich nun aus den zuerst stehenden Namen für keinen Kandidaten die absolute
Mehrheit, so werden die um zweiter Stelle stehenden gleichfalls zusammengestellt,
und es werden jedem Kandidaten zu den Stimmen, die er an erster Stelle er¬
halten hat, die ihm an zweiter Stelle gegebnen zugezählt. Wer hiernach die höchste
Zahl von Stimmen auf sich vereinigt, ist gewählt, auch dann, wenn er nicht die
absolute Mehrheit hat. Denn wenn sich die an zweiter Stelle abgegebnen Stimmen
anch wieder auf aussichtslose Kandidaten zersplittern, so ist doch wohl meist an¬
zunehmen, daß viele vou deu Wählern sich auch uicht entschlossen hätten, in einer
Stichwahl für einen der aussichtsreicheru Kandidaten zu stimmen, sondern daß sie
sich lieber der Abstimmung enthalten hätten, daß also die absolute Mehrheit in
der Stichwahl kleiner gewesen wäre als im ersten Wahlgänge.
Es ist klar, daß dieses Verfahren nicht immer einem der beiden Kandidaten
zum Siege verhelfen würde, die unter den heutigen Verhältnissen mit einander in
Stichwahl gekommen sein würden. Das scheint mir aber kein Fehler zu sein. Es
ist heute ganz gut möglich, daß zwei rechte Parteistreithähne, von denen außer
ihren Wählern vom ersten Wahlgang niemand etwas wissen mag, mit einander in
Stichwahl kommen, während ein Mann von gemäßigten Anschauungen, mit dem
sich fast alle Wähler des Wahlkreises zur Not befreunden könnten, außer Kampf
gesetzt ist, weil er im ersten Wahlgänge vielleicht eine Stimme weniger gehabt hat
als einer jener Fanatiker. Nach dem hier vorgeschlagneu Verfahren würde dieser
Mann wahrscheinlich gewählt werden, und gewiß wäre er eher der Vertrauensmann
des ganzen Wahlkreises und somit der richtige Abgeordnete für ihn, als einer von
den beiden andern.
Nahe liegt die Frage, ob es überhaupt nötig wäre, die Abstimmung an zweiter
Stelle auf Kandidaten zu beschränken, die schon an erster Stelle Stimmen erhalten
haben. Es wäre ja ganz gut möglich, daß mehrere Parteien von annähernd
gleicher Stärke sämtlich zunächst versuchen wollten, ihre eignen Kandidaten durch-
zubringen, daß sie sich aber von vornherein geeinigt hätten, dann für einen Kom-
promißkandidnten zu stimmen, für einen Manu, für deu keine von ihnen schon
zuerst eintreten wollte. Für solche Fälle würde es aber schon genügen, dem Kom-
promißtandidaten nur eine einzige Stimme an erster Stelle zuzuwenden, um die
an zweiter Stelle für ihn abgegebnen Stimmen giltig zu machen. Die Ab¬
stimmung an zweiter Stelle gänzlich freizugeben würde sich dagegen nicht empfehlen,
denn wenn der Wähler um zweiter Stelle für einen Mann stimmen dürfte, der an
erster Stelle keine Stimmen erhalten hat, so würde das dem eigentlichen Zwecke
der zweiten Stimme, lediglich eine engere Auswahl uuter deu einmal vorhndnen
G, !v.
Unter dem Eindruck der letzten ReichstagS-
wahl schreibt ein „angesehener Patriot und nationalliberaler Parteiführer seiner
(badischen) Heimat" der Münchner Allgemeinen Zeitung (Ur. 181) eiuen Brief voll
Klagen über den Mangel um Begeisterung und Vertrauen in seinem Bezirk, den
die Stichwahl ans Zentrum gebracht hat. Der Brief ist ein so aufrichtiges Zeugnis
für die Schlvachmiitigleit, die in Deutschland viele Kreise erfaßt habt, und spricht
eine so hoffnungslose politische Naivität aus, daß wir ihm notwendig ein paar
Worte widmen müssen. Er sieht alles Übel in der Entlassung Bismarcks, nur in
ihr. Bismarck allein war es, der die demokratischen, kosmopolitische» Süddeutschen
zu guten Reichsdeutschen gemacht hat. „Mit Bismarck hat mau deu stärksten
Magnet weggenommen, der uns nach dem Norden hingezogen hat." Daher Mangel
an Vertrauen zur Regierung, Mißstimmung, sogar Abnahme der Popularität des
Kaisers.
Wir fragen: Wo bleiben denn die eignen Fehler der badischen Nationallibe¬
ralen, der Unduldsamsten dieser Partei? Und welchen Eindruck mag dieses Ge-
winsel auf den großen, greisen Staatsmann in Friedrichsruh machen? Mit welchem
Gefühl mag er auf die Zeit zurücksehen, wo er mit solchen Politikern arbeiten
mußte? Waren keine andern Gründe stark genug, die Süddeutsche» dem Norden
zuzudrängen, als nur die Politik Bismarcks? Giebt es denn keine Logik in der
Geschichte, die unerbittlich ans der Entwicklung der Jahrhunderte den Schluß zog,
daß in Deutschland die Zersplitterung aufhören und die Einheit erstehen müsse?
Welches deutsche Kleinparlament hatte, ehe Bismarcks Stern aufging, eine so über¬
zeugte kleindeutsch-nationnle Mehrheit wie das badische? Wir glauben Bismarck so
warm zu verehren wie nur irgend ein deutscher Mann, haben aber immer geglaubt,
daß der beste Dank, den wir ihm zollen könnten, in der Nacheiferung seines großen
Beispiels bestehe. Und deswegen haben wir seit jenen traurigen Märztagen nie¬
mals die Hände in den Schoß gelegt, sondern unverdrossen für das Baterlaud
fortgearbeitet, überzeugt, daß uach göttliche» Gesetzen doch einmal der Tag kommen
mußte, wo wir das Schiff ohne Bismarck steuern mußten. Im Leben eines großen
Volkes kann es — so sagten wir uns — zuletzt doch nicht auf ein paar Jahre
mehr oder weniger ankommen, die es ohne einen Mann sich erhalten muß, der
all sein Vertrauen und seine Liebe besaß. Menschen kommen und gehen, Völker
bestehen, wenn — sie es wert sind. Bismarck am Steuer, und wenn er das volle
Vertrauen seines Herrn besäße, würde Deutschland heute nicht stärker machen. Die
Welt würde nur noch mißtrauischer dem Augenblick entgegensehen, wo sein Volk
die ersten Schritte ohne ihn zu thun hätte. Wir wagen es, die Ketzerei auszu-
sprechen, daß Deutschland in den Augen der Welt mir gewonnen hat durch den
Beweis, daß es auch ohne Bismarck stehen und gehen kann. Treue ist schön und
edel, und wir werden sie dem Vater unsers Vaterlandes immer und ewig be¬
wahren. Aber das Vaterland über die Person! Und müßte es gegen Bismarck
geschehen, wir würden nie durch trauernde Rückblicke unsre Stärke, sein Werk zu
erhalten glauben, sondern nur dadurch, daß wir in möglichst vielen Deutschen jene
Eigenschaften pflegen, die wir an ihm bewundern und lieben: die Festigkeit, die
Klarheit, den bei aller Wärme des Herzens kühlen Verstand in allen Dingen des
Staates. So statten wir ihm am besten unsern Dank ab; und so hoffen wir,
allen Jammerprinzen zum Trotz, noch lange zu beweisen, daß er seinem Volke ge¬
schenkt war, damit es von ihm lerne, und daß er seine Aufgabe, uns zu stählen,
erfüllt hat.
ebenso schwer im Volke empfunden wie meist
nutzlos erörtert, reicht bekanntlich bis ins graue Altertum hinauf; schou Homer
(Odyss. XI, 3K4) hat das streifende Gesindel mit treffenden Worten zeichnen können:
ein Gaudieb, wie ja so viele
Nährt die dunkle Erde, die weit sich zerstreuenden Menschen,
Die, wo keiner sich des versieht, uns umgaukeln mit Lügen.
Die Plage vergrößert sich bei sinkendem Volkswohlstande, auch schon bei nur
zeitweiligen Niedergang der Erwerbsverhältnisse; am ärgsten soll sie in Deutschland
nach dem dreißigjährigen Kriege gewesen sein. Auch jetzt ist sie, Ivie alle Welt
weiß, trotz aller Zurückdrängung durch die Polizei und Strafjustiz drückend genug;
die Frage ihrer Losung verquickt sich überdies, zu ihrer wesentlichen Erschwerung,
mit dem ihr verwandten Problem, ivie man der Arbeitslosigkeit engerer und weiterer
Volksschichten wirksam begegnen könne. Die Abhilfe ist auch dort in sorgfältig er-
wogncn wirtschaftlichen Mcißnahmcn zu suchen, die denn auch schon in der Ein¬
richtung von Arbciterkolouien n. s. w. ins Leben getreten sind, weit weniger dagegen
in der vielfach überschätzten Bekämpfung dnrch Gefängnis und Arbeitshaus. Denn
soweit die Berhängnng dieser Strafen nicht wirkliche Arbeitsscheu trifft, richtet sie
sich ebeu uur gegen Anzeichen eines weit tiefer liegenden wirtschaftlichen Schadens.
Und sie ist um so bedenklicher, als nach den neuern Forschungen der Jrrenheil-
kundc unter den von einem Gerichtsgefängnisse ins andre geschobnen Landstreichern
an dreißig Prozent geistesschwach sein sollen, daher in Wahrheit der strafrechtlichen
Verantwortlichkeit entbehren würden. Da aber die Vertauschung des Gefängnisses
oder Arbeitshauses mit der Irrenanstalt bei der jetzigen Lage der Gesetzgebung,
wie jeder Richter und Staatsanwalt weiß, an Unmöglichkeit grenzt und vielleicht
von den betroffnen kaum als Wohlthat und Gerechtigkeit empfunden werden würde,
so gilt für unsre Gefängnisse noch immer der Spruch, den ein im vorigen Jahr¬
hundert erbautes Zuchthaus über seiner Eingangspforte zeigt! ^um'emals taeinorosis
eustoiljenäiZ kuiiasis alle^es, äomus, eine Verbindung zweier Zwecke, ans die unsre
heutige stolze Wissenschaft verächtlich herabzublicken Pflegt. Für einen zweckmäßigen
Ausbau unsrer Gesetze wäre — zur Beseitigung der Brandschatzung des Landes
durch die gefährlichen Bettler und zur Verminderung der Kosten, die deren poli¬
zeiliche und gerichtliche Verfolgung verursacht — endlich einmal ernstlich in Er¬
wägung zu ziehen, ob man nicht die geistig defekten Landstreicher in Arbeiter¬
kolonien ein- für allemal festsetzen sollte, die etwa unter der Mitverwaltung von
Irrenanstalten stünde», ähnlich wie jetzt schon die von der Irrenanstalt zu Hildes¬
heim abgezweigte ländliche Jrrenkolonie Einuni. Und weiter, ob man nicht die
Scheu vor dem Kostenaufwand überwinden sollte, nicht bloß Arbeitsgelegenheit
nachzuweisen, sondern auch zu schaffen. Es ist doch ein eignes Ding um die Be¬
strafung von Meuschen, die nur der Mangel an Arbeit, die Notlage und die ewig
ungenügende Unterstützung der Pflichtigen Gemeinden zur Verletzung der Rechts¬
ordnung zwingt. Das Wort Goethes wird dabei zur bittern Wahrheit: „Ihr laßt
den Armen schuldig werden, dann überlaßt ihr ihn der Pein!" Hier wäre wirk¬
lich, wie man auf dem internationalen Wohlthätigkeitskongresse zu Frankfurt 1857
viel zu allgemein meinte, die „Freigabe der Arbeitsgelegenheit die beste Wohl¬
thätigkeit." Auch das mag noch bemerkt sein, daß selbst vom rein finanziellen
Standpunkt eine derartige gründliche Reform, die dem verurteilenden Richter den
Hinweis ermöglichte: „Nur die verschuldete Nichtbenutzung von Arbeitsgelegenheit
versetzte dich in Not," sich sehr empfehlen würde.
Man beachte nur einmal folgendes Beispiel, das sich häufig vor den Gerichts¬
schranken wiederholt. Ein in Not geratner Familienvater stiehlt zur Winterszeit
einige Scheit Brennholz; ist er im „Rückfalle," so erhält er dafür mindestens drei
Monate Gefängnis. Der Staat bezahlt diesen Aufwand, die Familie fällt während
der Zeit der Gemeinde zur Last, und die Kinder verlumpen und verkommen noch
mehr und werden schließlich geradezu zu einer Gefahr für die öffentliche Ordnung.
Und das alles hätte abgewandt werden können durch rechtzeitige Unterstützung mit
dem wenigen Holz zur Feuerung! Mag das in vielen Fällen, zumal wo es sich
um sittlich niedrig stehende handelt, nichts fruchten und leicht daraus die Gefahr
einer zick- und grenzenlosen Unterstützungspflicht erwachsen, es verlohnt sich doch,
die Sache anch einmal von dieser Seite anzusehen. Eine Vergleichung z. B. der
Kosten, die in dem preußischen Justizausgabeetat für 1893/91 mit seinen vieruud-
neunzig Millionen und dem Verwaltungsaufwand für die Strafanstalten mit weitern
neun Millionen stecken und auf Bestrafung solcher Gesetzesverletzuugen zu rechnen
sind, die durch zweckmäßige Gewährung von Arbeit oder vorübergehender Orts-
unterstütznng hätten vermieden werden können, mit dem Betrage eben dieser Orts-
uuterstützuugeu würde, so außerordentlich schwierig sie sein mag, gewiß einen
überraschenden Unterschied ergeben und wesentlich zu Gunsten vorbeugender Ma߬
nahmen sprechen. Auch in einem trefflichen Aufsatze des Pariser Lorrospon-
äimt, über die dortige Stiftung einer Zentralstelle für Wohlthätigkeitseinrich-
tungeu durch den Grafen Laubespin fanden sich kürzlich ähnliche Gedanken, die
gerade in Frankreich, bei dem Mangel einer Zwangsarmenpflege und der weit¬
verbreiteten Abneigung gegen jede Art von Staatssozialismus, bemerkenswert
sind. In einer Versammlung der Gesellschaft für soziale Volkswirtschaft wies
der frühere Abgeordnete Lamp unter dem Beifall der Zuhörer auf die unerhörte
Thatsache hin, daß rüstige Männer, die wegen Mangel an Arbeit ihr Herbergs¬
geld nicht mehr zahlen könnten, ausgesetzt, wie Landstreicher aufgegriffen, vor die
Gerichtsschranken geführt und verurteilt würden, um fo erst, gedemütigt und im
Gefängnisse, die nötige Nahrung und Unterkunft zu erhalten!
Ein merkwürdiges Buch hat uus zu diesen Zeilen Veranlassung gegeben, näm¬
lich eine vor nun schon fünfundsechzig Jahren in Kassel veranstaltete Sammlung
von Stammtafeln einer Reihe von Ganuerfamilien. Da zeigt sich nicht nur, wie
eifrig man auch damals schon auf Polizeiliche Unterdrückung der landstreichenden
Gauner bedacht war, sondern zugleich in überraschender Weise die Möglichkeit, auch
da, wo man es im allgemeinen nur mit einzelnen ans der menschlichen Gesellschaft
ausgestoßner zu thun zu haben glaubt, doch einen familienhaften Zusammeuhnng
und eine gewisse Übertragung von Geschlecht zu Geschlecht zu sehen. Freilich betont
der Herausgeber, der kurhessische Polizeidirektor Pfeiffer, der hierin übrigens schon
einige Vorgänger hatte, die außerordentliche Schwierigkeit solcher Nachweisungen;
und doch zeigen seine Tafeln, wie die Seuche der Spitzbüberei fast regelmäßig
ganze Familien ergreift und ihre Mitglieder im Stvckhanse oder am Galgen enden
läßt. Weiter aber auch noch, wie in ihnen Zuhälterschaft der Weiber und un¬
eheliche Nachkommenschaft die Regel bildet, und darunter, was Lombroso und seine
Schule entzücken würde, zahlreiche Personen als blind, taub oder irrsinnig bezeichnet
werden können.
Daß es nicht mehr Müllers Hotel, Pension von Frau
Schulze u. s. w., sondern Hotel Müller, Pension Schutze heißt, daran hat man
sich ja allmählich gewöhnen müssen. Nun sangen aber auch die alten guten
Gasthöfe zum Engel, zum Hirsch u. s. w. an, sich Hotel Engel, Hotel Hirsch, Hotel
Adler, Hotel Bär u. s. w. zu nennen. Da ist nun der Fremde, der die erst¬
genannte Wandlung in ihrer Schönheit begriffen hat, zu der Folgerung berechtigt,
es seien das Gasthöfe, deren Eigentümer Hirsch, Bär, Adler, Engel heißen. Und
wenn er nicht gern bei Juden wohnt und ihm diese Gasthofsnamen ver¬
dächtig vorkommen, so geht er lieber wo anders hin. Vielleicht werden aber mich
die deutsch-sozialen oder andre antisemitische Blätter in Zukunft diese Hotels Hirsch,
Adler, Löwe u. s. w. mit aufführen, wenn sie wieder einmal die Verjudung Deutsch¬
lands statistisch belegen wollen. Damit würde ihnen freilich ganz Recht geschehen,
warum schreiben sie nicht deutsch!
oller wir uns freuen oder grämen, daß die Reichstagswahlen vor¬
über sind? Ach, der Geschmack ist heutzutage gar zu verschieden;
es giebt Leute, denen das Wählen ein großes Vergnügen ist,
während andern nichts so sehr zuwider ist als neue Wahlen.
Die Sozialdemokraten, die desto bessere Geschäfte machen, je
öfter gewühlt wird, werden durch uoch so häufiges Wählen nicht ermüdet
und sind stets zu neuen Abstimmungen aufgelegt. Dagegen hört man aus
den Reihen des etwas bunt und wenig übersichtlich zusammengesetzten Heeres
ihrer Gegner von Zeit zu Zeit den Ruf erschallen, daß man müde sei und
„Nuhebedürfnis" empfinde. Man könnte ja nun für die Müdigkeit nach den
letzten Reichstagswahlen die bekannte in jedem „Hochsommer" die Parlamen¬
tarier so sehr bedrückende „Hitze" verantwortlich machen, wenn man nnr nicht
ans Erfahrung wüßte, daß nach jeder Wahl und zu jeder Jahreszeit ein
Chor von Stimmen Ruhe und Nichtsthun als die erste Bürgerpflicht em¬
pfiehlt. Die „Wahlmüdigkeit" muß also doch ihre besondern, in der Wahl
selbst liegenden Gründe haben.
Nach dem äußerlich so auffallend ruhigen Verlauf der Juniwahlen zu
urteilen, müßte eigentlich alle Welt diesmal recht fröhlich und zufrieden fein.
Ruhe wurde schon während den Wahlen von allen Stationen gemeldet, die
Paar Aufkäufe und Krawatte, die sich ereigneten, waren bedeutungslos und
konnten dem Gesamtbilde kein andres Gepräge geben. Und doch haben es die
Parteien an Agitation nicht fehlen lassen; auch die „Freisinnige Zeitung,"
deren Partei mit wenig Glück gefochten hat, hat gefunden, daß man sich
wenigstens den natürlich sehr schlimmen Vorwurf nicht zu machen brauche,
nicht genug agitirt zu haben. Sogar dem „Vorwärts," dessen Wahlspruch:
„Agitiren, erziehen, organisiren" lautet, entfuhr nach dem 15. Juni ein „Uff"
der Erleichterung. Nicht nur Freisinn und Sozialdemokratie bilden kräftig
agitirt, auch die sogenannten staatserhaltenden Parteien haben diesmal ge¬
zeigt, wie viel sie von den Radikalen gelernt haben. Die Starke der Wahl-
bcwcgnng wäre am besten durch den Massenverbrauch von Papier und Drucker¬
schwärze festzustellen, die sie gekostet hat; zentnerweise wie noch nie sind die Flug¬
schriften von hüben und drüben ins deutsche Land gegangen. In dem einen
Punkte scheinen wir Deutschen einig geworden zu sein, daß wir ohne lebhafte
Agitation durch Rede und Schrift nicht mehr regiert werden können; so konser¬
vativ ist keiner mehr, daß er nicht agitirte, denn allgemein wird es für nötig
gehalten, das Volk bis auf den letzten Mann „aufzuklären," selbst die Re¬
gierung muß uns aufklären, um ihren Willen durchzusetzen, und Aufklärung
und Agitation gehen Hand in Hand. Es handelt sich aber vor allem darum,
uns aufzuklären, für welche von all den ehrliebenden Parteien wir stimmen,
und welchen von all den achtuugswerten Kandidaten wir wählen sollen, und
das ist keine Kleinigkeit, die umstrittenen Wähler haben die Wahl und die Qual.
Wenn man sich damit begnügte, massenhaft zu reden, zu predigen, zu
drucken, möchte der bittere Nachgeschmack einer solchen Wahl noch einigermaßen
erträglich sein, aber Krieg ist Krieg, und im Kriege kann es überhaupt mit
den angewandten Mitteln nicht so genau genommen werden. Notlügen sind
von jeher erlaubt gewesen, und Wahllügen gelten fast als Notlügen. Es
bleibt nicht bei allerlei Kniffen und Pfiffen, auf die sich unsre in der Reklame
und der Technik so bewanderte Zeit natürlich ausgezeichnet versteht. Warum
sollte nicht der Herr auf den Diener, der Unternehmer auf den Arbeiter, der
„Genosse" auf den „Genossen" seinen „Einfluß" ausüben, auch wenn er mit
einem „gelinden Druck" verbunden ist? Der Herr freut sich, wenn er es er¬
reicht, daß seine Leute abstimmen, wie er will, aber er bedenkt nicht, daß sie
gerade durch sein Verhalten die Wichtigkeit des Wahlzcttels gewahr werden,
und daß sie leicht auf den Einfall kommen können, sich einmal in einem ihm
nicht genehmen Sinn an der Wahl zu beteiligen. Durch die mancherlei Wahl¬
unregelmäßigkeiten, von deuen die Zeitungen berichten, wird auch ein gewisses
Mißtrauen gegen die völlige Richtigkeit der Wahlergebnisse erzeugt, besonders
wenn die Mehrheit der siegenden Kandidaten nur ganz gering ist. Alle solche
Dinge sind nicht geeignet, die Volksmoral zu erhöhen. Aber freilich ist das
Wählen nicht zu dem besondern Zweck erfunden worden, das Volk moralischer
zu machen.
Was diese Juniwahlcn außer der vielen Agitation und den, wie es
scheint, vielen Unregelmäßigkeiten, an die sich nun Wahlproteste anschließen
werden, noch auszeichnete, sind die vielen Parteien und Parteischattirungen
und die vielen Kandidaturen nebst den vielen Stichwahlen. Was für eine
schwere Aufgabe ist es für den armen Wühler, der sich wirklich eine eigne
Meinung bilden will, unter den verschiednen Parteiprogrammen das beste
herauszufinden! Der Wähler, der es ernst meint, muß zuweilen zu glauben
geneigt sein, daß der Staat, der die Entscheidung vertrauensvoll in seine Hunde
legt, doch allzuviel von ihm verlange. Manche Kandidaten schmücken sich noch
nebenbei, um ihm das Leben recht schwer zu machen, mit allerlei persönlichen
Anschauungen, die sie nicht versäumen ihm vorzutragen, reiten irgend ein
Steckenpferd oder schwärmen für irgend eine noch nicht dagewesene Lieblings-
stener. 180 Stichwahlen sind die Folge der großen Zahl der Parteien und
Kandidaturen gewesen, und nach einer in den Zeitungen erschienenen Rechnung
waren uns insgesamt 1401 Kandidaten beschert worden, wenn nicht etwa,
was leicht möglich ist, noch einige vergessen sein sollten. Das schöne Er¬
gebnis all dieser Wahlen ist ein ganz neuer Reichstag, auf den jeder, dem
es beliebt, so viel Hoffnungen setzen kann, wie der Wucherer Zahlen auf einen
Blankowechsel.
Mau könnte nun immerhin mit all den sauern Anstrengungen der Wahlen
noch zufrieden sein, wenn man nun wirklich wüßte, woran man wäre. Es
ist merkwürdig, wie wenig die Reichstagswahl die Volksmeinung gerade in
der Frage, die zunächst auf der Tagesordnung stand, zum klaren und unzwei¬
deutigen Ausdruck gebracht hat. Die ganze Zerfahrenheit unsrer Zustünde
wird durch nichts besser gekennzeichnet als durch die bis zum letzten Augen¬
blicke andauernde Unsicherheit über das Schicksal der Militürvvrlage. Bor
dem 15. Juni konnte niemand wissen, ob die Ja- oder Neinsager die Mehr¬
heit bekommen würden. Nach diesem Tage wagte man es, die Anzahl der
Freunde der Vorlage auf vier, fünf oder zehn mehr als die der Gegner zu
schützen. Aber es mußten die Stichwahlen abgewartet werden, deren Ausgang
ebenfalls nicht mit völliger Sicherheit vorauszusehen war. Ja selbst nach
Beendigung des ganzen Wahlgeschüfts konnten noch Zweifel laut werden, ob
nicht verschiedne Abgeordnete, die für Freunde gehalten worden waren, viel¬
mehr Feinde der Heeresverstärknng wären. Also bei einer so wichtigen An¬
gelegenheit wie der Sicherheit des Reichs nud der Bedeutung seiner euro¬
päische» Machtstellung bleibt es wie bei einem Hazardspiel lange Zeit im un¬
klaren, ob die rollenden Würfel auf Gerade oder Ungerade zu fallen geruhen.
Und nach der Wahl müssen zwar die Neinsager zugestehen, daß sich eine
Mehrheit von Abgeordneten für die Vorlage finden werde, aber sie können
mit einem Schein des Rechts behaupten, daß sich der größere Teil des Volks
dagegen entschieden habe, weil 2-300000 Stimmen mehr dagegen als dafür
gezählt werden könnten. Sind das erfreuliche Zustände? Wo steckt der Fehler?
Es war ein großer Irrtum, anzunehmen, daß es sich bei dieser Neichs-
tagswahl ausschließlich oder auch nur in erster Linie um die Annahme oder
Ablehnung der nach Herrn von Humes Antrügen abgeänderten Vorlage ge¬
dreht habe. Das Volk interessirte sich keineswegs in demselben Grade wie
die Sachverständigen vom Militär für das Schicksal des „Antrags Hume."
Es ist ein häufiger und erklärlicher Irrtum, daß man bei andern dasselbe
Interesse voraussetzt, das man selber hat. Trotz der langen Zahlenreihen
über das deutsche und die fremden Heere, die man den Wählern vor Augen
geführt hat, ist die Notwendigkeit der Verstärkung nicht allgemein eingesehen
worden. Welcher Deutsche sollte sich auch einreden lassen, daß wir, die wir
1870 glänzend gesiegt haben, wir, die wir ein militärisches Volk in Waffen
sind, wir, bei denen die Fürsorge für die lieben Soldaten über alle andern
Rücksichten geht, mit einemmale nicht einmal für die Verteidigung stark genug
sein sollen? Daß wir aber eines stärkern Heers als die Nachbarstaaten be¬
dürfen, um im Kriegsfall uach guter deutscher Art gehörig angriffsweise vor¬
zugehen, hat man sich gescheut mit der wünschenswerten Deutlichkeit zu sagen.
Der Großherzog von Baden hat in einer vorzüglichen Ansprache eine Wen¬
dung gebraucht, die man vielleicht in dem Sinne, wie wir es meinen, zu ver¬
stehen berechtigt ist. Unsre Soldaten sind nicht bloß des lieben bewaffneten
Friedens, sondern auch des Krieges wegen da; man kaun das sagen, auch
wenn man an sich den Frieden will, so lange eben Friede möglich ist. Der
beständige klaffende Widerspruch zwischen Friedensbeteuerungen und gesteigerten
Rüstungen, der auch dem letzten Mann im Volke mittlerweile befremdlich ge-
worden ist, hat zur Folge, daß der Mann gegen das ihm gleichgiltige Gerede
kühl bis ans Herz hinan wird und seines Weges geht. Wir sind nach allen
unsern Beobachtungen der festen Überzeugung geworden, daß es nicht die
Militärvorlage gewesen ist, die der Abstimmung bei den Reichstagswahlen die
Bahn gewiesen hat. Auch ohne diese Vorlage wäre das Ergebnis im wesent¬
lichen dasselbe gewesen, Antisemiten und Sozialdemokratin! wären auch so mit
bedeutendem Zuwachs in den Neichstagssaal eingezogen, die Freisinnigen wären
auch so zurückgegangen. Es hätte auch gar keinen Zweck, noch einmal wählen
zu lassen, man würde dasselbe Ergebnis wieder haben, nur vielleicht noch
etwas deutlicher.
Der Fehler, die Militürvvrlage für das ausschlaggebende Gewicht bei
den Neuwahlen gehalten zu haben, hat sich denn auch an denen, die ihn ge¬
macht haben, gerächt. Da ist zunächst Eugen Richter, der mit der blassen
Parole in den Wahlkampf zog: Opposition gegen das von der Negierung
gewünschte Gesetz. Ein Unglück kommt nie allein, Richter hat den Abfall von
Fraltivnsgcnossen und den Verlust von so und so viel Sitzen zu beklagen.
Das Zentrum und die Sozialdemokraten sind klüger gewesen als der über-
zeuguugstreue Freisinn, sie haben sich wohl gehütet, alles auf die eine Militär¬
karte zu setzen, und haben den Wählern auch von andern großen Dingen er¬
zählt, die sie sich zu ihrem Besten vorgenommen Hütten. Ein Teil der Frei¬
sinnigen scheint, wenn man dem „Berliner Tageblatt" glauben darf, den Fehler
entdeckt zu haben, sie überlegen, ob es nicht besser wäre, „einen Tropfen (!)
sozialpolitischen Oich in sich aufzunehmen." Übrigens begann Richter schon
Viel früher ahnungslos in das kommende Unglück hineinzurennen, nämlich
als er in der berühmten Znknnftsstaatsdebatte, von allen Seiten bejubelt, die
Sozialisten, die ihm über sind, durch seine schönen Reden gegen einen nur auf
dem Programm stehenden, eingebildeten Zukunftsstaat umzubringen versuchte.
Aber Richter ist nicht der einzige, an dem sich begangne Fehler rächen.
Es ist sehr fraglich, ob die Negierung, die Richters Zukuuftsstaatsreden viel¬
leicht nicht ungern mit angehört, und die die Militärvorlage als einzige Wahl¬
parole ausgegeben hat, mit den vollzognen Wahlen ganz zufrieden ist. Freilich,
sie wird die von ihr so dringend ersehnte Vermehrung der Truppen durch-
setzen, und sie hat Ursache, darüber erfreut zu sein. Denn, wie die Dinge
nun einmal liegen, wird das Ansehen Deutschlands in gewisser Beziehung
wachsen, unsre Kriegsbereitschaft wird gesteigert werden. Die Elsaß-Lothringer
überzeugen sich allmählich, daß sie besser thun, sich mit den deutschen Ver¬
hältnissen zu befreunden, das gesamte Ausland ist geneigt, um die Überlegenheit
der Deutschen in einem künftigen Feldzuge zu glauben. Ja man kann in der
erhöhten Kriegstüchtigkeit sogar eine Niederlage der Sozialdemokratie erblicken,
insofern die Sozialdemokratie, die den „Militarismus" vernichten möchte, von
jeder militärischen Stärkung ähnlich wie von jedem Kriege ein zeitweiliges
Zurückdrängen der sozialistischen Bewegung befürchten muß. Aber in allem
übrigen sind die Wahlen eine ernste Warnung für die Regierungen. Vermeh¬
rung des Heers ist keine Hilfe gegen den „innern Feind." Die Juniwahlen
haben wenigstens den einen Nutzen gehabt, zu zeigen, welchen hohen Wert die
Massen des Volks auf die richtige Behandlung wirtschaftlicher und sozialer
Frage» legen. Man ist sogar genötigt, den Parteien, die gegen die Militär-
Vorlage aufgetreten sind, ein gewisses Verdienst zuzuerkennen, weil sie die Wich¬
tigkeit der Deckungsfrage nachdrücklich hervorgehoben haben. Man geht kaum
zu weit, wenn man vom wirtschaftlichen und sozialen Standpunkte aus die
Wahlen kurzweg als oppositionelle Wahlen bezeichnet. Es kann weder im
„alten" noch im „neuen Kurse" ewig so weiter gehen, wir müssen uns auf Ge¬
biete hinauswagen, die wir bis jetzt nicht recht den Mut hatten zu befahren.
Das Parteiwesen befindet sich in einer Übergangsperiode, in der nicht
nnr jede einzelne Partei, sondern auch die Regierung mit großen Schwierig¬
keiten zu kämpfen hat. Die politischen Parteien erhalten dadurch, daß sich
die wirtschaftlichen Interessentengruppen und die Berufskreise mit ihren Wün¬
schen und Beschwerden an sie hinandrüngen, ein ganz verändertes Aussehen.
Landwirte, Kaufleute, Handwerker, Beamte verlangen immer dringender die
Berücksichtigung von Lebensfragen, die sie nahe angehn, und wollen immer
weniger von den alten politischen Parteischablonen wissen. Die Stimmeuznhl,
über die die Stände und Klassen verfügen, steht der Partei in Aussicht, die
sich um ihre Forderungen zu kümmern verspricht. Da um aber uicht immer
die Interessen des einen auch die des andern sind, alle aber nach Befriedigung
streben, so machen sich die Parteien einander immer schärfere Konkurrenz, um
sich gegenseitig Stimmen abzujagen, und haben immer mehr Mühe, in den
Wahlkreisen eine Mehrheit von Stimmen an sich zu fesseln. Der Handwerker
würde, wie er es bei dieser Reichstagswahl öfter ausgesprochen hat, am liebsten
seines gleichen, einen Handwerker, wählen und stimmt nur notgedrungen für
eine politische Partei, der Landwirt zöge es gleichfalls vor,-einen Landwirt
zu wühlen, anstatt konservativ oder nativnalliberal zu stimmen, und so weiter.
Daher erklärt sich auch ein gewisser demokratischer Zug, der den letzten Reichs¬
tagswahlen anhaftete, indem sich die verschiedensten bürgerlichen Verufskreise
mehr als jemals zuvor um Mandate bewarben bis zum Volksschullehrer und
Postassistenten herab. Auf dieselben Gründe geht die Abneigung gegen die ein¬
seitig von den großstädtischen Parteileitungen ausgesuchten Kandidaten, die sich
hie und da gezeigt hat, und die kein eigentlicher „Partikularismus" ist, zurück.
Es ist dem Kaufmann, der vielleicht liberal gestimmt hat, nicht gerade um
den „Liberalismus" zu thun gewesen, ebensowenig dem Handwerker, der etwa
konservativ gewühlt hat, um die politische „Reaktion" im ältern Sinne des
Worts. „Konservativ" ist nicht mehr konservativ, „liberal" ist nicht mehr
liberal, diese Begriffe sind nicht mehr zu umgrenzen. Der Negierung aber
wird es nun schwerer und schwerer, mit Hilfe der parlamentarischen Parteien
das Staatsschiff gut und sicher zu steuern. Das Schicksal wirtschaftlicher und
sozialpolitischer Vorlagen ist bei der bunten Zusammensetzung des Parlaments
und bei der Verquickung von Politik und Berufsinteresse völlig unberechenbar.
Schon die Ansprüche, mit denen die bürgerlichen Berufskreise dnrch die
Vermittlung des Parlamentarismus an sie hinantreteu, sowie die Notwen¬
digkeit, sich mit den sogenannten bürgerlichen oder auch „staatserhaltenden"
Parteien, die unter sich nicht einig sind, zu verständigen, machen es der Re¬
gierung schwer, den rechten Weg zu finden; aber wie bedrohlich und gefährlich
erscheint ihr nicht erst das ungestüme Drängen einer sich bei jeder Neichs-
tagswcchl Verstürkenden unbürgerlichen Partei, die die parlamentarische Ver¬
tretung der großen arbeitenden Masse an sich gerissen hat! Die Sozialdemo-
kratie hat sich, wie jeder urteilsfähige Politiker voraussehen mußte, wieder
eine Reihe neuer Mandate erobert. Unter den 397 Abgeordneten werden
44 sein, die den sogenannten „Umsturz alles Bestehenden" wollen, während
die übrigen die sogenannte „Erhaltung des Bestehenden" wollen. Die Sozial¬
demokratie war mit dem Schlachtrufe: „Das ganze Deutschland soll es sein"
in den Wahlkampf gezogen und hatte fast in allen Wahlkreisen ihre „Arbeiter¬
kandidaten" mit den der bürgerlichen Welt meist merkwürdig unbekannt er¬
scheinenden Namen aufgestellt. Ihr größter Erfolg ist die Eroberung der
Großstadt gewesen, die bekanntlich in Deutschland an der Spitze der Zivili¬
sation marschiert. „Wenn auch das deutsche Reich sich nicht rühmen kann,"
schrieb der »Vorwärts,« „um der Spitze der Zivilisation zu marschieren, so
gebührt diese Ehre doch ohne Zweifel der Hauptstadt des deutschen Reichs.
Berlin ist die Hauptstadt des internationale» Sozialismus geworden — und
der Sozialismus ist die Zivilisation. >Gut gebrüllt, Löwe!^ So erobert die
Sozialdemokratie von ihrer Hochburg Berlin aus sich immer weitere Kreise."
Die Sozialdemokratie ist damit unzufrieden, daß Berlin nur sechs Wahlkreise
hat, aber merkwürdigerweise wird sie dafür durch etwas entschädigt, was zu
den modernen „Imponderabilien" gehört. Die großen Zahlen, die die „Kory¬
phäen" der Partei, Liebknecht, Singer u. s. w., in Berlin erzielen, imponiren
sicherlich den Philistern im ganzen Reiche. Entsprechend der weiter» Aus¬
breitung der Partei ist die lächerliche Angst vor ihr und der ohnmächtige
Haß gegen sie gestiegen. In vielen Wahlkreisen verkündeten die bürgerlichen
Parteien die Sozialdemokratie als den „gemeinsamen Feind." Trotzdem hat
sich auch eine nicht geringe Zahl von „Kleinbürgern" und „Kleinbauern," die
mit ihrer Lage unzufrieden sind, der extremsten aller Parteien zugewandt,
jedenfalls ein beachtenswertes Anzeichen. Dadurch, daß diese den Arbeitern
nächststehenden Schichten der Bevölkerung bei Stichwahlen häufig gezwungen
sind, entweder einen ihnen nicht sympathischen bürgerlichen Kandidaten oder
den Sozialdemokraten zu wählen, gewöhnen sie sich noch schneller daran, gleich
in der Hauptwahl mit den Arbeitern zusnmmenzugehn.
Die verkehrten Urteile über die Sozialdemokratie, die eine solche Wahl-
bewegung an den Tag fördert, sind einfach trostlos. Die einen möchten die
Wahl sozialdemokratischer Abgeordneten schlechtweg für ungiltig erklären, die
andern schreien nach öffentlichen Wahlen statt der geheimen, die einen klagen
die kaiserlichen Erlasse und die sozialen Reformen als verderbenbringend an.
die andern möchten die Sozialdemokratie am liebsten „töten." Man begreift
nicht, man will nicht begreifen, daß zwischen Sozialdemokratie und Sozial¬
demokratie ein großer Unterschied ist. Da ist einerseits die politische Partei
mit ihren Abgeordneten, ihren Redakteuren, ihren Volksrednern, die man an¬
klagen und verurteilen kann, da ist aber andrerseits die Arbeiterschaft, der
vierte Stand, mit dem man wohl oder übel zusammenleben muß. Die Ar¬
beiter, die sich an eine Partei um Vertretung ihrer Berufsinteressen wenden,
handeln nicht anders als die Handwerker und die Landwirte, die sich auch
an die ihnen passenden Parteien wenden. Die Sozialdemokratie hat unleugbar
für die Arbeiterklasse mauches Gute zu erwirken gewußt, und man hört es
zuweilen unbefangne Angehörige der besitzenden Klassen offen eingestehn, daß
sie als Arbeiter wahrscheinlich auch Sozialdemokraten sein würden, eben aus
Standesinteresse.
Bedrohlich ist es weder, daß es einen vierten Stand giebt, noch daß er
seine Rechte zu erweitern, seine Arbeit zu schützen, seine Löhne zu erhöhen,
seine Behandlung zu verbessern, seine Schulbildung zu vermehren sucht, sondern
bedrohlich ist auch hier allein, daß sich Politik und Beruf, politisches und
Berufsintercsse verquicken. Die Sozialdemokratie macht die Arbeitersache zur
Parteisachev sie will mit Hilfe der Masse, die die meisten Stimmen zur Ver¬
fügung hat, an die Regierung gelangen. Die Aussichten auf ihren Sieg sind
groß, sie selbst zweifelt nicht an ihrem endlichen Erfolge; warum sollten ihr
nicht mit der Zeit die sämtlichen Arbeiterstimmen ohne Ausnahme zufallen?
Wie sie es macht, um zu gewinnen, das spricht sie offen aus; sie befolgt
systematisch diese Taktik: „alle Waffen, die der Klassenstaat bietet, namentlich
das Wahlrecht, gegen den Klassenstaat und zur Erkämpfung der sozialistischen
Gesellschaftsorganisation zu gebrauchen." (Vorwärts, 4. Juli 1893.) Wenn
wir der Ansicht wären, daß das „Volk" nur die sozialdemokratischen „Arbeiter"
wären, so würden wir nicht lange fragen: „Was nützen dem Volke die Reichs¬
tagswahlen?" Von dem allgemeinen Wahlrecht hat die Sozialdemokratie den
politischen Nutzen, und die Arbeiter haben neben den wirtschaftlichen Vorteilen,
die ihnen durch den freien Willen des Staats oder durch den gesellschaftlichen
Fortschritt zu teil werden, anch die, die die sozialdemokratische Partei für sie
auf dem Wege des Parlamentarismus zu erreichen vermag. Die Arbeiter
allein sind aber nicht das Volk und werden es niemals sein, was man auch
unter einer kommenden „sozialistischen Gesellschaftsorganisation" verstehen mag,
wir werden nie ein Volk von lauter „Arbeitern" sein, sodnß die sozialdemo¬
kratische Parteipolitik mit den: gesamten BolkswirtschaftSbetriebe zusammenfiele;
deshalb fragt es sich, ob nicht die wirtschaftlichen Interessen der Arbeiter und
des ganzen Volks auf bessere Art als durch die Vermittlung der politischen
Parteien gewahrt werden können.
Man kann nicht sagen, daß die Sozialdemokratie mit dem allgemeinen
Wahlrecht Mißbrauch treibe, indem sie alle andern Parteien zu überflügeln
und selbst die einzige herrschende Partei zu werden sucht. Das allgemeine
gleiche Wahlrecht verlockt sie geradezu zu der Täuschung, die Gesamtheit mit
der Arbeiterklasse gleichzusetzen und sich selbst, als die Vertreterin der Arbeiter,
für die rechtmäßige Vertretung der Gesamtheit zu halten. Jeder Beruf, der
sich zum Vertreter aller andern Berufe aufwirft, überhebt sich in derselben
Weise wie die Sozialdemokratie; der Bund der Landwirte zum Beispiel ist
nicht berechtigt, für den Zweck seiner Gründung die wirtschaftliche Hebung
aller Berufsstände auszugeben. Alle diese Überhebungen führen heutzutage
nur eine Verschärfung des politischen Parteikampfes und damit wiederum eine
ungenügende Würdigung der Interessen einzelner Berufsstände herbei. Die
wirtschaftlichen Auseinandersetzungen sollten auf einen andern Boden als auf
den des allgemeinen Wahlrechts verlegt werden, dieses ist ein Hindernis für
die Gesellschaftsorganisation der Zukunft, nach der die Arbeiter, Handwerker,
Bauern und die andern streben. Hieraus folgt, daß die Berufsstciude auch
durch den neuen Reichstag nur mehr oder minder dürftig werden abgespeist
oder vielleicht sogar arg enttäuscht werden. Eine „Wirtschaftliche Vereinigung"
im Reichstage würde nur dann Erfolge haben, wenn sie innerhalb des Par¬
laments eine völlige Umbildung der alten Parteien hervorzurufen vermöchte:
aber das ist schon deshalb nicht anzunehmen, weil die Arbeiter, was ja leider
selbstverständlich ist, der „Vereinigung" fernstehen. Es ist möglich, daß wieder
eine Anzahl neuer und gutgemeinter Gesetze gegeben werden wird, aber was
kann das nützen? Was kommt dabei heraus, wenn die Landwirte, die Hand¬
werker und die Arbeiter von oben mit Reformen beglückt werden, die, wie sich
hinterher immer wieder herausstellt, nicht nach ihrem Sinne sind? Man hätte
sie in irgend einer Weise vorher ordentlich befragen sollen, man hätte ihnen
eine praktische Organisation geben sollen. Die Befragung des gesamten Volks
durch allgemeine Wahlen oder auch durch ein Plebiszit oder ein Referendum
hat uur dann einen Sinn, wenn wirkliche Angelegenheiten der Gesamtheit zur
Entscheidung stehen. Man hätte z. B. die Volksmeinung über die Militär¬
vorlage nur dadurch mit aller Sicherheit bestimmen können, daß man das Volk
mit Für oder Wider allein über diese Vorlage, ohne Einmischung fernliegender
wirtschaftlicher Interessenfragen, Hütte abstimmen und wählen lassen. Man
hätte dann vielleicht gefunden, daß auch der deutsche Proletarier nicht gegen
die Soldaten und das Kriegsspiel ist, wenn er zugleich die Aussichten auf
Verbesserung seiner Lebensstellung wachsen sieht. Wenn man einmal wählen
läßt, sollte es auch zweckmäßig geschehen. Die Abgabe eines einzigen Wahl¬
zettels, der gewissermaßen als Passepartout für die verschiedenartigsten Vor¬
stellungen gilt, ist ein plumpes Mittel.
Bei dem heute noch bestehenden Mangel an Organisation trügt das all¬
gemeine Wahlrecht dem Stande, der die Stärke und Grundlage der Nation
ist oder sein sollte, dem Mittelstande, am wenigsten ein. Der Mittelstand
würde eine Macht sein wie die Arbeiterklasse, wenn er sich wie diese zu einer
festgeschlossenen Masse zusammenzuballen vermöchte. Aber was sein Vorzug
ist, ist auch sein Fehler: die Mannigfaltigkeit seiner Zusammensetzung. Soldat
ist Soldat, und Fabrikarbeiter ist Fabrikarbeiter, aber wer ist der Mittelstand?
Wenn wir an den unabweislichen Ruin des Mittelstandes glaubten, so würden
wir weder über das allgemeine Wahlrecht noch über die Organisation der
Berufe, über die Möglichkeit einer Berufsvertretung, eines Wirtschaftsparla¬
ments n. tgi. Worte verlieren. Aber wir sind überzeugt: es wird stets breite
mittlere Schichten geben, die zwischen Reich und Arm, Mächtig und Gering
die Bindeglieder bilden. Heute hat der Mittelstand fast das Bewußtsein seiner
Besonderheit verloren. Was geht ihn konservativ und liberal an, er ist etwas
für sich; zu ihm gehören nicht nur die Handwerker, wie man zuweilen fälschlich
behauptet, sondern auch kleine Grundbesitzer, Beamte, Lehrer, Geistliche, besser
gestellte Arbeiter in Menge. Thäten sich alle diese Bestandteile zusammen,
nur durch ihre Stimmenzahl parteiisch zu wirken, so könnten sie auch schon
unter dem allgemeinen Wahlrecht größern Einfluß als bisher gewinnen. Aber
ihre Zeit wäre doch erst gekommen, wenn sich auf ihren kräftigen Schultern
der Aufbau der neuen Gesellschaftsorganisation vollzöge, wenn jeder Stand
selbst energisch für sein Dasein einträte, wenn eine echt nationale Wirtschafts¬
politik die Losung würde. Jetzt erlaubt sich sogar die Lieblingspartei des
allgemeinen Wahlrechts, die Sozialdemokratie, den Mittelstand an sich heran¬
zulocken, indem sie ihm in grellen Farben vorhält, was alles an ihm gesündigt
wird: „Hinter der Militürvorlage, hinter dem Militarismus — schreibt der
»Vorwärts« — steht das kapitalistische Gesellschaftssystem, das auf der Aus¬
beutung und Knechtung des arbeitenden Volks beruht und den Mittelstand
in Stadt und Land: die Handwerker, Bauern und Kleingewerbtreibenden
jeder Art unbarmherzig zu Grunde richtet und in einem »starken Heer« seine
festeste Stütze, in dem allgemeinen Wahlrecht die größte Gefahr sieht." Die
Sozialdemokratin die sich als Retterin des Mittelstandes aufspielt, das ist
lächerlich und traurig in einem Atem! Sie spielt die Rolle des Arztes, der
dem Patienten die Fortsetzung der bisherigen Lebensweise unbedingt verbietet
und ihm Beschränkung des Daseinsgenusses oder eine Hungerkur empfiehlt,
und bestreitet dabei wie der Arzt, daß sie ein Feind des Patienten sei. Die
Diagnose der Sozialdemokratie ist nur halb richtig, und die Therapie ist ganz
verkehrt, befördert eigensüchtig nicht das Wohl des Mittel-, sondern das des
Arbeiterstandes. Die Macht der Partei beruht darauf, daß sie die politische
und die wirtschaftliche oder gewerkschaftliche Organisation der Arbeiter, die zu
ihr stehen, neben einander hergehen läßt und ihre Parteitage sowie ihre Ge¬
werkschaftskongresse abhält; diese Taktik ist sehr angebracht und sehr nach¬
ahmenswert. Wenn einmal eine Regierung, um dem unausgesetzten Anschwellen
der Sozialdemokratie zu begegnen, diese Wahlparole für das gesamte Volk
ausgeben wollte: Treminng der politischen und der wirtschaftlichen Interessen,
organisatorische Fürsorge für alle, so würden die natürlichen Gruppen „wie
Krystalle zusammenschießen," und die Gesellschaftsorganisation wäre sofort da.
Zugleich würde aber auch das Ende der Sozialdemokratie dasein. Bis es aber
dahin kommt, werden wir wohl leider noch öfter in dem alten Stile wählen
müssen!
icht in weichlichem, kraftlosen Mitleid geht die Humanität der
Hellenen auf, sondern sie zeigt sich als ein mit Gerechtigkeit,
Mut und Thatkraft verschmolzenes Wohlwollen, wovon das
Mitleid nur eine unter vielen andern Äußerungen ist. Nament¬
lich aber leuchtet im althellenischer Charakterideal auch jener
Edelstein, der nach unsern Begriffen schlechterdings nicht fehlen darf, wenn ein
Mann nicht trotz aller sonstigen glänzenden und liebenswürdigen Eigenschaften
unsre Achtung verlieren soll: die Wahrhaftigkeit. Bekanntlich pflegt diese Eigen¬
schaft in der Knechtschaft verloren zu gehen, und auch die Griechen haben sie
später mit ihrer Unabhängigkeit verloren. Aber aus dem Umstände, daß Homer
den verschlagnen Odysseus zum Helden des schönern seiner beiden Gedichte ge¬
macht hat, auf UnWahrhaftigkeit als einen Grundzug des griechischen Nativncil-
charakters schon in der guten alten Zeit zu schließen, wäre doch voreilig. In
der Ilias bildet der geradsinnige Achilleus den Mittelpunkt. In der Odyssee
aber erscheinen die Schliche des Helden als entschuldbare und erlaubte Kriegs¬
listen zur Abwendung von Lebensgefahr. Als ein seefahrendes, kolonien¬
gründendes Volk müssen sich die Griechen unzähligemale mitten unter Bar¬
baren von einer Übermacht bedroht gefunden haben, der sie ohne die Waffen
eines scharfsinnigen Geistes und einer lebhaften Phantasie hätten unterliegen
müssen. Daher war es natürlich, daß neben dem ehrlichen, kühnen Achill der
ästige Odysseus ihr Nationalheld wurde; die thatsächliche Lage eines seefah¬
renden Volkes in barbarischer Zeit, nicht Lust an der Lüge spiegelt sich in der
Odyssee. Sophokles aber, der im Philoktet einen der Schliche des Odysseus
darzustellen hat, giebt dem ränkevollen Manne den edeln Sohn des Achilleus
bei und läßt dessen reinen Kindcrsinn über die Anschlüge des andern siegen.
So wird Philoktet zur Tragödie, nicht bloß des Mitleids, sondern anch der
Wahrhaftigkeit.
Nevptolemos, Aedilis Sohn, wie ihn Sophokles darstellt, ist der schöne
Charakter ^«)^. In der altdeutschen Sage kann sich ihm nur Sieg¬
fried zur Seite stellen, in der ganzen neuern Litteratur sind ihm höchstens
Shakespeares Cordelia, Goethes Iphigenie und — wenn man das Idyll neben
der Heldensage nennen darf — Hermann und Dorothea und Max Piccolomini
ebenbürtig. Der von den Griechen auf des Odysseus Rat schmählich aus¬
gesetzte und an einer eiternden Fußwunde leidende Philoktet hat auf Lemnos,
einsam und hilflos, zehn qualvolle Jahre verlebt. Da kommt Odysseus, von
Neoptolemos begleitet, den Mann oder wenigstens seinen Bogen zu holen,
weil der Wahrsager Helenos verkündigt hat, Troia könne nur von Neopto¬
lemos mit Hilfe des Philoktet und seiner Pfeile bezwungen werden. Aber daß
sich Philoktet freiwillig entschließen werde, mit Odysseus nach Ilion zu gehen
und die Wünsche derer zu erfüllen, die ihn so grausam und treulos behandelt
haben, daran ist nicht zu denken. Man wird den Unglücklichen also wohl mit
Gewalt fortschleppen oder ihm den Bogen rauben müssen, der ihm dazu dient,
Wild zu erlegen und sich so kümmerlich das Leben zu fristen. Ehe man jedoch
zur Gewalt schreitet, will es der Verschlagne mit List versuchen. Neoptolemos
soll den Kranken allein aufsuchen, ihm vorreden, er habe von den Griechen
und namentlich von Odysseus, auf den er weidlich schimpfen möge, schweres
Unrecht erlitten und ziehe nun heimwärts; fo möge er versuchen, den Be-
trognen oder wenigstens seinen Bogen ins Schiff zu bringen. Wohl weiß ich,
schließt Odysseus seine Instruktion,
Wohl weiß ich, Jüngling, daß es deine Art nicht ist,
Zu solcher Rede arger List dich zu verstehn,
Doch köstlich ist des Sieges Lohn, der deiner harrt.
Drum wäg es; rechtlich zeigen wir uns dann nachher.
Nur folg mir jetzt für einen kleinen Teil des Tags
Und wirf die Scham beiseite. Künftig laß dich dann
Den frömmsten aller Menschen nennen immerdar.Neoptolemos WnS mich entrüstet, o Laertes Sohn, sobald
Ichs nennen höre, sträube ich mich auch zu thun.
Es ist mir angeboren, schnöde List zu fliehn;
......Besser ists, des Ziels
Zu fehlen, als ein Sieg, der Schande bringt.Odysseus O Sohn des edeln Vaters, in der Jugend war
Auch mir die Zunge langsam, rasch zur That der Arm,
Doch in des Lebens Schule lernt' ich, daß das Wort
Und nicht das Handeln übernll die Welt regiert.Neoptolemos Was sonst, als eine Lüge, forderst du von mir?
Längere Zeit noch sträubt sich Neoptolemos, aber der Vorstellung, daß er
ohne den fraglichen Bogen Ilion nicht bezwingen, ohne die von seinem Be¬
rater ersonnene List aber nicht in den Besitz des Bogens gelangen könne, unter¬
liegt doch schließlich sein ruhmbegieriges Herz. Bei Philoktets Höhle angelangt,
spielt er seine Rolle leidlich; Philoktet beschwört die Fremdlinge, ihn nutzn-
nehmen, und sowohl Neoptolemos wie der ans seiner Schiffsmannschaft be¬
stehende Chor entschließen sich dazu, vom Mitleid überwältigt. Neoptolemos
warnt seine Mannen, nicht voreilig zuzusagen, denn sie sind, während er mit
Philoktet unterhandelt, in der Ferne stehen geblieben — auf Philoktets Bitten,
damit sie nicht, durch den Gestank der Wunde abgeschreckt, es so machten, wie
es bisher alle an der Insel landenden gemacht Hütten, deren keiner sich mit
einem so ekelhaften Kranken habe schleppen mögen. Nach einem heftigen Anfall
seines Übels, worauf, wie er weiß, tiefer Schlummer zu folgen Pflegt, giebt
Philoktet dem Neoptolemos seine Waffen in Verwahrung. Der Chor wünscht
zwar dem Kranken Erleichterung und alles Gute, erinnert aber doch den
Neoptolemos daran, daß er jetzt eigentlich seinen Zweck erreicht habe und mit
dem Bogen gehen könne. Neoptolemos erwidert, dem Seherworte nach sei
nicht allein der Bogen, sondern auch der Mann vor Ilion nötig. Man er¬
wartet also sein Erwachen. Philoktet ist hoch erfreut, da er die Fremdlinge
wieder erblickt; hatte er doch gefürchtet, sie würden, während er schlummerte,
ihn verlassen. Mit Neoptolemos Hilfe richtet er sich auf, und von ihm ge¬
stützt, tritt er die Wanderung zum Schiffe an. Nun aber fällt es dem Jüng¬
linge schwer aufs Herz, daß jetzt binnen wenigen Minuten der Betrug offenbar
werden müsse. Er seufzt: Weh, weh mir, was werd' ich nun weiter thun!
Philoktet fragt verwundert, nach und nach kommt das Geständnis heraus.
Der Betrogne bricht in Verwünschungen aus und fordert seine Waffen zurück.
Schon steht Neoptolemos nach schwerem inneren Kampf im Begriff, sie zu über¬
geben, da tritt herbeieilend Odysseus dazwischen, hindert es und erklärt dem
Philoktet, wenn er nicht gutwillig komme, werde man Gewalt brauchen. Nach¬
dem sich alle Mühe, den Kranken zum Mitgehen zu überreden, vergeblich er¬
wiesen hat, entfernt sich Neoptolemos vorläufig mit Odysseus, die Schiffe zur
Abfahrt zu rüsten, doch befiehlt er vorher seinen Leuten, einstweilen bei dem
Elenden zu bleibe»:
Odysseus wird mich schelten, daß Erbarmen mich
Erweiche hat; aber bleibet, wenn es dieser wünscht,
Bis uns die Mannschaft für die Abfahrt unser Schiff
Bereit gemacht und zu den Göttern wir gefleht;
Vielleicht entscheidet dieser Mann indessen sich
Für bessre Einsicht.
In der Zwischenzeit läßt es der Chor an Zureden und vernünftigen Vor¬
stellungen bei Philoktet nicht fehlen: mir an ihm liege es, seinem Elend ein
Ende zu machen. Schließlich zieht sich der Kranke, halb unsinnig vor Schmerz
und Seelenangst, in seine Höhle zurück. Da kommt Neoptolemos mit dem
Bogen gelaufen, ihm nach eilt Odysseus. Was er da wolle? ruft dieser
ihm nach.
Neoptolemos Gut machen will ich alle meine frühre Schuld.
Odysseus Dein Wort erschreckt mich. Welcher Schuld klagst du dich an?
Nevptolemos Daß ich nach deinem und des Heeres Willen that.
Odysseus Von welcher Handlung sprichst du, die dir nicht geziemt?
Nevptolemos Mit schnöder Arglist hab ich diesen Mann umgarnt.
Nun wolle er ihm die widerrechtlich geraubten Waffen wiedergeben.
Odysseus Du aber bist in Worten nicht noch Werken klug.
Nevptolemos Doch Wenns gerecht ist, gilt dies höher mir als klug.
Odysseus Und fürchtest du, so handelnd, die Achaier nicht?
Ncoptolcmos Nicht fürcht ich deine Drohung, wenn das Recht mich schützt.
Nevptolemos setzt seinen Willen durch und übergiebt dem Philoktet seine
Waffen. Lange bemüht er sich noch, den verbitterten und eigensinnigen Kranken
durch verständiges Zureden zum Mitgehen zu bewegen; er möge doch seinen be¬
greiflichen Widerwillen überwinden; vor Troja werde er zuerst Heilung finden,
dann hohen Ruhm gewinnen. Es nützt alles nichts. Da spricht Nevptolemos
endlich:
Was soll ich noch beginnen, wenn ein jedes Wort,
Das dich zu überzeugen sucht, vergeblich ist?
Am leichtsten wird mirs, geb' ich weitres Reden ans;
Du lebst dann ungerettct, wie zuvor.
Philoktet erinnert ihn an sein anfängliches Versprechen, ihn in seine, des
Neoptvlcmos Heimat mitzunehmen; dahin möge er segeln und an Troja nicht
mehr denken. Gehn wir denn, Wenns dir so gut scheint, spricht der Jüngling
und schickt sich an, den stinkenden Krüppel fortzuschleppen, als Herakles er¬
scheint und anders entscheidet.
Was würde Schiller für einen schönen laugen Monolog geschrieben haben,
um breit auseinander zu legen, auf was alles der junge Held verzichtet, indem
er jenem Elenden sein Wort hält, und welche Last er sich aufbürdet! Viel¬
leicht schwebte diese Stelle aus Philoktet Goethen vor, als er seinem Thoas
das große Schlußwort: „So geht, lebt wohl!" in den Mund legte; aber des
Nevptolemos: „Gehn wir denn" ist größer. Hier haben wir also einen jungen
Mann, wahrhaftig und treu, lauter und einfältig, ehrliebend und heldenmütig,
aber zugleich mild und barmherzig, dem das Gute so natürlich ist, daß ihn
nicht das Gute Überwindung kostet"'), sondern vielmehr das Böse, wozu ihn
eine Autorität beschwatzt. Wäre es wohl denkbar, daß Sophokles diese Ge¬
stalt hätte schaffen und auf die Bühne bringen können, wenn sich ihr die
Athener uicht seelenverwandt gesuhlt hätten? In Fleisch und Blut verkörpert,
wird man freilich eine solche Jdealgcstalt in Athen selten genug angetroffen
haben, desto öfter Jünglinge von der Art des liebenswürdigen und schalk¬
haften Ion, der mit seinem schuldlosen, aber zugleich mühe- und gefahrlosen
Leben im bescheidnen Tempeldienste von Herzen zufrieden ist, jedoch auch ein
höheres Glück, wenn es ihm beschieden wird, nicht von sich weist und sich
den Gott als Vater und die Königin als Mutter gern gefallen läßt, ein Bild
derer, die gut bleiben, weil und so lange ihnen das Gute leicht gemacht wird.
Freilich, wurde der schöne Charakter für eine willenlos wachsende Blume
augesehen und die Herzensgüte des edeln Menschen für eine von aller Selbst-
thütigkeit so unabhängige Eigenschaft, wie die Geduld des Schafes und die
Sanftmut des Rindes, so würde dadurch der Begriff der Sittlichkeit hinfällig.
Daß dies aber nicht die Meinung der Griechen war, hat ja schon die Zer¬
gliederung der Eumeniden gezeigt. Das Gute, wozu sich der gute Mensch
von selbst aufgelegt und gezogen fühlt, erscheint als Erfüllung eines ewigen
göttlichen Gesetzes, wogegen der Mensch auch freveln kann, und durch dessen
Übertretung er den rächenden Göttern verfällt. Wie die Hellenen jedes große
Unglück als eine Strafe für Frevel, namentlich für Übermut auffaßten, das
ist zu bekannt, als daß wir dabei verweilen sollten. Und wird hie und da
der Neid der Götter als Urheber des Unheils genannt, so ist darunter doch
nicht das gewöhnliche Laster des Neides zu verstehen, der die Götter unter
die bessern Menschen erniedrigen würde, sondern eine berechtigte Reaktion der
göttlichen Weltmacht gegen die Überhebung der Großen und Gliicklichen unter
den Sterblichen. Jene Übereinstimmung des Willens mit dem göttlichen Ge¬
setze nun, die sich auch unter Widerwärtigkeiten bewähren soll, wird vor allem
Sinnengenuß als das wahre und höchste Glück gepriesen. In des Aischylos
Agamemnon singt der Chor:
Wie Zeus trifft, mag um» hier erkennen!
Und sehn kann, wer den Spuren nachgeht:
Sie Sälen, wie er mähte!
Irgend wer leugnet, daß die Götter
Hinzusehn würdigen,
Wenn auch ein Mensch Heiligstes
Mit Füßen tritt — gottlos Wort!
Ein Zeug' ist ihres Zorns
Der scheulos Lüsterne,
Voll Wagmnt wilder, als gerecht war,
Voll Hochmut überstolzen Glückes
Im Übermaß schuldig!
Sei mein Geschick niedrig, sei der Armut
Reines Gewisse» gnug mir!
Schutz nicht bietet ja Reichtum
Dem, der Glückes gesättigt
Frech zertrat der Gerechtigkeit Altar, gegen Vernichtung!
Und weiterhin:
Doch Dites Huld strahlt in rauchschwarzer Lehmhütte auch,
Denn sie ehret frommen Wandel hoch;
Bon goldgezierten Pforte», schmutzger Hand befleckt,
Gewandten Blicks flüchtet sie hinweg,
Besudlung zu meiden, des Reichseins Truggehalt
Bon selten Lob falschgemüuzt tierachtend;
Jegliches End — zu wägt sich.
Ähnlich läßt Sophokles im König Odipus den Chor singen:
O wäre mir das Los beschieden, daß ich fromm
In allem Wort und allem Werk
Die heilge Scheu bewahrte den Gesetzen, die
Hochwandelnd im himmlischen Äther
Geboren werden! Es hat sie gezeugt
Allein der Olymp, denn nimmer erfand
Sie der sterblichen Menschen Geschlecht;
Nimmer umhüllt sie Schlaf der Vergessenheit,
Mächtig schützt ein Gott sie, der
Nimmer altert.
Daß es nun aber wiederum nicht die knechtische Furcht vor Strafe ist, was
allein das Verlangen nach Gerechtigkeit erzeugt, beweisen Charaktere wie die
des Neoptvlemos zur Genüge; die Furcht dient, wie in den Eumeniden klar
gemacht wird, nur als heilsames Bewahrungsmittel. In der Elektra läßt
Euripides die Titelheldiu an der Leiche des Aigisthos eine Anklagerede halten,
worin es u. ni. heißt:
Am schlimmsten — was du nicht erkannt — berückte dich
Der Wahn der Größe, weil du reich an Schätzen warst.
Das ist ja nichtig, das verweilt nur kurz bei uns.
Nicht Reichtum, uur ein großer edler Sinn besteht.
Worauf der Chor bemerkt:
Er fehlte schwer und zahlte schwere Buße dir
Und deinem Bruder, denn des Rechtes Macht ist groß.
Als eine Verkörperung des Gewissens hat Euripides die Priesterin und Seherin
Theonoö gezeichnet, die Schwester des Ägypterköuigs Theoklymenos, der die
in seine Gewalt gefallene Helena zwingen will, seine Gattin zu werden. Helena
fleht zu ihr, sie möge ihrem Bruder den eben angekommnen Gatten Menelaos
nicht verraten und ihrer gemeinsamen Flucht nicht hinderlich sein. U. a.
spricht sie:
Die Gottheit haßt Gewalt; nur wohlerworben Gut
Soll jeglicher besitzen, aber keiner Raub.
Verschmähen muß man ungerechter Schätze Reiz.
Gemeinsam ist der Himmel allen Sterblichen,
Gemein die Erde; mehrt den Schatz in euerm Haus,
Doch rühret nicht an Fremdes, raubt nicht mit Gewalt!.....
Mich gab, o Jungfrau, glücklich und unglücklich einst
Hermes in deines Vaters Hciud, daß dem Gemahl
Er mich bewahrte. Dieser kommt und fordert mich,
Und Tod foll er hier finden?.....
Neu,? Scheue Proteus Schatten und die Himmlischen!
Würd' auch ein Gott und würde dein Erzeuger wohl
Also verweigern ein ihm ciuvertrautes Gut?
Ich zweifle. Sei denn dir anch, Jungfrau, weniger
Des Bruders Thorheit als der edle Vater wert!
Bist du des Götterrates kundge Seherin,
Und ansteht doch den rühmlichen Erzeuger nicht,
Um deinem ungerechten Bruder hold zu sein.
So ist dirs Schmach, zu kennen alles Göttliche,
Was ist und nicht ist, aber Pflicht und Tugend nicht.....
Nachdem noch Menelaos gesprochen hat, entscheidet TheonoL:
Ich liebe Gutes von Natur, und will es auch,
Weil ich mich selbst hochachte. Meines Vaters Ruhm
Werd ich nicht schänden, noch dem Bruder eine Gunst
Gewähren, die mir künftig Schmach bereitete.
Ein großes, lautres Heiligtum des Rechtes ist
In meiner Brust hier, das mir Nereus Huld geliehn.
Und das ich, Menelaos, treu bewachen will.
Daß es endlich nicht sowohl das Äußerliche, die That, als das Innerliche,
die Gesinnung ist, was den Göttern wohlgefällig oder mißfällig macht, ver¬
nehmen wir u. a. aus dem Orestes des Euripides. „Ich habe reine Hände!"
beteuert Menelaos; „doch kein reines Herz," erwidert Orest. Diese unbedingt
verpflichtende Macht des Guten voraussetzend, findet es Ion höchst ungeziemend,
daß das Heiligtum auch Frevlern als Asyl offen stehe:
Schlimm, daß ein Gott den Menschen nicht, wies billig ist,
Und nicht in weisheitsvollen Sinn Gesetze gab!
Denn nicht am Altar sitzen sollt ein Bösewicht,
Nein, fortgewiesen werden; eine Frevlerhand
Darf Götter nicht berühren! Nur der Fromme, der
Unrecht erfahren, sollte fliehn ins Heiligtum,
Und nicht der Böse, wie der Gute, gleiches Recht
An gleicher Stätte nehmen aus der Götter Hand.
Schon das bisher angeführte wird genügen, die Ungerechtigkeit der
modernsten Angriffe auf das Hellenentum zu erkennen. In der Renaissance
wurde das alte Heidentum nicht allein überschätzt, sondern teilweise auch mi߬
verstanden. In der zweiten Humanitätsbewegung der europäischen Christen¬
heit haben Herder und Lessing, Goethe und Schiller die Alten, namentlich die
Griechen, eben nur richtig gewürdigt. In der jetzigen Reaktion gegen den
Humanismus vereinigen sich drei Parteien, die sonst einander befeinden, indem
sie drei verschiednen Idealen huldigen: dem orthodoxen Christentum, den: alten
Germanentum und dem „Realismus," ein ziemlich unklarer Ausdruck, der bald
wissenschaftlichen Materialismus, bald banausischen Militarismus bedeutet und
im letztern Falle gewöhnlich auf ganz ordinären Mammonismus und Amerika-
nismus hinausläuft. Sehen wir uns ein paar abfällige Urteile eines christ¬
lichen Richters an, der wenigstens kompetent war, Dvllingers. Dieser große
Theologe kannte zwar die griechische Litteratur viel gründlicher als der Ver¬
fasser dieser Aufsätze, ja er war sogar ein förmlicher Liebhaber des Griechischen.
Dennoch kann ich mir nicht helfen: ich muß sein Urteil über das Hellenentum
sür ungerecht halten. Seine Ungerechtigkeit läßt sich anch leicht aus dem Um¬
stände erklären, daß er sich als streng gläubiger Theologe verpflichtet fühlte,
die Schattenseiten des griechischen Lebens zu Ehren des Christentums zu über¬
treiben.
In seinem Werke: Heidentum und Judentum, Vorhalle zur Geschichte des
Christentums (Regensburg, 1857) schreibt er S. 664: „Der Grieche war im
eigentlichsten Sinne ein politischer Mensch; die Staatsbürgerschaft, die poli¬
tische, in der Teilnahme an der höchsten Gewalt bestehende Freiheit war sein
höchstes Gut." Das ist richtig, aber nun kommt das übertreibende und schiefe.
„Die völlige Abhängigkeit vom Staate und die unbedingte Hingebung des ein¬
zelnen an das Ganze, den Staat, war die ihm von Jugend auf anerzogue
Gesinnung, und darauf ruhte, darin bestand seine Sittlichkeit." Döllinger
nahm, wie das in der vorliegenden Frage hergebracht ist, Sparta für Griechen¬
land und Platos Republik für ein Idealbild des damaligen Zustandes von
ganz Griechenland. Das ist aber noch schlimmer, als wenn ein Schriftsteller
des vierten Jahrtausends das preußische Heer für das deutsche Volk und Hegels
Staatsidee für eine Abstraktion aus der deutscheu Wirklichkeit nehmen wollte;
noch schlimmer, sagen wir, weil Hegels Teudenzphilosvphie ihre Wirkung ge¬
than hat und das preußische Heer heute wirklich zwar noch nicht das deutsche
Volk, aber seine Beherrscherin geworden ist, während Platos Tendenzschrift
wirkungslos verpuffen mußte, weil, als er sie schrieb, der Spartanerstamm,
der allem ihre Ideen hätte verwirklichen können, nicht allein entartet, sondern
beinahe ausgestorben war. Weiter sagt Döllinger: „Der Inbegriff seiner (des
Griechen) Pflichten war, mit seiner ganzen Persönlichkeit im Staate aufzu¬
gehen, keinen eignen vom Staate verschiednen Willen zu haben." Wunderliche
Behauptung! In allen uns erhaltenen Dramen werden sittliche Probleme er¬
örtert, und man sieht, wie sehr ihre Ergründung dem Dichter und seinem
Publikum am Herzen liegt, aber vom Staat ist dabei fast nie die Rede;
höchstens wird gelegentlich einmal bemerkt, was sich ja für alle Zeiten und
Kulturvölker von selber versteht, daß der wackere Mann bestrebt sei, dem Ge¬
meinwesen zu nützen. Nur ein einziges Stück hat die grundsätzliche Erörte¬
rung des Konfliktes zwischen Privatmoral und Staatsgesetz zum Gegenstande
— wie jedermann weiß, ist das die Antigone —, und darin entscheidet der
Dichter gegen den Staat. Er stellt ganz wie Petrus (Apostelgeschichte 5, 29)
den Grundsatz auf: Man muß Gott mehr gehorchen als den Menschen. ^Jsmene
will die Schwester von dem Vorsatze abbringen, gegen das Verbot des Königs
den Bruder zu bestatten. Als Frauen könnten sie ja gar nicht daran denken,
sich gegen die Herrschaft der Männer aufzulehnen, selbst wenn noch schlimmeres
geboten würde:
Ich flehe drum die in der Erde Schoß
Um Nachsicht an, da, wo Gewalt mich zwingt,
Den Machtgekrönten ich gehorchen will.
Denn über Kraft zu thun ist Unverstand.
Antigone erwidert, an Jsmenens Beistand sei ihr gar nichts gelegen; sie selbst
aber werde thun, was sie für ihre Pflicht halte.
Geliebt bei den Geliebten ruhen werd' ich dann,
Da frommen Frevel ich geübt. Denn länger muß
Den Toten ich gefallen als den Lebenden;
Dort lieg' ich ewig.
Und dem König ins Angesicht sagt sie später:
War es doch Zeus nicht, welcher dies verboten hat,
Und sie, die bei den unterirdschen Göttern thront.
Nie hat den Menschen Dike solch Gebot erteilt.
Noch glaubt ich so gewaltig deine Herrsche-rmacht,
Daß du der Götter Satzungen, ein Sterblicher,
Den ungeschriebnen, wandellosen trotzen darfst.
Denn nicht erst heut und gestern erst, nein immerdar
Sind sie lebendig; niemand weiß, wie alt sie sind.
Nicht wollt ich, daß um sie der Götter Strafen ich
Verfiele, weil ich eines Menschen Übermut
Gefürchtet. Sterben werd ich, dieses weiß ich wohl,
Auch ohne daß dn mirs gedroht. Muß vor der Zeit
Den Tod ich dulden, nun, das acht ich für ein Glück.
„Welche Stellung — fährt Döllinger fort — der einzelne im Gemeinwesen
einnehmen wollte, das war nicht seinem Gutdünken überlassen, sie war viel¬
mehr jedem schon im voraus angewiesen." Als ob das heute anders wäre!
„Es gab auch eigentlich kein Gebiet, innerhalb dessen der Grieche bloß als
Mensch nach seinem Ermessen frei zu schalten berechtigt gewesen wäre." Ist
wohl ein freieres Schalten denkbar als das des Sokrates, der freilich zu-
letzt dem Haß seiner Gegner zum Opfer siel, aber doch erst, nachdem er wohl
dreißig Jahre lang bei einer ganz allein nach freier Willkür und eignem Be¬
lieben gestalteten Lebensweise die bestehenden Zustände und die herrschenden
Personen aufs herbste kritisirt hatte? Und hat es je eine freiere, kühnere,
eigenwilligere Wirkungsweise gegeben als die des Aristophanes, der alle Staats¬
einrichtungen und Staatsmänner lächerlich macht und in den Rittern sein
souveränes Atheuervolk unter der Gestalt eines halb blödsinnigen dämlichen
Greises verspottet, der erst im Wurstkessel aufgekocht werden muß, ehe er sich
wieder mit Austand vor den Menschen sehen lassen kann? Daß aber die
Griechen, mit Ausnahme der Spartaner, im Privatleben, in Eheschließung
und Kindererziehung, in Gewerbe und Handelsverkehr, in dem Betriebe ihrer
Landwirtschaft mehr als wir Heutigen vom Staate beaufsichtigt und beschränkt
worden wären, davon ist doch nichts bekannt, wenn man uicht etwa den Um¬
stand geltend machen will, daß in Athen die hohen Leistungen für den Staat,
die den Reichen aufgebürdet wurden, der Anhäufung großer Reichtümer
hinderlich waren. „Wo das Wohl des einzelnen mit dem des Staates in
Kollision kam oder nur zu kommen schien, da mußte der einzelne weichen und
als Opfer fallen; man schritt über ihn und sein Recht hinweg." Ganz so
wie immer und überall, wo ein kräftiges Gemeinwesen waltet, mag es Stadt,
Staat oder Kirche heißen! „Daher der Ostrazismns in Athen, Megara, Milet,
Argos, der Petalismus*) in Syrakus." Der Ostrazismus war, weil er die
Ehre und deu guten Ruf des Betroffnen nicht schädigte, eine weit anständigere
Art und Weise, sich verhaßter oder dem Gemeinwesen gefährlich scheinender
Personen zu entledigen, als die heute gebräuchlichen Praktiken, zu denen unter
andern auch die strafrechtliche Verfolgung in Ungnade gefallener oder mi߬
liebiger Politiker gehört. „Demnach war der griechische Begriff von Gerech¬
tigkeit: daß alles gerecht sei, was dem Staate fromme. Sittlichkeit und Tugend
bestanden in der Konformität des einzelnen Willens mit dem Staatswillen
und in der Fähigkeit, dem Staate zu dienen, dem Ganzen sich möglichst
nützlich zu erweisen." Dieser Begriff von Sittlichkeit beherrscht zwar heute
die Staatsweisen sowohl Hegelscher als Darwinischer Schule und in der
Praxis, wenn auch uicht in der Theorie, die römischen Katholiken, denen ihre
Kirche als das eigentliche und höchstberechtigte Gemeinwesen gilt, aber bei den
Alten wurde es keineswegs so unbedingt anerkannt. Sogar in Plcitos Staat
gilt als der wahrhaft Gerechte der Mann, der sich um der Gerechtigkeit willen
kreuzigen läßt, der also dem ungerechten Staate bis in den Tod Widerstand
leistet, und im Drama, das ohne Zweifel den Volksgeist treuer wiederspiegelt,
als es die Schriften der Philosophen thun, findet sich, wie wir gesehen haben,
von dieser Auffassung der Sittlichkeit keine Spur.
Döllinger spricht dann weiter den Griechen die echte Humanität ab wegen
ihrer Geringschätzung der Barbaren und führt unter andern Beweisstellen den
bekannten Ausspruch des Sokrates an, er danke den Göttern täglich dafür,
daß er Mensch und nicht Tier, Mann und nicht Weib, Grieche und nicht
Barbar sei. Giebt es irgend einen verständigen und tüchtigen Mann unter
uns, der nicht genau ebenso dächte? Als Weib wiedergeboren zu werden,
würde wohl niemand weniger gewünscht haben als Döllinger. Und wer von
uns möchte Neger oder Mongole oder auch nur Pole, Russe oder — pfui
Teufel! — Tscheche sein? Eben dieses gehört zur echten Humanität, daß
man zu unterscheiden wisse zwischen solchen Völkern und Personen, in denen
das Menschentum völlig ausgeprägt ist, und solchen, die als halbe oder ganze
Mißgeburten erscheinen. Menschlich behandeln sollen wir den Neger so gut
wie unser Vieh, nicht aber ihn als gleichberechtigt anerkennen. Menschlich
behandeln sollen wir auch den Rüpel, uicht aber ihn neben Apollo und Sieg¬
fried aufs Postament stellen.
Von Völkerrecht, meint Döllinger, sei bei den Griechen keine Rede ge¬
wesen. Nun, ein deutscher Professor pflegte noch vor dreißig Jahren seine
Vorlesungen über Völkerrecht mit dem Satze zu beginnen: „Meine Herren,
ich bin in der merkwürdigen Lage, Ihnen über einen Gegenstand lesen zu
müssen, der nicht vorhanden ist." Ob es seitdem anders geworden sei, das
zu entscheiden überlasse ich den Politikern. „Aber auch selbst zwischen den
einzelnen Staaten — sagt Döllinger weiter — und in ihren Händeln unter¬
einander wurde kein rechtliches Verhältnis anerkannt." Bei uns in Deutsch¬
land haben Anno 1866 die Kanonen das letztemal gesprochen, und wenn sie
nicht alljährlich sprechen, sondern der Schwächere sich dem Vertrage sügt, deu
ihm der Stärkere auferlegt, so geschieht es nicht aus Ehrfurcht vor irgend
welchem Recht, sondern weil der Krieg mit Kanonen und Magazingewehren
bedeutend gefährlicher und kostspieliger ist, als der mit Lanze, Schwert und
Wurfspieß. „Nur das Recht des Stärkern galt eigentlich, und man sprach es
unumwunden aus, daß dies das echt Menschliche sei, andre zu unterdrücken,
damit man selbst uicht unterdrückt werde, oder, wie Perikles vor den Athenern,
daß man getrost den Haß der andern verachten solle, wenn man nur von ihnen
gefürchtet werde. Die Götter selbst, sagten die Athener den Meliern, gaben
den Menschen das Beispiel, daß der Stärkere sich auch seiner Macht zur Unter¬
jochung des Schwächern bediene." Alles genau so wie heute. „Die Griechen
machten aber dieses Recht des Stärkern, das einzige, das sie in internationaler
Beziehung erkannten und anerkannten, mit einer Härte und Schonungslosig-
keit geltend, die dem Kenner ihrer Geschichte ost die Frage nahe legt, ob nicht
Hinterlist und Grausamkeit tiefe Züge des griechischen Nationalcharakters seien.
Das Hinschlachten ganzer Massen, die Ausrottung von Städtebevöllernngen,
das Verkaufen der Weiber und Kinder in die Sklaverei, alles das wurde von
Griechen an Griechen, nicht in der vorübergehenden Wild einer durch den Kampf
aufgeregten Leidenschaft, sondern nach dem Siege mit kaltblütiger Überlegung
und nach einem berechneten Plane verübt; Demokratien und Aristokratien, Athen
und Sparta wetteiferten darin mit einander." Dagegen wäre zunächst zu be¬
merken, daß uns aus der athemscheu Geschichte doch eigentlich nur ein Fall
einer großen Abschlachtung bekannt ist. Als sich im peloponnesischen Kriege
427 die abgefallne Insel Lesbos auf Gnade und Ungnade ergeben hatte, da
sprachen die Athener, auf des Demagogen Kleon Rat, das Todesurteil über
alle Männer von Mitylene aus, bereuten aber sofort ihre Übereilung und
schränkten am andern Tage das Urteil auf die Anstifter der Verschwörung ein.
Freilich betrug die Zahl der Hingerichteten auch so immer noch gegen tausend.
Sodann aber ist im allgemeinen zu bemerken, daß im öffentlichen Leben von
Moral überhaupt nichts sichtbar wird; wer den Menschen nicht im Privat¬
leben, sondern auf dem weltgeschichtlichen Schauplatze sucht, der findet gar keine
Menschen, sondern nur eine Bande von Narren, Bestien und Teufeln. Was
wollen die Kämpfe der Griechen unter einander bedeuten gegenüber der Selbst-
zerfleischung der christliche« Völker Europas! Von der Völkerwanderung bis
zum zweiten Pariser Frieden 1815 ein fast ununterbrochnes Gemetzel, verschärft
durch Augenausstechen, Verstümmeln, Foltern, Verbrennen, Schwedentrank und
andre unsagbare Greuel, deren sich die vorbyzantinischen Griechen niemals
schuldig gemacht haben! Daß es seit 1815 besser geworden ist, haben wir ge¬
wissen politischen Verhältnissen zu verdanken, deren Erörterung nicht hierher
gehört, sowie der Umwandlung der Kriegführung durch die Vervollkommnung
der Zerstörungswerkzeuge; ein wenig auch der Humanitätsbewegung, die aber
in der letzten Zeit wieder zurückgestaut worden ist. Dazu, meint Döllinger,
seien dann noch die Parteikämpfe in jeder einzelnen Stadt gekommen. „Da
war es dann noch ein Glück, wenn die unterliegende Partei bloß verbannt
und beraubt, nicht ermordet wurde, denn auch dies geschah nicht selten. Aus
einer einzigen Stadt, klagte Jsvlrates, gebe es mehr Verbannte und Flüchtige,
als in alten Zeiten aus der ganzen Peloponnes. So ward Griechenland mit
heimatlosen Geächteten, welche sich in plündernde und verwüstende Söldner¬
scharen znsammenthaten und jedem um Geld dienten, erfüllt." Genau so wie
das mittelalterliche Italien, das dreihundert Jahre lang von tuoru8<ziti und
blmciiU wimmelte, wodurch die Entstehung des Kondottierentums nicht wenig
befördert wurde.
Noch eins sei erwähnt, was aus deu griechischen Dramen und aus der
Wirkung, die sie aufs Volk übten, ohne weiteres hervorgeht, daß das Hä߬
liche und Schreckliche jeder Unthat tief empfunden wurde und die Gemüter
heftig erschütterte. Bei uns Heutigen kann wegen der Masse von Unthaten,
die wir aus den Zeitungen täglich erfahren, kaum noch von einem tiefern Ein¬
druck die Rede sein. Wir fangen an stumpfsinnig zu werden. Ja, der Philister
braucht die Kunde von täglichen Mordthaten, um durch deren Genuß die er¬
schlafften Schleimhäute seines schwer verdauenden Biermagens anzuregen. In
Berlin erscheint eine neue Zeitung, die nichts als Verbrechen und Unfälle zu
bringen verspricht, und London erfreut sich seit einigen Monaten einer vivoree.
HAMtw „Dieses Wochenblatt — so lesen wir in der Monatsschrift »Deutsche
Worte« S. 315 — ist eine geschickte Kombination von Gerichtssaalberichten,
Skaudalartikeln und Zoten mit Ankündigungen von Agenturen, die Privat¬
detektivs beiderlei Geschlechts empfehlen, um die nötigen Beweise zur Durchfüh¬
rung der Scheidungsklage herbeizuschaffen u. s. w. Der Zweck des Blattes soll
sein, das Hinfällige und Widersinnige unsrer Ehe zu erweisen. Wie weit es dem
Herausgeber damit Ernst ist, bleibe dahingestellt; das Blatt bezahlt sich bis
jetzt sehr gut, und das ist schließlich die Hauptsache." Es wäre nur ein un¬
passender Scherz, wenn wir sagen wollten, daß wir mit dieser um als 8iöols-
Erscheinung einen passenden Übergang zur Darstellung der griechischen Familien¬
sittlichkeit gewonnen hätten.
oren wir Arndts eigne Schilderung des Motherbhschen Hauses
in Königsberg, in dem ihm die junge Frau begegnete, die er
seine Fnrina nannte, an die die glühenden, sehnsuchts- und
stimmungsvollen, zwischen Hoffnung und Entsagung, Weh
und Erhebung auf- und abzitternden Briefe gerichtet find,
von deren Existenz seither wohl nur wenige gewußt haben. „Dies war (er¬
zählt Arndt in seinen »Wanderungen und Wandlungen«) ein edles, freies
Bürgerhaus, ein vom englischen und Kantischen Geiste durchwehtes Haus.
Motherbys Vater war ein geborner Engländer aus Hull gewesen, Kaufmann
in Königsberg, wie fein Freund, der Schotte Hay, Freund und Tischgenosse
Kants. Von dem Geiste jenes Lebens hatten die Söhne des Huller Motherbys
etwas abbekommen. Das Motherbysche Haus war gleichsam das Kasino, das
Versammlungshaus der feurigen, kriegslustiger Jugend, die sich mit Herz, Faust
und Degen rüstete und für den nahen großen Kampf einübte. O hier waren
Prächtige Jungen. Die Namen vieler wackern Jünglinge stehen noch mit hellsten,
goldensten Buchstaben auf der schon sehr gebleichten und bemoosten Tasel meines
alten Gedächtnisses geschrieben: Friccius, Freiherr Hoverbeck, von Fahrenheit,
von Bardeleben und viele andre Vortreffliche, die aus den blutigen Schlachten
nimmer die Heimat wiedergesehen haben, sondern in fremder Erde begraben
sind; unter diesen letzten ein Bruder Motherbys, Regierungsrat in Gumbinnen
und Hauptmann in der preußischen Landwehr, der beim Sturm auf Leipzig
auf der erkletterten Mauer, den Seinigen ein Vorstürmer, von einer tötlichen
Kugel getroffen ist.....Das waren Tage, ja das waren herrliche Tage, die
junge Lebens- und Ehrenhoffnung sang und klang durch alle Herzen, sie klang
und sang auf allen Gassen und tönte begeistert von Kanzel und Katheder.
Der Bücherstaub der Gelehrsamkeit ward von dem Sturmwind des Tages
abgeweht, und der goldne Blütenstaub des fröhlichen Maientages der Hoffnung
und des Mutes fiel auf die Stirnen, die jener sonst umgraut hatte, auch die
Kältesteil wurden warm, auch die Steifsten wurden gelenkig, sie glühten und
zitterten in der allgemeinen Bewegung mit fort."
Ernst Moritz Arndt hatte von Haus aus niemals zu den Kältesten, sondern
immer zu den Wärmsten gehört, er hätte der Glut, die ihn jetzt durchloderte,
nicht erst bedurft. Den Doktor William Motherby kannte er von seinen Reisen
her, die junge eben dreißigjährige Gattin des kenntnisreichen, hochgebildeten
und unermüdlich thätigem Arztes lernte der Dichter in diesen Tagen erst kennen.
Motherby hatte im Sommer 1806, unmittelbar vor dem Zusammensturz des
alten fridericianischen Preußens, Johanna Charlotte Thielheim aus Königsberg
geheiratet, deren wunderbar schöne Augen und gefällig bewegliche Anmut auf
viele Männer einen tiefern Eindruck machten. „Auf die junge Frau fiel die schwere
Last der Haushaltsführung und der Repräsentation in ungewohnten Verhältnissen,
aber meisterhaft muß sie es verstanden haben, so wie ihr Mann es nur immer
wünschen konnte, ihr Haus zu einem Sammelpunkt hervorragender Geister zu
machen; denn alle ihre Gäste waren stets wieder aufs neue entzückt von dem
anmutigen Wesen der kleinen Hausfrau. Gerade für die Beurteilung des
Charakters Johannas ist dieses schnelle Sichhineinfinden in eigenartige, gro߬
angelegte Verhältnisse von Belang," berichtet Meisner, der Herausgeber der
Briefe, und sügt außerdem hinzu, daß Motherby zwischen 1807 und 1813 so
ganz von den neuen Verhältnissen in Staat und Stadt in Anspruch genommen
worden sei, daß ihn sein Amt, besonders die Einrichtung einer Jmpfanstalt und
die Reorganisation der Irrenanstalt in Königsberg viel vom Hause entfernt
hielten, sodaß „die beiden jungen Ehegatten keine Zeit fanden, sich innerlich
zu nähern und dadurch den Herzensbnnd, den sie äußerlich geschlossen hatten,
zu einem unlösbaren zu machen. Motherby, der Vielbeschäftigte, mag weniger
die Annäherung der beiden Herzen vermißt haben, als seine junge Frau, der
von den Freunden des Hauses Huldigungen dargebracht wurden, die sie von
ihrem eignen Manne verlangen durfte und doch nicht erlangen konnte."
Jedenfalls war Johanna Motherby eine jener problematischen Naturen,
deren ganzes Wesen an das tiefe, sehnsüchtige Verlangen nach einer Blüte hin¬
gegeben ist, die die Erde nicht trägt, an die Sehnsucht nach einer Liebe, die
kindlich gläubig und feurig leidenschaftlich, die Spiel und tiefste Wahrheit,
weltfreudig und weltvergessen zugleich wäre, die jeden Tag mit den Strahlen
vergoldete, die dem Menschen nur in seinen seligsten Stunden leuchten. Weil
ihr das Leben dies Unendliche nicht gewähren wollte, lag ein Lächeln der
Wehmut um ihre Lippen, blieb etwas Sehnendes in ihren Blicken und etwas
suchendes in ihrem ganzen Wesen. Johanna Motherby zog durch die geistige
Regsamkeit und die leidenschaftliche Teilnahme, die sie allem Schönen, jeder
geistigen Schöpfung und jedem geistigen Leben entgegenbrachte, bedeutende
Männer an, die weiche, zarte Hilfsbedürftigkcit ihrer Natur flößte ihnen den
Wunsch ein, die Liebenswürdige über jeden Stein des Anstoßes zu tragen
und sie vor jedem rauhen Hauche zu schützen. Von diesem Gefühl war Wil¬
helm von Humboldt ergriffen worden, der Johanna Motherby kennen gelernt
hatte, als er 1809 als preußischer Kultus- und Unterrichtsminister nach Königs¬
berg gekommen war und bis zum Jahre 1813 einen Briefwechsel mit ihr
führte, den nach den von Mcisner mitgeteilten wenigen erhaltnen Proben
zuletzt eine alles vergessende, stürmische, fordernde Leidenschaft erfüllte. Dies
Gefühl übermannte auch Arndt und wurde bei ihm durch seine Vergangenheit
und seine damalige Lage verstärkt. Arndt war seit einem Jahrzehnt Witwer,
hatte seit eben so langer Zeit ein rastloses, von Gefahren bedrohtes Wander¬
dasein geführt und doch den Wunsch nach Frauenliebe, den Wunsch nach einem
glücklich-friedlichen blütengeschmückten Dasein nie hinter sich geworfen. So
gesellte sich der zärtlichen Teilnahme, die ihm Johanna Motherby einflößte,
dem Vertrauen, das sie unwiderstehlich forderte, und das ihr Arndt schrankenlos
entgegenbrachte, eine Empfindung, der er keinen Namen gab, deren innerste
Natur aber die Verse an „Furiua" offenbarten:
Bei beiden, und zumal bei Arndt, scheinen die Königsberger Wochen den
Traum geweckt zu haben, in einer glücklichern Zukunft einander ganz anzu¬
gehören. Ob Wilhelm Motherby anfänglich etwas davon ahnte oder nicht,
wäre schwer zu erraten, er trat gleich seiner Frau nach Arndts Abreise ans
Königsberg mit diesem in Briefwechsel, in dem natürlich die allgemeinen,
die vaterländischen Dinge die persönlichen Angelegenheiten weit überwogen. Er
war in den Tagen der Erhebung und der Rüstungen zum „Oberarzt der Land-
wehr von Preußen" ernannt worden, er fand reiche, nur allzu reiche Arbeit
in den Lazaretten, die unter seine Leitung gestellt waren. Die Königsberger
Hartungsche Zeitung des Jahres 1813 enthält eine Reihe von ihm unter¬
zeichneter Hilferufe und Danksagungen, er mußte „ein Publikum zu bitten
wagen, das seit Jahren unablässig zu liefern nicht ermüdete," er fand die
freudigste Bereitwilligkeit zum Beistand für seine Verwundeten bei den Frauen
und Jungfrauen Königsbergs und Ostpreußens, er hatte wieder und wieder
die Opferlnst und die edle Wohlthätigkeit zu preisen, die ihm in diesem kriege¬
rischen Frühling, Sommer und Herbst seine Ausgaben erleicherte. Nahm auch
seine Frau an diesen Liebeswerken Anteil, so fand sie doch nicht wie er volle Be¬
friedigung dabei, ihre Träume gingen uicht darin auf, und während sie zwischen
ihren Blumen und Bäumen, an der Seite ihres Mannes und mit ihren
blühenden Kindern Nancy und Robert still weiter lebte — die Kriegsdonner
rollten nun schon sern von Königsberg —, folgte ihre Phantasie dem viel
umgetriebnen Freunde Arndt auf seinen Pfaden, durstig trank sie die leiden¬
schaftlichen Worte der Hingebung, der Bewunderung und des zärtlichsten Ver¬
trauens, mit denen sie Arndt von Dresden, Berlin und Reichenbach aus
während des ersten Vierteljahrs nach der Trennung überschüttete.
In wundersamen Gegensatz zu den getümmelvvllcu Tagen und Umgebungen,
in denen sie geschrieben wurden, stehen diese Freundschaftsbriefe des Dichters,
die keine Liebesbriefe sind, keine sein sollten und doch in jedem unbewachten
Augenblick in Liebesbriefe umschlugen. Am 20. April 1813, wo er in Dresden
im Hause Christian Gottfried Körners fein Quartier genommen hatte, meldet
Arndt, daß er endlich wieder als ein Mensch gelebt, sich ins Grüne getrieben
habe. „Es war ein schöner warmer Tag, und Gewitterwolken schienen am
Himmel zu hängen, es kam aber kein Wetter. Ich ging nach meiner Fasanerie
(im Dresdner großen Garten) und ließ mich von Vnsch zu Vnsch ergehen und
die Blüten rauschen und die Vögel singen und die Gedanken spielen, und sie
spielten in manchen Busch hinein und unter manchen schattigen Baum und be¬
kränzten sich mit Liebe und Frende und umhnlseten sich mit andern süßen Ge¬
danken, die aus der Ferne kamen; und sie sprachen viel Süßes und wußten
viel Süßes, und zuletzt stand das wehmütig lächelnde Bildchen, das Fnrina
heißt, vor mir und winkte und weinte wie eine rosige Frühlingswolke nach
dem Regen, und mir schwoll das Herz fast über." Am 23. Mai aus Berlin:
„In meiner Seele flattern viele Fragen und Antworten, und bei Lesung deines
Briefes wollte mir die Brust zugleich von Sehnsucht und Thrüneu überfließen;
aber die atemlose Zeit erlaubt mir manche Tage kaum Minuten zu träumen.. ..
Ich hatte den 10. allerdings einen verdrießlichen Tag, wo ich mich mit einem
zerbrochnen Rade in Berlin hineinquülte; solche Begebenheiten nehme ich aber
immer als Unglücksableiter. Es ist Unglücks genug, daß unser Schicksal uns
nicht zusammenläßt, vielleicht nimmer. ... Welch ein Leben, o ihr Götter, wäre
das! Doch ihr wisset das beste, und wir müssen euren ewigen Willen erfüllen
und trauern." Als dann Arndt am zweiten Pfingsttag „des heiligen Festes
und des himmlischen Wetters sich freuend," unter den Berliner Linden ging
und ihn ein Freund — es war Reil — von hinten zupfte und rief: Es ist
Waffenstillstand! empfand er die Nachricht wie einen Donnerschlag. Dann
schrieb er an Johanna: „Welch einen Tag, welche Tage habe ich verlebt,
wie blutet mir das Herz! und doch ist vielleicht uoch nichts verloren; aber der
Gedanke, es könne Frieden werden, ist eine Hölle für jede deutsche Brust----
Als ich heimkam, klopfte es an meiner Thür, und ein Mann brachte mir ein
Brieflein; ich erkannte es an den netten Zügen, es war von der süßen Furina.
Ich hielt es lange unerbrochen, ich hätte weinen mögen, daß so alles irdische
Glück ist, und daß nur auf den Sternen die heitere und sichere Frende wohnt;
ich las endlich die lieben, freundlichen, kindlichen Worte, aber sie hatten wenig
Gewalt; o Liebe, in welche Zeiten fällst dn? Wie werden wir Männer auf¬
gefordert, Eisen zu sein und Eisen zu werden, und dann fallen alle duftige und
schimmernde Blüten der Schönheit, dann sällt auch die Liebe ab. Holdselige
Furina, bete, daß solches uicht geschehe." Und in demselben Briefe mahnt er die
Königsberger Freundin, die nur in Sehnsucht und Liebe getaucht ist, die nur
Eines und Einen denkt, daß einen jeden das unvermeidliche Verhängnis seiner
Brust treibe; „was kann ich dafür, daß ich von Jugend auf mein Vaterland
über alles geliebt habe, mehr als mich, als dich, als was sonst Liebes in
meinem Herzen lebt? Ich rede aus meinem menschlichen Gefühl zu meiner
Liebe; Gott Lob, noch bin ich nicht mürb; aber alles Irdische hat sein Maß.
Böse Zeiten hab ich ruhig ertragen, eine wiederkommende Schande — was
Gott verhüte! — ertrug ich nicht!"
Mitten in den Träumen von Furina überkommt ihn am 22. Mai der
schmerzliche und vielleicht sündliche Gedanke, „daß alles Wohl besser ist, wie
es ist, und wie es werden würde, wenn Fnrina nun mein wäre, und sie liebte
mich vielleicht dann nur ein paar Jahre recht warm." Er konnte die ver¬
fluchten Gedanken nicht abschütteln und die Betrachtung des Verhängnisses der
meisten Menschen, die auch warm und blühend anfangen „und doch — v Furina!
warum ist der Traum so süß an eine unsterbliche Liebe, und haben doch die
wenigsten Sterblichen den Atem dazu!" Als er aber dann die September- und
Oktoberwocheu des großen Kricgsjahres hindurch bei und mit dem Grafen
Geßler, Körner-Schillerischen Angedenkens, in Reichenbach in Schlesien saß
und des Rufes von Stein harrte, der ihn wieder zu deu Geschäften der Zentral¬
verwaltung und in die Nähe der kämpfenden Heere sühren sollte, da regt sich
Sehnsucht wie Zuversicht allmächtig in ihm, und er ruft (Reichenbach, den
5. Oktober) Johanna zu: „Was erzähle ich meiner Furina solche Kleinigkeiten?
Lieber ein Wort von dem Licht des Lebens und von der Kraft und Heiter¬
keit, die fast wie prophetischer und poetischer Born in meiner Brust brennt
und sprudelt, sodaß ich mir zuweilen vorkomme, ich wäre was Rechtes; doch
ein glücklicher Mensch ist ja immer was Rechtes; lieber ein Wort von unsrer
Unsterblichkeit, o Furina, laß das immer eine Unsterblichkeit bleiben! Wenn
du wüßtest, welche spanische Schlösser ich sür dich und mit dir baue, und wie
der Geist sich wie sonnige Luft mit feinen zarten Spinngeweben in die Zu¬
kunft hineiuwiegt, du würdest wohl lächeln über mich großes Kind, zuweilen
wohl auch weinen. Mir will es oft selbst so gehen." Auch aus Leipzig,
wohin er Ende Oktober kam, wo er die Schreckensspuren und Schreckensnach¬
wirkungen der großen Völkerschlacht noch überall vorfand, und wo er mit dem
innerlichen Gefühl umherging: „es stirbt sich hier viel, Dank für deine War¬
nung, du Liebste! Ich werde Wohl so durchschlüpfen," beteuerte er: „Wie gern
trug ich dich wie mein süßes Kleinod auf meinen Armen und legte das kranke
Herzchen an mein Herz und sähe in den Himmel deiner Augen und betete
Glück und Frieden auf dich! Das kann aber nun nicht sein, und der liebe Gott
allein weiß, ob es je sein wird.... Ein bischen Ideales, ein bischen leichten
Äther muß ich atmen, wenn das Blei des Lebens mir nicht fühlbar werden
soll. ... O grüße und küsse die, welche meine Seele liebt, und laß sie mir
Frühlingsluft zuwehen. Ich könnte das zarteste Leben mit dir und um dich
führen, Furiua, daß die Engel im Himmel sich freueten." (Leipzig, 22. De¬
zember 1813.)
Wenige Tage aber nach dem letzten erwähnten Briefe, am Vorabend seines
vierundvierzigsten Geburtstages erhielt Arndt einen Brief von Wilhelm Mo-
therbh, der inzwischen wohl begriffen und aus dem Briefwechsel seiner Frau
mit Arndt erraten hatte, daß hier eine Trennung in der Zeiten Hintergrund
drohe, der jetzt kam, um dem Freunde Vorstellungen zu machen, der wahr¬
scheinlich Arndt darauf hinwies, daß der Mann in solchem Bunde der erste
sein müsse, der einer Frau, die ganz Phantasie, ganz Liebe war, die Grenze zeige,
jenseits deren das Unrecht beginne. Und so schrieb Arndt an seinem Geburts¬
tage (Leipzig, 26. Dezember 1813) einen Brief an Johann Motherby, der das
weitere Schicksal der beiden bestimmte und die Liebe, die überwallende Leiden¬
schaft geworden war, zur Freundschaft zurücklenkte. Er berief sich darauf, daß
er nie mit dem Heiligen spielen könnte, „selbst was ein glücklicher Leichtsinn
mir erlauben möchte, erlaubt mir die Stellung nicht, worin ich mich als Teutscher
Mensch gesetzt habe: ich muß meiden, was Anstoß geben könnte, ich darf vieles
nicht thun oder nur scheinen thun zu können, was andern erlaubt ist, damit
meine Thaten nicht schlechter erscheinen als meine Worte. Das Vaterland hat
mich, die Sorge für mein Volk und unsre Kinder und wird mich haben bis
ans Ende. . . . Ich liebe Dich, meine kleine blühende und glühende Seele, ich
liebe Dich sehr, sehr, ich habe es Dir noch in meinem vorigen Briefe geschrieben,
wie sehr. Aber nichts Unwürdiges würde ich von Dir begehren, noch an Dir
dulden, auch mich äußerlich in kein Verhältnis zu Dir stellen, das mich und
Dich und Deine Freunde entehrte. .... Ich liebe Dich sehr, aber ich will
nichts als diese Liebe und ihre geistige Blüte, weil ich nichts andres wollen
darf." Und am 30. Dezember setzte er in Bezug auf Johannas Gatten hinzu:
„Ich habe Wilhelm auf seine Klagen wahr und treu geschrieben; ich hoffe,
der Liebe, Gute wird sich besinnen und bedenken, wie weit man besitzen darf.
Will ich ihm denn etwas nehmen? will ich ihn unglücklich machen? wahrlich
nicht ich. Der Brunnen der Liebe ist unendlich wie alle Schöpfung und strömt
reicher und heitrer zu, je mehr er abgiebt; jeder nehme bescheiden das Seine
und liebe das Seine so hoch, daß kein Zweiter und Dritter es ihm ent¬
wenden kann."
Motherbh dachte nicht daran, seiner Frau den Briefwechsel mit Arndt zu
untersagen, wie letzterer einen Augenblick lang gefürchtet hatte, Johanna war
es, die Arndts männlich ernste Fassung und Selbstüberwindung klagend und
zürnend aufnahm. Sie riß sich in Königsberg los und reiste im Frühling 1814
nach dem deutschen Westen zu einem längern Besuch bei ihrer Freundin Henriette
Barklciy, die seit dem Ende 1812 die Frau Max von Schenkendorfs war. In
Rödelheim, wo sie bei Arndts Freunden, dein Solmsschen Regierungsrat Hoff¬
mann und dessen schwedischer Gattin Aufnahme fand, sah sie Arndt wieder,
weitere Zusammenkünfte fanden in Frankfurt am Main und Heidelberg statt,
im August reiste Johanna Motherby nach Königsberg zurück. Diese Begeg¬
nungen und die Briefe, die jetzt zwischen beiden hin- und hergingen, entschieden
vollends über das Schicksal des phantastischen Traumes, in dem sich Arndt
gewiegt hatte und Johanna noch immer wiegte. Nicht kälter war er geworden:
„ich fühle ganz, wie unendlich lieb Du mich haft und wie Du so ganz in mir
lebst und bist, wie nie ein andrer Mensch gewesen ist, noch sein wird. Desto
grauenvoller aber und weher ist mir der Gedanke: dieses holde Wesen kannst
du doch nicht beglücken, wie du solltest, noch erfüllen mit jenem Sonnenschein
voll Lust und Genüge, der ans der reinen Brust voll Liebe in die geliebte
Brust überströmen müßte; desto schrecklicher steht die Möglichkeit vor mir, daß
du einst, was jetzt um und an Dir ist, ja was du selbst bist, als ein täuschendes
Gebild der Phantasie bejammern könntest" (23. Juni 1814), aber klar, un¬
erbittlich klar darüber, daß die liebenswürdige Furiua, der buntschillernde
Paradiesfalter, dos Weib nicht sein könne, dessen er bedürfte. Dies war ent¬
schieden, ehe Rammel Schleiermacher in Arndts Gesichtskreis trat, ehe Arndt
seine neuen Lebensverhältnisse am Rhein begründete. Am 6. März 1817 schrieb
er aus Greifswald an sie: „Du weißt wohl, was zwischen mir und Dir steht,
aber Du solltest auch nicht vergessen, welch ein mächtiges Gerät Du in meinen
Verhängnissen gewesen bist und immer sein wirst, und wie wir eine Macht
ehren sollten, die so gewaltig über uns gebot. Weil das eine uns versagt
ward, sollen und wollen wir alle süßen Blumen ausraufen, die doch so lieblich
blühen? sollen wir selbst die ausraufen, die sich wie eine Jakobshimmelsleiter
in einer leuchtenden Kette zum Himmel aufwinden und uns so zu jener einzig
gewissen und unverwelklichen Liebe emporheben wollen? O Du Liebes! thu
das nicht, brich eine Gemeinschaft nicht ungläubig ab, die für uns beide so
wohlthätig sein muß; erkläre nicht selbst Erinnerungen für Lügen, die uns
ewig die anmutigsten sein müssen."
Aber was auch Arndt jetzt und später that, die leidenschaftliche Freundin in
treuem Gedenken zu beschwichtigen, er konnte nicht abwenden, daß doch ihre
Trennung von Motherby erfolgte. Eine neue Spätleidenschaft des unruhigen
Herzens führte ein Jahrzehnt nach der hier geschilderten Zeit (1324) zur Schei¬
dung Johannas und ihrer Verbindung mit dem elf Jahre jüngern Arzt
Dr. Ludwig Dieffenbach, mit dem sie sich in Berlin niederließ. Auch diese
Wendung ihres Schicksals, die ihr wiederum, das getrüumte Glück nicht brachte,
hat Arndt mit ernstem Freundesanteil begleitet, mit wie ernstem und schmerz¬
lichem, verrät der letzte Wunsch, den er ihr (Bonn, 25. Mnrz 1836) nach ihrer
zweiten Scheidung auch von Professor Dieffenbach zurief: „Wir grüßen Dich
sehr und wünschen Dir in der durch eigne und fremde Unruhe gctümmelvvllen
Welt ein bischen vou Gottes Frieden."
Alles in allem ist es eine wundersame Episode von Arndts innerm Leben,
die durch die Briefe an Johanna Motherby erhellt wird, ein uns tiefbe-
wegcndes Zeugnis dafür, welche Kluft die Menschen von heute und ihr Em¬
pfinden von den Menschen und Empfindungen im Beginn unsers Jahrhunderts
trennt. Als Arndt im Winter von 1847 an Charlotte von Kälber meldete:
„Ich habe mein sicbennndsiebzigstes nun überschritten, nicht ohne Schmerzen
ganz eigentümlicher Art, in denen ich noch etwas begraben bin, eine Art
Schmerzen, wie die einer Leichenbestattung. Denn die hohe Altersspitze, worauf
ich stehe, hatte mich ermahnt, unter lange still gelegnen und bestäubten Papieren
zu wühlen, und da wurden auch manche thränen- und schmerzensreiche Er¬
innerungen mit aufgewühlt. Ich wühle nun schon seit Wochen. Bei diesem
Wühlen und Ordnen von Papieren aus längst verschimmelt Tagen werden
auch viele süßeste Erinnerungen wieder doppelt lebendig, und auch der Dank
gegen den freundlichen Gott, der mir die Liebe so vieler frommen und tapfern
Seelen in einem langen Leben beschieden hat," da mußte er anch Johannas
als einer Abgeschiednen gedenken, sie war bereits fünf Jahre zuvor, am
22. August 1842, in Berlin verstorben.
er vielgefeierte und vielgeschmähte Meister des Naturalismus
hat soeben eine Natur- und Sittengeschichte einer Familie unter
dem zweiten Kaisertum beendigt. Sein Roman I^L vootsur
?As<zg.I bildet den Schlußstein der merkwürdigen litterarischen
Katakombe, durch die Zola seit dem Jahre 1871 seine an¬
dächtigen Leser geführt hat. Nicht weniger als zwanzig Bände sind notwendig
gewesen, um die Sittengeschichte der Familie Rougou-Macquart mit allen
ihren Gebrechen und Verirrungen ausführlich und wirkungsvoll darzustellen.
Solch einen umfangreichen Romaneyklus in verhältnismäßig wenig Jahren zu
schreiben, dazu gehört entweder die Fruchtbarkeit eines Genies oder die Fertig¬
keit eines Manders. Zoln hat diese handwerksmäßige Fertigkeit in hohem
Grade; er hat seine Romane im Schweiße seines Angesichts gearbeitet. Er
hat gearbeitet wie ein Maurer, der sich die Steine zum Bau selbst herbei¬
schleppt und alles daran setzt, das Haus sobald wie möglich unter Dach zu
bringen, der aber mit einen Hause uicht zufrieden ist, sondern mit demselben
Baumaterial, nach demselben Grundriß und in demselben Stile nach einander
zwanzig Häuser in einer Reihe aufführt. Daher der einförmige, öde, lang¬
weilige Eindruck, den Zolas Romane bei jedem Leser von feinerer litterarischer
Bildung zurücklassen. I^ö ArancI äölinit alö N. Uol^., coiuius roirig-uoisr, sagt
der bekannte Kritiker Brunetivre, o'oeil as tatiZusr, <lo lassor, et'mal^er.
Zola verfügt über eine Reihe sorgfältig ausgeführter „Klischees," die in
allen semel: Romanen mit gewissen Veränderungen und Anpassungen wieder¬
kehren. Er hat ein Klischee für die Schilderung einer lebhaften Straße, er hat
andre für die Beschreibung vou Landschaften am Morgen, am Mittag und
am Abend. Er hat Klischees für Zimmereinrichtungen, insbesondre für Schlaf¬
stuben; er hat Klischees für Charakteristiken, er hat vor allem Klischees für
Liebesszenen, und das sind die wirkungsvollsten i Liebesszenen von dem keuschen
Erröten bis zur brutalsten Ausschweifung, von der leisen schüchternen An¬
deutung bis zur gemeinsten Ausmalung raffinirter Sinnlichkeit. Immer
dieselben Ausdrücke, dieselben Wendungen, dieselben Bilder. Die stolze Auf¬
gabe, die Sittengeschichte einer als Typus aufgestellten Familie zu schreiben,
hat Zola in ganz armseliger Weise gelöst. Vou deu gewaltigen geistigen
Kämpfen, die die Menschheit gegenwärtig aufs tiefste ergriffen haben, weiß er
gar nichts zu erzählen. Seine Anschauungen über die sozialen Fragen unsrer
Zeit sind oberflächlich, verworren, zuweilen geradezu lächerlich. Sein ganzer
Geistesreichtum erschöpft sich in wohlfeilen symbolischen Spielereien: bald
schildert er den Menschen und die menschlichen Einrichtungen wie große Ma¬
schinen, bald die Maschinen wie arbeitende Menschen. Von einem Schriftsteller,
der über ein Thema zwanzig Bünde zusammenschreibt, kann man erwarten,
daß er dem Leser doch ein paar allgemeine Ideen oder eine selbständige Lebens¬
auffassung biete. Aber einen weiten Blick, philosophisches Denken, Gerechtig¬
keitssinn und Empfänglichkeit für die unzähligen „Imponderabilien," die das
menschliche Leben bestimmen, sucht man bei Zola vergebens. Dos c1s8Lrixtion8
et ass vsmturo8, sagt Brunetiöre sehr richtig, xrouve-ut xas aus l'on
saoks soriro, ellos vrouvsut, ulu^uemout <in>z l'on g, Ä08 8<ZU8^lion8 tortö8.
<ü'<Z8t ^ l'sxplöWion <Is8 iciöS8 ALUvr-Ass aus 1'on attsuä se eins 1'on M0'S
1'ssriv-lin.
Wir haben in den Grenzboten früher Zolas Romane I^a, Isrrs, I^s lisvs,
1/^ Lsts Humanus, Il'^.rAeut und I^a. OsbÄds besprochen und dabei eingehend
die Grundsätze des Naturalismus im allgemeinen und die Fehler und Schwächen
der Zolaischen Machwerke im besondern behandelt; wir könnten uns nnr
wiederholen, wenn wir hier beim Abschluß seines Nomancyklus noch einmal
auf diese Fragen zu sprechen kommen wollten. Nur auf eine Frage, die kultur-
geschichtlich die interessanteste ist, wollen wir bei dieser Gelegenheit näher ein¬
gehen, nämlich auf die, wie es möglich gewesen ist, daß Zola trotz aller seiner
Fehler, trotz der Ablehnung gewisser einflußreicher Gesellschaftskreise und trotz
der fortdauernden, rücksichtslosen Augriffe angesehener Kritiker über Erfolge
im Buchhandel zu verzeichnen hat, die in der ganzen Litteraturgeschichte ohne
gleichen dastehen. Der Absatz seiner Romane ist beispiellos. Vier davon
haben die Zahl von hunderttausend Exemplaren bereits überschritten: I^^srrs,
I/'^88oiumior, Mus, und I-g, DsbÄols. Der letztere ist bis jetzt in 176 000,
5>Ain in 166 000 Exemplaren verkauft worden. Zu diesem unerhörten Absatz
hat selbstverständlich nicht bloß Frankreich beigetragen; Zolas Romane sind
über die ganze Welt verbreitet. Die größte Zahl fremder Abnehmer befindet
sich in — Deutschland. Wer mit unsern Leihbibliotheken in Verbindung steht,
der wird leicht erfahren können, daß nichts mit größerer Spannung und Un¬
geduld vou dem großen Lescpublikum erwartet wird, als ein Roman Zolas,
und daß gegenwärtig keine Litteratur bei uus mit größerer Gier verschlungen
wird, als die naturalistische. Zola scheint in der That mit seinem trium-
phirenden Ausruf: L'o8t un uouvsau Äsols littsra-irs 8'vuvrs, wenigstens
was seine Erfolge betrifft, Recht zu behalten.
Drei Umstände haben am stärksten zur Verbreitung seiner Romane bei¬
getragen: seiue Anlehnung an den Positivismus und an die exakten Wissen-
schaften, seine unaufhörlichen kritischen Waffengüngc oder litterarischen
Zänkereien, und endlich die immer tiefer sinkende litterarische Bildung und
höher steigende Lesewut eines übersättigten Publikums. Materialistische Grund¬
sätze wie: I«z vios se ig. vertu sont, cle8 xrocluits ooruinL 1s vitriul on 1v suors:
un msiriö cZstsriuinismö etoit reglr ni pierrs et«Z8 v1ismin8 et 1s esrvsM 6s
1'uviuius; 1s iuL0RA8iQtz Z«z In vWsion imuztioimö 8ö1on Je8 Ioi8 ux6ö8 xa.r 1a
imwrs sind von ihm in seine Kunstlehre hinübergenommen worden, und natur¬
wissenschaftliche Schlagwörter wie Vererbung und Anpassung, Zuchtwahl,
Kampf ums Dasein, Milieu und Äoeunuzuw uuuuün8, Experiment, Analyse
und Beobachtung sollten alle Begriffe der überlieferten Schulüsthetik über den
Haufen werfen. Er sucht die mechanische Erklärungsweise und die mathe¬
matische Berechnung aus dem materiellen Leben auf das geistige und sittliche
zu übertragen. Seine Romane sollten gleichsam die ersten Blüten auf dem
Baume der positivistischen Weltanschauung sein. Aus ihnen sollten auch für
die Wissenschaft reiche Früchte entstehen. „O, diese neu entstehenden, jungen
Wissenschaften, ruft er in dem Schlußroman aus, diese Wissenschaften, wo die
Hypothese noch stammelt, und die Phantasie noch Herrscherin bleibt! Sie sind
das Arbeitsfeld der Dichter ebenso sehr wie der Gelehrten. Die Dichter eilen
als Bahnbrecher kümpfcnd voraus. Oft entdecken sie jungfräuliche Länder und
deuten ans die Losung der nächsten Aufgaben hin. Zivischeu der gewonnenen
unwandelbaren Wahrheit und dem unbekannten Gebiete, dem man morgen die
Wahrheit entreißen wird, giebt es ein Grenzgebiet, das den Dichtern gehört.
Welche großartige Freskenmalerei, welche ergreifende menschliche Komödie lind
Tragödie läßt sich auf Grund der »Vererbung« entwerfen, der Vererbung, die
das Eutstehungsgesetz, die Genesis der Familien, der Gesellschaften, der ganzen
Welt darstellt!"
Auf diesem Grenzgebiete, das zwischen Wahrheit und Dichtung, zwischen
Wissenschaft und Phantasie liegt, hat Zola sein zwanzigbändiges Werk auf¬
gerichtet. An den Schicksalen der weitverzweigten Familie Nougon-Macquart
will er die Gesetze der körperlichen, geistigen und sittlichen Vererbung nach¬
weisen. „Unsre Familie — läßt er den Doktor Pascal sagen — könnte
heute der Wissenschaft als Beispiel genügen. Die Wissenschaft hofft, eines
Tages mit mathematischer Genauigkeit die Gesetze der Nerven- und der Blut¬
krankheiten festzustellen, die Störungen, die bei einer Familie infolge eines
organischen Fehlers hervortreten, und die bei jeden: Gliede dieser Familie, je
nach dem Milieu, die Empfindungen, die Wünsche, die Leidenschaften, alle
Offenbarungen der Natur und der Triebe im Menschen bestimmen. Diese
Offenbarungen führen den Namen Tugenden oder Laster. Unsre Familie
liefert auch eine geschichtliche Urkunde. Ihre Geschichte erzählt die des zweiten
Kniserreiches vom Staatsstreiche bis auf Sedan, denn die Rougon-Macquart
sind aus der Hefe des Volkes hervorgegangen, sie haben sich unter der ganzen
zeitgenössischen Gesellschaft verbreitet; in alle Lebensstellungen sind sie ge¬
drungen, angestachelt von der maßloßen Gier, dem Stoßen und Treiben, den
Peitschenhieben, die die untern Klassen mitten durch alle Gesellschaftsschichten
zum Lebensgenuß forttreibt."
Zola ist sich wohl bewußt, welche litterarische That er mit seinem Roman-
cyklus ausgeführt hat. In allen seinen kritischen Schriften wird er nicht
müde, die hohe Bedeutung seiner Werke zu rühmen und sie als die Träger
einer neuen mächtigen Litteratur zu preisen. „Welche ungeheure lebendige
Masse, ruft er in dem Schlnßroman aus, wieviel liebliche und furchtbare
Abenteuer, wieviel Freuden, wieviel Leiden, wie mit der Schaufel zusammen¬
geworfen, in dieser kolossalen Anhäufung von Thatsachen! Da findet ihr wirk¬
liche Geschichte: das Kaiserreich in Blut gegründet, im Genuß einer starken
Macht, als Sieger über aufrührerische Städte, dann aber in seiner langsamen
Zersetzung und endlich aufgelöst in Blut, in einem solchen Meer von Blut,
daß die ganze Nation beinahe darin ertrunken wäre. Da findet ihr soziale
Studien: den kleinen und den großen Handel, die Prostitution, das Verbrechen,
den Erdboden, das Geld, die Bourgeoisie und das niedere^ Volk, das in den
Kloaken der Vororte verfault oder sich in den großen Industrieorten empört,
den ganzen, beständig wachsenden Lebenstrieb des allgewaltigen Sozialismus, aus
dem das neue Jahrhundert geboren werden soll. Da findet ihr einfache, rein
menschliche Studien, Skizzen aus dem Seelenleben, Liebesgeschichten, den Kampf
der Geister und der Herzen gegen die ungerechte Natur, die Vernichtung derer,
die unter ihrer zu schweren Aufgabe seufzen, den Ausruf der duldenden Güte,
die sich opfert als Siegerin über den Schmerz. Da findet ihr Traumgebilde
und eine über die Wirklichkeit hinansschweifende Phantasie, unermeßliche,
zu allen Jahreszeiten blühende Prunkgärten, Kathedralen mit kunstvoll ge¬
arbeiteten Zacken und Spitzen, Märchen so wunderbar, als wären sie aus dem
Paradiese gefallen, ideale Schwärmereien, die in einem Kusse wieder zum
Himmel fliegen. II s, as tout, Ah l'öxczöllönt 6t ein pirs, du vulMtrö se
ein sudliiQS, los üours, 1a bono, les siMAlots, los rirss, le tvrrsut raöinö ac
ig, vis olmrrig,ut siens um l'iiuiimnitö!"
Selten hat ein Schriftsteller mit so behaglicher Selbstzufriedenheit und
solchem litterarischen Stolz eine allgemeine Kritik seiner Werke vorgetragen,
wie es hier Zola in seinem Roman I^s vootsur?a,s<ZAl thut. Darnach ist
sein Nomanehklus der Inbegriff alles dessen, was in der Dichtungsgattung
des Romans überhaupt geleistet werden kann; hier wird die Nachwelt die
Muster für die überhaupt noch möglichen Arten des Romans finden, für den
historischen, den sozialen, den psychologischen und den phantastischen. Hier
wird aber anch der Wissenschaft eine Fundgrube geboten, aus der sie neue
Aufklärungen über die Geheimnisse des menschlichen Lebens entlehnen kann und
wirkungsvolle Beweise für ihre Hypothese« und Vermutungen.
Um das große Gesetz der Vererbung, das in seinen Romanen die Haupt¬
rolle spielt, offen und übersichtlich darzulegen, hat Zola seinem neuesten Werke
einen Stammbaum, un ardrs « ^nvaloAicius, der Familie Rougon-Maeauart
vorangestellt. Dieser Stammbaum ist das Lebenswerk des Arztes Pascal
Rougon. Pascal hat sich mit einem anständigen Vermögen aus Paris zurück¬
gezogen und sich in der Nähe seiner Vaterstadt Plasfans angekauft. Auf seinem
kleinen Landsitz Loulsmäs lebt er still und zurückgezogen mit seiner fünf¬
undzwanzigjährigen Nichte Klotilde und der frommen Haushälterin Martine.
Er hat Plasfans zu seinem Wohnsitz erwählt, weil ihm dort die Familien der
Bewohner durch verschiedne Geschlechter bekannt sind, und er auf Grund dieser
Kenntnisse seine Studie» über die Vererbung erweitern und vertiefen möchte.
Die sicherste Grundlage für seine Lehren bietet ihm aber die eigne Familie.
Er hat über den Charakter, das Wesen und die Fähigkeiten jedes Gliedes der
Nougon-Macquart genau Buch geführt. Jedes Mitglied hat besondre Per¬
sonalakten, in die alle Ereignisse und Wahrnehmungen, immer mit Rücksicht
auf die Vererbung, eingetragen werden. Aus alleu Personalakten hat er dann
einen allgemeinen Stammbaum zusammengestellt, wo jeder Zweig seine bestimmte
Charakteristik erhalten hat.
Es giebt nach seiner Ansicht vier Fälle der Vererbung: die unmittelbare,
die von den Eltern ausgeht; die mittelbare, die von den Verwandten herrührt;
die wiederkehrende, die sprungweise in verschiednen Geschlechtern auftritt; end¬
lich die beeinflußte, die z. B. dann erscheint, wenn eine Witwe wieder heiratet
und ihre Kinder doch nach dem ersten Gatten schlagen. Der usrsäitv gegen¬
über stellt Pascal die innuitv, durch die, wie in der Chemie, aus zwei Stoffen
ein neuer entsteht, der mit keinem von beiden Ähnlichkeit hat. Der alte Arzt
glaubt zu seiner Beruhigung und Freude zu erkennen, daß sein Wesen nicht
das Ergebnis einer Vererbung, sondern einer chemischen Neubildung sei, und
daß er von den verderblichen Anlagen und Fehlern seiner Ahnen frei sei. Bei
seiner Nichte Klotide Rvngon stellt er mathematisch genau fest, daß bei ihr
eine wiederkehrende Vererbung, 1'lloröÄitv rötonr, eingetreten ist, aber nicht
aus der kranken, belasteten Familie Rougon, sondern aus der frischen, ge¬
stunden, lebensvollen Familie ihrer Mutter Augvle Sicardot. Abgesehen von
dem Bauern Jean Macquart, den wir aus 1^ vvlmols kennen, sind also
Pascal und Klotilde die einzigen Glieder der Familie, von der eine gesunde,
fortpflanzungsfähige Nachkommenschaft erwartet werden könnte. So oft der
sechzigjährige Pascal den Stammbaum studirt, bleiben seine nach frischem Leben
spähenden Blicke auf Klotilde haften. Studium und Schüchternheit haben ihn
zum alten Junggesellen gemacht. Nun fühlt er in seinen hohen Jahren noch
einmal einen warmen Strom der Liebe durch seine Adern rollen. Ein Kind
von Klotilde zu haben, erscheint ihm mit einemmale als sein höchster Lebens¬
zweck, als der Triumph seines Daseins. Aber Klotilde hält sich fern von ihm.
Sie steht unter dem religiösen Banne der alten Mutter Pascals, die die Werke
des Sohnes für teuflische Eingebungen hält und vor den Personalakten der
Familienmitglieder Furcht und Entsetzen hat. Diese weiß Klotilde zu bereden,
den Schrank Pascals zu erbrechen und die ihre ganze Familie bloßstellenden
Schriften zu beseitigen. Bei dieser Arbeit, die Klotilde in der Nacht während
eines starken Gewitters ausführt, wird sie von ihrem Onkel überrascht. Beide
stehen sich im Nachtgewande gegenüber, sie bleich vor Schrecken, er kochend
vor Wut. Und während draußen das Unwetter tobt, zwingt er sie, mit ihm
die Akten durchzulesen und sich zu überzeugen, daß seine Studien kein Teufels-
werk, sondern eine ernste heilige Wissenschaft seien.
Diese Nachtszene wird der Anfang ihrer Liebe. Bald gehören sie sich in
heimlichem Bunde völlig um. Und selbst der Haß der alten Mutter Fölicitv
und der Verlust seines Vermögens können dem alten Arzt das späte selige
Liebesglück nicht vergällen. Eines Tages fährt Klotilde zu ihrem kranken
Bruder Maxime in Paris, und vou dort teilt sie ihrem Onkel mit, daß sie
ihm einen Nachkommen schenken werde.
Aber Pascal ist von den körperlichen und seelischen Aufregungen der letzten
Zeit so ermattet, daß er zusammenbricht und stirbt, ohne die znrückgerufne
Klotilde wieder gesehen zu haben. Doch ihr Brief ist ihm wie ein Sonnen¬
strahl in seiner Todesstunde gewesen: „Ein Kind! Dieses Kind, das ihm eine
Unmöglichkeit schien, nun war es da, sie trug es schon unter dem Herzen, als
er den Eisenbahnzug davon eilen sah über die weite Ebne! O, das war ein
leibhaftiges Werk, das einzige, gute, lebende Werk, daS ihn mit Glück und
Stolz erfüllte. Seine Arbeiten, seine Furcht vor der Vererbung waren ver¬
gessen. Das Kind, sagte er sich, würde sein, was lag daran, wie es sein
würde! Wenn eS nur die Fortsetzung, ein hinterlassenes langdauerndes Leben
seines eignen Ich war!"
Nach dem Tode Pascals vernichtet die alte Frau Nougon die Dokumente,
aber den Stammbaum rettet Klotilde. Sie giebt dieses Werk ihres Onkels
und Geliebten dem befreundeten Arzte Ramond; von dem wird es wohl Zola
als Grundlage seines Romancyklus Ilos Kougou-U-uiciu^it erhalten haben.
Zola schließt seinen Roman mit einer Verherrlichung der Mutterliebe.
Die Schilderung Klotildens und ihres Kindes ist unzweifelhaft die gelungenste
Stelle in dem ganzen Roman; sie mutet uns an wie ein Madonnenbild, frei¬
lich wie eins aus der naturalistischen niederländischen Schule: vlotilciv souriiüt,
!>. 1'MtÄut, cM tvtg.it t.vuMii-8, sein xstit ti'As su 1'Sir, tout etroit, ctrssss
ooruills un clmxöÄu, 6'g.xxsl ^ 1«. vis. Mit diesen Worten, einer Apotheose
des Wickelkindes, endigt der Nomancvklus.
An einigen Stellen des Romans hat man den Eindruck, als ob über Zola
ein neuer sittlicher Geist gekommen sei. Nachdem er neunzehn Bände hindurch
die unglaublichsten Orgien einer raffinirten Sinnlichkeit zum Besten gegeben
hat, sagt er hier: si l'erkenn n'sLt, an dont, l'amour n'sse c^u'ans sg-ists
inutils. Er preist die Mütter, die heiter und einfach sind, aux lar^hö lllmos,
o^pablss as porwr um aeneis und bedauert, daß man unter den Frauen Frank¬
reichs immer weniger die Fälle jener Iveouclits pullulants findet, die den Müttern
kaum Zeit läßt, ihre Kleinen zu stillen. „Aber, sagt er, Frankreich hat ein
kräftiges Leben, und ich finde, daß es auf dem besten Wege ist, die Welt über
seine schnelle Genesung in Erstaunen zu setzen. Gewiß, es giebt hier viele
faule Dinge. Ich habe sie nicht verborgen, ich habe sie vielleicht zu sehr zur
Schau gestellt. Aber ihr versteht mich schwerlich, wenn ihr meint, ich glaubte
an Frankreichs schließlichen Untergang, weil ich die Wunden und die Risse
zeige. Ich glaube an das Leben, das unaufhörlich die schädlichen Stoffe aus¬
wirft, das neue Fleischfasern schafft, um die Wunden zu schließen, das auf die
Gesundheit geradeswegs hinstrebt, auf eine beständige Erneuerung inmitten der
Fäulnis und des Todes."
Französische Kritiker, wie Emile Faguet in der Rsvns Llsus, haben Zolas
Roman I^s vootönr ?g.seul als völlig mißlungen bezeichnet. Sie halten ihn
für die schlechteste Leistung des fruchtbaren Schriftstellers und sprechen ihre
volle Enttäuschung über dieses klägliche Schlußstück aus. Vor allem nehmen
sie Anstoß an Zolas Versuch, eine wahre Liebe zwischen einem sechzigjührigen
Manne und einem jungen Mädchen mit allen sinnlichen Äußerungen darzu¬
stellen. Und es ist wahr, man glaubt bei solchen Altersunterschieden nicht
mehr recht an eine gesunde, natürliche Liebe; der ganze Fall gewinnt leicht
etwas krankhaftes, pathologisches. Aber man muß doch zugestehen, daß es
Zoln nicht unterlassen hat, das allmähliche Entstehen dieser Liebe Klvtildens
zu dem Greise — denn sie giebt sich ihm freiwillig hin — mit allen mög¬
lichen Zügen zu begründen. Selbst Szenen ans der biblischen Geschichte, die
Liebe des alten David zu der jungen Sunamitin Abisaig, die Liebe Abrahams
zu Hagar und die Idylle zwischen Boas und Ruth werden zur Erklärung
herbeigezogen. Zola betont ausdrücklich, daß sich Pascal die Kraft unent-
weihter Jugend bewahrt habe. Dazu kommen das Einsiedlerleben, das er mit
Klotilde führt, ihre gemeinsamen Studien über Vererbung, ihre gemeinsamen
Spaziergänge, ihr vertrauliches Leben; Zola hat das seltsame Verhältnis auch
psychologisch zu begründen versucht. Trotzdem erscheint dieses Liebesverhältnis
zwischen dem alten Mann lind der jungen Nichte, die den lebensfrischen Arzt
Ramond abweist und sich dem Greise in die Arme wirft, krankhaft und
widerwärtig, umsomehr als beide gar kein Verlangen haben, ihren Verkehr
dnrch einen Ehebund zu weihen.
Klotilde wird uns im Anfang des Romans als eine tief religiöse Natur
geschildert, und jeder Leser erwartet, daß sich hier ein Kampf abspielen werde
zwischen der in Pascal erscheinenden modernen Wissenschaft und dem in Klvtiloe
lebenden religiösen Bewußtsein. Aber man merkt bald, daß Religion und
Wissenschaft hier bloße Bemäntelungen, ein bloßer idealer Aufputz für sehr
materielle Gelüste sind. Die ganze Wissenschaft des alten Arztes, über die sich
Zola Seiten lang in hochtrabenden Redensarten ergeht, ist einfach Humbug,
die Verrücktheit eines an fixen Ideen leidenden Gelehrten. Neben seiner Ver-
erbuugspathologic hat er eine neue Theorie vom Gleichgewicht der Kräfte auf¬
gestellt, die darin besteht ü, vt-idlir eins tout, «zö Huc- rs^on su son-
»iition, it etoit 16 rsn<tre> su mouvement. „Welch ein normales, volles und
glückliches Leben, ruft er aus, wenn man es hätte ganz leben können, so ge¬
ordnet wie das Triebwerk einer Maschine, die in Kraft umsetzt, was sie an Brenn¬
stoff verbraucht!" Er glaubt auch ein neues Mittel, ninz parmess rin?<zr3fils,
entdeckt zu haben, wodurch die ganze Menschheit wieder gesund gemacht werden
könnte. Es ist eine Auflösung von Hammelbrägeu in destillirtem Wasser.
Dieses Mittel spritzt er den Kranken unter die Haut, und er hat damit die
überraschendsten Erfolge: die Schwindsüchtigen werden wieder gesund, und die
Irrsinnigen werden wieder vernünftig. Das wäre ja eine ganz hübsche Satire
auf die letzten Enttäuschungen, wie sie die Heilkunde erlebt hat: aber Zola
denkt gar uicht daran, eine Satire zu schreiben. Er giebt die Wahrheit; er
behauptet, hier den Typus eines Gelehrten, und dazu eines sehr edeln, hoch¬
herzigen Gelehrten unsrer Zeit geliefert zu haben. Das ist sehr komisch, wir
können Faguet uur Recht geben, wenn er Pascal den Don Quichotte der
Rougon-Macquart nennt.
Der Roman ist auch sonst reich an unfreiwilliger Komik; solche wunder¬
liche Szenen sind z. B. die Liebestollheit des Alten, der Besuch der Familie
bei der Stammmutter, der Tante Dite, im Irrenhause, das Ende des
fünfzehnjährigen Charles, eines Neffen der Klvtilde, der an Nasenbluten
stirbt, und der auf seinem Blatte am Stammbaum charakterisirt wird mit
den Worten: clgrniLrs sxxrössicm as 1'0vui8(!Mknt et'une ZÄv«z. Aber alle
diese wunderlichen Schilderungen werden noch übertroffen durch die Art,
wie Zola, nach berühmten Mustern, den alten Onkel Macquart, einen un¬
verbesserlichen Säufer, in seinein eignen Fett und Alkohol verbrennen läßt.
Schon Dickens beschreibt in seinem Roman LIs-i-K Lvuss einen ähnlichen Fall
der oonibustion »xonwnöö. Zola ist mit seiner Schilderung also uicht einmal
originell; und obgleich jene Stelle bei Dickens von den Ärzte» als unmöglich
bezeichnet worden ist, tischt er in seiner Kritiklosigkeit denselben Verbrennuugs-
prozeß als neue Wahrheit den Lesern nochmals auf. Der alte Macquart sitzt
rauchend in seinem Zimmer. Er schläft ein. Ein Funke fällt aus seiner
Pfeife auf sein Knie, es brennt durch die Hose, und bald züngelt aus dem
Fleische des alten Säufers ein blaues Flämmchen auf, das in kurzer Zeit den
ganzen Körper in Rauch und Asche verwandelt. Nur seine Pfeife bleibt übrig
und die leere Schnapsflasche, in die sechsunddreißig Schnäpse hineingehen.
1ii6N luz isstiüt als lui, Ms un os, xas uns elend«, un ouA'Is, rion Hus
«6 zivtit tA8 äiZ v0U88lors AN8L, MV 1ö courant ä'g.ir as 1«, vorto mollit^int
6ö dalA^ör.
Eine beabsichtigte Komik liegt wohl darin, wenn Zola erzählt, der alte
Säufer habe in seinem Testament bestimmt, sein hinterlassenes Vermögen solle
zu einem schönen Denkmal über seinem Grabe verwendet werden, zu einem
Denkmal mit einer mächtigen Säule und zwei weinenden Engeln in einer weh¬
mütigen Gruppe.
Aber wir wollen gerecht sein. Der Roman I^s vootsur ?ü8ca1 enthält
neben dem Unsinnigen, Lächerlichen und Baraken auch manches Schöne. Die
Stelle, wo der alte Gelehrte dem Zuge nachschaut, der seine geliebte Klotilde
nach Paris führt, ist wirklich poetisch. Und seine Lobpreisung der Arbeit ist
für Zola so charakteristisch, daß wir sie unsern Lesern ganz mitteilen müssen:
„Es war eine seiner Lehren — erzählt er von Pascal —, daß die absolute Ruhe
gar nichts wert sei, daß man sie niemals verordnen sollte, nicht einmal denen,
die sich überarbeitet Hütten. Ein Mensch lebt nur durch das äußere Milieu,
worin er sich gleichsam badet. Und die sinnlichen Erregungen, die er dabei
empfindet, setzen sich bei ihm in Bewegung, in Gedanken und in Handlungen
um. Hat er absolute Ruhe, und empfängt er dabei doch jene Erregungen, ohne
sie, verdaut und verwandelt, wiederzugeben, so entsteht eine Stockung, eine
Beklemmung, ein unvermeidlicher Verlust des Gleichgewichts. Er hatte immer
erprobt, daß die Arbeit der beste Regulator seines Lebens sei. Selbst an
einem Morgen, wo er sich unwohl fühlte, setzte er sich an die Arbeit; und
dabei fand er seine Festigkeit wieder. Niemals fühlte er sich wohler, als
wenn er seine Arbeit vollendete, die methodisch vorgezeichnet war, und an der
er zu derselben Stunde täglich eine bestimmte Zahl von Seiten zu schreiben
hatte. Er verglich diese Arbeit mit einer Balancierstange, die ihn, inmitten
der täglichen Lebensqualen, der Schwächen und der Fehltritte aufrecht hielt."
Nach Zoln ist die Menschheit also nur zu retten durch subkutane Ein¬
spritzungen mit aufgelöstem Hammelbrägeu und durch regelmäßige Arbeit,
Das ist eine verteufelt leichte Lösung des schwierigen sozialen Problems. Wir
sehen auch in diesem Romane wieder, was wir schon früher festgestellt haben,
daß Zola nicht imstande ist, das innere Leben eines geistig höher stehenden
Menschen nachempfindend zu schildern; für das Seelische, wahrhaft Mensch¬
liche hat er nicht das geringste Verständnis. Wo er solche Schilderungen
versucht, bringt er stets Karrikaturen zustande. Und eine der schlimmsten ist
sein Doktor Pascal. Hoffentlich werden seine Anhänger nach diesem traurigen
Abschluß des großen Romancyklus endlich aufhören, pathetisch auszurufen:
Aoln, <Z0INM«Z An L0IÄI VN N03 iM8 s. PÄI'U.
Professor Beyschlag ist ungehalten über unser» Ar¬
tikel in Heft 13 „Zur Jesuitenfrage." Das konnten wir nicht anders erwarten,
und wir stellen ihm überdies das Zeugnis aus, daß er sich Mühe gegeben hat,
in seiner Polemik gegen uns (Deutsch-Evangelische Blätter vom 7. Juni) sachlich
zu bleiben. Aber seine guten Ratschläge müssen wir ablehnen; wir haben selbst
Augen genug, die Eier, die in unser Nest gelegt werden, zu prüfen, ob' ein Kuckuck
oder ein echter Grenzbote drin steckt. Der Verfasser des fraglichen Artikels schreibt
uns folgendes:
Herr Professor Beyschlag nimmt Anstoß an der „frivolen" Art, in der ich
die Sache behandelt habe. Ich gehöre aber nun einmal zu den glücklichen Leuten,
die das Lachen noch nicht verlernt haben, und ich werde mir niemals das Recht
nehmen lassen, nnter den übrigen komischen Figuren der Zeit auch die Jesuitophvben
zu belachen. Komisch sind die Herren natürlich nur als Jcsnitophoben; im übrigen
aber eben so würdige als liebenswürdige Männer; bin ich doch mit einigen von
ihnen persönlich befreundet. Damit aber der Herr Professor Beyschlag sieht, daß
ich auch ernsthaft sein kann, will ich ihm an drei kleinen Proben zeigen, wie ich
seinen Artikel zerpflücken würde, wenn die Grenzboten der Ort dazu wären.
"
„Wer Gury und Döllinger-Reusch wirklich gelesen hat u. s. w. Gury kenne
ich sehr genau seit vierzig Jahren, und das Werk von Döllinger-Reusch habe ich
gleich nach seinem Erscheinen durchstudirt. Es machte ans mich den Eindruck, daß
ich beim Zuklappen ausrief: Das ist — die Entstehungsart des Buches erwogen —
die glänzendste aller Rechtfertigungen des Jesuitenordens! In der mittlerweile ein-
gegangnen Cottaschen Zeitschrift für allgemeine Geschichte habe ich dieses Urteil
auch ausgesprochen oder wenigstens angedeutet.
Daß uus die Jesuiten im Reich nicht viel schaden konnten und ihre Verban¬
nung nicht viel nützt, giebt Herr Professor Beyschlag selbst zu; aber, meint er, wir
widersetzen uns ihrer Rückkehr, „weil uus die Wiederzulassung des spanischen
Ordens als ein Äußerstes erscheint auf einem Verderbenswege, ans dem unsre
innere Politik bereits uur allzu weit fortgeschritten ist; weil wir ein Pfand dafür
haben wollen, daß es für unsre Regierungen noch eine Grenze giebt für ihre Nach¬
giebigkeit gegen Rom." Niemand kann die Erledigung kirchenpvlitischer Angelegen¬
heiten auf diplomatischem Wege und die Unterhandlungen mit Rom schärfer ve»
urteilen als ich. Der Papst müßte für Preußen und für das deutsche Reich gar
nicht vorhanden sein. Jeder Staat soll seine kirchenpolitischen Angelegenheiten selbst
ganz allein und autonom ordnen. Aber natürlich nicht so, daß die protestantische
Mehrheit der katholischen Minderheit Gesetze aufzwingt, die diese nicht will. Das
geht einfach nicht. Es ginge, wenn die Katholiken, wie die Juden, den hundertsten
Teil der Bevölkerung ausmachten, aber da sie in Preußen zwei Fünftel ausmachen,
so geht es nicht. Sondern kirchenpolitische Gesetze müssen gemacht werden auf dem
Wege der Verständigung zwischen der Regierung und den Vertretern beider Kon¬
fessionen. Deshalb verurteile ich den Kulturkampf uicht minder wie die Art und
Weise, in der 1873 der Rückzug eingeleitet und dann durchgeführt worden ist.
Aber um Rom handelt es sich im vorliegenden Falle gar nicht. Nicht Rom fordert
die Aufhebung des Jesnitengesetzes, sondern die deutschen Katholiken fordern sie,
die dieses Gesetz als eine persönliche Beleidigung empfinden. Die Katholiken machen
in Deutschland ein reichliches Drittel der Bevölkerung aus. Ein weiteres Drittel
ist sozialdemokratisch gesinnt. Von dem dritten Drittel gehen noch verschiedne Par-
tiknlaristen ub, und der Rest ist in politischen, kirchlichen und wirtschaftlichen Dingen
uneins. Ob sich unter diesen Umständen ohne oder sogar gegen das katholische
Drittel regieren läßt, das ist eine Frage, die ja am Ende einen Professor der
Theologie nicht weiter interessirt, die sich aber der Politiker beantworten muß, die
Autwort mag ihm noch so sauer werden.
„Leider hat der Verfasser vergesse», uns die Vertreter der historischen Wissen¬
schaft zu nennen, welche die Jesuiten als gute harmlose Staatsbürger charakteri-
siren und z, B. deren Lehre vom Tyrnnnenmord als Ammenmärchen erweisen."
Das ist einer von jenen Sätzen, die, wenn sie der Feder eines deutschen Univer¬
sitätslehrers entfließen, einen überaus peinlichen Eindruck machen. Herr Professor
Beyschlag weiß ganz genau, daß ich mit den Ammenmärchen nicht die Lehrmeinungen
der Jesuiten, sondern die von nur ausdrücklich hervorgehobueu Vergiftungs-, Schcch-
imd sonstige Schauergeschichten gemeint habe. Daß die Jesuiten des sechzehnten
und siebzehnten Jahrhunderts die Volkssouveränität und den vcmtra,t sooial gelehrt
haben, einige von ihnen auch, daß der Tyrauuenmord erlaubt sei, weiß jedermann
und leugnet kein Mensch. Aber so wenig es angeht, eine Blütenlese aus den
Schriften Luthers, Calvins und der englischen Independenten anzufertigen, die dem
Staatsanwalt sehr schlecht gefallen würde, und daraufhin zu fordern, daß der
evangelischen Landeskirche die Anerkennung entzogen werde, ebenso wenig geht es
an, Ausnahmegesetze gegen einen Orden der katholischen Kirche zu erlassen, weil
dessen Theologen vor zweihundert Jahren den Tyrannenmord gepredigt haben.
Ihre heutigen Vertreter muß man befragen. Gnry sagt bei der Erklärung des
vierten Gebots, wo die Pflichten gegen die weltliche Obrigkeit behandelt werden
(Lanio 1ormceousi8 ^. 173 —174): (Zuavritnr, lui livvat, »liauaucto nein odöÄirs g,uo-
toritali tomxorali, ot, un liesse Manmulo rEdellars? liosponäeo: ^.et 1W?, sicut
kviclsus v8t, uumiuam oveäioinium <Z88v mietoriwti den»inn,o in iis «zuav «zvicloutor
voudra. IvAsw vel 8unt, its. ost, omnino obväitzuclulu prinvipibus vtiicm al8co1is,
se eini auetoritccw fuec ,'lbuwutur, in iis PiÄv xsr 8ö lieiw 8nut. ^.ä 2^, nun-
guaill omnino lioituw ost rooollars. „nimis xvrmoiosum in nun rs, ait 8. I^ixuorius,
eme xrinoipimn .lo-uuiis Korsonis, g.ni nasus ost sssvrers, Proä moug,ro1^ xotv8t
loxitims a tot» »atiouo.jnclioari, si rsgnmn injusto «luslo rewockinm aäost,
si rsglmsu xrineipis essst öxeossivo tyiÄMiienin? lisiuoäium, Pioä «uppstit. ait
8. '1'IromW, ost »Ä vsum roourrsrs, ut auxiliam xravbeat." Daß es nach Auf¬
stellung dieser Regel gar nicht erst besonders ausgesprochen zu werden brauchte, daß
der Tyrauuenmord nicht erlaubt sei, sieht jedermann auf den ersten Blick. Übrigens
wirkt solche Hyperlvyälität, die sich vor einem Mciricma entsetzt, und die man an
einem alten Offizier oder einem pommerschen Junker natürlich findet, bei unsern
heutigen Liberalen äußerst widerlich. Haben sie, haben wir, darf ich sagen, nicht
alle in der Jugend für Harmodios und Aristogeiton und für Wilhelm Tell ge¬
schwärmt? Und möchte Herr Professor Beyschlag jenes Blatt der englischen Ge¬
schichte getilgt wissen, das die Independenten beschrieben haben? Gehört es zum
Wesen des Protestantismus, seine Anhänger ans jenen knechtischen Gehorsam zu
verpflichten, deu Macaülny an den Bischöfen der englischen Staatskirche so grausam
verspottet hat, und den auch Gury in der oben angeführten Stelle predigt?
Freilich gehen die Jesuiten „auf Vernichtung aller geistigen Freiheit" aus, aber
was finden sie noch an Leuten zu verderben, die sich in allen Verhältnissen so
unfrei zeigen? Wer, wie ich, um sich die innere Freiheit zu wahre«, auch
jedes Verhältnis äußerer Abhängigkeit ablehnt, der hat vo» den Jesuiten nichts
zu fürchten.
Doch genug. Die Grenzboten sind keine Zeitschrift für Theologie, und die'
Jesuiten zu verteidigen ist nicht ihre Aufgabe. Dazu war auch der fragliche Ar¬
tikel nicht geschrieben. Seinen Zweck hatte ich am Schlüsse ausgesprochen, lind>
heute füge ich einen zweiten bei: die Kulturpaukerei zieht von den großen Aufgaben,
der Politik ab, die zunächst drängen, verwirrt die Gemüter, hindert den Zerfall
der Zentrumspartei und die Gründung einer großen Partei des Mittelstandes, die
wir zur Rettung von furchtbaren Gefahren und zur Gesundung unsers sozialen
und politischen Lebens unbedingt brauchen.
Während der Wahlkämpfe sind die aben¬
teuerlichsten Vorschläge gemacht wordeu, wie am leichtesten die zur Heercsoerstär-
kung notwendigen Summen aufzubringen seien, und wie die Last der neuen Steuern
am gerechtesten verteilt werden könne. Um die wohlhabenden Klassen am stärksten
heranzuziehen, ist man auf die Luxussteuer gekommen, hat aber diesen Gedanken
wieder fallen lassen mit der Annahme, daß der durch Luxussteuern gewonnene
Betrag verschwindend gering ausfallen würde. Wir können uns dieser Meinung
nicht anschließen. Ju England wird eine Lnxussteuer schon seit vielen Jahren er¬
hoben, und die daraus fließenden Summen steigen ins unglaubliche. So bringt
die Steuer, die auf Wagen und Pferde gelegt ist, jährlich mehr als 560 000 Pfund
ein. Nun giebt es freilich in Deutschland nicht so viel Eguipagen und Luxus-
pferde wie in England. Viele Kutschpferde, die Sonntags stolz einhertrotten, sieht
man bei uns um Wochentage vor dem Pfluge oder dem Mistwagen. Trotzdem
darf die Zahl unsrer Luxuspferde und -Wagen nicht unterschätzt werden. Wer mit
seinen Arbeitspferden vornehm spazieren fahren will, hat wenigstens einen eleganten
Wagen, und für dieses Vergnügen kann der Besitzer auch seine Wagensteuer ent¬
richten. Wie viele Wege sind von dem Gelde der Fußgciuger für Spazierenfährende
gebaut worden! Das Vergnügen haben die Fahrer; den steuerznhlenden Fußgängern
bleibt nur der Staub. Es giebt sogar Reitwege, und oft sind es in den Wäldern
die schönsten, die der Fuß eines gewöhnlichen Sterblichen gar nicht betreten darf.
Da wäre es doch wirklich mir ein Akt der Gerechtigkeit, wenn die bevorzugten
Fahrer und Reiter für Pferde und Wagen wenigstens Abgaben zu entrichten hätten.
In deu Städten, wo der Verkehr durch Stadtbahnen, Omnibusse, Pferdebahnen,
Droschken u. s. w. jedem erleichtert wird, ist es ohne Frage ein großer Luxus, sich
eigue Pferde und Wagen zu halten.
Im Zusammenhang damit möchten wir gleich noch eine andre Steuer vor¬
schlagen, die auf männliche Dienstboten: Köche, Kutscher, Diener u. s. w. Auch
diese Steuer giebt es in England. Sie bringt jährlich 140 000 Pfund ein. Man
könnte in Deutschland noch weiter gehen und jeden Haushalt höher besteuern, der
mehr als einen Dienstboten hält. Das würde auch nach eiuer andern Richtung
hin eine heilsame Wirkung ausüben. Die Steuer würde viele unsrer verwöhnten,
durch das Leben tändelnden „Damen" zwingen, sich mal wieder um die Haus¬
wirtschaft zu kümmern und selbst Hand anzulegen. Wer sich dann noch Lnxus-
dienstboten, „Stubenmädchen," „Stützen," „Fräuleins" n. s. w. halten will, der
mag für diese Begnemlichkeit, die andern Leuten versagt ist, auch eine kräftige
Gegenleistung bieten.
Diese Besteuerung durchzuführen würde nicht schwer sein. Weniger leicht,
aber sicherlich nicht weniger einträglich wäre es, die immer mehr an Zahl und Kost-
spieligkeit wachsenden öffentlichen Essereien und Trinkereien gehörig zu besteuern.
Ja jeder Hauswirt, der imstande wäre, in seinen Räumen mehr als zwanzig Gäste
abends zu beköstig«! und sie dabei mit allen möglichen teuern Überraschungen zu
unterhalten, müßte zu eiuer Gesellschaftssteuer herangezogen werden. Auch alle
Modeartikel, worauf unsre Narren und Närrinnen förmlich Jagd zu machen Pflegen,
wären von vornherein zu besteuern. Wer sich aller drei Tage ein paar neue
Glacehandschuhe tauft, der kann für das Paar statt drei Mark auch drei Mark
fünfzig bezahlen. In England wird auch eine sehr hohe Abgabe für Stempelung
der Gold- und Silberwaren und andrer Schmuckgegenstände bezahlt. Diese Ab-
.gaben treffen vor allem die wohlhabenden Klassen; sie könnten ohne Gefahr für
unsre Kleinkunst anch bei uns eingeführt werden. Alle diese Steuern, auf
Pferde, Wagen, Dienstboten, Festessen, Gesellschaften, Handschuhe und Schmuck-
gegenstände würde» uur die zahlungskräftigen Leute treffen, die Überfluß an
Geld haben, nicht den gewöhnlichen Steuerzahler, der die Steuern uicht von
seinem Überfluß zahlt, sondern von den zu seinem Lebensunterhalt ganz not¬
wendigen Mitteln. Bei diesem reißt jede Steuer eine Lücke, bei den Wohl¬
habenden pflückt sie nur ein paar Ranken ab, die über den Zaun hängen. Eine
Familie. Vater, Mutter und drei Kinder, kann heutzutage in einer Großstadt mit
zehntausend Mark jährlich sehr gut leben. Wer ein höheres Einkommen hat, dem
müßten nicht nur die Ranken abgeschnitten werden, der könnte dem Staate auch
gut und gern ein paar Früchte aus seinem Garten opfern. Bei dem kleinen
Manne ist jede Steuer eine Entbehrung, bei dem wohlhabenden ist sie nur eine
Ausgabe, von der „man nichts hat." Von zehntausend Mark ab konnte eine
Progressivsteuer eingeführt werden, so stark, daß Leute mit einem jährlichen Ein¬
kommen von zwanzigtausend Mark dreitausend Mark Steuern zu zahlen hätten,'
jetzt zahlen sie an Einkommensteuer die lächerliche Summe vou fllufhundertsechs-
undfiebzig Mark. Mit der Progressivsteuer, behauptet man, würden sofort die
reichen Leute aus dem Lande Vertrieben werden. Nun, die Couponabschneider und
Börsenjobber mögen ruhig von hinnen ziehen; die Kapitalisten, die ihr Geld in
den Fabriken arbeiten lassen, bleiben uns sicher.
Die Ungerechtigkeiten bei der Besteuerung sind so handgreiflich, daß man nicht
versteht, wie die Regierung hier vor kräftigen Maßregeln noch immer zurückschreckt;
durch nichts würde sie den Sozialdemokraten leichter die Waffen aus der Hand
winden. Es ist ungerecht und widersinnig, daß ein Familienvater, der dem Staate
vier, fünf, sechs neue Bürger und Soldaten schenkt und unterhält, ebenso viel
Steuern zu zahlen hat wie ein Junggeselle mit demselben Einkommen. In Frank¬
reich sucht mau diese Ungerechtigkeit auszugleichen. Ein Familienvater mit sieben
Kindern zahlt dort seit einiger Zeit überhaupt keine Steuern, ja das siebente Kind
wird auf Antrag vom Staate erzogen. In Deutschland sind die Junggesellen ge¬
radezu die verhätschelten Schoßkinder der Negierung. Mnu zahlt ihnen hier sogar
den ursprünglich nur den Familien zugedachten erhöhten Wohnungsgeldzuschuß; daran
denkt in andern Ländern kein Mensch. Bei uns geht aber alles nach der Scha¬
blone. Es ist ferner eine große Ungerechtigkeit, die Militär- und kriegspflichtigen
Staatsbürger ebenso hoch zu besteuern wie die militärfreien. Es wäre nur eine aus¬
gleichende Gerechtigkeit, wenn man die militärfreien, steuerpflichtigen Personen höher
besteuerte als die zum Heeresdienst und Kriegsdienst verpflichteten. Wer zum Waffen¬
handwerk untauglich ist° der ist es in den meisten Fällen noch lange nicht zu andrer
Arbeit. Er hat sogar von dieser Untauglichkeit oft Vorteile. Der Dienstpflichtige
verläßt zwei oder drei Jahre seinen Beruf, erwirbt nicht nnr nichts in dieser Zeit,
sondern setzt gewöhnlich noch seine Ersparnisse oder die Ersparnisse der Eltern zu.
Ruch der Dienstzeit ist er nicht frei und unabhängig wie der militärfreie Mann,
sondern fortwährend in seiner Berufsthätigkeit gestört durch An- und Abmeldungen,
Kontrollversammlungen, Einberufungen. Bricht ein Krieg ans, so hat er Gesund¬
heit und Leben aufs Spiel zu setzen. Vou all diesen Opfern bleibt der Militär¬
freie verschont; er ist feinen Jugendgenossen nicht nur um zwei oder drei Jahre
zuvorgekommen, sondern wird auch in allen Berufsarten vorgezogen, weil mili¬
tärische Störungen bei ihm nicht vorkommen. Es giebt in Deutschland etwa zwei-
undeinehalbe Million junger Leute im Alter von zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren.
Jeder Jahrgang enthält also durchschnittlich 500 000 junge Leute; von diesen
werden gebraucht und zum Militärdienst einberufen (wenn die Militärvorlnge durch¬
geht): 240 000 Mann. Es bleiben also von jedem Jahrgange 260 000 junge
Leute übrig, die als Überzählige oder Untaugliche nicht zu dienen brauchen. Rechnen
wir von dieser Zahl 100 000 Leute ab, die durch Auswanderung oder Tod ab¬
gehen oder als arbeitsunfähige Krüppel überhaupt uicht in Rechnung kommen, so
bleiben jedes Jahr noch 160 000 arbeitsfähige und Steuerpflichtige Leute übrig, die
Von allen Opfern der allgemeinen Wehrpflicht verschont sind, während jene 240 000
militärpflichtigen Leute die doppelte Last der Wehrpflicht und der Steuer zu tragen
haben. Hier muß unbedingt eine Wehrsteuer ausgleichend eintreten. Wer nicht
selbst zur Waffe zu greifen braucht, wer sich und sein Eigentum von andern ver¬
teidigen läßt, muß dafür eine besondre Leistung übernehmen. Der Militärpflichtige
bleibt jetzt achtzehn Jahre in der Linie, Reserve und Landwehr. Achtzehn Jahre
hindurch hätte also jeder militärfreie, Steuerpflichtige Manu die Wchrstcucr zu ent¬
richten, die teilweise zur Entlastung der steuerzahlenden militärpflichtigen Personen
verwendet werden müßte. Das würde sehr segensreich wirken. Der „gediente"
Mann würde von seiner Dienstpflicht nicht nur Nachteile, sondern anch einmal Vor¬
teile sehen und dem Militarismus gegenüber nicht mehr eine so drohende Haltung
einnehmen, wie es jetzt so oft geschieht. Rechnen wir an Wehrsteuer für deu Kopf
durchschnittlich nur zehn Mark, so würde das schon eine Summe vou mehr als
zwanzig Millionen jährlich ergebe».
Unter die Mittel, die dazu dienen konnten, die unheimlich wachsende Zahl
der Sozialdemokraten wieder zu verringern, gehören vor allen Dingen die Lnxns-
steuer und die Wehrflener.
Vierzig, fünfzig Jahre bilden einen Zeitraum, der
in unsrer schnelllebigeu Zeit ausreicht, die hinter uns liegenden Erscheinungen in
geschichtliche Ablagerung zu bringen und sie ans ihre Dauer im Wechsel der Zeit
richtig abzuschätzen. Bald fünfzig Jahre sind es nun, daß Felix Mendelssohn hin¬
starb; vierzig Jahre sind es, daß Robert Schumann in seiner Kunstthätigkeit er¬
losch; nicht lange mehr, so sind es auch vierzig Jahre, daß Louis Spohr zur Ruhe
einging. Wie stehen diese drei Meister der Tonkunst im Kunstleben der Gegen¬
wart? Die Antwort ist nicht schwer zu geben: sie gelten einer wie der andre als
Vertreter der edelsten Kniistrichtuug, ihre Hauptwerke haben nichts von ihrem Glänze
eingebüßt und erfreuen fort und fort die Herzen der Menschen in weitester Ver¬
breitung über die alte und neue Welt. Kein Tadeln, kein Nörgeln und Verkleinern
hat diesen Werken Schaden gebracht oder sie gehindert, eine veredelnde Volkstüm¬
lichkeit zu gewinnen.
Man erinnert sich der ungemein heftigen Angriffe, die namentlich Mendels¬
sohn und Schumann bald und noch jahrelang much ihrem Ableben erfuhren.
Freigedmik, hinter welchem Zinnien sich damals Richard Wagner versteckte, leistete
mit seinem Artikel: „Das Judentum in der Musik" schon im Jahre 1850 die
höchste Anschwärzung Mendelssohns, die natürlich von den Verehrern des „Dichter¬
komponisten" nach allen Richtungen hin und bei jeder passenden und unpassenden
Gelegenheit gehörig ausgebeutet wurde; Joseph Rubinstein, el« eifriger Wagne¬
rianer, hat sich durch seine Auslassungen über Schumann in den „Bayreuther
Blättern" vom Juni 1879 eine traurige Berühmtheit erworben, das einzige Über¬
bleibsel seines Namens."-)
Vierzig und einige Jahre sind es jetzt auch, daß der Begriff „Zukunftsmusik"
auftauchte und solche, die Jünglinge noch an Jahren waren, unter dem Banner
dieses Schlagwortes zu einem absonderlichen Thun und Treiben vereinigte. Ein
besondrer Lärmmacher war damals ein gewisser Hoplit, der sich nachmals zu einem
der talentvollsten Tamtnmisten emporschwang und sich durch sein Ausschlagen nach
rechts und links, ausgenommen gegen Liszt und Wagner und alles, was drum und
dran hing, gewaltig hervorthat. Der Ausdruck „Zukunftsmusik" wurde später auf
Wunsch und Geheiß des Meisters Wagner fallen gelassen und in „neue Richtung"
umgesetzt. Wie steht es mit dieser neuen Richtung in der Gegenwart? Der Lärm
dauert noch fort, niemand aber giebt sich mehr die Mühe, ihn ernstlich zu be¬
kämpfen.
Die Verehrung, die Schumann gegen Mendelssohn hegte, ist durch die Ver¬
öffentlichung seiner Aufsätze und Briefe bekannt geworden. Nicht minder schätzte
Spohr, der fünfundzwanzig Jahre ältere und bereits ruhmvoll' bewährte Künstler,
den Meister Mendelssohn/ Als ihn die Kunde von dessen Ableben traf, schrieb
er: „Was hätte Mendelssohn, ans der Höhe seiner Kunstblüte, noch Herrliches
schreiben können, hätte ihm das Geschick ein längeres Leben gegönnt! Für seinen
zarten Körperbau war die geistige Anstrengung zu groß und daher vernichtend.
Sein Verlust für die Kunst ist sehr zu beklagen, da er der begabteste der jetzt
lebenden Komponisten und sein Knnststreben ein sehr edles war." Im Laufe der
letzten Jahre sind auch einige briefliche Äußerungen Mendelssohns über Schumannsche
Werke bekannt geworden, die in liebenswürdiger Weise die Anerkennung aussprechen,
die er ihnen zollte.
Hier nun schließlich ein Schriftstück, jetzt auch vierzig Jahre alt, das in Kürze
die Gegenströmung jener Zeit zum Ausdruck bringt. Es kaun, da die erwähnten
Persönlichkeiten längst in Frieden ruhen, niemand mehr wehe thun. Auch Hoplit
ist verschollen; ob er gestorben ist, weiß ich nicht, tot ist er jedenfalls.
Cassel, den i.6ten November 1853.
Kennen Sie den Herrn Hoplit in Dresden, der über das Musikfest in Karls¬
ruhe so anmaßend und albern berichtet? Er übertrifft in seiner Vergötterung von
Liszt, Wagner, Schumann pp. selbst noch Herrn Brendel. und zieht auf die un¬
verschämteste Weise über Meudelssohus Finale zu Loreley los, das doch unbezweifelt
das Beste war, was dort zur Aufführung gekommen ist. Die Unverschämtheit dieser
Schmierer und Mitarbeiter der Leipziger Musikzeitung kennt doch wahrlich keine
Grenzen! — Gestern erzählte mir Herr von Schnerfeld, der mich in Karlsruhe
beym Musikfest zugegen war, Andre in Frankfurt, der viele Manuscripte vou Mozart
besitzt, habe diese Liszt gezeigt; der habe sie aber mit der Bemerkung zurück¬
geschoben! „Über diesen Zopf sind wir Gott Lob nnn auch hinaus!" Hoffentlich
ist es nicht wahr.
Die Zeit ist herangekommen, daß Herrn Michels
Herz von dem Drang in die Ferne höher schwillt und dem einen der beiden
schönsten Augenblicke einer Reise, dem Eintritt in das Bahnhofsgebäude, vor dessen
Pforte er Sorgen, Haß und Kümmerlichkeit jeder Art zurückläßt, wärmer entgegen¬
schlägt. Der andre Augenblick erscheint bekanntlich bei der Rückkehr, wo dieses selbe
Herz darauf brennt, all die abgelegten Sorgen und Kümmerlichkeiten als lieben Besitz
vollständig wieder in Anspruch zu nehmen. Wie schön ists nnn da, im Morgengrauen
ans dein Wagen zu springen und die „Fahrkarte" zu lösen, eine Anweisung ans eine
Fülle kaum zu ahnender Freuden! Und nun den letzten Genuß auf heimischem
Boden: eine Tasse Kaffee in der Restauration, zweiter Klasse selbstverständlich.
Aber o weh! Wie sieht es da aus, und wie riecht es da erst! Die Luft von
gestern Abend lagert ungestört, mit braungrauem Tcibaksqualm durchwölkt, über
übernächtigen Kneipcmten. Aus deu Wirtshäusern der Stadt Vertrieben, haben sie
sich um zwei oder drei Uhr früh hier niedergelassen. Mit Bier angefüllt, des
Kaffees überdrüssig, sind sie eben zum Schnaps übergegangen. Die müden, grau
cmgequalmtcn Gesichter, die stieren Augen, das Gelall und gelegentliche Gebrüll,
wie stimmt das alles zu einem frischen Morgen, einem frohen Anfang! Der Boden
des Wartesaals ist vollgespuckt und mit Resten von Streichhölzern und Cigarren
bestreut. Die verschlafene Büffctdame, der mißmutige Kellner, ein paar still
grollende Beamte, die die Schweinerei sehen, ohne ein Wort des Tadels zu äußern,
vollenden das Bild, mit dem die Restaurationen königlicher Eisenbahnen zahlreicher
Mittel- und norddeutschen Städte ihre Reisenden entlassen. Haben diese Reisenden
nicht ein Recht auf einen menschenwürdigen Winkel? Wie es scheint, nicht. Einen
eigentlichen Wartesaal giebt es nicht, alles ist Kneipe, Schmutz, Gemeinheit. Wo
halten sich Frauen und Mädchen auf, die deu Abgang des Zuges erwarten?
Draußen schreitet mit tadellosen Handschuhen der Herr Bahnhofsinspektor uns
und ab und sieht — in die Luft. Wir verlangen das Beschwerdebuch, er blickt
uns erstaunt an und wirft dann einen Blick in die Spelunke. Nach einigen
Wochen erhalten wir den Bescheid, die königliche Direktion zu T werde dem ge¬
rügten Übelstande nach Möglichkeit abhelfen. Kann sie eS? Die Umwandlung aller
Warteräume, selbst auf großen Bahnhöfen, in pachtzahleude Wirtsstubeu ist ein
verwerfliches System, das gemeine Neigungen und Gewohnheiten mit staatlichen
Mitteln verbreitet, die Reisenden belästigt, ans die Beamten übel einwirkt. Pro¬
testire doch jeder, dem die ästhetische Erziehung der Menschen kein leeres Wort ist,
gegen diesen Auswuchs.
Ist es nötig, noch ein Wort darüber zu sagen, daß Luthers Hauptwerke in
jedes christliche deutsche Haus gehören? Nicht auf das Blicherbrett, in den Glns-
schrank, sondern damit sie gelesen werden, immer wieder, damit mau sich an ihnen
erquickt und erhebt; sie sind jn eine rechte, kräftige deutsche Herzstärkung. Der
deutscheste Mann tritt uns hier unverfälscht entgegen, wie er sich selbst seiner Zeit
gegeben hat, unmittelbar offenbart sich hier sein wahrer und freier Geist, seine tiefe,
zarte Seele, seine kräftige Art. Und mit diesem ethischen Wert verbindet sich der
geschichtliche: diese Schriften sind die bedeutendsten Zeugnisse von dem Anbrechen
eines neuen Zeitalters.
Die vor uns liegende „Hausausgabe" ist gut und nicht teuer. Sie enthält
eine sorgfältig getroffne, ziemlich reiche Auswahl aus Luthers Schriften in acht
Bänden. Die ersten vier bringen die wichtigsten Werke reformatorischen und pole¬
mischen Inhalts, im ganzen die Jahre von 1517 bis 1545 umfassend. Wir heben
gleich aus dem ersten Bande die fünfundneunzig Thesen über deu Ablaß hervor,
leider selbst den meisten evangelischen Christen nur dem Namen nach bekannt, ob¬
wohl sie den Wendepunkt vom mittelalterlichen zu einem neuen Geistesleben be¬
zeichnen; ferner das erste große Reformationsschreiben, Luthers gewaltigste Schrift,
in der er sein ganzes Herz ausschüttet, kritisirend zugleich und positiv.- das Send¬
schreiben an den christlichen Adel deutscher Nation: Bon des christlichen Standes
Besserung, und das schöne klare Büchlein: Vou der Freiheit eiues Christenmenschen.
Aus dem Inhalt des zweiten Bandes sei das umfangreichere Werk über die Kon¬
zilien und Kirchen genannt und Luthers Schrift gegen die Sakramente: Von der
babylonischen Gefangenschaft der Kirche. Sie hätte freilich dem ersten Bande ein¬
gefügt und an ihre historische Stelle zwischen die beiden andern großen Resor-
mationsschriften von 1520 gestellt werden sollen; denn sie ist eine Ergänzung der
Schrift an den Adel, und wie dieser die äußere, zerschmettert sie die geistige Macht
der alten Kirche. (Die Anordnung ist das einzige, was wir an verschiednen Stellen
der trefflichen Ausgabe anders gewünscht hätten: mehrfach ist dem äußern System
zuliebe getrennt worden, was seinem Inhalt nach und geschichtlich zusammen gehört.)
Nach diesen umstürzenden Werken sind in den nächsten Bänden Luthers neuen
Grund legende und aufbauende Schriften gesammelt: z. B. die schmalknldischen
Artikel, der große und der kleine Katechismus und die Seudschrift: An die Rats¬
herren aller Städte deutschen Landes, daß sie christliche Schulen aufrichten und
halten sollen. Daneben erscheine» die wichtiger» persönlich polemischen Schriften,
wie die wider den Bock zu Leipzig, wider Hans Worst u. s. w. Der umfängliche
fünfte Band zeigt uns Luther als treuen Pfarrherrn und Seelsorger in einer Aus¬
wahl denkwürdiger Predigten und in zahlreichen ausgesuchten Stellen aus seinen
Reden; im sechsten folgen unter dem Titel „Erbauliche Schriften" Auslegungen
von Sprüchen und Gebeten, Trostschriften und Vermahnungen und Anleitungen zu
rechtem Gebet. Im Gegensatz dazu steht der nächste Band mit Schriften meist
Politischen Inhalts, z. B. den Sendbriefen über den Bauernkrieg, der wichtigen
Schrift von weltlicher Obrigkeit, dann aber auch mit den grundlegenden Be-
Stimmungen über die Ordnung des Gottesdienstes. Der letzte Band endlich bringt
unvergängliches christliches Gut: die schönsten Gesänge des unübertroffner Schöpfers
deutscher Kirchenlieder, dann, gleichsam als eine Selbstbiographie Luthers, Auszüge
aus den Tischreden, nach seinem Leben geordnet, und zum Schluß eine Auswahl
von achtzig der wertvollste» aus der sehr großen uns erhaltnen Zahl seiner Briefe.
Von den einzelnen Schriften und Sammlungen ist jede von dem betreffenden
Herausgeber kurz eingeleitet worden, sodaß der Leser stets in den Stand gesetzt
ist, was Luther sagt, aus Zeit und Umständen heraus zu verstehn. Außerdem
sind unter dem Text zu einzelnen Stellen knappe Wort- und Sacherklärnngeu ge¬
geben; denn die Ausgabe ist nicht für die theologische Wissenschaft, sondern für das
gebildete Deutschland bestimmt. Und diesem Leserkreis soll sie als eine schöne
nationale Gabe hiermit warm empfohlen sein.
„Kennen Sie Lichtenberg?" „O ja, den Namen," das wird Wohl in hundert
Fällen nennnndnennzigmcil die Antwort sein. Dieser heitere Weise ist mich einer
von den viel gelobten und wenig gelesenen klassischen deutschen Prosaschriftstellern —
nebenbei gesagt: ein prächtiges Vorbild im deutschen Unterricht. Allen Freunden
vou Verstand und Witz — g'vuitivns objoetivus und iinalit,n.t>i8 — sei die vor¬
liegende handliche Auswahl bestens empfohlen, wenn sie ab und zu noch eine Stunde
auf ihre geistige Erquickung verwenden wollen. Sie werden sich schon in der
hübschen Sammlung von „Allerlei Gedanken" Lichtenbergs über die Natur, das
Tier, den Menschen, Erziehung und Unterricht, Volk, Staat und Gesellschaft
u. f. w. reich belohnt sehn. Und wer das alles mitgenommen hat, wird auch die
in einem zweiten Teile gesammelten Abhandlungen und kleinen Schriften nicht un-
gelesen lassen und sich schließlich in einer Auslese vou Briefen gern auch über die
persönlichen Schicksale des Mannes unterrichten, der es versteht, „uns mit seiner
lustigen, verlockenden Stimme unvermerkt in die Tiefe zu führen; doch während
wir da unten die edeln Gesteine, die geheimnisvollen Gänge anstaunen, hören wir
immer wieder, wie einen rechten Trostgruß aus der Oberwelt, die helle, heitere
Stimme."
Ta klagt mau immer, daß es keine Klassiker mehr gebe, und in Breslau sitzen sie so
dicht bei einander, daß sie eine besondre Klasse der Einwohnerschaft bilden. Wenigstens Hut
das dortige Nesidenzsvmmertheater, das übrigens „gegen jeden Witterungswechsel <!) geschlitzt
ist," »ach einem uns vorliegenden Theaterzettel kürzlich eine „Volks-, Klassiker- und Schüler¬
vorstellung" veranstaltet.
Stilblüte aus der Kreuzzeitung vom 7. Juni: Schädlich dem Produzenten, schädlich dem
Konsumenten, schädlich dem Fachhandel, wird die Stnatsleitnng nicht umhin können, dem
Börsentreibc», soweit der Tcrminhandel mit Nahrungsmitteln in Betracht kommt, denn doch
endlich einmal näher zu treten.
Die Börseuzeitnng Vom 3V. Juni enthält eine Notiz über Primkenau, die Besitzung
des Herzogs Ernst Günther von Schleswig-Holstein, „wo s. Zt. auch die Kaiserin geboren
wurde." „Seiner Zeit" ist gut.
in deutschen Heere fanden sich bisher und finden sich noch heute
auf altem Herkommen beruhende Einrichtungen, die keinen oder
doch nur geringen Nutzen für die Kriegstüchtigkeit haben. Solcher
Einrichtungen, die nichts nutzen, aber auch nichts schaden, wird
jeder Kenner eine Anzahl anführen können. Ihre Beseitigung
oder ihr weiteres Bestehen kann uns gleichgiltig sein. Wo die Kriegstüch¬
tigkeit des Mannes durch solche alte Einrichtungen Einbuße erlitt, hat na¬
türlich die Heeresverwaltung mit ihrer Beseitigung nicht gezögert. Am augen¬
fälligsten ist das auch für den Laien in jüngster Zeit zu Tage getreten, als
die Kürassiere den Panzer ablegen mußten. Höchstens bei großen Paraden
wird er noch getragen. Die ungeheure Durchschlagskraft der Geschosse aus
den fast in allen Heeren neu eingeführten kleinkalibrigen Gewehren hat dieses
Stückchen Mittelalter nun doch endlich beseitigt. Es wäre ja völlig zwecklos
gewesen, den Reiter noch länger mit dem schweren Panzer zu belasten. Freilich
mag ihm mancher Seufzer in die Rumpelkammer gefolgt sein. Doch dies
nur als Beispiel. Auch mancher andre alte Brauch, der in den neuen Gar¬
nison- und Felddienstordnungen keine Stätte mehr fand, ist in gleicher Weise
abgeschafft worden, ohne daß vielleicht der Laie weiter Kenntnis davon erhält.
Eine alte, unzweifelhaft ehrwürdige, aber in ihrer gegenwärtigen Gestalt
anch veraltete und darum der Verbesserung bedürftige Einrichtung ist der
Fahneneid. Bei Beurteilung dieser Einrichtung ist nicht bloß der Soldat zu
hören, denn Erwägungen rechtlicher und religiöser Natur sind hierbei mindestens
ebenso am Platze wie militärische. In dem einen Punkte werden sicher alle
Erwägungen übereinstimmen: daß der Fahneneid nicht entbehrlich sei. Im
Gegenteil, er ist eine durchaus notwendige Einrichtung. Auf ihn haben Er-
findungen und Vervollkommnungen der Waffen keinen Einfluß. Das Menschen-
Herz ist sich in seiner Art und in seinem Wesen gleich geblieben?
Der Fahneneid ist eine Einrichtung schon der vorchristlichen Zeit. Schon
das Nvmcrheer in der Kaiserzeit möchte des den Krieger verpflichtenden Eides
nicht entbehren; galt doch allgemein der Grundsatz: kriinunr inililiAL vin-
ouluin 6se i'ölig'lo <ze 8iMvrv.ni -ultor le clesvrsncli nslas. Auch das Mittel¬
alter kennt den Fahneneid, und alle die gewaltigen Umänderungen, die auf
dem Gebiete des Heerwesens in neuester Zeit vor sich gegangen sind, haben
ihn auch nicht beseitigen können. Solange der Staat und die Gemeinde von
ihren Dienern den Amtseid fordern, so lange wird es auch ein Erfordernis
bleiben, daß der oberste Kriegsherr seine Krieger mit dem denkbar festesten
moralischen Bande an sich fesselt. Mag sich der Geist des Unglaubens in
weiten Schichten des Volkes noch so breit machen, vor der Heiligkeit des Eides
weicht selbst der Sozialdemokrat zurück. Als vor Monaten die Nachricht durch
die Zeitungen ging, ein Richter habe einen Zeugen, der den Eid geleistet hatte,
als nicht glaubhaft hingestellt, da der Zeuge Anhänger der Sozialdemokratie
sei, erhob sich in der sozialdemokratischen Presse ein Sturm des Unwillens.
Das ist gewiß bezeichnend. Die Heiligkeit des Eides ist trotz aller traurigen
Erfahrungen und trotz der Zunahme der Meineide und der fahrlässigen Eide
doch im Bewußtsein des Volkes tief und fest begründet; und namentlich der
junge Soldat steht der Schule und dem Konfirmandenunterricht noch viel zu
nahe, als daß ihm jedes Gefühl für die Heiligkeit des Eides verloren ge¬
gangen sein sollte. Das mahnt dringend dazu, die Einrichtung des Fahnen¬
eides als ein teures Vermächtnis alter Zeit festzuhalten. Aber es wäre gut,
auch auf diesem Gebiete die notwendig gewordnen Änderungen einzuführen.
Nach verschiednen Seiten hin sind solche Änderungen durchaus geboten.
Man betrachte eine Eidesleistung, wie sie nach den zur Zeit geltenden
Bestimmungen in jeder Garnison im Herbst nach der Einstellung der Rekruten
vor sich geht, und man wird ganz von selbst herausfinden, was der Änderung
bedarf. Nach alter guter Sitte geht im preußischem Heere der Eidesleistung
ein Gottesdienst voran. Bis in die jüngste Zeit war es nun Brauch, daß
unmittelbar nach Beendigung der Rede des Militärpfarrers die Soldaten in
der Kirche den Eid ablegten; nur die Mannschaften der Artillerie schworen,
nachdem sie vorher am Gottesdienst teilgenommen hatten, auf dem Kasernen¬
hofe, da sie den Eid nicht auf die Fahne, sondern auf das Geschütz ablegten.
Natürlich waren die Konfessionen getrennt. neuerdings ist aber die Ein¬
richtung getroffen worden, daß im allgemeinen nach einem Gottesdienst die
Mannschaften im Kasernenhof'vereinigt werden und dort den Eid gemeinsam
leisten. Nur bei schlechtem Wetter bleibt es den Truppeuteileu überlassen, die
Vereidigung, wie bisher, in der Kirche vorzunehmen. Den Eid in der Kirche
ablegen zu lassen, ist insofern gerechtfertigt, als er doch entschieden eine feier-
liebe religiöse Handlung ist. Aber gerade die Feierlichkeit kommt nicht ge¬
nügend zur Geltung bei dem Fahneneid, wie er heute beschaffen ist, oder viel¬
mehr bei den Schwörenden, wie sie heute beschaffen sind. Nur allzu sehr
wird man gerade bei der Abnahme des Fahneneides, besonders in einer größern
Garnison, an die Kleinstaaterei in unserm lieben Vaterlande erinnert. Es ist
denkbar, daß bei einer einzigen Eidesleistung der Rekruten im Kasernenhofe
nicht weniger als sechzig- bis achtzigmal der Eid abgenommen werden muß.
Jeder Angehörige eines Bundesstaats muß nämlich den Fahneneid in der
Weise ablegen, daß er dem Kaiser unbedingten Gehorsam und seinem besondern
Staatsoberhaupt (der Rekrut aus den freien Städten seinem Senat) treu
und redlich zu dienen gelobt. Für die Preußen füllt selbstverständlich die Er¬
wähnung des Kaisers im Fahneneide weg. Der Eid lautet also für einen
Preußen anders als für einen Hessen oder einen Hamburger. Da nun das
deutsche Reich ans sechsundzwanzig besondern Staatsgebieten besteht, kann der
Fall eintreten, daß Angehörige aller dieser Staaten in einer Garnison, ja
vielleicht bei einem Truppenteil dienen müssen. Ein Württemberger steht
vielleicht in Arbeit in einem thüringischen Ort; fällt das in das Alter, wo
er heerespslichtig wird, so wird er nicht in einem württembergischen Truppen¬
teil eingestellt, sondern in dem, der gerade ans dein Musterungsbezirke, in
dem der Heerespflichtige gemustert wurde, seinen Ersatz zieht. In Gegenden,
wo viel Industrie getrieben wird, ebenso in den großen Städten, sind heut¬
zutage Angehörige aller deutschen Staaten zu finden. So ist es gar nicht
unwahrscheinlich, daß sich einmal Angehörige aller sechsundzwanzig deutschen
Staate» bei der Rekruteneidesleistung im Gotteshause zusammenfinden. Die
Zahl der Eide erhöht sich aber noch, wenn man bedenkt, daß eine große
Anzahl Heerespflichtiger nicht der deutschen Sprache mächtig ist. Zahlreich
sind die Rekruten polnischer Zunge; aber auch solche, die nur wendisch oder
litauisch, auch solche, die nur französisch verstehen, werden eingestellt. So
können sich noch vier fremdsprachige Eidesleistungen zu jenen sechsundzwanzig
hinzugesellen, und die auf diese Weise sich ergebenden dreißig Eide verdoppeln
sich, wenn man bedenkt, daß der Protestant seine Eidesformel anders schließt
als der Katholik. Endlich stellt auch das Judentum eine große Anzahl Re¬
kruten, ganz abgesehen bon den Mennoniten, denen kein eigentlicher Eid ab¬
genommen werden darf. Jedenfalls muß ein so überaus häufig wiederholtes
Abnehmen des Eides auf alle Beteiligten ermüdend wirken. Dadurch erleidet
aber die Feierlichkeit der Handlung Einbuße.
Gewandte Offiziere wissen sich zu helfen: sie sorgen dafür, daß die Re¬
kruten je nach ihrer Staatsangehörigkeit geordnet ausgestellt werden. Da¬
durch wird es möglich, die Eidesformel, so weit sie für alle zu vereidigenden
gleichen Wortlaut hat, von allen gemeinsam, dann von den Gruppen einzeln
was für jede passend ist, zuletzt von den Protestanten, endlich von den Katho-
litem den Schluß sprechen zu lassen. Aber much das ist nicht ohne störendes
Dazwischenreden ausführbar. Ans Befangenheit oder Angst spricht der Re¬
krut entweder gar nicht oder vielleicht an falscher Stelle mit; kurz, auch bei
diesem Verfahren leidet die Feierlichkeit, wenn auch die Zeit hier nicht so über¬
mäßig in Anspruch genommen wird wie dann, wenn die Angehörigen der ein¬
zelnen Staaten besonders vereidigt werden.
Vielleicht hat die Erwägung, daß unter den geschilderten Verhältnissen
die Feierlichkeit leiden muß, den Anlaß gegeben, die Vereidigung selbst von
dein vorbereitenden Gottesdienst zu trennen und auf den Kasernenhof zu ver¬
legen. Die Rüge des ungeschickten Benehmens eines Rekruten oder die Rüge
eines Irrtums berührt hier weniger unangenehm, als wenn sie in der Kirche,
vielleicht in etwas barschem, dienstlichen Ton ausgeführt wird. Es ist vor¬
gekommen, daß ein Rekrut in seiner Befangenheit und ans Angst, etwas zu
versäumen, jedesmal die Hand erhob, Vor- und Zunamen nannte und allen
deutschen Fürsten den Eid der Treue leistete, vielleicht auch uoch den Senaten
der drei freien Städte. Hat doch sicherlich der größte Teil der Rekruten keine
Ahnung davon, was ein Senat ist, auch deu Namen seines Landesherrn weiß
keineswegs jeder Rekrut, und auch über seine Zugehörigkeit zu diesem oder
jenem Staat wird mancher keine Auskunft geben können. Fragt der Offizier
uach Abschluß der Vereidigung der Sicherheit wegen, ob etwa einer da sei, der
noch nicht geschworen habe, so meldet sich ganz gewiß einer und erwidert auf
die Frage nach dem Staate, dem er angehöre, er sei Lancnbnrger, ein andrer
behauptet, ohne deshalb pnrtikularistische Hintergedanken zu hegen, er sei Hanno-
veraner. So muß denn die Eidesformel für Preußen noch einmal angewendet
werden. Entschlüpft dabei dem Offizier, der im Schweiße seines Angesichts
schon länger als einer Stunde der Arbeit des Vcreidigens obgelegen hat, ein
scharfes Wort, das nicht geeignet ist, die Feierlichkeit zu erhöhen, so können
wir ihm das wahrhaftig nicht übel nehmen.
Die Irrtümer werden aber nicht immer durch die zu vereidigenden Mann¬
schaften verschuldet; selbst einem sonst gewandten Offizier kann ein Irrtum
unterlaufen. Ist es doch kürzlich vorgekommen, daß ein vereinzelt zu ver¬
eidigender Hesse einem längst verstorbnen Großherzog den Eid leistete, weil
der vereidigende Offizier nach einer altern Auflage des Fircksschen Taschen¬
kalenders für das Heer den Namen des hessischen Herrschers bestimmte. Selbst
einem gar nicht souveränen Fürsten, dem Fürsten von Hohenzollern, wurde
auf Veranlassung desselben Offiziers von einem biedern preußischen Unterthan
aus dem Fürstentum Hohenzollern der Eid der Treue geleistet. Jedenfalls
haben deshalb die beide» Soldaten nicht minder treu und redlich gedient.
Aber auf die Anwesenden, die für die Sache ein Verständnis hatten, wirkte
diese Vereidigung doch nicht gerade besonders feierlich.
Noch ein andrer Vorgang mag hier erwähnt sein. Es war im Herbst
1892, und es wurde zum erstenmale auf dem Kasernenhofe vereidigt. Alle
Rekruten waren versammelt, anch die jüdischen. Der Offizier ließ die Pro¬
testanten aus einem Buudesstant zur Linken, die Katholiken desselben Staates
zur Rechten zusammentreten; jedesmal wurde der Eid bis zur konfessionellen
Schlußformel gemeinsam, und diese dann von der in Frage kommenden
Gruppe gesondert gesprochen. Eine große Anzahl Bundesstaaten war erledigt,
auch katholische und protestantische Polen hatten geschworen, nur die Kinder
Israel standen noch gesondert und warteten, bis auch an sie der Ruf ergehen
würde. Und ganz entsprechend dem Ruf: die protestantischen Vadeuer rechts,
die katholischen links neben mich treten! hieß es plötzlich: die protestantischen
Jsraeliten rechts, die katholischen links neben mich treten! Als die Jsraeliten
verdutzt dreinschauten — es war ihnen doch neu, daß Israel plötzlich als
deutscher Bundesstaat behandelt wurde —, wurde derselbe Ruf nochmals und
zwar in etwas ungeduldigem Tone laut, aber nun erst erregte er unter Offi¬
zieren und Mannschaften Aufmerksamkeit, was sich in einem nur mühsam unter¬
drückten Lachen kund gab. Als daraus der Offizier, seines Irrtums inne
werdend, verbesserte: die jüdischen Badener links, die jüdischen Reichsländer
rechts neben mich treten! wußten auch die cmgerufnen Rekruten Bescheid.
Aber die protestantischen und katholischen Juden sollen noch heute bei dem
betreffenden Truppenteil nicht vergessen sein.
Doch auch wenn kein derartiger Irrtum vorkommt, muß unter den obwal¬
tenden Verhältnissen die Feierlichkeit bei der Eidesleistung leiden, und schon aus
diesem Grnnde sollte eine Änderung herbeigeführt werden. Eine solche Än¬
derung ist aber sehr Wohl möglich. Daß der Eid, durch den der Soldat seinem
Landesherrn die Treue verspricht, zu Gunsten eines Treueides gegen den
deutschen Kaiser abgeschafft würde, das ist allerdings kaum denkbar. Die
Verfassung des deutschen Reichs sagt nach Artikel 64: „Alle deutschen Truppen
sind verpflichtet, den Befehlen des Kaisers unbedingte Folge zu leisten. Diese
Verpflichtung ist in den Fahneneid aufzunehmen." Der Fahneneid ist für die
Bundesstaaten durch die Militärkonvcntion bestimmt. An diesen Bestimmungen
ist nicht zu rütteln. Aber es müßte doch möglich sein, auf dem Wege der
Verhandlung die Formel derartig zu fassen, daß mit denselben Worten der
Sachse seinem König, der Hesse seinem Großherzog, der AnHalter seinem Herzog
die Treue schwört. Der preußische Fahneneid, wie er jetzt in Gebrauch ist,
wurde durch Kabinettsordre vom 5. Juni 1831 vorgeschrieben und lautet:
„Ich N N schwöre zu Gott dem Allwissenden und Allmächtigen einen leib¬
lichen Eid, daß ich Seiner Majestät dem König von Preußen (Name), meinem
Allergnädigsten Landesherrn, in allen Vorfüllen, zu Lande und zu Wasser, in
Kriegs- und Friedenszeiten, und an welchen Orten es immer sei, treu und
redlich dienen, Allerhöchstdero Nutzen und Bestes befördern, Schaden und Nach¬
teil aber abwenden, die mir vorgelesenen Kriegsartikel und die mir erteilten
Vorschriften und Befehle genau befolgen und mich so betragen will, wie es
einem rechtschaffnen, unverzagten, Pflicht- und ehrliebenden Soldaten eignet
und gebührt. So wahr mir Gott helfe!", wozu die Protestanten noch hinzu¬
fügen: „durch Jesum Christum zur Seligkeit," die Katholiken: „und sein
heiliges Evangelium." Die Errichtung des Norddeutschen Bundes und dann
die des deutschen Reichs machte Änderungen nötig. Wenn die betreffende
Militürkvnvention uicht anders bestimmte, wurde verfügt, daß unter Bei¬
behaltung der mitgeteilten Formel statt der Worte „Seiner Majestät dem
König von Preußen, Wilhelm I.," Name und Titel des betreffenden Fürsten
und nach dem Worte „abwenden": „den Befehlen des (Bundesfeldherrn) Kaisers
unbedingt Folge leisten" einzuschalten sei. Die zur Marine ausgehöhlten
Deutschen, aus welchen Bundesstaaten sie auch stammen, ebenso die Rekruten
aus Elsaß-Lothringen schwören allein dem Kaiser.
Selbst mit Wahrung des durch eine lange Vergangenheit gewissermaßen
geheiligten Wortlautes des preußischen Fahneneides ließe sich doch nun durch
eine kleine Kürzung eine Eidesformel schaffen, die dem Ideal eines einheit¬
lichen Eides für die gesamte deutsche Waffenmacht wenigstens nahe käme. Ner¬
zichtete man darauf, den Namen des Landesherrn nennen zu lassen, so könnte
der Eid lauten: „Ich N N schwöre zu Gott dem Allwissenden und Allmäch¬
tigen einen leiblichen Eid, daß ich meinem Allergnädigsten Landesherrn in
allen Borfüllen, zu Lande und zu Wasser, in Kriegs- und Friedenszeiten,
und an welchen Orten es immer sei, treu und redlich dienen, die mir vor¬
gelesenen Kriegsartikel und die nur erteilten Vorschriften genau befolgen
und mich so betragen will, wie es einem rechtschaffnen, unverzagten, pflicht-
nnd ehrliebenden Soldaten eignet und gebührt, so wahr mir Gott helfe!"
Fügten die Nichtprcußen nach dem Worte „dienen" hinzu: „den Befehlen des
Kaisers unbedingt Gehorsam leisten," so wäre wenigstens einigermaßen für
alle deutschen Soldaten ein einheitlicher Eid vorhanden. Daß das Weglassen
des Fürsteunamens nichts unerhörtes ist, geht schon daraus hervor, daß nach
Anordnung des Kriegsministers vom 26. Oktober 1878 die Formel, mit der
der NichtPreuße dem Kaiser Gehorsam gelobt, die Nennung des Kaisernamens
uicht erfordert („den Befehlen des Kaisers unbedingt Folge leisten"). Die
vorgeschlagne Kürzung um die Worte „Allerhöchst Dero Nutzen und Bestes
befördern, Schaden und Nachteil aber abwenden," würde nur vorteilhaft
wirken; denn das „getren und redlich dienen" sagt doch genug. Es läßt sich
kein stichhaltiger Grund anführen, der eine solche Änderung unmöglich oder
unzweckmäßig erscheinen ließe. Die Kabinettsordre von 1831, die den Wort¬
laut des Fahneneides vorschrieb, kaun doch sicherlich auch durch eine Ordre
des Königs abgeändert werden. Der Übelstand, daß die Hanseaten und Reichs¬
länder auch nach dieser Abänderung ihren besondern Eid behalten müßten
— staatsrechtlich ist ja der Kaiser im Reichslande nicht Landesherr —, ist
nicht zu vermeiden, fällt aber nicht schwer ins Gewicht, da doch nur eine
beschränkte Zahl von Rekruten hierbei in Betracht kommt. Freilich, auch so
wäre der Wortlaut des Fahneneides uoch schwülstig und schwerfällig. Er
könnte uoch viel mehr vereinfacht werden. Von dein durch seine lange Ver¬
gangenheit geheiligten Wortlaut würde daun allerdings nicht viel übrig bleiben,
aber das darf doch nicht den Anlaß geben, den unnötigen alten Ballast immer
weiter zu tragen. Was soll man sich bei einem leiblichen Eide denken?
Warum dasselbe wiederholen und sagen: „zu Lande und zu Wasser, in Kriegs¬
und Friedenszeiten, und an welchen Orten es immer sei" — also erst Ort,
dann Zeit, dann wieder Ort? Warum eignet und gebührt? Klar und kurz
und bündig könnte die Formel lauten: „Ich N. N. schwöre zu Gott dem All¬
mächtigen und Allwissenden, daß ich meinem allergnädigsten Landesherrn in
Kriegs- und Friedenszeiten treu und redlich dienen, den Befehlen des Kaisers
unbedingt Gehorsam leisten, die Kriegsartikel und die Vorschriften meiner
Vorgesetzten genau befolgen und mich so betragen will, wie es einem recht¬
schaffne», Pflicht- und ehrliebenden Soldaten gebührt, so wahr mir Gott helfe!"
Erwähnt sei noch, daß in den Militärkonventionen mehrfach ausgesprochen
ist, daß der Fahneneid in der bisher üblichen Weise zu schwören sei unter
Hinzufügung des Gelöbnisses, auch den Befehlen des Kaisers unbedingt Folge
leisten zu wollen. So z. B. in der Konvention mit Hessen vom 13. Juni
1871, Artikel 3, während in der Konvention mit den thüringischen Staaten
und deu meisten andern norddeutschen von dem Wortlaut des Fahneneides
nichts besondres erwähnt wird. (Vergl. Artikel 6 der Militärkonvention mit
den thüringischen Staaten vom 15. Oktober 1873.) Sachsen und Württem¬
berg behalten nach Artikel 6 und 4 der betreffenden Konventionen ihren vou
dem preußischen dem Wortlaute nach nicht unwesentlich abweichende» Eid,
natürlich unter Hinzufügung des Gelöbnisses, „dein Bnndesfeldherrn und den
Kricgsgcsetzen" Gehorsam leisten zu wollen. Ähnlich ist es bei den bairischen
Rekruten. Da mit Baiern keine Militürkonvention abgeschlossen ist, kommt
hier die Bestimmung unter III, Paragraph 5, IV des Vertrags vom 23. No¬
vember 1870 in Betracht, der lautet: „Im Kriege sind die bairischen Truppen
verpflichtet, deu Befehlen des Bnndesfeldherrn unbedingt Folge zu leisten.
Diese Verpflichtung wird in den Fahneneid aufgenommen." Somit würde
die Einführung eines einheitlichen Fahneneides allerdings eine Änderung einiger
Konventionen und des Vertrags mit Baiern nötig machen. Aber sollte das
wirklich als eine unüberwindliche Schwierigkeit anzusehen sein? Gewiß nicht.
Und wäre nicht alles sofort zu erreiche«, so sollte doch Hand angelegt werden,
um wenigstens einen Teil der Übelstände zu beseitigen.
Würde denn aber nicht, selbst wenn es gelingen sollte, einen möglichst
einheitlichen Eid für die deutschen Soldaten zu schaffen, immer noch der Schluß
nach den Konfessionen auseinandergehen müssen? Nun, unüberwindliche Schola-
rigkeiten liegen auch hier nicht vor. Keine der beiden Schlußformeln hat etwa
durch biblische Anordnung oder besonders hohes Alter Anspruch darauf, bei¬
behalten zu werden. Auch tritt in keiner von beiden ein bestimmter katholisch-
oder protestantisch-dogmatischer Standpunkt hervor, sodaß der Protestant nicht
ebensogut die katholische Schlußformel und der Katholik nicht die Protestantische
gebrauchen könnte. Ja die Worte: „und sein heiliges Evangelium," die der
Katholik als seine besondre Formel in Anspruch nimmt, klingen sogar ent¬
schieden evangelisch, denn es erinnert an das formale Prinzip des Pro¬
testantismus, demzufolge das geoffenbarte Evangelium — die Schrift — Er¬
kenntnis« nelle des Heils ist. Und die Worte des Protestanten: „durch Jesum
Christum zur Seligkeit" wird kein Katholik als irgendwie der Lehre der
Kirche widersprechend bezeichnen können. Würde also durch eine Anordnung
des Kaisers oder des Kriegsministers fortan eine der beiden Formeln für alle
christlichen Soldaten angeordnet, so würde vielleicht über Gewissenszwang von
einer von beiden Seiten geklagt werden, aber wenn es geschähe, so könnte
mau wirklich gespannt darauf sein, in welcher Weise hier Protestant oder
Katholik den Gewissenszwang begründen würde.
Ein für beide Konfessionen gleichlautender Eid wäre übrigens nicht ohne
Vorgang in der Geschichte. Obgleich das kanonische Recht vorschrieb, den
Eid mit den Worten zu schließen: „so wahr mir Gott helfe und dieses sein
heiliges Evangelium" — wobei der Schwörende seine Hand ans das Evan-
gelienbuch zu legen hatte —, so schloß doch bis zur Reformation der bürger¬
liche Eid meistens: „so wahr mir Gott helfe und seine Heiligen." Dieser
Wortlaut hatte die katholische Lehre zur Voraussetzung; der Protestant konnte
so nicht schwören. Als daher 1555 die Stellung der Augsburgischen Kon¬
fessionsverwandten zu den Katholiken geregelt werden mußte, konnte auch die
Eidesformel nicht unberücksichtigt bleiben. Und im Reichs tagsabschiede von
1555 ist die Eidesunion in die Formel gefaßt: „'s? wahr nur Gott helfe und
sein heiliges Wort." Diese Schlußformel ist thatsächlich vielfach, wenn auch
nicht allgemein, in Gebrauch genommen worden. Die braunschweigischen Re¬
kruten sind bis in die neueste Zeit damit vereidigt worden. Und sie könnte
ohne Bedenken allgemein angewendet werden. Auf diese Weise wären alle
Schwierigkeiten gehoben; sogar eine bisher noch gar nicht erwähnte. Die
beiden genannten Schlußformeln würden nämlich von jüdischen Rekruten natür¬
lich nicht anzuwenden sein, während die zuletzt genannte Formel sogar für den
Juden nichts anstößiges böte.
Wie anders würde sich die Feier einer Eidesleistung gestalten, wenn ein
einziger Fahneneid ohne besondern konfessionellen Schluß möglich wäre! Die
Vorbereitung in den christlichen Gotteshäusern und in der Synagoge fände
möglichst zu gleicher Stunde statt. Die Rekruten aller Waffen versammeln
sich dann im Kasernenhofe, alle im Paradeanzug. Fahnen und Musik, falls
Artillerie in der Garnison steht, auch mehrere Geschütze, sind zur Stelle. Eine
kurze Anrede des höchsten anwesenden Offiziers leitet die Eidesleistung ein.
Dann folgt der Eid, gemeinsam von vielen hundert Münuern gesprochen. In
wenigen Minuten, selbst wenn in drei Sprachen geschworen werden muß, ist
alles geschehen. Jeder ist bei der Sache, Gleichgiltigkeit, Abspannung aus¬
geschlossen. Hierauf zum Schluß ein Hurra auf deu obersten Kriegsherrn.
Möchte doch unser einiges großes Vaterland das in dem jetzigen Fahneneid
noch vorhandne Denkmal politischer Zerrissenheit und religiöser Streitigkeiten
zertrümmern lind um seiner Stelle in einem gemeinsamen Fahneneid ein Denk¬
mal der Einigkeit errichten — je eher je lieber!
aß sich in Athen die Kinder der liebreichsten Behandlung erfreut
haben werden, kann mau bei einem so menschenfreundlichen
und für Anmut so empfängliche« Volke ohne weiteres annehmen.
In der That wird in der Tragödie wie in der Komödie von
Kindern und zu Kindern nie anders als in den zärtlichsten Aus¬
drücken gesprochen. Auch der dumme Bauer Strepsiades in den Wolken ist
der zärtlichste aller Väter. Als sein Pheidippidion noch ein kleiner Junge
war, hat er ihm von dem ersten Obvlvs, den er als Richtersold empfing, ein
Wägelchen gekauft, und jetzt, da der Bursch ein großer fauler Lümmel ge¬
worden ist, der abends des Vaters Geld verthut und früh in den hellen Tag
hinein schnarcht, während sich der Vater schon vor Sonnenaufgang Plage, da
weiß er nicht, wie er das Söhnlein leise und sanft genng wecken soll, um ihm
kein Unbehagen zu verursache». Solche Affenliebe war natürlich uicht Grund¬
satz oder allgemeine Sitte. Der Preis der alten strengen Kinderzucht, den
Aristophanes in den Wolken dem Anwälte des Rechts in den Mund legt, ist
wohl zu bekannt, als daß es nötig wäre, Stellen daraus anzuführen. Aber
bei der Gemütsart der Athener war es natürlich, daß sie eher durch übergroße
Milde als durch das Gegenteil fehlten. Seid getrosten Muts, sagt in dem
Rasenden Herakles des Euripides der Held zu Gattin und Kindern, die er
aus Lebensgefahr zu befreien gerade recht kommt,
Und badet eure Augen nicht in Thränen mehr!
Dn, teure Gattin, sammle dich und fasse Mut,
Hör auf zu zagen I Lasset ub von meinem Ki°nit,
Deal Flügel hab ich nicht, will nicht entfliehn.
Sie weichen nicht, nein, klammern um so fester sich
An mein Gewand! So nahe war euch die Gefahr?
Ich will sie führen, will sie mir, gleich wie das Schiff
Die Boote, nachziehn; denn um meine Kinder mag
Ich gern mich mühen. Hier sind sich alle Menschen gleich.
Denn seine Kinder liebt der Hochgeborne, liebt
Der Namenlose. Jener lebt in Fülle, der
Ist arm, doch Kinderliebe wohnt in jeder Brust.
Nur „die gattenlose Tochter der schwarzen Nacht," die Wahnsinnswut, kann
später diesem Vater das unnatürliche Verbrechen des Kindermords eingeben,
denn „mit freiem Willen rast doch keiner so, daß er die Kinder töten will,
sein Teuerstes," wie in den Herakliden Demophrvn sagt, als der Seher ver¬
kündet, daß die Schatteugöttin das Opfer einer edeln Jungfrau fordere.
Aber nicht bloß die Eltern, auch Oheime, Freunde der Eltern, Ammen,
Haussklaven sehen wir den Kindern Zärtlichkeiten und Fürsorge erweisen oder
Schutz gewähren und ihnen bis ins spätere Alter Liebe bewahren. Elektra
schickt bei Euripides zu einem alten Sklaven ihres Vaterhauses, der in der
Nähe ein Pachtgütchen haben mag, und läßt ihn um einige Nahrungsmittel
für eben angekommene Gäste bitten. Da eilt er herbei, beladen mit einem
geschlachteten Lamm, Kuchen, Käse und
diesem alten, langbewahrten Bakchosschatz,
Der lieblich duftet; wenig nur, doch mundet wohl
Davon ein Becher, beigemischt dem schwächern Trank.
Obwohl noch todmüde und anßer Atem vom Erklimmen des steilen Abhangs,
sängt er doch an zu hüpfen wie ein Kind, als er in dem einen der Fremden
den Orestes erkennt. Besondre Zärtlichkeit wird den Mädchen gewidmet. Ein
alter Vnder, sagt Jphis in den Herakliden, hat nichts lieberes als eine Tochter.
Und wie rührend klagt Odipns bei Sophokles, ehe er als geblendeter Bettler
in die Verbannung zieht, um seine Töchter!
Um meine Sohne, Kreon, quäle nie
Dich Sorge; Männer sinds, sodaß der Mangel
Des Lebens, wo sie seien, nie sie trifft;
Bloß um die armen, leidbeschwertcn Mädchen,
Für die der Speisen Tisch niemals getrennt,
Nie ohne mich stand, sondern die an allem,
Was ich berührte, Mitgenuß gehabt,
Für die nur sorge! Doch am liebsten laß
Sie mich umarmen! ....Ich wein um euch — denn sehen kann ich nicht —,
Wenn ich des bittern Lebens Rest bedenke,
Den nnter Menschen ihr verleben müßt.
Zu welchem Umgang werdet ihr euch nahm,
Zu welchen Festen, wo ihr weinend nicht
Ins Haus zurückkehrt statt vom Schaun ergötzt?
Und wenn alsdann ihr zur Vermählung reift,
Wer wird es sein, wer wird es wagen, Kinder,
Die Schmach sich aufzuladen, die an meinen
Und euren Eltern gleich verderbend klebt? ....O Sohn Menökens, da allein als Bater
Du ihnen bleibst — denn wir, die sie erzeugt,
Wir starben beide —, so verlaß sie nicht,
Daß bettelnd, manulvs nicht die Deinen schweifen;
Und mache nie sie meinen Leiden gleich!
Erbarn dich ihrer, sie so jung erblickend,
Entblößt von allem, was von dir nicht kommt!
Versprich mirs, Edler! Reich mir deine Hand!
Euch aber, Kinder, faßtet ihr es schon,
Ermahnt' ich viel noch; doch ich wünsch euch jetzt,
Stets recht zu lebe», und ein bessres Los
Als des zu schauen, der euch Bater war.
Die Mutterliebe, die much bei den Wilden und bei den Tieren unüber¬
windlich ist und nur durch die Verschrobenheit höherer Kulturstufen hie und
da in ihr Gegenteil verkehrt wird, bei den Athenern nachweisen zu wollen, ist
wohl überflüssig. Doch ist es interessant, zu sehen, wie Euripides einen Aus¬
nahmefall, den einzigen, den ihm nicht das Leben, sondern die Mythologie
darbot, behandelt und den Konflikt zwischen der natürlichen mütterlichen Em¬
pfindung und verbrecherischer Leidenschaft schildert. Nicht eine Griechin war
es ^_ „kein Weib in Hellas hätte dies vermocht" — die sich dnrch Nachsucht
und Eifersucht hinreißen ließ, ihre Kinder zu morden, sondern die Tochter
des Kolcherkvnigs, die böse Zauberin Mcdeia, die schon ihren kleinen Bruder
rasender Liebesleidenschaft grausam geopfert hatte, das Mannweib, das den
Gemahl Memme schalt, das „ruchlose Scheusal, Löwin du, uicht Weib," wie
sie Jason nennt. Es kennzeichnet den Athener, daß er auch noch in einem
solchen Weibe die dämonische Leidenschaft erst einen schweren Kampf mit der
Mutterliebe bestehen läßt, ehe sie sich zu ihrem verruchten Entschlüsse durchringt.
Nein nein, v Seele, denke dies verwegne nicht!
O laß die Kinder, schone sie, Unselige!
Mit dir im Banne lebend, sind sie Wonne dir.
Nein, bei den Rachcgeistern dort in Hades Nacht!
Nie solls geschehen, daß ich meine Kinder selbst
Hingabe, meiner Widersacher Spott zu sein.
Und doch, wendet sie sich selbst ein, sei die Unthat fest beschlossen.
Noch einen Gruß deu Söhnen! Reicht, o Kinder, reicht
Der Mutter eure Rechte, sie zu küssen, dar.
O liebe Hände, lieber Mund, liebreizende
Gestalt, o meiner Kinder edles Angesicht!
Ja, werdet glücklich, aber dort! Der Erde Glück
Nahm euch der Vater. Lieblich hold Umfangen, ach
Du süßer Hauch des Atems, weicher Wangen Rot!
Geht, geht, v Kinder! Ich vermag nicht länger mehr
Euch anzublicken, ich erliege meinem Leid.
Wohl fühl ich, welche Greuel ich vollbringen will;
Doch über mein Erbarmen siegt des Zornes Wut,
Die stets die größten Leiden bringt den Sterblichen.
Als rührende Beispiele der Liebe zu den Eltern sind aus Sophokles „Anti¬
gone" mF„Ödipus aufKolonos" Antigone und Jsmene weltbekannt. Ähnlich
stellt Euripides in den Phönizierinnen den Charakter der Antigone dar. Hier
verzichtet sie auf das Ehebündnis mit Kreons Sohn, um mit ihrem Vater
ins Elend zu ziehn. Kreon beantwortet ihre Erklärung mit den Worten:
„Wohl edel bist du, aber Thorheit blendet dich." Sehr schön hat Sophokles
in den Trachinierinnen den Gewissenskonflikt zwischen zarter Liebe zur Mutter
und ehrfurchtsvollem Gehorsam gegen den Vater geschildert, worein der junge
Hyllos dnrch einen Befehl des Herakles gestürzt ward. Der Halbgott hatte
die erbeutete Jole uach Hause vorausgeschickt. Dejaueira vermag den Ge¬
danken nicht zu ertragen, das eheliche Lager mit einem Kebsweibe zu teilen,
und schickt dem Gemahl, um seine ausschließliche Liebe wieder zu gewinnen,
das Nessosgewand. Nachdem sie erfahren hat, welche furchtbare Wirkung
dieses hervorgebracht hat, bringt sie sich ums Leben. Hyllos, der die Mutter
schon des Mordes angeklagt hatte, kommt, findet sie tot und erfährt den Zu¬
sammenhang. „Laut um sie jammernd küßt' er sie auf ihren Mund, er warf
sich zu ihr, seine Seite schmiegte sich an ihre Seite, und oft seufzend klagte
er, daß ohne Grund er sie der schweren Schuld geziehn." Der sterbende Held
aber, der dann herbeigetragen wird, befiehlt seinem Sohn, die Jole zu heiraten.
Hyllos erwidert:
Weh mir, zu zürnen auf den Vater ziemt mir nicht;
Und doch, so denken ihn zu sehn, wer trüge das?Herakles Du sprichst, als wenn du meinem Wunsche dich versagst?
Hyllos Kann ich die Jungfrau, die allein der Mutter Tod
Verschuldet, und daß dich ein solches Los ereilt.
Kann ich sie — wenn nicht kranker Wahnwitz mich bethört —
Zur meinen machen? Besser, Vater, sturb much ich,
AIS ihr mich zu verbinden, die verhaßt mir ist.. ..
Ich Armer, wie bedrängen Zweifel mein Gemüt!Herakles Nur weil du den nicht hören willst, der dich erzeugt.
Hyllos Soll ich, dir folgend, Vater, Frevelthat begehn?
Da Herakles von seiner Forderung nicht abgeht, so fügt sich Hyllos endlich,
„vor den Göttern mich auf dein Gebot berufend," und tröstet sich damit, daß
es kein Unrecht sein könne, dem Vater zu folgen.
Nicht minder ergreifend wird in mehr als einem Stück der schon er¬
wähnte Gewissenskonflikt des Orestes geschildert. In der Elektra des Euri-
pides hält ihn die Schwester zum Muttermorde an.
Und als Iphigenie auf Tauris dem Thoas die Unthat berichtet, da ruft der
Barbarenkönig entsetzt: „O Phoibos! Auch kein Wilder hätte das gewagt!"
In allen Dramen, die diesen Gegenstand behandeln, wird anch die Gelegenheit
wahrgenommen, die zärtliche Geschwisterliebe zwischen Orest und Elektra zu
schildern.
Die Ehrfurcht vor dem Alter freilich konnte in einem Volke, das mehr
geneigt war, die Kinder zu verzärteln als zu züchtigen, das die Individualität
pflegte und demokratischer Gleichheit zustrebte, nicht stark entwickelt sein. Jeder¬
mann kennt die Anekdote, wie die Athener einmal im Theater von den lakedämo¬
nischen Gesandten beschämt wurden, die einem zu spät kommenden Greise Platz
machten. Da konnten denn auch leicht Verletzungen der Pietät gegen die
eignen Eltern vorkommen. Aber so weit wie die Germanen sind die Athener
darin doch nicht gegangen. Bei den Germanen galt, wie Wackernagel mitteilt,
die Regel: Kann der Greis nicht mehr gehen, stehen oder reiten „uugehabt
und ungcstcibt, mit wohlbedachten Mute, freiem Willen und guter Vernunft,"
so vertauschen Vater und Sohn die Stellung; der Sohn wird Vormund des
Vaters, damit zugleich auch der Mutter, und schickt die Alten mit den Knechten
das Vieh hüten, oder wozu sie sonst etwa noch zu gebrauchen sind. Wenn
da Sophokles Söhne den greisen Vater wegen Liederlichkeit verklagen und
beantragen, daß er für unmündig erklärt werde, so war das doch nur ein
Ausnahmefall. Erst als die Sophistik den Glauben an die unbedingte Giltigkeit
des Sittengesetzes untergraben hatte, mögen es einzelne Söhne gewagt haben,
ihre Eltern zu mißhandeln, wie Pheidippides in den Wolken, der sein Recht
dazu haarscharf beweist und das Gebot, die Eltern zu ehren, für eine Menschen-
satzuug erklärt, die, gleich allen Menschensatzungen, willkürlich geändert werden
könne; ein göttliches Gesetz gebe es nicht mehr, da es ja keine Götter mehr
gebe, sondern nur noch Naturgewalten, König Zeus vom „König Umschwung"
abgesetzt sei. Freilich geschieht dem alten Strcpsiades ganz Recht; hat er doch
selber den Sohn zu den Sophisten in die Lehre geschickt, damit er dort lerne,
wie man die Gläubiger betrügen könne, und wiederum geschieht auch den
Sophisten Recht, als der über den Erfolg ihres Unterrichts wütend gewordne
Bauer ihnen ihre Bude, „die Denkerei," über dem Kopfe anzündet. In den
Vögeln läßt Aristophanes einen ungeratnen Sohn mit der Bitte um Aufnahme
nach Wolkenkuknksheim kommen, dem an den Vögelsitten namentlich dieses ge¬
füllt, daß die Vögel „deu für wacker halten, der den Vater würgt und beißt."
Darauf erwidert Peisthetairos:
Gut! Doch wir Vögel haben auch ein alt Gesetz,
Das auf der Störche Tafeln steht seit grauer Zeit:
„Nachdem der alte Vater Storch die Störchlinge
Hercmgeuährt hat alle, bis sie flügge sind,
Dann soll die Brut den Vater nähren wiederum."
So hatte nämlich Solon verordnet. Das Früchtchen ruft:
Da hätt ich einen schönen Lohn für meinen Weg,
Wenn ich den Vater hier sogar noch füttern soll!
Peisthetairos möchte aber doch den neu gewonnenen Vogel nicht gern entfliegen
lassen und erwidert daher beschwichtigend:
Mit nichten, Armer; weil du kamst als unser Freund,
Will ich als Waisenoogel dich befitticheu.
Erst aber, Jüngling, livre noch den guten Rat,
Den mir die Leute gaben, als ich Knabe war:
Mißhandle deinen Bater nicht!
Junige Liebe zum Großvater und Scheu vor ihm läßt Euripides seinen Orest
in dem gleichnamigen Stücke ausdrücken. Als dieser nach vollbrachter Unthat
den Thndnreos nahen sieht, spricht er:
Ich bin verloren! Hier ja kommt Tyndcireos
Hcraugeschritteu, und vor allen scheu ich ihm
Börs Angesicht zu kommen, weil ich solches that.
Er zog mich ans als Knaben und bedeckte mir
Den Mund mit seinen Küssen oft, Agamenmons Kind
Auf seinen Armen tragend, hat mit Leda mich
Nicht minder als die Dioskuren selbst geliebt.
Ich hab — o meine Seele, schwer bedrängtes Herz! —
Nicht schön es ihm vergolten! Wo verberg ich doch
Mein Angesicht ins Dunkel? Welche Wolke soll
Ich vor mich breiten und des Greises Aug entfliehn?
Was sodann das Verhältnis der Gatten betrifft, fo wird es überall als
ein beglückender, hochheiliger Bund inniger Liebe dargestellt, der beide Gatten
zur Treue verpflichte. „Dies ist des Erdenlebens höchstes Glück, wenn mit
dem Manne sich vertrüge des Weibes Sinn," spricht die Amme in der „Me-
deia," und Orest in dem gleichnamigen Stück des Euripides:
Ein selig Leben lebt der Murr, dem schön erblüht
Das Glück der Ehe; wem es da nicht lächelte.
Dem siel daheim und draußen ein unselig Los.
Hekabe hält es in den Troerinneu für undenkbar, daß Menelaos sein ehe¬
brecherisches Weib wieder zu sich nehmen könne; diese habe ihn nie geliebt,
denn „wahrhaft ja liebt nicht, wessen Herz nicht immer liebt!"
Ohne Zweifel, um den Abscheu vor dem Ehebruch des Weibes als einem
beinahe unmöglichen Verbrechen recht kräftig auszudrücken, hat Euripides der
Helena, dieser berühmtesten aller Ehebrecherinnen, eine Tragödie gewidmet, in
der er sie als unschuldig und ihre Missethat als gar nicht geschehen darstellt.
Ein von den Göttern gesandtes Trugbild hat mit Paris entfliehen und so
den trojanischen Krieg entflammen müssen, während die wirkliche Helena nach
Ägypten entrückt wurde. Dort gerät sie in große Not durch die Bewerbung
des Königs Theoklymenvs. Doch, meinem ersten Gatten tren, spricht sie,
Knie ich an Proteus Grabe hier und sich ihn an,
Dem Gatten mich zu wahren unbefleckt und rein,
Daß, wenn in Hellas schmachbedeckt mein Name sei,
Die Schmach doch hier nicht meinen Leib entheilige.
Gerade zu rechter Zeit erscheint als Retter ihr Gatte selbst, der ihrer Ver¬
sicherung: „Ich wahrte rein und lauter meine Liebe dir" anfänglich nicht
recht traut. In der Ansprache an TheonoL hebt sie den heißen Wunsch, ihre
Ehre wieder hergestellt zu sehen, als den hauptsächlichsten der Beweggründe
hervor, die sie bestimmen, auf Flucht bedacht zu sein.
O los aus meinen Leiden mich Unglückliche,
Und was das Schicksal uicht gewährt, vollende du!
Denn keiner lebt auf Erden, der nicht Helenen
Verfluchte, die dem Gatten — so schilt Hellas mich —
Untreu, bewohnte Phrygiens goldreiche Burg.
Doch lehr ich heim nach Hellas, heim ins Svnrterland,
Dann hören sie, dann sehn sie, daß sie Göttertrug
Verdarb, und ich dem Gatten nicht die Treue brach;
Und wieder dree ich in die Reihn der edeln Fraun.
Außer Helena und Klytaimnestra kommt in den Dramen nur noch eine
Ehebrecherin vor, die Phädra im Hippolht des Euripides. Aber obwohl es
bei dieser, die vor Begier nach dem unnahbar keuschen Stiefsohn verschmachtet,
nicht zur That kommt, wird sie doch von Aristophanes dem Dichter ganz be¬
sonders übel genommen. In den Fröschen läßt er den Herrn der Unterwelt
einen Wortwettkampf zwischen Aischylvs und Euripides veranstalten, aus dem
der ältere Dichter als Sieger hervorgeht. Dieser ruft u. a.:
Die Thatkraft wecke der Mann, der Dichter sich nennt!
Dort sbei den Dichtern der Vorzeit) schöpfend, erschuf nachbildend mein Geist
Patroklos und Tenkros, löwcnbcherzt, auf das; ich erweckte die Bürger,
Gleich jenen empor sich zu raffen zur Schlacht, wann einst die Drommete sie riefe.
Doch dichtet' ich nie mannsüchtige Frau», niemals Stheneböen und Phädren,
In weiß nicht, ob ich ein liebendes Weib jemals für die Bühne gestaltet.
Euripides fragt, was denn die Stheneböen,") wie er sie gedichtet habe, dem
Staate geschadet hätten. Aischylos erwidert:
Weil ehrbare Fraun, weil Gattinnen du viel ehrbarer Gatten bethörtcst.
Euripides Hab ich denn nicht, was Phäorn verbrach, nach wirklicher Sage gedichtet?
Aischylos Nach wirklicher, ja; doch schändliches Thun, das ziemt zu verhüllen dem Dichter,
Nicht offen im Licht es zu zeigen dem Volk. Denn was für die Knaben der Lehrer
Sein soll, der ihnen den Weg anzeigt, dus ist für Erwachsne der Dichter.
Drum müssen wir stets nur reden, was frommt.
Das ist nun freilich für unsre heutigen Veristen, wie schon für den Links¬
anwalt in deu Wolken, ein überwuudncr lächerlich altmodischer Standpunkt.
Am allermeisten aber verabscheut der possenhafte Sittenprediger den Euripides
deswegen, weil er einen Jnzest auf die Bühne gebracht hat. Strepsiades in
den Wolken erzählt, wie es zu dem Streite gekommen sei, worin ihn der von
den „Denkern" verführte Sohn geschlagen hatte. Dieser habe ihm bei Tische
etwas singen sollen. Da habe der Junge statt der guten alten Lieder lauter
häßliche neue angestimmt.
Gleich sang er von Euripides ein Stück, worin der Bruder —
Apollon, wende ab den Fluch! — beiwohnt der eignen Schwester,"*)
Das hielt ich denn nicht länger ans und platzte los mit Fluchen.
Dasselbe Vergehen rügt er in den Fröschen. Und wer weiß, ob das Ver¬
lorne Stück die Sache so anstößig dargestellt hat, wie Richard Wagner in der
berühmten Szene zwischen Siegfried und Sigelinde!
Es versteht sich, daß. der Anschauung aller Völker und Zeiten gemäß,
die Untreue des Mannes milder beurteilt wird, als die der Frau. Daß es
der Mann bei längerer Abwesenheit mit andern Weibern hält, findet man
selbstverständlich, geradeso, wie nach einem Aufsatz über hygienische Vorsichts-
maßregeln, die der Europäer in Afrika zu beobachten habe — wir erinnern
uns nicht mehr genau, ob er im „Ausland" oder im „Globus" stand —, bei
den Afrikareisenden die Sitte, eine schwarze Frau auf Zeit zu nehmen, allge¬
mein sein soll. So läßt denn Sophokles die Dejaneira beteuern, daß sie dem
Herakles darob nie gezürnt habe, nnr, wie schon bemerkt wurde, den Gedanken,
daß sie nun ein Kebsweib ins Haus aufnehmen soll, vermag sie nicht zu er¬
tragen. Und dieser Widerstand einer Gattin erscheint auch in andern Dramen
als durchaus berechtigt, solche Zumutung eines Gatten, oder wenn er die
rechtmäßige Frau zu Gunsten einer zweiten Frau verstößt, als frevelhaft, als
Barbareubrauch. „Er hätte wirklich solche Frevelthat gewagt?" fragt Aegens
mit Beziehung auf Jason, als ihm dessen Gemahlin Medeia zur Begründung
ihrer Bitte um Schutz berichtet hat: „Daheim gebietet neben uns ein andres
Weib." Und in der Andromache wird erzählt, wie Hermione, die rechtmäßige
Gattin des Neoptolemos, den Tod der Sklavin Andromache, die ihr des
Gatten Herz geraubt hat, und ihres Sohnes fordert. Ihre Nebenbuhlerin
Andromache wird von ihr belehrt, sie hätte ihre Lage erkennen, der Herrin
demütig dienen, das Gemach scheuern sollen;
Doch, Arme, so weit führte dich dein Unverstand!
Du wagst, dem Sohn des Mannes, der den Gatten dir
Gemordet, beizuwohnen, und dem Mörder selbst
Gebierst du Kinder. Solches ist Barbarenbrauch:
Der Vater freit die Tochter, und die Mutter freit
Den Sohn, und Brüder Schwestern, und des Liebsten Hand
Erschlägt die Liebste; alledem wehrt kein Gesetz!
Und das zu bringen, hüte dich! Es ziemt ja nicht,
Daß einem Mann zwei Frauen unterthänig sind;
Nein, gerne läßt an eines Weibes Liebe sich
Genügen, wer nicht wohnen will in Ungemach.
Auch schon die Buhlerei mit Sklavinnen oder losen Mädchen, die vor der Ehe
verziehen wird, geziemt dem Verheirateten nicht mehr. Man weiß aus der
Odyssee, daß Laertes aus Scheu vor seiner Gemahlin der um zwanzig Rinder
erkauften Eurhkleia, der spätern Schaffnerin, nicht beizuwohnen wagte. Ähn¬
liches erfahren nur von ,5'uthos, den sein vermeintlicher Sohn Ion verhört,
um zu erfahren, wer wohl seine Mutter sein möge.
Liebtest du schon andre Mädchen?
Xuthos In bethörter Jugend wohl.
Ion
Eh Erechtheus Tochter dein ward?
Xuthos Freilich, seitdem nimmermehr.
Auch wird es nicht schön gefunden, wenn ein Mann einem Mädchen zu einem
Kinde verhilft und dann Mutter samt Kind sitzen läßt. Wie Jon vernimmt,
daß Apollon selbst an Krensa so gehandelt haben soll, ruft er:
Tadeln muß ich Phvibos wohl!
Was fällt ihm ein? Jungfraun freit er mit Gewalt
Und läßt sie ziehn! Zeugt heimlich Kinder und verläßt
Sie sterbend! Thu nicht also! Wurde dir die Macht,
Üb auch die Tugend! Strafen ja die Götter auch,
Wenn eins der Menschenkinder schlimm geartet ist.
Wie wär es billig, daß ihr uns Gesetze gebt
Und selbst gesetzlos gleiches Fehis euch schuldig macht?
Wenn ihr — geschehn wirds nimmermehr, ich sag es nur —
Für jeden Notzwang Buße gäbe den Sterblichen,
Du, wie Poseidon oder Zeus, des Himmels Herr,
Ihr leertet, Unrecht büßend, eure Tempel aus!
Denn Frevel ist es, daß ihr erst den Lüsten fröhnt,
Bevor ihr überleget. Nie geziemt es mehr,
Zu schelten, wenn wir Böses, das die Götter thun,
Nachahmen; scheltet jene, die es uns gelehrt!
Zu beachten ist auch, wie zartfühlend Joll, als er an die Mutter ähnliche
Fragen wie an den Vater zu stellen hat, ihr das Peinliche ins Ohr flüstert.
Jungfrauen ziemt es, uach Ansicht deS Euripides, überhaupt nicht, dergleichen
zu besprechen oder auch nur zu hören. Im Orestes erzählt Elektra, wie die
Mutter deu Vater gemordet habe, und fügt dann hinzu: „Nicht der Jungfrau
zicmts, den Grund zu sagen, dieses Dunkel hell ein andrer auf!" Und in der
Iphigenie auf Tauris, wo Orest der erzählende ist, und Iphigenie uach dem
Grunde fragt, weshalb Klytaimnestra deu Gatten ermordet habe, da schließt
er ihr den Mund mit dem Wort: „Laß doch die Mutter! Dir ja frommt die
Kunde nicht."
Ein Ideal gegenseitiger Liebe und Treue in der Ehe stellt uns Euripides
in der Tragödie Alkestis dar. Admet kann nur dadurch vom Tode gerettet
werden, daß ein andrer für ihn stirbt. Seine Eltern haben sich geweigert,
auf das Restchen ihres freudlosen Greiseillebens zu verzichten, da hat sich denu
die Gattin Alkestis zu dem Opfer entschlossen. Schon harrt der Gott des
Todes vor der Thür. Das ganze Haus jammert über den bevorstehenden
Verlust der geliebten Herrin. Sie selbst aber nimmt Abschied vom Gemahl,
von den Kindern, vom Hausgesinde, vom Leben; jeden Altar bekränzt sie und
fleht laut die Götter an.
Hierauf zum Ehbett eilte sie in ihr Gemach,
Ergoß sich dort in Thränen, und so sagte sie:
„O Lager, wo des Mädchens reine Blüte sich
Zuerst ergab dem Manne, dem ich sterbe um,
Leb wohl! Ich zürne dir ja nicht, denn mich allein
Verdarbst dn, weil ich, treu verharrend dir und ihm,
Den Tod erdulde. Dich gewinnt ein andres Weib,
Nicht tugendhafter wahrlich, doch wohl glücklicher."
Und küssend sank sie nieder, rings befeuchtete
Der Thränen überflutend Naß die Lagerstatt.
Sie stürzt hinaus, kehrt aber noch mehreremale zum Ehebett zurück. Ad-
metos klagt:
Weh, weh! Ich vernehme das traurige Wort,
Das bittrer mir ist als jeglicher Tod.
Bei den Himmlischen sich ich, verlaß mich nicht,
Bei den Kinderchen, die dein Scheiden verwaist.
Wohlauf, harr aus!
Denn stirbst du, leb auch ich nicht mehr.
Bei dir ist Leben und Tod für mich;
Dich acht ich als heilig, v Liebe!
Und da Alkestis ihn bittet, den Kindern keine Fremde mis Stiefmutter zuzu¬
führen, beteuert er, er werde überhaupt nicht Mieder heiraten, an keinem Gast¬
mahl mehr teilnehmen,
Noch mich begeistern zum Gesaug bei libyscher
Festflöte; denn du raubtest mir des Lebens Reiz.
Bon eines Künstlers Meisterhand gebildet, wird
Vor meinem Lager aufgestellt dein Ebenbild;
Dort hingesunken, und die Hand' umschlingend ihm,
Und deinen Namen rufend, werd ich wähnen, dich
Im Arm zu halten, Liebe.
Der Todesgott führt sie nun fort ius Reich der Schatte». Herakles kehrt
als Gast ins Trauerhaus ein, und als er erfahren hat, Mas geschehen ist,
geht er der Verstorbnen nach. Nach einiger Zeit kehrt er zurück, ein ver¬
schleiertes Weib an der Hand führend, und bittet den Admet, es ihm zu be¬
wahren, bis er den König im Bastarncrland ermordet haben werde. Admet
bittet, er möge sie einem andern in Verwahrung geben;
Ich konnte niemals dieses Weib im Hause sehn
Und ohne Thränen bleiben; drum geselle mir
Nicht Leid zu Leiden; mich beschwert mein Gram genug.
Und wo beherbergt' ich im Hans das junge Weib?
Sie sollte wohnen, wo das Männervolk verkehrt?
Wie wird sie schuldlos bleibe» unter Jünglingen?
Da Herakles mit Bitten nicht nachläßt, will sie Admet durch einen Diener
hineinführen lassen, aber das gestattet Herakles nicht; er sagt:
In deine Hände, König, übergeb ich sie.
Admetos Ich rühre sie nicht an; sie trete nur ins Haus.
Herakles Ich werde sie nur deiner Rechten anvertraun.
Admetos O Herr, du zwingst mich! Wider Willen muß ichs thun!
Herakles streck aus die Hand, Admetos, kühn berühre sie!
Admetos (das Gesicht abwendend) So will ich sie berühren, wie der Gvrgv Haupt.
Endlich erkennt er die wiederbelebte Gattin. Etwas Innigeres, Zarteres als
die Abschiedsgespräche und Klagen zwischen Admet, Alkestis und den Kindern
läßt sich nicht denken.
Daß die Ehe ein Bund gegenseitiger reiner Liebe sein soll, scheint dem
Aischylos bei Abfassung der Danaidentrilvgie als Tendenz vorgeschwebt zu
haben. In den Schutzflchenden singt der Chor der Mägde:
O so schau, Artemis, Jungfrau,
Du in Mitleid zu den Jungfrau»,
Daß mit Zwang nicht Kythereia
Sie ins Brautbett der Negier führt;
Denn ein Greut ist Liebes-Lustkampf.
Die andern beiden Stücke sind verloren, aber die eben angeführte Stelle be¬
rechtigt zu der Vermutung, daß Aischylos den Sinn der Danaidensage so
aufgefaßt habe, wie es Droysen (S. 265 seiner Aischylosübersetzung) angiebt:
„Auf dem Geschlecht der Jo ruhte Heras Fluch; Hera, die strenge Hüterin
der Ehe, hat unablässig ihres olympischen Gemahls Liebe verfolgt und dann
ihren Haß, vor dem Jo geflohen, auf deren Geschlecht übertragen; sie hat ihn
lange verborgen, bis um das Geschlecht in herrlichster Blüte dem nacher
Untergang zureift. Der Jünglinge wilde Begier und der Mädchen Abscheu
gegen die Ehe ist Heras Werk; ihr Haß kaun nur durch treue redliche Liebe
versöhnt werden, und unberührt in jener Brantncicht hatte Hypermnestra ihren
Bräutigam gerettet; er ließ die wilde Begehrlichkeit seiner Brüder, sie die
nnweibliche Sprödigkeit ihrer Schwestern; es war ein Bund, wie ihn die
Hüterin der Ehe loben mußte. In ihnen also ist Heras Haß gegen Jos Ge¬
schlecht versöhnt."
Wohl auf orientalische Einflüsse ist es zurückzuführen, wenn in der grie¬
chische,? Mythologie nicht allein Jungfrauen als Feindinnen der Ehe erscheinen,
wie die Danaiden, Kassandra, Theonoö, sondern auch ein Jüngling, der von
den Werken der Kypris nichts wissen mag. Hippolytos ist bei Euripides so
keusch, daß er nicht einmal verlockende Gemälde anschaun mag und die Bitte
eines alten Dieners, doch anch zu Aphrodite zu beten, ablehnt: „Ein keuscher
Jüngling, grüß ich nur vou ferne sie." Darauf fällt der Diener vor dem
Bilde der Göttin nieder und fleht, sie möge dem Jünglinge uicht zürnen:
„Stelle dich wie taub dazu! Die Götter müssen Weiser sein als Sterbliche."
Aber das Gebet des treuen Dieners nützt nichts; Aphrodite bereitet ihrem
Verächter den Untergang dnrch die Rache der verschmähten Ehebrecherin
Phädrn. Nachdem diese den Hippolytos verleumdet hat, erscheint seinem Vater
Theseus das ganze frühere Leben seines frommen Sohnes als Heuchelei. Die
Lebensweise des Jünglings, wie sie der erzürnte Vater schildert, weist wieder
sehr deutlich uach dem Orient hin:
Nun rühme dich denn immer, prunk in stolzem Wort
Mit Pflllnzcnncchrung, sei verzückt und huldige
Dem Meister Orpheus und der Bücher grauem Dunst
Du bist entlarvt! Ich mahne jedermann, zu fliehen
Vor Heuchlern, die dir gleichen.
Vegetarianer und zugleich leidenschaftlicher Jäger — denn das war Hippo-
lytos als Verehrer der Artemis —, das paßt freilich schlecht zusammen. Aber
der Grieche konnte nun einmal daS Wesen des richtigen Asketen nicht fassen-
Die jungfräuliche Artemis ist keine Asketin, sondern nur eine Verkörperung
rüstiger Jugendkrnft, die sich nicht durch Wollust schwächen mag. Auch die
Bedürfnislosigkeit der Zyniker war nicht asketischer Art, sondern lief praktisch
auf dasselbe hinaus wie der Epikureismus: auf Meidung alles dessen, was
Verlust erzeugen oder im Gefolge haben kann. Aristophanes hat den Euri-
pides in der Thesmophorienfeier wegen seiner Weibcrfeindschaft verspottet,
gewiß sehr mit Unrecht. Wenn Hippvlhtos ruft: „Was hast du doch der
Menschen gleißend Ungemach, die Fraun, o Zeus, an dieses Sonnenlicht ge¬
bracht!", und wenn er meint, die Götter sollten den Männern lieber ohne
Vermittlung der Frauen Nachwuchs schenken, so gehörte das zum Charakter
der Rolle. Die spärlichen tadelnden Bemerkungen, die sonst noch vorkommen,
verlieren sich in den Huldigungen, die liebenswürdigen und hochherzigen Ver¬
treterinnen des weiblichen Geschlechts dargebracht werden. Weiberfeindschast
lag gewiß nicht in der weichen Natur des Dichters; dagegen findet man es
bei dem strengen, durchaus männlichen Aischhlvs natürlich, wenn er gelegent¬
lich einmal, wie in den Sieben gegen Theben, einen Mann auf das Geschwätz
und Gejammer der Weiber schelten läßt, wie das zu allen Zeiten bei den
Männern Brauch gewesen ist.
Daß sich bei einem Ehebruch das Berdammungsurteil der öffentlichen
Meinung einseitig gegen die Frau kehre, darüber beschwert sich Klytnimnestra
in des Euripides Elektra, aber eine so grausame Behandlung wie bei den
alten Germanen hatte die Ehebrecherin nicht zu fürchten; so sehr man mich in
Athen den Bund der Herr ehrte, huldigte das lose Völkchen doch der Khpris
zu gern, als daß es nicht bereitwillig Nergehungen verziehen haben sollte, zu
denen sie verleitete. Was den Ehebrecher^) anlangt, so erscheint es uns
Heutigen mit Recht höchst anstößig, daß seine Bestrafung, die Rhaphanidosis,
einen possenhaften Charakter trug. Doch muß billigerweise dagegen gehalten
werden, einerseits, daß überhaupt eine Strafe immer noch besser ist als gar
keine — geht doch bei uns heutigen Deutschen, wo der Ehebruch zu den An-
tragsdelitten gehört, nicht allein der Ehebrecher, sondern auch die Ehebrecherin
fast immer straflos aus; andrerseits, daß es im Mittelalter alle Völker Europas
liebten, aus der Abstrafung von Verbrechern einen Ulk für die Straßenjugend
zu machen. Possenhafte Strafarten von der Art, wie sie hente nicht mehr
öffentlich erzählt werden können, kommen z. B. im indischen Rechte vor, und
in Italien mußte sich der Bankerottirer auf dem Markte einer höchst lächer¬
lichen und schimpflichen Zeremonie unterwerfen, ehe ihm der Akkord einge¬
händigt wurde. Daß Aristophanes die geschlechtlichen Verirrungen nicht beweinen,
sondern belachen ließ, gehörte zu seinem Handwerk als Komiker; man wird
daraus also schwerlich den Schluß ziehen dürfen, die Athener Hütten diese
Dinge leichtfertiger behandelt, als die Völker im Durchschnitt zu thun pflegen.
Puritaner allerdings lachen nicht über dergleichen, auch nicht in der Komödie;
aber die lachen überhaupt nicht und haben gar kein Lustspiel,
Die Charakteristik dieser Seite des athenischen Volkslebens würde unvoll¬
ständig bleiben, wenn wir nicht noch den edeln armen Landmmm erwähnten,
der die Elektra (in dem gleichnamigen Stück des Euripides) geheiratet hat,
uni sie deu Unbilden zu entziehen, denen sie im Hause ihres Stiefvaters aus¬
gesetzt gewesen ist, aber von seinem Gattcnrcchte keinen Gebrauch macht und
sie nicht berührt, damit sie später unentweiht einen ebenbürtigen Mann heiraten
könne. Wäre eine solche Handlungsweise ganz unerhört und undenkbar ge¬
wesen, so hätte sie Euripides weder ersinnen noch auf die Bühne bringen
können.
Was also thun wir? Wagen wir den Muttermord?
Erbarme dich denn die Mutter, nnn du sie gesehn?
Weh!
Sie soll ich morden, die mich aufzog und gebar?
So wie sie selbst den Bilder dir und mir erschlug.
Welch Wort des Wayues, Phoibos, scholl aus deinem Mund —
Doch ist Apollon thöricht, wer ist weise dann?
Das mir den Mord der Mutter — welchen Greut! — gebot!____
Ein böser Geist wohl sprach es, der dem Gotte glich.
eutsch muß der Mittelpunkt unsers Schulunterrichts werden, das
wissen wir um beinahe seit drei Jahren. Und wenn der Glaube
eine gewisse Zuversicht des ist, das man hoffet, und nicht
zweifeln an dem, das man nicht siehet, so ist unser Glaube an
diesen zukünftigen Mittelpunkt echt. Ein starker Glaube aber
ist etwas wert zu Zeiten, wo die obersten Behörden vor lauter Entgegen¬
kommen nach vorn und hinten, nach oben und unten, nach rechts und links
gar nicht zum Handeln kommen. Möglich, daß ihnen auch von dem vielen
Drehen etwas wirblich geworden ist. Dennoch, die wichtige Frage der Lehrer¬
gehalte ist in Preußen glücklich gelöst worden, die noch wichtigere Frage der
gebührenden Titulaturen nicht minder: so wäre es um wohl an der Zeit,
den eigentlichen Märtyrern unsrer erbaulichen Schulzustände anch wieder ein¬
mal einen Blick zu gönnen.
Also das Deutsche gehört von Rechts wegen seit mehr als zwei Jahren
schon in den Mittelpunkt des Unterrichts. Anscheinend hat es jedoch seine
Schwierigkeiten, es da hineinzubringen. Wie fangen wir das an? Nun,
L0nilUönoö5i xg,r 1s oommsnoöinöut, meine Herren Kultusminister, beginnen
Sie mit dem, was man im engern Sinne unter Deutsch versteht, mit der
deutschen Sprache. Erlassen Sie eine „diesbezügliche Verfügung," meinet¬
wegen einen neuen revidirten Lehrplan, der alte revidirte hat lange genug
gehalten, und schreiben Sie da hinein unter Deutsch: Gegenstand des deutschen
Unterrichts ist die ganz unglaubliche Verwilderung der deutschen Sprache;
als Hilfsmittel für den Unterricht werden empfohlen: Ministerialerlasfe, Thron¬
reden, Entscheidungen des Reichsgerichts, Reden der Volksvertreter, Leitartikel
der Tagesblätter und andre stilistische Scheußlichkeiten.
Dies ist kein Scherz. Soll bei der Reform des deutschen Unterrichts
ersprießliches herauskommen, so muß er hier einsetzen. Ich blättere da in
einem Ghmnnsialprogramm, in dem zur Verzierung der trocknen Nachrichten
gar gelehrte Sachen abgehandelt werden über die Erklärung deutscher Schrift¬
werke auf den obern Klassen; da steht gleich zu Anfang in zehn Zeilen zwei
mal „des bezüglichen Schriftwerkes" und „der bezüglichen klassischen
Schriften." Nicht wahr, der „bezügliche" Herr ist jedenfalls hervorragend
befähigt, in den obern Klaffen deutsche Schriftwerke zu erklären? Das ist
nur ein Beispiel, und da ich nicht von der Zahlenwut besessen, vielmehr der
Meinung bin, in der richtigen Auswahl der Belege stecke mehr Beweiskraft
als in der großen Zahl, so mag es genügen. Schwerlich auch wird jemand
die Behauptung dagegen setzen wollen, die Programmarbeiten unsrer Lehrer
seien Muster deutschen Stils. Und sie sollten es doch sein, mindestens wenn
sie vom Lehrer des Deutschen geschrieben sind.
Nun können wir an lauter abschreckenden Beispielen wohl lernen, wie
man nicht schreiben, aber nicht wie man schreiben soll. Wo nehmen wir
mustergiltige Vorbilder her? Bon unsern Klassikern? Die sind selbst schon
angesteckt, wenn auch nicht sehr, so doch zu sehr, um als „einwandfreie"
Muster zu gelten. Nein, wir müssen weiter zurück, in die Zeit, da sich zwischen
Redner und Hörer noch kein papierner Wisch gedrängt hatte, der sich anfühlt
wie schlecht getrocknete Wäsche und nicht einmal dazu taugt, ein Butterbrot
einzuwickeln; denn gar mancher, der, mehr der Not gehorchend als dem eignen
Triebe, sein Brot mit Thränen ißt, verzichtet doch auf Druckerschwärze als
Beilage. Als das Lied noch Flügel hatte und noch nicht auf grauem Papier
dahinkroch, in der schimmernden Stauferzeit, wo die Sprache noch frei flutete
von den Lippen zum Ohr, dort müssen wir uns Genesung holen für unsern
kranken Stil. Denn, meine Herren Kultusminister, diese fahrenden Ritter
und Sänger, bettelarm waren sie ja, an Titeln hatten sie anch nicht viel auf¬
zuweisen, und schreiben und lesen konnten sie nicht immer, aber trotzdem
sprachen sie ein richtigeres Deutsch als Sie mitsamt ihren vortragenden Räten
und sonstigen Ereellenzcn. Ihre Muttersprache war ihnen ein unerschöpflicher
Schatz, wie der Nibelungenhort; jahrhundertelang war er uns verborgen, und
nun er gehoben ist, wissen wir nichts damit anzufangen als ihn verständen
zu lassen in den dumpfen Stuben unsrer Gelehrten, Das muß aufhören.
Ausmünzen sollen wir das alte Gold, denn unsre Sprache leidet Maugel
daran. Freilich, man sieht es einem solchen Bändchen Gottfried von Straß-
burg nicht an, was darin steckt, wenn man es mißt an den viel hundert
Ellen Nennwert, die „unser" Julius Wolf von Weihnachten zu Weihnachten
abhaspelt. Aber den Julius Wolf haben all unsre höhern Söhne und Töchter
verschlungen, und haben doch nicht gelernt, gutes Deutsch von schlechtem zu unter¬
scheiden. Versuchen wirs also wenigstens einmal mit den Mittelhochdeutschen.
Wir können das ganz ruhig thun, ohne Gewissensbisse. Unsre Sextaner, die
unter der Tortur der lateinischen Formenlehre schmachten, werden aufatmen,
wenn sie statt ihrer die älteren Formen ihrer Muttersprache zu lernen be¬
kommen. Mit spielender Leichtigkeit wäre die Mittelstufe schon so weit zu
bringen, daß sie die Nibelungen, die Gudrun und Walther vou der Vogel-
weide lesen könnte. Dann aber fände sich vielleicht auch ein mutiger Mann,
der es unternähme, die Oberstufe zur Probe in das Althochdeutsche und
Gotische einzuführen. So gewönne man doch einige Erfahrung darüber, ob
wirklich die Götterdämmerung der modernen Kultur hereinbricht, wenn wir
es wagen, unsre Jugend in ihrer eignen Sprache annähernd so sorgfältig zu
unterweisen wie in den Sprachen längst dahingeschwundner Völker. Denn
sollte sich Wider Erwarten herausstellen, daß das deutsche Volkstum diesem
unerhörten Wagnis standhielte, so mochten sich daraus doch recht annehmbare
Vorteile ziehen lassen.
Zum Beispiel der, daß wir unsern Schülern eine Lektüre vorlegen könnten,
die ihrem Alter durchweg angemessen ist. Denn der Homer, man mag nun
über das Griechische als notwendiges Bildungselement denken, wie mau will,
der alte Homer ist doch nicht eigentlich ein Buch für die Jugend. Nicht etwa,
weil er mitunter natürliche Dinge beim rechten Namen nennt, bewahre. All¬
zuviel Prüderie im Unterricht halte ich für höchst schädlich. Nein, Homer ist
deshalb nichts für die Jugend, weil sie seine Größe gar nicht zu fassen ver¬
mag. Homer ist groß durch die Art seiner Schilderung; sieht man hiervon
ab, so bleibt von der ganzen Ilias nichts als eine wüste Schlächterei und ein
Haufe höchst fragwürdiger Charaktere. Man betrachte eine der köstlichsten
Szenen, die, wo Hera, mit Aphroditens Gürtel angethan, den Vater der Götter
und Menschen nach echtem Pariser Rezept hinters Licht führt, nebst dem fol¬
genden Wutausbruch des erwachten Gemahls, der sich geberdet wie ein ruf-
fischer Fürst aus der Zeit Katharinas, der die Knute über dem Ehebett hängen
hat. Aber man betrachte sie, bitte, nicht durch die große Hornbrille des Philo¬
logen, die bekanntlich rechts und links mit einem mächtigen Scheuleder ver¬
sehen ist. Die Szene steht in ihrer Wirkung einem bekannten Operettcntext
von Meilhac und Hnlevy gar nicht so fern, nur daß der Grieche unbewußt
ausübt, was bei den Franzosen bewußte Kunst ist und darum zur Parodie
wird. Was uns an den homerischen Göttergeschichten gefällt, ist die kindliche
Naivität des Dichters, der das erhabenste unbefangen mit den menschlichsten
Zügen schildert. Ist das aber wohl ein Vergnügen, das die Jugend zu em¬
pfinden vermag? Die Jugend ist selbst naiv, wie könnte sie Frende haben an
dem Widerspruch zwischen den naiven Mitteln einer Darstellung und ihrem
pathetischen Gegenstande? Sind aber Homers launische Götter schon kein guter
Umgang sür den deutschen Schüler, so sind Homers Helden einfach schlechte
Gesellschaft für ihn, die seine Sitten verdirbt. Denn den homerischen Helden
fehlt gerade der Charakterzug vollständig, der für einen modernen Helden der
wesentlichste ist, die Ritterlichkeit der Gesinnung. Man komme nicht mit der
Begegnung von Diomedes und Glaukos, dem bekannten Beispiel, das kein
waschechter Philologe nennt, ohne eine Thräne im linken Auge zu zerdrücken.
Der Fall steht bedenklich einsam da, und gerade der köstliche Zug, daß der
Dichter ausdrücklich hervorhebt, Glaukos habe anstandslos seine goldne Rüstung
für eine eiserne hingegeben, gerade dieser Zug, der den gereiften Leser entzückt,
macht das naive Gemüt des Schülers stutzig. Homers Helden sind eben für
uns Moderne gar keine Helden, sondern ganz gewöhnliche Menschen, und ihre
uuzivilisirte Natürlichkeit wirkt auf uns mit so ergötzlicher Frische, weil sie
sich selbst für Helden halten. Über dies unser Verhältnis zum größten Dichter
des Altertums hat uns niemand anders ein Licht aufgesteckt als der größte
Dichter der Neuzeit. Shakespeare, der gereifteste Genius der modernen Litte¬
ratur, durchschaute mit seinem sonnenhellen Adlerauge schon vor Jahrhun¬
derten, was unsern klassischen Philologen noch heute verborgen ist. Was aber
würden die Herren Philologen dazu sagen, wollte man ihren Schülern „Troilns
und Cressida," diesen witzigsten und zugleich tiefsten aller Kommentare zum
Homer, in die Hand geben? Nichts ist an Hektor und Achilleus selbst, das
Bewunderung verdiente, und wir bewundern auch nichts an ihnen, als die
Naivität des Dichters und die Naivität einer Zeit, die nackte Menschlichkeit
für höchstes Heldentum hielt, oder die, um es ehrlich zu sagen, das Helden¬
tum in die rohe Kraft setzte. Die Jugend uun hat ein starkes Gefühl für die
moralische Seite einer Handlung; aber kein gleich starkes Urteil hält diesem
Gefühl die Wage. Der Schüler glaubt, wo Bewunderung von ihm gefordert
wird, da müsse auch etwas zu bewundern sein, und er qnült sich uun, die
Handlungen der homerischen Helden mit seinen deutschen Begriffen von Helden¬
tum in Übereinstimmung zu bringen. Da gerät er denn in einen höchst be-
deutlichen Zwiespalt der Gefühle. Wenn Agamemnon unter den Troern wütet,
so laßt Vater Zeus dem Hektor rate:?, einstweilen hübsch nach Hause zu gehen,
bis jener ausgetobt habe. Und der Dichter findet nichts darin, daß der Held
den wohlwollenden Rat befolgt. Das nennt der Deutsche Feigheit und be¬
wundert das Gegenteil. Für den König Teja, der mit dem eignen Leibe die
Trümmer des Gotenvolks deckt, bis er zusammenbricht, begeistert sich ein
deutscher Junge sogar, wenn ihm dieser Held in Felix Dahns bramarbasi-
renden Marionettentheater aus der Völkerwanderung vorgeführt wird. Hektor
besinnt sich auch keinen Augenblick, dem waffenlosen und verwundeten Patroklos
seinen Speer durch den Leib zu rennen. Das ist rein menschlich, und schwer¬
lich wird sich im Krieg jemand seinen Gegner erst lange darauf ausehen, ob
er auch ausreichend gewaffnet sei, um Widerstand zu leisten. Aber wenn der
Markgraf Rüdiger seinem Feinde Hagen einen neuen Schild reicht, bevor er
ihn angreift, so ist das zwar keine gewöhnliche Handlungsweise, aber es ist
doch auch menschlich und streitet nicht im geringsten wider unsern Begriff von
Heldentum. Andrerseits ist die Ermordung Siegfrieds sicherlich eine unedle
That, aber sie wird auch bei ihrem wahren Namen genannt und zieht ent¬
sprechende Folgen nach sich. Dagegen daß Achilleus noch am Leichnam des
Feindes eine niedere Rache nimmt, wird zwar in einer formelhaften Wendung
als unwürdig bezeichnet, thut aber sonst seinem Heldentum weder bei Freund
noch Feind irgend welchen Eintrag. Wie aber soll sich ein deutscher Junge
zu solchem Heldentum stellen? Wenn er den Achill entschuldigt, so muß er
dem edelsten Helden der deutschen Sage, Dietrich von Bern, Fühllosigkeit vor¬
werfen. Denn dieser, weit entfernt, an Günther und Hagen Rache zu nehmen,
weil sie ihm seine Mannen in redlichem Kampf erschlugen, empfiehlt sie noch
der Kriemhild zu besondrer Huld. Aber was ist einem klassischen Philologen
Dietrich von Bern! Die nicht sehr ehrenwerte Art, wie Achilleus den Hektor
abmurkst — das ist das einzig richtige Wort —, erleichtert dem deutscheu
Schüler auch nicht gerade die Entscheidung, welcher Partei er seine Sympathie
zuwenden soll. Genug, ohne noch die „Freundschaft" zwischen Achilleus und
Patroklos auf ihren ethischen Kern zu prüfen, können wir allgemein das
feststellen: die homerischen Sagen gehören einer verhältnismäßig rohen Kultur¬
periode an, die uur körperliche, nicht aber sittliche Tüchtigkeit keimt. Dies
prägt sich am schärfsten in den Göttergestalten aus, die noch weit mehr den
Charakter blinder Naturkräfte als der Personifikation sittlicher Mächte tragen.
Diese Götter, die sich ungezwungen wie Menschen geberden, und diese Menschen,
die noch gar nicht von der Kultur beleckt sind, haben dadurch einen besondern
Reiz für einen erwachsenen Mann, der die moderne Kultur einigermaßen be¬
herrscht. Für einen jugendlichen Menschen aber, dessen Charakter erst in der
Bildung begriffen ist, ist die Beschäftigung mit einer Gefühlswelt, der sittliche
Wertunterschiede durchaus fremd sind, das reine Gift. Es macht ihn irre an
allem, was er für edel, gut und tüchtig um deswillen halten sollte, weil er
ein Sohn seines Volkes ist. Und vermutlich wird eine spätere Zeit unsre
klassischen Philologen und ihre hohen Gönner beschuldigen, daß sie durch die
einseitige Beschäftigung mit Homer nach Kräften daran gearbeitet hätten, der
deutschen Jugend die Freude an ihrem schönsten Erbe, an den sittlichen Idealen
ihres Volkes zu verkümmern. Wir wollen nicht so hart über unsre Homer¬
schwärmer urteilen, denn „sobald man in der Wissenschaft einer gewissen be¬
schränkten Konfession angehört, ist sogleich jede unbefangne treue Auffassung
dahin," hat ein deutscher Stantsminister a. D. gesagt. Das war der gro߬
herzoglich weimarische Geheimrat Johann Wolfgang von Goethe.
Also nicht dazu allein ist Homer ans der Schule fern zu halten, damit
wir Raum gewinnen für die nationale Litteratur. Und nicht dazu allein sind
die mittelhochdeutschen Dichter in die Schule einzuführen, damit unser krankes
Sprachgefühl gesund werde. Beides ist notwendig, um die Erziehung zu einem
sittlich tüchtigen Charakter überhaupt möglich zu machen. Denn wozu sollen
unsre Schüler tüchtig werden, wenn nicht dazu, als brauchbare Glieder in der
Gemeinschaft ihres Volkes zu leben und zu wirken? Und wie soll man ihnen
sittliche Tüchtigkeit an Werken erläutern, in die man sittliche Ideen erst Hinein¬
interpretiren muß? Es ist wahr, dem trojanischen Raub- und Rachezug liegt
die Idee von der Heiligkeit des Gastrechts zu Grunde. Aber der Schützer
des Herdes ist doch unter den zahlreichen Sultanslaunen des homerischen Zeus
uur mit einigen: guten Willen zu erkennen. Und wenn auch. Warum eine
sittliche Idee an dem Erzeugnis einer rohen Knlturepoche entwickeln, wenn unsre
eigne Dichtkunst diese selbe Idee mit einer herben Strenge verkörpert hat,
vor der uns noch heute ein ehrfürchtiges Grauen anwandelt. Die Jugend
unsrer bessern Stände pflegt, sobald sie losgelassen ist, weibliche Seelenstudien
bei Kellnerinnen und denen, die nach ihnen kommen, zu machen. Das katzeu-
jämmerliche Ergebnis dieser Studien ist in der Regel die blasirte Weisheit,
daß „die Weiber" samt und sonders nichts taugen. Dieser Jugend könnte es
wahrhaftig nichts schaden, wenn sie auf der Schule die genaue Bekanntschaft
eines so starken Frauengemüts machte, wie es die edle Königstochter Gudrun
hat, der man nicht, wie der griechischen Helena, nachsagen kann, daß sie den
ganzen Spektakel eines Racheznges nicht wert gewesen sei. Und die sittliche
Idee der Gudrun, daß frecher Raub geahndet werden muß, und sollte auch erst
ein neues Geschlecht für die Rache erwachsen, sie hat sich uns in jüngster
Vergangenheit noch in so weltgeschichtlicher Größe dargestellt, daß wir das
unttelalterlichc Gedicht ruhig zur Nationnlepos des neuen deutschen Reiches
machen könnten. Dazu müßten wirs aber erst lesen lernen.
Dies Lesenlernen — mit dem auch nach und nach der Aberglaube
schwinden möchte, mau könne deutsche Hexameter machen —, also die deutsche
Grammatik, treibe mau um Gottes willen nicht an der Hand eines Spöte-
matischen Lehrbuchs. Aus den Lehrbüchern stammt der Modergeruch, der
unserm Schulunterricht anhaftet. Systematische Lehrbücher, denen die Reform
der neuern Sprachen mit so viel Erfolg zuleide gerückt ist, haben meiner An¬
sicht nach in der Schule überhaupt nichts zu thun, in die Schule gehören nur
Lesebücher. Das Lehrbuch soll ein Hilfsmittel für den Lehrer sein, und wenn
es erst ganz aus den Handen der Schüler verschwunden ist, so wird auch
nicht mehr mechanisches Lernen die Hauptbeschäftigung im Unterricht sein,
sondern lebendiges Lehren. Auf allen Gebieten des Unterrichts giebt es etwas
auswendig zu lernen, in der Grammatik z. V. die Flexion. Aber das lasse
man den Schüler selbst auffinden und aufschreiben, das macht dem Schüler
mehr Vergnügen, und dem Lehrer — nun ja, dem macht es mehr Arbeit.
Aber wer sagt denn auch, daß unser Lehrerstand so bleiben müsse, wie er ist?
Die Schulreform ist Stückwerk, solange sie nur die Schulbildung reformiren
will, und nicht zuerst die Lehrerbildung.
Der deutsche Unterricht hat aber nicht nur nach rückwärts, er hat auch
nach vorwärts Anschluß zu suchen. Man breche doch endlich mit dem Vor¬
urteil, als müßte ein Buch gegen hundert Jahre alt sein, um in der Schule
gelesen zu werden. Und man breche desgleichen mit dein Vorurteil, als gäben
gerade unsre Klassiker den passendsten Stoff für die Stilübungen unsrer Schüler
ab. Seit Schiller in allen höhern Schulen von unreifen Köpfen verarbeitet
wird, liest ihn kein Erwachsener mehr. Gerade Schiller — jetzt kommt eine
Ketzerei, ob der unsre ehrwürdigen Pädagogen erbleichen werden, wenn sie
ihnen zu Gesichte kommt —, Schiller ist ganz und gar kein Bildungsmittel
für die Jugend. Da wird in Ghmnasialprogrammen alljährlich ein Langes
und Breites geredet vom Kultus des Wahren, Guten und Schönen, und was
derartige aschgraue Abstrakt« aus der vierten Dimension mehr sind, durch die
der Idealismus der Jugend genährt werden soll. Neben dem Hang zu
idealistischer Schwärmerei zeigt die Jugend auch einen bemerkenswerten Hang,
Äpfel zu stehlen, und ich wüßte nicht, daß es seit den Tagen Lykurgs jemals
wieder als eine Aufgabe der Schule hingestellt worden wäre, diesen Hang zu
fördern. Erst gehorchen lernen und dann befehlen, und erst Charakter haben
und dann Idealismus, das ist bewährte Reihenfolge. Den Charakter zu bilden,
dazu ist aber ein Dichter ganz und gar nicht geeignet, dessen Schwäche gerade
die Zeichnung individueller Charaktere ist. Schillers Gestalten sind nicht von
dieser Welt, sie sind mehr oder minder gelungne Verkörperungen eines all¬
gemeinen Begriffs vom Menschen. Wer aber die Menschen erst kennen lernen
soll, dem muß man nicht gleich mit Begriffen kommen. Denn wer in der
Jugend zu sehr mit Begriffen gequält worden ist, läuft im Alter vor ihnen
davon, wie denn auch der jugendliche Idealismus meistens in einen höchst
geschäftskundigen Realismus umschlägt, sobald der Schulzwang ein Ende hat.
Schillers eigentliche Größe aber, die Wucht seiner dramatischen Freskomalerei,
ist für den Primanerverstand zu hoch. Die Jugend haftet um Einzelheiten,
und das anspruchsvolle Drama ist gar kein rechtes Gebiet für sie. Nun
wirds zwar die Schule weder dahin bringen, daß kein Quartaner mehr ge¬
legentlich einen Apfel stiehlt, noch dahin, daß sich kein Primaner mehr für
den „Kampf um Rom" begeistert. Das wäre aber auch schade. Es genügt
vollkommen, wenn sie dem Quartaner das Äpfelstchlen zu einer Ungezogenheit
stempelt, die er sich abgewöhnen muß, und wenn sie in den schäumenden
Becher der Primauerschwärmerei einige Tropfen vcrstaudeskühler Kritik träufelt,
damit er das Buch Felix Dcchns, zu dem er freiwillig gegriffen hat, in reiferen
Alter ebenso freiwillig beiseite legt und, wenn er nach Idealismus begehrt,
einen Band Schiller zur Hand nimmt. Denn hat die Schule die jugendliche
Schwärmerei in die gesunden Bahnen deutschen Denkens und Fühlens gelenkt,
so braucht sie um den Idealismus nicht besorgt zu sein. Ein Charakter, dessen
Stamm fest in seinem Volke wurzelt, zieht aus der alten Mutter Erde zu
allen Zeiten hinlängliche Nahrung, um die Äste, die in den freien Himmels-
raum ragen, mit dem grünen Laub des Idealismus zu schmücken.
Wenn man also der Meinung ist, der deutsche Unterricht habe den Cha¬
rakter des Schülers zu bilden, so Hütte man für ein deutsches Lesebuch in
erster Linie Dichter zu wählen, deren Stärke die Zeichnung individueller
Charaktere ist. Denn Individualitäten, von deutschen Dichter» geschildert,
werden immer Gelegenheit geben, die deutschen Begriffe von sittlicher Tüchtig¬
keit zu erläutern. Ob der Dichter Idealist ist, ob es seine Personen sind,
das hat wenig zu sagen. Daß der Mensch, der immer strebend sich bemüht,
niemals ganz verkommen kann, das läßt sich an Richard dein Dritten min¬
destens eben so gut zeigen, wie am Faust. Was die Schule, besonders bei
der Lektüre ganzer Dichtwerke, zu meiden hat, das sind die allzu feinen Unter¬
suchungen über die Beziehung der Geschlechter zu einander. So kann Grill-
parzers Goldnes Vließ sicherlich so durchgenommen werden, daß die Schiller
einen hohen Gewinn davontragen. Denn die Individualität der Medea wächst
zu solcher Rissengrvße empor, daß für kleinliche Difteleien kein Raum bleibt.
Dagegen wird man mit Recht Bedenken tragen, Sappho, Melitta, Hero und
die lüsterne Jüdin von Toledo in die Schule einzuführen. Aber den König
Ottokar, von dem es übrigens schon eine Schulaufgabe giebt, würde ich ungern
vermissen, trotz des bösen Zawisch Rosenberg. Ganz vorzüglich für die Schule
geeignet, um seiner festen Charaktcrführnng willen, wäre Otto Ludwigs Erb¬
förster; denn auch die Übertreibung einer an sich tüchtigen Eigenschaft liegt
hier so auf der Hand, daß sie selbst der Urteilskraft eines Primaners unter¬
worfen ist. Füge ich noch hinzu, daß ein gewisser Friedrich Hebbel eine
Agnes Bernauerin und eine Nibelungentrilvgie geschrieben hat, so haben wir
da gleich drei hochbedeutende Dichterindividualitüten der nachklassischen Zeit,
von denen die große Masse der Gebildeten keine Nhnuug hat, weil die deutschen
Schulen bisher nicht geruht haben, von ihrem Dasein Notiz zu nehmen. Man
sage nicht, die Werke dieser Dichter seien zu teuer für die Schule. Für das
Geld, das die Eltern für mathematische und naturwissenschaftliche Lehrbücher,
für griechische, lateinische, französische und englische Grammatiker, für dick¬
bäuchige Wörterbücher und Logarithmentafeln wegwerfen müssen, die später
in die Rumpelkammer wandern, ließe sich eine ganz hübsche Sammlung deutscher
Dichter anlegen, die den Schüler durchs Leben begleite» könnte.
Wir haben dann im jüngsten Abschnitt unsrer Litteratur — die neueste
Litteratur in deutscher Sprache, die berlinisch-jüdische Spelunken- „beziehungs¬
weise" Snlonpvesie rechne ich selbstverständlich nicht zur deutschen Dichtkunst —
noch zwei Dichter, mit denen man die Schüler auch lieber möglichst genau
bekannt machen sollte, statt so zu thun, als hätten Körner, Rückert und Geibel
für die Gegenwart noch irgendwelche Bedeutung. Was diese beiden Meister
individueller Charakteristik von der Schule fern gehalten hat, das sind wohl
wesentlich drei Punkte, die sie zur Jugendbildung in hohem Maße geeignet
machen. Das ist erstens der sichere Griff, mit dem sie aus dem Urquell
unsers Volkstums schöpfen; das ist zweitens der siegreiche Humor, mit dem
sie auch die ernstesten Lagen des Lebens verklären; und das ist drittens, als
Folge der beiden ersten Punkte, eine Beliebtheit ohne gleichen, die den jammer¬
vollen Verfall unsers litterarischen Geschmacks glänzend überdauert hat, und
an der sich darum der Geschmack am ehesten wieder aufrichten könnte. Die
beiden Dichter sind — trotz Wilhelm Meister und Wahlverwandtschaften
nebst ihrem stattlichen Gefolge — die Klassiker unsrer Prvsaerzählung,
vie um Haupteslänge alles überragen, was nach Goethes Tode zu schreiben
begann: Scheffel und Reuter. Daß sich die Schule die beispiellose Verbrei¬
tung von Scheffels Ekkehard nicht zu nutze macht, um dadurch die Neigung
für nationale Kultur zu wecken, ist einfach unbegreiflich. Freilich gehört dazu
ein Lehrer, der in der deutscheu Kulturgeschichte Bescheid weiß. Aber was
nicht gleich in der Vollendung zu haben ist, das nimmt man, so gut mans
bekommen kann, und sorgt für bessern Nachwuchs. Weitere Wor^e darüber zu
verlieren, daß die litterarische Seite des deutscheu Unterrichts ihre beste Stütze
am Ekkehard fände, scheint mir überflüssig zu sein. Daß der Ekkehard eine
wahre Erfrischung des Unterrichts bedeuten würde, ist schon daraus zu schließen,
daß unsre Schulpedanten in den Kultusministerien noch nicht darauf verfallen
sind, obgleich das nationalste Werk der neuhochdeutschen Litteratur für die Be¬
achtung ziemlich nahe lag, wenn man Deutsch in den Mittelpunkt des Unter¬
richts rücken wollte. Was Scheffel für den litterarischen Teil des Unterrichts
sein könnte, das kann Fritz Reuter für den deutschen Sprachunterricht werden.
Ich bin durchaus kein Freund der Dialektdichtung, und die Salontirolerei unsrer
Familienblätter ist mir in der Seele zuwider. Aber Fritz Reuters nieder¬
deutsche Mundart ist kein Reklamcmüntelchen, das er nach Bedarf an- und ab-
legt; Fritz Reuters Plattdeutsch ist seine echte und einzige Sprache, in der er
nicht bloß schrieb, sondern auch dachte; sein Hochdeutsch ist im Schreiben aus
dem Dialekt übersetzt. Darum ist sein Dialekt das starke Band, das ihn in
unlösbarer Verbindung erhält — mit dem unsterblichen Volk, hätt' ich beinah
mit Immermann gesagt. Die Mundart war Reuters starke Schutzwehr gegen
das Papierdeutsch, von dem er sich frei gehalten hat, wie kein andrer neu¬
hochdeutscher Dichter; die Stellen sind zu zählen, wo es in seine Sprache ein¬
gedrungen ist. Aber er schreibt nicht nur so, wie das Volk spricht, er hat
des Volkes plastische Darstellung meisterhaft fortgebildet. Man lese nach, mit
welch schöpferischer Kühnheit er am Schluß der „Festungstid" das unschein¬
bare Sprichwort: „Din Kahn geiht lau deip" zu einem poetischen Gemälde
ausgestaltet, das den Vergleich mit den besten im Homer nicht zu scheuen
braucht. Kommt noch hinzu, daß der niederdeutsche Sprachstamm manche
Eigentümlichkeiten älterer Stufen des Deutschen gewahrt hat, die dem Hoch¬
deutschen abhanden gekommen sind, so dürfte sich Wohl schwerlich ein Dichter
finden, der mit besseren Erfolge den ritterlichen Sängern der Stauferzeit die
Hand reichen könnte, um unser verkommnes Sprachgefühl aus dem Sumpf
zu ziehen.
Er ist ja auch lange tot, der „Königsmörder," dem die Haft auf preu¬
ßischen Festungen Lebenskraft und Lebensglück untergraben hatte. Man braucht
also nicht zu fürchten, daß er sich der Ehre noch freuen könnte, ein Lehrer
des deutschen Volkes zu werden. Oder fürchtet man, die edle Menschlichkeit
des niedersächsischen Bauern möchte anstecken, der von den Disteln, mit denen
altprenßische Beamte ihn gequält hatten, Feigen pflückte zur Erquickung für
sein ganzes Volk? Mich dünkt, es ist doch besser, daß ein edler Dichter unsre
Jugend über die traurigste Zeit belehrt, die unser Vaterland durchgemacht hat,
als daß man sie mit einer Binde um die Augen ins Leben laufen läßt auf
die Gefahr hin, daß sie den finstern Mächten zutreibe, die das Fundament
des Reiches unterwühlen. Freilich, wenn es nach den Herzen der Regierungen
ginge, so würde noch einmal versucht, mit einer für die Bedürfnisse des Hurra¬
patriotismus zurechtgestutzten deutscheu Geschichte die Vaterlandslvsigleit der
Sozialdemokrntie zu bekämpfen. Viel Glück auf den Weg, aber womit be¬
kämpfen wir die Vaterlandslosigkeit der Börse? Nun, mit Titeln und Orden.
ir glauben all an einen Gott — so tönte der Gcmeindegesang
mit Orgelbegleitung ans der Kirche im Grünen hinter unserm
neu eingerichteten Hause herüber, und zu unsrer Verwundrung
in deutscher Sprache! Es mußte eine schöne, große Orgel sei».
Wie das Vorspiel vorüber war und der Choral begann, da
tauchten alte, halbvergesseue Kindheitserimierungeu in mir auf, und es fiel mir
ein, daß wir in dem Getreibe hier Ostern, Himmelfahrt und Pfingsten ganz
vergessen hatten, denn wer dachte hier an Festtagskucheubackcn, und Freund
Karl, der neben mir in blendend weißer Sonntags Weste in seine Zeitungen
vertieft auf der Veranda saß, mußte mir helfen, daß wir uns besannen, welcher
Sonn- oder Festtag im Jahr heute eigentlich war.
Es wurde uns schwer. So viel war gewiß, dieser schöne Morgen mit
dem herrlichen Duft der blühenden Pfirsichbäume, dem Zwitschern der Vögel
und dem Rauschen des jungen Laubes war ein Jubeltag der Frühlingsaus¬
erstehung, wie er mit jedem Maisonntag als Nachfeier des Oster- und Früh¬
lingsfestes in allen fühlenden Herzen Nachklang findet, auch wenn sie nicht
die Perikopen auswendig wissen. Inwendig wußten wir sie. Unser Sonn¬
tagsevangelium hier, hieß heute wie das aller jubelnden Kreatur um uns
her: „Hiram zum Licht!"
Auch die Nachbarn saßen wie wir auf der Veranda vor ihrem Hause,
das durch einen Laubgang von unserm Grundstück geschieden war. und die
in leichtem Morgenkleid im Schaukelstuhl sich wiegende Mutter, die dann und
wann dem Papagei ein Kosewort zurief, schien einen harten Stand zu haben
gegenüber ihrem Manne, der den beiden entants tsrriblvs, zwei Jungen von
sieben und zehn Jahren, den Kopf zurecht setzte.
Er war Bahnmeister auf einer nahen Eisenbahnstation und kam nur alle
Sonntage nach Hause, um seine Familie zu sehen. Wahrend er in Hemd¬
ärmeln auf einem Streckstuhle liegend die Schärfe seines Federmessers an der
Säule des Vordaches probirte und dem ältern der beiden lebhaften Jungen
gute Lehren erteilte, stritten sich diese um einen halben Dollarschein, den sie
sich durch Zeitungenaustragen verdient hatten; der ältere beanspruchte ihn
für sich allein als Taschengeld, obwohl ihm der kleinere bei der Arbeit be¬
hilflich gewesen war.
Ich sehe nicht ein, was du dagegen hast, wenn die Jungen frühzeitig
solche kleine Nebenverdienste machen lernen, sagte die Mutter. Je früher sie
selbständig Geld verdienen, um so besser.
Ach, sie sollen erst was ordentliches lernen, murrte der Mann.
Wozu hast dn uns denn aber das schöne Buch Kuiciv to Luc-coss, den
„Katechismus des Erfolgs" gekauft? warf der ältere der beiden Jungen ein.
Darin steht doch deutlich: Hilf dir selbst, so hilft dir Gott; wer sich nicht
selbst hilft, dem hilft Gott nimmer!
Der (lniäö to Lueosss hat Recht, triumphirte die Mutter: kein Erfolg
ohne Geld, was ist Wissen ohne Geld? Geld, Geld, Geld! wiederholte der
Papagei, sodaß die Spottdrossel ans unserm Grundstück ärgerlich dazwischen
Pfiff, und auf der Straße flog ein Sperling aus einer zankenden Schar mit
einem Bissen im Schnabel, um den sie sich alle gestritten hatten, siegreich davon,
und die andern mit wildem Gezwitscher ihm nach.
Dann wurde es wieder still, und wir musterten die wenigen Vorüber¬
gehenden auf der frischgesprengten, hvlzgepflasterten Straße, die heute sonn¬
täglich still war. Nur einige Kirchgünger mit Gesangbüchern unterm Arm, meist
dem Handwerkerstande angehörig, kamen im schwarzen Sonntagsanzug vorbei.
Nun, wohin denn so eilig mit dem großen Gesangbuch, Meister Vögelein?
rief Karl unserm Klempuermeister zu, der auch nach der nahen Kirche eilte.
Meister Vögelein hatte bei unserm Einzug die Hauptarbeit, die Ver¬
bindung des Ofens und Kochkessels mit der Wasserleitung besorgt und hatte
uns dabei mancherlei erzählt, was uns einen Einblick in die Erhabenheit seiner
Welt- und Lebensanschauung gewährte.
Abschiedspredigt von Pastor Fischer! schmunzelte er im Vorbeigehen.
Das werden Sie ungläubiger Thomas uns doch nicht weiß machen, daß
Sie deswegen hingehen!
Nun, wenn Sie es gern wissen wollen, fügte er hinzu, Nur müsse» eine
Gemeindeversammlung berufen, heute oder nie. Es ist wegen der Hypothek
aufs Kirchengrundstück! Damit verschwand er um die Ecke, wo diesmal be¬
sonders viel männliche Kirchgünger einbogen; handelte es sich doch um die
Hauptsache bei der ganzen Kirchenaugelegenheit — ums liebe Geld!
Die Gemeinde war vor Jahr und Tag dem Pastor bei der Erwerbung
des Kirchengrundstücks opferwillig behilflich gewesen. Alle hatten gezeichnet,
Meiste Vögelein mit das meiste. Nun, wo sich Pastor Fischer zurückzog,
um seinen Beruf aufzugeben und einen andern zu ergreifen, wollten sie sich
^es sichern. Wir konnten dein tüchtigen, fleißigen Klempnermeister nur den
besten Erfolg wünschen.
Denn wie prächtig stand jetzt durch seine Hilfe der stattliche Kochherd da
aus Eisen, Nickel und Kupfer mit Achat- und Ouyxeinlagen und strahlendem
Kessel mit Selbstregulirung. Da war für alles gesorgt, für Röstgabeln, ver¬
nickelte Zangen, selbst für eine Vorrichtung, bei der sich durch einen Tritt
mit dein Fuße die Bratofenthür öffnete und der Braten sich selbst heraus¬
schob, was sehr zweckmäßig war, wenn die Frau am Herde gerade die Hände
voll hatte. Vom Kochherde strömte heißes Wasser in die Leitungsröhren des
obern Stockwerks in das Wahns- und Badezimmer. Kurz, dieses Prachtstück
war der Stolz des Hauses.
Die Zeit bis zum Einzug ins neue Haus war mühselig genug gewesen.
Wie viele Fahrstuhlreisen auf und ab durch die Möbelgeschäfte und Teppich-
fabriken, und wie viele Bahnfahrten durch die Geschäftsstraßen hatten dazu
gehört, um hier, wo es immer heißt: Hilf dir selbst! zum Ziele zu kommen.
Wie dann alles fertig war. die Vorhänge aufgesteckt, die Teppiche gelegt, die
Möbel gestellt, saßen wir anfangs in den ersten kühlen Apriltagen, wie es die
Aankees machen, meist hinten in der Küche, staunten Meister Vögeleins Werk
an und wunderten uns über uns selbst, daß wir, des klugen Meisters.Rat
befolgend, uns so schnell daran gewöhnt hatten, auch ohne Bedienung fertig
zu werden, selber die Milchkanne, die neue Zeitung und den Gemüsckorb vom
Vorplatz hereinzuholen. Ja man gewöhnte sich sogar daran, selber die Kohlen
aus dein Keller zu holen und Feuer anzumachen. Es war das besser als
der stete Ärger mit den dummen und bigotten irländischen Mädchen, die.
wenn es ihnen beliebte, nach drei Tagen mit Marktgeld und Marktkorb aus¬
gingen und nicht wiederkamen, oder mit den impertinenten Negerinnen, die
verlangten, Punkt sechs Uhr müsse der Herr zum Essen zu Hause sein, oder
er könne auswärts essen. Es war alles so härtlich eingerichtet, daß die
Sache leichter ging, als wir anfangs gedacht hatten. Freilich einen freien
Augenblick hatten wir selten. Nur am Sonntag, wo man zur Schonung der
Hausfrau irgendwo im Hotel zu Mittag zu essen Pflegte, konnte man ein paar
Vormittagsstunden dem süßen Nichtsthun widmen. Und dieses Nichtsthun
ließen wir uns um dem herrlichen Sommersonntag auf der Veranda wohl¬
schmecken nach so manchen mühevollen, geschäftigen Wochen.
Die Straße war heute ganz still. Kein rasselnder Geschäftswagen, kein
Ausrufer störte die Sonntagsruhe. Nur dann und wann unterbrachen die
auf den hohlliegenden Holzwegen polternden Schritte der Kirchengänger die
Stille. Dort in jene Brctterkirche strömten braune Mulattinnen, in Violett
und Himmelblau, die Komplementärfarben ihrer Hautfarbe, gekleidet. Manche
trugen einen violetten Rock, ein grünes Mieder und einen himmelblauen Hut,
womöglich mit einer knallroten Feder drauf. Oder es zog eine Familie mit
Sack und Pack und Kinderwagen zum Picknickplatz oder zum Oamx-Nesting'
Humus. Waren es Neger, so sah man das Familienoberhaupt im Gegensatz
zu den bunten, kraushaarigen Töchtern von oben bis unten in Schwarz ge¬
kleidet; der Cylinder darf bei dem Sonntagsstaat des Negers nicht fehlen.
Dann wurde es wieder still.
Als endlich unsere Bridget im Sonntagsstaat zur Thür heraustrat, um,
wie jeden Sonntag, so auch den heuügen auf dem Dorfe bei den Ihrigen zu¬
zubringen, ging es auf die Einladung unsrer Frauen hinauf zum Frühstück,
wo frische Milch und Gartenerdbeeren den Anfang bildeten. Dann folgten
Setzeier mit gebratnen Schinkeuscheiben, dann Kaffee und geröstete Brod¬
schnitten. Dies bildet in jeder leidlichen Haushaltung das Frühstück.
Die Lebensmittel sind, wenn man auf besondre Delikatessen verzichtet,
billiger und besser als in Deutschland. Die Materialhandlungcn, wo auch
Gemüse und Marktwaren feilgeboten werden, unterbieten einander gegenseitig,
wo sie nur können, und wo sich ein neuer Geltung und Kunden verschaffen
will, verteilt er umsonst in den Häusern neue Artikel. So fand man die eine
Woche eine neue Sorte Puddingmehl, die andre einen Sack Ora.<zKsr oder eine
Büchse .Hafermehl vor der Hausthür, und kaufte man nur vierzehn Tage regel¬
mäßig in demselben Laden, so bekam man sicher zur Belohnung für seine treue
Kundschaft einen vernickelten Zuckerlöffel, eine Zuckerdose, einen Tortenlöffel
oder dergleichen zum Geschenk.
Nach dem Frühstück ging es wieder hinunter, denn vor dem Hause hielt
der Eiswagen, und man sah darauf, daß ein recht handfester Würfel in die
Eiskiste abgeliefert wurde, denn die Tage versprachen heiß zu werden. Bald
zeigte sich auch der sehnlichst erwartete Wasserwagen, der Krystallwasser aus
den „Vethesdciauellen," für 10 Cents (----40 Pfennige) etwa einen Eimer voll,
ins Haus besorgte. Denn das Leitungswasser schmeckte im Sommer oft
nicht gut.
Dann konnte man seine Sonntagsfeier vor der Thür im Freien fortsetzen,
wo eben eine der deutscheu Schauspielerinnen so glücklich war, uns für den
Abend ein Billet zu ihrer Benefizvorstellung anbieten zu können. Sie hatte
viel durchmachen müssen, die Ärmste. Sie hatte früher bessere Zeiten gesehen
und schmachtete darnach, sich mit ihrem bischen guten Deutschtum aus dem
gepriesenen Westen herauszuretten nach den größern Städten des Ostens, wo
der Deutsche mehr galt. In aller Erinnerung war auch noch das Elend einer
Schauspielerfamilie, für die gerade unter den Deutschen gesammelt wurde:
kranke, sterbende Kinder, nichts zu essen, nichts anzuziehen. Das Ende war
nicht abzusehen, die Heldenmutter ging nach der einen Stadt, der Vater,
Komiker, nach der andern, die Kinder mußten einstweilen an ein paar deutsche
Familien verteilt und dann nachgeschickt werden. Die Soubrette, die uns eben
ihre Venefizbillets anbot, hatte, weil ihr der ewig durstige Direktor niemals
^age gezahlt hatte, um sich die Weiterreise zu ermöglichen, ein Konzert ver¬
anstaltet, das wegen Regenwetter nicht besucht war. Um die Unkosten zu be-
streiten, hatte sie die letzten Reste ihrer Garderobe verkauft, und um das Maß
ihrer Leiden voll zu machen, war sie bei einem ihrer Bittgänge ausgeglitten,
hatte ein Bein gebrochen und konnte nun nur noch Mütterrollen übernehmen.
Heute Abend nahm sie mit schwerem Herzen Abschied von ihrem Fach als
jugendliche Liebhaberin und spielte die Luise in Kabale und Liebe. Hinkend,
wegen ihres schlecht geheilten Fußes, empfahl sie sich dankend, daß wir ihr
ein paar Billets abnahmen. Sie war übrigens aus einem wohlbekannten alt-
adlichen Berliner Hause.
Inzwischen hatte der kleinere der beiden Jungen nebenan nach langem Streit
endlich den Fünfzigcentschein halb durchgerissen, hatte vom Vater eine Ohrfeige
dafür bekommen und wälzte sich nun laut heulend im Grase, während der
Vater ärgerlich den Platz verließ und auf die Straße hinausging.
Was schreist du denn so mörderisch? fragte die Mutter, indem sie aus
dem Hause herzueilte.
Ach, der Mann hat mich gehauen!
Wer?
Nun, der Mann, der alle Sonntage zu uns ins Haus kommt. — Er
meinte seinen Vater!
Von dem ältern der beiden Jungen erzählte man sich, daß seinetwegen
ein Lehrer, der ihn geschlagen hatte, gerichtlich belangt worden sei, nicht
wegen härterer Züchtigung — er hatte ihm nur ein Klaps versetzt —, sondern
weil er sich an einem freien Bürger der Vereinigten Staaten vergriffen hatte.
Als ihn sein Vater eines Tages darüber belehrt hatte, wozu die Polizisten
dawären, nämlich daß sie Unruhen zu schlichten hätten, war der Junge bei
der nächsten Rüge, die er vom Vater bekommen hatte, nach der Straßenecke
zu dem Polizisten gelaufen, der sich dort aufhielt, und hatte ihn ersucht, seinen
Alten zu arretiren, da er Unruhe gestiftet habe!
Inzwischen hatten die auf der Fahrstraße zwitschernden Sperlinge dein
Flüchtling seiue Beute wieder abgejagt — es war eine Heuschrecke — und
gingen nun ans Zerpflücken und Zerteilen des fetten Bissens, der gerade genug
für einen gewesen wäre, bis sich wieder ein neuer Streit entspann gegen den,
der von all den kleinen Teilchen das größte erhascht hatte. Über uns aber
schmetterte eine Lerche, ohne sich von dem Gezänk der Spatzen beirren zu lassen,
ihr frohes Lied in den blauen Himmel hinein.
Während ich darüber grübelte, welchen Parteien wohl Papagei, Spott¬
drossel und Lerche entsprechen würden, wenn die Spatzen die Sozialdemokratie
wären, kamen nach beendigtem Gottesdienst aus der deutschen Kirche die
Gläubigen, die diesmal zugleich als Gläubiger hingeeilt waren, mit er¬
hitzten Köpfen, lebhaft gestikulirend, voran unser guter Meister Vögelein.
Auf unsre Frage, wie die Sache abgelaufen sei, erwiderte er hastig: Er will
sich auf nichts einlassen. Aber wir wollen ihn schon kriegen. Noch heute
Nachmittag muß Gemeindeversammlung gehalten werden. Wir machen das
nötige gleich in der Turnhalle ab.
Die Turnhalle ist nämlich das Vereinslokal der Deutschen, worin die
meisten Klubs ihre Festlichkeiten veranstalten. Es ist ein stattliches Rotstein¬
haus in der zwölften Straße, von dem Architekten von Unwerth, einem Deutschen,
erbaut, mit Versammlungssälen, Bühne, Kouzertgarten und allem modernen
Zubehör. Im Erdgeschoß liegt eine riesige Kneipe mit angrenzenden Klub¬
zimmern. Dorthin begeben sich meist Sonntags vormittags die deutschen
Turm-, Sanges-, Kegel-, Landwehr- und Schichenbrüder zum Frühschoppen
und zur Vorberatung über etwaige bevorstehende Versammlungen. Auch Freund
Karl ging als „Reporter" um diese Zeit gern dorthin, weil das die beste
Neuigkeitsbörse für die Deutschen von Kansas City war.
Unter größter Aufregung der Beteiligten und zu uicht geringem Gaudium
der Unbeteiligten erfuhr man nun dort, daß Pastor Fischer, der nach glän¬
zendem Geschäftsabschluß sein Amt niederlegte, um sich demnächst als Arzt
aufzuthun, dabei beharrte, daß er denen, die für das Kircheugrundstück ge¬
zeichnet und milde Beiträge gegeben hatten, ihren Anteil wieder nach und nach
zurückzahlen wollte. Er selbst betrachtete sich bei dem Geschüft als den alleinigen
Unternehmer und Gewinner. Der Grund und Boden war in den letzten
Jahren sehr gestiegen, und da kein formell beglaubigter und bindender Kontrakt
vorlag, wollte er sich auf keine Nachgiebigkeit hinsichtlich eines Gewinnanteils
seiner Schäflein einlassen. Sie wollten wenigstens eine Hypothek auf das
Grundstück haben. Er wies aber alles zurück. Nun sollte er nach Schluß
des Nachmittagsgottesdienstes in einer Gemeindeversammlung zur Gewährung
einer Hypothek genötigt werden. Alles war gespannt auf den Ausgang. Am
meisten der gute Vögelein, denn der beträchtliche Teil, den er beigesteuert
hatte, mußte sich bei der Verzehufachung des Bodenwertes heute in die Tau¬
sende belaufen.
So herrschte denn heute besonders reges Leben in der Turnhalle, und die
arme Schauspielerin, die von den am Schenktisch stehenden Gruppen zu deu
Biertische» ging, machte mit ihren Benefizbillets ganz leidliche Geschäfte. Das
zeigte wenigstens ihre freudestrahlendes Gesicht, womit sie dem Komiker hinten
am Tisch ihre Börse wies. Er aber that, ihrer Aufforderung folgend, einen
Griff hinein und versprach heute Abend ein neues Kouplet ihr zu Ehren zum
besten zu geben, aber dazu müsse er sich stärken, und so bestellte er denn von
dem kleinen Geldgeschenk für beide Bier.
Wovon soll denn das Kouplet handeln? fragte lächelnd die Künstlerin.
Als ob da noch zu fragen wäre! Von uns Deutschen, von unserm Elend,
von dem Judentum, zu dem wir verdammt sind.
Die beiden konnten wirklich ein Lied davon singen. Überall, wo es etwas
zu veranstalten gab von Aufführungen, Konzerten, Festlichkeiten aller Art, hatten
sie sich ausnutzen lassen, und dann waren sie wie die ausgepreßte Citrone bei
der Festbowle beiseite geworfen worden. Es war ihnen nicht besser gegangen
als einem großen Teil 'des Deutschtums im Westen: im Vaterlande sind sie
vergessen, vom Auslande zu allen Verrichtungen ausgenutzt und dann — weg¬
geworfen worden. Das ist das Los der Deutschen im Westen der neuen Welt,
da, wo das Deutschtum noch nicht zur geistigen Herrschaft gelangt ist. Das
wollte der Komiker heute besingen.
Ach, lassen Sie das lieber heute Abend, mahnte die Schauspielerin, da sie
um die Wirkung ihrer Luise besorgt war.
Später haben wir aber doch keine Gelegenheit mehr dazu, dem Volke hier
einmal ordentlich die Wahrheit zu sagen. Schon wegen der abscheulichen
Kirchenhhpvthekgeschichte muß heute was kommen.
Die Geschichte bildete wirklich heute den Hauptgegeustano des Gesprächs,
überall wo man ein paar Deutsche beisammen sah.
Zu Mittag ging es zu dem Böhmen Woschlyck, der ein pompöses Restau¬
rant mit Negerbedienung hatte. Alles war nach dein neuesten und gro߬
artigsten Zuschnitt. Elektrische Beleuchtung, ja selbst elektrische Bedienung:
von Elektrizität getriebne Fächer verbreiteten Kühlung und verscheuchten die
Fliegen. Der Wirt zeigte uns stolz die neue» Kelleraulageu, wo er eine
Kemenate für deutsche Männer geschaffen hatte, wie ich sie noch nie gesehen:
die wie Felswände hergerichteten Mauern hatten einen metallglünzenden Überzug,
worin sich das Licht der elektrischen Glühlichtkelche wie in glasirtem Tropf¬
stein spiegelte und zugleich vervielfältigte. Große runde Steintische mit soliden
Eichenplatten luden in traulichen Plauderecken zum Schoppen ein. Ich zweifelte
nur, ob es in dieser unruhigen Geschäftsstadt Recken genug geben würde, die
Zeit dazu hätten, hier nach alter Zecher Weise den Humpen zu schwingen,
denn das Publikum, das hier verkehrte, sah mir nicht darnach aus. Alles
gemahnte doch eher an den ungemütlichen Zukunftsstaat, als an die alte, ur¬
gemütliche deutsche Zecherherrlichkeit.
Und doch ist dieser Ritterkeller heute schon durch eine Champagnerwette
eingeweiht worden, hier an diesem Tische, erzählte der Wirt, ich habe mich
sogar verleiten lassen, mit zu wetten.
Natürlich handelte sichs um die große Neuigkeit von der schlauen Ver¬
wendung der christlichen Opferwilligkeit zur Grundeigentumsspekulatiou. Der
Gedanke ist so neu und unsrer Dollarjagd so angemessen, sagte der Wirt,
daß er alles Lob verdiente, wenn die Sache nicht so gemein wäre, und es ist
darauf gewettet worden, daß Pastor Fischer damit durchkomme.
Ob er sich aber damit für seine spätere Laufbahn als Arzt viel Freunde
machen wird, das ist die Frage, warf ich ein.
Damit hat er ja gerade bei diesem Publikum den Vogel abgeschossen!
Wenn solch ein Streich gelingt, so bejubelt alles hinterher nur die Pfiffigkeit,
die 8MÄi'w<zö8, alles ist ausgesöhnt und sieht in ihm Den großen siuÄrwmn,
den Meister der Situation! Wenn Sie noch einige Zeit hier bleiben, so werden
Sie es erleben, daß ich Recht habe.
Dann thäte mir Doktor Brand leid, sagte ich halb ungläubig, als wir
hinauf in deu Eßsaal gingen und ich mich zu deu Meinen an den Tisch setzte.
Der gefällige Wirt, dessen Leitung wir uns auf Karls Rat in der Aus¬
wahl der Speisen ganz überließen, befahl dem Neger gerade eine Wieder¬
holung der beliebten Hummermayonnaise mit Spargel an unserm Tische er¬
scheinen zu lassen, als wir aus dem Nebengemach laute Stimmen einiger
Deutschen vernahmen, die im Begriff waren, ihre Tafel aufzuheben; man hörte
Stühle rücken und Gläser klirren und unter anderm die Worte: Haben und
Können ist heute Trumpf. Wissen und Kennen ist Ballast. Ich schätze den
Menschen nur nach seinen: reellen Werte. Geld p1u8 Geist ist für mich der
Bruttowert. Geld ist netto. Geist allein ohne Geld ist Tara. Pastor
Fischer soll leben, er übertrumpft noch alle! Ich gewinne nun doch die Kiste
Champagner! Pastor Fischer hoch! Die Gläser klangen lant an einander, und
etwas schweren Schrittes bewegten sich die Herren nach dem Ausgange, wo
ein eleganter Wagen mit ein paar leichten, nett angeschirrten Zuckern die
Sportsleute erwartete.
Das war der reiche Tiedemann, aus dem großen Droguengcschäft, der
die Wette gemacht hat, sagte der Wirt, als wir den Abfahrenden nachsähen.
Und trotz alles Luxus können sie sich doch nicht die Vornehmheit geben,
die allein der Geist verleiht, lispelte mir meine Frau über deu Tisch zu, indem
sie den selbst im Wagen noch schwankenden Herren mit mitleidigen Blicken
nachsah, und ich mußte ihr beistimmen.
Der Mittagstisch war zu Ende, und wir überlegten: was thun am Sonn¬
tagnachmittag? Gewöhnlich ging eS im Sommer hinaus nach einem der öffent¬
lichen Parks, großartigen Vcrgnügungsanlagen mit Wäldern, Felspartien und
künstlichen Seen, ans denen kleine Dampfer kreuzten. Dn gab es Konzert, und
dazu trank man Limonade. Ls-orsä NuÄo besagten die bedruckten Programme,
denn nur solche war Sonntags erlaubt, mich deu Begriffen der Nordameri¬
kaner von Wohlanstündigkeit. Nur gut, daß man ihnen vormachen konnte,
Strauß und Offenbnch seien ebenso gut wie Bach und Händel Komponisten
Kor NusivÄ sa<M. Oder man besuchte in dem im Blütenschmuck prangenden
Westport Freund von Unwerth, den deutschen Architekten, der eine lieblich
am Waldessaume gelegne Villa bewohnte, und trank dort oder schrägüber
beim pfälzischen Weinbauer Eßlinger im Weingarten seine Bowle Maitrank.
Hinaus mußte man. Hitze, Heuschrecken und Moskitos trieben an den
Nachmittagen und Abenden die meisten von Hanse fort, so lieblich auch der
Platz auf der Veranda in der Morgenfrische war. War man aus irgend einem
Grunde genötigt, den Rest des Tages zu Hause zu bleiben, so mußte man
wenigstens die von den sonnendurchglühten Wänden ausstrahlende Hitze aller
halben Stunden mit einer großen Schlauchspritze abkühlen. Dazu machten die
Heuschrecken ihr Konzert. Die Frauen gingen dann Wohl einmal hinüber zur
Apotheke an der Straßenecke, wo sie sich süßen Kaugummi oder Cigaretten
oder ein Glas Sodaeream geben ließen, und die Herren holten sich von der
andern Straßenecke ein Blcchgeschirr voll Bier, das sie dann vor der Thür
im Freien tranken, zum Ärger der Temperenzler rechts und links, die es in
verdeckten Körben holten und vorsichtig hinter der Hausthür tranken. Am
besten that' man, wenn man ein paar Nachmittags- oder Abendstunden in dem
luftigen Kabelbahnwagen oder im Garten der Turnhalle verbrachte, wie es
heute, nach einem kleinen Ausflug ins Freie, auch wieder geschah.
Das Schauspiel war eben zu Ende, als wir in den Turnhallengarten
traten. Alles wiederholte summend den Endreim des Kvuplcts, das mit
stürmischem Beifall aufgenommen worden war, denn der Komiker hatte sich
erdreistet, das ganze Sklavenelend des Deutschtums im „freien Westen" zu
geißeln. Wie sich der Deutsche von allen ausnutzen läßt, um sich dann
schließlich doch beiseite schieben zu lassen, das schilderte Vers für Vers mit
dem Schlußreim:
Da hörten wir vom andern Tische her die Stimme Meister Vögeleins, der
zum so und sovielten male aufgefordert worden war, die ärgerliche Kirchen¬
geschichte zum Besten zu geben.
Zum wieviel hundertsten male soll ich euch deun das erzählen? schrie
der erhitzte kleine Mann, indem er sich den Schweiß von der Stirn wischte
und vorbeizukommen suchte; als Pastor Fischer sah, daß wir uns von ihm
nicht so abspeisen ließen, sprach er von „Schluß der Versammlung," gab uns
seineu Segen und sagte: „Der Herr segne auch und behüte euch und gebe euch
seineu Frieden. Amen. Aber die Hypothek kriegt ihr nicht!" Und damit
nahm er seinen Doktorstab und ging zum Tempel hinaus.
Schallendes Gelächter übertönte die Nusioa saorir.
Also zur Wechselbank ist hier die Kirche geworden, dachte ich, und der
Choral aus dem Morgengottesdienste fiel mir wieder ein: Wir glaube» all
an einen Gott.
Der Gott heißt — der Dollar.
In Ur. 27V der Neuen Preußischen
(Kreuz-)Zeitung (12. Juni 1893) ist in einem Artikel unter der Überschrift: „Die
Reform des Jrrcnwesens" u, c>. dem Vorschlage zugestimmt worden, die Beur-
teilung pathologischer Seelenzustände dann, wenn sie nicht mit anatomischen Ver¬
änderungen im Nervensystem verbunden siud, den Händen der Ärzte zu entwinden
und erfahrenen, dein Stande des zu Begutachtenden nahestehenden Laien, allenfalls
noch den „Psychologen" anzuvertrauen. Der Verfasser erklärt, die einzige Psycho-
pathologische Form, die die Medizin genau beschrieben habe, sei die Paralyse, und
meint, den Irrenärzten erscheine schließlich jeder verrückt, der nicht die subjektiven
Empfindungen, Vorstellungen und Neigungen des gerade begutachtenden Irrenarztes
teile und z. B. seiner politischen Richtung angehöre.
Der ganze Artikel ist geeignet, das Bertranen, dessen die Irrenärzte bei ihrem
so schwierigen und verantwortungsvollen Beruf bei den Behörden, den Gerichten
und besonders den Angehörigen ihrer Pflegebefohlenen dringend bedürfen, zu unter¬
graben. Es empfiehlt sich daher, dem Verfasser, der mit der Methode irren¬
ärztlicher Untersuchung jedenfalls nur ungenügend bekannt ist, einige Worte zu
entgegnen.
Die Jrrenheillnnde ist allerdings noch eine junge Wissenschaft. Sie hat in
engherzigen Zeiten, wo die unglücklichsten aller Kranken wie gemeine Verbrecher
in die Gefängnisse eingesperrt oder als vom Teufel besessene, für ihre Übelthaten
heimgesuchte Sünder verachtet wurden, nur langsam heranreifen können. Wie jede
andre naturwissenschaftliche Disziplin, hat sie also noch ein reiches Forschungsgebiet
vor sich, namentlich muß sie die den Geisteskrankheiten zu Grnnde liegenden Ver¬
änderungen im Nervensystem, im Blute, in den blutbereitenden Drüsen u. s. w. auf¬
decken, wobei wegen der großen Schwierigkeiten in der Technik nur ein langsames
Fortschreiten erwartet werden kann. Auch von einer Nervenchcmie der Zukunft
sind wichtige Aufschlüsse zu hoffen. Dennoch hat die Psychiatrie doch schon über
ein recht umfangreiches Wissen zu verfügen. Sie hat namentlich eine aus huudert-
tansendfältiger Erfahrung gesammelte, sehr fein durchgearbeitete Symptomenlehre.
Mit diesem, zum Teil auch auf experimentellem Wege gesichteten Schatz ausge¬
hustet, geht der Jrrenarzt zuerst cmalysirend an jeden einzelnen Fall heran. Er
ergründet den Vewnßtseinszustnnd, die Stimmnngslage, prüft das Auffassungs¬
vermögen, den Vorstellungsablauf, das Gedächtnis. Er forscht nach Wahnideen
und Sinnestäuschungen, untersucht, in welchen Sinnessphären die Täuschungen
^egen, welchen Inhalt sie haben, stellt den Charakter und die Beständigkeit der
Wcchnideen fest. Er sucht die Art des Beginns der Krankheit und ihre etwaigen
Ursachen zu erfahren, er erkundigt sich, welche auffallenden Handlungen der zu
Untersuchende ausgeführt hat, und verschafft sich eine möglichst eingehende Kenntnis
von seinem frühern Geistes- und Gemütsleben, von seinem Verhalten in Konflikten,
^.on ^ früher durchgemachten körperlichen oder seelischen Erkrankungen. Bon Wich¬
tigkeit ist ihm etat)^ zu wissen, was für Seelenstörungen vielleicht in der Familie
vorgekommen sind. Gleichzeitig untersucht er aber auch den Schädel, die Gehirn-
uerveu, die Sinnesorgane, die Rückenmarksverhältnisse sowie viele andere torper-
"eben Organe und Funktionen.
Die Ergebnisse der Einzeluntersuchungen werden nun weiter verarbeitet, die
Hauptsachen werden vom Unwichtigen geschieden, die Einzelbefunde zusammengestellt.
Die Dauer dieser Verarbeitung hängt von der Deutlichkeit der Erscheinungen,
von der Gewandtheit und Erfahrung des Arztes ab. Nach und nach ergiebt sich,
wenn der zu Untersuchende wirklich krank ist, ein bestimmtes, klares Krankheitsbild.
Die Erfahrung hat nun gelehrt, daß eine gewisse Anzahl scharf von einander
gcschiedner Krankheitsbilder vorkommt, daß kein Fall vereinzelt dasteht, daß Er¬
krankungen gleich angelegter Menschen, die dieselben Shmptome in derselben Ver¬
knüpfung ausweisen, denselben Beginn, denselben Verlauf, denselben Ausgang
nehmen, also entweder sich zur Genesung wenden oder lange Zeit unverändert
bleiben oder zu sekundären Schwächezuständen führen und rötlich werden. Kurze
Seelenstörungen beginnen meist anders und machen andre Erscheinungen als
dauernde, heilbare andere als unheilbare; periodische Psychosen sind verschieden von
nichtperiodischen; ja bei gleichbeschaffnen Menschen machen dieselben Ursachen oft
bis ins kleinste dieselben Krankheitswirkungen geltend.
Es giebt also eine wissenschaftliche klinische Psychiatrie. Diese fußt auf sorg¬
fältiger Beobachtung feiner psychischer und körperlicher Unterschiede in den ver-
schiednen Kranlheitsbildcrn, ans der Kenntnis von der Gruppirung der Symptome,
auf der Lehre von den Ursachen und besonders vom Verlauf des Irreseins. Nur
fast photographisch ähnliche Fälle werden von Meistern wie Schule oder Kräpelin
aneinandergereiht und mit demselben Namen bezeichnet. Und doch ist die Zahl
der vorkommenden Krankheitsformen nicht übergroß. Eine bewundernswerte Über-
einstimmung, eine großartige Gesehmäßigkeit findet sich, wie in allen naturwissen¬
schaftlichen Fächern, auch hier. Die klinische Psychiatrie bildet ein natürliches
System, das schon jetzt für alle häufiger vorkommenden Seelenstörungen paßt, mögen
sie rin anatomisch greifbaren Erscheinungen verbunden sein oder nicht. Mit den
Einzelheiten dieses Systems vertraut, vermögen die Irrenärzte, ebenso gut wie
die Botaniker die Pflanzen und die Pflanzenfamilien, die verschiednen Geistes¬
kranken und Geisteskrankheiten zu erkennen. Wie der Botaniker schon aus einem
aufkeimenden Pflänzchen die Pflanze bestimmen kann, gelingt es dem Arzt zuweilen
schon im Beginn der Psychose, aus den Einzelerscheinungen die Krankheitsform
zu bestimmen und ihren Verlauf vorherzusagen. Meist bedarf es freilich längerer
Beobachtung.
Diese klinische Psychiatrie wird gegenwärtig fast auf allen deutschen Universi¬
täten vorgetragen. Es ist bedauerlich, daß die Studenten und Ärzte bei Ab¬
legung ihrer Staatsprüfungen noch nicht in genügender Weise davon Rechenschaft
ablegen müssen, daß sie sich auch in dieser für die Gesundheit, das Glück, deu
Wohlstand und die Sicherheit vieler Staatsbürger so wichtigen Wissenschaft aus¬
reichende Kenntnisse verschafft haben. Das ist aber wahrlich nicht die Schuld der
Irrenärzte; die kämpfen feit Jahr und Tag für die Einführung der Psychiatrie
in die medizinischen Staatsprüfungen, ihnen ist sehr wenig daran gelegen, daß die
Ergebnisse ihrer Arbeiten den gebildeten Laien und vielen Ärzten als dunkle Ge¬
heimwissenschaft erscheint. Natürlich giebt es in einem in lebhafter Weiterentwick¬
lung begriffnen Fach in Bezug auf Einzelheiten noch viele Streitfragen. In den
Hauptsachen aber besteht vollständige Übereinstimmung.
Unsre Auseinandersetzung hat den Zweck, zu zeigen, daß die Befürchtung des
Berichterstatters der Neuen Preußischen (Kreuz-) Zeitung, „jeder könne für ver¬
rückt erklärt werden, der nicht die subjektiven Empfindungen, Vorstellungen und
Neigungen des gerade begutachtende« Psychiaters teile und z. B. seiner politischen
Richtung angehöre" — abgesehen davon, daß sie eine Beleidigung ist —, auf voll-
ständiger Unkenntnis der Ergebnisse der irrenärztlichen Arbeit beruht. Der Bericht
ist geeignet, das Gefühl der Rechtsunsicherheit hervorzurufen. Dies Gefühl ist
ganz unbegründet. Es herrscht keine Willkür bei der Entscheidung der Frage, ob
jemand als des Vernunftgebranchs beraubt zu erachten sei oder nicht. Der Be¬
richterstatter der Kreuzzeitung bemängelt und bespöttelt, daß die Irrenärzte bis¬
weilen sehr ausführliche Gutachten abgeben. Er kaun versichert sein, daß das
wahrhaftig nicht zum Vergnügen geschieht, sondern nur deshalb, um dem die Ent¬
scheidung treffende» Juristen gewissenhaft zu berichten, auf welche Voraussetzungen
und Thatsachen das Gutachten gegründet ist. Es ist auch bekannt, daß viele Richter
das dankbar empfinden. Daß der Berichterstatter der Kreuzzeitung mit den Ver¬
hältnissen durchaus uicht vertraut ist, geht n. a. auch daraus hervor, daß er „die
Abhörung des angeblich Kranken" durch den Arzt „als uicht in den Bereich seiner
Aufgaben" gehörig tadelt. Wenn man das Untersnchnngsobjekt nicht prüfen darf,
so kann man seine Nnfgabe überhaupt nicht erfüllen. Jeder Unbefangne muß ein¬
sehn, daß bei der geschilderten Untersnchnngsmethode der eingehende persönliche
Verkehr mit dem Kranken die Hauptsache ist.
Der Berichterstatter meint, man solle den Versuch machen, erfahrne Laien
oder doch wenigstens Psychologen zur Begutachtung mit heranziehen. Dem ist zu
entgegnen, daß der beste Sachverständige ohne Zweifel derjenige theoretisch Ge¬
bildete ist, der in unmittelbarsten Verkehr mit Geisteskranken steht. Der Jrren¬
arzt versteht den Kranken, er weiß mit ihm umzugehn, er behandelt ihn in allen
Zuständen seines Leidens; da wird er wohl mich am besten wissen, ob er über¬
haupt krank ist, und ums ihm fehlt.
Weiter auf den Aufsatz der Kreuzzeitung einzugehn, ist nicht nötig. Nur das
soll noch bemerkt werden, daß in Fachkreisen von dem angeblichen „nachspüren" nach
einer neuen Krankheit, dem „Erfindermahnsinn." nichts bekannt ist; wahrscheinlich
but sich der Berichterstatter durch eiuen Aprilscherz irreleiten lassen. Die Lehre
von den Monomanien ist längst aufgegeben. Auf ein Symptom hin wird nie¬
mand für geisteskrank erklärt. Das Gutachten, das der Sachverständige vor Ge¬
richt im Entmündignngsverfahren oder bei der Frage der Zurechnungsfähigkeit zu
erstatten hat, hat ausschließlich festzustellen, ob der betreffende Fall genau in eines
der klinisch bekannten Krankheitsbilder gehört oder nicht. Nur im erstern Falle
sind für den Richter die Voraussetzungen der Zivilprozeßordnung und des Reichs-
strafgesetzbnchs gegeben.
Der Zufall fügt es, daß unmittelbar ans den
Aufsatz im 28. Hefte dieser Blätter: „Was wird aus dem Griechischen?", worin
lebhaft dafür gesprochen wird, um unsern Gymnasien in Zuk'unse die griechischen
Schriftsteller in guten deutschen Übersetzungen zu lesen, eine Reihe von Aufsätzen
folgt, in deuen uus eine große Anzahl von Proben ans den „besten" deutschen Über¬
setzungen der griechischen Tragiker vorgeführt wird. Den meisten Lesern wird es
onbei gegangen sein wie uns: sie werden überrascht gewesen sein von der Unvoll-
tmuinenheit dieser Übersetzuiigsprobe». Aus unsrer Gymnasiastenzeit schleppen wir
ane das Märchen mit uns herum von den „wahrhaft klassischen" Übersetzungen
^er griechischen Tragiker, die wir Donner und Droysen verdanken. Niemand von
w"V > der Zwischenzeit einen Blick in diese Übersetzungen gethan. Nun
""^ wieder einmal vor Augen geführt, und wir trauen unsern
^"gen kaum: das sind Stellen ans den berühmten Donnerschen und Droysenschen
Übersetzungen? diese hölzernen klapprigen Zeilen, in denen der Ausdruck bald
künstlich brcitgezogen ist, damit er nur die Zeile fülle, bald künstlich zusammen¬
gepreßt, damit er sie nicht überschreite, in denen es wimmelt von seltsamen, künstlich
gemachten, undeutschen Wörtern, in denen, um den Rhythmus herauszubringen, die
Worte oft so unnatürlich als möglich gestellt sind, in denen sich nur selten der Ge¬
danke mit der Verszeile anmutig deckt, sondern immer eins in dus andre störend über¬
greift, die sind unsern „besten," unsern „klassischen" Übersetzungen entnommen? Es ist.
ja eine förmliche Arbeit, hinter den Sinn zu kommen! Man muß sich ja die Über¬
setzungen geradezu noch einmal übersetzen, nämlich in schlichtes, einfaches, natür¬
liches Deutsch, damit mens versteht! In unsrer Schülerzeit, wo wir diese Über¬
setzungen als Eselsbrücken benutzten, wo wir den griechischen Text daneben liegen
hatten, ja, da erschienen sie uns als musterhafte und meisterhafte Leistungen; er¬
leichterten sie uns doch in hohem Grade das Verständnis des Originals, an dessen
Wortlaut sie sich möglichst anpaßten. Aber welche Enttäuschung heute, wo sie
uns — in reifern Jahren und bei reiferen Urteil — einmal das Original er¬
setzen sollen!
Es ist gar uicht darau zu denken, daß diese (oder irgend welche andern) Über-
setzungen jemals statt der Originale in den Unterricht eingeführt werden könnten.
Auch der geistvollste und geschickteste Lehrer würde sich vergeblich mühen, wenn er
mit Hilfe solcher Übersetzungen die Jngend fiir die griechischen Tragiker begeistern
sollte, wahrend auch der geistloseste und ungeschickteste die Schönheit der Originale
nicht ganz verderben kann. Ein geweckter Junge mit lebhaftem Sprachgefühl würde
diesen Übersetzungen gegenüber gar uicht begreifen, wofür er sich hier eigentlich be¬
geistern soll.
Die Aufsätze über die ätherische Volksmoral haben uus in unsrer Überzeu¬
gung aufs neue bestärkt, wenn sie überhaupt jemals gewankt hat, daß die grie¬
chische Litteratur (es verhält sich mit der Prosa genau so wie mit der Poesie) an
unsern Gymnasien anch in Zukunft entweder griechisch gelesen werden wird, oder
sie wird gar nicht mehr gelesen werden. Auch die beste Übersetzung ist immer und
überall ein Notbehelf, ein Surrogat. Surrogate aber gehöre» uicht in den Unterricht.
Im Verlage von Fr. Ernst Fehsenfeld (Freiburg
im Breisgau) ist soeben erschienen: Theodor Körners Tagebuch und Kriegs¬
lieder aus dem Jahre 1813, herausgegeben von dem Direktor des Körner¬
museums der Stadt Dresden, Hofrat Dr.'W. Emil Peschel, Der Dichter von
„Leier und Schwert" hatte im März 1313, bei seinem Weggang aus Wien, als
es ihn unter die preußischen Fahnen und zu Lützows Freikorps trieb, von Frau
Henriette von Pcreirn-Arnstein ein Taschenbuch mit Stickereien von der Hand der
Geberin erhalten, dessen er sich währeud des Feldzugs und bis zum Morgen seines
Todes zur Eintragung von Notizen und Gedichten bediente. Dieses Buch kam
uach Körners Tode in die Hände seiner Familie, und Chr. Gottfried Körner be¬
nutzte bei der Redaktion und Herausgabe der Gedichte von „Leier und Schwert"
die Niederschriften des Sohnes. Später sandte Minna Körner, die Mutter deS
Dichters, die Reliquie um die Geberin, die Baronin von Pereira in Wien, zurück,
ans deren Nachlaß sie dann in die Hände ihrer Tochter, der Gräfin Flora Fries,
kam. Der Enkel der Frau von Pereira, Graf August Fries auf Czeruahora in
Mähren, entschloß sich endlich, das Taschenbuch dem Dresdner Körnermuseum zu
schenken, wo es ohne Frage am besten an seinem Platze ist.
Da die beschriebnen Blätter dieses Taschenbuchs eine Art Tagebuch der letzten
Lebensmonate des Dichters und außerdem die ersten Niederschriften einer großen
Anzahl seiner Kriegslieder enthalten, so läßt sich gegen eine Veröffentlichung sicher
nichts einwenden. Bei der besondern Stellung, deren sich Körner im Gedächtnis
des deutschen Volkes erfreut, bei der Verehrung, die dem opferfreudigen jungen
Kämpfer von 1313 noch mehr als dem Dichter gilt, bei dem lebendigen Anteil,
den jede biographische Mitteilung über ihn erweckt, kommt nicht viel darauf an, ob
das Neue, was sich ergiebt oder vorfindet, von besondrer Bedeutung sei, mau freut
sich schließlich anch des bescheidensten Einzelzugs zu dem Bilde des frühgeschiednen
dichterischen Heldenjünglings, und mau nimmt es gern hin, daß in jeder neuen Ver¬
öffentlichung über Körner alt- und allbekannte Thatsachen wiederholt werden, und
daß sämtliche Herausgeber mit dem Schloßvogt in der Preciosa zu denken scheinen:
„Kornes immer noch einmal hören." Das ist nun auch wieder in Körners „Tage¬
buch und Kriegsliedern aus dem Jahre 1813" der Fall. Der Herausgeber er¬
weitert den eigentlichen Inhalt des Taschenbuchs uicht nnr dnrch die unerläßliche
und dankenswerte Einleitung, sondern auch dnrch eine ganze Reihe von Noten, die
sich mehr als einmal bis zum Abdruck von Feldzugseriuneruuge» und Briefen alter
Lützower ausdehnen, und durch mehrere Berichte über Körners Fall und Bestattung.
Das eigentlich Neue in dem 103 Seiten starken Büchlein, das mit dem Bilde
Theodor Körners (nach dem allbekannten Original von Emma Körner), der Ab¬
bildung seiner Begräbnisstätte an der Eiche von Wöbbelin, sechs autotypirlen Ge¬
dichtanfängen und dem cmtotypirten letzten Briefe des Dichters an Hofrat Parthey
in Berlin geschmückt ist, bilden sechs ungedruckte Gedichte und die tagcbnchartigen
Notizen, die unter den Titeln „Tagebuch," „Der Heerzug" und „Mein Feldzug,"
einander ergänzend, vom 15. März bis zum 22. August 1813 reichen/")
Die ersten Niederschriften der Kriegslieder im Taschenbuch zeigen mannichfache
Abweichungen von der Fassung in „Leier und Schwert" und in den „Zwölf freien
deutschen Gedichten." Die spätern Umarbeitungen rühren teilweise noch von Körner
selbst, teilweise von seinem Vater her, der, mit wenigen Ausnahmen, überall zum
Vorteil der Gedichte gewaltet und in den kleinen Änderungen seinen gereifter»
Geschmack und sein sichreres Sprachgefühl bewährt hat; mit der Wiederherstellung
der ersten Fassungen würde man dem Ruhme des Dichters einen sehr fragwür¬
digen Dienst leisten. So hat auch der alte Körner sehr gut gewußt, warum er
die sechs von Peschel hier zum erstenmale veröffentlichten Gedichte: „An L. als Dank
für das Feldzeichen," „Gebet" (Deine Sonne, Herr des Himmels), „Als ich schwer
verwundet lag, im Augenblicke des höchsten Schmerzes," „Ans Wilknitzens Tod,"
..Das Lied von der Courage" (eine ziemlich geschmacklose Variation zu „Männer
und Buben") und das schwülstige und wilde „Lied von der Rache" weggelassen
hat. Mit Ausnahme des Gebets durfte und mußte er sie sämtlich für unfertige
Skizzen ansehen, die sein Sohn später entweder überarbeitet oder selbst verworfen
haben würde. Jetzt, wo man alles druckt, was von Körners Hand überhaupt vor-
handelt ist, kann nur bei diesen Gedichten immer noch leichter als bei so manchen
andern ans Licht gerissenen zugeben, daß sie einen ,,nicht zu unterschätzenden Bei¬
trag zur Kenntnis seiner Persönlichkeit und seines Charakters darbieten." Alles
in allem werden namentlich die zahlreichen Sammler der Denkwürdigkeiten und
Erinnerungen von 1813 die pietätvolle Herausgabe dieses Kriegstascheubuchs will¬
kommen heißen. Als Reliquie nehmen anch wir sie dankbar hin. Wenn man
sich aber dazu versteigt, sie als eine wichtige Veröffentlichung zur ,,Körnerwissen¬
schaft" zu bezeichnen, so möchten wir dagegen doch Protest einlegen. Körner, der
Krieger wie der Dichter, in hohen Ehren! Aber Körnerwissenschcift? Wer steht uns
dafür, daß es nicht nächstens anch eine Friedrich-Hofmann-Wissenschaft oder eine
Müller-von-der-Werra-Wissenschaft geben wird?
der uns mit solcher Siegesgewißheit an¬
gekündigt worden war, ist in den letzten Tagen erschienen, und was wir gefürchtet
hatten, ist vollständig eingetroffen: er ist noch jämmerlicher als alle seine Vor¬
gänger. Während die bisherigen Führer durch Leipzig, sie mochten so schlecht sein,
Wie sie wollten, doch wenigstens den Zweck hatten, dem Publikum zu dienen, hat
dieser Führer einzig und allein den Zweck, den Unternehmern zu dienen, er ist
nichts als ein Retlameuntcrnchmcn, eine Art „Eisenbnhnzcitung" in Buchform.
Den Hauptinhalt bilden 57 — sage und schreibe siebenundfünfzig — Gcschäfts-
auzeigen von Leipziger Geschäften, die mit dreißig Ansichten von Leipziger Ge¬
bäuden, Denkmälern u. s. w. gemischt sind. Die elf vornugeheuden Seiten sind mit
einem „handelsgcschichtlichen Vorwort" und einer Beschreibung der dreißig Ab¬
bildungen gestillt, in die die üblichen stadtgeschichtlichen Brocken eingestreut siud.
Dazwischen ein Verzeichnis der Postämter, der Kirchen, der Denkmäler, der Kon¬
sulate, der „Vergnügen und Sehenswürdigkeiten" u. s. w.
Daß die siebenundfünfzig Geschnftsauzeigeu dem Fremden kein Bild von der
Leipziger Geschäftswelt geben können, liegt auf der Hand. Es sind zwar einige
bedeutendere Geschäfte darunter, aber zehnmal so viel ebenso bedeutende fehlen.
Sie haben eben nicht „inserirt," folglich sind sie für den Führer nicht vorhanden.
Was dabei herauskommt, dafür nur ein Beispiel. Leipzig hat jetzt über 500 Buch¬
handlungen, darunter etwa 6V Sortimentsgeschäfte mit offnem Laden. Der Führer
zählt S. 19 — zwei Buchhandlungen auf, die beiden, die „inserirt" haben.
Es ist fast unglaublich, aber es ist so. Ebenso steht es mit den Gasthöfen und
Wirtschaften. Diese scheinen sich grundsätzlich von dein Führer ferngehalten zu
haben. Infolge dessen ist in dem ganzen Heft nicht ein einziger Gnsthof er¬
wähnt! Ein paar Wirtschaften haben „inserirt," aber gerade die vornehmsten, an¬
gesehensten und beliebteste» fehle». Doch das sieht ja auch der blödeste Fremde
auf den ersten Blick. Was er aber nicht auf den ersten Blick sieht, das ist die
Jämmerlichkeit des vorausgeschickten Textes. Dieser Text ist in der Auswahl,
Anordnung und Darstellung des Stoffes so kindisch — das „haudelsgeschichtliche
Borwort" hätte getrost von Karlchen Micßnick unterzeichnet werden können —,
und dabei so voll von Fehlern. Mißverständnissen und Nachlässigkeiten, daß jeder
Fremde zu bedauern ist, dem dieses Machwerk in die Hände gespielt wird.
Was soll der Fremde dazu sagen, wenn er ins Rathaus kommt, um den „Silber¬
schatz" der Stadt zu sehen, und dort erfährt, daß der schon seit zwanzig Jahren
im Kunstgewerbemuseum ausgestellt ist? oder wenn er, um das Museum für
Völkerkunde zu besuche», i» die alte Buchhändlerbörse auf der Ritterstraße geht
und dort — den Universitätsfreitisch findet? Jeder Schüler auf der Straße
kann ihn ja besser belehren als dieser Führer. Um alle Irrtümer und Mi߬
verständnisse in den geschichtlichen Angaben nachzuweisen, würden wir ganze Seiten
brauchen — es wäre schade uns Papier. Von der Schulbildung des Verfassers
mag es eine Vorstellung geben, daß er die lateinische Inschrift am alten Schlitzen-
Hause: IiÄboi'is iucwstrüs eivibus requios übersetzt: „Erholung für die fleißigen
Bürger der Arbeit."
Einen besondern Schmuck haben die Herausgeber dem Führer offenbar durch
einige Stadtansichten ans der Vogelschau zu gebe« geglaubt. Aber so hübsch die übrigen
Bilder sind, so mißlungen sind diese Vogelschauansichten, auf denen man überdies
die Geschmacklosigkeit begangen hat, die Namen einiger der an dem Führer be¬
teiligten Firmen mitten in die Straßen hineinzudrucken. Da steht z. B. am Aus¬
gange des Brllhl mitten auf der Straße der Name Lorck; der Fremde kauu nicht
anders glauben, als daß dort der Brühl liege und hier der Lorck.
Daß dieses Machwerk in der Leipziger Tagespreise die gebührende Kritik
finden sollte, ist ganz ausgeschlossen; gehören doch die drei verbreiterten Blätter
Leipzigs selbst zu den „Inserenten" des Führers, sind also verpflichtet, gehörig
den Tamtam dafür zu schlagen. Das ist der Grund, weshalb wir unsre Leser
hier überhaupt mit der Sache behelligen. Das Unternehmen ist eine große Blamage
für Leipzig, für die die gute Stadt Leipzig natürlich nichts kann, und irgendwo
muß das doch gesagt werden.
Leider kann es keinem Zweifel unterliegen, daß auch bei diesem Machwerk
wieder die geistige Leitung ein Leipziger Volksschullehrer gehabt hat. Es giebt
das nach verschiednen Richtungen hin zu denken.
Ans dem Altenburgischen geht uns folgender Schmerzens-
schrei zu:
Ein heilloser Wirrwarr herrscht noch auf dem Gebiete der Gradzählung an
Thermometern u. f. w. Schon daß die verschiednen Staaten noch kein einheit¬
liches Thermometer haben, sondern jeder nach einem andern Ausländer rechnet, ist
bedauerlich. Wenn aber in einem Reiche verschiedne Stände nach verschiednen
Graden rechnen, welcher Wirrwarr! Ein geradezu trauriger Zustand und ein merk¬
würdiges Zeichen für die kaufmännische Intelligenz unsrer Optiker ist es, daß in
Deutschland, während die wissenschaftliche Welt und die Negierung (vergl. den Erlaß
des Preußischen llnterrichtsministers über den Ausfall der Schulstunden bei-j- 25 Grad C.)
nach dem hundertteiligen Thermometer rechnet, das Publikum gezwungen wird, den
veralteten Reaumur zu kaufen. Wir haben in einer größer« Handelsstadt Sachsens
in drei Optikerläden kein Celsiusthermometer erlangen können! Könnte der Verkauf
von Rsaumurs nicht behördlicherseits möglichst gleich fürs ganze deutsche Reich unter¬
sagt werden?
Wir müssen zu unsrer Schande gestehen, daß wir für diesen Schmerzensschrei
gar keine Empfindung haben. In Sachsen geben wir Wärme- und Kältegrade all¬
gemein nach Nöaumnr an. Weshalb soll Roaumur veraltet sein? Für uns
'se er es nicht. Wir sind von Kindesbeinen an an Roanmur gewöhnt und können
uns uuter Celsiusgraden schlechterdings nichts denken. Ich weiß ganz genau, daß
das Wasser bei 30 Grad kocht, daß die normale Körperwärme des Menschen
3? Grad beträgt, daß ein warmes Bad 2!> Grad haben muß, daß die Schulen
nachmittags „hitzefrei" haben, wenn vormittags um zehn Uhr 19 Grad im Schatten
find, und daß ein gesunder Mensch in einem geheizten Zimmer höchstens 17 Grad
braucht. Das alles sind R5a»mnrgrade, niemand setzt aber in Sachsen besonders
Röaumur dazu, es versteht sich eben von selbst. Warum anch nicht? Muß denn auch
in solchen Dingen in ganz Deutschland alles über einen Leisten geschlagen werden?
"
„Die wissenschaftliche Welt und die Regierung — schreibt der Einsender —
rechnet nach dem hundertteiligen Thermometer. Die wissenschaftliche Welt? Mag
sein. Wiewohl unsre Ärzte auch zur wissenschaftlichen Welt gehören und doch im
Haus und in der Familie nach Rüaumur rechnen. Und die Regierung? Welche
Regierung? Es vergeht kein Monat — wir möchten das bei dieser Gelegenheit
einmal nussprechen —, wo uns nicht Aufsätze zugingen mit Schilderungen, Klagen,
Beschwerden (sehr selten Lobpreisungen) über preußische, spezifisch preußische Ein¬
richtungen und Zustände, in der Justiz, im Steuerwesen, im Schulwesen, ohne daß
auch nur mit einer Silbe angedeutet wäre, daß sich die Schilderung auf Preußen
und nur auf Preußen bezieht. Die Grenzboten find aber doch kein preußisches
Blatt, sie sind ein deutsches Blatt, das in Leipzig erscheint. Wenn wir von der
Regierung reden, so meinen wir entweder die Reichsregierung oder die sächsische.
Wenn wir über sächsische Zustände Klage führen — wir haben es Gott sei Dank
höchst selten nötig—, so lassen wir keinen Zweifel darüber, daß sächsische Zustände
gemeint sind. Also bitte: nicht immer von „Regierung" reden, wenn bloß die
preußische Regierung gemeint ist, und nicht immer von „wir" und „uus," wenn
bloß Preußen gemeint ist. Wir andern sind auch noch da. Oder rechnen sich die
Altenburger vielleicht schon zu Preußen?
Der Wetterbericht des meteorologischen Instituts in Chemnitz vom 19. Juli 18S3
enthält folgenden schönen Satz: „Nachdem nunmehr der tiefe Druck, welcher uns die letzte
Regeuperiode gebracht hat, im Verschwinden begriffen ist, stellt sich heute bereits eine neue
Depression im l^W ein, welche allerdings zunächst durch Ablenkung der Luftströmung nach
ihrer Seite hin eine zeitivcise Aufklärung bringen dürfte, jedoch bald wieder zu der bis¬
herige» Witterung zurückführen, da der hoso Druck sich nur im L etwas ausgebreitet hat,
im übrigen aber keine merkliche Änderung gebracht."
Ein weiterer hübscher Beleg zu dem, was Harms auf Seite 215 dieses Heftes aus¬
führt, ist folgende Mitteilung auf dem Jahresbericht eines Realgymnasiums — wir wollen
so diskret sein, den Ort nicht zu verraten —: „Die im Progrnmmverzeichnis der Zentralstelle
für Programmcntausch augekiindigte Abhandlung des Herrn Professor H. hat derselbe
wiederum sich nicht in der Lage befunden rechtzeitig zu liefern, und bittet der Direktor
hiermit seinerseits deshalb um Entschuldigung."
„Hierher verlegen wir am 1. Oktober unsere Ausstellung in Amerikaner-Ofen." So
lautet ein Leipziger Gcschästsanschlag. Hoffentlich werden die „Amerikaner-Ofen" nicht ge¬
heizt, denn sonst würde es den Männern im feurigen Ofen etwas warm werden!
Ein andrer kaufmännischer Dcutschvcrderber bittet, ihn „bei Bedarf in Spiritus zu
beehren." Eine merkwürdige Zumutung, in Spiritus zu erscheinen! Und das bloß, weil
das Wörtchen „von" dem Herrn zu schlicht und zu natürlich ist.
Die Idee ist eine praktische Seine Auffassung der Rolle ist eine glückliche — Ihr
Organ ist ein außerordentlich ansprechendes n. s. w. Ja, die deutsche Sprache ist eine schone,
aber das Zeitnngsschreiberdeulsch ist ein entsetzliches, die Sprachvcrlottcruug wird eine immer
größere. Nur so fort, und in zehn Jahren schreibt man: Das Wetter ist ein heißes, dafür
ist Gott sei Dank das Bier ein frisches und die Cigarre eine gute.
in Laufe der letzten fünfzig Jahre hat sich der Gebrauch, den Ab¬
satz von Waren oder andern gewerblichen Leistungen durch An¬
lockungsmittel jeder Art, insbesondre durch öffentliche Ankün¬
digungen und Anpreisungen zu fördern, in einer Weise gesteigert,
daß sich damit das, was früher in dieser Beziehung üblich war,
gar nicht vergleichen läßt. Um sich davon zu überzeugen, braucht man nur
einen Blick in die Anzeigespalten der heutigen Blätter zu werfen und daneben
die spärlichen Anzeigen der Blätter jener frühern Zeit anzusehen. Mit der
Reklame — so hat man diesen löblichen Gebrauch genannt ^ wird nun aber
vielfach ein arger Mißbrauch getrieben, und dadurch hat sich die Möglichkeit von
Rechtsverletzungen entwickelt, an die man früher gar nicht gedacht hat, und
die deshalb auch in unserm althergebrachten Rechte ganz unberücksichtigt ge¬
blieben sind. Diese Rechtsverletzungen liegen auf dem Gebiet der durch die
Reklame geübten Täuschungen. Zwar bestimmt unser Recht, daß der, der in
Handel und Wandel durch „Vorspiegelung falscher Thatsachen" einen andern ge¬
schädigt hat, diesen zur Schadloshaltung, sei es durch Rückgängigmachung des
Geschäftes, sei es dnrch Schadenersatz in Geld, verpflichtet ist. Auch wird der,
der eine solche Täuschung verübt hat, unter Umständen wegen Betrugs ge¬
straft. Aber die in der Form der Reklame geübten Täuschungen richten sich
nicht gegen einzelne, sondern gegen das Publikum im allgemeinen. Es müßten
sich also, um jemand wegen täuschender Reklame haftbar zu machen, einzelne
senden, die nachweisen konnten, daß gerade sie durch die unwahren Angaben
getauscht und geschädigt worden seien. Ein solcher Nachweis ist in den meisten
Fällen nicht zu führen. Daher kommt es, daß selbst die lügenhaftesten An¬
kündigungen straffrei ausgehn und in der öffentlichen Meinung zwar für un¬
anständig und unsittlich, aber kaum sür rechtswidrig gehalten werden.
Nächst dem Publikum, das sich durch solche lügenhafte Reklame zu dem
Abschluß schlechter Geschäfte verleiten läßt, werden aber auch dadurch noch
andre Personen, und zwar diese oft noch weit mehr geschädigt, nämlich die
Gewerbtreibenden, denen durch die von dem Reklamchelden geübte Anlockung
des Publikums der Absatz geschmälert wird. Einen Rechtsschutz gegen eine
solche Schädigung kennt das in Deutschland althergebrachte gemeine Recht
ganz und gar nicht.
Einige Arten der auf diesem Gebiete liegenden Täuschungen haben sich
schon seit längerer Zeit dergestalt fühlbar gemacht, daß die deutsche Gesetz¬
gebung dagegen eingeschritten ist. Das deutsche Handelsgesetzbuch enthält Be¬
stimmungen, die den berechtigten Inhaber einer Handelsfirma gegen den Mi߬
brauch dieser Firma durch andre schützen. Ferner gewährt ein Reichsgesetz
vom 30. November 1874 Schutz in dem Gebrauche bestimmter Warenzeichen,
die Gewerbtreibende als von ihnen geführt angemeldet haben. Wir dürfen
die Vorschriften dieser Gesetze wohl als bekannt voraussetzen. Hierauf be¬
schränkt sich aber bis jetzt das auf den fraglichen Schutz abzielende gemeine
deutsche Recht. Auf einem andern Standpunkt, als das deutsche, steht das
französische Recht. Der Code erthält in Art. 1382 folgende Vorschrift: tout
lÄit ciusloonHus als 1'b.oinins <mi oauss ^ autrui un clomnig^s, obliZiz oslni
xg,r ig, laute äuHuizI it sse arrivs, » 1e rvxaror. Es liegt auf der Hand, daß
man aus dieser Vorschrift in ihrer Allgemeinheit alles mögliche folgern kann.
Die französischen Gerichte haben aber, nicht ohne Geschick, gerade auf dem hier
fraglichen Gebiete folgendes daraus hergeleitet. Sie haben den Begriff der
eonoarröllczs äuloMs aufgestellt und daran die Lehre geknüpft, daß der Ge¬
werbtreibende, der sich eines unlautern Wettbewerbs schuldig macht, den dadurch
geschädigten andern Gewerbtreibenden zur Schadloshaltung verpflichtet sei.
Die eonourrönee ckslo^als umfaßt nun gerade die Verhältnisse, wo jemand
durch lügenhafte Reklame andre in der Ausübung desselben Gewerbes schädigt.
Die Gerichte der deutscheu Länder, wo französisches Recht gilt, sind — wenn
wir einem anscheinend gut unterrichteten Schriftsteller glauben dürfen") —
dieser Praxis der französischen Gerichte nur spärlich gefolgt, was ihnen freilich
insofern nicht zum Vorwurf gereicht, als sie dadurch die Übertreibungen ver¬
mieden haben, in die die französische Praxis offenbar geraten ist.
In neuerer Zeit hat sich aber immer mehr das Bedürfnis fühlbar ge¬
macht, daß auch in Deutschland die Gewerbtreibenden gegen unlautern Wett-
bewarb in höheren Maße geschützt werden. Schon die Abhandlung von Mayer
ist in diesem Sinne geschrieben. Neuerdings sind zwei weitere, sehr verdienst¬
liche Schriftchen von Rechtscmwnlten erschienen, die einer Erweiterung des
deutschen Rechtes in der Richtung des französischen das Wort reden.")
Auch die Organe der Gesetzgebung haben sich zu regen angefangen. Das
schon erwähnte Gesetz vom 30. November 1874 über den Markenschutz hat
nicht ganz die daran geknüpften Erwartungen erfüllt. Einen Teil der Schuld
hieran trifft freilich die Gerichte, die mehrfach das Gesetz zu engherzig an¬
gewandt haben. °"') Aber auch das ganze System, auf dem das Gesetz beruht,
leidet an Mängeln. Im Frühjahr d. I. hat nun die Reichsregierung dem
Reichstage den Entwurf eines neuen Gesetzes „zum Schutze der Waren-
bezeichuungen" vorgelegt, das diese Mängel verbessern soll. Im Reichstage
(wo der Entwurf nur zur ersten Beratung kam) wurde der Wert der neuen
Bestimmungen allseitig anerkannt, und man darf daher hoffen, daß, wenn
der Entwurf demnächst Gesetz werden sollte, damit etwas befriedigendes auf
dem Gebiete des Markenschutzes geschaffen werden wird. Einige über den
Markenschutz hinausgehende in diesen Entwurf aufgenommene Bestimmungen
werden uns später noch beschäftigen.
Aber auch im Reichstage selbst sind einige Anträge gestellt worden, die
in das hier besprochne Gebiet einschlagen. Wir wollen hier einen Antrag
vorwegnehmen, der nicht eine außerhalb des Gesetzes liegende, sondern eine
vom Gesetz selbst gebilligte Täuschung zum Gegenstande hat, deren Beseitigung
aber um nichts weniger zu wünschen wäre. Nach dem Gesetz darf die auf
einen Namen lautende Firma ohne jede Änderung von jedem neuen ErWerber
des Geschäftes fortgeführt werden. Sowohl der Erbe, als der Käufer treibt
das Geschüft, das er mit der Firma überkommen hat, unter dem Namen des
ursprünglichen Gründers fort, als ob gar keine Veränderung vorgegangen
wäre, während doch vielleicht der neue Inhaber lange nicht das Vertrauen
genießt und verdient, das dem Gründer zukam. Solange der Handelsstand
diesen gelinden Betrug gegen das Publikum zu seineu Eigentmnlichkeitcn zählt,
kann er sich kaum darüber beklagen, wenn auch noch in andrer Weise mit
Benutzung eiuer Firma Mißbrauch getrieben wird. Man sollte daher vor
allem diesen im Handelsstande üblichen Mißbrauch beseitigen und vorschreiben,
daß bei einem Wechsel des Inhabers der Firma stets der neue Inhaber seinen
Namen der Firma beizufügen habe. In der That ist im letzten Reichstage
ein solcher Antrag (Ur. 29 der Drucksachen, Ur. 7) gestellt worden, und es
wäre zu wünschen, daß ihm die Gesetzgebung Folge gäbe.*)
Wir kehren nun zu der Frage zurück, ob eine Erweiterung unsers Rechts
in der Richtung der Praxis der französischen Gerichte wünschenswert sei. Ich
nehme keinen Anstand, diese Frage zu bejahen. Es wird aber zu prüfen sein,
wie weit man hierin zu gehen habe. Diese Prüfung werden wir vorzunehmen
haben unter dem doppelten Gesichtspunkte: welcher Schutz gebührt gegen un¬
lautere Reklame dem Publikum, und welcher Schutz gebührt den konkurrirenden
Gewerbtreibenden?
Wir stellen für unsre Untersuchung den Satz an die Spitze: im Verkehr
muß Wahrheit herrschen. Wer andre, mit denen er in Geschüftsbeziehungen
tritt, durch falsche Angaben tauscht, macht sich dadurch verantwortlich. Man
hat, wie schon bemerkt, bisher diesen Grundsatz nur in der Beschränkung für
anwendbar gehalten, daß man den Nachweis einer Täuschung und Schädigung
einzelner bestimmter Personen sür nötig hielt. Dies hat nicht selten zu Er¬
gebnissen geführt, die für das Rechtsgefühl unbefriedigend waren. Man wird
sich erinnern, daß z. B. die am Schluß der Gründerzeit gegen einzelne Gründer
wegen ihrer lügenhaften Ankündigungen erhobnen Strafprozesse meist an jenem
Erfordernis scheiterten. Die Bedeutung, die die Reklame in unserm heutigen Ver¬
kehrsleben gewonnen hat, macht es nötig, von diesem an dem alten Begriffe des
Betrugs klebenden Erfordernis abzustehn. Die lügenhafte Reklame, die das Publi¬
kum im allgemeinen gefährdet, muß für sich selbst als ein strafrechtlich verfolgbares
Vergehen gelten, ohne daß die Nachweisung eines besondern Schadens nötig ist.
Darin liegt keine Härte, wenn man nur folgende Unterscheidung festhält.
Schon im römischen Rechte wurde beim Kauf unterschieden zwischen all¬
gemeinen Anpreisungen, die der Verkäufer seiner Sache angedeihen läßt, und
der Versicherung besondrer Eigenschaften der Sache, die deren Wert erhöhen.
Allgemeine Anpreisungen, auch wenn sie sich nicht bewährten, machten den
Verkäufer nicht verantwortlich, Wohl aber die Zusicherung bestimmter Eigen¬
schaften. Dies ist auch heute noch geltendes Recht, und es entspricht anch
ganz unserm Rechtsgefühl. Allgemeine Anpreisungen durch die Reklame mögen
also auch fernerhin gestattet sein. Niemand soll verhindert werden, seine Ware
als eine „vorzügliche," „hochfeine" zu empfehlen oder anzukündigen, daß er
„fpottbillig," „zu wahren Schleuderpreisen" verkaufe. Bei der relativen Natur
dieser Begriffe würde es meistens auch sehr schwer sein, den Reklamemacher der
Lügenhaftigkeit zu überführen. Auch sind solche Anpreisungen ziemlich ungefähr¬
lich, da jedermann weiß, was er davon zu halten hat. Anders, wenn zur An¬
lockung der Käufer besondre lügenhafte Angaben gemacht werden; wenn also z.B.
angekündigt wird, daß wegen Aufgabe eines Geschäftes ein Ausverkauf stattfinde,
wenn der Verkäufer auf Preiserteilungen für seine Waren Bezug nimmt, die er nie¬
mals erhalten hat, wenn er Zeugnisse von Menschen vorlegt, die gar nicht vor¬
handen sind u. s. w. In solchen Fällen muß die Vorspiegelung ohne Rücksicht auf
den Beweis einer dadurch zugefügte» Schädigung unter Strafe gestellt werden.
Eine Anerkennung der Richtigkeit dieser Ansicht ist auch bereits in dem
dem Reichstage vorgelegten Gesetzentwurf zu finden. § 15 des Entwurfs lautet:
Wer Waren oder deren Verpackung oder Umhüllung oder Ankündigungen,
Geschäftsbriefe, Empfehlungen, Rechnungen oder dergleichen fälschlich mit einem
Staatswappen oder mit dem Namen oder Wappen eines Ortes, eines Gemeinde-
oder weitern Kommunalverbandes zu dem Zweck versieht, über Beschaffenheit und
Wert der Waren einen Irrtum zu erregen, oder wer zu dem gleichen Zweck der¬
artig bezeichnete Waren in Verkehr bringt oder feilhält, wird mit Geldstrafe von
einhundertfünfzig bis fünftausend Mark oder mit Gefängnis bis zu sechs Monaten
bestraft. — Die Verwendung von Namen, welche nach Handelsgebranch zur Be¬
nennung gewisser Waren dienen, ohne deren Herkunft bezeichnen zu sollen, fällt
unter diese Bestimmung nicht.
Damit kann man ganz einverstanden sein.*) Ist denn aber die Bei¬
fügung von Namen und Wappen u. s. w. die einzige Form, durch die jemand
in Ankündigungen, Geschäftsbriefen und dergleichen über die Beschaffenheit
oder den Wert von Waren zu täuschen versuchen kann? Giebt es nicht noch
viele andre Formen, durch die dasselbe erreicht wird? Und warum soll nur
eine Täuschung in jener Form bestraft werden?
Im vorigen Reichstag ist bereits ein Antrag gestellt worden, der das,
was wir für geboten halten, vollständig zum Ausdruck bringt. Ein von Mit¬
gliedern des Zentrums vorgelegter Gesetzentwurf zur Abänderung der Gewerbe¬
ordnung (Ur. 73 der Drucksachen) enthielt folgenden Z 146 v:
Wer bei seinem Gewerbebetrieb öffentlich, um den Absatz von Waren oder
gewerblichen Leistungen zu fördern, wider besseres Wissen unwahre Thatsachen vor¬
spiegelt oder wissentlich wahre Thatsachen entstellt,**) insbesondre wer zu diesem
Zweck über den Ursprung und Erwerb seiner oder eines andern Gewerbtreibenden
Waren, über besondre Eigenschaften oder Auszeichnungen dieser Waren, über die
Menge der Warenvorräte, den Anlaß zum Verkauf oder die Preisbemessung auf
Täuschung berechnete falsche Angaben macht, wird mit Geldstrafe bis zu tausend
Mark und im Unvermögensfall mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft.
Ich halte diese Formulirung des Gedankens für befriedigend. Durch
den wörtlichen Anschluß der Fassung an 8 263 des Strafgesetzbuchs ist aus¬
gedrückt, daß nur solche unwahre Angaben mit Strafe bedroht werden sollen,
die unter andern Verhältnissen den Begriff des Betrugs ausmachen. Würde
der Paragraph zum Gesetz erhoben, so könnte der oben erwähnte Z 15, als
einen besondern Fall betreffend, damit verbunden werden. Beiden Bestim¬
mungen dürfte dann aber noch ein Zusatz zu geben sein.
Es liegt in der Natur der Sache und ist auch in der Fassung der Para¬
graphen vorgesehen, daß nur der gestraft werden kaun, der die täuschende
Handlung wider besseres Wissen vornimmt. Nun find aber Fälle denkbar,
wo jemand bei seiner unwahren Angabe in gutem Glauben gewesen ist, oder
wo wenigstens die Absicht der Täuschung nicht nachgewiesen werden kann.
Soll es nun in einem solchen Falle bei der Freisprechung des Angeklagten
sein Bewenden haben? Meiner Ansicht nach wären die Gerichte anzuweisen,
in einem solchen Falle auszusprechen, daß eine objektiv täuschende Handlung
vorliege, und daß sich der Angeklagte fortan dieser Handlung zu enthalten habe.
Damit wäre für die Zukunft gesorgt.
Es entsteht nun die Frage: soll in dem Falle einer solchen unwahren
Reklame, neben der strafrechtlichen Verfolgung, auch ein zivilrechtlicher An¬
spruch der dadurch geschädigten andern Gewerbtreibenden gegeben sein? Im
französischen Recht bildet gerade der zivilrechtliche Anspruch der übrigen Ge¬
werbtreibenden das Mittel, lügenhaften Reklamen entgegenzutreten.
Fassen wir zunächst den Fall ins Auge, daß die in der Reklame vor¬
gebrachten unwahren Angaben lediglich auf eine Anpreisung der eignen Ware,
nicht auf eine Herabwürdigung der Ware andrer hinauslaufen, so würden wir
es für diesen Fall für bedenklich halten, jedem andern Gewerbtreibenden, der
sich durch die Reklame verletzt fühlte, eine Klage zu geben. Es dürfte dafür
kein dringendes Bedürfnis vorliegen. Der zugefügte Schaden wird sich in der
Regel auf viele verteilen, und es würde sehr schwer sein, zu sagen, welcher
Teil jeden einzelnen träfe. Zugleich würde aber aus der Gewährung einer
solchen Klage leicht eine wahre Hetzjagd gegen den Neklamemacher entstehen,
die in ihrem offenbaren Streben nach Ausbeutung auch kein schönes Schauspiel
darböte. Wird die lügenhafte Reklame mit öffentlicher Strafe bedroht, so
kann ja jeder Gewerbetreibende, der sich durch eine solche für geschädigt er¬
achtet, die Sache beim Stantsanwalt anzeigen und diesen mit dem nötigen
Material versehen. Thut dann der Staatsanwalt seine Pflicht, so liegt schon
in dem eingeleiteten Strafverfahren ein genügender Schutz für die konkurri-
renden Gewerbtreibenden.
Anders liegt die Sache, wenn die unwahren Angaben der Reklame nicht
allein auf Anpreisung der eignen Ware, sondern auch auf Herabsetzung der
fremden Waren (die Franzosen nennen es cisuiZrölliönt, Anschwärzung) ge-
richtet sind. Läuft diese zugleich auf eine persönliche Herabwürdigung des
andern Gewerbtreibenden hinaus, so wird dagegen schon die Anklage wegen
Beleidigung in Verbindung mit dem nach § 188 des Strafgesetzbuches zu¬
lässigen Antrag auf Zuerkennung einer Buße Schutz gewähren. Aber auch
wo dies nicht der Fall ist, eignen wir uns den Gedanken des franzö¬
sischen Rechtes an, daß dem andern Gewerbtreibenden ein zivilrechtlicher Schutz
gegen die Herabsetzung seiner Ware gegeben sein muß. Dies um so mehr,
als ihm ein solcher Schutz zugestanden werden muß ohne Rücksicht darauf,
ob der Rcklamemacher wider besseres Wissen oder in gutem Glauben gehandelt
hat. Denn wer es unternimmt, in seinem persönlichen Interesse die Leistungen
andrer herabzusetzen, muß auch unbedingt die Verantwortlichkeit dafür tragen
und kann sich nicht damit entschuldigen wollen, daß er die Sache für wahr
gehalten habe.
Fälle dieser Art sind es z. B., wenn sich jemand unwahrerweise als den
alleinigen Verfertiger bestimmter Waren ankündigt, wenn er bekannt macht,
daß sein Geschäft ausschließlich eine besonders günstige Produktionsweise be¬
sitze, daß er in der Lage sei, billiger als andre zu verkaufen, daß seine Ware
echt, die der übrigen unecht sei u. s. w. Die Klage des verletzten Gewerb¬
treibenden würde auf öffentliche Berichtigung der unwahren Angaben und auf
Entschädigung zu richten sein. Gewinne der Gewerbetreibende diesen Prozeß,
so kann daneben eine strafrechtliche Verfolgung des Reklamemachers um so
mehr entbehrt werden, als dessen Verurteilung zu den Prozeßkosten schon eine
erhebliche Strafe in sich schließt.
Es entsteht aber nnn die Frage: soll denn nur gegen unwahre Angaben
eines Reklamemachers der andre Gewerbetreibende geschützt werden? soll nicht
vielmehr jede Herabwürdigung fremder Waren in einer öffentlichen Kund¬
gebung, auch wenn sie auf Wahrheit beruht, dem Betroffnen eine Klage
geben? Dies nehmen in der That die französischen Gerichte an, indem sie
aus dem Begriff der eonourrsnos ävIoMs die Pflicht ableiten, sich aller Äuße¬
rungen zu enthalten, die andre Gewerbtreibende benachteiligen. Meiner An¬
sicht nach geht das zu weit. Es mag ja uuter Umständen eine solche Zurück¬
haltung dem Anstande in höherm Maße entsprechen. Aber man muß doch
an dem Grundsatze festhalten, daß, wo ein Interesse vorliegt, die Wahrheit
gesagt werden darf. Es wird auch nicht in Abrede gestellt werden können,
daß ein Gewerbetreibender ein Interesse dabei haben kann, ja daß es unter
Umstünden sogar für eine Pflicht gegen das Publikum gehalten werden kann,
auf die Mängel der Leistungen andrer öffentlich hinzuweisen. Ist also der
Vorwurf, den ein Gewerbetreibender den Leistungen andrer macht, begründet,
so kann er — stets vorausgesetzt, daß er dabei nicht beleidigend geworden ist —
nicht dafür haftbar gemacht werden.
Noch weniger kann dies geschehen, wenn er nur im allgemeinen darauf
hinweist, daß seine Leistung vor der Leistung eines andern den Vorzug ver¬
diene. In Frankreich ist folgender Fall vorgekommen. Ein Fabrikant lieferte
ein Cigarettcnpapier, das er unter dem Namen -tod verkaufte. Ein andrer
Fabrikant machte ein ähnliches Papier, dem er den Namen Ap.srrL ^ -tat gab,
wobei er bekannt machte: er sei gewiß, eins su. msranö Znorrs ü. ,7od »ur^
disntüt ig. xrvlsrsnvö. Das Gericht verbot die Marke und die Anpreisung
und verurteilte den Fabrikanten zum Schadenersatz. Meiner Ansicht nach mit
Unrecht. Der Fabrikant hatte eine Ware geschaffen, mit der er der Ware des
andern Konkurrenz machen und diese Ware ausstechen wollte. Das durfte er,
und deshalb durfte er es auch aussprechen.
Unser Ziel würde erreicht werden, wenn den oben vorgeschlagnen Straf¬
bestimmungen folgender Satz angeschlossen würde:
Gegen unwahre öffentliche Kundgebungen, durch die ein Gewcrbtreibcnder zur
Förderung des eignen Absatzes die Waren oder Leistungen eines andern Gewerb-
treibenden herabsetzt, steht diesem ein klagbarer Anspruch auf öffentliche Berich¬
tigung und auf Schadenersatz zu.
Neben der Schädigung eines fremden Gewerbebetriebes durch unwahre
Kundgebungen giebt es aber noch eine andre Art, diesem die Kundschaft zu
entziehen. Sie wird dadurch geübt, daß man eine Verwechslung mit dem gut¬
gehenden Geschäfte eines andern herbeizuführen sucht. Dahin gehört vor allem
der mit Firma und Warenzeichen getriebne Mißbrauch; beide haben daher in
erster Linie Schutz durch die Gesetzgebung gefunden. Aber es giebt noch viele
andre Mittel, die geeignet sind, ein Konkurrenzgeschäft einem andern Geschäfte
ähnlich erscheinen zu lassen und dadurch dessen Kundschaft an sich zu ziehen.
Man wählt für das Koukurrenzgeschüft einen ähnlich klingenden Namen, ein
ähnlich lautendes Schild, eine gleiche Einrichtung des Ladens. Oder man
versieht die Verpackung der Waren, die Ankündigungen, Geschäftsbriefe u. s. w.
mit derselben eigentümlichen Ausstattung, die bei dem andern Geschäfte bereits
im Gebrauch ist. Kurz, es lassen sich hundert Mittel ersinnen, durch die man
eine Verwechslung der Geschäfte erreichen kann.
Nun kann man ja sagen, daß auf alle solche Einrichtungen der, der zuerst
von ihnen Gebrauch macht, kein eigentliches Recht erwerbe, und daß deshalb
auch einem andern deren Gebrauch nicht verwehrt werden könne. Es kommt
aber doch in Betracht, daß solche Äußerlichkeiten des Geschäftsbetriebs — denn
nnr um solche handelt es sich — durchaus willkürlich sind, und daß dafür ein
sehr weites Feld der Erfindung zu Gebote steht. Bei dieser Sachlage ent¬
spricht es durchaus der Billigkeit, wenn man von dem, der ein Konkurrenz¬
geschäft betreibt, verlangt, daß er sich nicht die Einrichtungen eines andern an¬
eigne und dadurch diesem die Kundschaft abwendig mache.
Auch diesen Gedanken hat der dem Reichstage vorgelegte Gesetzentwurf
bereits erfaßt und ihm in 8 14 Ausdruck zu geben versucht:
Wer zum Zweck der Täuschung in Handel und Verkehr Waren oder deren
Verpackung oder Umhüllung, oder Ankündigungen, Geschäftsbriefe, Empfehlungen,
Rechnungen oder dergleichen mit einer Ausstattung oder Verzierung, welche in den
beteiligten Verkehrskreisen als Kennzeichen gleichartiger Waren eines andern gilt,
ohne dessen Genehmigung versieht, oder wer zu dem gleichen Zweck derartig ge¬
kennzeichnete Waren in Verkehr bringt") oder feilhält, ist dem Verletzten zur Ent¬
schädigung verpflichtet und wird mit Geldstrafe von einhundert bis dreitnnsend
Mark oder mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft. Die Strafverfolgung
tritt nur auf Antrag ein. Die Zurücknahme des Antrags ist zulässig.
Mit dieser Fassung kann ich mich insofern nicht einverstanden er¬
klären, als sie das vorgesteckte Ziel durch eine Strafandrohung zu erreichen
sucht. Es ist überhaupt ein Fehler der Gesetzgebung, mit Strafvorschriften
da vorzugehen, wo schon der zivilrechtliche Schutz ausreicht. Das dürfte aber
hier der Fall sein. Ja es kann der zivilrechtliche Schutz sogar viel ausgiebiger
gestaltet werden, wenn man die Strafandrohung wegläßt. Bestrafen kann man
den Gewerbtreibenden nur, wenn er „zum Zweck der Täuschung" die be¬
anstandete Einrichtung getroffen hat. Für den zivilrechtlichen Schutz kommt
es aber hierauf gar nicht an; es genügt, wenn die Einrichtung objektiv zu
täuschen geeignet ist. Es wird sich oft um Einrichtungen handeln, die so auf
der Grenze der unerlaubten Nachahmung stehen, daß der Richter zweifeln wird,
ob er den Ausspruch thun kann: „Die Einrichtung ist zum Zweck der Täuschung
getroffen." Er wird also im Zweifel den Angeklagten freisprechen. Dann bleibt
aber der andre Gewerbtreibende ohne Hilfe; der Freigcsprvchne darf die täu¬
schende Einrichtung ruhig beibehalten. Kann aber der Richter aussprechen:
„Mag die Einrichtung zum Zwecke der Täuschung getroffen sein oder nicht,
jedenfalls ist sie objektiv zur Täuschung geeignet, und deswegen ist sie abzu¬
ändern," so ist damit dem andern Gewerbtreibenden geholfen. Auch braucht
man dann nicht die dem Betroffnen zu gewährende Hilfe davon abhängig zu
machen, daß die Einrichtung in den beteiligten Verkehrskreisen als Kennzeichen
seines Geschäftsbetriebs gilt. Es genügt sein einfacher Besitzstand. Nur dürfen
es keine Einrichtungen sein, die allgemein üblich sind; solche müssen ebenso
gestattet sein, wie beim Markenschutz die Freizeichen.
Gerade deshalb, weil öfter zweifelhafte Fülle vorkommen werden, ist es
auch ratsam, die Klage des Verletzten nicht ohne weiteres zu gestatten, sondern
von ihm zu verlangen, daß er zunächst zu erkennen gebe, daß er sich durch
die getroffne Einrichtung beeinträchtigt fühle, und daß er deshalb seinen Kon¬
kurrenten zu deren Abstellung auffordere. Leistet dieser der Aufforderung
Folge, so kann man damit die Sache als erledigt ansehen. Erst wenn der
Konkurrent sich weigert, einer solchen Aufforderung zu folgen, ist die Sache
zum Richtersprüche reif, wobei dann dem Verletzten auch das Recht zustehen
muß, von der Zeit der Aufforderung an Entschädigung zu verlangen.
Endlich scheint es mir auch ein Bedürfnis zu sein, daß das Recht zu
einer solchen Klage auf eine kurze Zeit beschränkt werde. Hat jemand eine
Einrichtung Jahr und Tag offen in Gebrauch gehabt, so wird es uicht mehr
als eine Gerechtigkeit empfunden werden, wenn ein andrer mit der Anforderung
auftritt, sie zu beseitigen, weil er selbst schon früher diese Einrichtung gehabt
habe. Alle nur auf Billigkeit beruhenden Ansprüche muß man stets mit vor¬
sichtiger Maßhaltung behandeln. Auch wird nach längerer Zeit das Früher
oder Später des einen oft schwer zu beweisen sein.
Meiner Ansicht würde es daher entsprechen, wenn an die Stelle des
H 14 etwa folgende Bestimmung träte:
Jeder Gewerbtreibende hat einen Anspruch darauf, daß nicht ein andrer Ge-
werbtreibeuder, der mit ihm in geschäftlichem Wettbewerbe steht, in der äußern
Gestaltung seines Geschäftsbetriebs Einrichtungen trifft, die geeignet sind, zu einer
Verwechslung der beiden Geschäfte zu führen und dadurch die Kundschaft des
einen dem andern zuzuwenden. Unterläßt auf die Aufforderung des einen Ge¬
schäftstreibenden der andre, eine derartige von ihm getroffne Einrichtung abzu¬
stellen, so kann der erste auf deren Abstellung und ans Ersatz des durch sie seit
der Aufforderung ihm erwachsenen Schadens Klage erheben.
Einrichtungen, die allgemein oder in weitern Kreisen üblich sind, fallen nicht
unter diese Bestimmung.
Die Klage ist unzulässig, wenn der andre Gewerbtreibende die angeblich täuschende
Einrichtung schon vor Jahresfrist getroffen und seitdem offen in Gebrauch gehabt hat.
Wir wollen zum Schluß noch einige weitere Fälle besprechen, in denen
die französischen Gerichte eine oonourrsnoo clölo^alö gegeben finden und den,
der sie ausgeübt hat, zum Schadenersatz verurteilen. Sie halten es für eine
solche, wenn sich ein Gewerbtreibender in einer öffentlichen Kundgebung (wahr¬
heitsgemäß) als frühern Arbeiter, Gehilfen, Gesellschafter u. f. w. eines andern
Gewerbtreibenden bezeichnet, oder wenn er sich dessen rühmt, was er in dem
Geschäfte eines andern geleistet habe. Nur olövo as est soll man sich nennen
dürfen, weil für die Schülerschaft der Meister bezahlt werde und sich deshalb
auch der Schüler deren rühmen dürfe. Es gilt ferner als unlauterer Wett¬
bewerb, wenn jemand Waren eines andern, um sie herabzusetzen, zu geringen
Preisen (unter den Fabrikpreisen) verkauft, wenn jemand einem andern Ge¬
hilfen oder Arbeiter abspenstig macht, wenn jemand für sein Geschüft Kennt¬
nisse benutzt, die ihm durch Gehilfen oder Arbeiter eines andern zugetragen
worden sind. Das alles halte ich für Übertreibungen. Die Frage, ob nicht
Gewerbtreibende gegen den Verrat von Geheimnissen ihres Betriebes durch
Gehilfen und Arbeiter zu schützen seien — eine Frage, über die schon eine
ganze Litteratur vorhanden ist —, ist allerdings erwägenswert. Sie ist jedoch
so schwierig, daß ich sie hier nicht nebenbei erörtern kann.
In der erwähnten Schrift von Alexander Katz wird auch als eine Art
unredlichen Wettbewerbs bezeichnet die Bildung von Ringen zur künstlichen
Preiserhöhung und zur Verdrängung widerstrebender Gewerbsgenossen, und
es wird empfohlen, solche Handlungen unter Strafe zu stellen. Es soll nicht
geleugnet werden, daß auch auf diesem Gebiete recht häßliche Dinge vor¬
kommen können. Aber es ist doch zu schwierig, die Fälle des Mißbrauchs
von denen des berechtigten Gebrauchs so zu sondern, daß man nur den Mi߬
brauch unter Strafe stellen könnte. Einen Vorstoß in dieser Richtung — und
zwar ohne alle gesetzliche Grundlage — hat bereits das Reichsgericht in dem
bekannten Buchhändlerprozeß gemacht, worin es die Vorstandsmitglieder des
Börsenvereins zu einer Entschädigung verurteilte, weil sie einem von dem
Verein gefaßten Beschlusse gemäß die Mitglieder aufgefordert hatten, einer
Schlenoerfirma keine Verlagsartikel mehr zu liefern. Dieser erste Versuch ist
aber so unglücklich ausgefallen, daß er wahrlich nicht zur Empfehlung der
Sache dienen kann.
Es ist noch die Frage zu erörtern, in welcher gesetzlichen Form die hier
besprochnen Interessen des Gewerbestandes am besten zu ordnen seien. Ich
würde es für das richtigste halten, wenn es entweder durch Nachträge zur
Gewerbeordnung oder durch besondre Gesetze geschähe. Die Einreihung in die
allgemeinen Gesetzbücher über Strafrecht und Zivilrecht empfiehlt sich schon
deshalb nicht, weil bei der Ordnung der Sache strafrechtliche und zivilrecht¬
liche Bestimmungen in einander greifen müssen.
Gleichwohl scheint der Umstand, daß sich in Frankreich die ganze Lehre
aus dem einen Artikel 1382 des Code entwickelt hat, die Kommission sür das
deutsche bürgerliche Gesetzbuch ermutigt zu haben, auch ihrerseits einen solchen
Satz aufzustellen, der die Grundlage sür die Lehre enthalten sollte. Nachdem
zunächst in § 704 des (ersten) Entwurfs eine sehr verworrene Begriffsbestim¬
mung für die zum Schadenersatz verpflichtenden widerrechtlichen Handlungen
gegeben war, wurde in t> 705 die weitere Bestimmung getroffen, daß mich
eine an sich erlaubte Handlung, wenn sie einem andern zum Schaden gereicht
und gegen die guten Sitten verstößt,") als widerrechtlich gelten solle. Darnach
sollten (wie die Motive besagen) auch „illoyale Handlungen" die Pflicht zum
Schadenersatz begründe«, womit man offenbar dem französischen Rechte nach¬
strebte.
In dem Entwürfe zweiter Lesung sind nun allerdings diese Paragraphen
einigermaßen abgeändert worden. Nach H 746 (704) soll zum Schadenersatz
verpflichtet sein, „wer vorsätzlich oder fahrlässig ein Recht eines andern wider¬
rechtlich verletzt, oder wer gegen ein den Schutz eines andern bezweckendes
Gesetz verstößt." Daneben aber soll nach 749 (705) auch zum Schaden¬
ersatz verpflichtet sein, „wer durch eine Handlung, die er nicht in Ausübung
eines ihm zustehenden Rechts vornimmt, in einer gegen die guten Sitten ver¬
stoßenden Weise einem andern vorsätzlich Schaden zufügt." Zwischen beiden
Bestimmungen ist dann noch ein 8 748 eingereiht, der folgendermaßen lautet:
Wer der Wahrheit zuwider eine Thatsache") behauptet oder verbreitet, die
geeignet ist, den Kredit eines andern zu gefährden oder sonstige Nachteile für dessen
Erwerb oder Fortkommen herbeizuführen, hat demselben (diesem!) den dadurch ver¬
ursachten Schaden auch dann zu ersetzen, wenn er die Unwahrheit zwar nicht kannte,
aber hätte kennen müssen. — Eine Mitteilung, deren Unwahrheit dem Mitteilenden
unbekannt war, verpflichtet diesen nicht zum Schadenersatze, wenn er oder der Em¬
pfänger der Mitteilung an ihr ein berechtigtes Interesse hatte.
Dieser § 748 ist für seinen Zweck unzureichend. Wer Unwahrheiten in
die Öffentlichkeit bringt, die den Kredit eines andern oder dessen gewerbliche
Leistungen herabsetzen, kann sich nicht damit entschuldigen, daß er die Unwahr¬
heiten für wahr gehalten habe, oder daß er ein „berechtigtes Interesse" an
ihrer Mitteilung gehabt habe. Er veröffentlicht die Unwahrheiten auf seine
Gefahr, und wenn sie Schaden stiften, so hat er selbst, nicht der andre den
Schaden zu tragen. Das fordert die Gerechtigkeit. Das „berechtigte Inter¬
esse," das man anscheinend aus H 193 des Strafgesetzbuchs herübergenommen
hat, paßt ganz und gar nicht hierher.
Was die formulirten 746 und 749 betrifft, so sind diese so abstrakt
gefaßt, daß man nichts und alles daraus ableiten kann. Für den Richter sind
sie deshalb ohne Wert, für das Publikum gefährlich. Denn die Lehre von
der Schadenersatzpflicht im weitesten Umfange ist damit der richterlichen Willkür
überlassen. Daß es in unsrer betriebsamen Zeit nicht an Versuchen fehlen
wird, diese Bestimmungen in jeder Weise auszubeuten, bedarf wohl keines Be¬
weises. Wenn man nun sagt, man müsse den deutschen Gerichten das Ver¬
trauen schenken, daß sie dabei schon das Nichtige treffen würden, so gestehe
ich offen, daß ich dieses Vertrauen nicht habe. Es liegen schon warnende
Beispiele dafür vor, welcher Verirrungen auch deutsche Richter, sobald sie sich
von gesetzlichen Fesseln befreit glauben, auf diesem Gebiete fähig sind. Sollten
jene Bestimmungen Gesetz werden, so würden wir bald erleben, daß unsre Ge¬
richte ähnliche maßlose und alberne Verurteilungen zur Entschädigung aus¬
sprächen, wie sie uns als Erzeugnisse französischer und englischer Rechtsprechung
nicht selten durch die Zeitungen bekannt werden.
n dem modernen Italien macht sich seit der Herstellung des
nationalen Königreichs ein entschiedner, höchst erfreulicher Auf¬
schwung der wissenschaftlichen Thätigkeit, namentlich auf dem
Gebiete der Geschichte, bemerkbar. Ein großer Teil der Er¬
forschung der vorrömischen und römischen Vergangenheit des
Landes liegt gegenwärtig in den Händen italienischer Gelehrten, die in der
Sicherheit des Wissens wie in der Methode der Forschung kaum noch hinter
den bedeutendsten Altertumsforschern der andern Nationen zurückstehen, auf
manchem Gebiete sogar Bahnbrechendes geleistet haben. Aber auch die gro߬
artige mittelalterliche Vergangenheit des Landes, sowie die Geschichte der Re¬
naissance, über deren Vernachlässigung bei den italienischen Gelehrten Georg
Voigt noch im Jahre 1880 klagen konnte, beschäftigt gegenwärtig eine ganze
Anzahl bedeutender italienischer Forscher, und wenn sich die Deutschen rühmen
dürfen, dnrch die klassischen Werke Georg Voigts und Jakob Burckhardts diesen
Aufschwung der italienischen Renaissancestudien großenteils mit veranlaßt zu
haben, so müssen sie andrerseits bekennen, daß eine Neubearbeitung der ge¬
nannten Werke, die dein gegenwärtigen Stande des Wissens entsprechen soll,
ganz besonders auf dem Grunde der Leistungen der Italiener erfolgen muß.
So knüpft sich durch gemeinsame, von beiden Teilen geachtete und anerkannte
Arbeit auf demselben Felde ein neues schönes Band zwischen den gelehrten
Kreisen zweier Völker, die schon so viele Verühruugspunkte haben. Der italie¬
nische Staat sieht dieser gelehrten Arbeit uicht müssig zu, er hat das „Italie¬
nische historische Institut" lMituto storioo ikg,1ixmc>) ins Leben gerufen, das
sich durch Veröffentlichung der italischen Geschichtsquellen <Muti xvr tu. swrig,
et'It,g,lig.) bereits große Verdienste erworben hat. Diese Veröffentlichungen er¬
scheinen in drei Serien, nämlich 1. Lorittort, 2. LxiLkolkri s Ksgssti, 3. Le^wei.
In der Reihe der Briefsammlungen ist neuerdings auf die Vriefschnfteu des Cota
ti Rienzi, herausgegeben von A. Gabrielli, der erste Band des DpiZwI^rio
all Lolueeio Llüuwti von Professor F. Novati*) gefolgt, eine in Ausstattung,
Druck, Anordnung und Vollständigkeit des Stoffes mustergiltige Veröffent¬
lichung, die uns einen der „führenden Geister" der Frührenaissance und damit
diese ganze interessante Zeit, in der schon einmal der Versuch gemacht wurde,
einen italischen Nationalstaat zu gründen, viel mimittelbarer und genauer
kennen lehrt, als es bisher der Fall war. Ergänzt wird der Inhalt dieses
Bandes durch ein vor fünf Jahren erschienenes Werkchen des Herausgebers
Novati, das die Jugendgeschichte Colueeios enthält. Der vorliegende Aufsatz
beruht im wesentlichen ans diesen beiden Büchern und glaubt sich trotz des
scheinbar entlegnen Stoffes an die Leser dieser Blätter wenden zu dürfe«, weil
hier das allmähliche Werden eines der ersten modern empfindenden Menschen,
der überdies zu Petrarca in näherer Beziehung stand, gezeigt werden kann.
Wer von Florenz westwärts über Prato und Pistoia nach dem inter¬
essanten Lucca reist, dem eröffnet sich hinter dem Tunnel von Serravalle die
Aussicht auf deu Kessel von Pescia und das Thal des Nicvvle. Es lohnt
der Mühe, in Monte Catini auszusteigen, denn der Reisende befindet sich in
einer der lieblichsten Gegenden Italiens, im Val ti Nievole, das seit alters der
Garten Toskanas genannt wird. Wandert er von da nordwärts, so wird er
bald auf einem Hügel linker Hand, halb versteckt in einen Olivenhain, die spär¬
lichen Neste des ehemaligen Kastells Stignano gewahren. Ein steiler Pfad
leitet zum Gipfel der Anhöhe, durch ein halbverfallues Thor treten wir auf
einen freien Platz mit wenigen Hütten, von Mauertrümmern übersät, über
deren rötliches Gestein die Natur milde ihren grünen Mantel breitet. Stille
und Weltvergessenheit weben um Stein und Strauch ihr melancholisches Einerlei,
und träumend schweift der Blick nach Süden hinaus in das von unzähligen
Gießbächen durchrieselte ruincngekröntc Hügelland, das sich zum Fucecchiosee
hinabsenkt, und über weißschimmernde, zwischen silbergraue Oliven und dunkle
Kastanien gebettete Dörfer bis hinab zum Turme von S. Miniato bei Florenz.
Aber nicht immer war es hier so still und friedlich wie jetzt; dieser Garten
Toskanas war in der Stauferzeit und noch Jahrhunderte darnach zugleich
anch das Schlachtfeld Toskanas. Zahllose Fehden zwischen Guelfen und
Ghibellinen, zwischen eifersüchtigen Stadtgemeinden, zwischen tyrannischen
Signoren und freiheitliebenden Bürgern wurden hier jahraus jahrein in un¬
unterbrochener Blutarbeit ausgekämpft, und was das Schwert verschont hatte,
das fraß dann gar oft des Kriegs gieriger Gefolgsmann, die Pest, und der
Garten Toskanas wurde oft so einsam und menschenleer, daß noch im sech¬
zehnten Jahrhundert Bär und Wolf uicht seltene Gäste waren. Stignano
selbst wurde 1430 von den zügellosen Horden des mailnndischcn Söldnerfuhrers
Francesco Sforza von Grund aus zerstört und nie wieder aufgebaut. Als aber
seine Türme noch fest, seine Zinnen noch wohlbewehrt waren, wurde dort an:
16. Februar 1331 dem Piero Salutati in böser Zeit ein Sohn geboren, der
bei der Taufe in San Maria zu Pescia die Vornamen Lino Coluceio, beides
Kosenamen für Niccolo, erhielt, sodaß sein vollständiger Name lautete: Lino
Colueeio ti Piero dei Salutati. Ich sage, es war eine böse Zeit, und Co-
luecios Mutter wird den Taufgang des Sohnes mit banger Sorge im Herzen
verfolgt haben. Denn die Salutati nannten zwar manchen Hof und manches
Grundstück des Thals ihr eigen, und der Vater, Piero Salutati, war gleich
geschätzt als Kriegsmann wie als Bürger; aber er war fern von den Seinen
als heimatloser Flüchtling. Als ein Mann von entschiedet, guelsischer Ge¬
sinnung, d. h. von einer Gesinnung, die keinen Streit mit der Kirche suchte
und für ein freies, weder von einem kaiserlichen Statthalter, noch von einem
andern Tyrannen geknechtetes Bürgertum schwärmte, hatte er mit für den im
Jahre 1329 vollzoguen Anschluß der sieben Gemeinden des Thals an das
guelsische Florenz gewirkt; aber bereits im folgenden Jahre hatte der Tyrann
Spinola von Lucca mit andern Ortschaften auch das Kastell Stignano erobert
und die Häupter der Guelfen unbarmherzig in die Verdünnung getrieben. So
hatte auch Piero Weib und Kind, Hof und Acker verlassen müssen und hatte
jenseits des Avvennin in Bologna Zuflucht gefunden; ebendahin siedelte im
Frühling 1331 auch sein Weib mit den Kindern, darunter dem kaum zwei
Monate alten Coluccio über. So hatte denn das Schicksal schon ans sein
zartes Kindesalter den schlimmen Stempel der Verbannung gedrückt; Coluceio
mußte, wie einst Dante, das salzige Brot der Fremde essen, und auch weiter¬
hin sind ihm herbe Wechselfälle des Lebens nicht erspart geblieben. Doch
zunächst war er wohl geborgen. Denn der Stadtherr von Bologna, Taddeo
de' Pevoli, nahm den Vater Piero Salutati unter seiue Getreuen auf und
gab ihm für seine Dienste reichlichen Lohn. Und als Piero Salutati 1341
noch im kräftigsten Mannesalter gestorben war, nahmen sich Taddeo Pepoli
und seine beiden Söhne, Jacopo und Giovanni, in wahrhaft väterlicher Weise
der Hinterlassenen an. So erhielt Coluccio eine sorgfältige Bildung in den
sogenannten freien Künsten; entscheidend aber ster die Zukunft des geweckten
Knaben, der seine Altersgenossen frühzeitig an Kenntnissen und an Geschick
im Disputiren überragte, wurde die Unterweisung in Dialektik und Rhetorik
durch den damals in Bologna lebenden und lehrenden Pietro da Muglio.
Die viel später geschriebnen Briefe Coluccios an diesen Mann, voll von
wahrhaft rührender Anhänglichkeit und Verehrung, sind ein schönes Zeugnis
sür das gedeihliche Verhältnis zwischen Lehrer und Schüler. Colnceio dankte
dem Muglio besonders die genaue Kenntnis der Tragödien und der Traktate
Senecas und damit die Einführung in die stoische Philosophie; vor allem
aber den Hinweis auf einen Mann, der, anch als Coluccio dem Wunsche seiner
Gönner folgend sich (etwa 1346) als Student der Rechte in Bologna ein¬
schreiben ließ, auf Jahrzehnte hinaus, ja in gewissem Sinne für immer der
Leitstern seines Lebens blieb.
Dieser Mann war Petrarca, damals bei den Gebildeten aller Völker mit
um so größerer Scheu und Ehrfurcht genannt, je einsamer er im Reiche des
Geistes seine stolzen Bahnen wandelte. Es ist schwer, mit wenigen Worten
zu sagen, was denn eigentlich das Neue und Besondre an diesem Manne
war; wenige Andeutungen müssen hier genügen. Nicht mit Unrecht wird die
Neuzeit für Deutschland und das deutsche Volk vom sechzehnten Jahrhundert,
vom Beginn der Reformation an gerechnet. Italien war in feiner Entwicklung
weit voraus, hier beginnt die Neuzeit fast zwei Jahrhunderte früher. Am
Abschluß des Mittelalters und an der Schwelle der Neuzeit zugleich steht der
Sänger der Oiviim ooiuuröäm, Dante, in dem einerseits der christliche Mysti-
zismus des Mittelalters seine genialste Entfaltung erreicht, der aber auch schou
an der Hand des Heiden Virgil die Geisterwelt durchwandert. Den Schritt
über die Schwelle des neuen Zeitalters that Petrarca, der erste moderne
Mensch. Sein Gefährte wurde der große Arpiuate M. Tullius Cieero, und
indem er an dessen Hand in das weite Gebiet historischer und philosophischer
Kenntnisse und Vorstellungen des Altertums hineinwanderte, indem er aus
dessen zum Teil erst wieder entdeckten Schriften die hohe Anmut und Kraft
einer neuen Beredsamkeit, zugleich aber auch die Berechtigung des Menschen
zu freier Forschung und zur Einzelexistenz, die Berechtigung der Völker zum
Nationalbewußtsein herauslas, stürzte für ihn die scholastische Wissenschaft und
das mittelalterliche Kastenwesen zusammen. Er streifte die Zwangsjacke einer
übertriebnen Selbstentäußerung ab, die die mittelalterliche Kirche dem Menschen
zu Gunsten des Gottesstaates angelegt hatte, und zum erstenmale trat in ihm
wieder die freie Persönlichkeit mit dem Ansprüche hervor, so zu denken, zu
reden, zu schreiben, zu leben und zu streben, wie es das lebendig empfindende
Herz gebot. Petrarca hielt also seinen Blick nicht nur auf das Jenseits
gerichtet, wie es die Kirche vorschrieb, die den Menschen nur sür den Himmel
erziehen wollte, sondern versenkte sich mit der frischen Freude des Entdeckers
in die göttliche Hoheit der Menschennatur und in die Zeit, wo diese in vollem
Ansehen gestanden hatte, in das klassische Altertum; den Zusammenhang zwischen
diesem und der Gegenwart herzustellen, Rom und Hellas vom Dornröscheu-
schlafe zu erwecken, die ewige Stadt aus Schutt und Asche, aus Armut, Zer¬
rissenheit und Verrohung wieder zur geistigen und weltlichen Hauptstadt
Italiens zu machen und dabei selbst unsterblichen Ruhm zu erringen, das
waren die Ideale, von denen er träumte, von denen alle seine Schriften bald
in dem weltschmerzlichen Tone des Abendglöckleins, bald in dem erschütternden
Klänge der Sturmglocke wiederhallten. Es war ein Klang von zauberhafter
Wirkung, an den Ohren der großen Menge allerdings, wie noch heute das
Edelste, wirkungslos vorüberkommt, aber über Berg und Thal, über Flüsse
und Meere von wenigen erleuchteten Seelen in tiefer Bewegung gehört und
aufgenommen. Cvluceio gehörte zu den wenigen Auserwählten. Sein Lehrer
Pietro da Muglio hatte ihm Wohl von jener wundersamen Zeremonie erzählt,
dnrch die Petrarca am 8. April 1341 auf dem Kapitol in Rom mit dem
Lorbeerkranze zum Dichter gekrönt worden war, eine symbolische Handlung,
nicht ganz frei von Mummenschanz und Phantasterei, die aber doch „vom
klassischen Kapitol herab der in Haß und Aberglaube,? versunkner Welt ins
Bewußtsein zurückrief, daß die erlösende Arbeit des Geistes ihr ewiges Be¬
dürfnis, ihr höchster Beruf und ihr schönster Triumph sei." Außerdem aber
hatte Coluccio als Bologneser Student gewiß auch durch seinen Lehrer, der
mit Petrarca im Briefwechsel stand, Schriften des Meisters in die Hand be¬
kommen und mit der ihm eignen Begeisterung für alles Schöne und Erhabne
in sich aufgenommen. In heißem Sehnsuchtsdrauge hatte er schon von Bo¬
logna aus Briefe voll glühender Verehrung an Petrarca gerichtet. Allerdings
hatte er zunächst keine Antwort erhalten, aber in Petrarcas Bahnen zu wandeln
trotz der trocknen juristischen Fachstudien blieb seitdem sein Lebensziel. Da
geriet sein Schifflein wieder auf eine böse Klippe. Er war dem Abschluß
seiner juristischen Studien und seiner Ernennung zum Notar nahe, da sahen
sich seine Beschützer Jacopo und Giovanni Pepoli, die sich nach dem Tode
ihres Vaters Taddeo (1347) unklugerweise in allerlei Kriegshändel eingelassen
hatten, genötigt, die Siguorie von Bologna an den ländergierigen Erzbischof
Giovanni Visconti von Mailand, den Herrn von Piemont und der Lombardei,
zu verkaufen (1350); im folgenden Jahre wurden sie sogar auf Grund des
Verdachts, sie strebten darnach, ihre Signorie wiederzugewinnen, von dem
ästigen Visconti eingekerkert; darnach sahen sich auch alle ihre Vertrauten und
Anhänger in Bologna bedroht, Coluccio und seine Brüder mußten Bologna,
ihre zweite Heimat, verlassen. Da war es für sie ein Glück, daß unterdessen
Florenz die Herrschaft, im Val ti Nievole wieder erobert hatte; so fanden sie
in den verlassenen Höfen ihres Vaters inmitten der lieblichen Oliven- und
Kaftanienhaine der ursprünglichen Heimat nnter dein Schutze der mächtigen
Arnostadt ein Asyl. Damals erwarb Coluccio in Lucca oder Florenz den
Grad eines kaiserlichen Notars, denn im Mai 1353 zeichnet er in einer noch
^rhaltnen Vertragsurkunde als iiux<zrikcki auetoriwtö Notarius et ^'ucksx ordi-
u-U'ius. Dann ist über eine lange Reihe der Lebensjahre Coluccios tiefes
Dunkel gebreitet. Denn alles, was man über seine Anstellung an der päpst¬
lichen Kurie in Avignon gefabelt hat, beruht auf Mißverständnis oder auf
Erfindung. Ich halte es deshalb für das Natürlichste, anzunehmen, daß er
diese Jahre (von 1353 bis 1366) in der sanften Schönheit seines Heimats-
lhnles zugebracht hat, und zwar äußerlich mit der Ausübung seines Notariats
und der Verwaltung seines ererbten Grundbesitzes beschäftigt, innerlich aber
nach Petrarcas Vorbild an dem Ausbau seiner Persönlichkeit weiterarbeitend.
Sind doch auch die wenigen aus der Zeit von 1360 bis 1366 erhaltnen
Briefe Colueeios alle von Ortschaften des Val ti Nicvole, meist ans Sti-
gnano datirt.
Während dieses langen Zeitraumes eines beschaulichen und den idealen
Gütern zugewandten Lebens hat sich wohl jene Fülle von Kraft in ihm auf¬
gespeichert, die dann auf der Höhe seines Lebens mit so elementarer Gewalt
hervorbrach. In Stigncmo vertiefte er zunächst seine klassischen Studien; der
Kreis seiner Lektüre läßt sich ungefähr nach den in seinen Briefen enthaltnen
Zitaten bestimmen: er umfaßt nußer der heiligen Schrift, mit der er ganz be¬
sonders vertraut war, die damals bekannten Schriften Ciceros, Sallust, Sueton,
Valerius Maximus, Quintilian, Macrobius, Boethius und von deu Dichtern
Virgil, Homz, Ovid, Juvenal, Statius, die Tragödien Senecas, die Disticha
Catonis, später auch Catull, Properz, Tibull, Claudian n, a. Nach diesen
Vorbildern, vor allem aber nach dem Beispiele Petrarcas versuchte sich Coluceio
auch selbst in lateinischen Dichtungen. Er sand, wie vor ihm Dante und
Petrarca, das Wesen der Poesie in der Allegorie und in der Moral. Und
wie für Petrarca die Ekloge eine willkommne Form gewesen war, „seine An¬
griffe gegen das Papsttum von Avignon, seine politischen Meinungen, aber
auch Persönliches unter einer zugleich schützenden und doch lockenden Hülle
vorzutragen," so verstand Cvluccio in seiner ersten Ekloge, die er an Boccaccio
schickte, unter dem Hirten Phrgis die irdische Welt, die in Liebe zu Cariste,
d. i. zur Gnade Gottes, vergeblich erglüht. Pyrgis gelangt ans Ziel seiner
Wünsche erst durch seinen Aufstieg über die vier schweren Berge der Kardinal-
tugenden zum Hirten Silvida, d. i. Christus. Auch was wir von Coluccios
Versuchen auf dem Gebiete des Epos und des eigentlichen Lehrgedichts wissen,
zeigt, daß er sich als Dichter über die bloße Nachahmung Petrarcas nicht er¬
hoben hat. Um so erfolgreicher waren seine Bemühungen um die Ausbildung
seines prosaischen Stils. Seine Redeweise zeigt im Wortschatz und im Satzbau,
wie natürlich, noch manche Anklänge an die mittelalterliche Latinitüt, nament¬
lich an die Briefe des Petrus de Vinca, des Kanzlers Friedrichs II,, andrer¬
seits aber eine große Verwandtschaft mit der Sprache der philosophischen
Schriften Ciceros. Doch sinkt er niemals zu einer sklavischen Nachahmung
seiner Vorbilder herab, sein Stil hat vielmehr jederzeit etwas Urwüchsiges und
deshalb besonders Wirkungsvolles behalten, das ihn von der gefeilten, aber
langweiligen Glätte der spätern Ciceronianer unterscheidet. Er sagt von sich
selbst, daß er winnlwimtö stilo schreibe. Überdies haben die Briefe Colnccios
wie auch die Petrarcas keineswegs bloß der Pflege freundschaftlicher Be¬
ziehungen, dem Trösten und Glückwünschen gedient, sie behandeln oft auch eine
wissenschaftliche oder politische Tagesfrage. Dann wachsen sie manchmal zum
Umfange kleiner Abhandlungen an, wie z.V. der Brief an Tancredo Vergivlesi
über die Frage, ob der Philosoph Seueca, der Erzieher Neros, zugleich der
Dichter der unter seinem Namen überlieferten Tragödien sei, oder der Brief
an Giuliano Zeuuariui, der eine Verteidigung der klassischen Studien gegen
die kirchlichen Eiferer enthält, oder ein Brief an Francesco Bruni über die
Verweltlichung der Kirche.
Solche Briefe wurden vom Empfänger an andre Freunde der Musen
weitergegeben und in immer weitere Kreise verbreitet, sodaß sie für jene Zeit
einigermaßen die spätere Litteratur der Flugschriften ersetzten. Sie dienten
aber auch der Schaffung einer Art von Gelehrtenrepublik, denn indem Coluccio
nach Petrarcas Vorbilde das vo8 der Anrede samt allem byzantinischen Titel¬
kram, wie ung'mliosutiÄ vestr-i, exosllsuti-i vöstra, durch das antike tu ersetzte,
schwanden die Standesunterschiede unter den Gelehrten der Renaissance.
Dieser Briefwechsel wird unserm Coluccio während der stillen Jahre im
Val ti Nievole manche reine Freude verschafft haben, aber mit der Zeit stellte
sich doch auch der Wunsch ein, aus der Verborgenheit des heimatlichen Thales
emporzutauchen, den Fuß hinauszusetzen in die große Welt und irgendwo an
wichtigerer Stelle anzuschaffen und zu wirken „am sausenden Webstuhl der
Zeit." Er war kurze Zeit Kanzler der kleinen Stadt Todi am mittlern Tiber,
da kehrte im Herbst 1367 der päpstliche Hof unter Urban 'V. aus Avignon,
wo er seit 1305 die schmachvolle Zeit des sogenannten babylonischen Exils
verlebt hatte, nach Rom zurück. An dieses Ereignis knüpfte Salutati die
schönsten Hoffnungen für Italien wie für sich selbst. Er wandte sich an einen
ihm befreundeten päpstlichen Sekretär Francesco Brnni mit der Bitte, daß er
ihm irgend eine bescheidne Stellung bei der Kurie versorge; gleichzeitig schickte
er dem Papste gewissermaßen als Probestück seiner poetischen Kunst ein Gedicht
auf den Einzug in Rom. Aber es kam keine Berufung. Da wagte er eS im
Frühjahr 1368, obwohl im Besitz einer Familie, ohne Amt nach Rom zu
gehen, als Privatsekretär des Francesco Brnni, um dort lediglich von dem
Ertrage seiner Feder zu leben. Aber auch so kam er mit den kirchlichen Größen
seiner Zeit in Berührung und erwarb sich eine genaue Kenntnis der Zustände
am Hofe des Papstes. Sie waren sonderbar genug. Urban V. selbst war ein
geborner Franzose, ebenso die meisten seiner Kardinäle und Höflinge. Diese
waren gewohnt, in ihren Palästen zu Avignon das üppigste Leben zu führen,
und nur sehr widerwillig, vor einer furchtbaren Pest und den Söldnerbanden,
die Avignon bedrohten, weichend, waren sie nach Rom übergesiedelt, das ihnen
"und durch den Flitterstaat der Einzugsfestlichkeiten, im Vergleiche mit dem
lachenden Avignon, als die in Gram und Kummer nicht nur gebeugte, sondern
auch verwilderte Witwe erschien. Wohl hätte sich unter diesen Verhältnissen
^r päpstlichen Kirche die Möglichkeit zur Lösung einer Kulturaufgabe ohne
gleichen in der liebevollen Wiederherstellung Roms dargeboten, und in der
^-hat wurde ein äußerlicher Anfang dazu durch den Wiederaufbau der in Schutt
und Asche liegenden Hauptkirchen, des Lateran, San Paolo und San Pietro
gemacht, aber bald fühlte man sich am Grabe der Apostel, wie in den stillen
Sommerfrischen der Kurie um Rom, so einsam wie im Exil, und schließlich
segelte Urban V., trotz des Jammers aller italischen Vaterlandsfreunde und
trotz der Abmahnungen einer begeisterten Prophetin, schon im Sommer 1370
nach Avignon zurück, wo er noch vor Ablauf des Jahres starb. Alle die mit
dieser erneuten Auswanderung der Kurie verbundnen Kämpfe hatte Colueeio
mit durchlebt, sie wurden für seine fernere Stellung zu Kirche und Papst von
entscheidender Bedeutung. Als ein gehorsamer Sohn der Kirche und des Papstes
war er uach Rom gekommen, voll von einer tiefernsten Religiosität und Fröm¬
migkeit; noch lebten in seiner Brust die mittelalterlichen Ideale von der geist¬
lich-weltlichen Universalmonarchie. Als z. B. Kaiser Karl IV. am 21. Oktober
1368 zu Fuß in Rom einzog, das Roß, ans dem der Papst ritt, am Zügel
führend, und bei der Niesse in Se. Peter dem Papste als Diakonus diente,
da hatte Colueciv nur Auge für die ideale Seite dieses Schauspiels; er schrieb
damals an Boccaccio: „Einige, die alles von der kaiserlichen Gewalt erwarten,
verurteilten solchen Knechtesdienst oder sprachen von erheuchelter Demütigung.
Andre Feinde der Kirche verlachten die fromme Handlung und verwarfen sie
mit hartnäckigem Mutwillen. Ich aber empfand eine so helle Frende, daß ich
meiner kaum mächtig blieb bei einem Anblicke, den zu schauen unsern Vätern
nicht vergönnt war, der aber uns nun wider Erhoffen zu teil ward: Papst¬
tum und Kaisertum in vollem Einklange, das Fleisch gehorchend dem Geiste,
und die Herrschaft dieser Welt unterthan dem himmlischen Reiche. O wenn
doch solch eine Eintracht auch die einzelnen Menschen, die Fürsten, die Völker,
die gesamte Menschheit verdürbe! Glaube mir, es würde besser stehn aus Erden,
bald würde die Majestät des Kaisertums zurückkehren, die Barbaren würden
gebändigt ihren Nacken beugen und würden auf dem geeinten Erdkreise nur
noch Christi Namen anbeten und verehren."
Im Glauben an den hohen Beruf der Kirche wurde Coluceio durch das,
was er in Rom erleben mußte, aufs tiefste erschüttert. Die höchsten geist¬
lichen Würdenträger verspürten damals zu wirklich kirchlichen Aufgaben durch¬
aus keine Neigung, um so mehr waren sie dem Sinnengenuß und dem Tanze
ums goldne Kalb ergeben. Einer von den Kardinälen Urbans V. hinterließ
in einem roten Koffer zweiundzwanzig Beutel mit je fünftausend Dukaten und
viele andre Beutel mit tausenden von Goldmünzen aller Länder Europas, im
ganzen ein bares Kapital von 200 000 Dukaten, d. i. nach heutigem Geld¬
werte etwa ein Viertel der Bleichrödcrschen Hinterlassenschaft. Cvluecio mußte
erleben, daß unter den Gründen, die die französischen Prälaten für die Rück¬
kehr der Kurie nach Avignon geltend machten, die Güte des Burgunderweins
eine Hauptrolle spielte, der durch keinen italischen Wein zu ersetzen sei, und
daß endlich Urban diesen und andern weltlichen Gründen nachgab. Noch ver-
schonte damals Coluccio des Papstes Amt und Person mit seinem Urteil,
indem er ihn mit dem 44. Psalm auf den Richterstuhl des ewigen Gottes
verweist, aber sein Urteil über den päpstlichen Hos ist damit gesprochen: er
erscheint ihm als der stinkende Pfuhl aller Laster, aus dem er wie aus
der Unterwelt zum Licht und zum Leben flieht, um künftig seiner Familie,
den Freunden, dem Staate und vor allem seinen Studien zu leben. Er
übernahm das Amt eines zweiten Kanzlers zu Lucca mit acht Gulden
monatlichen Gehalts. In dieser Stellung fand er zum erstenmale Gelegen¬
heit, sich in die Verhältnisse und Geschäfte eines größer« freien Gemeinwesens
einzuleben.
Es ist interessant, zu beobachten, wie sich Colneeio in dieser Zeit allmäh¬
lich von der Nachahmung Petrarcas zu selbständigen« Gebahren losringt, ja
sogar, wenn auch in pietätvollster Weise, an den Meister selbst mit dem Prüf¬
stein der Kritik herantritt. Die Anfänge dazu liegen bereits in der römischen
Periode seines Lebens. Als Urban V. mit der Kurie in Rom weilt, wird
Petrarca immer und immer wieder von Colueciv aufgefordert, aus seiner Zu-
rückgezogenheit in Arqim bei Padua herbeizukommen und mit der ganzen Kraft
seines Namens und seines Geistes an der Befestigung des Papsttums in Rom
und an der Wiederherstellung dieser Stadt zu arbeiten. Und als Petrarca
doch nicht kommt, warnt er ihn, damit er nicht wegen seiner hartnäckigen
Zurückhaltung undankbar und anmaßend erscheine. Schärfer geht er mit
Petrarca ins Gericht, als dieser im Sommer 1W9 statt nach Rom zur Hoch¬
zeit der Prinzessin Violante nach Pavia, ins Kastell des Tyrannen Galeazzo
Visconti, gereist ist. Er schreibt an ihn: „Immer war mir deine Reise nach
Ligurien verdächtig, und schon lange fürchtete ich einen bösen Ausgang dieser
Unternehmung. Kranken Pflegt allerdings eine Ortsveründernng öfter angenehm
zu sein, wenn nämlich das Reiseziel eine ehrbare Erquickung bietet, aber nie¬
mand ist jemals so thöricht gewesen, daß er fröhlichen Herzens Böses gegen
Gutes eingetauscht hätte. Oder könnte es etwa deinen Geist ergötzen, zuzu¬
sehen, wie unglückliche Völker im Rachen solcher wütenden Bestien zerrissen
werden? Und magst du in der Residenz deines Galeazzo, die er sich in Pavia
erbaut hat, immerhin alles Großartige und Prächtige gesehen haben, magst
du die gigantische Masse dieses Kastells, die Schönheit der Gemälde, den Glanz
der Speisezimmer, die Pracht der Schlafzimmer, den kaiserlichen Anstrich des
ganzen Palastes samt der Üppigkeit der Mahlzeiten und dem Kleiderluxus be¬
wundert haben, so wirst du dich doch eines Schauders und eines still¬
schweigenden Nerdammungsurteils nicht haben erwehren können, wenn du
daran dachtest, daß alle diese Herrlichkeit dnrch Plünderung ganzer Völker und
unter den Thränen der Unglücklichen zusammengebracht worden ist. Und wer
wäre so gefühllos, daß er bei solchem Anblicke und solchen Gedanken nicht er¬
schüttert würde bis ins innerste Herz hinein? Er müßte ein Scheusal sein.
gräßlicher als der Tyrann selbst, wenn überhaupt hier noch eine Steigerung
denkbar ist, der bei solcher Vernichtung seiner Mitmenschen nicht bis ins Mark
hinein getroffen würde." Ein Fieber, das den heimkehrenden Petrarca befiel
und bis an den Rand des Grabes brachte, wird von Colnecio auf eben diese
Erschütterungen, die er in der Zwingburg des Tyrannen erlitten haben müsse,
zurückgeführt. Hier zeigt sich ein tiefgehender Gegensatz zwischen den beiden
Männern: Petrarcas antike republikanische Gesimiuug beruht auf bloßer schön¬
geistiger Schwärmerei, sie gilt für ihn nnr in der Theorie und hält ihn nicht
ub, mit den blutigsten Tyrannen, den Visconti in Mailand und andern in
Freundschaft zu leben. Bei dem ehrlichen Colnecio besteht zwischen Lehren
und Leben kein Gegensatz; was er für wahr und gut erkannt hat, das sucht
er auch im Leben zu verwirklichen.
Der Gegensatz der Lebensführung verschärfte sich, als sich Colnceio zu
Lucca in die Fülle politischer Geschäfte einlebte. Petrarca hatte ihm, als er
zum erstenmale in einem Briefe an Francesco Bruni den aufstrebenden Coluecio
grüßen ließ, eins gewünscht: reiMes. Darunter verstand Petrarca die Ruhe
der von ihm gewählten Zurückgezogenheit von allen gemeinen Geschäften, die
Muße für seine unnnterbrochne philosophische „Kontemplation," das andächtige
Lauschen auf die Regungen des eignen Genius. Der Begeisterung sür diese
recMös hatte Petrarca Ausdruck gegeben in dem berühmten Traktat: 1)s vita,
soliwria (Über das Leben in der Einsamkeit). Daß der Mensch auch handelnd
aus seiner Studierstube heraus ins Leben treten müsse, daß er auch Pflichten
gegen seine Mitmenschen zu erfüllen habe, dieser Gedanke lag dem geistigen
Aristokraten fern, aber Colnecio nahm ihn auf und setzte der Vier, solitiU'ig,
seinen leider unvollendeten Traktat gegenüber: of vio WsovmlM se oxsr^tivg,
(Über das Leben in der Gesellschaft und in der Thätigkeit).
Noch einmal wurde seine praktische Arbeit an dem Wohle seiner Mit¬
bürger durch Parteistreitigkeiten in Lucca unterbrochen, die ihn nötigten, die
Jahre 1372 und 1373 im heimatlichen Val ti Nievole zu verbringen. Dann
siedelte er Anfang 1374 in einflußreicher Stellung nach Florenz über. Damit
beginnt die zweite und wichtigere Hälfte seines Lebens, denn erst in Florenz
hat sich Colnecio zur vollen Größe seiner Persönlichkeit entfaltet. Viel dazu
trug die Stadt selbst bei.
Mau hat die Rolle, die Florenz im vierzehnten Jahrhundert in Italien
spielte, verglichen mit der Rolle Athens im Zeitalter des Perikles. Florenz
war damals die schönste und blühendste Stadt und zugleich die Lehrmeistern,
Italiens. Wenn die Abendsonne hinter den Lnccheserbergen unterging, ver¬
goldete sie allerdings damals noch nicht die majestätische Dvmkuppel der Arno-
stadt — Brunellescho wölbte sie erst im folgenden Jahrhundert —, aber schon
ragte der Turm des Rathauses, das Meisterwerk des Arnvlfo del Cambio,
gigantisch in die blane Luft, von dem Zcdernmast, der ihn ins Unendliche zu
Verlängern schien, schaute der Florentiner Löwe stolz herab ans ein Gewirr
von Straßen nud Plätzen, Kirchen und Palästen, Türmen und Kuppeln, und
dazwischen wogte ein Volk von 100 000 Köpfen unruhig und neuerungssüchtig
wie einst die Athener, aber auch voll von opferbereiter Vaterlandsliebe, vor¬
nehm und gering einander nahegebracht durch das hohe Maß gemeinsamer
Schulbildung, der Geringste selbst durch deu Reichtum des Ganzen vor ge¬
meiner Not geschützt. Die Verfassung der Stadt, kühn behauptet durch alle
Stürme des Mittelalters hindurch, hatte den republikanischen Geist bewahrt.
An der Spitze des Volkes stand ein uralter Geburtsndel, dem Volke nicht
fremd in Sitte und Beschäftigung, sondern mitten uuter ihm als Arbeitgeber
und Unternehmer. Denn der Florentiner Adliche war Kaufherr oder Fabrikant,
seine Geschäftsverbindungen umspannten ganz Europa, bei Florentiner Genossen¬
schaften, denen die Bardi und Medici vorstanden, machten Könige ihre An¬
leihen. Wer aber viel erworben hatte, saß nicht auf seinen Geldsäcken, sondern
spendete zum Wohl des Ganzen mit vollen Händen, Gemeinsinn und Staats¬
bewußtsein zugleich bethätigend und vermehrend. Besonders die großen und
berühmten Feste der Arnostadt wurden fast ganz dnrch Beisteuern der Vor¬
nehmen ausgestattet, und doch verschmähten es diese nicht, dabei mit Seiden-
Webern und Wvllkrämplern wie mit ihresgleichen zu Verkehren. Trotzdem
fehlte es natürlich nicht an Reibungen zwischen hoch und niedrig, zwischen
Signori, Zunfthandwerkern und unzünftigen Arbeitern; aber immer wieder
sand man eine Verständigung, da das Staatsbewußtsein bis in die untersten
Kreise vorhanden war, und von jener andauernden Verbissenheit, die das
Moderne soziale Leben vermöge der fühlbarer gewordnen Gegensätze zwischen
arm und reich so schwer zerrüttet, war nicht die Rede. Vielmehr schuf die
fortwährende Teilnahme am öffentlichen Leben sogar bei den Armem reges
Interesse für Geschichte und Statistik, für Dichtkunst und lateinische Wohl-
redenheit, für Malerei und bildende Kunst jeder Art, durch die diese Stadt
bis auf den heutigen Tag wie ein riesiges Museum des Schönen erscheint,
^'s ist keine Übertreibung, wenn Niccolo Tommaseo sein Urteil über Florenz
in den Satz zusammenfaßt: „Die europäische Bildung ist zu einem großen
Teile italienischen Ursprungs, und die italienische ist zu einem großen Teile
tvskanisch, und die toskanische ist großenteils florentinisch."
In dieses Gemeinwesen trat Colueeio Anfang 1874 zunächst als „Notar
für die Wahlen," seit dem 1!). April 1375 als Staatskanzler ein. Er war
damals vierundvierzig Jahre alt, in der Blüte seiner Kraft und umfaßte als¬
bald sein Amt mit dem ihm eignen heiligen Enthusiasmus. Die Flut von
Geschäften, die auf ihn einstürmte, ermattete ihn nicht, sondern schien seine
Fähigkeiten nur noch zu steigern. Er sah seinen Staat sofort nach dem An¬
tritte des wichtigen Amtes in die schwersten Gefahren verwickelt. Es ging
damals durch das geknechtete und geschändete Italien etwas wie ein Früh-
lingstraum lind Frühlingssturm. Das Maß des Übels, das dieses durch
seine Vergangenheit und durch hohe Begabung so begnadete Volk von dem
entarteten und nun auch landfremden Papsttum erlitten hatte, war voll bis
zum Überlaufen. Da der Kirchenstaat über keine Bürgerheere verfügte, so
hatte er, um Aufstünde niederzuhalten und auswärtige Feinde zu bekämpfen,
schon längst zu Svldncrbanden seine Zuflucht genommen. Da war die während
der Anarchie im Königreich Neapel entstandene große Kompagnie des Herzogs
Werner, auf dessen Waffenrock man die Inschrift las: „Ich bin Herzog Werner,
Führer der großen Kompagnie, der Feind Gottes, des Mitleids und Er¬
barmens." Von dem englisch-französischen Kriege her zog die „Weiße Kom¬
pagnie" nach Italien, bald angeführt von dem Engländer John Hawkwood,
ferner die deutsche Kompagnie des Grafen von Landau oder des Hans von
Bongard (Anichino, d. i. Hänsichen genannt), Scharen von dreitausend bis
zehntausend Mann, „das Proletariat der aus den Fugen gehenden ritterlichen
und bäuerlichen Gesellschaft jener Zeit, dem Entsetzen und Flucht voranging,
Hunger und Pest nachfolgten." Mit solchen Banden hielt das avignonesische
Papsttum die Unabhängigkeitsbestrebnngcn der unglücklichen Italiener nieder,
solche Banden standen unter der Leitung meist proper^alischer Kardinallegaten,
denen die Behauptung der einzelnen Territorien der Kirche anvertraut war.
Aber bei der Behauptung blieb man nicht stehen, sondern plante die Er¬
oberung von ganz Toskana, ja gegen Ende des Jahres 1374 schickte der
Kardinal Noellet von Bologna fogar die Bande Hawkwoods aus, um das
Haupt Tvskanas, Florenz, zu überrumpeln. Der überraschten Republik blieb
nichts übrig, als zuucichst Hawkwoods Einfall durch Zahlung von 130 000
Goldgulden abzuwenden. Dann aber mit Anfang des Jahres 1375, gerade
als Coluccio zum Kanzler emporstieg, erhob sich die gemißhandelte Stadt, bis
dahin immer guelfisch und päpstlich gesinnt, mit einem Sturme von Be¬
geisterung, um das Joch der Kirche abzuschütteln.
Aber sofort umfaßt die Florentiner Politik nicht nur die Rettung des
eignen Staates, sondern sie wird durchweht von einem universalen Zuge zum
großen und ganzen: das Ziel wird die Befreiung Italiens. Die Seele der
Bewegung und ihr Organ zugleich wurde der neue Kanzler Colueeio, dessen
Vaterlandsliebe und Freiheitsliebe fest wurzelte in einer dreißig Jahre lang
geübten Vertiefung in den Geist des römischen Altertums, dessen lang ver-
haltne, bisher in unwesentlicher» Aufgaben nicht genügend verwendete Kraft
hier mit einemmale in wahrhaft elementarem Ausbruche fühlbar wird. Neben
dem Löwenbanner von Florenz flattert jetzt plötzlich ein neues rotes, auf dem
mit silbernen Buchstaben das Wort I^Ksrws zu lesen war; dann schloß Florenz
mit achtzig Städten und sogar mit dem Visconti von Mailand einen nationalen
Bund gegen die weltliche Herrschaft des Papstes. In der Stadt selbst wurde
das Jnquisitiousgebüude niedergerissen, der Geistlichkeit die Gerichtsbarkeit ab-
erkannt und das Kirchengut eingezogen, es war ein Sturm, wie er nach
Luthers erstem Auftreten die deutschem Lande durchbrauste.
Es ist im höchsten Grade wahrscheinlich, daß Coluccio um dem Gedanken
dieser nationalen Liga hervorragenden Anteil hatte. Sicherlich bereitete er sie,
schon bevor er Kanzler geworden war, durch Schreiben aller Art vor. Man
vergleiche z. B. seinen Brief an Francesco Gninigi in Lucca vom 7. Dezember
1374, wo es heißt: „Florenz ist die Stadt und die Florentiner sind das Volk,
das nicht nur daheim die Tyrannei verabscheut, sondern auch auswärtiger
Städte Freiheit mit allen Kräften zu verteidigen bereit ist. Wenn sich der
Staat von Lucca in aufrichtiger Gesinnung an Florenz anschließt, so wird er
seine Freiheit unter alleu Umständen behaupten können. Aus Florenz gehen
wie aus einer Hochburg der Freiheit die getreuesten und reifsten Pläne, die
thatkräftigste Hilfe und endlich Männer hervor, die für ihr und ihrer Freunde
Wohl unablässig wachen und bereit sind, die Freiheit aller zu schützen. Und
wenn du nach dem Nutzen fragen willst, deu Florenz davon für sich hat. so
wisse, daß dieser Stadt ihre eigne Freiheit um so sicherer begründet zu sein
scheint, je weiter freie Völker um sie herum wohnen." Am 6. Januar 1376
schreibt er im Namen der Achtmänner an die Römer: „Erlauchte Herren,
teuerste Brüder, der gerechte Gott hat sich des erniedrigten Italiens erbarmt,
das uuter dem Joche fluchwürdiger Knechtschaft seufzt; er hat den Geist der
Völker erweckt und die Unterdrückten wider die schändliche Tyrannei der Bar¬
baren aufgerichtet. Überall erhebt sich Ausonia und ruft nach Freiheit und
erringt sie sich mit dem Schwert. . .. Auf denn, erhebt auch ihr euch, Römer,
erlauchtes Haupt nicht nur Italiens, sondern der ganzen Welt.... Duldet
nicht, daß euer Italien, das eure Ahnen mit ihrem Blute zur Herrin der
Welt gemacht haben, Barbaren und Fremdlingen Unterthan sei. Erhebt zum
öffentlichen Beschluß jenen Spruch des berühmten Cato: »Wir wollen frei sein,
indem wir mit Freien leben,«"°") und am 1. Februar schließt er ein längeres
Schreiben an die Römer mit den Worten: „Wir haben den Anfang gemacht,
wie den Völkern und Herren italischen Bluts gegen die Fremden einen Bund
ZU errichten zum Heil aller derer, die die heißgeliebte Freiheit ersehnen. Wenn
es euch gefallen wird, in diese Liga einzutreten, vielmehr um schicklicher zu
reden, wenn ihr uns und andre in diesen Bund aufnehmen wollt, so wird
diese Tyrannei ohne Mühe und Blutvergießen hinschwinden und Italien in
alter Freiheit zu seiner Mutter zurückkehren." In einem überlegnen Schreiben
an den Minoriten Nikolaus von Agrigent, der als Publizist fiir das Papst¬
tum wider Florenz aufgetreten war, hält er der Kirche mit den schärfsten
Ausdrücken und mit fortwährenden Perweisen auf die heilige Schrift ihre
Verweltlichung und Herrschsucht vor. In einem umfangreichen Briefe an
Francesco Vruni über die Verderbtheit der Kirche läßt er den Apostel Petrus
vom Himmel herniedersteigen und den päpstlichen Hof in Avignon besuchen.
Da sieht er seinen Nachfolger mit goldgestickten Kleidern geschmückt, auf ver¬
goldetem Stuhle, auf goldgestickten Kissen sitzen, überladen mit Edelsteinen und
Perlen, aufgebläht von Stolz, mit seinen Genossen sich des Reichtums rühmend,
nicht sich beraten über den Stand des Glaubens, sondern über Kriege, voll
Wirren und Schrecken, die er über gläubige Christen verhängt. Da redet ihn
Petrus an: „Was sinnst du und was treibst du? Ist es etwa dem Amt,
Kriege zu erregen? Wann erlitt die Kirche größere Unbill als damals, wo
unser Heiland durch deu Judaskuß deu Sündern ausgeliefert wurde? Denkst
du nicht daran, oder hast dn vergessen, daß ich damals noch in irdischer Weise
aufbrausend die Hand ans Schwert legte, daß mir aber damals der Heiland
streng befahl, das Schwert in die Scheide zu stecken? So war mir also das
irdische Schwert damals und für immer versagt. Nun sage du mir aber, von
wem du es erhalten hast, denn das weiß ich, daß dir Gott niemals eine Herr¬
schaft dieser Welt verliehen hat. Wenn du aber sagst, daß sie dir ein Mensch
verliehen habe, so wisse, daß, was Gott mir verboten hat, kein Mensch dir zu
gestatten oder zu gewähren vermag." Sind das nicht lutherische Gedanken?
Und die Kirche antwortete ihm anch, wie sie Luther geantwortet hat; am
31. März 1376 sprach Gregor XI. über Florenz den furchtbarsten Bannfluch
aus, den je die Welt von den Lippen eines Statthalters Christi vernommen
hat: Besitz und Person jedes Florentiners, mochte er in Italien oder im Aus¬
lande leben, wurde der Plünderung preisgegeben; jeder Florentiner sollte der
Sklave dessen sein, der ihn einfing. „Dies graziöse Volk — sagt Gregorovius —,
aus dem bereits Dante, Giotto und Petrarca hervorgegangen waren, und in
welchem eine aufkeimende Wunderwelt von Geistern, ewigen Zierden der Mensch¬
heit, ruhte, wurde durch den Papst zum Range einer Negersklave»Horde herab¬
gesetzt." Aber Florenz unterlag nicht. Auch die große Gefahr, die der Auf¬
stand des untern Volks, der sogenannte wmnlw alvi eionixi (1378), über die
Stadt herausführte, wurde glücklich überwunden, und wie mild und versöhn¬
lich lautet darüber Coluccios Urteil! Er ist mit der gewährten Amnestie völlig
einverstanden, denn die Aufständischen haben grobe Ausschreitungen fast völlig
vermieden und nicht um Beute, sondern um Rechte gestritten. Später hat er
in Wort und Schrift die Unabhängigkeit von Florenz gegen die drohende
Tyrannis des mailändischen Visconti verteidigt. Die Staatsschreiben, die
während des Menschenalters von 1375 bis 1406 von Florenz ausgegangen
sind und mehrere dicke Foliobände des toskanischen Staatsarchivs bilden, sind
wohl alle von Coluccios Hand; sie wirkten nicht nur durch die Wucht der
Gedanken und die Majestät des Stils, sondern vor allem durch die überall
hervortretende sittliche Überzeugung ihres Verfassers, sodaß Giangaleazzo Bis¬
conti behauptete, Coluccios Schriften hätten ihm mehr geschadet als tausend
florentinische Reiter.
Aber trotz seines unermüdlichen Kampfes gegen eine Welt von Haß und
Unverstand wurde fein Staatsideal: ein freies Italien, bestehend aus einem
Bunde unabhängiger republikanischer Gemeinwesen, nicht verwirklicht. Und
doch, wer möchte behaupten, daß er vergeblich gewirkt habe? Große Ideen
sterben nicht, wenn ihr Erzeuger stirbt; und so haben auch Coluccios patrio¬
tische und religiöse Ideen weiter gewirkt, bis sie, allerdings erst nach einem
halben Jahrtausend und in einer den monarchischen Anschauungen der Gegen¬
wart entsprechenden Weise durch den Bismarck Italiens, durch Cavour, ihre
Erfüllung fanden.
Die staatsmännische Seite seines Wirkens war aber keineswegs die ein¬
zige, die in Florenz hervortritt. Derselbe Mann, der Tag sür Tag die wich¬
tigste» Staatsgeschäfte zu erledigen hatte, wanderte am Abend hinaus zum
Paradiso, einer auf dem entzückenden Monte Oliveto gelegnen Villa des fein¬
gebildeten Kaufherrn Antonio degli Alberti, um hier neue Anregung auszu¬
teilen oder zu empfangen, oder hinüber über den Arno nach Santo Spirito,
ins stille Kloster der Augustinereremiten, wo ein kleiner Kreis von Männern
der neuen Richtung den ersten Versuch machte, etwas der Akademie Platons
ähnliches zu schaffen, und handelte dort mit dem Bruder Marsigli in stunden¬
langen Gesprächen über die tiefsten Fragen der Moral. Und mit welchem
Eifer hat sich Coluccio auch noch als Staatsmann bemüht, immer weiter in
das klassische Altertum einzudringen! Aus Petrarcas Nachlaß erwirbt er den
Canuti und den Properz und müht sich, Ciceros Briefe zu erlangen. Und als
ihm dies nicht gelingt, ruht und rastet er nicht, bis er durch deu mailän-
discheu Staatskanzler Pasquino ve Capelli nach jahrelangem Bitten Abschriften
dieses für ihn unermeßlichen Schatzes erhält. Er begrüßt die Abschrift, außer
sich vor Freude, als ein Geschenk Gottes, und mit welchem Eifer er sie ge¬
lesen und sich um die Besserung deS Textes gemüht hat, davon zeugt sein
noch heute in der Mediceischen Bibliothek vorhcmdnes Exemplar. Wie einst
Petrarca Briefe an die großen Männer des Altertums gerichtet hatte, so spricht
auch Colueeio in seinen Randbemerkungen den Cicero wie einen Lebenden an,
und nicht immer hat sich dieser Coluccios Zustimmung zu erfreuen. Nament¬
lich seine Verzagtheit im Unglück enttäuscht den in seinem Gottvertrauen starken
Charakter des Florentiner Staatsmannes. Zu der Klage Ciceros: viutius iir
ÜÄV Vita 6886 N0N xo88um bemerkt er: Hilla 3,18, p1>it08o^U6 et68v6rat.6? und
ein andermal schreibt er an den Rand: L!ur, xllilosoxlle, clL8x6ra8 Et oxt.3,8
Milo mutari non pe>88unt,?
Diese Bemerkungen, zu denen Colnccio wohl ein Recht hatte, führen
uns schließlich auf die rein menschliche Seite seines Wesens. Wenn er sin-
rend durch die volkreichen Straßen von Florenz wandelte, nicht übergroß an
Gestalt, im Alter ein wenig gebeugt, aber bedeutend durch die Bildung des
Kopfes mit gewölbter Stirn, starken Kinnladen und Lippen, im Ausdruck dem
kühnen Savcmarolci ähnlich, so beugte sich vor ihm alt und jung: und diese
allgemeine Achtung, die er genoß, galt doch vor allem dem reinen und makel¬
losen Menschen. Man kennt von ihm, obwohl die Florentiner als Läster¬
zungen berüchtigt waren, keine sinnliche Schwäche, keine That niederer Selbst¬
sucht, uicht einmal ein leichtfertiges Wort: tiefer sittlicher Ernst war der
Grundzug seines Wesens. Seine Lebensanschauung beruhte auf der Ver¬
mählung eines geläuterten Christentums mit den Sätzen der antiken Stoa.
Kein Unglück konnte ihn außer Fassung bringen. Den Freund, der ihn auf¬
forderte, vor der fürchterlichen Pest zu fliehen, verwies er gelassen auf Gottes
Allmacht, den Schmerz über schwere Schicksalsschläge hat er mit bewunderungs¬
würdiger Kraft vor der Welt verborgen, und er war ebenso frei von Todes¬
furcht, wie er von dem ewigen Leben der Seele fest überzeugt war. Und
welch ein liebenswürdiger Freund und Berater, freigebig mit seinen Bücher¬
schützen war er dem jiingern Geschlechte Florentiner Humanisten, die um ihn
sich scharend wie Söhne um einen Vater emporstrebten! Als er 1406 im
Alter von 75 Jahren gestorben war, tönten aus allen Teilen Italiens die
rührendsten Klagen seiner Jünger — z. B. eines Poggio, eines Lionardo
Bruni — um den Mann ohne Schuld und Fehle, um die Leuchte des Vater¬
lands, um den Helfen und die Zuflucht für alle Söhne der Wissenschaft.
Florenz ehrte seinen großen Toten noch mit dem Dichterlorbeer, einem gro߬
artigen Leichenbegängnisse und einem Marmordenkmal im Dome.
Wichtiger aber und dauernder als dies äußere Gepränge ist der vor¬
bildliche Gehalt seines Lebens. Wer seinen Entwicklungsgang vorurteilsfrei
betrachtet, wird vor allem drei Wahrheiten erkennen: erstens, daß daS klassische
Altertum bei der Bildung der Persönlichkeit eine von den Schwächen und
Gebrechen der Zeit befreiende Macht ausübt; zweitens, daß aus Coluccios
klassischen Studien ein seiner Zeit voraneilendes Nationalbewußtsein, die
glühendste und hingebcndste Vaterlandsliebe erwachsen ist; drittens, daß die
Begeisterung für die Antike und für das Vaterland mit einem aufrichtigen
Christentum wohl zu vereinen ist. So war sein Humanismus wohl auti-
püpstlich, aber christlich und patriotisch durch und durch, eine Auffassung
dieser Bewegung, die den spätern Geschlechtern der italischen Humanisten leider
abhanden gekommen ist, die aber in den deutscheu Reformatoren mit siegreicher
Kraft wieder auferstand und fortlebt bis auf diesen Tag.
er großen Masse des asiatischen Festlandes vorgelagert, springt
die vorderindische Halbinsel nach Süden hinaus in den Ozean,
der nach ihr seinen Namen erhalten hat. Mit der südlichsten
Spitze, dem Kap Komorin, erreicht sie beinahe den achten, mit
ihrem nordwestlichsten Ende, dein Kessel von Peschauer, den
fünfunddreißigsten Grad nördlicher Breite und erstreckt sich also von den
heißesten Graden des Äquators bis weit in die gemäßigte Zone. Die Aus¬
dehnung Indiens von Ost nach West wie die von Nord nach Süd beträgt
rund vierhundert geographische Meilen. Die Breite kommt der Strecke
Madrid—Odessa, die Tiefe der Entfernung zwischen Petersburg und Palermo
gleich. Mit dieser geschlossenen Ländermasse haben die Engländer noch das
Thal des Jrawadi und die östlichen Küsten des bengalischen Meerbusens poli¬
tisch verbunden. Das gesamte, so zu dem auglo-indischen Reiche vereinigte
Gebiet umfaßt mit Einschluß der Vasallenstaaten mehr als vier Millionen
Quadratkilometer und trägt 260 Millionen Menschen. Die Bevölkerung über¬
trifft die Schätzung Gibbons für das römische Reich auf dem Gipfel seiner
Macht um mehr als das doppelte, und die indischen Provinzen der Königin
Viktoria sind größer an Umfang als alle die Länder, die dem Willen Napoleons
auf der Höhe seiner Laufbahn gehorchten. Indien kommt an Flächeninhalt
Ü^nz Europa, mit Ausschluß Rußlands, ungefähr gleich und übertrifft es an
Einwohnerzahl.
Ein so ungeheures Gebiet birgt natürlich in seinem Innern bedeutende
physische und klimatische Gegensätze: den mannichfaltigsten Wechsel in der
Bodengestaltung, schroffe Unterschiede in Temperatur und Feuchtigkeit, und
d'e größte Verschiedenheit in der Landschaft und des Pflanzenwuchses. Ganz
Europa bietet auf dem gleichen Flüchenraum nicht so große Gegensätze wie die
worderindische Halbinsel. Schweden ist nicht so verschieden von Italien, wie
^engalen von Sind, England nicht so verschieden von Österreich, wie der
Paudschcib von Kürg. „Indien" ist in der That nnr ein Name für eine
große, aus sehr verschiedenartigen Teilen zusammengesetzte Ländermasse. Indien
'se nicht ein Land, sondern ein ganzer Kontinent.
^ Diesen Gegensätzen in der Natur des Landes entsprechen natürlich die
größten Unterschiede in dem Charakter seiner Bewohner. So finden wir ans
der einen Seite in der schwülen, erschlaffenden Luft, inmitten der feuchten,
tropischen Vegetation und auf dem maßlos produktiven Boden Bengalens ein
kleines, schwächliches, feiges Geschlecht. „Die Kastilianer — schrieb einst
Macaulay — haben das Sprichwort, daß in Valencia die Erde Wasser sei
und die Männer Weiber; diese Beschreibung läßt sich mindestens ebenso gut
auf die weite Ebne des untern Ganges anwenden. Die physische Organisation
des Bengali ist schwach bis zum Weibischen. Er lebt in einem fortwährenden
Dampfbade. Bei seinen Beschäftigungen sitzt er, seine Glieder sind zart, seine
Bewegungen langsam. Vor körperlicher Anstrengung scheut er zurück, nie läßt
er sich als Soldat anwerben. All jene Millionen liefern nicht einen Sepoh
zu dem Heere der Kompanie." Ans der andern Seite haben wir die Menschen
oben im Fünfstromlande. Dort in dem trocknen Klima mit seinen kalten, stär¬
kenden Wintern, auf einem Boden, der die Thätigkeit des Menschen anstrengt
und dann erst belohnt, lebt ein großes, schlankes, thatkräftiges Geschlecht. Dort
findet, moralisch und physisch, die anglo-indische Armee ihren besten Ersatz;
dort messen die Rekruten oft über sechs Fuß; dort drängt sich jeder zum
Kriegsdienst; dort entstanden jene Sils-Heere, die den britischen Truppen auf
dem Schlachtfelde ebenbürtig gegenübertraten und von einem anglo-indischen
Geschichtschreiber an Festigkeit lind religiöser Glut mit den „Eisenfeilen Crom-
wells" verglichen werden konnten.
Weit bedeutender aber noch als die physischen Unterschiede zwischen den
Bewohnern der einzelnen Landesteile sind die innern Gegensätze in der unge¬
heuern Bevölkerung. Vor allem fehlt den Millionen Indiens das Gefühl
einer gemeinsamen Abstammung und als äußeres Zeichen dazu die Gemein-
schaft der Sprache. Wir sagen mit Absicht nicht „die Gemeinsamkeit der Ab¬
stammung," sondern „das Gefühl einer gemeinsamen Abstammung." Denn
auch hier ist es nur der Glaube, der selig macht. In Wirklichkeit ist ja in
keinem Lande mit alter Geschichte die gesamte Bevölkerung gleichen Ursprungs.
Nach welchem Teile der alten Welt wir auch die Blicke lenken, überall finden
wir, daß sich im Laufe der Jahrtausende Volksmassen verschiedner Abkunft
über- und nebeneinander gelagert haben. Aber in den meisten Ländern Europas
sind die verschiednen Bestandteile nach und uach zu einer einheitlichen Nation
zusammengewachsen. So ist z. B. in England aus Jbereu, Kelten, Angel¬
sachsen, Dänen und Normannen das jetzige englische Volk als eine gleichartige,
untrennbare Einheit hervorgegangen. Anders in Indien. Auch hier zeigt sich
uns ein Nach-, Neben- und Übereinander verschiedner Klaffen. Alte Gräber
beweisen das Vorhandensein eines eigentümlichen, gänzlich verschollnen Ge¬
schlechts sür das Steinalter. Über sie scheinen sich zunächst in einer jenseits
aller Überlieferung liegenden Zeit von Nordosten her Horden tibeto-birmesischer
Abkunft ergossen zu haben. Diesen folgten aus derselben Richtung Züge
kolarischer Rasse, und die neuen Ankömmlinge drängten die ältern Einwandrer
seitwärts in die Ausläufer des Himalayas, wo wir jene Stammverwandten
der Mongolen und Chinesen noch heute unvermischt finden. Aber die Sieger
ereilte dasselbe Schicksal. Der vom Nordosten kommende Strom kolarischer
Scharen scheint in Zentralindien mit einem vom Nordwesten her eingedrungnen
Strom drawidischer Stämme zusammengetroffen und nach Osten und Westen
auseinander gesprengt worden zu sein. Von diesen verschiednen Stämmen
uichtkankasischcr Abkunft und dunkler, fast schwarzer Hautfarbe war die indische
Halbinsel in ihrer ganzen Ausdehnung vom Indus bis zum Brahmaputra,
vom Himalaya bis zum Knp Komorin bewohnt, als von der Hochfläche Irans
dnrch°die Pässe des Suleiman ein Zweig der großen indogermanischen Völker-
fnmilie herabstieg in die Ebne des Fünfstromlandes. Vor den neuen An¬
kömmlingen wichen die ältern Bewohnern Schritt für Schritt zurück, oder sie
wurden unterworfen und zu Sklaven gemacht. Kleinere Bruchteile wurden
seitwärts in die .Himalajas abgedrängt, die Hauptmasse aber ward über die
waldigen Ketten der Vindhjas ans das Dekkan zurückgetrieben. Aber noch
war die Herrschaft der Arier nicht einmal in dem Mittellande der Dschumna
fest gegründet, noch waren ihre Ansiedlungen selbst hier mit den Staaten-
bildungen nicht unterworfner älterer Stämme vermischt, als dnrch das nord¬
westliche Thor Indiens wieder neue Völkermassen hereinsluteten. Im zweiten
Jahrhundert vor Christo dehnten die graecobaktrischen Könige ihre Heereszüge
und ihre Herrschaft bis über Delhi ans, und während des nächsten halben
Jahrtausends (126 vor Christo bis 544 uach Christo) überschwemmten skytische
Horden in rascher Reihenfolge die Ebnen von Hindustan. Dann folgte eine
Ruhepause von einigen Jahrhunderten, während deren nach Vertreibung des
Buddhismus die Brahmanen versuchten, den vorhandnen verschiedenartigen
Elementen unter der Form des Hinduismus eine soziale und religiöse Organi¬
sation zu geben. Aber bald traten von neuem fremde Eroberer ans. Seit
d«n Jahre 1000 rollte eine Welle muhammedanischer Scharen nach der andern
herein. Erst Türken unter dem Hause von Ghcizni (1000 bis 1152 nach
Ehristv); dann Afghanen unter Muhammed von Ghor und seinen Nachfolgern
(1190 bis 1290 nach Christo) und schließlich Sölduerbcmden meist mongolischer
Nationalität unter der Tughlakdynastie (1295 bis 1414), sowie später im
Gefolge Vabers und seiner Nachfolger (1526 bis etwa 1700). Während des
Zerfalls des mongolischen Kaiserreichs nach dem Tode Anrangzebs faßten
dann die Engländer in Indien Fuß (Schlacht bei Plassey 1757) und er¬
richteten ihre eigne Herrschaft auf den Trümmern der muhammedanischen.
Aus so unzähligen verschiedenartigen Bestandteilen setzt sich die Bevöl¬
kerung der indischen Halbinsel zusammen. Und alle diese Bestandteile stehen
ni der Hauptsache noch heute unvermittelt neben einander. Während in dem
Lande nördlich von den Pyrenäen Iberer, Kelten, Römer und Germanen längst
aufgehört haben, ein selbständiges Dasein zu führen, und samt und sonders
aufgegangen sind in der ans ihrer Mischung neu entstandnen französischen
Nation, haben im Süden des Himalaya weder die arischen Einwandrer die
altern Bewohner nichtkaukasischer Abkunft in sich aufgenommen oder mit sich
verschmolzen, noch ist es den muhammedanischen Eroberern gelungen, den
unterjochten Millionen den religiösen und sozialen Stempel des Islam auf¬
zuprägen. Noch heute leben in den nordöstlichen Provinzen Indiens, wie in
Assam, die Nachkommen jener alten tibeto-birmesischen Scharen, noch heute
führen die versprengten Überreste der kolarischen Nasse, wie die Santals,
Kurkus u. s. f., inmitten einer arischen Bevölkerung ein selbständiges Dasein,
noch hente nimmt den ganzen Süden der Halbinsel eine geschlossene Masse
drawidischer Stämme ein, noch hente ist das skythische Blut der Vorfahren in
den Dschats des Pnndschab unvermischt, noch heute bekennt sich nur ein Fünftel
der Gesamtbevölkerung zur Lehre Muhammeds. Die zweihundertsechzig Mil¬
lionen Indiens bilden also kein einheitliches Ganze, keine Nation.
Das deutlichste Zeichen dieser fortdauernden Spaltungen ist das ganz
unglaubliche Gemenge von Sprachen. Der Bericht über die Volkszählung
von 1881 sagt, daß es in Indien nicht weniger als hundcrtsechzehu ver-
schiedne Sprachen gebe — wohlgemerkt Sprachen, nicht etwa Mundarten —,
von denen achtzehn von mehr als je einer Million Menschen gesprochen würden.
Andre, von Sprachforschern gemachte Zusammenstellungen ergeben allein hundert-
zweiundvierzig nichtarische Sprachen, die, wenn sie auch ihrem Ursprung nach
gruppenweise zusammengehören, doch sämtlich ihre eigne Grammatik und ihren
eignen Wörterschatz ausweisen. Dieses Heer von indischen Sprachen zerfüllt
in zwei große Klassen, in die arischen und die nichtarischen Ursprungs. Unter
den zweiten können wir wieder drei größere Gruppen unterscheiden, die tibeto-
birmesische, die kolarische und die drawidische, die nnter sich und mit den
arischen Sprachen ungefähr ebenso nahe verwandt sind, wie das Englische mit
der Sprache der Finnen oder das Deutsche mit dem Kauderwelsch der Neger
in unsern afrikanischen Schutzgebieten. Die tibeto-birmesischen Sprachen finden
sich vor allem in den Ausläufern des nordöstlichen Himalaya. Mehrere haben
noch heute Ausdrücke, die ihren chinesischen Ursprung beweisen, während andre
in ihrem grammatikalischen Ban die Stammverwandtschaft mit dem Mon¬
golischen verraten. Die kolarischen Sprachen sind in der Hauptsache über die
mittlern Teile der Halbinsel zerstreut. Die zersprengten Stämme der kola¬
rischen Nasse haben jede Erinnerung an ihre Verwandtschaft verloren und
weisen den Gedanken an Zusammengehörigkeit schroff von der Hand, aber ihre
Sprachen tragen sichtlich den Stempel gemeinsamen Ursprungs. Die bedeu¬
tendste, Sandau, wird von mehr als einer Million Menschen gesprochen.
Die wichtigste Gruppe der nichtarischen Sprachen aber ist die drawidische,
zu deren Bereich noch heute im Süden Indiens eine geschlossene Masse
von achtundzwanzig Millionen Menschen gehört. Voran stehen das Tamil
und das Telugu, die je von zehn Millionen Menschen gesprochen werden
und beide eine bedeutende eigne Litteratur haben. Das arische Sprachgebiet
umspannt die weiten Ebnen im Norden der Vindhjas und die Westküste bis
hinab uach Goa. Die hierher gehörigen Sprachen sind: Sindhi, Pandschabi,
Hindi (in den Nordwestprvvinzen), Bengali, Urija (in Orissa), Maraldi und
Gndscharathi. Sie sind sämtlich aus dem Prakrit oder Sanskrit hervorge¬
gangen, ähnlich wie die romanischen Sprachen aus dem Lateinischen; aber wie
in den einzelnen Ländern Süd- und Westeuropas, so hat auch in den Pro¬
vinzen Hindustans die Entwicklung verschiedne Wege eingeschlagen, und der
Bengali kann sich mit seiner Muttersprache oben im Fünfstromland ebenso¬
wenig verständlich machen, wie der Kastilianer an der Seine. An das Hindi
schließt sich nahe das Urdr oder Hindustani an, eine unter der muhamme-
danischen Herrschaft aus dem Persischen der Eroberer und dem Hindi der
Unterworfnen hervorgegangne Imgrm tiÄnoa, die offizielle Sprache der Nord-
westprovinzen. Hindustani wird namentlich von den obern Klassen, von der
städtischen Bevölkerung und von den Muhammedanern gesprochen. Endlich
ist noch das an der Westküste von der kleinen, aber reichen und unternehmenden
Gemeinde der Parsis gesprochne Altpersisch zu erwähnen.
Für viele der erwähnten Sprachen sind übrigens auch eigne Schriftzeichen
im Gebrauch. Schon dem globe-trotwr, der Indien im Fluge durcheilt, fällt
^' auf, daß in den öffentlichen Bekanntmachungen und Anschlägen bald die
von rechts nach links geschriebnen persischen Schriftzüge, bald die an das
Hebräische erinnernden viereckigen Gebilde des Nagari, bald wieder die runden
gefälligen Formen der Tamilschrift erscheinen.
Es fehlt den Millionen Indiens aber auch die Gewöhnung an eine staat¬
liche Zusanunengehörigkeit und das daraus entspringende Bewußtsein der In¬
teressengemeinschaft. Der Ausdehnung der Staaten sind von der Natur Grenzen
gesteckt, über die hinaus ein Zusammenhalt uicht mehr möglich ist, und die
vor der Zeit der Eisenbahnen und Telegraphen natürlich weit enger gezogen
waren als jetzt. So ist es in der That früher nie zu einer politischen Eini¬
gung der indischen Halbinsel gekommen. Wohl verzeichnet die Geschichte ver¬
schiedne Versuche, ein großindisches Reich zu gründen, aber sie sind sämtlich
der Macht der räumlichen Verhältnisse gescheitert. So haben in der ersten
'»uhammedanischen Periode (1000 bis etwa 1500) die Sklavenkönige (1206
bis 1290) fast alles Land nördlich von den Vindjas zu einem Reiche ver¬
fügt, das dann von den ersten Herrschern der Tughlakdynastie (1320 bis 1414)
über einen Teil des Dekkau ausgedehnt wurde. Aber mit dieser übermüßigen
Erweiterung stellten sich auch sofort die Mißstände der Satrapenwirtschaft ein.
' >e Verwaltung der entferntem Provinzen mußte Statthaltern übertragen
werden, die alsbald darauf ausginge», sich unabhängig zu machen. Schon
1340 riß sich Bengalen los, Gudscherat 1391, und das Reich war längst in
innerer Auflösung begriffen, als Timurs Scharen (1398) darüber hereinbrachen.
Einen neuen Anlauf zur Gründung einer indische»? Universalmonarchie nahmen
die mongolischen Kaiser. Aber wir müssen uns wohl hüten, die Dauer oder
die Ausdehnung des Reichs der Großmoguln zu überschätzen. Wir können
seine Anfänge nicht früher setzen als in das Jahr 1526, als Berber in der
Schlacht von Panipat die Herrschaft über Delhi gewann; aber erst mit der
Thronbesteigung Akbars 1556 beginnt die ununterbrochne Herrschaft der mon¬
golischen Dynastie, und das Jahr 1707, das Todesjahr des Kaisers Aurangzeb,
bezeichnet schon den Anfang vom Ende, den Beginn des raschen Verfalls. Auch
umschloß der Staat Akbars bei seinem Tode (1605) nur noch das Land nördlich
von Nerbadda (Hindustan), und gerade die Bemühungen seiner Nachfolger, auch
das Delkan zu erobern, brachen die Kraft des lose zusammengefügten Reichs-
für immer. In die Zeit der allgemeinen Verwirrung nach Aurangzebs Tode
fallen dann die Ursprünge der englischen Herrschaft (Schlacht von Plasseh 1757),
die sich in einem Jahrhundert (Einverleibung von Audh 1856) über die ganze
Halbinsel ausbreitete. Es sehlt also den Millionen Indiens die Erinnerung an
eine gemeinsame politische Vergangenheit, es fehlt ihnen das durch die Ge¬
wohnheit geschaffne Gefühl der staatlichen Zusammengehörigkeit.
Was aber von ganz Indien gilt, läßt sich im einzelnen auch von den
verschiednen Teilen nachweisen. Fast keiner hat längere Zeit demselben poli¬
tischen Verbände angehört, fast keiner eine längere Reihe von Jahren unter
demselben Herrscherhause gestanden, fast keiner auch nur eine fünfzigjährige
Periode ruhiger Entwicklung gehabt. Heute entstanden Staaten, um morgen
wieder zu verschwinden; Provinzen wurden einverleibt, um sich alsbald wieder
loszutrennen; Grenzen wurden gezogen, um sich sofort wieder zu verschieben; Dy¬
nastien wurden gegründet, um sofort wieder zu fallen. Soweit die geschichtliche
Überlieferung zurückreicht, besonders seit dem ersten Auftreten des Islam, zeigt
sie uus auf der ganzen Halbinsel ein formloses Gewirr unfertiger politischer
Bildungen, ein rastlos auf- und abwogendes Meer, ein unaufhörliches Werden
und Vergehen von staatlichen Eintagsfliegen.
Guizot kommt, indem er den Ursachen der anhaltenden Verwirrung aller
öffentlichen Verhältnisse Westeuropas zwischen dem fünften und neunten Jahr¬
hundert nachspürt, zu dem Schluß, daß sie in der Fortdauer der Völker¬
wanderung zu suchen seien. „Vom Süden preßten die Muhammedaner, vom
Norden die Germanen und Slawen. Die Folge dieser doppelten Invasion
mußte eine fortdauernde Unordnung im Innern des westeuropäischen Gebiets
sein. Die Bevölkerungen wurden unaufhörlich verdrängt, die einen auf die
andern zurückgeworfen. Es konnte sich nichts festes bilden, kein Teil der Ge¬
sellschaft sich setzen und sich ordnen." Diese Beschreibung läßt sich fast Wort
für Wort auf Indien anwenden. Hier wie dort die gleichen Zustände, die
gleichen Ursachen. Indem sich aus dem zentralasiatischen Völkerstrudel Welle
auf Welle über Indien ergoß, wurde jede Festigung verhindert. Was die
Vorgänger zu bauen begonnen hatten, rissen die Nachfolger nieder. Immer
von neuem dasselbe Gähren und Wogen unsteter, auseinanderstrebender Ele¬
mente. Immer wieder die gleichen, alles zerstörenden Sturmfluten. Keine
Periode ruhiger Entwicklung, kein Ansatz zu politischer Festigung, und daher
auch kein Fortgang der Verschmelzung.
Aber es giebt ja außer der Gemeinschaft der Sprache und der Gewohn¬
heit der staatlichen Zusammengehörigkeit noch ein drittes einigendes Band sür
die Bevölkerung eines Landes: die Gemeinschaft der Religion. In den Kämpfen
gegen die Mauren hat sich die christliche Bevölkerung Spaniens zusammen¬
gefunden. Die Bedrohung ihrer Gewissensfreiheit weit mehr als die Beein¬
trächtigung ihrer materiellen Interessen hat die Generalstaaten von Spanien
losgerissen. An dem Unterschiede des Glaubens nicht weniger als an dein
des Blutes nährt sich der Gegensatz Irlands zu England. Und wenn Deutsch¬
land weit später zur nationalen Einigung durchgedrungen ist, als sein west¬
licher Nachbar, so trägt die Spaltung in zwei sich ungefähr das Gleichgewicht
haltende konfessionelle Lager gewiß einen großen Teil der Schuld. Wie steht
es nun mit diesem religiösen Band in Indien? Auf den ersten Blick möchte
man meinen, es sei dort vorhanden. Der Brahmanismus erstreckt sich über
die Halbinsel in ihrer ganzen Ausdehnung. Nicht etwa, daß er die einzige
Religion auf indischem Boden wäre; wir zählen auch nicht weniger als fünfzig
Millionen Muhammedaner, daneben noch einige Millionen Buddhisten, eine
Anzcchls Sikhs und Parsis. Aber volle vier Fünftel der Bevölkerung, rund
zweihundert Millionen gehören dem Brahmanismus an. Auch hat er soviel
wirkliche Lebenskraft, daß er mehr als einmal furchtbare Angriffe überstanden
hat. Der Buddhismus dagegen, im Süden des Himalaya entsprungen, hat
ein Jahrtausend lang dort geblüht, aber während er in andern Ländern die
größten Eroberungen machte, die je einer Religion gelungen sind, ist er ans
seinem Heimatboden schließlich dem Brahmaglauben unterlegen. Ebenso wenig
vermochte die Lehre Muhammeds gegen ihn, die doch binnen siebzig Jahren
alles Land zwischen dein Suleiman und dem Atlas unterworfen und inner¬
halb dieses weiten Gebiets alle frühern Religionen verdrängt hatte. Und der
gänzliche Mißerfolg der heute über die ganze Halbinsel verbreiteten christlichen
Missionen läßt sich kaum noch vonseiten der Frommen bestreiten.
Aber was ist im Grnnde dieser Vrahmanismns in seiner heutigen Form?
Worin besteht sein eigentliches Wesen? „Wir sind in Enropa so sehr gewohnt,
sag^ der beste.Kenner der sozialen und religiösen Zustände Indiens^), mit dein
Namen einer großen historischen Religion stets den Begriff einer Kirche (wenn
nicht im mittelalterlichen, so doch wenigstens im Sinne einer Gemeinde der
Gläubigen) zu verbinden, daß die meisten von uns diese Art von gefestigten
Charakter und organischer Form auch dem Heidentum zuschreiben. Wir sind
geneigt, anzunehmen, daß ein Volk wie die Hindu mit seiner Geschichte und
Litteratur, seinen heiligen Büchern und aufgespeicherten Überlieferungen sich
doch einige grundlegende Lehrsätze oder wenigstens einige bestimmte Anschau¬
ungen von der Gottheit gebildet haben müsse, durch die die höhern Klassen
der reinen, abergläubischen Phantasie der Massen Schranken auferlegt hätten.
Wir können uns nicht vorstellen, daß eine alte, noch lebenskräftige Religion
nur eine wogende See sei, ohne Grenze oder sichtbaren Horizont, hin und her
getrieben von den Wogen einer grenzenlosen Leichtgläubigkeit und einer wunder¬
lichen Erfindung." Eine solche wogende See ist aber der Brahmanismus.
Wenn wir unter Religion eine Anzahl gewisser fester Dogmen verstehen, so ist
er überhaupt keine Religion. Wir hören auf unsern Schulen von dein großen
brahmanischen System mit der Dreiheit Brahma, Wischnu, Siwa. Dieses
System lebt aber nur in den heiligen Büchern der Sanskritlitteratur und in
den Köpfen europäischer Professoren fort. Die Heiligkeit der Vedas ist frei¬
lich ein anerkannter Glaubenssatz für die wenigen gebildeten Hindu, die von
ihrem Dasein gehört haben, doch die alten Gesänge der arischen Einwandrer
haben keine unmittelbare Beziehung zu der Religion des Volks. Und auch
die religiösen Schriften späterer Jahrhunderte, wie die Brahmmms und Sudras,
in denen das religiöse System der Brahmanen weiter ausgebaut worden ist,
stellen keineswegs den Glauben der Massen dar. Die großen Götter der
Hindumythologie spielen keine Rolle in dem täglichen Leben des indischen
Vanern, und in Indien bildet doch die ländliche Bevölkerung bei weitem die
Mehrzahl (vierundneunzig Prozent nach der Zählung von 1881). Hier herrschen
Hausgötter, Stammesgötter, Lokalgötter, jeder innerhalb eines kleinen Kreises,
über den hinaus sein Name kaum bekannt ist. Ihre Zahl ist Million. Hier
wohnt ein Dämon oder Geist in jedem wunderlich geformten Felsblock, in den
rauschenden Ästen jedes knorrigen Baumes, in dem plätschernden Wasser jedes
Walddachs. Diese meist übelwollenden Gottheiten entstehen und vergehen; sie
werden behalten oder abgesetzt je nach ihren Verdiensten. Wunder, wie sie
sich noch heute in Indien täglich ereignen, befestigen den Glauben ihrer An¬
beter oder übertragen ihn auf einen neuen Gegenstand. So strömen dem
Hindupanthcon ständig neue Götter zu, während andre daraus verschwinden.
„Hinduismus — sagt Hunter — ist eine ans Gottesdienst gegründete reli¬
giöse Verbindung. Wie die verschiednen Rassenbestandteile des indischen Volks
in das System der Kasten geformt worden sind, so sind die einfachen alten
Anschauungen der Vedas, die milden Lehren Buddhas und die wilden Vor¬
stellungen und Bräuche der nichtarischen Stämme in einen Topf geworfen
worden und dann ausgegossen als eine Mischung von Silber und Schlacken,
um zu den Hindugöttern verarbeitet zu werden." Wir wollen diesen einzelnen
Bestandteilen der Hindureligion hier nicht weiter nachspüren; es genügt, wenn
wir uns darüber klar werden, daß sie nicht zu einem einheitlichen Ganzen zu¬
sammengewachsen sind. Es fehlt dem modernen Brahmanismus, wenn man
ihm diesen Namen überhaupt noch lassen will und nicht lieber die von eng¬
lischen Schriftstellern meist gebrauchte Bezeichnung Hindnismus vorzieht, an
organischem Ban und an leitenden Gedanken. Vergebens suchen wir eine
Organisation des Glaubens, die alle Hindu umschlösse, vergebens ein grund¬
legendes Dogma, das von allen anerkannt würde, vergebens eine Gottheit,
die die Verehrung aller genösse, vergebens ein Heiligtum, zu dem alle
wallfahrteten. Die Folge davon ist der vollständige Mangel einer kirch¬
lichen Organisation. Hier giebt es kein Gegenstück zu den christlichen Kon¬
zilien oder dem türkischen Ulema, kein kirchliches Oberhaupt, wie den Papst
zu Rom, den Scheikh ni Islam oder den Dalai Lama. Aber sind denn
nicht die Brahmanen vou jeher die religiösen Lehrer und Leiter der Hindus
gewesen? Wohl hat ihre Herrschaft Jahrtausende überdauert. Aber diese
Herrschaft ist mehr sozialer als religiöser Natur. Oder wie sich in dem Be¬
richt über die Ergebnisse der letzten Volkszählung von 1881 ein anglo-indischer
Beamter, derb aber bezeichnend ausdrückt: „Der Beruf der Brahmanen ist nicht,
zu lehren, sondern sich füttern zu lassen. Mit dem geistigen Leben der Massen,
soweit es ein solches giebt, haben sie wenig zu thun. Der opferdienstliche
Despotismus hat das religiöse Element ganz in den Schatten gestellt, und
das Kastensystem hat seine Wurzeln so tief in das ganze soziale Gebäude ge¬
schlagen, daß es heute mehr als ein soziales denn ein religiöses Gesetz er¬
scheint. Ein Manu mag die Hiududreiheit leugnen, er mag sich selbst Götter
erfinden, so niedrig und unrein es ihm beliebt, er mag sie unter den wider¬
lichsten Orgien anbeten, ja er mag jeden Glauben an übernatürliche Mächte
aufgeben, er kann doch ein Hindu bleiben. Aber er muß die Brahmanen ver¬
ehren und füttern, er muß die Kasteuvorschrifteu befolgen, wenn er nicht aus
"er Hindngemeinschcift ausgestoßen werdeu will."
Der Brahmanismus hat daun auch wiederholt die günstigsten Gelegen¬
heiten, den Grund zu einer politischen Einigung der Bevölkerungen Indiens
zu legen, ungenutzt vorübergehen lassen. So erstand z. B. um die Mitte des
siebzehnten Jahrhunderts in den zerklüfteten Ketten der westlichen Ghats (um
Puna) ein Bandenführer namens Siwadschi und legte den Grund zu der
Marathaniacht. „Dies war von Grund aus eine Hinduschöpfung, aber als
sie an Kraft und Umfang zunahm, fiel sie mehr und mehr unter die Leitung
der Brahmanen. Der Zerfall des mongolischen Kaiserreichs begünstigte ihr
Wachstum, sodaß um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts die Zweige des
Marathabundes den größten Teil Indiens umschlossen. Es hätte auch scheinen
können, als ob in diesem Staatenbunde der Kern zu einer indischen Nation
läge, als ob der Vrahmanismus im Begriff wäre, für die Hindu dasselbe zu
thun, was für so viele andre Raffen die Religion gethan hat. Aber nichts
dergleichen geschah. Der Brahmanismus wird nicht zum Patriotismus, und
die Marathabewegung blieb von Anfang bis zu Ende nur eine Organisation
des Raubes."
Und der Islam? Hat er nicht sieben Jahrhunderte lang die politische
Herrschaft über den größern Teil der Halbinsel in den Händen gehabt?
Warum hat er nicht den Millionen Indiens seinen Stempel aufzuprägen und
sie in der Lehre Muhammeds zu einigen vermocht? Andre Religionen sind
ja auch seinem Anprall erlegen. Die uralte Lehre Zoroasters wurde vom
Erdboden hinweggespült durch die erste Welle des Islam. Selbst das Christen¬
tum mußte in Asien vor ihm zurückweichen. Wodurch hat der Vrcchmanismus
dem Ansturm widerstanden? Wohl nicht minder infolge seiner glücklicher»
geographischen Lage als durch seine innere Kraft. Die gewaltigen Ketten des
Snleiman und die jenseits liegenden Wüsten schützten ihn gegen die erste
Springflut des Islam. Die hochgehenden Wellen des Glaubenseifers, die
die Lehre Muhammeds in siebzig Jahren bis an die Säulen des Herkules
und an den Snleiman getragen hatten, waren halb gebrochen, als sie die
Ebnen des Indus erreichten. Allmählich nur wurde die muhammedanische
Herrschaft auf der Halbinsel begründet, und mit Mühe nur wurde sie auf¬
recht erhalten. Die militärischen Abenteurer aus Zentralasien, die in Indien
Reiche oder Dynastien begründeten, kümmerten sich wenig um geistige Dinge.
Der unsichere Stand ihrer eignen Herrschaft ließ ihnen schon keine Ruhe, ihre
ununterbrochne kriegerische Thätigkeit keine Zeit dazu. Meist waren sie rohe
Afghanen oder Mongolen, „selbst nur schlecht gegründet in der Lehre Mu¬
hammeds und unberührt von dem echten semitischen Enthusiasmus, der die
ersten arabischen Fahnenträger des Islam angetrieben hatte." Die Herrschaft,
die sie gründeten, war eine rein militärische, und der Erfolg des Islam be¬
stand in der Hauptsache nur in der Gründling einer langen Reihe von kurz¬
lebigen politischen Gebilde» und darin, daß er eine Konsolidirung des Brah¬
manismus verhinderte.
Es ist nicht anders: auch das Band einer gemeinsamen Religion fehlt
den Millionen Indiens. Ja die Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses
verursacht sogar eine grundsätzliche Feindschaft zwischen einzelnen Bestandteilen
der Bevölkerung. So blickt der Muhammedaner mit unverhohlenem Groll
^auf den götzendienerischen Hindu. Noch schaut dieser mit Grimm ans die aus
Steinen früherer Siwatempel erbauten Moscheen. Bei allen größern Festen
kommt es zu blutigen Reibereien, und nur die Macht der englischen Negierung
verhindert ernstere Kämpfe. So bildet denn die indische Halbinsel in keiner
Hinsicht ein zusammengehöriges Ganze. Diese Thatsache dürfen wir bei Be-
urteilung der politischen Verhältnisse der Halbinsel nie außer Acht lassen.
Indien ist ein rein geographischer Begriff, etwa wie Europa.
Dasselbe gilt aber auch wieder von den verschiednen Teilen. Nirgends
bildet die Bevölkerung ein gleichartiges Ganze. Überall dasselbe formlose
Gewirr unfertiger Bildungen. Die Bevölkerung Indiens befindet sich noch
heute auf einer Stufe geschichtlicher Entwicklung, die die großen Kulturnatiouen
Europas um mehr als ein Jahrtausend hinter sich liegen haben. Um in der
Geschichte Westeuropas ein Gegenstück zu den politischen und sozialen Zu¬
stünden Indiens zu finden, müssen wir bis in die Zeit der Mervvinger zurück¬
gehe!?. Und ein den indischen religiösen Verhältnissen entsprechendes Bild
bietet sich uns erst, wenn wir uns in die letzten Jahrhunderte des vorchrist¬
lichen Polytheismus versetzen. Wir sind gewöhnt, mit geographischen Be¬
zeichnungen auch den Gedanken an bestimmte politische Gebilde, mit dem Namen
einer großen historischen Religion auch den Begriff einer Kirche zu verbinden;
so fällt es schwer, uns darüber klar zu werden, was Indien eigentlich ist.
Unwillkürlich sind wir geneigt, die gleichen Formen menschlicher Gesellschaft,
in denen wir leben, und die wir rings um uns sehen, auch außerhalb unsers
Erdteils vorauszusetzen. Die mit den Worten Vaterland, Heimat, Patrio¬
tismus und dergleichen verknüpften Begriffe sind uns durch die Gewohnheit
der Jahrhunderte in Fleisch und Blut übergegangen. In Indien ist politische
Bürgerschaft bis jetzt noch ein unbekanntes Ding. Die Bevölkerung Indiens
zerfällt in viele Hunderttausende verschiedner Stämme und Klane, Kasten und
Gilden, Sekten und fromme Brüderschaften, und die Beziehungen des Ein¬
zelnen zum Staat sind diesen engern, das ganze gesellschaftliche Leben be¬
herrschenden Verhältnissen untergeordnet. „Geographische Grenzen, sagt Lyall,
entsprechen durchaus uicht irgendwelchen bestimmten Verbänden oder Volks¬
gruppen. Sie haben verhältnismüßig nur wenig politische Bedeutung. Es
ist wenig für die Kenntnis eines Mannes gewonnen, wenn man weiß, welchem
Staat er angehört, oder in welchem Gebiet er wohnt. Denn das sind Dinge,
die an sich keinen Unterschied in Abstammung, Einrichtung oder Gewohnheiten
bezeichnen." Mit gleichem Recht ist hervorgehoben worden, daß die Bezeich¬
nung „Hindu" überhaupt keine bestimmte Definition zulasse. Man sagt, daß
in Indien zweihundert Millionen Hindu leben; aber was ist denn ein Hindu?
In Indien heißt Hindu jeder, der nicht Muhammedaner oder Christ oder
Vekenner einer andern großen Religion ist. Wie der Brahmanismus oder
Hinduismus ein religiöses Chaos ist, so ist auch der Name Hindu „keine
nationale oder geographische Benennung, sondern er bezeichnet ganz oberflächlich
eine zufällig zusammengewürfelte Masse von Sekten, Stämmen und erblichen
Berufen."
Diese Spaltungen, die durch das ganze gesellschaftliche Leben der Halb¬
insel gehen, finden ihren bezeichnendsten Ausdruck in dem Kastenwesen.
Wer seine Kenntnis davon aus den heiligen Schriften der brahmanischen
Litteratur schöpft und die zweihundert Millionen Hindu in vier große
Kasten geordnet glaubt, dem könnte es freilich scheinen, als ob jede diese
Kasteueintciluug eine großartige, die ganze Bevölkerung der Halbinsel um¬
fassende und gewissermaßen doch einigende Organisation sei. Aber die Be¬
obachtung der Thatsachen zeigt gerade das Gegenteil. Das Kastenwesen in
seiner heutigen Form ist die Ursache, der Ausdruck und die Folge der un¬
glaublichen gesellschaftlichen Zersplitterung Indiens. Die alte, in dem großen
Gesetzbuch des Mann beschriebne Einteilung in Brahmanen, Kschatrijas, Waisjas
und Sudras ist, wen» sie überhaupt jemals anders als auf dem Papier brah-
manischer Systeme bestanden hat, heute jedenfalls gänzlich verwischt. An ihrer
Stelle sehen wir ein aller Beschreibung spottendes Gewirr von Kasten und
Untertasten. Trotz zweier Volkszählungen ist es uoch nicht gelungen, ihre
wirkliche Zahl zu ermitteln. Einer der gründlichsten Forscher auf diesem Ge¬
biete, I)r. Wilson, brachte sein großes Werk über Kasten vor seinem Tode bis
auf 678 Seiten, ohne auch uur die Kaste der Brahmanen vollständig ge¬
schildert zu haben. Ein andrer, Mr. Sherring, teilt die Brahmanen in nicht
weniger als 1886 Kasten und Unterkasten, die sich im Laufe der Zeit durch
Rassenuntcrschiede, verschiedenartige erbliche Beschäftigung, besondre religiöse
Gemeinschaft oder getrennten Wohnsitz gebildet haben. Eine ausreichende Be¬
schreibung der niedern Kasten würde viele Bände füllen. Im allgemeinen
bildet jeder Beruf, jedes Gewerbe, jede Gilde, jeder Stamm, jede Klasse, jede
Sekte an jedem besondern Ort eine eigne Kaste; „und die Mitglieder einer
solche» haben nicht nur einen besondern Gegenstand der Anbetung aus dem
Hindupanthevn ausgewählt oder darin aufgenommen, sondern sie essen und
heiraten ausschließlich unter einander." Als in den indischen Zuchthäusern im
Jahre 1856 das System einer gemeinschaftlichen Küche eingeführt werden sollte,
gab die Neuerung zu so vielen ernstlichen Unruhen Anlaß, daß die Regierung
davon abstehen mußte. Es ist durchaus kein seltner Fall, daß ein Sträfling
der Brahmanenkaste lieber verhungert, als die von einem andern Brahmanen
zubereitete Speise zu genießen, weil er seinen eignen Geburtsplatz für einige
Grade heiliger hält, als deu des andern. So zerfällt die Bevölkerung Indiens
in eine ungeheure Anzahl selbständiger, fest organisirter, streng geschiedner und
schroff einander gegenüberstehender sozialer Gruppen.
Zum Schluß dürfte es wohl nicht überflüssig sein, darauf aufmerksam
zu machen, daß es anch den sogenannten „Eingebornen-Staaten" an jener
innern Einheit und Zusammengehörigkeit fehlt, die wir in der Gesamtbevöl-
kerung Indiens vergebens gesucht haben. Sie unterscheiden sich ihrer innern
Znsammensetzung nach in nichts von den verschiednen Provinzen des cmglo-
indischen Reichs. Es ist sehr zu beklagen, daß man für diese Staaten so
höchst ungeeignete Namen erfunden hat. Gewöhnlich Hort mau sie „Auad-
hängige Staaten" nennen; wenn aber dadurch jemand zu der Vermutung ge¬
führt wurde, daß sie auch unabhängig wären, so würde er sehr irren. Die
Bezeichnung könnte auch zu dem Glauben verleiten, daß die „Eingebornen-
Staaten" nationale Staatswesen unter nationalen Fürsten wären. Und doch
ist nichts derartiges der Fall. Ihre Bevölkerung ist gleich der in den bri¬
tischen Provinzen aus ganz ungleichartigen Bestandteilen zusammengesetzt.
Dazu sind die meisten erst neuere Gründungen aus der Zeit der allgemeinen
Verwirrung nach dem Zusammenbruch des mongolischen Kaiserreichs und
werden von Dynastien regiert, die der Masse ihrer Unterthanen vollständig
als Fremde gegenüberstehen. So, um nur ein Beispiel anzuführen, herrscht
der Naismn von Haidambad, der Nachkömmling eines Vizekönigs von
Aurangzeb, der sich nach dessen Tode selbständig machte, mit Hilfe muhamme-
danischer Beamten und arabischer Söldner über eine Hindubevölkerung.
Fassen wir das Ergebnis unsrer Ausführungen nochmals zusammen, so
ist es folgendes: Weder Indien noch irgend ein Teil davon bildet ein zu¬
sammengehöriges nationales Ganze. Es fehlt an jeder physischen, geschicht¬
lichen, politischen, sozialen oder religiösen Einheit. Ein „indisches Volk," eine
„indische Nation" giebt es nicht und hat es nie gegeben. Selbst innerhalb
der Halbinsel bestehen nicht einzelne Nationen, sondern nur eine ungeheure
Anzahl isolirter Stämme und Klane, Kasten und Gilden, Sekten und frommer
Brüderschaften. Indien ist ein zur Zeit durch die englische Herrschaft ganz
äußerlich zusammengebrachtes, formloses Gewirr ungleichartiger, auseinander-
strebender Elemente.
Der Maler X klagt im Februar 1892 eine
Rechnung von 13 Mark 60 Pfennigen für Malerarbeiten gegen Y ein. Dieser er¬
kennt die Rechnung an, wendet aber ein, X habe durch Unvorsichtigkeit bei der
Arbeit Beschädigungen herbeigeführt, deren Ausbesserung ihn 19 Mark gekostet
habe. Hiermit wolle er ausrechnen. Er bittet daher um Abweisung der Klage.
1. In einem Termin vom 19. März 1892 erkennt das Amtsgericht, daß Y
dem X die 13 Mark 60 Pfennig nebst 6 Prozent Zinsen zu zahlen und die Kosten
zu tragen habe. Da die Klagfordernng lignid ist, verweist es die erst noch zu
erweisende Gegenforderung nach 8 136 Ur. 2 der Zivilproßordnung zu einem be¬
sondern Prozeß.
2. D legt hiergegen Berufung ein. Das Landgericht weist durch Urteil vom
15. Juni 1892 die Berufung zurück, unter Verurteilung des Y in die Kosten
dieser Instanz. Es bemerkt: Die Verweisung der Gegenforderung zu einem be-
sondern Verfahren sei nach ^ 274 der Zivilprozeßordnung ohne Zweifel zulässig;
unrichtig sei aber, daß U, wie das Amtsgericht angenommen hatte, eine neue Klage
anstellen müsse, um seiue Gegenforderung geltend zu machen.
3. Gestützt hierauf bittet U beim Amtsgericht, ohne eine neue Klage anzu¬
stellen, um Anberaumung eines Termins. Ein Beschluß des Amtsgerichts vom
1. Oktober 1392 erklärt diesen Antrag für unzulässig; der Beklagte müsse in einem
besondern Prozeß klagen, die Ansicht des Landgerichts sei unrichtig.
4. Zur Ausfertigung dieses Beschlusses ist von dem Gerichtsschreiber ein Ur-
teilsformnlar benutzt worden. I legt daher Berufung anstatt Beschwerde ein.
Im Verhandlungstermin beantragt er nötigenfalls das Rechtsmittel als Beschwerde
anzusehen. Hierauf erfolgt ein Beschluß des Landgerichts vom 4. Dezember 1892:
Die Berufung sei ersichtlich unzulässig, da eine solche nur gegen Endnrteile statt¬
finde. Dagegen sei auf die Beschwerde das Amtsgericht unter Aufhebung seines
Beschlusses vom 1. Oktober anzuweisen, in der Sache selbst eine Entscheidung ab¬
zugeben.
Darauf 5. Beschwerde des Klägers X beim Oberlandcsgericht. Beschluß
des Oberlandesgerichts vom 3. Januar 1893: der Beschluß des Landgerichts sei
aufzuheben, und die Kosten des Beschwerdeverfahrens dem Beklagten aufzulegen.
Grüude: Beklagter habe Berufung gegen den Beschluß des Amtsgerichts eingelegt.
Diese sei nicht zurückgenommen worden, das Landgericht hätte daher über die Be¬
rufung in einem Urteil entscheiden müssen. Es sei unstatthaft gewesen, daß das
Landgericht nach dem betreffenden Antrage des Beklagten die Berufung als
Beschwerde angesehen habe. In der Sache könne das Oberlandesgericht nicht ent¬
scheiden, da eine Beschwerde gegen den Beschluß des Amtsgerichts nicht vorliege,
diese auch zunächst an das Landgericht gehen müsse.
Hierauf 6. Beschwerde des Beklagten U beim Reichsgericht. Ein Beschluß
des Reichsgerichts vom 19. Januar 1893 fordert zunächst, daß der Rechtsanwalt,
der für den Beklagten Beschwerde eingelegt hat, eine Vollmacht beibringen müsse.
Nach deren Einlieferung ergeht am 13. Februar 1393 ein zweiter Beschluß. Der
Beschluß des Oberlandesgerichts sei dahin abzuändern, daß uuter Aufhebung des
Beschlusses des Landgerichts die Beschwerde des Beklagten gegen den Beschluß des
Amtsgerichts zu verwerfen sei, die Kosten aller drei Beschwerdeinstanzen seien dem
Beklagten aufzulegen. Die Gebühren des Reichsgerichts werden niedergeschlagen.
Gründe: Die Beschwerde sei erhoben, denn der Beklagte habe in der Verhand¬
lung vor dem Landgericht für den Fall, daß das Rechtsmittel als Berufung für
unzulässig erachtet würde, Beschwerde eingelegt. Dieser Fall sei eingetreten. Es
liege also eine Beschwerde vor. Freilich hätte der Anwalt zur Einlegung der Be¬
schwerde eine Vollmacht haben müssen, dieser Mangel sei jedoch beseitigt, da er bei
dem Reichsgericht eine Vollmacht eingeliefert habe. Der Beklagte habe ein Recht
darauf, daß über seine Beschwerde entschieden werde. Dem stehe nicht im Wege,
daß auch die Berufung noch anhängig sei. Doch sei die Beschwerde nicht in ge¬
höriger Form eingelegt. Sie habe zwar dem Gerichtsschreiber zu Protokoll erklärt
werden können, weil es sich um eine amtsgerichtliche Sache handle, aber sie könne
nicht durch Erklärung in einem Verhandlungstermin vor Gericht eingelegt werden.
Außerdem hätte sie, da ein dringender Fall nicht vorliege, nicht bei dem Beschwerde¬
gericht, sondern bei dem Gerichte, gegen dessen Verfügung Beschwerde erhoben werde,
eingereicht werden müssen.
7. Nicht abgeschreckt erhebt der Beklagte nun die Beschwerde gegen den Be¬
schluß des Amtsgerichts vom 1. Oktober 1892 in gehöriger Form. Das Land-
gericht bleibt bei seiner frühern Ansicht und beschließt am 20. März 1393, indem
es sich die Entscheidung über die noch anhängige Berufung vorbehält, das Amts¬
gericht anzuweisen, einen Termin anzuberaumen. Die Kosten sollen dem Kläger
zur Last fallen.
8. Hiergegen erhebt der Kläger Beschwerde beim Oberlandesgericht. Am
18. April 1883 ergeht ein Beschluß des Oberlandesgerichts: Der Beschluß des
Landgerichts vom 20. März 1893 werde aufgehoben und die Beschwerde gegen
deu Beschluß des Amtsgerichts vom 1. Oktober 1892 als unzulässig zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens in beiden Instanzen trage der Beklagte. In
einer eingehenden Vegründnng (über vier eng geschriebne Folioseiten) wird aus¬
geführt, daß zwar eine Beschwerde gegen den Beschluß des Landgerichts, aber nicht
eine Beschwerde gegen den Beschluß des Amtsgerichts zulässig sei.
9. Beschwerde des Beklagten beim Reichsgericht. Dieses hebt den Beschluß
des Oberlandesgerichts vom 13. April auf und erklärt die Beschwerde gegen den
Beschluß des Landgerichts vom 20. März 1893 für unzulässig. Dem Kläger
werden die durch die Beschwerden beim Oberlandesgericht und beim Reichs¬
gericht erwachsenen Kosten auferlegt. Grund: Es geniige nicht, um die Zulässig-
keit der wettern Beschwerde zu begründen, daß das Landgericht vielleicht mit Un¬
recht eine Beschwerde gegen die amtsgcrichtliche Entscheidung für zulässig erachtet
habe. Die weitere Beschwerde sei vielmehr nur statthaft, wenn sie durch eine
positive Bestimmung gestattet sei; an einer solchen Bestimmung fehle es aber im
vorliegenden Falle.
Der Beschluß des Landgerichts vom 20. März 1893 bleibt also in Kraft.
A braucht, um seine Gegenforderung geltend zu machen, keinen neuen Prozeß an¬
zustrengen.
Jetzt werden hoffentlich die Parteien, die sich bisher nnr in vorbereitenden
Handlungen und Beschlüssen bewegten, zur Verhandlung ihres eigentlichen Streites
gelangen. Uneinig sind sie ja nur darüber, ob X dem D 19 Mark als Entschädi¬
gung zu zahlen habe. Nun, so bald wird es freilich immer noch nicht werden,
denn zunächst kommen die zweimonatlichen Gerichtsferien!
Dieser einfache Rechtsfall stellt die Vorzüge unsers Zivilprvzeßverfahrens ins
hellste Licht. Er zeigt, mit welcher Gründlichkeit auch unbedeutende Sachen be¬
handelt werden. Obgleich es sich nur um 19 Mark handelt, haben doch mindestens
sechzehn Richter bis jetzt darüber zu „befinden" gehabt, und zwar sind alle wieder¬
holt damit beschäftigt gewesen. Die von ihnen gefaßten Beschlüsse sind zum Teil
ausführlich begründet worden. Wir sehen, unser Prozeßverfahren sorgt für die
Beschäftigung der Juristen, und das ist bei dem gegenwärtigen Überfluß an Ju¬
risten kein geringer Vorzug. Ferner giebt es keine Prozeßordnung, die in dem
Maße wie die unsrige geeignet wäre, den Scharfsinn der Juristen anzuregen und
auszubilden. Freilich, den Parteien werden die 19 Mark derer zu stehen
kommen, auch dürfte thuen vielleicht eine schleunige Erledigung des Streits lieber
sein, als die scharfsinnigsten Erörterungen von Rechtsfragen. Aber es giebt nun
einmal kein Licht ohne Schatten.
Nur um ein wenig Raum möcht' ich
bitten, um eine Bemerkung zu meinem Aufsatz „Auch ein Lehrplan" nachzutragen.
Die Kölnische Zeitung bringt in Ur. 593, der Beilage zur Sonntagsausgabe vom
23. Juli, einen Aufsatz ihres Berichterstatters von der Weltausstellung in Chicago,
überschrieben „Amerikanische Lebensläufe." Der Weltausstellungsmann sitzt in
einem Newyorker Hotel und packt seine Koffer. Da klopft es, und herein tritt
ein Mann, der wie folgt beschrieben wird: „Ein stattlicher, graubärtiger Herr trat
ein und verbeugte sich mehrmals höflich. Ich weiß nicht, woher es kam, aber er
erinnerte mich sofort an Dickens unsterbliche» Micciwber. Seine Gewänder zeigten
an den Nähten, Knieen und Ellenbogen einen verdächtigen Fettglanz, und sein
Chlinderhut machte den Eindruck, als wäre er schon häufig in enge Berührung mit
einer feuchten Bürste gekommen. Nicht ohne ein Gefühl der Unbehaglichkeit be¬
obachtete ich, wie sich der zweifelhafte ältere Herr mir immer mehr näherte. Als
er dicht vor mir stand, nahm ich wahr, daß seine ursprünglich wohlgebildete Nase
von einer unnatürlichen Rote umspielt wurde, und diese Beobachtung trug selbst¬
verständlich nicht dazu bei, in mir jenes Gefühl der Ehrerbietung zu erzengen,
das man eigentlich beim Anblick eines würdigen grauen Hauptes empfinden müßte."
Das erste, was dieser angenehme Zeitgenosse von sich vernehmen läßt, ist ein Zitat
aus dem Homer, spater folgt eins ans Horaz, und schließlich eins aus Schiller.
Erfunden oder erlebt, diese Begegnung ist sehr interessant. Mr. Micawber
selbst hätte sich wohl mit ein paar Versen von Shakespeare eingeführt; ein Fran¬
zose hätte Voltaire oder Berenger zitirt, ein Italiener Dante, ein Portugiese
Camoens, ein Perser Firdusi; mir hat ein Brasilianer einmal die Aussprache des
Namens Camoens erklärt mit einer Begeisterung, mit der ein Deutscher nur über
irgend einen -ismus zu reden imstande ist. Der Deutsche im Auslande, der sich
seinem Landsmann als einen Mann von Bildung vorstellen will, zitirt Homer
und Horaz. Das verbummelte Genie behauptet ucimlich, früher Gymnasinldirektor
gewesen zu sein, der Weltausstellungsmann bezweifelt das aber. Der ganze Vor¬
gang muß doch wahrhaft herzerquickend sein für die Männer, die da fürchten, die
Deutschen möchten sich eines Tages auf ihr wahres Volkstum besinnen. Solange
Zitate aus Homer und Horaz für den Deutschen im Auslande heimatliche Klänge
ersten und zweiten Ranges sind, während Schiller erst in dritter Linie in Betracht
kommt, so lange hat es wohl noch keine Gefahr mit der chinesischen Meiner, durch
die die bösen Nationnlitätseifercr angeblich unser Vaterland abschließen wollen.
Bei Gelegenheit unsrer Rezensententhätigkeit siel uus
dieser Tage ein Machwerk von so unangenehm und unverschämt philosemitischer Ten¬
denz in die Hände, daß wir es doch ein wenig tiefer hängen möchten. Herr Max
Osterberg-Vernkvff, von dem wir zur Ehre der deutschen Nation annehmen wollen, daß
er ihr nicht dem Stamme nach angehört, hat dieses Machwerk geliefert in dem Roman
„Das Reich Judäa im Jahre KVOV" (nach jüdischer Zeitrechnung). Das jüdische Reich
ist seit drei Geschlechter» wiedererstanden; König ist David II,, Hoherpriester Aaron
Kohn. Die Juden haben Palästina auf friedlichem Wege wiedergewonnen; Mil¬
liarden (!) wurden dazu zusammengebracht. Sie haben sich zu eiuer körperlich und
geistig gleich hervorragenden Rasse entwickelt. Die kleinen Untugenden, die ihnen
früher — als Folge der Unterdrückung — anhafteten, sind spurlos verschwunden.
Sie sind die Vorurteilslosigkeit, der Edelmut und die Bescheidenheit selbst. Bei
ihnen allein herrscht noch eine idealistisch gerichtete Litteratur. Bei ihnen allein
sind die Frauen in den Schranken ihres Geschlechts geblieben und sind zufrieden
damit. Ludwig von Fürsprech, der als Gast bei seinem Geschäftsfreunde Frank¬
furter weilt, verliert denn auch die traurigen Vorurteile, mit denen er gekommen
ist, gar bald. In dem Buche, das er über seine Reiseeindrücke schreibt, bezeichnet
er die Gründung des nenjüdischen Reichs als ein Glück für die Juden, aber als
schweren Schaden für die christlichen Staaten, die sich in gefährlichen Zeiten vieler
Tausende von Vertretern des erhaltenden Prinzips berankt haben. Das neue
Reich erfreut sich auch allgemeiner Beliebtheit. Selbst Rußland regt endlich
die Anknüpfung regelrechter diplomatischer Beziehungen an, freilich zunächst weil
es — eine Anleihe braucht. Das Anerbieten wird angenommen nnter der Be¬
dingung, daß die Russen künftig nach den Grundsätzen der Toleranz handeln. Alles
ist Wonne und Freude. Der Kronprinz ist der glückliche Bräutigam der Hohen¬
priesterstochter Dina. Da kommt, wie ans der Pistole geschossen, das Schlu߬
kapitel: wieder ist längere Zeit vergangen, da flammt plötzlich von neuem der
christliche Fanatismus auf; das Abendland rüstet sich zum achten Kreuzzug.
Die Sprache ist natürlich des Inhalts würdig. Der Kronprinz erklärt seiner
Mutter: „Dina zu lieben, das ist selbstredend." Dina antwortet dem Geliebten
ans die Frage, ob sie mit dem Bekanntwerden ihres Licbesbnndes einverstanden
sei: „Voll und ganz!"
Als der Großvater die Großmutter nahm und die Welt
noch nicht so verzweifelt praktisch War, als man die Wiener Oberkellner noch nicht
erfunden hatte und es noch biedre Hausknechte gab, als man noch nicht bis in
die Nacht hinein mit Kind und Kegel in verqualmten Kneipen saß und bei acht
Gläsern Bier über die traurigen gesellschaftlichen Zustände schimpfte, da soll es
noch ein Volkslied gegeben haben, lustige und traurige Weisen, die von Mund zu
Munde und vom Munde zum Herzen gingen. Wo sind sie hin, diese kleinen
Lieder? Sie sind verklungen und fristen nur noch in Sammelwerken und in ge¬
lehrten Untersuchungen ein papiernes Dnsein. Sie verschwanden zugleich mit dem
alten Spinett, mit der guten alten Hausmusik. Als man die Pianinos auf Ab¬
zahlung zu kaufen begann, zog sich das Volkslied zum unmodischen Volk in die
Berge zurück. Was soll es auch bei uus in einer Zeit, wo jeder Hans und jede
Grete ein Urteil über Mozart und Beethoven, Wagner und Mascagni fix und
sertig in der Tasche hat, und wo man für zwanzig Pfennige wöchentlich vom
Mnsikalienverleiher soviel „Salonmnsik" beziehen kann, daß es bequem ausreichen
würde,' musikalische Mitmenschen vom Leben zum Tode zu befördern? Armes
Volkslied, dn warst den Strapazen der „Wagnerabende" und der „Eliteabende"
nicht gewachsen nud hauchtest deine zarte Seele aus.
Aber siehe da: das Volkslied ist tot. es lebe das Volkslied! Doch ach, wie
sieht dein Ersatz aus! Wenn dn gleich einem schlicht gekleideten Mädchen über
grüne Wiesenflnchen schrittest, so tanzt das moderne Volkslied im frechen Röckchen
der Tingeltangelsängerin seine Kaukanweise, durch und durch Geschmacklosigkeit und
Verlogenheit. Du armes totes Volkslied konntest so schön „von Lenz und Liebe,
vou seliger, goldner Zeit" singen, und wenn es auch kein feiner Kunstgesang war
und deine Tondichter nur selten den Kontrapunkt studirt hatten, so wußtest du
doch zu erfreuen und zu ergreifen. Das moderne Volkslied, ein echtes Kind seiner
Zeit, verschmäht die verschlungnen Pfade der Romantik, es will den Menschen
nichts zu fühlen, zu denken und zu raten geben, sondern nur Ohren und Sinne
kitzeln. Gerades Wegs geht es auf sein Ziel los, und das Ziel ist fast immer
die unverhüllte Gemeinheit oder die banale „Aktualität."
Das moderne Volkslied, oder sagen wir gleich: der Gassenhauer, greift um
so schneller um sich, je blödsinniger oder zotiger sein Text und je dürftiger seine
Weise ist. In sentimentaler Vermummung erzählt er: „Denke dir, mein Liebchen,
was ich im Traume gesehn —," dann warnt er: „Fischerin, du kleine, fahre nicht
alleine —," zur snftigeu Zote übergehend, jauchzt er: „Auf der Vogelwiese hab
ich sie gefragt—," zappelt und strampelt dann aus vollster Überzeugung: „Gigerl
sein, das ist fein," und wälzt sich endlich mit den schonen Versen: „Im Grünewald,
im Grünewald ist Holzauktion" nach Herzenslust in dem Schlamme des wider¬
wärtigsten Blödsinns. So wenig Mittel, und so viel Erfolg! Das tönt von der
Possen- und Opcrettenbühne, das klingt vom Konzertpodium, das quiekt aus dem
Leierkasten, das liegt allen, groß und klein, Mann, Weib und Kind, im Munde
und Pflanzt sich mit erstaunlicher Geschwindigkeit fort.
Der Nährboden dieser neuen Volkspoesie ist Berlin, und ihr Duft erinnert
ja auch lebhaft an die eigentümliche, aus Mist- und Asphaltgeruch zusammengesetzte
Großstadtluft, wie sie uach heißen Tagen aufsteigt und Herrn Oskar Blumenthal
fo erfreuliche Tantiemen abwirft. Notabene: ist es nicht bezeichnend, daß auf
dem Höhepunkt der Blumenthalschen Farce ein Gassenhauer („Mit meiner Man-
doline") steht?
Der Gassenhauer hat mit praktischem Blick die ganz und gar nicht mehr
metaphysische» Bedürfnisse des modernen Menschen erkannt und feiert sie in Ton
und Wort. Sein Gift schleicht sich in die Seelen der jungen Leute, ja der Kinder.
Ruhig hören die Eltern ihren Jungen das schöne Lied von der Holzauktion plärren
oder auf dem Klavier hämmern, sie lachen wohl gar darüber und summen mit.
Und so ergreift durchs Ohr hindurch die Trivialität, die Gemeinheit schnell und
fest Besitz von den Seelen und vertilgt auch die letzten Neste von Schönheitssinn
und Harmonie. Des Knaben Wunderhorn hat ausgeklungen. Das Volkslied ist
tot — es lebe das Pöbellied!
Ein geistreiches Büchlein voll anregender Gedanken, geschichtsphilosophischer
wie praktischer. Der Verfasser glaubt, wie schon der Titel andeutet, nu den Fort¬
schritt der Menschheit zu immer individueller» Bildungen und hofft daher auch
mit Werner Siemers von der Elektrotechnik die Auflösung der Großbetriebe und
die Dezentralisiruug der Industrie. Er schließt mit den Sätzen: „Abgehenden
Völkern beschert ihr böser Geist haltlose Naturen, aufgehende finden zähe Charaktere.
Das verfallende Spanien regierte ein Philipp II- ^der aber sein Reich nicht dnrch
Haltlosigkeit, sondern durch zähes, verbohrtes Festhalten am Alten zu Grunde ge¬
richtet hatj, an der Spitze Deutschlands, das zu großen Dingen berufen scheint,
steht ein Wilhelm II. Das Horoskop steht günstig. Nun denn: es waltet in jeder
Zeit ein geheimes Bündnis verwandter Geister. Schließt, die ihr zusammen gehört,
den Kreis fester."
Diese gründliche historisch-statistisch-vollswirtschnftliche Arbeit — wie es scheint
eines Amerikaners — stellt unserm in neuerer Zeit viel geärgerten Stephan ein
glänzendes Zeugnis aus. Unter den neuen Eindrücken, heißt es im Vorwort, „die
jeder Ausländer bei dem ersten Betreten deutschen Bodens gewinnen muß, bleibt
manchem vielleicht der des lebhaften Postpacketverkehrs ans den großen Bahnhöfen
mit am schärfsten im Gedächtnis eingeprägt. Der Amerikaner, der nur die Leistungen
der einheimischen Speditionsgesellschaften kennt, ist besonders geneigt, den ungeahnten
Umfang des von der Reichspacketpost bewältigten Verkehrs zu bewundern, und
wenn er auch das niedrige deutsche Packetporto keimen lernt, wird fein Erstaunen
noch gesteigert." Aber trotzdem daß der Verfasser die Billigkeit unsrer Portosätze
anerkennt, hält er doch eine Reform fiir wünschenswert, namentlich deswegen, weil
die Beschränkung des billige» Einheitssatzes (genauer der zwei Einheitssätze) auf
das Gewicht von fünf Kilogramm in vielen Fällen durch Teilung schwererer Packete
in mehrere leichtere umgangen wird, woraus den Postbeamten viel unnötige Mehr¬
arbeit erwächst. Er hält deshalb den Vorschlag fiir beachtenswert, den Einheits¬
satz (vielleicht fünfzig Pfennige) für Entfernungen über zehn Meilen auf Packete
jedes Gewichts auszudehnen, oder doch das Maximalgewicht von fünf auf min¬
destens zehn Kilogramm zu erhöhen. Besondre Abschnitte find den Eisenbahn-
leistuugen für Postzwecke und der Finanzlage der Reichspacketpost gewidmet.
In der Hauptsache ist es fleißige Hilfsarbeit zur Litteraturgeschichte, die hier,
in die neueste Modesprache der deutschen Litteraturgeschichte gekleidet und von
den meisten Verfassern nicht ohne Wichtigthuerei mit ihrer werten Persönlichkeit,
dargeboten wird. H. W. Singer hat einige englische Urteile über Dramen deutscher
Klassiker gesammelt, Max Koch bringt neues bei über den Schauspieler Pius
Alexander Wolff, K. Borinski giebt einen geschichtlichen Überblick über den Ge¬
brauch oder Mißbrauch, den Sinn über den Versfuß hinauszuführen (Enjambe¬
ment), H. Wölfflin bespricht des jungen Wackenroders „Herzensergießungen eines
kunstliebenden Klosterbruders," G. Witkowski Goethes Beziehungen zu dem fran¬
zösischen Bildhauer und Kunstschriftsteller Falconet, H. Simonsfcld hat zur Ge¬
schichte der Kassandra Fedele, W. Bormann über Schillers „Künstler" und
F. Kühnemann über Herders letzten Kampf gegen Kant geschrieben. Unbekannte
Briefe Weckherlins teilt H. Schmorr von Carolsfeld mit, ein uraltes Märchen von
der Jungfrau mit dem goldnen Haar erzählt W. Golther, wobei er das Ver¬
hältnis einer nordischen Überlieferung zur französischen Tristansage beleuchtet, ein
H. Bodmer berichtet ausführlich über die Entstehungsgeschichte der Miltonüber-
fetznng des alten Bodmer, H. Wunderlich über den ältesten deutschen Übersetzer
des Terenz, den er in dem Ulmer Bürger Hans Neidhart ausgegraben hat, und
W. Söderhjelm über zwei Guillaume Coquillart zugeschriebne Monologe. Am
Schlüsse teilt K. Vollmöller Auszüge ans einer unbekannten altspanischen Über-
setzung der Ilias mit, und I. Elias Bruchstücke eiuer Shakespeareübersetzung von
Johann Gottlieb Regis, dem genialen Sonderling, dem trefflichen Übersetzer des
Gargcmtua, der seine Anschauung von der Kunst des Übersetzens einmal in die er¬
schöpfenden Worte gefaßt hat: „Nach meiner Idee muß der rechte Übersetzer nichts
Weiter sein als ein Mensch, der die Hülse der fremden Sprache mit leisem Scheerchen
von einem ausländischen Werke bloß abtrennt, sodaß es auf einmal als das,
was es ist, den Einheimischen erkennbar dasteht. Freilich erreicht er diese Idee
schon deshalb nicht, weil er nicht bloß nehmen, sondern auch geben und, wie der
Nhinoplast, eine fremde Hülse, sowie er die alte wegnimmt, substituiren, mithin ein
andres Sprachelement oder Verdunklungsprinzip einmischen muß. Aber lossteuern
muß er immer ans jene Idee." Ein erquickender Tropfen fremden Geistes in der
gelehrten Öde dieser „Studien" !
Die neumodische Unsitte der Offiziere, auf Vüchcrtiteln ihre Vornamen zu verschweigen,
geht fröhlich weiter. Soeben ist die Geschichte des sächsischen Infanterieregiments Ur. 107
— der „Hnndertsiebner," wie man sie in Leipzig nennt — erschienen, und auf dem Titel¬
blatte fleht: von Wagner, Sekondeleutnant u,s, w. Wir wiederholein in bibliographischen
Hilfsmitteln und in Bibliothckskatalogen sind solche Bücher so gut wie nicht vorhanden-
Wer das wünscht und beabsichtigt, der mache die Mode mit. Schließlich wird doch auch hier
die Vernunft wieder siegen.
Auf dem Umschlage des in unserm letzten Hefte erwähnten Führers durch Leipzig hat
sich auch ein „Kaufhaus größten sestes" empfohlen, das mit „Damen-, Herren- und Kinder-
moden (Moden!), Wäsche, Leinenwaren und Möbelstoffen" handelt. Am Kopfe der Em¬
pfehlung steht: „An Sonn- und christlichen Feiertagen vollständig geschlossen." Was soll
das heißen? Glaubt etwa der Geschäftsinhaber, wenn er vou Feiertagen schlechthin spräche,
so könnte man am Ende andre als christliche darunter verstehen? Ist Leipzig eine jüdische
oder eine türkische Stadt? Da hört doch wirklich alles auf.
Eine köstliche neue Volksetymologie liest man auf dem Burgberg in Loschwitz bei
Dresden; dort steht angeschlagen: „Zu den Abortemcnts für Herren!" Wenn das Umdrehen
erlebt hätte, wie würde der sich gefreut habe»! Wir wollen aber ja nicht darüber spotten,
denn in Leipzig betonen sämtliche Baugcwcrkeu (Maurermeister, Zimmermeister u. s. w.) den
Abort auf der zweiten Silbe, als ob er vom lateinischen u.bortv.8 herkäme. Kaum glaublich,
aber Thatsache! Wahre Thatsache, würden die Juristen sagen.
Herrn Dr. W. — Sie haben Recht, es war ein 1-rxsus aals-mi, den der Setzer hätte
berichtigen können. Der „Wirrwarr," von dem der Einsender sprach, hatte uns selbst mit
angesteckt. Natürlich ist die Blutwärme mit 37 Grad nach Celsius angegeben; nach Roaumur
beträgt sie ja keine dreißig.
le soziale Frage, die unsre Zeit bewegt, treibt die Geister nach
allen Richtungen der Windrose auseinander. So viel Köpfe, so
viel Sinne. Selbst die einander nahestehenden, vorläufig in
einer Partei vereinigten Menschen sind durch kleinere und
größere Unterschiede getrennt; sie betonen vorläufig den gemein¬
samen Gegensatz gegen andre Richtungen und legen weniger Gewicht auf das
Trennende.
So geht es auch der Bodeubesitzreform. Die Gegensätze in ihr sind
räumlich getrennt. In dem Gebiete der englischen Sprache: in Großbritnnn ini
den Vereinigten Staaten, Australien herrscht die dort schon mächtig ange¬
schwollene Freilandbewegung im Sinne von Henry George, in Deutschland der
Freilandsgedanke Flürscheiins^), und nur ein kleiner Teil der deutschen Boden¬
besitzreformer huldigt dem Genius H. Georges in deu Punkten, die ihn von
Flürscheim unterscheiden; und umgekehrt wird es auch so sein. (Das Hertz-
kasche Freiland steht beiden Richtungen ferner, da beide die freieste Entwick¬
lung des wirtschaftlichen Lebens als Ergebnis der Bodenbesitzreform sehen,
Während Hertzka die kommunistischen Eierschalen noch nicht ganz abge¬
streift hat.)
In den Grenzboten ist neulich H. George zu Worte gekommen, der Mann
mit dem feinfühlenden Herzen, dem umfassenden volkswirtschaftlichen Wissen,
dem scharfen Verstände und der packenden Darstellung, der die Einwände des
Gegners bis in ihre Schlupfwinkel verfolgt, dessen Werke in den verschiedensten
Sprachen weit verbreitet sind, und dessen Studium auch uns Deutschen nicht
dringend genug empfohlen werden kann.
Ein Satz wird aber doch die denkenden Leser der Grenzboten von vorn¬
herein stutzig und ihnen die dann folgende einschmeichelnde Darstellung der
Bodcnbesitzreform ungenießbar gemacht haben — der Satz: »Zur Durch¬
führung der Reform Hütte man daher nur nötig, die alte Grundsteuer langsam
von Jahr zu Jahr (etwa um fünf Prozent der heute erzielbaren Grundrente)
zu erhöhen, bis die volle ökonomische Grundrente eiugesteuert wäre."
Wir mögen noch so sehr vou der Gerechtigkeit der Forderung überzeugt
sein, daß der durch die Ansammlung und die Arbeit der Gesellschaft erzeugte
Wert des Grund und Bodens, wie ihn die anschwellenden Großstädte in
enormem Maße erzeugen, nicht in die Tasche des Privaten, des zufälligen
Eigentümers, sondern in die Tasche der Gesellschaft fließe, so sträubt sich doch
auf der andern Seite dasselbe Gerechtigkeitsgefühl dagegen, daß den gegen¬
wärtigen Besitzern die gegenwärtige Höhe ihrer Grundrente und damit die
gegenwärtige Höhe ihres Besitztums um jährlich fünf Prozent gekürzt werden
soll, bis sie nach zwanzig Jahren nichts mehr von dieser Grundrente haben.
Und dabei sind Massen von ihnen tief verschuldet, die Hyvothekenglüubiger
sind die eigentlichen Eigentümer. Oder suchte man die Hypothekengläubiger
mit zu treffen, so wäre es wieder eine Ungerechtigkeit gegen diese Leute, die
ihr Geld in Grundstücken sicher gelegt haben, während andre, die es in Staats¬
papieren und dergleichen angelegt haben, frei ausgehen würden. Und wenn
uns gar die Wahrheit aufgeht, daß jene Aufhäufung kolossaler Reichtümer in
einzelnen Händen, die weniger in unmittelbarem Bodenbesitz bestehen als in
Hypotheken und öffentlichen Schuldpapieren und Aktien, nicht den kolossalen
„Verdiensten" der Besitzer und ihrer Vorfahren gegen die Gesellschaft ent¬
stammt, sondern eben nur durch den Übergang des Grund- und Bodenwertes
in die Hände von Privaten möglich geworden ist, dann empört sich geradezu
unser Gerechtigkeitsgefühl gegen eine Maßnahme, die allein den heutigen, viel¬
leicht selbst ungünstig gestellten Bodenbesitzer träfe.
Daß ein derartiger Vorschlag von gerechtigkeitsliebenden Menschen aus¬
geht, wird uns nur erklärlich bei englischen Zuständen, denen die nordameri-
tnnischen in diesem Punkte ähnlich sind. In England wurde bei der Eroberung
der Normanne» den alten Angelsachsen nur ein Teil des Landes als freies
Eigentum gelassen, das übrige unter die Sieger verteilt, und zwar wurde es
als Lehen und unveräußerlicher Familienbesitz festgelegt. Die Bekehrten hatten
dafür dem Gemeinwesen Dienste mit Stellung und Erhaltung von Kriegern u.s.w.
zu leisten. Nach der Restauration wurde an deren Stelle eine feste Abgabe
gesetzt im Betrage von vier Schilling von dem Pfunde des damaligen Ertrages
der Grund- und Bodenrenke. Dieselbe Summe wird noch heute gezahlt,
während der Wert des Grund und Bodens, zumal in London, ganz enorm
gestiegen ist; und dabei gehört die Hälfte des Grund und Bodens in Eng¬
land einigen hundertfünfzig Familien, in Schottland einem Dutzend Familien
und der größte Teil des Bodens in London einigen wenigen Lords. Dort
hat ganz augenscheinlich die Gesellschaft durch ihre Betriebsamkeit den Wert
des Bodens, statt für sich, nur sür diese kleine Zahl von Familien erhöht.
Während sich die Gesellschaft zur Befriedigung ihrer Bedürfnisse den Kopf zer¬
brach über neue Steuern und sogar auf Schornstein- und Fenstersteuer verfiel,
während sie gezwungen war, Schulden über Schulden zu machen, immer un¬
fähiger wurde, darbenden Massen genügend Arbeit und Brot zu bieten, häuften
sich die Reichtümer in den Händen jener Familien, die außerdem ihre Macht
noch in dem Parlament zu den sogenannten vnolosurv g,ot,8 mißbrauchten:
zwischen 1702 und 1876 wurden sieben Millionen Acres, die bis dahin Ge¬
meindeland gewesen waren, den Großgrundbesitzern überlassen.
So ist in England die volkswirtschaftlich verderbliche Wirkung des Privat¬
eigentums an Grund und Boden mit Händen zu greifen. Dort giebt es viele
Großgrundbesitzer, die man, wenn sie ihre Entrüstung darüber äußern, daß man
ihnen das Land ihrer Väter nehmen will, mit dem Worte H. Georges ver¬
blüffet: kann: von'l )'on tilaka, ^ein ima it, lonz- «znonAll? Die Bodeubesitz-
reformer Englands sagen sich: wie sollten wir diese Leute noch entschädigen?
Sie müssen froh sein, wenn wir nicht eine Kostenrechnung machen für allen
arbeitslosen, der Gesellschaft gehörenden Erwerb der Vergangenheit. Da er¬
scheint jener Vorschlag, nicht plötzlich, sondern allmählich in einem Zeitraum
von zwanzig Jahren die Grundrente ganz einzuziehen, als ein Vorschlag des
Konservatismus, vorsichtiger Besonnenheit.
Anders in Deutschland. Hier ist der Grundbesitz in den Händen einer
und derselben Familie seit Jahrhunderten nicht so häufig; ganz besonders ist
der Grundbesitz ganzer Städte nicht in dem unveräußerliche» Besitz einzelner
Familien. Und selbst, wo der Grundbesitz seit einer Geschlechterreihe in der¬
selben Familie geblieben ist, ist er in den weit überwiegenden Fällen durch
eine Art von Kauf in den Besitz des Erben gelangt, indem der sogenannte
Anerbe die Geschwister ausgezahlt und erforderlichenfalls das Grundstück mit
Hhpotheken belastet hat. Da wäre es doch eine schreiende Ungerechtigkeit,
wenn den gegenwärtigen Besitzern des Grund und Bodens ihre Grundrente
allmählich verringert und endlich ganz genommen werden sollte.
Eine solche Konfiskation ließe sich nur durch die dringendste Not recht-
fertigen. Sie wäre allerdings gering im Vergleich zu der sozialdemokratischen
Vergesellschaftung nicht bloß des Grund und Bodens, sondern auch aller Pro¬
duktionsmittel. Dennoch hätte diese immerhin noch einen bedeutenden Vorzug:
diese allgemeine Konfiskation träfe alle Besitzenden, und zugleich würden sie
alle — nach der Theorie — innerhalb der neuen Gesellschaft versorgt sein
mit Arbeit und Lebensunterhalt; bei jener H. Georgeschen Konfiskation da¬
gegen würde mancher arme Teufel von Grundeigentümer, der sich schon schwer
genug über Wasser hält, vollends untersinken, und es wäre sehr fraglich, ob
ihm die infolge der Bodenbesitzreform in Aussicht stehende Besserung der ge¬
samten wirtschaftlichen Lage, besonders die Mehrung der Arbeitsgelegenheit,
noch schnell genug Hilfe brächte.
Die H. Georgesche Wegsteuerung der Grundrente erscheint der deutschen
Bodenbesitzreform wie eine schwere Operation, bei der der Körper der Gesell¬
schaft viel Blut verlieren würde. Sie erkennt vielmehr das auf Grund der
bisher bestehenden Gesetze erworbne Eigentum, innerhalb dessen das durch
eigne oder Familienarbeit gewonnene und das durch die Gesellschaft erzeugte
unentwirrbar durcheinandergehen, völlig an und proklamirt nur den Grundsatz,
daß von jetzt ab gesellschaftlich erzeugter Wert nicht mehr in die Hände eines
Privaten gehen darf. Wer ans Grund der alten Gesetze gehandelt hat, kann
dafür nicht gestraft werden. Die neue Wirtschaftsordnung darf keine rück¬
wirkende Kraft haben.
Die Aufgabe, in dieser Beschränkung, gleichsam gefesselt durch die Rück¬
sicht auf die peinliche Gerechtigkeit, doch das gleiche Ziel zu erreichen, das sich
H. George vorgesetzt hat: Erlösung der darbenden Menschheit durch Überfüh¬
rung des Gesellschaftseigentums in die Hände der Gesellschaft und Befreiung
des Privateigentums vou allem Steuerdruck und Eröffnung des Zutritts jedes
Arbeitswilligen zum Arbeitsmaterial — diese Ausgabe scheint allerdings bei
solcher Fesselung unlösbar zu sein. H. George erscheint als der konsequente
Denker, der für die lange benachteiligte Gesellschaft zurücknehmen will, was
ihr gehört, der, wenn er den Zweck will, anch vor den Mitteln uicht zurück¬
schreckt.
Und doch kaun man gerade ihn der Inkonsequenz beschuldigen. Will er
folgerichtig verfahren, dann muß er uicht bloß den Boden, sondern auch das
auf Grund des Privateigentums um Boden erworbne Kapital kvnfisziren, z. B.
den betreffenden Teil der enormen Reichtümer, die jenen englischen Lords durch
Zinsesaufhäufung ohne irgend eine Arbeitsleistung zugewachsen und nicht in
Bodenbesitz angelegt sind; und da dies Vermögen unentwirrbar in das durch
Arbeit erworbne Kapital verflochten ist, so nehme man lieber gleich das ganze
Kapital, wie die Sozialdemokratie.
Die Konsequenz des Grundgedankens der Bodenbesitzrefvrm liegt vielmehr
auf deutscher Seite. Die Bvdenbesitzreform erkennt nämlich in der Arbeit einen
Wirtschaftlichen Faktor, der weit stärker ist als das Kapital, das er erzeugt.
Die Arbeit ist bisher noch nicht erlegen unter der Last des Kapitals: man
gebiete nur dem Anwachsen dieser Last Halt, und die Arbeit arbeitet sich von
selber frei. Dieser Gedanke ist es, der der deutschen Bodenbesitzreform den
Weg zum Ziele zeigt. Man bestimme mir, daß, wahrend der gegenwärtige
Wert des Grund und Bodens den gegenwärtigen Besitzern verbleibt, der zu¬
künftig erworbne das Eigentum der Kommune, des Staats bilde.
Die Schätzung des gegenwärtigen Wertes liegt zum Teil schon vor in
der Schützling des Einkommens und des Vermögens, wie wir sie haben oder
planen, und würde keineswegs viel Schwierigkeiten machen. Die Höhe dieses
Wertes verbürgt die Gesellschaft dem Besitzer. Infolge der sich mehrenden
Arbeitsgelegenheit wird freilich im Bodenbesitzreformstaate der Wert des Bodens
schneller steigen als jetzt, wo er unter den ungünstigern Verhältnissen doch in
Deutschland innerhalb eines Jahrhunderts um das vierzehnfache gestiegen ist;
dennoch kann durch Naturereignisse, Versandung u. s. w. an einigen Stellen
der Wert sinken; die reicher werdende Gesellschaft nimmt den Schaden, der den
einzelnen vielleicht erdrücken würde, auf ihre stärkern Schultern.
Die Hypotheken bleiben Sache des Eigentümers; will er auf sein freies
oder schon belastetes Besitztum Geld aufnehmen, oder will er es verkaufen, so
braucht er sich nicht nach einem Darleiher oder Käufer umzusehn: die Kom¬
mune zahlt ihm bis zur Höhe des festgesetzten Wertes, die Gesellschaft erwirbt
den Grund und Boden, wie sie jetzt unter ungünstigern Umständen zu höherm
Preise in den östlichen Provinzen Preußens Güter erwirbt. Die Ablösung
wird eine einfache Fiuanzoperation, wie sie in neuester Zeit in Irland vor¬
genommen wird: dort kauft der Staat mit Hilfe seines Kredits den bisherigen
Landlord aus, erwirbt das Laud und bezieht von dem Farmer seinen bis¬
herigen Pacht; der Staat erleidet nicht die geringste Einbuße. Freilich läßt
er den Farmer wieder Grundeigentümer werden, ruft damit wieder die Grund¬
stücksspekulation wach und läßt deu zukünftig entstehenden Wert des Grund
und Bodens in die Taschen der Privaten fließen; die Finanzoperation Ir¬
lands selbst ist aber ganz gleich der von der deutschen Bodenbesitzreform ge¬
planten.
Was wird von dieser Festlegung des Bodeuwertes die Folge in dem ersten
Jahre sein? Die Grundstücksspekulation hört auf, und das Kapital kann nicht
mehr in Grund und Boden augelegt werden. Nun ist in Deutschland die
jährliche Mehrbelastung des Grund und Bodeus durch Hypotheken, nach Abzug
der zurückgezahlten, auf ziemlich eine Milliarde gestiegen. Diese Milliarde
sucht irgendwo anders Unterschlupf, nachdem ihr der Boden verschlossen ist.
Die Besitzer dieser Milliarde wollen zum größten Teile ihr Geld sicher an¬
legen; auf Argentinier, Portugiesen und Papiere ähnlichen Kalibers lassen
sie sich uicht ein, sie wühlen solidere öffentliche Papiere. Infolge des stärker
werdenden Angebots steigt der Staatskredit, der Zinsfuß der öffentlichen
Schulden kann um ein viertel, ein halb Prozent niedriger gesetzt werden. So
beginnt die Last, uuter der die Staaten seufzen, die von den Nationalökonomen
als unerträglich geschildert wird — auch für die jetzt noch solid dastehenden
Staaten —, etwas leichter zu werden. Ein Teil der Milliarde bietet sich aber
schon dem soliden Unternehmertum an; dies vermag zu günstigern Bedingungen
Kapital zu erhalten, eS bekommt Luft.
Wir hören den Einwand: Gut für den Unternehmer, aber desto schlimmer
für den Arbeiter, dem Lvhnsklaven; der Unternehmer würde noch mächtiger
werden, und gerade seine Gewalt gilt es zu brechen. Ju diesem Punkte denkt
die Bodenbesitzreform sehr verschieden von der Sozialdemokratie. Ihr sind
Unternehmer und Arbeiter keine Gegensätze; unversöhnliche Gegensätze sind der
heutige Kapitalismus und die Arbeit, aber nicht das Unternehmertum und die
Arbeit. Der Unternehmer ist als Unternehmer anch Arbeiter; auch sei» Feind
ist der Kapitalismus.
Der Schein ist allerdings vielfach dagegen; aber er trügt. In derselben
Person sind nämlich häusig Kapitalist und Unternehmer vereinigt; in dieser
Personalunion werden die Interessen des Kapitalisten und des Unternehmers
ausgeglichen, die an sich einander widerstreiten, denn im Interesse des Unter¬
nehmers liegt es, das Kapital so billig wie möglich zu bekommen, im Inter¬
esse des Kapitalisten, es so teuer wie möglich auszuleihen. Ganz ähnlich Guts¬
besitzer und Landwirte, zwei Klassen, die man fortwährend dnrcheinnnderwirft.
Viele Gutsbesitzer sind gar nicht Landwirte, sie leben von dem Pacht ihres
Ackers; der Landwirt ist Arbeiter, und eine hohe Zahl von Landwirten sind
nicht Gutsbesitzer. Der Gutsbesitzer sucht den Pacht zu steigern, der Land¬
wirt wünscht sein Arbeitsmaterial, den Acker, so billig wie möglich zu be¬
kommen. Und ebenso wie die Landwirtschaft, als Landwirtschaft, so steht das
Unternehmertum im großen und ganzen nicht gut. Die Bodenbesitzreformer
rechnen von hundert Unternehmungen, auch die der kleinern Handwerker und
Landwirte eingeschlossen, etwa zehn, die in Blüte steh», fünfzig, die sich eben
halten, und vierzig, die rückwärts gehn.
Sobald sich also das Kapital dem großen und kleinen Unternehmertum
williger und billiger anbietet, wird die Arbeit erleichtert werden. Die Inter¬
essen des Lohnarbeiters sind aber mit denen des arbeitenden Unternehmers ein
und dieselben. Wir sehen es jetzt schon, daß, wo die Unternehmungen blühen,
anch die Löhne steigen; es beweist nur die Kurzsichtigkeit des Unternehmer¬
tums, wenn es niedrige Löhne wünscht, denn diese erzeugen Mangel an Konsum,
drücken die Preise, häufen die Waren an. Ju Amerika sind die Löhne ver¬
hältnismäßig hoch, und die Unternehmungen blühen; in Rußland sind die
Löhne niedrig, und die Unternehmungen stocken.
Steigt die Kousumfähigkeit, so tritt auch eine größere Nachfrage nach
Arbeitern ein. Bald wird das Kapital auch dem soliden Arbeiter billiger zu¬
gänglich sein, sei es daß er allein oder als Mitglied einer Genossenschaft
arbeitet. Allmählich tritt er nur in den Dienst von Unternehmern, wenn diese
ihm einen Lohn zahlen, der mindestens dem Verdienst entspricht, den er für
eigne Rechnung erzielen kann. Trotzdem werden auch die Unternehmer den
vollen Lohn ihrer Arbeit finden, weil die Hauptklippe der heutigen Geschäfts¬
betriebe verschwinden wird: die Absatzschwierigkeit.
Die Kommunen und der Staat werden ihrerseits helfen, der Arbeitslosig¬
keit ein Ende zu machen. Denn unter den Füßen der mehr arbeitenden und
mehr genießenden Bevölkerung steigt der Wert des Bodens; und trotzdem, daß
eine indirekte Steuer nach der andern dahinsinlt und der wirtschaftliche Ver¬
kehr der Menschen immer ungehemmter wird, werden die Kommunen und
Staaten doch fähiger werden, ihre Aufgaben zu erfüllen, deren Lösung ihnen
gegenwärtig durch die Notwendigkeit des „Sparens" am unrechten Orte er¬
schwert wird.
Das gegenwärtige Brachliegen von Arbeitskraft — diese kolossale Ver¬
schwendung des Nationalvermögens — wird aufhören; der Zugang zu dem
Arbeitsmatcrial wird jedem geöffnet sein; es werden weit mehr als jetzt Ar¬
beitsprodukte, wahres Kapital, erzeugt werden. Infolge dessen wird der Zins
im eigentlichen Sinne für die ganz sichern Anlagen in Vvdenwerten und Staats¬
papieren mehr und mehr sinken, bis ans ein Minimum; schließlich bleibt nur
noch der Zins als Gefahrprümie, denn der Geschäftsgang wird bei dem größer
werdenden allgemeinen Verbrauch immer sichrer, die Krisen verschwinden.
Mit dem sinkenden Zinsfuß werden die Einnahmen der Kapitalisten sinken;
selbst ein Nothschildsvermögen verliert seine erdrückende Wucht. Auch die
Staaten werden von der Herrschaft der Geldfürsten frei werden. Und die
Börse wird nicht mehr Giftbaum sein, sondern wieder ans ihre nützliche Thätig¬
keit zurückgeführt werden.")
So würde von einem Punkte aus die gegenwärtige Wirtschaftswelt aus
ihren Angeln gehoben werden, ohne Antastung des gegenwärtigen Besitzstandes.
Die Arbeit hätte sich von der Herrschaft des Kapitals befreit, und dieses wäre
in seine dienende Stellung zurückgetreten; die Gesellschaft wäre in ihre Ge¬
rechtsame eingesetzt, und die Privaten genössen den Ertrag ihrer Arbeit ganz,
er würde ihnen noch nicht einmal verkürzt durch irgend welche Steuer, denn
die Gesellschaft besäße an ihrem gesellschaftlich erzeugten Nebenprodukt des
steigenden Bodenwertes hinreichende Mittel, ihren Pflichten gegen die Gesamt¬
heit zu genügen.
Auf dem Grunde des Gesellschaftsvermögcus kann der einzelne seine Leibes¬
und Geisteskräfte ausbilden (wie er das thut, ist die Sache seiner eignen
schweren Verantwortlichkeit), die wirtschaftlichen Hindernisse der Entwicklung
der persönlichen Anlagen sind hinweggeräumt. Sozialismus und Individua¬
lismus sind einander nicht feind, sie unterstützen einander auf wirtschaftlichem
Gebiete: je mehr die einzelnen arbeiten und sich ausleben, desto höher steigt
der Wert des Grund und Bodens, und je höher die Einnahmen der Gesell¬
schaft steigen, umsomehr unterstützt sie im eigensten Interesse die Arbeit und
das Leben der einzelnen. Und die Menschen greifen es mit Händen, daß die
erschaffne Unterlage der wirtschaftlichen Welt vernünftig ist, daß der Menschen
nicht zu viel siud, daß für sie, die arbeitenden, reichlicher gesorgt ist als für
die Vögel unter dem Himmel.
Die wirtschaftliche Freiheit ist in dieser Wirtschaftsordnung sozialer und
individnaler Gerechtigkeit gerettet. Hatten sich bisher die Privaten des sozialen
Eigentums bemächtigt, so drohte im Umschlag die Gesellschaft nicht nur ihr
Eigentum wieder zurückzunehmen, sondern auch zugleich das Eigentum der ein¬
zelnen in allen Produktionsmitteln zu verschlingen, der Sozialismus drohte
in Kommunismus umzuschlagen. Die Gefahr ist beseitigt: es fällt niemandem
ein. seine wirtschaftliche Freiheit, die er innerhalb der reich gewordnen Gesell¬
schaft genießt, zu opfern, um auch seinen Teil an den Produktionswerkzeugen
zu haben.")
Das sind die Zukunftsbilder, die Flürscheim mit H. George teilt, die er
sogar unter Zustimmung der meisten der gegenwärtigen Grundeigentümer zu
verwirklichen hofft, sobald diesen, wie bereits dem Großgrundbesitzer von Hell-
dorf-Baumersroda und andern, die Augen über die fortschreitende Belastung
auch ihrer Arbeit durch den Kapitalismus aufgegangen sind, während H. George
die gegenwärtigen Grundeigentümer expropriiren will. Im Ziele sind beide
gleich ideal, in den Mitteln ist Flürscheim idealer.
Wir mögen die Ziele der Bodenbesitzreform und besonders die Über¬
schwenglichkeiten und einzelne Wunderlichkeiten Flürscheims als utopische Ge¬
bilde belächeln, wir mögen zu seiner Theorie über Kapital lind Zinsen und
Krisen manches Fragezeichen machen (auch die Autorität des Dr. Preuß wird
hierüber noch nicht der Weisheit letzten Schluß geredet haben), jedenfalls
läßt sie sich nicht abthun in der Weise, wie Preuß mit ihr umgeht,^) der so
wenig in die Gedankenwelt H. Georges und Flürscheims eingedrungen ist, daß
er meint, die Bvdenbesitzreform wolle die Immobilien dem Besitz des Privaten
entziehen und ihm nur den der Mobilien lassen! Ein Nationalökonom, der
mit der gegenwärtigen Wirtschaftsordnung im wesentlichen unzufrieden ist, der,
halb notgedrungen, gewisse Übelstände zugiebt, die immerhin ihre Linderung
verlangten, der sein Glaubensbekenntnis dahin ausspricht, daß „die wirtschaft¬
liche Freiheit und die soziale Frage eigentlich korrelate Begriffe" seien, daß
„die Lösung der sozialen Frage die Beseitigung der wirtschaftlichen Freiheit"
heiße, der die Frage nach der „Gerechtigkeit" und nach der „Natur" der
Dinge kurz abschneidet, weil sie unbestimmte, „unkontrvllirbare" Begriffe seien
(während er, wo es ihm paßt, von der „natürlichen" Entwicklung der Volks¬
wirtschaft redet) der ist freilich wenig fähig, die Bodenbesitzreforin zu wider¬
legen, selbst wenn es ihm gelungen wäre, einzelne Schwächen der Theorie
aufzuweisen. So wertvoll gesunde Theorien überall, auch in der Volkswirt¬
schaft siud, so sind sie doch nicht das Entscheidende. Wenn wir auf das Eude
des Streites der Gelehrten über Kapital und Krisen warten sollten, dann
kämen wir vielleicht aller fünfzig Jahr einen Schritt weiter.
Die Hauptsache ist für alle Forschungsgebiete die Praxis des Lebens.
Und da ist es auffallend, von wie vielen Seiten ans Vorschläge, die eine
gründlichere Umänderung unsrer Wirtschaftsordnung erstreben, eben auf diesen
Punkt hinweisen: Reform des Bodenbesitzes.
Zunächst die Sozinldemokratie. Sie fordert Vergesellschaftung des Grund
und Bodens und der Produktionsmittel. Die Bodenbesitzreforin erscheint darnach
wie ein Ausschnitt aus dem sozialdemokratischen Programm, eine auf halbem
Wege stehen gebliebene Sozialdemokratin Man sollte erwarten, daß diese mit
der Bodenbesitzreform Hand in Hand gehen würde. Statt dessen schweigt sie
sie tot, sieht sie über die Achsel um, belächelt sie. Dann und wann plaudert
einer der eingeweihtern Sozialdemokraten aus der Schule: „Es füllt uus uicht
ein, dem gegenwärtigen Staate neue Machtmittel zuzuführen." Freilich das
würde durch die Vodcubesitzrefvrm geschehen; die Sozialdemokratie erkennt sehr
Wohl den staatserhaltenden Charakter der Bvdenbesitzreform. Beide fordern
die Überführung des Grund und Bodens in das Eigentum der Gesellschaft;
aber „wenn zwei dasselbe thun, ist es uoch nicht dasselbe." Die Sozialdemo¬
kraten thun es, um dann auch alle Produktionsmittel für die Gesellschaft ein¬
zuziehen, die Bodenbesitzreformer, um sie dann erst völlig der wirtschaftlichen
Freiheit der Privaten zu überlassen, ohne irgend eine Steuer auf das Ge¬
werbe und das Produkt wirtschaftlicher Thätigkeit; sie wollen den gegen-
wärtigen Staat reich machen, der dann allerdings eine wesentliche Umwandlung
erfahren würde.
Dem entsprechend geht auch die Betrachtung der Wirtschaftsgeschichte bei
beiden auseinander: die Sozialdemokratie legt alles Gewicht auf die Verän¬
derung des wirtschaftlichen Betriebes im Laufe der Jahrhunderte und Jahr¬
tausende; für die Bodenbesitzreform ist diese zwar ein wesentlicher, aber doch
etwas untergeordneter Punkt, das Hauptgewicht liegt auf den Veränderungen
in dem sozialen und privaten Eigentum. Ihre Geschichtsphilosophie läßt sich
kurz dahin zusammenfassen: von dem Gemeinbesitz ist die Entwicklung der
Gesellschaft ausgegangen, er hat sich aufgelöst in den Privatbesitz, das soziale
Element ist mehr und mehr zurückgetreten; der Erwerb dieser das Indi¬
viduum betonenden und entwickelnden Periode wird aber uicht verloren gehen
in der Rückkehr zu dem Gemeinbesitz, wenn auch jetzt auf hoher Kulturstufe
— wie die Sozialdemokraten meinen —, sondern er wird aufgehoben sein in
einer Wirtschaft, die ein soziales Eigentum in dem gesellschaftlich gesteigerten
Werte des Grund und Bodens zu ihrer festen, breiten Grundlage hat, auf
der sich die wirtschaftliche Freiheit des einzelnen erhebt — Sozialismus und
Individualismus eirunder fordernd und fördernd.
Unsre gegenwärtige Wirtschaftsverfassung verleugnet das Eigentum der
Gesellschaft,^) sie kennt fast nur das Eigentum der Privaten; sie wirft den
Boden und die Produktionswerkzeuge und die Arbeitsprodukte, alles in einen
Topf und behandelt sie alle gleich: iäsnr oui^us, als ob sie nicht grundver-
schiedne Natur besüßen. So wirft denn der kommunistische Staat, das Kind
und der Erbe der jetzigen Gesellschaft, auch seinerseits alles in einen Topf.
Der Unterschied ist nur der, daß der gegenwärtige Staat sagt: alles in Privat-
bauten, und der Zukunftsstaat: alles in Gesellschaftshänden. Die Boden¬
besitzreform dagegen hätte zur Devise das suum euicsus: der Gesellschaft, was
ihr, und den Privaten, was ihnen gebührt; und wieder: dem Boden eine
nationalökonomische Behandlung nach seiner Art und den Produktionswerk-
zeugeu und den Produkten eine Behandlung nach ihrer Art."^)
Der Grundgedanke der Bodenbesitzreform, daß der Gesellschaft alles ge¬
hören müsse, was sie an Wert erzeugt, ist heutzutage in einem Stücke sast
dem gauzen Volke sympathisch: in der Npothekenfrage. Hier tritt auch wieder
recht deutlich der Unterschied der Interessen zwischen dem Eigentümer der
Apotheke und dem Verweser hervor: dem Eigentümer liegt daran, den Wert
der Apotheke so hoch wie möglich zu steigern, während der arbeitende Apo¬
theker so billig wie möglich zu der Arbeitsmöglichkeit zu kommen trachtet.
Der Eigentümer streicht den durch die Entwicklung der Gesellschaft entstandnen
Mehrwert — mit oder ohne schönen Dank — ein; da drängt sich der Plan
der Verstaatlichung der Apotheken und ihre Verpachtung von selbst ans.
Für die großen Städte regen sich ähnliche Gedanken. Tritt in ihnen
doch dem denkenden Menschen der Widersinn kraß entgegen, daß, je mehr sich
dort die Menschen sammeln und arbeiten und sich durch gegenseitigen Dienst
die Arbeit und den Genuß erleichtern, je mehr sie damit einen neuen, an sich
erfreulichen Wert, den Mehrwert des Grund und Bodens erzeugen, diese
selben Menschen sich eine desto größere Last auf ihre eignen Schultern häufen;
sie binden sich selber die Rute, mit der sie gezüchtigt werden.
Über die Miete sagt Ad. Wagner, der unter den Nationnlölonomen her¬
vorragend soziales Verständnis besitzt: „Nur ein Teil der Miete stellt sich
ökonomisch als Entgelt nach den gewöhnliche!, Preisbestimmungsgründen des
freien Verkehrs dar, ein andrer Teil nnr als erzwungne Zahlung oder als
Nvtpreis des Käufers, wegen der monopolistischen Stellung des Verkäufers,
d. h. hier des privaten Grund- und Hauseigentümers. Sogar die bedeutenden
Verwendungen aus öffentlichen Mitteln des Staats und besonders der Ge¬
meinde — also mit andern Worten: aus den Mitteln der gesamten Bevölke¬
rung für Straßen, Reinlichkeit, Gesundheit, Sicherheit, Unterrichtswesen u. s. w.
dienen schließlich dazu, die Höhe der Renten und den Wert des städtischen
Grund- und Gebüudeeigentums zu steigern, weil die Vermehrung der städtischen
Bevölkerung dadurch begünstigt wird. In solchen Füllen Profitirt der städtische
Grundbesitz doppelt, und die Nichtgrundbesitzende Bevölkerung giebt selbst in
den Steuern das Geld zu den Ausgaben her, die indirekt zu einer neuen
Steigerung der Mieter für sie führen, leidet also doppelt." Wagner faßt seine
Untersuchung über das städtische Grundeigentum dahin zusammen: „Das pri¬
vate städtische Grund- und Hauseigentnm ist bestenfalls ein recht mangelhaftes
Mittel für die Bevölkerung, eins der ersten materiellen Bediirfnisfe sicher zu
stellen. Das umsomehr, je mehr die Entwicklung des Großstädtewesens vor¬
wärts geht. Vom sozialpolitischen und vom Verteilungsintcresse aus betrachtet
wäre daher die Beseitigung dieses Eigentums eher erwünscht als unerwünscht.
Die allmähliche Annäherung an dieses Ziel ist nach dem dargelegten auch nicht
mit so unüberwindlichen Schwierigkeiten verbunden, als es scheinen könnte."
Als Berlin die Hauptstadt des deutschen Reichs wurde, als es einem
großartigen Aufschwung entgegenging, schlug Wagner die Festlegung des da¬
maligen Bodenwertes vor und die Einziehung des künftig entstehenden Wertes
für die Kommune. Wäre das geschehen, so hätte an diesem Werte Berlin
eine Einnahme, die alle heutigen Kommunal- und Staatssteuern der Stadt
überträfe. Die Christlichsozialen beklagen es jetzt, daß man in Berlin nicht
zu rechter Zeit die Hand auf allen Baugrund gelegt und in städtischen Besitz
gebracht hat; durch die ungeheuern Bangrundpreise werde „dem armen Manne
das Wohnen in unverantwortlicher Weise verteuert und die soziale Gefahr un¬
gemein verstärkt."
Eine Partei der Antisemiten hat die Vodenbesitzreform geradezu in ihr
Programm aufgenommen. Ebenso neuerdings Egidy. Behörden suchen vor¬
läufig wenigstens durch Bauordnungen das öffentliche Interesse an der Be¬
bauung des Grund und Bodens zu wahren. In der gemischten Kommission,
die Magistrat und Stadtverordnete von Berlin zur Beratung der Einverlei¬
bung der Vororte eingesetzt haben, wurde der Antrag gestellt, es solle die Re¬
gierung ersucht werden, in das zu erlassende Einverleibnngsgesetz eine Bestim¬
mung aufzunehmen, wonach es der Gemeinde Berlin freistehen solle, den noch
unbebauten einzuverleibenden Grund und Boden zu seinem gegenwärtigen Werte
zu enteignen. Überall Gedanken der Vodenbesitzreform! Wenn nicht alles trügt,
mird zuerst der Boden der großen Städte der Verstaatlichung anheim sollen.
Vielleicht kommen ihm noch die Bergwerke zuvor.
Ist aber Aussicht vorhanden, daß sich die Verstaatlichung nicht auf das
Ackerland auszudehnen brauchte? Schwerlich! Denn wenn die Verstaatlichung
des Grund und Bodens der großen Städte einen Vorteil für das Leben der
Gesamtheit bedeutet, so würde die Anziehungskraft dieser großen Städte, die
jetzt schon groß genug ist, noch verstärkt werden, und die kleinern Städte und
das Land hätten schleunigst nachzufolgen. Sander, der Schüler Ad. Wagners,
legt sogar mehr Gewicht auf die Überführung des ländlichen Bodens in die
Hände der Gesellschaft. Und die Stimmen vom Lande, die nach Erhaltung
und Mehrung des Gemeindeeigentums rufen, mehren sich. Abgesehen von
solchen überzeugten Bodenbefitzreformern, wie von Helldorf-Vanmersroda,
brachte z. B. die treffliche Zeitschrift „Das Land," die gar nicht für Voden¬
besitzreform ist, kürzlich einen Aufsatz aus der Feder des Redakteurs selbst, des
bekannten Schriftstellers Sohnrey, worin er den Mahnruf ertönen ließ: „Schützt
und erhaltet die Gemeindegüter, und wo sie infolge der geistigen Kurzsichtig¬
keit verloren gegangen sind, da sorge man eilends für vollwertigen Ersatz."
Er erwähnt den Erlaß eines elsässischen Kreisdirektors, worin es heißt: „In
dem zähen Festhalten am Gemeindegrundeigentum in gewissem Umfange und
Ablassen desselben an Bewohner ländlicher Gemeinden zur Selbstbewirtschaf¬
tung liegt ein sittlicher und moralischer Faktor, dessen Verkennung sich stets
rächen wird." Die Straßburger Post begleitet denselben Erlas; mit den Worten:
„Das sind wahrlich goldne Worte. Hauptsächlich der Erhaltung des Gemeinde¬
grundbesitzes verdankt Elsaß-Lothringen seine verhältnismäßig noch gesunden
agrarischen Zustände, die fast gänzliche Abwesenheit eines Landarbeiterprole¬
tariats und seine geringe Armenlast. Das Gemeindeland ist ein wichtiges
Stück praktischer Sozialpolitik, indem groß und klein, ohne Rücksicht ans Ver¬
mögen und Stand, daran teilnimmt, und gleichzeitig die natürlichste Form sür
die heutzutage allenthalben angestrebte Heimstätte. Im übrigens?) werden in
denjenigen Teilen Altdcutschlands, wo diese so nützliche Einrichtung seinerzeit
durch die büreaukratische Gleichmacherei zum großen Schaden der betreffenden
Gegenden abgeschafft wurde, die daraus entspringenden Übel um so wirksamer
empfunden, als ein solcher Besitz, wenn er einmal abgeschafft ist, kaum wieder
herzustellen ist."
Und doch drängt uns die Not der Zeit, ihn wieder herzustellen oder
irgendwie zu ersetzen. Die Bodenbesitzreform zeigt einen Weg. Hier liegen
praktische Aufgaben unmittelbar vor, die gelöst sein wollen. Theorie hin,
Theorie her! Möchte sich nur das deutsche Volk in dieser dringenden sozialen
Frage wenigstens nicht als das ewige „^Volk der Denker" zeigen, das über
noch nicht ganz aufgetragne Theorien, die Hand an der Nase, sinnend stehen
bleibt und einem Gedanken, in dem es einen theoretischen Fehler wittert, den
Rücken kehrt, sondern als ein Volk der Praxis. Der Bund der Bodeubesttz-
reformer geht darin mit gutem Beispiele voran, indem er für Bauordnungen,
Erhaltung und Mehrung des Gemeindebesitzes an Grund und Boden, Erb¬
schaftssteuer u. f. w. kräftig eintritt. Der Gedanke der Bodenbcsitzreform liegt
in der Luft, Ansätze sind überall da; aber der Bund der Bodenbesitzreformer
trägt die Fahne weit und mit klarem Bewußtsein voran. Wir brauchen uns
auf seine nationalökonomischen Theorien nicht einzuschwören und können doch
seine Bestrebungen thatkräftig unterstützen.
el kleinen Sorgen und Mühen, die aus der Nähe auf uns ein¬
dringen, unter uns große Gefahren, die wir noch fern wissen,
fast tröstlich an. Sie haben nichts von der kleinlichen Belästi¬
gung, deren Stiche uns zuletzt ärger reizen als die Drohung
einer rechten Wunde. Wir sehnen uns nach dem Kampfe mit
ebenbürtigen Feinden, in dein der Sieg Genugthuung und Gewinn bringt.
Hinter der Furcht vor den Verwüstungen, die das heraufziehende Gewitter
über unsre Fluren bringen konnte, steht die Hoffnung auf den reinen Himmel,
von dem die Sonne klarer herabblicken wird, wenn sich die Wolken entladen
haben werden.
Seit einigen Jahren liebt man es, die Vereinigten Staaten von Amerika
wie einen Herd von Gefahren zu schildern, die sich langsam sammeln, um
einst unaufhaltsam über uns hereinzubrechen. Ich habe an vielem keinen Ge¬
fallen, was dort drüben gebraut wird, aber ich schüttle die Furcht leicht ab,
die diese Prophezeiungen erregen wollen. Wenn ich des Ächzens und Knarrens
der mühselig eingezwängten Politik Alteurvpas müde bin, höre ich uicht ohne
Behagen nach dem kräftigen Rauschen der Stürme hin, die den Westen durch¬
brausen, und die auch einmal übers Meer sahren und bei ungehemmter Aus¬
breitung in den weiten freien Rünmen anch uns tüchtig schütteln konnten. Ich
glaube nicht an die Nähe einer bedrohlichen politischen Cyklone aus Westen
und hoffe übrigens, daß die Sturmbahn gerade wie bei manchen wahren Wirbel¬
stürmen des nordatlantischen Ozeans nicht tief ins Festland dringen, sondern
sich über den Inseln austoben und dann umbiegen wird. Wenn aber die
Sturmwarnungen den Erfolg haben sollten, daß sich die europäischen Mächte
enger verbinden, um der großen transatlantischen Macht geschlossener gegen-
überzutreten, dann könnte ich dem fernen Grollen sogar eine politisch-päda¬
gogische Bedeutung nicht absprechen, und es klänge mir gar nicht unwill¬
kommen in die Ohren. Caprivi nannte um 10. Dezember 1L91 im Reichstage
bei der Beratung der neuen Handelsverträge eine weltgeschichtliche Erscheinung,
die er hoch anschlage, die Bildung großer Reiche, ihr Selbstbewußtsein und
ihr Streben, gegen andre sich abzuschließen; der Schauplatz der Geschichte
habe sich erweitert, die politischen Proportionen seien größer geworden, der
Staat, der als europäische Großmacht eine Rolle gespielt habe, könne
in absehbarer Zeit zu den Kleinstaaten gehören. „Wollen die europäischen
Staaten ihre Weltstellung aufrecht erhalten, so werden sie nicht umhin
können, soweit sie wenigstens nach ihren Anlagen dazu geeignet sind, sich
eng aneinnnderzuschließen." Bei dieser Mahnung schwebten ihm die Ver¬
einigten Staaten von Amerika vor, deren panamerikanischen Plänen damals
in Europa viel zu großes Gewicht beigelegt wurde. Ein Reich, dreimal so stark
wie Europa, wäre ja keine Kleinigkeit, kann aber dem Wesen der Dinge nach
nicht so nahe sein, wie man damals furchtsamerwcise annehmen wollte. Immer¬
hin wachsen die Vereinigten Staaten in der Richtung ihrer panamerikanischen
Bestrebungen langsam südwärts und über deu Golf von Mexiko; zunächst
ziehen sie Teile von Mexiko und Zentralamerika näher an sich heran. Wir
mögen von dem Endergebnis halten, was wir wollen, den Weg und die Me¬
thode wollen wir uns merken: Unternehmung und Kapital, das sind die
Pioniere dieses Vormarsches. Der Schmuggel, der Handel, der Bergbau, die
Eisenbahnen haben die mexikanischen Nordstaaten bis Durango mit einem
ganzen Netz nordamerikanischer Interessen überzogen, das täglich enger wird.
In dem Gesamthandel dieses Landes nehmen die Vereinigten Staaten seit
wenigen Jahren die erste Stelle ein. Die heilsamste Pflege politischer Keime
ist die, die den Boden mit materiellen Interessen düngt. Ahnen wir das nach,
soweit wir können. Knüpfen wir durch wirtschaftliche Bande die Nachbarn
zusammen, die politischen Übereinstimmungen folgen dann in gewiesenen Wegen.
Die Geschichte des Zollvereins hat in Amerika viel Interesse erregt. Ameri¬
kaner können uns nun zum Dank lehren, daß man heute bei der Entwicklung
eines Zollgebiets nicht bei 10000 Quadratmeilen stehen bleiben darf, und wie
man es weiter bringt.
Der Zug der deutschen Besucher der Weltausstellung in Chicago ist
immer dichter geworden. Weder die großen Summen für die Einrichtung der
deutschen Ausstellung, die allgemein gelobt wird, noch die Reisegelder bereiten
uns diesmal nationale Beklemmungen. Sonst zahlen wir uns nicht zu den
Freunden dieser modernen Bazare, die uns wie bombastische Phrasen anmuten.
Dieses mal hoffen wir viel von der Kenntnis transatlantischer Zustände, die
unsre Wandrer zurückbringen werde». Ein Land zu kennen, das unter allen
außereuropäischen an allem, was Macht giebt, besonders an Reichtum und
Bildung weit voransteht, mit dem uns Deutsche außerdem die geschichtlichen
Wirkungen und Erinnerungen einer seit zweihundert Jahren immer gewachsenen
Auswanderung und einer deutsch-amerikanischen Bevölkerung verbinden, die
jetzt sechs bis sieben Millionen zählt, ist nicht bloß ein empfehlenswerter
Vorzug, sondern für eine immer noch zunehmende Zahl vou uns unbedingt
notwendig. Bei unsern Staatsmännern, Großindustriellen, Großkaufleuten und
Sozialpolitiken! ist die Fähigkeit, richtig zu urteilen, von der Kenntnis dieses
größten transatlantischen Landes abhängig. Andre Elemente politischer Bil¬
dung sind weiter verbreitet als dieses, und doch sollte von diesem Fehlen oder
Vorhandensein in Zweifelsfällen ohne weiteres unser Urteil darüber abhängig
sein, ob einer unsre politische und wirtschaftliche Lage überhaupt verstehe oder
nicht. Laßt also unsre Chicago-Waller viel mitbringen, was uns frommt; laßt
sie vor allem Urteile gewinnen über das, was uus von dem drüben auf
weitem Raum und in freier Luft neugeschaffnem zur Lehre dienen könnte.
Natürlich handelt es sich bei einem Lande, dessen Außenhandel schon
heute mehr als das Doppelte des Handels des russischen Reichs in Europa
und Asien betrügt, und mit, dem Deutschland in den letzten Jahren durch¬
schnittlich drei Viertelmilliarden Mark jährlich umsetzte, in erster Linie um Wirt¬
schaftliches. Unsre Landwirte werden sich Wohl vor allem die Frage vorlegen,
ob die Überflutung der europäischen Märkte mit Weizen und Schweinefleisch
und Schweinefett auch denn noch, durch intensivem Betrieb, aufrecht erhalten
werden kann, wenn keine neuen Räume mehr eingezäunt und beackert werden
können; und unsre Gewerbtreibenden werden nach den Ursachen der uner¬
warteten Selbständigkeit einiger wichtigen Zweige der nordamerikanischen Textil-
uud Metallindustrie forschen und werden fragen, ob mit ihrer Wettbewerbung
auf den europäischen Märkten schon heute in vollem Ernste zu rechnen sei.
Wer nicht das Glück hat, daß ihm sein Beruf so bestimmte Wege weist — und
es ist ein Glück, in dem Wirrwarr einer Weltausstellung sich beschränkte
Aufgaben setzen zu können —, wird gut thun, wenn er sich durch alle die
schillernden Erscheinungen des Tages uicht abhalten läßt, immer wieder zur
Beobachtung drei großer Erscheinungen des amerikanischen Lebens zurückzu¬
kehren. Familie, Politik und Geld der Nordamerikaner in ihrer Macht und
Ohnmacht zu verstehen, heißt gegen viele Täuschungen und Enttäuschungen,
denen der Beobachter dort besonders leicht verfällt, geschützt zu sein. Und
außerdem kann sich der Europäer für die Erkenntnis der Entwicklung, die
dem Leben seines eignen Volks bevorsteht, nirgends besser vorbereiten als
dnrch das Studium dieser Großmächte im amerikanischen Leben.
Zunächst handelt es sich aber um näheres. Der reiselustige Mann ist
erst flott zu machen. Er will wissen, wie er zu reisen hat, wo und wie er
ankommt, und wie er sich inmitten neuer Einrichtungen zu verhalten habe.
Dafür will ein ganzes Bücherbrett voll neuer Bände forgen, von denen wir
ein paar erwähnenswerte dem geneigten Leser jetzt vorzeigen wollen.
Das praktischste aller Bücher über Chicago hat uns jedenfalls Bädeker
geliefert. Sein Nordamerika/') deutsch und englisch erschienen, wird Deutschen,
Engländern und andern, die die Reise über das große Wasser antreten, ein
wahrer Trost sein. Denn bisher fehlte es an einem Reisehandbuch, das das
Notwendige, dieses aber gut, und weiter nichts bot. Es gehört zu den rätsel¬
haften Widersprüchen im angelsächsischen Wesen, daß es kein Talent für Reise¬
handbücher hat. Die roten Osgovdsührer, mit denen sich der Amerikaner
wie der Fremde in Nordamerika behelfen muß, stechen sehr zu ihrem Nachteil
von unsern deutschen Bädeker, Meyer u. a. ab. Und manche Bädeker sind in
England verbreiteter als in Deutschland. Die amerikanischen Führer bringen Re¬
flexionen statt Thatsachen. Der Reisende, der den Namen eines guten Gasthauses
zu wissen wünscht, wird aufgefordert, ein riesiges Geschäftshaus, ein Denkmal,
einen Viadukt oder einen Felsen zu bewundern. Das Buch hält es für nötig,
der Bildung des Reisenden durch Anekdote» und seiner Empfindung durch Ge¬
fühlsergüsse nachzuhelfen. Ich erinnere mich, vor nicht viel Jahren mit einem
dicken blauen Buche dieser Art, das deu verdächtigen Titel 6oL8ixinZ 6ni(l«z
führte, durch Wales gereist zu sein. Es war eine Qual. Bei jeder Windung
des Wegs ein sentimentaler Erguß, aber bei keiner Kreuzung ein Wink, bei keinem
Gasthaus ein Rat. Ich meine, nur haben in diesem Widerspruch wieder ein¬
mal einen Beleg dafür, daß unser Überfluß an Intelligenz doch nicht so ganz
nutzlos verrauscht. Die große Mehrzahl der englischen und amerikanischen
Reisenden ist nicht gebildet genug, sich tief für ein fremdes Land und Volk
zu interessiren. Sie machen die Reisen geschäftsmäßig ab, nicht aus Lust
daran, sondern ans seiger Unterwerfung unter die Mode, oder weil sie sich
langweilen. So wie ein guter Fremdenführer etwas von einem Praktikus,
einem gemütlichen Kerl und einem Lokalgelehrten haben muß, so gedeiht auch
der Bädeker auf dem Boden am besten, wo diese Pflanzen am besten gedeihen.
Und wer möchte leugnen, daß das eben unser deutscher Boden ist? Doch
kommen wir zu dem roten Buche zurück. Die Einleitung ist länger als ge¬
wöhnlich, umfaßt sogar einen geographischen Blick auf Nordamerika, eine
kurze Chronologie von Leif dem Isländer und Cabot bis zur zweiten Prä¬
sidentschaft G. Clevelauds, ein nützliches Verzeichnis amerikanischer Aus¬
drücke u. a. Ein Verzeichnis amerikanischer Erziehungs-, Wohlthätigkeits- und
Strafanstalten, das den Schluß der Einleitung macht, ist sicherlich nicht so
aufzufassen, daß Herr Bädeker seine Reisenden anch zum Eintritt in eine
von ihnen vorbereiten wollte. Sie sind vielmehr als Sehenswürdigkeiten für
Fachmänner zusammengestellt. Auch der Nichtfachmann wird ja in so mancher
Stadt des Westens oder Südens endlich einen Cvttou-Gin oder ein Schlacht¬
haus ansehen, wenn es an andern Sehenswürdigkeiten gebricht. Der eigent¬
liche Führer hat auf 458 eng gedruckten Seiten neunundneunzig Reisewege
durch die Vereinigten Staaten und Kanada und dazu noch fünf durch Mexiko.
Karte und Pläne sind reichlich und vorzüglich. Soweit wir nach jahrelanger
Abwesenheit die Verhältnisse noch beurteilen können, sind die Angaben über
Städte, Eisenbahnen, Dampfboote, Seebäder, Naturschönheiten eben so richtig,
wie sie kurz und knapp sind. Wir haben den Eindruck, daß dieses schmucke
Buch Deutschland in seiner Art gerade so Ehre machen wird, wie so manches
andre Werk deutscheu Geistes und deutscher Hände, das in Chicago ausge¬
stellt ist.
Wer sich Chicago genau betrachten will, wähle Eugen Seegers Chi¬
cago, Geschichte einer Wunderstadt (Chicago, 1893°"). Eugen Seeger ist einer
von den Deutschen, die das große, glänzende Chicago von heute haben bauen
helfen. Es ist fast wörtlich zu nehmen, den» seinem ausgezeichneten Buche
über den Brand von 1871, der den Wendepunkt in der Entwicklung der
Stadt bildet, gelang es, weithin Teilnahme und Verständnis für dieses merk¬
würdige Gemeinwesen zu wecken. Das Buch war unter rauchenden Trümmern
geschrieben und gedruckt und mit amerikanischer Geschwindigkeit veröffentlicht
worden. Seeger hat das alte Chicago gekannt, wie er das neue kennt. Wenige
Deutsche dürften eine so warme Fühlung mit dem Volke Chicagos haben, wie
er, der sein eignes Leben, vom Jüngling an, als Zeitungsschreiber, Nolks-
redner, Versicherungsdirektor, Politiker und Beamter in und mit Chicago
„gemacht" hat. Darum macht auch sein neues Buch den Eindruck, mitten
aus dem Leben herausgegriffen zu sein. Wir glaubten deutsche Chicagocr sich
unterhalten zu hören, als wir es aufschlugen und die indianische Vorgeschichte,
die bunten Erlebnisse der jungen Stadt, den Einfluß der achtundvierziger
Deutschen, das große Feuer, den neuen Aufschwung, den Anarchistenprozeß
und den Croninprozeß, endlich die Weltausstellung Kapitel für Kapitel ver¬
folgten. Wenn sich auch der in Amerika immer mehr vordrängende Kultus
des Erfolges und der Träger der Erfolge etwas breit hinstellt — daran
muß man sich besonders in Chicago gewöhnen —, das ganze Buch ist
gründlich, voll Thatsachen und Lehren und mit der Wärme aufrichtigen An¬
teils geschrieben. Für jeden Deutschen ist aber besonders die Reihe der Ab¬
schnitte über das Deutschtum in Chicago anziehend. Zum erstenmal erhält
hier das Deutschtum die ihm gebührende Stelle in der Geschichte Chicagos.
Der Verfasser hat, wie er im Vorwort bekennt, diese deutsche Geschichte
Chicagos geschrieben, weil „in keiner der seither in englischer Sprache er¬
schienenen geschichtlichen Abhandlungen über Chicago das hiesige Deutschtum
auch nur annähernd die Würdigung gefunden hat, die ihm gebührt." Das
Seegersche Buch ist das beste der in deutscher Sprache über Chicago jetzt
und früher erschienenen Bücher. Wir wünschen ihm viele aufmerksame Leser
und drücken im Geiste dem guten, warmherzigen Deutschen und Deutschameri¬
kaner die Hand für diese schöne Gabe.
Über E. von Hesse-Warteggs Chicago (Stuttgart, 1803) können wir
uns kurz fassen. Dieser vielschreibende Manu kennt Chicago auch. Er ist
durchgereist und hat sich aufgehalten, hat Menschen und Dinge kennen gelernt
und mit lebhaftem Auge beobachtet. Dabei hat er aber keine Fühlung mit
dem Ganzen gewonnen, und Ernst und Geist sucht man in dem Buche vergeb¬
lich. Die Beobachtungen bleiben an der Oberfläche, das Ganze hat etwas
Flaches. Nach dem Grunde braucht man nicht lauge zu fragen. Wenn man
in dem Abschnitt Frauenleben und Frauenthätigkeit liest, wie sich der Ver¬
fasser von Backfischen, die komponiren, dichten, malen, bildhauern, als Ver¬
treter der bessern europäischen Männerwelt anschwärmen läßt, hat man genug
von ihm. Lassei? wir ihn diesen Damen. Wer so sehr von seiner eignen
Wichtigkeit überzeugt ist, wie dieser Salonheld, kann Amerika nicht richtig auf¬
fassen, er schwebt nur so durch und wird den Dunstkreis seiner Eitelkeit
nicht los.
Was ein blasirter, aber geistreicher Weltmensch von mehr journalistischen
als aristokratischen Neigungen und Gewohnheiten in Nordamerika sehen will
und kann, hat Paul Lindau gesehen und natürlich auch beschrieben in seinem
zweibändigen Buche: Altes und neues aus der Neuen Welt.
Zwei Bände. (Berlin, 1893.) Eigentlich paßt Lindau nicht so recht hin.
Großstädter von Anlage und Neigung, ohne angebornen Natursinn, sühlt er
sich nur in Städten, Eisenbahnen, Dampfschiffen zu Hause und scheint,
ein richtiger Faulpelz, keine Meile außerhalb der Straßen der Städte zu
Fuß gegangen zu sein. Nordamerika ist aber noch so natürlich, die im Ur¬
zustande gebliebner Gebiete sind uoch so groß, daß eine Stüdtereise kein rich¬
tiges Bild gewährt. Die paar Fluß-, Küsten- und Gebirgsszenerien, die er
mit beschreibt, sind nur die an den großen Straßen des Verkehrs liegenden,
von aller Welt besuchten und schon hundertmal abgeschriebnen. Interessant
wird Lindau, wo er von Menschen spricht. Er hat viele Bekanntschaften
gemacht, das sucht ja ein Reisender seiner Art, und darunter auch die von
Männern wie Schurz und Villard, die man immer wieder gern sieht und hört.
Man möchte nnr noch mehr von den Ansichten und Urteilen dieser Männer
hören. Wir gehen aber kaum fehl, wenn wir annehmen, daß viel davon in
den Urteilen Lindaus enthalten sei, besonders in dem Endurteil am Schluß
des zweiten Bandes. Dieses Schlußkapitel „Heimkehr" entschädigt sür viel
Oberflächliches und Unbedeutendes, das in den frühern Abschnitten so hin¬
gesprochen ist, damit eben etwas gesagt werde. Es ist ein gedankenvoller Rück¬
blick, den der Reisende auf das Land wirft, das er durchfahren hat. Leider
schließt er mit folgenden geschwollnen Sätzen: „Blöden Sinnes wäre der, der
von den unausbleibliche» Unarten des Werdenden abgestoßen, seine Bewunde¬
rung einem Lande versagen wollte, dem die verheißnngsvollste Fertigkeit (?)
gesichert ist, und das. nachdem es sich selbst an den Brüsten der altenro-
päischen Kultur genährt, vielleicht dazu ausersehen ist, der alternden Mutter
die kräftigste Stütze zu sein und sie durch seine eigne Kulturkraft aufzufrischen,
daß sie wieder jung werde, wie der Adler. Dieser großartige Austausch zwischen
Altem und Neuem, diese wechselseitige Belebung und Verstärkung, das vor
allem ist die Hoffnung und der Trost derer, die in Wahrheit an den Fort¬
schritt der Menschen glauben." Wir müssen ein Lächeln unterdrücken, wenn ein
Lindau so große Worte macht. Wir hören jedoch aus ihm seine deutschameri¬
kanischen Freunde sprechen und beherzigen diese Worte, wenn wir auch wünschen,
daß sie vernünftiger gewählt und gestellt wären. Wir wollen der Neigung
zu versöhnenden, manchmal sogar etwas schwächlichen und verwaschnen Urteilen
nicht entgegentreten, die bei jenen herrscht. Wir unsrerseits glauben zwar,
daß wenn Europa so schwach werden sollte, wie Lindau glaubt, Amerika von
dieser Schwäche Gebrauch machen und seine Mutter niederschlagen würde; wir
hoffen aber, daß Europa nicht so schwach werden wird, weil wir auf die
Stadtende Kraft des Kampfes vertrauen. Seis friedliche Wettbewerbung oder
blutiges Ringen, die uns Amerika aufzwingen sollte, wir werden an Kraft ge¬
winnen. Der Adler, den Lindau wie ein kleines gepreßtes Bildchen zwischen
seine Zeilen legt, wird nicht stark durch Aufpäppeluug, sondern weil er der
Sonne entgegenfliegt.
„Zur Kolumbus-Weltausstellung 1893" trügt uns im Stcrnenstrahlen-
kranz des Unionswappens der dicke Band von Claudio Jannet und Walter
Kämpfe, dessen nüchterner Titel lautet: Die Vereinigten Staaten Nord¬
amerikas in der Gegenwart. Sitten, Institutionen und Ideen seit dem
Sezessionskriege. (Freiburg i. V., Herdersche Verlagshandlung, 1893.) Es
ist gerade kein duftender Strauß, den diese Herren der Jungfrau Columbia
darbringen, vielmehr sind reichlich Disteln und Nesseln darin. Herr Jannet
ist Professor der Sozinlökvnomie am In8Ulme oaUioliquö as 1'-n'i8. Ungleich
den meisten Fremden und besonders seinen Landsleuten, die über Amerika
schreiben, ohne es genau genug zu keimen, ist Herr Jannet ein guter Kenner
Nordamerikas und der Litteratur über Nordamerika. Und auch Dr. Kämpfe
weiß sicherlich weit mehr von dem Gegenstände des Buches, das er übersetzt,
als so mancher andre Bearbeiter. Das Buch ist in hohem Grade anziehend
und belehrend. So wie Jannets Original ausgezeichnet, stellenweise glänzend
geschrieben ist, so ist die Kümpfesche Übersetzung sorgfältig und gewandt. Wo
wir auch eine Seite aufschlagen mögen, begegnen wir unabhängigen Ansichten,
die mit Kraft und nicht ohne Anmut ausgesprochen sind. Von dem gewohnten
Gefasel keuntnisloser Bewunderung keine Spur. Schade, daß um so häufiger
die Spuren vorgefaßter Meinungen hervortreten. Aus Jannet spricht nicht
bloß der Katholik, der in der Trennung der Kirche von Staate, wie sie sich
in den Vereinigten Staaten erst als neuere Entwicklung vollzogen hat — denn
die kräftigsten Gemeinwesen der ersten anderthalb Jahrhunderte waren zum
Teil höchst unduldsame Theotratien , mit Recht etwas Unheilvolles sieht
und dem blühenden Unsinn der Sektirerei die drüben so imposant sich erhebende
katholische Kirche triumphirend gegenüberstellt. Er ist auch Franzose, und
darin liegt ein zweiter Grund der Abneigung und des Mangels an Ver¬
ständnis, der zur Abneigung gehört. Natürlich ist ihm auch deutsches Wesen
nicht sympathisch, er macht dessen Einfluß auf das geistige und religiöse Leben
für transatlantische Entwicklungen verantwortlich, in denen von deutschem Ein¬
fluß sowenig ist, wie in dem bekannten Büchlein von der Trübung des Lammes.
In dieser Frage würde ein vollkommen unparteiischer Richter die zwei großen
Zeugen aufrufen, Neuengland für unbeeinflußte Entwicklung, den jungen Westen
für deutsche (und skandinavische) Einflüsse. Die in Neuenglnnd überwältigend
rasch um sich greifende Enttirchlichung würde ihn lehren, daß der Deutsche
auf diesem Gebiete nicht so ohne weiteres zu belasten ist, zumal da die katho¬
lischen Deutschen des Westens so fest und treu zur Kirche stehen wie die un¬
wissendsten Jrländer. Auch daß er den „Materialismus Büchners" als eine
Einfuhrware von den deutschen Universitäten bezeichnet, ist unbillig, denn diese
ursprünglich französische Pflanze hat sehr viel früher ohne Mitwirkung dieses
flachen Nachschreibers ihre leichtbeschwingten, verbreitungsfähigen Keime übers
Meer fliegen lassen. Wo Jannet die französischen Kanadier loben kann, thut
er es. Und so weiter. Aber wir gestehen gern, daß bei all diesen Schranken
und Blenden sein Urteil sehr oft das Richtige trifft, und daß es eine wahre
Wohlthat ist, die amerikanischen Neubildungen, besonders auf staatlichem und
gesellschaftlichen Gebiete, nicht bloß angestaunt und erhoben, sondern auch ein¬
mal kritisch zerlegt zu scheu. Er legt den Finger schonungslos ans offen¬
kundig faule Stellen, die von andern gern vertuscht werden: in der Gesellschaft
die Geldsucht, die den rohen, ungebildeten Luxus gebiert; im Staate die Kor¬
ruption, die anständige Leute aus dem politischen Leben hinausdrängt; in der
Familie das kühle Nebeneinanderstellen des Mannes und des Weibes, die Ver¬
trüge schließen wie Fremde und ihre Ehe trennen, als ob es eine Reisebekannt¬
schaft wäre, sodaß sich schon vor zehn Jahren die ^uti-vivoros I^ö-iguL bildete,
die aber nichts ausrichtet; in der Kirche die Verlogenheit und Weltlichkeit, das
kurzsichtige Sektenwesen. Daß in dem allen der undesiuirbcire und unübersetz¬
bare alte englische Li-int den eigentlichen Füulniserreger bildet, hat Herr Jannet
nicht gehörig betont, und doch ist es praktisch wichtig und völkerpsvcholvgisch
interessant. Es paßt dein Herrn nicht in den Kram, zu bekennen, daß das
wirksamste Gegengift gegen dieses Übel die deutsche Ehrlichkeit »ud Offenheit
ist, a Lvi'taiu xrodll/, in der ein so tiefblickender Amerikaner wie N. W. Emerson
die vorzüglichste Eigenschaft des Deutschen sieht.
Einen Beweis, daß sich das Bedürfnis aufdrängt, billig abwägend den
Dingen auf den^Grund zu gehen, sehen wir darin, daß sich der Bearbeiter
Jauuets, or. Walter Kämpfe, bemüht, in den manchmal sehr starken Trank,
den Jannet kredenzt, das Wasser der Mäßigung zu gießen. Zu diesem Zwecke
schöpft er aus einem ältern deutschen Werke Friedrich Natzels, von dem er im
Vorwort sagt: „Es ist zwar ein allgemeines Werk über alle natürlichen, po¬
litischen und sozialen Verhältnisse der Vereinigten Staaten, das der geo¬
graphischen Darstellung des Landes einen großen Naum widmen muß und
nur eine zusammenfassende Schilderung der sozialen und politischen Verhält¬
nisse bietet. Aber der Geist ruhiger Abwägung, der Ratzel bei der Ver¬
arbeitung des mit großem Fleiß von ihm gesammelten, vielseitigen Materials
leitete, machen es sehr geeignet zur Vergleichung der in ihm niedergelegten
Ergebnisse mit denen der Jamundschen Forschungen." Demgemäß finden wir
nun aller paar Seiten zwischen die Jannetsche Darstellung größere und kleinere
Abschnitte aus Natzels Nordamerika eingeschoben, die manchmal entschieden
mäßigend wirken, nur leider alle den Fehler haben, einem zwölf Jahre alten
Buche entnommen zu sein, wie es denn überhaupt ein Nachteil des Jamundschen
Werkes ist, daß es zu wenig neue Quellen benutzt, was doch gegenüber einem
so rasch sich verändernden Lande wie der Union doppelt notwendig ist.
Als neueste Erscheinung der Litteratur von Amerika liegt aber nun in
eben erschienener zweiter Auflage der starke Band von Friedrich Ratzel: Die
Vereinigten Staaten von Amerika unter besondrer Berücksichtigung der
natürliche!? Bedingungen und wirtschaftlichen Verhältnisse vor. (München,
R. Oldenbourg, 189Z. Mit einer Kulturkarte und sechzehn Kärtchen und
Plänen im Text.) Es ist eben das Buch, dessen ältere Ausgabe in dem
Werke von Jannet und Kämpfe mit eingeschlachtet ist: eine ausführliche poli¬
tische Geographie, die zuerst einleitend als „Thatsachen und Wirkungen des
Bodens" die Lage, die Grenzen und Küsten, den Raum, den Boden, das Klima,
die Tier- und Pflanzenwelt und „die Natur und die Volksseele" betrachtet. Der
erste Abschnitt, Nassen und Stämme, enthält die Kapitel Nassenprobleme, die
Indianer, die Europäoamerikaner, die Neger, die Chinesen; im zweiten Abschnitt,
Die Bevölkerung, ihre Verbreitung und ihr Wachstum, folgen die Kapitel: die
Volkszahl und ihre geographische Berbreituug, Städte und andre Siedelungen,
das innere Wachstum, die Einwanderung, die innere Wanderung; der dritte
Abschnitt, Wirtschaftsgeographie, bringt die Landwirtschaft, die Wälder, den Berg¬
bau, die Gewcrbthütigkeit, den Verkehr und die Verkehrswege und den Handel,
und der vierte bespricht den Staat und die Gemeinden, die Kirche, das geistige
Leben und zum Schluß das Volk und die Gesellschaft. Angehängt ist eine
Erklärung der interessanten, übersichtlichen Kulturkarte. Das gediegen aus¬
gestattete Buch wird hoffentlich in dieser neuen Auflage, die ein ganz neues
Werk geworden ist, denselben Erfolg haben, den es in der seit einiger Zeit
vergriffnen ersten Auflage gehabt hat. Es gilt als die zuverlässigste Be¬
schreibung des großen Landes. Weder die englische und amerikanische, noch die
französische Litteratur hat etwas ähnliches auszuweisen. Der Verfasser erklärt
in der Vorrede, daß ihn zu der Herausgabe einer neuen Auflage nicht bloß
der Gedanke getrieben habe, den wissenschaftlichen Wert seines Werkes zu er¬
höhen, sondern auch der Wunsch, die große transatlantische Republik dem
Verständnis und Urteil der Deutschen näher zu bringen; daher sei das Buch
nicht bloß sür Fachleute, sondern für alle bestimmt, die dem Lande ein ein¬
gehendes Studium widmen wollen. Er habe es immer als einen großen Vor¬
zug der Engländer empfunden, daß sie die Bereinigten Staaten mit der
behaglichen Vertrautheit Nächstverwandter beurteilen. „So nahe können wir
nicht heran-, wohl aber zu einem klarern Blick und einem vielleicht handlichem
Urteil kommen. Beide find jedem notwendig, der die wirtschaftlichen und
Politischen Entwicklungen der Gegenwart überhaupt verstehen will. Es läßt
sich sogar behaupten, daß sich heute an dem Verständnis für das, was in
Nordamerika vor sich geht und sich vorbereitet, das politische Verständnis
eines Volkes überhaupt messen lasse. Wir müssen sorgen, daß Deutschland,
das aus seiner Kenntnis der Vereinigten Staaten schon viel Nutzen gezogen
hat, in dieser Kenntnis von keinem Volke übertroffen werde." Wir wünschen
lebhaft, daß das Buch zur Erreichung dieses Zieles beitrage.
eelsorger und Sportsman, Aristokrat und Bolksreduer, Land-
pfarrer und Kommunist, Geschichtschreiber und Naturforscher,
Universitätslehrer und Romanschriftsteller, Kunstkenner und Ge¬
sundheitsreformer, Sozialpvlitiker und lyrischer Dichter, das
sind ungefähr die Rollen, die Charles Kingsley in England in
seinein verhältnismäßig kurzen Leben gespielt hat.
Kein Wunder, daß die litterarische Kritik bis jetzt nicht recht gewußt
hat, was sie mit dieser vielgestaltigen Erscheinung, die jeder Einreihung in
irgend eine „Schule" spottet, anfangen sollte. Noch am richtigsten gewürdigt
haben ihn in Deutschland die Volkswirtschaftslehrer, wie Brentano und Schulze-
Gävernitz, die ihn als Schüler Carlhles, als Anhänger und Fürsprecher
der Chartisten und als Gründer des christlichen Sozialismus in England
behandelt haben. Auch unsre Theologen haben ihm ihre Aufmerksamkeit
zugewandt und ihn bald als bedeutenden Kanzelredner, bald als Verfasser
eines lehrreichen und fesselnden Romans aus der ersten Zeit des Christentums,
bald als einen hervorragenden religiös-sozialen Charakter der Gegenwart ge¬
priesen. Die landläufigen Litteraturgeschichten dagegen thun ihn ohne Aus¬
nahme mit ein paar nichtssagenden oder thörichten Redensarten ab, obgleich
Richard Wülker wiederholt auf die hervorragende litterarische Bedeutung und
den weitgehenden geistigen und sittlichen Einfluß Kingslchs hingewiesen hat.
Sie wissen gewöhnlich nur zu berichte», daß er der Begründer des Muskel-
chriftentums, ello s-post-lo ol' nru8oula.r Liliristig-nit^, gewesen sei, und zählen
seine Schriften auf, zuweilen mit ganz falscher Datirung und unrichtiger In¬
haltsangabe, sodaß der Verdacht nahe liegt, die Verfasser solcher Litteratur¬
geschichten hätten Kingsleys Romane und Gedichte gar nicht in der Hand
gehabt. Eine Monographie oder auch nur eine zuverlässige litterarische Ab¬
handlung giebt es über diesen geistvollen Tendenzschriststeller, der um littera¬
rischer Bedeutung Bulwer, Dickens und Thackeray kaum »achsteht, in Deutsch¬
land noch nicht, denn der von Max Müller in der Deutschen Rundschau bei
dem Erscheinen von Kingslehs Briefen im Jahre 1877 gelieferte Artikel ist
nichts als ein rhetorisches Feuilleton.
Auch in England hat man erst in den letzten Jahren angefangen, Kingsleh
ohne Voreingenommenheit zu beurteilen und die bahnbrechende Bedeutung
seiner Werke allgemein anzuerkennen. Die von seiner Gattin herausgegebnen
I^ttors Ava Älsrrwriös ot' Iiis I>it'e (übersetzt von M. Sell. Gotha, Perthes,
1879) lassen freilich den Literarhistoriker bei vielen wichtigen Fragen im Stich,
aber Schriften wie die von James I. Ellis in seiner Sammlung Alsir ^vieil
Ä M8Sion (London, Nisbet <K Co., 189V) und die Monographie von M. Kauf¬
mann: LKarles XmAsIsz^, (ZKriMÄU Looialist la Looial Reformer (London,
Methuen Co., 1892) enthalten trotz ihrer theologischen Färbung manches
Lehrreiche und Aufklärende. Von den französischen Kritikern hat sich Emile
Montognt in seinen I^oriviüns nroclsrnos as ki'^n^leterrö. (III. Serie. Paris,
Hachette ^ Co., 1892) mit zwei Romanen Kingsleys eingehend beschäftigt
und eine Fülle seiner Bemerkungen daran geknüpft. Das beste, was über
ihn bis jetzt erschienen ist, ist ein holländisches Werk: (it^rlsL XinAsle^, Zollet»
van I<!U'ni(t,or vn voillcvoMon iric-t LloemIe^inA uit Äjne (ülö8o1irlltöii äoor
v. N. av Vries (Amsterdam, I. H. de Bussy, 1888). Leider wird in diesem
Buche das Urteil des Verfassers durch eine übermäßige Verwendung von
Belegstellen und Zitaten aus Kingleys Werken verwirrt und so das Charakter¬
bild des Dichters in den Hauptzügen verwischt.
Selten ist ein Mensch in seiner öffentlichen Thätigkeit so vielen Ver-
kennnngen, Gehässigkeiten und Augriffe» ausgesetzt gewesen wie Charles Kingsley.
Die litterarische Kritik seiner Zeit tadelte seine Schriften als tendenziös, von
einseitiger Schärfe, unfertig und vo» unkünstlerischer Form. Die Vertreter
der gelehrten Zunft klagten über den Mangel an Objektivität »ut wissenschaft¬
licher Genauigkeit in feinen geschichtlichen Studien. Die Arbeiter und Char-
iisdem trauten dem Politisirenden Landpfarrer nicht über den Weg und witterten
hinter seinen sozialistischen Ideen, die an Radikalismus selbst die Forderungen
der Arbeiter übertrafen, alle möglichen Schlingen und Fallen. Die maßgebenden,
bald mit den Tories, bald mit den Ultramontanen liebäugelnden Hochkirchler
sahen in dem trotzig und entschieden auf Seiten der Chartisten stehenden
Pfarrer einen gefährlichen Agitator. Seine orthodoxen Amtsbruder gingen
ihm scheu aus dem Wege. Man drohte ihm und erteilte ihm vou oben herab
Verweise. Aber alle diese Anfeindungen und Berketzeruugen trugen nur dazu bei,
Kingsley volkstümlich zu machen und den Streit seiner Freunde und Verehrer
immer mehr zu erweitern. In den sechziger Jahren gehörte er zu den
wenigen Männern in England, deren Urteil das Volk bei jeder wichtigen
Begebenheit hören wollte, deren Meinung und Rat bei alle» möglichen
Veranstaltungen eingefordert wurde; er hatte an seinem Schreibtisch gleichsam
unzählige Fäden des geistigen und nationalen Lebens aus allen Teilen der
Welt in der Hand.
Kingsleys Schriften sind gar nicht zu verstehen ohne genaue Kenntnis der
sozialen, der wirtschaftlichen und der religiösen Zustünde Englands in den
dreißig Jahren von 1845 bis 1875. Dieses Verständnis ist aber erst ermög¬
licht worden durch Brentanos auch für den Literarhistoriker sehr wertvolle
Arbeit: Die christlich-soziale Bewegung in England (Zweite Auflage. Leipzig,
Duncker und Humblot, 1883) und durch das gediegne Werk von Gerhard
v. Schulze-Güvernitz: Zum sozialen Frieden, eine Darstellung der sozialpoli¬
tischen Erziehung des englischen Volks im neunzehnten Jahrhundert (Zwei
Bände. Leipzig, Duncker und Humblot, 18W). Wir sehen hier, daß sich die
großen innern Kämpfe, die Deutschland gegenwärtig beschäftige»? und bis in die
untersten Volksschichten hinein erregen, in England schon in der Mitte unsers
Jahrhunderts abgespielt haben. Schon damals finden wir in England das Ringen
nach eiuer neuen, der veränderten Kultur entsprechenden Gesellschaftsordnung,
den immer unerträglicher werdenden Gegensatz zwischen Kapital und Arbeit,
zwischen deu rücksichtslos genießenden Besitzern und den arbeitenden, pro-
duzireuden Klassen, zwischen überlieferten veralteten Einrichtungen und not¬
wendigen neuen Lebensformen vor allem auf politischem und kirchlichem Ge¬
biete. Schon damals sehen wir dort die Versuche der Kirche, in die sozialen
Vcstrebungeu einzugreifen, das unfruchtbare dogmatische Gezänk aufzugeben
und die sittlichen Ideen des Christentums in den Dienst einer neuen frucht¬
baren Bewegung zu stellen. Gleichzeitig sehen wir die schöngeistige Litteratur
die herkömmlichen, ausgefahruen Gleise verlassen und die ernsten Fragen der
Zeit und die düstern Kämpfe des Lebens mit realistischer Kraft dichterisch ge¬
stalten. Wir sehen, wie vor allem durch die litterarische Thätigkeit genialer
Männer der selbstsüchtig genießenden, engherzigen Gesellschaft die Angen ge¬
öffnet, die Schwachmütigen zum Handeln angespornt, die Brutalen und Um-
stürzler zur Überlegung gebracht und die gefährlichen Gegensätze zu einem
schöpferischen sozialen Frieden versöhnt werden.
In dieser mächtigen litterarischen Bewegung steht Charles Kingsley als
ihr geistvollster und einflußreichster Führer und Förderer.
Charles Kingsley wurde am 12. Juni 1819 im Pfarrhause zu Holue
geboren, einem Dörfchen an der Grenze des Hochlandes von Dartmoor in
Devonshire. Wenige Monate darauf siedelte sein Vater nach Lincolnshire über,
wo er ein' Pfarramt in Barnnck übernahm. Hier, inmitten der weiten, un¬
absehbaren, damals noch von Fens und Moräste«? angefüllten Ebene verbrachte
Kingsley seine Kindheit. I'Irs eklest on ni8 niincl ok it8 ü^t 80önsry, sagt
Kaufmann sehr richtig, linet tue picis s^vssp ok tus liori^on ok tue I/insoln-
8lnrs nrsrss, nickäsn in mise, or 8nur8öÄ vieil ins iiktsr-glov ok eng 8öttinA
«un, vsrs nsvor torgottsn. I^lors, in tus ii.08onos ok tds ovsrpovverinA
senff ok ng.turiil dorso8 vnioli insxirs nrsn vieil ksar in dirs Juli oonntr^, is
Fsnsrkcköck g. sxirit ok incloxsnäsnse.
Sein Vater war mehr Landedelmann als Geistlicher. Er war ein eifriger
Sportsman und beschäftigte sich viel mit Naturwissenschaften. Von ihm hatte
Charles tus Iisalti,^ matermlisin, das gesunde Blut, den frischen, fröhlichen Sinn,
die Frende an körperlichen Uebungen und an den Gegenständen der Natur.
Seine Mutter war in Westindien geboren; sie vererbte auf den Sohn einen
etwas romantischen Geist und vornehm ritterliches Wesen. Als Charles elf
Jahre alt war, kehrte sein Vater nach der Westküste vou England zurück, wo
er in Clovelly eine Stelle als Hauptpfarrer erhielt. Dort lernte der Knabe das
urwüchsige Fischer- und Seemansleben kennen, das er später in seinen Romanen
^VsswgrckNo! und 1ovo ?6g,rs ^s'o so anschaulich und kräftig dargestellt hat.
Dort ging ihm der Sinn auf für die Reize und Schönheiten der Küstenland¬
schaften. Die malerischen Felsenufer, die weiten Fernsichten über die blaue
See, die unheimlichen Schluchten und die lieblichen Thäler mit ihrem Reichtum
an Pflanzen und Thieren erscheinen später immer wieder in seinen Romanen,
Idyllen und Gedichten. Seit 1831 besuchte Charles eine Vorbereitungsschule
in Clifton, einem reizend gelegnen Vorort von Bristol. Einer seiner dortigen
Lehrer sagt von ihm, er sei u.n Msotioimts do/, gsntls ana konci ok arise,
og.pg.vis ok inicking- rsnni.ri«>.bis er-rnsliitions ok I^tin porös into LnglisK, auel
A pAS8long.es lovsr ok imtnrg.1 nistor^. Der Aufenthalt in Bristol wurde für ihn
von großer Bedeutung. Er sah dort im Herbste 1831 mit eignen Augen deu
blutigen Aufstand der Arbeiter. Die Schrecknisse und furchtbaren Szenen jener
Tage wurde Kingsley aus seiner Phantasie nicht wieder los, sie machten ihn,
wie er selbst sagt, zum Radikalen. Nach kurzer Zeit verließ er Cliftou und
besuchte die Schule von Helstou, einem Städtchen an der Südküste in Cornwall,
die damals unter der Leitung des Theologen Derwend Coleridge, eines Sohnes
des bekannten Dichters, stand. Auch hier fesselten ihn vor allem die Natur-
Wissenschaften, lor tuo 8t,v.cly c>k iMAuagö Q«z ki-la not Arss.t lilcinA. Jm Jahre
1836 erhielt sein Vater eine Pfarre in Chelsea bei London. Hier bestand der
Verkehr im Elternhause fast nur aus c>>nu) »u'n. Charles bekam zum ersten-
mal einen Einblick in das geistlose, kaltherzige und selbstsüchtige Leben der
orthodoxen Hochkirchler, es ergriff ihn ein tiefer Widerwille gegen die ganze
gepriesene englische Kirchlichkeit. Er haßte tre clappör ^ounA luclx prsaeusi-Z,
die mit alten und jungen Weibern kokettirenden Kanzelredner, die galanten und
süßlich thuenden Salonthevlogen, die mehr mit sich und ihrer verdammten
Eitelkeit als mit der wahren Seelsorge beschäftigt seien, und die von Würde
und Selbstgefälligkeit triefend, keine Ahnung von den hohen praktischen Aus¬
gaben eines wahren Geistlichen und Seelsorgers unsrer Zeit hätten, „Ich
könnte — sagte er zu einem Freunde — Bände über diese Zustünde schreiben,
Zustünde, die deine Entrüstung und Verachtung hervorrufen würden."
In London besuchte .Kingsleh zwei Ihre lang HiuZ''8 vollere. Er studierte
dort eifrig die englischen Dichter Sontheh, Cvleridge, Wordswvrth, Shelley
und Spenser und beschüftigte sich gründlich mit der deutschen Sprache und
Litteratur, In London hatte er auch Gelegenheit, das entsetzliche Elend kennen
zu lernen, das in gewissen Stadtvierteln herrschte, und von dem er in seinem
Roman ^teor ^volo so ergreifende Schilderungen gegeben hat. Im Jahre 1838
ging er auf die Universität Cambridge, studierte zuerst Jura, wandte sich dann
aber der Theologie zu, machte also den entgegengesetzten Weg wie sein Lehr¬
meister Thomas Carlhle durch, der von der Theologie zum juristischen Studium
übergegangen war.
Kingsleh wurde auf der Universität wegen seiner vorzüglichen Leistungen
als Lsuior oxtimo ausgezeichnet. Aber die akademischen Jahre hatten für ihn
nur eine untergeordnete Bedeutung. Philisterhafter Ehrgeiz und liebedienerisches
Strebertum lagen ihm ganz fern. So schrieb er damals an einen seiner Studien¬
freunde: „Ich fürchte, du hast dich zu sehr gewöhnt, die auf der Universität
zu erwerbenden Ehren als das Endziel des Lebens anzusehen, während sie
mir nur als eine Stufe zu viel Höhen,, ernstern und fruchtbarem Studien
erscheinen. Bleibt uns doch das große Rätsel unsers Daseins zu entziffern,
das Woher und Wohin unsrer wunderbaren Menschheit. Es bleiben uns die
Aufgaben und Fähigkeiten der Erdgebornen zu begreifen, damit wir sie in
Thaten umsetzen können, ihnen und uns selbst zu Nutzen. Es liegt uns eine
Selbsterziehung ob, die uns befähigen soll, uns selbst und unsre Umgebung
Weiser, besser und glücklicher zu macheu. Dies scheint mir in jedem Studien¬
gange das einzig Erstrebenswerte. Hat dich der deine anders gelehrt, so ist
dein Studium unnütz und schädlich."
Im Jahre 1842 wurde Kingsleh Pfarrverweser in Eversleh, einem freundlich
gelegnen Dörfchen in Hampshire. Im nächsten Jahre erhielt er die Stelle
selbst und verheiratete sich mit Miß Grenfell. Sein Vorgänger, ein salbungs-
voller Hvchkirchler, hatte sich um das irdische Heil seiner Herde blutwenig ge¬
kümmert. Die sittlichen und wirtschaftlichen Zustände in der Gemeinde waren
grauenhaft. Der junge Pfarrer lernte dort das ganze Elend der englischen
Landbevölkerung gründlich kennen. Bald sah er ein, daß mit dem alther¬
gebrachten Formelkram, mit dem bloßen Predigen von himmlischer Seligkeit
nichts mehr auszurichten sei bei Menschen, die in verpesteten Höhlen wohnten,
vor Hunger und Arbeit stumpf wie das Vieh geworden waren und ingrimmig
auf die unthätigen, das Leben in vollen Zügen genießenden Großgrundbesitzer
und Kapitalisten schauten. Wie in Eversley, war es ans allen englischen
Pfarren. Mit bitterm Groll sah Kingsley, wie der entsetzlichen Not des Volkes
von der orthodoxen Hochkirche und den behaglich auf ihren Pfründen lebenden
Geistlichen nicht das geringste Verständnis entgegengebracht wurde, wie die
tiefer empfindenden, still mit sich ringenden, selbständig denkenden Theologen,
diese eigentlichen Seelsorger des Volkes, immer mehr hinter die kaltherzigen
Streber und salbungsvollen Schönredner zurückgedrängt wurden, wie sich die
Kirche — ganz so wie gegenwärtig in Deutschland — noch immer nicht an¬
schicken wollte, die ganze Ausbildung und Erziehung ihrer Theologen aus den
Grenzen eines überlebten dogmatischen Formelkrams herauszuheben und den
Bedürfnissen und Forderungen der Gegenwart anzupassen. Er klagt über die
Urteilslosigkeit ok ello olsrN dus^ vieil tllöir ovmiuöutinA ana squalMing- einel
äootriue-pivlvivF, vitiis eilf portal ok Iklzour turusck xnvt^ troni tllL vlluroll vieil
<Ü8AN8t. „Sie zetern — sagt er — über jedermann, nur nicht über sich selbst,
aber in solchen hergebrachten Salbadereien, daß kein Ohr mehr durch die ewig
wiederholten Redensarten von Erbsünde, unbußfertigen Herzen u. s. w. be¬
rührt wird."
Hier auf dem Lande erlebte Kingsley die furchtbaren Wahrheiten, die
Carlhle in seinen Schriften (Uig>rei8in und ?»8t auel ?rö86ire der englischen
Nation ins Gesicht geschleudert hatte. Alle rücksichtslosen, wuchtigen Sätze
dieses Mannes waren ihm wie aus der Seele geschrieben. So, wenn Carlhle
in?A8t g.ira?re8vnd sagt: „Man steige in die untern Klassen hinab, wo man
will, in der Stadt oder auf dem Lande, und durch welchen Kanal man will:
man ziehe die darüber vorhandnen amtlichen Erhebungen zu Rate, öder man
thue selbst die Augen auf und sehe sich um. Stets wird sich dasselbe traurige
Bild ergeben. Man wird nämlich zugestehen müssen, daß der arbeitende Teil
der reichen englischen Nation in einen Zustand versunken ist oder versinkt, der,
wenn man alle Seiten dieses Zustandes in Erwägung zieht, buchstäblich noch
nie seinesgleichen gehabt hat."
Das alles konnte Kingsley nun aus seineu Erfahrungen bestätigen. Er
erkannte, daß Opfer gebracht werden müßten, daß der selbstsüchtige Indivi¬
dualismus, der die bevorzugten Stunde Englands beherrschte und leitete, der
Selbstverleugnung, dem Altruismus Platz macheu müßte, wenn gesündre Zu-
stünde herbeigeführt werden sollten. Bei seinen Amtsbrüdern konnte Kingsleh
für seine Ideen kein Verständnis und keine Förderung erwarten. Ihnen allen
fehlte die Fähigkeit, die soziale Bewegung auch nur zu verstehen.
Brentano giebt in seinem Buche eine vortreffliche Charakteristik der eng¬
lischen Staatskirche und des englischen Geistlichen jener Zeit; er nennt ihn
erstaunlich unwissend, selbst ans theologischen Gebiete, voll von verknöcherten
Dogmatismus und eiuen Feind alles geistigen und kirchlichen Fortschritts,
der nichts weiter wußte, als die Texte aus der Bibel, die zum Gehorsam
gegen die bestehenden Gewalten ernähren. Viele Hochkirchler waren nicht nur
allem Fortschritte abhold, sie traten sogar für eine entschiedne Reaktion ein,
für eine Umbildung der englischen Kirche nach dem Vorbilde der katholischen
aus den ersten Jahrhunderten des Christentums. Diese reaktionäre Bewegung
ging von mehreren Oxforder Theologen aus, an deren Spitze Puseh und
Newman standen. In ihren Schriften, 'I'ravts l'or tluz 1uns8, nach denen sich
die Anhänger Traktarianer nannten, vertraten sie ihre katholischen Prinzipien.
Sie verlangten die Autorität der kirchlichen Tradition, die apostolische Nach¬
folge (Luc-vössioii) der Bischöfe, das Recht der Bibelerkläruug nur für den
Geistlichen, die Einführung der Messen, der Kirchenbusze, der Fasten und der
Ohrenbeichte und bei den Pfarrern den Cölibat. Im Jahre 1845 trat New¬
man offen zur römisch-katholischen Kirche über, und mehrere hundert englische
Geistliche folgten ihm. Die Anhänger Pnsehs, die Puseyisten, blieben zwar
bei der anglikanischen Kirche, neigten aber doch zur römischen Lehre. Mit
Kirchenregiment und Askese glaubten sie die sozialen Schäden zu heilen. Die
.heiligen des Mittelalters wurden dem uiiznfriednen Volke als nachahmens¬
werte Vorbilder vorgehalten und Werkgerechtigkeit und Weltflucht als der
einzige Weg zur Rettung gepriesen.
Gegen diese Traktarianer mit ihrem mönchischen Ideal vom Christentum
zog Kingsleh zuerst zu Felde. Er suchte die Thorheit und Verwerflichkeit
der Askese an dem Beispiel der heiligen Elisabeth von Thüringen nachzu¬
weisen und schrieb sein Drama "IIw Lsint's ^r-r^sa^. (lüolleetscl ^Vorlis, 1'veins,
London, Mnemillail and Co.; neueste Auflage 1892. 'IIis 8-rire's ?raM<Zv
übersetzt unter dem Titel: Elisabeth, Landgräfin von Thüringen. Von P.
Spangenberg, zweite Auflage. Gvthn, Perthes, 1885.) Wie im dreizehnten
Jahrhundert der wahre Christ zu kämpfen hatte gegen den herrischen Feu¬
dalismus und die Trugbilder des Papsttums -- elle- tvrmnry ot' Kzuäsl os8te,
unä elle xlmnt,c>in8 vliiod ?oper,7 suwtiwws lor eilf living- Llirist, sagt
Kingsleh in der Vorrede—, so standen in der Mitte des neunzehnten Jahr¬
hunderts den wahren sittlichen Ideen des Christentums zwei Mächte gegen¬
über: der Kapitalismus und der Kryptolathvlizismus. Gegen beide erhebt
Kingsleh in seinem Drama die Stimme. Im Jahre 1846 hatte er I'ibe
Kirint's I'r-rgöö)' fertig, aber sieben Jahre sollte es liegen bleiben. Doch sein
Freund und Lehrer Maurice, der die Handschrift Coleridge und Teunhson
vorgelegt hatte, forderte ihn auf, das Werk sofort herauszugeben. So erschien
es denn zu Anfang 1848 gleichsam als poetischer Heroldsruf einer neu ent-
standnen, von Kingsleh, Maurice und dem Advokaten Ludlvw gegründeten
christlich-sozialen Partei.
Als Quelle hatte ihm Dietrich von Apoldas Lebensbeschreibung der
heiligen Elisabeth gedient. Mvntalcmberts im Jahre 1836 erschienene Schrift
Vis als Lainw-NIis-tbetll 6s Hongriö hat er nicht benutzt. Es ist ein gewagtes
Unternehmen, diesen dem Leser bekannten Stoff, der mehr ein pathologisches
als ein psychologisches Interesse beanspruchen kann, in dramatischer Form zu
behandeln. Aber das Wechselgesprnch bot dem Dichter die beste Gelegenheit,
seine Gedanken scharf und zugespitzt vorzubringen. Englische Verhältnisse sind
gemeint, wenn der Landgraf Ludwig zu seinem treuen Begleiter Walter von
Barna bei einem Spazierritt sagt:
Ach! jeder Tag umwölkt sich neu und trüb
Mit Klagen über Fieber, morsche Hütten,
Not, Habsucht, Dummheit — Schöffen wie Barone
Bereichern sich. Das gute Ackerland
Wird Wald und Jagdgrund. Solchem Unfug steuern
Wär tnchtge Arbeit; eines jungen Helden
Wohl wert!
Elisabeth ist dem unheimlichen Einfluß, der „religiösen Suggestion" des
Mönchs und Ketzerrichters Konrad unterlegen. Ihm hat sie Gehorsam zu¬
geschworen. Sie geht nun in die Hütten der Armut und lernt das Elend
kennen. Und wieder ist es ein englisches Bild, das uus der Dichter vorführt:
Ich trat zur Hölle ein. Das Himmelslicht
War spärlich, und die Luft war dick und dumpf.
Die Ziegel hingen locker. Angellvs
Erzitterten die Thüren über Löchern,
In schwarzen Pfützen dampfte und gerann.
Und mit getauften Spielgenossen kämpften
Elende Ferkel grunzend um die Brocken!
Schrill fluchten Mutter! Bleiche Kinder lärmten,
Ein scharfer Husten tönte dnrch die Hütte.
Hier stummer Vorwurf ans des Hungers Augen,
Dort blöd verlegnes, stumpfes Greisentum.
schlaff saß der Arbeiter am leeren Webstuhl,
Schoß finstre Blicke durch sein struppig Haar.
Drin Schutt und Moder, Abfall von Jahrzehnten
Nachdem Ludwig im Kreuzzuge gefallen ist, weiß Konrad sein Opfer Elisabeth
von allem, was ihr lieb und teuer ist, zu entfernen. Frömmigkeit und Askese
werden bei ihr zum religiösen Wahnsinn, und Konrad triumphirt. Nur einen
heftigen Gegner hat er, Walter von Variln. Dieser vertritt des Dichters An¬
sicht. Er durchschaut Konrad und sagt: „Der gehört zu den glatten Verstandes-
menschen, die zu raffinirt sind, um männlich zu sein, und die gütig erscheinen,
weil sie weibisch sind. Zu dem schleichenden Gewürm, das in frommen Zeiten
ausschwärmt, weil es durch die Springflut der Religion aus seinen Höhlen
fortgeschwemmt wird, das aus der Frömmigkeit ein Geschäft macht und ganz
oben auf deu Wellen schwimmt, bis diese es an das feste Gestade des Reich¬
tums und der Stellung werfen."
Das Drama ist reich an satirischen Seitenhieben gegen das Muckertum
mit seinem Wahlspruch: dö8t, gegen die van den Traktarianern ge¬
priesene Askese und gegen die Unlust der Kirche, die wahre Not der Mensch¬
heit zu lindern. Es ist kein Bühnendrama; wenn auch die Sprache in ihrer
kraftvollen Kürze, in ihrem Bilderreichtum und ihren Antithesen an Shake¬
speare erinnert, so fehlt ihr doch zu sehr die Gewalt der fortreißenden Hand¬
lung, als daß wir Bunsens Meinung beistimmen konnten, in Kingsley sei ein
neuer Shakespeare erstanden, ^us Leine's Ira.»«^ ist denn auch Kingslehs
einziges Drama geblieben. Er trieb nicht die Dichtkunst der Kunst wegen.
Sie war ihm ein flammendes Schwert, das er von der Gottheit in die Hand
bekommen hatte, um für Recht und Wahrheit zu kämpfen. Er sah ein, daß
die kirchlichen Streitfragen vor den gewaltigen sozialen Bestrebungen bald ver¬
schwinden würden, wie wogender Nebel vor dem Sturm. Jus i-sal struAZIs
0k tus ctg,^ — schrieb er — pill b«z, not ostvvscili ?ox0r^ g.mal 1'rotöstiZ.uti8in,
vnd the,v<Zkir ^tlzsism g.na (Ari^t. An die christlichsoziale Bewegung, die deu
Sozialismus christianisiren und das Christentum sozialisireu wollte, schlössen
sich bald viele hervorragende Männer, unter ihnen der bekannte Philologe
Furnivall und der Dichter Thomas Hughes, der Verfasser des auch in Deutsch¬
land vielgelesenen Buches "loin Lmvvn's O^s.
Kingslehs christlicher Sozialismus verfolgte in England ganz andre Ziele
als Stöckers christlichsoziale Partei in Deutschland. Er hatte gar nichts zu
schaffen mit feudal-reaktionären, kirchlichen, agrarischen und antisemitischen Be¬
strebungen. Im Gegenteil wollte Kingsley gegen den Torysmus eine wirk¬
liche Arbeiterpartei gründen und eine Reform nicht von oben herab bewerk¬
stelligen, sondern von unten hinauf durchkämpfen. Seine Anhänger waren
keine einseitigen Parteipvlitiker, keine konfessionellen Hetzer. „Niemals — so
hieß ein Grundsatz in ihrem Programm — soll der, der nicht Christ ist, wegen
seines Unglaubens von uns angegriffen oder geschmäht, niemals soll von den
Anhängern ein christliches Bekenntnis verlangt werden." Für die Haupt¬
bedeutung und Hauptstärke des in dem verfallenden Römerreich entstehenden
Christentums hielt Kingsley die soziale; sozialistisch müsse das Christentum
wieder werden, wenn es seine wahre Bestimmung in der Gegenwart erfüllen
wolle; das wahrhaft sozialistische Buch, das, richtig ausgelegt, schon alle Ideen,
Grundsätze und Forderungen der Chartisten enthalte, sei die Bibel. Die Bibel
sei das wahre Buch des armen Mannes, die wahre Stimme Gottes gegen
Tyrannei, Faulenzer und Schwindler. „Unser ist die Schuld — ruft Kingsleh
den englischen Geistlichen und den Arbeitern zu —, wir haben uns der Bibel
bedient, als wäre sie nichts andres als ein Leitfaden für Polizeidiener, eine
Dosis Opium für Lasttiere, während sie überladen werden, ein Buch, ledig¬
lich um die Armen in Ordnung zu halten. Wir haben euch gesagt, daß die
bestehenden Gewalten eingesetzt seien von Gott, ohne euch zu sagen, wer die
nur zu oft bestehende Unfähigkeit und Erbärmlichkeit eingesetzt hat! Wir haben
euch gesagt, die Bibel predige euch Geduld, während wir euch verschwiegen,
daß sie euch die Freiheit versprach. Wir haben euch gesagt, die Bibel predige
die Rechte des Eigentums und die Pflichten der Arbeit, während sie, weiß
Gott! für einmal, wo sie dies thut, zehnmal über die Pflichten des Eigentums
und die Rechte der Arbeit predigt. Wir haben eine Fülle von Texten aus¬
findig gemacht, um die Sünden der Armen zu tadeln, aber sehr wenig Texte,
um die Sünden der Reichen zu tadeln. Ihr sagt, wir hätten euch nicht ge¬
predigt. In der That, ich denke, daß wir euch sehr viel mehr gepredigt haben,
als billigerweise auf euern Anteil kommt. Deal für eine einzige heilsame
Strafpredigt, die wir den Reichen gegeben haben, gaben wir euch tausend. Ich
war ebenso schlecht wie irgend ein andrer, aber nun habe ich es satt!"
Die französische Februarrevolution 1848 förderte die chartistische Be¬
wegung in England gewaltig. Die Arbeitermassen traten in London zu lär¬
menden Kundgebungen zusammen. Am 10. April desselben Jahres wollten
die Chartisten in einer Stärke von 300 000 Mann vor das Unterhaus ziehen
nud ihre Charte mit mehr als einer Million Unterschriften überreichen. Sie
verlangten darin: allgemeines Stimmrecht der Männer, geheime Abstimmung,
Beseitigung des Gesetzes, daß nur Vermögende zu wählen seien, Tagegeld für
die Abgeordneten, gleich große Wahlbezirke, jährliche Parlamentswahlen. Mit
Schrecken sah mau den 10. April herannahen. Ganz London war in Ver-
teidigungszustaud versetzt worden; man fürchtete Vergewaltigungen, Plünde¬
rung, Raub und Mord. Kingsleh hielt es bei diesen drohenden Zuständen
auf seiner Landpfarre nicht aus. Er eilte nach London, um die Chartisten
zu vernünftigen Handeln und ruhigen Maßregeln zu bewegen. Die große
Demonstration am 10. April zerschlug sich. Aber in den Arbeitermassen gährte
und tobte es gefährlich weiter. Kingsleh schrieb sofort ein wuchtiges „Manifest
an die Arbeiter" und ließ es am nächsten Tage an die Mauern schlagen. Die
Wirkung blieb nicht aus. Der Aufruhr war im Keime erstickt, und die Char¬
tisten traten von dem Wege der Gewalt wieder auf die Bahn ruhiger Ver¬
handlungen. Das Manifest ist für Kingslehs sozialpolitische Ideen, für seinen
Charakter und seine Menschenliebe so bezeichnend, aber auch für die Geschichte
des Sozialismus so wichtig, daß wir es hier aufnehmen müssen:
Arbeiter von England! Ihr sagt, es geschehe euch Unrecht. Bei vielen von
euch ist es so, und viele nnßer euch selbst wissen es. Beinahe alle Männer von
Kopf und Herz wissen es, vor allen Dingen weiß es die Geistlichkeit, die selbst
seclsorgerisch arbeitet. Wenn diese eure Hänser betritt, sieht sie die schmähliche
Dunkelheit und den Schmutz, worin ihr eingepfercht seid; sie sieht, wie eure Kinder
ans Maugel an geeigneter Erziehung, in Unwissenheit und Versuchungen aufwachsen.
Der Geistliche weiß, wie mancher Begabte und Belesene unter euch von dem Stimm¬
recht, das jedem freien Manne zusteht, abgeschlossen ist, weiß, mit wie edler Ge¬
duld und Selbstbeherrschung ihr bisher diese Übel ertragen habt. Er sieht dies
alles, und Gott sieht es.
Handwerker, Arbeiter von England! Ihr habt mehr Freunde, als ihr denkt;
Freunde, die nichts von euch Wollen, aber die euch lieben, weil ihr ihre Brüder
seid, die Gott fürchten und deshalb euch, seiue Kinder, nicht vernachlässigen mögen,
Männer, die sich abmühen und aufopfern, um euch eure Rechte zu erobern, Männer,
die diese eure Rechte besser kennen, als ihr selber, die für euch etwas besseres er¬
streben als Freibriefe und Parlamentsakte, etwas nützlicheres, als der „fünfzig-
tmlscndste Teil eines Redners in dem großen nationalen Geschwätz in Westminster"
sür euch ist. Ihr mögt euer Zutrauen verweigern und sie beleidigen — ihr könnt
nicht verhindern, daß sie für euch arbeiten, daß sie euch um der Liebe zu euch
selbst mulier anflehen, euch von dem Abgrund des Aufruhrs zurückzuwenden, dessen
Ende allgemeines Mißtrauen, Geschäftsstockung und Hungersnot sein muß. Ihr
denkt, die Verfassungsurkunde würde euch frei machen. Wollte Gott, es wäre dem
so! Die Verfassung ist nicht schlecht, wenn die Leute, denen sie gegeben wird, nicht
schlecht sind. Aber wie soll sie euch frei machen? Frei von der Sklaverei schmäh¬
licher Bestechung? Frei von der Sklaverei des Bieres und des Branntweins, der
Sklaverei jedes Schwätzers, der eurer Selbstüberhebung schmeichelt und Bitterkeit
und blinde Wut in euch entzündet? Das, dünkt mich, ist die wahre Knechtschaft,
wenn mau der Knecht seiner Begierden, seines Beutels, seiner Verstimmungen ist.
Kann irgend eine Verfassung hier abhelfen? Freunde, ihr braucht mehr, als Par-
lamentsakte zu geben vermögen.
Engländer, Angelsachsen! Handwerker der großen, kaltblütigen, sehnigen eng¬
lischen Nation, der Werkstätte der Welt, der Bannerträgerin der Freiheit seit
siebenhundert Jahrein die Leute rtthmeu euern gesunden Verstand. Werdet nicht
zu Thore», indem ihr Zügellosigkeit meint, während ihr nach Freiheit ruft. Wer
wird wagen, euch die größte Freiheit vorzuenthalten? Der allmächtige Gott und
Jesus Christus, der arm geworden ist, um für Arme zu sterben, werden sie euch
bescheren, und wenn sich alle Mammvnsdiener der Erde widersetzten. Ein lichterer
Tag geht für England ans, ein Tag der Freiheit, der Wissenschaft, des Fleißes!
Aber ohne Tugend wird es niemals wahre Freiheit geben, niemals echte Wissen¬
schaft ohne Religion, noch rechten Fleiß ohne Gottesfurcht und die Liebe zu euern
Mitbürgern.
Arbeiter von England, seid weise; daun müßt ihr frei werden denn ihr werdet
Ein arbeitender Pfarrer
es gehe Wohl nicht fehl, lieber Leser, wenn ich annehme, daß Sie
sich mit einem gewissen Stolze zur Klasse der Gebildeten zählen.
Auch liegt mir nichts ferner, als zu bezweifeln, das; Sie dies mit
Recht thun. Aber haben Sie sich den Gegenstand Ihres Stolzes
schon einmal näher angesehen? Können Sie mir sagen, was Bil¬
dung ist? Nein? Nun, das Nächstliegende sieht man sich ja
selten näher an, und bei den Wörtern auf -ung ist es durchweg schwer zu
sagen, was sie bedeuten. Fragen wir also lieber, wer sind, oder nein, wer
nennt sich die Gebildeten? Das thun sonder Zweifel alle die Leute, die vom
Kuponabschneiden oder vom Ertrag ihrer Kopfarbeit leben. Im Gegensatz
dazu nennen sie ungebildet die Leute, die sich den Lebensunterhalt dnrch ihrer
Hände Arbeit verdienen. Sie sehen, diese Unterscheidung ist dürftig, denn
das Kuponabschneiden ist unbestreitbar auch eine Handarbeit. Und dann —
wie kann der Kopf ohne die Hand nud die Hand ohne den Kopf arbeiten?
Und doch macht man den Unterschied! Aber es ist ja nicht nötig, daß wir
das Wesen der Bildung auf dem Wege reinen Denkens ergründen, ver¬
suchen wir es lieber mit der empirischen Methode: „an ihren Früchten sollt
ihr sie erkennen." Sehen wir uns einige Früchte moderner Bildung an,
zwanglos, zusammenhanglos, wies gerade kommt.
Also bitte, treten Sie mit mir in ein Kupee dritter Klasse ein. Das ist
ja der Ort, wo die überwiegende Menge der durchschnittlichen Bildung ver¬
frachtet wird. Es sind nur noch zwei Plätze frei. Auf die lassen wir uns
so behutsam wie möglich nieder. Trotzdem werfen uns unsre geehrten Mit¬
reisenden Blicke zu, die unzweideutig fragen: Konnten Sie nicht eben so gut
anderswo einsteigen? Sie erkundigen sich bei Ihrem Nachbar teilnehmend,
wohin er zu reisen gedenke. Der brummt eine kurze Antwort, deren tiefern
Sinn Ihnen welterfahrne Leute also kvmmentircn würden:^ Wie können Sie
nur so unverschämt sein, sich um mich zu kümmern? Lassen Sie mich ge¬
fälligst in Ruhe! Eine Dame hat die Hände über ihrer Reisetasche gefaltet,
die sie zum Ärger ihres Gegenübers auf dem Schoß hält, obgleich die
menschenfreundliche Vahuverwnltung Netze fürs Gepäck hat anbringen lassen;
sie sieht dabei starr zum Fenster hinaus, obgleich dort nicht das geringste zu
bemerken ist, das der Beachtung wert wäre. Ein dicker Herr verspeist ein
kaltes Kotelett aus einer weißen Papierdüte und macht bei jedem Biß die
Ellenbogen so breit, daß sich seine Nachbarn ängstlich zur Seite drücken. Ihm
gegenüber kramt ein andrer Herr in seinem Koffer, der einen höchst ver¬
wickelten Geruch ausströmt, aus dem Sie vergebens klug zu werden suchen.
Jetzt ist der Dicke fertig und wischt sich den Mund, der andre klappt seinen
Koffer zu. „Reisen wohl in Parfümartikeln, was?" beginnt der Dicke. —
„Ja wohl, für Haus so und so, renomnürteste Firma in dieser Branche," und
schon überreicht der andre eine bunte Empfehlungskarte. „Aha, kenne ich.
Habe gelegentlich damit zu thun gehabt. Ich mache in Kolonialwaren on z-roh
für Schulze, Müller und Kompagnie." Und nun wird die Geschäftslage
durchgesprochen, es werden Warenproben vorgezeigt, Gasthäuser kritisirt, Er¬
lebnisse ausgetauscht, kurz was sich vorher gar nicht anspinnen wollte, eine
Unterhaltung, zwischen diesen beiden ist sie flott im Gange. „Da kennen >sic
auch Meyer' in Dingsda? Fauler Kunde, waS? Nein? nicht? Na ja, hat
mit seiner zweiten Frau hübschen Posten ins Geschäft bekommen, das hat ihn
rausgerissen." Und so schnurrt das weiter wie ein Uhrwerk, in dem die
Feder wild geworden ist. Wer nicht selbst mit der Zungenfertigkeit eines
Geschäftsreisenden gesegnet ist, kann natürlich nicht mitreden. In das Reisen
geht schneller als zur Zeit unsrer Väter, obs aber auch vergnüglicher ist?
Wenn mein Großvater zur Leipziger Messe reiste, bestieg er sein Rößlein,
hinten ward der Mantelsack aufgeschnallt, in den Halftern zu beiden Seiten
steckten el» paar Pistolen, gar gefährlich anzusehn, aber jedenfalls schmerz¬
hafter für den, der sie abzuschießen hatte, als für den, dem sie ans Leben
wollten. Die Reise war übrigens kein Wagnis, denn man ritt in großer
Gesellschaft, in der es höchst fidel zuging; man Vertrieb sich nämlich die Zeit
nicht etwa mit eintönigen Gesprächen über das Geschüft, sondern mit selbst-
geschnffnen Schnurren und Späßen.
Doch hier ein ander Bild: eine mittelgroße Stadt, in der noch kein
Überfluß ist an Theatern, Konzerten und Tingeltangeln. In dem besten
Wirtshause, um den runden Tisch in der Ecke eine Gesellschaft von Stamm¬
gästen, junge Ärzte, Juristen, Beamte, Kaufleute, lauter unzweifelhaft Ge¬
bildete. Da sie unverheiratet sind, bringen sie den Abend wie üblich beim
Biere zu. Eben tritt ein neuer ein den Tisch und stellt einen Fremden vor.
Stuhlrückeu, Aufspringen, Namen nennen, die niemand versteht, steife Ver¬
beugung der Genannten, dann setzen sich alle zugleich. Pause. Langsam
belebt sich das Gespräch wieder, der Fremde aber fühlt sich einsam und
unbehaglich. Denn wir sind bekanntlich nicht imstande, einen Menschen zu
unterhalten, so lange wir nicht wissen
Woher er kam der Fahrt,
Noch wie sein Nam und Art.
Da hört der Fremde zufällig, daß sein nächster Nachbar Arzt ist. Er atmet
ans und giebt sich ihm als Kollege zu erkennen, und nun dauert es keine
fünf Minuten, so rücken die beiden ihre Stühle zusammen und erzählen sich
einen „interessanten Fall" nach dem andern. Dabei werfen sie derart mit
lateinischen Brocken um sich, daß ihnen kein andrer von der Gesellschaft zu
folgen vermag. Und sie thun Recht daran. Denn haben Sie jemals be¬
obachtet, das/ ein moderner Mensch mit Interesse aus etwas gehört hätte, das
nicht „in sein Fach schlägt"? Heine sagt einmal, wenn zwei deutsche Schrift¬
steller zusammenkämen, unterhielten sie sich alsbald von ihren Verlegern. Wenn
sie welche haben, thun sie das sicher, und wenn sie keine haben, thun steh erst
recht, ich kann Ihnen das ans Erfahrung bestätigen. Aber wir können den
Satz ruhig allgemein aussprechen: wo heutzutage zwei Deutsche desselben
Vernfs zusammenkommen, da unterhalten sie sich alsbald von ihrem Berufe.
Selbstverständlich thun wir auch bei andern Gesprächen mit, wenn wir leidlich
erzogen sind, doch nicht entfernt mit dem gleichen Interesse. Es müßte denn
sein, daß wir uns stritten. Aber der Wortstreit ist noch keine anerkannte
Form geselliger Unterhaltung, obgleich es Leute giebt, die ihn mit mehr Aus¬
dauer pflegen als eine achtzigjährige Erdkarte. Aber diese Leute betreibe»
den Wortstreit dann eben als ihr Geschäft, und es bleibt dabei: mit Be¬
geisterung redet man heutzutage nur von seinem Geschäft.
Oder von seinem Vergnügen. Doch auch das wird ja als Geschäft be¬
trieben, und es heißt gar nicht mehr Vergnügen, sondern Sport — Sie
wollen darauf achten, das sy getrennt auszusprechen; Sport aber ist nichts
andres, als das geschäftsmäßig betriebne Vergnügen. So betreiben es nämlich
die praktischen Engländer, von denen uns das Wort zugekommen ist, und wir
machen ihnen das nach, denn im nachmachen lag von jeher unsre Stärke.
Finden sich in einer Stadt erst zehn Männer, die es im Radfahren so weit
gebracht haben, daß sie an keiner allzu auffälligen Stelle mehr herunterfallen,
so wird die Sache „organisirt." Die eine Hülste der Beteiligten wählt die
andre in den Vorstand, es werden Uniformen getauft, ein Lokal gemietet, die
verschiednen Bräute, Schwestern, Kusinen oder sonst verfügbare Weiblichkeit
müssen eine Fahne sticken, und alljährlich feiert man ein Stiftungsfest, so ge¬
nannt, weil es selten oder nie auf den Stiftungstag fällt, das ungeheures
Geld und noch viel mehr Ärger kostet. Das Ganze nennt man einen Kind.
Können Sie mir eine Stadt nennen im deutschen Vaterlande, die nicht ihren
Klub hätte, mindestens einen ans der endlosen Reihe vom schneidigen Joctey-
Herrenreiterklub bis zum idyllischen Nanchklnb Qualmtute? Vermöchten Sie
das, teurer Leser, ich würde Ihr Andenken segnen und ohne Zögern in diese
Stadt ziehen, überstiege auch der Prozentsatz der Kommunalsteuer dort die
kühnsten Träume einer Bürgermeisterphnntasie. Denn ich könnte mich mit
den Einwohnern dieser glücklichen Stadt doch in meiner Muttersprache unter¬
halten. Aber haben Sie es schon einmal dahin gebracht, sich mit einem rich¬
tigen Sportsman — Sie wollen das einfache n beachten — in längerer
Unterhaltung zu verstündigen? Ja? Glauben Sie, daß es „erheblich" schwie¬
riger sein würde, die dunkeln Ehrenmänner zu verstehen, die auf der einsamen
Karawcmenstrnße von Bagamoyv nach Taborn ziehn? Ich nicht. Und haben
Sie vor einem begeisterten Sportsman schon einmal Zweifel darüber laut
werden lassen, daß sein Geschäftszweig — Sport wollte ich sagen, von der
allergrößten Bedeutung sei für die Zukunft des dentschen Reiches, ja des
ganzen Menschengeschlechts? Ich sage Ihnen, es ist mit weit weniger Ge¬
fahr verbunden, vor den Ohren eines eingeschwornen Wagnerianers die
Musik Meyerbeers zu loben. Zwar, wenn Sie einen Meisterfnhrer von
mehreren Ländern auf ein lebendiges Roß setzen, so fällt er sicher herunter,
und wenn Sie den schneidigsten Herrenreiter auf ein Stahlroß heben, so beeilt
auch er sich, der Mutter Erde in den Schoß zu sinken, denn mehr als einen
Zweig des Sports zu pflegen, dazu fehlt den meisten von uns die Zeit.
Aber das hält uns gar nicht ab, dies eine harmonische Körperpflege zu nennen
und in Festreden in gerader Linie herzuleiten von den Spielen der Hellenen
im Haine Attis zu Olympia.
Was aber sind Radfahren und Wettrennen, Rudern, Schwimmen und
Thoutaubenschießen gegen den höhern Sport und seine Freuden, gegen die
Politik! Sie fragen, was denn die Politik mit der Bildung zu thun habe?
Herr, Sie gehören wohl zum allcrjiingsten Nachwuchs der Sozialdemokratie?
Sie meinen, zur Politik gehöre nur Gottesfurcht und fromme Sitte? Ver¬
zeihen Sie, ich habe Ihnen Unrecht gethan, Sie sind eine der besten Stützen
von Thron und Altar. Ich mochte mich zwar nicht so ganz zu Ihrer Mei¬
nung bekennen, jedenfalls muß ich Ihnen aber soweit Recht geben, daß zur
Politik heute weit weniger Bildung gehört, als vor zehn, zwanzig oder dreißig
Jahren. Die Sache ist durch die fortschreitende Klärung unsrer Parteivcrhält-
nisfe wesentlich erleichtert worden. Um Politik zu machen, haben Sie sich nur
an der Wahl eines Volksvertreters zu beteiligen; der besorgt dann das weitere
aus rein idealen Gesichtspunkten und zum besten der Gesamtheit. Diese Wahl
nun ist durchaus keine Qual, sondern etwas sehr einfaches. Es stellen sich
Ihnen da verschiedne Kandidaten vor, diese Herren fragen Sie, ob sie geneigt
seien, den und den Handelsvertrag zu bewilligen oder nicht, die und die Zölle
herabzusetzen oder nicht, und was derartige Lebensfragen des Volkes mehr
sind. Übrigens brauchen Sie nur in den seltensten Fällen selbst zu fragen,
Sie können sich in der Regel die Antwort in Druckerschwärze auf Zeitnngs-
Pnpier ins Haus tragen lassen. Je nach der Art dieser Antwort weisen Sie
die Kandidaten den beiden Klassen zu, in die Ihre Partei die deutscheu Wähler
für die Zwecke der Wahl eingeteilt hat. Je nach dem Parteistandpunkte also,
den Sie einnehmen, teilen Sie die Kandidaten ein in Reichstreue und Neichs-
feinde, oder in Christen und Atheisten, oder in Liberale und Reptile, oder in
wahres Volk und Raubtiere u. s. w. Wem Sie nach dieser Einteilung Ihre
Stimme zu geben haben, darüber werdeu Sie keinen Augenblick im Zweifel
sein. Sie sehen, dieser Sport ist so einfach, wie man nur wünschen kann.
Ob der Mann, den Sie wählen, ein Lump oder ein Ehrenmann, ein Dumm¬
kopf oder ein Genie, ein Tagedieb oder ein tüchtiger Arbeiter ist, darum
brauchen Sie sich keine Sorge zu machen. Sie können sich darauf verlassen,
daß er die Versprechungen, die er gegeben hat, um gewühlt zu werden, zum
Heile des gesamten Volkes halten wird, widrigenfalls ihn feine Partei an die
Luft setzt. Ich bin geneigt, als bewegende Kraft unsrer Bildung einen Trieb
zu radikaler Einseitigkeit anzunehmen. Habe ich Recht, so müssen nur die
politischen Parteien notwendig für die feinste Blüte unsrer Bildung erklären.
Und die feinste Blüte der deutschen Parteien, das wären dann die, die von
den Erzvätern Marx und Lassalle abstammen. Nicht etwa die große Schar
ihrer Anhänger, nein, die zählen ja nach der üblichen Einteilung nicht mit,
sondern die vierundvierzig Unsterblichen, die in Berlin ans den kurulischen
Stühlen sitzen. Diese Herren, die den Zukunftsstaat erfunden haben und ganz
genau wissen, wie man alles Elend aus der Welt schafft, das sind die charak¬
teristischen Vertreter moderner Bildung. Wie der Vaeealcmreus im zweiten
Teil des Faust, warten sie nur darauf, daß wir andern sie ersuchen, uns
freundlichst totzuschlagen, auf daß nicht länger zu verziehen brauche das
tausendjährige Reich der Auserwählten, die statt eines begehrlichen Menschen¬
herzens den'kategorischen Imperativ des seligen Immanuel Kant in der Brust
tragen. Das heißt, unter uns gesagt, ich glaube, die Herren thun uur so;
denn Znkunftsstaaten lassen sich nirgends bequemer ausklügeln, als im warmen
Nest eiues nach anßen wohlversicherten Staatswesens. Auf schwankem Grund
ein starkes Reich zu errichten, dazu gehört eine Herrenfaust, wie sie der Mann
in Friedrichsruh besaß.
Hübsch klar und übersichtlich wie die Parteiverhältnisse ist auch unsre
politische Presse. Es wird Ihnen nie schwer fallen, aus einer größern Anzahl
das Blatt herauszufinden, das nichts sagt, was sie nicht gerne hören. An
der Spitze des Blattes finden Sie den Leitartikel, von dein Sie nichts weiter
zu lesen brauchen als die Überschrift; denn kennen Sie den Gegenstand, so
wissen Sie in der Regel auch, welche Stellung Ihr Blatt dazu nimmt. Darin
sind wir sogar den Franzosen weit voraus, die sich aus Parteipolitik doch
auch versteh». Denn lesen Sie etwa den Pariser Figaro, so müssen Sie ge¬
wärtig sein, an der Spitze des Blattes auch einmal die Bemerkung zu treffen:
Morgen erscheint das und das Buch des berühmten Monsieur it^l «ze, tot;
wir sind dnrch die Güte der Verlagsbuchhandlung schon heute in der Lage,
unsern Lesern die Vorrede mitzuteilen. Natürlich würden Sie sich verleiten
lassen, diese Vorrede zu lesen. Oder Sie stieben gleich hinter dein Leitartikel
auf die witzige Parodie eines Ministerrates. Natürlich würden Sie auch die
lesen. Wollte aber eine unsrer deutschen Weberinnen am Webstuhl der Zeit
die Dürre des politischen Teils durch eine noch so witzige Parodie beleben,
die Abonnenten liefen ihr zu Dutzenden davon. Will der deutsche Leser
Witz, so hat er dafür eben sein besondres Witzblatt, und zwar für Witz ohne
Politik die „Fliegenden" mit ihren stehenden Figurein Leutnant, Korpsstudent,
Backfisch und Münchner Bierphilister; Witz, mit mehr oder weniger Politik
gewürzt — oder umgekehrt, — ist im Kladderadatsch vertreten, freisinnigen
Witz liefert der Ulk, und für sozialdemokratischen Witz sorgt der Wahre Jakob,
dessen Titel allein schon beinahe witzig ist. Noch bewundrungswürdiger übrigens
als die reinliche Ordnung in unsrer deutschen Presse ist die schnelle Bericht¬
erstattung. Was an einem oder zwei Tagen auf dieser schönen Erde an Selbst¬
mord, Mord, Raub, Brandstiftung oder Ehebruch geleistet wird, das findet
man fein säuberlich znsammentelegraphirt aus dem halben Dutzend Seiten, das
unsre deutschen Weltblätter täglich tiefer». So wendet die Presse auch den
Ansgestvßnen der Gesellschaft ihre liebende Sorgfalt zu, damit es auch ihnen
an gefälliger Anregung für ihren Beruf nicht fehle.
Ordentlich, wie in der Presse, sieht es anch in der übrigen Litteratur
aus. Geistaufregende Überraschungen kommen nicht mehr vor, jeder hat seinen
bestimmten Stoff, den er verarbeitet, und seinen bestimmten Ton, in dem er
singt. Dahn schlachtet germanische Urgeschichte ein, Ebers stellt ägyptische
Mumien ans, Wildenbruch hat ein Patent auf Hoheuzollernheldenthaten,
Silbermann zeigt uns, wie man das Problem des wahren Ehrbegriffs nicht
löst — den» die Heimat könnte so gut die Ehre heißen, wie die Ehre
die Heimat —, und die Jüngsten mühen sich mit rührenocm Fleiß, zu des
deutschen Volkes Erbauung die nllergemeinste Erbärmlichkeit zu photographiren,
deren ein in Berlin angenehm verbummeltes Gemüt sähig ist. Verläßt einer
das Gebiet, auf das er durch Gewohnheit ein Anrecht hat, so erlebt er einen
„Achtungserfolg," was noch schlimmer ist als früher ein Durchfall mit Über¬
fracht. Das Publikum unsrer Litteratur hat sich gegen früher etwas ver¬
schoben. Lessing richtete seine Litteraturbriefe an die erdichtete Adresse eines
prenszischen Leutnants. Das wäre heute nicht mehr zeitgemäß; schon Rudolf
von Gottschall schrieb sie an eine Dame. Wer aber ganz modern sein wollte,
müßte seine litterarischen Episteln einer Schenkjungfer oder der ausübenden
Muse eines O-rio vtmritiiuk unsrer ruhmvollen Hauptstadt Berlin widmen.
Übrigens trifft mau bei diesen Halb- und Viertelsgöttinnen mitunter ein ge¬
sunderes Gefühl für wirklich gute Dichterwerke, als bei den Vildnngsfrüchten,
die in den Treibhäusern unsrer „Pensionate für höhere Töchter" gezogen
werden. ,
Ordnung, die segensreiche Himmelstochter, herrscht auch in der bildenden
Kunst. Da malt der eine sein Leben lang schwarzhaarige Dalmatinerinnen,
der andre rotnasige Mönche, ein dritter malt Wasser und ein werter den
Wüstensand, ein fünfter portrütirt berühmte Leute, ein sechster arme Leute,
mit Vorliebe solche, die sich so lauge nicht gewaschen haben, daß sie vor
Schmutz schillern. Und die Künstler Habens gut, denn läßt ein böser Mann
ein Wort fallen von Armut der Phantasie oder dergleichen, so springen für
jeden Künstler gleich ein Dutzend Kritiker auf, die haarscharf beweisen, da sei
>voici Technik zu bewundern, daß der Stoff sehr nebensächlich sei. Und das
Publikum kauft die Bilder, von denen es nichts versteht, und dankt dem
Himmel, daß kein Künstler mehr so rücksichtslos ist, ihm eine Welt in Bildern
vorzumalen, vom stillen Mutterglück der heiligen Familie durch Bibel, Mytho¬
logie und Geschichte bis zur Kvnstantinsschlacht, oder gar so anspruchsvoll,
seine Bewundrung in Plastik, Architektur und Malerei zugleich herauszufordern,
und womöglich noch in der Dichtkunst. Teilung der Arbeit heißt das Zauber¬
wort, durch das wir die Altvordern überflügelt haben.
Teilung und, je nachdem, Zentralisation, diese vornehmlich im Vertrieb.
Da sitzt in der großen Zentralheizanstalt zu Berlin Oskar Blumenthal mit
den übrigen Weisen aus dem Morgenland und destillirt das lauwarme Waffer,
das durch die Kanäle der Prvvinzialbnhnen in alle Gaue fließt, um das
künstlerische Bedürfnis der lieben Deutschen zu nähren. Ja, wir sind be¬
scheiden geworden, und der Mann, der einmal thörichte Gedanken von einer
„moralischen Anstalt" niederschrieb, er würde staunen, mit wie wenig Kunst
die Gebildeten des Volkes der Dichter und Denker hente zufrieden sind.
Manchmal genügt es schon, daß sie nur von jenseits des Rheines stamme,
denn
Ein echter deutscher Man arg keinen Franzen leiden,
Doch ihre Spiele schaut er gern.
Im ganzen freilich kümmern wir uns nicht viel um die Kunst, uns
interessiren weit mehr die Künstler. Wie diese -ita und jener -ini geträllert
hat, das wollen wir wissen, das Stück gefällt uns schon, Wenns nur den
geistreichen Berlinern gefallen hat. Und wir lassen sie anch nicht mehr schnöde
verhungern, die Künstler, wir zahlen einem Heldentenor allein soviel, daß man
davon ein ganzes Provinztheater unterhalte» könnte. Und dafür verlangen
wir nicht einmal viel. Mit einem halben Dutzend Rollen kommt eine bekannte
Sängerin, ein großer Mime durchs ganze Land, und wenn er das Geschäft
versteht, auch uoch durch Rußland und Amerika. Genug. Sie sehen, daß in
der Kunst der Trieb zur Einseitigkeit in zwei Formen auftritt: entweder der
einzelne erhält einen kleinen Teil des ganzen Gebietes zu lebenslänglicher
Bearbeitung, oder das ganze Gebiet wird von einigen wenigen bearbeitet, bis
sie Geld und Ruhm genug zusammengescharrt haben.
0n ost I» kenne? Ja, Sie haben Recht, es ist hohe Zeit, daß wir
uns nach der gebildeten Fran umsehn. Denn wenn wir auch nicht das ganze
Gebiet moderner Bildung durchstreifen können, diesen Teil, dürfen wir doch
nicht übergehen. Da müssen wir uns zunächst mit dem Äußern unsrer ge¬
bildeten Fromm beschäftigen, nicht nur, weil die ungebildeten sie darin nach¬
äffen, sondern weil anf der äußern Erscheinung der Frau ein nicht geringer
Teil ihres Einflußes beruht. Hätte Aspasia nicht viel Zeit darauf verwandt,
das Gewand in geschmackvollen Falten um die schönen Glieder zu legen,
schwerlich hätte der größte Heitere lange zu ihren Füßen gesessen. Hätte
Kleopatra nicht viel darüber gesonnen, ihre Reize stets in neuer Form er¬
scheinen zu lassen, so hätte der große Römer Mare Anton kaum ihr zuliebe
Feldherrnruhm und Verstand verloren. Und hätten außer den Musen nicht
auch die Grazien die Stirn jener Iphigenie Charlotte von Stein umspielt,
sicherlich wäre der größte deutsche Dichter nicht zehn Jahre lang ihr getreuer
Kavalier gewesen; von dem Einflüsse des Fräuleins vou Klettcnberg wenigstens
machte er sich schneller frei. Die äußere Erscheinung unsrer Frauen nun wird
durch die Mode bestimmt. In ihr ist, ausgeprägter als in andern Früchten
der Bildung, der radikale Trieb nach Einseitigkeit wirksam. Welcher Schneider
auch immer ein Kleidungsstück fertigt, ob es für eine schlanke oder eine volle
Gestalt, für eine Blonde oder eine Braune bestimmt ist, die Mode bestimmt
Form und Farbe. Nun werden Sie mir nicht zumuten, daß ich die tiefen
Gesetze ergründe, nach denen diese gewaltigste aller Kulturmächte ihre Herr¬
schaft übt; das vermag nur ein weiblicher Kopf. Aber ich werde mich be¬
mühen, Ihnen durch Vergleichung klar zu machen, wie unendlich hoch die
Mode unsre gebildeten Frauen über das weibliche Geschlecht ungebildeter Völker
erhebt. Sehn Sie, da haben die Frauen der Chinesen die häßliche Gewohn¬
heit, ihre Zehen unter die Fußsohle zu klappen und da so lauge festzubinden,
bis sie nicht mehr imstande sind, aufrecht zu gehen. Wie nun, wenn unsre
Frauen diese Sitte anch angenommen hatten, wozu wir ihnen das Recht doch
eben so wenig nehmen könnten als den Chinesinnen, wie wenn wir unsre Frauen
nicht mehr nur bildlich, sondern in Wirklichkeit auf den Händen tragen müßten!
Da verdient es doch alle Anerkennung, daß sich unsre Frauen damit begnügen,
ihre Füße in zu enge Stiefel zu pressen, deren Absatz uuter der Sohle steht
statt unter der Ferse. Freilich berauben sie sich dadurch der Möglichkeit,
frank und frei auszuschreiten, sodaß sie eine ziemlich klägliche Figur machen
neben der kräftigen Bauerndirne, die frühmorgens die Milch in die Stadt
bringt; aber in den meisten Fällen können sie sich doch ohne fremde Hilfe
fortbewegen. Also seien wir gerecht. Dann lebt da irgendwo ans einer Insel
in der Südsee ein Völkerstamm, dessen Frauen ein Vergnügen darin finden,
die Unterlippe dnrch darunter befestigte Holzstücke nach und nach so lange zu
vergrößern, bis sie einem Entenschnabel gleicht. Keine Möglichkeit für den
armen Südseeinsulaner, sein ihm ehelich verbundnes Gemahl zu küssen! Und
doch muß es ein in der weiblichen Natur tief begründeter Hang sein, einzelne
Glieder über das natürliche Maß zu vergrößern. Und wieder erkennen wir
die segensreiche Wirkung moderner Bildung darin, daß unsre Frauen ihre
Natur soweit überwinden, diesem Hang nur in der Form ihres Gewandes
nachzugeben. Sie werden sich erinnern, daß man die Vergrößerung vor
einigen Jahren auf der Rückseite anzubringen pflegte. Jetzt ist man dazu
übergegangen, die Ärmel nach oben aufzubauscheu, als säße auf beiden Schultern
ein mächtiger Hocker. Infolge dieser Verbesserung der Werke unsers Herr¬
gotts sieht es ans, als habe der Frauenarm „ die Form eines westfälischen
Schinkens, was für unsre Dichter, die einer Ästhetik auf realer Grundlage
huldigen, gewiß recht erfreulich ist. Wie ich gelesen habe, fröhnen einige
unsrer Bruderstämme dem Hang nach künstlicher Vergrößerung so weit, daß
sie ihre Weiber zu unförmlichen Fleischklumpen aufmästen, die sich gar nicht
mehr bewegen können. Ja, da ist nichts zu lachen, es könnte bei uns ganz
leicht auch so weit kommen, wären unsre Frauen nicht so fügsame Kinder der
Mode. Sehen Sie sich doch einmal um: wie mancher Herr scheut sich durch¬
aus nicht, seinem Leib eine Ausdehnung zu geben, daß er die Hände kaum
mehr über dem Magen falten kann. Und was thun unsre Frauen? Diese
bescheidnen Wesen verstehen es, weniger Raum einzunehmen, als ihnen von
Rechts und Natur wegen zukommt; sie bringen eine Taille von fünfundfünfzig
bis sechzig Centimetern Umfang in einem Raum uuter, den mau bequem mit
zwei Händen umspannen kaun. Und das thun unsre gebildeten Frauen nicht
allein auf Kosten ihrer Gesundheit und der ihrer Kinder und solcher, die es
werden wollen, das will nicht viel heißen, nein, sie thun es auf Kosten ihrer
Schönheit; denn sieht nicht eine Frau in ihrem raumersparenden Panzer steif
und unbeholfen aus wie ein ans Holz geschnitztes Marienbild? Also ich sage
nochmals, seien wir gerecht; dies alles ist bisher noch nicht genug gewürdigt
worden.
Bescheiden wie unsre Frauen in ihren Nanmansprüchen sind, sind sie
anch in ihren geistigen Bedürfnissen. Ein wenig Klatsch, ein wenig Zeitungs¬
roman und der neuste Band von Engelhorns Romanbibliothek, mehr ver¬
langen sie nicht. Im übrigen dreht sich ihr Seelenleben um den einzigen
Gedanken: werde ich einen Mann bekommen? Wird einem jungen Mädchen
in Gesellschaft ein junger Mann vorgestellt, so betrachtet es ihn daraufhin,
ob er geheiratet werden kann, das heißt, ob er einen zweifarbigen Rock trägt
oder einen Titel hat. Und der junge Mann seinerseits betrachtet das Mädchen
daraufhin, ob — aber bitte, wenn sie das wissen wollen, so hören Sie ein¬
mal den Gesprächen der jungen Herren zu, wenn sie nach einer Abendgesell¬
schaft noch ihren Schoppen trinken. Aufschreiben darf man das nicht, die
jungen Mädchen würden sonst zu eitel ob dem unbegrenzten Maß von Hoch¬
achtung, das unsre jungen Herren dem Geschlecht entgegenbringen, dein ihre
Mütter und Schwestern angehören. Die Damen vergelten übrigens diese
Hochachtung durch eine Ehrlichkeit, die sie wiederum hoch über die Frauen
ungebildeter Völker stellt. Da besteht im Orient die abscheuliche Sitte, dem
Bräutigam die Braut verschleiert zuzuführen. Was muß das für ein nichts¬
würdiges Gefühl sein, wenn man zu Hause seine Schleier auspackt und findet
statt der hübschen Nadel die häßliche Lea drin! Da sind unsre Frauen doch
aufrichtiger. Wahrend sie sür gewöhnlich allerdings verschlossen gehn wie
eine Madonna von Overbeck, mit hohem Militärkragen und engen Ärmeln bis
ans .Handgelenk, überwinden sie ihre sittliche Scheu, wenn sie die großen
Heiratsmarkte besuchen, mit rühmlicher Kürze Bälle genannt; da zeigen sie
nicht nur das Gesicht unbedeckt, sondern noch beträchtlich mehr, sodaß sich eine
nicht gar zu träge Phantasie das übrige mit Leichtigkeit ergänzen kann. Damit
niemand in der beschaulichen Betrachtung der ausgestellten Reize gestört werde,
ist es üblich, dabei so wenig wie möglich zu reden. Und darin sind wir der
Bildung vergangner Tage wieder um ein gutes Stück voraus. Was muß
das für eine schwerfällige Geselligkeit gewesen sein, wo ein kleines Rokoko-
früulein einem jungen Uootm' juris ein paar schnippische Bemerkungen hin¬
wirft, und der junge Mann setzt sich hin und schreibt ein Trauerspiel wie den
Clavigo! Da haben wirs doch besser, wir sagen gar nichts in Gesellschaft,
denn wir haben uns nichts zu sagen, und — tanzen. Und wie tanzen wir!
Ich sage Ihnen, hätte die Tochter der Herodias vor ihrem. Stiefpapa einen
Walzer getanzt, Musik von Johann Strauß, der arme Täufer hätte niemals
ihr zum Lohne sein Haupt lassen müssen.
Neuerdings scheint in unsrer hochentwickelten Sittlichkeit ein Rückschritt
eingetreten zu sein. Bei Gelegenheit einiger Berliner Prozesse stellte sich
nämlich die überraschende Thatsache heraus, daß Zuhälter und Dirnen doch
noch auf einer recht tiefen Stufe sittlicher Bildung stehen. Mit Recht schloß
die Negierung von dieser maßgebenden Klasse auf das ganze Volk, und da sie
gerade Zeit hatte, machte sie ein Gesetz, das unsrer wackligen Moral eine
vortreffliche Stütze sein wird. Schade nur, daß dieses Gesetz, wie so manches
andre, zu Anfang auch unschuldige Opfer fordern wird. Da schwebt mir
immer schon der tragische Fall des Grafen Hochberg vor. — Des Grafen
Hochberg? — Ja, Sie wissen doch, daß es die erste Amtshandlung des Ge-
neralkommnndanten der königlichen Schauspiele zu Berlin war, einen Korps-
befehl zu erlassen, demzufolge die Besucher von Parquet und erstem Rang
Montags in großer Gesellschaftstoilette zu erscheinen haben. Sie wissen ferner,
daß die geplante Isx Heinze nicht nur die Ausstellung unsittlicher Gegenstände
verbietet, sondern auch die Ausstellung an sich nicht uusittlicher Gegenstände,
die jedoch in ihrer Gesamtheit geeignet sind, dem sittlichen Gefühl Anlaß zum
Ärgernis zu geben. So ungefähr leintet Wohl die Stelle. Wie nun, wenn
ein biedrer Berliner Schutzmann in seinem sittlichen Gefühl Ärgernis nimmt
an den vielen bloßen Busen und Armen, und den Grafen Hochberg anzeigt
wegen Ausstellung an sich nicht unsittlicher Gegenstände, die jedoch in ihrer
Gesamtheit geeignet sind, u. s. w.? Doch ich „vertraue," daß unsre talent¬
vollen Gesctzesfabrikanten einen Ausweg finden werden, denn es sollte mir
wirklich leid thun, wenn die lex Heinze, diese höchste Blüte unsrer sittlichen
Bildung, in irgend einem Aktenschrank vertrocknete.
Wie gefällt Ihnen eigentlich unsre Bildung in dieser Beleuchtung, lieber
Leser? Ein bischen einseitig, ein bischen oberflächlich, ein bischen zerfahren,
nicht wahr? Ja, aber dafür doch auch recht übersichtlich, recht klar geordnet,
so recht härtlich zum praktischen Gebrauch. Und damit Sie den hohen Wert
dieser staatlich geschützten Einrichtung ganz würdigen lernen, müssen wir zum
Schluß noch einen Blick werfen auf die Werkstätten, in denen der größte
Teil unsrer Bildung fabrizirt wird, und zwar ebenfalls nnter staatlichem
Schutz und nach staatlicher Anleitung. Diese Anleitung faud der Staat, in¬
dem er es machte wie wir, Sie und ich; nämlich er beobachtete empirisch den
^auf der Dinge. Dn sah er denn, daß sich neben dem. alten Gegensatz adlich
und bürgerlich allmählich ein andrer zur Herrschaft emporarbeitete: gebildet
und ungebildet. Damit sich dieser Gegensatz ungestört weiter vertiefen konnte,
um womöglich zu einem Kampf um die Herrschaft zu führen, mußte verhindert
werden, daß der Unterschied zwischen Volksschule und Gelehrtenschule schwinde.
Die natürliche Entwicklung wäre nämlich die gewesen, daß sich die Volksschule
allmählich zu einer Bildungsstätte für das ganze Volk ausgewachsen und eine
besondre Gelehrtenschule neben der Hochschule überflüssig gemacht hätte. Statt
dessen erweiterte man die alte Gelehrtenschule zur eigentlichen Bildungsschule
und drückte die Volksschule so lauge, bis sie zu einer notdürftigen Bildungsstätte
für die Ungebildeten, die Handarbeiter, geworden war. Nachdem man so alles
beseitigt hatte, was den schneidenden Gegensatz zwischen Kopfarbeit und Hand¬
arbeit Hütte mildern können, konnte man seine weitere Entwicklung andern
Mächten überlassen. Die Entfremdung der beiden Teile unsers Volks wurde
denn auch glücklich so groß, daß sich der eine Teil, die Handarbeiter, zu einer
politischen Partei zusammenschloß, die anfangs die Anhänglichkeit an eine Hei¬
mat für Unsinn erklärte und für internationale Völkerverbrüderung schwärmte,
zur Zeit aber spärlicher Luftschlösser baut und sich vielleicht auch noch einmal
mit einem nationalen deutschen Reich einverstanden erklärt, „wenn und wofern
ihr ihre fernerweite gute Verköstigung zugesagt wird." Der Staat begnügte
sich aber in seiner zärtlichen Sorgfalt für das geistige Wohl des Volkes nicht
mit der Förderung dieses einen Gegensatzes. Er hatte weiter bemerkt, daß
zwischen den Geschlechtern heutzutage kein unbefangner Verkehr mehr waltet,
und auch dein trug er uach Möglichkeit Rechnung; er ließ Knaben und
Mädchen gesondert erziehen, um so zu verhüten, daß vou der harmlosen
Geselligkeit der Kinderjahre etwas in die Jahre der Entwicklung und der
Reife mit hinübergenommen werde. Aber der Staat setzte seine scharfen
Beobachtungen noch weiter fort. Es entging ihm nicht, daß sich jeder Er¬
wachsene so rasch als möglich in seine Berufsinteressen einspinnt, wie der
Seidenwurm in seinen Kokon. Dieser Neigung gründlich vorzuarbeiten, zerlegte
der menschenfreundliche Staat auch die höhere Schule nochmals in mehrere
Zweige, sodaß der junge Mann schon auf der Schule seine ganz besondre, für
einen bestimmten Beruf berechnete, im übrigen natürlich völlig „harmonische"
Bildung erhält. Aber der Staat ist nicht mir menschenfreundlich, er ist auch
in hohem Grade ordnungsliebend. Johannes Schulze, glaube ich, hieß der
erleuchtete Kopf, der zuerst die harmonische Ausbildung aller Verstandeskräfte
in ein System brachte, und daß er preußischer Geheimrat war, werden Sie
keinen Augenblick bezweifeln. Und das muß der Neid unsern Schulverwal-
tungen lassen: ordentlich sieht es aus im Kopf eines harmonisch gebildeten
jungen Mannes von heute, ordentlich wie in einer Apotheke. Auf gleich¬
mäßigen Repositorien stehen die Kenntnisse dn in schnurgeraden Reihe», in
Weißen Büchsen mit schwarzer Aufschrift: Religion, Deutsch, Latein, Griechisch,
Geschichte u. s. w. Verlangen Sie eine Auskunft von dem harmonisch ge¬
bildeten jungen Manne, so läuft er eilfertig zu seinen Büchsen, »ud findet
er eine mit der richtigen Aufschrift, so sieht er nach, ob noch etwas drin ist,
und ist noch etwas drin, verlassen Sie sich darauf, er wird Sie ehrlich be¬
dienen. Aber nicht immer ist etwas drin, und das wird mitunter verhängnis¬
voll für den harmonisch gebildeten. Da ereignet sich daun nicht selten fol¬
gender Fall. Der junge Manu verliebt sich in ein noch jüngeres Mädchen,
und die beiden richten sich um ein eigenartiges Heimwesen zwischen Sünden¬
schlamm und Sternenschimmer ein, in dem schwärmerische Romantik und
chnischer Realismus i>. lit ^.ollAcm-Navcirmrt in wunderlicher Eintracht neben
einander Hausen. Da stört „der betreffende Vater," wie Wilhelm Busch
sagen würde, das hyperphysische Idyll durch einen derb sinnlichen Ein¬
griff in die niedere Gefühlswelt des jungen Mannes. Dieser eilt an sein
Repositorium und irrt ängstlich die Reihen der Büchsen auf und ab. Da:
eine mit der Aufschrift Religion! Er erinnert sich, aus ihr früher die Mittel
gegen moralische Bedrängnisse genommen zu haben. Aber, o weh! Beim
letztenmal hat er den Deckel offen gelassen, und das Mittel war leider sehr
flüchtiger Natur, Bibelsprüche, Gesangbuchverse, lauter Worte, und nun ist
nichts mehr drin! Da heißt es, sich selbst helfen, und recht beliebt ist bei
unsrer Jugend neuerdings folgender Weg. Mau kauft sich einem Revolver,
schießt dem geliebten Mädchen einige Löcher in den Kopf und, wenn man
durch das Mitleid mit dem arme» Wesen nicht zum Handeln unfähig gemacht
wird, sich auch. Kürzlich wurde mir das Testament eines solchen Romeo
mitgeteilt, der sich und seine Julia mit Chaukali in ein besseres Jenseis be¬
fördert hatte. Er vermachte darin sein Barvermögen von zehn Mark feinen
beiden besten Freunden mit der liebenswürdigen Bestimmung, sie sollten sich
dafür regelrecht beliieipen. Diese Pflanze war auch auf staatlichem Mistbeet
gewachsen, und ist sie auch selten, so ist die Sitte des Tvtschießeus und Ver-
gifteus unter der Schuljugend doch nachgerade eine .Krankheit geworden, die
Beachtung verdient. Freilich, es wird nicht leicht sein, sie und die andern
Übel unsers Schulwesens auszurotten, das sehen Sie schon aus der großen
Zahl von Mitteln, die man dagegen vorgeschlagen hat, teils Spezial-, teils
Universalmittel, mit denen die kranke Zeit überhaupt geheilt werden soll.
Da hatte der verflossene preußische Kultusminister die konfessionelle Volks¬
schule, der praktische Reichskanzler empfiehlt den preußischen Unteroffizier,
Herr Stöcker das positive Christentum, Herr von Egidy das einige Christen¬
tum, Herr Bebel den sozialen Zukunftsstaat ohne Klassenhaß und Rassenhaß,
und Herr vou Kardorff wie immer die Doppelwährung. Wie, mein Lieber?
Sie haben auch einen Vorschlag? Nun, da bin ich begierig. Er sei sehr
einfach, sagen Sie? Ah, gewiß, das ist immer sehr einfach. Aber bitte,
lassen Sie hören. — „Was vom Übel ist, das sind die vielen deutscheu
Schulen; was uus not thut, ist die deutsche Schule. Führt das moderne
Leben die einzelnen Berufsklassen aus einander, so ist daran nichts zu ändern;
widersinnig ist es nur, daß sich die staatliche Erziehung die Aufgabe stellt,
den Zerfall des deutschen Volks in schroff getrennte Interessenkreise zu fördern,
während doch gerade die gemeinsame Erziehung in der deutschen Schule das
Band bilden sollte, das diese widerstreitenden Interessen auf dasselbe Ziel
vereinigt hält: die Macht und Größe des Vaterlandes. Unsre Erziehung
muß daher umkehren. Die höhern Schulen müssen den Plunder abstreifen,
der ihnen von der alten Gelehrtenschule noch anhaftet, und sie müssen sich
zusammenschließen zu einer Bildungsstätte, in der unsre Jugend (Knaben und
Mädchen, solange es geht, gemeinsam) erzogen wird zu tüchtigen, an Leib und
Seele gesunden Bürgern. Und die Volksschulen müssen nach und nach ge¬
hoben werden, bis sie in dieser Bildungsstätte aufgehen können." — Recht
schön, aber wer soll denn die Reparaturkosten für unser verpfuschtes Schul¬
wesen bezahlen? — „Bezahlen? Es ist wahr, es fehlt wohl das Geld, um
diese Umwandlung von heute auf morgen durchzuführen, und das ist ganz gut,
denn sie wird dann nicht überstürzt. Aber sollte uns das Geld ans die Dauer
fehlen, dann haben die Recht, die behaupten, unser Staat treibe dem Ban¬
kerott zu, nicht dem finanziellen, sondern dem zehnmal schlimmern Gcistes-
bankerott." - Sie erlauben, mein Lieber, Ihnen ist da eben etwas mensch¬
liches begegnet, Sie haben sich in den Eifer geredet. Aber Scherz beiseite,
Geld ist doch noch lange nicht das schlimmste, was uns fehlt. Uns fehlt der
gute Wille und die bessere Einsicht. Wo sollte unsern Anwärtern auf den roten
Adlerorden vierter Klasse auch die Einsicht herkommen, daß sie nicht in dem
besteingerichteten aller Staaten leben? Solange wir uns der Einsicht hart¬
näckig verschließen, ein moderner Staat müsse notwendig einen ansehnlichen
Teil seines Besitzes in geistigem Kapital anlegen, so lange brauchen wir uns
auch noch nicht den Kopf darüber zu zerbrechen, wo wir diesen Teil her¬
nehmen sollen. Also den stolzen Bau der deutschen Schule, deu schlagen Sie
sich nur aus dem Sinn; den erleben Sie nicht, und den erlebe ich nicht. —
„Nun, können wir auch nicht gleich mit dem Bau beginnen, so können wir
ihm doch Raum schaffen, indem wir die Trümmer alter Vorurteile uach
und nach niederlegen. Und wir können sogar schon Steine und Holz zusammen¬
tragen, damit der Bau unverzüglich begonnen werden kann, wenn die Zeit
reif ist." — Da haben Sie Recht, das können Nur thun und das wollen wir
denn auch nach Kräften thun.
Ans dem Bibliographischen Institut in Leipzig ist uns eine Reihe von
neuen Auflagen zugegangen, die sämtlich ehrenvolle Zeugnisse für die unermüdliche,
immer bessernde Thätigkeit dieses Verlagshauses sind. Wir nennen zunächst für
die unter unsern Lesern, die etwa ihre Ferienreise noch vor sich haben, die neuen
Ausgaben der sehr handlichen, übersichtlich und zweckmäßig eingerichteten Reise¬
bücher für die drei nordischen Reiche Norwegen, Schweden und Dänemark
(sechste Auflage; dazu sind anch ein schwedischer und ein dänisch-norwegischer Taschen¬
sprachführer erschienen), für die Rheinlande (siebente Auflage) und für die
deutschen Alpen (Erster Teil, enthaltend das westliche Drittel der Ostalpen, vom
Bodensee bis zum Brenner, vierte Auflage). Die wiederholte» Auflagen sind eine Ge¬
währ für die Brauchbarkeit und Zuverlässigkeit der Handbücher. Die Karteubeigaben
sind klar und deutlich, besonders hübsch die Höhenschichtenkarten der deutschen Alpen,
nur die Übersichtskarte für diese konnte vielleicht einmal durch eine klarere ersetzt
werden. Der den Bünden angehängte wunderliche „Anzeiger," der dem Prinzip
„Leicht Gepäck" etwas widerspricht, dürfte wohl fremder Redaktion entstammen,
much der grammatischen Fassung des Titels: „Anzeiger zu Meyers Reisebücher."
Sodann siud zu nennen die fertig vorliegende fünfte Anfluge von Meyers
kleinem Konversationslexikon und der erste Band der fünften Auflage des
großen Konversationslexikons. Es giebt noch Leute, die mit einer gewissen
Verachtung ans Konversationslexika herabblicken zu dürfen glauben, weil sie nur
Eselsbrücken für die Oberflächlichkeit darin sehen. Nun kann ein solches Lexikon
freilich nicht eine Bibliothek von Fachschriften aller Wissenschaften ersetzen, aber der
moderne Mensch wäre doch übel dran, wenn er entweder den Inhalt aller dieser
Fachschriften in seinem Gehirn aufspeichern oder ans die großen öffentlichen Biblio¬
theken angewiesen sein sollte, wenn er sich rasch über einen ihm fernliegenden oder
fremden Stoff unterrichten will, denn selbst kann sich der einzelne doch keine solche
Bibliothek halte«. Bei den unzähligen Dingen, mit denen uns unser Leben in
Berührung bringt, deren genaue Kenntnis der einzelne sich unmöglich verschaffen
kann, über die er sich aber doch gelegentlich gern unterrichten möchte oder unter-
richten muß — der gelehrte Professor der Theologie oder Jurisprudenz oder Liede-
ratur zum Beispiel wird taufenden von technischen Dingen hilflos wie ein Kind
gegenüberstehen —, ist ein solches Hilfsmittel unentbehrlich, und wie sehr es in
der That einem Bedürfnis entspricht, das zeigt der ungeheure Absatz dieser Bücher
und insbesondre der Meyerschen, die Auslagehöhen erreichen wie kein andres
ähnliches Werk und wie wenig Bücher in Deutschland überhaupt. Dieser Erfolg
spornt nun aber die Verlagshandlung auch an, die Werke bei jeder neuen Auflage
ans eine höhere Stufe zu heben, Unvollkommensten und Schwächen zu beseitigen
und den neuen Erscheinungen, Funden und Erfahrungen ans allen Gebieten gerecht
zu werden. Das große Lexikon ist nach dem Prospekt für diese Auflage von Grund
aus neu bearbeitet wordeu, auch im Äußern durch größern Druck (die Kolumne
ist breiter und länger geworden und hat doch zwei Zeilen weniger als die vierte
Auflage) und weißeres Papier vorteilhaft verändert.
Während auf dies große Werk der übliche Spruch wirklich paßt, daß es „in
keinem deutschen Hause fehlen dürfe," wenigstens in keinem, wo Interesse für Geist
und Welt herrscht, kann man von dem dreibändigen kleinen Lexikon sagen, daß es
auf jeden Schreibtisch gehöre, als ein bequemes Nachschlagcbuch für alles mögliche
und tausenderlei andres mehr, worüber es in kurzen und knappen Notizen Aus¬
kunft erteilt. '
Schließlich erwähnen wir noch die vierte, umgearbeitete und vermehrte neue
Auflage von Dudens orthographischen Wörterbuch der deutschen Sprache,
das alle ähnlichen Bücher ans dem Felde geschlagen hat. Wir machen übrigens
bei dieser Gelegenheit das Bibliographische Institut und andre Verleger, die dies
etwa lesen werden, darauf aufmerksam, daß die Formel „Alle Rechte vorbehalten"
nicht schützt. Das Recht muß genannt werden, das vorbehalten werden soll, und
dies kann allein das Übersetzungsrecht sein, da für alles andre das Urheber¬
recht sorgt.
Es ist uoch uicht gar so lange her, daß die
Grenzboten eine Übersicht neuer Novellen gegeben haben, und schon hat sich ans
unserm Büchertisch wieder eine Nachlese gesammelt. Natürlich kann nur von Er¬
zählern und Erzählungen die Rede sein, die wenigstens in etwas befriedigen und
dem ernsten Leser für die Teilnahme, die er ihnen widmet, einen lebendigen Ein¬
druck hinterlassen. Und dn nun die Zeit da ist, wo der deutsche Mann, der in
der Regel schon lange keine Romane oder Novellen mehr liest, in der Sommer¬
frische oder im Bade eine Ausnahme macht und sich neben der „ernsten" Zeitungs-
lektüre ein und das andre leichte, unterhaltende Buch gefallen läßt, so sei auf einige
neue Erscheinungen hingewiesen, die Leser verdienen, wenn sie auch uicht den
Meisterwerken der Litteratur zugezählt werden können. Von Ernst Wiehert liegt
ein Band Neue littauische Geschichten (Leipzig, Carl Reißner) vor, der zwei
Erzähltingen „Nur ein Jude!" und „Das Grundstück" enthält. Schon in frühern
auf preußisch-littauischcm Boden spielenden Geschichten Wicherts überwog das sittcn-
schildcrnde Element gelegentlich das poetische, immer aber waren seine Erfindungen
wohlangclegt und durchgeführt, und die eigentümliche Landschaft, die zum Hinter¬
grunde diente, hob die besondern Gestalten. In den beiden vorliegenden Er¬
zählungen kommt der Schriftsteller dem Gebiete der sogenannten Kriminalgeschichte
bedenklich unde, wenn er auch natürlich mit den Novellisten nichts gemeinsam hat,
die den spannenden Kriminalfall ohne jede seelische Belebung in Szene und Dialog
setzen. Die bedeutendere und fesselndere der beiden Erzählungen „Nur ein Jude!"
führt das Geschick eines kräftigen Manischen Hofbesitzers (Wirtes), Pmvils Lau-
ronat vor, der vom Wilddieb zum Mörder herabgleitet und nachdem er den ihn
bedrängeuden Juden erschossen hat, als Selbstmörder endet. Die Einzelheiten der
Erzählung sind vermutlich durchaus uach der Natur, einen fatal tendenziösen Bei¬
geschmack hat die rosenrote Charakteristik des jüdischen Kaufmanns Nathan Hirsch
in Szibulleu. Ist schon diese Novelle von sehr düsterm Kolorit, so stellt sich die
zweite, „Das Grundstück," vollends als ein Nachtbild aus dem Leben der lit-
tanischen Dorfbewohner dar. Diese Ebene Knrklies, die sich dreimal mit immer
schlechter» Männern verheiratet und den dritten Mann vergiftet, um das Grund-
stück zu behalten, ist von einer trostlosen Wahrheit und wird auch durch die leben¬
dige Schilderung Wicherts nicht tröstlicher. Es sind aber realistische Meisterzüge
in der Erzählung, einer davon ist das gemeinsame Mahl, das die drei Menschen,
die einander so bittres Leid nugethau haben, in der Strauchhütte auf der Heide
halten.
Ein völlig andres Gepräge als die littauischen Geschichten Wicherts tragen
die Miniaturen, fünf Novellen von Wolfgang Kirchbach (Stuttgart, I. G.
Cottasche Buchhandlung). Der Dichter dieser Miniaturen gehört zu den Talenten,
bei denen vorzugsweise die Phantasie und die Lust an einem geistreichen Spiel
entwickelt sind. Wo der Stoff seiner Novellen diesen Eigenschaften so günstig liegt,
wie in den beiden prächtigen Erzählungen „Meißner Porzellan" und „Der Ja¬
paner," von denen namentlich die erstere ein Kabinettstück geheißen zu werden
Verdient, da giebt er nicht bloß Originelles (denn originell sind auch die übrigen
Geschichten), sondern auch poetisch stimmungsvolle und lebendig überzeugende No¬
vellen. Die „Thörichten Jungfrauen" suchen einer sehr häßlichen und widrigen
modernen Unsitte, der Bekanntschaftsvermittlung durch die Zeitung, umsonst eine
poetische und humoristische Seite abzugewinnen.
Nach andrer Richtung hin waltet auch in den Novellen: Das gute Kro¬
kodil und andre Geschichten aus Italien von Ernst von Wolzogen
(Berlin, F. Fontäne und Comp.) ein Phantastisches Element. Geschichten wie „Die
versetzte Heilige," so realistisch und mit gutem Blick für Land und Leute sie im
einzelnen ausgemalt erscheinen, können doch eben nur als humoristische Phantasien
gelten. Sie entschädigen freilich dnrch gute Laune und einen gewissen tollen Über¬
mut für deu Maugel an Wirklichkeit. In der Novelle, die dem Buche den Titel
giebt, „Das gute Krokodil," waltet ein tieferes Gemütsleben, die Charakteristik des
armen kleinen verwaisten Burschen aus Capri, der von dem deutschen Obersten und
seiner Tochter zum erstenmal ein wenig menschliche Liebe und Teilnahme erfährt,
hat etwas rührendes; dem braven Herrn von Stracknitz muß man freilich wünschen,
daß seine sechzehnjährige Tochter nicht öfter Liebesproben wie die mit dem Dottore
Marajuolo anstelle. In Summn: es sind hübsche Einfälle und frische Bilder,
denen wir hier begegnen. Die tragische Schlußerzählung „Hero und Leander,"
eine Geschichte vom Gardasee, will zu dem Grundton, den Wolzogen anschlägt,
nicht recht passen. Lebendig erzählt ist sie wie die andern, aber das traurige Ende
des wackern zu viel geliebten Zugführers Meiuhold, vom ciuuudfllufzigsten öster¬
reichische» Infanterieregiment, will uns keine tragische Teilnahme einflößen. Viel¬
leicht nur, weil die unvermeidliche Jdealheldin unsrer jüugstdeutschen Novellistik,
die Kellnerin, hier wieder einmal eine Hauptrolle spielt. Jedenfalls aber rechnen
wir Ernst von Wolzogen zu den bessern jüngern Erzählern, die uns neuerdings
begegnet siud.
Ein Bändchen Thüringer Dorfgeschichten von Klara Hacker (Leipzig,
Oskar Gottwald) giebt zwei Erzählungen, „Schafheinz" und „Ans Kindern werden
Leute." Sie enthalten gute Beobachtungen namentlich des Kinderlebens in den
Thüringer Dllrfern und einige vortreffliche Einzelzüge, leiden aber in Erfindung
und Vortrag an einer Nüchternheit, die allzuoft in Plattheit umschlägt, um noch
als Verdienst gegenüber der überhitzten und überspannten Modernität geltend ge¬
macht werden zu können. Wer aber gerade in Thüringen Sommerfrische hält,
mag vielleicht an den anmutigern und wärmern Einzelheiten der Thüringer Dorf¬
geschichten Anteil genng nehmen, um sich über die Mängel hinwegzusetzen. An
Otto Ludwigs „Heiterethei" und ihre Meisterschaft darf er sich dabei freilich nicht
erinnern, wenn er in der glücklichen Lage ist, vergleichen zu können. Ist er es
nicht, so wird er gut thun, die „Neuheiten" der Novellistik überhaupt aus sich
beruhen zu lassen und zu einem guten alten Buche zu greifen.
Seit mehreren Jahren empfehlen die Ärzte gegen Heiserkeit u. dergl. häufig Sodener
Pastillen. Die Heilkraft dieses Medikaments scheint jedoch weniger in den Salzen der So-
dener Quellen zu bestehen, als in der Form der Pastillen und in deren Verpackung. Denn
fortwährend kommen neue Sorten aus andern Fabriken und unter der Aufsicht andrer Ärzte,
offenbar auch mit verschiednen Bindemitteln bereitet, in den Handel; aber ihre Gestalt, die
Größe und die äußere und innere Ausstcittuug der Schachteln sind stets genau dieselben wie
bei den ersten. Aber diese haben ja eine eingetragne Schutzmarke, die nicht nachgemacht
werden darf? Allerdings, aber merkwürdigerweise ähneln auch diese einander ganz ausfallend,
man mochte feigen: zum Verwechseln. Die Wirkung beruht also doch wohl darauf, daß der
Leidende glaubt, die ursprünglichen Sodener Pastillen zu nehmen, wenn es auch in Wirk¬
lichkeit ganz andre sind!
An der Stelle, an der sonst Apostatas und später Calibaus scharfgewürzte Leitartikel
standen, brachte die „Gegenwart" in ihrer neuesten Nummer (vom 29. Juli) einen Beitrag
eines neuen Mitarbeiters. Schade, daß der Herr indeklinabel ist; in der Juhaltsnugabe an
der Spitze der Nummer heißt es nämlich: Die Annexion Siams von Timon der Jüngere.
Die französische Fragckonstruktion hat schon manchem mittelmäßigen Quartaner Kopf¬
zerbrechen gemacht. Auch für Universitätsprofessoren und Schnliuspektoren kaun es nur
nützlich sein, wenn sie diese Konstruktion recht häufig üben. Nur sollten sie ihre Beispiel¬
sätze dann nicht gerade, als Büchertitel verwenden, wie es Professor Strack in Berlin bei
seinem Schriftchen „Die Jude», dürfen sie »Verbrecher von Religionswegen« genannt werden?"
und Herr Schulinspektor Scherer bei seiner Broschüre „Die Simultauschulc, warum muß sie
die Schule der Zukunft sein?" gethan haben.
le Militärvvrlage ist bewilligt. Die ernste Gefahr, die aus ihrer
Verwerfung drohte, ist für den Augenblick vorübergegangen. Aber
welche Lehren hat uns der ganze Verlauf dieser Angelegenheit
zurückgelassen! Eine Maßregel, bei der die Existenz unsers Vater¬
landes aus dem Spiele steht, über deren Notwendigkeit alle ruhig
denkenden Gebildeten Deutschlands einig sind, wird von dem einen Reichstage
verworfen, und auch von einem zweiten Reichstage ist ihre Annahme nur mit
knapper Not zu erlangen. Nur acht Stimmen brauchten umzuschlagen, und
sie wäre abermals verworfen gewesen! Sie ist nur angenommen worden mit
der Hilfe der polnischen Abgeordneten, die sonst nicht für die Regierung zu
stimmen pflegen, diesmal aber anders stimmten, weil ihnen die Folgen eines
Krieges mit Rußland vor Augen standen.
Die Vorfrage war die: sind wir genügend gerüstet, den uns feindlich
gesinnten Nachbarvölkern in einem Kriege gewachsen zu sein? Denn daß wir
wirtschaftlich zu einer Verstärkung unsers Heeres außer Stande seien, kann
doch kein vernünftiger Mensch glauben. Jene Frage ist offenbar keine poli¬
tische und auch keine Frage des Katholizismus. Man sollte daher denken,
daß auch ein sehr freisinniger und ein sehr katholisch gesinnter Mann jene
Frage ganz unbefangen erwägen und beantworten könnte. Ist es da nicht
schon traurig, zu sehen, daß eine solche Frage im deutscheu Reichstage lediglich
nach Parteigruppen beantwortet wird? Es ist ja möglich, daß es Deutsche
giebt, die wirklich glauben, wir wären, auch wenn wir hunderttausende von
Soldaten weniger hatten, doch den Franzosen überlegen, oder die glauben,
unsre Nachbarvölker seien so friedlich gesinnt, daß wir einen Krieg gar nicht
zu befürchten brauchten. Ist es nun aber denkbar, daß gerade alle Mitglieder
des Zentrums, der Volksparteien und der sozialdemokratischen Partei wirklich
diese Ansichten gehegt haben? Es wäre ein sonderbarer Zufall.
Nun sagt man freilich: die Wahlen haben gezeigt, daß ein sehr großer
Teil des deutschen Volkes die Militärvorlagc nicht will. Es wird sogar
behauptet, daß die bei der Wahl für Gegner der Militärvorlagc abgegebnen
Stimmen die Mehrzahl bildeten. Wer ist denn nun aber das „deutsche Volk,"
das diese Stimmen abgegeben hat? Es sind die bethörten Massen, die, aller
selbständigen politischen Einsicht bar, jedem demagogischen Einflüsse zugänglich
sind. Seit Jahren sind sie bearbeitet von Demagogen, die lediglich ihr Partei¬
interesse vor Augen haben und in dessen Verfolgung selbst die heiligsten In¬
teressen des Vaterlandes aufs Spiel zu setzen bereit sind.
Durch das allgemeine gleiche Stimmrecht sind diese Massen Herren der
Lage geworden. Sie können zwar, so lange noch die Regierungen das Heft
in den Händen haben, noch nicht alles, was sie (oder vielmehr ihre Führer)
wollen, positiv durchsetzen. Aber sie können schon jetzt dadurch, daß sie die
Reichstagswahlen bestimmen, überall hindernd in den Weg treten, selbst bei
Dingen, die für Deutschland so nötig sind, wie das liebe Brot. Die von der
Sozialdemokratie in Aussicht gestellte Diktatur des Proletariats ist also, bis
zu einem gewissen Grade, schon jetzt bei uns ins Leben getreten. Gegen diese
Massenherrschaft kann der gebildete Teil der Nation, der doch wohl auch
einigen Anspruch auf Einfluß in den öffentlichen Dingen hätte, kaum noch
aufkommen.
Nicht von Anfang an hat das allgemeine gleiche Stimmrecht diese Wirkung
gehabt. Man hat erst nach und nach gelernt, was sich damit anfangen läßt.
Vergleichen wir einmal den Reichstag, wie er ursprünglich war, und wie er
im Laufe der Zeit geworden ist. Ohne Zweifel liegt dem auf einzelne Kreise
verteilten Wahlrecht der Gedanke zu Grunde, daß jeder Kreis den besten ihm
bekannten Mann erwählen soll, um bei der Ordnung der öffentlichen Ange¬
legenheiten mitzuwirken. Diesem Ideal entsprach auch, wenigstens annähernd,
der Reichstag in der ersten Zeit seines Bestandes. Es war eine geistig vor¬
nehme Gesellschaft, die sich dort zusammenfand, und die beste» Namen waren
in ihr vertreten. Jeder Wahlkreis hielt es noch für seine Pflicht, eine an¬
ständige Persönlichkeit zu entsenden. Auch eine Wahlagitation im heutigen
Sinne gab es noch nicht. In vielen Wahlkreisen war der einzige aufgestellte
Kandidat gnr nicht bestritten. Aber auch wo ein Wettbewerb vorkam, traten
doch nur wenige Kandidaten auf. Es war noch nicht Mode, daß der Kandidat
im Kreise herumreiste, um sich die Gunst der Wähler zu erbetteln, daß er
alles mögliche versprach, um nur ein paar Stimmen zu fangen. Zu Stich¬
wahlen kam es nur selten.
Wie ist das alles anders geworden! Fast jede im Reichstage vertretne
Partei stellt in jedem Wahlkreis ihre Kandidaten auf. Es gilt gar nicht
mehr als die Aufgabe, einen dem Wahlkreise bekannten würdigen Mann zu
finden. Wildfremde Meuschen, die niemand im Wahlkreise kennt, wagen zu
kandidiren, wenn sie nnr von einer Parteileitung empfohlen sind. Sie reisen
im Kreise umher, pauken ihre Wahlreden herunter und gelten dann als die
Vertrauensmänner des Kreises. Unter Umständen werden die ärgsten Lumpen¬
kerle aufgestellt, deren Verdienst nur darin besteht, daß sie sich zu einer be¬
stimmten Partei bekennen und ein freches Maul haben. Überall aber muß
sich der Kandidat den Wählern empfehlen und vor ihnen seinen Bückling
machen. Das verlangt das souveräne Volk. Einem Manne, der etwas auf
sich hält, wird es dadurch fast unmöglich, überhaupt noch als Bewerber für
den Reichstag aufzutreten.
Aus dem Chaos des Wahlkampfs gehen aber vielfach nur Minderheits¬
wahlen hervor, und dann kommt es zur Stichwahl. Dabei wiederholt sich
das ganze widerwärtige Schauspiel. Es gilt nicht bloß die Stimmen einzelner,
sondern ganzer Parteien zu gewinnen; dabei wird gefeilscht und gemäkelt, ge¬
logen und betrogen. Schließlich geht, wie der Zufall spielt, ein Kandidat
aus der Wahlurne hervor. Schon bei den Mehrheitswahlen werden überall
die Minderheiten tvtgestimmt. Der bei einer Stichwahl gewählte ist aber
in Wahrheit nur der Erwählte einer Minderheit. Die bei der Stichwahl
hinzugetretnen Wühler lassen sich ihn nur als das kleinere Übel gefallen.
So kommt denn nun ein Reichstag zu stände. Es wäre lächerlich,
wollte mau in ihm eine wahre Vertretung Deutschlands seiner geistigen Be¬
deutung nach erkennen. Gerade die bessern Elemente des Volks gehören nur
allzu häufig zu den totgestimmten Minderheiten. In Berlin ist unzweifelhaft
eine große Summe geistiger Intelligenz angesammelt. Und wer sind die Ver¬
treter dieser Stadt? Fünf Sozialdemokratin und ein unbedeutender Fort¬
schrittsmann! In Hamburg hat der reichste und bedeutendste Handelsstand
Deutschlands seinen Sitz. Wen muß er als seine Vertreter gelten lassen?
Drei Sozialdemokraten! Ist das nicht die Knrrikatur einer Vertretung? Und
so ist es sast in allen großen Städten. Nur in geringern Wahlkreisen, die
von dem demagogischen Treiben noch minder dnrchseucht sind, dringt hie und
da ein Stück Intelligenz zum Reichstage durch. Aber welche Kämpfe kostet
das, welch ein Ringen mit den schlechtesten Elementen des Volkslebens! An
manchen Orten hat sich vielleicht von früherer Zeit her ein angesehener Mann
die Stimmen der Wähler zu erhalten gewußt. Scheidet er aus, so tritt der
bedenklichste Kandidat an seine Stelle. Auch ist es eine merkwürdige Er¬
scheinung, daß seit der Zeit, seit der mau den Niedergang des Reichstags
rechnen kann, nicht ein einziges hervorragendes parlamentarisches Talent neu
erschienen ist.
Infolge der demütigen Stellung, die die Kandidaten bei der Wahl ein-
genommen haben, fühlen sich auch die Gewählten dauernd von ihren Wählern
abhängig. Der demagogische Geist, mit dem man die Wühler erfüllthat,
wirkt un» ans die Abgeordneten zurück. Bei jeder Abstimmung müssen diese
sich fragen: „Was werdeu meine Wähler dazu sagen? Werden sie mich dar¬
nach auch wiederwählen?" Die zahlreichen Versprechungen, die sie den
Wühlern, oft so unbedacht, gegeben haben, üben die Wirkung eines impera¬
tiven Maubads. ' '
Dies alles hat dahin geführt, daß der Reichstag im deutschen Volke bei
weitem nicht mehr das Ansehn genießt, das er früher hatte. Dem geistig ge¬
minderten Bestände entspricht auch die Art der Verhandlungen. Wie viel
Zeit wird mit nutzlosen und widcrwürtigem Gezänk hingebracht! Die Gleich-
giltigkeit der Mitglieder an den Verhandlungen spricht sich auch darin ans,
daß die Zahl der Anwesenden nur allzu oft die Beschlußfähigkeit des Reichs¬
tags bezweifeln laßt.
Daß sich die Verhültnisse, auf denen dies alles beruht, irgendwie von
innen heraus wieder zum bessern wenden konnten, daran ist nicht zu denken.
Unser Volk hat sich bereits an diese Art der Wahlen gewöhnt, und von
manchen Seiten werden sie als eine Art Sport betrieben. Auch ist nicht zu
erwarten, daß in absehbaren Zeiten die verhörten Massen einer innern Um¬
wandlung unterliegen werden.
Die freisinnige Partei hat zwar bei den jüngsten Wahlen schwere Ein¬
buße erlitten. So wie innerhalb der Fraktion selbst das noch nicht günzlich
erloschne Staatsbewußtsein einen namhaften Teil von der Fraktion absprengte,
so mag es auch vielen freisinnigen Wühlern zu stark gewesen sein, daß Herr
Richter, um seine Parteipolitik durchzuführen, die äußere Sicherheit Deutsch¬
lands aufs Spiel setzen wollte. Ein andrer Teil der freisinnigen Wähler
wird wohl zur Sozialdemokratie übergegangen sein. Denn aus welcher andern
Partei hätte diese wohl ihre vermehrten Stimmen ziehen sollen, wenn uicht
aus den Reihen des Freisinns und des Zentrums? Aber auch der Teil des
Freistuns, der sich jetzt unter dem Namen der „freisinnigen Bereinigung" ge¬
sammelt hat, bietet keine Gewähr dafür, daß er einer staatserhaltenden Rich¬
tung zugethan bleiben und nicht in den Freisinn Richterscher Schule zurück¬
fallen wird.
Das Zentrum hat zwar seine aristokratischen Elemente zum besten Teil
verloren. Aber es ist darum nicht besser und auch kaum schwächer geworden.
Die Massen, aus deren Wahl es hervorgeht, bleiben dieselben, und sie werden
nicht von der katholischen Aristokratie, sondern von dem katholischen Klerus
beherrscht, der seiner innersten Natur nach kein Freund des deutschen
Reiches ist.
Die schwerste Gefahr liegt in der Sozialdemokratie, -weil diese Gefahr
stets wächst. Auch in dieser Beziehung haben die jüngsten Wahlen eine
wunderbare Lehre gegeben, die freilich für viele nichts überraschendes gehabt
hat- Man wird sich erinnern, daß, als es sich um das Fortbestehen des Sv-
zialistcngesetzes handelte, von manchen Seiten für die Aufhebung geltend ge¬
macht wurde: erst wenn die Sozialoemvkratie selbst wieder zu Worte komme,
könne man sie widerlegen und damit vernichten. Nun ist das Sozialistengcsctz
aufgehoben; die Sozialdemokratie hat wieder das volle Wort gehabt, und
Herr Richter hat zu ihrer Widerlegung zwei Schriften geschrieben, die in
ihrer Art nichts zu wünschen übrig lassen. Auch uoch von andrer Seite sind
ähnliche Schriften erschienen. Dann wurde im Reichstage eine viertägige
Redeschlacht geliefert, deren Ergebnis war, daß die Sozialdemokraten nicht im
geringsten zu sagen wußten, wie sie sich ihren sozialistischen Staat eigentlich
denken. Damit schien die Sozialdemokratie tot gemacht zu sein. Und was
ergaben die Wahlen? Sie ist stärker aufgetreten als je. Die daraus zu
ziehende Folge ist die: die sozialdemokratische Lehre ist nicht eine Sache des
Verstandes und der Einsicht, sondern eine Sache der Phantasie und des an¬
geregten Begehrens. Mag der sozialistische Staat ein Unding sein, das nie¬
mand verstehen kann: der Weg, der zu ihm führen soll, die Enteignung der
Besitzenden, ist doch sehr verständlich; und dieses Ziel genügt, der Partei
immer neue Anhänger zuzuführen. Schon jetzt hat die Sozialdemokratie eine
ganze Anzahl Reichstagssitze gewonnen. Noch weit größer würde diese Zahl
sein, wenn sie dem Verhältnis der für sozialdemokratische Kandidaten ab¬
gegebnen Stimmen entspräche. An vielen Orten trat die sozialdemokratische
Minderheit der Stimmen ganz nahe an die Mehrheit heran. Es bedarf dem¬
nächst nur einer geringen Verschiebung des Stimmverhältnisfes, und die Sozial¬
demokraten werden noch in weit größerer Zahl im Reichstage erscheinen.
Rechnet man hinzu, daß auch die polnischen und elsässischen Abgeordneten
keine dem deutschen Reiche freundliche Stellung einnehmen, und daß anch die
Antisemiten bei ihrer Einseitigkeit sehr unsichere Kunden sind, so ist es klar:
der deutsche Reichstag ist dergestalt von feindlichen Parteien durchsetzt, daß es
nur ein Zufall ist, wenn er Beschlüsse faßt, die zum Heile des Vaterlandes
gereichen. Bei jeder Gelegenheit können sich so verhängnisvolle Beschlüsse, wie
der um 6. Mai gefaßte, wiederholen.
Der Grund für diese Erscheinung liegt in dem allgemeinen gleichen Wahl¬
recht und der dadurch begründeten Herrschaft der Massen. Um sich hier¬
von zu überzeugen, braucht man nur den Reichstag mit dem preußischen Ab¬
geordnetenhause zu vergleichen. Mag man dieses auch uicht für eine Muster¬
versammlung halten, so weist es doch ein ganz andres Gesicht ans als der
Reichstag. Andre Länder, in denen neben aller Partcizerklüftuug doch wenigstens
das ganze Volk von einem lebendigen Nationalbewußtsein durchdrungen ist,
mögen eine solche Herrschaft der Massen ohne große Gefahr ertragen können.
Deutschland, wo zufolge der althergebrachten Zerrissenheit dieses National-
bewnßtsein weit weniger entwickelt und wo es nicht stark genug ist, Erschei¬
nungen, wie die jüngst im Reichstage erlebten, zu verhüte», wird bei einem
Zustande dieser Art nicht auf die Länge der Zeit bestehen können.
Nun wird freilich niemand daran denken, aus dem blauen Himmel heraus
eine Änderung des Wahlrechts zu versuchen. Die Massen und noch mehr ihre
demagogischen Führer siud sich vollkommen bewußt, welche Macht mit diesem
Wahlrecht in ihre Hände gelegt ist. Eine Abänderung würde einen Kampf
auf Leben und Tod entzünden. Aber kraft einer aus der innersten Natur der
Verhältnisse sich ergebenden Notwendigkeit wird es doch früher oder später zu
einem solchen Kampfe kommen. Gebe Gott, daß dann die staatserhaltenden
Kräfte noch stark genug siud, ihn zu bestehen.
ach dem bis jetzt angeführten dürfte es schwer halten, ans den
Stücken der großen Tragiker und, abgesehen von einem einzigen
später zu besprechenden Umstände, selbst aus denen des Aristo-
phanes, einen Mvralgrnndsatz herauszufinden, der einem edeln
Charakter unsrer Zeit nicht anstünde. Aber haften nicht dem
griechischen Nolkscharakter weltbekannte häßliche Schandflecke an?
Der strenge Christ wird einen solchen schon in dem Mangel der Feindes¬
liebe bei den Helden der Alten finden. „Ein Achill oder Odhsseus — schreibt
Wundt in seiner Ethik —, in denen die Zeit, die zuerst den homerischen Ge¬
dichten lauschte, Borbilder männlicher Tugend sah, wie anders erscheinen sie
dem stoischen Philosophen oder gar dem brahmnnischen Weisen und frommen
Christen, denen Zorn und Rache, List und Betrug, selbst wenn diese in dem
Dienste rühmlicher Zwecke zu stehen scheinen, als verabscheuuugswerte Ver¬
brechen gelten!" Den schlauen Odysseus haben wir schon abgethan. Was
aber die Rache anlangt, ist etwa der moderne Zweikampf etwas andres als
Rache? Und der Beleidigte, der ihn ablehnt, darf in dein Staate, der sich heute
vor alleu der sittliche und christliche zu sein rühmt, dem Stande nicht angehören,
den dieser Staat als seinen vollkommensten und würdigsten Repräsentanten
ehrt. Auch der österreichische Kriegsminister hat kürzlich den Reserveoffizieren
verboten, sich an katholischen Stndentenverln'ndungen zu beteiligen, weil diese
die Pflicht ritterlicher Genugthuung ablehnten. Und wenn das liberale Bür¬
gertum diese Sitte als barbarische Unsitte verurteilt, so geschieht es nicht,
um dem christlichen Grundsätze der Feindesliebe Geltung zu verschaffen, soudern
aus Abneigung gegen den Ritterstand und zu Ehren des sogenannten Rechts¬
staats. Im Privatleben denken und handeln die liberalen Bürger genan so,
wie die konservativen Ritter, und die frommen Christen fo wie die alten
Heiden, nur daß ihre Nachethaten meist die ritterliche Eleganz vermissen lassen.
In L. war ich mit einem Herrn befreundet, der seines Amtes als Kircheu-
und Schuluorsteher mit großem Eifer waltete und u. a. jedesmal den Geist¬
lichen und Lehrern den Kopf warm machte, so oft er bemerkt zu haben glaubte,
daß sich Kinder ans dem Schulwege nicht ganz artig betragen hätten. Ein¬
mal saß ich bei ihm, als sein zwölfjähriges Söhnlein ans der Schule nach
Hause kam und ihm klagte, daß ihn ein Junge unterwegs beleidigt Hütte.
Und das hast du dir gefallen lassen? fragte der Papa, und dn hast ihm
nicht sofort eins übers Maul gegeben und ihn durchgehauen? O du Feigling,
du Memme du! Pfui, schäme dich! Männer, die nach einer Ohrfeige aus
die rechte Wange auch die linke Hinhalten, find eben im öffentliche« Leben
unmöglich und kommen auch im Privatleben nicht durch, wenn sie uicht An¬
gehörige der untersten Klassen sind, für die es in vielen Fällen Lebensbedingung
ist, sich schweigend mißhandeln zu lassen. Die Wirklichkeit berechtigt also auch
heute noch, und heute erst recht, den Dichterphilosophen Nietzsche, zwischen
Herren- und Sklavenmoral zu unterscheiden und das Christentum eine Sklaven¬
moral zu nennen. Sein Unrecht besteht bloß darin, daß er den Herren nicht
allein das Recht zugesteht, die Untergebnen als Untergebne zu behandeln, die
eigne persönliche Würde und Ehre aber durch Gewaltthat zu wahren, sondern
auch das andre verwerfliche, die Untergebnen und Besiegten den eignen Lüsten
zu opfern. Andrerseits rührt die vielgegeißelte Heuchelei und Berlogeuheit
unsrer Zeit eben daher, daß man den Spruch: „Eines schickt sich nicht für
alle" in der Moral nicht gelten lassen und die Notwendigkeit verschiedner
Moralthpen für die verschiednen Geschlechter, Lebensalter und Stände nicht
einsehen will. Jene Moral der Bergpredigt, die in der Feindesliebe ihre
schönste Blüte treibt, ist die Moral der Armen und Dienenden und der Ent¬
sagenden unter deu Reichen und Mächtige», und diese Entsagenden bilden ein
wohlthätiges Gegengewicht gegen deu Weltsinn, sind daher zu ehren, und es
wäre sowohl unrecht als unklug, sie zu verspotten oder sie ausmerzen zu
wollen. Aber für Helden, die die Welt beherrschen, die Menschheit zu Thaten
anregen und vorwärts bringen wollen, trügt sie nichts. Was die gewöhn¬
lichen Leute anlangt, gebildete wie ungebildete, so erstaunt mau oft darüber,
welches, unversöhnlichem Hasses sie fähig sind, und durch welche lächerlich kleine
Ursachen, oft rein eingebildete Beleidigungen ein solcher Haß erregt werden
kann; fromme und unfromme verhalten sich darin ganz gleich, und selbst Geist-
liebe machen sich solcher UnVersöhnlichkeit schuldig,. Es soll nicht geleugnet
werden, daß die Kirche so manchen zur Rene und Versöhnung bekehrt, und
daß Christi Beispiel manches rachsüchtige Herz bezwingt, aber das sind einzelne
Vorgänge, die auf den Lauf der Welt, der immer auch durch gewaltige Wogen
von Haß und Rachsucht mit bestimmt wird, keinen Einfluß üben.
Übrigens lassen die griechischen Tragiker die Rache ihrer Helden weder
ins maßlose ausschreiten noch unaustüudig werden, sie geben sogar dem Zweifel
Raum, ob Rache überhaupt erlaubt sei. Des Aischylvs Elektra (in den
Grabesspenderinnen) weiß nicht, was sie an des Vaters Gruft bete» soll.
Der Chor rät ihr, sie möge zunächst des Bruders in Liebe gedenken und
dann der Schuldigen:
Sag ihnen, kommen werd ein Gott einst oder Mensch —
Elektra Meinst du, der sie richten, oder der ihn rächen wird?
Chorführerin Du sagst es einfach: der den Mord mit Mord vergilt!
Elektra Doch ist es fromm mich, von den Göttern das zu flehn?
C h v rführeri n Wie nicht, daß seine Schuld dem Feind sich rächt.
Nicht zur Sättigung ihres persönlichen Rachegefühls also soll Elektra die Be¬
strafung der Schuldigen verlangen, sondern damit der verletzten Gerechtigkeit
Genüge geschehe. Am Schluß ihres Gebets zur Seele des Vaters spricht sie:
Mir aber gieb du, daß ich tugendhafter sei
Denn meine Mutter, reinen Wandels, reiner Hand!
Für uns gebetet hab ich dies; den Feinden laß
Erscheinen, sag ich, einen, der dich, Bater, rächt,
Auf daß die Mörder wieder morde ihr Gericht.
So betend Schurz' ich in den frommen Segensspruch
Den Flucheswürdgeu ein des Fluches Gegenspruch.
Du aber send uns alles Heil empor, mit dir
Die Götter und die Erd und Dike Siegerin.
Von Herakles heißt es in den Trachinierinnen:
Zeus gab der Sklaverei ihn preis, zur Strafe, daß
Von allen Menschen diesen öden Jphitos^ er durch List
Getötet. Denn wenn offne Rache er geübt,
So hätte Zeus ihm den gerechten Sieg verziehn.
Im Aias des Sophokles weist Athene auf den durch Wahnsinn geblendeten
Helden und spricht zu Odysseus:
siehst du, wie viel Götterkraft vermag?
Wo fand man einen zweiten, einsichtsvoll wie er,
Und tüchtig, auszuführen, was die Zeit gebot?
Ich kenne keinen. Ist er auch mein schlimmster Feind
Gewesen, dennoch jammert mich sein Leiden tief.
Und als sich dann Aias entleibt hat, und Agamemnon die ehrenvolle Bestat¬
tung verhindern will, da mahnt Odysseus, den Toten nicht zu beschimpfen;
Aias sei doch nun einmal der Argeier bester gewesen;
Verletzen würdest du nicht ihn, doch das Gebot
Der Götter. Denn dem edeln Manu geziemt es nicht,
Am Toten sich zu rächen, ist er ihm auch feind.A gamemnon Du nimmst, Odysseus, diesen gegen mich in Schutz?
Odysseus Gewiß! Als ichs mit Ehren durfte, haßt' ich ihn.
A game in n o n Bedenke, welchem Manne Liebe dn erzeigst!
Odysseus Er war mein Gegner, aber einst ein edler Mann.
Agamemnon Wilh doch verlangst du? Ehrst du so den toten Feind?
Odysseus Hoch steht des Helden Große über meinem Haß.
Steht solche Gesinnung gar so tief unter dem, was man täglich bei unsern
„Christen" erlebt, die auf die Tugenden der Heiden als auf „glänzende Laster"
mit hochmütigem Mitleid herabblicken? Auch Euripides läßt seine Elektrci
sprechen: „Ans Tote Schmach zu häufen — Haß wär' unser Lohn!"
Daß dem Griechen, wie allen Völkern des Altertums, der Fremde der
Feind gewesen, und daß ihm gegen den Feind alles erlaubt gewesen sei, daß er
den Begriff der Menschheit nicht gekannt und alle Nichtgriechen als Barbaren
verachtet habe, das sind bei uns alltägliche Redensarten, an deren Wahrheit
niemand zu zweifeln scheint. Und doch findet sich in den Tragikern nichts,
was ihre Berechtigung bewiese. Es kommen da häufig Ausländer vor, na¬
mentlich kriegsgefangne Sklavinnen, aber ihnen allen wird Mitleid und mensch¬
liche Teilnahme gewidmet, nirgends sehen wir, daß sie ein edler Mann ver¬
ächtlich oder grausam behandelte oder sich nicht durch alle Pflichten der
Menschlichkeit und Gerechtigkeit auch ihnen gegenüber gebunden fühlte. Beweise
dafür sind u. a. aus des Aischhlos Agamemnon und aus des Euripides He-
kabe und Troerinnen schon angeführt worden. Es ist richtig, daß sich der
Grieche dein Griechen stärker verpflichtet fühlte als dem Ausländer, aber fühlt
der heutige Deutsche nicht auch so? Iphigenie in Tauris sagt:
Ich weihe nur das Opfer, andre schlachten es —
O grause Pflicht! — im Innern dieses Heiligtums.....
Mein armes Herz, du wärest immerdar zuvor
sanftmütig und mitleidig gegen Fremdlinge
Und brachtest Stammverwandten gern der Thränen Zoll,
So ost ein Mann Achaias fiel in deine Hanoi
Nun, nach dem Traumgesichte, das mich aufgeschreckt,
Als weile mein Orestes nicht im Lichte mehr,
Sollt ihr mich grausam finden, wer mir immer naht!
So zartgcstimmt und erhabnen Sinns wie Goethes Iphigenie ist also freilich
die des Euripides nicht, man darf aber auch nicht vergessen, daß unsre deutsche
Iphigenie uicht eben zu den Bühnenzugstückeu gehört, also dem bei uns
herrschenden Geschmack wenig entspricht, und daß Goethe selbst die Stimmung,
aus der er sie geschrieben hat, halb und halb hat erzwingen müssen; seine
Alltagsstimmung war es nicht. Und welch eine würdige Rolle läßt Aischylos
die Perser spielen in seinem gleichnamigen Stück! Keine Spur von Gering¬
schätzung des Feindes ist darin zu gewahren. Wie behandeln dagegen die
Deutschen und die Franzosen einander heute gegenseitig in der Presse und in
der Litteratur!
Wenn sich aber die Griechen selbst für das edelste und von den Göttern
auserwählte Volk hielten und zur Herrschaft, wenigstens zur geistigen Herr¬
schaft über alle andern Völker berufen zu sein glaubten, hatten sie da nicht
vollkommen Recht? Sollten sie etwa die Neger für schöner halten als die
Modelle ihrer Skulpturen? Sollten sie das Hebräische der Sprache Homers
vorziehn? Sollten sie nicht stolz sein auf eine Kultur, die ihnen keine härtere
Todesstrafe gegen Staatsverbrecher gestattete, als den schmerzlos tötenden
Giftbecher, während bei den benachbarten Barbaren das Pfählen, lebendig
Schinder, lebendig Verbrennen, Augen ausstechen, Hände und Füße abhacken,
Entmannen an der Tagesordnung war? Sollten sie ihr Familienleben nicht
höher schützen als den orientalischen Harem, die Werke ihrer bildenden Kunst
nicht höher als orientalische Fratzen, ihre wenn auch unvollkommne Freiheit
nicht höher als orientalische Despotenhcrrschaft und Sklavengesinnung? Denken
wir Deutschen nicht ganz ebenso, und verachten wir nicht mit Recht solche,
die anders denken, als schlechte Patrioten? Wenn die griechischen Philosophen
und Staatsmänner den Gegensatz zwischen ihrem Volk und den Barbaren und
das höhere Recht ihres Volkes in schürferu Worten formulirt haben, als es
deutsche Moralisten und Staatsrechtslehrer mit Beziehung auf unser Volk
thun, so kommt das nicht von geringerer Menschlichkeit des griechischen Volkes,
sondern nnr daher, daß sie nicht gezwungen waren, eine Moral zu heucheln,
die bei uns nur in der Theorie gilt, und anch daher, daß sie nicht wie wir
mitten nnter Völkern lebten, die sich Gleichberechtigung erzwungen und die
auch wirklich auf derselben Kulturstufe gestanden hätten; ist doch ihre geistige
Überlegenheit sogar von den Römern, ihren Besiegern, anerkannt worden.
Von der Sklavcntheorie des Aristoteles, die heute von der Rechten wie
von der Linken mit demselben sittlichen Pathos als unsittlich verurteilt wird,
haben wir bei andrer Gelegenheit gehandelt, und dein Sklavenleben der Alten
gedenken wir später eine besondre Abhandlung zu widmen. Für diesmal be¬
schränken wir uns auf die Bemerkung, daß die landläufige Vorstellung, bei
den Alten seien sämtliche Freie Faulenzer gewesen und nnr die Sklaven hätten
gearbeitet, grundfalsch und nur aus der bekannten Stelle des Aristoteles, ans
dem juristischen Begriffe der Sklaverei und aus den Anekdoten abgezogen ist,
die Rom in der Zeit geliefert hat, wo es Weltstadt und Weltbeherrscherin
geworden und der italienische Bauernstand großenteils durch Latifundien ver¬
drängt war, die natürlicherweise durch Sklaven bewirtschaftet wurden. Wer
fleißig und aufmerksam im Neuen Testamente liest, der wundert sich manchmal
darüber, daß es in diesen Geschichten, die doch beinahe vor neunzehnhundert
Jahren in einem entfernten Lande gespielt haben, bei der Haus- und Land¬
wirtschaft, zwischen Herrschaften und Gesinde und in vielen andern Verhält¬
nissen ganz so zugeht wie bei uns. Aus den Zustünden Palästinas, Klein¬
asiens und Mazedoniens aber, die den Schauplatz der neutestamentlichen Ge¬
schichten bilden, dürfen wir Schlüsse ziehen auf die Zustünde des ganzen
Römerreichs, da sich beim lebhaften Verkehr aller seiner Provinzen uuter
einander deren Verschiedenheiten ähnlich ausglichen, wie heute die Verschieden¬
heiten der Völker durch den Weltverkehr. Denselben Eindruck empfängt man,
wenn man Aristophanes und die Gedichte von Theokrit, Bion und Moschvs
liest, die hundertfünfzig bis zweihundertfunfzig Jahre später unter der grie¬
chischen Bevölkerung Siziliens entstanden sind. Es geht da in der Stadt wie
auf dem Lande ganz so zu wie bei uus, nur daß, um zunächst die bukolischen
Gedichte abzufertigen, unsre Hirtenjungen viel Prügel bekommen, wovon bei
den Idyllikern nichts steht, und daß die Schnadahüpfl der Burschen und
Dirnen in den Alpenländern — in Mittel- und Norddeutschland entbehrt das
ländliche Liebesleben des veredelnden Schmelzes der Poesie vollständig —
meist weniger zart ausfallen, als die Welt- und Wechselgesüuge der alt¬
griechischen Hirtenjugend, die jn freilich der Dichter stark retouchirt und
idealisirt haben mag. Nur einmal, in Theokrits vierzehnter Idylle, kommt eine
Handlung vor, die roh genannt werden kann, aber bei weitem nicht so roh
ist wie vieles, was man täglich bei uns erlebt, und die noch dazu vollkommen
gerechtfertigt erscheint. Der junge Äschines, offenbar ein kleiner Bauer, be¬
wirtet ein Paar Gäste mit zwei Hühnlein, einem Spanferkel, Zwiebeln und
Schnecken; sein Mädchen ist anch von der Gesellschaft. Beim Trinken wird
ausgemacht, daß jeder eine Gesundheit auszubringen habe, aber den Namen zu
nennen verpflichtet sei. Kynisla müßte natürlich auf daS Wohl ihres Liebsten
trinken, aber sie bleibt stumm wie ein Fisch. Nun fällt dem Äschines ein,
daß man munkelt, sie halte es hinter seinem Rücken mit Lhkvs, dem noch
nnbürtigen Buben des Nachbars, und als nun einer der Gäste neckend ein Lied
vom Wolfe singt (Lykos heißt Wolf), da bricht das Mädchen in Thränen
aus. Jetzt reißt dem braven Äschincs die Geduld, er giebt der Dirne zwei
Ohrfeigen, sodaß sie heulend hinausstürzt; dann wartet er zwei Monate, sich
grämend, auf ihre reuige Wiederkehr, und da sie nicht kommt, geht er zu
Schiffe, um ins Söldnerheer des Äghptcrkönigs einzutreten. Das könnte, ab¬
gesehen von den veränderten Militärverhültnisscn, ebensogut Äirnv 1893 x.
dürr. n. in Holstein wie um 250 auf Sizilien geschehen sein.
Die Stücke des Aristophanes spielen sämtlich in den Kreisen von Klein¬
bürgern, Krämern und Bauern, die selber arbeiten, und deren Sklaven nicht
wesentlich anders zu ihnen stehen als unser Gesinde zur Herrschaft. Die
Achcirner, die wackern Marathonkämpser, sind hagebüchne Kohlenbrenner, denen
ihr Kohlenkorb das teuerste auf Erden ist; der von ihnen bedrohte Dikcnvpolis
schützt sich dadurch, daß er eiuen Kohlenkorb vorhält, den er zu durchbohren
droht, wenn sie ihn angreifen, wie in einer Verlornen und von Aristophanes
verspotteten Tragödie des Euripides Telephos sich des kleinen Orestes be¬
mächtigt, um vor Agamemnon sicher zu sein. „Weh — ruft einer der Kohlen¬
brenner—, auf mir lastet mein Alter schwer! Einst als ich, jung und kräftig,
meine Last Kohlen trug, da wäre mir ein Friedensvermittler nicht so leicht
entronnen." Die alten Marathonkämpfer sind nämlich selbstverständlich ganz
so wie unsre heutigen Kriegervereinler feurige Anhänger der Kriegspartei,
während Dikaiopolis, ein Bauer, mit allen aristophanischen Bauern den Frieden
will und, gleich unsern heutigen bairischen Landleuten, das Militär verwünscht,
samt dem Stadtleben, wozu er — das Stück spielt im peloponnesischen Kriege —
gezwungen ist.
Ich sinne, kritzle, rnpf am Barte, rechn' auch wohl
Und blick ins Feld hinaus; dem lieben Frieden hold
Und feind der Stadt, sehn' ich nach meinen Nachbarn mich.
Die rufen nimmer mir das: „taufet .Kohlen!" zu,
Noch „Essig" oder „Öl"; sie kennen nicht das „kauft!",
Sie bauen alles selbst; kein „kauft!" dnrchsttgt das Ohr.
Und Trygaios, der auf einem Mistkäfer, dem für den Bauern passenden Flügel¬
roß, gen Himmel reitet, um nachzusehen, was die Götter sür eine verrückte
Wirtschaft treiben, daß es auf Erden gar so verdreht zugeht, wie liebt er den
Frieden und seine Ackerarbeit! Ja, bei Zeus, so begrüßt er die zur Friedeus¬
feier herbeieilenden Freunde, schön hergerichtet ist die Hacke, glänzend hell,
Und die dreigezackte Karste leuchtet blank im Sonnenlicht;
stattlich, traun, im Wechselreihen rage sie wie Reb und Baum!
Drum llerlangts auch mich so herzlich auf das Feld hinauszugehn
Und einmal mein Gütchen wieder umzuschaufeln mit dem Karst.
Die Bauern, ja die Bauern allein sind es auch gewesen, die ihm geholfen
haben, die in einen Abgrund gestürzte Friedensgöttin wieder herauszuziehen,
während die Schwätzer der Volksversammlung, die politischen Streber, die
teils auf Ruhm und Anführerstcllen, teils auf Geldgewinn spekuliren, die
Waffenfabrikanten und Militärlieferanten sämtlich zum Kriege Hetzen.
Im Plutus wollen die armen Bauern dem blinden Reichtumsgott wieder
zum Augenlicht verhelfen, damit er die Güter gleichmäßig verleite oder wenigstens,
wie es sein ehrlicher Wille ist, nur den Rechtschaffnen Reichtum schenke und
nicht ihn, wie es gewöhnlich geschieht, an die Schurken verschleudere. Da be¬
lehrt Perla, die Göttin der Armut, diese Kurzsichtigen, daß sie davon gar
keinen Gewinn haben würden. Wenn alle gleich reich wären,
Dann range hinfort kein Sterblicher mehr nach Kunst und weiser Erkenntnis;
Und sind die beiden geschieden von euch, wo wird dann einer sich finden,
Der schmiedet das Erz, der zimmert das Schiff? Wer schneiderte, fertigte Ruder,
Wer schusterte, schafft' euch Ziegel aus Lehm, wer wallt' und gerbte die Felle,
Wer risse das Erdreich uns mit dem Pflug und gewönne die Frucht der Demeter,
Wär' euch unthätig zu leben vergönnt und dürstet ihr alles versäumen?
Schnack hin, Schnack her, meinen sie, das müßten dann alles die Knechte
machen! (Faulenzen und die Knechte arbeiten lassen, war also zwar das Ideal
manches Bauern, aber um 300 v. Chr. keineswegs Wirklichkeit im attischen
Ländchen.) Perla aber fragt spottend, woher sie denn die Knechte nehmen
würden, wenn jedermann reich wäre, und keiner sich auf ein so gefährliches
und schmähliches Gewerbe, wie der Menschenhandel sei, zu verlegen brauche?
Nicht das vorher geschilderte verderbliche Müssiggnngerlcben würde gewonnen
sein, wenn alle reich wären, sondern jeder würde dann noch mehr als bisher
selbst arbeiten müssen, weil es gar keine Knechte mehr geben würde; Armut
und Reichtum seien eins nicht ohne das andre denkbar, und wo alle gleich
reich seien, da seien alle gleich arm. Nur die Armut, nicht etwa die Bettel¬
armut, sondern jener geringe Vermögensgrad, der zum Arbeiten zwingt, schaffe
allen Reichtum. Gäbe es keine Armen, die ums Brot arbeiten müßten, fo
würde es keine Betten, keine Teppiche, keine Prachtgewünder, kein Salböl
mehr geben.
Was hilft nun einem der Reichtum noch, muß man dies alles entbehren?
Bei mir ist all das, was ihr begehrt, stets leicht zu beschaffen, ich selbst ja,
Ich sitze zur Seite dem HandwerkSmcinn als Herrscherin, treibe zur Arbeit
Ihn, daß er, gedrückt von Mangel und Not, sein tägliches Brot sich erwerbe.
Nicht bloß die Bauern also, sondern auch die städtischen Kleinbürger, die
Krämer und Handwerker, waren Leute, die selbst Hand anlegten, obwohl es
natürlich auch an größern Unternehmern nicht fehlte, die, wie der Gerber
Kleon, ihr Geschäft mit zahlreichen Sklaven fabrikmüßig betrieben. Daß die
zahlreichen Maler, Bildhauer und Kunsthandwerker ihre Meisterwerke nicht von
Sklaven anfertigen lassen konnten, versteht sich von selbst. Auch an freien
Frauen, die sich ihren Lebensunterhalt mit ehrlicher Arbeit verdienten, hat es
nicht gefehlt. Euripides Mutter war eine Genmsehändlerin, und in der Thes-
mophvrienfeier klagt eine Kränzewinderin, daß ihr der Sohn dieser Grünzeug¬
frau das Geschäft verderbe.
Es starb in Kypros neulich mir der Mann dahin
Und hinterließ fünf Kinderchen, die mit Müh und Not
Ich erhielt, indem auf dem Myrtenmarkt ich Kränze flocht.
So ernährt' ich anfangs, freilich nur notdürftig, sie.
Jetzt aber hat in seinen Trauerspielen der
Die Männer überredet, Götter geb' es nicht,
Sodnß kaum halb so groß jetzt unser Absatz ist.
Drum ist mein Rat, und dringend fordr' euch all ich auf,
Den Mann ob vieler Unbill streng zu züchtigen;
Denn herbe Leiden fügt, ihr Frauen, er uns zu,
Wuchs doch er unter herben Gartenkräuteru auf.
Nun aber muß zu Markt ich, es bestelleten
Die Männer zwanzig Kränze, die ich flechten muß.
Also lauter selbst arbeitendes kleines Voll von Freien! Und so scheint es
dann später alle die Jahrhunderte hindurch in den Provinzen des römischen
Reichs geblieben zu sein, woraus vou selbst folgt, daß sowohl die wirtschaft¬
lichen wie die Sittenzustande Griechenlands — Sparta ausgenommen — im
allgemeinen denen unsrer heutigen Kleinstädte und Dörfer ähnlich gewesen
sein müssen. Nur in Italien und ncnneutlich in Rom, wo der Reichtum der
Provinzen zusammenfloß, entwickelten sich drei Jahrhunderte später Zustände,
wie sie das Großkapital immer und überall erzeugt. Wie es da auf dem
Laude ausgesehen haben mag, veranschaulichen uns die englischen und italieni¬
schen, seit einigen Jahren auch die norddeutschen Latifundien, und die Zustände
der Hauptstadt finden wir in unsern heutigen Großstädten wieder, nnr daß
unsre Polizei strenger gegen alles „Gesindel" ist, und daß die verarmten
Bürger Roms, die täglich vom Patron die Sporteln einheimsten und bei all¬
gemeinen Spenden bedacht wurden, noch nicht so tief gesunken waren und
nicht mit solcher Verachtung als Abschaum von der Gesellschaft ausgeschlossen
waren, wie unsre heutigen Arbeitslosen. Erst der Heliastensold, das heißt
das Tagegeld, das den Bürgern seit Perikles für Verwaltung des Nichter-
amts gezahlt wurde, verschuldete eine Verlumpung, die einstweilen im kleinen
vorbildete, was später in Rom durch x^ufm et «irosiisss im großen an¬
gerichtet werden sollte; den Anfang dieses Unheils hat Aristophanes in den
Wespen geschildert. Knaben rücken da ihren Vätern vor, daß sie um des
elenden Trivbolvs willen ihr Gewerbe vernachlässigten und die Familie ins
Elend stürzten, und Haßkleon sperrt seinen Vater Kleobold ein und bewacht
ihn mit Hilfe der Knechte Tag und Nacht, damit er nicht den ganzen Tag
auf der Gerichtsstätte totschlage.
Der Vorwurf endlich, die Griechen hätten ihre Frauen verachtet, sie wie
Sklavinnen behandelt und ihnen keinerlei Anteil am öffentlichen Leben ver-
stattet, klingt dem, der die Dramen gelesen hat, geradezu unverständlich. Von
den sieben Dramen des Aischylos sind drei, von den sieben des Sophokles
ebenfalls drei, von den siebzehn des Euripides zwölf nach einem weiblichen
Charakter oder einem aus Frauen bestehenden Chöre benannt. Wie wäre
denn ein Frauenchor auf der Bühne überhaupt denkbar, wenn die Frauen im
öffentlichen Leben keine Rolle gespielt hätten! Und wie sie geehrt wurden,
das geht doch aus den zu andern Zwecken mitgeteilten Proben schon zur
Genüge hervor. In der Medeia singt der Frauenchor:
In die Tiefe der Weisheit hab' ich mich oft
Schon sinnend versenkt und kühner gekämpst,
Zu durchforschen die Wahrheit, als es geziemt
Dem Geschlechte der Frauen: doch Sinn und Geist
Ward uns auch verliehn, und die Muse besucht,
Lehrt Weisheit uns — nicht jegliche zwar;
Denn wenige der Art findest du wohl
Aus der Menge heraus;
Wir lieben die Künste der Musen.
Es ist also nicht richtig, daß, wie mau gewöhnlich sagt, nur die Hetären
hätten Geist haben dürfen, obwohl es ganz natürlich ist und zu allen Zeiten
beobachtet werden kann, daß sich emanzipirte Frauen auch in geistiger Be¬
ziehung freier bewegen als Ehefrauen; dem: als emanzipirte Frauen, nicht als
in den Kot getretne Wesen, wie unsre heutigen Prostituirten, haben wir uns
die Hetären zu denken. Und des Aristophcines Lhsistrcite, die durch eine Ver¬
schwörung der Ehefrauen den Frieden erzwungen hat, redet die Abgeordneten
der griechischen Staaten an:
Ich bin ein Weib zwar, aber Geist wohnt auch in mir.
Ich ward mit Mutterwitz uicht schlecht begabt;
Dann hört' ich auch vom Bater und vou Älteren
Manch kluge Wortes) so bin ich nicht schlecht geschult.
Nun will ich euch vornehmen, will euch allzumal
Ausscheiden, wie ihrs wohl verdient. Besprengt ihr nicht
Aus einem Kessel deu Altar als stammverwandt
In Pisa, Phlci, Pytho — wie viel Orte noch
Sonst nennen könnt' ich, braucht' es hier viel Worte noch?
Giebts nicht Barbaren, Feinde nicht, daß Hellas Garn,
Daß Hellas Männer ihr vertilgt mit Heeresmacht?
„Viele weise Worte kamen auch von Frauen schon," spricht Theseus in den
Schutzflehenden, indem er ans den Rat seiner Mutter Athen hört. Dafür
beobachtet diese auch die dem Weibe geziemende Zurückhaltung; nicht eigen¬
mächtig will sie handeln, „denn alles nur durch Männer auszurichten, ziemt
der weisen Fran.^
Nur vom Standpunkte unsrer heutigen Emanzipationssüchtigen aus, den
wir, altmodisch gesinnt, nicht teilen, kann man es als eine Herabwürdigung
der Frau ansehen, wenn ihr nicht der Markt und die Rednerbühne. sondern
nur das Haus als Wirkungskreis angewiesen wird. Wir sind zwar weit
entfernt davon, die Frauen und Mädchen zu tadeln, die heute in der Öffent¬
lichkeit auftreten, um ihren Schwestern bessere Lebensbedingungen zu erkämpfen;
aber nimmermehr werden wir die Verhältnisse, die sie dazu treiben und be¬
rechtigen, als natürlich und gesund anerkennen. Wo ein Ausnahmezustand
herrschte, da ward es auch in Hellas der Frau, der sittsamen Jungfrau nicht
verübelt, wenn sie sich in der Öffentlichkeit bewegte. Antigone geleitet als
Pflegerin den verbannten blinden Vater auf seinen Irrfahrten, Jsmene sucht
ihre Lieben von Zeit zu Zeit auf, um ihnen Nachrichten von Hause zu
bringen, und scheut dabei nicht die Fährlichkeiten, die sie als allein reisende
Jungfrau, nur von einem Diener begleitet, zu bestehen hat. Wir haben, sagt
Ödipus, die Lebensweise der Ägypter angenommen:
Im Haus, den Webstuhl zu besorgen, sitzen dort
Die Männer, während draußen ihre Frauen stets
Beschaffen, was des Lebens Unterhalt bedarf.
So auch bei euch, ihr Kinder, Deren Pflicht es war.
Sich abznmühn, wie Mädchen hüten sie das Hans;
Statt ihrer tragt ihr beiden viele Rot um mich,
Den Unglückseliger. Eine teilt, seitdem ihr Leib
Entwnchs der Kindcspflege und die Kraft gewann,
Mit mir des Wanderns ganzes Elend immerdar;
Sie führt den Greisen,, irret ohne Speise oft
Umher im rauhen Waldüsdickicht, unbeschuht,
Ost schaffen Regengüsse, oft der Sonne Brand
Der Ärmsten viel Beschwerde; doch sie schätzt gering
Des Hanfes Pflege, ist der Vater nnr versorgt.
Und du, Kind, ohne Wissen der Kadmeer kamst
Du sonst schon, brachtest die Orakel alle mir.
Daß Medea lieber ein Mann sein möchte, liegt in ihrem Charakter, aber in
ihren Klagen über das Los der Frauen kommt nichts andres vor, als wor¬
über sich die heutigen Frauen zu beklagen Pflegen, und daß es nicht aus
Verachtung, sondern zu ihrem Schutze geschieht, wenn sie mit ihrer Wirksamkeit
auf das Haus beschränkt bleiben, gesteht sie zu.
Sind doch wir Fraun das allernnglückseligstc!
Mit Gaben sonder Eude müssen wir zuerst
Den Gatten uns erkaufen/') ihn als unsern Herrn
Annehmen; dies ist schlimmer noch als jenes Leid.
Dann ist das grüßte Wagnis, ob er bieder ist,
-Ob böse; denn unrühmlich ists dem Weibe, sich
Vom Gatten scheiden, und sie darf ihn nicht verschmähn.
Und freit in neue Sitten und Gesetze sie,
Muß eine, weis! sich nicht von Hans, Prophetin sein,
Zu wissen, welchem Lose sie entgegengeht.
Doch wenn wir dieses glücklich uns vollendeten,
Der uns Berbnndne froh mit uns am Joche trägt,
Ist unser Los zu meiden; kommt es anders — lieber Tod!
Auch kann der Gatte, wenn daheim ihn. Ärger quält,
Auswärts des Herzens Überdruß beschwichtigen,
Bei Freunden oder einem, der mit ihm erwuchs.
Aus ist in eine Seele nur der Blick vergönnt.
Sie sagen wohl, wir lebten sicher vor Gefahr
Zu Hause, während sie bostehn der Speere Kampf,
Die Thoren! Lieber wollt' ich ja dreimal ins Graun
Der Schlacht mich werfen, als gebären einmal nur!
Eins fällt dem modernen Leser auf: daß unglückliche Liebe in der griechischen
Tragödie keine Rolle spielt. Die Erklärung dafür scheint mir einfach zu sein.
Lange Brautwerbungen mit Hindernissen, aus denen ein tragischer Konflikt
entstehen könnte, kommen in so einfachen Verhültniffen, wie sie damals
herrschten, nur selten vor. Ereignete sich etwas dergleichen, so konnte die
Sache auch tragisch enden, wie der junge zärtliche Humor beweist, der sich
an der Leiche seiner geliebten Antigone entleibt; und in solchen Fällen wird
dann Eros auch als ein schrecklicher und erbarmungsloser Gott mit Furcht
und Zittern gefeiert. Aber verliebtes Getose gehörte nicht in die Tragödie,
in der nur ernste und große Gegenstände berechtigt waren. Die geschlechtliche
Liebe gehörte als das anmutigste, heiterste und beglückendste im Leben nicht
in die Tragödie, sondern in die Idylle, in die Elegie, in die Komödie. Das;
es im modernen Drama einen so breiten Raum einnimmt und im Roman, in
der Novelle zum alles beherrschenden Mittelpunkte geworden ist, kann nicht
als ein Zeichen von Gesundheit angesehen werden. Es ist doch eben nicht
Wahr, daß im wirklichen Leben die Geschlechtsliebe die einzige und alles be¬
herrschende Hauptsache wäre. Mehr Gelegenheit zur Behandlung dieses Gegen¬
standes geben allerdings die durch unsre verwickelten Verhältnisse und sozialen
Schwierigkeiten erzeugten Hindernisse der Berehelichung, aber gerade die
Rvmanleserci, die die Köpfe mit überspannten Ideen und die Gemüter mit
eingebildeten Empfindungen erfüllt, vermehrt die Anlässe zu tragischen Kon¬
flikten noch um ein bedeutendes.
Eine Ausnahmestellung nahmen die Spartanerfrauen ein. Nur näherte
sich ihre Lebensweise nicht dem orientalischen Haremsdasein, sondern im Gegen¬
teil Bebels Ideal. In der Lysistrate rühmt die Spartanerin Lcnnpito mit
der dem Aristophanes eignen kräftigen Ausdrucksweise ihre Turnerkünste, und
Euripides läßt in seiner Andromache den Peleus zu Menelnos sprechen:
Du Feigster, feiger Eltern Sohn, du wärst ein Mann?
Gleichwie zu Männern, also spricht man wohl zu dir? ,
Der seine Gattin raube» lies; vom Phrygier
Und unverschlossen, unbewacht sein Haus verlieh,
Als walte drinnen im Gemach ein züchtig Weib,
Sie, die der Jraueu schlimmste war? Selbst wenn sie will,
Kann eine Frau zu Sparta nicht enthaltsam sein,
Wo Freun das Haus verlassen und mit Jünglingen —
Nachlässig offen ihr Gewand, die Hüfte nackt —
In Lauf und Riugerkünsteu, unerträglich mir,
Vereint sich üben.
In dem übrigen Hellas aber, und namentlich in Athen, kann die Stellung
und Lage der Frauen von der unsrer heutigen, soweit diese uoch normal ist,
nicht wesentlich verschieden gewesen sein. Geht doch die Ähnlichkeit so weit,
daß Emanzipationsbestrebungen vorgekommen sein müssen, die darauf aus¬
gingen, in einem kommunistischen Gemeinwesen das Verhältnis der Frauen zu
den Männern umzukehren, wie Aristophanes in seinen tollen Ekklesiaznsen ge¬
schildert hat. Denn sollte ihm Plato, der übrigens damals seine „Republik"
noch nicht geschrieben hatte, auch die Idee des Kommunismus eingegeben
haben, von Weiberherrschaft hat der große Philosoph doch gewiß nichts wissen
wollen; diesen Gedanken muß also der Komiker dem Leben entnommen haben,
wie er ja überhaupt, der Wirkung wegen, gar nicht daran denken konnte,
andre als im Leben der Gegenwart vorkommende Verhältnisse, Gedanken und
Bestrebungen zu verwerten.
brise sein heißt Sozialist sein, das war Kingsleys erster Grund¬
satz. Jede andre Auffassung des Christentums als die sozialistische
ist, uach seiner Meinung, eine Lüge. Nur der in ihr steckende
Sozialismus sichere der christlichen Lehre die weltbeherrschende
Macht und ermögliche ihr die sittliche Erziehung und Vervoll¬
kommnung der Menschheit. Darum fort mit dem sogenannten „Sonntags¬
christentum," dem Christentum der Formen, der Kultusfragen und der Doktrinen,
dafür Einführung des „Werktagschristentums" mit seinen sozialen Pflichten!
Die Anwendung des sozialistischen Prinzips der Gemeinschaft, der Assoziation
auf Ackerbau, Gewerbe und Handel sei nichts andres, als die Anwendung des
wahren Christentums auf das wirtschaftliche Leben. Volkspolitik heiße Er¬
füllung der jeder Klasse obliegenden Pflichten gegen die andre. Für die be¬
sitzenden Klaffen heiße sie: sich wieder besinnen, daß jeder Eigentümer nur der
Verwalter seines Besitzes sei im Dienste Gottes und der Menschen, und daß
mit dem Besitze nicht nur Rechte, sondern vor allen Dingen anch Pflichten
verbunden seien. Für die arbeitenden Klassen liege die wahre Volkspolitik in
Einfachheit, Anspruchslosigkeit, Ehrlichkeit, in Treue gegen die Kunden, in
Treue gegen einander, in Unterordnung des eignen Ichs unter das Ganze,
in Assoziation statt in Konkurrenz. Hauptaufgabe der christlichen Sozialsten
müsse es sein, die Besitzenden und den Klerus der Staatskirche nu ihre
Pflichten zu erinnern.
Das sind die Gedanken, für die Kingsley seit dem Erscheinen seines
Dramas Ltllut'L I'raMä)- eintrat. Mit seinen Freunden Maurice und Ludlow
gründete er ein Wochenblatt, I'olitiW lor ello ?vox1s, das bald eine große
Zahl geistvoller Mitarbeiter hatte. Die Aufsätze des Blattes zeichnen sich
durch Klarheit der Darstellung und durch Schönheit der Sprache und des
Stils ans. Alle Fragen, die gegenwärtig in Deutschland die Gemüter be¬
schäftigen, sind schon damals in dieser Wochenschrift behandelt worden: das
allgemeine Stimmrecht, die Möglichkeit sozialer Reformen durch die Ge¬
setzgebung, die Bedeutung des Christentums und der Kirche für das Volk, die
Frage, ob die Geistlichkeit ihre Aufgabe wirklich erfülle, die Reformen der
Volkserziehung und Volksbildung, Arbeiterschutz und Arbeiterwohnungen,
Grundbesitz und Bodenverteilung, Großindustrie und Massenelend. Aber von
den Tories bekämpft, vom Klerus verleumdet und von den Arbeitern mit
Mißtrauen betrachtet, konnte sich die Wochenschrift nnr drei Monate halten.
Kingsley erkannte, daß man auf diese Weise den Wohlhabenden die ge¬
fährliche Lage des englischen Volkes nicht klar machen, daß man durch bloße
Leitartikel die Gutgesinnten nicht zu einem kräftigen Handeln anspornen könne.
So versuchte er denn, die sozialen Fragen den gebildeten Klassen in einem
angenehmem Gewände vorzuführen. Er wandte sich zuerst den landwirt¬
schaftlichen Reformen zu, dem trgrMimr soeigliizm, und veröffentlichte im Jahre
1848 in Z?rA8<zr'» Nag-^imo seinen ersten Roman, ^«zähe. ^ Problem, slkmoll-
ulls LMion. Übersetzt von P- Spangenberg, mit einem Vorwort von
R. Wülker. Zweite Auflage. Leipzig, Brockhaus, 1801.) 1t pas vritteu
vllll lus Ks^-i,'« blooci, sagt seine Gattin. I^o book< spor loat< so oiuoll out
»t' tun.^j Die Wirkung war schon außerordentlich, sodaß der Dichter seine
Absicht, die Gebildeten aufzuklären, erfüllt sah, noch ehe der Roman als Buch
erschienen war. Der Versasser wurde für einen xrg,Le,i<Ziu ÄAriou1t>nri8t, ge¬
halten, und ein Kritiker sagt: it8 viviä as8eriptioir ok llelcl sxorts xrovscl 80
g,ttraotivs to 8vino rskulsi'8, tu^t 0lito«zr8 in eilf c>,rra^, rsturninA' trou koreiAir
ssrvieE, vvoulcl Zo 8traiAllt ta Lver8is^ to 8es vieil tllsir o^vu s^<Z8 s.nel llgg-r
vnd tusir von SÄi'8 leis pg,rsc>u ^vero «zoulcl givs 8V.0I1 ^ picturs c>k IruntinA
8LSU6 !>,8 ditto 0IUZ in tho oxvninA oll^ztsr ok ?«ZÄ8t.
?sast ist kein Roman im landläufigen Sinne. Die eigentliche Geschichte
bildet nur das weite Rahmenwerk, in das der Dichter ein reiches, oft ver¬
wickeltes Gewebe von Ideen, Selbstbekenntnissen und Stimmungen hinein-
gcflochten hat. I6g.8t> bedeutet Gischt, Hefe, Gährstosf; einen kräftig wirkenden
Gährstoff wollte Kingsley mit seiner Erzählung in die Herzen und in die
Geister seiner Landsleute legen. Die oberflächliche Erziehung der englischen
Jugend, das raffinirte, geistlose, selbstsüchtige Leben der Besitzenden und, im
Gegensatz dazu, das armselige, rohe, fast tierische der arbeitenden Klassen, ins¬
besondre der Landbevölkerung, der tote Buchstabenglaube und kaltherzige For¬
malismus der englischen Kirche und die damals unter mystisch angelegten
Naturen um sich greifende Neigung, den Protestantismus zu verlassen und in
den Schoß der allein seligmachenden Kirche zurückzukehren — diese Erschei¬
nungen bilden den eigentlichen Stoff des Romans. Kein Wunder, daß der
künstlerische Aufbau der Geschichte unter der Fülle der Reflexionen und durch
die verschiedenartigen, sich kreuzenden Reformgedanken leidet. Auch die Cha-
rakterzeichnuugen sind nicht scharf und packend ausgefallen. Viele Züge,
z. B. die sehr wichtigen aus den sittlichen Verirrungen des Helden Lancelot
Smith, werdeu nur flüchtig angedeutet, viele, z. B. bei Lancelots Freunde,
dem Obersten Braeebridge, sind unklar und offenbar verzeichnet. Der Roman
ist Bruchstück geblieben. Kingsleh selbst hat diese Fehler wohl erkannt. In
dem Epilog, worin er die meisten Angriffe der Kritik vorweggenommen
hat, spricht er: Ich habe, soweit es in mir lag, den Anfang meines Problems
dargelegt; weise Männer werden nach diesen Anfängen sicher nicht weit nach
dem Schluß auszuschauen haben. In einfachem Englisch: ich habe meinen
Lesern Hefe gegeben. Wenn sie so sind, wie ich denke, können sie selbst
damit backen.
Die Handlung ist folgende. Der dreiuudzwnnzigjährige Lancelot Smith
hat als Sohn eines reichen Kaufmanns eine ganz ungeordnete und oberfläch¬
liche Erziehung genossen. Er ist durch und durch Epikureer. Die materia¬
listische Weltanschauung ist seine Religion. Die sogenannte Wertherstation, das
sentimentale Maserfieber, das alle gescheiten Männer einmal im Leben be¬
kommen müssen, hat er früh überwunden. Byron und Shelley befriedigen
ihn nicht mehr, auch Bulwer fesselt ihn nicht lange. Soweit es die Pflichten
des Sports erlauben, treibt er naturwissenschaftliche und klassische Studien.
Aber beide Studien führen ihn nicht zum Idealismus, sondern zur Sinnlich¬
keit, zum Genuß des Weibes. „Bon seinen Eltern und Lehrern war, wie
üblich, jede Unterhaltung über das Thema der Liebe ängstlich vermieden
worden. Die Bibelstellen, die es berühren, hatte man ihm sern gehalten.
Die Liebe war ihm in der Wirklichkeit verbotnes Gebiet gewesen, galt für
»fleischlich.« Was konnte man erwarten? Gerade was geschah. War nichts
Heiliges in weiblicher Schönheit, warum sollte seine Neigung zu ihr eine
heilige sein? O Väter, Väter! und ihr Geistlichen, die ihr Mustererzieher zu
sein glaubt, sagt entweder dem Knaben die Wahrheit über die Liebe, oder gebt
ihm nicht ohne Anleitung und Erklärung die bösen Teufelslügen darüber, die
den Hauptstoff der lateinischen Dichtungen bilden, in die Hand."
Bei einer Fuchsjagd, die Lancelot Smith mitmacht, kommt er zu dem
Bewußtsein der unerträglichen Leere, in der er sein ganzes Leben zubringt.
Dieses Leben ohne Arbeit, ohne ernste Pflichten, ohne würdige Ziele, wie es
ein reicher Engländer führt, beginnt ihn anzuwidern. Der Sport, dieses Ge¬
misch von Geistesroheit, Überhebung, Selbstsucht und falscher Ritterlichkeit,
wird ihm zur Qual. Ohne rechtes Juteresse und ohne Freudigkeit macht er
die tolle Fuchsjagd mit, die der Baron Laviugtou auf seiner Besitzung Whit-
ford veranstaltet hat. Sein Freund, der Oberst Bracebridge, sieht in Laneelots
Tasche das Buch, Anleitung zu einem frommen Leben von Sankt Franziskus
von Sales, und ein schallendes Gelächter der Spvrtgesellschaft begleitet Brace-
bridges Bemerkung. Ingrimm und Trauer schleichen sich in Lmicelvts Herz.
„Da waren rings die unwandelbaren Hügel, die ans unendlich fernen Zeiten
stammten. Und hier war er, die Eintagsfliege — auf ihnen fuchsjagcnd!
Er schämte sich, und umsomehr, als ihm eine innere Stimme zuflüsterte: Fuchs-
jageu ist nicht schimpflich, aber deiner selbst schäme dich! Bist du eine bloße
Eintagsfliege, so ist es deine Sunde, daß du eine bist."
Die Schilderung der Fuchsjagd gehört zu dem Besten, was Kingsley ge¬
schrieben hat. Selten hat er eine gleiche Kraft, Schönheit und Anschaulichkeit
der Sprache erreicht, wie an dieser Stelle. Es ist einem beim Lesen zu Mute,
als machte man selbst den tollen Reitersport mit. Wir sehen die Landschaft
vor uns mit ihren mannichfaltigen Bildern, den Wäldern und Hügeln, deu
Brachfeldern und Morästen, den stachligen Hecken und schäumenden Bächen.
Wir atmen die frische, feuchte Luft, nur sehen die wechselnde Beleuchtung, den
Duftschleier des Tannenwaldes und die Nebelstreifen der Niederungen. Wir
hören das Gekläff der Meute, das Wiehern der Pferde und das Geschrei der
Treiber. Wir sehen die Reiter herankommen. „Der langsame Gang wurde
zum Trab, der Trab zum Galopp. Dann scholl ein ferner, schwacher, melancho¬
lischer Ruf, dem ein: Fort, ahoi! vom Felde her antwortete. Ein klagendes
Signal des Waldhorns; das dumpfe Donnern vieler Roßhufe, die auf der
andern Waldseite einherpolterten — dann blitzten Rotröcke wie helle Funken
durch den grauen Nebel am Ausgange des Waldwegs. Dann kam ein Treiber
mit zugekuiffuen Augen vorwärts; er brach durch die krachenden Erlenbüsche
und stürzte über das Binsengestrüpp, um einen zurückgebliebnen Hund zu
bringen; dann erschien ein beleibter. Pächter, der eifrig dnrch den Sumpf
stampfte, trotz seiner Eile eingeholt und von den Reitern überspritzt wurde,
die in das offne, biusenbesäete Weideland gelangten. Kibitze und Brachvögel
wurden aufgescheucht, als von allen Seiten die Reiter heranjagten, von denen
die schlauesten, alte Pächter, mit seltsamen Quersprüngen irgend einem wohl¬
bekannten Schlupfwinkel Reinekes zürnten. lind vorwärts stürzte vor Lust
nud Tollheit bellend und heulend die buntgefleckte Meute und schnüffelte und
schwänzelte herum durch die weichen, grauen Nebelschleier auf dem Felde."
Der arme todesmatte Fuchs wird endlich gefaßt, nachdem das nennen
quer über einen alten Friedhof gegangen ist, und die Hunde zwischen den alten
Grabsteinen getobt haben. Lancelot steht bei diesem Anblick wie zerschmettert
da: „Friede und Kampf, Zeit und Ewigkeit, das unsinnige, lärmende Fleisch,
und der stille, unsterbliche Geist, das leichtsinnige Spiel mit des Lebens äußerm
Schein, und der furchtbare Ernst in seineu innern Abgründen stießen unhar¬
monisch in ihm und außer ihm an einander." Der Träumer achtet nicht ans
sein Pferd. Bor der Umzünnnng des Lavingtonscheu Parks stürzt es in
mächtigem Sprunge zusammen. Lancelot bleibt bewußtlos liegen und wird in
das Haus, die Privrei des Barons, getragen.
Aus dem Geschlechte der Laviugtvus lastet ein Fluch. Whitford ist einst
ein Nonnenkloster gewesen; auf die verleumderische Beschuldigung eines Lavington
sind eines Tages die Nonnen verbannt, das Kloster aufgehoben und der Besitz
dem Anklüger gegeben worden. Zu Tode beleidigt, hat sich die Priorin in
deu nahen See gestürzt. Seitdem wird das Haus Laviugtou vom Unglück
verfolgt. Die Töchter des Barons, Agremone und Honoria, suchen durch
kirchliches Leben und fromme Werkthätigkeit deu Fluch zu bannen. Agremone
will barmherzige Schwester werden. Da lernt sie Lancelot kennen. Die Liebe
führt sie nach vielen schweren Seelenkümpfen zur Welt und ihn wieder zu Gott
zurück. Aber Lancelot verliert sein Vermögen, und Agremvnes engherzige
Mutter sucht die Liebenden zu trennen. Da zieht Lancelot in die Welt und
wird ein eifriger Verfechter chartistischer Ideen. Carlyles Buch über den
Chartismus ist sein wirtschaftliches Glaubensbekenntnis. „Ich glaube wirk¬
lich, sagt er in einem Gespräch mit reichen Grundbesitzern, daß wir Vornehmen
alle zu demselben Trugschluß kommen. Wir halten uns für das feste, not¬
wendige Element der Gesellschaft, mit dem sich alle andern abfinden müßten.
Da sind die Rechte der wenigen Reichen festgesetzt, woraus sich die Lage der
vielen Armen ergeben soll. Mir scheint, das andre Postulat ist ebenso richtig:
stellt die Rechte der vielen Armen fest, so ergiebt sich daraus die Lage der
wenigen Reichen."
In Whitford hat Lmicelot den Waldhüter Paul Tregarva gefunden, einen
strengen Methodisten und eifrigen Verfechter des Evangeliums. Beide schließen
Freundschaft und täuschen ihre Kenntnisse und Anschauungen aus; denn, meinen
sie, weder die Wissenschaft noch das Evangelium kann getrennt die Welt ver¬
bessern, das kann nur geschehe,,, wenn Wissenschaft und Evangelinm vereinigt
zusammenarbeite«.
Die schweren Schicksalsschläge, vor allem Agremones Tod, haben Lan-
celot geläutert, ihm deu Blick für das Elend des Volks geöffnet und ihm
wieder den Weg zu Gott gewiesen. Bon der Fuchsjagd, dem rohesten Sport,
durch eine reine, keusche, unglückliche Liebe zu dem festen Glauben um Gott
und seine Offenbarungen — das ist der Weg, den uns Kiugsleh in seinem
Romane führt. Die Dichtung ist reich an Lebeuswahrheiteu und sonstigen
feinen Bemerkungen. Vortrefflich sind die volkswirtschaftlichen Gedanken über
den ererbten Reichtum, das Elend der Armen, die GesuudheitsrefvrM, die
Eigcutumspflichten der Besitzer, den Wert der Autoritäten, die verfehlte Art
der Armenunterstützung und die Seelsorge der Geistlichen. „El, Herr, sagt
der Waldhüter zu Lancelot, die Pastoren wollen recht gern für die Seelen
sorgen, doch soll es nur immer mich Regel und Ordnung geschehen. Ehe das
Evangelium gepredigt werden kann, müssen dreitausend Pfund für eine Kirche
beisammen sein und tausend, für deren Ausstattung, ohne die tausend Pfund,
die schon die Ausbildung des Geistlichen kostet. seinen Unterhalt rechne ich
gnr nicht, Herr, der ist meistens schmal genug, und die arbeite», werden, wie
mir scheint, am wenigsten bezahlt. Nach all den Ausgaben nun, wenn die
Kirche gebaut ist, da gehen die Kaufleute hinein und der Adel und die alten
Leute, aber die Arbeiter kommen ihr nicht zu nahe vou einem Jahresende bis
zum andern." Es steckt in I'vast ein gutes Teil von Kingslehs inneren Leben,
viele Züge seines eignen Wesens hat er seinem Helden Lancelot beigelegt,
und wir sind wohl zu der Annahme berechtigt, daß der Dichter die mystische
Pforte der Kathedrale am Schluß des Romans nur als ein Sinnbild für den
geistlichen Beruf, der für Lancelot der wahre Beruf ist, aufgefaßt hat. Ouum
vxöunt in inMorwm, mit diesem Ausspruch sucht sich KingSleh in seinem
Epilog wegen des rätselhaften Schlusses zu rechtfertigen.
Aber trotz diefes Epilogs läßt uns der Roman unbefriedigt. Es sind
zu viel Fragen und Zweifel angeregt worden, als daß man sich mit einem
lateinischen Zitat begnügen könnte. Es treten zu viel Personen auf, deren
Schicksal man ganz kennen lernen möchte, die der Dichter aber dann einfach
verschwinden läßt, so z. B. der zum Katholizismus übertretende Vetter Lukas,
der wunderliche Fremde Barnakill, der gutgezeichnete, weltliche Pfarrer
O'Blarenway und das liebenswürdige Künstlcrehepaar Claude Mellot und
Sabina. Kingsleh hat diese Mängel wohl empfunden. Wie aus seineu
Briefen und Gedenkblättern hervorgeht, beabsichtigte er den Roman fortzu-
setzen. So schreibt er 1849 an seine Fran: „^ögLt soll nicht tot sein, sondern
unter neuem Namen und mit neuen Szenen wieder erstehen. Im nächsten
Teil »Die Künstler« will ich versuchen, das verwickelte Garn durch Gespräche
über Kunst zu entwirren, die natürlich die tiefsten Fragen der Wissenschaft,
der Anthropologie, des sozialen Lebens und des Christentums mit berühren
werden. Wenn ich die Kunst eines Volks sür das echteste Sinnbild seines
Glaubens und als bedeutendes Erziehungsmittel betrachte, so halte ich sie
auch für geeignet, den Geist meines Helden, des Mannes der Zukunft, zu
bilden. Er, sein Freund Mellot und sein Vetter Lukas, der eben Romantiker
geworden ist, sollen die drei großen Schulen vertreten: Mellot das klassische
Heidentum und den französischen Fourierismus, der heutzutage die alten philo¬
sophischen Lehren zu verwirklichen scheint; Lukas die spätere manichüische oder
rein geistige Schule; Lancelot versucht die historische Malerei, findet keinen
Stoff und geht auf Landschaft und Tiere zurück bis zum einfachen Natu¬
ralismus unsrer Lcmdseer und Creswick, der Vertreter unsrer einzigen lebens¬
fähigen Kunstschule, die in England jetzt möglich ist; er wird durch Tregarvas
einfaches Christentum über seinen bloßen Naturglauben erhoben, während er
von ihm zugleich die echte, demokratische Gesinnung annimmt, die das Schöne
sowohl den Armen wie den Reichen als Erbteil gönnt. Tregarva ist der
Typus des englischen, tnnsthasfenden Puritaners, der nach und nach von der
göttlichen Mission der Kunst überzeugt wird und erkennt, daß diese Mission
vom Protestantismus, nicht vom Papsttum ausgeht. So glaube ich, daß
Lancelot, der auf seinen Naturalismus Trcvnrgas Christentum, Mellots
Klassizität und den geistigen Symbolismus von Lukas pfropft, befähigt wird,
der vermittelnde Künstler der Zukunft zu werden." Diesen Künstlerroman
hat Kingsley nicht geschrieben, andre, neue und größere Entwürfe zogen ihn
davon ab. Dagegen spinnt er die in ^east abgerissenen Fäden weiter in dem
spätern Roman '.l'vo ^e-u-L ^go.
Kingsley trat mit seinem Roman ^öiist sofort in die Reihe der ersten
Schriftsteller seiner Zeit. Die Wirkung und der Erfolg des Werkes war um
so größer, als sich ein paar Jahre vorher unter dem englischen Landadel eine
reaktionäre Bewegung, der sogenannte Tory-Sozialismus, gebildet hatte. Unter
Pnseys Einfluß hatte sich eine Gesellschaft junger Lords zusammengethan, die
sich ,,Jung-England" nannte, und deren Führer der Dichter John Manners
war. Sie waren in allen sozialen, kirchlichen und politischen Fragen Roman¬
tiker. Sie schwärmten für die gute alte Zeit, haßten die Großindustrie und
die ihnen an Reichtum überlegnen Fabrikbesitzer nud Baumwvlleulords; echt
romantisch sang Manners:
Bor allem eiferten diese Tory-Sozialisten gegen die von Kingsley verlangte
Eigenhilfe der Arbeiter, gegen die genossenschaftlichen Bestrebungen und gegen
die Ansprüche der Arbeiter auf alle staatsbürgerlichen Rechte. Die sozialen
Schäden seien zu beseitigen durch Almosengeben, durch Wohlfahrtseinrichtungen
und durch Gnadenakte der Kirche, der Krone und der Aristokratie. Nur nus
Nache gegen die Industriellen, die die Aufhebung der Korngesetze bewirkt
hatten, traten diese Lords für die Fabrikarbeiter ein und forderten die Ar¬
beiterschutzgesetze. Als aber später auf dem Lande dieselben Reformen ver¬
langt wurden, lehnten die Großgrundbesitzer jede Änderung ab; im Gegenteil,
sie verlangten, daß auf dem Lande das patriarchalische Abhängigkeitsverhältnis
der guten alten Zeit wiederhergestellt werde. Dieser reaktionären Bewegung
des jungen Englands bemächtigte sich der begabte, schlaue und ehrgeizige
Litterat Benjamin Disraeli. Er schrieb zwei Romane LioninZ»^ (1344) und
LMl (1845), worin er den mhstisch-romantischen Geist der jungen Lords
feierte, den Adel den einzigen Führer des Volkes nannte und den Landarbeiter
aufforderte, sich unter die Führung „seines natürlichen Oberherrn" zu stellen.
„Das Volk ist nicht stark — sagt Disraeli —, es kann nie stark sein. Alle
seine Versuche, sich selbst zu helfen, werden nur in Leiden und Verwirrung
enden." Man muß diese von Disraeli vertretne litterarische Richtung
des Tory-Sozialismus kennen, um die gewaltige Wirkung zu verstehen, die
Kingsleh mit seinem Roman in der ganzen englischen Gesellschaft
hervorrief.
Die in diesem Werke vvrgeschlagncu landwirtschaftlichen Reformen sind
nicht bloße Träumereien gewesen. Kingsleh ist immer wieder darauf zu¬
rückgekommen, so in einem Vortrage, den er im Jahre 1857 in London in
der Loe-ist^ lor kwmotin»' ^vrkin»' Uhu's ^88vent,ion8 gehalten hat. Hier
macht er unter anderm den Vorschlag, zehn Familien möchten sich vereinigen,
um Land zu kaufen, und dann nach einem vo-opör-rtivs prinoixlo arbeiten.
Derartige Handarbeiternssoziativnen haben sich thatsächlich in England gebildet.
Im Jahre 1890 hatten sie bereits 2022 Acker Land unter dem Pfluge. Es
sind auch zahlreiche Gesellschaften in England entstanden, die sich mit der I^mal
^UL8Le»n beschäftigen, den Kleinbauernstand wieder heben und dem Arbeiter zu
einem Häuschen und einer Kuh verhelfen wollen, denn eilf vero is du» Mvlior
vniod tÄ8t,em8'tus lÄboursr eointdrtcidl/ de, in8 tair Imvön. Dieser ganzen
Reform hat Kingsleh die Richtung gegeben, und sein Roman hat dabei
nicht nur die Köpfe aufgeklärt, sondern, was mehr wert ist, auch die Herzen
geöffnet.
In einer Arbeitervcrsammlnng, der Kingsleh im Juni 1849 beiwohnte,
lernte er den Chartistenführer und Volksdichter Thomas Cooper kennen. Er
schloß Freundschaft mit ihm und führte den erbitterten Revolutionär und
Atheisten allmählich so weit zum christlichen Sozialismus und zu einem frucht¬
baren Glauben, daß Cooper schließlich das Amt eines Predigers in einer
Dissentcrgemeinde übernehmen konnte. Auch andre praktische Erfolge blieben
nicht aus. Wahrend der im Herbst 1849 in England wütenden Cholera eilten
die christlichen Sozialisten sofort den Arbeitern zur Hilfe und suchten durch
praktische Maßregeln der Seuche entgegenzuwirken. Sie gewannen dadurch mit
einem Schlage das Vertrauen der untern Volksschichten.
Es trat aber noch ein andres Ereignis hinzu, das zur Verbreitung ihrer
Grundsätze mitwirkte. Ju der Zeitung I'Ire Norning' Llbronivlö waren im De¬
zember 1849 entsetzenerregende Schilderungen von dein Elend nnter den Lon¬
doner Schneidergesellen erschienen. Das Sweatersystcm der Afterunternehmer,
die den Arbeitern mit einem Hungerlohn den Schweiß (s>vög.t) austreiben, um
durch unglaublich billige Preise jede Konkurrenz tot zu machen und alle Käufer
nach ihren »licnv-sliops zu ziehen, hatte einen ganz gefährlichen Umfang an¬
genommen. Selbst die englische Bibelgesellschaft arbeitete mit dem Schwitzer¬
system, sodaß die armen Mädchen, die die Bibeln einzubinden hatten, ihren
Lebensunterhalt nebenbei nur durch die Prostitution finden konnten. Die in
verpesteten Höhlen angefertigten billigen Kleidungsstücke hatten wiederholt an¬
steckende Krankheiten. Schwindsucht, Scharlach, Blattern n. s. w. bis in die
höchsten Kreise verschleppt, eine Folge der Geldgier der Unternehmer. Dagegen
mußte einmal rücksichtslos zu Felde gezogen werden. '
Unter dein angenommenen Namen Parson Lot schrieb Kingsley im Jahre
1850 seine Broschüre: dluZÄx <Ac)t1is8 -ruck ^lilsty, Billige Kleider und ekel¬
hafte. „König Ryenee, so beginnt Pfarrer Lot, trug nach der Legende vom
Prinzen Arthur einen Überrock, besetzt mit den Bärten von Königen. In der
ersten französischen Revolution, so versichert uns Cnrlyle, gab es zu Meudon
Gerbereien für Menschenhand. Mammon, gleichzeitig Tyrann und Revolutionär,
folgt diesen beiden edeln Beispielen — in einer ehrbaren Weise unzweifelhaft,
denn Mammon haßt Grausamkeit. Körperliche Pein ist ihm der Teufel, das
schlimmste aller Übel, das er sich in seiner Verweichlichung vorstellen kann.
So schreit er voll Mitleid auf, wenn ein besoffner Soldat gepeitscht wird,
aber er besetzt seine Überröcke und schmückt seine Beine mit dem Fleisch von
Männern und der Haut von Weibern, mit Entehrung, Seuchen, Heidentum
und Berzweiflnng, und dann schmunzelt er voll Behagen über die Kleinheit
seiner Schneiderrechnung. Heuchler! der du Mücken selbest und Kamele ver¬
schluckst! Was ist Peitschen und Hängen, was der Überrock des König Ryenee
oder die Gerbereien von Meudon verglichen mit der Sklaverei, dem Verhungern,
der Aufreibung des Lebens, der jahrelangen Gefangenschaft in Höhlen, die
enger und schmutziger als die der Inquisition sind, und worin Tausende von
englischen Arbeitern leben!" Die Schrift erregte einen Sturm der Entrüstung.
Man wurde von dem Elend ergriffen, und alle Welt sammelte zur eignen Be¬
ruhigung Almosen für die armen Schneider, ohne zu bedeuten, daß ein ganzes
falsches System nicht durch Geldspenden beseitigt werden kann.
Um die Flnchwürdigkeit dieses Systems den gebildeten Lesern noch ein¬
dringlicher zu Gemüte zu führen, schrieb Kingsley seinen Roman ^Iton I^volee,
Lailor Ma 1>ost. ^utobioAravuz^. Er ist, wie ein Kritiker sagt, ins
nobis«t> MA nrost olnirg.<ztsri8die; boolc, ire one,e Iris Areiltest poein unä bis
Fr-rnciest sermon. Cnrlyle rühmt an dem Roman: iidunclg-roe, na^ sxubsriZ.roe
os generous luz-rcklong' iinpetuosit^ ok cletorininÄtion tovarcks the nrmrkul
siäs vn all manner ok ciuestions; snÄtobsK ok exoollsnt pvet-le cleLvription,
ovvÄ3iovÄl 8undui'8tL ok noble LnsiZItt; voor/vltvrs Ä vertitin vital intensiv,
vniolr boläs the re-raker kÄkt b)- -i. »pett.
^Iton I^volee (^.'auellnit« Lclition. Übersetzt von P. Spangenberg und
M. von Harbvu, Leipzig, F. A. Brockhaus, 1891) gehört zu den
wirkungsvollsten Romanen der englischen Litteratur. Die furchtbaren Bilder
menschlichen Elends, die der Dichter hier entwirft, die unglaubliche Ver¬
kommenheit der untern Schichten in London, die Kaltherzigkeit und Roheit
der Arbeitgeber, die sittlichen Schaden unter den Geistlichen und im Kirchen-
regiment, die fieberhaften Agitationen der Chartisten nach der französischen
Februarrevolution, heftige Parteikämpfe und blutiger Aufstand — alles Prägt
sich unserm Geiste unauslöschlich ein. Mitten in diesem Wirrwarr politischer,
religiöser und sozialer Kämpfe steht der Held des Romans, Akkon Locke, der
Handwerker und Volksdichter, der zu Grunde geht, ohne seine sozialen Träume
verwirklicht zu sehen.
Akkon Locke wächst in einem der armseligsten Viertel Londons auf. Nach
dem frühen Tode des Vaters wird die Mutter mit ihren beiden Kindern
kümmerlich von Verwandten unterhalten. Die Mutter gehört zur Baptisten¬
gemeinde und gilt dort als eine „Auserwühlte im Herrn." Mit bitterm
Groll sieht Akkon, wie die Prediger die „Mutter in Israel" immer mehr
umstricken und keine Bedenken tragen, der Ärmsten auch noch ihr dürftiges
^we zu nehmen. Er sagt sich im Innern von der Gemeinde los; zwei
Bücher tragen ihn heraus aus seiner verpesteten Umgebung, aus seinem Ge¬
fängnis von Eisen und Stein, über dem ewig eine undurchdringliche Decke
aus Nebel und giftigem Rauch liegt: die Bibel und BnuynnS berühmtes
Werk: Die Wallfahrt des Pilgers. Die jüdischen Männer aus der Bibel:
Moses, Gideon, Simson werden seine Helden. Dann liest er Missionsschriften,
und es ergreift ihn ein glühendes Verlangen, alle ausländische Pracht
on sehen, die in jenen Schriften geschildert wird. „Es steht mir noch
klar vor Augen — sagt er —, wie ich mich eines Tages in dem kleinen,
schmutzigen, dunstigen, stinkenden Hinterhof aufhielt, der nur zwölf Fuß ins
Geviert maß, und dessen himmelhohe, rußige Feuermauern jeden Luftzug
und fast alles Himmelslicht ausschlossen. Ich war zwischen der Mauerecke
und der Wassertonne hinaufgeklettert und wollte aus der trüben Flüssigkeit,
mit Ruß bedeckt war, und die von Insekten wimmelte — denn das
Wasser wurde nur selten erneuert —, ein paar von den großen Larven und
andern umherschwimmenden Ungeheuern fischen, die einen so wichtigen Teil
meiner Naturwunder ausmachten. Da packte mich plötzlich ein Entsetzen vor
diesem Orte. Die düstern Kerkermauern über mir mit ihrem Baldachin von
fahlem Rauch, das trübselige, schlüpfrige, unebne Pflaster, der schauderhafte
Gestank des faulenden Pfuhls, der völlige Mangel an Form, Farbe und Leben
ringsum drückte!? mich nieder, ohne daß ich mir damals meine Gefühle so
hätte erklären können, wie ich es jetzt kann. Dann aber überkam mich jener
Traina von den Südseeinseln und der freien, offnen See. Ich glitt hinab
von meinem hohen Sitz. Mit heißen Thränen warf ich mich im Hof auf
die Kniee und betete laut zu Gott, er möchte mich Missionar werden lassen."
Aber der erste Missionar, den Akkon in seiner Familie zu sehen bekommt,
widerspricht so sehr der Vorstellung, die er sich von einem solchen Murne
gemacht hat, daß er seine welterobernden Träume aufgiebt und als Lehrling
in eine Londoner Schneiderwerkstatt eintritt. Mit unübertrefflicher Wahrheit
schildert nun Kingsleh das erbärmliche Leben, das die Arbeiter in den Lon¬
doner Werkstätten führen, bis sie, von den Arbeitgebern aufs äußerste aus¬
genutzt, endlich an der Schwindsucht zu Grunde gehen: „Eine niedrige Stube
mit schiefer Wand, in der mir eine erstickende Luft entgegenschlng, ein Gemisch
von Menschenatem und Schweiß, abgestandnem Bier, dem süßlichen, ekel¬
erregenden Geruch des Wachholderbranntweins und dem sauern, kaum minder
ekelhaften des neuen Tuchs. Auf dem Fußboden, der dick mit Staub und
Schmutz, Tuchschnitzeln und Fadenenden bedeckt war, saßen etwa ein Dutzend
hagere, nachlässig gekleidete Männer ohne Schuhe, mit halb abgehärmten, halb
gleichgiltigen Gesichtern, vor denen mir graute. Die Fenster waren fest ge¬
schlossen, um. die kalte Winterluft abzuhalten. Von den Scheiben lief der
verdichtete Atem in Strömen herab und verwischte die trübe Aussicht aus
Schornsteine und Rauch."
In dieser Werkstatt lernt Akkon den Chartisten oder Sozialdemokraten
John Croßthwaite kennen. Durch einen alten Buchhändler, Sands Mackah,
in dessen Charakter Kingsleh einige Züge seines Freundes Carlhlc verwoben
hat, werden ihm Bücher zum Studiren überlassen. Akkon nutzt, vom Wissens¬
durst ergriffen, jede freie Stunde morgens, abends und nachts aus, um seine
Bildung zu erweitern. Seine Mutter und die Geistlichen geraten in Ent¬
rüstung über sein weltliches Treiben. Es kommt zum offnen Bruch zwischen
Mutter und Sohn. Akkon braust in wildem Zorne auf. „Religion? ruft er.
Kein Mensch glaubt daran. Die Reichen nicht, sonst würden sie ihre Kirchen
nicht mit verschlossenen Stühlen anfüllen und die Armen ausschließen, die sich
doch mit ihnen die ganze Zeit in der Kirche Brüder nennen. Die Reichen
sollten an das Evangelinm glauben? Warum lassen sie denn die Männer,
die ihnen die Kleider machen, in einer solchen Hölle auf Erden verhungern,
Wie unsre Werkstatt ist? Ebensowenig glauben die Geschäftsleute daran, sonst
gingen sie nicht von der Predigt uach Hause, um Sand in den Zucker und
Schlcheublätter in den Thee zu mischen , lügnerische Anpreisungen ihrer ver¬
fälschten Waren hinauszuschicken und den letzten Heller den armen Geschöpfen
abzupressen, die in elenden stinkenden Hüufern zur Miete wohnen. Und die
Arbeiter — die lachen über das alles, so viel kann ich dir sagen. Denen
nützt die Religion was Rechtes! Du kannst selbst sehen, daß sie nur für
Frauen und Kinder taugt. Wohin du gehen magst, in Kirchen und Kapellen,
siehst du fast nur Franenhüte und Kinder. Ich glaube kein Wort davon —
ein für allemal! Ich bin alt genng, selbst zu denken, und ein Freidenker will
ich sein und nichts glauben, als was ich weiß und verstehe!" Akkon zieht
endlich zu Sandy Mackah, dein seltsamen aber gutmütigen Buchhändler, der
mutterseelenallein in einem dunkeln Laden zwischen seinen alten Scharteken ein
beschauliches Leben führt. Die Schriften und Bücher der Hochtories und
Venthamiten hat er gekreuzigt oder an Bändern an der Decke seines Ladens
aufgehängt. Über dem Kamin zwischen Pfeifen, Federn und Eßwaren steht
Michelangelos hautloses Modell, und daran hängt ein Zettel mit der Aufschrift:
Eines Tages wird Akkon mit seinem Better Georg bekannt, einem
lustigen Streber und orthodoxen Theologen von der Universität Cambridge.
Auf einem Spaziergange gehen sie in die Dulwicher Gemäldegalerie. Hier,
vor dem Gemälde des heiligen Sebastian lernt Akkon einen Gelehrten,
den Dechanten Winnstah aus Cambridge, und dessen reizende Tochter
Lilian kennen. Die erste Liebe schleicht sich in des armen Burschen Herz.
Er trüuiut und dichtet und lebt nur in Liebesliedern. Aber der alte
Saudy reißt ihn aus seinen unfruchtbaren Trünmeu und führt ihn zurück
zu seiner natürlichen Bestimmung, der eines Volksdichters. „Um dich her,
sagt er, in jeder Branntweinschenke und jedem Gemüsekellcr, streiten Gott
und Satan mit einander um Tod und Leben, jede Dachkammer ist ein Ver¬
lornes und wiedergefundnes Paradies, hältst du es noch für deiner un¬
würdig, ein Volksdichter zu werden?"
Akkon Locke studirt nun die Maler, um seine Phantasie zu bereichern, er
arbeitet sich durch Carlyles Geschichte der französischen Revolution, um seine
Begriffe über Staat und Gesellschaft zu klären, er vergräbt sich in Tennysons
Gedichte, um dessen demokratische Richtung zu verstehen und sich an der Schön¬
heit seiner Sprache zu begeistern. In seinen eignen ersten Versuchen lehnt er
sich an den Stil seiner Lieblingsdichter Burns und Tennyson. Aber Sandy
ruft ihm zu: „Mach dir einen eignen Stil, Junge! Bist so wenig ein schot¬
tischer Tagelöhner, wie ein Lineolner Gutsherr. Geh deinen eignen Weg und
laß sie den ihren gehen! Erfinde dir einen kräftigen, einfachen, breitspurigen
Sachsenstil!"
Als seine Werkstatt in einen stop-stop mit Schwitzershstem verwandelt wird,
verläßt Akkon sein Handwerk. Er tritt zu den Chartisten über, bleibt bei Sandy
und schreibt Volkslieder. Sands giebt ihm den Rat, nach Cambridge zu wandern,
seine Gedichte dein Vetter Georg vorzulegen; vielleicht werde der für die Ver¬
öffentlichung sorgen. So beginnt denn Akkon seine Wanderung, die ihn zum
erstenmale aus deu Mauern und Straßen Londons in eine ihm ganz neue Welt
führt. Er kommt in Cambridge an und gerät in ein großes Wettrudern;
aber auch sein Verlornes Götterbild, Lilian Winnstah, findet er wieder. Er
besucht den Dechanten Winnstay, und dieser ist bereit, für Altorf Gedichte
einen Verleger zu schaffen, wenn Akkon einige besonders feindselige Lieder aus
dem Buche entferne. Nach langem Zögern geht er darauf ein, und die Gedichte
werden gedruckt. Bei seiner Rückkehr nach London erführe er den Tod seiner
Mutter. Damit schließt der erste Band.
Im zweiten Teile sehen wir Akkon in seiner Thätigkeit als Chartistenführer
und Volksredner. Er wird Mitarbeiter einer sozialdemokratischen Zeitschrift,
lernt aber bald die ganze Kritiklosigkeit und Gemeinheit des Redakteurs kennen,
überwirft sich mit ihm und wird seitdem fortwährend als Verräter angeschwärzt.
Dazu kommeu andre Enttäuschungen, sodaß Akkon gar an Selbstmord denkt.
Da reißt ihn ein Aufstand auf dem Lande aus seiner Verzweiflung. Er will
hinaus zu den Landleuten und ihnen die Grundsätze der Charte predigen.
Das Kapitel, worin Kingsley dieses Unternehmen seines Helden schildert, ist
das farbigste des ganzen Romans. Die öde, verdorrte Landschaft, das vor
Hunger und Elend stumpfsinnig und tierisch gewordne Volk, die wunderlichen
Erscheinungen der Volksredner, die konfusen Reden, die sie halten, die brüllende
Masse — alles schreckt den jungen Dichter einen Augenblick zurück. Endlich
packt ihn der ganze, lange unterdrückte Ingrimm gegen die besitzenden Blut¬
sauger, und er hält auf freiern Felde eine stürmische Rede. Die Massen ge¬
raten in wilde Erregung, sie schreien nach Brot, nach Raub, Mord und Brand.
Sie überfallen eine Farm und wüten darin wie die Bestien. Als Militär
heranrückt, flieht die feige Menge aus einander. Akkon Locke, der vergebens
versucht hat, die Unholde von ihrem wahnsinnigen Beginnen zurückzuhalten,
wird gefangen genommen. Nach einem längern Verhör wird er zu drei Jahren
Gefängnis verurteilt.
Seinem vergitterten Fenster gegenüber wird auf einem freien Platze eine
Kirche erbaut, und mit bitterm Groll sieht er seinen schlauen und glücklichen
Vetter Georg in dieser neuen Kirche amtiren. Endlich erlangt er die Freiheit
wieder. Inzwischen ist die Februarrevolution ausgebrochen; aber die Londoner
Chartistenbewegung vom 10. April 1848 wird vereitelt. Allons Begeisterung
sinkt völlig, er bricht zusammen, wie er seine angebetete Lilian in den Armen
Georgs erblickt. Sein alter treuer Sands MackaN ist gestorben. Endlich
bricht eine gefährliche Krankheit über ihn herein. Er hofft in einem andern
Klima zu gesunden: mit John Croßthwaite begiebt er sich nach Mexiko.
Während der Reise schreibt er die vorliegende Autobiographie und stirbt, ohne
in das Land der Freiheit den Fuß gesetzt zu haben.
s war eine unvergeßliche Schreckensnacht. Wenn es noch die
Walpurgisnacht gewesen wäre, da hätte man wenigstens denken
können, es wäre Hexerei im Spiele gewesen. Aber es war um
Johanni. Es war eine der kürzesten Nächte des Jahres. Und
doch — wie lang ist sie mir geworden!
Wie das kam, das muß ich schon darum erzählen, daß der gallige Reise¬
onkel aus Ur. 23 und 24 der Grenzboten sieht, daß es auch noch Leute giebt,
die nicht so reisen wie sein Berliner Kommerzienrat. Bon einem süddeutschen
Kirchenfürsten, der mit seinen theologischen Anschauungen nicht recht Farbe be¬
kennen wollte, weil er es weder mit rechts noch mit links verderben mochte,
pflegte mau zu sagen, er wäre der umgekehrte Luther: „Ich kann auch anders!"
Ja, es giebt noch Leute, die auch anders können, als der blasirte Dutzend¬
reisende, der bloß „dagewesen" sein will.
Ich habe zum Beispiel dann und wann das Bedürfnis, auf hoher Berges¬
spitze einen Sonnenaufgang zu genießen. Dies Schauspiel hat ja von jeher
empfindsame Gemüter angezogen und dichterische begeistert, in die Saiten zu
greifen- Mancher macht sich freilich das Dichten bequem und besorgt es in
Schlafrock und Haufschuhen am Schreibtisch. Wenn dann ein solcher Dichter
einmal genötigt ist, eine Nacht ans der Eisenbahn zuzubringen, und bei dieser
Gelegenheit endlich einmal die Sonne aufgehen sieht, dann heißt es: „Das
nlso ist der Sonnenaufgang, den ich so oft in meinen Gedichten besungen und
beschrieben habe!" Zu denen gehöre ich nicht. Damit der geneigte Leser eine
gute Meinung von mir bekomme, will ich ihm zunächst ein paar andre, schönere
Nächte vorführen. Und wenn es nur wegen des Kontrastes wäre.
Es war im Jahre 1861 an der „Affäre." Der Leser merkt Wohl schon,
daß es in der Schweiz war. Affäre bedeutet Auffahrt, Himmelfahrt, und
wird mit möglichst langem U gesprochen, während das a so kurz ist, daß man
es vor dem r kaum hört: Ufrt. Ich war damals ein junger Geselle und
mußte überall sein, wo überhaupt jemand war. Ob einer geköpft wurde, ob
bei einem Feuerwerk auf dem See eine Brücke unter der Last der Menschen
zusammenbrach, ob am „Sechsilüte" Narreteidinge getrieben wurden, oder ob
man am Tage von Sempach mit feierlichem Ernst immer wieder der Freiheit
eine Gasse brach — üllerall mußte ich dabei sein. Da fehlte ich natürlich
auch nicht unter den vielen tausend Zürichern, die in der Himmelfahrtsnacht
auf den geliebten Ütliberg pilgern — pilgerten, muß es wohl heißen, denn
jetzt geht dort auch die unvermeidliche Eisenbahn. Das war ein wonniger
Nachtmarsch, viele Stunden lang, immer mit dem erhebenden Bewußtsein, daß
sich da unten in dumpfer Kammer die Welt träger, erschlaffender Ruhe hin¬
gab. Endlich, kurz vor dem Ereignis des Tages, war man oben. Schon
schimmerte es verdächtig im Osten. Aber wo bleiben? Der ganze Berg
war zur Feier des Tages schwarz vou Menschen. Da war kein Plätzchen
mehr unbesetzt, auf dem man das große Schauspiel hätte sehen können. Aber
wann wären wir damals um Rat verlegen gewesen? Wir erkletterten das
Dach des Gasthauses, setzten uns rittlings auf den First und erlebten in dieser
Lage einen Sonnenaufgang, der sich allerdings vor jedem Dichter hätte sehen
lassen können, und der mir noch nach mehr als dreißig Jahren vor der
Seele steht.
Daun war es 1871. Eine wundervolle sternschnnppengesegnete August-
uacht am Rhein. Meine letzte Nacht als Student! Vou Bonn ging es mit
dem Abenddampfer rheinaufwärts. Einige gute Freunde gaben das Geleite.
Und da die Wirtschaft auf dem Drachenfels in der Nacht geschlossen ist, und
wir doch auf dem Drachenfels den Abschied feiern wollten, so begleitete uns
auch ein Bonner Dienstmann mit einem stattlichen Korbe, aus dem uns unter¬
wegs, namentlich beim Aufstieg, etliche mctallverlapselte Flaschenhälse hoffnungs-
reich entgegenleuchteten. Oben lagerten wir uns, sahen den Himmel an mit
seinen vielen Sternschnuppen, wurden wehmütig gestimmt, sangen dann wieder
fröhlich, trauken dazwischen aus ewige Liebe und Treue, und so kam der Morgen.
Als die Sonne ihre ersten Strahlen über unsre Häupter weg, über das Flu߬
thal weg, hinüber in die Berge der Eifel sandte, fielen wir uns gerührt in
die Arme und schieden vou einander. Die Freunde fuhren rheinabwürts, um
noch weiter an den Brüsten der nimm uuitsr zu ruhen, ich fuhr rheinaufwärts,
um fürs Examen zu arbeiten.
Dann war es 1880, in einer Mainacht um ein Uhr. Ich lag 8000 Fuß
hoch am Feuer und schlief. Und ich schlief gut, obwohl ich lag wie weiland
der Erzvater Jakob, einen Stein unter und den weiten Himmel über meinem
Haupte. Da weckten mich die unbarmherzigen Führer. Aber es mußte sein. Denn
wir wollten bis Sonnenaufgang noch etwa 5000 Fuß zurückgelegt haben. Das
gelang auch. Wir waren so früh auf dem Gipfel des Pic vou Teneriffa,
daß wir vor dem eisigen Winde noch eine Zeit lang in dem noch immer nicht
ganz erloschnen, stark nach Schwefel riechenden Krater Schutz suchen mußten.
Auf einmal rief ein Führer: lÄ sol! Ich hinter meinem Felsenversteck heraus,
und — ja, wenn ich hundert Jahre alt würde, nimmer würde ich das Bild
vergessen! Im weiten Bogen zu unsern Füßen ein Wolkenmeer. Plötzlich ein
Windstoß, der die Wogen teilte. Da sah man nun tief hinab auf das wirk¬
liche Meer, das sich aber uns gegenüber scheinbar wieder hoch erhob, sodnß
uns die Kinn näher zu sein schien als die Küste. Und aus diesem wunder¬
baren Gewoge stieg auf einmal in strahlender Schöne das große Tagesgestirn.
Laß mich schweigen, Leser, wo Worte doch nur kindisches Lallen sind!
Und nun — ja, nun kommt der Brocken! Es war im Jahre 18 . . Die
Schatten eines langen Junitages wurden länger und länger. Wir waren mit¬
tags von Harzburg aufgebrochen, hatten beim Canossadenkmal sehr gemischte
Gefühle gehabt und kletterten nun über die Pflasterstvßklippen. Ein angenehmer
Name! Aber was thut das dem Wanderer mit dem Sträußchen am Hute,
dem Stab in der Hand, dem Reisesack auf dem Rucken und dem abgetropften
Hemdcnkrageu? Verlöre nur nicht die bessere Hälfte bald den über den Arm
gehängten Hut, bald die über den Arm gehängte Jacke! Da muß natürlich der
galante Mann wie ein munteres Hündlein einen hübschen Teil des Weges
doppelt machen. Wie tugendhaft! Freilich das Taschentuch, das beim Aus¬
ruhen auf das Moos eines Felsens ausgebreitet und dann vergessen worden
war, das lassen wir bei aller Tugendhaftigkeit ruhig liegen, als wir nach einer
halben Stunde den Berlnst merken. Es wurde so wie so immer später, die
Schatten wurden immer länger und die Beine immer müder. Ja, rechtschaffen
milde waren wir, als wir endlich am Abend gegen nenn Uhr unsre Füße über
die gastliche Schwelle des Brockenhvtels setzten.
Das Abendessen und der Niersteiner waren gut. Die Herren Mitesser
konnten natürlich mit ihrem Tabak nicht warten, bis alle mit Essen fertig
waren. Diese ewige Nancherei! Wann wird man sich in Deutschland einmal
unbehelligt von Tabaksqualm seiner Ernährung widmen können? Ich war
damals selbst noch Raucher. Aber schon damals war mir das aufdringliche,
rücksichtslose Gepaff an der Wirtstafel und in Gegenwart von Frauen ein
Greuel. Ich hatte es schon auf der Zunge, zu sagen: Meine Herren, unser
Essen genirt Sie doch hoffentlich nicht beim Rauchen? Aber wer zu fo un¬
passender Zeit und an so unpassendem Orte raucht, der benimmt sich auch
sonst unpassend und setzt auch noch andre Rücksichten außer Acht, die gebildete
Menschen auf einander nehmen: er wird grob. Da heißt es denn, sich mit
schweigender Verachtung wappnen. Leider werden die Raucher in Deutschland
immer rücksichtsloser. Ich kenne eine Stadt, da hielten neulich Magistrat und
Bürgervvrsteher eine gemeinschaftliche Sitzung ab, zum erstenmale in dem neuen,
fürstlichen, allerdings auf Pump gebauten Rathause. Siehe, da holt sich ein
Vater der Stadt ganz gemütlich eine Cigarre heraus, steckt sie an und will
aus allen Himmeln fallen, als ihm das verwiesen und ihm gesagt wird, man
wolle doch den neuen Rathaussaal nicht gleich wieder so eiuräucheru wie den
alten. Wo raucht überhaupt der Deutsche nicht? In der Pferdebahn? Da
ist freilich ein Verbot angeschlagen, aber wer kümmert sich drum? Die
Schaffner gewöhnlich nicht, und wenn sich der Mitfahrende selbst helfen soll,
dann giebt es Rede und Gegenrede und Verdruß und höchstens ein Ausgehen
der Cigarre, und das ist noch schlimmer, als wenn sie brennt. In der Eisen¬
bahn? Da ist es genau so. Kommt der Schaffner, so wird die Cigarre ver¬
steckt, und den übrigen Reisenden gegenüber läßt mans drauf ankommen.
Sagt einer was, dann erhält er die Antwort: „Darnach fragen wir nix!"
Auf den Postanstalten? Ich kenne den Schalterraum eines großen, schönen,
neuen Postamtes, wo eine große Inschrift angebracht ist: „Rauchen verboten."
Die Inschrift aber ist ganz brann angeraucht! Auf den Bahnhöfen? Ich
kenne einen Bahnhof, da sitzen Sonntags nachmittags die „Honoratioren" der
ganzen Umgegend Stunden lang im Wartesaal zweiter Klasse und trinken ein
Glas Bier nach dem andern und brennen sich eine Cigarre nach der andern an
und fragen nicht das geringste nach den Frauen, die in Ermanglung eines
besondern Zimmers auf denselben Raum angewiesen sind, wenn sie es nicht
etwa vorziehen, auf dein „Bahnsteig" spazieren zu gehen und sich naß regnen
zu lassen, denn ein Dach hat der Bahnhof nicht. Na, überhaupt!
Doch um auf den Brocken zurückzukommen: wir gedachten bei Zeiten anf
die Stange zu fliege», weil wir am andern Morgen den Sonnenaufgang sehen
wollten. Da man jedoch etwas von Münchner Löwenbräu munkeln hörte, so
konnte man ja den müden Leib auch uoch auf ein Stündchen nebenan in die
Restauration tragen. Aber ach, da kamen wir aus dem Regen in die Traufe.
Welch ein Vierduust, und welch ein Tabaksqualm! Es war höllenmäßig.
Wers nicht gesehn hat, der kanns nicht glauben. Wie vermögen nur in solcher
Luft Menschen zu atmen? Sollte da nicht das Reichsgesundheitsamt —?
Aber sie atmen ja und leben, wenn mans leben nennen kann, die Männer
Dentschlands und solche, die es werden wollen, unsre Hoffnung, unsre Zukunft.
Und sie thun es viele, viele kostbare Stunden lang, denn wenn der deutsche
Mann oder Jüngling erst einmal an seinen Skat gekommen ist, dann sitzt und
und trinkt und raucht und drischt er bis in die aschgraue Pechhütte, und am
andern Morgen wundert er sich, daß er keinen klaren Kopf und keine Lust für
seinen Dienst, sein Amt oder sein Geschäft hat. Vor einigen Jahren war ich
einmal in Hannover. Nach meiner Gewohnheit stand ich früh auf und wan¬
derte in dem frischen Sommermorgen durch die Eilenriede. Mutterseelen¬
allein! Um sechs Uhr kam ich an den zoologischen Garten. Auch hier war
ich bei der Eröffnung die einzige fühlende Brust. Für mich allein erwachte
der Löwe, für mich allem machte der Bär seine Morgentoilette. Allmählich
kamen einige Menschen hinzu. Aber was warens für welche? Juden, lauter
Juden! Da ging mir ein Licht auf über die Judenfrage, und ihre einzig mög¬
liche Lösung. Der christlichgermanische Mann darf eben abends nicht so lange
bei Skat und Bier und Tabak sitzen und muß früher aufstehen. Jene Hanno-
verschen Juden im zoologischen Garten hatten sich den Abend vorher müßig
und nüchtern ihrer Familie gewidmet, erfrischtem sich durch einen Morgen¬
spaziergang und — hatten dem deutschen Michel schon das Fell über die Ohren
gezogen zu einer Zeit, wo diese noch von der Nachtmütze bedeckt waren, und
er noch mit wüstem Kopf in den Federn lag.
Doch wir sind ja in der Restauration des Brockenhotels, und hier ist
der Raucher in seinem Recht. Darin wollen wir ihn denn auch nicht stören.
Wir begeben uns vielmehr auf Ur. 33, aber uicht ohne es der zuständigen
Stelle ernstlich auf die Seele gebunden zu haben, uns ja rechtzeitig zum,
Sonnenaufgang zu wecken. Eine solche Mahnung ist nicht überflüssig, denn
so etwas verschläft mau leicht. Oder man schläft, um es nicht zu verschlafen,
unruhig und wacht jede halbe Stunde auf. Doch es wurde uns hoch und
heilig versprochen, daß wir beim ersten Strahl der erwachenden Sonne auch
wach sein sollten. Darum legten wir uns hin, um einen ruhigen Schlaf
zu thun.
Wer einmal acht Stunden hinter einander, und noch dazu über Pflastcr-
stoßklippen, gewandert ist, der kennt das angenehme Gefühl, sich behaglich auf
einem wohlbereiteten Lager strecken zu dürfen. Schon der Gedanke ist schön.
Aber es kommt manchmal anders. Was ist denn das für eine sonderbare
Matratze? Hier oben aus den Bergen scheint alles gebirgig zu sein, sogar die
Sprungfedermatratzen. Rechts am Rande hoch, links am Rande wieder hoch,
und in der Mitte gehts tief hinab ins Thal. Mit großem Mißtrauen legen
wir uns ans das dergestalt koupirte Terrain nieder. Und richtig, die Sprung¬
federn sind in der Mitte so zusammengelegen, daß von Sprungfederkraft keine
Rede mehr ist: man kommt einfach auf den harten Holzrahmen zu liegen.
Wenn der noch wenigstens ein Brett, eine Pritsche wäre — wo ruht der
Mensch nicht, wenn er müde ist! Aber ans einem Rahmen, einem Rost, o hei¬
liger Laurentius, was mußt du gelitten haben! Es ist unerträglich. Also ver¬
suchen wirs, da es in der Thalsohle nicht geht, mit dem Bergesabhang; da
sind die Federn, wie es scheint, noch heil und elastisch. In der That, es geht!
Man muß sich freilich etwas „abstutzen." Aber wer an die 100 000 Meilen
zur See gefahren ist, der hat sich bei Sturm und Wetter in einer Koje so
oft abgestützt, daß ihm das nichts verschlägt. Freilich scheint es ans dem
Brocken doch etwas schwieriger zu sein als auf dem Ozean; denn kaum sind wir
entschlummert, so kollern wir anch schon den Abhang hinunter und finden
uns unten im Thal auf dem Laurentiusrost wieder. Wir versuchen es auf
der andern Seite, mit dem östlichen Abhang — es ist dieselbe Sache. Der
müde Leib sinkt, sobald der Arm beim Einschlafen seine stützende Kraft
verliert, unfehlbar nach der tiefsten Stelle, hinab ins Thal, auf den Hvlz-
rahnien.
, Was thun? Der Klügste giebt nach. Wir ergeben uns also in unser
Schicksal und bleiben da liegen, wo wir nach dem Gesetz der Schwere zu liegen
haben. Es geht auch so einmal eine Nacht herum. Eine kurze Sommernacht.
Vielleicht erscheint der Wecker bald.
Da brüllt es mit einemmale die Treppe herauf: „Hcchaha, eine famose
Geschichte, eine brillante Geschichte, haben Sie gehört, Müller, was der Meier
eben sür eine famose Geschichte erzählt hat! Da fällt mir auch eine Geschichte
el», die muß ich Ihnen erzählen." Mittlerweile sind die drei die Treppe
heraufgekommen, pflanzen sich auf dem Korridor auf und lauschen der sehr
lant vorgetragnen Geschichte. Ob sie eine „Pointe" hatte, weiß ich nicht mehr,
aber so viel ist sicher: der Erzähler selbst unterbrach sich oft mit einem Lachen,
das; die Wände wackelten. Zum Schluß fielen die beiden andern in das Ge¬
lächter ein, als ob sich bezahlt bekämen. Endlich denkt einer von den dreien
daran, daß, wenn sie noch die Sonne aufgehn sehen, wollen, es jetzt Zeit
sei, in die „Falle" zu gehn, und sie sagen sich gute Nacht und nehmen Ab¬
schied in einer ausgiebigen Trennuugsszcne. Es mußten jn auch noch lauter
wichtige Dinge besprochen werden. Welchen Rückweg werden wir wählen?
Wo essen wir denn morgen zu Mittag? Wo werden wir denn abends logiren?
Diese Fragen waren im Laufe des Abends gewiß schon aufs ausführlichste
besprochen worden ; was uns da im Schlafe störte, waren also lauter Reflex¬
bewegungen. Aber daS machte die Störung nicht angenehmer.
Ein Blick auf die von einem Streichholz notdürftig erleuchtete Uhr sagt
uns, daß es elf Uhr ist. Obwohl wir wie gerädert sind, duseln wir doch
wieder etwas ein. Aber wieder ist dem müden Wandrer nur kurze Ruh be¬
reitet. „Entern! Entern!" brüllt es plötzlich die Treppe herauf, „Entern mußten
Sie spielen, er war rum, unfehlbar rum, wie kann man da Schellen ziehen!
Das war ja unter allem Nachtwächter gespielt! Sie waren rum, ja ja — rum
waren Sie, wenn der Neumann nicht noch die Dummheit gemacht hätte!" „Ich
rum?" — und nun ging eine ausführliche Leichenrede los, bei der immer
einer den andern zu überschreien suchte, offenbar in der Meinung, wer die
stärkste Lunge habe, der habe auch das größte Recht. Doch endlich vergrvllte
auch dieses Gewitter in der Ferne mit Grün und Rot und bekennen, wimmeln,
abwerfen und dergleichen, und es war wieder still. Aber es war auch schon
nach zwölf.
Wenn es nun überhaupt noch etwas werden soll, so dürfen wir weder
an Berg, noch Thal, noch Rost denken, sondern müssen die Angen zumachen.
Aber kaum ist das geschehen, so geht ein neuer Sturm los, und nur werden
abermals in die rauhe Wirklichkeit zurückversetzt. „Na, ich wär mich bieten,
zum Sounenuffgang uffzuftehn — es war eine vou Bier und Tabak rauhe
Stimme — nee, so dumm Simmer nich, nu werd erscht emal dicht'g ausge-
schlafen; vielleicht geht se och gar nich uff, und dann Hammer de Bescherung,
nec, so dumm! Na, gute Nacht, Schmidt, Schlaf wohl un laß dersch gut be¬
kommen!" Zur Ehre dieses Herrn Redners will ich annehmen, daß er nicht
wußte, was er that, vor allen Dingen uicht, wie laut er brüllte, es müßte
denn sein, daß Schmidt sehr harthörig gewesen wäre.
Ein weiteres Streichholz belehrt uns, daß die Gespensterstunde seit ge¬
raumer Zeit vorüber ist. 'Nun werden wir doch wohl Ruhe haben. Aber
wie? Ist es denn jetzt eigentlich noch der Mühe wert, sich auf der Marter¬
bank wieder zurechtzulegen? Auf den Bergen geht die Sonne früh auf. An¬
gezogen will mau doch auch fein, sonst erkältet man sich "i der Morgenfrische.
Genug, es wurde nichts mehr mit dem Schlaf. Man duselte so hin, eine
Stunde oder zwei, und zählte die einzelnen Stäbe des Rostes, die sich deutlich
durch ihren Druck unterscheiden ließen.
Endlich graut der Morgen. Nun wird wohl der Wecker bald erscheinen.
Aber was ist denn das? Halb fünf? Wir haben also den Sonnenaufgang richtig
verschlafen, verschlafe» — o Ironie des Schicksals! — in einem solchen Bett!
Zu unserm Trost erfahren wir, daß die Brockensvnne wieder einmal nicht
aufgegangen ist. Mau muß, wie es scheint, ein Sonntagskind sein, um dieses
Genusses teilhaftig zu werden. Tragen wir also das Unvermeidliche mit
Würde. Tragen nur es, ohne in den Fehler so vieler Leidensgenossen zu
verfallen, die ihren Schmerz in Verse ausgehaucht haben. Das Fremdenbuch
auf dein Brocken weiß davon schreckliche Dinge zu erzählen. Wie viel Ent¬
täuschung, Entsagung, Entrüstung enthalten diese Blätter!
Zum Überfluß fängt es an zu regnen. Große Beratung. Sollen Nur
hier oben gutes Wetter abwarten oder trotz des Regens den Weg unter die
Füße nehmen? Der Überlegung wird ein jähes Ende bereitet durch das Schicksal
in Gestalt eines Kellners. Der hält uns unverlangt die quittirte Rechnung
vor die Nase. Das war ein Zeichen, daß wir weiter wandern sollten.
Draußen lernen wir die auittirte Rechnung verstehen. Da sind die Omni¬
busse angespannt. Daß Leute auch einmal nicht mit dem Omnibus konnten
sahren wollen, der Fall war nicht vorgesehen. Mnu war hier offenbar nur
auf DuKendreisende wie den Berliner Kommerzienrat eingerichtet.
Wir schüttelten den Staub des Brockens von unsern Füßen und wan¬
derten auf Schusters Rappen über Schierke und Elend thalwärts. Elend!
Als einst im Mittelalter fromme Mönche hier eine Herberge für Elende (d. h.
Fremde; Elend ^ kek1ig.mal, fremdes Land) an den Weg bauten, da werden sie
ihnen nicht gerade Sprungfedermatratzen zum Lager angewiesen haben, aber
besser waren sie jedenfalls gebettet, als wir im Brockeuhotel Zimmer Ur. 33.
Wir stärkten uns mit einer Satte Dickmilch, und so tröstete uns das Elend
unten über das Elend, das wir oben ausgestanden hatten.
Die Erinnerung an jene Schreckcnsnacht war längst getilgt, da kommt
der Gallige aus Heft 23 der Grenzboten, und auf einmal stehen mir alle
Schrecken von Ur. 33 des Brockenhotels wieder lebendig vor der Seele. Ich
kann sie nicht anders bannen, als indem ich sie mit dem geneigten Leser teile.
Der Assessor A. Eschenbach, der, wie er sagt, das
Börsenwesen nicht allein theoretisch, sondern auch praktisch gründlich studirt hat,
ist von zwei Körperschaften, der ökonomischen Gesellschaft des Königreichs Sachsen
und dem deutschen Landwirtschaftsrat, veranlaßt worden, seine Erfahrungen, An¬
sichten und Reformvorschläge zu entwickeln, und hat dann den in Dresden gehaltenen
Vortrag nebst dem für den Landwirtschaftsrat abgefaßten Gutachten unter dem
Titel Zur Börsenrefvrm voriges Jahr bei Puttkammer und Mühlbrecht in
Berlin herausgegeben. Die kleine Schrift ist das klarste und verständigste, was
wir bis jetzt über den Gegenstand gelesen haben. Der Verfasser weist einerseits
die Unentbehrlichkeit der Zeit- und Termingeschäfte nach und stellt andrerseits das
Unheil, das ihr Mißbrauch anrichtet, in seinem vollen Umfange dar. Wie un¬
möglich es ist, jene viel angefochtenen Geschäfte zu verbieten, zeigt er unter andern
an folgendem Beispiel. „Der Kaufmann A hat in Rußland große Roggeneinkäufe
gemacht, die er nach Ausdrusch in Deutschland erwartete; er hat dasselbe Quantum
an große Mühlen auf Oktober- und Novemberlieferung verkauft. Es tritt Frost¬
wetter ein, die baltischen Häfen frieren zu, er kann den Roggen nicht liefern;
anderweit ist der Roggen gar nicht oder nur mit ganz enormen Kosten zu beschaffen.
Was bleibt ihm übrig? Er zahlt den Unterschied zwischen dem Verkaufspreise
und dem Preise am Tage der Lieferung und überläßt es der Mühle, ob sie um
diesem Tage sich selbst aus seine Kosten anderweit Roggen kaufen oder mit der
gedachten Differenz zufrieden sein null." Andrerseits hebt er hervor, daß die
Äörse die zweite ihrer beiden Aufgaben, die richtige Preisbildung, nnr noch sehr
unvollkommen erfüllt, weil es nur bei fünf Prozenten aller Börsengeschäfte auf
wirkliche Lieferung der Ware abgesehen ist, der Preis daher weniger von dem
Verhältnis zwischen reellem Angebot und reeller Nachfrage, als von dem für die
Spekulation vorhandnen Kapital und den zu Spckulationszweckeu verbreiteten Nach¬
richten abhängt. Das wirksamste Heilmittel sieht der Verfasser in dem vollständigen
Ausschluß des spekulirenden Publikums von der Börse. Die Börsenhändler sollen
korporativ zusammengefaßt und von dem PrivatpnblitUm, das etwa Lust zu spielen
hat, durch unzweideutige gesetzliche Bestimmungen deutlich geschieden und zugleich
alle Kreditgeschäfte zwischen Börsenhändlern und Privaten für nntlagbar erklärt
werden. Das heutige Handelsgesetz hält Eschenbach für unbrauchbar und veraltet,
und die Willkür, zu der die Richter unter diesen Umständen genötigt sind, wo es
sich um die Klagbarkeit von Börsengeschäften handelt, für gefährlich. Mit der
bequemen Ausrede, eS geschehe deu Dummen recht, die an der Börse ihr Geld
verlieren, dürfe man die Börscnreform nicht ablehnen. Einmal dränge sich das
Publikum nicht immer aus freien Stücken dazu, fondern werde auch durch lügen¬
hafte Prospekte und durch Agenten verlockt. Sodann bedeute die Beteiligung des
Privatpublikums eine große soziale Gefahr. „Es ist für die Allgemeinheit nicht
gleichgiltig, wenn Handel und Wandel vom Spiel abhängig werden, wenn sich in
wenig Händen immer mehr die Enderträge der produktiven Arbeit anhäufen, wenn
als Pendant dazu tausend und abertausende von Familien, die früher wohlhabend
und konsumtiousfähig waren, an den Bettelstab gebracht werden, wenn die Spiel¬
wut und die Lust an mühelosem Gewinn immer weitere und weitere Kreise er¬
greift." Das spielende Privatpublikum allerdings ist immer und nnter allen Um¬
ständen geleimt, wie in der Neuen Freien Presse einmal ein Kundiger verraten
hat. Aber wie leicht es für die Eingeweihten ist, mühelos Vermögen zu erwerben,
das stellt der Verfasser in folgendem Satze dar. „Das kleinste eben gegründete
Bankhaus, das, von irgend einem entlaufeueu Kommis gegründet, der womöglich
seinem Prinzipal die Kundcnlisten gestohlen hat und mit ein paar tausend Mark,
die durch verlockende Zeituugsauuoueen ans dem Wege der Kommanditbetciligung
zusammengebracht sind, ausgestattet ist, ich sage, ein solches Bankhaus hat den
ersten Schritt zur Million gethan, wenn es seine Hand überhaupt uur erst einmal
in den Aufsichtsrat einer Aktiengesellschaft hat oder in einer günstigen Konjunktur
selbst eine faule Gründung zu Stunde gebracht hat."
Dieser Satz veranlaßt uns, «och ein Wörtchen über die Börsensteuer beizu¬
fügen. Mit der steht es ungefähr eben so wie mit den andern beiden Steuer-Bö.
Jahraus jahrein wird von frommen Patrioten dem deutschen Volke Buße gepredigt
ob seines sündhaften Durstes und seines nicht weniger sündhaften Mangels an
Opferwilligkeit für Kanonen und Kasernen. Diese offenbar in einer andern Welt
lebenden frommen Patrioten scheinen sich vorzustellen, die Bier- und Branntwein¬
steuer werde in der Weise erhoben, daß der Deutsche seine Nickel in die Militär¬
kasse wirft, anstatt sie auf Bier auszugeben, so daß, wenn es auf dem Gipfel der
Entsagung angelangt sein wird, die deutschen Kriegsminister über jährlich andert¬
halb Milliarden zu verfügen haben werden. Würde diese Einrichtung getroffen,
dann allerdings würden nur uns den Predigern anschließe», wenn wir auch außer
der militärischen noch manche andre nützliche Verwendungsart für das heillose Geld
wüßten. "Denn den Durst des durchschnittlichen Deutschen finden wir allerdings
höchst lächerlich, und seine Anhänglichkeit um den Saugpfrvpfen für erwachsene
Säuglinge unwürdig und kindisch. Auch haben wir einen sehr geringen Begriff
von seiner Opferwilligkeit. Zwar hat ein Freund der „Kölnischen Zeitung" jüngst
deu Vorschlag gemacht, das für jedes Seidel übliche Trinkgeld dem Neichsfiskus
statt dem Kellner zu schenken, aber daß einer auf das Seidel selbst verzichtet
hätte, ist bis jetzt noch nicht vorgekommen. Ja wir sind überzeugt, daß gar
mancher von jenen frommen Patrioten, wenn er den nicht existirenden Reichs¬
finanzminister zur Annahme eines Geschenks von jährlich sechsunddreißig Mark
bewegen könnte, diese sechsunddreißig Mark lieber am Grenzbotenabonnement oder,
mit Berufung auf Kneipp, um den Stiefeln seiner Jungen ersparen würde, als an
seinen Cigarren.
Also, vom moralischen Standpunkte aus ist ja diese für Militnrvorlagenzeiten
in alleu staatserhaltenden Redccktioueu vorrätige Predigt durchaus berechtigt, aber
leider hat unser Steuersystem mit der Moral nichts zu schaffen. Nicht durch Ent¬
haltsamkeit, sondern durch Sausen wird die Bier- und Branntweinsteuer entrichtet,
und wenn in Deutschland jenes Snmlagshstem zur Herrschaft gelangte, wodurch
sich das Nvrwegcrvolk vor dem drohenden Untergange im Säuferwahnsinn gerettet
hat, so würden nicht allein unsre Neichsfinnnzen, sondern auch die großen ost-
elbischen Branntweinbrenner Bankerott machen, deren Wohl der Staat wie seinen
Augapfel behütet. Hat doch schon die jetzt bestehende Branntweinsteuer den Ver¬
brauch in einem sowohl für die Reichsfinanzen wie für die Brenner empfindlichen
Grade vermindert. Will man aus Bier und Branntwein mehr herausschlagen,
so muß man den deutschen Durst ungeschoren lassen und nu die Opferwilligkeit
— uicht des deutschen Volkes — sondern der etwa sechstausend großen Brauer und
Brenner nppelliren, und das wäre auch schou darum weit praktischer, weil sich zwar
mit sechstausend Mann, aber nicht mit fünfzehn Millionen Mann unterhan¬
deln läßt.
Ähnlich nun verhält sich die Sache bei der Börsensteuer. Mau klagt über
die Spielwut des Publikums, man schimpft ans die Börse und die Juden, man
schreit nach einer hohe» Börsensteuer. Ist dann eine neue Börsensteuer fertig, so
sieht man, daß sie dem rechtschaffnen Sparer abgeknappst wird, der sich ein Wert¬
papier lauft, aber den Spekulationsgewinn der großen Emissionshtwser und der
Börsenjobber ganz unberührt läßt. Auch von dem neuen Börsensteuereutwurf ver¬
sichern solide kleine Bankiers, die keine Aussicht haben, Millionäre zu werden, seine
Durchführung würde uur den soliden Geschäftsverkehr erschweren, den Spekulanten
aber gar nichts thun. Und doch liegt auch hier, wie bei den andern beiden Bö,
das richtige so nah und so klar vor Augen. Warum schlägt mau sich immer mit
den nebelhaften, unfaßbarer Begriffen Publikum, Börse und Judenschaft herum?
Warum faßt man uicht die paar hundert oder tausend Personen, die sich an der
Börse bereichern? Die Namen ihrer Häupter siud weltbekannt. Es sind sehr ehren¬
werte Herren, die ob ihrer konservativen Gesinnung und ihrer Opferwilligkeit fürs
Vaterland von allen Ministern und gekrönten Häuptern — der einzige Fürst von
Lippe-Schaumburg hat einmal den Respekt verweigert, aber der ist zum Glück jetzt
tot — mit Ehrfurcht behandelt werden. Jedes dieser Häupter kennt seine Ge¬
treuen. Wie wäre es nun, wenn Regierung und Reichstag zusammen diese ehr¬
würdigen Herren folgendermaßen anredeten! „Höchst würdige, allergroßmächtigste
Herren! Die Vorschläge des Herrn Eschenbach siud ausgezeichnet, nur wird es
einige Jahrzehnte dauern, ehe sich unsre Geheimräte und Abgeordnete über ihre
Formulirung geeinigt haben werden. Es giebt aber unzufriedue Bvlksmnssen, zu
deren hervorragenden Tugenden die Geduld nicht gehört, und es giebt Natur-
gewalten, z. B. schlechtes Erntelvetter und Hunger, die so unvernünftig sind, daß
mau mit ihnen nicht unterhandeln kauu. Wenn nun solche Naturgewalten auf eine
erhitzte ungeduldige Volksseele stoßen, dann ereignet sich manchmal eine Explosion,
für deren Abwendung keine Regierung mit Sicherheit bürgen kann. Solche Ex-
plosionen haben schon manchmal die Köpfe von Königen weggerissen, und wir
glauben aus gewissen Anzeichen schließen zu dürfen, daß bei der nächsten Explosion
die teuern Häupter Eurer Helligkeiten weit mehr gefährdet sein würden, als die der
Fürsten; das ist ja auch schou darum wahrscheinlich, weil Höchstdieselben so viel
erhabnere und wichtigere Personen sind. Also laßt euch herab, zu erwägen, wie
teuer euer Leben ist, und daß es mit einem Teile eures Mammons nicht zu teuer
erkauft werdeu würde; bedenkt, daß geköpft werden weh thut, geheult werdeu uu-
nnstäudig ist, und daß ihr durch ein kleines Trinkgeld dieses inlnncium vielleicht
abwenden könnt. Wir wollen nicht indiskret sein, wollen uns nicht in eure Ge¬
heimnisse eindrängen, euer bloß zum Wohle des Vaterlandes betriebnes Geschäft uicht
stören. Aber wir wissen, daß es euch, euern Freunden und Dienern jährlich so
etwa tausend Millionen Mark abwirft. Opfert von diesem Gelde den fünften
Teil, um den Neid der Götter zu beschwören! Repartirt die Summe unter euch
ganz nach Belieben! Ihr kennt einander. Wir schauen nicht hinein, wir forschen
nicht nach. Am 31. März jedes Jahres werden, eure Obersten:, der Herr von X
und der Herr Baron von I einen Check über zweihundert Millionen Mark einem
Abgesandten des Reichsschatzamtes überreichen."
Wenn wir uns recht erinnern, hat vor etwa zehn Jahren Bismnrck selbst
einmal diesen Gedanken angeregt.
Wir haben uns vorgenommen, keine Gelegenheit
vorübergehen zu lassen, die uns an die Macht der internationalen Reklame erinnert..
Wir halten es für unerläßlich, daß die groben und feinen Fäden des Netzes er¬
kannt werden, die sie uus in tausend Fällen über den Kopf werfen will. Irgend
ein Teil des Selbstbewußtseins und Ansehens unsrer lieben Deutschen länft jeden
Augenblick Gefahr, vou ihr verdunkelt zu werden, sie ist ununterbrochen beschäftigt,
unser Fundament zu uutermiuiren. Und unsre Presse, die unser Wächter und Hüter
sein sollte, hilft dazu, statt zu warnen. Ja ein großer Teil der internationalen
Reklame für andre wird geradezu durch sie besorgt! Machen wir uns doch endlich
einmal klar, daß diese Reklame, so lange wir uns über sie täuschen oder uns sogar
für sie ausnutzen lassen, einen guten Teil der Größe Frankreichs ausmacht, das in
dieser politischen Kunstindustrie mit Telegraph, Post, Zeitungen und Büchern noch
viel Staunenswerteres leistet, als in Bronze oder Handschnhleder. Dicht hinter
ihm kommt England. Wir regen uns, sind aber wahre Stümper neben diesen
beiden.
Unsre Nachbarn haben es verstanden, selbst den Zweig menschlicher Thätig¬
keit, der seinem Wesen nach Reklame weder braucht noch verträgt, die Wissenschaft,
in den Dienst ihrer engen, im Grunde gemeinen Interessen zu stellen. Ob die
Wissenschaft blüht oder nicht, vierzig Unsterbliche müssen da sein. Wenn die obern
Stufen leer sind, sucht man sie auf deu untern. Von Leuten, die auf irgeud
einer kleinern deutschen oder schweizerischen Universität ohne Aufsehen lehren nud
forschen, sodaß ihr stilles Dahinwandeln uus allen als Teil und Bedingung ihres
Wesens erscheint, wird in Paris ein Wesen gemacht, als wäre nur die Welt groß
genug für ihre Wirksamkeit, besonders aber für ihren Ruhm. Ihre Namen werden
in alle Richtungen hinausgeschrien, und die Bewegung von ein paar Sand¬
körnern, genannt akademische Wahl, wächst auf dem Wege der internationalen Re¬
klame zu einer Lawine an. Der Neger am Kongo und der Hnrone am Ottawa
lesen die hinaustelegraphirteu Berichte über die bedeutuugs- und folgenlosesten Riva¬
litäten von ein Paar Pariser Professoren. Besonders liest sie aber der Deutsche.
Dieser tern- und wißbegierige Mensch ist durch seiue Tagesblätter seit Jahrzehnten
daran gewohnt, solche Nachrichten als Beiträge zur Weltgeschichte hinzunehmen.
Ein Broca oder Qucitrefciges werden in seinem Frühstücks- (darum aber nicht
»veniger Wurst-) blatt zehnmal genannt, ehe ein Helmholtz oder Sybel einmal vor¬
kommt. Die aufgeblasensten Beweihräucherungsrcden werden in extenso wieder¬
gegeben. Und ob U oder A bei der Wahl die großem Aussichten haben, dafür
muß selbst Posemuckel interessirt werden. Je weniger wahre Bildung vorhanden
ist, um so kräftiger wirken diese Übertreibungen. Daher sind Engländer, Ameri¬
kaner, Spanier, Portugiese», Türken die hiugcbendsten Bewunderer und Mitverkün-
diger der Größe der französischen Wissenschaft. Aber auch nur lassen uns Sand
in die Augen streuen.
Die urteilsfähigen Franzosen sind von der wissenschaftlichen Große ihres
Landes heute viel weniger überzeugt, eilf die urtcilslosen Nichtfranzosen. Aber
sie nehmen natürlich die Huldigungen gern entgegen. Warum sollten anch sie ge¬
rade ans den Abstand zwischen Leistung und Ruhm hinweisen? Zu der Welt¬
stellung Frankreichs, das wissen die Wissenden sehr Wohl, trägt die künstlich genährte
Überschätzung seiner Leistungen sehr viel bei. Dieser Überschätzung werden alle
Nationen der Erde zinsbar gemacht. Ein Gelehrter, dessen Verdienste mit allen
Würden belohnt sind, die Heimat und Fremde erschwingen konnten, wird endlich
auch zum Korrespondenten der französischen Akademie gewählt. Das ist dann die
Krönung von allem. Und es giebt bei uns und anderswo geniale und scharf¬
sinnige Köpfe, die kein Gefühl für das Anmaßende einer solchen Ernennung Von¬
seiten einer Körperschaft haben, deren fachverwandte Größen oft weit hinter dem
Erwählten zurückbleiben. Warum steht gerade der Wert der Pariser Akademiesitze
so hoch? Doch nur, weil man daran glaubt. Um diese für Frankreichs „Prestige"
heilsame Höhe zu halten, wiederholen alle Blätter der Welt die Wahl eines fremden
Gelehrten, dessen Leistungen längst von viel urtcilsberechtigtern Seiten, ohne Tam¬
tam, alle Anerkennung gefunden haben, die geistige Leistungen überhaupt verlangen
können. So wird zuletzt fremde Geistesgröße und Arbeit dem Ruhme Frankreichs
tributpflichtig gemacht.
Um
unser in Heft 25 gegebnes Versprechen einzulösen, kommen wir heute auf die
kürzlich in Bonn abgehaltne Direktorenkoufereuz mit einigen Worten zurück. Wir
wußten uns in guter Gesellschaft, als wir uns mit allem Nachdruck dagegen aus-
sprachen, daß vor sechzehn- bis neunzehnjährigen Menschen die Lehren der Sozial-
demokratie erörtert und widerlegt werden sollten. Schon auf der vielbesprochnen
Histvrikerversammluug in München hatte man den bekanntlich von Martens unter-
nommnen Versuch, die Schule für die Politik auszunutzen, mit Entschiedenheit
zurückgewiesen; von etwa hundert Geschichtslehrern waren bis auf zwei alle der
Überzeugung, daß mau den Geschichtsunterricht nicht mit politischen Aufgaben be¬
lasten dürfe und alles ablehnen müsse, was irgendwie „nach Gcsinnnngsdrill
schmecke." Es wurde mit Recht darnnf aufmerksam gemacht, daß für die jedesmal
herrschende Partei die Versuchung nahe liege, die Schule und besonders den Ge-
schichtsunterricht zu benutzen, um durch eine einseitige Erziehung ihre Herrschaft
zu befestigen. Ja man ging sogar noch einen Schritt weiter, indem man schon
die manchem vielleicht unverdächtig klingende Forderung der neuen preußischen Lehr-
plänc, „die gesellschaftliche und wirtschaftliche Entwicklung unter Hervorhebung der
Verdienste der Hohenzollern zu lehren," als bedenklich und gefährlich bezeichnete.
In dieser Forderung liege eine Versuchung zur Schmeichelei und zur Entstellung
der Wahrheit, und es werde sich schwerlich verhüten lassen, daß die aus sehr ver¬
schiedenartigen Beweggründen und uicht immer aus dem Entschluß der Herrscher
hervorgegaugne Baueruschutzgesetzgebung und die Stein-Hardeubergscheu Gesetze für
den Ruhm der herrschenden Dynastie ausgebeutet würden. Trotz der offenkundiger
Niederlage, die den Ansichten des Direktor Mariens in München bereitet worden
war, lebten sie in deu Thesen des der Bonner Konferenz vorgelegten Referats
wieder auf. Inzwischen scheint sich aber der Berichterstatter selbst von der Un¬
Haltbarkeit seiner Stellung überzeugt zu haben, denn für die mündliche Erörterung
hatte er sich mit dem Korreferenten zur Aufstellung einer Anzahl gemeinsamer
Thesen vereinigt, deren Vergleich mit deu ursprünglichen uns an die alte Wahr-
heit erinnerte, daß keine Suppe so heiß gegessen Wird, wie sie gekocht wird. Wäh¬
rend es früher hieß: „Die ökonomischen Ziele der Sozialdemokratie können in
Untersekunda an den Forderungen des Goldner Programms klar gemacht werden;
in der Oberprima werden diese Unterweisungen wiederholt und durch. Eingehen
auf die politisch und sittlich revolutionären Tendenzen der Sozialdemokrntie er¬
weitert und vertieft," legen sich die gemeinsamen Thesen folgende erfreuliche Selbst¬
beschränkung auf: „14: In Untersekunda schließen die Unterweisungen mit der
Darlegung des sozialen Lebens unsers Volks in der Gegenwart und dessen Beein¬
flussung durch die soziale Gesetzgebung. 15: In Oberprima geht der Unterricht
näher ein aus die soziale Frage der Gegenwart, die Entstehung und die Ziele der
Sozialdemokratie. 16: Auch in Oberprima ist die weitere Aufgabe weniger eine
direkte Bekämpfung sozialistischer Irrlehren als die Eröffnung des Verständnisses
für deu Ernst der Lage und für die der biirgerlichcu Gesellschaft daraus er¬
wachsenden Aufgaben. 17: Ohne in eine nähere Erörterung der sozialistischen
Theorien einzutreten, weist der Unterricht die Unmöglichkeit und Verderblichkeit der
Bestrebungen der Sozialdemokratie an der Hand des gesunden Menschenverstandes
und konkreter Thatsachen nach." Die Konferenz lehnte aber selbst diese Sätze in
der mitgeteilten Form ab und gab ihnen schließlich eine Fassung, durch die wir
die Gefahr, die pädagogischer Übereifer anzurichten drohte, glücklich beseitigt sehen.
These 15 wurde gänzlich verworfen und darauf 16 und 17 zu einer neuen ver¬
schmolzen; die ungefähr das Gegenteil von dem sagt, was die Antragsteller be¬
absichtigt hatten: „In Oberprima ist die Aufgabe weniger eine direkte Bekämpfung
sozialistischer Irrlehren, als die Eröffnung des Verständnisses für den Ernst der
Lage nud für die der bürgerlichen Gesellschaft daraus erwachsenden Aufgaben, ohne
daß man in eine nähere Erörterung der sozialistischen Theorien einzutreten hätte."
Dieser Sieg der besonnenen Richtung ist deshalb besonders wichtig, weil der Ge¬
heime Oberregierungsrat Ständer aus Berlin als Vertreter der preußischen Unter¬
richtsverwaltung um den Beratungen teilnahm und wiederholt für eine maßvolle
Auffassung der Dinge eintrat.
Wir schlössen seiner Zeit mit dem Hinweis auf einen seltsamen Widerspruch
zwischen den allgemeinen sozialen Bestrebungen der preußischen Regierung und den
besondern Maßregeln ihres Finanzministers. Derselbe Widerspruch ist auch an
andern Punkten zu erkennen. Unter dem schlecht verhüllten Einfluß des Finanz¬
ministers hat das Kultusministerium verfügt, daß die Lehrer an den höhern Unter¬
richtsanstalten künftighin mehr als bisher zur „vollen Pflichtstnndenzahl" heran¬
gezogen werden sollen. Schon die Verdeutschung des frühern Ausdrucks „Maximal-
stundeuzahl" läßt erkennen, daß man in Zukunft das, was bis jetzt als Ausnahme
galt, zur Regel zu erhebe» gedenkt. Und das geschieht, nachdem die auf aller¬
höchsten Wunsch vor einigen Jahren in Berlin znsammengetretne Schulkonferenz
— die allerdings mancherlei Dinge beschlossen hat, die lediglich auf dem Papier
stehen geblieben sind — ausdrücklich anerkannt und betont hat, daß die Einführung
der Reformen an die sämtlichen Lehrer erhöhte Ansprüche stellen werde, denen
man durch eine Erleichterung hinsichtlich der Pflichtstnndenzahl gerecht werden müsse!
Ob der Herr Minister wohl weiß, daß der, der unter allen Umständen billige
Ware haben will, mit einiger Wahrscheinlichkeit nicht nur billige, souderu auch
schlechte Ware erhält? Schon ist eine ganze Reihe von Anstalten benachrichtigt
worden, daß man bei der Aufstellung der Unterrichtspläne darauf bedacht sein
möge, Lehrkräfte zu sparen; schon ist thatsächlich eine Anzahl von erledigten Stellen
nicht wieder besetzt worden, und weitere „Ersparnisse" stehen in Aussicht! Ob der
Herr Minister wohl ahnt, wie derartige rein fiskalische Maßregeln in dem Kreise
der Männer beurteilt werden, die doch nach seiner Meinung an erster Stelle be¬
rufen sind, dem heranwachsenden Geschlecht die Überzeugung von der Gerechtigkeit
der gegenwärtigen staatlichen und. gesellschaftlichen Ordnung beizubringen? Vor
einiger Zeit meinten die Grenzboten, das; die akademisch gebildeten Lehrer in
Preußen für ihre Lage zum Teil selbst verantwortlich wären, weil sie sich nicht
zu einer einmütiger Vertretung ihrer Interessen aufzuraffen vermöchten. Den Bor-
Wurf, der in diesem Satze lag, haben die preußischen Lehrer uicht verdient'. In
allen Provinzen der Monarchie bestehen Vereine, die sich die Hebung der äußern
Lage des Standes als Ziel gesteckt haben; unter schwierigen Verhältnissen haben
diese Vereine den Beweis von der Berechtigung und von der Notwendigkeit ihres
Daseins zum Frommen des Ganzen in glänzender Weise geliefert, und wenn ihren
Bestrebungen bis jetzt der erwünschte Segen „von oben" nicht zu teil geworden
ist, so hilft das voraussichtlich zur Verbreitung und Befestigung des Glaubens,
daß die Unterstützung jener Vereine für jeden Lehrer, der es mit seinem Staude
und mit der Erziehung der vaterländischen Jugend ernst nimmt, eine unabweis¬
bare Pflicht sei. ' ,
Das letzte Doppelheft der „Zeitschrift für den
deutschen Unterricht (S/6) enthält vier Bücherbesprechungeu hinter einander, von
denen die erste von Ludwig Fränkel in Stuttgart, die zweite und dritte von Lud¬
wig Fränkel in Nürnberg und die vierte von Ludwig Fränkel in Leipzig unter¬
zeichnet ist. Diese vier Besprechungen sind aber nicht etwa von drei verschiednen
Mitarbeitern geschrieben, sondern stammen augenscheinlich aus ein und derselben
Feder. Entweder gehört also der Verfasser einem nomadisirenden Volksstamm an,
oder er ist ein eitler Schulfuchs, der sich gerade auf einer Ferienreise befunden
hat und nun jene stolzen Vorreden deutscher Professoren kopirt, die unterzeichnet
sind: Rom, am zweiten Ostertng 1882. Wahrscheinlich ist beides der Fall. We¬
nigstens schwingt der Verfasser das Weihrauchfaß nach allen Seiten mit solcher
Plumpheit und sucht sich auf allen Seiten so aufdringlich anzuvettern, wie das ein
deutscher Maun uicht fertig bringt, und dabei sind diese vier Besprechungen in
einem so unangenehme» Gemisch von Stllmperhaftigkeit und Ziererei geschrieben,
wie man es nur bei ganz grünen Burschen findet. Ein paar Beispiele werden
genügen. In der Besprechung der „Jahresberichte für neuere deutsche Litteratur¬
geschichte" heißt es: „Nur in aller Kürze soll hier auf ein neues Unternehmen
aufmerksam gemacht werde», dessen Gedanke und Anlage schon die nachdrücklichste
Teilnahme verdienen würde, auch wenn die Ausführung uicht allseitige günstige
Aufnahme verbürgte. Nicht bloß für die Fachmänner und die Deutschpädagogen,
sondern auch für sämtliche Freunde unseres (!) vaterländischen (!) Schrifttums in dessen
den Laien zugänglichen Perioden und seiner wachsenden Bekanntwerdung und Er¬
kenntnis." In der Besprechung von Leixners Deutscher Litteraturgeschichte steht:
„Wir können uns zwar keineswegs mit sämtlichen Anschauungen, die Leixner über
unsere (!) vaterländische (!) Litteratur entwickelt, einverstanden erklären. Aber erstens
ist diese Thatsache der vielfachen Abweichungen im Urteil eigentlich selbstverständ¬
lich, und zweitens muß eingeräumt werden, daß die kuudgegebuen Ansichten fast
ausnahmslos auf dem Grunde einer selbständigen Erwägung fest erwvrbner Kenntnis
ruhen.""
Die „Zeitschrift für den deutscheu Unterricht hat seit einiger Zeit ihren Um¬
fang verdoppelt und dadurch sehr viel Papier gewonnen. Infolge dessen mehren
sich neuerdings bedenklich die Beiträge — namentlich das sogenannte Sprechzimmer
ist reich daran —, die besser im Papierkvrbe verschwunden wären. Schon ans Er¬
barmen mit den Einsendern sollte die „Schriftleitung" manches nicht abdrucken.
Es ist nicht hübsch, wenn ein Redakteur einfach nach dem Grundsätze verfährt,
jeden Mitarbeiter seine Haut zu Markte tragen zu lassen, und Aufsätze abdrückt,
die nach Inhalt und Form keine andre Bestimmung in der Zeitschrift habe» können,
als den Beiträgen des Herausgebers und einiger andern Leute als Folie zu dienen.
Wenn aber die Anwendung dieses Grundsatzes so weit getrieben wird, wie bei
diesen vier Besprechungen, so dürfte die Geduld der Leser bald zu Ende sein —
trotz des „kundigen Urteils," das die „Jahresberichte für Litteraturgeschichte" über
die Zeitschrift für den deutschen Unterricht" abgegeben haben, und über dessen
Empfang hier durch Vermittlung des Herrn Ludwig Fränkel mit gerührtem Hände-
schütteln öffentlich quittirt wird.
Einer der Leipziger Militärmnsikdirektoren hat
den genialen Einfall gehabt, in seinen letzten Konzerten an das Publikum einen
Wunschzettel verteilen zu lassen. Auf diesem Wunschzettel sind 120 Musikstücke
verzeichnet, von denen sich jeder Zuhörer 12 aussuchen darf. Die 12 Musikstücke,
die die meisten Stimmen erhalten haben, sollen dann in einem „großen Extra?
kvnzert" am 10. August gespielt werden.
Wir haben in den Grenzboten wiederholt darüber geklagt, wie der musika¬
lische Geschmack der großem Masse durch unsre Militärmusik systematisch ruinirt
wird. Wie berechtigt diese Klage war, kann gar nicht trauriger bestätigt werden,
als es durch diesen Wunschzettel geschieht. Unter den 120 Musikstücken, die er
aufzählt, sind 15 Ouvertüren, 12 Märsche, 15 Walzer, 10 Mnzurken, 10 Polkas,
10 Galopps und 12 Potpourris. Die übrigen 36 Stücke find, wie es in der,
Überschrift lüderlicherweise heißt: „Symphonische Opernsätze und Lieder." DaS
soll heißen: „Symphonische Sätze, Operusntze und Lieder." Genau genommen sind
es: 1 (!) Symphoniesatz, 1 (!) Quartettsatz, 1 (!) Sonatensatz, 4 sonstige lkonzertstücke
(nämlich 2 sogenannte Rhapsodien, natürlich von Liszt, und zwei Kouzertpolvnnisen),
5 (!) Lieder und 22 Nummern ans Opern und Ballets. Unter diesen 22 Num¬
mern sind aber wieder 13 Potpourris. Die Bezeichnung „Potpourri" ist zwar
neuerdings etwas in Mißkredit gekommen*); man bezeichnet jetzt als Potpourri
nur noch die entsetzlichen Znsammenflickereien ans den verschiedensten Musikstücken —
eine „Kunstform," so dumm und so gemein, daß sie ans jedem andern Kunst-
gebicte als auf dem der Musik ganz undenkbar wäre. Die Znsammenflickercien
von Stücken ein und derselben Oper bezeichnet mau jetzt vornehmer als: „Szenen
ans" oder „Fantasie aus" oder „Anthologie ans" oder „Selektion (!) aus." Natür¬
lich sind aber auch das nichts andres als ganz genwhnliche Potpourris, sodaß sich
unter den 120 Nummern des Wunschzettels in Wahrheit 25 Potpourris befinde».
Nun wird kein Mensch so pedantisch sein, zu verlangen, daß in einem Bier¬
konzert für die große Masse nnr wirkliche Konzertmnsik gespielt werde. Man darf
aber doch auch nicht ganz vergessen, daß der Marsch dazu da ist, beim Marschieren
gespielt zu werden, daß der Tanz dazu da ist, zum Tanze gespielt zu werden, daß
die Opernmusik dazu da ist, im Theater gespielt zu werden, Lieder endlich dazu
da sind, gesungen zu werden. Der ganze Wunschzettel aber besteht, mit wenigen,
verschwindenden Ausnahmen, aus Theater-, Tanzboden- und Straszenmnsik! Das
ist eine entsetzliche Verirrung.
Noch viel entsetzlicher aber erscheint der Wunschzettel, wenn wir die Namen
der Komponisten ansehen: die, die draufstehen, und die, die fehlen. Mit 10 Num¬
mern ist Wagner vertreten, Beethoven mit — 4, Schubert mit — 2! Gar nicht
vertreten sind: Bach, Händel, Haydn, Mozart, Mendelssohn, Schumann, Brahms,
ganz zu schweigen von vielen deutschen Meistern zweiten oder dritten Ranges, Man
denke: in Leipzig, in der Stadt, die für die Musikstadt Deutschlands xar exoslleues
gilt, unter 120 Musikstücken/ nicht ein Ton von Mendelssohn, nicht ein Ton von
Mozart!
Leider ist es dahin gekommen, daß die -Militärkapellen das ganze bischen
musikalische Leben der großen Masse beherrschen. Vor zwanzig, dreißig Jahren
gab es in unser» großen Städten noch anständige Zivilkap eilen, bei denen man
für ein bescheidnes Eintrittsgeld ein wirklich gutes Kouzert hören konnte. Der
Verfasser dieser Zeilen hat von einer solchen Kapelle nach und »ach alle Beethoven-
schen Symphonien spielen hören — die drei ersten Sätze der nennten nicht aus¬
genommen. In den letzten zwanzig Jahren sind diese Kapellen immer mehr durch
die Militärmusik verdrängt und schließlich ganz tot gemacht worden. Schankwirte
wie Publikum — alles läuft mir uoch dem zweierlei Tuch nach. Der Haupt-
geuuß in einem Militärkonzert ist ja gar nicht die Musik — sondern das sind die
Uniformen, das blaue geputzte Blech und vor allen Dingen der stadtbekannte, be¬
liebte, gefeierte Militärmnsikdircktvr, der, um ein Kouzert zu dirigiren, nicht etwa
seine» Stiefelputzer oder seine Photographie schickt, sondern — welche Ehre für
das Publikum! — das Kouzert „persönlich leitet," beim Dirigiren den beglückten
Hörern den Anblick seiner wohlgenährten Vorderseite gönnt, sich selbstgefällig ans
den Zehen wippt und so allerliebste Späße mit dem Taktstvck macht. So weit
sind wir. Armes Volk!
Über den Zweck, der durch den Wunschzettel erreicht werden soll, glauben wir
uus ebenso wenig zu irren, wie über den Ausfall der Abstimmung, vorausgesetzt,
daß die Stimme« wirklich genan gezählt werde», und das Konzertprogramm genau
nach der Abstimmung zusammengestellt wird. Wir wollen uns aber heute jeder
Bemerkung darüber enthalten und zunächst das Programm abwarten.
der gegen Eude Juli in Wien verhandelt wurde, wirft
ein so grelles Licht auf den segensreichen Einfluß gewisser Freiheiten, namentlich
der unbedingten Preßfreiheit und der Freigebung der Advokatur, daß es sich ver¬
lohnt, ihn ein wenig ins Auge zu fassen. Es handelte sich um „gröbliche, öffent¬
liches Ärgernis erregende Verletzung der Sittlichkeit und Schamhaftigkeit," und die
Verhandlung fand unter Ausschluß der Öffentlichkeit statt. Die Schweinerei muß
alles Maß überschritten haben, da selbst die Geduld der, wie auch der Staats¬
anwalt berührte, in solchen Dingen sehr nachsichtigen Wiener Polizei gerissen war,
und schließlich Strafen von drei und sechs Monaten verhängt wurden. Das an¬
geklagte „Organ der öffentlichen Meinung" nennt sich „Die Gesellschaft" und be¬
faßt sich nach Aussage des Herausgebers hauptsächlich mit Theaternachrichten. Er
habe, sagte er, Beziehungen zu den Bühnen, bringe über sie die „wichtigsten und
sensationellsten Nachrichten und habe daher nicht Zeit, solche Lappalien und Dumm¬
heiten zu lesen." Der Redakteur ist ein Schriftsetzer, der für jede Nummer des
Wochenblattes mit einem Gulden bezahlt wird, also, wie ihn der Vorsitzende richtig
bezeichnete, bloßer Strohmann und Sitzrcdakteur ist. Der Mitarbeiter, der die
schönen Beiträge nach dem Französischen bearbeitet hatte, ist gleichzeitig Redakteur
eines andern Organs „Die Kunst," und auf die Bemerkung des Staatsanwalts,
daß beide auf gleicher Stufe stünden, entgegnete er würdevoll, seine „Kunst" sei ein
anständiges Blute.
Die Verteidiger, mit den bezeichnenden Namen Ellbogen und Rosenfeld, fanden
natürlich die Aufsätze ganz harmlos. Der eine erklärte es für unbegreiflich, daß
in einer Zeit, wo Zola und Maupassaut „Klassiker der Weltlitteratur" geworden
seien, dergleichen gerichtlich verfolgt werden könne, und der zweite schwang sich zu
der vollen Höhe „forensischer Beredsamkeit" empor, indem er feierlich gegen diesen
Versuch der Unterdrückung „einer neuen Kunstrichtung, des Naturalismus," pro-
testirte. Wenn sie diesem Versuche nicht widerstünden, rief er den Geschwornen
zu, dann sei es „mit aller Kunst und Litteratur für alle Zeiten aus und
vorbei."
Daß es, wenn solchem Treiben nicht gesteuert würde, bald mit manchem „aus
und vorbei" sein würde, unterliegt keinem Zweifel.
Die Litteratur der Kriegseriunerungen zählt schon nach Hunderten. In den
letzten Jahren, wo viele von den 187vern in das Alter eingetreten sind, das zum
Rückblick und zur Sammlung neigt, ist sie noch rascher gewachsen als früher. Auch
litterarische Handwerksgeselle», die leider nur der litterarischen Gewerbefreiheit ihre
Aufnahme in die Zunft verdanken, haben Buch auf Buch über die große Zeit zu-
sammengeschmiert, über Geschehenes und Nichtgeschehenes gleich fix berichtet, wie
z. B. der wortreiche Herr Tnnera. der uns das Übel zufügt, seine Soldaten in
Dialekten reden zu lassen, die er selbst nicht versteht. Glücklicherweise ist aber
anch so manches Büchlein in dieser Menge, das man nur aufzuschlagen braucht,
um einen Hauch des Geistes von 1870 zu spüren, der uns in diesen Jahrestagen
großer Ereignisse, die um bald ein Menschenalter hinter unter uns liegen werden,
doppelt wohlthuend anwehe. Die „Feldpostbriefe eines vermißten ehemaligen
Afrauers" erfüllen uns selbst mit dem Schwung, der diese junge Seele in den
Krieg führte. Das bereite Verständnis für das Kriegshandwerk, dabei die Be¬
scheidenheit, die Menschlichkeit, und über allem der Todesart, alles selbstverständ¬
lich, ohne Pose — so waren sie, die, um ein Wort des alten Hase an einen seiner
drei Söhne, die damals in Frankreich dienten, zu wiederholen, „rüstig fortfuhren,
die Gottesgerichte an Frankreich zu vollzieht! und soweit es der einzelne an dem
einzelnen hie und da vermag, zu mildern." Bei unserm Afrouer läuft dabei ge¬
legentlich anch ein sächsisches Späßchen mit unter, das ihn uns menschlich nur noch
näherrückt. Wir machen Metz, Sedan und Paris mit ihm durch, bis ihn bei
Villiers — so muß man vermuten — eine Kugel trifft und er schwerverwuudet
von den Franzosen fortgeschleppt wird. „Vermißt," verschwunden, so endet der
junge Held, an dessen^ Briefen sich die heutige Jugend erbauen und ein Beispiel
nehmen niöge. Sehr anziehend sind die gleichsam als Prolog mitgeteilten Briefe
einer deutscheu Frau, die beim Anbruch des Krieges in dem Pariser Hexenkessel
saß, den sie erst in letzter Stunde fliehend verließ. Zur Kenntnis der damaligen
Zustände in Paris und des französischen Charakters überhaupt, der sich hier von
der schlechtesten Seite zeigt, bringen diese Aufzeichnungen wertvolle Beiträge. Vor
den Briefen des Afraners haben sie den Vorzug der Gedrängtheit.
Vielleicht dürfen wir zum Schluß die allgemeine Bemerkung anfügen, daß die
Pietät nie abhalten sollte, derartige, mit mancherlei gleichgiltigen Persönlichkeiten
beladne Briefe etwas zu kürzen. Wir kennen keine Sammlung von Feldzugsbriefeu
vou 1870/71, die nicht dnrch Aussonderung unwichtiger Kleinigkeiten gewonnen
hätte, selbst die vielgelesenen vou Rindfleisch, General von Hartmnuu n. a.
Auch aus diesem bescheidnen Büchlein spricht ein junger Held zu uns, der
im Dienste des Vaterlandes gefallen ist. Wir begleiten deu jungeu Offizier der
Fußartillerie vou der Abreise aus München nach Sansibar, Dur-es-Salaam, wo
er als Waffenverwalter wirkte, in das Gefecht von Pala-Malakka, das letzte des
großen Araberaufstandes, nach Lindi, Mikindani und zum Kilima-Ndscharo. In
Briefen und Tagebuchblätteru siud Beobachtungen und Urteile niedergelegt, die vou
nicht gewöhnlichem Scharfblick und geistiger Beherrschung ungewohnter Verhältnisse
zeugen. Die Auffassung der Zukunft Dentschostafrikas ist vielleicht etwas zu opti¬
mistisch, und in der Beurteilung des deutsch-englischen Abkommens und der Zivil¬
verwaltung, die uach Wißmanns Siegen das Land übernahm, kommt nur die
Ansicht des Offiziers zum Ausdruck. Aber wenn wir auch uicht in jeder Sache
die Meinung des Briefschreibers teilen, berührt uus doch seiue Hingebung an die
neue Aufgabe und sein warmer Patriotismus höchst wohlthuend. Es ist keine Spur
von Ruhmredigkeit in dem ganzen Buche, wiewohl vou mancher tüchtigen Leistung
berichtet wird, und alles Phrasentum, das in den Schriften unsrer Afrikaner sonst
so manchen Schößling getrieben hat, ist dem Geiste dieses einfachen, pflichttreuen
Mannes fremd, der eine ganze Reihe moderner Sprachen beherrschte, nach wenigen
Monaten Kisuaheli wie ein alter Afrikaner sprach, sich in die Geschichte der hol¬
ländischen und spanischen Kolonien versenkte, um für Deutsch-Ostafrika zu lernen
und dabei als Kriegsmann, wie als Verwalter der Stationen praktische Erfolge
hatte. Als Zeugnis des Geistes der Wißmannschen Ära in Deutsch-Ostnfrika hat
das Büchlein historischen Wert. Kein Deutscher wird es ohne Teilnahme lesen.
Unser Interesse an der Thätigkeit unsrer Lnndsleute in den Kolonien mag sich
daran erfrischen.
ii dem hinter uns liegenden Wahlkampse hat wieder einmal der
„Zusammenschluß aller bürgerlichen Parteien" gegen die „Um¬
stürzler" eine große Rolle gespielt. Auch der Führer der Na-
tivnalliberalen, der, wie es scheint, immer unfähiger wird, die
im Volke lebendigen Kräfte zu erkennen und richtig zu beurteilen,
hat in seiner Rede zur Militärvorlage das große Wort ausgesprochen, daß
die Sozialdemokratie nicht das geworden wäre, was sie ist, wenn ihr nicht der
Hader der bürgerlichen Parteien zu Hilfe gekommen wäre. Wir wagen die
Ketzerei auszusprechen, daß die Sozialdemokratin' schon heute sehr viel weiter
wäre, als sie ist, wenn sich nicht innerhalb der uichtsozialdewvkratischeu Parteien
eine Bewegung Geltung verschafft hätte, die von dem allgemeinen Ordnungs¬
brei nichts wissen will, die die Sozialdemokratie bloß als ein Erzeugnis ver¬
werflicher sozialer Zustände auffaßt, und die infolge dessen mit mehr Energie
Front macht gegen die Bestrebungen eines bankerotten und überlebten wirt¬
schaftlichen Individualismus als gegen die Frucht dieses Individualismus,
gegen die Sozialdemokratie. Für den liberalen Philister ist das beispiellose
Wachstum der antisemitischen oder dentschsozialen Partei ein fast unlösbares
Rätsel, ein Beweis für eine traurige Verirrung und Verrohung des deutschen
Volkscharakters, ein Antrieb, die Frage nach der Berechtigung des allgemeinen
Wahlrechts einer Nachprüfung zu unterziehe». Für uns liegt das Geheimnis
der Erfolge dieser Partei wesentlich darin, daß sie allein den Mut hat, es
mitzusprechen, daß die Bekämpfung der Sozialdemokratie nur durch die Be¬
seitigung der Übelstände erfolgen kann, denen sie ihre Entstehung verdankt,
und daß der wirkliche Feind nicht die Sozialdemokratie, sondern der Geist ist,
von dem der gemäßigte wie der radikale, der regierungsfähige wie der rc-
Mrungsnnfähigc Liberalismus in gleicher Weise beherrscht wird.
Der liberale Gedanke von dem freien Spiele der Kräfte im wirtschaftlichen
Leben hat im Volle alles Ansehen verloren, das Volk sehnt sich nach neuen
berussgeuossenschastlichen Organisationen, nach staatlichem Eingriff zu Gunsten
der wirtschaftlich Schwachen, nach Beseitigung der Auswüchse einer das all¬
gemeine Interesse überwuchernden, schrankenlosen persönlichen Freiheit, und so¬
lange leine andre Partei dawar, die dieser Sehnsucht Ausdruck verlieh, wendete
es sich der Sozialdemokratie zu. Wer aufmerksam hinsah, bemerkte leicht, daß
die Sozialdemokratie von Jahr zu Jahr mehr Eingang fand im deutschen
Mittelstande, daß die untern Beamten, die um ihre Existenz schwer ringenden
kleinern, selbständigen Handwerker mit zunehmender Bereitwilligkeit ihren
Lockungen Gehör liehen, daß schon längst die Sozialdemokratie weder eine
bloße Partei der Lohnarbeiter noch eine Partei des Proletariats war.
Die schwerste Gefahr, die uns droht, liegt darin, daß wir, statt uns
endgiltig loszureißen von dem liberalen Manchestertnm und jede Brücke, die
zu ihm hinführt, abzubrechen, uns in unverständiger Angst vor der Sozial¬
demokratie immer wieder dazu verleiten lassen, ihm die Hand zu reichen.
Während es sich darum handelt, dem versinkendem Mittelstände aufzuhelfen
und dadurch zu verhindern, daß er weiter der Sozialdemokratie verfällt,
glauben zahlreiche, sonst verständige Politiker in dem Zusammenschluß aller
staatserhaltenden Parteien das Heilmittel gefunden zu haben, und merken nicht,
wie dieser Zusammenschluß nnr dazu sührt, dem in Wirklichkeit toten Man¬
chestertnm noch ein Scheindasein zu erhalten und der Sozialdemokratie neue
Waffen und neue Siege zu verschaffe». Die Sozialdemokratie selbst ist über
diese Lage der Dinge völlig im klaren, und ihre Zeitungen sprechen es mit
überraschender Deutlichkeit aus. Erst jüngst hat das Hamburger „Echo" ge¬
rade bei Besprechung der erwähnten Äußerung Beuuigsens ausgeführt: „So
weiß Herr von Bennigsen uicht, daß die Sozialdemokratie wünscht, der Hader
der bürgerlichen Parteien möge aufhören! Wir haben an diesem Hader nicht
das geringste Interesse. Unser aufrichtiger, so oft zum Ausdruck gebrachter
Wunsch geht dahin, die bürgerlichen Parteien möchten sich so bald als möglich
zu einer einzigen zusammenschließen. Das würde eine Klärung des Partei¬
kampfs bedeuten, die der Sozialdemokratie nur zum Vorteil gereichen könnte.
Unsre Partei hat keinen Grund, den Zusammenschluß der bürgerlichen Ele¬
mente zu fürchten; erst wenn er erfolgt sein wird, kann die Sozialdemokratie
in beschleunigtem Tempo der endgiltigen Entscheidung entgegengehn." Es ist
das nicht zu leugnende Verdienst der antisemitischen oder, wie wir sie lieber
nennen hören, der deutschsozialeu Partei, dies erkannt und dort eingesetzt zu
haben, wo allein wirksam gegenüber der Sozialdemokratie eingesetzt werden
konnte.
Von konservativer Seite wird vielfach über die antisemitischen Demagogen
und über den Einbruch des Antisemitismus in die konservativen Parteiverbände
laute Klage geführt. Wir bestreikn der konservativen Partei das Recht zu
solcher Klage; keine Partei war, wie sie, befähigt und berufen, die Sache
der Vvlkserneuernng zu führen, und zu verhindern, das;' diese Sache in dema¬
gogische Bahnen geriete, und keine Partei trifft eine größere Schuld daran,
daß diese große und gute Sache einer jugendlich unerfahrenen, leidenschaftlich
unbesonnenen Partei anheimfällt und nnn in Gefahr gerät, in den unkundigen
Händen dieser Partei zu Grunde zu gehen. Aber gesetzt, die konservative
Partei hätte das größte Recht, sich zu beklagen, glaubt mau wirklich, daß,
wenn die Deutschsozialen nicht auf dem Pläne erschienen wären, die 116000
Wähler, die z. B. in Sachsen dentschsozial gewählt haben, fein artig bei der
Fahne geblieben wären und Mann für Mann konservativ gestimmt Hütten?
Wer das glaubt, der kennt unser Volk schlecht. Sozialdemokratisch hätten sie
gewählt; vielleicht nicht alle schon diesmal, aber doch ein großer Teil von
ihnen, und die andern das nächstemal. Uns scheint, die konservative Partei
und wir alle sollten den Deutschsozialen danken, daß sie dies verhindert haben,
wir sollten bei aller Würdigung der Fehler und Schwächen dieser jungen
Bewegung und ihrer in so mancher Hinsicht nicht „einwandfreien" Führer ihr
gegenüber eine gewisse wohlwollende Neutralität beobachten.
Lassen wir uns nicht beirren durch das Gezeter derer um Rickert und
Richter und durch die Weherufe der Großindustrie, des Großkapitals und des
Großgrundbesitzes! Einer Partei, die ihr Hauptaugenmerk nicht auf die So¬
zialdemokratin sondern auf die sozialen Schaden der Gegenwart richtet, die
das Mittelglied zwischen reich und arm, den Mittelstand, lebenskräftig er¬
halten und widerstandsfähiger machen will, gehört die Zukunft, mag sie in
ihren Gedanken, wie das zu erstrebende Ziel zu erreiche« sei, auch noch so
unklar sein, sich in ihrer Kampfesweise auch uoch so jugendlich und schülerhaft
geberden. Die deutsch-soziale Partei hat das richtige Ziel erkannt, sie wird
auch schließlich den richtigen Weg finden, und es ist unsre Sache, ihr hierbei
behilflich zu sein, nicht dadurch, daß wir, wie es Stöcker thut, sie von oben
herab abkanzeln, weil sie nicht so will wie wir, sondern indem wir durch ruhige
Belehrung ihr namentlich begreiflich zu machen suchen, daß es sich nicht um
einen Kampf gegen die Juden, sondern um andres, viel tiefer liegendes handelt,
und daß, wenn der grausame und unmögliche Plau eiuer Judeuvertrcibung
durchführbar wäre, wir um nichts weiter wären, wir nur Personen beseitigt,
die Sache aber nicht geändert hätten.
Die Sozialdemokratie nimmt gegenüber dem Antisemitismus seit seinen
großen Erfolgen eine andre, viel schlauere Stellung ein als die übrigen Par¬
teien. Sie glaubt oder giebt sich wenigstens den Anschein, zu glauben, daß
die Antisemiten nur die Geschäfte der Sozialdemokratie besorgten. Der Anti¬
semitismus diene dazu, die „politisch rückständigsten" Schichten der unbemit¬
telten Vevölkernngsklasfen für das Verständnis der sozialdemokratischen Ge-
danken reif zu machen, schliesslich werde die antisemitische Bewegung einsehen,
daß nicht die Juden, sondern die kapitalistische Gesellschaftsordnung das Übel
sei, und damit werde sie am Ende ihrer Selbständigkeit angekommen sein und
in die große, von der Sozialdemokratie geleitete Bewegung des Sozialismus
auslaufen. Es liegt etwas Wahres, eine jener gefährlichen Halbwahrheiten
der Sozialdemokratie in dieser Auffassung. Auch wir glauben und hoffen,
daß die antisemitische Bewegung schließlich eine gesunde, im besten Sinne des
Wortes sozialistische Bewegung werden wird. Aber wir glauben und hoffen
nicht, daß sie sozialistisch werden wird im Sinne der Sozialdemokratie, und
es ist unsre eruste, ja unsre wichtigste Aufgabe, das zu verhindern, mit allen
Mitteln dagegen zu kämpfen, daß der Talmisvzialismns der Sozialdemokratie
an Stelle des echten Goldes des Sozialismus noch weiter vordringe in unserm
Volke.
Dank den Sünden unsrer sogenannten liberalen Gesetzgebung, die die alten
organischen Formen des Zusammenlebens der Menschen zerschlagen und es ver¬
absäumt hat, neue an ihre Stelle zu setzen, und die den Staat aus einem ge¬
ordneten und gegliederte» Organismus zu einem zusammenhangslosen Klumpen
von Einzelwesen umgeschaffen hat, dank der Teilnahmlosigkeit unsrer „gebil¬
deten" Staude, die nicht zu finden waren, als sich die führerlose, allein ans
den freien Arbeitsvertrng angewiesene Masse nach einem Halt umsah in dein
wilden Meere der entfesselten Selbstsucht, dank der Verblendung unsers ma߬
gebenden „Bürgertums in Stadt und Land," das die sozialen Übelstände nicht
wahrnahm und sich nicht regte, bis die Krone endlich in zwölfter Stunde zur
sozialen Reform den Anstoß gab, haben wir es dahin gebracht, daß sich der
Sozialismus bei uns von unten herauf zur Geltung brachte, und daß er,
seinem Ursprünge getreu, religivnSfeindlich, revolutionär, demokratisch, anti-
mvnarchisch und antinativnal war. In seinem unaufhaltsamen Siegeslaufe ist
der Sozialismus jetzt bei deu Bevölkeruugsklasseu angelangt, die das Partei¬
kauderwelsch der Sozialdemokratie als die „politisch rückständigsten" bezeichnet.
Das sind nämlich die Teile des deutschen Volkes, die noch ans alte deutsche
Zucht und Sitte halten, die treu ihrem Gott und ihrem König ergeben sind,
die ihr Vaterland und den Grund und Boden lieben, auf dem ihre Familie
von Alters her heimisch ist, und die Neuerungen am allerwenigsten zugänglich
sind. Es liegt auf der Hand, daß der Sozialismus, wenn er hier eindrang,
eine andre Form annehmen mußte, als in der unsteten, von hier nach dort
geschleuderten, nirgends wahrhaft heimischen Arbeiterbevölkerung. In den kon¬
servativen Schichten des Handwerkerstandes, des Bauernstandes und des Standes
der mittlern und kleinen Beamten mußte die sozialistische Bewegung zunächst
jedenfalls in dem Gewände einer christlich-religiösen, königstreueu, urdeutsche»,
an die ständische, geschichtlich überlieferte Glieder»»g der Vergangenheit an¬
knüpfenden, durchaus gegen revolutionäre Gelüste gerichtete» Partei auftreten.
Nimmt man hinzu, dos; es in Stadt und Land diesen Bevölkerungsklassen
gegenüber in weit überwiegender Zahl Juden waren, die sie bewunderten und
ausbeuteten, so haben wir damit Entstehungsgeschichte und Erklärung, Berech¬
tigung und Programm der dentschsvzialen Partei. Das; diese Partei nur eine
Partei des Übergangs, des Werdens ist, erscheint anch uns, sowie den Sozial¬
demokratin!, unzweifelhaft. Es muß und wird bei ihr an Stelle der persön¬
lichen Gehässigkeit des Antisemitismus prinzipieller Sozialismus treten.
Welcher Art aber dieser Sozialismus sein wird, das hängt wesentlich von
der Stellung ab, die die Krone und die Regierungen, die sogenannten bürger¬
lichen Parteien, kurz alle die zur deutschsozialen Partei einnehmen, die die
„Klinke der Gesetzgebung" in den Händen haben, das hängt von dem Maße
der wirtschaftlichen und sozialen Fürsorge, die wir dem versinkendem Mittel¬
stande und dem sich aus dem bessern Arbeiterstande hervorarbeitcnden neuen
Mittelstande angedeihen lassen.
Eine starke Stellung könnte der bestehende Staat gegenüber den Umsturz-
bestrcbnngen erlangen, wenn er, gestützt auf den kerndeutschen, innerlich ge¬
sunden und vaterlanostrenen Mittelstand, die Sache eines konservativen und
monarchischen Sozialismus zu der seinigen machte. Hier im Mittelstande, in
seinem Triebe zu genossenschaftlicher Organisation, zu korporativen Znsammen-
schlusse liegen die starken Wurzeln der Kraft unsers Staatswesens überhaupt.
Was Thomas Carlyle über den Radikalismus sagte (Schulze-Gävernitz, Zum
sozialen Frieden S. t56), das gilt auch vou unserm Liberalismus, der radikal
aufgeräumt hatte mit den sozialen Einrichtungen der frühern Jahrhunderte.
„Der Radikalismus hinterläßt im Laufe seiner Entwicklung ein Nettoresultat
von Null und Leere für eine neue Ordnung; ja er ist so negativ, daß es
nicht sein Verdienst ist, wenn unter seiner Herrschaft die Gesellschaft noch fort¬
besteht. Vielmehr beruht dies allein darauf, daß ans vergangnen Zeiten noch
positive Elemente überliefert sind, oaß insbesondre in abgelegner» Kreisen der Ge¬
sellschaft sdas sind die „politisch rückständigsten" Vevölkernngsschichten im Sinne
der Sozialdemokratin noch alter Glaube nicht geschwunden, noch alte Formen
nicht zur Lüge geworden sind, daß vielmehr »och eine Reihe sozialer In¬
stitutionen die Verehrung der Mehrzahl besitzen." Und, so fügen wir, den
Cnrlyleschen Gedankengang zu Ende denkend, hinzu, diese von der Superklug-
heit revolutionärer Thoren mißachteten „positiven Elemente" sind es dann
schließlich, aus denen sich fruchtbare, positive Gedanken für eine Neuordnung
an Stelle der zertrümmerten alte» Ordnung langsam »ut mühsam, aber darum
nur um so sicherer hervorringeu, und die den festen Kern bilden, um den sich
die neue organisirte Gemeinschaft, genannt Staat, krystallisirt.
Wir stehen jetzt im Anfange dieser Entwicklung. Die deutschsoziale Be¬
wegung ist der erste unsichere und tappende Schritt jener „positiven Elemente"
in dem fast völlig leeren Raume, den der Liberalisinus an die Stelle des
Staats gesetzt hat, und in dem sich bisher nur die Sozialdcmokrntie tummelte,
bereit, auch das noch zu zerstören, was der Liberalismus nicht niedergerissen
hatte. Darin liegt die weitgehende Bedeutung dieser Bewegung.
Hüten wir uus davor, sie mit Geringschätzung zu betrachten oder gar
sie als staatsfeindlich zu verfolgen. Wir würden der antisemitischen Bewegung
gerade, weil sie vor allem antisemitisch ist, statt einfach deutsch und sozial zu
sein, zu viel Ehre anthun, wenn wir sagen wollten, daß sie uns die Erlösung
brächte. Allein der Vorbote der Erlösung von den Irrtümern, Leiden und
Sorgen, die uns dieses so rein negative Jahrhundert des Liberalismus ge¬
bracht hat, ist sie gewiß.
le Wohnung ist das halbe Leben. Dieser Satz wird oft laut, be¬
sonders aber dann, wenn einem Familienhaupte die Aufgabe zu¬
füllt, für sich und die Seinen ein Unterkommen zu suchen, Nur
zu vielen ist es nicht beschieden, für eine Reihe von Jahren — an
ein oder mehrere Jahrzehnte gar nicht zu denken — ein Haus
oder auch uur ein Stockwerk in einem Hause als sein Heim zu wissen. Zwar
entstehen, wo mau nur hinsieht, Neubauten. Aber in sehr vielen Fällen hat
ein kleines Hans und noch öfter haben mehrere kleine Häuser einem Neubau
weiche» müssen. Sind wir auch noch weit entfernt von amerikanischen Zu¬
ständen, ein gewisses turmartigcs Aussehen fällt uns doch schon an vielen
unsrer Neubauten auf. Man kann in unsern großen Städten ganze Straßen
durchwandern, ohne eines Daches ansichtig zu werden; das Dach mit seinen
freundlichen kleinen Mausardeufenstern findet keine Stätte mehr. Aber auch
auf den Dörfern macht sich der Zug der Zeit in der Gestalt der Wohnhäuser
erkennbar. Mitten in einem Dorfe von ganz ländlichem Charakter erhebt sich
eines schönen Tages ein einförmiger Kasten und ruinirt den ganzen Anblick
des Dorfes. Nach zwei, drei Jahren sind schon zehn solcher Kasten da, und
mit dem Dorfe ists vorbei.
Wo bleibt das Haus, worin eine Familie wohnt? Jedes Jahr schwinden
diese Hänser mehr. Die Bestrebungen, dem entgegenzuarbeiten, indem an der
äußersten Grenze des städtischen Weichbildes Einsamilieichäuser gebaut werden,
wie es ja in Berlin nicht ohne Erfolg geschieht, können es doch nicht verhindern,
daß alljährlich in vielen Fällen vielleicht zehn Familien, die bisher jede für
sich in einem Hanse wohnte», nun ein großes Haus gemeinsam bewohnen
müssen. Das sind große Übelstände, die aber freilich nicht zu ändern sind,
dn hier das Geld sein hartes, unerbittliches Wort mitzureden hat.
Wollte man den Stimmen der Presse Glauben scheuten, so wäre eine
eigentliche Wohnungsfrage nnr für den Arbeiter, und hier vor allem wieder
für den Fabrikarbeiter vorhanden. Es ist ein Zeichen großer Uneigennützig¬
reit, daß gerade die Arbeiterwohnung in den Vordergrund der Erörterung ge¬
stellt wird in Zeitschriften, die doch nur von Leuten gelesen werden, die man
gewöhnlich nicht nnter die Arbeiter rechnet, die Sorge xro äomo dagegen, — hier
im eigentlichsten Sinn — selten zum Worte kommt. Und doch kommen die Ge¬
fahren für das leibliche und sittliche Wohl, die durch die unzweckmäßige oder
unzulängliche Wohnung entstehen, nicht bloß beim Arbeiter in Betracht. Wir
denken namentlich an die Übelstände in den Wohnuugsverhültuissen der Offi¬
ziere und Beamten.
Die Wohnungsfrage im Leben der Offiziere und Beamten ist sehr oft
eine brennende Frage. Denn gerade in diesen Ständen gilt es sehr häusig
die Zelte abzubrechen und an andrer Stelle wieder aufzuschlagen. Oster noch
als bei den Beamtenfamilien bringen im Heere Versetzungen die Notwendigkeit
des Wohnungswechsels mit sich. Es ist keine Seltenheit, daß ein Stabsoffi¬
zier, der vielleicht fünfundzwanzig bis dreißig Jahre Offizier gewesen ist, zwölf
bis fünfzehn Garnisonen gehabt hat. Offiziere einzelner Truppengattungen,
wie der Pioniere, der Ingenieure, auch die der Artilleriedepots sind es schon
gewohnt, jede Garnison nur als vorübergehenden Aufenthalt anzusehen. Nur
ganz ausnahmsweise — am häufigsten noch bei Offizieren in der Lentnants-
oder Hauptmannsstellung — wird man hören, daß einer zehn Jahre und
länger in einer Garnison gewesen ist. Es wird darum auch nur sehr selten
der Fall sein, daß ein Offizier ein Hans erwirbt, selbst wenn er das nötige
Vermögen besäße.
So ist denn der Offizier und meist anch der Beamte auf Mietwohnung
angewiesen; denn die Zahl der Dienstwohnungen ist im ganzen gering. Noch
eher sind sie für Beamte vorhanden als für Offiziere. Sogar in vielen großen
Garnisonen giebt es nicht eine einzige Dienstwohnung für einen Offizier, und
nur ausnahmsweise verfügt die Militärbehörde über eine größere Zahl, wie
z.B. in Mainz, wo die zahlreiche», ehemals der Universität dienenden Häuser
in der Napoleonischen Zeit an die Militärverwaltung gefallen sind. In den
letzten dreißig Jahren ist aber der Bedarf um Wohnungen für Offizierfmnilieu
sehr groß geworden, da eben die Armee bedeutend vergrößert worden ist. In
wenigen Wochen wird wieder in zahlreichen Städten eine bedeutende Vermeh¬
rung der Garnison eintreten, zur Freude aller Hausbesitzer, zum Leidwesen
der vielen Familienväter, die es am Preise der Wohnungen sehr bald fühlen
werden, auch wenn sie nicht einem Wohnungswechsel unterworfen werden.
Infolge der vffeukuudigeu Notwendigkeit wurde a>u ^>U. Juni 187Z das
Gesetz über Bewilligung des Wvhnungsgeldzuschusses gegeben. Schon der
vorsichtig gewählte Name Wohuuugsgeldzuschuß drückt aus, daß es nicht als
Absicht des Gesetzes gellen sollte, volle Vergütung für den Preis einer Woh¬
nung zu gewähren. Im wesentlichen kennzeichnet sich der Wvhunugsgeldzuschusz
als ein Teil des Gehalts. Dem Umstände, daß die für eine Wohnung anfzn-
wendende Summe je nach der Lage des Wohnortes sehr verschieden war, suchte
man dadurch gerecht zu werden, daß man den Zuschuß in den verschiednen
Städten verschieden hoch bemaß; sodaß z. B. ein Offizier oder Beamter der
Kategorie II (so der Nnsdrnck im Gesetz!) i» Berlin (Klasse I 1200 Mark
Wohnnugsgeldzuschuß, in einem Orte der fünften Klasse aber nnr 510 Mark
erhielt.
Seit der gesetzlichen Regelung des Wohuungsgeldzuschusses sind aber zwanzig
Jahre ins Land gegangen, in unsern jetzigen Verhältnissen Zeit genng, eine
Einrichtung, die sehr zweckmäßig und dankenswert war, vollständig veralten
zu lassen. Die Wohnungsnot ist nachgerade eine schwere Sorge für Offiziere
und Beamte geworden. Hat mau anerkannt, daß für eine große Anzahl von
Beamten eine Gehaltserhöhung notwendig ist, deren volle Durchführung leider
aus Mangel an Mitteln vorläufig unterbleiben muß, so sollte doch das Aller-
notwendigste, die Erhöhung des Wvhnnngsgeldzuschufscs, nicht länger verschoben
werden, sollten wenigstens die auffälligsten Ungerechtigkeiten beseitigt werden.
Eine solche Ungerechtigkeit liegt aber darin, daß die Höhe des Zuschusses
in vielen Städten in gar keinem Verhältnis steht zu den wirklichen Preisen,
die dort für Wohnungen gezahlt werden müssen. Die Zuteilung zu bestimmten
Servisllasseu wird zwar in bestimmten Zwischenräumen revidirt, aber um der
leidigen Geldfrage willen bleiben doch die offenbarsten Ungerechtigkeiten bestehen.
Da sind z. B. die drei größten Städte im Reichslande mit dem Berliner (1^)
Servis bedacht; und doch sind dort die Wohnungen billiger als in den größern
Rheinstädten. Wer in Mülhausen oder Straßburg für 1000 bis 1200 Mark
eine ziemlich ausreichende Wohnung gehabt hat, wird in Koblenz oder Mainz
dieselben Räume kaum für 1500 bis 1800 Mark haben können. In den er¬
wähnten reichsländischen Städten ist aber für den Hauptmann el» Wvhnungs-
gcldznschnß von L00 Mark ausgeworfen, während ihm in den genannten
rheinischen Städten nur MO Mark zukommen. Wird ein Hauptmann also
von Straßburg nach Mainz versetzt, so muß er vielleicht 500 Mark mehr als
bisher für seine Wohnung zahlen, verliert 240 Mark Wvhnuugsgeldzuschuß
und 270 Mark Servis und wird außerdem noch kräftig zur Steuerzahlung
herangezogen, der er im Rcichslnude nach dem dort geltenden französischen
Gesetz gänzlich entgangen war. Die Berschlechtcrnng seines Einkommens be-
läuft sich in einem solchen Falle auf etwa 1100 Mark. Das ist für eine»
Familie, die auf genaueste Einteilung des Einkommens angewiesen ist, ein
schwerer Schlag. Man sage nicht, daß hier durch billigere Lebensmittelpreise
eine gewisse Ausgleichung geschaffen werde, denn bei den heutigen Verkehrs-
verhültnisfen ist ein wesentlicher Unterschied in diesen Preisen nicht mehr fest¬
zustellen. Selbst wenn durch billigern Dienstbotenlohn und etwas wohlfeiler»
Heizungsstoff 150 Mark im Jahre erspart werden können, ist doch der Ab¬
stand immer noch bedeutend.
Man sieht, daß selbst innerhalb der Armee die Einkvmmensverhältnisfe
keineswegs „uniform" sind. Das macht sich anch fühlbar, wenn der Offizier
aus einer größern in eine kleine Garnison versetzt wird. Meistens kommt er
hier in eine niedrigere Servisklassc, ohne daß deshalb die Wohnungen für
geringern Preis zu haben wären. Im Gegenteil, oft ist gerade in kleinern
Städten der Mietpreis für Wohnungen unverhältnismäßig hoch. Die Haus¬
wirte bilden einen Ring; sie halten auf Preis und lassen lieber einmal eine
Wohnung leer stehen, als daß sie sie billiger vermieteten. Meist muß sich der
Offizier den Preis einfach vorschreiben lassen, da keine Auswahl möglich ist,
denn die ganze Anzahl der vorhandnen Wohnungen wird regelmäßig gebraucht.
Wehe den Familien, die bei Verlegungeil oder Neubildungen von Truppen¬
teilen ihre Versetzung erst spät zu erfahren bekommen! Sie merken es gewaltig
am Geldbeutel. Der gemeine Mann wird untergebracht; die Stadt muß dafür
sorgen. Auch für den Arbeiter wird gesorgt. Aber der Offizier und der
höhere Beamte müssen sehe», wo und wie sie unterkommen. Der Wvhnnngs-
geldzuschuß bleibt sür sie immer derselbe, mögen die Verhältnisse noch so
schwierig sein. Das ist ungerecht.
Eine zweite Ungerechtigkeit ist folgendes. Der Familienvater wird hin¬
sichtlich des Wohuuiigsgeldzuschusfes mit demselben Maß gemessen wie der
Alleinstehende. Hat aber ein Offizier starke Familie, so muß er natürlich
mehr Wohnrüumc mieten, als wenn er unverheiratet ist oder keine Kinder hat.
Auch hier ist eine Änderung dringend geboten. Ist so oft gefordert worden,
daß sür die Wohnung des Arbeiters schon um der Gesundheit und der Sitt¬
lichkeit willen besser gesorgt werde, so ist dies auch für die höher gebildeten
Kreise der Gesellschaft zu fordern. Eine Familie, die mit Kindern gesegnet
'se, erhält vom Staate gar keine Förderung. Das ist sehr bedenklich. Den
monarchischen Staat, wie er heute ist, erhalten von der städtischen Bevölkerung,
auf die es bei unserm Gegenstand allein ankommt, da eine Wohnungsfrage
auf dem Lande natürlich kaum besteht, doch vor allem die Familien, aus denen
der Staat für Heer und Beamtenschaft seinen Ersatz zieht. Ist nun auch bis jetzt
für alle Arten von Beamten genügender Nachwuchs, ja sogar Überfluß dagewesen,
so kann das doch auch einmal anders werden. In einem Aufsatz im Juliheft
der Preußischen Jahrbücher wird von Dr. R. Bürger in Görlitz auf Grund
der unerbittlichen Zahlen nachgewiesen, daß voraussichtlich noch vor Ablauf
des Jahrhunderts nicht nur keine Überfüllung mehr, sondern zum Teil sogar
ein empfindlicher Maugel an höhern Beamten herrschen wird. Für das Heer
ist Mangel an Offizierersatz schon jetzt fühlbar. Die Kundgebung des Kaisers,
derzufolge von den Regimentskommandeuren bei der Annahme von Offizier¬
aspiranten möglichst weitherzig verfahren werden soll, hat bisher nur wenig
Erfolg gehabt, da der Kreis der Bevölkerung, ans dem der Osfizierersatz
kommt, nach den einmal obwaltenden Verhältnissen derselbe wie bisher geblieben
ist, wenigstens vorläufig. Darum sollten die Familien, aus denen Beamten¬
schaft und Offizierkorps ihren Nachwuchs nehmen, eher ermutigt werden, ihre
Kinder für den Staatsdienst groß zu ziehen. Aber welche Sorge bringt es
mit sich, wenn einem nicht mit irdischen Gütern gesegneten Beamten oder
Offizier fünf oder sechs Jungen von sechs bis sechzehn Jahren zu erziehen
obliegt! Dem Offizier hilft das Kadettenhaus, aber doch nur dann, wenn
er gesonnen ist, seine Jungen, ohne zu wissen, ob sie Neigung und Geschick
dazu haben, Offizier werden zu lassen. Dem Beamten hilft das Kadettenhaus
nicht; seinen Söhnen ist es verschlossen, er müßte denn die Pension bezahlen,
und die ist nicht unbedeutend. Sind die Kinder im Hause, so ist doch für
Schulgeld und Schulbücher jährlich eine große Summe zu zechten; und die
größte Sorge macht die Wohnung. Giebt es doch Hauswirte, die grund¬
sätzlich Familien mit Kindern nicht aufnehmen. Eine genügend geräumige
Wohnung ist in jedem Falle sehr teuer. Wie gut ist da der unverheiratete
oder der kinderlose Kamerad oder Amtsgenvsse dran! Er bekommt Gehalt
und Wohnungsgeldznschnß, und der Offizier noch dazu Servis in derselben
Höhe wie der kinderreiche Familienvater. Was muß sich dieser alles versagen,
wenn er seine Knaben zu tüchtigen Männern heranbilden will! Sollte da
der Staat nicht wenigstens durch eine gerechtere Verteilung des Wohnuugs-
geldzuschusfes Hilfe leisten?
In Rußland ist kürzlich aus der Feder A. Rittichs, eines höhern Of¬
fiziers, ein Werk erschienen unter dem Titel: Das russische Kriegswesen in der
Wirklichkeit und in Träumen. Hier wird nebenbei dargelegt, wie sich in Nu߬
land die meisten bemittelten jungen Leute aus dem Adel und dem Kanfmanns-
stcmde der Dienstpflicht zu entziehen wissen, sodaß der Offiziersersatz gefährdet
ist, besonders wenn die Armee bedeutend vermehrt wird. Dazu kommt, daß
in den russischen Offizierfamilien bereits völlig das Zweikiudershstem herrscht,
sodaß also auch aus den Offizierfamilien selbst in Zukunft kein genügender
Offizierersatz zu erwarten ist. „In Frankreich, heißt es, wird dadurch wenigstens
das Vermögen erhalten. Bei uns fällt auch das weg; wir habe» kein Ver¬
mögen und keine Kinder." Ob nicht das Zweikiudershstem auch in deutschen
Offizier- und Beamtenfamilien schon bedenklich um sich greift! Ein Wider¬
spruch ist sehr schwer zu widerlegen, weil es eben an jeder Statistik fehlt.
Aber periodische Beobachtungen eines in mehreren großen Garnisonen be¬
kannten Militärgeistlichen mit Benutzung der Aufzeichnungen in den Kirchen-
büchern sprechen durchaus dafür, daß auch in Deutschland dieses traurige
„System" in den erwähnten Ständen mehr und mehr üblich wird. Darin
liegt eine große Gefahr für den Staat. „Mich wird es nach aushalten, aber
mein Enkel mag sich in Acht nehmen," sagte Ludwig XV.
Am gründlichsten ließe sich helfen, wenn der Staat in genügender Menge
für Dienstwohnungen sorgte. Der Willkür in der Festsetzung der Mietpreise
wäre damit ein Riegel vorgeschoben. Die Hauswirte könnten nicht wie bisher
besonders den mit Kindern gesegneten Offizier und Beamten ausbeuten. In
einzelnen neuen Garnisonen Lothringens, wie z. B. in Mörchingen, ist schon
jetzt nichts andres übrig geblieben; es mußten aus Mangel an allen Unter-
kunstsräumen für die Offizierfamilien Wohnungen gebaut werden. Aber das
allgemein durchzuführen, das ist leichter vorgeschlagen, als gethan. Der Staat
baut teuer. Die Wohnungen in gutem Stande zu erhalten, ist sehr teuer.
Schließlich wäre auch für viele, denen man helfen wollte, eine Dienstwohnung
ein Danaergeschenk bei Besetzung der Stellen. Dienstliche Rücksichten sind
maßgebend und müsse» es sein. Man muß an die geeignete Stelle auch einen
unverheirateten Mann bringen können, wenn er besonders befähigt ist. Ist
nun eine große Dienstwohnung vorhanden, was soll er damit anfangen, wenn
er vielleicht nicht einmal die Einrichtung für eine viel kleinere hat? So glück¬
lich eine Familie über eine gerünmige Dienstwohnung ist, so unglücklich ist
darüber der alleinstehende Mann.
Hier muß eine Ausgleichung geschaffen werden. Man verleite den Woh¬
nungsgeldzuschuß so, daß die Bedürfnisse des Empfängers den Maßstab ab¬
geben, natürlich mit genau bestimmten Grenzen. Der Unverheiratete kann mit
der Hälfte des gegenwärtigen Satzes schon zufrieden sein. Natürlich wird
dieser Vorschlag einen Sturm des Unwillens bei allen Unverheirateten erregen.
Man wird einwerfen: Viele heiraten nicht, weil ihre Verhältnisse das über¬
haupt uicht gestatten, vielleicht weil Eltern oder jüngere Geschwister zu unter¬
stützen sind u. s. w. Zugegeben, daß das in einzelnen Fällen richtig sein mag,
ist doch bei der großen Mehrzahl die Ehelosigkeit aus andern Gründen
herzuleiten. Der Staat muß seine Zuwendungen nach den Leistungen be¬
sessen, und die Erziehung künftiger Offiziere und Beamten ist auch eine
Leistung, Bei Bemessung der Umzugskosten hat man sich der Erwägung nicht
verschließen können, daß ein Unverheirateter anders als ein Verheirateter zu
behandeln sei. Der Unverheiratete erhält nur die Hälfte der allgemeinen und
Transportkosten, die dem Verheirateten gewährt werden. Freilich ist man
anch hier ans halbem Wege stehen geblieben, insofern man die Reisekosten nnr
der Person des Versetzten, nicht seiner Familie bewilligt. Doch ist der Satz
für allgemeine Kosten und Transportkosten so hoch gegriffen, daß Klagen hier
weht angebracht wären, wenn auch natürlich ein mit Fran, fünf Kindern und
zwei Dienstboten umziehender Offizier mit Sorge an die großen Kosten denkt,
Während der unverheiratete Kamerad leichten Herzens mit seinem Koffer ab¬
dampft. ^ -
Aber dem Unverheirateten den halben Wohuungsgeldzuschuß zu entziehen,
damit wäre dem Familienvater noch nicht gedient. Dieser muß nach der
Zahl seiner Kinder eine Erhöhung des Zuschusses erhalten. Bei ein oder zwei
Kindern wird unter normalen Verhältnissen, d. h. wenn die Fran gesund ist,
ein zweiter Dienstbote nicht nötig sein. (Die Zeit, wo ein Kind noch ganz
klein ist, kann nicht als normal in Betracht kommen.) Man kann da also
von einer Erhöhung absehen. Bei mehr Kindern aber wird oft ein zweiter
Dienstbote nötig sein. Da erscheint es billig, den durch vermehrtes Naum-
bedürfuis, durch die erhöhten Kosten für die Verpflegung und durch den
Dienstbotenlvhn sich bedeutend mehrenden Ansprüchen an die Kasse des Haus¬
herrn durch einen Zuschuß zu Hilfe zu kommen, vielleicht im Betrage eines
Viertels des Wohnungsgcldzuschusses. In Orten der Servisklasse II würde
diese Erhöhung des Einkommens bei einem Hauptmmni oder Regierungsrat
nur 135 Mark betragen. Das wäre kaum der bare Aufwand, den ein Kinder¬
mädchen nötig macht, also gewiß eine sehr bescheidne Hilfe, aber doch immer
besser als gar keine. Sind mehr als drei Kinder vorhanden, so gewähre man
sür jedes weitere Kind abermals ein Viertel des Wohnungsgcldzuschusses, so-
daß eine Familie mit sechs Kindern doppelte« Wohnnngsgeldznschuß erhalten
würde. Eine noch weitere Erhöhung würde zwar für den Staat nicht schwer
ins Gewicht fallen, weil Familien mit noch mehr .Kindern hente sehr selten
sind, aber eine Grenze muß doch festgesetzt werden. Man lasse es also beim
doppelten Wohnungsgeldzuschuß. Einigermaßen wäre damit geholfen. ,
Bei dem bisherigen Vorschlag ist nur der Wohnungsgeldzuschuß, ins
Auge gefaßt, weil dieser dem Offizier und den, Zivilbenmten gleicherweise zu¬
steht. Für den Offizier und den Militärbeamten muß dann noch das Servis
in Betracht gezogen werden, die Vergütung, die den Militärpersonen zur
Selbstbeschassuug ihrer Wohnnngsbcdürfnisse (Bedienung, Heizung, Beleuchtung)
gewährt wird. Es liegt auf der Hand, daß das, was wir von der Wohnung
gesagt haben, auch von diesen Bedürfnissen gilt: der Unverheiratete braucht
weniger, der Verheiratete mehr. Eine Verminderung des Servis fürder
Unverheirateten wäre daher für diesen zwar schmerzlich, aber nicht ungerecht;
für den Familienvater wäre eine Erhöhung auch dieses Teiles seines Ein¬
kommens eine große Hilfe. Natürlich müßte das Gesetz genau vorschreiben,
in welchem Falle auch der Unverheiratete die Bezüge des Verheirateten zu
erhalten hätte, da ja Fälle eintreten, wo der Hausstand mit unverheirateten
Geschwistern oder einer verwitweten Mutter die gleichen Aufwendungen riötig
macht, als wenn der Offizier oder der Beamte verheiratet wäre. Ebenso dürfte
einem kinderlosen Witwer erst nach einer gewissen, ja nicht zu kurz zu bemessenen
Frist der Bezug des vollen Wohnungsgeldznschnsses und des vollen Servis
versagt werden. Ebenso müßte es berücksichtigt werden, wenn einer seine.
Söhne im Kadettenhause untergebracht hat.
Fraglich ist es, ob für alle Stufen in Heer und Beamtentum eine gleich¬
mäßige Erhöhung der in Frage kommenden Bezüge festzusetzen wäre. Die
Gehaltsverhältnisse der Stabsoffiziere sind derart, daß bei ihnen wohl eine Er¬
höhung nicht so dringend nötig ist, auch wenn mehrere Kinder zu erziehen
sind. Vielleicht brauchte hier eine Erhöhung erst bei vier noch im Hause zu
erziehenden Kindern einzutreten. Beim Regimentskommandeur könnte wohl von
einer Erhöhung ganz abgesehen werden, denn sein Einkommen ist, selbst wenn
die Familie zahlreich ist, völlig ausreichend. Aber die Familie des Haupt-
manns und des diesem an Gehalt etwa gleichstehenden Beamten ist einer Hilfe
dringend bedürftig. Natürlich dürften durch eine derartige Neuordnung die
Sätze des einstigen Ruhegehalts nicht berührt werden.
Der Staat hat den berittnen Offizieren gegenüber erst kürzlich anerkannt,
daß ihnen Pferdegclder bewilligt werden müssen. Sollten nicht auch die Kinder
unsrer Offiziere und Beamten einige wohlwollende Rücksicht verdienenV Bis-
marck hatte einmal darauf hingewiesen, daß die größere Intelligenz unsrer
Bevölkerung ein großes Stück Wehrkraft ist, worin es uns die Nachbarn im
Osten und Westen nicht gleichthun können. Wir würden ihnen überlegen sein,
selbst wenn sie uus mit stärkern Heeren zu Leibe gehen wollten. Das -se
durchaus richtig. Aber wird es auch immer so bleiben? Es giebt in unsern
gebildeten Kreisen jetzt sehr viele kinderlose, sehr viele kinderarme Ehen; es
giebt wohl auch noch kinderreiche Ehen, aber sie sind doch viel seltner ge¬
worden als früher.
einrieb von Treitschke hat einmal den Satz ausgesprochen, daß
die trübste Zeit unsrer Geschichte nicht die zweite Hälfte des
siebzehnten, fondern die zweite Hälfte des sechzehnten Jahr¬
hunderts gewesen sei, wo „unser Volk durch eigne Schuld in
Zwietracht und Feigheit verkam," „wo jene politische Sünden¬
schuld angesammelt würde, die wir späten Enkel noch nicht völlig haben ab¬
tragen können, und der kriegerische Deutsche zum erstenmal auf Bahnen ein¬
lenkte, die ihn schließlich zum Philistertum sühren mußten." (Historische und
Politische Aufsätze. Leipzig. 1871, S. 406 bis 407.) Von dieser „Schimpf-
liebsten Zeit unsrer Vergangenheit" hebe sich die nach 1648 noch günstig ab,
als die Zeit der Händel und Pufendorf, der Pietisten von Halle und der
Calixtiner, vor allem des großen Kurfürsten: „die Fanfaren der Trompeten
von Fehrbellin verkündeten der Welt, dies waffengewaltige Deutschland er¬
dreiste sich wieder der Herr zu fein im eignen Hause."
Man kann auch in diesen Worten Treitschkes den Kern von Wahrheit
finden, der auch in seinen paradoxesten Sätzen zu stecken Pflegt. Dennoch wird
man dabei bleiben müssen, daß es im sechzehnten Jahrhundert noch nicht so
weit war, daß unser Baterland das Schlachtfeld Europas wurde und ein Stück
nach dem andern von dem Körper des Reichs abgerissen werden konnte. Es
ist wahr, daß bald nach dem westfälischen Frieden die Arbeit der Wieder¬
aufrichtung des fast vernichteten deutscheu Staats begann; aber es kann doch
nicht bestritten werden, daß es über hundert Jahre gedauert hat, bis Preußen
so weit erstarkt war, daß sich nationale Hoffnungen an diesen Staat knüpfen
ließen, und daß sechs Jahre nach Fehrbellin das Lilienbanner über den Wallen
von Straßburg emporstieg, ohne daß der große Kurfürst, der damals Frank¬
reichs Verbündeter war, etwas dagegen thun wollte oder konnte.
'
Diese trübste Zeit nun, wo Frankreich seinen Fuß ans den Nacken
Europas und Deutschlands setzte, wird uns soeben von einem deutschen Histo¬
riker geschildert, der auch deu Lesern dieser Blätter kein Fremder ist,") Die
vierzig Jahre vom westfälische» Frieden bis zum Tode des großen Kurfürsten
machen den Inhalt des ersten Bandes aus. dem bald ein zweiter, die Jahre
von 1688 bis 1740 umfassend, folgen soll.
Man spricht in der Regel von dem westfälischen Frieden wie von einem Er¬
eignis, das an Stelle des langen Haders einen zwar teuer erkauften, aber
doch unzweifelhaften Friedenszustand gesetzt habe, und an dieser Auffassung
ist jn so viel richtig, daß der eigentliche Krieg mit seinen verheerenden Folgen
ein Ende nahm; aber ein allseitiger, wirklicher Friede trat in Deutschland
nicht ein. Wir sehen davon ab, daß die Fremden nur gegen bedeutende Zah¬
lungen (z. B. fünf Millionen Thaler an die Schweden) Deutschlnud räumten,
wobei ein Generalissimus wohl 80000, ein Feldmarschall 40000 Thaler als
conksntöinönt erhielt, und daß die Räumung wegen der Schwierigkeit des
Zählens nur sehr laugsam von statte» ging. Wichtiger war, daß sich Spanien
an dem Frieden nicht beteiligte, sondern den Kampf gegen Frankreich fortsetzte
und sich deshalb weigerte, das von ihm seit 1623 besetzt gehaltene Franken¬
thal (in der linksrheinischen Pfalz) herauszugeben. Sofort erhoben die Fran¬
zosen den Anspruch, daß ihnen als Gegengewicht ein andrer deutscher Platz,
etwa der Ehrenbreitstein, eingeräumt werde. Am schwersten aber wog, daß
die Friedensurkunde selbst eine große Anzahl von Bestimmungen enthielt, die
unklar waren und deshalb Anlaß zu laugen und erbitterten Streitigkeiten
gaben. Mit Mühe und Not hatte Friedrich Wilhelm von Brandenburg
wenigstens Hinterpommern vor den Schweden gerettet; Vorpommern mit den
gesamten Oderniederungen mußte er ihnen lassen. Nun trat aber die Königin
Christine, oder der unter ihrem Namen herrschende schwedische Adel (der sich
bezeichnenderweise der besten Grundstücke in den eroberten deutscheu Provinzen
Schwedens zu bemächtigen wußte) mit dem Verlangen hervor, daß Schweden
berechtigt sei, in allen Häfen Pommerns und Mecklenburgs die einträglichen
Seezölle zu erheben. Die Forderung war an sich ungeheuerlich. Die davon
betroffnen erklärten, daß Schweden ein solches Recht doch nur in deu durch
den Friede» schwedisch gewordnen Häfen in Anspruch nehmen könne. Aber
der Wortlaut des Friedens erwies sich in der That den schwedischen Ansprüchen
so günstig, daß nach fünfjährigem Verhandeln der Stettiner Grenzrezeß die
Entscheidung fällte, daß Brandenburg und Schweden alle Seezölle, Schiffs-
geldcr, eingezognen Güter nud Strafgelder „zu gleichen Teilen genießen"
sollten. So gelang es Schweden, das die politische Unterwerfung der Ostsee¬
küsten nicht vollständig erreicht hatte, doch die handelspolitische Obermacht
festzuhalten und das (lvminimu mal-is L^luci in dieser Hinsicht beinahe zur
Wahrheit zu machen. Noch schlimmer sah es mit dem französischen Vertrag
aus. Dieser sagte, daß der Kaiser und das Reich n. a. auf die Laudgrafschaft
von Ober- und Unterelsaß zu Gunsten Frankreichs verzichteten. Was bedeutete
hier der Ausdruck prsvtevwrs. xrovmoialis oder Landgrafschaft? War damit im
Sinne des mittelalterlichen Reichsrechts nur ein richterliches Reichsamt ge¬
meint, oder verknüpfte mau damit den Begriff einer Landeshoheit, wie mau
etwa von einer Landgrafschaft Hessen sprach? Die Franzosen legten und legen
das Wort natürlich im zweiten Sinne aus; auch scheint ihnen die ganze Fassung
des Artikels Recht zu geben. Noch in den letzten Jahrzehnten aber hat ein
litterarischer Gegensatz bestanden zwischen Legrette und Shbel (der nnter Laud¬
grafschaft nichts als eine „alte Magistratnr des Reichs" verstehen zu können
meinte), und schon dieser Gegensatz beweist, daß der Fall mindestens unklar war.
Nicht anders stand es mit dein Absatz, der Frankreich die Landvvgtei über die zehn
kleinern elsässischen Reichsstädte Kolmar, Hagenau, Kaisersberg, Landau, Münster,
Oberehnheim, Rosheim, Schlettstadt, Türkheim und Weißenburg übertrug und
doch gleichzeitig bestimmte, daß diese Städte reichsunmittelbar bleiben sollten.
Frankreich hatte sonach die Schutzherrschaft über diese Städte, bezog gewisse Ab¬
gaben aus ihnen und übte ein Aufsichtsrecht über die städtischen Wahlen; aber es
hatte nicht das Recht, diese Städte mit Truppen zu belegen oder dort Recht
M sprechen. Das Ganze war ein höchst verwickelter Zustand, der mit Not¬
wendigkeit entweder auf eine Wiederabstreisuug der französischen Ketten oder
auf völlige Einverleibung in Frankreich hindrängte. Man male sich nun aus,
welche Verwirrung der Rechtsfragen sich für diese Städte ergeben mußte, wenn
ein Reichskrieg gegen Frankreich ausbrach! Fragt mau aber, weshalb über¬
haupt so schwierige Lagen geschaffen wurden sind, so kaun mau mir antworten:
sie ergaben sich aus den Verhältnissen von selbst. Die Frciuzvseu waren wohl
stark genug, ihre Hand auf das Elsaß zu legen; aber die Deutschen waren
nicht so schwach, daß sie es ganz hätten fahren lassen müssen. So erfand man
Wortlaute, die beiden Teilen eine Möglichkeit eröffneten, an dem Frieden
wieder zu rütteln und entweder noch mehr zu erringen oder alles wieder zurück-
zueroberu. Es verhielt sich mit dem Münsterischen Friede» nicht anders als
mit dem von Aachen, der 1668 den Nevolutionskrieg beendigte, nud von dem
Roussel in seiner IIi8toirv alö Convois, I 159 urteilt: I)^»8 vo dunkel, 6i8vn8
mivnx, alias cotes tri'.vz, tout v8t prvtexto cis rupturo. <^u'-on vsnillo disv,
.jstor Job! )'SUX »ur lit 0!tres: <iuo1 vnvlievvtrvinent ac villos «t tlo tvrrjtoirvs!
c» voit xoint on S8t 1» krontiörv; on voit sönlvwont on n'v8t pW...
I^viciornirront, l'Lsxa^nu vont roeouvror Wut vo <^u'o1Is a xoräu, c!o inöiuo <ioo
lions XIV vont Ävdsvor I» vou<luvte ^u'it n'a nu tairo tont et'un ooui>. Die
deutsche Nation teilte 1648 die Hoffnungen ihrer Diplomaten; auch sie träumte
davon, daß vielleicht ein Tag der Zurücknahme des Verlorenen komme» werde,
und el» Echo fand diese Unsicherheit der Lage bei den Schweizern, die meinten,
daß Breisach und vielleicht auch das Elsaß bei der Eidgenossenschaft besser
aufgehoben wären als bei Frankreich. Man sah in Bern, Basel und Zürich
das Eindringen der französischen Macht in das Nachbarland mit denselben
Besorgnissen an wie 1870 seinen Rückfall an Deutschland; erst vor kurzem ist
ja bekannt geworden, daß die Schweizer damals den Gedanken hatten, Mül-
hausen möge ihnen vom deutschen Reich überlassen werden.
Aus den Unklarheiten des westfälischen Friedens entwickelte sich durch
kluge und thatkräftige Benutzung der Verhältnisse schließlich die Unterwerfung
fast des ganzen Elsasses unter das Szepter Ludwigs XIV. und damit die Be¬
herrschung des Oberrheins durch Frankreich. Das war ein Erfolg, der für
die Machtstellung Frankreichs gegenüber Dentschlnud und damit ganz Europa
fehr schwer ins Gewicht fiel; aber in den Angen Ludwigs XIV. war es doch
»ur eine kleine Abschlagszahlung auf das, was ihm gebührte. Mit Recht
nennt Erdmanusdörffer den König nicht eigentlich den Gegner des deutschen
Reichs und des vom Hause Habsburg behaupteten Kaisertums, souderu
den Prätendenten. Das ist in Wahrheit der einzig richtige Gesichtspunkt,
unter dem die geschichtliche Stellung Ludwigs XIV. zu uns betrachtet werden
muß. Es kam ihm keineswegs darauf nu, nur einige Stücke des Reichs von
diesem loszureißen und in seineu Besitz zu bringen; seine Absichten gingen
vielmehr auf das Ganze. I» den für seinen Sohn bestimmten politischen An¬
weisungen (Osuvres <lo I.oui8 XIV, I 74) führt er aus, daß das abeudlüudische
Kaisertum, das Erbe Karls des Großen, von Rechts wegen gar nicht den
Deutschen gebühre, sondern den Königen, die in Reims gekrönt werden. Die
Deutschen haben das Kaisertum gänzlich verkommen lassen; es ist seiner wehend-'
lichen Befugnisse beraubt worden, und die Kaiser sind nichts mehr als die
Geueralkapitäne einer deutscheu Republik. Nur ein Herrscher von der Macht
des französischen .Königs kann die Kaiserwürde wieder zu Ehren bringen und
ihr die alte monarchische Kraft wiedergeben. Demgemäß gilt es, die deutscheu
Fürsten an Frankreich zu ketten und die Habsburger langsam aus ihrer jetzigen
Stellung zu verdrängen. Wie der König, so seine Publizisten. Unter Ludwig XIII.
hatte der königliche Rat Jacques de Cassan in seiner 1632 erschienenen Schrift:
I>g> rsollsrelis dös etroit« cku tlo^ se as Iir eourouns as I'rlmos ausgesprochen,
daß der größte Teil der europäischen Staaten, Deutschland eingeschlossen, un¬
rechtmäßig der französischen Krone entfremdete Gebiete seien. Jetzt erklärte
der Anwalt am Pariser Parlament, d'Aubery, 1667: von Rechts wegen
seien Deutsche und Franzoseu ein einziges Volk, wie sie eS unter den Mero-
wingern und Karolingern gewesen seien. Der rechtmäßige Erbe der Karo¬
linger aber sei Hugo Capet; seinen Nachkommen gebühre also Reich und
Kaisertum, die vou den derzeitigen Trägern schmachvoll entstellt worden seien.
Der wahre Herrscher im Sinne der ursprünglichen Weltordnung sei der König
von Frankreich, und wenn diesem jetzt das Elsaß zurückgegeben worden sei, so
habe es damit nicht etwa eine neue Eroberung gemacht, sondern nur einen
kleinen Teil der Ansprüche zur Geltung gebracht, die ihm auf ganz Deutsch¬
land zustünden. Der Minister Lionel schickte den allzu offenherzigen Parla-
mentsauwalt einige Zeit in die Bastille, weil die Schrift in Deutschland großes
und unliebsames Aufsehen hervorrief; aber daß d'Aubery die letzten Ziele der
französischen Staatskunst vollkommen wahrheitsgemäß geschildert hatte, unter¬
liegt keinem Zweifel.
Wenn man dies alles erwägt, so versteht man erst den eigentlichen Grund¬
gedanken Ludwigs XIV. bei seinen berüchtigten Reuniouen: sie waren seiner
Auffassung nach keineswegs Gewaltmaßregeln, sondern sie verhalfen ihm nur
»u einem Teil seiner Rechte. Diese Rechte waren aber erst denn vollständig
zur Geltung gebracht, wenn ihm Deutschland selbst unterworfen war. Wie
treffend hat sich also Friedrich Strauß 1870 ausgedrückt, als er in seinem
bekannten Streitschriftenwechsel mit Ernst Renan sagte: wir bekämpfen noch
immer Ludwig XIV.! In der That, dieser König verkörpert in sich die na-
twnalfranzösische Ansicht von den Beziehungen Deutschlands und Frankreichs.
Es liegt auf der Hand, daß die deutscheu Rcichsfttrsten von einer Politik,
die auf die Herstellung einer wirklichen monarchischen Kaisergewalt gerichtet
war, unmöglich sehr erbaut sein konnten. Die ihnen über alles teure fürst¬
liche „Libertät" wurde an der Wurzel getroffen, wenn Ludwig XIV. seine
Pläne durchsetzte. Durch solche Erwägungen mußten sie veranlaßt werden,
sich näher nu das Haus Habsburg anzuschließen. Aber andrerseits verfolgte
auch Leopold I. das Ziel, die durch den westfälischen Frieden so sehr ge¬
schwächte Kaisergewalt wieder zu krustigen. Auf diese Weise befanden sich die
deutschen Stände gewissermaßen zwischen Scylla und Charybdis, und oft
genug mußten sie sich die Frage vorlegen, welche von beiden Gefahren eigentlich
die größere sei? und oft genug lautete die Autwort heute anders als gestern.
Ans dieser, auf relativ berechtigten Gründen des Rechts und der Politik ge¬
stütztem schwankenden Haltung der Stunde beruhte aber auch die gesteigerte
Zwiespältigkeit und Ohnmacht des Reichs, die den ganzen Zeitraum, um den
es sich handelt, in so auffallendem Maße kennzeichnet.
In eiuer ausführlichen, aber immer klaren und durchsichtigen Darstellung,
nnter vollster Berwertnng der uus vorliegenden Quellen verfolgt Erdmanns-
dörffer den Kampf der einander gegenüberstehenden Mächte und Bestrebungen
bis zu dem Augenblick, wo im Herbst 1688 der sogenannte Orleanssche Krieg
seinen Anfang nimmt. Langsam, aber stetig entwickelt sich von 1648 an
überall im Reiche das Gefühl, daß die schwerere Gefahr für alle Deutschen doch
von Westen her komme. Die Augsburger Liga vom Jahre 1686 mag bisher
meist überschätzt worden sein, insofern sich ihre Bedeutung, als es Ernst wurde,
uicht als groß erwies und ganz neue Gruppirungen der Möchte eintraten.
Aber ein Anzeichen der eingetretenen Änderung ist sie doch, und zwei Jahre
nachher fand Frankreich, als es dnrch die Umwandlung Ungarns in eine Erb-
mvnarchie erschreckt und gereizt sich ans das Reich stürzte, um ihm wenigstens
die bleibende Abtretung der Neunionen als Erfolg zu entreißen, eine gegen
alles Erwarten geeinigte Nation vor sich. Was seit langem nicht erlebt
worden war, das geschah jetzt; es begann ein Krieg, in dem kein einziger
deutscher Reichsfürst auf Seiten des Feindes stand. Jubelnd konnte Leibniz in
einem am Z0. Oktober 1688 aus Wien abgesandten Briefe ausrufen: l'^llo-
NIÄFIIS n'g,)linkt jxung,i8 6Le» witmx unis eilt'vllo S8t ü, xrvssnt, 0N Ä lieu
ä'oso^rer cniölliuv ulmnAöiriönt! Und der Nyswyker Friede hat diese Hoff¬
nungen auch großenteils erfüllt und den Beweis geliefert, daß ein geeinigtes
Deutschland nicht bloß den Osmanen, sondern auch den Franzosen die Spitze
bieten konnte.
le schulgerechte Ästhetik lehrt, das; die Form jeder Dichtung der
Art ihres Stoffes angepaßt sei und mit Naturnotwendigkeit aus
dieser Art hervorwachsen müsse. Und der gesunde Instinkt jeder
ursprünglichen, nicht verbildeten Künstlernatur fühlt, so lange
nicht äußere Bedingungen und Forderungen die künstlerische Frei¬
heit einschränken, daß die besondre Aufgabe die Besonderheit der Ausführung
in sich trägt. Gleichwohl läßt alle Kunst- und Litteraturgeschichte erkennen,
daß in der' geschaffnen Form eine selbständige Macht liegt, die, weiterwirkend,
die Phantasie und Gestaltungskraft beeinflußt, die Stvffwahl der Schaffenden
beengt, den Stil, der sich wie Farbe. Schmelz und Duft mit der Blüte selbst
entfalten soll, jeder Blüte wie eine Glasglocke überstülpt. Weit es aber eben
unvermeidlich ist, daß die bewährte, ja sogar die bloß modisch gewordne Form
eine geheime Gewalt nicht bloß über die Talente zweiten Ranges — wenn auch
über diese am stärksten und unwiderstehlichsten — erlangt, hat die Kritik viel
schärfer, als es nun gewöhnlich geschieht, auf die Entstehung oder die plötz¬
liche Herrschaft neuer Formen zu achten. Was im Beginn von innen heraus
vielleicht berechtigt, ja künstlerisch allein zulässig ist, kann im Fortgang zur
drückenden Fessel des schöpferischen Geistes, ja zur Abgeschmacktheit werden,
und doch erhebt sich leine Stimme gegen diese Abgeschmacktheit. Sils Racine
die französische Borzinunertragödie, die ein künstlich zu fünf Akten ausgedehnter
fünfter Akt ist, auf den Gipfel ihrer Vollendung hob, hatte er Ziele im Auge
und Stoffe nnter den Händen, bei denen die eigentümliche Anlage und Zu¬
sammenziehung ihr volles Recht hatte und poetische Wirkungen hervorrief, die
eben nur auf diesem Wege zu erreichen waren. Als aber dann die Form
dieser auf Stunden zusammengedrängten Tragödie — im „Britanniens" und im
..Mithridat" ein Wunder von fortreißender Entwicklung und feinstem Schliff —
jedem Stoff aufgezwungen wurde, den ein französischer Tragiker überhaupt
behandelte, als eine greisenhaft gewordne Gewohnheit den Dichter, der seine
Schöpfung dargestellt sehen wollte, immer wieder in den überlieferte» Stil
hineinzwnng, während alle Motive und Stoffe, deren innerm Wesen dieser
Stil entsprach, längst verbraucht waren, da wurde es klar, daß man sich in
der überlieferten Form eine Tyrannin der bedenklichsten Art aufgezogen hatte.
Und doch war diese Form von Haus aus einem innern Bedürfnis der Dichter
und einer Triebkraft der von ihnen bevorzugten Stoffe entstammt! Wie nun,
wenn eine von vornherein äußerliche Nötigung, eine Mode, genau so albern
wie die, die unsrer modischen Welt die froschgrünen Halsbinden und die gras¬
grünen Binsen aufzwingt, eine tyrannische Gewohnheit, die sich ans nichts
weiter berufen kann, als auf die Behauptung des Sortimentsbuchhändlers,
daß das Publikum gerade die so beschaffner Bücher mit ausschließlicher Vor¬
liebe kaufe, auf einmal anfinge, die Litteratur zu beherrsche»? Wer gewohnt
ist, die plötzlichen Springfluten des Geschmacks und der äußerlichen Einflüsse
auf das geistige Leben etwas zu beobachten, dem hat seit einigen Jahren aus¬
fallen müssen, daß sich nach dem Vorgange Frankreichs die poetische Lieblings-
gattnng unsrer Zeit, der Roman, mehr und mehr zum kurzen, zum einbän¬
digen Roman gewendet hat. Immer ausschließlicher werden „Einbänder," wie
das neue Modewort heißt, veröffentlicht und verkauft, und wenn es auch ge¬
wiß ist, daß ein Band ein vieldeutiger Begriff ist und sein Umfang so ver-
chieden sein kann wie sein Inhalt, so hängt doch dieses plötzliche Überwuchern
des „Einbänders" ohne Zweifel mit der augenblicklich beliebten und als die
einzige Aufgabe lebendiger poetischer Kunst gepriesenen Pflege der Episode zu¬
sammen. Gewiß kaun auch der einbändige Roman ein Lebensbild nicht nur
von dem stärksten subjektiven Gehalt, sondern much von einer'großen, mit¬
wirkenden allgemeinen Bedeutung in sich einschließen (wer dächte hier nicht um
„Werthers Leiden"!); aber die gegenwärtige Bewegung zum einbändigen Roman
entstammt keineswegs der glücklichen poetische« Eingebung und der gesammelten
Kraft von Dichtern, die plötzlich lauter Stoffe ergriffen haben, in denen sich
im engsten Nahmen ein mächtiges Stück Welt spiegelt, sondern, soweit sie nicht
reine geschäftliche Äußerlichkeit ist, die sich sklavisch dem vielberühmten Gesetz
von Nachfrage und Angebot unterordnet, aus der Verzweiflung der Erzähler,
irgend etwas andres zu bieten, als eine leidlich beobachtete, kräftig ausgeführte
und gestimmte Episode, einen merkwürdigen Einzelcharakter, einen seltsamen
oder unheimlichen Vorgang.
Schon tausendmal ist es gesagt worden, daß in der Kunst nichts auf das
Was und alles auf das Wie ankomme. Wenn nnn aber — alles beiseite ge¬
lassen, womit die Giltigkeit dieses Satzes bestritten werden könnte — durch
das Was, durch die unablässige Wiederholung zufälliger untergeordneter, der
poetische« Vertiefung und Belebung widerstrebender Motive auch das Wie
beeinflußt wird, wenn sich herausstellt, daß der ein- für allemal gegebne
Rahmen die Komposition der verschiedensten Lebensbilder ungünstig beengt und
eine empfindliche Eintönigkeit der Einzelheiten herbeiführt? wenn die Form,
die sich nicht aus dem Inhalt ergiebt, in bestimmten Fällen die Klarheit, die
Vollständigkeit, die innere Wahrheit der dargestellten Handlung beeinträchtigt ?
wenn endlich, die glückliche und überzeugende Belebung der Episode voraus-
gesetzt, diese Episode zur Wahrheit des Lebens in einem Mißverhältnis steht,
wenn sie durch ihr Herausreißen aus dem allgemeinen Zusammenhang der
Dinge, durch ihre Einseitigkeit, in der sie doch den Anspruch einer abgerun¬
deten Darstellung erhebt, das Bild des Lebens uicht sowohl vervollständigt,
als verzerrt? Legen uns nicht alle diese Möglichkeiten, die keineswegs will¬
kürlich gesetzt sind, die Empfindung nahe, daß der plötzliche allgemeine Drang,
„Einbänder" zu schreiben und jede Aufgabe des Erzählers entweder zum ein¬
bändigen Buche zusammenzupressen oder auch auszudehnen, wieder einmal ein
sinnloses Gedränge ist, bei dem die schriftstellernde Herde den Leithammeln
folgt? Wir hegen wahrlich keine Vorliebe für die Praxis des jahrelang landes¬
üblich gewesenen Leihbibliothekenromans, der womöglich „uicht unter drei
Bänden" sein durfte, wir haben stets die neun- und zehnbändigen Romane
gewisser Schriftsteller für eine unkünstlerische Zusammenkopplnng mehrerer
Poetischen Aufgaben gehalten; aber gegenüber der Einseitigkeit, mit der jetzt
der „Einbänder" das alleinige Recht auf Teilnahme, Geltung und kunstgemäße
Form beansprucht, ist es doch notwendig, darauf hinzuweisen, daß diese „Form"
eine Reihe der bedeutendsten Ziele des Romans geradezu ausschließt und in
zahlreichen andern Fällen die Natürlichkeit des Vortragstous gefährdet und
aufhebt.
Sehen wir einmal zu, was uns in der modischen Form in jüngster Zeit
dargeboten worden ist. In erster Linie, mit dem Dvppelglanz des anerkannten
Dichternamens und des großen Erfolgs — oder, was für viele Leute das¬
selbe ist, der allgemeinen Neugier und Lesebegier, tritt uns der einbändige
Roman Eifernde Liebe von Ernst von Wildenbruch (Berlin, Freund und
Jeckel) entgegen, der, erst im laufenden Jahr erschienen, schon in fünfter Auf¬
lage vorliegt. Er spielt, nein, er beginnt und verläuft großenteils in oder
vielmehr bei Hamburg-Altona in der Villa des Herrn Etatsrat Pfeiffenberg,
zwischen Nienstedten und Blankenese, anf dem hohen rechten Elbufer oberhalb
Mühlenberg. So wie die Wendung zum tragischen Ende beginnt, versetzt der
Dichter seine Heldin und seine Leser nach München, Verona, Neapel und Capri,
da er sehr wohl fühlt, daß in dem Hausfrieden der Pfeiffenbergschcn Villa die
Katastrophe unmöglich wäre. Der verwitwete Altonaer Großkaufmann mit
dem Titel, der noch aus dänischer Zeit stammen muß, hat einen Sohn, der,
ein leidlich braver, nüchterner Geselle, es für sein gutes Recht hält, mit goldnem
Löffel an dem Tische des Lebens zu sitze», und eine Tochter Dorothea, die
„Weiße Dorothea," eine schöne Blondine von stattlicher Gestalt, überwiegend
verständig, gut gebildet, nordisch keusch und kühl, der es in ihrem prächtigen
väterlichen Heim und bei der stillen Herrschaft, die sie über Vater und Bruder
ausübt, so wohl ist, daß sie mit achtundzwanzig Jahren noch nie an Liebe
und Heirat gedacht hat. Dorothea Pfeiffenberg läßt in dem großen. Park des
Etatsrath eine schöne Halle bauen, ganz zweckmäßig, um die Orangerie hier
im Winter aufzustellen, und damit Pater und Bruder bei schlechtem Wetter
eine gedeckte Wandelbahn haben, wo sie nach Tische spazieren gehen und ihre
Cigarre rauchen können. Da aber in dem schönen stolzen Mädchen ein in¬
stinktiver Zug zum Höhern vorhanden ist, sie ihrer Zeit in Berlin die großen
Kaulbachs im neuen Museum bewundert hat, so wünscht sie in besagter Halle
ein großes Wandbild, ein Historienbild des großen, jetzt geächteten Stils zu
sehen. Der Bater, der jeden ihrer Wünsche mit Freuden erfüllt, hat auf
einem Ausflug nach Berlin mit Hilfe des hanseatischen Ministers und des
Akademiedirektvrs Werner ein malerisches Genie ausfindig gemacht, das sich
noch mit dem abgethanen Fresko und dem Aufbau großer Bilder mit mäch¬
tigen Gruppen befaßt. Heinrich Verheißer, der Sohn eines kleinen städtischen
Beamten aus der Weinmeisterstraße in Berlin, hat sich unter den härtesten
Prüfungen, Enttäuschungen und Entbehrungen zur künstlerischen Selbständig¬
keit emporgearbeitet. Er hat seiner Anlage, seiner nnmodischen Richtung,
seinem trotzigen Wesen nach bisher nur „Pech" gehabt, der Auftrag für das
Haus Pfeiffenberg ist der erste Glücksschimmer in seinem Leben. Er schwelgt
in der Aussicht, ein Bild, das ihm schon lange vorschwebt, die letzte Gvthen-
schlacht am Fuße des Vesuv, malen zu können, und als er bei dem ersten
Besuch, den er der Kaufmannsfamilie macht, seine Idee leidenschaftlich vor¬
trüge, fühlt sich der Etatsrat interessirt und Fräulein Dorothea merkwürdig
ergriffen. „Die Villa Pfeiffenberg am Ufer der Elbe — und der Vesuv —
die rationelle, korrekte Familie Pfeiffenberg — und die Ostgothen — gab es
Dinge auf der Welt, die weiter auseinander lagen, weniger znsainmcngehörten,
einander gleichgiltiger waren als diese? Und plötzlich stand da ein Mensch
vor ihnen, in dessen Seele diese versunkene Welt lebendig war, wie ein Vor¬
gang vom gestrigen Tage, und die verschollne Zeit stieg vor ihnen empor
wie ein gewitterbcrgendes Gewölk, aus dessen Schoße, gleich dem Nachhall
eines ungeheuern, fernen Ereignisses, das Klirren der Waffen, das Brüllen
des Kampfes, die Stimme von Menschen ertönte, von deren Dnsein sie nie
etwas gewußt." Trotz des Hauches aber, der aus Nerheißers Phantasie in
die Seele der schönen Dorothea hinüberweht, empfindet diese gegen den neuen
Hausgenossen, den sie über der Gärtnerwohnung einquartiert hat, der in der
Halle sein Wesen treibt und einen ungeheuern farbigen Karton in der Größe
des beabsichtigten Wandbildes ausführt, zunächst eine Abneigung. Nicht bloß
die philiströsen Überlieferungen der Familie gegen das ungewohnte künstlerische
Wesen und Auftreten Heinrich Nerheißers, sondern auch die reine Empfindung
des noch unbestvchnen Weibes kehren sich gegen das Innerste dieser Natur.
Denn in Heinrich Verheißer hat der Dichter einen vortrefflichen Typus des
modernsten KünstlertnmS gezeichnet; obwohl er noch Historie ni im»vo malt,
gehört er doch zu dem Geschlecht, das mit der Lösung 1<'me »is se xsi-og^
Munclu« der Welt nicht nur als einer knnstunverständigen, sondern auch als
einer schlechthin kunstfeindlichen entgegentritt. Diese selbstbewußten, in ihrem
verzweifelten Ringen mit dem Leben nicht mürbe und sentimental, sondern
hart gewordnen Menschen, von der tiefsten berechtigten und unberechtigten
Verachtung gegen das ganze Philisterium erfüllt, innerlich nnr dem selbstge-
schafsucii Gesetz ihres Daseins gehorchend, haben etwas von dem naiven Kinde
und etwas von dem weltersahrnen Manne, etwas vom Genius und etwas
vom Raubtier in sich; wenigstens Heinrich Verheißer hat es. Daß er für
das schöne Mädchen, in dessen Nähe er plötzlich lebt, eine heiße Leidenschaft
saßt, hat Wildenbruch durch die Badeszene fast überflüssig motivirt; die bloße
körperliche Gegenwart Dvrvthens würde genügen, den leben^durstigen Maler
in Flammen zu setzen. Aber freilich für die zuletzt hervortretende schlimme
Thatsache, daß Herr Verheißer in Dorothea, obwohl er sie seine Göttin nennt,
nicht viel mehr und kaum etwas andres sehen kann, als ein Modell, ein
Modell, um das ihn die gesamte Künstlerschaft beneiden kann, ist die Szene
im Bade die rechte Vorbereitung. Zuerst unmerklich, dann unwiderstehlich
wird Dorothea von der Leidenschaft des eigentümlichen fremden Mannes er¬
griffe,,. Nachdem sie Heinrich Verheißers großes Bild gesehn hat, ists ihr,
„als wenn die Pore» ihrer Haut bis heute verschlossen gewesen wären, sodnß
sie heute zum erstenmale den Atem der Natur in sich zu trinken vermochte,
der in der Sommernacht aus den Tiefen der Erde dampft und den Geschöpfen
zuflüstert! das Leben — das Leben!" Nachdem er ihr in einem verzückten
Briefe seiue heiße» Empfindungen gestanden hat, flüstert sie, während sie sich
zu einem Diner ankleidet, bei dem sie mit ihm zusammentreffen soll, seine
Worte nach: Göttin! Gewaltige meiner Seele! „Eine Wolke von Sinnlichkeit
und Eitelkeit war um sie her und stillte den Raum wie ein schwerer narkotischer
Duft." Sie lauscht nach dem Diner den Erläuterungen, die er von seinem Bilde
des Gothentönigs Tejas giebt: daß es ihn gedrängt habe, einen Mensche» in
großer Verzweiflung zu schildern, „der sein Ganzes und sein Alles um eine
große Sache drangesetzt hat, und der nun dahinter kommt, daß alle Kraft,
aller Mut, alles Kämpfen und Ringen zu nichts hilft, wenn das Schicksal
gegen den Menschen ist," lauscht mit dem Schauern des Weibes, das die
Männlichkeit empfindet. So kommt später die Stunde, wo er sie in seine Arme
reißt und den Rausch der Leidenschaft und seiner Künstlerbewundrnng für ihre
leibliche Schönheit, ihre vornehm stolze Erscheinung vor ihr austobt. Sie
hat nicht die Kraft, ihn zurückzuweisen, aber noch die Kraft, sich von ihm los¬
zureißen; ihr vergangnes Leben, ihre durch des Künstlers Eingeständnis, daß
er sie vom Kopf bis zum Fuß kenne, beleidigte Mädchenwürde kommen ihr
zu Hilfe, sie zwingt den gewaltthätigen Künstler moralisch, sie und ihres Vaters
Hans zu verlassen. Der Künstler, dein damit eine schwindelnde Hoffnung
zerrinnt, daß eines schöne» Tages ein Engel zu ihm herabsteigen und ihn aus
dem dunkeln See erlösen werde, fügt sich ihrem Gebot mit einem bittern
„Wie schade — wie schade!" Er trägt aus dem Landhaus der Familie
Pseiffenberg ein 5t'nnstwerk davon, wie er noch keines geschaffen hat, Dorothea
aber fühlt sich, nachdem Heinrich Perheißer hinweg ist, tief elend, fühlt, daß
durch ihr Inneres ein Wirbelsturm hingebraust ist, der „in wenigen Sekunden
das Bild der Welt, wie es jahrzehntelang in ihrer Seele gestanden hatte,
umwarf und zu oberst und unterst j8lo!j kehrte." „Wie eine wandelnde Feuer¬
flamme, die keine Stätte hat — und so unglücklich so unglücklich" erscheint
ihr der wildgeniale Mann; so schlimm erscheint ihr bei dem Vergleich mit
ihm und der Welt, zu der er ihr das Thor einen Augenblick aufgerissen
hat, die Welt, in der Dorothea fortleben soll, daß uns aus diesem Höhepunkte
der Erzählung ein leiser Schauer vor dem Kommenden beschleicht. Verheißer
hat Dorothea Pseiffenberg nicht betrogen, hat ihr kein falsch verschönertes
Bild von sich hinterlassen, er hat allen Haß, den er gegen das Alltägliche
und gegen die Überlieferung in sich trügt, naiv herausgesprudelt; „ein Bil¬
dungsmensch!" ist ihm der höchste Ausdruck der Verachtung. Und Dorothea
kommt bezeichnenderweise auch nicht einen Augenblick ans den Gedanken, daß
der Künstler ihr Manu werden, daß sie zur Heirat mit ihm die Einwilligung
des Vaters gewinnen könne. Sie würde sich, mit einem Traum und einem
Schmerz in der Seele, wieder in ihr altes Leben finden und fügen, ja sie
nimmt sogar den ernstlichsten Anlauf dazu. Da fügt es das Verhängnis, daß
dieses Leben, alles, was ihr lieb an ihm gewesen ist, ins Wanken gerät. Ein
Herr Fritz Barkhvf, ein tadelloser Hamburger Großhändler der jüngern Ge¬
neration, dein Dorothea als lirst, r^es erscheint, und dem die „großartig
geordneten Familienverhültnisse" der Pfeiffenbergs imponiren, beginnt um sie
zu werben, und der Etatsrat begünstigt diese Werbung. „Sie konnte nein
sagen, aber wenn sie es that, dann war sie von nun an ein überflüssiges
Möbelstück in dem Hause, in dem sie bisher als Gebieterin gewaltet hatte,
eine alte Jungfer, die neben einem ärgerlichen Vater mürrischer Griesgrämigkeit
entgegenwelkte, ein Gegenstand der Verwunderung für ihren Bruder und dessen
junge Fran, ein Rätsel für alle Hausbewohner, an dem man sich eine Zeit
lang abmühte, bis man es gelangweilt beiseite liegen ließ." Sagt sie aber
ja, so sieht sie die Entwürdigung einer Ehe ohne Neigung, „Tage, Tage und
Tage voll ödem, grauem Einerlei" vor sich, und natürlich überwältigt sie
„die Erinnerung an die eine Stunde, da sie hinaufgeblickt hatte in das Land
voll Blumen und Büumeu, in die Schönheit, in die Kunst." In diesem ge¬
fährlichen Zustande trifft sie die Nachricht, daß Heinrich Verheißers Karton,
„die letzte Gothenschlacht," ans der Münchner Kunstausstellung ausgestellt
ist und dort gewaltiges Aufsehen erregt, erfaßt sie die wildeste und leiden¬
schaftlichste Sehnsucht, das Bild, auf dem, in der Gestalt der Geliebten
des Gothenkönigs Tejas, auch sie lebt, vollendet mit Augen zu sehen;
„einmal noch, bevor sie in das graue Gefängnis ging, das nun ihr künf-
tiges Leben sein würde, wollte sie hinaus in das gelobte Land." Daß sich
hinter dem Verlangen nach dein Bilde das Verlangen nach einer Wieder¬
begegnung mit seinem Urheber regt, verbirgt sie sich selbst. Unter dem Vor¬
wand einer Reise nach Berlin fährt Dorothea nach München und damit
unrettbar ihrem Schicksal entgegen. Daß sie, noch heiß und erfüllt von dem
Anblick des Bildes, mit Verheißer zusammentrifft, daß dieser aus Dorotheas
Reise nach München die dämonische Macht erkennt, die er über sie gewonnen
hat, und sie ohne weiteres an sich reißt, daß sie nicht mehr die Widerstands¬
fähigkeit hat, die eine ganz simple Natur vielleicht bewahren würde, daß sie
sich von dem liebetrunknen Künstler nach Verona entführen läßt und erst,
nachdem sie sich ihm ganz hingegeben hat, ans ihrem Taumel erwacht, das
alles erscheint nnr natürlich, wenn man einmal annimmt, daß in ihr jene
Liebe überwältigend geworden ist, um die Mantegazza und Lombroso besser
Bescheid wissen, als alle Dichter der Welt. Noch natürlicher aber ist es, daß
diesem Taumel ein entsetzliches Erwachen folgt. Woran Dorothea in dem
ersten Fieber des Abenteuers uicht und Verheißer überhaupt nicht gedacht hat,
daß ihre Natur uicht das Zeug zu einer wilden Knnstlerche besitzt, dies Ge¬
fühl kommt mit aller Macht über sie. Ein klaffender Abgrund thut sich
zwischen den beiden Menschen auf, die nur so eng verbunden sind. Dorothea
weiß und will nichts, als jetzt, wo es zu spät ist, den Segen ihrer Familie
erflehen, dem Bunde die Weihe geben lassen, Bcrheißer fühlt nicht, daß sie
tief unglücklich ist und sein muß, daß seine einzige Pflicht wäre, mit ihr auf
jede Gefahr nach Deutschland, nach Hamburg heimzukehren, sie dort zu seinem
rechtmüßigen Weibe zu machen. Er schwelgt in dem Glück ihres Besitzes, er
sieht mit lechzender Augen nur, was ihm ihre Schönheit als Mann und
als Künstler verheißt, der Kunstzigeuner hat keine Ahnung von dem, was in
Dorotheas Seele vorgeht. Er möchte sie beschwichtigen und ihr jeden Gefallen
erweisen, begreift aber nicht, warum sie nicht, da es doch einmal so ist, ein
Stück Leben mit ihm genießen und teilen will. Wie der Gegensatz zwischen
ihr und ihm immer schärfer heraustritt, fühlt sich das unglückliche Weib immer
tiefer entwürdigt und sucht am Ende den Tod auf den Klippen von Capri.
Die leblose Gestalt, über der Heinrich Verheißer verzweifelnd zusammenstürzt,
ist ein Opfer seines Künstlcregvismus. „Die Flut des italischen Meeres hatte
ihr blondes deutsches Haar durchnetzt und das Blut aus ihren Wunden gespült.
Ohne Makel lag sie da, jetzt wieder das geworden, was sie einst gewesen war,
die reine, die Weiße Dorothea."
Es ist ohne Frage ein Stück Leben, das Wildenbruch in den Nahmen
dieses Bandes zusammengedrängt hat, es ist eine mit Wärme, mit leidenschaft¬
lichem Anteil, mit großer Meisterschaft der Einzelschilderung, namentlich in dem
bei Hamburg spielenden größern Teil der Erzählung, vorgetragne Geschichte.
Ein paar UnWahrscheinlichkeiten wollen wenig bedeuten gegenüber der einen
großen Unwahrscheinlichkeit, daß sich bei der feinfühligen Dorothea kein Gefühl
dafür regt, daß Heinrich Nerheißer sie anbetet, sie leidenschaftlich begehrt, aber
sie nicht liebt, der „Begleiterscheinungen" (um im Stil der naturalistischen
Ästhetiker zu reden) entbehrt, ja unfähig ist, ohne die der Eros einer nord¬
deutschen Natur, wie es Dorothea Pfeiffenberg ist, eher Schauder erweckt, als
Anziehungskraft übt. Doch es soll Ausnahmen geben, und Dorothea mag eine
Ausnahme sein. Immer aber beschleicht uus ein Frösteln bei dem Gedanken,
wofür und zu welchem Zwecke Dorothea geopfert worden ist, und wie rasch
der Maler von der Erschütterung genesen wird, die ihm dieses Ende bereitet.
Er wird sich schwerlich sagen, daß seine eifernde, die Vergangenheit, das Wesen
und die innersten Lebensbedingungen der Geliebten mißachtende Liebe einen
Frevel eingeschlossen hat, er wird einfach beklagen, daß sich diese prächtige,
vornehme Natur nicht freier und hoher über das Philistertum hat erhebe»
können. Wildenbruch hat hier einen Konflikt enthüllt, der auch in der Ehe
zwischen den beiden würde zu Tage treten müssen, nur daß er dann in trüber
Resignation einer enttäuschten Frauenuntur ausklingen, nicht mit einem grellen
Aufschrei enden würde. Im ganzen ist es unverkennbar, daß der Dichter mit
den Modernsten nur die Wette laufen will; Schicksale und Charakter Heinrich
Verheißers siud zugleich nach der Natur und nach der gerade geltenden
Schablone. Dankenswert ist es, daß der Dichter nicht vergißt, doch auch die
andre Seite der Dinge zu zeige», und daß die Schuld an dem trostlosen Aus-
gange nicht allein auf die ahnungslosen selbstzufriednem Hamburger Normal-
menschen zurückfällt, denen Dorothea in schlimmer Stunde den Rücken gekehrt
hat, ohne auch nur den Versuch gemacht zu haben, dem Vater ihr Herz zu
erschließen. Leicht möglich, daß er sie gar nicht verstünde, und doch wäre
dann vieles anders, auch für Wildeubruchs Darstellung.
Wie wir auch über die Bevorzugung gerade dieser Art von Episoden in
unsrer neuesten Poesie denken mögen, wir stehen in der „Eifernden Liebe,"
trotz aller modischen naturalistischen Einflüsse, doch auf dem Boden der Wirk¬
lichkeit, eines Lebens und Schicksals, an dem wir nicht bloß Anteil nehmen
sollen, sondern anch können. Wie weit die Ansprüche der lediglich in der Luft
der kranken „Sensation" atmenden und die gesamte noch leidlich gesunde übrige
Welt ignorirenden Darstellung gehen können, zeigt eine ebenso talentvolle wie
ungesunde Dichtung, wie der einbändige Roman: Ich weiß es nicht. Die
Geschichte einer Jugend von Karl Busse (Grvßenhain und Leipzig, Baumert
und Ronge). Die Jugendgeschichte eines polnischen Knaben, des Sohnes eines
polnischen Dieners Frmieiszek, der sich mit seinem Obersten in einem posenscheu
Städtchen niedergelassen hat, wird hier mit einer Fülle prächtiger Einzelzüge
erzählt. Das Aufwachse,, des kleinen Witold neben und mit der Tochter des
Obersten, Stasia, die bei der Geburt ihre Mutter verloren hat, die Schilde¬
rung des Fronleichnamsfestes, die Schulgeschichten, die Erlebnisse Witolds in
der Gymnasialstadt, die Knnbenliebschaft mit der koketten, friihreifen Ncanya,
über die er doch Stasia nicht vergessen kann, das alles ist mit großer Lebens¬
wahrheit und Anschaulichkeit vor Augen gestellt. Aber durch das Ganze geht,
als ein mystisch-phantastisches Element, das Geheimnis, daß Witolds Mutter
Petronelln, als sie mit ihm guter Hoffnung war, von dem Bauschen des weißen
und purpurnen polnischen Banners, das der Oberst am Schlachttage von Boreml
im Hofe seines Hauses hatte aufhängen lassen, erschreckt worden ist. Seitdem
kaun sich Jung Witold nicht an den polnischen Farbe» ersättigen. Es ist
nicht bloß die leidenschaftliche patriotische Empfindung, die ihn treibt, sich den
Anblick immer und überall zu verschaffen, nein, er steht unter der Herrschaft
einer dunkeln Gewalt. Schon im Verkehr mit Mauya „war plötzlich eine
kitzelnde, prickelnde, unbezwingbare Lust in ihm, auf dem weißleuchtenden
Fleische das rote Blut zu sehen, daß die polnischen Farben da wären, seine
Farben und seine Fahne." Er verwundet, wenn er im Schnee spazieren geht,
sich selbst, um die roten Blutstropfen in das Weiß sickern zu sehen, und doch
achtet er gar nicht ans diese wunderliche Ausartung seiner patriotischen Empfin¬
dungen. Diese sind mich, nebenbei gesagt, nicht so heiß, daß sie ihn in Ver¬
schwörungen verstrickten, nur das dunkle Bedürfnis, die Nationalfarben zu sehen,
die Gewißheit, sich an ihrem Anblick zu laben, schlägt immer wieder durch.
Schließlich verlobt sich Witold mit seiner Jugendgespielin Stasia, er liebt die
blonde, ans der polnischen Art geschlagne Braut zärtlich, die Schilderung des
Spazierganges, den die Verlobten acht Tage vor der Hochzeit hinter dem Rücken
der gestrengen Tante Anieln mit einander machen, gehört zu dem sinnigsten und
poetisch empfnndensten des Romans. Und nun findet die Hochzeit statt, und
ni der Brautnacht erwacht Witold an Stasias Seite. Sein junges Weib
schläft so schon und süß, und sein Leben fließt in dem bleichen Mondlicht an
ihm vorüber. Alte Gestalten und Erinnerungen tauchen auf, „eine sonderbare
Angst vor sich selber beschlich ihn," er muß an seinen im polnischen Aufstande
von 18Z0 gefallnen Oheim denken, der mit der roten Wunde auf der Weiße»
Brust noch gesagt hat: „Auch das sind ja unsre Farben." Und dn mit einem-
male bäumt sich der Wahnsinn, der jahrelang in ihm geschlummert und nnr
gezuckt hat, auf, er fühlt ein unwiderstehliches Verlangen, die weißen Brüste
seiner Frau von rotem Blut überrieselt zu sehen, „Köuigspnrpnr, roten Königs-
pnrpur sollte sie tragen, das Edelste, was es gäbe im Himmel und auf Erden."
Er holt das große Messer in der Küche, er sucht nach dem pochenden Herzen
und ermordet, indem er ihr das Messer ins Herz stößt, das ahnungslose
schlummernde junge Weib. „Das Blut schwoll auf, und er mußte jauchzen,
jauchzen, jauchzen, wenn auch ein Etwas in ihm aufschrie in furchtbaren
Schmerz. In feinem Strich sprang der rote Lebenssaft empor. Das weiße
Fleisch, und quellende dunkle Pnrpnrtropfen — Pvlenfarben, leuchtende Polen¬
farben!" Dann sitzt er bis zum Morgen an ihrem Bett, läßt sich verhaften,
glaubt es nicht, als der Polizeileutnant dem Arzt zuflüstert: „Er ist geistes¬
krank." Er erklärt auch vor Gericht, er sei nicht geistesgestört gewesen. „Aber
was hatten Sie denn sonst für einen Grund zu der unseligen That?" Da brach
es heraus. Das war ja gerade das Elend, das quälte und marterte ihn.
Er sprach es nicht, er schrie es hinaus, daß alle zusammenschauerten vor den
vier armen Wortein „Ich weiß es nicht." Endlich, zum Epilog, ein paar
Hohnwortc auf das Wort „Willensfreiheit":
Wenn der talentvolle junge Verfasser nicht selbst merkt, daß er mit der Vor¬
führung solcher Ungeheuerlichkeiten, die unter Umstände» ins Gebiet des Irren¬
arztes gehören, weder etwas gegen die Willensfreiheit beweisen noch ein Atom
poetischer Teilnahme zu erwecken vermag, daß man mit einem Unglücklichen
dieser Art höchstens Mitleid zu fühlen imstande ist, wenn er nicht merkt, daß
die ganze Darstellung des Jugendlebens ein vollkommen sinnloser Prolog zur
Vorführung dieser Greuelszene ist, in der sich nach uraltem Rezept Wollust
und Grausamkeit mischen, wem, er — wie es wahrscheinlich ist — von seinen
Strebensgenvssen für diese „neue" gloriose Albernheit neidisch bewundert
werden wird, so sollte es ihm die Kritik sagen, wie weit er sich verirrt hat.
Doch freilich eine Kritik, die sich zu dem Satze versteigt: „Es ist eine Schande,
heutzutage gesund zu sein," ist nur berufen, wirkliche Talente auf immer ziel¬
losere Abwege zu drängen.
Man atmet ordentlich auf, wenn man, der schwülen Luft dieser Phantasie
entronnen, wenn anch nicht in eine reine, so doch in Luft taucht, die man
atmen kann. Der Roman Circe von Fritz Bley (Dresden und Leipzig,
E. Piersons Verlag) gehört zu denen, die früher in stattlichen drei Bünden
geprangt hätten und gelegentlich etwas langweilig geworden wären, wenn wir
die Schicksale des berühmten Afrikareisenden Hanns von Harden vom El des
Anfangs an hätten begleiten müssen. Daß jetzt alles kurzweilig wäre, wollen
wir damit freilich nicht sagen, obwohl der Roman mit der Heimkehr Harders
aus Jnnerafrika und mit der Flucht des von Huldiguugsreden und Festessen
bedrohten tapfern Mannes an der Seite eines baumstarken niam-Niamuegers
nach dem heimatlichen Preußisch-Littauer und in die Oberförsterei Heide¬
bruch sehr hübsch einsetzt. Die spätere Entwicklung in Berlin, in der der
Held zwischen zwei gruudverschieduen Frauen, den bekannten freilich immer
wiederkehrenden Gestalten: der weltlich eiteln, einer tiefern Liebe unfähigen
Löwin der großen Gesellschaft und einer warmen und echten Frauennatur,
hin- und herschwaukt, fesselt nur durch gewisse Szenen aus dein Leben der
obern Zehntausend der Reichshauptstadt, dessen zwecklose Genußjagd hier
wenigstens nicht mit den beliebten Schmutzfarbeu gemalt ist. Hanns von
Harden geht an dem Zwiespalt unter, daß er seine Circe, die ihn schon ein¬
mal verraten und aufgegeben hat, die schöne Elsa von Rhödern heiratet und
gleichwohl fortfährt, Marie von Sandvw zu lieben. Er tragt endlich sein
zerbrochnes Leben wieder nach Afrika, wo es in einem kühnen Zuge zur Be¬
freiung eines eingeschlossenen Kameraden endet. Die Darstellung erscheint in
diesem Hauptteil des Romans ungleich, einzelnes ist vorzüglich belebt, andres
gleichsam nur augedeutet, die mitspielende und in das Schicksal Hcirdens
hereinspielende Welt ist viel zu breit, um in einen „Einbänder" gepreßt zu
werden. Der Verfasser verläßt sich darauf, daß wir ungefähr in dieser Welt
Bescheid wissen und vieles ergänzen werden. Immerhin ist „Circe" ein frisches
und mannichfach poetisch angehauchtes Buch, das mit Lust und innerm Anteil
geschrieben scheint, und wir wünschten dem Verfasser wohl in einer Arbeit zu
begegnen, die als Ganzes so glücklich belebt und anschaulich verkörpert wäre,
wie die littauische Episode im Eingange des Romans.
Ein Roman von Wilhelm Imsen hat immer Anspruch auf Teilnahme,
er wird nie platt, nie stimmungslos sein. Dies gilt auch von seinem neuen
Roman: Die Namenlosen (Leipzig, Carl Meißner). Freilich gefällt sich der
Dichter nur allzu oft in einer manieristischen, halbdämmernden Art der Er¬
findung und des Bortrags, bei der es ihm leicht wird, den Eindruck des Merk-
würdigen, Geheimnisvoller zu machen, bei der aber der Leser mehr erraten
muß, um was es sich handelt, als daß es ihm klar und zwingend gegenüber¬
träte. Die „Namenlosen" spielen, mit gelegentlichen Blicken auf das Festland,
auf einer der friesischen Inseln, und die Eigentümlichkeit der Landschaft, die
mit Zeusens glücklicher Schilderungsgabe in den Lauf der Erzählung ver¬
webt ist, bildet hier nicht sowohl den Hintergrund als eine mitwirkende Macht
der Handlung. Alles in allem aber können wir den neuen Roman nicht zu
den besten Schöpfungen des Dichters rechnen, das phantastische Halbdunkel
überragt doch die Gestalten (unter denen der jüngere Swer Taten eine echt
Jensensche Figur ist), allzu sehr, als daß diese einen bleibenden Eindruck
hinterlassen könnten.
In dritter Auflage lernen wir den Roman einer vielgelobtcn Schrift¬
stellerin kennen: Mark Albrecht von Ursula Zöge von Mnnteuffel
(Leipzig, E. Ungleich). Das ist nun ein „Einbänder" geworden nur durch
die doppelte Hilfe eines sehr gedrängten Druckes und eines großen Sprunges
von zehn Jcihreu, der um Ende des zehnten und vor Beginn des elften Ab¬
schnitts unternommen wird. Dos Ganze stellt sich als ein Buch dar, in dem
sich lebendige Beobachtung, wirkliche Eindrücke des Lebens, fein ausgeführte
selbständige Charakterzeichnnngen und alte, zum Teil sehr abgeblaßte Nvman-
überlieferungeu, herkömmliche Szenen und Gestalten wunderlich mischen. Der
Held ist der Sohn des Barons Ferdinand von Vincken und einer schönen
Bauerntochter aus deu Alpen, die der Freiherr in überwallender Jugend-
leidcuschaft geheiratet hat, und mit der er sehr unglücklich geworden wäre,
wenn sie nicht der Tod bei der Geburt ihres Sohnes mitleidig weitern Kon¬
flikten entrückt hätte. Mark Albrecht saßt als junger Mensch deu Vorsatz,
eine öde Besitzung seines Vaters zu einer stattlichen Herrschaft emporzubringen,
und mit der zähen Nüchternheit, die eine Mitgabe seines halben Bauernblutes
ist, gelingt ihm das so vorzüglich, daß, nachdem Baron Ferdinand, der die
diplomatische Laufbahn eingeschlagen, sich in zweiter Ehe standesmäßig ver¬
mählt hat und seine vornehme Familie in Paris und München abgewirtschaftet
hat, das Gut Tomba, das wir Wohl in der Oberpfalz zu suchen haben, die
Zuflucht der ganzen Familie wird. Baron Mark Albrecht ist in seinem Recht-
schaffenheitstrotz und seiner ängstlichen Wirklichkeit scharf, sogar allzu scharf
gezeichnet, das Verhältnis zwischen ihm und deu Stiefgeschwistern vortrefflich
entwickelt, das Leben der aristokratischen Familie in dein verwahrlosten Schlosse
mit einem Auflag guten Humors dargestellt, liberall, wo die Verfasserin
nicht bloß referirt, und wo uns ihre Kenntnis der Wirklichkeit die fatalen
Zusätze aus ihrer Romanlektüre erspart, waltet eine gewinnende Wärme und
eine schlichte Gegenständlichkeit, die ihre Wirkung nicht verfehlen. In dem
stillen Einverständnis, das sich zwischen dem rauhen Mark Albrecht und seiner
glänzenden jünger» Stiefschwester Irene bildet, in der Neigung Irenens zu
dem Prinzen Heinrich Lichtenfels, in der Ehegeschichte des Grafen Sarthe und
seiner um ein Menschenalter jüngern Gemahlin Thekla, überall finden wir
feine, gewinnende Züge, überall zeigt sich, daß der Blick der Verfasserin, bei
allem Ernst ihres Wesens, dem sogar ein moralisirender Beigeschmack nicht
fehlt, doch mit Vorliebe den Lichtseiten des Daseins zugewandt ist. Um so
empfindlicher werfen uus dann gewisse abgestandue Salonszenen und halb¬
romantische Bilder aus der eben erweckten Illusion heraus.
Zahlreich ist in der neuesten Romanlitteratur die Sippe Bellamus ge¬
worden. Das müssen nun freilich „Einbänder" oder vielmehr „Einbänderchen"
sein. In der Natur dieser Zukunftsphantasien liegt es, daß sie keine lebendige
Ausmalung vertragen, je flüchtiger, traumhafter die Bilder an dem Leser
vorüberhuschen, desto eher wird ein Eindruck erweckt. In Mene kekek! einer
Entdeckungsreise nach Europa von Arnold von der Passer (Erfurt und
Leipzig, Bacmeisters Verlag) lernen wir ein neues Glied der Bellamhfamilie
kennen. A. von der Passer dreht den Spieß, mit dem Engen Richter einher¬
schreitet, einfach um, er malt das Geschick Europas, nachdem eine siegreiche
Reaktion die Sozialdemokratie besiegt und jeden sozialen Gedanken aus der
Welt getilgt hat. Die große Kapitalbildung, die in wenigen Hunden alle
Reichtümer und Mittel gehäuft hat, ist noch ein Jahrhundert ihren Weg weiter
gegangen, die Muffen sind im Elend immer jammervoller versklavt, immer
tierischer geworden, und dann ist eine Revolution ausgebrochen, die die alte
Kultur bis auf den letzten Nest verwischt hat, sodaß, als im Jahre 2398 eine
Flotte des in Afrika gegründeten Freilandstaates die deutschen Küsten erreicht,
sie nur Trümmer und Wilde vorfindet. Das Büchlein erweist freilich, wie
leicht es ist, wenn die Natur der Phantasie keine Schranken setzt, kühne Gegen-
fntzbilder zu malen und Licht und Dunkel nach Willkür zu verteilen.
Dennoch muß man diese Art von Traumfresken, mich wo sie viel zu
tendenziös lehrhaft sind, um irgend eine politische Wirkung hervorbringen zu
können, gewissen Wirklichkeitsschilderungen noch vorziehen. Wie häßlich
wirkt zum Beispiel der Roman Zwei Dichter von Carl Eduard Klopfer
(Leipzig, Carl Reißner), der das unselige Ende Alfred Meißners, den Konflikt
mit Franz Hedrich „poetisch" zu verwerten sucht, ohne das psychologische
Rätsel, das der „Fall Meißner-Hedrich" darbot, irgend glaubhaft lösen zu
können. Wie roh und bis zum Ekel peinlich erscheint die Erfindung des
„Berliner Romans" von Paul Oskar Höcker: Dem Glücke nach (Berlin,
Richard Ecksteins Nachfolger). Ein wirklich kenntnisreicher Arzt, Dr. David
Rischgvde, und ein Maler Fritz Sponnagel werden hier inmitten des ärmsten
Berliner Proletariats vorgeführt, dem sie mit Leib und Seele verpflichtet er¬
scheinen. Wenigstens bekommt dem Dr, Nischgode der leidenschaftlich hastige
Versuch, sich wieder emporzuarbeiten, schlecht genug, er endet nach einem
kurzen Giückstraum als Selbstmörder und ans dem Armenkirchhvf. Der Effekt
dieser in ihrer Spannung platt-alltäglichen Berliner Geschichte liegt teils in
dem prickelnden Gegensatze, daß so viel Wissen und Können, ja Genie und
Arbeitskraft, wie die beiden gebildeten jungen Männer angeblich besitzen, ihnen
kaum die armselige Existenz des gedrücktesten Handarbeiters oder Fabrikarbeiters
sichern, und in der naturalistischen Schilderung einer Berliner Proletarier-
wvhnuug oben am Wedding. Wir wissen, daß das Elend des geistigen Prole¬
tariats, von dem Berlin wimmelt, groß ist, aber das Elend sieht anders aus,
und der Kampf gegen den Hunger zeigt bei diesem geistigen Proletariat andre,
viel ergreifendere Züge, als dies ganz äußerliche, auf den alltäglichen Erfolg
gestellte Gebilde ahnen läßt.
Doch wohin geraten wir? Wir sind dem Gebiet des Leihbibliotheks¬
und Kolportagervmans schon hübsch nahe gekommen. Bemerkenswert ist es,
daß sich auch diese Art Litteratur, die früher ohne große Ausdehnung gar
nicht gedacht werden konnte, auf den Einbänder einzurichten beginnt. Es ist
unter Umständen ganz lustig zu sehen, wie durch die hierher gehörigen Ro¬
mane z. B. Des Nächsten Weib von Georg Engel (Berlin, Friedrich und
Comp.), die alten Ideale der Viergroschengaleric wieder wandeln, neu auf¬
geputzt natürlich lind naturalistisch drapirt. Ju dem angeführten Roman tritt
der selige Graf von Monte-Christo als Kapitän von Holstein mit fabelhafte»
Reichtümern und ebenso fabelhaftem Rachedurst auf, der moderne große Effekt
liegt darin, daß diesmal „Des Nächsten Weib" seine Stiefmutter, die schone
junge Frau seines verkommnen Vaters ist, und daß die „Erbschaft des Blutes"
den Kapitän samt seinem Vater in den Untergang jagt. Doch das sind
Kritilerfrenden, deren Nachgeuuß wir unsern Lesern nicht zumuten können.
Den „Einbänder" aber wollen wir doch im Auge behalten. Die neueste Lit¬
teratur leidet, trotz aller „Sensation," so an innerer Eintönigkeit, daß sie nicht
auch uoch der Uniformirung der Komposition und des äußern Umfangs an¬
heimfallen sollte.
rofessvr Schmoller in Berlin hat diesmal sein Kolleg mit einigen
beachtenswerten Bemerkungen über die Lebensweise unsrer Stu¬
denten geschlossen. Berliner Blättern zufolge hat er unter anderen
gesagt: „Meine Herren. Ich bin weit entfernt, jeden tadeln zu
wollen, der Vorlesungen schwärzt. Vor allem die ältern und
fleißigen Leute, in denen ein lebendiger Wissenstrieb erwacht ist, die viel lesen,
zu Hause arbeiten, sie können oft ihre Zeit besser verwenden, als zum Hören
von Kollegien. Was mich schmerzt, ist nur die Thatsache, daß so viele Studi-
rende zwei bis drei Jahre überhaupt nichts thun, nichts lernen, als Bummeln
und Faulenzen. Ich habe mich gar nichts dagegen, daß die Jugend sich mal
austobe, ewige Tollheiten mache. Aber zwei bis drei Jahre in ocmUnuo nichts
thun, das wird sonst in der ganzen Welt keinem Erwachsenen gestattet, das
kommt in keiner andern Karriere vor, das hat in keinem Erziehungsshstem der
Welt sonst einen Platz. Wer zwei bis drei Jahre nur faulenzt, Frühschoppen
trinkt, Komment lernt, sich einem trägen Genußleben ergiebt, der muß körper¬
lich und geistig zu Grunde gehen. Aus dem kann nur ausnahmsweise später
noch etwas werden. Wir dürfen nicht so viele Referendare, Assessoren, Richter,
Landräte und Geheime Räte haben, die nichts ans der Universität gelernt
haben, als die Äußerlichkeiten und Genüsse des Studentenlebens. Unsre be¬
sitzenden und gebildeten Klassen sägen den Ast ab, auf dem sie sitzen, wenn
sie einem Drittel ihrer Söhne derartiges gestatten. Unter den Fehlern aristo¬
kratischer Gesellschaftsklassen stehen stets die frivolen Ausschreitungen der heran¬
wachsenden Generation, die vollends in materialistischer Zeit nur genießen,
Patent und schneidig auftreten und nichts arbeiten will, in erster Linie. Nichts
erbittert mehr, als ein solches Treibe». Oft hat es in der Geschichte den
Anlaß zu Umwälzungen gegeben. Nicht also um die harmlose Frage, ob der
Student einmal mehr oder weniger schwarze, handelt es sich, sondern um das
geistige und sittliche Niveau unsrer Beamten, unsrer Lehrer, unsrer führenden
Kreise überhaupt, um die Zukunft des preußischen und des deutschen Staats."
Alles das ist so zutreffend, wie nur etwas sein kann. Im großen Publikum
aber wird man sich verwundert fragen: Ja, wie hat man es denn so weit
kommen lassen können? Ist es denn eine unabänderliche Naturnotwendigkeit,
daß unsre höhern Beamten und Lehrer drei Jahre bummeln, ehe sie sich den
Strapaze» ihres Berufslebens aussetzen? Und wenn das nicht der Fall ist,
was man doch beinahe glauben sollte, warum hat man denn dieser Mißwirt¬
schaft beschaulich zugesehen?
Die Antwort auf diese Fragen hat einmal ein zorniger Volksvertreter in
etwas gewagter, aber nicht unzutreffender Form also ausgesprochen: „Die
Universitäten sind wie rohe Eier; sobald mau sie aufaßt, stellen sie sich auf
die Hinterbeine." Man braucht nur ein Wort davon fallen zu lassen, daß
es mit der Bummelei auf unsern Hochschulen nicht so weiter gehen könne, und
gleich erhebt sich ein gewaltiges Geschnatter derer, die das Kapitol retten wollen,
indem sie behaupten, die „akademische Freiheit" sei in Gefahr. Man kann
aber der Meinung sein, daß nicht nur etwas, sondern recht vieles faul sei an
der Verfassung unsrer Hochschulen, ohne darum das Heilmittel des Übels in
Kvllegienzwang und staatlicher Beaufsichtigung zu suchen. Diese Segnungen
Preußischer Staatsweisheit können wir im Schoße der Zeiten ruhen lassen, bis
die goldne „Kulturepoche" angebrochen ist, wo pensionirte Unteroffiziere die
Vermittler der Volksbildung geworden sind. Übrigens würde das Angstgeschrei
um die akademische Freiheit wohl kaum den Erfolg gehabt haben, die Rufe
wich Reform des akademischen Studiums immer wieder zu übertäuben, wenn
uicht von andrer Seite eine Frage in die Reform hineingezerrt würde, die
auch nichts damit zu thun hat oder doch erst in zweiter Linie kommt, die
Frage des Duellwesens oder Unwesens, wie man will. Wo tausend junge
Leute i« dein engen Raum eiues kleinen Städtchens beisammen leben, da sind
Reibereien unvermeidlich. Daß diese in geregelter Form mit der blanken Waffe
ausgeglichen werden, scheint mir immer noch besser zu sein als der Pariser
Gebrauch, wo die Musensöhne in solchen Füllen mit Spazierstöcken und andern
Hölzern auf einander losschlagen. Freilich hat das Fechten anf den Univer-
sitüten seinen ursprünglichen Zweck mich schon verloren und ist zu einem Sport
geworden, in dem es manche zu einer wahren Zirkusvirtuositüt bringen. Die
üble Folge dieser Ausartung ist eine bedenkliche Zunahme der Pistolenduelle
um kleinlicher Ursachen willen. Gerät ein Student, der etwas auf sich hält,
aber keiner schlagenden Verbindung angehört, mit einem alten Mensurhelden
zusammen, so fordert er ihn nicht selten ans Pistolen statt auf Schläger, mir
um zu der Beleidigung nicht noch die Lächerlichkeit einer kunstgerechten „Ab¬
fuhr im ersten Gange" ans sich zu laden. Obwohl nun die studentischen Duell-
pistolen in der Regel von so ausgesprochen friedfertiger Bauart sind, daß eS
schwer ist, selbst auf geringere als die üblichen Entfernungen einen Menschen
damit totzuschießen, so wäre doch zu wünschen, daß der Schläger, der nicht
so leicht zufälliges Unheil anrichten kann, in seine alten Rechte wieder ein¬
träte. Durch ein energisch durchgeführtes Verbot der Bestimmungsmensur,
allgemeines Ehrengericht u. s. w. wäre das bei gutem Willen leicht zu erreichen,
ebenso leicht, wie man bei gutem Willen die Mensur ganz unterdrücke» könnte.
Aber wie gesagt, ich würde das nicht für richtig halten, wenigstens nicht, so
lange wir noch nicht in dem unfehlbaren Zukunftsstaat der internationalen
Friedensapostel und sozialen Revolutionäre leben.
Doch das alles sind untergeordnete Fragen. Der Unterschied schlagender
und nichtschlagender, farbentragender und nichtfarbentrageuder Verbindungen
hat für die Schäden, wie sie Professor Schmoller treffend gezeichnet hat,
durchaus keine Bedeutung. Bummler und Gigerln finden sich in allen
studentischen Verbindungen, von dem protestantischen Wingolf und den katho¬
lischen Vereinigungen bis zu den Bonner und Heidelberger Korps. Dennoch
kommt es allein ans die Verbindungen an, denn diese geben den Ton an, und
die sogenannten Wilden entbehren in vielen Fällen noch der äußern Zucht,
die jede anständige Verbindung ihren Mitgliedern angedeihen läßt. Des Übels
Kern ist nun der, daß die studentischen Verbindungen in steifbeinigem Formel¬
kram verknöchert sind. Was sie unter akademischer Freiheit verstehen, das
läuft auf die peinliche Beachtung eines kindischen Zeremoniells, auf Laternen-
ausdreheu und gelegentliche Dnrchprügelei eines Nachtwächters als glänzende
Haupt- und Staatsaktionen hinaus. Man sehe sich doch einmal an, wie ein
Korpsstudent notgedrungen mit einem Burschenschafter verhandelt; wenn der
englische und der russische Botschafter am Goldner Horn über die Dardanellen¬
frage ihre Gedanken austauschen, so können sie die äußere Form uicht ängst¬
licher beobachten. Ein Kouleurstudent würde es sich auch nie vergeben, sich
mit der Mütze auf dem Kopfe nu deu Stammtisch einer Verbindung zu setzen,
mit der er nicht in „Kartell" steht, während er doch am eignen Tisch die
Mütze uicht absetzt, und wenn das Thermometer 25 Grad im Schatten zeigte.
Ich brauche wohl die Beispiele aus dieser endlosen Reihe von Kindereien uicht
zu vermehren, über die man lächeln muß, so lange man ihre sehr ernsthafte
Kehrseite übersieht. Daß über der ängstlichen Beobachtung einer geistlosen
Form ein gutes Stück des urwüchsigen Humors verloren gegangen ist, wie
er in Scheffels Studentenliederu noch lebt, mag hingehen; unsre Zeit ist nicht
sür Poesie und Gemütlichkeit. Bedenklicher aber ist es, daß die studentische
Erziehung unter dem Scheine äußerer Sicherheit innerlich höchst unselbständige
Naturen heranbildet. Was beweisen denn die vielen Witze, die unsre humo¬
ristischen Blätter mit vollem Recht über den deutschen Verbinduugsstndenteu
loslassen, anders, als daß ihm jedes Talent zum Leben abgeht! In den ihm
geläufigen Formen bewegt er sich mit tadelloser Sicherheit, und der Herr
Amtsrichter weiß noch recht gut, was er zu thun hat, wenn ein Kvuleurbruder
von der Universität ihm „einen Halben über Kreuz" kommt — wohlgemerkt,
nicht übers Kreuz, denn der deutsche Student vermeidet den richtigen Gebrauch
seiner Muttersprache gern so weit als möglich; wird aber solch ein patentirter
Vertreter deutscher wissenschaftlicher Bildung in nichtakademische Kreise ver¬
schlagen, so benimmt er sich, als wäre er geradeswegs vom nächsten Fixstern
zugereist, und muß mit vieler Mühe erst für den menschlichen Umgang er¬
zogen werden. Das angenehme Gegenstück zu dieser Unfähigkeit, sich im bürger¬
lichen Leben zu bewegen, ist die hilflose Kurzsichtigkeit, mit der unsre Bureau¬
kraten, niedere und hohe, den treibenden Kräften unsrer Zeit gegenüber stehen.
Was sind denn in den letzten Jahren aus den Kreisen unsrer höher» Beamten
für schöpferische Gedanken emporgestiegen? Die Putttamersche Orthographie,
das preußische BolkSschulgesetz und die lox Heinze, ein edles Kleeblatt! Wer
gelesen hat, wie bitter sich Fürst Bismarck kürzlich über die Unterstützung be¬
klagte, die ihm von der Bureaukratie geworden ist, der weiß genug. Die
Presse freilich hat sich beeilt, nachzuweisen, des Kanzlers Worte widersprächen
seinen Thaten. Wer aber kein sonderlich pikantes Vergnügen darin findet,
dein großen Manne kleine Widersprüche nachzuweisen, dem sind seine Worte
ein unschätzbares Zeugnis für die Unfähigkeit unsers höhern Beamtentums
und für die Fäulnis seiner Wurzel, der deutschen Universitäten.
Schlimmer noch als die gesellschaftliche Verbildung des deutschen Ver¬
bindungsstudenten ist seine moralische Unselbständigkeit. Der junge Fuchs, der
als Primaner noch nicht recht wußte, was er mit sich anfangen sollte, be¬
kommt zwar eine ganz hervorragende Charakterstürke durch das Bewußtsein,
daß zwanzig Kommilitonen hinter ihm stehen, die ihm In zweifelhaften Lagen
sagen, was er zu thun habe, und schlimmsten Falls für ihn eintreten. Be¬
taue er sie nnr nicht mit so unvermittelter Plötzlichkeit! Dann freilich hätten
die Recht, die bei 8. (1. nud I). und was weiß ich für hieroglhphisch be¬
zeichnete» Festen ein langes Loblied singen von straffer Zucht und Stählung
des Charakters. Wer das Ding in der Nähe- geschaut hat, läßt sich dadurch
keinen Sand in die Augen streuen. Die straffe Zucht äußert sich im Leben
in der Regel als beschränkter Beamtendünkel, und der gestählte Charakter als
die brutale Oberstleutnantsmoral der Suderuuinnschen „Heimat." Solange
die Begeisterung der Burschenschafterzeit dem harmlosen Nil studentischer
Form und Umgangssprache die Wage hielt, so lange war er ungefährlich.
Seit aber die Begeisterung bei unsrer studirenden Jugend aus der Mode ge¬
kommen ist, seitdem hat der Ulk aufgehört, harmlos zu sein. Da das ernste
Gegengewicht fehlt, so hat er die Studentenschaft immer tiefer hinabgezogen
in die beengenden Bande eines geisttötenden Formalismus.
Aber nochmals drängt sich die Frage ans: wie war das möglich? Denn
das Auffällige an dieser Thatsache ist, daß der junge Fuchs in der Regel einen
ganz gewaltigen Wissensdurst von der Schule mit auf die Universität bringt.
Dort, so hofft er, werde ihm die Herrlichkeit der Wissenschaft erst recht auf¬
gehen, dort werde er Antwort bekommen auf so manche Frage, die während
der Schulzeit unbeantwortet geblieben ist. Anfangs sitzt er auch fleißig im
Kolleg und arbeitet zu Hause ein paar Stunden lang durch, was er gehört
hat; dann schwärzt er eine Stunde, dann zwei, dann findet er, daß er den
Faden verloren hat, und nun bleibt er ganz weg, um sich dem fidele» Burscheu¬
leben in die Arme zu werfen. Man wird sagen, das sei der gewöhnliche
Lauf der Verführung. Das ist richtig, es erklärt aber noch nicht alles. Wer
nämlich die verschiednen Fakultäten beobachtet hat, der wird finden, daß die
systematischen Bummler meistens Juristen oder Philologen sind, während die
Mediziner, die es überhaupt zu etwas bringen, während ihrer ganzen
Studienzeit mit ziemlich gleichmäßigem Fleiß arbeiten. Ich habe aber nicht
bemerkt, daß die Mediziner darum weniger lustige Studenten wären; im
Gegenteil, auch die eigentlichen Duckmäuser dürften in ihrer Fakultät spär¬
licher vertreten sein, als in den beiden andern. Das kann doch kein Zufall
sein. Der Grund dieser Erscheinung liegt ja auch auf der Hand. Der Me¬
diziner muß arbeiten, muß Vorlesungen hören und Kliniken besuchen, muß
in persönliche Berührung mit seinem Professor kommen, wenn er überhaupt
ein Examen bestehen will. Denn sein Examen ist ein Stück praktischer Thä¬
tigkeit, wie er sie später auszuüben hat. Den Philologen aber und den
Juristen hindern sechs verbummelte Semester gar nicht, im achten ein leidliches
Examen zu machen. Da in den Examenarbeiten originale Gedanken höchst
ungern gesehen werden, so bietet dieser Teil des Examens auch dein keine
unüberwindlichen Schwierigkeiten, der sich in deu Stoff erst hineinarbeiten
muß. Was dann noch für das mündliche Examen nötig ist, lernt man mit
Hilfe einiger erfahrnen Praktiker in acht Wochen auswendig, um es in eben
so viel Zeit nach dem Examen wieder zu vergessen. Es ist auch nichts daran
verloren, denn für das Leben kann man es doch nicht brauchen. Kürzlich wurde
darüber geklagt, daß durchgefnllene Referendare mit ihren abgewiesenen Ar¬
beiten an andern Universitüteu die Doktorwürde haben erwerben können. Auch
in der philosophischen Fakultät kommen ähnliche Dinge vor. Mir ist der
Fall bekannt, daß ein Neuphilologe, der an einer Universität im Staats¬
examen glatt durchgefallen war, an einer andern die Doktorwürde oren llluäv
erwarb und daraus im Staatsexamen ein Zeugnis ersten Grades erhielt.
Unter den übrigen Exameukandidaten, die die Fähigkeiten dieses Musterknaben
kannten — es gehörte wirklich nicht viel Zeit dazu, sie kennen zu lernen —,
herrschte damals ehrliche Empörung, obgleich sie an starke Stücke gewöhnt
waren. Das philosophische Examen dieses Kandidaten soll sich in folgenden
Formen bewegt daheim Professor. Nun, Herr N, tonnen Sie nur einen
Philosophen des klassischen Altertums nennen? Kandidat. Sokrates. Pro¬
fessor. Sehr wohl. Ist Ihnen der Hnuptvertreter des modernen Skeptizismus
bekannt? Kandidat. David Hume. sAuszusprecheu, wie geschrieben.) Pro¬
fessor. Ganz richtig. Sagen Sie mal, Herr Kandidat, ist der Herr N
in T ein Verwandter von Ihnen? Kandidat. Das ist mein Onkel. Pro¬
fessor. Dann haben Sie die Güte, mich ihm zu empfehlen; er ist ein alter
^vrpsbruder vou mir. Können Sie mir die aristotelischen Schlußfigureu
nennen? Kandidat (schweigt). Professor. Nun, die find Ihnen Wohl
augenblicklich entfallen. Ich danke Ihnen, Herr Kandidat. — Vielleicht find
die einzelnen Fragen und Antworten etwas drastisch formulirt; aber allzu
weit entfernen sie sich von der Wahrheit eben so wenig, wie die Dauer dieser
tiefsinnigen Unterreonng. Was aber die Hauptsache ist: die charakteristische
Zwischenfrage ist verbürgt. Dieser Herr, der seine Befähigung zum höhern
Unterricht so glänzend nachgewiesen hat, ist jetzt wahlbeftaltcr Oberlehrer.
Natürlich geht es nicht auf allen Universitäten so zu, wie an diesem idyllischen
Musensitz, und auch hier hat sich in jüngster Zeit manches gebessert. Überall
aber ist das Examen ein mehr oder minder erfolgreiches Versteckspiel zwischen
Kandidat und Professor. Von einer wirklichen Prüfung der Kenntnisse kann
ja in der kurzen Zeit von drei bis vier Stunden keine Rede sein; darüber
ist sich jeder im klaren, der ein Examen und seine überflüssige Aufregung
durchgemacht hat.
Es wäre nun aber verkehrt, wollte mau deu Fleiß der Mediziner allein
darauf zurückführen, daß sie gezwungen sind, regelrecht zu arbeite». Denn sie
sind, wie gesagt, mindestens ebenso lebenslustige Studenten, wie andre auch,
und das würden sie nicht sein, wenn sie unter irgend einem Zwange stünden.
Wie sollte auch eine Thätigkeit lästig empfunden werden, die in stetigem Zu¬
sammenhang mit der lebendigen Natur bleibt, deren praktischen Wert man
handgreiflich vor Angen hat! Der Mediziner hat eben in seiner Wissenschaft
das notwendige ernste Gegengewicht gegen den Leichtsinn des Burschenlebcns
gefunden. Daß Juristen und Philologen in derselben glücklichen Lage wären,
kann man leider nicht behaupten, man müßte denn Universitätsprofessor sein.
Weil ihnen die Wissenschaft nichts bietet, das sie fesselte, darum laufen die
Wuchse im ersten, spätestens im zweiten Semester vor ihr davon und kehren
nicht eher zu ihr zurück, als bis der Herr Vater ans das allerbestimmteste
erklärt, der Worte seien genug gewechselt, er wünsche min endlich Thaten zu
sehn. Was der gesamten Philologie und Juristerei in größerm oder ge¬
ringerm Maße fehlt, das ist der Zusammenhang mit dem lebendig flutenden
Leben unsers Volkes. Nur weil die Hochschulen sich in sich selbst zurück¬
gezogen haben, ist es möglich geworden, daß eine große Zahl von akademischen
Lehrern, in der Regel die bestbezahlten ordentlichen Professoren, für ihre
Studenten so erbärmlich wenig Zeit übrig haben. Es giebt deren eine ganze
Anzahl, und es sind berühmte Namen darunter, die ihren Schülern keine
zwei Stunden täglich widmen. Von einem geistigen Verkehr zwischen Lehrer
und Schüler kann gar keine Rede sein, dazu haben die Herren Professoren
von heute keine seit mehr. Mit der Herausgabe eines alten Schusters, den
kein Mensch mehr nötig hat, mit Arbeiten für gelehrte Gesellschaften, mit der
Redaktion von Fachschriften oder mit Politik beschäftigt, haben sie sür ihre
Lehrthätigkeit knapp soviel Zeit übrig, um das zu thun, was sie thun müssen,
d. h. ein Privatkvlleg und ein Publikum zu lesen und einmal die Woche
praktische Übungen abzuhalten. Da die Vorlesungen gewöhnlich einen Cyklus
bilden, der nnr einmal ausgearbeitet wird und sich dann bis an das selige
Ende des Dozenten von zwei zu zwei Jahren wiederholt, so ist die Arbeit
nicht eben allzu groß. Die Herren vollends, die es auch nur versuchen, auf
Geist und Charakter ihrer Schüler einen bildenden Einfluß auszuüben, sind
zu zählen.'') Dagegen ist es keineswegs selten, daß die Professoren die
Schüler für ihre Zwecke ausnutzen, indem sie sie Themata bearbeiten lassen,
die nur dadurch Wert haben, daß sie für des „Meisters" eigne Arbeiten recht
bequem zu verwenden sind. Auf die Individualität des Schülers Rücksicht
zu nehme», fällt keinem Dozenten ein, wenn es nicht zufällig in feinen Kram
paßt. Freilich hat er in den seltensten Fällen von dieser Individualität über¬
haupt eine Ahnung. Aber das liegt nicht an ihm, das liegt um der be¬
schränkten Gleichmacherei unsrer Examenvorschrifteu. Der Staat kauu ja be¬
kanntlich keinen Beamten anstellen, ohne sich nach allen Richtungen hin wohl
verklausulirt zu haben, was der Beamte zu thun und was er zu lassen hat.
Eine Folge des engherzigen Prüfnngsreglemeuts ist es anch, daß einzelne
Professoren, nämlich die, die in der Prüfungskommission sitzen, von Zuhörern
überlaufen sind, während andre, und nicht selten die anregendsten, vor leeren
Bänken sprechen. Wenn der Student schweres Geld sür langweilige Kollegien
zahlt, die er hören muß, so bleibt ihm keins übrig sür die, die er gern hören
möchte. Wenn denn einmal geprüft werden soll — ich will nicht bestreuten,
daß es notwendig sei —, so lasse man wenigstens nicht von denselben beuten
Prüfen, die dem Kandidaten ihre Weisheit oder was sie dafür halten, ein¬
getrichtert haben. Die jetzt übliche Methode zwingt die Kandidaten geradezu
zu Lug und Trug. Ich selbst habe noch eine schwere Lüge von meinem Ni-
gorosnm her auf dem Gewissen, und ich will die Gelegenheit benutzen, meine
Seele durch eine Beichte von dem Druck zu befreien. Als ich dem Professor,
der mich in Philosophie prüfen sollte, meinen Besuch machte, fragte er mich,
was ich gelesen hätte. Ich ließ nun die üblichen alten Herren aufmarschiren,
führte aber hinter Kant auch Schopenhauer an. Mitleidiges Lächeln. „Schopen¬
hauer? Aber, lieber Herr, das ist doch kein Philosoph!" Da ich demnächst
den Beweis liefern sollte, selbst einer zu sein, so dürfte ich die Geistesgegen¬
wart nicht verlieren, und fuhr in meiner Aufzählung fort, nidein ich Paulsen
nannte. Das mitleidige Lächeln wurde spöttisch. „Paulsen! Was haben Sie
denn von Paulsen gelesen?" Ich sagte: „Die Geschichte des gelehrten Unter¬
richts und die Ethik." Da machte der Mann der staatlich besoldeten Welt¬
weisheit eine verächtliche Handbewegung und sprach die geflügelten Worte:
„Ach, die Kaffeehausethik!" Ich aber that meinen Mund auf und schwieg.
Doch so leichten Kaufes sollte ich nicht davonkomme». Nachdem ich im
Examen eine halbe Stunde lang transcendentalen Unsinn in die Kritik der
reinen Vernunft hiueiugeheimnist hatte, nicht ohne ein paarmal mit meiner
eignen häßlich festzufahren, kam der Examinator wieder ans Paniscus Ethik
zu sprechen. „Haben Sie etwas darin gefunden?" fragte er mich. Das war
nun eine verfängliche Frage, aber ich wußte jetzt schon, woher der Wind
wehte. „Nun," beeilte ich mich zu antworten, „es stehen ja eine Menge em¬
pirischer Thatsachen darin" — gemessenes Kopfnicken —, „aber es fehlen die
Prinzipien." Dies eine Wort that eine wunderbare Wirkung; der gestrenge
Herr legte vertraulich die Hand auf meinen Arm und sagte eifrig: „In wohl,
das ists ja eben, die Prinzipien"; dabei zeigte er beschwörend mit dem
Zeigefinger nach oben. Mau muß nun wissen, daß ich die Ethik von
Paulsen als ein Muster philosophischer Darstellung verehre, aus dem ich
wehr gelernt zu haben glaube, als aus den dicken Bänden meines geehrten
Examen^in-Z. Wer sich über meine greuliche Lüge sittlich entrüsten will, der
wäg das ruhig thun, er soll aber auch bedenken, daß ich vermutlich durch-
gefallen wäre, wenn ich meine Überzeugung mit Mannesmut verfochten hätte,
und dazu hatte ich keine Lust. Die Wissenschaft und Herr Professor Paulsen
werden mir, wie ich zuversichtlich hoffe, meine Sünde in Gnaden vergeben.
Ich würde diese Episode nicht erzählt haben, wenn sie nicht typisch wäre
für tausend ähnliche, die nicht erzählt werden. Hat ein Professor erst einige
Jahre an einer Hochschule gelehrt, so bildet sich über seine Art, zu prüfen,
über seine Stellung zu wissenschaftlichen Streitfragen und seine besondern
Steckenpferdchen eine Überlieferung, die sich von einem Stndentengeschlecht zum
andern fortpflanzt, und der gemäß man seine wissenschaftlichen Ansichten ein¬
zurichten hat, wenn man an dieser Hochschule durchs Examen kommen will.
Daß die Studenten vor einer solchen Wissenschaft nicht sonderlich viel Achtung
haben, daß sie sich mit Lehren, die ihnen aufgezwungen werden, so spät als
möglich einlassen, wer wollte ihnen das gar zu sehr verdenken? Will man
sie aus dieser unwürdigen Lage erlösen, so genügt es aber nicht, sie der wissen-
schaftlichen Tyrannei zu entziehen, die die Professoren dnrch das Examen über
sie ausüben. Man muß weiter versuchen, ihnen wieder Liebe zu ihrem Stu¬
dium einzuflößen, und das geht nur, wenn man sich entschließt, die Praxis
unsrer Hochschulen von Grund auf umzuformen, sowohl was deu Lehrstoff,
wie was die Lehrmethode angeht. Beide, Stoff und Methode, müssen sich
von dem dürren Sandacker altersgrauer Theorie ab- und dem lebendigen Leben
zuwenden. Welchen Beruf der Student ausüben soll, das muß den Lehrstoff
bestimme», wie er ihn ausüben soll, die Methode. Das ist eine so einfache,
so selbstverständliche Wahrheit, daß man sie nur im Lande des gründlichen
Denkens hat verfehlen können. Auf unsern Hochschulen herrscht noch viel zu-
sehr der Kollegienvvrtrag, der den Professoren das Lehren so beqneiu und den
Studenten das Einpauker der Examenweisheit so leicht macht. Gewisse all¬
gemeine Gegenstände müssen ja im allgemeinen Vortrage behandelt werden.
Ungereimt aber ist es, beispielsweise die Grammatik irgend einer Sprache in
einem in Kapitel und Paragraphen eingekeilten Kolleg fünfzig bis hundert Zu¬
hörern auf einmal vorzulesen. Wozu hat denn Edison den Phonographen
erfunden? Der macht das genau so gut wie der gelehrteste Professor. Ebenso
ungereimt ist es andrerseits, praktische Übungen mit fünfzig bis hundert Stu¬
denten ans einmal abzuhalten. Man mache doch die vielen Lehrkräfte, die
ans der Universität unthätig oder nur halb beschäftigt herumlaufen, die Privat¬
dozenten und außerordentlichen Professoren, für den Unterricht nutzbar! Frei¬
lich muß man dann zunächst das Monopol des Examens ausheben. Man
würde an manchen Hochschulen eine erstaunliche Wirkung sehen, wenn plötzlich
die Studenten von dem Zwange befreit würden, aus Rücksicht auf die Staats¬
prüfung in Scharen zu den Vorlesungen ehrwürdiger akademischer Ruinen zu
laufen; es würde von deu Schülern unbewußt eine natürliche Auslese gehalten
werden, die ans die Lehrer den belebendsten Einfluß ausüben müßte. Und ich
denke, unter gesunden Verhältnissen muß es so sein, daß vom Schüler eine
Rückwirkung auf den Lehrer ausgeht, indem nicht nur der Lehrer den Schüler,
sondern auch der Schüler den Lehrer erzieht. Davon aber kann bei der oli-
garchischen Verfassung unsrer Hochschulen keine Rede sei».
Zum Anschluß an das praktische Leben gehört aber auch, daß der Zu¬
tritt zur akademischen Lehrthätigkeit nicht tüchtigen Leuten erschwert und jedem
jungen Streber offen gelassen wird, der sich habilitirt, weil er nicht weiß,
wozu er eigentlich ans der Welt ist. Zu jeder Lehrthätigkeit gehört mehr als
zu irgend einer andern innerlicher Beruf. Daß aber unsre Privatdozenten die
akademische Laufbahn aus unwiderstehlichem innern Drang beschritten, das
möchte ich für die Mehrzahl ganz entschieden bestreiten. Auffällig ist es
wenigstens, daß es gerade die, denen mau den innern Beruf zum Lehren an¬
merkt, höchstens bis zum außerordentlichen Professor, also nur zu einer schlecht
bezahlten und ziemlich einflußloser Stellung bringen. Für die philosophische
Fakultät — ich rede hier überhaupt nur von dieser und der juristischen, und
mit Vorliebe von der ersten, weil ich sie besser kenne — wäre es naturgemäß,
daß endlich zwischen ihr nud der höhern Schule eine Brücke geschlagen würde.
Bewährte Schulmänner sollte man zu Universitätslehrern aufrücken lassen, nur
ihnen Einfluß auf das heranwachsende Geschlecht zu sichern, statt daß man sie
im besten Falle zu Schulräten und vortragenden Räten im Ministerium er¬
nennt, wo sie sich ihr Leben lang mit Pedanterie und Büreaukrateutum herum¬
schlagen müssen. Männer, die sich in der Praxis bewährt haben, brauchte
man auch nicht mehr am Gängelbande eines geschmacklosen Prüfungsreglements
herumzuführen. Wenn über solcher Verbindung mit dem praktischen Leben der
morsche Bau unsrer Hochschulen ganz ans den Fugen ginge, ich würde ihm
keine Thräne nachweinen. Mir scheint dus längst nicht mehr zu einander zu
Passen, was man immer noch unter dem geräumigen Hut der nnivsiÄtW litts-
rg.mir zusammenzuhalten bestrebt ist; wenn ich recht sehe, so herrscht auf unsern
bessern technischen Hochschulen bereits ein viel frischerer Geist. Als sich auf
der zu Charlottenburg vor einigen Jahren die .Korps mit ihrem mittelalter¬
lichen Wesen gar zu breit machten, löste man sie kurzer Hand auf. Ein gleiches
Vorgehen wäre in Bonn oder Heidelberg einfach unmöglich, die jungen Feudal¬
herren könnten anstellen, was sie wollten.
Um noch einmal ans den Punkt zurückzukommen, von dem ich ausging'
die Universitäten sollten sich doch das beliebte Manöver, sich „ans die Hinter¬
beine zu stellen," abgewöhnen, oder, wenn sie es denn nicht lassen können,
das große Publikum sollte sich durch das Wehgeschrei um die „akademische
Freiheit" nicht irre macheu lassen. Ich habe eS als notwendig bezeichnet, daß
Lehrern und Schülern mehr freie Bewegung gewährt werde, als sie haben oder
je gehabt haben. Aber Freiheit und Zügellosigkeit sind nicht dasselbe. Man
kann es anch verstehen, daß sich die alten Herren nicht an deu Gedanken ge¬
wöhnen können, es sei vorbei mit der Poesie des Verbindungslebeus. Aber
es ist wirklich nicht viel Poesie mehr dran; denn es ist ein untrügliches Kenn¬
zeichen: was Gregor Samarow zu einem Roman einschlachtet, darin ist keine
Spur von Poesie. Die echte Poesie des Studentenlebens pflanzt sich nur in
mündlicher Überlieferung fort, und was davon gedruckt an die Öffentlichkeit
tritt, das hört auf, Poesie zu sein. An die Öffentlichkeit aber drängt sie
sich heutzutage aller Orten, und mancher Amtsrichter und auch mancher
Unterstaatssekretär wird die akademische Poesie bis an sein Lebensende nicht
los, zur großen Verwunderung der vernünftigen Staatsbürger, die mit ihm
Zu thun haben. Diese Herren sind es denn auch, die ihre milde Hand schützend
über veraltete Zustände halten, die ohne ihre hohe „Protektion" längst der Ver¬
gessenheit anheimgefallen wären. Was aber innerhalb der akademischen Kreise
noch lebendig ist an echter Studcntenpocsie, das hat mit dem Firlefanz des
Verbindungswesens wenig zu thun, das wird sich Wohl auch als unsterblich
erweisen, wie alle echte Poesie. Wir wollen es wenigstens hoffen, zur Ehre
von Deutschlands akademischer Jugend.
In Ur. 28 der Grenzboten beklagt sich ein französischer Leser, Herr
Th. Nnysseu, über die mangelhafte Aufmerksamkeit, die in Deutschland den Erzeugnissen
der wissenschaftlichen und belletristischen Litteratur Frankreichs, sowie der franzö¬
sischen Kunst geschenkt werde, wahrend umgekehrt in Frankreich die deutsche Litte¬
ratur gekannt und gelesen, die deutsche Kunst gepflegt werde. Wie weit der erste
Satz berechtigt ist, wallen wir hier auf sich beruhen lasse». Der zweite hat durch
Herrn Th. Nuyssen selbst eine merkwürdige Bestätigung erhalten in einem Aufsatz
über Ernst Renan, der in der Juuinummer von Westermanns Monatshefte» er¬
schienen ist. In diesem Aufsätze lesen wir in einer Schilderung des von Renan
unvollendet hinterlassenen Wertes über die Geschichte des Volkes Israel: „Es war
freilich kein neuer Gedanke, dasselbe kritische Verfahren beim Schöpfuugsbericht
und beim Buche Jesnias wie bei der Ilias und beim Nolandslied in Anwendung
zu. bringen. Nur war bisher das Wirken der weltliche» Bibelforscher ausschließlich
zerstörend gewesen." Und weiter: „Es bleibt das unvergängliche Verdienst Nenaus.
dem Stamme Beni Israel seinen gebührenden Platz in der Geschichte der Welt
wieder erobert zu haben." Herr Nuyssen hat also keine Kenntnis davon, daß auch
in Deutschland von Ewald bis auf Stade einiges über diesen Gegenstand geschrieben
worden ist, noch weniger davon, daß es deutsche Gelehrte gewesen sind, die zuerst
die Aufgabe gestellt und zu lösen versucht haben, deren Durchführung er Renan
zum „unvergänglichen Verdienst" anrechnet, und daß Renan auf Schritt und Tritt
in den Spuren dieser Gelehrten wandelt. Daß überdies die deutschen Gelehrte» in
der Lösung der Aufgabe viel glücklicher gewesen sind, als der französische Akade¬
miker, davon kann sich Herr Ruysseu selbst überzeugen, wenn er sich die ein¬
schlagende Litteratur einmal ansehen will. Erkundigung bei einem Fachmann oder
Einsicht in die Angaben bei R. Kittel, Geschichte der Hebräer (Gotha, 1888), wird
ihm die nötigen Titel liefern.
das infolge des im vorigen Hefte besprochnen
Konzertwunfchzettels zu stände gekommen ist, ist gennn so ausgefallen, wie wir er¬
wartet hatten, aber jedenfalls ganz anders, als der Herr Musikdirektor erwartet
hatte. Es sind im ganzen 330 Exemplare deS Wunschzettels abgegeben worden.
Die meisten Stimmen haben unter den 12V zur Auswahl gestellten Musikstücken
folgende 12 gehabt:
Die übrigen K Nummern, fünf Tänze und ein Potpourri, mit 73 bis herab zu
33 Stimmen, lohnt es nicht der Mühe einzeln anzuführen.
Dieses Ergebnis ist fehr lehrreich. Lehrreich ist vor allem die kleine Zahl
der wieder abgegebnen Wunschzettel. Die meisten Besucher, denen er in die Hände
gegeben worden ist, sind augenscheinlich so enttäuscht gewesen, daß sie die Zumutung,
sich ans diesen (!) 120 Nummern 12 aufzusuchen, einfach als eine Beleidigung
empfunden und den Zettel beim Fortgehen weggeworfen haben. Die wenigen aber,
die gewählt haben, haben durch ihre Wahl ein Urteil abgegeben, aus dem sich der
Herr Musikdirektor hoffentlich eine Lehre nehmen wird. Er kann wirklich sagen:
„Die ich rief, die Geister werd' ich nun nicht los." Er hat sich eingebildet, es
werde mindestens ein solches „Musterprogramm" zu stände kommen, wie er sie
bei seinen Offiziersmorgeuständcheu abzuspielen pflegt, er hat gehofft, daß sich das
Publikum von den zehn angebotnen Wagnerschen Nummern doch mindestens fünf
oder sechs xrimo loco aussuchen werde, gehofft, das; er dann werde hintreten können
und hageln „Da seht ihrs, wie Unrecht ihr mit euern Augriffen auf Wagner habt;
das Publikum will Wagner, es verlangt Wagner und immer wieder Wagner!"
Nein, das Publikum ist viel vernünftiger, als der Herr Musikdirektor — glaubt; es
hat an erster Stelle den Torgauer Marsch gewählt, und das ist, wenn man all
den Schund überblickt, der ihm zur Auswahl vorgelegt worden ist, gar keine so
üble Wahl. Das Publikum hat sich in sehr anerkennenswerter Weise aus der
dummen Geschichte gezogen. Wenn man jahrelang den Leuten nichts weiter vor¬
spielt als Wagner, ein paar Nummern oder Potpourris aus den Opern und Ope¬
retten, die gerade die Mode beherrschen, und dazu ein paar Tänze und Märsche,
und dann die Leute fragt: Was wollt ihr haben? so ist es doch kein Wunder,
wenn sie sagen: Laß uns endlich mit Wagner in Ruhe und spiele uns ein paar
Tänze und Märsche; damit thust du uns den größten Gefallen!
Dieses Wunschzettelprogramm ist für die Musikstadt Leipzig eine Schande,
über das arme Volk ist unschuldig daran. Die Schuld tragen die, die seit Jahren
den Geschmack der großen Masse mit Gewalt heruntergebracht haben. Die Leip¬
ziger Tagespresse hat natürlich wieder nicht eine Silbe der Kritik für diese
Schande übrig. Der Leipziger Stadt- und Dvrfanzeiger bemerkt tiefsinnig: „Jeden¬
falls ist die Veranstaltung ein höchst origineller Versuch, um (!) den musikalischen
Teil des Konzertpubliknms zu ergründen."
Ende Juni dieses Jahres besuchte ich ein in der
preußische» Altmnrk gelegnes Gefängnis für junge, oder wie der amtliche Ausdruck lautet,
"jugendliche" Verbrecher. Bei dieser Gelegenheit lernte ich den „Auszug aus dem
Reglement für die Justizverwaltung vom 16. März 13S1," Naumburg Form.-
Ur. 14 kennen. Nach den hierin enthaltnen Bestimmungen können Vergehen der
in diesen Gefängnissen untergebrachten Personen mit einsamer Einsperrung bis zur
Dauer vou einem Monat (!) geahndet werden. Die Strafe kann verschärft werden
durch Entziehung der Arbeit, der Lektüre und des Bettlagers, durch Kostschmäleruug
und durch Verdunkelung der Arrestzelle; nur jeden vierten Tag müssen dem Ge-
fmignen „hausvrdnungsmiißiges" Bett, ebensolche Kost und das Tageslicht gewährt
werde». Der Raum, den die jungen Verbrecher während dieses strengen Arrestes
bewohnen, ist eine dumpfige Zelle im Erdgeschoß des Gefängnisses; wenn die
Läden vorschriftsmäßig geschlossen sind, herrscht, wie ich mich überzeugt habe, voll¬
ständige Dunkelheit; irgend eine Klingel giebt es nicht.
Diese Art der Bestrnfnng ist — namentlich bei jungen Verbrechern oder
verwahrlosten Knaben — eine unerhörte Grausamkeit, die geradezu geeignet ist, die
Gesundheit zu zerstören. Die Irrenärzte haben seit langer Zeit festgestellt, daß
eine Anzahl von gesund eingelieferten Gefangnen bei einsamer Absperrung geistes¬
krank wird und bei krankhaft Veranlagten hierdurch eine Seelenstörung zum Aus¬
bruch kommt (Gutsch, Kiru, Schule, Kraepelin, Günther und viele andre haben
dies auch wiederholt veröffentlicht). Die Gefahr ist besonders groß bei Ver¬
dunkelung, ucuueutlich bei vollständiger Verdunkelung der Zelle. Die in der Einzel¬
haft vorkommende Geistesstörung besteht in schreckhaften Sinnestäuschungen, na¬
mentlich ans den Gebieten des Gesichts und des Gehörs, in schweren Verfolgungs¬
und ungerechtfertigten Versüudiguugsideeu, in entsetzlicher Angst und Aufregung
(akuten hallucinatorischen Wahnsinn). Wenn die Krankheit rechtzeitig erkannt wird
und sofort behandelt, wenigstens die Einzelhaft aufgehoben wird, ist meist noch
Heilung möglich. Bleiben aber die Kranken weiter eingesperrt, so treten oft reli¬
giöse Größenideen und später unheilbare Verblödung ein. Die Zahl der Er¬
krankungen infolge der Einzelhaft, namentlich der Einzelhaft im dunkeln Naum, ist
nicht gering. In jede größere Irrenanstalt kommen alljährlich solche Fälle; ein
beträchtlicher Prozentsatz davon kommt leider zu spät.
Junge Verbrecher fügen sich natürlich besonders schwer in die strenge Ordnung
des Gefängnisses, fallen also oft in Strafe. Aber gerade bei Knaben, die in der
Entwicklung begriffen sind, ist die Gefahr, bei längerer einsamer Einsperrung geistes¬
krank zu werden, sehr groß, namentlich wenn ihnen die Arbeit (!), die Lektüre und
das schon an und sür sich harte Bett entzogen, wenn zugleich die magere, doch
wahrhaftig mir die notwendigsten Nährstoffe enthaltende Gefängniskvst geschmälert,
wenn ihnen endlich auch noch das all ihren Jammer bescheinende Himmelslicht ge¬
nommen wird. Das ist zu arg. Besonders die letztgenannte Bestimmung ist ganz
verderblich. Tiere und Pflanzen, die ans Licht gewöhnt sind, gehen ohne Licht
zu Grunde. Aber auch der Mensch muß geistig lind körperlich verkümmern, wenn
ihm — wie es hier auf Befehl der preußischen Jnstizverwaltung geschieht — die
Sonne, die doch Gott täglich über Gerechte und Ungerechte aufgehn läßt, an dreißig
Tagen nur sieben mal leuchte» darf. Es ist nicht zu verwundern, wenn dann so
ein junger Mensch, der infolge der Einzelhaft mehr oder minder schwachsinnig ge¬
worden ist, im spätern Leben Gut und Böse nicht mehr klar zu unterscheiden weiß
und immer und immer wieder rückfällig wird.
Strafen sind unter den angeführten Umständen gewiß nicht zu vermeiden. Sie
sollen aber doch vor allen Dingen bessernd und erziehend wirken. Der Staat mag
andre Mittel wählen, um die Ordnung im Gefängnis aufrecht zu halten. Unter
keinen Umständen darf er eine Maßregel weiter anwenden lassen, von der nach¬
gewiesen ist, daß sie die körperliche und vor allem die geistige Gesundheit für
immer schädigen kann.
Übrigens dürfte auch eine genaue Zusanimenstellnng der etwa im Laufe eines
Jahrzehnts in irgend einem Armeekorps infolge strengen Arrestes geistig erkrankten
Soldaten geeignet sei», das Interesse der Militärbehörden zu erregen.
So oft ich im Sommer .Kinder aus der Straße barfuß laufen
sehe, beneide ich sie. Wie strotzen die kleinen traiter Füße unter ihrer Schmutz-
Hülle von Gesundheit! Da giebt es weder verkrüppelte Zehen, noch emgewcichsene
Rngel, noch Hühneraugen. Wenn es sich mit unsern gesellschaftlichen Gewohnheiten
vertrüge, ich liefe den ganzen Sommer barfuß. Das schicke ich voraus, um nicht
der Schwarzseherei geziehen zu werden. Mir fällt es nämlich auf, daß das Bar-
fußiaufeu der Kinder in Leipzig diesen Sommer einen Umfang angenommen hat,
wie niemals in den letzten Jahren. Die Kinder barfuß in die Schule zu schicken,
ist ja streng verboten. Aber während der vierwöchigen Sommerferien haben sie
sich eine Güte gethan, und auch nach den Ferien wird es fröhlich fortgesetzt: sowie
der Schulranzen abgeworfen ist, werden Schuhe und Strümpfe ausgezogen, und
nun gelsts „barbs" hinunter auf die Straße! Und da scheint es denn, als ob auch
fo manche Mutter, die das früher nicht zugelassen hätte, jetzt nicht mehr so streng
in diesem Punkte wäre. Die Straßen sind voll von kleinen Barfüßlern, meist
Jungen, aber auch nicht wenig Mädchen, nicht bloß die stilleren Straßen, wo sich
die Kinder an schulfreien Nachmittagen und in den Abendstunden in ganzen Scharen
tummeln, sondern auch die verkehrsreichen Hauptstraße» mit ihren prunkvollen
Schnnfenfteru. Ein köstliches Grvßstndtbild, wenn sich an der schöugeputzteu mes-
singnen Schutzstange eines Schaufensters, hinter dem die teuerste Tcmdelware aus¬
gebreitet ist, drei oder vier solche turzgeschvrne blonde Barfüßler aufgepflanzt
haben!
Was wirkt hier plötzlich? Im allgemeinen gilt es ja für „unanständig," für
lüderlich, für schlumpig, seine Kinder barfuß laufen zu lassen. Das liegt ja auch
schon in dem erwähnten Schnlvcrbot ausgedrückt: in die Schule sollen die Kinder
»anständig" gekleidet kommen. Wie kommt es, daß sich so viele jetzt über die
»Anständigkeit" hinwegsetzen? Ist die Kunde von der Kneipptnr anch in diese Kreise
gedrungen? Oder lockt der glatte Asphalt, auf dem sich, wenn nicht gerade die
Scherben einer Petroleumflasche herumliegen, so hübsch radschlagen und seilhüpfen
läßt? Oder nimmt wirklich die Dürftigkeit so zu, daß manche, die sonst nnr dem
Apotheker ans dem Wege gingen, jetzt anch schon den Schuhmacher zu vermeiden
suchen?
Der Verfasser dieser deutschen Grammatik, der ersten vollständigen wissen¬
schaftlichen dentschen Grammatik seit Jakob Grimm, ist von Haus aus nicht Gram¬
matiker. Treu und ehrlich berichtet er in der Vorrede, wie erst allmählich seine
Beobachtung der grammatischen Studien andrer in lebhafte Teilnahme und Mit¬
arbeit übergegangen ist, bis er schließlich das ganze Gebcinde, zu dem andre meist
die Steine herbeigeschafft und behauen hatten, hat aufführen können. Daß diese
zusammenfassende Arbeit willkommen, ja notwendig gewesen ist, weiß jeder, der
einen Einblick in die wissenschaftliche grammatische Thätigkeit der Gegenwart hat.
Die Wilmannssche Grammatik ist keine Darstellung des gesummten deutschen
Sprachlebens. Sie läuft auch nicht aus in die heute in deu verschiednen Gegenden
Deutschlands gesprochnen Bcnndarten, sondern in die neuhochdeutsche Schriftsprache.
Auf der andern Seite aber greift sie für die älteste Zeit über die Grenzen des
eigentlich deutschen Sprachgebiets hinüber; sie geht aus von dem gotischen Zweige
des Germanischen, der Schwestersprache des Urdeutschen, um deu Zusammenhang
mit der indogermanischen Familie deutlich werden zu lasse«, und stellt dann — in
der vorliegenden ersten Abteilung — die Geschichte unsrer Sprachlaute über die
althochdeutsche und mittelhochdeutsche Zeit hin bis zur Gegenwart dar. Besondern
Dank verdient die saubere Zusammenfassung der jüngsten Lautentwicklungen aus
der Übergangszeit vom Mittelhochdeutschen zum neuhochdeutschen; daß hier Luthers
Sprache sorgfältig berücksichtigt worden ist, ist selbstverständlich.
Dieser Plan soll dem Zwecke dienen, ein Lehrbuch für unsre Lehrer des
Deutschen an höhern Schulen zu schaffen. Nun wird es wohl freilich noch lange
ein frommer Wunsch bleiben, daß jeder, der deutsche Stunde in der Prima eines
Gymnasiums gebe« darf, deu Stoff beherrsche, den dieses Buch umfaßt, so gewiß
auch sprachgeschichtliche Bildung eine Hauptbedingung für diesen Unterricht ist.
Aber das Interesse an Fragen unsrer Sprachentwicklung ist ja nicht auf den Kreis
der Schule beschränkt: jedem Deutschen, der einmal Verlangen empfindet, sich an
der Hand eines zuverlässigen Führers über die Entstehung seiner Muttersprache zu
unterrichten, muß neben Kluges etymologischen Wörterbuch jetzt in erster Linie die
Grammatik von Wilmauns — auch um ihrer gemeinverständlichen klaren Fassung
willen — empfohlen werden. Mögen die Wortbildungslehre, die Flexionslehre
und vor allem die Syntax nicht lange auf sich warten lassen!
Es hieße Wasser in die Elbe tragen, wenn man über deu Wert der eddischen
Gedichte als einer unerschöpflichen Quelle altgermanischer Heldensage und Mytho¬
logie ein Wort verlieren wollte. Denn der kräftige Stoß, deu vor wenigen Jahren
ein hervorragender ausländischer Gelehrter mit gewandter Hand gegen diese That¬
sache geführt hat — er glaubte beweisen zu können, daß eine Menge dieser Mythen
nichts andres als Umbildungen von christlichen Legenden oder Sagen des klassischen
Altertums seien, die Normanen hätten sie sich auf ihren Fahrten zu eigen gemacht—,
dieser Stoß ist in die Luft gegangen; nur vereinzelte „deutsche" Gelehrte haben
es sich nicht versagen können, alsbald in derselben Knmpfweise mit seichtem und
Hieblein dem Gehalt der Lieder zuleide zu gehen. Es bleibt dabei, daß wir in
dieser Götter- und Heroendichtung die glücklichere, nicht von fanatischem Priester¬
haß verfolgte Schwester unsrer urdeutschen mythologischen Welt erblicken dürfen/
Und ihr ästhetischer Wert? Kein Zweifel: in diesen Gedichten sind Stellen,
die unserm geistigen Auge langweilig erscheinen. Dahin gehören besonders spätere
Einschiebsel gewissenhafter Dichterlinge: da packt z. B. einer da, wo die Seherin
Vvlva von der Erschaffung der Zwerge kündet, alles hinein, was er von Zwergen¬
namen kennt; dahin gehören die von zwei Streitenden in ganzen Reihen aufge¬
worfnen Rätselfragen, die gewiß einst jedem verständliche Steigerungen und am
Schlüsse einen Haupttreffer enthalten haben, für uns aber kaum mehr als eine
Kette vou Spitzfindigkeiten bedeuten. Aber wer wollte das als Gegengewicht in
die Wagschale werfen gegenüber der großartigen Phantasie im Erfassen der Natur
in der Göttersage, den tiefen Wahrheiten in der Spruchdichtung, einer Lebens-
Weisheit, die nnr deshalb nicht abgeklärt genannt werden darf, weil sie sich nie
hat abzuklären brauchen, weil sie noch dein rein natürlichen zunächst steht,
'->ud gegenüber der höchsten Schönheit in der Schilderung vou Liebeslust und
Liebesleid.
Alle diese Vorzüge brauchen nicht mehr bewiesen zu werden. Aber wir
möchten hier zeigen, daß in der vorliegenden Übertragung ein trefflicher Ersatz
des nnr wenigen zugänglichen Originals geboten wird, und deshalb teilen wir
wenigstens einige Strophen aus dem ersten Gudrunliede mit. Da wird im Ein¬
gang erzählt, wie Gudrun in starrer Trauer an Sigurds Leiche sitzt (Kriemhild
ein Siegfrieds Leiche nach der Überlieferung in den deutsche» Nibelungen); ver¬
gebens suchen erfahrene Jcirle sie zu trösten, vergebens ihre Frauen, zuletzt mit
beredten Worten Herborg, ihr befreiende Thränen zu entlocken.
Dus ist schön. Und indem der Leser das empfindet, besteht, ihm unbewußt, Gerings
llbersctzungskunst glänzend ihre Probe. Der Übersetzer ist aber auch ein viel zu
gründlicher Kenner der Edda, als daß er sich seine. Arbeit hätte leicht machen
können. Inhaltlich steht die Übersetzung ans derselben Höhe wie die heutige Wissen¬
schaft (über innere Schwierigkeiten des Textes wird der Leser durch knappe An¬
merkungen rasch und sicher hinweggehoben), in der Form vereinigt sich mit der
Gewissenhaftigkeit in der Wiedergabe eigentümlicher Metra großes Geschick in der
Handhabung des Stabreims. Und so verdient diese Übersetzung in jeder Beziehung
"und der Simruckscheu vorgezogen zu werden, immer noch der besten, die es bis
jetzt gegeben hat.
Nach alledem noch auf den billigen Preis (2 Mark) des gut ausgestatteten
Bandes hinzuweisen, schämen wir uns eigentlich; das Bibliographische Institut wird
es aber wohl erlauben, in dessen Verlag diese treffliche Übersetzung der Edda vor
kurzem erschienen ist.
Im April dieses Jahres war dem Hamburger Senat ein mit zahlreichen Unterschriften
versehenes Gesuch überreicht worden, worin gebeten wurde, in deu städtischen Krankenhäusern
eme Abteilung für arzneilvse Hcilweise zu errichten. Darauf ist deu Bittstellern kürzlich fol-
garde Antwort erteilt worden, die wir weniger um ihres Inhalts willen, als weil sie eine
ganz hervorragende stilistische „Darbietung" ist, unsern Lesern nicht vorenthalten dürfen. Die
Antwort lautet (nach dem Hamburgischen Korrespondenten vom 19. August): „Der Senat erteilt
ans das Gesuch den Bescheid: Da die thatsächlichen Angaben, welche die Bittsteller zur Be¬
gründung ihres Gesundes vortragen, keineswegs zutreffend sind, insbesondre auch die Anfüh¬
rung, daß die Sterblichkeit der bei der vorjährigen Lholeracpidemie nach der Wasserheil¬
methode behandelten Kranken nur eine günz geringe gewesen sei, mit den in den hiesigen
Krankenhäusern gemachten Erfahrungen nicht übereinstimmt, da übrigens die von den Bitt¬
stellern empfohlene Heilmethode, sofern die betreffenden Fälle sich für dieselben eignen, in den
hiesigen öffentlichen Krankenanstalten jedoch jederzeit Berücksichtigung findet, wogegen aller¬
dings die Errichtung von Abteilungen, in denen alle Kranken nach demselben Verfahren be¬
handelt werden, nicht zulässig erscheint, indem es die Pflicht der vom Staate angestellten Ärzte
ist, die Wiederherstellung der ihnen anvertrauten Kranken mit allen Mitteln der Heilkunde zu
erstreben, daß aus das Gesuch nicht einzugehen sei."
Einem dringenden Bedürfnis hat Johannes Walther, außerordentlicher Professor an der
Universität Jena, in seiner kürzlich erschienenen „Allgemeinen Meereskunde" abgeholfen durch
Erfindung der volapükmttßig anmutenden Wörter Atlantik, Pazifik nud Jndik für das
Atlantische, Stille und Indische Weltmeer, offenbar „eingedeutscht" nach berühmten Mustern ans
dem englischen ^et-alio, ?»plin- und InÄio (?) Ovsan. Auch der Urteil und der Anta rktik
treten bereits ans. Zu wünschen wäre nur, daß auch die gute, liebe alte Ostsee bald als
Bnltik nachfolgte; für die Nordsee empföhle sich vielleicht Nordik oder Germanik.
Wie instit!
Die gerügten Geschmacklosigkeiten sind umsomehr zu bedauern, als die Darstellung in
dem Buche sonst recht hübsch und ansprechend ist.
Die Kölnische Zeitung veröffentlicht in ihrer Morgenausgabe vom 19. August eine Skizze
von Xiarl Prvll: „Heldensterne," die eine reizende Spracherrnngenschast ausweist. „Das
Grün war in den letzten Tagen schon so dicht geworden, daß man sich dahinter verstecken
konnte, und die Erstblüten dufteten süß." Es muß wirklich ein Erstschrislsteller sein,
der die berühmten Erstaufsührnngen dnrch diese sprachliche Letztblüte übertrumpft. Zur
Erst liebe ist jetzt mir noch ein Schritt; hoffentlich kann sich Deutschland auch daran bald
erfreue»!"
Sehr geschmackvoll sind in derselben Skizze auch die „hollunderumbuschten Bosguets.
Die Wortstellung ist ebensalls durchweg „modern"; ausfallen kann daran nnr, daß die Per¬
sonen sogar im alltäglichen Sprechen das Reflexionen hinten aufsitzen lassen. „Kannst du
nicht anderswo im Garten dich herumtreiben?" ist ein wundervolles Beispiel dafür; ebenso
die Rede eines Leutnants: „So, noch einen ordentlichen Kuß unter vier Angen, bevor wir
angesichts der Eltern uns wieder sittsam bezeugen (bezeigen ist gemeint!) müssen." Ein
elfjähriges Kind spricht folgenden Satz: „Das bleibt schließlich eine Belohnung dafür,
daß ich der Anna allerlei geheime Botschaft überbrachte, von der ich nie etwas der Mutter
verriet. Ja, fein hast dn es eingefädelt und mir jetzt das Nachsehen gelassen. Schäme dich,
das thut kein rechter Mann!"
Ja, fein hast du es eingefädelt und der deutschen Sprache das Nachsehen gelassen, Erst-
blütenerzenger! Schäme dich, das thut kein Erstschriftstcller!
Die Sprachverrvhung greift immer weiter um sich. Mit Vorliebe bemächtigt sie sich
jetzt der Apposition. Die Apposition soll bekanntlich — so haben wir es noch in der Quinta
gelernt — stets in demselben Kasus stehen wie das Hauptwort, zu dem sie tritt; aber diese
Regel wird schon längst nicht mehr beachtet. Die Deutsche Verlagsanstalt in Stuttgart z. B.,
die sich Union nennt, druckt ans alle ihre Erzeugnisse: „Druck der Union, Deutsche Verlags¬
anstalt in Stuttgart." So ist z. B. zu lesen ans jedem Hefte der „Deutschen Zeitschrift für
Geschichtswissenschaft," deren Herausgeber ans die Sprachdiktatnr der Union keinen Einfluß
zu haben scheint. Man muß wohl auch ans die Hoffnung, daß die Leitung der Union für
Vorstellungen zugänglich sein werde, verzichten. sieht doch die Anstalt in Pcrsonalvcrbindung
mit dem Sprachmvnstrum, genannt: „Verlag der I. G. Cottaschen Buchhandlung Nachfolger"!
eutschlcmds größte Kolonie ist jene Ostmark, deren Boden zuerst
den Ungarn und den Slawen in hartem Kampfe abgerungen
wurde, bis sie, kräftig herangereift, diesen Völkerschaften Schutz
und Hilfe gegen den türkischen Erbfeind brachte und sie schlie߬
lich zu einem großen Reiche zusammenband. Aber seltsam: so¬
lange das deutsche Reich zerrissen war, behauptete die deutsche Nationalität
in Österreich ihr unbestreitbares Übergewicht; als es in unsrer Zeit wieder
aufgerichtet wurde, verblaßte in der Habsburgischen Monarchie das Ansehen
des früher führenden Deutschtums. Es kann uicht mehr bezweifelt werden:
die Schlacht bei Königgrätz hat nicht bloß dem Übergewichte Österreichs in
Deutschland ein Ende gemacht, sie hat auch der deutschen Nationalität im
Osten einen vielleicht nie zu verwindenden Schlag versetzt. Vor allem fiel der
Umstand ins Gewicht, daß die Herrscher der Donaulande durch die Trennung
von Deutschland der Pflicht enthoben wurden, als deutsche Fürsten die na¬
türlichen Verfechter der Sache ihres Stammes zu sein. Dazu kam aber, daß
die wirtschaftliche Gliederung, die soziale Gruppirung in Österreich — ganz
abgesehen von Ungarn — der deutschen Nationalität immer ungünstiger wurde.
Denn diese ruht in den politischen Kämpfen unsrer Zeit vorwiegend auf dem
Bürgertum. Sowohl die höhern aristokratischen und geistlichen Schichten wie
die Arbeitermassen standen und stehen der Idee der Nationalität entweder ab¬
weisend oder feindselig gegenüber. So lange das Bürgertum in Deutschland
wie in Österreich das moralische Übergewicht hatte, so lange der von ihm
vertretene, mit Begeisterung aufgenommene Grundsatz, daß sich im Parlament
die Staatshoheit verkörpere und daß diesem die Staatsgewalt gebühre, aus-
'
schließlich das Ohr der öffentlichen Meinung hatte, konnte auch das Bürger¬
tum für das Deutschtum starke Gewichte in die Wngschale werfen. Aber
plötzlich ward diese Anschauung durch den Einbruch einer alles umgestaltenden
Thatsache über den Haufen geworfen. Das deutsche Reich wurde — wenigstens
soweit die sinnfälligen Erscheinungen sprechen — nicht unmittelbar durch die
politische Arbeit des Bürgertums, sondern durch die Monarchie, das Heer und
durch das aristokratische Oberhaupt des Beamtentums — den masor äoiriri8
nannten ihn die neidischen Gegner — geschaffen. Das deutsche Bürgertum
spaltete sich: ein Teil erkannte dankbar das heilsame Wirken dieser nationalen
Kräfte an und Scharte sich um die neuerstcmdnen schöpferischen Werkmeister,
die andre Hälfte hielt hartnäckig daran fest, daß nur das Parlament das Recht
gehabt hätte, den Deutschen ein großes Vaterland zu gründen. In diesen
Kämpfen zerrieb sich das Bürgertum, und die Herrscher fühlten kein Interesse,
diesen Stand, den einzigen gefährlichen Nebenbuhler in der Frage der Macht,
zu einer Einheit zusammenzutreten. Deutschland und Osterreich werden von
denselben politischen Ideen beherrscht; so pflanzt sich das Wirrsal innerhalb
der bürgerlichen Klassen anch über die schwarzgelben Grenzpfühle fort. Die
Monarchie und der Adel in Osterreich zogen aus der Befestigung oder Neu-
erweckung konservativen Geistes unter den deutschen Stämmen ihren Gewinn,
obwohl insbesondre die Thaten der österreichischen Aristokratie weit zurück-
blieben hinter dem, was der Adel des deutschen Reiches im Heere und im
Beamtentum für sein Vaterland geleistet hatte. Im deutschen Bürgertum
Österreichs übten Zünftlertum und Antisemitismus ihre zersetzende Kraft mit
voller Wirkung; in Wien besonders entstand in den Köpfen ein chaotischer Zu¬
stand, den die klerikale Partei trefflich auszunutzen verstand. Der Widerstand,
den das deutsche Bürgertum lange dem Vordringen des Slawentums ent¬
gegengesetzt hatte, wurde durch seine innere Spaltung gebrochen. Seine
Schwäche wurde von einem geschickten Minister genährt und benutzt; erbittert
über den Widerstand, den ihm die bürgerliche Verfassungspartei bei seinem
Emporkommen entgegengesetzt hatte, läßt jetzt Graf Taaffe die Deutschen all
das Herzeleid entgelten, das sie und ihre Führer ihm angethan haben. Es
gelang ihm, die Regierungsgewalt in so hohem Grade zu befestigen, daß ihn
in einem gewissen Zeitpunkte alle Nationalitäten, alle Parteien werbend um¬
standen und ihm um den Preis eines Anteils an der Macht ihren parlamen¬
tarischen Beistand anboten. So konnte der dem Deutschtum im ganzen feind¬
selige Einfluß des Adels und der Geistlichkeit die Wurzeln der Machtstellung
der Deutschen untergraben. Gleichzeitig quollen aus der Tiefe des sozialen
Körpers Blutströme empor, die dem deutschen Bürgertum mit ähnlichen
Gefahren drohten. Denn wohlgemerkt, das Bürgertum hatte in der Leitung
des Staates lauge Zeit seiue Klnsfeninteresfen stark vorwalten lasten, sodaß
es das Mißtrauen erweckte, es berge unter der Verteidigung der Nationalität
seine besondern Vorteile. Ans den Slawen rekrutirt sich in Österreich zum
guten Teil das Proletariat; je mehr dieses feste Gestaltung gewinnt und ge¬
schlossen ans den Kampfplatz tritt, desto mehr fühlt sich das Deutschtum der
bürgerlichen Kreise eingeengt. So ist jetzt ein Tiefstand des deutschen Ein¬
flusses in Österreich eingetreten. Niederlagen aber rufen Einkehr und Nach¬
denken hervor, und so kommt es, daß diese Zeit des Absteigens ernste, reifere
Publizistische Arbeiten zu Tage fördert als die Tage des Glanzes. Fast gleich¬
zeitig sind zwei tüchtige Bücher erschienen, die sich in dem Eindringen in den
großen Gegenstand gewissermaßen ergänzen. Armand Freiherr von Dumreicher,
dessen Wort im Abgeordnetenhause schon oft anspornend und gedankenerweckend
für sein Volk ertönte, und Dr. Michael Hainisch erweitern den politischen Ge¬
sichtskreis ihrer Stammesgenossen durch Arbeiten, aus denen sich ein reicher
Vorrat von Ideen schöpfen küßt.^)
Schon als schriftstellerische Leistung ist das Buch Dumreichcrs hoch an¬
zuschlagen. Es ist formvollendet nicht bloß durch die Anmut der Sprache,
den Glanz der Bilder, sondern vor allem auch durch die auch aus der kleinsten
Anmerkung herausleuchtcnde Einheit des Stils. Manche Wörter, die Dum¬
reicher prägt, verdienten in den politischen Sprachschatz der Deutschen aufge¬
nommen zu werden, so wenn er von der Zurückdrängung des deutschen Ele¬
ments in den Städten Böhmens und Krams spricht und sich beklagt, daß
der „nationale Atmungsranm der Minderheiten" immer mehr eingeengt werde.
Der Verfasser spricht von den gothischen Denkmälern deutscher Künstler
in den jetzt slawisirten Städten Polens und Böhmens. Daran knüpft er eine
schwermütige Betrachtung in Worten, wie sie so einfach und ergreifend nur
ein Meister der Rede bilden kann: „Viel deutsches Erbe ist in den Sudeten¬
ländern, in den Karpathengcbieten den Jahrhunderten zum Opfer gefallen,
vieles steht noch aufrecht. Aber die vornehmen und schöpferischen deutschen
Minderheiten sind eingeschrumpft, überwuchert, ausgejätet, verschwunden. Heute
füllt überquellendes slawisches Volksleben den prächtigen und ehrwürdigen
Rahmen aus deutscher Vorzeit. Die deutschen Werke sind noch da, nicht mehr
die deutschen Menschen. Auch dort reden die Steine. Jedoch reden sie von
dein, was war und nicht mehr ist. 3u,xii IvMnuwr," Den Bewohnern Wiens,
die dem Eindringen des slawischen Elements gleichgiltig gegenüber stehen und
mit naivem Stolz auf die Blüte der Architektur und der Bildhauerkunst in
Osterreich als eine dauernde Bürgschaft für den Bestand des deutschen Lebens
ü> Österreich hinweisen, rust Dumreicher warnend zu: „Oft schon waren prunk¬
volle Werke nur die Boten nahen Verfalls. Als sich Scamozzis und Longhenas
Marmorbauten in der Lagunenstadt erhoben, trug Venedigs Staats- und
Haudelsmacht bereits die Todeskeime in der Brust. An treuen Warnern hat
es dem Wiener wahrlich die ganzen Jahre hindurch niemals gemangelt. Denn
noch giebt es auch in Wien eine Minderheit ernst, klar und scharf denkender
deutscher Männer. Aber auch durch die auserlesenen Reihen dieser Hochgesinnten
und Beherzten weht zur Stunde etwas wie Abendluft." Durch das ganze
Buch geht eine elegische Stimmung, die in wahrhaft künstlerischer Weise ab¬
getönt ist. Es steht hoch über der Bücher- und Schrifteuflut politischen In¬
halts, der sich jahraus jahrein über die deutsche Leserwelt ergießt; man wird
es, insbesondre in Österreich, auch später immer wieder zur Hand nehmen
müssen als Denkmal der durch langes politisches Ungemach hervorgerufenen
wehmütigen Grundstimmung der Deutschen Österreichs am Ende des Jahr¬
hunderts, das ihrem mächtigen Ausgreifen in Ungarn, Böhmen und Galizien
wenigstens vorläufig ein Ende machte.
Dumreicher sieht über dem deutsch-österreichische:: Volksstamm ein trau¬
riges Schicksal walten. Es sei ungerecht — so führt er aus —, als Ursache
seines Rückganges eine besondre, nicht näher zu erklärende Schwäche der öster¬
reichischen Deutschen anzunehmen. Die geschichtliche Betrachtung lehre, daß
die That- und Schnellkraft der germanischen Einwanderung im Osten schon
lange gebrochen gewesen sei, bevor Österreich überhaupt bestand. Schon im fünf¬
zehnten Jahrhundert sei das deutsche Städtewesen in Böhmen geknickt, das
deutsche Bürgertum in Böhmen durch den Hussitismus ausgetilgt worden.
Ebenso verhängnisvoll sei die Türkenherrschaft für das blühende deutsche Städte-
Wesen Ungarns gewesen. Die Zeit der deutschen Kolonisation im Osten sei
mit dem Ausgange des Mittelalters zu Ende. Wohl habe die Gegenrefor¬
mation und die Zeit der Aufklärung mit ihrem kosmopolitischen Grundzug
eine rückbildende Wirkung geübt; dann aber sei Österreich durch deu Gang der
Geschichte immer mehr der Slawisirung verfallen. Durch die Einverleibung
Galiziens im achtzehnten, Bosniens im neunzehnten Jahrhundert sei das sla¬
wische Element stark vermehrt worden, Österreichs Ausschließung aus dem
deutschen Bunde, die Ablenkung des deutschen Auswandernngsstromes nach dem
Westen, das Fernbleiben des deutscheu Adels, der früher mit Borliebe im öster¬
reichischen Heere gedient hatte, vollendeten den verhängnisvollen Umschwung
der Dinge. Dazu das Emporblühen der Industrie in den deutsch-slawischen
Gebieten des Nordens, und der stationäre Zustand der Alpenländer, die immer
mehr zum menschenleeren Jagdgebiet der großen Herren aus allen Nationen
Europas werden. Mit besonder»: Nachdrucke verweilt Dumreicher bei der Lage
Wiens; die Schilderung der wirtschaftlichen Verhältnisse der Stadt, der Ein¬
bruch des slawischen Handwerkcrtums, die Verdrängung der besser bezahlten ein¬
heimischen Arbeitskräfte durch billige tschechische, slowakische und italienische Ar¬
beiter, die Verwischung des nationalen Charakters der Stadt — das alles ist
zu einem musterhaften Gemälde zusammengefaßt. Tiefer geht er dann auf die
letzten, wirtschaftlichen Ursachen der großen Erscheinung ein. Er weist darauf
hin, daß zwischen 1880 und 1890 die Vermehrung der Deutschen um 2,06 Prozent
zurückgeblieben sei hinter der gesamten Bevölkerungszunahme im österreichischen
Staate. Damit kommt er zu dem Kernsatze, daß die Massenbewegungen des
Zeitalters den Deutschen ungünstig seien. Aus den slawischen Gebieten, wo
auf den Gütern der Großen ein erbärmlicher Tagelohn, der bis auf zwanzig
und dreißig Kreuzer sinkt, das Volk zur Auswanderung drängt, strömen Tau¬
sende in das deutsche Sprachgebiet, drängen sich in die nahegelegnen deutscheu
Städte, bilden festgeschlossene Gemeinschaften, erzwingen sich tschechische und
slowenische Schulen, durchbrechen die uralte Sprachgrenze, steigen zu selbstän¬
digem Gewerbebetriebe auf und geben der neuen Heimat ein verändertes natio¬
nales Gepräge. Und hier setzt Dumreicher wieder mit überzeugenden politischen
Auseinandersetzungen ein. Solches Überfluten der Sprachgrenzen war nicht
zu verhindern, denn es beruht ans unabweisbaren wirtschaftlichen Ursachen.
Aber der Staat stand, wenn er nur wollte, dieser Erscheinung nicht wehrlos
gegenüber. Durch eine weitsichtige Unterrichtspolitik hätte er solche bedroh¬
liche Erscheinungen bezwingen können: es mußte dafür gesorgt werden, daß
diese Einwanderer durch die Schule der heimischen Bevölkerung zuletzt doch
sprachlich angegliedert wurden. Statt dessen hegte und fütterte der Staat die
entstehenden Minderheiten, schuf selbst Völkerfragmenten, wie den Slowenen,
durch bestellte Übersetzungen Lehrbücher, die sie sich aus eigner Kraft nie ge¬
schaffen hätten. „Von allen Übersetzungen — so lautet eine Stelle bei Dum-
reicher — meint Cervantes, sie seien wie die Kehrseiten von flandrischen Tapeten,
und wenn man auch die Figuren sehe, so erschienen sie doch von verdeckenden
Fäden so überspannen, daß der Glanz wie die Klarheit der Vorderseite ver-
loren gehen. Aus solchen umgedrehten Teppichen aber soll die reifere Jugend
in Österreichs südlichen Ländern das Bild der Welt und ihres Knlturschatzes
u> sich aufnehmen! Und überdies, wie wenig solcher umgedrehter Gobelins
kann man ihr bieten! Bisher ist für zwanzig Gulden die ganze jährliche litte¬
rarische Produktion der Slowenen zu kaufen." Geradezu verheerend aber
wirkt dieser Zustand auf die österreichische Armee, diese eiserne Klammer des
Staats; denn immer mehr schwindet die Kenntnis der deutschen Sprache nnter
den Unteroffizieren, selbst die Offiziere der Reserve können sich oft nur in ge-
brochner deutscher Rede mit einander verständigen. Es ist mit dem Heran¬
wachsen der neuen Generation ein Zustand im Werden, den der ehemalige
Minister Unger einmal treffend bezeichnete, wenn er sagte: „Wie sollen wir uns
verständigen, wenn wir uns nicht mehr verstehen?"
Es ist also eine durchaus melancholische Anschauung der Dinge, zu der
der Verfasser der „südostdeutschen Betrachtungen" gelangt. Nur schwache
Hoffnungsstrahlen durchdringen ihm das Gewölk. Er faßt die ganze Entwick-
trug dahin zusammen: „Große wirtschaftliche Veränderungen haben gewisse
Verschiebungen der Bevölkerung in Fluß gebracht, und durch das Zusammen¬
treffen dieses Prozesses mit politischen Ereignissen, die die Staatstradition ans
ihrer Bahn warfen, ist Osterreich vor eine dunkle Zukunft gestellt, die sich jedem
seiner Vergangenheit entnvmmnen Beurteilungsmaßstabe entzieht. Niemand
weiß, wohin das Staatsschiff steuert."
Mit der bestimmten Absicht, seine leichtlebigen, optimistischen Landsleute
aus der Täuschung über ihre Lage herauszureißen, hat Dumreicher dieses ein¬
drucksvolle, düstere Gemälde entworfen. Tief in die Seele soll ihnen das Be¬
wußtsein brennen, daß das lebende Geschlecht ein reiches nationales Erbe hat
zerrinnen lassen. Der Verfasser will nicht Geschichtschreiber, er will Publizist
fein, er will den Leser in eine gewisse Stimmung versetzen; er will in ihm
den Entschluß hervorrufen, sich einzusetzen für die Erhaltung des deutscheu
Volksbesitzes in Österreich.
Aber eine gewichtige Einwendung muß doch gegen diese Betrachtungen
erhoben werden. Ist die Schwermut, die in jedem Augenblick in thatenlose
Resignation umschlagen kaun, das Gefühl, aus dem nationale Mannhaftigkeit
emporzuwachsen Pflegt? Offenbar ist es doch Dumreicher vor allem darauf an¬
gekommen, eine Voraussetzung zu zerstören, die die Deutschen Österreichs von
1848 bis 1880 vollständig beherrschte, die ihre besten politischen Köpfe irre¬
führte und jene verworrene Sprachengesetzgebung hervorrief, die unter den
gegenwärtigen Verhältnissen nicht mehr reformirt werden kann. Die Männer von
1848 und die, die die Verfassung von 1868 schufen, also die Zeitgenossen
Herbsts, Kaiscrfelds, Hasncrs und Anastasius Grüns gingen von der Ansicht
ans, daß das Nationalgefühl, zumal der kleinern slawischen Stämme in Öster¬
reich, eine nnr augenblicklich aufrauschende Massenempfiuduug sei, die bald ver-
brauseu werde; sie glaubten Zeugen einer vergänglichen Bewegung zu sein;
sie schnitten den Staat in der Voraussetzung zu, daß Staatsbewußtsein und
Freiheitsgefühl, daß eine liberale, rein menschliche Gesinnung die irregeführten
slawischen nationalen Massen bald zur Anerkennung der Überlegenheit der
deutschen Staatssprache zurückführen müsse. Sie unterschätzten die Macht des
Nationalismus. Sie gingen so weit, daß sie ihre eignen Stammesgenossen
unaufhörlich warnten, sich die rein menschliche Empfindung des Kosmopolitis-
mus nicht verdunkeln zu lassen durch schroffe Betonung des deutschen Rechts¬
und Machtgefühls. Sie glaubten, vorsichtig abzuwägen, wenn sie dem Fieber¬
schauer des Nationalismus die Zeit von etwa dreißig Jahren gaben, wenn sie
die mit ihnen lebende Generation der Slawen verloren gaben, jedoch die Über¬
zeugung uührteu, daß das nächste Geschlecht, durch die Irrtümer seiner Väter
gewarnt, die neuerrichteten tschechischen, magyarischen, slowenischen Schulen
leerstehen lasse» und seine Kiuder wieder deutsche« Anstalten anvertrauen werde.
Sie stellten demnach fest, daß, wo sich vierzig Kinder einer Nationalität be-
fänden, für diese auch eine eigne Schule gegründet werden müsse. Zugleich
verboten sie im Artikel 19 des Staatsgrundgesetzes jeden Zwang zur Erler¬
nung einer zweiten Landessprache, also auch der deutsche!? Staatssprache. Man
solle die Nationalitäten ihrer eignen Einsicht überlassen und sie zugleich auf
eine geistige Hungerkur setzen; sie würden dereinst reuig zur deutschen Bildung,
zur deutscheu Schule zurückkehren. Infolge dieser Gesetzgebung schössen aber
tausende von slawischen Schulen in Österreich in die Höhe; schon 18V9 wurde
von der herrschenden deutscheu Landtagsmehrheit ein tschechisches Technikum
in Prag gegründet; der Führer der Deutschböhmen, Schmehkal, befürwortete
1878 die Gründung einer tschechischen Universität. So sah der nationale
Druck ans, über den sich die slawischen Nationalitäten in Österreich be¬
schweren!
Fast dreißig Jahre sind setzt seit dem Neuaufbau des Staates durch die
deutschliberale Partei verflossen; die Probe auf die damals gestellte Rechnung
sollte jetzt bereits gemacht sein. Aber die Boraussetzungen der Männer, die
die Wurzeln ihrer Bildung ans den Werken der Weltbürger Herder, Lessing
und Schiller gesogen hatten, erwiesen sich als irrig. Ihre nationalpolitische
Gesetzgebung führte zu einem Schiffbruch; sie erzogen ein Geschlecht von
Tschechen und Slowenen, die mit der nationalen Schulbildung, die ihnen ge¬
währt wurde, auch deu Anspruch erhoben, daß ihrer Nationalität als solcher
eine Herrscherstelluug zu gewähren sei. Die verstärkte Agitation für das
böhmische Staatsrecht geht darauf aus, sür die erstarkte tschechische Natio¬
nalitnt auch deu gesonderten Staat innerhalb des Reiches der Habsburger
herzustellen.
Die „jüngere Schicht" der deutschen Politiker Österreichs, unter ihnen
auch Freiherr von Dumreicher, fand bei ihrem Eintritt in das öffentliche Leben
diesen Zustand bereits vor. Gewiß hätte es kein Mittel gegeben, die nationale
Freiheitsbewegung von Böhmen fernzuhalten; aber eine weise Gesetzgebung
hätte doch mehr vou den notwendigen Befugnissen der Staatssprache in den
national gemischten Gebieten retten können. Das ist jetzt vorbei. Umsomehr,
als die Regierung, um die deutsche Parlamentspartei von der Macht fernzu¬
halten, um ferner die Vorrechte der Krone und des Adels fester zu begründen,
den Zwist zwischen den Nationalitäten mit Behagen mit ansah und selbst
nährte, wie die Geschichte des letzte« „Ausgleichs" beweist. Die Deutschen
mit ihrem Streben, den Schwerpunkt der Negierung in das Parlament zu
verlegen, standen den Verfechtern der Autorität der Krone im Wege; sie
wurden zur Seite geschoben und die gefügigem Tschechen herangezogen. Jetzt
ist ein Umschlag eingetreten. Jahrzehntelang betrachtete man die Deutschen mit
Mißtrauen, einem Mißtrauen, das sich zeitweise zur Abneigung steigerte, weil
man sah, daß sie die „liberaleren" seien, d. h. daß sie mit größerm Ernste die
Beschränkung der Macht der Krone zu Gunsten der parlamentarischen Mehr-
heit betrieben. Jetzt sind die Tschechen „liberaler" oder „demokratischer" ge¬
worden; sie sind es, die mit ihrer Forderung des allgemeinen Stimmrechts,
mit ihrer Gegnerschaft wider die Privilegien des Großgrundbesitzes den abso¬
lutistischen und feudalen Staat, so weit er sich noch erhalten hat, in seinem
ganzen Baue bedrohen. Daher kommt es, daß das Staatsoberhaupt gleich
nach dem ersten Wahlsiege der Jungtschccheu das Wort von der „gemischten
Gesellschaft" sprach. Mit der wachsenden Flut der demokratischen Bewegung
unter den Slawen der Sudeteuläuder ist die österreichische Politik in eine
neue Phase getreten. Bis jetzt haben die Deutschen allein die Last des
Kampfes für die freiheitlichen Einrichtungen getragen, sie haben den harten
Strauß mit der katholischen Kirche ausgefochten zur Schaffung und Erhaltung
des Schulgesetzes. Nachdem sie Jahrzehnte hindurch infolge ihrer reichern
Bildung und wirtschaftlichen Entwicklung allein den Nachteil einer stärkern
politischen Gliederung in ihren Reihen und damit alle Schäden innerer
Zerklüftung empfunden hatten, wird jetzt das Slawentum von denselben
Wirren ergriffen. Die Deutschen sind es nicht mehr allein, die den
herrschenden Mächten wegen ihres Liberalismus verdächtig sind; dies ist
sehr wichtig für das künftige Verhältnis zwischen der Krone und den Na¬
tionalitüten.
lSchlus! fol-it)
n C. F. Bever ist dem jetzt zum Aschenputtel erniedrigten Ge¬
schwister des gelben Goldes ein Ritter erstanden, der es mit
dem Feuer des leidenschaftlichen Liebhabers verteidigt. (Die
Frage des Goldes und Silbers und ihrer Währungen in
populär-wissenschaftlicher Form erörtert von Carl Friedrich
Bever. Dritte Bearbeitung. Köln a. Rh., Kölner Verlagsanstalt, 1893.)
Was der Verfasser vorbringt, hat Hand und Fuß, und in Fragen, die sich
auf die Gewinnung der Edelmetalle beziehen, ist er Sachverständiger, da er
„nach gründlicher Ausbildung dazu berufen wurde, siebenundzwanzig Jahre
lang ununterbrochen im Auslande thätig zu sein, und zwar zuerst in Frank¬
reich, dann in England, Zentralamerika, Mexiko und vielen andern (?) Küsten¬
punkten des Stillen Ozeans, teils in geschäftlichen Unternehmungen der Er-
forschungsbrnnche (?), teils als Mitglied wissenschaftlicher Expeditionen mancher
Art, wobei es sich hauptsächlich um die Auffindung und spätere Erzeugung (?)
der edleren Metalle handelte." Trotzdem wird er sich wohl von seinen Be¬
mühungen selbst keinen Erfolg versprechen, namentlich da er feierlich Verwah¬
rung einlegt dagegen, daß die Währungsfrage „mit den Konfessions- und Rassen¬
fragen, sowie mit dem Zwiste der politischen und sozialpolitischen Parteien zu¬
sammengeschmiedet werde." Denn wenn es die Silbermünner selbst mit Hilfe der
mächtigen Agrarier bei uns noch nicht einmal bis zu einem Antrage gebracht
haben, wie ohnmächtig werden da erst die Theoretiker für sich allein sein!
In einer Reihe von Punkten geben wir Bever unbedingt Recht. Auch
wir sind keine solchen Goldfanatiker, daß wir den Fortgebrauch unsrer schönen
alten Thaler der Regierung zur Sünde anrechneten. Auch wir siud der An¬
sicht, daß, solange die Edelmetalle als Tauschmittel verwendet werden, das
Silber nicht wird entbehrt werden können, weil der Gvldvorrat allein für den
Verkehr so wenig ausreicht, als der Silbervorrat für sich allein ausreichen
würde. Auch wir meinen, daß sich für reichere Länder und Personen das
Gold, für ärmere das Silber besser eigne, und wir sind schon aus diesem
Grunde im Zweifel, ob die Goldwährung den deutscheu Verhältnissen an¬
gemessen sei, da ja die Zahl derer, deren Wochenlohn zwanzig Mark nicht
erreicht, also niemals in Gold ausgezahlt werden kann, bei uns sehr groß ist.
Auch wir wissen, daß die armen Leute durch die neue Währung geschädigt
worden sind. Wer manchmal für einen Einkauf uicht mehr als einen Pfennig
zur Verfügung hat, für den macht es einen Unterschied, ob der Thaler in
3ö0 oder mir in 300 Pfennige geteilt wird. Durch den Übergang von der
Zwölfteilung zur Zehuteilung werden die Preise im Kleinhandel nach oben
abgerundet und ganz winzige Einkäufe unmöglich gemacht. Mit der Einfüh¬
rung des Zwauzigmarkstücks, das dem englischen Svvereign entspricht, in den
allgemeinen Verkehr ist der Zuschnitt aller Haushaltungen größer geworden,
und wer sei» Einkommen uicht entsprechend vergrößern kann, der sinkt eben
dadurch eine Stufe tiefer.
Vielleicht also ist es ein Fehler gewesen, daß Deutschland mit seiner un¬
bedingt notwendig gewesenen Münzreform den nicht unbedingt notwendigen
Übergang zur Goldwährung verbunden hat. Um die Frage, gleich Bever,
entschieden bejahen zu können, müßte man wissen, ob die jetzige Entwertung
des Silbers lediglich eine Wirkung seiner Demonctisirnng in Deutschland ist,
oder wegen der unaufhaltsam steigenden Silberproduktion auch ohne jenen
Gesetzgebungsakt eingetreten sein würde. Die meisten Autoritäten in Münz¬
fachen behaupten bekanntlich das letztere, die Bimetallisten das erstere. Bever
stützt seine Ausicht vorzugsweise auf den Umstand, daß vor 1870 die Schwan¬
kungen in der Produktion von Gold und Silber auf den Preis der Edel¬
metalle und auf ihr Wertverhältnis keinen wesentlichen Einfluß geäußert
hätten, wie er in dem historischen Teile seiner Arbeit zeigt. Das mag richtig
sein, und man kann sich auch leicht vorstellen, wie es gekommen ist, daß sich
die „Relation" Jahrtausende hindurch mit merkwürdiger Beständigkeit be¬
hauptet und nur unbedeutend um die Zahl 14 geschwankt hat. Die stärksten
Abweichungen weisen das vierte und si'ufte christliche Jahrhundert und das
Jahr 1875 auf; in der Mervvingcrzeit war das Pfund Gold nur neunmal
soviel wert wie das Pfund Silber, in dem zuletzt genannten Jahre beinahe
sechzehnmal soviel (15,98. Mit dem folgenden Jahre 1876 sodann, wo die
Relation auf 17,88 steigt, beginnt die Periode der Silberentwertung). Es
läßt sich, wie gesagt, leicht einsehen, warum die Mehr- oder Minderproduktivn
von Gold oder Silber für gewöhnlich einen so geringen Einfluß auf seinen
Preis ausübt, daß bei diesen Metallen das Gesetz von Angebot und Nach¬
frage aufgehoben zu sein scheint. Das Angebot hängt nämlich bei ihnen
weniger als bei irgend einer andern Ware von der Jahresproduktion ab, weil
ihrer Dauerhaftigkeit wegen der von Alters her gewonnene Vorrat so groß
ist, daß für gewöhnlich der Jahreszuwachs dem Gesamtschatze gegenüber nicht
in Betracht kommt. (Für das Gold hat man berechnet, daß von dem in
einem gegebnen Zeitpunkt vorhandnen Vorrat nach hundert Jahren noch vier
Fünftel übrig sind.) Für gewöhnlich sagen wir; denn daß und wie eine
außergewöhnlich starke Produktion wirkt, wissen wir ja vom sechzehnten Jahr¬
hundert her, wo der amerikanische Gold- und Silberstrom den Preis der Edel¬
metalle auf ein Fünftel hernbdrückte. Gold und Silber bilden in dieser Be¬
ziehung den stärksten Gegensatz zum Getreide, das unter allen Waren die
stärksten und raschesten Preisschwankungen ausweist, weil sein jedesmaliger
Vorrat nur aus der letzten Ernte und den Überbleibseln der vorhergehenden
besteht, svdciß das Angebot und demnach — bei ungefähr gleichbleibender
Nachfrage — der Preis ganz allein vom Ernteausfall zweier aufeinander¬
folgenden Jahre abhängt. Die Nachfrage aber macht sich bei den Edelmetallen
deswegen nicht sehr bemerklich, weil sie nicht, gleich den Nahrungsmitteln,
stürmisch begehrte Gebrauchsgegenstünde für jedermann sind. Der Bedarf an
Münzmetall bleibt von Jahr zu Jahr so ziemlich derselbe, goldne und silberne
Gefäße, Prunkgeräte und Schmucksachen aber kaufen nur die Reichen, und
diese ohne heftiges Begehren; findet der Nachfragende einen solchen Gegen¬
stand zu teuer, so unterläßt er ohne sonderlichen Schmerz den Einkauf oder
verschiebt ihn auf gelegnere Zeit.
Für gewöhnlich also äußert die Jahresproduktion der beiden Edelmetalle
nur geringe Wirkung auf ihren Preis. Bever geht aber zu weit, wenn er
sich einbildet, daß sie darum der Natur der Ware entkleidet und dem Gesetz
von Angebot und Nachfrage entrückt werden könnten, daß es möglich sei, die
althergebrachte, übrigens doch auch nicht ganz feste Wertrelation gesetzlich für
immer festzulegen. Seine Doppelwährung ist, will uns scheinen, ein Traum,
der weder jemals Wirklichkeit gehabt hat, uoch jemals wird verwirklicht werden
können. Bever meint, beide Edelmetalle seien dem Menschen vom Schöpfer
geschenkt, um dem gemeinsamen Tauschbedürfnis zu dienen. Zugestanden! Er
meint ferner, sie seien auch zu allen Zeiten gemeinsam benutzt worden. Eben¬
falls zugestanden! Wenn er aber klagt, daß dieses schöne Verhältnis der
„Doppelwährung" durch die deutsche Mmnzgesetzgebuug zu Gunsten des Goldes
aufgehoben worden sei, so hat er in jedem Fall Unrecht, man mag unter
Doppelwährung verstehen, was man will. Versteht mau darunter, daß zum
Warcutausch Silber wie Gold verwendet wird, so hat sie die Welt — viel¬
leicht mit alleiniger Ausnahme Englands — heute noch und ivird sie wahr¬
scheinlich immer haben. Denn überall in der Welt führt man Silbermünzen,
und nachdem der Silberpreis seinen tiefsten Stand erreicht haben und zum
Goldpreise wieder in ein festeres Verhältnis getreten sein wird, wird auch der
vorwiegende Gebrauch von Silber in den ärmern Ländern keine so Übeln
Folgen mehr habe», wie er unter den jetzigen Umständen in Indien gehabt
hat. Versteht man aber unter Doppelwährung, daß beide Metalle unter¬
schiedslos als Wertmaß gebraucht werden, so hat es eine solche niemals ge¬
geben, und es wird niemals eine geben. Sie wäre nur möglich, wenn das
Wertverhältnis zwischen Gold und Silber ganz unveränderlich wäre. Betaue
mau immer und unter allen Umständen für ein Pfund Gold zehn Pfund
Silber, dann würden Gold und Silber für die Wertmessung dasselbe sein,
was Unter und Fuß für die Längcnmesfung, Zentner nud Pfund fürs Ge¬
wicht sind: ein größeres und ein kleineres Maß desselben Systems. Das ist aber
eben niemals der Fall gewesen und kann auch niemals erreicht werden; es
giebt kein Mittel, die Unveründerlichkeit des Wertverhältnisses zu erzwingen.
Ist aber das Verhältnis veränderlich, weil eben die Preise der beiden Me¬
talle schwanken, dann bleibt nichts übrig, als eines der beiden zum Wert¬
messer zu wählen — Tauschmittel können sie deswegen beide bleiben —, und
wenn zu irgend einer Zeit eines der beiden an ganz auffällig starken Preis-
veründernngen leidet, so kann dieses natürlicherweise nicht gewühlt werden.
Nicht die Doppelwährung haben die Völker ehedem gehabt, sondern bald die
Goldwährung, bald die Silberwährung; meist nur thatsächlich, ohne ausdrück¬
liche Übereinkunft. Die mittelalterlichen Handelsstaaten zahlten im Groß-
verkchr mit Gold; Deutschland hatte vor 187Z die Silberwährung. Auf
Goldmünzen zahlte man ein Agio, und zwar um die Mitte unsers Jahr¬
hunderts etwa dreizehn Prozent. Das goldne Fünfthalerstück, der Friedrichs-
dor, galt gewöhnlich fünf Thaler zwanzig Silbergroschen, der Doppelfrik
elf Thaler 'zehn Silbergroschen. Machte sich der Professor die Bezahlung
des Kollegienhonvrars in Gold aus, was namentlich bei den Medizinern
—- an manchen Universitäten wenigstens — üblich war, so kostete das Kolleg,
das mit zehn Thalern angesetzt war, in Wirklichkeit nicht zehn Thaler,
sondern elf Thaler zwanzig Silbergroschen.
Ob die stetige Abwärtsbewegung des Silberpreises eine Wirkung der
Demonetisirung des Silbers sei, oder infolge unvermeidlicher Steigerung der
Silberausbeute auch ohnedies eingetreten sein würde, ob demnach das deutsche
Reich anzuklagen sei, daß es großes Unheil über die Welt gebracht habe,
oder ob seine Negierung und Herr Bamberger Preis und Dank dafür ver¬
dienen, daß sie vorausschauend das deutsche Volk vor großen Übeln bewahrt
hätten, das sind offne Fragen. Keine offne Frage aber ist es, ob wir den
Ratschlägen der Vimetalliften folgen sollen. Denn die Doppelwährung ist,
wie wir gezeigt zu haben glauben, ein Unding, und zur Silberwührung zu¬
rückzukehren, ist solange unmöglich, als der Preisfall dauert. Nicht weniger
unmöglich aber ist es, diesem Preisfall durch internationale-Festsetzung der
Wertrelation Einhalt zu thun, wie die Bimetallisten wollen. Es muß ebeu
abgewartet werden, bis der Silberpreis auf dem natürlichen Wege von An¬
gebot und Nachfrage seinen tiefsten Stand erreicht haben wird, dann wird
sich eine, wenn auch uicht absolut unveränderliche, so doch leidlich beständige
Relation von selbst wieder ergeben, und dann wird sich in Deutschland über
die Rückkehr zur Silberwührung reden lassen. Vorläufig haben Vevers Aus¬
führungen auch in dem, worin wir ihm beistimmen, nur akademische Be¬
deutung. Daß in Indien und Nordamerika die Dinge so ganz anders ver¬
laufen, als er erwartet hatte, hat ihn, wie er am Schlüsse gesteht, aufs
äußerste überrascht; bei solcher Voreingenommenheit erlebt mau eben unlieb¬
same Überraschungen.
Nach Art der übrigen Bimetallisten leitet auch Bever so ziemlich alle
sozialen Schäden der Gegenwart, darunter auch den angeblichen Preisfall der
Waren, von der Goldwährung her. Dieser merkantilistischen Überschätzung
des Geldes, insbesondre dem vermeintlichen Unglück der allgemeinen Wohl-
feilheit, gedenken wir einen besondern Aussatz zu widmen.
Zum Schluß erwähnen wir für heute noch zwei Schriften, die denselben
Gegenstand betreffen. Die erste macht uns mit einigen sehr interessanten ge¬
schichtlichen Denkmälern bekannt. Im fünfzehnten Jahrhundert hatte, wie
wir in der Einleitung erfahren, auch in den sächsischen Ländern die Münz¬
verschlechterung eine Haupteinnahmeauelle der Fürsten gebildet. Friedrich der
Weise jedoch stellte im Einvernehmen mit seinem albertinischen Vetter, dem
Herzog Georg, die Ordnung wieder her. Zu einer gemeinsamen Münz¬
politik sahen sich nämlich die beiden Linien des sächsischen Hauses dadurch
genötigt, daß bei der Teilung der Lande die Silberbergwerke nicht mit geteilt
worden waren, sondern deren Ausbeutung sowie die Ausmüuzung des Silbers
gemeinsau, betrieben wurden. Kurfürst Johann der Beständige aber ließ sich
durch den Nürnberger Kaufmann Führer für den Plan eines Silberringes
gewinnen, den Silberpreis dadurch hinaufzutreiben, daß man das Silber zu
einem höhern Nennwerte als bisher ausmünzte, was auf eine Münzverschlech-
terung hinauslief. Herzog Georg zeigte sich anfangs dem Unternehmen ge¬
neigt, erklärte aber dann später ganz entschieden, daß er bei der bisherigen
Münzpolitik verharren wolle. Von seinem Hofe ging 1530 die anonyme
Schrift aus: „Gemeyne Stimmen von der Müntz / und ob es dem Hanse
und Fürstentumb zu Sachssen Ehrlicher und zutreglicher sey / die alte gute
Müntz zu behalten / otter geringere anzunehmen." Von crnestinischcr Seite
erschien dagegen noch im selben Jahre: „Antwort und bericht: der furnemsten
Punct und Artikel / nuff daS Büchlein u. s. w.," worauf der Albertiuer mit
einer „Apologia und Verantwortung" erwiderte. Selbstverständlich siegten zu
guterletzt die Münzverschlechterer. Diese Drei Flugschriften hat nun
Dr. Walther Lotz mit einer Übersetzung ins Neudeutsche und Anmerkungen
bei Duncker und Humblot in Leipzig herausgegeben (als Ur. 2 der von
Brentano und Leser veranstalteten „Sammlung älterer und neuerer staats-
wissenschaftlicher Schriften"). Von den vorliegenden drei Flugschriften sind
besonders die beiden albertinischen hochinteressant, weil sie drittehalbhundert
Jahre vor Adam Smith der merkantilistischen Überschätzung des Geldes ent¬
gegentreten — überhaupt gesunde volkswirtschaftliche Ansichten entwickeln —
und alle jene Gründe entkräften, mit denen unsre heutige» Agrarier eine
Münzverschlechteruug empfehlen. Eine Minderung des Wertes der Münzen
um den zehnten Teil, meint der Verfasser, würde eine Verminderung aller
Einkommen um ebensoviel bedeuten — zu Gunsten der wenigen, denen die
Münzverschlechteruug nutze; das sei also eine allgemeine Steuer vou zehn
Prozenten des Einkommens, eine höhere und schädlichere Steuer als irgend
eine der sonst üblichen Steuern.
Das andre Schriftchen ist betitelt: Das natürliche Geldsystem, oder
die Entdeckung der Goldmacherkunst. Kurzgefaßter Leitfaden zum Verständnis
für jeden Denkenden von D. S. F. Kern. (2. Auflage. Berlin 0, Uthe-
mauu und Müller, 1893.) Wir erwähnen es nnr, um einen Begriff von
der Frechheit zu geben, mit der erwerbskundige „Schriftsteller" das Publikum
zu besteuern verstehen. Das Schriftchen kostet nur vierzig Pfennige und er¬
ledigt auf vierzehn Seiten außer der Müuzpolitik auch noch die gerechte Güter¬
verteilung, die Übervölkerung und die Altersversorgung. Auf S. 9 finden
wir folgenden Galimathias: „Die landesübliche Münze des natürlichen Geld¬
systems ist die Aktie eines idealen Wertes von unveränderlicher, nie über
M'i steigender, nie unter p-iri sinkender Zahlkraft, der sich in derselben Weise
durch die Zirkulation, d. h. den Austausch friedlicher Arbeit realisirt, als die
Aktie durch die allgemeine prozentuale Umsatzsteuer nmortisirt wird, und da¬
durch eine durch Arbeit geschaffne Kapitnlerhvhuug bewirkt wird in der Höhe
der verausgabten Aktie, fort und fort bis an die Grenze vorhandner Arbeits¬
kraft." Den Gipfel der Frechheit bildet folgendes „Kapitel": „Auf welche
Weise findet die Einführung des natürlichen Geldsysteins statt?" Antwort:
„Durch langjährige, nachhaltige Verbreitung dieser Broschüre, bis die darin
enthaltnen Wahrheiten von allen Seiten erkannt, geprüft und in Fleisch und
Blut übergegangen sind. Erst dann wird im glücklichen Einklange mit vor¬
stehender Entwicklung, gleichzeitig durch den Willen der Bevölkerung und
voluntat-e ressi« das natürliche Geldsystcm ein freier, idealer Wert, dessen
Realisirung nur noch eine Frage der Zeit ist." Im Vergleich mit solchem
Zeuge erscheinen die Hintertreppenromane noch als ein berechtigter Litteratnr-
zweig.
lou I^voies ist eine der wirkungsvollsten Dichtungen der ganzen
englischen Litteratur, es ist das Hohelied des kümpfenden Arbciter-
tums. Noch nie hatte ein Schriftsteller in so hinreißender
Sprache und mit einer so glühenden Begeisterung die Rechte
der Arbeit verfochten und den Besitz an seine Pflichten gemahnt,
wie Charles Kingsleh in seinem Roman ^.Itnn I^ovKs. Wie alle Tendenz¬
romane, hat auch dieser leicht erkennbare Fehler: eine lockere Komposition,
überwuchernde Rhetorik und lehrhafte Auseinandersetzungen. Aber alle Mängel
verschwinden vor der gewaltigen dichterischen Kraft, mit der Kingsleh den
spröden Stoff politischer und sozialer Zeitfrngen behandelt hat. I eannvi
sa,^, vuick I x«zi'8oral1/ nov de> linn null'L >ol'it,ing'8, sagt er einmal von
Thomas Carlhle. Und in der That beweist ^lon I,vel«z, wie gründlich
Kingsleh die geschichtsphilosophischen Gedanken seines Meisters verarbeitet hat.
Dieselbe rücksichtslose Sprache, wo es sich darum handelt, jahrhundertealte
Fehler und Gebrechen in Staat, Kirche und Gesellschaft aufzudecken, bei Kings¬
leh wie bei Carlhle; aber auch derselbe weiche Ton der Barmherzigkeit und
der Liebe zu den Unterdrückten und Schwachen. Die Frauen vor allein spielen
hier die Rolle des Vermittlers; von ihnen hofft Kingsleh den Sieg des Rechtes
über das Unrecht, die Heilung der Wunden und den sozialen Frieden. „O
Weib, Weib! — ruft Akkon aus —. einzig wahrer Missionar der menschlichen
Bildung, der Brüderlichkeit, der zarten, vergehenden Liebe! In deiner Macht
liegt es, und vielleicht in ihr allein, die Wunden Herzen zu heilen und den
Gefangnen Befreiung zu verkündigen!" Von der Kirche in ihrer jetzigen Ge¬
stalt erwartet er, der Pfarrer, nichts. Er vermißt unter den Predigern die
Charaktere, er sieht zu viel Schönredner und Kirchenbeamte auf den Kanzeln
und im höhern Kirchenregiment zu viel einseitige Gelehrte und Büreaukraten.
»Wann wird der Pastor begreifen, daß seine Kraft im Handeln, uicht im Be¬
weisen liegt? Will er die Massen wieder bekehren, so muß es durch edle
Thaten geschehen, und wie Carlhle sagt, nicht durch lärmende theoretische
Lobsprüche für eine Kirche, sondern durch stille praktische Beweise der einen
Kirche." Kingsleh giebt zu, daß es in neuerer Zeit unter den Geistlichen
besser geworden sei, aber in politischen und sozialen Dingen seien sie fast alle
noch so unwissend, bigott und aristokratisch wie jemals. Fast glaubt er, daß
die Künste mehr als die Kirche zur Versöhnung der Gegensätze im Volke bei¬
tragen könnten. Eine besonders hohe Mission schreibt er der Malerei zu; nach
seiner Ansicht giebt es keine machtvollere, das Menschengeschlecht mehr be¬
einflussende und beherrschende Kunst als die Malerei. „Wahrlich - ruft Akkon
vor Rafaels Fischzug aus —, Gemälde sind die Bücher der Umgekehrten, auch
der falsch belehrten. Herrlicher Rafael! Du Shakespeare des Südens! Mäch¬
tiger Prediger, dessen himmlischer Eingebung es verliehen war, in alle Menschen-
Herzen zu schauen, in Form und Farbe alle geistigen Wahrheiten zu ver¬
körpern, die deu Protestanten wie den Papisten, dem einfachen Arbeiter wie
dem Weisen gemeinsam gehören — o möchte ich dir vor Gottes Thron be¬
gegnen, wäre es auch nur, um dir für dies eine Bild zu danken, worin du
mir mit einem Blick meine ganze eigne Seelengeschichte offenbart hast!"
^Iton I.o<zlcö übte denn auch eine ungeheure Wirkung ans. Die rücksichts¬
lose Enthüllung der Krebsschäden der Gesellschaft, die naturalistische Schilderung
der grauenhaften Zustände in den Londoner Arbeitervierteln, die stürmischen
Anklagen gegen das Kapital, gegen Staat und Kirche erregten besonders unter
der Jugend einen Sturm des Beifalls. Aber sie fand much eine Menge ab¬
lehnender Kritiken und boshafter Entgegnungen. Die I^lindurglr Revier, die
Zeitschrift des Mauchestertums, sagte von dem Roman: it iidonnäs in xg-ssg-ggs
ok >vit«1 Anet unvdg.8de!no(I slociusnes. Sie spricht von zwecklosen Deklamationen
und verurteilt die Sprache ^vllioll LüiristiNi 5oLlinA »mal sellol-u-I^ wsts uro.8t
ooinismu. In der That finden wir in ^.Iton I^ooKs Stellen von einer
Kraft, wie sie uns uur noch in Zolas (Z^rillinüü begegnet. In der ganzen
englischen Litteratur giebt es kaum eine furchtbarere Schilderung als die von
Jenny Downes Wohnung in einer elenden Sackgasse von Bermondsey. „Was
für ein Zimmer! Ein niedriger Raum mit schiefen Holzwänden, ohne ein
einziges Stück Hausgerät. Durch breite Spalten im Fußboden drang von
unten ein Schein herauf, als ob uns häßliche, funkelnde Augen anstarrten.
Es war der Widerschein eines Lichtes unten im Kanal. Der Gestank war
fürchterliche die Luft schwer vom Pesthauch. Beim ersten Atemzuge wurde
mir das Herz schwach, und es ergriff mich Übelkeit. Doch ich vergaß alles
über dein Anblick, der sich mir bot, als Dvwnes einen halbfertigen vornehmen
Rock von drei Leichen riß, die neben einander auf dem Fußboden lagen. Es
war seine kleine irische Frau, tot und nackt. Die abgezehrten, weißen Glieder
schimmerten in dem flackernden Schein der Kerze. Die gebrochnen Augen
starrten, wie mit stillem Vorwurf, den Mann an, dessen Trunksucht sie hierher
gebracht hatte, wo sie der Pestilenz erliegen mußte. Auf jeder Seite von ihr
lag eine kleine, zusammengeschrumpfte gnomenhafte Kinderleiche. Der Elende
hatte ihre Arme um deu Hals der Mutter gelegt; da schliefen sie nun, nach¬
dem ihr Hungern und Jammern endlich für immer gestillt war. Die Ratten
hatten sich schon über sie hergemacht — doch was kümmerte sie das jetzt?"
Jenny Downes stürzt sich in den Kanal, von dem uns der Dichter eine
grauenhafte Beschreibung giebt. Der Armenkommisfar erscheint und notirt den
Fall, wie es das Gesetz vorschreibt. „Blindes, abergläubisches, stumpfsinniges
Gesetz! Du lässest die Opfer hilflos sterben, dann aber, wenn Fieber und
Tyrannei ihr Werk vollbracht haben, beschwichtigst du mit salbungsvoller
Scheinheiligkeit dein ehrenwertes Gewissen durch eine »gründliche Unter¬
suchung,« wie sich alles zugetragen habe. Es könnte ja »faules Spiel« vor¬
liegen." Aber Kingsley mußte grelle Lichter aufsetzen und schreiende Farben
wählen, um die Gleichgiltigkeit der Gebildeten zu überwinden und die ma߬
gebende Gesellschaft zum Handeln aufzuregen.
Kingsley war mit einem Schlage der Apostel des Sozialismus geworden.
Sein Buch wirkte wahre Wunder. Überall regten sich die Geister und die
Hände, um deu Arbeitern zu helfen. Man warf den höhern Klassen vor, daß
sie ihre Pflichten versäumt Hütten und schuld all dem allgemeinen Elend seien.
An vielen Orten entstanden unter den Handwerkern Produktivgenossenschaften,
um zu verhindern, daß die Arbeiter noch länger in so unerhörter Weise aus¬
gesogen würden. Die christlichen Sozialisten wurden auf einmal populär. Sie
gründete» eine „Gesellschaft zur Förderung von Arbeiterassoziationen"; ihr
Schutz sollte nicht mir den Handwerkern gelten, sondern auch den Landarbeitern.
Vom Lord Ellerton erzählt Kingsley in seinem Roman: „Er war damals
gerade eifrig damit beschäftigt, ein altes unbewohntes Herrenhaus zu einer
Gesellschaftsfarm umzugestalten, wo alle Arbeiter unter einem Dache leben
sollten, mit gemeinsamer Küche und Speisehalle, unter selbstgewühltcu Rech-
nungs- und Aufsichtsbeamten, für die er sich nur das Bestätigungsrecht vor¬
behielt. Vom ersten bis zum letzten sollten sie alle ihren Anteil an der Farm
haben und ihren Prozentsatz vom Ertrag erhalten." Nach diesem Muster
sollten sich nun alle Arbeiter zu kleinen Genossenschaften vereinigen.
Kingsleys Freunde gründeten 1850 eine neue Wochenschrift ?it«z (AiriLtmn
8vois.Il8t, Ä .7uni'NAl c>t ^ZsoLmtion, und er selbst schrieb 1851 eine Broschüre
Oo-oxgi'Mon g.xMsä to gArivulwre, worin er auseinandersetzte, wie die Grund¬
sätze seiner Partei auf die Landwirtschaft angewandt werden könnten. Aber
auch die Angriffe blieben nicht aus. Von allen Seiten drangen die Gegner
auf die christlichen Sozialisten ein. Die Anhänger des Manchcstertums, die
Freidenker, die Dissenters, die Chartisten und die Hochkirchler, alle vereinigten
sich, um gegen die neuen, zum Teil falsch verstandnen, zum Teil gefürchteten
Bestrebungen Kingsleys vorzugehen. Selbst an persönlichen Angriffen sollte
es nicht fehlen. Im Jahre 1851 fand in London die erste große Weltaus¬
stellung statt. Eine Masse von Arbeitern war nach London gekommen, und
diesen sollte Kingsleh auf Wunsch des Pfarrers an der Johanniskirche pre¬
digen. Kingsleh war dazu bereit und wählte das Thema: Die Votschaft
der Kirche an die Arbeiter. Zum Text nahm er die Stelle Lukas 4,
16—21, wo es unter anderen heißt: „Da ward ihm das Buch des Pro¬
pheten Jesaias gereicht. Und da er das Buch öffnete, traf er die Stelle,
wo geschrieben steht: Der Geist des Herrn ist auf mir, derhalben er mich
gesalbet hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen. Er hat mich
gesandt, zu Heilen, die gebrochnen Herzens sind, zu predigen den Ge¬
fangnen, daß sie los seien, und den Blinden, daß sie wieder sehen sollen, die
Niedergeschmetterten zu entlassen in Freiheit und zu predigen daS angenehme
Jahr des Herrn." Ans Grund dieses Textes hielt Kingsleh vor den Arbeitern
eine Predigt, die voll ist von sozialdemokratischen Geiste und Anklagen ent¬
hält, wie sie schärfer und mutiger noch nie von der Kanzel herab den Schul¬
digen zugerufen worden waren. Gleich der Anfang ist eine rücksichtslose Ver¬
urteilung des Kirchenregiments und der Geistlichen. „Die Vorstellung von
der christlichen Kirche sagt er —, ist in den Köpfen vieler verbunden mit
der Vorstellung von Priesterherrschaft und Königsherrschaft, von Unterjochung
des Geistes, Verfolgung und Tyrannei. Und es wäre lächerlich, zu leugnen,
daß Ursache genug vorhanden ist, den Gedanken an die Kirche zu verbinden
mit jenen furchtbaren Sünden des Menschen gegen den Menschen." Kingsleh
verurteilt die Kirche und ihre Diener, die ihren Beruf und ihre Aufgabe ver¬
kannt hätten und nicht wissen wollten, daß Gott sie dem Volke schicke, um
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit in der vollsten und weitesten Bedeutung
der Worte zu predigen und zu üben. Jeder Priester, der diese Ausgabe uicht
erfülle, sei ein Verräter an Gott und den Menschen. „Ihr müßt die Kirche
beurteilen — sagt er — nach ihrer Idee und ihrem Wesen und nicht bloß
nach den Zufälligkeiten oder Krankheiten von Teilen an ihr. Wenn ihr ge¬
fragt würdet, was eine Eiche sei, so würdet ihr, um eure Antwort zu geben,
nicht ihre Schwämme und Galläpfel, nicht ihre Narben und Moose unter¬
suchen; ihr würdet auf das sehen, was sie im gesunden Zustand ist, aus das,
Was alle Eichen gemein haben, ans die eigentümliche Form des Stammes,
der Zweige, der Blätter und Früchte, was sie zu einer Eiche macht, unab-
hängig von zufälligem Unfall oder zeitlicher Krankheit. Macht es so mit der
Kirche!" In der Bibel, sagt er, liege die christliche Freiheit der Menschen,
in der Taufe ihre Gleichheit und im Abendmahl ihre Brüderlichkeit. Des
Herrn Reich sei auch von dieser Welt; wer das leugne, sei ein Lügner. „Wie
könnt ihr — ruft er aus — uach dem Taufzcichen des reinen Wassers
wagen, Gottes Kinder dem Schmutz, der Brutalität und den Versuchungen
auszusetzen, die in euern Höfen und Gassen eitern, die die Reinlichkeit un¬
möglich, die Trunkenheit fast entschuldbar, die Prostitution fast selbstverständ¬
lich und Selbstachtung und Scham unbekannt machen?" Er will beweisen,
daß die Massen denn doch noch etwas andres seien als Maschinen und Hände.
Sie seien nicht bestimmt, verbraucht zu werden in der Produktion eines Reich¬
tums, den sie selbst niemals kosteten. Sie seien nicht bloße Waren, deren An¬
gebot durch kluge Volkswirte der Nachfrage des Marktes anzupassen sei. „O,
meine Freunde — sagt er zum Schluß —, ich rede die Wahrheit. Gott ist
mein Zeuge, daß ich die Wahrheit rede, wenn ich euch sage, daß diese Ge¬
danken nicht Theorie sind, sondern Thatsachen der Erfahrung. Es giebt
gegenwärtig in dieser Kirche wenigstens einen Mann, der von den selbstsüch¬
tigen und üppigen Träumen seiner Jugend durch diese Botschaft der Bibel
und des Sakraments erweckt wordeu ist, den Adel der Sache des Volks zu
erkennen. Er empfindet es gerade jetzt als die gebieterischste Pflicht uno das
ruhmvollste Recht, im Namen von Jesus von Nazareth die Botschaft der
Kirche Christi zu verkünden, daß der Wille Gottes ist: frohe Botschaft den
Armen, Befreiung den Gefangnen, Heilung denen, die gebrochnen Herzens
sind, Licht den Unwissenden, Freiheit den Unterdrückten und den dnrnieder-
gehaltnen Massen das angenehme Jahr des Herrn, das heißt: für sie und
ihre Kinder ein Besitzrecht und ein Anteil an dein Boden, dem Reichtum, der
Zivilisation und der Regierung dieses Landes von England."
Eine solche Predigt, die in der christlichen Lehre die Forderungen der
Sozialdemokratie, ja des Kommunismus nachwies, hatten die Arbeiter noch
nicht gehört. Sie lauschten bis zum Schluß regungslos, gespannt, überrascht.
Kaum aber hatte Kingsley den Segen gesprochen, so erhob sich der Pfarrer
der Johanniskirche aufgeregt und forderte die Gemeinde auf, deu eben gehörten
Irrlehren keinen Glauben zu schenken, ein großer Teil der Rede sei falsch und
widerspreche den heiligen Satzungen der Kirche. Nach diesen Worten brach
unter den Arbeitern eine stürmische Bewegung aus. Alles verließ die Plätze und
drängte sich um Kingsley, der, ohne ein Wort auf die Anschuldigung zu erwidern,
ernst und traurig in die Sakristei trat. Am nächsten Tage waren alle Zeitungen
voll aufregender Nachrichten über seine Predigt. Der Bischof von London er¬
teilte ihm einen scharfen Verweis und verbot ihm, jemals wieder in London zu
predigen. Als aber die Predigt im Druck erschien, stand alle Welt auf Seiten
Kingsleys, und der Bischof war gezwungen, sein Verbot zurückzunehmen.
Die geistigen und seelischen Aufregungen dieser Zeit hatten Kingsley so
erschüttert, daß er sich genötigt sah, England aus mehrere Wochen zu ver¬
lassen und an den Ufern des Rheins Ruhe und körperliche Kräftigung zu
suchen. Wie wertvoll diese Rheinreise für sein dichterisches Schaffen gewesen
ist, werden wir aus seinem Romane: "1>c> ^«zg,rs ersehen. Auch viele
seiner besten Gedichte sind auf der Rheinreise entstanden, z. B. ?Inz 11^5 ?rir-
e-oss; ^8in ik I lovv lllss? oll, sui1«Z8 oannot tsll; it'ils vorlll Zoss ux auel eilf
vurlä goe8 äomr; i^g'Is, Und die Briefe, die er aus Deutschland an
seine Frau schrieb, zeigen, welche Lebensfrische, welch dichterischer Schwung,
welche Begeisterung und Schaffensfreudigkeit sich wieder seiner Seele bemächtigt
hatten. Sein Lieblingsplan, im Christentum die soziale» Grundsätze nachzu¬
weisen und seine Gedanken darüber in einem großen historischen Romane dar¬
zustellen, wurde auf seiner Rheinreise immer klarer und lebendiger. Das fünfte
Jahrhundert, wo das junge Christentum triumphirte und das kraftlose Alter¬
tum zusammenbrach, hatte seine Phantasie völlig gefangen genommen. „Ich
möchte —sagt er — den Grundgedanken entwickeln, daß das Christentum recht
eigentlich ein demokratischer Glaube ist, dem die Philosophie als das aus¬
schließlich aristokratische Bekenntnis gegenübersteht. Ich bin schon lange dieser
Ansicht, und was ich neuerdings gelesen habe, hat meine Auffassung nur be¬
stärkt. Ich glaube, ein solches Buch könnte jetzt gerade Nutzen stiften, wo
die Schriftgelehrten und Pharisäer, heidnische wie christliche, sagen: dies Volk,
das nichts von Gott weiß, ist verflucht!"
Nirgends und zu keiner Zeit ist dieser demokratische Geist des Christen¬
tums mächtiger und rücksichtsloser hervorgetreten als in Alexandria im fünften
Jahrhundert. Aber nirgends ist auch der Geist des Christentums von der
Kirche und ihren Vertretern weniger verstanden und zum Wohle der Mensch¬
heit verwertet worden, als damals von den alexandrinischen Fanatikern. Vor
den elenden dogmatischen Zänkereien vergaß die östliche Kirche ihre gewaltigen
sozialen Aufgaben. Von einem blinden asketischen Geiste verfolgt, verwarf sie
die Ideen der Familie und des nationalen Lebens, eiferte für Weltflucht und
mönchisches Leben und schuf auf Erden eine krankhafte „religiöse Welt." Und
während sich die Glieder dieser entnervten Kirche um dogmatischer Streitfragen
willen haßten, lästerten und verfolgten, gerieten sie in den Sturmwind der
mohammedanischen Religion und gingen elend zu Grunde. Den Anfang dieser
Verirrungen des orientalischen Christentums bildet die schmachvolle Ermordung
der Philosophin Hupatia in Alexandria im Jahre 415 u. Chr. Das Ende
dieser edeln, hochgebildeten Frau, die, trotz der Mißerfolge Kaiser Julians,
noch einmal die griechische Philosophie auf den Schild zu heben versuchte und
un Kampfe mit den fanatischen Mönchen und dem brutalen Bischof Cyrill
einen entsetzlichen Tod fand, mußte Kingslch ganz besonders reizen. Denn
zu den sozialen Ideen und Bestrebungen, die ihn: das fünfte Jahrhundert bot,
und die manche Ähnlichkeiten mit dem neunzehnten ausweisen, kamen noch die
religiösen Richtungen und kirchlichen Streitigkeiten, die ihm Gelegenheit genng
gaben, noch einmal gegen die Traktarianer, Puseyisten und Ritualisten einen
kräftigen Angriff zu richten. Diese hatten, wie wir bei der Kritik der „Hei¬
ligen Elisabeth" gesehen haben, die ersten Jahrhunderte der christlichen Kirche
als vorbildlich für die Umgestaltung der englischen Kirche bezeichnet. Kingsleh
machte aus seiner dem Anglokathvlizismus feindlichen Tendenz kein Hehl; er
nannte seinen Roman: ni^Me-ni or Aso ?os8 vieil g.u OIÄ ?aos und sagt
am Schluß: „Ich habe euch neue Feinde unter einem alten Gesichte gezeigt,
eure eignen Bilder in Toga und Tunika, statt in Rock und Hut. Noch ein
Wort, ehe wir scheiden. Derselbe Teufel, der jene alten Ägypter versuchte,
versucht auch euch. Derselbe Gott, der jene alten Ägypter errettet haben
würde, wenn sie gewollt hatten, wird euch erretten, wenn ihr wollt. Ihre
Sünden sind die eurigen, ihre Irrtümer die eurigen, ihr Schicksal, ihre Er¬
lösung die eurige. Es giebt nichts neues unter der Sonne. Was gewesen
ist, ist dasselbe, was sein wird. Laßt den, der unter euch ohne Sünde ist,
den ersten Stein werfen ans Hypntia oder Pelagia, Mirjam oder Raphael,
Cyrill oder Philammon."
Wie ^vast, und ^ltou Il0vie«z, ist auch I^pa.den ein Tendeuzroman. Aber
dadurch, daß Kingsley die griechische Philosophin mit ihren dem Christentum
entgegenstehenden neuplatonischen Lehren in den Mittelpunkt stellt und alle
politischen, religiösen und sozialen Bewegungen aus dem Aufang des fünften
Jahrunderts um sie kreisen läßt, hat er einen kulturgeschichtlichen Roman ersten
Ranges geschaffen.
Alexandria war zu Anfang des fünften Jahrhunderts die einzige Stätte,
wo sich während des Sturmes der Völkerwanderung die griechisch-orientalische
Kultur noch einige Jahre halten konnte. Alle Gegensätze der alten Welt trafen
hier noch einmal in heftigem Kampfe zusammen: das Hellenentnm mit seiner
Philosophie und Litteratur, das Römertum mit seinen politischen Idealen, das
Judentum mit seinem Epikurcismus und Cynismus, das Christentum mit seiner
rücksichtslosen Hierarchie und seinen blutgierigen Fanatikern, die die griechische
Bildung verabscheuten, die römische Staatsgewalt haßten und die jüdischen
Kapitalisten verfolgten. Zu diesen unheimlichen Gegensätzen, die von Tag zu
Tage schärfer wurden, kam noch als- vorübergehender Gührstoff das Germanen¬
tum. Nachdem die Goten Athen geplündert hatten, waren einige Züge, von
ihrem Fürsten Amat geleitet, übers Meer nach Alexandria gekommen und hatten
dort mit ihren Hnnenleibern und ihrer seltsamen Ausrüstung alles in Angst
gesetzt. Die Juden scharten sich um ihre Rabbis und den reichen Raphael
Eben-Ezra. Die Christen fanden an ihrem Bischof Cyrill einen mächtigen
Führer. Die Nömischgesinnten schlössen sich um den ehrgeizigen, aber feigen
Präfekten Orestes. Und die Anhänger der griechischen Philosophie hatten zwar
keinen Mann, um den sie sich vereinigen konnten; aber die durch Schönheit,
Bildung und Charakter ausgezeichnete Philosophin Hhpatia hatte soviel Macht
und Einfluß, daß sie von ganz Alexandria als die Säule der hellenischen
Bildung und der alten Götterlehre angesehen wurde.
So sind die Zustände beim Beginn des Romans. Hhpatia nun hält
öffentliche Vorlesungen. Sie wird dabei von ihrem Bater, dem Mathematiker
Theon, unterstützt und von dein Präfekten Orestes, einem Christen und byzan¬
tinischen Beamten, begünstigt. Orestes schätzt sie sehr hoch und geht häufig
zu ihr, um sich in schwierigen Staatsgeschäften von ihr Rat und Hilfe zu
holen. Um so mehr wird Hhpatia von dem Bischof Chrill und den Mönchen
gehaßt. Dieser Haß wird zur Wut, als die christlichen Fanatiker sehen, daß
selbst ein Mönch, der junge Philammon, von ihrem Geiste und ihrer Schönheit
berauscht, in die Reihe ihrer Schüler tritt. Philammon ist dreihundert Meilen
von Alexandria in einer kleinen Ansiedlung, dem öden, von griechischen und
ägyptischen Tempelresten umgebnen Laura, aufgewachsen. Der Abt Arsenius
hat ihn und seine Schwester Pelagia eines Tages auf dem Sklavenmarkte ge¬
kauft; aber die schöne Pelagia ist in Alexandria geblieben und die Geliebte des
Gotenfürsten Amat geworden, während Philammon unter den Griechen zu
einem frommen Christen heranreift. Die Sehnsucht, sein Christentum in der
heidnischen Welt zu bewähren, treibt ihn ans Laura nach Alexandria. Hier
gerät er sofort in einen blutigen Aufstand, der von dem Bischof Chrill ins
Werk gesetzt worden ist, und durch den die Juden ans Alexandria von den
Mönchen vertriebe« werden. Bei dein Anblick der entsetzlichen Greuel wird
Philammon an dem herrschenden Geiste des Christentums irre.
Ein alter Priester öffnet ihm die Augen, und er erkennt die schmachvollen
Zustände der Kirche, die irdischen Gelüste des Klerus und den rohen, gewalt¬
thätigen Charakter der Mönche und der großen Masse. Er lernt Hhpatia in
ihrer edeln, vornehmen, menschenfreundlichen Lehre kennen und vergleicht sie
mit den christlichen Priestern, die ihren Mangel an Bildung durch Fanatismus
zu ersetzen suchen. „Ihr Gespräch bestand aus Klatschereien und Unanständig¬
keiten, und die meisten von ihnen waren scharf und hart in ihrem Urteil. Sie
sprachen von jenes Mannes Ehrgeiz, von dieses Weibes stolzen Blicken; sie
unterhielten sich darüber, wer zum Abendmahl geblieben war, und wer die
Kirche nach der Predigt verlassen hatte, und wie die Mehrzahl, die uicht da
blieb, es wagen konnte, fortzugehen, und wie die Minderzahl, die nicht weg¬
ging, es gewagt hatte, zu bleiben. Endloser Verdacht, höhnische Spottreden
und Klagen — was lag ihnen an der einigen Herrlichkeit und an der be¬
seligenden Andacht? Ihr einziger Maßstab im Urteil über Menschen und Dinge
vom Patriarchen bis zum Präfekten war der: fördert er oder es die Sache
der Kirche? Und Philammon entdeckte bald, daß sie darunter ihre eigne Sache,
ihren Einfluß, ihre Selbstverherrlichung verstanden. Und wenn sie von Orestes
und Hypatia als seiner Ratgeberin sprachen und in Verwünschungen aus-
brachen, Gottes Fluch auf ihr Haupt herabrieselt und sich mit der Aussicht
ewiger Pein für beide trösteten, dann überkam ihn ein Schauder, und unwill¬
kürlich fragte er sich selbst: Das sind die Diener des Evangeliums? das die
Früchte des heiligen Geistes? Und es ging ein Flüstern durch seine Seele:
Giebt es ein Evangelium? giebt es einen Geist Christi? würden nicht ihre
Früchte anders sein als diese?"
So wird Philammon einer der eifrigsten Schüler Hypatias. Er wohnt
bei dem witzigen, das Christentum wie das Judentum hassenden Pförtner
Eudämon und gerät immer tiefer in den Bann der griechischen Philosophie
und der syrischen Mystik. „Jetzt sind — sagt eines Tages Hypatia zu ihm —
die Christen und nicht die Heiden Götzendiener. Sie, die den Knochen toter
Menschen Wunderkraft zuschreiben, aus Beinhnusern Tempel machen und sich
vor den Bildern der niedrigsten Menschen verbeugen, haben sicher kein Recht,
die Griechen oder Ägypter, die in einer symbolischen Schönheit die mit Worten
unerreichbaren Ideen verkörpern, des Götzendienstes zu beschuldigen. Uns wurde
durch die ersten Philosophen Griechenlands, durch die Priester des alten
Ägyptens und die Weisen Babylons gelehrt, in den Göttern die allgemeinen
Kräfte der Natur, die Offenbarungen des einen allgemeinen Geistes zu sehen;
denn unsre Götter sind nnr verschiedenartige Äußerungen der einen, ursprüng¬
lichen Einheit, oder besser verschiedne Erscheinungsformen jener Einheit; sie
sind je nach der Verschiedenheit des Klimas oder der Rassen bald so, bald so
von den Weisen der verschiednen Völker aufgefaßt worden. Es giebt kein
Dogma der Galilüer, das nicht nnter der einen oder der andern Form in einer
jener Religionen zu finden wäre, von denen sie behaupten, sie hätten ihnen
nichts entlehnt. Ha, wäre dieser galiläische Aberglaube damit zufrieden, seinen
Platz demütig nnter den andern Religionen des Reiches einzunehmen, dann
würde man ihn wohl dulden können als eine anthropomorphische Auffassung
göttlicher Dinge, geeignet für den gemeinen, arbeitenden Haufen, vielleicht sogar
ganz besonders dazu geeignet, weil er ihm schmeichelt."
Die Mönche schworen Philammon Rache wegen seines Abfalls. Eines
Tages wird er von einer ganzen Horde überfallen, aber von dem vorüber¬
fahrenden Präfekten Orestes beschützt. Die Wut der Menge richtet sich nun
auf den Prcifekten, und er würde in seinein Wagen erschlagen werden, wenn
nicht die herbeieilenden Goten die rasende Volksmenge auseinandertrieben und
den blutenden Prcifekten in ihr Hans schleppten. Jetzt ist Orestes zu jedem
Staatsstreich bereit. Heraklian, der Statthalter von Afrika, hat sich gegen
den weströmischen Kaiser Honorius empört und ist mit einem Heere nach
Italien gezogen, um Honorius zu stürzen und sich zum Kaiser zu macheu.
Orestes erhält die Nachricht, daß Herakliau bei Ossia einen Sieg erfochten
habe. Da ist sein Plan fertig. Er will das alexandrinische Volk auf seine
Seite bringen, den Bischof Cyrill vertreiben, sich von Byzanz frei machen und
sich zum Herrscher von Ägypten ausrufen lassen. Dies soll während eines
großen, nach alter heidnischer Sitte ausgeführten Volksfestes von seinen An¬
hängern und von Hypatia ins Werk gesetzt werden. Das Fest findet denn
auch statt. Die schöne Hetäre Pelagia tritt als Venus Anadyomene auf,
während eine von Hypatia gedichtete Ode gesungen wird. Philammon erkennt
in Pelagia seine Schwester. Voll Zorn und Scham stürzt er auf die Bühne.
Aber die Menge ist über diese Unterbrechung so wütend, daß Philammon nur
mit Mühe dem Tode entgeht. Sobald die Nuhe wieder hergestellt ist, erhebt
sich Orestes und hält seine einstudierte Rede an das Volk, worin er von der
Politischen Lage, von Heraklians Sieg und dem byzantinischen Joche spricht.
Einer aus der Menge ruft: „Heil Kaiser Orestes!" Und sofort ruft die ganze
Menge dieses Heil! nach. Hypatia kniet vor Orestes nieder und bittet ihn
uuter dem Jauchzen ihrer Schüler, die Herrschaft über Alexandria anzunehmen.
Da schreit ein Mönch: „Alles ist Lüge! Lüge! Lüge! Ihr seid betrogen! Er
ist betrogen! Herakliau hat bei Ossia eine völlige Niederlage erlitten und sich,
von der kaiserlichen Flotte verfolgt, nach Karthago geflüchtet." In der Ver¬
sammlung tritt sofort ein Rückschlag ein, und nur uuter dem Schutz der Wachen
vermögen sich Orestes nud Hypatia aus der tobenden Menge zu retten. Die
Wut des christlichen Pöbels gegen Hypatia steigt ins Grenzenlose. Auf ihrem
Wege nach dem Museum, wo sie ihre letzte Vorlesung halten will, wird sie
von fanatischen Mönchen überfallen, in eine Kirche geschleppt und dort vor
dem Altar unter einem Christusbilde erschlagen.
Philammon hat sie nicht retten können- Er ist wieder zum christlichen
Glauben zurückgekehrt und sucht seine Schwester Pelagia aus deu Händen des
Goten Amat zu befreien. Der Mönch ringt mit dem Goten auf dem Dache
eines Hauses, wohin sich Pelagia geflüchtet hat. Beide stürzen hinunter in
deu Kanal. Der Göte wird zerschmettert, aber Philammon bleibt am Leben.
Endlich mit seiner Schwester vereinigt, kehrt er als bußfertiger Sünder in die
Wüste zurück, in die einsame Zelle des Einsiedlers.
In diese reich bewegte, dramatische, oft stürmische Handlung spielen Epi¬
soden hinein, die das Kulturgemälde vervollständigen. Von besonderm Reiz
ist die Geschichte des reichen Juden Raphael Eben-Ezra, der von den Christen
aus Alexandria vertrieben wird, die Niederlage Heraklians in Italien erlebt,
den Präfekten Majorieus und dessen Tochter Victoria rettet und schließlich zum
Christentum übertritt, nachdem er alle Stadien der alten Philosophie, vom
Stoizismus bis zum Skeptizismus und Cynismus, durchlaufen hat. Die Szene
in der verwüsteten Campagna, wo Raphael mit seinem Hunde Bran umher¬
schweift und Betrachtungen über Gott, Welt und Menschheit anstellt, bis sich
Bran in eine Ruine zurückzieht und dort unter den Trümmern Junge zur
Welt bringt, ist von packender Wirkung. Raphael Eben-Ezra ist eine der ge-
lungcnsten Figuren des ganzen Romans. Er ist der wahre Vertreter des zer¬
setzten, ziellosen, von Menschenverachtung und Weltekel durchdrungnen Juden-
tums. Er vereinigt in sich die Gelehrsamkeit eines Philo Judüus und den
geistvollen Witz und die beißende Satire eines Lucian. Aber die Liebe zu
der edeln, uneigennützigen, aufopfcrnngsfähigen Victoria macht ihn zu einem
ernsten Mann und offenbart ihm die wahren Züge des christlichen Glaubens.
Mit Kaiser Julian ruft auch Raphael schließlich aus: Der Gnlilncr hat
gesiegt!
Die Rolle der Intrigantin in dem Roman spielt Raphaels Mutter, die
alte Jüdin Mirjnm, die von unversöhnlichem Haß gegen Hypatia erfüllt ist,
aber auch den Christen Rache geschworen hat und liberall Unheil sät, bis sie
von einem der Goten niedergeschlagen wird.
Eine den Shakespearischen Narren nachgebildete Figur ist der Pförtner
Endümon, ein Großsprecher und Renommist, ein begeisterter Verehrer der
Hypatia und ein wütender Gegner des Christentums und der Mönche. Er
spielt Philammon gegenüber den Überlegnen, den geistig Höherstehenden. Seine
Rede würzt er mit aufgeschnappten philosophischen Brocken und poetischen Wen¬
dungen. Als er mit Philammon eines Tages in sein Haus tritt, ruft er
nach seiner Frau: „Judith! Judith! Wo steckst du? Marmor von Pentelikon!
Schaumflvcke der weindunkeln Meerflut! Lilie des Mareotischen Sees! Du ver¬
fluchte schwarze Andromeda, wenn du das Frühstück nicht augenblicklich bringst,
schneide ich dich in Stücke!"
Mit offenbarer Liebe hat Kingsley auch an der Gestalt des reisigen
Bischofs Shnesius von Cyrene gearbeitet. Zu diesem eilt Raphael, um bei
ihm in seinen innern Kämpfen Rat und Hilfe zu suchen. Shnesius ist das
Gegenteil von Chrill, ein kühner Reiter, ein leidenschaftlicher Jäger, ein lebens¬
froher Mensch, ein Freund alles Edeln und Hochherzigen, auch wenn es von
den Heiden kommt. „Ich habe, sagt er, mit der Philosophie abgeschlossen.
Wie ein Heraklide zu fechten, und wie ein Bischof zu sterben, ist alles, was
ich von meinen Idealen behalten habe — außer Hypatia, der vollkommnen,
weisen! Ich sage euch, Freund, es ist mir ein Trost für mich selbst in meinem
tiefsten Leide, wenn ich denke, daß es auf der verderbten Welt uoch ein so gött¬
liches Wesen giebt." In Shnesius hat sich Kingsley selbst gezeichnet, daher
die Wärme, die uns ans diesem Charakterbilde entgegenströmt. Sehr richtig
bemerkt die Times in einem Artikel aus dem Jahre 1875 (wieder abgedruckt
in Lminemt, ?orscm», Liograpliiv8 I, I^onäcm, McowillM Rick <no,, 1892): ^Vs
slmulcl Ur. XinMlc^ I^ni luocleUöcl Iiis 8s1t-oänczg.lion ver/ nrue-u ein oiuz ok
tus v!mi'g,()t>srL Ils intrvcluLW in ins H^pala, tlo uunting', Jura-u'zlcking', Iiarcl-
vorlcinA ^,tri(zu,n bistwx c>s tluz UM vcmtur/. ^in? lÄot eine tue böntok Iiis von
wstes, dis «onviotiovL, ima Kis iäios^noras^ gsnvrall^, snM8tha t,lie su^je<ze8
auel IlZÄckillA oNÄraetors o5 Iris llotion i» ins ^rsat seorst ok 1Ü8 sueeoss.
Der Erfolg, den Kingsley mit seinem Roman II^Ma hatte, übertraf in
der That weit seine Erwartungen. Aber die Angriffe und Verdächtigungen
blieben wieder nicht aus. Von den Vertretern der Hochkirche wurde das Werk
als irreligiös, ketzerisch und unsittlich bezeichnet, und die theologische Kritik
der Puseyisten, denen die Bloßstellung der Kirchenväter als eine schwere Sünde
erschien, warnten vor dem gefährlichen Geist, der in dem Roman stecke. Das
Werk sei eine EntHeiligung der alten christlichen Kirche und eine Verherrlichung
des Heidentums und seiner Vertreter. Als Kingsley im Jahre 1863 zu der
Auszeichnung eines I). <ü. 1^. (voewr ol' Lion I-i^v) in Oxford vorgeschlagen
wurde, trat Pusey mit seinem Anhang entschieden dagegen auf, weil H^xatm
Ur inrinorÄl doolc sei.
Auch dieses Werk ist nicht frei vou Fehlern. Auffallende Anachronismen
sind nicht selten darin; der Aufbau und die Komposition zeigen zuweilen Lücken
und Sprünge, und der Dichter sinkt hie und da zum bloßen Berichterstatter
herab, so z. B. wenn er einen Teil mit den Worten schließt: „Wer und was
sich in Gefahr befand, davon wird in einem andern Kapitel zu reden Zeit
genug sein." Trotz dieser Schwächen hat der Roman auch in Deutschland
einen beständig wachsenden Kreis begeisterter Leser gefunden, besonders seitdem
der mit Kingsley befreundete preußische Gesandte von Bunsen in der Vorrede
zu der ersten deutschen Übersetzung des Romans (von S. von Gilsa; Leipzig,
Brockhaus, 1858. Neuerdings noch einmal übersetzt vou H. Lobedan, mit
Illustrationen von W. Weimar; Berlin, Grote, 1892) auf' die litterarische
Bedeutung Kingsleys hingewiesen hatte. Es kann gar keinem Zweifel unter¬
liegen, daß Kingsleys R^meis. einen bestimmenden Einfluß auf die Entwick¬
lung des „archäologischen" Romans in Deutschland gehabt hat. Die geistigen
Kämpfe einer bewegten Zeit episch darzustellen, gewaltige, durcheinander¬
flutende Strömungen klar zu durchschauen und sie als treibende Kräfte für
die Handlung eines Romans auszunutzen, diese Kunst ist weder Scott noch
Vulwer in solchem Maße eigen gewesen wie Kingsley. Auch die Vorliebe
vieler Schriftsteller für die Zeit des sinkenden Altertums und des jungen,
mächtig erstehenden Christentums ist von Kingsley erweckt worden. Felix
Dahn mit seinen Romanen aus der Völkerwanderung, Adolf Hausrath
(George Taylor) mit seinen kulturgeschichtlichen Romanen Antinous und Klytia,
Ernst Eckstein mit seinen Geschichten aus der römischen Kaiserzeit, M. Tyrol
mit ihrem Roman Julian der Abtrünnige — sie alle haben sich mehr oder
weniger von Kingsleys großartigem Kultnrgcmälde beeinflussen lassen.
or vier Jahren schrieb ich, veranlaßt durch die Münchner
Jahresausstellnng, für diese Zeitschrift einen Aufsatz „Einst und
Jetzt," worin ich die in der Galerie des Grafen Schack ver¬
tretene Kunst mit der jetzige,, verglich. Ich kam dabei zu dem
Ergebnis, daß die moderne Kunstrichtung eine Auflösung der
bisher geltenden Kniistgesetze sei, und beklagte das. Als ich den Aufsatz jetzt
wieder zur Hand nahm, war ich erstaunt, wie wenig damals »och zu erkennen
gewesen ist, wo die neue Kunstrichtung eigentlich hinauswollte. Aber im
Grunde ist nichts dabei zu staunen, denn die neue Richtung bestand damals
erst kurze Zeit, und es waren nur wenige Künstler, die sie vertraten, jeder
von ihnen ging für sich als Pionier vor, es war noch keine Einheit bemerk¬
bar, und so war auch ein Urteil über die Ziele noch sehr schwer.
Aber der Grund, weshalb ich mich, bei aller in jenem Aufsatz wiederholt
betonten Anerkennung des Talents dieser Jüngern, ihnen damals ablehnend
gegenüberstellte, und weshalb ein großer Teil des Laienpublikums diese Rich¬
tung noch heute anfeindet, liegt tiefer. Unsre ganze Erziehung uümlich ist „retro¬
spektiv." Auf den Gymnasien werden wir in die griechische und die römische Litte¬
ratur und ein wenig auch in die bildende Kunst der Antike eingeführt, im deutschen
Unterricht wird das Hauptgewicht auf die Litteratur des vorigen Jahrhunderts
gelegt, die nach den aus der Antike überkommenen Mustern schuf. Goethe hat
sein bestes in Italien an der Antike gelernt. Außerdem liest der Gymnasiast die
Balladen von Uhland, Gedichte von Geibel, Rückert, Lenau und andern Roman¬
tikern. Wenn damit hie und da etwas Kunstgeschichte verbunden wird, so be¬
handelt diese Raphael, Michelangelo und Lionardo da Vinci. In der neuern Kunst
geht er höchstens bis zu Schwinds sieben Raben herab. So werden uns die
künstlerischen Grundsätze des Klassizismus an den Meistern selbst oder an solchen
Künstlern und Dichtern eingeimpft, die ihnen folgten. Von der künstlerischen
Kultur der neuesten Zeit hören wir nichts. So kommt es, daß wir, befangen
in den Kunstgesetzen, die durch tausende von Jahren immer wieder aufs neue
zur Geltung gebracht worden sind, der modernsten Kunst, die diese Gesetze über
Bord wirft, fremd gegenüberstehen. Erst eine längere und eingehende Be-
schäftigung mit dieser Kunst kann uns darüber aufklären, was unsre jungen
Künstler überhaupt wollen. Eine weitere Schwierigkeit für das Publikum
entsteht dadurch, daß die ältere Richtung noch immer fortbesteht, ja daß ihr
der größte Teil der Künstler angehört. Die allbekannten Kunstgrößcn, die sich
mit Recht oder Unrecht einen Namen gemacht haben, gehören zu ihren Ver¬
tretern.
Da ist es denn von großer Wichtigkeit, daß voriges Jahr auch in Deutsch¬
land die „Sezession" eingetreten ist, die in Frankreich schon seit drei Jahren
besteht, und zwar ziemlich gleichzeitig in den beiden Hauptkuuststädten München
und Düsseldorf. Zum erstenmal in diesem Sommer haben die Sczessionisten
ihre Sonderausstellungen. Der alten Kunstgenossenschaft, der früher alle an¬
gehörten, hat sich ein Verein bildender Künstler gegenübergestellt. Das Publikum
erhält so Gelegenheit, sich ein Gesamtbild von der neuen Richtung zu machen,
ihre Ziele leichter zu erkennen. Eine große Anzahl von Kunstgelehrten, jüngere
wie ältere, hat sich bereits auf die Seite der Sezessivuisten gestellt, nicht weil
sie mit ihrer Kunst durchaus einverstanden wären, sondern weil ihr geschichtlich
geschulter Blick sie befähigt, hierin einen Keim zum Fortschritt, zu einer Er¬
neuerung der Kunst, die Abkehrung von der Schablone zum frischen Leben zu
erkennen. Eine Kunst, die ewig in den alten Geleisen bleibt, muß der Flachheit
verfallen.
In der Geschichte der bildenden wie der redenden Künste zeigt sich immer
wieder folgende Erscheinung. Es wird eine neue Kunstform geschaffen, in
hartem Ringen suchen sie die Künstler auszubilden, sie sehen das Ziel nicht,
sondern tasten darnach, Inhalt und Form passen nicht zusammen, bald wiegt
das eine, bald das andre vor. Dann kommen ein paar geniale Naturen, die
alle Bestrebungen zusammenfassen und das Gleichgewicht zwischen Inhalt
und Form herstellen. Aber schon ihre nächsten Nachfolger entarten. Sie über¬
nehmen von ihren Meistern die Form, es wird ihnen leicht, diese zu hand¬
haben, so leicht, daß sie nichtssagend werden, die vollendete Form wird zu weit
für deu Inhalt, und das macht den Eindruck der Schwäche. Die Kunst wird
süßlich und weichlich. Wem: es so weit gekommen ist, dann tritt, wenn das
betreffende Volk noch Lebenskraft hat, eine Revolution ein. Das Alte wird
umgestürzt, und man beginnt in einer ganz neuen Weise.
Auch die Kunst der Sezesstonisten ist eine Revolution. Aus deu Trümmern
der alten Kunst bauen sie sich ihre Barrikaden, und zunächst in regellosem
und ungeschulten Kampf erweisen sie ihren Mut und ihre Kraft. Das ist kein
schöner Anblick, wie es in gewissem Sinne eine wohlgeleitete Schlacht ist. Von
Delacroix giebt es ein Bild, das die Revolution von 1830 schildert. Ihre
Personifikation, halb Megäre, halb Göttin, steht auf den Barrikaden. Es wohnt
aber jeder Revolution, auch auf künstlerischem Gebiete, etwas von beiden inne.
Eine gänzliche Kunsterneuernug hat im fünfzehnten Jahrhundert in Florenz
stattgefunden. Die Realkunst der Renaissance stellte sich den ausgeschriebnen
Formen der gotischen Jdecilkuust gegenüber. Fast in wissenschaftlicher Weise gingen
die Künstler vor, jeder in seiner Art an der Erneuerung der Kunst arbeitend. Bei
allen zeigt sich ein Zwiespalt zwischen Inhalt und Form. Die heiligen Gegen¬
stände — andre kannte die Kunst damals noch sast gar nicht — bildeten nur
den Vorwand. Fra Filippo z. B. malte seine Engel als Mädchengestalten mit
sinnlichen Gesichtern. Erst Rciphael vermochte das Sinnliche mit dem Über¬
sinnlichen wieder in Einklang zu setzen.
Natürlich wiederholt sich in der Geschichte nichts ganz gleichmäßig, und
deshalb kann der Vergleich zwischen der archaischen Florentiner Kunst und der
archaisch-modernen auch nur bedingungsweise gezogen werden. Es treten eben
jetzt ganz besondre Verhältnisse hinzu.
Betrachten wir einige der Sczessionistenbilder. Als besonders interessant
fällt das Gemälde von Albert Keller auf. Nonnen knieen betend um das Lager
einer toten Schwester. Keller gehört nicht zu den Jüngsten, er ist von früher
bekannt durch seinen reichen Farbensinn. Er hat sich aber den Sezessionisten
angeschlossen und, ihrem Prinzip folgend, sein Gemälde ganz unter die Herr¬
schaft des Lichts gestellt. In einem Raum, der ganz von Kerzendunst erfüllt
ist, fällt von außen spärliches Licht, und die gelben Flammen der Kerzen werfen
ihre gelben Reflexe in die blaugrauen Dunstmassen; die Gesichter der Nonnen
blicken daraus nur undeutlich hervor. Aber wie bei den sinnlichen Engeln des
Fra Filippo ist auch hier die Aufgabe nicht streng erfaßt; das sind gar nicht
die harten und kalten Gesichter von Nonnen, es sind als Nonnen verkleidete
Weiber in der vollen Entwicklung ihrer Sinnlichkeit.
Die Sezessionisten verzichten darauf, organisch reife Kunstwerke zu schaffen.
Mit derselben Wissenschaftlichkeit wie im Quattrocento wird von jedem Künstler
nur eine Seite der Aufgabe erfaßt. Hugo König giebt in seiner Winterland¬
schaft vor allem das Lockere des Schnees und die eigentümlichen Dunsterschei-
uungen, die die feuchte, zum Tau neigende Winterluft erzeugt, Zügel das Dick¬
wollige der Schafe und die grüne Wildnis des Grases mit einer Gegen¬
ständlichkeit, daß man glaubt, das Fett zu fühlen und sich in dem dichten
Grase verstricken zu können. Die Künstler haben sich auf den Standpunkt
des reinen Sehens gestellt, sie wollen gar nicht mehr geben, als was das
Auge erfaßt. Ganz deutlich aber sieht das Auge, wie der photographische
Apparat, immer nur einen Plau, aber nicht neben dem Vordergründe
gleichzeitig den weit entfernten Hintergrund; darum ist der Hintergrund der
meisten modernen Bilder verschwommen und nur in großen Zügen ange¬
geben. Früher waren Gemälde die dnrch Reflexion umgestaltete Wirklichkeit,
jetzt sind sie nur durch das Auge ohne idealisirende Gehirnarbeit gesehne Wirk¬
lichkeit. Es ist das ein künstliches Zurückschrauben ins Primitive. Darum
lieben auch die Künstler das Bäurische darzustellen. Das buntfarbige in der
Kleidung einer Bäuerin, ihre roten und blauen Backen reizen sie. Eine ge¬
wisse Fnrbenfreude kann man ja nun der Bäuerin in ihrer Kleidung nicht ab¬
sprechen, aber sie steht doch auf einer sehr niedern Stufe, die Bäuerin hat
keinen feiner gebildeten Geschmack, und ebensowenig will ihn der Künstler haben.
Paul Schröter giebt eine Reihe solcher Bilder mit Bauernkindern. Die bunten
Farben haben keine Harmonie, die will aber der Künstler auch nicht; was er
künstlerisch dazu thut, ist höchstens Einheitlichkeit in der Disharmonie. Mög¬
lichst weit auseinander liegende Farben werden durch einen Schmutzton oder
durch gedämpftes Licht mit einander zu verbinden gesucht. So bei dem Kinder¬
bildnis von Schlittgen. Dadurch kommt etwas rohes in die Bilder. Am
störcndsten macht sich das bei den Porträts geltend, die meist im höchsten
Grade unangenehm aussehen. Der Künstler bestrebt sich, möglichst wenig von
dem Charakter und dem Seelenleben des Dargestellten zu geben, sondern nur
den äußern Farbeneindruck der Persönlichkeit und die besondre Beleuchtung
darauf. Nun können wir aber bei der Bildnismalerei am allerwenigsten von
ihrer eigentlichen Aufgabe, den Menschen zu schildern, absehen. Das Experi¬
mentelle stört anch da, wo diese Aufgabe in dem Bildnis wirklich erfüllt ist,
wie bei den energischen und kecken Bildnissen von Samberger und dem in der
Disharmonie der Farbe höchst kräftigen von Becker-Gundahl. Daher leisten
auch begabte Künstler dieser Richtung im Bildnis am wenigsten, wie Herterich
in seinem Prinzregenten.
Wie sehr der neuen Richtung das Organische fehlt, zeigt das Radiweib
von Abbe. Als Vorbild hat dem Maler die berühmte Hille Bobbe von Franz
Hals vorgeschwebt; aber bei Hals sind alle Farbenklexe zu einem einheitlichen,
lebensfähigen Ganzen, zum Organischen verschmolzen, während bei Abbe alles
anseinanderfährt, und man den Eindruck hat, als bestünde der Kopf aus an-
einandergeleimten Fetzen, die beim nächsten Regen auseiuanderschwimmen würden.
Und doch ist es eine große künstlerische Kraft, die sich in diesem Bilde
offenbart, die Farben und Lichterscheinungen auf dem zerfetzten Gesicht sind
sicher und reich gesehen, aber es fehlt die Kraft, die Einzelbeobachtungen zu
verbinden.
Hiermit sind die Fehler, die der neuen Richtung anhaften, zur Genüge
nusgesprocheu. Dennoch können wir ihr unsre Teilnahme nicht versagen, denn
sie kann und wird hoffentlich zu einer Auffrischung der Kunst führen. Auf
einige ältere Künstler hat sie schon glücklich gewirkt. Unter andern sind Ernst
Zimmermann in seinen Bildern ans der biblischen Geschichte und Gabriel
Schachinger in seiner jungen Frau im Gemüsegarten davon befruchtet worden,
das letztgenannte Bild ist mit einer Kraft und Frische gemalt, wie sie dem
Künstler früher nicht in solchem Grade eigen war.
Mit großer Energie haben die Sezessionisten ihre Ausstellung zu stände
gebracht. Sie haben lange geschwankt, ob sie München verlassen sollten, und
haben Dresden oder Berlin als Ausstellungsort ins Auge gefaßt. Schließlich
haben sie sich doch entschlossen, die Berliner Ausstellung mit den Bildern vom
vorigen Jahr abzufinden, und haben ihre Hauptausstellung in München ver¬
anstaltet. Hier allein ist durch jahrelange Übung das Publikum weit genug,
ihnen wenigstens einigermaßen folgen zu können. Nach München geht jedes
Jahr jeder, der sich über den augenblicklichem Stand der Kunst unterrichten
will. In vierunddreißig Tagen ist das Ausstellungsgebände errichtet worden,
und wohl noch nie hat es eine für solchen Zweck vorteilhafter angelegte Baulich¬
keit gegeben. In allen Räumen ist Licht, die Farbengebung der Wände ist aufs
beste berechnet, jedes Bild, wenigstens in den Hauptsälen, hat seinen genügenden
Raum und wird nicht durch die Nachbarschaft andrer erdrückt, nur wenige
haben zu hoch oder zu tief gehängt werden müssen.
Die Ausstellung verfolgt einen ganz bestimmten künstlerischen Zweck, die
Künstler wollen gewisse Grundsätze aussprechen, ohne sich zunächst um die
Verkäuflichkeit ihrer Bilder zu kümmern. Jeder hat seine höchste Kraft ange¬
spannt und seine Absichten mit einer Klarheit ausgesprochen, die er sonst mit
Rücksicht auf die Verkäuflichkeit nicht gewagt hätte. So gewährt diese Aus¬
stellung ein Urteil über die Ziele der Sezessionisten, wie noch keine zuvor.
Der Rückgriff zum Primitiven ist entstanden aus Überdruß an der Fülle
der überkommueu Formen, der Überbilduug, Deutschland ist am Ende des
neunzehnten Jahrhunderts in einer sonderbaren Lage. Durch eine gewaltige
Kraftleistung, die an „Monumentalität" an die größten Zeiten der Vergangen¬
heit erinnert, ist ein neues Reich geschaffen worden. Seit dem großen Kriege
ist ein Wandel eingetreten in allem und jedem. Das Reich und alle Kultur¬
formen haben nen ausgebaut werden müssen. So sind die Deutschen in
der Lage eines jungen Volks. Besonders im Norden hat die praktische Arbeit
der letzten Jahrzehnte so gewaltig sein müssen, daß für die Pflege der Kunst
keine Zeit übrig blieb, und so hat das Publikum als Ganzes kein Verhältnis
zur Kunst. Andrerseits kennen wir die Kultur vergangner Jahrhunderte bis
zu einem Grade, wie es bisher noch niemals der Fall gewesen ist. Die Fülle
der Kenntnis ist so groß, daß sie von der größern Menge der sogenannten
Gebildeten gar nicht verdaut werden kann. Zudem dringt täglich von Frank¬
reich eine bis zum Raffinirten ausgebildete Überkultur zu uns herüber. So
herrscht in Deutschland ein seltsames Gemisch von Unkultur und Überkultur,
das jede Sicherheit des Geschmacks unmöglich macht. In diesem unklaren und
ungegohrncn Zustande tritt nun eine junge Künstlerschar auf, die das ener¬
gische Streben hat, etwas neues, großes zu erreichen. Ist es da nicht natür¬
lich, daß wir in ihrem Schaffen vielem begegnen, was ebenso unklar und un-
gegvhren ist, wie der allgemeine Zustand?
Der Einfluß der Überbildnng macht sich bei Franz Stuck geltend und
spiegelt sich in seinem starken Talent besonders scharf. Alle seine Bilder zeigen
die Sucht nach dem Pikanten, geistreich Außergewöhnlichem, sowohl im Gegen¬
stande wie in der Auffassung und Ausführung. Zu seiner sichern Zeichnung
kommt eine feinere Farbenempfindung, als sie die meisten andern Sezessionisten
haben. Seine Muscheln auf dunkelm Grunde sind mit einer geradezu ver¬
blüffenden Technik gemalt. Schön ist die Farbenzusammenstellung des roten
Modus in einem blauen irisirenden Glase. Er kommt aber auch zu wirklich
großen Leistungen, wie zu dem Bild „Die Sünde." Das Bild zeigt eine nackte
weibliche Halbfigur mit bläulich gelbem Fleisch, pechschwarzem Haar, phos-
Phoreszirenden Augen, von einer Schlange umwunden, im Hintergrunde einen
Flecken Goldgelb. Das alles ist mit einer Kraft und UnHeimlichkeit der
Farbe und einer düster und lockend musikalischen Wirkung vorgetragen, die
sich mit Böcklin messen kann. Es ist nicht zufällig, daß Stücks Produkte der
Überkultnr in der Farbe Ähnlichkeit mit der byzantinischen Kunst haben.
Während bei Stuck die Überkultur mehr im Geistigen liegt, ist sie bei
Skarbina in dem Äußerlichen der Farbenwirkung zu suchen. Paul Schröter
ist in der Disharmonie seiner Farbe bäurisch, Skarbina überpikant. In un¬
endlich vielen kleintupfigen Nüancen werden Grün, Blau, Violett, Gelb u.s.w.
dicht neben einander gesetzt und bilden doch, mit großer künstlerischer
Kraft zusammengefaßt, eine reiche Einheit. Am besten gelingen dem Künstler
regnerische Straßenbilder bei Laternenbeleuchtung; das eine ist von einer geradezu
Menzelschen Kraft in dem harten Kolorit.
Schon bei Stuck haben wir das Geistige in die Kunst der Sezessionisten
eintreten sehen; aber wir haben noch unmittelbarere Zeugnisse dafür, auf
welchen Weg sie durch die Natur ihrer Mittel gebracht werden wird. Das
Unbestimmte in der Zeichnung, die dämmrige Malweise führt von selbst zum
Mhstizismus, und mystische Gegenstünde finden sich vielfach in der Ausstellung.
Da ist vor allen Dingen Paul Höckers großes Bild: Die Stigmatisirung der
heiligen Katharina von Siena. In schwarzweißer Nonnentracht lehnt die Hei¬
lige an der Wand, deren Tapete anbetende Engel in mattem Golde zeigt. Auf
ihrem Körper stammen in roter Glut die Wundmale, die ganze Atmosphäre
des Bildes ist durchgeistigt, vom Mhstizismus erfüllt. Alles ist weich und
locker, nichts steht hart neben einander, auch nicht das bläuliche Weiß
und Schwarz der Nonnentracht. Es giebt ein berühmtes Vorbild für diesen
Gegenstand, das sogenannte Svenimento von Sodoma in der Kirche San
Dvmmenieo in Siena. Bei dem Nenaissancekünstler ist die Heilige eine voll¬
kräftige gesunde Jungfrau, die unter der übernatürlichen Erscheinung für einen
Augenblick erliegt; in unserm nervösen modernen Zeitalter ist es ein überreiztes
hysterisches Mädchen, der halbgeöffnete Mund, der die Zähne sehn läßt, und
die halbgeschlossenen Augen drücken ihren wonnigen Schmerz aus. Es ist ein
Ausdruck, wie ihn ebensogut Jo zeigen könnte im Augenblick ihrer Umarmung
durch Zeus.
Eine Meisterleistung auf mystischem Gebiet ist das kleine Triptychon von
Ludwig Dettmann, der außerdem eine Reihe landschaftlicher Studien in Gvuache
ausgestellt, die zu dem besten der ganzen Ausstellung gehören. Das Tri¬
ptychon zeigt im Mittelfelde die Verkündigung an die Hirten und weiter zurück
Scharen von weißgekleideten Engeln, die um die Dorfhütte knieen, in der das
Christuskind geboren ist. Vom Himmel füllt ein Heller Schein auf sie und
den Verkündigungsengel herab. Dieses Licht ist so gut gemalt, daß man ver¬
sucht ist, es für einen wirklichen Lichtschein zu halten. Tiefe Andacht und eine
trotz der grünen Landschaft echt weihnachtliche Stimmung ruht über dem.Bilde.
Der Verkündigungsengel ist eine edle Gestalt mit schönem Gesicht, fern von
aller Pose und Süßlichkeit. Auf der schmalen Tafel links ist die Grenze des
Paradieses dargestellt, ein Bach, vor dem eine Schlange liegt, scheidet den
Vordergrund von einem Lilienfelde, an dessen Hinterer Begrenzung man das
feurige Schwert des Wache haltenden Cherub aus dem Dummer hervorleuchten
sieht. Ans der rechten Tafel ist nur angedeutet wie eine Geistererscheinung,
durch die man den hellen Horizont hindurchsieht, der Gekreuzigte mit flam¬
menden Wundmalen.
Derselben Richtung gehört ein Triptychon in Riesendimensionen an, von
Szymanowski. Es ist eine betende polnische Bauerngemeinde in halbdunkler
Kirche, in die über die Köpfe weg und diese nur zum Teil treffend ein Heller
Sonncnstreifen fällt. In brünstiger Andacht recken sich die Knieenden, laut
singend, dem Altar zu.- Auch über diesem Bilde liegt eine mystische Atmo¬
sphäre. Aber die Dimensionen sind zu groß, und unangenehm macht sich ein
Zug zum Rohen bemerkbar.
Fragt man uus schließlich, wie heute unsre Stellung zu der modernen
Kunstrichtung sei, so köunen wir nur antworten: dieselben Einwände, die wir
damals gegen sie erhoben haben, erheben wir auch heute noch; aber die neue
Richtung hat ihre Lebenskraft bewiesen, indem sie sich ein großes Gebiet er¬
obert und eine interessante Ausstellung zustande gebracht hat. Wir können
auch die ersten Leistungen in ihr begrüßen/ die das geistige Element wieder in
die Kunst einführen, ohne das nun einmal eine echte Kunst nicht bestehen kann.
Wir müssen die Berechtigung der neuen Richtung heute anerkennen, und wir
hoffen, daß sie der Kunst zum Heile gereichen wird.
Aber wie? Wir erklärten uns die ablehnende Haltung des Publikums
daraus, daß es in ganz andern Kunstgesetzen gebildet sei. Wünschen wir nun
die klassische Vorbildung des Publikums beseitigt? Diese Frage beantworten
wir mit einem entschiednen Nein. Die organischen Kunstgesetze, festgestellt
in der Geistesarbeit von Jahrtausenden, müssen auch der modernsten Kunst
gegenüber bestehen bleiben, um sie aus der Revolution, aus der Anarchie wieder
zu gesetzmäßigen Zustünden zurückzuführen, unter denen allein ein geistiges
Leben möglich ist. Die Künstler haben zum größten Teil keine klassische Vor-
bildung, und das läßt ihnen für eine Zeit der Revolution die genügende Un¬
befangenheit; aber um der allgemeinen geistigen Höhe ihrer Zeit müssen sie
fühlen, wie weit sie gehen können, und sobald auf den Sturmlauf der Sieg
gefolgt ist, müssen sie wieder umkehren in feste und gesicherte Bahnen. Sie
müssen das Falsche vom Wahren, das Echte vom Unechten scheiden lernen.
Eine Kunst kann auf die Dauer nicht ungebildet bleiben.
Ein Bild in der Sezessionistenansstellung zeigt, welcher Leistungen die
neue Richtung fähig fein wird, wenn sie sich zur Reife ausgebildet haben wird.
Es ist das kleine Bild von Max von Schnabel: „Sein Alles." In einer
ärmlichen aber saubern Hütte sitzt ein Mädchen, eifrig beschäftigt, einen kupfernen
Kessel zu putzen, ein alter Mann, auf seinen Stock gestützt, schaut ihr liebevoll
zu. Durch das hoch angebrachte Fenster fällt ein spärliches Licht in den Raum,
von der andern Seite wird das Mädchen durch das Herdfeuer beschienen. Da
ist nichts angedeutet, nichts unverarbeitet, alles bis zur vollen Gegenständlich¬
keit durchgeführt, kein Fleckchen des ganzen Bildes, das nicht in die Gesamt¬
wirkung mit hineingezogen und von dem Künstler durchgeistigt wäre. Eine
ruhige, friedliche und beschauliche Stimmung liegt über der Szene. Es ist
ein Genrebild im Sinne der Holländer des siebzehnten Jahrhunderts, aber mit
Augen vom Ende des neunzehnten Jahrhunderts gesehen.
Die Stillvsigkeit, mit der die neue Richtung eingesetzt hat, beginnt sich
denn auch bereits zu wandeln. Ein kapriziöser Stil herrscht in den Arbeiten
von Stuck, ein aus der Natur des Gegenstandes abgeleiteter beginnt sich be¬
merkbar zu machen in den Bildern von Höcker und Dettmann, bei Schmüdel
ist er schon ausgebildet. In jeder wirklichen Kunst ist etwas Konventionelles.
Dieses Konventionelle im guten Sinne ist der Stil. Der Stil erhebt ein
Kunstwerk nicht nur über die Natur, sondern auch über das Birtuoseutum,
und das Virtuosentum haftet der neuen Richtung noch viel zu sehr an, auch
Höcker und Dettmann werden es erst noch überwinden müssen, um Kunstwerke
ersten Ranges zu schaffe«.
eher manche geschichtlichen Ereignisse oder Zustände bilden sich
Legenden, die überall wiederkehren. Wenn solche Legenden die
große Menge beherrschen, so muß man sich damit trösten, daß
die Menge eben unzurechnungsfähig ist. Auffälliger und schmerz¬
licher ist es, wenn man auch bei Geschichtsforschern Äußerungen
begegnet, die bezeugen, daß auch sie nnter der Herrschaft solcher Anschauungen
stehen.^H?/«.
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Gegenstand einer solchen Legendenbildnng sind namentlich die Zustände
des frühern Kurhesseus. Vor kurzem hat unser allverehrter Geschichtsmeister
Heinrich von Shbel in der von ihm herausgegebnen historische» Zeitschrift
einen Aussatz unter dein Titel „Hans Daniel Hassenpflng" veröffentlicht. In
der Lebensbeschreibung dieses Mannes (er hieß „Hans Daniel Ludwig Fried¬
rich," und „Ludwig" war sein Nnfname) ist zugleich ein Stück kurhessischer Ge¬
schichte enthalten. Sybel war in den Jahren 1845 bis 185V Professor in
Marburg, hat damals auch zeitweise dem hessischen Landtage angehört. Er
hat also während dieser Zeit den hessischen Verhältnissen nahe gestanden. Seine
Schilderung bezieht sich nun auch vorzugsweise auf diese Zeit, in der ja Hassen-
pflug, der damals (1850 bis 1855) zum zweitenmale hessischer Minister war,
eine für ganz Deutschland verhängnisvolle Rolle gespielt hat. Gegen die
Schilderung dieser Zeit, für die ihm noch weitere bis dahin unbekannte Quellen
zu Gebote gestanden haben mögen, läßt sich auch kein Einwand erheben. Nun
ist aber Hassenpflug auch schou früher einmal, während der Jahre 1832 bis
1837, hessischer Minister gewesen. Um also seinen Helden in das richtige
Licht zu setzen, glaubt Shbel auch auf diese erste Ministcrzeit Hassenpflugs
einen Blick werfen zu müssen. Er schildert sie mit folgenden Worten: „So
begann Hassenpflugs fünfjährige erste Verwaltung, die man als ein unaus¬
gesetztes und allseitiges Streben bezeichne» muß, jede Selbständigkeit des Land¬
tags und der Gemeinden, der Beamten und der Bürger mit allen Mitteln
des Rechts und der Nechtsverdrehung, der Korruption und der brutalen Ge¬
walt zu biegen oder zu brechen." Diese Darstellung giebt kein richtiges Bild
von der damaligen Wirksamkeit Hassenpflugs. Wie schwer man auch die
Thätigkeit dieses Mannes während seines zweiten Ministeriums, insbesondre
den damals von ihm verübten Verfassnngsumsturz, verurteilen mag, so gebietet
es doch schon die geschichtliche Gerechtigkeit, anzuerkennen, was er während
seines ersten Ministeriums dein hessischen Lande gutes gebracht hat. Jene
Worte geben aber auch ein durchaus unrichtiges Bild von den damaligen Zu¬
ständen in Kurhessen. Ich selbst habe diese Zeit von meinem fünfzehnten bis
zu meinem zwanzigsten Jahre durchlebt und weiß mich ihrer im allgemeinen
noch sehr wohl zu erinnern. Ich bin auch imstande, diese Erinnerung durch
viele Einzelheiten zu ergänzen. Darnach glaube ich, den Worten Sybels
folgende Darstellung gegenüberstellen zu dürfen.
Als im Jahre 1831 die neue Verfassung für Kurhessen gegeben wurde,
knüpften sich an sie höchst sanguinische Hoffnungen. Man glaubte, nun sei
alles gewonnen, ein liberales Regiment sei für immer gesichert. Man wußte
uoch nicht, daß alle solche Gesetze von Bestimmungen wimmeln, die einer sehr
verschiednen Auslegung fähig find. Nun trat gegen die liberale Bewegung
des Jahres 1330 schou im Jahre 1832 die Reaktion ein. Man braucht nur
an die damaligen Bnndestagsbeschlnsse zu denken. Hasfenpflug wurde im Mai
1832 Minister. Es ist richtig, daß der Grundcharakter seines Regiments
reaktionär war. Dies äußerte sich namentlich darin, daß er die Verfassung
nicht in dein liberalen Geiste, den man erwartet hatte, sondern mehr im An¬
schluß an die Worte auslegte. Man konnte ihn dabei von dem Vorwurf der
Sophistik und Rabulistik nicht immer freisprechen. Von andrer Seite wollte
man nnn aber die Verfassung so ausgelegt haben, wie man es sich gedacht
hatte. Daraus entstanden unendliche Streitigkeiten zwischen Regierung und
Ständen; Streitigkeiten, die sich zu einem großen Teil an Personen knüpften.
Zur Kennzeichnung dieser Verhältnisse will ich mir einzelnes erwähnen.
Nach der Verfassung hatte jeder Staatsdiener zum Eintritt in den Landtag
die Genehmigung seiner vorgesetzten Behörde einzuholen, die nicht ohne erheb¬
liche Gründe versagt werden sollte. Hassenpflng versagte nnn fast allen Staats¬
dienern, die als liberal bekannt waren, die Genehmigung, und über die Er¬
heblichkeit der dafür angeführten Gründe konnte man oft andrer Ansicht sein.
Das erregte große Bitterkeit. Nach der Verfassung hatte auch der Vertreter
der Landesuniversität einen (althergebrachten) Sitz im Landtage. Die Uni¬
versität wählte den Professor Jordan, den Hanptschöpfer der Verfassung. Hassen¬
pflng erklärte, daß auch dieser als Staatsdiener der Genehmigung bedürfe, ver¬
sagte ihm aber die Genehmigung. Nun erhob sich ein großer Streit darüber,
ob dies dem Sinne der Verfassung entspreche, da ja alsdann jeder Vertreter
der Universität von der Genehmigung der Staatsregierung abhängig sei. Als
hiernach die Stände, trotz des Widerspruchs der Regierung, Jordan zulassen
wollten, wurde der Landtag aufgelöst. Ferner enthielt die Verfassung die Be¬
stimmung, daß, so lauge die Stände nicht versammelt seien, ein von ihnen
gewählter ständiger Ausschuß die landständischen Interessen wahrzunehmen
habe. Die Befugnisse dieses Ausschusses waren in der Verfassung nicht sehr
genau bestimmt. Als dieser Ausschuß seine Thätigkeit begann, gab es auch
darüber wieder Streit.
Wegen einer ganzen Reihe solcher Streitigkeiten erhoben nun die Stände
wiederholt Anklagen wider Hassenpflug bei dem Obernppellntionsgericht als
Staatsgerichtshof. Ein Schriftsteller, der dabei mitwirkte, äußerte sich später
so darüber: „Es waren weniger die einzelnen Handlungen Hasseupflugs, welche
die Stände zu den Anklagen gegen ihn bewogen, als das unermüdliche An¬
kämpfen gegen das lebendige Wirken der Verfassung und deren gesetzmäßige
Entwicklung, welches sie als den Charakter des von ihm seit seinem Eintritt
in das Ministerium beobachteten Regierungssystems ansahen." Eine nach Auf¬
lösung der Ständeversammlung vom ständigen Ausschusse erhobne Anklage
warf Hassenpflug vor: „Vernichtung der dem Volke verfassungsmäßig ge¬
währten bürgerlichen und politischen Freiheit durch Beeinträchtigung der land-
stündischen Rechte, Schmälerung und Bedrohung der grnndgesetzlichen Wahl-
freiheit, ungemessene, verfassungswidrige Ausdehnung der Polizeigewalt, Ver¬
letzung des verfassungsmüßigen Prinzips der an die landstündische Mitwirkung
geknüpften Gesetzgebung." Die Stunde waren bei Erhebung dieser Anklagen
juristisch nicht gut beraten. Sämtliche Anklagen wurden vom Oberappellations¬
gericht zurückgewiesen, was natürlich nur noch mehr verbitterte. Die zuletzt
erwähnte Anklage wurde verworfen, weil der ständige Ausschuß nur wegen
Unterlassung rechtzeitiger Einberufung des Landtags eine Anklage zu erheben
befugt sei; eine solche auch nur wegen Verfassungsverletzuug, nicht wegen
andern Amtsvergehen gegen einen Minister von den Stünden erhoben werden
könne.
Diese Anführungen werden genügen, ungefähr ein Bild von den damaligen
Streitigkeiten zu geben. Es ist wahr, die Art und Weise, wie Hassenpflug
diese Streitigkeiten betrieb, war nicht schön. Im Lande entstand ein ungeheurer
Mißmut darüber. Betrachten wir aber heute diese Dinge mit unbefangnerem
Blick, so müssen wir doch sagen: das Ganze war mehr ein Nechtsgezünk for¬
malistischer Art, als daß sachliche Interessen dabei auf dem Spiele gestanden
hätten. Einen unmittelbaren Einfluß auf die Zustünde des Landes übten diese
Streitigkeiten gar nicht. Auch kauu man die Stunde nicht ganz von einseitiger
Auffassung der Verhältnisse freisprechen. Der Liberalismus steckte eben damals
noch in den Kinderschuhen.
Betrachten wir nun dagegen die sachliche Wirksamkeit, die Hassenpflng
in jener Periode geübt hat, so können wir sie nur mit den Worten bezeichnen:
Kurhessen verdankt Hassenpflug eine große Reihe von Gesetzen und Einrich¬
tungen, die sich für das Land dauernd als wohlthätig erwiesen haben. Auch
waren diese Schöpfungen nicht etwa reaktionärer Natur, sondern es war einer
Vernünftigen Freiheit darin voller Raum gelassen. Die ersten Gesetze, die
unter Hassenpflugs Namen ergingen, waren allerdings schon vor seinem Ein¬
tritt in das Ministerium vorbereitet worden. Aber die spätern kann man
durchweg als sein Werk ansehen.
Das erste Gesetz, das Hassenpflugs Unterschrift trägt, war ein Gesetz, das
die Bürgergarde organisirte, ganz im Geiste des Liberalismus der damaligen
Zeit. Gleichzeitig ergingen die umfangreichen Gesetze über Ablösung der Rcal-
lasten und über Errichtung einer Landeskreditkasse. Beide Gesetze haben sich
für das Land höchst wohlthätig erwiesen; die Landeskreditkasse besteht noch
heute als ständische Anstalt. Dann folgte das Gesetz vom 11. Juli 1832 über
den Geschäftskreis der Staatsanwälte. Jedes deutsche Land könnte stolz sein,
wenn eS jemals ein solches, die Rechtsuerfolgung gegen den Staat sicherndes
Gesetz gehabt hätte; es ist aber, so viel ich weiß, das einzige in seiner Art
geblieben. (Der hessische Staatsanwalt war der Vertreter des Staates und
der Landesherrschaft in Zivilsachen- Das Gesetz ist natürlich im Jahre 1867
beseitigt worden.) Im Jahre 1833 erging das Gesetz vom 29. Oktober, durch
das die Juden, durchaus im liberalen Sinne, den übrigen Staatsbürgern
gleichgestellt wurden. Ein Gesetz vom 31. Oktober führte zuerst eine Ein¬
kommensteuer unter dem Namen Klassensteuer in Kurhessen ein. Auch zwei
Gesetze, die die Landfolgedienste und die (sehr bedeutenden) Nutzungen aus den
Staatswaldnugen sachgemäß regelten, verdienen Erwähnung.
Besonders reich an gesetzgeberischer Thätigkeit war das Jahr 1834. Zur
Förderung der Landwirtschaft wurden Gesetze über Verkopplung von Grund¬
stücken und Teilung der Viehhutegemeinschaften gegeben. Ein umfassendes Gesetz
regulirte die Rekrutirung. Ein andres ordnete das Enteignungsverfahren. Höchst
bedeutungsvoll waren die Gesetze, die den Zivilprozeß umgestalteten. Für Ba¬
gatellsachen wurde ein abgekürztes, rein mündliches Verfahren eingeführt. Für
wichtigere Sachen wurde zwar der schriftliche Prozeß beibehalten, aber in knappe
Form gebracht. Diese Neugestaltung bewährte sich als vortrefflich und konnte
auch, als im Jahre 1851 (ebenfalls von Hassenpflug) ein mündliches Verfahren
nach Art des preußischen eingeführt wurde, als Grundlage beibehalten werden.
(Charakteristisch ist, daß diese Gesetze bei den Juristen des Landtags die größten
Schwierigkeiten fanden und der Rechtsausschuß auf deren Ablehnung antrug!)
Ein besondres Gesetz erleichterte die hypothekarischen Klagen Auch die An-
waltsgebühreu wurden zeitgemäß erhöht. Die Militärgerichtsbarkeit wurde
beschränkt. Endlich stammt aus diesen: Jahre auch die hessische Gemeinde¬
ordnung. Um zu zeigen, welchen Wert das Land auf dieses Gesetz legte,
brauche ich nichts weiter zu sagen, als daß man im Jahre 1867, wo man
doch fast alles Althessische zerstörte, an dieses Gesetz nicht wagte Hand an¬
zulegen. Es gilt in Kurhessen bis auf den heutigen Tag.
Die Jahre 1835 bis 37 waren weniger fruchtbar an Gesetzen. Hassenpflug
fand überall Widerstand, bei den Ständen und auch beim Kurfürsten. Freilich
geschah noch viel weniger für das Land unter Hassenpflngs Nachfolger, sodaß
bis zum Jahre 1848 die Gesetzgebung fast gänzlich stockte. Erst hierdurch
tritt der Zeitraum des Hassenpflngschen Ministeriums in sein volles Licht.
Auch auf dem Verwaltungswege schuf Hassenpflug mehrfach nützliche Ein¬
richtungen; namentlich höhere Schulen. Auch hier begegnete er Schwierigkeiten-
So mußte er z. B. wegen Errichtung eines neuen Gymnasiums erst mit der
Stadt Kassel einen Prozeß führen. Als dann das Gymnasium doch zustande
kam, bewährte es sich als vortrefflich.
Wenn mau diese Periode der kurhessischen Geschichte in ihrer Gesamtheit
überblickt, wenn man erkennt, wie sich die Thätigkeit Hassenpslugs trotz aller lei¬
digen Streitigkeiten mit den Ständen überaus segensreich für das Land erwiesen
hat, und wie auch seine Schöpfungen durchaus nicht auf Unterdrückung aller
Volksfreiheit gerichtet waren, hat dann wohl eine Äußerung, wie sie Sybel
über diese Periode gethan hat, noch Berechtigung?
Ich würde zu dieser Äußerung über eine längst vergangne Zeit, trotzdem,
daß sie aus der Feder eines hervorragenden Geschichtschreibers geflossen ist,
geschwiegen haben, wenn sie nicht einer landläufigen Ansicht über die Zustände,
die überhaupt in dem frühern Kurhessen bestanden haben, entspräche. Es hat
sich eine förmliche Legende darüber gebildet, daß diese Zustände unerträglich
gewesen seien, daß damals eine furchtbare Tyrannei geherrscht habe. Nichts
ist irriger als dies.
Wir müssen hierbei freilich absehen von dem Verfassungsumsturz in den
Jahren 1850 und 51 und der daran sich anschließenden Zeit. Über das,
was damals geschah, ist kein Wort weiter zu verlieren. Aber bei dem Ver-
sassungsnmsturze haben doch anch die Regierungen Österreichs, Vaierns und
Preußens eine kaum näher zu bezeichnende Rolle gespielt. Und in den Ne-
aktionsjahren von 1852 bis 57 sind in andern deutschen Ländern Dinge vor¬
gekommen, die viel abscheulicher sind, als alles, was damals in Kurhessen
geschehen ist.
Dann müssen wir zugeben, daß Kurfürst Friedrich Wilhelm eine sehr un¬
liebenswürdige Persönlichkeit war. Soweit sein unmittelbarer Einfluß reichte,
sind mitunter recht häßliche Dinge vorgekommen. Auch hätte ja viel mehr
für das Land geschehen können, wenn nicht die Persönlichkeit des Kurfürsten
stets ein Hindernis gebildet hätte.
Sieht man aber davon ab, so wurde in Kurhessen ebenso gut und so schlecht
regiert, wie in deu meisten deutscheu Ländern. Der Einfluß des Kurfürsten
reichte nicht soweit, daß er, anch wenn er gewollt hätte, durchweg eine „Ty¬
rannei" hätte ausüben tonnen, unter der das Land geseufzt hätte. Kurhessen
hatte gute Einrichtungen, gute Gesetze und einen guten Veamtenstcmd. Es
hatte glänzende Finanzen, und die Steuern waren deshalb gering. Es hatte
vor allem eine gute und wohlfeile Justiz. Diese gewährte den Unterthanen
auch der Regierungsgewalt gegenüber Schutz gegen Rechtsverletzungen. Da¬
durch war Kurhessen in gewissem Sinne das freieste Land in ganz Deutschland.
Man ist sich auch dessen, was man in allen diesen Beziehungen im Jahre 1867
verloren hat, in Kurhessen vollkommen bewußt gewesen oder wenigstens bald
darauf bewußt geworden.
Hatte der Kurfürst unliebenswürdige Eigenschaften, so hatte er doch auch
seine guten Seiten. Protektion, Nepotismus, Geldmncherei, Begünstigung des
Adels oder des Klerikalismus und ähnliche Auswüchse des Staatslebens sind
unter seiner Regierung nicht aufgekommen. Daß ihm anch das Muckertum im
Grunde seines Herzens zuwider war, beweist die von Shbel selbst seiner
Darstellung eingereihte Erzählung, wie Hassenpflug schließlich (1855) daran
scheiterte, daß er seinen Freund Vilmar zu einer Art hessischen Papstes machen
wollte.
Ich möchte deshalb alle bitten ^ und ich richte diese Worte auch an
Männer, die so hoch stehen wie Shbel und Treitschke —, über frühere kur¬
hessische Verhältnisse doch nicht so absprechend zu urteilen, wie das vielfach
geschieht. Stoff zu sittlicher Entrüstung über frühere Zustände kaun der Ge-
schichtsfreund auch anderwärts und vielleicht viel näher finden, wenn er nur
die Augen darauf werfen will.
In der ersten Nummer der neu erschei¬
nenden „Zeitschrift für Fischerei findet sich ein interessanter Vortrag des im
Fischereiwesen sehr bewanderten Amtsgerichtsrats seelig zu Kassel abgedruckt, der
nicht allein die Aufmerksamkeit der Beteiligten und der Juristen, die in Fischerei¬
sachen das Recht zu finden haben, sondern in einer gewissen Richtung auch die
Beachtung weiterer Kreise verdient. Die sehr einsichtige und übersichtliche Dar¬
stellung, die sich auf zahlreiche Gerichtsentscheidungen über Verunreinigung von
Fischwassern stützt, zeigt nämlich in überraschender Weise, wie schwer der Einfluß
des wirtschaftlichen Götzen unsrer Zeit, der Industrie, auf den übrigen volkswirt¬
schaftlichen Interessen lastet.
seelig zeigt, daß das Gesetz zwar einem Mißbräuche der fischhaltigen Ge¬
wässer zu Fabrikzwecken, besonders bei Ableitung ihrer sogenannten Abwässer, ent¬
gegentritt, insofern also ihre Interessen und die der Fischzüchter gleichmäßig und
unparteiisch abwägt; daß aber trotzdem das thatsächliche Übergewicht der Fabrik¬
interessen derart wirkt, daß sich nicht nur die Beteiligten dieses Rechtsschutzes kaum
bewußt sind, sondern sich auch die Verwaltungsbehörden wenig geneigt zeigen,
gegen das Übermaß der fabrikmäßigen Ausnutzung der Gewässer zum Nachteil und
Verderb der Fischerei nachdrücklich und bis zur Erreichung eines durchgreifenden
Erfolges einzuschreiten. Und doch ist Hebung und Hegung der Fischzucht uuter
unsern deutschen Verhältnissen von wesentlichster Bedeutung für die Volksernährung
und die Steigerung des Volkseinkommens — ein Morgen Fischteich wirft bekannt¬
lich einen beträchtlich höhern Ertrag ab, als ein Morgen des besten Ackerlandes! —,
und doch ist es uach dem heutigen Stande der Wissenschaft sehr wohl möglich, die
in den Abivässeru steckenden schädlichen oder ekelerregenden Stoffe vor deren Ein¬
tritt in Bäche und Flüsse zu beseitigen. Trotzdem fällt aber die Entscheidung im
Verwaltnngsverfahren (im Gegensatze zu dem leider schwierigen und kostspieligen
Zivilprozeßverfahren und zu dem am meisten empfehlenswerten Strafprozesse) regel¬
mäßig auf Grund der Gutachten der Gewerberäte zu Gunsten der Fabriken ans;
denn „einiger Fische wegen werde mau doch nicht einen blühenden Betrieb ein¬
stellen" oder „ihm zur Sicherung gegen Verunreinigungen solch kostspielige Auf¬
lage» machen, daß uur noch ein geringer Gewinn erzielt" werde! Oft mischt sich
auch noch der steuerfiskalische Gesichtspunkt mit hinein, daß das schädigende Werk
dem Staate ungleich mehr Steuern bringe, als die dem Verderben preisgegcbne
Fischerei. Eine große politische Zeitung konnte sogar vor kurzem schreiben, daß es
für manche Gcwerberäte gar keine Wasserveruureinigung zu geben scheine. Des¬
halb sei es mich nicht zu verwundern, wenn in einem vom Berliner Kammer¬
gericht entschiednen Rechtsstreite der Einwand der wegen schädigender Ausflüsse
belangten Fabrik verworfen worden sei, daß ihre zur Abhilfe getroffnen Einrich-
tungen von dem zuständigen Gewerberate für zweckmäßig und ausreichend erachtet
worden seien.
Gerade dieser hohe Gerichtshof hat dann in einem andern Urteile dem hier
allein maßgeblichen Gesichtspunkte der glcichabwägenden Gerechtigkeit soviel Beach¬
tung geschenkt, daß er erklärte: „Die Zuleitung schädlicher Stoffe wird auch da¬
durch nicht zu eiuer gemeiuüblichcn >nlso flntthafteuj, daß zur Wiederansscheidung
der Stoffe das Möglichste, thatsächlich aber das Unzulängliche geschieht." Und in
ähnlicher Weise hat das Reichsgericht über das Recht am Wassergebrauche ge¬
urteilt: „Ans dem Wesen des Rechtes des Gemeingebrauchs als des gleichen
Rechtes aller, die sich in der Lage befinden, von dem Gegenstände des Rechts Ge¬
brauch zu macheu, muß man die Folgerung ziehen, daß das Recht jedes einzelnen
seine Grenzen findet in dem gleichen Rechte aller übrigen" u. s. w. „Soweit eine
Teilung des Gebrauches möglich ist, hat, falls die Zwecke der mehreren Gebrauchs¬
berechtigten nicht neben einander vollständig erfüllt werden können, eine verhältnis¬
mäßige Teilung unter ihnen stattzufinden" u. f. w. „Sie müssen, um eine voll¬
ständige Benutzung des Flusses für die beiderseitigen Zwecke neben einander zu
ermöglichen, sich ein gewisses, uach freiem richterlichen Ermessen unter Erwägung
aller Umstände zu bestimmendes Maß von Belästigungen und Beschränkungen ge¬
fallen lassen." Diese Grenzlinie zu finden sei die Aufgabe des „Teiluugs-
richters."
Der Vortragende führt dann noch eine Äußerung des jetzigen Generalsekretärs
des deutschen Fischereivereins, des Dr. Weigelt an, der sagt: „Wir dürfen bei der
Entwicklung, die die Industrie zum Segen der Kulturstaaten genommen hat, den
berechtigten Anspruch, sich ihrer Abwasser zu entledige», uicht verneinen," zumal
da man ihren Jahresertrag in Deutschland auf sechs Milliarden gegenüber dem
der Fischerei mit sechs Millionen Mark veranschlagen könne; aber er meint trotz¬
dem, es sei wünschenswert, „daß die Landesregierungen ihr Wohlwollen etwas ge-
rechter zwischen Industrie und Fischerei verteilten/' etwa wie es in Baden längst
geschehen sei, oder in dem von seelig mitgeteilten Artikel 6 des schweizerisch-
sranzösischen Vertrags von 1830 über die Fischerei im Genfer See vorgesehen
werde. Dieser bestimmt nämlich- „Es ist den Fabriken, Werkstätten und irgend
andern in der Nähe des Sees befindlichen Unternehmungen verboten, ihre Rück¬
stände oder den Fischen schädliche Stoffe in das Wasser abzulassen. Diese Etablisse¬
ments sind gehalten, auf ihre Kosten die Ableitung in den Boden zu regeln."
Wie schwer es wird, gegenüber der verhätschelten Industrie auch nur die
Gleichberechtigung in dem Bereiche der Volkswirtschaft zu erringen, das zeigten u. a.
auch die Schwierigkeiten, die achselzuckende Verurteilung und die Gehässigkeit, mit
denen der uenentstandne „Bund der Landwirte" so vielfach zu kämpfen hat. Mag
man über ihn und seine Ziele denken, wie man will, sogar das Entstehen einer
neuen Kampfvereinigung wirtschaftlicher, aber stark ins Politische hinüberspielenden
Richtung bedauern, das wird sich nicht bestreikn lassen, daß die Landwirte nur
nach dem berühmten Vorbilde andrer wirtschaftlicher Ringe vorgehen und sich
nicht mit dem „Ja, Bauer, das ist ganz ein anders" einschüchtern lassen möchten.
Aber die Industrie ist nun einmal das Schoßkind unsrer Zeit, und dem ver¬
zeiht man bekanntlich viele Unart und Sünde, ehe mau zur scharfen Rute greift.
Es geht mit dem naiven Glauben an sie nicht besser, als früher mit dem Aber¬
glauben an die alleinige Nichtigkeit des Merkantilsystems. Sie hat das Handwerk
untergraben dürfen und sogar das Kunsthandwerk durch ihre billigen Flitter- und
Schundwaren gefährde» dürfen, das platte Land entvölkern, die Lust verpesten, die
Gewässer für Menschen und Tiere widerlich machen, ihre Arbeiter ohne Gnadenbrod
in alten und kranken Tagen auf die Straße setzen, den billigen Verkauf ins Aus¬
land im Znlande durch Monopolpreise wiedereinbringen, die Bevölkerung der arbei¬
tenden Klassen, Kinder, Frauen und Männer, phhsisch und moralisch verderben und
sie dem Irrwahn verfallen lassen, als ob unsre ganze Rechtsordnung in dem ver¬
haßten neuen Jndnstrierechte nufgeh, die öffentliche Sicherheit dnrch Streiks und
Umsturzbestrebung in Zweifel stellen. Sie hat die Armenlasten ius Ungemessene
steigern dürfen, um nur recht billig produziren zu können und einige, nicht einmal
viele, reich werden zu lassen.
Das Sündenregister der Industrie könnte noch vergrößert werden. Dennoch
soll mit Entwerfung dieses Negativbildes nicht etwa einer einseitigen, der Industrie
feindlichen Anschauung das Wort geredet sein. Will man sich aber einmal recht
klar macheu, daß auch wirtschaftlich die Lösung sein muß, was das römische Recht
dem Teiluugsrichter vorschrieb: (iuvat cmmibns utilissimnm v8t, ssaui vouveuit, so
darf man um den dunkeln Seiten der Judustrieentwicklung uicht leichten Herzens
vorübergehen und immer nnr ans die Reichtümer hinweisen, die sie ins Land ge¬
bracht hat. Sie sind nicht nur mit Schweiß, sondern auch mit Blut erkauft, und
neben dem Arbeiterschutz- und Versicheruugsrecht stehen noch andre Aufgaben der
ausgleichenden Gerechtigkeit!
Unter den in der letzten Zeit über den Gegenstaud
erschienenen Schriften scheinen uns besonders drei beachtenswert. Die eine ist
gegen Bebels Buch gerichtet, dessen Vorzüge aber anerkannt werden: Der christ¬
liche Standpunkt in der Frauenfrage. Von Hermann Kötzschke. (Leipzig,
Reinhold Werther, 1»93.) Auf dem Wege eiues geschichtlichen Überblicks gelangt
der Verfasser zu dem Ergebnis: „Nicht eine Lockerung, sondern nur eine immer
reinere Her(!)ausbildung, eine Kräftigung und Stärkung der Einzelehc kann das
Walten der göttlichen Ordnung bezwecken. Die Überhandnähme der Ehelosigkeit
und der Ehescheidungen beweist nicht, daß sich die Ehe überlebt but, sondern daß
sich die Verhältnisse verschlechtert haben, die die Führung einer Ehe begünstigen,
und die Kraft, der Verhältnisse Herr zu werden, augenblicklich gering geworden ist.
Ein andres festes Ergebnis der geschichtlichen Entwicklung ist die Her(!)ansbildnng
einer gleichberechtigten weiblichen Individualität. Individualisirung und Arbeits¬
teilung ist ja überhaupt das Geheimnis des Weltfortschritts. Es wäre demnach
ein Rückschritt, wollten wir die Frauen wieder zu Männern machen, wollten wir
ihnen dieselbe Erziehung und dieselben Thätigkeitsgebiete wie den Männern geben."
Aus dieser Anschauung darf man aber nicht etwa folgern, daß der Verfasser zu
denen gehöre, die beide Geschlechter in der Geselligkeit von einander absondern
und den Beruf des Weibes auf die Hauswirtschaft beschränken wollen. Im Gegen¬
teil wünscht er, daß das Spiel von Kindheit um, edle Geselligkeit Jünglinge und
Jungfrauen, Männer und Frauen vereinige, und daß eine gediegne Ausbildung
das Weib sowohl zur würdigen Gefährtin des Mannes, wie in dem Falle, daß
sie ledig bleibt, zur Behauptung ihrer Selbständigkeit geschickt mache. Von der
Gesetzgebung fordert er kräftige Eingriffe in die bestehenden Rechtsverhältnisse zu
Gunsten der Frauen. Z. B. müßte bestimmt werden, „daß dem Weibe rechtlich
die Hälfte von dem Verdienste des Mannes gehört"; das Altersversorgungsgesetz
sei dahin zu verbessern, „daß im Falle frühern Todes des Gatten die hinterlassene
Witwe eine im Verhältnis zu den gezählten Beiträgen stehende Rente erhalt" u. s. w.
Da Kvtzschke uicht bloß dem Optimismus im christlichen Sinne, sondern auch dem
— wie er heute heißt — evolutionistischen Optimismus huldigt, daher an einen
stetigen Fortschritt der Sittlichkeit glaubt, so hält er auch die Ausrottung der Pro¬
stitution für möglich und fordert, daß sowohl die Ausübung dieses Gewerbes als
auch der Besuch von Prostituirten verboten und bestraft werde, gleichzeitig aber
verlangt er auch, daß der Staat wenigstens die von ihm selbst geschaffnen Hinder¬
nisse rechtzeitiger Verehelichung beseitige. — Die andre Schrift: Frauenerwerb
von Paul Dobert (Leipzig, Adalbert Fischer) läßt sich auf grundsätzliche Erwä¬
gungen und Zukunftspläne nicht ein, sondern dient lediglich den Bedürfnissen des
Augenblicks, indem sie die beiden Fragen beantwortet: Was können unsre Töchter
werden? Wo und wie erwerben sie die notwendigen Kenntnisse? Der Verfasser
geht alle weiblichen Berufsarten durch, bespricht die Aussichten, die jede eröffnet,
beschreibt den Gang der Ausbildung, zählt die Lehranstalten auf, giebt die Be-
dingungen der Aufnahme an, die Kosten und was sonst dazu gehört. Darin
scheinen heute die Theoretiker der verschiedensten Richtungen unter einander und
mit deu verständigen Familienvätern übereinzukommen, daß es ratsam sei, jedes
Mädchen ohne Rücksicht ans die Möglichkeit oder Wahrscheinlichkeit einer spätern
Verehelichung für einen bestimmten Erwerbszweig auszubilden, und daß diese Aus¬
bildung die Tüchtigkeit für deu Hausfrauenberuf nicht vermindere, sondern ver¬
mehre. — Diesen Standpunkt nimmt auch der Verfasser der dritten Schrift ein:
Nils Hertzberg, Der Beruf der Frau und ihre Stellung in der modernen
Gesellschaft. Nach or, O. Reyhers deutscher Übersetzung bearbeitet von Julius
Werner, evangelischer (scher!) Pfarrer (Leipzig, Peter Hobbing, 1892), der sich
aber trotzdem sehr entschieden gegen die Emanzipationsbewegung ausspricht. „Ihre
Grundsätze — sagt er von deren Anhängern — sind verkehrt, ihre Kritik über¬
trieben, ihre weitgehendsten Forderungen unausführbar, utopisch." Gleichwohl
dürfe matt die Berechtigung eines Teiles ihrer Forderungen nicht verkennen. Aber
daran hält er fest, daß die Eigentümlichkeit der weiblichen Natur den Frauen den
Zugang zu den meiste» männliche» Berufsarten verbiete, und daß den Anforde¬
rungen dieser besondern Natur auch schon die Erziehung der Mädchen angepaßt
sein müsse. Er verwirft daher das amerikanische System, Knaben und Mädchen
von der untersten bis zur höchsten Stufe gemeinsam zu unterrichten, obwohl es
von vielen Pädagogen gerade auch wegen der sittlichen Wirkungen, die es angeblich
hervorbringt, sehr gelobt wird.
Dr. pdil. Vor kurzem war in den Zeitungen eine Er¬
örterung zu lesen über den zopfigen Gebrauch „überflüssiger Titulaturen, wie:
Hochwürden, Hochehrwürden, Hochgeboren, Hochwohlgeboren, Wohlgeboren und
dergleichen mehr." Die Behörden, hieß es, müßte» mit oller Energie dagegen
zu Felde ziehen und sich das Beispiel zum Muster nehmen, das zwei Stadt¬
schulräte in einer Verfügung gegeben hätten. Diese Verfügung lautete nämlich:
„Die Herren Schulleiter veranlassen wir hierdurch, gefälligst in Zukunft sich so¬
wohl selbst in deu Schreiben an uns jedes Zusatzes zu unsrer Adresse, wie »Hoch-
wohlgeboren« oder »Wohlgeboren,« beziehungsweise »Dr. phil,,« durchaus zu
enthalten, als auch das Kollegium der ihrer Leitung unterstellten Schule mit ent¬
sprechender Anweisung zu versehen."
Es ist ein komisches Mißgeschick, daß sich in dieser gegen einen Zopf ge¬
richteten Verfügung selbst zwei Zöpfe finden: die an dieser Stelle recht unnötigen
Gänsefüßchen: „Hochwohlgeboren" n. s. w., und das schleppende Kanzleiwort
„beziehungsweise" (statt des einfachen oder). Darf man hieraus schließen, daß
wir Deutschen nun einmal ohne Zöpfe nicht leben können?
Aber was für eine Logik auch! Seit wann ist Dr. xliil, ein Zusatz zu einer
Adresse, der sich mit Wohlgeboren auf eine Stufe stellen läßt? Wenn die beiden
Schulrnte, wie mau annehmen muß, Doktoren der Philosophie sind, so hat jeder,
der um sie schreibt, nicht bloß die moralische Verpflichtung, sondern auch das un¬
bestreitbare Recht, Herrn Schulrat I)r. N N zu schreiben. Es ist sehr sonderbar,
sich die Anrede mit einem akademischen Titel, den man dnrch seine Arbeit und
sein Geld erworben hat, zu verbitten. Will man nicht Doktor genannt sein,
warum hat mau sich prvmoviren lassen? Die Berechtigung der Universitäten, den
Doktortitel zu verleihen, sodaß er dauernd zum Name» einer Person gehört, ist
vom Staate anerkannt, und wenn die eine Behörde ihren Untergebnen verbietet,
den Dr. plin. der Adresse hinzuzusetzen, während die andre Behörde die unberech¬
tigte Führung des Doktortitels mit Strafe belegt, fo geraten doch die Behörden
unter einander in merkwürdigen Widerspruch.
Vielleicht hat man nnn anch an einen persönlichen Verzicht auf den Titel
gar nicht gedacht, sondern nnr gemeint, daß er zum Amte in keiner Beziehung
stehe. Lehrer hier, Schulrnt da! Was geht es den Lehrer an, daß sein Schul-
rat Dr. xlul, ist? Aber warum, fragen nur dann, soll das rein amtliche Ver¬
hältnis so hervorgekehrt, und warum soll jedes andre Verhältnis abgewiesen
werden? Es geht doch zu weit, wenn ein Lehrer, bloß weil er sich gegen seinen
Vorgesetzten neben dem Amts- noch des akademischen Titels bedient, in den Ver¬
dacht kommt, sich nicht streng dienstlich zu Verhalten.
Die Sache hat aber noch eine andre Seite. Man geht wohl nicht fehl, wenn
man annimmt, daß ein Vorgesetzter, der Von seinen Untergebnen nur mit seinem
Amtstitel genannt sein will, von oben nach unter ebenso verfährt. Nun mag der
Doktortitel in den Augen eines Rats oder eines Direktors etwas nebensächliches
sein, er ist es aber keineswegs bei allen Leuten und am wenigsten bei solchen
Schulmeistern, die weiter keinen Titel als den ehrenvollen eines philosophischen
Doktors haben. Oder sind wir in der Gleichmacherei wirklich schon so weit ge¬
kommen?
Bei dieser Gelegenheit sei gleich noch des sonderbaren Gebrauchs gedacht, der
sich in manchen sogenannten Schulnachrichten eingeschlichen hat. Da werden die
sämtlichen am Unterricht beteiligten „Persönlichkeiten" in der Übersicht der Stunden¬
verteilung in einer Reihe aufgezählt, etwa in folgender Weise: 1. Meyer, 2. Weber,
3. Müller I, 4. Müller II. 5. Schultz I. 6. Schultz II u. s. w. Was soll das?
Warum sucht man nicht vielmehr die Personen auf alle Weise, durch Hinzufügung
ihres Vornamens und, wenn sie ihn haben, des Doktvrtitels, zu unterscheiden?
Sollte etwa wegen der „Größe" der Anstalt der Direktor nicht imstande sein, die
Vornamen u. s. w. alle zu wissen?
Die Verbreitung des Dr. pini. wird mit der Zeit zurückgehen, und zwar
um so mehr, je mehr die Amtstitel Professor, Oberlehrer u. s. w. aufkommen, und
je mehr das jüngere Geschlecht die Wichtigkeit von materiell guten Lebensbedin-
gungen würdigen lernt und die broteinbringende Staatsprüfung dem brodlosen
I)r. pulk. vorzieht. Bis dahin aber hat niemand, auch ein Vorgesetzter nicht, das
Recht, einem, der sich diesen Titel erworben hat, ihn zu verweigern.
Das Biologische Zentralblatt, heraus¬
gegeben von Professor Dr. I. Rosenthal in Erlangen, enthält einen ausführlichen
Aufsatz über die Pharnoameise. verfaßt von öl'. I. Ritzema Bos, in dem sich
unter vielen andern auch folgende Sprachblüten finden:
„Daher sind die Küchen und die Bäckereien für(!)das lästige Hausungeziefer
die am meisten gesuchten Aufenthaltsorte."
„Daß die Bewohner sich genötigt sahen, alle Eßwaren ans der Küche und
dem Speicher fortzunehmen und sie aufzubewahren im Keller."
„Wo sich die Insekten bis damals noch nur wenig zeigten."
,.Knochenstückchen aus gebratenem Fleische."
„nachdem der Köder niedergelegt wurde.""
„um den Ameisen den Zutritt zu geben.
„Ihr Sämtliches Gewicht" (statt gesamtes; bezieht sich auf „ein Tausend
Pharavameisen").
„Wenn man kein Stückchen Speise in den Mund bringen kann, ohne das¬
selbe aufmerksam zu besehen, ob Ameisen an demselben sich finden — wenn
man keinen Löffel Zucker in den Thee werfen kann, ohne vorher die kleinen In¬
sekten hinauszujageu."
„Beulenfvrmiges Anschwellen der Haut."
„Die Übersetzung des von Linus gegebnen Speziesncnnen."
„Riley meint, Linum habe dieser Spezies den Namen gegeben, weil er dächte,
sie habe bei den Eghptischen Plagen eine Rolle gespielt; aber die Bibel giebt
unter den bekannten Eghptischen Plagen wohl das Auftreten von Läusen und von
Heuschrecken, nicht aber eine Ameisenplage."
„Ameisen, welche die zwei ersten Hinterleibsglieder schmal und knoten-
förmig haben und im weiblichen Geschlechte eine Angel besitzen."
Diese Proben finden sich auf vier Oktavseiten! Später kommt noch „das
Morgenland, als Ursprung dieses Tieres" vor, und Karl Vogts eigentümlicher
Witz, „der bekanntlich diejenigen gar nicht spart, welche nicht mit ihm derselben
Meinung sind."
Daß der Verfasser, der in den Niederlanden lebt, offenbar des Deutschen
nicht genügend mächtig ist, kann hier nicht in Betracht kommen. Es handelt sich
darum, daß die Redaktion einer nngesehnen wissenschaftlichen Zeitschrift, zu der
angesehne Gelehrte gehören, gegen die Sprachfvrm ihrer Veröffentlichungen gleich-
giltig genug ist, um solches Deutsch unverändert zum Abdruck zu bringen. Es
wäre eine Pflicht nicht bloß gegen ihre Leser, sondern auch gegen den Verfasser ge¬
wesen, wenigstens die nötigsten Verbesserungen vorzunehmen. Leider ist die hier
bewiesene Gleichgiltigkeit keine vereinzelte Erscheinung, sondern nimmt in der fnch-
wissenschaftlichen Litteratur immer mehr überHand. Wenn das so weiter geht,
Wird es mit der Zeit einem Gelehrten überhaupt unmöglich werden, sich verständ¬
lich und richtig auszudrücken; denn wenn man fortwährend gezwungen ist, solches
Zeug zu lesen, muß man ja zuletzt selber ganz abgestumpft und irre werden. Es
ist ohnehin schon dahin gekommen, daß Geschmack zu zeigen gewöhnlich für „un¬
wissenschaftliche gilt.
An mancherlei gewöhnt man sich im Gasthausleben. Man
erstaunt nicht mehr, wenn der Kellner den Dank fürs Trinkgeld als etwas Über¬
flüssiges verschmäht, man regt sich über den Tabaksgualm im Speisaal schon längst
nicht mehr auf, und man würde sich höchlich wundern, wenn sich der feine Herr
„Traiteur," der so unvergleichliche Verbeugungen zu machen, aber die Vornehm¬
heit eines höhern Ministerialbenmten nur dürftig zu kopiren versteht, herabließe,
einen von den Kellnern vernachlässigten Gast selbst zu bedienen. Wie gesagt, daran
gewöhnt man sich und lernt es als „kulturelle" Errungenschaften schätzen. Über
eins jedoch komme ich nicht hinweg. Wenn nur den Berichten älterer Leute Glauben
schenken dürfen, so war es früher, als mau noch uicht soviel „Bildung" hatte,
Sitte, im Gasthaus den zu grüßen, an dessen Tische man sich niederließ. Heute
ist das überflüssig. Nichts ist spaßhafter, als die krampfhaften Manipulationen zu
beobachten, die in norddeutschen Wirtshäusern die Gäste macheu, um einander nicht
zu grüßen oder gar mit einander zu spreche«. Sind zwanzig Tische im Restaurant
und zwanzig einander unbekannte Gäste, so sitzt jeder dieser Gäste für sich an einem
Tisch. Nun kommt der Einundzwanzigste. Der Unglückselige! Er ist thatsächlich
genötigt, sich an einen Tisch zu setzen, an dem schon ein andrer sitzt. Am liebsten
ginge er wieder hinaus. Mit finstern Mienen mustern die zwanzig Gäste den
neuen Ankömmling, und ans jedem Gesicht liest man die bange Frage: Ob er sich
wohl zu mir setzen wird? Der Einundzwanzigste durchstöbert inzwischen das ganze
Lokal, um einen einundzwanzigsten Tisch zu entdecken. Vergeblich! Er laßt sich
also notgedrungen an einem schon „besetzten" Tische nieder. Der andre wirft ihm
verstohlen einen Blick zu, als gälte es, den Mörder seines Familienglücks tötlich
zu treffen, dann hält er schnell ein Zeitungsblatt vors Gesicht. Der Ankömmling
aber ignorirt das Gegenüber vollständig und thut, als ob er eben an einer wüsten
Insel gestrandet wäre. Will es nun das Verhängnis, daß er essen möchte, und
daß die Speisekarte gerade beim Gegenüber liegt, dann sucht er sie diesem entweder
wegzueskmnotiren, oder er beauftragt den Kellner, sie ihm zu reichen.
Um nicht zu übertreiben: es giebt auch noch einige Mindergebildete, die ihre
Mitgäste höflich begrüßen. Aber diese unzeitgemäßer Leute sind im Aussterben
begriffen. Was mich betrifft, so wünsche ich nichts sehnlicher, als meine altfränkischen,
lächerlichen Gewohnheiten recht bald abzustreifen und auch in dieser Hinsicht ein
Mensch „auf der Höhe des Jahrhunderts" zu werden.
Allgemeine Weltgeschichte. Von Theodor Flathe, G, F. Hertzberg, Ferd. Justi,
Hans Prutz, von Pflngk-Hcirttunq, M. Philippson. Mit kulturhistorischen Ab¬
bildungen, Porträts, Beilagen und Karten. Berlin, G. Grote, 1334 bis 18V2
Was soll ich mir für eine Weltgeschichte kaufen? Das ist eine Frage, die dem
Geschichtslehrer von Alt und Jung oft vorgelegt wird, und die Antwort ist nicht
eben leicht: es kommt auf die Bedürfnisse des Frngstellers an, ob er mehr ein
kurzes, übersichtliches Handbuch oder eine eingehende Darstellung braucht; und
oft spielt auch der Preis eine wichtige Rolle. Denken wir uns nun aber Leser,
die sich eine ausführliche, tiefer in das Wesen der Ereignisse hineinführende Er¬
zählung wünschen, die zugleich den neuesten Stand der Forschung wiederspiegeln
soll, und die außerdem auf gute Abbildungen Gewicht legen, so wüßten wir diesen
nichts besseres zu empfehlen, als die vom Grvtischen Verlag nun zum Abschluß
gebrachte, zwölf Text- und einen Registerband umfassende „Allgemeine Welt¬
geschichte."
Ein einzelner Gelehrter ist heute wohl kaum mehr imstande, den ganzen un¬
geheuern Stoff der Weltgeschichte mit einiger Selbständigkeit wissenschaftlich zu
durchdrungen. Deshalb ist die Arbeit hier unter sechs Historiker in der Weise
verteilt worden, daß Justi die Völker des alten Orients, Hertzberg die Griechen
und Römer, Harltung die ersten Jahrhunderte des Mittelalters bis 758, Prutz
den Rest des Mittelalters, Philippson die Neuzeit bis 1789, Flathe die Geschichte
der letzten hundert Jahre (1789 bis 1883) behandelt hat. Alle diese Gelehrten
haben sich schon durch beachtenswerte Leistungen darüber ausgewiesen, daß sie die
von ihnen übernommnen Partien wissenschaftlich beherrschen. Hertzberg und Prutz,
bis zu einem gewissen Grade mich Justi, Philippson und Flathe, haben als Mit¬
arbeiter an der großen, bei Grote erschienenen „Allgemeinen Geschichte in Einzel¬
darstellungen" über die von ihnen auch jetzt wieder bearbeiteten Gebiete geschrieben;
sie haben aber natürlich für die „Weltgeschichte" einen neuen Text verfaßt, der
etwas kürzer gehalten ist als der frühere; und da z. B. Hertzbergs erste Bearbei¬
tung 1879, die zweite 188ö erschien, so war von selbst Gelegenheit zu manchen
Nachträgen und Berichtigungen gegeben; bei Prutz beträgt der Unterschied vier
Jahre (l887 und 1891), bei Flathe fünf (1833 und 1888). Daneben haben
die Verfasser überall ihr Augenmerk nicht bloß auf die politische, sondern auch auf
die wirtschaftliche und die geistige Entwicklung gerichtet; namentlich tritt dies bei
dem ersten Bande hervor, in dem wir von Justi eine sehr anziehende und lehr¬
reiche Darstellung der orientalischen Kulturwelt empfangen; die Ägypter, Assyrier
und Babhlonier sind mit gleicher Sachkunde behandelt, wie die Perser und Jndier.
Bei diesem Teile des Werks sind natürlich die Abbildungen besonders wichtig
und auch besonders zahlreich; Landschaften, Szenen aus dem täglichen Leben der
Völker, Bauten, Porträts der Hauptpersonen der Geschichte (Ramses II., Tiglat-
pileser, Kyros, Dareios III., Tigranes, Arsakcs I. u. s. w.) werden in muster¬
hafter Wiedergabe vorgeführt; besonders erwähnt sei die Abbildung des berühmten
dreisprachigen Steins von Rosette, dessen Auffindung im Jahre 1799 bekanntlich
die Möglichkeit gab, das Geheimnis der Hieroglyphenschrift zu enträtseln. In den
spätern Bänden tritt natürlich die Illustration etwas zurück, aber auch hier dient
sie überall wirklicher Belehrung, «ameutlich die zahlreichen Porträts; neben ihnen
finden sich aber auch Ansichten von Städten, Wiedergaben alter Drucke, Faksimiles,
Siegel u. dergl., wogegen auf Darstellungen ans der Kunstgeschichte selbst, z. B.
in dem Abschnitt über die Renaissance, Verzicht geleistet ist. Hier ließe sich in einer
zweiten Auflage vielleicht etwas mehr thun.
Von dem Text einer „Weltgeschichte" verlangen wir vor allem Unparteilich¬
keit und Objektivität, das Bestreben, jede Zeit aus ihr selbst heraus zu beurteilen
und sie uicht mit fremdartigen Maßstäben zu messen; sodann fordern wir Ver¬
ständnis für die unveräußerlichen Grundlagen einer gesunden nationalen Entwick¬
lung. So viel wir sehen, entsprechen die Verfasser alle diesen Anforderungen.
Prutz tritt z. B. (V 31ö) nachdrücklich der im Aufklärnngszeitnlter ausgebrachten
Ansicht entgegen, als ob Gregor VII. ein nur von Selbstsucht und Eigennutz ge¬
leiteter Ränkeschmied, el» Lügner und Betrüger gewesen sei; er erkennt an, daß
es ihm mit dem, was er als göttliches Recht der Kirche in Anspruch nahm, hei¬
liger Ernst war, und daß er dabei einem himmlischen Gebote zu folgen glaubte.
Andrerseits hebt er (V 328) hervor, im Gegensatz zu den ultramontane» Histo¬
rikern, daß Heinrich IV. durch die Macht der Dinge selbst gezwungen wurde, den
Kampf mit Gregor VII. aufzunehmen, der seine Forderungen ins Ungemessene
steigerte. An Luther erkennt Philippson (VII 17) in schönen Worten seine Wahr¬
haftigkeit und Aufrichtigkeit an, und wenn die religiös-theologische Würdigung des
Reformators vielleicht etwas zu sehr zurücktritt, so ist doch die Grundauffassung
richtig, ebenso wie Karls V. geschichtliche Rolle (VII 213) sehr gut in die Worte
zusammengefaßt wird: „Er versuchte die Weltgeschichte zur Umkehr zu nötigen."
An der Darstellung Flaches hat uns vor allem der energische nationale Sinn ge¬
fallen, der das Ganze bis herab zum Jahr 1888 durchdringt.
An dem Einzelnen eines so umfassenden Werkes zu mäkeln, hätte an dieser Stelle
keinen Zweck. Es ist hier eine Weltgeschichte geboten, wie wir sie bis jetzt noch
nicht gehabt haben: möge sie ihren Weg in viele Häuser finden. Geschichtskenntnis,
die zu so vielen Dingen nütze ist, würde dadurch in erfreulicher Weise verbreitet
werde».
In den Leipziger Neuesten Nachrichten, Ur. 236, lesen wir folgenden Blödsinn:
„Die Grenzboten haben vor einiger Zeit einen Artikel zu Gunsten der Wiederznlassnn g
der Jesuiten gebracht. Die genannte Wochenschrift steht im allgemeinen auf einem gemäßigt
konservativen, jedoch sozialreforinerischen und jedenfalls gut protestantischen Standpunkt. Der
Artikel, der nicht ohne Eindruck geblieben ist, mußte in diesem Blatte überraschen. Jetzt ent¬
hüllt der altkntholische Deutsche Merkur, der mit den Pcrfoualverhaltnissen mancher Jesuiten
wohl vertraut ist, daß der Artikel von einem Jesuiten in die Grenzboten lancirt
worden sei."
Es gehört eine starke Portion Dummheit dazu, den fraglichen Artikel dahin miß-
zuverstehen, daß er „zu Gunsten der Wiederzulassnug der Jesuiten" geschrieben sei. Es ge¬
hört eine noch stärkere Portion Dummheit dazu, darin ein Jesnitenmachwerk zu sehen. Und
bei Leuten, die in der Nähe der Grenzboten wohnen, verrät eS eine geradezu polizeiwidrige
Dummheit, wenn sie sich einbilden, wir würden uus etwas „laucireu" lassen. Bestelle haben
wir uns den Artikel, als Katerfrühstück für gewisse jammernde alte Weiber, die sich für tapfere
Protestanten halten, und zwar bei einem ständigen Mitarbeiter, mit dem wir die Form in
längerm Gedankennnstausch festgestellt haben. Wie richtig wir die Jesuitophoven taxirt haben,
zeigt die vorliegende kindische „Eathüllnng." In Zukunft müssen wir eben, sollten uns die
Umstände noch einmal auf das Thema fuhren, noch etwas derber und deutlicher reden.
Es giebt gewisse Persönlichkeiten, denen man in deu Zeitungen stets mit dein Zusatz
„der Afrikareisende" begegnet. Ohne diesen Zusatz würden allerdings die meisten Leser gleich-
giltig über den Namen hinwegsehen. Wie kommt nun jeniaud, der weder lange noch weit
in Afrika gewesen ist, dazu, Afrika reisender genannt zu werden? Sein Bern f oder feine
Beschäftigung in Europa kann doch nicht „Afrikareisender" sein? Oder ist das ein neuer
Titel, der etwa eine Stufe höher steht als „Professor"? Dann sollte die Presse etwas vor¬
sichtiger in der Verleihung dieses Titels sein.
An der Stelle, wo die Straße vou Kiel nach Eckernförde den Eiderkcmal (jetzt Nord¬
ostseekanal) schneidet, unweit des Dorfes Sachsdorf, steht auf einer Warnungstafel buchstäblich
folgende
Bekanntmachung.
1. Ohne ein vorher abseiten des Brückemueisters dessnlls gegebenes Zeichen darf bei
Niederlassung der Brückenklappen Niemand anfahren.
2. schnelles Fahren und Reiten über die Brücke ist bei einer Brüche von 4,50 M.,
sowie Ersetzung jeglichen in Folge dessen etwa angeursachten Schaden Verbote».
Bon Canalpolizeiwegen.
An die „verehrlichen Redaktionen" wird soeben von Berlin ans folgendes Zirkular
verschickt:
Ich erlaube mir, Ihnen die Mitteilung zu machen, daß am 1. Oktober d. I. das erste
Hest eines neuen journalistischen Unternehmens, von mir herausgegeben und redigirt, er¬
scheinen wird. Es ist eine dem wertvollern Teil der belletristischen Produktion gewidmete
Wochenschrift. Daß sie im besten und vornehmsten Sinne geplant ist, werden Sie daraus er¬
sehn, daß Verleger und Eigentümer der altberühmten I. G. Cottaschen Buch¬
handlung Nachfolger in Stuttgart sind. Es wäre mir angenehm, wenn Sie von dieser
Mitteilung in passender (!) Weise Gebrauch für Ihr geschätztes Blatt machen wollten. Zu¬
gleich bemerke ich, daß ich nicht verfehlen werde, Ihnen weitere Nachrichten zugehn zu lassen
und Ihnen das erste Heft, sowie es die Presse verlassen sncimlich hat), sofort zur Verfügung
zu stellen. Sollten Sie es für angezeigt (!) halten, Ihre Leser von dem demnächstigen (!) Er¬
scheinen der neuen Zeitschrift zu unterrichten, so würden Sie mich besonders verpflichten,
wenn Sie nur die betreffende Nummer Ihres Blattes übersendeten. Mit ausgezeichneter
Hochachtung Ihr sehr ergebner Otto Neumann-Hofer.
Nach dieser Stilprvbe scheint ja die neue Zeitschrift etwas ganz Ausgezeichnetes zu
werden. Namentlich der merkwürdige Umstand, daß der Verleger und der Eigentümer in
Stuttgart das Gewerbe eines Nachfolgers betreiben, ist sehr vielversprechend.
Karl Proll, der Erfinder der „Erstblüten," hat am 25. Angust d. I. im Generalauzl-iger
für Elberfeld-Barmer abermals eine Skizze veröffentlicht, betitelt: „Die vergessene Rose,"
worin folgender Satz vorkommt: „Lina darf mir, wenn sie unzufrieden mit mir ist, später
vorweisen die verwelkten Blätter der vergessenen Rose." Die hebräische Wort¬
stellung scheint auch unter Nichthebrüeru immer mehr in Übung zu kommen. In Beziehung
ans die persönlichen Fmwörter, uanicntlich die Reflexiva, ist sie vou einer bekannten Berliner
Wochenschrift, der Zukunft, schon offiziell eingeführt, derart, daß alle Mitarbeiter nach dieser
Richtung „verbessert" werden.
Die erwähnte Skizze des Herrn Pröll enthält übrigens auch das geschmackvolle Wort
„Steijbrust" (womit ans geistreiche Weise ein geplättetes Hemd bezeichnet wird), spricht vou
einem „dunkelen (!) Grnnde," in dem „ein Mühlenrad geht," und von einem „Geärgerten, dem
es am ganzen Körper zu jucken begann." Am Kopfe'erlegt die Skizze die Bemerkung: „Nach-
druck verboten." Das ist jedenfalls das beste dran.
s sind jetzt fünfzehn Jahre vergangen feit den Sommer-
tagen des Jahres 1878, wo durch ganz Deutschland, ja durch
Europa ein Sturm des Entsetzens und der Entrüstung fuhr
nach den beiden Attentaten auf das Leben unsers großen und
guten Kaisers Wilhelm. Damals wurde ein Wort des Kaisers,
gesprochen unter dem tiefen, ernsten Eindruck, deu die Ereignisse bei ihm her¬
vorgerufen hatten, ein Wort, schlicht und wahr, wie sein ganzes Wesen,
unznhligemale wiederholt, von den verschiedensten Menschen, in den verschie¬
densten Kreisen, das Wort: „Es muß wieder mehr Religion ins Land!"
Wie ist es nun nach fünfzehn Jahren? Ist unser Land in dieser Be¬
ziehung so viel weiter gekommen, daß dieses Wort jetzt überflüssig geworden
wäre? Es wird wohl niemand so optimistisch sein, auf diese Frage mit einem
unbedingten Ja zu antworten. Aber etwas anders wird es, wenn wir fragen,
in welcher Weise denn eine religiöse Bewegung in unserm Lande vor sich gehen
müßte, von wem sie ausgehen, wo sie ansetzen, in welcher Weise und zu welchem
Zwecke sie wirken sollte. Es ist zu fürchten, daß in Beziehung auf tieferes
Eindringen in den Sinn und Wert dieses viel wiederholten Wortes große Un¬
klarheit herrscht.
Zunächst: von wem soll religiöse Vertiefung und Erneuerung ausgehen?
Von der Kirche? Vom Staate? — Wir antworten: von jeder einzelnen Seele.
Was hilft uns eine äußerlich durchgeführte Reform, wenn die Herzen nicht
dabei siud? Worin besteht und lebt denn die Religion eines Volkes überhaupt,
wenn nicht in jedem einzelnen Gemüte? Nicht im Volke als solchen, wie z. B.
Vaterlandsliebe, Heimatsgefühl u. dergl., nein, sie ist etwas durchaus Per¬
sönliches. Nur ein persönliches Ergriffensein und Durchdrungensein jedes ein¬
zelnen von der Wichtigkeit, die die Forderung der religiösen Vertiefung für
ihn selbst hat, kann im ganzen helfen. Diese Auffassung bringt uns dazu,
die andern Fragen zu beantworten. Wenn jeder einzelne für sich selbst thätig
sein soll und wird, so brauchen wir nicht eine geräuschvolle Wirksamkeit äußerer
Reformen, sondern in dem innern Leben des einzelnen, aber auch in seinem
ganzen Innern, muß diese Reform vor sich gehen. Und in welcher Weise?
Wir denken dabei nicht an Zeiten der „Bekehrung" und „Erweckung," wie bei
Savonarolas Predigten, wie bei Cromwells düster glühenden Reden, nicht an
Kreuzfahrer- und Flagellanteneifcr. Nein, die Erkenntnis der einzelnen Seele,
daß nicht nur uns (dazu versteht man sich schon, um dann heimlich sich selbst
aufzunehmen, gleichsam durch die Hinterthür zu entschlüpfen), daß mir etwas
fehlt, die muß zur stillen Einkehr bei sich selbst treiben, zur Selbstprüfung,
zum Suchen nach Erkenntnis, zum Streben nach Forderung. Wie und worin
diese zu finden sind, das führt uns auf unsre eigentliche, große Frage.
Zunächst müssen wir noch einen Umstand ins Auge fassen. Carlhle sagt
einmal (in seiner Olmi-g-ctgri-zrio, jener ernsten, düstern Weissagung für unser
Jahrhundert): „Die Wahrheit wird nicht mehr geliebt, weil sie Wahrheit ist,
sondern sofern sie Erfolg verspricht." In diesem Sinne haben die meisten, bei
weitem die meisten, jenes Wort, jene Forderung der Religion für unser Land
angerufen und angeschrien: nur insofern die Religion Erfolg versprach für
die Zügelung und Bändigung der Massen, uur insofern hatte sie Wert. Daß
der Inhalt und das Wesen der Religion Wahrheit ist — sein soll, wollen
wir wenigstens sagen —, daß, wie Schopenhauer es schön ausdrückt,") jede
Religionsform das Gefäß ist, worin der kostbare Inhalt der Wahrheit von
Jahrhundert zu Jahrhundert, von Volk zu Volk weiter überliefert wird, und
daß man die Wahrheit um ihrer selbst willen liebt und sucht, das scheint bei
uns sehr vergessen zu sein. Nein, darum „muß Religion ins Land," weil
allerdings keine sittliche Erneuerung möglich ist ohne die geistige (die Meta-
phhsik geht der Ethik voran), weil aber auch die sittliche Erneuerung nicht der
einzige Zweck ist, dem die geistige Erneuerung nur als Mittel dienen müßte,
sondern weil der erste, höchste Zweck jedes Menschenlebens das Streben nach
Wahrheit ist. Jeden Versuch, den Wert einer Wahrheit nach ihren praktischen
Erfolgen abzumessen, müssen wir mit dem Schillerschen Worte zurückweisen:
„Wer um die Göttin freit, suche in ihr nicht das Weib."
Nun wird man uus vielleicht zugeben, das sei ja alles gut und schön,
der unbedingte Wert des Strebens nach Wahrheit, die Bedeutung der geistigen
Entwicklung für das sittliche und materielle Leben eines Volkes solle nicht
unterschätzt werden; aber ob es denn gerade die Religion sei, die solche geistige
Entwicklung am wirksamsten unterstütze, das sei doch sehr zweifelhaft. Man
beruft sich dann ans mancherlei geschichtliche Beispiele, namentlich innerhalb
der römisch-katholischen Kirche, wie das Streben nach Wahrheit gerade durch
die Kirche bekämpft und gehindert wurden sei. Durch die Kirche allerdings
und im Namen der Religion. Aber nicht die Religion war es, die dem
Wahrheitstriebe, als mit ihr unverträglich, entgegentreten müszte, sondern
Herrschsucht, Fanatismus, Kurzsichtigkeit und Eigensinn, die sich hinter dem
undurchdringlichen Schilde der Unfehlbarkeit göttlicher Gebote und Offen¬
barungen verbargen — die waren es, die den Kampf gegen die Wahrheit
führten —, menschliche Schwächen und Niedrigkeiten, die so recht unsrer tie¬
rischen Natur angehören. Freilich, damit verträgt sich das Wesen der Wahr¬
heit nicht, aber damit verträgt sich das Wesen der wahren Religion ebenso
wenig. „Gott ist ein Geist, und die ihn anbeten wollen, die müssen ihn im
Geist und in der Wahrheit anbeten" — in diesem Worte Christi ist das Wesen
der Religion in der edelsten und erhabensten Weise ausgedrückt.
Als Antwort auf die geschichtlichen Beispiele unsrer Gegner könnten wir
sogar einen geschichtlichen Gegenbeweis bringen. Wenn man uns den un¬
bedingten Wert der Wahrheit zugestand, so geschah es doch mit dem Zusätze,
die Religion, der Glaube sei eS nicht, den wir zu ihrer Erfassung bedürften;
die Wahrheit beruhe ja nur im Denken, sei nur im Denken erreichbar, man
möge also die Forderung des Glaubens lieber in die des Denkens umwandeln.
Nun sagt Feuerbach einmal nicht unzutreffend von Hegel, er habe seiner Zeit
den kategorischen Imperativ: Denkt! zugerufen. Seine Zeit hat ihn gehört
und beherzigt, aber wohin hat uus die Denkvergötterung, zu der die „Hegelei"
schließlich ausartete, geführt? Die in unsrer Zeit vorzugsweise den Wert des
Denkens gegenüber dem Glauben betonen, die Anhänger der induktiven Me¬
thode, die werden die letzten sein, solchen Ergebnissen zuzustimmen. Oder, wenn
wir uns um hundert Jahre zurückdenken, wann war die Parole „Denkt!"
energischer gegen den Glauben ausgerufen, als von der französischen Anfklü-
rnng, von den Encyklopädisten! Zunächst entwickelte sich daraus der Sensua¬
lismus, und dann, als das Volk begann, seine Folgerungen zu ziehen, die
Revolution. Man soll sich freilich hüten, nach den äußerstem Folgerungen, die
aus einer Lehre oder einem Grundsatz gezogen werden können, ihren Wert
oder Unwert zu beurteilen; immerhin aber dürfen wir diese Erwägungen geltend
machen gegen die entsprechenden Angriffe der Freidenker auf die Religion.
Nun werden wir aber die ungeduldige Frage hören, was wir denn
eigentlich wollen? Was nach unsrer Ansicht die Religion leisten könne für
freie Geistesentwicklung? Wie sie den geistigen Mängeln unsrer Zeit entgegen¬
arbeiten könne? Wir haben im Verlaufe unsrer Betrachtungen zuweilen statt
Religion das Wort Glauben gebraucht, gegenüber dem Denken, das Wissen
und Erfahrung zum Zweck hat. Wir fürchten nicht, daß man dieses viel
mißbrauchte und mißdeutete Wort wie so oft mit einem mitleidigen Achsel-
zucken abfertigen werde, wenn wir ihm ein andres an die Seite stellen,
um zu erläutern, was wir meinen, ein Wort Goethes: „Die Natur hat jedem
alles gegeben, was er für Zeit und Dauer nötig hätte; dies zu entwickeln ist
unsre (der Erzieher) Pflicht. Aber eines bringt niemand mit ans die Welt,
und doch ist es das, worauf alles ankommt, damit der Mensch nach allen
Seiten zu ein Mensch sei: es ist die Ehrfurcht. Der Natur ist wohl Furcht
gemäß, Ehrfurcht aber nicht. Man fürchtet ein bekanntes oder unbekanntes
mächtiges Wesen; der Starke sucht es zu bekämpfen, der Schwache zu ver¬
meiden, beide wünschen, es los zu werden, und fühlen sich glücklich, wenn ihre
Natur zur Freiheit und Unabhängigkeit sich einigermaßen wieder herstellt. Der
natürliche Mensch wiederholt diese Operation millionenmal in seinem Leben:
von der Furcht strebt er zur Freiheit, aus der Freiheit wird er in die Furcht
getrieben und kommt um nichts weiter. Sich zu fürchten ist leicht, aber be¬
schwerlich; Ehrfurcht zu hegen ist schwer, aber bequemt) Ungern entschließt
sich der Mensch zur Ehrfurcht, oder vielmehr, er entschließt sich nie dazu; es
ist ein höherer Sinn, der seiner Natur gegeben werden muß. Hier liegt die
Würde, hier das Geschäft aller echten Religion."
Was Goethe hier als Ehrfurcht bezeichnet, das ist nichts andres, als das,
was den Kern und das Wesen des Glaubens ausmacht. Das unauslöschliche
Bewußtsein des Vergänglichen und Unzulänglichen in uns selbst und allen
unsern Leistungen gegenüber dem Ewigen, Unendlichen, die tiefe Sehnsucht des
Menschenherzens nach Erhebung und Veredelung, die nur in dem Höchsten
ihre Befriedigung finden kann, das Gefühl der seinsollenden Einheit mit ihm
und der thatsächlichen Entzweiung unsers Wesens mit ihm und dadurch mit
sich selbst, das Verlangen nach der vollkommnen Wiederherstellung dieser Ein¬
heit im Deuten und Handeln — ist es nicht das, was in dem Begriff Glauben
enthalten ist, und was dem Goethischen Begriff Ehrfurcht entspricht?
Nach dieser Berufung anf Goethe und der Darlegung dessen, was wir
für das Wesentlichste im Glauben halten, werden wir freilich eben so viele
Gegner unter deu „Gläubigen" finden, wie vorher unter den Freidenkern. Es
würde zu weit führen, wollten wir hier eine gründliche Auseinandersetzung
versuchen über das Verhältnis zwischen dem Wesen des Glaubens und seinem
Inhalt, das ist für uns: den christlichen Religionswahrheiten. Auch wird eine
solche Auseinandersetzung mit Naturnotwendigkeit stets etwas Subjektives an
sich haben. Denn da es sich um Wahrheiten handelt, die nicht bewiesen werden
können und sollen, sondern geglaubt, mithin nicht um Objekte, die uns in der
Erfahrung gegeben werden können, so ergiebt sich daraus von selber, daß hier
keine objektive Bestimmung möglich ist. Ja wir möchten sogar so weit gehen,
anzunehmen, daß sich in jedem einzelnen Subjekt, auch unter den „Gläubigen,"
d. h. den streng dogmatisch kirchlich Gläubigen, der Inhalt des Glaubens
verschieden darstellt, entsprechend den subjektiven Verschiedenheiten in der An¬
lage des Gemüts noch mehr als des Geistes. Dagegen muß das Wesen des
Glaubens, die Art und Weise, wie die Wahrheit — das Ideale — Gott —
kurz der Gegenstand der Ehrfurcht und Anbetung, ergriffen wird, wenn auch
dem Grade nach verschieden, doch wesentlich gleichartig sein, entsprechend den
allgemein giltigen psychologischen Gesetzen. Aber, wie gesagt, es ist hier nicht
der Ort und die Zeit für dogmatische Streitigkeiten, die überdies ein Wider¬
spruch in sich selbst sind, wie Kant in seiner „Kritik der reinen Vernunft" so
Prächtig ausgeführt hat. Möchten nur unsre Gegner auf der Rechten die
Ruhe und Geduld haben, nicht mit dem Schwerte dreinzuschlagen, sondern den
Glauben, der nicht eben so ist wie der ihrige, auch „an seinen Früchten zu
erkennen." Denn es ist traurig, die als unsre Gegner zu betrachten, die unsre
natürlichen Verbündeten sein sollten im Kampfe gegen den Unglauben oder,
was schlimmer ist, gegen die Gleichgiltigkeit. Und dies führt uns nach der
kurzen Abschweifung, zu der uns die erläuternden Bemerkungen über den Be¬
griff des Glaubens veranlaßten, wieder auf unser eigentliches Gebiet zurück.
Wir blieben bei der Frage stehen, was die Religion für die gesamte geistige
Ausbildung thun könne? Wir wollen diese positive Frage auch einmal in
negativer Fassung betrachten: Was wird aus dem geistigen Leben ohne Re¬
ligion? Wohlverstanden, wir reden hier ausdrücklich von geistigen Leben, nicht
vom sittlichen, das wir als etwas sekundäres nuseheu. Wenn wir die Frage so
stellen, so haben wir den Vorteil, das Feld der Doktrin zu verlassen und uns
ans den festen Boden der Erfahrung zu stellen. Wir wollen nicht näher eingehen
auf die allgemein menschlichen Erfahrungen, die uns die Geschichte im großen
liefert, daß jedes aufstrebende geistige Leben der Völker seine Wurzel hat in
dem tiefer empfundnen und deutlicher ausgeprägten Bewußtsein von etwas
Höherem, das unserm Sein und Denken erst Zusammenhang und Abschluß
giebt, zu dem wir uus in unmittelbarer Beziehung fühlen, in dein wir die
Verknüpfung und Erklärung aller Erscheinungen, ja auch aller Begriffe finden.
Wer von den Ergebnissen aller geistig und künstlerisch großen Perioden aus¬
geht, tiefer und tiefer hinabsteigt bis an ihre Wurzel, der wird sie hier finden,
so verschiedenartig auch die Formen sein mögen, die sich zu verschiednen Zeiten
und bei verschiednen Völkern daraus entwickelt haben. Dies nur nebenbei.
Wenn wir nun aber fortschreiten bis zu unserm Volke und zu unsrer Zeit,
was finden wir da? Mit tiefem Schmerze müssen wir uns gestehen, daß die
negative Fassung unsrer vorhin gestellten Frage hier am Platze ist: wir sehen,
was bei uns aus dem geistigen Leben wird ohne Religion. Daß es sich hier
nur um den Durchschnitt handelt, daß manche Kreise der Bevölkerung, na¬
mentlich der Landbevölkerung, ebenso wie auch die Mehrzahl der Frauen, nicht
mit unter dieses Urteil fallen, das versteht sich von selbst. Aber auf diese
kommt es auch im geistigen Leben nicht so sehr an; ihr Gebiet ist wohl das
der Verarbeitung und Ausgestaltung einmal lebendig gewordner Ideen, aber
nicht das der selbständigen, selbstthätigen Anregung, sei es in positivem oder
negativem Sinne. Um dieses Gebiet zu beurteilen, müssen wir auf den Durch¬
schnitt der männlichen Bevölkerung, vorzugsweise in den sogenannten „gebil¬
deten Kreisen," als solchen, von denen Anschauungen und Stimmungen in die
breitern Schichten des Volkes überzugehen pflegen, unser Augenmerk richten.
Und was finden wir da? Sicherlich keine aufsteigende Bewegung, keinen Zug
nach oben (vom religiösen Sinne ganz abgesehen), keine „Liebe der Wahrheit,
weil sie Wahrheit ist, sondern nur sofern sie Erfolg verspricht," Streben
nach geistigem Fortschritt mir zur Erreichung irdischer Ziele: Unabhängigkeit,
gesicherte Stellung, Karriere, materielle Güter. Was ist es denn, worüber
die Lehrer der Gymnasien und Universitäten hauptsächlich klagen bei der
jetzigen Jugend? Oberflächlichkeit und Genußsucht, Was stößt uns so zurück
an den meisten sogenannten „gebildeten" jungen Männern? Diese beiden
Grundzüge der Zeit. Wenn es so in den Kreisen steht, deren Berufsarbeit
die geistige Beschäftigung ist, was können wir dann von jenen verlangen, die
reale Ziele verfolgen, vom Kaufmnnnsstande. von Handwerkern und Arbeitern?
Was ist es denn, was den sozialdemokratischen Lehren Eingang verschafft im
Volke, und was ein Grundzug dieser Lehren selber ist? Oberflächlichkeit und
Genußsucht. Wer zu ungründlich ist, in den Sinn und Gehalt vvrgetragner
Phrasen einzudringen, sie auf ihre Folgerichtigkeit und Bedeutung zu prüfen,
wem die materiellen Güter den wahren Wert des Lebens ausmachen, wie
wollte der nicht eine leichte Beute sein für Lehren, deren Oberflächlichkeit sich
mit einem Scheine natürlichen Rechtes umgiebt, von denen der materielle
Genuß als höchstes Ziel und höchstes Motiv menschlichen Seins und Handelns
dargestellt wird! Aber wir können keinen Stein auf solche werfen, ohne uns,
die Vertreter der geistigen Interessen, selber zu treffen. Daß die Sache bei
jenen eine rohere Form annimmt, ist natürlich; das Wesentliche ist, trotz der
verschiednen Form bei Gebildeten und Ungebildeten, dasselbe. Übrigens, wenn
wir einen Blick thun in die neuesten litterarischen Erzeugnisse unsrer Zeit (die
doch der reinste Spiegel ihrer geistigen Richtung sein müßten), namentlich in
die sogenannte schöne Litteratur, die heute besser häßliche Litteratur heißen
könnte — da findet sich neben einer mitunter geradezu verblüffenden Ober¬
flächlichkeit des Gedankens wie der Form eine ganz ausgebildete Theorie, ja
ein Dogma der Genußsucht, das an innerlicher Roheit, trotz des feinern Fir¬
nisses, dem der untersten Klassen ganz ebenbürtig ist.
Und nun, nach Betrachtung der Sache, wo liegt die Ursache? Wir ant¬
worten: in der Glaubenslosigkeit. Daß diese zum Teil wieder ihre Wurzeln
im Materialismus hat, oder vielmehr mit ihm in Wechselwirkung steht, thut
nichts zur Sache; wir sprechen überdies hier nicht vom Materialismus als
wissenschaftlicher Theorie, sondern von der Geistes- und Gemütsrichtung ans
das Materielle. Man könnte nun einwerfen, das; der Mensch von Natur ein
Materialist sei, daß wir einmal Materie seien, daß mithin diese Richtung
„natürlich" sei. Ganz recht; Goethe sagt auch deshalb von der Ehrfurcht, sie
sei „ein höherer Sinn, der unsrer Natur gegeben werden müsse." Aber er
wird ihr eben auch gegeben, kann und soll ihr gegeben werden; es heißt nicht
nur: „das Fleisch gelüstet wider den Geist," sondern auch: „den Geist gelüstet
Wider das Fleisch"; und wer, der sich selbst prüft und kennt, hätte nicht die
tiefe Weisheit und Wahrheit dieser einfachen Worte schon an sich erfahren!
Auch ist dieser lahmen Entschuldigung die Erfahrung entgegen, die uns tau¬
sendmal gezeigt hat, nach den verschiedensten Seiten, daß die Macht der Materie
nicht größer ist, als die des Geistes. Allerdings, wenn der Geist matt, gleich-
giltig, stumpf geworden ist, dann hat die Materie einen leichten Sieg über ihn.
Daran liegts! „Wenn das Salz dumm geworden ist, womit soll man salzen?"
Die Oberflächlichkeit, die Gleichgültigkeit gegen geistige Dinge, die ist es, die
der Genußsucht Thor und Thür öffnet, die ist es, gegen die wir den Kampf
aufnehmen müssen mit einem begeisterten: „Gott will es!"
Man versuche uicht, uns einzureden, daß es die Aufgabe der Wissen¬
schaften sei, die geistigen Interessen hoch zu halten gegenüber den materiellen.
Warum erfüllen sie denn diese Aufgabe in unsrer Zeit nicht? An dem Stande
der Wissenschaften liegt es nicht; der ist ans den meisten Gebieten höher, als
er je gewesen ist. Die fachwissenschaftliche Forschung wird auch nicht un¬
gründlicher, oberflächlicher betrieben, im Gegenteil. Aber für die gesamte
Geistesrichtung trägt diese Gründlichkeit keine Früchte, es ist vielmehr, als ob
man sie reservirte für das Spezialstndinm, für den Beruf, der (darauf läuft
es schließlich meistens hinaus) materiellen Nutzen oder einen Namen in der
Wissenschaft verspricht: Genuß, Erfolg, Ruhm. Es kommt uns nicht in den
Sinn, den Vertretern der Wissenschaft, auch solchen, die nur ihrer Wissenschaft
leben, alles selbstlose Streben absprechen zu wolle»; aber wenn sie nichts von
dem Idealismus des Glaubens, der Ehrfurcht in sich haben und ihren Schülern
mitzuteilen wisse», so wird ihre Wissenschaft allein dem jüngern Geschlecht
keinen Halt gebe» können gegen die Oberflächlichkeit und Genußsucht, die ihnen
auf allen Seiten entgegentritt. Nein, „es ist ein höherer Sinn, der unsrer
Natur gegeben werden muß," oder wie Carlyle an einer andern Stelle sagt:
„alles andre an einem Menschen ist zufällig; das einzig wesentliche an ihm,
sein eigentlicher Kern, ist seine Religion." Das scheint so einfach, so selbst¬
verständlich, daß man kaum noch etwas dazu sagen möchte. Was empfinden
wir denn unmittelbar als das Wesentliche in uns, als unsern eigentlichen Kern?
Doch nicht die Materie, die wir allerdings auch unmittelbar empfinden, aber
eher als Hülle, denn als Kern, oder besser als Medium, das zwischen dem
Kern unsers Seins und der Erscheinungswelt vermittelt. Zu dem aristotelischen
Satze: <Z8t in intollLcitn, cinoä N0N s.mes kusrit in SLNSN, hat Leibniz nicht
mit Unrecht die Worte hinzugefügt: nisi intsIisotaK lose. Das ist der un¬
mittelbar empfundne Kern unsers Wesens; aber er bringt uns nicht vorwärts,
wenn er nur das in sich aufnimmt, mit dem sich begnügt, qnoä g.nec tuvrit
in Leu8n; es ist dann gleichsam ein Hinabsteigen in die Welt der Erscheinungen,
deren Höhepunkt er selber ist. Das ist es, weshalb die Wissenschaften das
Höchste für die geistige Ausbildung nicht leisten können: sie sind insgesamt
Wissenschaften nur insofern, als sie sich auf Gegenstände beziehen lassen, die
der Erfahrung gegeben werden können.")
Wir müssen hier im Vorübergehen auch der Kunst gedenken, deren Auf¬
gaben und Wirksamkeit wir bisher noch nicht betrachtet haben, und der man
insofern eine höhere Stelle einräumen könnte, als sie sich nicht (wie die
Wissenschaft) mit Begriffen beschäftigt, sondern mit Ideen. Daß aber auch sie
das Höchste für geistige Vervollkommnung nicht leisten kann, wenigstens nicht
allein, nicht unmittelbar, dafür werden einige Beweise genügen. Zunächst ist
es der Kunst unmöglich, in dem Maße Gemeingut aller zu werden, wie es
für eine allgemeine geistige Erneuerung notwendig ist; die Hinderungs¬
gründe liegen teils in den verschiednen Anlagen der Menschen, teils in den
äußern Umständen, die mir den bis zu einem gewissen Grade begabten und
begüterten die Kunst zugänglich machen. Die große Masse des Volks würde
bei einer von manchen (z. B. Richard Wagner) so schön erträumten „Kunst-
rcligiou" leer ausgehen und verschmachten. David Strauß in seinen bekannten
Borschlägen langt auch ungefähr bei diesem Ergebnis an. Ferner können
wir auf die Kunst das anwenden, was wir oben als Aufgabe der Frauen im
geistigen Leben bezeichnet haben: Verarbeitung und Gestaltung der Ideen, aber
nicht ihre Hervorbringung; natürlich ist hier Gestaltung auf anderen Gebiete
und in anderm Sinne gemeint als dort. Beispiele der Erfahrung, daß gerade
die Dichtkunst das Größte geleistet habe in Hervorbringung der Ideen, können
uns nicht irre machen; die Dichter haben die Ideen nicht durch die Kunst ge¬
wonnen, sondern ihr mitgeteilt. Die geistige Veredlung, die von solchen ideen¬
erfüllten, wahrhaft idealen Kunstwerken ausgehen kann, hat ihre hohe Bedeu¬
tung; aber sie kam? uicht grundlegend sein, sie kann mir ausbauen, befestigen,
nicht erneuern, sondern nur fördern. Und das beruht schließlich auf der¬
selben Ursache, durch die die von uns geforderte Leistung den Wissenschaften
unmöglich ist: auch die Kunst ist in ihrem Wirken an Gegenstünde gebunden;
wenn sie auch uicht, wie die Wissenschaften zum Bilden von Begriffen, ihr
Material daraus nimmt, so sind sie doch das Material, in dem allein sie ihre
Ideen darstellen kann; sie kann nicht unmittelbar auf den Intellekt wirken,
sondern nur durch Vermittlung der Sinne, und leider hat uns die Erfahrung
gezeigt, wie vielfach die Menschen bei diesem Äußerlichen, der Einwirkung der
Kunst auf die Sinne, stehen bleiben.
So bringt uns denn die Kunst allein auch nicht zum Ziele, sondern läßt
uns auf derselben Stelle, ans der uus die Wissenschaften stehen ließen, bei dem,
quoä Me.L tusrit, in ssusu. Einzig ausgenommen hiervon sind die Philo¬
sophie und die Theologie, und diese beiden sind es ja auch gerade, deren
Rechte wir im Kampfe gegen Gleichgiltigkeit und materielle Stumpfheit ver¬
fechten wollen. Ihr Gebiet ist die Sphäre, die nicht unterhalb des mensch¬
lichen Geistes liegt, wie die Erfahrungswissenschaften und die Erscheinungs¬
welt, sondern oberhalb, die „trauseeudentale." Wer uicht fühlt, daß diese
Sphäre die eigentliche Heimat unsers Geistes ist, daß deshalb hier der Schwer¬
punkt seiner Interessen liegt, wer uicht an seine tmnseendentale Natur, mit
einem Worte: wer nicht an seinen eignen Geist glaubt, vou dem kann man
freilich auch uicht verlangen, daß er an den Ursprung und Zusammenhang
unsers Geistes in und mit einer höhern Einheit, daß er an eine geistige Welt
glaube. Deun wir dürfen nicht vergessen, daß es sich auch in der Philo¬
sophie im letzten Grunde nicht um Beweise, sondern um den philosophischen
Glauben handelt; die Beweise haben in der Logik ihr unbeschränktes Recht,
aber in der Metaphysik und Ethik nnr ein beschränktes, ja nur eine beschränkte
Möglichkeit. Kant sagt in seiner „Kritik der reinen Vernunft" die goldnen
Worte:") „Es bleibt euch noch genug übrig, um die vor der schärfsten Ver¬
nunft gerechtfertigte Sprache eines festen Glaubens zu sprechen, wenn ihr gleich
die des Wissens habt aufgeben müssen,"
Nach der Bedeutung, die wir der Philosophie und Theologie einräumen,
darf nun freilich gefragt werden, ob denn diese beiden Wissenschaften immer
den Ansprüchen genügt haben, die man darnach mit Recht an sie stellen konnte?
Und da können wir leider keine bejahende Antwort geben, namentlich wenn es
sich um unsre Zeit handelt. Die Philosophie hat sich selbst negirt, sofern sie
sich in Skeptizismus verlor; im Pessimismus, dessen einzelne Ideen einer
fruchtbringender« Entwicklung fähig gewesen wären, hat sie Folgerungen ge¬
zogen, die nicht notwendig waren, ja, selbst bei Schopenhauer, mitunter
geradezu einander widersprechen- Doch das Hauptgebrechen unsrer Zeit auf
philosophischem wie auf theologischen Gebiete können wir zusammenfassen in
einen Ausdruck, den Lotze mehrfach anwendet: „die Verehrung der Formen
statt des Inhalts." Inwiefern dieses Wort die Theologie unsrer Zeit trifft,
inwiefern sie dadurch (wenn auch gewiß wider Wissen und Willen) selber mit
Schuld trägt an der Glaubenslosigkeit, welche Wege sie einschlagen müßte,
um ihren großen Aufgaben unsrer Zeit gegenüber zu genügen, welche Wege
sie aufgeben müßte — diese ernsten Fragen wären nur in einer eingehenden
Besprechung zu erledigen, wenn sie überhaupt durch Besprechung zu erledigen
sind; die Reformation hat sich mehr in Thaten, in geistigen Thaten, als in
Worten und Besprechungen vollzogen. Mau glaube aber deshalb nicht, es
thue uns eine neue Religion not; uns eben so wenig als dem Zeitalter der
Reformation. Ebenso mochten wir uns schützen gegen den Mißverstand, als
ob unser Zukunftsideal eine Religion nur aus Begriffen wäre; eine solche
eben so wenig wie die Kunstreligion. Wir erinnern hier wieder an einen Aus¬
spruch Goethes, wonach die christliche Religion, „da sie einmal erschienen ist,
nicht wieder verschwinden kann, da sie einmal verkörpert ist, nicht wieder auf¬
gelöst werden mag." Nur das müssen wir sagen: bei den Bahnen, die die
Theologie dem religiösen Bewußtsein vorschreibt, ist es einem denkenden
Menschen unsrer Zeit sehr erschwert, sein Denken und Glauben einigermaßen
in Einklang zu bringen. Und das ist es, weshalb sich die denkfaule Durch¬
schnittsmenge die unvermeidlichen Probleme, die möglichen Konflikte aus dem
Wege schafft, indem sie den Glauben als etwas Überflüssiges auf die Seite
schiebt — das Denken läßt sich ja nicht ganz vermeiden, man hat es auch
im Berufe, in der Wissenschaft nötig. Das ist es, was die ganze Gesinnung,
die Auffassung alles Wahren und Wertvollen so oberflächlich, so ungründlich
gemacht hat; man steht vor Problemen, vor Aufgaben, vor deu wichtigsten,
entscheidendsten unsers ganzen Seins, und da man fühlt, daß ihre Lösung
schwer, mühevoll, mit Kämpfen und Leiden verbunden ist, daß sie von zwei
streitenden Mächten aufgegeben sind, da man nicht weiß, für welche von beiden
man sich entscheiden oder wie man sie mit einander versöhnen soll, so wählt
man den bequemen Ausweg und kehrt ihnen beiden den Rücken, dem Glauben
zuerst, denn das umgiebt womöglich noch mit einem Schein von „Schneid"
oder vornehmer Vlasirtheit; und wenn man die edelste, schönste Gabe, den
„höhern Sinn, der unsrer Natur gegeben werden soll," weggeworfen hat, dann
behält man meistens vom Denken auch nur noch so viel, wie „für deu Haus¬
bedarf," d. h. für das äußerliche Vorwärtskommen ausreicht. Es ist ein
Elend. Und doch ist es der Weg, den die meisten gehen, wenn auch gewöhn¬
lich nicht mit klarem Bewußtsein. Wenn man sieht, wie sie ihren Geist ein¬
schläfern, abstumpfen, ihn schließlich nur noch das Dasein eines Experimentir-
kaninchcns führen lassen, das auch nur noch auf bestimmte Reize reagirt, da
verwundert man sich freilich nicht mehr, daß die materiellen Interessen das
Feld behalten. Wir sprechen durchaus uicht von den rohen Genußmenschen;
nein, brave, liebenswürdige, gescheite und tüchtige junge Männer schlagen in
der guten Meinung, „vernünftig" zu handeln, diesen Weg des Vermeidens,
des Beiseiteschiebens ein, wenn sie nicht Mut und Kraft genug in sich fühlen,
den Problemen und Konflikten, die unausbleiblich sind, entgegenzutreten und
den Kampf durchzukämpfen.
Was nun da geschehen kann und muß? Man könnte sagen: ihr müßt
eben den Mut und die Energie haben, euch durchzuschlagen. Aber mit solch
einem kategorischen Imperativ würden wir nicht weit kommen. Dem Handeln
müßte erst das Erkennen vorangehen. Dazu könnte Erziehung, Unterricht, die
ganze Auffassung und Gesinnung, die durch beides mitgeteilt werden soll, bei¬
tragen, indem der Mittelpunkt, die Hauptaufgabe unsers Seins als nicht in
der Erscheinungswelt liegend gezeigt und dementsprechend alle Fähigkeiten
geleitet würden. Aber woher soll eine solche Erziehung kommen, wenn die
Erziehenden großenteils selber nicht so sind? Diese Erziehungsgedanken könnten
auch erst dem. neuesten Geschlecht zu gute kommen. Eine solche Umkehr muß
eben freiwillig sein, wie Schopenhauer in gar nicht übel gewählten Ausdrücken
von der „Umkehr des durch Erkennen beleuchteten Willens" spricht. Das ist
der erste Schritt, den jeder allein, selbständig, freiwillig thun muß: die gründ¬
liche Prüfung des innern Lebens und die Empfindung der geistigen Leere ohne
Glauben. Wo diese Empfindung wach geworden ist, da wird man bald den
Versuch aufgeben, die Leere durch materielle Güter, durch Gegenstände der
Erfahrung, auf die Kunst und Wissenschaft angewiesen sind, auszufüllen, da
wird die Einsicht Raum gewinnen, die zu fördern der Zweck unsrer Be¬
trachtungen war: die Einsicht in die transeendentalc Natur unsers Geistes,
der deshalb als Leben des Geistes ein Hinausgehen über die Erfahrung ent¬
sprechen muß. Wer so weit gekommen ist, wer wirklich transeendentalc Ziele
und Wege des Erkennens sucht, der möge nicht, als Grund der Unmöglichkeit,
sie zu finden, unsre vorhin erhobnen Anschuldigungen gegen die Philosophie
und Theologie vorbringen. Es ist wahr, wer in dieser Weise sucht, gedrängt
durch ernste innere Erfahrungen, der wird schwerlich dnrch die Theologie, wie
sie in unsrer Zeit die Kirche und kirchliche Gemeinschaft beherrscht, festen Grund
und dauernde Befriedigung finden- Doch ist deshalb eine Trennung von der kirch¬
lichen Gemeinschaft nicht notwendig, im Gegenteil, man sollte sie, um die Autorität
der Religion im Volke aufrecht zu erhalten, möglichst vermeiden; wein der An¬
schluß an die Kirche auch nicht viel Gewinn bringen kann, dem wird er doch
nicht schaden. Aber im Christentum selber, nuabhüugig von der heutigen
Theologie, vou deu heutigen kirchlichen Formen, unabhängig von einzelnen,
schwer zu bewältigenden Dogmen, im Christentum des Evangeliums ist so
viel reine Wahrheit in so einfacher Fassung enthalte», daß sie für alle Menschen
und für alle Zeiten ausreicht. Mau mache mir den ernstlichen Versuch eines
gewissenhaften, gründlichen, fortgesetzten Studiums, ohne vorgefaßte Meinung,
ohne blasirte Kritisirsncht, von dem reinen, aufrichtigen Verlangen nach Wahr¬
heit beseelt, und man wird staunen über die Höhen und Tiefen in diesen so
mitleidig belächelten Schriften, belächelt am meisten von denen, die sie am
wenigsten kennen. Und wem es um eine Aussöhmmg von Glauben und
Denken zu thun ist, der wird auch in der Philosophie älterer und neuerer
Zeit Licht und Ermutigung finden. Wir möchten dabei vorzüglich auf die
Lotzische Philosophie hinweisen, die es sich zur Hauptaufgabe gemacht hat, das
Wahre und das Wertvolle in Einklang zu setzen.^) Lotzes Weltanschauung,
sein „philosophischer Glaube," wie er selber es nicht verschmäht, ihn zu nennen,
ist ein glänzender Beweis, daß die Forderungen des religiösen Glaubens, die
im Christentum ihre Befriedigung finden, sich vertragen, ja sich ergänzen
können mit denen des strengen, naturwissenschaftlichen Denkens. Wir können
allen suchenden Gemütern Lotzes „Mikrokosmos" nicht warm genug empfehlen.
Ans welchem Wege es aber auch sein mag, auf welchem scheinbaren philo¬
sophischen Umwege, jede solche ernste, gewissenhafte, von dem aufrichtigen Ver¬
langen nach transcendentaler, göttlicher Wahrheit unterstützte Bestrebung wird
ährend der Kampf auf dem rein politischen und nationalen Ge¬
biete vor sich ging, stellte sich auch in Osterreich jene Erschei¬
nung ein, die in der ganzen gesitteten Welt die menschliche Ent¬
wicklung überschattet; unter dem Einfluß der Maschine entstand
ein Proletariat, das zuerst gedrückt und rücksichtslos ausgebeutet
wurde, sich aber bald zu starkem Selbstbewußtsein erhob und nnn auf die Ge¬
staltung der Gesellschaft wachsenden Einfluß gewinnt. Auch die Proletarisirung
der Massen, diese Zerreibung des Kleinbürgertums, die Klassenbewegung, die
zuerst die Opfer des Kampfes in die Tiefe drückte, um sie dann — bei freiern In¬
stitutionen — in festen Genossenschaften zu neuem politischen Leben zu erheben,
mußte auf die nationalen Kämpfe in Österreich gewaltig einwirken. Man hat
nun zwar immer die Zusammenhänge dieser Dinge geahnt, aber es gab keine
ernste Untersuchung des großen Stoffes. Dumreicher beschäftigt sich mehr hin-
deutend und in geistvollen Anregungen mit dem Gegenstande. Kurz vor ihm
hat aber Dr. Michael Hainisch in einer gründlichen statistisch-politischen Arbeit
den Gegenstand in seinem ganzen Umfange zu erfassen gesucht. So pessimistisch
Dumreicher über die Zukunft denkt, so ist es doch ein freundliches Anzeichen
der geistigen Gesundheit der Deutschen Österreichs, daß innerhalb eines Jahres
zwei Bücher so ernsten Inhalts und von so tüchtigem nationalem Sinne er¬
schienen sind. Auch auf diesem Gebiete, bei der Untersuchung über die Rück¬
wirkungen der sozialen Neubildungen auf den politischen Körper Österreichs,
sind es deutsche Schriftsteller, die in der Forschung vorangehen. Dumreicher
und Hämisch sehen einen politischen Zustand vor sich, in dem infolge einer
fehlerhaften Politik von Selbsttiiuschuugen und kraft des durch Krone, Adel
und Kirche gegen die Deutschen geübten Einflusses die Sache der Staatssprache
verzweifelt genug steht. Sie fragten sich nun, wie denn die Demokratisierung
des öffentlichen Lebens, wie die aufsteigende Klassenbewegung die Lage der
Deutschen beeinflusse. Beide, insbesondere Hainisch, werfen die Frage auf,
ob deun nicht auf demselben Wege ein Rückschlag zu hoffen sei. Sie stellen
fest, daß das österreichische Deutschtum bisher am treuesten von dem bürger¬
lichen Mittelstande behütet worden ist. Von unten steigen neue Gewalten empor:
da ist nun die Frage, ob sie dem bedrängten Deutschtum Rettung bringen
werden, oder ob ihm damit diene Gefahren drohen.
Mit dem Glänze der Darstellung Dnmreichers kaun sich das Buch von
Hämisch nicht messen. Es stellt sich die Aufgabe, durch nüchterne, streng
statistische Untersuchungen zu einer österreichischen Nationalitätenpolitik die that¬
sächlichen Grundlagen zu schaffen. Hainisch arbeitet mit dem gelehrten Apparate
der Wissenschaft als ihr durchgebildeter Kenner. Er sondert geschickt die Ele¬
mente, um die Natur der Volkskräfte zu erforschen, die in Osterreich seit
vierzig Jahren thätig sind. Er geht dabei gründlich, fast zu gründlich vor, da
manche Erörterung die Untersuchung eher etwas erschwert, statt sie zu ver¬
einfachen. Doch das wird begreiflich, wenn man bedenkt, daß er der erste ist,
der das dornige Thema behandelt hat. Er legt, da die Volkszählung von
1890 noch nicht wissenschaftlich verarbeitet vorliegt, die Daten der Zählung von
1880 zu Grunde, die erste, die die Nationalität (Umgangssprache) in den Kreis
ihrer Aufnahmen zog. Man hat oft Vergleiche angestellt zwischen dem frühern
und dein jetzigen nationalen Besitzstande der Deutschem Österreichs; aber sie
müssen unzuverlässig sein, da es für die frühere Zeit keine amtlichen Daten
giebt. Hainisch führt nun streng einen Vergleich durch zwischen den Bevölternngs-
dnten der Deutschen und ihrer anderssprachigem Nachbarn. Selbstverständlich
schaltet er Galizien und Dalmatien in seiner Untersuchung vollständig ans,
weil die Verhältnisse dieser Länder auf den Volks- und Machtzuwnchs der
Deutschen keinen Einfluß haben. Dann teilt er die Bevölkerung der ehemaligen
deutschen Bundesländer in sieben Gruppen ein. Er faßt die rein deutschen
Gerichtsbezirke Österreichs zusammen mit ihren 6 764000 Einwohnern, die un¬
gemischt nordslawischcn (tschechischen) Gebiete mit 4885000 Einwohnern, die
gemischtsprachigen deutsch-tschechischen Bezirke mit 1333000, ferner die slo¬
wenischen mit 930000, die deutsch-slowenischen mit 135 000, die italienischen
Bezirke in Tirol mit 354000 und als siebentes Glied die südslawisch-italienischen
Bezirke mit 610000 Einwohnern. Dann legt er die Sonde an die statistischen
Daten dieser Volksteile und untersucht sie nach dem Überschuß der Ge¬
burten, nach der Häufigkeit der Eheschließungen und nach allen übrigen
Arten der Bevölkerungsbewegung. Dabei muß aber gleich erwähnt werden,
daß Hainisch gut gethan hätte, die deutscheu Gebiete von vornherein in die
zwei Gruppen zu teile«: Sudcteulüuder und Donaualpengebiete. Denn volks¬
wirtschaftlich besteht zwischen diesen Gebieten ein Unterschied, der mindestens
ebenso scharf ist, wie der zwischen Tschechen und Slowenen. Nur denn
ist der Vergleich zwischen den Deutschen und den Slawen Österreichs voll¬
ständig, wenn er von der besondern Gegenüberstellung der Dentschböhmen
und der Tschechen ausgeht. Man darf, um die Lebenskraft der Deutschen
richtig zu bemessen, nur die Bevölkerungsbewegung in Deutschböhmen und
Dentschmähren mit der der Tschechen vergleichen. Die dünner bevölkerten
Alpenthäler unterliegen eignen Gesetzen. Hainisch giebt zwar überall mit dankens¬
werter Gewissenhaftigkeit dem Leser das Material auch zur Betrachtung dieser
Dinge, er stellt diese Scheidung in den spätern Kapiteln seines Buches oft in
den Vordergrund, er baut auf ihr eine Reihe seiner einleuchtendsten Sätze auf,
aber er stellt sie doch in dem Abschnitt über die Bevölkerungsbeiveguug etwas
zurück. Ein Beispiel für viele: es ist eine oft beklagte Thatsache, daß sich die
Tschechen stärker vermehren als die Deutschen Österreichs, und man ist geneigt,
daraus den Schluß zu ziehen, daß die Deutschen notwendigerweise zurückgedrängt
werden müssen. Aber die letzte Volkszählung von 1890 hat im Vergleich zu
der vou 1880 gezeigt, daß in Böhmen von einer solchen Zurückdrängung gar
nicht die Rede ist, da sich die deutsche Bevölkerung dieses Landes doch um
den Bruchteil eines Prozents stärker vermehrt hat als die tschechische. Hainischs
Buch wäre ganz vollständig, wenn es diese Unterscheidungen vorgenommen hätte.
Wer nicht die Dentschböhmen und die Dcutschmährcn mit den Tschechen, sondern
alle Deutsche» Österreichs mit den Slawen vergleicht, muß notwendigerweise
zu pessimistischer!! Schlüssen kommen, als gerechtfertigt ist. Denn gerade die
Deutschböhmen sind das Rückgrat ihres Volksstammes in Österreich; auf ihre
geistige, politische und volkswirtschaftliche Gesundheit ist die Zukunft Öster¬
reichs gestellt. Eine Slawisirnng des Douauthals ist nicht zu befürchten, trotz
des Einbruchs tschechischer Handwerker- und Arbeitermassen in Wien. Aber
der Kampf der zwei Millionen Dentschböhmen in ihrem langgestreckten Volks¬
gebiete könnte mit ihrer Zerreißung und Knechtung endigen, wenn sie nicht
mutig und wachsam bleiben, und wenn sich nicht, wie sich der ehemalige jung-
tschechische Führer Sladovskh in einem lichten Augenblick der Selbsterkenntnis
ausdrückte, nach der Gründung des deutschen Reiches die weitere Schwierigkeit
herausgestellt hätte, daß die Tschechen zuvor anderthalb, jetzt gar drei Mil¬
lionen Bajonette zu verschlucken Hütten. Es wäre ungerecht, wenn man Hainisch
vorwerfen wollte, er habe diese Thatsache vernachlässigt. Aber sie sollte doch
kräftiger in den Mittelpunkt der politischen Betrachtung gestellt sein.
Hainisch stellt nun fest, daß an Geburtsüberschüsseu in den rein deutschen
Bezirken 5,17 auf je 1000 Einwohner fallen, während die Nordstrom 10,09,
die Slowenen 7,73, die Welschtiroler 5,92 pro Mille aufzuweisen haben.
Die Deutschen sind also stark im Nachteil, besonders gegen die Tschechen, und
das wieder besonders infolge der Verhältnisse in den Alpenlündcrn, wo der Ge¬
burtenüberschuß der Deutschen bloß 2,89 pro Mille beträgt, während sie im
Sudetengebiet doch 6,61 pro Mille zu verzeichnen haben. Woher dieses auf¬
fallende Zurückbleiben der Deutschen? Ist ihre physische Tüchtigkeit etwa ge¬
ringer? Das gewiß nicht, denn es giebt einzelne deutsche Bezirke im Norden,
wo die Geburtsüberschüsse zu den höchsten der Monarchie gehören. Die Frucht¬
barkeit der deutschen Frauen im Alter von fünfzehn bis zu fünfundvierzig
Jahren steht nicht hinter der der andern zurück; zwischen Deutschen und Tsche¬
chinnen ist kein Unterschied bemerklich. Die deutschen Frauen haben nur, be¬
sonders wegen der in den Alpenländern noch vielfach bestehenden Ehebeschrnn-
kuugen, eine geringere eheliche und dafür eine stärkere außereheliche Fruchtbar¬
keit. Die Deutschen in den Alpenländern heiraten infolge der schwierigen
Lebensverhältnisse später, dafür ist aber bei ihnen die Legitimirung der vor¬
ehelichen Kinder sehr häufig, was jedenfalls eine gesunde Lebensauffassung
bezeugt. Auch die Kindersterlllichkeit ist nach den sorgfältig gearbeiteten Tabellen
Hainischs unter den Deutschen im allgemeinen nicht größer als bei den andern
Nationalitäten, wenn sie auch in einzelnen uordböhmischeu Bezirken, wegen der
fast durchgängigen Beschäftigung der Frauen in den Fabriken, zu erschreckenden
Ziffern anwächst, wie im Bezirk Reichenberg, wo unter 100 Kindern 80,9
vor ihrem sechsten Lebensjahre sterben. Aus den Tabellen Hainischs geht
hervor, daß es ausschließlich die geringere Zahl der Eheschließungen unter den
Deutschen ist, die ihren geringern Bevölkerungszuwachs bewirkt. Die unehe¬
lichen Geburten, die den fünften Teil der ehelichen ausmachen, können dieses
Verhältnis nicht ändern. Deutsche, Slowenen und Welschtiroler haben un¬
gefähr dieselbe Zahl der Ehen, aber die Tschechen, bei denen unter 100 gebür-
fühigeu (im Alter von fünfzehn bis fünfundvierzig Jahren stehenden) Frauen
52,80 verheiratet find, überragen bei weitem die Deutschen, unter denen nur
41,50 solche Frauen in der Ehe leben. Und auch hier sind es wieder die
Alpenländer, die die Lage der Deutschen ungünstiger gestalten. Denn Deutsch¬
böhmen mit 48,6 verheirateten Frauen unter 100 gebürfühigen steht obenan,
während Deutschstciermark nur 34,60, Vorarlberg, Salzburg, Deutschtirol noch
Weniger und Deutschkarnten gar nur 25,57 Prozent ausweist. Es ist also
keineswegs physische Überlegenheit, was der Slawenwelt den Vorsprung ver¬
schafft. Es müssen schwerwiegende wirtschaftliche Umstände sein, durch die
die Deutschen genötigt sind, sich stärkere Beschränkungen in der Eheschließung
aufzuerlegen.
Sorgfältige Untersuchungen stellen nur fest, daß es wesentlich die land¬
wirtschaftlichen Verhältnisse, insbesondre die Verteilung des Grundbesitzes ist,
durch die die Verschiedenheit der Bevölkernngsvermehrung in Osterreich hervor¬
gerufen wird. Wo Parzellenbesitz überwiegt, wo Grund und Boden stark zer¬
stückelt ist, wie in Galizien und in den südslawischen und welschen Gebieten,
wie Dalmatien und Südtirol, vermehrt sich die Bevölkerung außerordentlich
rasch; in der Mitte stehen die Gebiete wie die Sudetenländer, wo neben großem
Grundbesitz und neben mittlern Bauernhöfen viele Häusler leben; dagegen steht
die Bevölkerung still, wo der Bauernbesitz überwiegt, besonders, wo geschlossene
Bauernhöfe eine Zerteilung des Bodens unter mehrere Kinder unmöglich machen.
In Oberösterreich verfügt der mittlere Bauernstand fast über zwei Fünftel
der Grundflüche des Landes, noch günstiger stehen die Dinge in Körnten,
während in Böhmen jahraus jahrein Gutszerstücklungen in großem Maßstabe
vorkommen, und zwar nicht erst seit 1869, wo die Unteilbarkeit der Bauerngüter
aufgehoben wurde. Der große Grundbesitzer läßt sein Gut durch Tagelöhner
bewirtschaften, die häufig Kleinhäusler sind, und diese vermehren sich rasch,
wenn die Arbeitsgelegenheit steigt; der große geschlossene Bauernhof aber be¬
schränkt die Ehe, wie Hämisch ausführt, nach zwei Richtungen: er verzögert
die Ehe des Auerben so lange, bis der Bauer „in die Ausnahme geht" oder
stirbt, und er hindert die Ehe der Knechte und Mägde, die auf dem Hofe oft
ihr Leben lang beschäftigt sind. Dazu kommt, daß die Eheschließung in Deutsch-
tirol und Vorarlberg rechtlich, in Salzburg thatsächlich um die Zustimmung
der Gemeinde geknüpft ist. Dieselbe Agrarverfassung führt überall dieselben
Wirkungen herbei; in Baiern hat das Gebiet zwischen Jsar und Jnn, wo
gleichfalls der geschlossene Bauernhof vorherrscht, sogar einen Überschuß der
Sterbefälle über die Geburten aufzuweisen, sodaß die Bevölkerung ohne Ein¬
wanderung abnehmen würde.
So ist es denn, wie Hainisch ausführt, natürlich, daß das Deutschtum
Österreichs zurückgeht, da ein beträchtlicher Vvlksteil dem Stillstand verfallen
ist. Nur in den Sudetenlündern giebt es einen Überschuß an Arbeitskräften,
und hier hat sich die Industrie mächtig entfaltet. Sie zieht in Österreich
sichtbar von Süden nach Norden; noch im Jahre 1828 war, wie Hainisch
aus den Steuertabellcn nachweist, von einem Übergewichte der Sudetenländer
nichts zu bemerken. Jetzt ist die ganze Seidenindustrie von Wien nach Norden
gezogen; die Zuckeriudustrie ist ausschließlich dort vertreten, und auch die Baum-
wollenindustrie beginnt immer mehr sich nach Böhmen, Mähren und Schlesien
zu ziehen. Die Bevölkerung der Kronländer Oberösterreichs, Salzburgs,
Steiermarks, Kärntens, Krains, Tirols und Vorarlbergs hat sich zwischen
1831 und 1800 nur von 3 260 000 Menschen auf 4 029 000 vermehrt, wäh¬
rend Böhmen, Mähren und Schlesien von 5 941 000 aus 8 711 000 angewachsen
sind. Die Vermehrung ist hier doppelt so groß als dort. Aber Haiuisch
schlägt uicht bloß das Machtelement, das dadurch dem Norden, insbesondre
den Slawen, zugefallen ist, hoch an, er findet — und hier wird man doch
etwas bedenklich —, daß ein geschlossener Bauernstand wie in den Alpen keinen
Vorzug habe in Bezug auf Kraft, Sitte und Volksgesundheit. Er hält es
in jeder Beziehung für wünschenswert, daß die Alpenländer in den Strom der
modernen wirtschaftlichen Regsamkeit hineingezogen werden. Wenn der jetzige
Zustand fortdauere, so leide der Staat ebenso wie die deutsche Nationalität,
die in ihre Marken den Fremden einziehen und sich hier verbreiten sehn.
Lassen wir die Einwendungen beiseite, die gegen diese Beweisführung er¬
hoben werden können, wenn der Wert des Bauernstandes für die Gesellschaft
erwogen wird. Auch sonst fällt weiter auf, daß Hainisch nicht fragt, ob das
wirtschaftliche Emporblühen der Sndetenländer mehr den Deutschen oder den
Tschechen Böhmens und Mährens zu gute gekommen sei. Die Antwort ist
nicht einfach; jedenfalls hätte in Betracht gezogen werden sollen, daß derselbe
Unterschied, wie zwischen den Alpen- und den Sudetenländern, auch zwischen
den agrarischen (tschechischen) Bezirken des mittlern Böhmens und zwischen den
Jndnstriegegenden des Nordens besteht. Die agrarischen Bezirke Böhmens
stehen still, einige gehen selbst in der Bevölkerung zurück; der Norden des
Landes zeigt stellenweise eine fast amerikanische Verdichtung der Bevölkerung.
Am Anfange des Jahrhunderts war, wie die ältere Statistik zeigt, der alte
Königgrätzer (meist von Tschechen bewohnte) Kreis der am stärksten bevölkerte
Böhmens; jetzt ist es der einstige Leitmeritzer Kreis, wo fast ausschließlich
Deutsche leben. Auch in Böhmen hat eine Verschiebung der Bevölkerungs-
dichtigkeit und der Stenerkräfte stattgefunden, aber hier, wenigstens von
1830 bis 1860, zu Gunsten der Deutschen. Dann ist, wie die Volkszählung
zeigte, ein Zustand des Gleichgewichts eingetreten.
In dem vierten Abschnitt seines Buches führt der Verfasser deu Leser
scheinbar von dem Gegenstande ab und prüft mit alleu Hilfsmitteln der Wissen¬
schaft die wirtschaftliche Lage des Alpenbauers; zuletzt führen seine vielver-
schlnngneu Pfade, auf denen er die Frage der Erbteiluug, der Natural- und
der Geldwirtschaft und der Hhpothekenverschulduug sorgsam erörtert, auf deu
Ansgnngspunkt zurück, aus die Frage, wessen sich die deutsche Nationalität
von dem Eindringen der kapitalistischen Wirtschaft in die stillen Thäler Jnner-
österreichs zu versehen habe. Wenn Roseggcr in seinem schönen Buche „Jakob
der Letzte" das Aufsaugen der Bauernwirtschaften durch den Großbetrieb, den
Anbruch einer neuen Wirtschaftszeit, in einem besondern Menschenschicksale,
also echt poetisch darstellt, so liefert Hainisch zu diesem Vorgange die statistischen
und sonstigen wirtschaftlichen Daten. Er kommt zu dem Schlüsse, daß ein
großer, vielleicht der größte Teil der Alpenbanern nicht lange mehr in seinem
friedsamen Selbstgenügen, in der ererbten Naturalwirtschaft, bei der jeder Hof
das beste Teil seines Bedarfs erzeugt, werde verharren können. Die Geld-
forderungen des Staats, der Gemeinde, die vermehrten Lebensbedürfnisse der
Familie, der steigende Lohn des Gesindes, auch die Abfindung der übrigen
Erben werden den Bauer vom Hofe drängen, dem Großbesitze neuen Grund
zuführen und zugleich der Abtrennung von Parzellen für den Häusler und die
Tagelöhner die Wege ebnen. Jnnerösterreich wird in absehbarer Zeit in den
wirtschaftlichen Weltverkehr gezogen werden und den Weg gehen, der den Sn-
detenländern gewiesen ist.
Dieser unabwendbare Gang der Dinge wird, wenn auch darüber viele
Existenzen zu Grunde gehen werden, den Charakter der Alpenländer in dem
Sinne ändern, daß sie sich durch Emporblühen der Industrie sowohl wirt¬
schaftlich als dem Bevölkerungszuwachs nach dem Norden Österreichs eben¬
bürtig an die Seite stellen werden. Hämisch hofft, daß sie rasch über den
toten Punkt hinwegkommen, die Krisis überstehen und mit Hilfe energischer
Maßregeln der Regierung entschlossen den Weg zum Eintritt in das kapita¬
listische Wirtschaftssystem einschlagen werden. Sein Gedankengang ist also
augenscheinlich von der raZs as» nonrbro» ergriffen. Die Massen sind es,
meint er, die die großen nationalen Schlachten bei den Abstimmungen der
Wähler schlagen. Die moderne Arbeiterbewegung, die sich ein theoretisch be¬
gründetes Ziel stecke, wachse unaufhörlich; es sei ein Kernschade, daß in den
Arbeitermassen Österreichs das tschechische Element so überwiege. An der großen
Zukunft, die dem Proletariat bevorstehe, müsse unter den Stämmen Österreichs
in erster Linie der deutsche teilnehmen; seine reiche Bildung befähige ihn zu
dem Siege in diesem Wettlaufe, besonders deshalb, weil die deutsche Kultur eine
Anziehungskraft üben werde auf die auf internationalem Boden stehenden Ar¬
beiter der übrigen Nationalitäten. Mit diesem versöhnenden und hoffnungs-
freudigen Ausblick schließt der Verfasser sein sorgfältig gearbeitetes Buch.
Hainischs Buch hat überdies das Verdienst, eine weitere treffliche Arbeit
angeregt zu haben, einen Aufsatz, deu Professor Heinrich Herkuer in Karlsruhe
kürzlich in einer Wiener Zeitschrift veröffentlicht hat über die nationalen
Pflichten gegenüber jenen Bevölkerungsklassen, die als Schöpfer gewaltiger
Werte des Nationalvermögens in Kummer und Armut dahinsiechen. Hcrkner
knüpft an die traurige Thatsache der hohen Sterblichkeitsziffer der Kinder in
den deutschen Fabrikbezirken Nordostböhmens an, macht auf die nationale Gefahr
aufmerksam, die in der körperlichen Degeneration der deutschen Arbeiterbevöl¬
kerung liegt, und richtet eine warme Mahnung an die deutschen Gemeinden des
Nordens, sich mit aller Thatkraft der höchsten nationalen Pflicht zuzuwenden:
der physischen und sittlichen Hebung ihrer Mitbürger, Sonst werde die ein¬
wandernde, kräftigere Arbeiterschaft, die aus den tschechischen Ackerbaubezirken
komme, den Deutschen wirklich gefährlich werden. So wohlthätig auch das
Wirken des deutschen Schulvereins sei, so sehr die starken politischen Triebe
des deutschböhmischen Bürgertums dem gesamten Volksstamme förderlich seien,
so dürfe man doch nicht vergessen, daß zugleich die soziale Reform, in Nord¬
böhmen ein Gebot der Selbsterhaltung sei. Herkner führt aus Erzählungen
und Gedichten, die in Arbeiterblättern veröffentlicht worden sind, rührende
Beweise von der Anhänglichkeit der Nordböhmcn an ihre Heimat an; die
Agitation der internationalen Sozialdemokratie habe dieses starke Vater¬
landsgefühl nicht abzuschwächen vermocht. Die Liebe zum deutschen Volkstum
und ihre Pflege müsse sich in svzialpcMischen Maßregeln äußern. Gerade die
kommunalen und die Vereinsverbände, die mit dem Volke in nächster Berührung
stehen, könnten durch Volksbibliotheken, Bolksbäder, Fvrtbildnngsunterricht,
Haushaltungsschulen, Arbeitsvermittlung, gewerbliche Schiedsgerichte, Besse-
rung der Wohnungszustände, Reform der Armenpflege, Fürsorge bei Arbeits¬
losigkeit zur Hebung der Volksgesundheit beitragen. So wahr und warm ist
das national vollblütige Bürgertum Nordböhmens noch nie an seine soziale
Pflicht gemahnt worden. Es ist ein Landsmann, von dem dieser Weckruf aus¬
geht; er kann in Deutschböhmeu uicht ungehört verhallen!*)
Man ist im allgemeinen gern geneigt, für politische Wandlungen mehr
fernliegende wirtschaftliche oder gar naturgeschichtliche Ursachen zu suchen und
Entwicklungsgesetze für sie zu konstruiren. Aber diese Methode der Erklä¬
rung ist uicht vollständig. Gerade in der Geschichte der modernen Natio¬
nalitätenidee findet sich ein seltsamer Widerspruch, dessen Erklärung uicht
leicht ist. Man hätte denken sollen, daß die Ausbildung der Verkehrswege,
die wachsende Benutzung von Eisenbahnen und Telegraphen die Menschen
und die Nationen näher bringen, ihre Vorurteile zerstören, ihre Abneigung
gegen einander mildern und den kosmopolitischen Sinn, den das Jahrhundert
Kants, Schillers und Rousseaus als sein Erbe zurückgelassen hat, fördern
werde. Aber das ist nicht geschehen: wohl ist der Deutsche dem Deut¬
schen, der Italiener dem Italiener näher gekommen, aber die Völker sind ein¬
ander fremder und feindseliger geworden. Im Laufe der Geschichte haben
der Wille und die Einsicht, haben ideelle Anstöße und Beziehungen das
Wirken wirtschaftlicher Gesetze vielfach gekreuzt und gehemmt. Deshalb wäre
es sehr gewagt, vorauszusagen, daß der Kampf des Proletariats gegen das
kapitalistische System, das jetzt die Arbeitermassen der verschiednen Völker zu
einem internationalen Ganzen verknüpft, auf die Dauer die nationalen Gegen¬
satze überbrücken werde. Auch das Bürgerinn: der verschiednen Staaten fühlte
sich, so lange es gegen Königtum und Adel ankämpfte, um sich zur Geltung
zu bringen, von Volk zu Volk eins; auch in dem Katechismus der liberalen
Ideale stand geschrieben, daß die freigewordnen Völker durch ewigen Frieden
verbunden sein würden. Und doch ist es anders geworden. Es ist nicht an¬
zunehmen, daß irgend eine Lehre, irgend ein wirtschaftlicher Zustand jemals
die nationalen Unterschiede ganz verwischen werde. In alle Zukunft wird der
Charakter der verschiednen Nationen bestehen bleiben und eine der dunkeln,
unenträtselbaren Urkräfte der Menschheitsgeschichte bilden. Wenn man für die
österreichischen Dinge die einigermaßen absehbare Zeit dieses und des nächsten Ge¬
schlechts ins Auge faßt, so wird es auch da wesentlich darauf ankommen, welche
Nationalität mit größerer Thatkraft und Klugheit ihr nationales Erbe ver¬
teidigen und vermehren wird. Die Geschichte der Magyaren in unsrer Zeit
spottet aller wirtschaftlichen Berechnungen, aller auf statistischen Tabellen be¬
gründeten Vorhersagungen. Ein Volk, das notorisch wegen des Überschusses
an Todesfällen über die Geburten jahrzehntelang im Rückgange gewesen ist,
das kein Bürgertum hat, hält Millionen von Menschen unter seiner politischen
Botmäßigkeit und steigert seine Kraft zur Zeit durch die teils freiwillige, teils
erzwungne Magyarisirung von Deutschen, Slawen und Romanen. Solche
Thatsachen sollten von denen, die zur nationalen Erziehung der Deutschen
Österreichs beitragen wollen, immer aufs neue hervorgehoben werden. Wenn
man ihnen die Gefahren zeigt, von denen sie bedroht sind, so soll auch die
Überzeugung in ihnen geweckt werden, daß die Kraft, sie zu überwinden, in
ihnen selbst ruht. Die Deutschen führen ohnehin vielzuviel doktrinäres Gepäck
mit sich, wenn sie Politik machen; es ist bedenklich, dies noch durch melancho¬
lische Geschichtsbetrachtungen zu vermehren. Die Deutschen Österreichs haben
einmal einen politischen Fehler begangen, dessen Folgen weit schwerer auf ihnen
lasten, als alle Mißgunst der Verhältnisse, die sich in statistischen Tabellen
ausprägt: das war der Fehler, daß sie mit den Polen nicht ein billiges Ab¬
kommen trafen, sodaß sie selbst Herren bleiben konnten in dem Gebiete der
ehemaligen deutschen Reichs- und Bundesländer. Mit viel größerer politischer
Voraussicht hat es der Herrscher verstanden, mit den Polen als parlamenta¬
rischem Faktor zu rechnen. Und weshalb ließen sich die Deutschen den
Wind aus den Segeln nehmen? Weil sie beharrlich die zentralistische Idee
dem Vorteil ihrer Nationalität voranstellten, weil sie sich als berufne
Hüter der Staatseinheit betrachteten, der auch in Galizien Respekt zu ver-
schaffen sei, während sie doch sehen mußten, daß sie sich selbst in den
deutschen Erbländer nur mühsani des feindlichen Andranges erwehrten.
Dieser Doktrinarismus war so hartnäckig, daß sich die zentralistische und
liberale Partei noch im Jahre 1885 nicht entschließen konnte, das Be¬
kenntnis des Deutschtums in ihren Namen aufzunehmen. Ehe die Führer ge¬
statteten, daß sich die Partei den Fraktionsnamen „Deutscher Klub" beilege,
ließen sie es eher auf eine Spaltung ankommen: sie stießen dadurch viele
rührige und eifrige Elemente von sich, und das war, wenigstens zum Teil, die
Veranlassung, daß es an ihrem linken Flügel zu der beklagenswerten Zersplitte¬
rung kam, durch die das Deutschtum in Osterreich noch jetzt gelähmt wird.
Und wie notwendig wäre für die Deutschen der Bestand eines entschlossenen
radikalen Flügels, der in der Weise der äußersten Linken in Ungarn die Macht¬
haber zurückschreckte vor der Ausnutzung der Regierungsgewalt gegen den
deutschen Bolksstamm! Die Wirkungskraft der Deutschen ist dadurch gesunken,
daß sich ihre rührigsten, thatenfrendigften Elemente in zünftlerische und anti¬
semitische Schrullen verbissen und darüber ihre natürlichen nationalen
Pflichten hintangesetzt haben. Stark sein ist alles! Das Soldatensprüch¬
lein aus dem frommen Heere Cromwells: „Vertrat! auf Gott, mein Sohn,
und halte dein Pulver trocken!" gilt heute wie damals. Gunst des Schicksals,
allgemeine Weltverhültnisse, das Walten einer gütigen Vorsehung, wirtschaft¬
liche Glücksbedingungen — wann hätten sie je für sich ausgereicht, wenn nicht
die Kraft des Mannes angespannt war? Vieles hat sich vereinigt, um die
Deutschen Österreichs in die Ecke zu drängen. Aber so steht die Sache doch
nicht, daß sie mit einem unabwendbaren Schicksale rängen. Die Dentschbohmen
und die siebenbürgischen Sachsen liefern den Beweis, wie wenig ihnen der
Fremde an ihrem eignen Herde beizukommen vermag. Wären alle Deutschen
Österreichs so, so hätte es mit der zaghaften Defensive des Achtmillionen-
vvlks bald ein Ende, und dem Vordringen der Gegner wären überall feste
Schranken gezogen.
ir haben gesehen: es findet sich im athenischen Drama kein Grund¬
satz, der unsrer heutigen Volksmoral widerspräche. Aber ist nicht
der ganze Aristophanes die Unsittlichkeit in Person? In der
That, wenn einer, der in den Grundsätzen unsrer heutigen Polizci-
moral aufgewachsen ist, in der Litteraturgeschichte liest, Aristo¬
phanes sei der Vertreter der strengen alten Sittenzucht gewesen, und dann den
Dichter selbst aufschlägt, so wird er die Litteraturgeschichtschreiber für verrückt
halten. Denn die heutige Polizeisittlichkeit leitet dazu an, das Unanständige
für das Unsittliche zu halten.
Aristophanes fälscht das sittliche Urteil in keinem Punkte. Er verteidigt
keine Art von Verletzungen der Heiligkeit der Ehe und hat so wenig wie die
Tragiker ein Ehebruchdrama geschrieben. Das Obsevne hat er reichlich ver¬
wendet, obwohl nicht so reichlich wie seine Vorgänger, denn er rühmt sich in
mehreren Parabascn, daß er die plumpen Späße der „guten alten Zeit" von
der Bühne verbannt und der Komödie einen tiefern Inhalt gegeben habe.
(Durch und durch ein politischer Dichter, bekämpfte er die Demagogie, die Kor¬
ruption, die Kriegspartei, vor allem deren Haupt, den mächtigen Kleon, und
die Sophistik.) Aber es siel eben keinem Menschen in Athen ein, das Obscöne
für unerlaubt zu halten. Die Entscheidung über diesen streitigen Puukt hängt
von der Beantwortung der Frage ab, ob es erlaubt sei, einen Genuß, den die
Natur gewährt, auch in der Erinnerung durch Wort und Bild wachzurufen
und sich seiner in der Elegie oder im Scherze der Komödie zu erfreuen. Die
Athener konnten diese Frage unmöglich mit nein beantworten, weil sie die
Natur weder für böse hielten, noch für etwas Unwürdiges, dessen man sich zu
schämen habe, sondern für das unentbehrliche Organ und die edle Hülle des
Geistes. Sehen wir uns die allerunanstündigste der Aristophanischen Komödien,
Lysistrate, an, so finden wir, daß sie sogar der griechischen Volkssittlichkeit ein
glänzendes Zeugnis ausstellt. Die Frauen aller griechischen Staaten verschworen
sich, ihre Männer dadurch zur Beendigung des Krieges zu zwingen, daß sie
sich ihnen bis zum Abschlüsse des Friedens versagen, und sie erreichen binnen
kürzester Frist ihr Ziel. Wäre das Hcllenenvolk so von Lastern zerfressen
gewesen, wie man sich heute gewöhnlich vorstellt, dann hätten die Männer über
eine solche Verschwörung doch nur gelacht; das Stück hätte unter solchen Ver¬
hältnissen keinen Sinn gehabt und keine Wirkung erzielt. Die allerunanständigste
Szene des unanständigen Stückes, wo der junge Kinesias sein liebes Myr-
rhinchen bittet, ihm nur ein einziges Stündchen zu schenken, wird nur dadurch
unanständig, daß sie auf der Bühne spielt; im Schlafzimmer wäre sie weiter
nichts als eine Prüfung der Zärtlichkeit und Treue des jungen Gatten, die
abzulegen ihn sein schalkhaftes Weibchen zwingt. Übrigens beobachten die beiden
den Anstand so weit die Zuschauer sind ja im Sinne des Stücks für die
Personen des Schauspiels nicht vorhanden — daß sie vorher den Sklaven mit
dem Söhnchen fortschicken, das Kinesias mitgebracht hat, damit es die böse
Mutter schön bitte, sie möge doch wieder gut sein und ius Huus zurückkehren,
wo in ihrer Abwesenheit alles zu Grunde geht, und die Hühner das Garn vom
Webstuhl zerren.
Dieses Fortschicken des Kindes erinnert uns daran, daß die Alten nicht
durchaus ohne alle Anstandsregeln gelebt oder, wie später die Cyniker, im
täglichen Verkehr das Unanständige geflissentlich hervorgehoben haben. Als
unanständig gilt es dem Menschen, der sich über bäuerische Roheit ein wenig
erhoben hat, zunächst durch das Ekelhafte, das mit manchen körperlichen Ver¬
richtungen verbunden ist, die Sinne andrer zu beleidigen und sich selbst, als
einen Gegenstand des Ekels, gcwissermnssen bloßzustellen; davon wird nun auch
das Obseöne betroffen, das mit dem Ekelhaften in naher Verbindung steht.
Nur ging das Anstandsgefühl der Alten nicht so weit, daß sie sich zur Ver¬
meidung von Unanständigkeiten unbequemen Zwang auferlegt, eine Verletzung
des Anstandes als Unsittlichkeit oder gar als Verbrechen behandelt und ans
den Genuß der Komik verzichtet hätten, die im Unanständigen liegt. Die ol8
ovaler des Unanständigen und auch des Obscönen beruht auf dem Kontrast
zwischen den zwingenden Bedürfnissen unsrer tierischen Natur und den Herrscher--
ansprüchen unsers Geistes oder der Würde unsrer gesellschaftlichen Stellung;
sie wirkt daher um so stärker, je erhabner die Person und je feierlicher der
Augenblick ist, wenn z. B. ein Potentat als Festredner mit einem unglaublich
dummen Gesichte niesen und das Taschentuch gebrauchen muß. Beim Obseönen
kommt nun allerdings sofort noch eine sittliche Erwägung hinzu, die Anstauds¬
pslicht zu verschärfen. Wenn die Vorstellung sexueller Genüsse in solchen erregt
wird, denen sie uicht oder noch nicht erlaubt sind, so liegt darin eine Ver¬
leitung zum Unrecht. Deshalb haben die Griechen den Jungfrauen und deu
Kindern den Besuch der Komödie verwehrt; nur den Männern , Frauen und
Jünglingen war er erlaubt. Sodann haben sie stets mit feinem Schicklichkeits-
gefühl darauf gehalten, daß das Komische, das Heitere, daher anch das Ob¬
seöne dort uicht eingemischt werde, wo es uicht hingehört. In der Allestis
kommt Herakles zu Admet und bittet um Herberge, Admet verrät es ihm nicht,
daß seine Gemahlin gestorben ist, weil er den Gast sonst abweisen müßte, und
läßt ihn ins Hans führen. Herakles trinkt dort tüchtig, singt und jubelt dabei.
Der ihn bedienende Sklave, betrübt über den Tod der Herrin und außer sich
über die Roheit des Fremden, macht ein finsteres Gesicht. Herakles schilt ihn
einen mürrischen Thoren und belehrt ihn, der Weise nütze den Tag und genieße
das Leben bei Wein und Liebe. Als er dann aber die Wahrheit erfährt, ist
er betrübt über sein unpassendes Benehmen. Die Alten wollten jede Stimmung
rein haben, sich weder die Heiterkeit durch eingemischte ernste Betrachtungen
trüben, noch eine weihevolle und erhabne Stimmung durch Scherz und Ver¬
lockung zum Sinnengenuß entweihen lasse». Shakespeares Art, der seine Trauer¬
spiele mit zotenhaften Späßen durchsetzt, würden sie nicht gebilligt haben.
Dafür verlangte aber der gesunde Sinn der Hellenen Lösung der Span¬
nung, in die das Trauerspiel versetzt, nach dessen Schluß, damit sich weder
lähmende Traurigkeit noch lebensfeindlicher Fanatismus im Gemüte einniste.
Daher folgte auf die tragische Trilogie das Satyrspiel, und wechselten Lust¬
spiele mit Trauerspielen. Nun wieder gescherzt und getanzt! heißes in einem
Chorliede der Frosche, fromm waren wir genug. So denken ja auch unsre
Bauern, wenns nach der Predigt zum Kirmesschinans und Kirmestanz geht,
und unsre „Honoratioren," wenn sie an des Königs oder Großherzogs Ge¬
burtstage die ungewohnte Anstrengung des Festgvttesdienstcs hinter sich und
das Diner vor sich haben. Droysen führt in der Inhaltsangabe des Satyr¬
spiels Amymone (dieses zeigt, wie eine der keuschen Danaiden nachträglich mit
einem Gotte zu Falle kommt) das Wort des Dichters Ion von Chios an,
mit der Tugend verhalte es sich wie mit der Tragödie: das Satyrspiel komme
unvermeidlich hinterdrein. Man wird an diese griechische Art, die eigentlich
die Art des vollkommnen und gesunden Meuscheu ist, erinnert, wenn man die
Schilderung liest, die E. M. Arndt vom alten Blücher entwirft: „Am meisten
machte sein Gesicht erstaunen. Es hatte zwei verschiedne Welten, die selbst bei
Scherz und Spaß, welchem er sich ganz frisch und soldatisch mit jedem ergab,
ihre Farbe nicht wechselten: auf Stiru, Nase und in den Augen konnten Götter,
wohnen; um Kinn und Mund trieben die gewöhnlichen Sterblichen ihr Wesen."
Fanden sich schon die Hellenen bewogen,' Kinder und Jungfrauen vom
Genusse der erotischen Komik auszuschließen, so hat dann später die Reflexion,
namentlich unter dem Einflüsse des Christentums, diese Art Scherz überhaupt
bedenklich gefunden, weil dadurch doch auch der Mann und die Frau zur
Sünde gereizt werden könnten, und weil dergleichen, sobald es überhaupt er¬
laubt wird, doch gewöhnlich auch vor Kindern und Jungfrauen nicht verborgen
bleibt. Wenn der Nerfasfer des Ephesierbricfes (Kapitel 5 Vers 4) nicht allein
die unzüchtige Rede (««//^ri^-), sondern auch die das alberne
Geschwätz, und den witzigen Scherz (co^«??.'e/t,t«) verpönt, so müssen wir be¬
denken, daß die Apostel, ganz und gar mit ihrer heiligen Aufgabe erfüllt, ein
solches Erfülltsein auch bei den Gläubigen umsomehr voraussetzen durften, da
ja die Christenheit die Wiederkunft des Herrn und den Weltuntergang er¬
wartete. Unter solchen Umstanden ziemte keine andre als die ernste, erhabne
und heilige Stimmung, die nicht bloß durch unanständige, sondern schon durch
überflüssige und harmlose Scherze entweiht worden wäre; jedenfalls „gehörte
dergleichen nicht zur Sache" et,^xo^« nennt der Apostel die Späße), denn
es gab nur eine Sache, und die hatte schlechterdings keine spaßhafte Seite.
Allein die Natur des Durchschnittsmenschen hält eine solche Überspannung
nicht lange aus. Schon in den allerersten Christengemeinden ist es, nach dem
Zeugnis der beiden Korintherbriefe, mitunter recht wüst zugegangen, und drei-
hnndertfünfzig Jahre später lassen uns die Briefe des Hieronhmns in einen
Abgrund von Gemeinheit und leichtfertiger Charakterlosigkeit blicken, wie ihn
das alte Hellas kaum gekannt hat. In moderner Zeit ist es, wie wir bei
andern Gelegenheiten erwogen haben, mehr der Hochmut einer spiritualistischen,
die Natur verachtenden Philosophie und die Furcht der Vornehmen, sich durch
Natürlichkeit etwas zu- vergeben, was das Unanständige zum Unsittlichen
stempelt.
Daß Menschen von verfeinerten Geschmack aus freien Stücken zu einem
rohem Geschmack zurückkehren sollten, ist natürlich ausgeschlossen, und sowohl
die angedeuteten wie noch andre Zweckmüßigkeitsrücksichten lassen die Verban¬
nung des Zotenhaften aus der Öffentlichkeit und aus der guten Gesellschaft
gerechtfertigt erscheinen. Aber wer das Obseöne nicht bloß aus Zweckmüßig¬
keitsrücksichten meidet, sondern grundsätzlich verdammt, der kommt, sei es auf
dem Wege über den Pessimismus oder auf dem über den Manichäismus, zur
Weltflucht und Askese. Friedrich Bischer hat in seinem Roman „Auch Einer"
einen solchen Grübler, wahrscheinlich sich selbst, gezeichnet. Die Rezensenten
dieses merkwürdigen Romans haben immer nur „den Kampf gegen die Tücke
des Objekts" hervorgehoben. Hätte der Verfasser weiter nichts gewollt als
diesen Kampf schildern, so würde er selbst den Vorwurf verdienen, den er dem
fingirten Erzähler in den Mund legt: A. E., der närrische Kanz, bausche
Kleinigkeiten zu der das Leben beherrschenden Hauptsache auf. Für das tragi¬
komische Schnupfenleid wäre ein Scherzgedicht von zehn Seiten lang genug;
ihm einen Roman von achthundert Seiten widmen, wäre ein heilloser Unfug.
Aber das Werk enthält die atheistische Philosophie Wischers im humoristischen
Gewände. Die Natur ist ihm ein halb böses, halb gutes Wesen, ein dämo¬
nisches, aus Güte und Bosheit, aus Schöpferdrang und unvernünftiger, launen¬
hafter Zerstörungswut zusammengesetztes Weib, aus dessen Schoße sich der
Geist des Menschen erhebt, um auf der Naturgrundlage „ein oberes Stock¬
werk" aufzubauen. Die Naturgeister aber, teuflische Zwerge, hassen den
Menschen, „weil er über die Natur aufsteigt, lichte Ordnungen gründet." Mit
diesem obern Stockwerke steht es freilich sehr wacklig, nach dem Urteile, das
A. E. Über die Menschen im allgemeinen füllt; es eröffnet sich keine Aussicht
in dem Buche, daß hienieden etwas Kluges daraus werden könnte, und an
Vollendung im Jenseits ist nicht zu denken, da es weder einen Gott noch ein
Jenseits giebt. Wenn A, E. trotzdem nicht Pessimist wird, so ist das nur
eine seiner energischen Natur entspringende Inkonsequenz. Von sich selbst sagt
er: „Die Kanaillen ^die Naturteufelchen, so in den Hemdenknöpfchen, in Tinten¬
fässern und Brillen, in den Schleimhäuten der Nase und in den Naturtrieben
sitzen) haben mich doch nicht untergekriegt, ich habe nie am obern Stockwerk
gezweifelt und treulich daran gebaut, was ich konnte." Erst von diesem Stand¬
punkt aus versteht man richtig, was er über und gegen die erotische Komik
sagt. Er erzählt, wie er sich über die ekelhaften Zoten einer Herrengesellschaft
geärgert habe, und bemerkt dann: „Gewiß enthält das Geschlechtsleben des
Menschen reichen Stoff des Komischen. Es wäre abgeschmackt, diese Quelle
für Lachen und Witz verpöncn zu wollen. Wo fängt nun aber das Gemeine,
das Wachtstubcnmäßige an? Habe oft darüber nachgedacht, es ist schwer zu
finden. Höchsten ethischen Zwecken, Gefühlen gegenüber füllt auf das Sexuelle
das Schlaglicht des Tierischen, ja Mechanischen. Man hat über diesen Kon¬
trast gelacht, so lange die Welt steht, auch das reinste Weib. Gut, dann
lacht! Sucht es aber nicht, macht nicht Jagd nach solchen Beziehungen, meint
nicht, es sei schon witzig, anzudeuten, daß euch der Geschlechtsprozeß und seine
Lust bekannt sei; das ist ja Kot! Das heißt ja, sich freuen, Tier zu sein!"
Die Regel fürs Verhalten, die Bischer aufstellt, ist richtig; aber die in der
letzten Zeile gegebne Begründung führt zum Manichüismus und Pessimismus.
Darin besteht ja eben der Kontrast, daß im Menschen der Geist und das Tier
mit einander verbunden sind, und wenn ich über diesen Kontrast nicht lachen
darf, dann darf ich überhaupt nicht lachen, weder über das Erotische, noch
über einen, der zur Unzeit niest, sondern ich muß mit den Asketen darüber
weinen, daß mein erhabner Geist an ein Tier gefesselt ist. Und wenn ich mich
der Lust nicht freuen darf, die aus der tierischen, d. h. aus der leiblichen Natur
entspringt, dann darf ich mich auch der Nachtruhe nicht freuen, sondern muß
auf einem Brette schlafen und mir womöglich spitze Steine und Glasscherben
unterlegen; dann darf ich mich auch einer guten Mahlzeit und des Rebensaftes
nicht erfreuen, fondern muß mich wie Alfons von Liguori mit verschimmelten
Brote und verfaultem Fleische nähren und den Zustand der Ekstatischen er¬
streben, die nichts mehr genießen als in der täglichen Kommunion die Hostie.
In der That ärgert sich A. E. auch über die Table d'hüte, wo die Leute
zwei Stunden lang nichts thun als „fressen"; eine Kuh — meint er — fresse
anständiger als dieses Volk. Alles, was er über die Heiligkeit der Ehe und
die Erhabenheit des Zeugungsaktes sagt, kann an der Thatsache nichts ändern,
daß er nur durch Inkonsequenz der Verurteilung alles Natürlichen, auch des
Zcugungsaktes, zu entgehen vermag. Demgemäß sind ihm auch Shakespeares
Zoten nicht bloß von dem oben hervorgehobnen Gesichtspunkte aus, sondern
an sich zuwider.
Beiläufig — es gehört eigentlich nicht zu unserm Thema — in A. E.
hat Bischer, wohl ohne es zu wollen, ganz prächtig den modernen Bildungs-
hvchmut gezeichnet. A. E. ist Vogt, was etwa dem preußischen Landrat zu
entsprechen scheint, und hält sich als solcher für verpflichtet, alle „Zuchtlosig¬
keit" mit drakonischer Strenge zu zügeln, und darin sieht er das einzige Heil¬
mittel der kranken Zeit. Dabei aber ist er selbst das Urbild aller Zuchtlosigkeit;
jedes unbedeutende Hindernis macht ihn dermaßen rasend, daß er die Besinnung
und Selbstbeherrschung vollständig verliert, wie ein Verrückter flucht und tobt,
sogar lebendige Hunde zum Fenster hinauswirft, die vorübergehenden Ex¬
zellenzen auf den Kopf fallen. Wer über solche kleine Hindernisse nicht wütend
werde, sagt er, dem sei es nicht Ernst mit der Arbeit; ihm aber sei es sehr
Ernst. Aber in welcher ernsten Arbeit hatte ihn denn das Tafelgeschirr gestört,
das er auf einer Vergnügungsreise in Göschcnen zum Fenster hinauswirft, den
Gassenbuben, selbst Gassenbube, einen Spaß bereitend? Thut der moderne
Gebildete etwas, was am gemeinen Manne gestraft wird, so will er nicht allein
straflos ausgehen, sondern auch noch dafür gelobt werden, denn, was er auch
thue, er thut es stets aus idealen Beweggründen oder zu einem löblichen Zwecke,
und sein Zweck heiligt immer das Mittel. Die „Zuchtlosigkeit" des gemeinen
Mannes ist gewöhnlich ein Ausschlagen gegen Fesseln, die ihn doppelt schmerzlich
drücken, weil sein ganzes Leben eine Kette von Widerwärtigkeiten, Hindernissen
und leiblichen Unlustgefühlen ist. A. E. aber will sich auch nicht die kleinste
Unbequemlichkeit gefallen lassen; er hält es für selbstverständlich, das; kein Mensch
eines Kunstgenusses oder einer sonstigen idealen Erhebung teilhaftig werden
könne, den sein Stiefel drückt, und von einem Kultus, den der gebildete Mann
mit seiner Gegenwart beehren soll, fordert er, daß die Kirche schön und warm
und mit reiner Luft erfüllt, aber frei von aller Zugluft sei. „Wer diese Auf¬
gabe löst, wird einer der größten Wohlthäter der Menschheit sein. Ist dies
erst endcckt, so werden die Menschen milder, lauuenloser, klarer, gemütsfreier,
sie werden besser, sie werden edler sein." Richtig! Befindet sich der gebildete
Mann im Zustande höchsten leiblichen Behagens, so ist er guter Laune und
fühlt sich nicht versucht, jemanden totzuschlagen oder seiner Frau einen Teller
an den Kops zu werfen. Das gilt aber nur für den gebildeten Mann. Der
Bergmann, der nicht länger als acht Stunden in der Stickluft und Hitze eines
Bergwerks, der Töpfergeselle, der nicht zwölf Stunden lang bei naßkalten
Wetter in einem Neubau mit unverglasten Fenstern arbeiten will, die sind
„zuchtlos" und müssen mit drakonischer Strenge behandelt werden. A. E. er¬
wähnt solche Fülle nicht, aber er würde auch da seinem Charakter nach ohne
Zweifel einen schneidigen Landrat abgegeben haben.
Hören wir noch einen andern Ästhetiker, nicht über das Obseöne, sondern
Über das Wohlgefallen am Menschenleibe im allgemeinen. Max Diez, dessen
Theorie des Gefühls vor einiger Zeit in den Grenzboten mit Anerkennung
erwähnt worden ist, beweist, daß der Mensch und das Menschenleben nur im
Kunstwerk ästhetisch genossen werden dürfen. Denn nur die Natur dürften
wir als Mittel für unsre Zwecke verwenden, nicht den Menschen, der Selbst¬
zweck sei. Der Satz wirkt deswegen sehr überzeugend, weil ihn Dietz mit zwei
ganz unanfechtbaren Beispielen stützt. „Es wäre unsittlich, einen Menschen
rein als ästhetisches Objekt zu betrachten. Es kommt mir immer als eine
Barbarei vor, wenn ich einen Menschen sagen höre: eine schöne Fran! während
der Blick über die Formen gleitet." Gewiß! Wer eine anständige Frau beschaut,
wie ein Maler sein Modell, der ist ein frecher Kerl. Aber ist es überhaupt
unerlaubt, zu sagen: eine schöne Frau? Wollen nicht alle Frauen für schön
gehalten werden? Heben sie nicht ihre Schönheit dnrch Anzug und Putz her¬
vor? Auf das „rein" muß der Ton gelegt werden. Eine anständige Frau
will zuerst als Persönlichkeit geschätzt werden, und sie bloß als ästhetisches
Objekt ansehen, das wäre eine schwere Beleidigung.") „Der Mann — sagt
Diez weiter —, der imstande wäre, die Bewegung der Menschengeschicke bloß
darauf anzusehen, wiefern die Betrachtung ihm Vergnügen macht, wiefern der
dem Geschick jammervoll unterliegende »malerisch im Todeskampfe stirbt,« wäre
ein moralisches Ungeheuer." Gewiß! Ein solcher würde sich nicht mit Trauer¬
spielen begnügen, sondern zu seinem Vergnüge» Gladiatoren und Hinrichtungen
verlangen. Aber ist es nicht erlaubt, sich am Anblick eines tüchtigen Mannes
und seines Wirkens zu erfreuen, auch wenn man an dem, was er wirkt, gar
kein persönliches oder vaterländisches oder sonst gemeinnütziges Interesse hat
— er mag z. B. ein ausländischer Staatsmann sein —, wenn also die Freude
rein ästhetischer Natur ist? Alle Menschen, nur die allerärmsten und ohn¬
mächtigsten ausgenommen, gebrauchen andre, die meisten einander gegenseitig
immerfort als Mittel, und ohne dieses gegenseitige Benutzen ist gar keine Ge¬
sellschaft denkbar. Unsittlich wird es erst dann, wenn jemand den Nächsten
gegen dessen Willen gebraucht, oder wenn er ihn durch die Benutzung schädigt.
Nach dem von Diez aufgestellten Grundsätze würden nicht allein das Ballet
und der Zirkus, die ja allerdings sittliche Bedenken gegen sich haben, un¬
sittlich sein, sondern auch schon der Ball, bei dem doch der Anblick schöner
Mädchen und Frauen wesentlich zum Vergnügen der Herren gehört; wenigstens
glaube ich nicht, daß ein Ball zustande käme, wenn zufällig alle Teilnehmerinnen
grundhäßlich wären. Und find denn Abbildungen des Menschen möglich, ohne
daß Modelle gebraucht und vom Künstler mit den Augen genossen werden?
Und ist es denkbar, daß in dem Menschen, der das Menschenantlitz und die
Menschengestalt im Kunstwerke bewundert, nicht der Wunsch aufstiege, beides
auch lebendig schauen zu können? Und wird nicht in manchem schon beim
Anblick einer schönen Landschaft der Wunsch rege, den Werther in der Schweiz
ausspricht, als er seinen Freund einladet, im See zu baden? Da haben die
Asketen die Menschennatur besser durchschaut! Sie wissen: wer sich einmal
auf die Freude am Schönen einläßt, der wird bald alles Schöne zu schauen
begehren, das es auf Erden giebt; und daher wagen sie außer den vier kahlen
Wänden ihrer Zelle, einem Kruzifix und etwa einem Bilde, das die Qualen
der Verdammten darstellt, nichts anzusehen, wenn sie sich nicht gar zur Sicher¬
heit die Augen ausstechen. Und wenn ein dritter Ethiker ganz allgemein sagt,
man dürfe im Weibe nicht das Weib, sondern immer nur die Person sehen,
dann muß man solche Herren doch fragen, warum sie nicht statt eines jungen
Mädchens einen alten Professor geheiratet haben, da doch alte Professoren
gehaltvollere und interessantere Personen zu sein pflegen als junge Mädchen.
Das ganze Mittelnlter hindurch hat es weder an Erotik noch an stellen¬
weise recht unflätiger Konnt gefehlt, aber beides stand in ausgesprochnen
Gegensatze zum Kirchenglauben und zu der theoretisch geltenden Moral. Die
Wiedererweckung des klassischen Altertums stellte nicht allein die Einheit zwischen
Theorie und Praxis wieder her — ans Kosten des Kirchenglaubeus —, sondern
die von der Kirchenmoral befreiten Geister ergaben sich völliger Zügellosigkeit
und schritten über die Schönheitstrunkenheit und schalkhafte Natürlichkeit der
Alten zur Frechheit des methodisch geübten Lasters fort. Luther verurteilte
zwar die Liederlichkeit, war aber mit den Humanisten darin einig, daß er die
Askese nebst der bigotten Ängstlichkeit und der Skrupulosität verwarf und der
Natur ihr Recht zugestand. Nachdem ein zweitesmal zwar nicht der Geist
das Fleisch, aber die Dogmatik den Humanismus besiegt hatte, reagirte dieser
nochmals und setzte wiederum die Natur in ihr Recht ein. Diesmal, in Deutsch¬
land wenigstens, ohne der Zügellosigkeit zu verfallen. Nicht die Polizei und
uicht die Konvention der Gesellschaft haben unsern Klassikern das Maß ge¬
geben, sondern sie haben es, echt hellenisch, in sich selbst gefunden. Die hier
vorliegende Frage haben sie um selbstverständlich im Sinne der Griechen ent¬
schieden. Goethe — so erzählt Eckermann unterm 25. Februar 1824 — zeigte
mir heute zwei höchst merkwürdige Gedichte, beide in hohem Grade sittlich in
ihrer Tendenz, in einzelnen Motiven jedoch so ohne allen Rückhalt natürlich
und wahr, daß die Welt dergleichen unsittlich zu nennen pflegt, weshalb er
sie denn auch geheim hielt und um eine öffentliche Mitteilung nicht dachte.
„Könnten Geist und höhere Bildung — sagte er — ein Gemeingut werden,
so hätte der Dichter ein gutes Spiel; er könnte immer durchaus wahr sein
und brauchte sich nicht zu scheuen, das Beste zu sagen. So aber muß er sich
immer in einem gewissen Niveau halten; er hat zu bedenken, daß seine Werke
in die Hände einer gemischten Welt kommen, und er hat daher Ursache, sich
in Acht zu nehmen, daß er der Mehrzahl guter Menschen durch eine zu große
Offenheit kein Ärgernis gebe. Und dann ist die Zeit ein wunderlich Ding.
Sie ist ein Thrann, der seine Launen hat, und der zu dem, was einer sagt
und thut, in jedem Jahrhundert ein ander Gesicht macht. Was den alten
Griechen zu sagen erlaubt war, will uns zu sagen nicht mehr anstehen, und
was Shakespeares kräftigen Menschen durchaus anmutete, kann der Engländer
von 1820 nicht mehr ertragen, sodaß ein I^mil^-Lllglce-spsars ein gefühltes
Bedürfnis wird." Und am 29. Januar 1826 äußerte Eckermann: „Ich möchte
etwas darum geben, wenn ich die Molivreschen Stücke in ihrer gauzeu Rein¬
heit auf der Bühne sehen könnte; allein dem Publikum, wie ich es kenne, muß
dergleichen viel zu stark und natürlich sein. Sollte Überverfeinerung nicht von
der sogenannten idealen Litteratur gewisser Autoren herrühren?" Goethe er¬
widerte: „Nein, sie kommt aus der Gesellschaft selbst. Und dann, was thun
unsre jungen Mädchen im Theater? Sie gehören gar nicht hinein, sie gehören
ins Kloster, und das Theater ist bloß für Männer und Frauen, die mit mensch¬
lichen Dingen bekannt sind. Als Moliöre schrieb, waren die Mädchen im
Kloster, und er hatte auf sie gar keine Rücksicht zu nehmen." Daß der Alt¬
meister die Mädchen ins Kloster sperren wollte, war nicht hübsch von ihm
und für sein damaliges Alter ein wenig unbedacht; aber darin hat er unzweifel¬
haft Recht, daß sie nicht ins Theater gehören, und daß es in mehr als einer
Vcziehnng um die Litteratur geschehen ist, wenn sie sich den Bedürfnissen der
jungen Mädchen anbequemen soll.
Karl August Böttiger teilt in seinen Aufzeichnungen^) unterm 22. Januar
1799 folgendes mit. „Goethe äußerte gegen Wieland, daß die ursprüngliche
einzige ?i3 eoinic-g, in den Obscönitüten und Anspielungen auf Geschlechtsver-
hältnisfe liege und von der Komödie gar nicht entfernt gedacht werden könne.
Darum sei Aristophanes der Gott der alten Kvmödicndichter — sagte Wieland —,
und darum hätten wir eigentlich gar kein Lustspiel mehr. Es ist auch wahr,
daß selbst der strengste, ernsteste Mann, sobald er es unbemerkt thun darf, bei
einem glücklichen Einfall aus dieser Fundgrube des Witzes, der den Bettler
wie den König belustigt, seine Stirne entrunzelt, und daß diesem Universal¬
mittel aus Demokrits Apotheke eigentlich kein Sterblicher widerstehen kann."
Daß das Obseöne in der Komödie das Ursprüngliche ist, damit haben die beiden
alten Herren allerdings Recht, aber daß es nicht unentbehrlich sei, Hütten sie
doch schon ans Molle-re lernen können. Und je breiter das Leben strömt, und
je verwickelter die Verhältnisse werden, desto zahlreicher werden die Narren
und die Kontraste, die Stoff zum Lache» geben. Die Komödie also kann,
wenn sie nicht durchaus Bauernposse sein soll, das Unanständige schon ent-
Kehren; ob es die Männer entbehren können oder wollen, ist eine andre
Frage.
Völliger teilt auch zwei Aussprüche Wielands mit, in denen sich dieser
gegen den Vorwurf der Schlüpfrigkeit entschuldigt. Am 26. November 1795
sagte er: „Ich weiß nicht, wie mir der Vorwurf gemacht werden konnte, ich
sei ein schlüpfriger Schriftsteller. In meiner Seele ist nichts von dem Stoffe,
der hier gähren müßte, wenn ich das sein sollte. Ein alter Mann, der
Kinder und Enkel um sich herumlaufen hat, ist wohl von allem Kitzel frei.
Ich habe überall Originale kopirt und mich sorgfältig in Acht genommen, der
menschlichen Natur Bocksfüße zu geben, wo sie keine hat. Da hat Weiße in
Leipzig in seinen sonst sehr bewunderten Gedichten weit mehr anstößige Lieder.
Bei mir handeln die Personen ihrem Wesen gemäß, und der Wollüstliug kann
nicht anders sprechen, als ich ihn reden horte. Hätte ich die Menschen so
geschaffen, dann könnten mich Vorwürfe treffen. Aber die hat Gott so ge¬
macht." Einige Tage später sagte er: „Komme ich einst dazu, die Geschichte
meiner Schriften zu schreiben, so werde ich vieles über die mir angeschul¬
digte (sie) Schlüpfrigkeit zu sagen haben. Ich habe besondre Vorstellungen
von den Lg.<zris xlmllioi8 des grauen Altertums. Es waren die ehrwürdigsten
Natnrfeierlichkeiteu. Sobald der Mensch nur ein Glied an seinem Leibe hat,
dessen er sich schämt, hat er seine Unschuld verloren. Man tadelt es, daß nackte
Figuren dn aufgestellt werden, wo Mädchen im Hause sind. Hätte ich nur
recht viel, ich wollte alle meine Zimmer davon anfüllen. Warum ziehen wir
denn den Hunden und Ochsen nicht auch Hosen an? Der heiligste Naturtrieb
ist durch Pfafferei entadelt und verschrieen worden. Um dieser Bigotterie zu
entgegnen, habe ich solche Themen ausgemalt, die ich absichtlich ergriffen habe,
nicht daß sie mir, wie Schiller beliebt zu sagen, unglücklicherweise in die Hände
gefallen wären." Bei einer spätern Gelegenheit wird bemerkt, Bürgers Hohes
Lied habe Wieland stets die widrigste Empfindung verursacht, weil es der Fran
eines andern gegolten hätte. Er dachte und empfand also ganz antik, indem
ihm unsittlich und obscön zwei durchaus verschiedne Begriffe waren.
Nach der Mitte unsers Jahrhunderts trat eine doppelte Wendung ein,
die der Freiheit im allgemeinen und auch in diesem Gebiete nachteilig war.
In der Wissenschaft wurde der Humanismus von den Naturwissenschaften
zurückgedrängt, und mit diesen siegte das praktische Interesse, d. h. ohne Um¬
schweife gesprochen, das Geldiuteresfe über die idealen Interessen. In der
Politik verwandelten sich die Träger des Liberalismus aus Gegnern in Stützen
der Regierungen. Die Führer des gebildete» Bürgerstandes wurden sehr reich
und dadurch eine herrschende Klasse; die mittlern Beamten wurden durch Ge¬
haltserhöhungen und viele noch außerdem durch einen ihren Wünschen ent¬
sprechenden Gang der üußeru Politik mit dem Staate versöhnt. So gerieten
sie in Oppositionsstellung zu den Massen, deren Führer sie bis dahin gewesen
waren, und sahen sich genötigt, alle freiern, nach Revolution schmeckenden An¬
sichten zu verleugnen. Die Verteidigung der Volksrechte überließen sie den
Ultramontanen, Partikularsten und Sozialdemokraten; sie selbst waren allemal
an der Seite der Polizei und des Staatsanwalts zu finden. Indem sie aber auf
die schöne Bezeichnung liberal, die ihnen so viel Ehre eingetragen hatte, und
die immer noch viel Anziehungskraft auf die Massen ausübte, nicht verzichten
mochten, gerieten sie in eine äußerst schiefe Stellung, sahen sich zur UnWahr¬
haftigkeit gezwungen und erschienen denen als Feiglinge, die die vorgegangne
innere Umwandlung nicht begriffen.
Mit Beziehung auf unsern Gegenstand darf man den meisten der Herren
Heuchelei vorwerfen. Sie für ihre Person stehen auf dem Standpunkte der
Humanisten, und viele von ihnen gehen noch ein gutes Stück darüber hinaus,
indem sie nicht allein den Geschmack der Alten sür aristophanische Komik teilen,
sondern sich auch so manches erlauben, was diese als unsittlich verurteilt haben
würden. Aber als herrschende Klasse halten sie zur Wahrung ihrer Würde
streng auf Wohlanständigkeit, und durch die Sozialdemokratin die mit dem in
höhern Regionen wissenschaftlich begründeten Naturalismus die Massen durch¬
säuert hat, erschreckt, hegen sie ängstliche Sorge um die bürgerliche Ordnung.
Daher stellen sie sich auch in diesem Punkte auf die Seite der Polizei; die
Rechte der Natur zu verteidige» überlassen sie einer Gesellschaft unreifer Stürmer
und Dränger, die nicht, gleich unsern Klassikern, das Maß in sich selber tragen.
Auch in dieser Beziehung sind sie daher in eine schiefe Stellung geraten, die
jedesmal recht auffällig wird, wenn es gilt, Angriffe der Ultramontanen auf
Luther und auf unsre Klassiker abzuwehren. Beide werden von den Ultra¬
montanen verleumdet, indem das, was vom streng christlichen Standpunkte um
ihnen anstößig erscheint, einseitig hervorgehoben, das Große und Edle aber,
was der rechtgläubige Katholik auch von seinem Standpunkte aus anerkennen
müßte, verschwiegen wird. Aber unsre modernen „Liberalen" begnügen sich
nicht damit, diese Art der Verleumdung zu brandmarken; sie stellen sich, als
hielten sie es schon für Verleumdung, daß überhaupt von Luthers Cynismen
und von der Erotik in Goethes Leben und Dichtung gesprochen wird. Wären
unsre Liberalen echte Liberale, und wären sie vom Geiste Luthers und Goethes
beseelt, so würden sie den Angreifern entgegnen: „Bildet euch doch nicht ein,
daß wir uns darüber ärgern! Das wissen wir selber, daß weder Luther noch
Goethe ein Frömmler, Duckmäuser oder Asket gewesen ist. Gerade darin
besteht ja eben das Verdienst dieser beiden Männer, daß sie der Natur zu
ihrem Rechte verholfen und aller Psasferei und Möncherei ein Ende gemacht
oder ihr wenigstens den Nimbus genommen haben. Unsre Moral ist nicht so
erhaben wie die eure, aber dafür brauchen wir auch nicht so zu heucheln wie
ihr, und dafür kommt es bei uns nicht vor, daß einer mit den Jkarusflügeln
einer eingebildeten übernatürlichen Hilfe die irdische Schwerkraft zu überwinden
und in den Äther emporzusteigen unternimmt, beim ersten Versuch aber herab¬
stürzt und im tiefsten Kote versinkt." So zu sprechen wagt keiner mehr, und
so hat denn der Liberalismus, Nebenbuhlern und Nachfolgern das Feld räumend,
auch in dieser Hinsicht bankrott gemacht.
Indem die heutige Sitte das Obseönc aus der Öffentlichkeit verbannt,
dient sie als Schutzwehr für die Unschuld der Jugend^) und die Würde der
Frauen. Aber dieser Nutzen wird durch den Umstand aufgewogen, daß die
Verwechselung und Verschmelzung des sittlich Bösen mit dem Unanständigen
die Gewissen verwirrt und abstumpft, sodaß ein Mann, ohne Furcht, in der
Gesellschaft unmöglich zu werden, an seiner Frau oder an einem von ihm
verführten Mädchen gemein und niederträchtig handeln darf, wenn er nur weder
den äußern Anstand verletzt, noch das Strafgesetz übertritt. Andrerseits hat
die öffentliche Zulassung des Obseönen auf die Sittlichkeit der Alten keinen
nachweislich schlechten Einfluß geübt; denn sie war bei den Griechen wie bei
den Römern das Ursprüngliche, die Sittenverderbnis aber riß gerade in der
Zeit ein, wo Reichtum, Luxus und Bildung das ganze Leben und damit auch
den Begriff von Anstand verfeinerten. In der altitalischen Bauernreligion
scheint, wie meistens in den Naturreligionen, die vergöttlichte Zeugungskraft
den Mittelpunkt gebildet zu haben. Der Phallus spielte bei den Römern fast
dieselbe Rolle, wie heute in katholischen Ländern das Heiligenbild; überall war
er zu sehen: auf der Straße, im Garten, im Hause. In kleinem Format
diente er als Amulet für einzelne Personen, in großem hatte er die ganze
Familie, den Acker und Garten, die Gemeinde und das Kriegsheer zu schützen
und zu segnen. Und bei diesen Phallusverehrern war die Ehe so heilig, das;
Rom die erste Ehescheidung erst im Jahre 521 nach Erbauung der Stadt
erlebte.^) Auch ist es charakteristisch, daß Rom zwei seiner großen Staats-
umwälzungen auf Entehrung, das einemal einer Matrone, das andremal einer
Jungfrau, zurückgeführt hat. Wie viel Revolutionen müßten wir da heute in
Deutschland erleiden!
>n seinem Roman H^pati-r wollte Kingsley den Triumph des
^wahren Christentums darstellen, des Christentums der Liebe,
^von dem er die Heilung aller sozialen Schäden erwartete.
Nächstenliebe, Selbstverleugnung, Unterordnung hielt er für die
^. Tugenden, die wieder in der Menschheit erweckt werden müßten,
und ohne die eine gesunde Sozialreform nicht möglich sei. Selbsthilfe der Ar¬
beiter in christlichem Geiste galt ihm als der einzige Weg zur Besserung der
unseligen sozialen Verhältnisse; jede Einwirkung der Kirche ans das äußerliche
Leben erschien ihm als zwecklos und unnütz. Als im Jahre 1852 der Streit
über die Sonutngsheiligung in England ausbrach, erklärte er als Geistlicher,
er würde es ganz gern sehen, wenn man die großen nutzlosen Räume (tluz
grs-it n8öl6L8 n-loss suick g-lÄss) der Kathedralen in Museen und Wintergarten
verwandelte, wo das Volk seine Svnntagsspaziergänge machen konnte. Die
Agitation für die christlich-sozialen Grundsätze, für die Gründung von Arbeiter¬
vereinigungen und Produktivgenossenschaften überließ Kingsley jetzt, wo ihn
seine litterarischen Arbeiten ganz in Anspruch nahmen, seinen Freunden Mau-
rice, Ludlow und Hughes. Ihre Zeitschrift lüürijztian Looi<tu8t oder — wie sie
in den letzten Nummern hieß — ^onriml ol ^880Lmtiou hatte im Juni 1852
aufgehört zu erscheinen. Jetzt gilt es, sagt Kingsley darin zum Schluß,
im stillen zu arbeiten. Imo sxsot»c;1«z ol' silsill vorlcinA kann i8 vns g,t cmos
so rars g-mal so novis tdst it teils mors, Sven on opponsnt»?, tua-n thu tlron-
snuck Mttorra o^rotövünies. Die letzte Nummer der Zeitschrift schließt mit
einem kräftigen Gedichte Kingsleys, dessen erste Strophe lautet:
Mit bittern Empfindungen mußte er sehen, daß seine theologischen Gegner
immer mehr an Boden gewannen. Sie setzten es durch, daß Maurice wegen
seiner 'l'dgologivÄl Dös^s aus IQng's vollsgö entlassen wurde. Maurice hatte
darin ketzerische Lehren über die Ewigkeit der Höllenstrafen ausgesprochen,
Lehren, die Kingslcy teilte; er war von diesen freimütiger Essays so begeistert,
daß er an einen Freund schrieb: Naurios's öff^s >pill <zon8lieues an exoob.
Ik ddo Lliurou ok Lugliiiul rea'sol8 duoi^, 8iro pill rot sunt als, tus ^Isxan-
clrmu alia dolore it Aber auch Kingsley selbst blieben die Verfolgungen der
Orthodoxen nicht erspart. Als er sich 1854 zu seiner Erholung im Seebade
Torquay am Kanal in Devonshire aufhielt, war die Geistlichkeit in dieser
Gegend so gegen ihn aufgehetzt worden, daß sie sich in auffälliger Weise von
ihm zurückzog und ihm das Predigen in deu Kirchen untersagte.
Um so mehr Muße behielt er zu dichterischen Schöpfungen. Im Juni
1854 zog er auf einige Zeit nach Videford. Und hier, in unmittelbarer Nähe
der See, im Verkehr mit deu urwüchsigen Fischern und Seeleuten, umgeben
von einer malerischen Landschaft, schrieb er seinen zweiten geschichtlichen Roman
^Vvstv^ra Uo! der ihn mit einem Schlage zum Liebling der ganzen aben¬
teuerlustigen englische« Jugend machte. In our ^'uäUiuzut — sagt Ellis —
ello book is >vüoll/ 8'oc>et, denn pill imrmrt, vigonr s-und g-ot, 38 g. tonio to an^
z^vunA uni-n vllo pill röiicl it türouglr vues or tvvios tuouAtittulI^ <ZZ.rs-
tüll/, not out/ in oräsr to cwtiüu g,iun80iuont froiu 1t, but also in orator to
-illo^v 1t8 iron >'ma 8löst to iinvrogimto ni8 luiucl ana 8ont. Uoxt to
Lrmvu'8 L<?boo16a^8," vdiou it r>g.durs.Il^ mnoll ro8ourbls8, tüsrö i8 no auctior
1>ooK in our lANAuaAv, its IiraoioF sxirlt is oovtk^ivus ava bvnoüvml, »s
vvüo Iiavs rana it iun8t «011^88.
In ^Vo8t>parat Uo! ('iMviiuit« Petition. Übersetzt von E. Schuck. Gotha,
Perthes, 1886) entrollt der Dichter ein farbenreiches Bild von dem frischen,
abenteuerlichen Seemannsleben zu der Zeit der Königin Elisabeth. Die ge¬
waltigen nationalen Kämpfe zwischen Spanien und England um die Weltherr¬
schaft, die heftigen religiösen Fehden zwischen Papismus und Protestantismus,
die politischen Unruhen in Irland, das damals gleichsam der feste Brückenkopf
der spanisch-katholischen Partei war, kühne Entdeckungsfahrten und Eroberungs-
züge, Pirateulebcn und Urwaldsidyllen, Züge wildester Nachsucht und treuester
Liebe, das vornehme, von Poesie verklärte Hofleben der jungfräulichen Königin
und die gräßlichsten Bilder der spanischen Inquisition, der Jesuitenherrschaft
und des Sklaventums auf den Galeeren — alles greift in diesem Roman in
einander und vereinigt sich kunstvoll zu einem fesselnden geschichtlichen Ge¬
mälde. Kingsley hat den Roman dem Gedächtnis der großen Seehelden Drute,
Hawkins, Gilbert, Naleigh, Oxenham und Hayes gewidmet, denen England
seine Größe, seinen Reichtum und seine Unabhängigkeit verdankt. Diese Männer
stammen alle aus dem südwestlichen Teile Englands, aus Devonshire, und
hier, in dem kleinen Orte Videford, läßt der Dichter seine Geschichte spielen.
Der Held der Erzählung ist Amyas Leigh, ein frischer, unternehmender
Bursche, der sich am liebsten schon mit fünfzehn Jahren mit dem Kapitän
Oxenham und dem alten Seemann Salivation Deo auf Abenteuer gegen die
Spanier begeben hätte. Die kecken Fahrten Drakes nach Westindien, die Er¬
oberung der spanischen Kolonie nombre de Dios und die reiche Beute aus
den spanisch-amerikanischen Handelsplätzen haben die ganze englische Jugend in
Begeisterung versetzt. Auch Amyas Leigh ist trotz der Bitten seiner Mutter
nicht mehr zurückzuhalten. Er läßt sich vom Kapitän Drake anwerben und
macht mit ihm die große Reise um die Welt. Nach drei Jahren kehrt der
junge Seemann nach seinem Heimatstädtchen Bidefort zurück, gepriesen und
gerühmt wie ein Held. Theateraufführungen, Maskenzüge, Singspiele und
andre Festlichkeiten werden veranstaltet, um Amyas Leigh zu feiern. Die ganze
Bürgerschaft ist daran beteiligt, und die schönsten Mädchen streuen dem jungen
Helden Blumen.
Nur eine fehlt unter ihnen, Rosa, die liebreizende Tochter des Bürger¬
meisters Salterne. Amyas hat ihr Bild niemals vergessen können; auf der
ganzen Reise um die Welt hat es ihn begleitet. Er liebt die Rose von Tor-
ridge. Aber zu seinem tiefen Schmerze bemerkt er, daß auch sein Bruder
Frank sein Herz an das Mädchen verloren hat. Frank ist das gerade Gegen¬
stück zu dem wetterfesten, tollkühnen Amyas: ein fein gebildeter Mann, auf
englischen und deutschen Universitäten erzogen, mit diplomatischen Sendungen
nach Italien betraut, ein vollendeter Hofmann, ein Liebling der jungfräulichen
Königin und folglich ein Liebling aller englischen Damen. Amyas will nicht
der Nebenbuhler seines Bruders sein und verzichtet auf den Besitz des Mäd¬
chens: „Ich bin —sagt er— nicht solch ein Narr, daß ich gegen Wind und
Strömung rudern sollte. Ich denke, ich bin gut genug für sie, aber du bist
besser, und der gute Hund läuft zwar auch schnell, aber der beste nur hat den
Hasen. Also habe ich nichts mehr mit der ganzen Sache zu thun. Heirate
sie und lege neue Stützen an unser altes Haus. Man würde niemals
durch die Hecke kommen, wenn man alle Dornen beseitigen wollte. Niemand
ist auf die Welt gekommen, um Honigtöpfe auszulöffeln. Was sein muß, muß
sein. Kann man nicht die Krume haben, so muß man mit der Kruste vorlieb
nehmen. Ich will in die Armee gegen Irland eintreten. Kanonenkugeln
treiben die Liebe ebenso gut aus wie Armut, und das ist alles, was ich sagen
wollte."
Aber uoch ein dritter Bewerber um die Rose von Torridge taucht auf.
Es ist des Amyas katholischer Vetter Eustace. Zu dem trotzigen Seemann
und zu dem feingebildeten Hofmann fügt der Dichter noch eine dritte für jene
Zeit charakteristische Gestalt: den Jesuiten. Enstace wird aber bald entlarvt
und flieht mit seinen papistischen Freunden. Amyas gründet, ehe er nach Ir¬
land geht, mit Frank und andern stillen Verehrern der Rose Salterne den
Nosenvrden, in den auch der komische, aber mutige Hungerstndent von Oxford,
Jack Brimblecombc, aufgenommen wird. Alle Mitglieder deS Rosenordens ver¬
pflichten sich, hinauszuziehen und große Thaten zum Ruhme ihrer Göttin zu
vollführen. Amyas hat den alten Seemann Salvation Mo aufgefunden, der
mit dem verunglückten Kapitän Oxenham haarsträubende Abenteuer durchgemacht
hat, und mit ihm beteiligt er sich an den Kämpfen gegen die Spanier in Ir¬
land. Hier nimmt Amyas einen spanischen Granden. Don Guzman, gefangen.
Don Guzman geht bis zu seiner Auslosung nach Bidefort, lernt dort die
Rose Saltcrue kennen, verliebt sich in sie und entführt sie nach Westindien,
wo er Gouverneur von La Guayra wird. Der unglückliche Vater des Mäd¬
chens rüstet sofort ein Schiff, „die Rose," aus, und Amyas und Frank, Jack
Brimbleeombe und Salvation Aev sind entschlossen, die Geraubte dem Vater
wieder zurückzuholen.
Es reiht sich nun ein Abenteuer ans andre. Die Seefahrer landen ans
Barbados, führen ein fröhliches Pirateuleben und verrichten auf der Insel
Marguerita Wunder der Tapferkeit. Allen voran zeigt sich der Oxforder
Theologe als Held. „Unser Jack — heißt es an einer Stelle — sah die Spa¬
nier herankommen, die er so bestimmt erwartet hatte. Er pflückte ein Blatt
vom Baume und legte es als Buchzeichen in seine Bibel, legte diese auch
säuberlich auf deu Rasen. Dann nahm er seine Muskete, raunte wie toll auf
den Kapitän los und schoß ihn vom Pferde, dem nächsten warf er seine Mus-
kete an den Kopf und brach, ein zweiter Roland mit dem Schwerte Durcm-
darte, in die Reihen der Schützen ein, indem er rechts und links so wuchtige
Hiebe austeilte, daß die Spanier, in dem Glauben, der böse Feind, vielleicht
gar Luther selbst, fechte gegen sie, in wilder Flucht davonstürzten." Solche
Schilderungen, die Kiugsley in diesem Roman wohl für notwendig gehalten
hat, erinnern zwar sehr an die aufregenden Szenen in englischen Jugenderzäh¬
lungen. Aber auch der Erwachsene in England liebt solche Schilderungen,
besonders wenn ein kerniger Humor hiudurchweht. Schriftsteller wie nider
Haggard und Stevenson haben Kingsley in dieser Beziehung weit überboten
und doch Beifall gefunden.
Die Seefahrer kommen endlich vor La Guayra an. Aber „das Abenteuer
mißverstandener Ritterlichkeit" endigt tragisch. Bei dem Entführuugsversuch
wird Frank gefangen genommen und mit seiner Geliebten nach dem Urteil der
Inquisition lebendig verbrannt. Die andern Engländer, die ihr leck gewordnes
Schiff im Stich gelassen haben und in die Fieberrcgionen des Orinoco geflohen
sind, werde» von Don Guzman verfolgt. Sie verweilen lange Zeit an den
Ufern des Meta inmitten eines Jndianerstammes, der sich durch ein weißes
Mädchen von spanischer Schönheit, Ayacanora mit Namen, leiten läßt. Dann
ziehen sie weiter nach der Stadt Santa F6. Unterwegs stoßen sie ans einen
Zug Spanier und Neger, die eine Menge Gold nach dem Magdalenenstrom
schaffen. Die Spanier werden niedergemetzelt, die Abenteurer bemächtigen sich
der Schätze, bauen sich Kanoes und fahren mit den Goldbarren nach der Bucht
von Santa Marta. Dort erobern sie ein spanisches Schiff und fahren dann
in die Heimat zurück, Aber Amyas Verlangen, an Don Guzman Rache zu
nehmen, ist noch nicht gestillt. In dem furchtbaren Kampf zwischen der spa¬
nischen Armada und dem englischen Geschwader trifft er seinen Todfeind. Doch
an derselben Insel Lundy, von wo der Spanier die Rose von Torridge ent¬
führt hat, zerschellt sein Schiff bei furchtbarem Gewittersturm. Amyas verflucht
sein Geschick, das ihm nicht vergönnt hat, selbst der Rächer seiner Ehre zu
werden. Da fährt ein Blitzstrahl in sein Schiff, Amyas bricht zusammen, des
Augenlichts beraubt. Ayaccmora, die als Oxeuhams Tochter erkannt wird,
pflegt ihn und wird sein Weib.
Ein feinerer litterarischer Geschmack wird durch die Kette der wunder¬
lichsten Abenteuer, die Kiugsley hier aneinandergereiht hat, schwerlich befriedigt
werden. Die Absicht, zu wirken und zu spannen, tritt oft gar zu deutlich hervor.
Aber dafür entschädigt er den Leser durch die kräftige, dem sechzehnten Jahr¬
hundert angepaßte Sprache, deren Bilderreichtum und humoristische Wendungen
oft an Shakespeare erinnern, durch feine Charakterzeichnung und durch eine
Fülle geistreicher Bemerkungen, die sich freilich in einem Roman wunderlich
genug ausnehmen. So sagt er nach einer farbenreichen Schilderung des Ur¬
waldes am Orinoco: „Der Geist des Menschen ist nicht so »unendlich« im
gewöhnlichen Sinne des Wortes, wie sich die Leute einbilden. Wie stark auch
der Appetit nach Wundern sein mag, so lange er ganz unbefriedigt bleibt, er
ist ebenso bald gesättigt wie jeder andre Appetit und läßt die Sinne seines
Besitzers so stumpf wie die eines Gourmands nach einem lukullische« Feste.
Nur die größten Geister, ein Humboldt, ein Bonpland, ein Schönburg können
lange da genießen, wo die Natur unerschöpflich ist und immer neue und große
Ansprüche an ihre Bewunderung stellt. Der schwindlige Zuschauer kommt an
einem Pnnkte an, wo er gern die Augen schließt und, wie die westindischen
Spanier thun, Zuflucht zu Tabak und stumpfem Brüten nimmt. Und wer
nicht nur seine Augen, sondern auch Worte gebrauchen will, was soll der thun?
Superlative sind nur ein Lallen und geben keine rechte Vorstellung von wahrer
Größe. Und doch Pflegen wir Superlativ auf Superlativ zu häufen und aus¬
zurufen: »Höchst wunderbar, höchst entzückend!« Es ist ein bemerkenswerter
Charakterzug, daß den frühern englischen und spanischen Reisenden das Talent
der Wortmcilcrei, ja selbst die Bewunderung all der herrlichen Dinge fehlte.
Die einzigen beiden Ausnahmen, die ich kenne, sind Kolumbus und Raleigh,
neben Humboldt die begabtesten Männer, die jemals den amerikanischen Boden
betreten haben; und selbst sie konnten nur schwache Andeutungen machen."
Für Raucher — Kingsley war selbst ein starker Raucher — mag noch
sein Loblied auf den Tabak hier angeführt werden, das er dem alten Seebären
Salvation I^w in den Mund legt: „In der Kraft dieses Krautes habe ich es
manchmal drei Tage und Nächte ohne Nahrung aushalten können, und darum
tragen es die Indianer stets auf ihren Kriegszügen bei sich. Kein Wunder,
es ist das Beste unter allem Guten, was Gott geschaffen hat. Es ist des
einsamen Mannes Gesellschafter, des Alleinstehenden Freund, die Nahrung des
Hungrigen, der Trost des Betrübten, des Wächters Schlaf, des Erstarrten
Feuer. Selbst bei Verwundung, bei Magenkrampf und Gliederreißen kann man
unter dem weiten Himmelsgewölbe kein besseres Mittel finden als dieses Kraut."
Wie Kingsley in L^xcckm den Sieg des Christentums über das Heidentum
darstellt, so feiert er in VöslvMÄ Ho! die triumphirende Macht des prote¬
stantischen Geistes über den Katholizismus und das Jesuitentum. Und wie
er in H^Meis, seinen Zeitgenossen das Christentum der Liebe vor Augen hält,
das nichts zu schaffen hat mit mönchischer Weltflucht und Askese, so ruft er
in ^Vo8ton,ra Ho! den damals im Krimkriege kümpfeuden Engländern zu: „Seid
so bieder und gottesfürchtig, wie es die Helden zur Zeit der Königin Elisabeth
waren, und der Sieg ist euer!" Der Krimkrieg kostete den Engländern viel
Blut und brachte in Tausende von Familien Kummer und Herzeleid. Aber
Kingsley begrüßte diese Prüfungen als einen Segen für England, als eine
Macht, die die selbstgerechten, höhern Klassen aus ihrem üppigen Dasein
und ihrem leichtfertigen Sportslcben herausreißen sollte. Er schrieb damals auch
eine Flugschrift Lravs ^oräs to Lrsvs Zoläivrs s,v<1 Lailors, die zu taufenden
gedruckt und unter die Soldaten im Krimkriege verteilt wurde. „Dem englischen
Soldaten — sagt er in einem Briefe — fehlt eine Volksreligion (a will-
tar/ auel oorxorg-es füret imlioiml rsliZ'inen), die muß er erst noch bekommen,
und ich hoffe, sie ihm in meiner Schrift zu geben. Diese Religion hatten
Cromwells Eisenmänner, und damit wurden sie Sieger. Diese Religion hatten
die Helden Elisabeths, und damit schlugen sie die Armada."
Der Krimkrieg spielt auch noch in seinen im Jahre 1857 erschienenen
Roman Ivo ^<ZM hinein (I'Äuvllnit/ lüäiticm. Übersetzt von M. Bau¬
mann. Gotha, Perthes, 1891). Hier spinnt Kingsley die Fäden seiner sozialen
Romane ^sg-se und ^.Itou Iivelco weiter. Alle wirtschaftlichen, religiösen und
gesellschaftlichen Fragen, deren Lösung die christlichen Sozialisten anstrebten,
erscheinen noch einmal in 'Iwo Dabei sucht Kingsley die Reformer
und Volksfreunde noch nach einer andern Seite zu lenken, nämlich auf die
sanitäre Lage der englischen Bevölkerung. In einem Briefe aus dem Jahre
1857 schreibt er: „Ich sehe, ein Werk muß uoch gethan werden, ehe ich sterbe.
Man muß der Natur so entgegenarbeiten, daß sie sich nicht als Fluch und
Vernichtung erweist, sondern als Segen und als unsre Mutter; und das kann
geschehen durch Gesundheitsreform. Die Politik und die Wirtschaftslehre mögen
jetzt meinetwegen ihre Bahn gehen. Wenn ich für meine Person nur dabei
helfen kann, ein paar tausend Arbeitern und ihren Kindern das Leben zu retten,
so kann ich mir dadurch Gottes Segen verdienen."
Der Hauptheld des Romans ist der junge, begabte und lebensfrische Arzt
Tau Thurnall, eine liebenswürdige Gestalt, der Kingsley manche Züge seines
eignen Wesens verliehen hat. Von einem heißen Verlangen getrieben, Welt
und Menschen kennen zu lernen, von keinem andern Glauben erfüllt, als dem
an seine Kraft und sein Glück, ist er fünfzehn Jahre lang in fremden Erd¬
teilen umhergestreift, in Asien, Amerika und Australien. Auf seinen abenteuer¬
lichen Wanderungen hat er die menschliche Natur in jeder Gestalt beobachtet,
von dem Prunk und Pomp des Fürsten herab bis zur Tätowirung der Wilden,
und er hat sich darüber ein klares und praktisches Urteil gebildet. Er hat
alle Gefahren kennen gelernt, die dem Menschen im Kampfe mit der Natur
und seinesgleichen entgegentreten. „Gefahr — sagt er — ist ein besserer Schul¬
meister als alle modernen Musteranstalten mit ihren Instrumenten und wissen¬
schaftlichen Apparaten, Nur durch die Gefahr wurden unsre Vorfahren die
Herrscher des Meeres, obgleich sie niemals etwas von populärer Wissenschaft
gehört hatten, und obgleich — ich darf es wohl behaupten — kaum einer von
zehn seinen Namen schreiben konnte." Ans seiner Rückreise nach England scheitert
das Schiff. Tom wird ans Land geworfen und von Grace Harveh, der Dorf¬
lehrern« in Aberalva, gerettet. Zwischen Tom und Grace entsteht bald innige
Freundschaft, obgleich beide von ganz Verschiednem Charakter sind. Tom bleibt
als Arzt in Aberalva und tritt, von Grace unterstützt, entschieden für eine
Gesundheitsrefvrm in dem verpesteten Orte auf. Aber er stößt unter den
Fischern auf heftigen Widerstand, bis die gefürchtete Cholera wirklich herein¬
bricht und über die Eigensinnigen und Dummen ein Strafgericht abhält.
In demselben Orte wohnt der Dichter Elseleh Vavasvur, der in lächer¬
licher Eitelkeit seinen wirklichen, nur Tom bekannten Namen John Briggs
abgelegt hat. Er hat sich mit einer Schwester des Lord Skoutbush, des
Besitzers einiger Grundstücke in Aberalva, verheiratet, thraiinisirt aber in
seiner Launenhaftigkeit und krankhaften Eifersucht seine Frau Lucia auf schmäh¬
liche Weise. Lucici ist umso unglücklicher, als sie bemerkt, daß Elseleh ihrer
Schwester Valencia alle die Aufmerksamkeiten zu teil werden läßt, die sie ver¬
gebens von ihm erwartet. Kingsley macht zu diesem Verhältnis die feine
Bemerkung: „Nichts ärgert eine Frau mehr, als wenn ihr Mann Straßen-
cngel und Hausteufel ist; wenn sie sehen muß, wie er gegen jedes Weib, sie
ausgenommen, ein Engel ist, wie er in Gesellschaften immer lächelt und hübsche
Geschichten erzählt und der liebenswürdigste und bescheidenste Mensch ist, dem
man vielleicht gar wegen seiner Liebenswürdigkeit Lobeserhebungen macht;
und wenn sie dabei immer ganz genan weiß, daß er alle schlechte Laune des
Tages aufspart, um sie daheim an ihr auszulasten, vielleicht schon im Wagen,
sobald sie die Thür im Rücken haben. Ihr Heuchler, die ihr seid, wenigstens
einige von euch, meine Herren!"
Das dritte Paar, das in dem Roman eine größere Rolle spielt, ist der
Ä^nler Claude Mellvt und seine heitere, lebensfrohe Gutem Sabina. Sie
wohnen in London und beherbergen die angeschwärmte Schauspielerin La
Cvrdifiamma, eine Amerikanerin mit dem wirklichen Namen Marie Lavingtvn.
Tom hat sie in Amerika kennen gelernt und ihr dort manche Ritterdienste
geleistet. Ihre Anbeter sind der reiche Amerikaner Stangrave und der kleine
Lord Skoutbush. Aber Skontbnsh muß weichen und zieht sich nach Abercilva
zu seiner Schwester Lucia zurück. Die Cholera vertreibt die Gesellschaft
nach Wales, und hier am Fuße des Snowdon spielt sich ein Eifersuchtsdrama
ab, das den Dichter Elseley in den Tod treibt.
Inzwischen ist der Krimkrieg ausgebrochen, und Tom ist sofort bereit,
sein Blut dem Vaterlande zu opfern. Er macht den Krieg mit, wird ge¬
fangen genommen und kehrt endlich nach zwei Jahren wieder nach England
zurück. Seiner Geliebten Graec ist er treu geblieben. Die Lebenskampfe
haben ihn wieder zu einem gottesfürchtigen Menschen gemacht. „Ich erkannte
— sagt er zu ihr —, daß ich seit Jahren versucht hatte, wer der stärkere
sei, Gott oder ich. Ich erkannte, daß ich in thörichter Weise versucht hatte,
ob ich nicht ohne ihn fertig werden könnte. Dort im Kriege sah ich ein,
daß das nicht geht, daß ich es nicht konnte. Ich fühlte wie ein Kind, das
in dem Glauben, es könne seinen Weg selber finden, die Heimat verlassen
hat, aber sich sofort verirrt."
Auch der Roman I>vo?Lg,r3 ^Zo ist trotz der etwas verworrnen Hand¬
lung spannend geschrieben, die Charaktere sind vortrefflich gezeichnet, die Ge¬
spräche enthalten eine Fülle richtiger Beobachtungen und feiner psychologischer
Bemerkungen. Die Naturschilderungen, insbesondre die von dem Hochlande
von Wales, der Umgebung des Snowdon und der Mosellandschaft, sind dem
Verfasser gut gelungen.
Nach allen Angriffen, Verleumdungen und Verketzerungen, die Kingsley
zu ertragen gehabt hatte, war es eine große Genugthuung für ihn, daß ihn
die Königin Viktoria im Jahre 1859 zu ihrem Kaplan ernannte und ihn
aufforderte, in Whitehall und in Windsor vor dem Hofe zu predigen. Im
nächsten Jahre wurde ihm von Lord Palmerston die Professur für neuere
Geschichte um der Universität Cambridge übertragen. Er siedelte nach Cam¬
bridge über und wurde dort der Erzieher des Prinzen von Wales. Außer¬
dem nahmen die historischen Studien, die später sein Freund Max Müller
unter dem Titel tuo uom-in n,na eilf lautem gesammelt und herausgegeben
hat, seine Arbeitskraft fo in Anspruch, daß die Zeit von 1860 bis 1866 für
fein dichterisches Schaffen ziemlich unfruchtbar geblieben ist. Nur die litte¬
rarisch wenig bedeutende Jugenderzählung Ills 'Wg.törbMes, n, kairz^ kath lor
Ä I.Anet (übersetzt von E. Prätorius, Leipzig, Wartig, 1885) fällt in
diese Zeit; sie erschien 1862. Erst nach einer Reise, die er 1864 mit Anthony
Fronde nach Spanien und Südfrankreich machte, um sich von einer nervösen
Überreizung zu erholen, die er sich in einem heftigen Kampfe mit dem Bischof
Newman zugezogen hatte, ergriff ihn wieder die Lust zu schreiben.
Als Frucht seiner Geschichtsstudien ist der Roman zu betrachten: Hvrs-
tlls >Vicks, tluz I^se ok tbs LuAlisli. (^nuvkuiti^ lüäition. Übersetzt
von M. Giese. Berlin, Zanke, 1867.) Kiugsley hat hier den Ver-
zweiflungskampf schildern wollen, den die angelsächsischen Großen diele Jahre
lang gegen Wilhelm den Eroberer auszufechten hatten. Der historische Stoff
ist gewaltig und hat manchen Dichter gereizt; der hochherzige, ritterliche Harold
ist immer ein Lieblingsheld der englischen und auch der deutschen Schrift¬
steller gewesen. Der Zusammenbruch des altenglischen Staatswesens vor dem
Ansturm der normannisch-französischen Eroberer, der heftige Ringkampf der
germanischen und der romanischen Kultur auf englischem Boden, die selt¬
samen Erscheinungen in der Kirche, dem Rittertum und dem Bürgerleben
des elften Jahrhunderts bieten dem Dichter einen unerschöpflichen Stoff.
Aber ein wirkliches Kulturgemäldc des elften Jahrhunderts zu geben, dazu
scheint doch Kingsleys dichterische Kraft nicht ausgereicht zu haben. Er
kommt über den Rahmen und den Ton einer bessern Ritter- und Räuber¬
geschichte nicht hinaus. Ein Abenteuer reiht sich aus andre. Überfälle,
Räubereien, blutige Gemetzel, Klosterbrände, Hexengeschichten und andre auf¬
regende Stoffe ziehen sich ununterbrochen durch zwei Bände. Von Pshcho-
logischer Vertiefung ist nicht viel zu finden. Größere Landschaftsbilder fehlen
vollständig. Die Zeichnung der Figuren ist derb und oft verschwommen.
Der Held des Romans, Herewart, ist der Sohn der Lady Godiva, von
der die Sage geht, sie sei nackt durch die Straßen von Coventry geritten,
um die Stadt vor dem Verderben zu retten. Sie ist eine edle, fromme Frau,
eine Wohlthäterin der Klöster und der Mönche. Umso bitterer empfindet sie
das leichtsinnige Leben Herewards, der seinen Übermut so weit treibt, daß er
mit jungen Spießgesellen die Mönche überfüllt und ausplündert. Aber
Herewart wird verbannt und zieht, von seinem Diener begleitet, in fremde
Lande. Eine Zeit lang lebt er in Schottland, wo er viele Heldenthaten voll¬
bringt und das Leben der schönen Alftrude rettet. Dann zieht er nach Irland
und von dort nach Flandern. In Se. Omer gewinnt er das Herz der
minniglichen Torfrida und vermählt sich mit ihr. Währenddem hat Wilhelm
von der Normandie seinen Zug nach England unternommen, und die Schlacht
bei Hastings macht ihn zum Herrn des Landes. Da eilt Herewart, von
Vaterlandsliebe getrieben, nach England zurück. Eine große Schar sreiheit-
liebender Engländer schließt sich ihm an, und nun beginnen verzweifelte
Kämpfe der Helden, um das fremde Joch wieder abzuschütteln. Aber auch
Herewards letzte Zufluchtsstätte Ely wird schließlich von Wilhelm erobert.
Er führt dann im Bruncswald ein wüstes Räuberleben, verstößt seine Ge¬
mahlin Torfridn und tritt, vou Alftruda verleitet, auf die Seite Wilhelms
des Eroberers. Aber die normännischen Edelleute hassen ihn. Nach vielen
blutigen Händeln wird er in seiner Stammburg Bourne überfallen und ge¬
tötet. Torfrida begrübe den Helden im Kloster Crvwland. Aber noch heute
lebt Herewart der Wachsame, der Jäger vom Bruncswald, in den Sagen der
Landleute. „Die der Geist des Wachsamen beseelte, flohen in den luftigen,
grünen Wald, wo sie als kühne Geächtete mit Robim Hood, Scarlet, John,
Adam Bell und Wilhelm von Clvudeslen lebten und mit düstrer Freude be¬
obachteten, wie die französischen Räuber die Kirche zerrissen, die ihre Ver¬
brechen gesegnet hatte, und sich selber unter einander vertilgten. Doch am
Herdfeuer in einsamen Pachthäusern oder in dem Versteck der Geächteten unter
dem Stechpalmenstrauch sang und sprach man von dem Wachsamen und allen
seinen kühnen Thaten, und der Grundstimmung jedes Liedes war der Wunsch:
Ach daß er lebte! Sie wußte« nicht, baß nur seine Hülle, seine Gebeine im
Müusterchvr zu Crvwland moderten, während er fort und fort über ihnen und
um sie her waltete, er, dessen Bestimmung es war, sie aus ihrer schweren
Knechtschaft zu erlösen, sie zu einer großen Nation, zu Vätern noch größerer
Nationen bisher unentdeckter Länder zu machen. Frei von allen Erdenschlackcu
lebt er in Ewigkeit, der Geist des Wachsamen, der Geist der Freiheit, der
niemals stirbt."
Nach dieser Tirade zu schließen, hat Kiugsley aus Herewart eine»
Nationalhelden machen wollen, einen Siegfried oder Eid. Leider ist es dem
Dichter nicht gelungen, aus den alten Herewardgcschichten, die der Mönch
Levfrie im elften Jahrhundert niedergeschrieben hat, eine wirkliche Heldengestalt
zu schaffen. Wir stimmen ganz mit dem Urteil von James I. Ellis überein, der
in seinem Büchlein «ülr^rios IQngsIo^ (London, 1890) von dem Roman sagt:
^Villl „Horovirrck tuo ^Vg-Ko" vo oonlsss eine vo unä no SMipMr^ wlmt-
svor. I'b.s wie i8 g. Sack oro, auel of lÄiro^ llrat eilf tovio >og,s not so von-
xiznial to L,i»gs1ozf As vsro rllo subjsvts ot' bis provious storios. 'Ital it
is reackMö, ama pill alö Uova, >vo van cniito dvlieve, lor >of vunnot inmglns,
eine. Xlil^hio^ voulä vritv miMinZ eine, voulil not do intsrostinF alni
denokoisl in Somlo äogreo, dut it vortaiul/ is f-rr de-imo „^VestvMcl Ho!"
or «zvon „^.Iton l^oolco," in «liolivn, auel in its possvssion ol kirrt sudtlo
somvvlral trat >vo mir/ dolino lrs ello soul ol i>. boolc.
Im Jahre 1869 legte Kingsley seine Professur in Cambridge nieder und
trat zu Weihnachten mit seiner Tochter eine Reise nach Westindien an, wo er
sieben Wochen auf Trinidad bei dem Gouverneur Arthur Gordon lebte. Diese
Reise hat er in seinein Buche: ^t, I^se: a <üüristnms in llnz ^Vost-Inclios
si'inrolmitA Läilion) eingehend beschrieben. Der eigentümliche Titel erklärt sich
aus dem Anfange der Beschreibung: last ^vo, too, poro Lrossin^ tlnz ^t-
iaillio. ^.t. bist, tlo <Zrsam ol tort^ ^ours, plsasv 6vel, porta dö lullilloc!.
Es ist selbstverständlich, daß ein so geistvoller und vielseitig gebildeter Schrift-
steiler wie Kingsley mit dieser Reisebeschreibung ein höchst interessantes Werk
geliefert hat. Was er in 'Wohl.vvg.rÄ Jto! aus Phantasie und Nachbildung
schildert, das hatte er nun mit eignen Rügen gesehen. Mit lebhaften, oft
glühenden Farben malt er die tropischen Landschaften, die Küsten und Ge-
birgsszenericn. Von großer Anschaulichkeit und feinem Humor sind seine Bilder
von Port of Spain und San Josef, von der Savanna von Arigo, von
den Berglandschaften und von dem Pflanzen-, Tier- und Völkerleben auf
Trinidad.
Nach seiner Rückkehr übernahm Kingsley das Amt eines Domherrn, er
wurde Canvnikus vou Ehester und im Jahre 187Z Canvnikns von Westminster
Abbey. Ein Jahr später machte er eine Reise nach Nordamerika. In Colorado
erkrankte er. Seitdem blieb seine Gesundheit erschüttert. Im August 1874
kam er nach Eversleh zurück. Dort starb er am 23. Januar 1875.
Seine Schaffenskraft war schon in seinem letzten Roman erlahmt. Nur
in seinen I'ross IclMs tritt noch zuweilen der frühere Schwung, die alte
Phantasie und der Zauber feiner Sprache hervor. Die sozialen Kämpfe ver¬
loren nach und nach an Interesse für ihn. Seine Reformbestrebungen ließ er
ruhen, dövg.u8ö elle voMvA wor arg not, ut, lor tllonr. Er faud unter den
Arbeitern nicht die Selbstaufopferung, die nach seiner Ansicht der einzige Grund
ist, auf dem das Wohl der Gesellschaft dauernd beruhen kann. Die Ent¬
täuschungen hatten ihn ermüdet, er sehnte sich nach dem stillen Frieden der
Kunst, und die lyrische Poesie war der freundliche Tempel, wo er schließlich
Trost und Erquickung vou den Mühseligkeiten seines Berufes und deu Auf-
regungen der sozialen und kirchlichen Kämpfe fand.
Auch in seinen lyrischen Gedichten treten die beiden Hauptzüge seiner
Romane unverkennbar hervor: der dramatische und der tendenziöse. Keine
Dichtungsart war dafür geeigneter als die Ballade. So schildert er in der
Ballade Ins Lack Lquirs, die in dein Roman löWt vorkommt, das Elend
und die Klagen eines armen Weibes, deren Manu als Wilderer erschossen
worden ist. Der Groll gegen die unbarmherzigen Großgrundbesitzer bricht
auch hier mit aller Gewalt hervor:
Als Gegenstück zur heiligen Elisabeth schrieb er das Gedicht Lsiut Naura.
Keine Dichtung hat ihn mehr begeistert als diese; er hielt sie für das tiefste
und reinste aller seiner Gedichte. Er wollte darin, wie er selber sagt, den
höchsten geistigen Adel in der größten Einfachheit eines jungen Landmädchens
darstellen: öxlüdit tluz nark^r elsmsnt, not ont/ trse trou eine völidat vllivll
18 80 sumblsck AZ) vieil tluz viel tu^eh.8, dut dron»lit out -ruck briAlltöiuzÄ ozs
iNÄrrig-Ap lovv.
Während sich in Sö-link N^RA unverkennbar der Einfluß Brownings zeigt,
hat sich Kingsley in andern Gedichten Wordsworth zum Vorbilde genvmnren.
Er sagt selbst: „Von meiner Knabenzeit an ist meine Seele in die Poesie jenes
großen Dichters, großen Philosophen und großen Predigers getaucht gewesen.
Sie hat daraus gelernt, wie man die Natur anschauen und empfinden soll.
Sie ist durch Wvrdsworths Einfluß vor jener hohlen, ehuischeu und materia¬
listischen Weltanschauung bewahrt worden, die den Forscher verleitet, das
Geistige und Ewige zu vernachlässigen, wenn er sich ausschließlich mit dem
Stoff und den zeitlichen Dingen beschäftigt." Dieser Einfluß zeigt sich namens
lich in den Idyllen, den Naturschilderungen und vor allem in Gedichten wie
lluz LanÄ8 ok Des, "IIiL I'bröö 1?l8llöi's und ?1lo I^t Luvo-iuvör, die sich durch
musikalischen Wohllaut der Verse und Kraft des Allsdrucks besonders aus¬
zeichnen.
Mit welcher Meisterschaft Kingsley die Sprache zu behandeln wußte, sieht
man auch aus seinem in Hexametern geschriebnen Gedicht ^näroinLcl^. Eng¬
lische Hexameter sind auch von Longfellow, Clough und Hawtreh geschrieben
worden, aber Kingsley übertrifft sie alle in der Schönheit und Leichtigkeit der
Sprache und in dem wechselvollen, bald behaglich dahinziehenden, bald leiden¬
schaftlich fließenden Strom der Verse.
Kingsley meinte, daß von allen seinen Werken nur seine Gedichte einen
bleibenden Wert Hütten. Darin hat er sich getäuscht. Wie bei dem Historiker
Macaulay und den Essayisten Aytoun und Arnold waren auch bei dem Tendenz¬
schriftsteller Kingsley die lyrischen Dichtungen nur 8trsngtn'8 riet Luperlluit^.
Seine bleibende Bedeutung liegt auf einem andern Gebiete. Er glaubte an
vier Mächte, von denen das Geschick der Menschheit abhänge: das Germanen¬
tum, das Christentum, den Protestantismus uno den Sozialismus. Die ger¬
manische Nasse, die schon einmal den entnervten Völkern neue, gesunde Lebens¬
säfte zugeführt und sich gegenwärtig über die ganze Welt verbreitet habe, werde
die Trägerin der menschlichen Kultur bleiben. Daher Kingsleys Schwärmerei
für Deutschland, daher auch seine Begeisterung für den deutsch-französischen
Krieg. „Ich gestehe offen — schrieb er im August 1870 —, wäre ich ein
Deutscher, so hielte ich es für meine Pflicht, meinen letzten Schilling, meinen
letzten Sohn, ja mich selbst und alles, was mein ist, in diesen Krieg zu senden,
damit gethan werde, was gethan werden soll und muß, und zwar so, daß es
nie wieder gethan zu werden braucht."
Er glaubte aber auch an das Christentum der Liebe und schrieb seinen
Roman I1>Mia.. Er glaubte an die weltbeherrschende Macht des Protestan¬
tismus und schrieb sein nationales Epos ^Vs8log.ra Ho! Er glaubte an die
Zukunft der sozialistischen Ideen und schrieb seinen Roman ^.Iton I^oolvg. Der
Einfluß seiner Schriften ist unermeßlich. In künstlerischer Beziehung waren
sie mit ihrer frischen, markigen, oft rücksichtslosen Sprache und ihren
tiefen Gedanken ein lauter Protest gegen die krankhafte Sentimentalität und
die geistlose Mache gewisser Lieblingsschriftsteller seiner Zeit. Sie erschienen,
als alle Welt für Charlotte Brontes rührselige Liebesgeschichten .Iirus I^rs,
Llllrls/ und ViI1«zU<z begeistert war und um das Geschick ihrer altjüngferlichen
Helden Thränen vergoß. In sozialer Beziehung waren sie die wirkungsvollsten
Streitmittel einer großen Partei, die sich die Aufgabe gestellt hatte, die be¬
sitzenden Klassen an ihre Pflichten zu mahnen und an die soziale Arbeit zu
rufen, dagegen die arbeitenden Klaffen von gewaltsamen Plänen zu verständigen
Handlungen zu führen und den sozialen Frieden zwischen den scheinbar un¬
versöhnlichen Parteien herbeizuführen.
Dies ist den Anhängern Kiugsleys gelungen. Brentano sagt am Schlüsse
seiner Schrift über die christlich-soziale Bewegung in England: „Der Abgrund,
der ehemals in England die höhern und die untern Klassen trennte, ist heute
überbrückt. An Stelle der frühern beiderseitigen Entfremdung herrscht heute
bei den höhern Klassen ein sympathisches Verständnis für das Bedürfen und
Streben der untern, bei den untern das Verständnis für die Notwendigkeit
einer höhern Klasse, welche die Funktionen der Führer des Volks auszuüben
versteht und ausübt. Gewiß ist noch viel zu thun, und gewiß wird noch viel
zu thun sein. Aber Enormes ist geschehen, lind fast in allem, was geschah,
haben die christlichen Sozialisten die Initiative genommen, haben sie den Mut
gehabt, mit Lehre und Beispiel voranzugehen. Und einerlei, welche Stellung
der einzelne Beobachter zu den verschiednen Theoremen und Handlungen der
christlichen Sozialisten, die ich vorgeführt habe, einnehmen wird, in dem einen
Satz wird das Urteil aller über die christlich-soziale Bewegung immer über¬
einstimmen: 1^örU'g,N8ion ix^öüemuclv."
Konzertkritiken. Über ein Konzert, das vor einigen Tagen in Kassel ver¬
anstaltet worden ist, sind in der Kasseler Tagespreise zwei Kritiken erschienen, die
wir im nachfolgenden einander gegenüberstellen.
Das Kasseler Tageblatt schreibt: Das gestern Abend im Schvmbardtschen Hotel
zu Wilhelmshöhe stattgefundne (!) Konzert, welches von der Opernsängerin Fräulein
Huld aus Berlin, dem Violinvirtuosen und Musiklehrer Herrn C. Schenk aus Kassel,
dem Baritonisteu Herrn Ohiwein ebendaselbst und dem gut beanlagten jugendliche»
Komponisten Herrn A. Schultz aus Egeln ausgeführt wurde, gelang in vorzüglicher
Weise. Zuerst wurde den zahlreichen Zuhörern ein Violinkonzert von Ch. de Beriot,
ausgeführt von Herrn C, scheut, in musterhafter Weise zu Gehör gebracht. Man
konnte hierbei so recht bemerken, wie der Künstler in den höchsten Lagen, sowie
in den schwierigsten Doppelgriffen und Passagen seine Kunst bewies. Die bedeutende
Technik, verbunden mit den zu Herzen sprechenden Tönen, riß das Publikum zum
größten Beifall hin, sodaß der Künstler dnrch mehrfache Hervorrufe geehrt wurde.
Einige andre Vortrage, unter denen ein Violinsolo, „Liebestranm," komponirt von
dem oben erwähnten Herrn Schultz, fanden gleichfalls große Anerkennung. Die
Komposition des jungen Künstlers zeigt, daß ihm eine große Zukunft bevorsteht,
wenn er ans der eingeschlagnen Bahn mit Fleiß und Liebe so weiter arbeitet.
In glänzender Weise brachte uns Fräulein Huld die Schmuckarie aus der
Oper Faust zum Vortrage. Ihre glockenreinen Tone, welche in dem vorgetragnen
Stücke bis zu der höchsten Stimmeulage hinaufstiegen, sowie die liebliche Erschei¬
nung der gut geschulten Künstlerin trugen nicht wenig dazu bei, einen wahren
Sturm von Beifall für ihre Leistung hervorzurufen. Diesem Vortrage folgte noch
weiter: ^.of maria (!) von Gounot, Lied des Pagen ans den „Hugenotten" von
Meyerbeer, Lied: „Siehst du am Weg ein Blümlein flehn" von A. Schultz, Nummern,
welche ebenfalls wohlverdienten Beifall fanden; namentlich war dies in hohem Maße
bei der letztern, fein durchdachten Komposition der Fall. Einige Lieder für Ba¬
riton, unter denen hauptsächlich die Arie aus der Oper Undine von Lortzing,
..Dann schau ins Auge deinem Kinde" von Hafer hervorzuheben sind, trug Herr
Ohlwein mit großem Verständnis und innigem Gefühl vor. Er versteht es, die
Zuhörer durch seinen effektvoller Vortrng'hinzureißen.
Sämtliche Vortrage wurden von dem Komponisten Herrn A. Schultz mit
Sicherheit auf dem Klavier begleitet, sodaß ihm auch hierfür das vollste Lob erteilt
werden kann. Wir Wollen hoffen, daß diese Kttnstlercibende sich noch oft wiederholen.
Die Hessische Morgenzeitung dagegen schreibt: Ein wenig enttäuscht wird die
kleine Anzahl der Zuhörer gewesen sein, Vielehe sich am gestrigen Abend im großen
Saale des Grandhotel Schönbärte zu Wilhelmshöhe eingefunden hatte, um das
angekündigte Konzert zu besuchen; enttäuscht in dem Falle, wenn sie gleich uns
das erwartet hatte, ums für ein Entree von 2 bis 1 Mark rückwärts (?) für gewöhn¬
lich erwartet werden kann und darf. Fräulein Huld, Opernsängerin ans Berlin,
hatte leider nur solche Arien und Lieder zu ihrem Vortrag gewählt, die an Tre¬
molostellen so reich waren, daß man hätte zur Verzweiflung kommen können. Oder
ist das Tremoliren in diesem extremen Grade ihre Sängcreigentümlichkeit? das
wäre zu bedauern! Herrn Violinvirtuosen L. Schenk aus Kassel fehlen zum „eigent¬
lichen" Virtuosen drei Eigenschaften: 1. Verständnis für Beriotsche Konzerte, 2. Ge¬
fühl zu deren Wiedergabe und 3. eine Kouzertgeige. Eine sonore Stimme läßt
sich dem Varitonisten Herrn Ohlwein ans Kassel nicht absprechen; doch ob ihre
Schulung für Kiinstlertonzcrte „schon" geeignet sein, (!) laßt sich schwer sagen. Herr
Pinnist Schultz aus Egeln kann, wenn er sich an das so liebliche Piano und Pia-
nissimo gewöhnt, noch einmal ein ganz leidlicher Akkompagneur werden; bis gestern
Abend war dies allerdings noch nicht der Fall. Man lasse es an diesem kurzen
Resümee nunmehr genug sein. Die weniger (!) mehr als zwanzig Konzertbesncher
werden sich zum großen Teil wohl unsrer Kritik anschließen und sie auf die einzelnen
Piecen übertragen; für alle, die nicht dort waren, haben alle weitere Detnillirnngen
keinen Zweck.
Natürlich sagt die zweite Besprechung die Wahrheit; die erste ist der reine
Schwindel. Jeder Unterrichtete aber weiß, daß aus solchen Schwindelbesprechungen
bei weitem der größte Teil der gesamten Konzert- und Theaterkritik unsrer Tages¬
presse besteht. Und doch giebt es Leute, die dieses Zeug Tag für Tag lesen, ja
die selbst, wenn sie dabeigesessen haben, sich nicht zu sagen getrauen, ob ihnen eine
Konzert- oder Theateraufführung gefallen habe oder nicht, sondern erst abwarten,
was den nächsten Tag irgend ein bezahlter Schmierpeter im Blättchen drüber sagt.
In der Form sind die beiden Besprechungen einander wert.
Splitter und Späne. Aphorismen und Sarkasnien von D. Hack. Leipzig, Adalbert
Fischers Verlag, 1M3
Ein hübsch ausgestattetes Büchlein, das man zur Not in die Westentasche
stecken und dessen Spruchweisheit in Prosa und Versen man überall bedenken und
stellenweise gnr wohl beherzigen kann. Der Dichter, der offen von sich sagt:
scheint ein frische und ernste Natur zu sein, die dem modischen Pessimismus, der
modischen Rcnommirgenialität und dem modischen Wissenschnftsdünkel mit gleicher
Abneigung gegenübersteht. In den Prosasprüchen heißt es: „Meinetwegen! halte
die Welt für so schlecht, wie du willst. Doch glaube keinen Augenblick, daß du
nicht auch dieser Welt angehörst," ferner: „Was für den Künstler der größte Fluch
ist? Ein talentloses Genie zu sein" und: „Das Wissen scheint nur dann sehr um¬
fangreich, wenn es um und um in Dunkel gehüllt ist." In den Distichen und ge¬
reimten Sprüchen aber lesen wir:
Bildung
Anders wird es fast täglich, ob besser? Wer hegt da noch Zweifel?
Wissenschaft schreitet wohl vor, aber die Bildung zurück.
Die Sprnchsammlung hinterläßt den Eindruck, daß sie erlebt und nicht erdiftelt sei.
in Grenzboten haben Recht daran gethan, in der Frage der
Bvdenbesitzreform nach einem Vertreter der amerikanisch-englischen
Richtung auch einem Anhänger der deutschen Bewegung das
Wort zu geben. Unter den zahllosen Fragen, aus denen sich
die soziale Frage zusammensetzt, ist die, die sich mit der Lage
des Bauernstandes beschäftigt, nicht die geringste. Daß in einem Lande, wo
unter siebzehn Millionen Erwerbstätigen mehr als acht Millionen den Acker¬
bau oder ein verwandtes Gewerbe treiben, wo man den Wert des Grund
und Bodens auf etwa hundert Milliarden Mark, dagegen den der Fabriken
». f. w. auf etwa sieben Milliarde» geschätzt hat, das Wohl des ganzen Volkes
mit dem Bauernstande steht und fällt, darüber sind alle einig. Auch darin
stimmen die meisten überein, daß die Wellen der Not, die augenblicklich die
deutsche Landwirtschaft umgiebt, von Jahr zu Jahr höher gestiegen sind und
die halbunterwühlten Deiche vollends zu durchbrechen, das Ganze zu über¬
fluten drohen. Viele erklären sich bereit, zu helfen, aber über das Wie gehen
die Ansichten aus einander.
In einem solchen Augenblick erscheint es mehr als jemals geboten, die
Fragen, um die es sich handelt, und von deren Lösung man die Gesundung
des gefährlich erkrankten gesellschaftlichen Körpers erwartet, aller wissenschaft¬
lichen Trockenheit zu entkleiden. Bor kurzem wurde in einem angesehnen
Blatte gegen die gelehrten Nationalökonomen der Vorwurf erhoben, daß sie
die Ergebnisse ihrer Forschungen zu selten in einer Form vortrügen, durch
die der Gegenstand für unser an harte Denkkost nicht mehr gewöhntes Pu-^
blikum an Geschmack und Verdaulichkeit gewinne. Dieser Vorwurf ist im
allgemeinen nicht unberechtigt; selbst wer aus einem andern gelehrten Fache,
mis Jurist, Historiker oder Theologe, an volkswirtschaftliche Studien hinan-
tritt, weiß ein Lied von den Schwierigkeiten zu singen, die sich seinem „heißen
Bemühn" in den Weg stellen. Indem die Meister der Nationalökonomie nur
für ihresgleichen schrieben, haben sie den Pfuschern und Quacksalbern ein er¬
giebiges Feld überlassen, ein Feld, auf dem zu arbeiten ihre Pflicht gewesen
wäre, nicht nur im Interesse des gegenwärtig gerade in Deutschland von
Charlatanen bethörten Volks, sondern auch zum Frommen der Wissenschaft.
Auch für die Gelehrtenstube bedeutet es einen Gewinn, wenn der Lärm des
Lebens bisweilen zu ihr hinaufschlägt, und namentlich der Nationalökonom
kann aus dem Munde des einfachen Mannes manch echtes Körnlein Wahrheit
vernehmen. Wer den Schuh trägt, weiß am besten zu sagen, ob und wo er
drückt. Besteht doch ohnehin auf diesem Gebiete die Gefahr, daß die Statistik
zur höchsten Instanz erhoben werde, die Magd zur Herrin, sie, die die
Menschen nur als Zahlen behandelt und das, was wir als ihre» Kern be¬
trachten müssen, ihr persönliches Wollen und Empfinden, nicht berücksich¬
tigen kann.
Es ist den Lesern der Grenzboten bekannt, daß man innerhalb der Par¬
teien, die hente auf eine völlige Umgestaltung des privaten Bodenbesitzes
hinauswollcu, eine amerikanisch-englische und eine deutsche Richtung unter¬
scheidet. Was die erste betrifft, so darf ich wohl ans das hinweisen, was
vor einiger Zeit in diesen Heften von einem ihrer Anhänger darüber gesagt
worden ist. Weil jedoch die amerikanische Bewegung nach den Berichten, die
von drüben kommen, in stetem Wachsen begriffen ist, und weil sie gleichsam
als die Mutter der deutschen Reformbestrebungen betrachtet werden muß, so
werden dem Leser einige Mitteilungen über ihren Führer erwünscht sein. Zu
diesem Zwecke will ich ans einem Aufsatz, den ich vor kurzem an einer andern
Stelle veröffentlicht habe,") einige Sätze wiederholen.'
Henry George ist im vollen Sinne des Wortes ein LöU-naiv-irmn. Ur¬
sprünglich dem Arbeiterstande angehörend, hat er sich, nicht mit einem Schlage,
sondern Stufe um Stufe in ehrlichem Bemühen erklimmend, zum hervor¬
ragendsten Journalisten der Vereinigten Staaten emporgearbeitet. Er hat
das Leben in allen Etagen kennen gelernt. Ans seinen Werken spricht die
reichste Erfahrung und ein offner Blick für den Zusammenhang der Dinge;
ein warmes Herz treibt ihn an, die Not der Mitmenschen zu schildern, und
der Wunsch, dem vielen Elend, das er sieht, zu steuern, verleiht seinen Worten
jene Kraft der Begeisterung, die den Leser von der ersten bis zur letzte» Zeile
im Banne hält. Dabei ist seine Sprache glühend vor Eifer und von strah¬
lender Schönheit. All diese Vorzüge offenbart sein Hauptwerk I'roArss« auel
?opfre>.y, das gleich bei seinem Erscheinen eine ungewöhnliche Erregung hervor¬
rief und den Verfasser zum Bannerträger einer neuen, mächtigen Partei er-
hob. Aber der Herold dieser Partei ist nicht nur ein redegewaltiger und
vielgelesener Schriftsteller, sondern er hat auch das Zeug zu einem Agitator,
der die Welt ans den Angeln heben könnte. ^Isotsro si nsauso superos,
^ensronw movebo — etwas ähnliches wird er gedacht haben, als er, der
Protestant, sich dazu entschloß, den Papst durch ein offnes Sendschreiben für
fein Evangelium zu gewinnen.
George verlangt die Einziehung der Grundrente zu Gunsten des Staats,
und den Unterbau dieser Forderung, nämlich den Satz, daß es einen Privat¬
besitz an Grund und Boden nicht geben dürfe, haben die deutschen Reformer,
deren Führung im allgemeinen Michael Flürscheim übernommen hat, mit ihm
gemeinsam. Während sich aber der Amerikaner daran erinnert, daß der Boden
der Union zum großen Teil erst seit Jahrzehnten fast ohne Entgelt aus der
Hand des Staates in Privatbesitz übergegangen ist, sodaß man sich über eine
Entschädigung der gegenwärtigen Eigentümer keine Sorge zu machen brauche,
nehmen Flürscheim und seiue Anhänger in Anbetracht der durchaus verschiednen
deutschen Verhältnisse billige Rücksicht auf die heutigen Besitzer. Obwohl sie
an Georges Vorschlag die größere Folgerichtigkeit anerkennen, haben sie es
nicht über sich gewinnen können, ihm bis zu seinen letzten Schlüssen zu folgen!
ein Gefühl, das dem Amerikaner fremd ist, hält sie ans halbem Wege zurück.
George rechnet ungefähr so: wie die Bewegung gegen die Sklaverei zwar
damit begonnen habe, daß man allgemein von einer Entschädigung der Sklaven¬
halter sprach, wie aber zuletzt doch von einer solchen Entschädigung nicht mehr
die Rede gewesen sei, so werde es auch bei der Landbefreiung geschehen; denn
der Privatbesitz an Grund und Boden sei keine geringere Verletzung eines un¬
veränderlichen Naturrechts als die Sklaverei. Ich habe an andrer Stelle die
Schwäche des Fundaments, worauf George sein Gebäude aufgeführt hat,*)
bloßgelegt und kauu hier auf eine Wiederholung schon deshalb verzichten,
weil sich die deutschen Reformer in der Begründung ihrer Pläne der Voraus¬
setzungen des Amerikaners nicht bedienen. Den Ausgangspunkt ihrer Lehre
bildet der SaK, daß der erhöhte Bodenwert ein Verdienst der Gesamtheit sei
und daher von dein einzelnen nicht in Beschlag genommen werden dürfe. Es
ist kürzlich an dieser Stelle darauf-hingewiesen worden, daß der Boden, auf
dein das heutige London steht, zum größten Teil in den Händen weniger Lords
vereinigt ist. Wenn man nun erfährt, daß diese für einen solche» Milliarden-
wert die lächerlich geringe Abgabe entrichten, die dem Werte des Bodens zur
Zeit der normannischen Eroberung entspricht, so wird man sicherlich geneigt
sein, denen beizustimmen, die in einem derartigen Zustande eine Ausbeutung
der Gesamtheit zu Gunsten weniger erblicken. Auch liegt es auf der Hand,
daß die ungeheure Wertsteigeruug, die z. B. seit etwas mehr als zehn Jahren
das Gelände zwischen der alten und der neuen Umwallung der Festung Köln
erfahren hat, nicht als das Verdienst der einzelnen Besitzer aufgefaßt werden
kaun, sondern als die Wirkung des Fortschritts, den die Stadt als solche
dank ihrer günstigen Lage, ihrer umsichtigen Verwaltung und der Rührigkeit
ihrer Bürgerschaft gemacht hat.
Indem nun die deutscheu Reformer das bis jetzt auf Grund der be¬
stehenden Gesetze erworbne Eigentum anerkennen, verlangen sie, daß in Zukunft
jede Wertsteigernug des Bodens den Händen der Privaten entzogen, das Land
selbst durch Kauf allmählich in den Besitz der Gesamtheit gebracht werden
solle. Es bedarf wohl vor deutschen Lesern keiner längern Auseinandersetzung
darüber, daß Flürscheim wohl daran gethan hat, die radikalen Borschläge
Georges nicht in ihrem ganzen Umfange anzunehmen. Ihre Ausführung be¬
deutet für das deutsche Rechtsbewußtsein ein Unrecht, das jede daraus her¬
vorgehende Neugestaltung und Neuordnung in der Wurzel vergifte» würde.
Im Grunde genommen ist der, dessen Grundstück im Werte steigt, in einer
ähnlichen Lage wie einer, der an einem günstigen Punkte eine Windmühle
aufstellt: wie diesem eine Naturkraft, so bringt jenem die Wirkung eines wirt¬
schaftlichen Gesetzes Gewinn. Außerdem wäre es eine seltsame Rechtsernenernng,
wenn mau zwar dem nngeublicklicheu Besitzer, der vielleicht erst seit kurzer
Zeit den Ertrag langjähriger Arbeit zum Erwerb von Grund und Boden
verwandt hat, das Fell abziehen, dagegen den, der früher aus dem Grund¬
besitz Vorteile gezogen und nun beizeiten sein Schäfchen ins Trockne ge¬
bracht hat, ungeschoren lassen wollte. Stimmen wir also mit Flürscheim in
seiner ablehnenden Haltung gegenüber der amerikanischen Reformpartei überein,
so haben wir nun seinen positiven Vorschlag zu prüfen, wonach von jetzt an
jede Wertsteigerung des Grund und Vvdeus in die öffentlichen Kassen fließen
soll. Die Inkonsequenz, die darin liegt, daß das, was mau nach der Lage
der Dinge bis heute als Recht anerkennen muß, von morgen an als Unrecht
gelten soll, liegt auf der Hand. Doch wir gehen darüber hinweg, denn auf
unserm Wege liegen noch größere Steine.
Da die Ausführung des Planes die allgemeine Festsetzung des augen¬
blicklichen Bodenwertes erfordert, so fragen wir zunächst, wer diese vornehmen
soll. Der Staat? Als künftiger Käufer wäre er an den festgesetzten Preis
gebunden, sodaß er ein natürliches Interesse daran hätte, den Wert der Grund¬
stücke zu drücke». Die gegenwärtigen Besitzer? Das würden schöne Preise
werden! Eine gemischte Kommission also? Nein, für so naiv halte ich die
Leser nicht, daß sie von dieser Brutstätte von Beschlüssen, die nachher ans
dem Papiere stehen bleiben, in einer Frage wie der vorliegenden die
Losung erwarten sollten. Doch halt, es giebt noch einen Ausweg! Man
kann durch ein Reichsgesetz — denn was erwartet man nicht heute alles von
Gesetzen! — die bei der Steuer vorliegenden Schätzungen oder die letzten,
über wenige Jahre nicht zurückreichenden Kaufvertrage zur Unterlage der all¬
gemeinen Wertbcstimmung machen. Die Schädigung, die auch dann uoch für
einzelne Besitzer eintreten würde, ließe sich um Ende verschmerzen; zumal der,
der sein Grundstück in einem gewinnbringenden Betriebe selbst benutzt, würde
vorderhand keinen Verlust erleiden.
Nehmen wir also einmal an, die große Vvdeuschätzuug sei von dem gegen¬
wärtigen Reichstag, in dessen Schoße ja noch manche Lose schlummern sollen,
beschlossen; im Jahre 1900 hätte jeder Deutsche, der bis dahin eine Scholle
sei» eigen nennt, in seiner Hand den verbrieften Schein, daß sein Grundstück
einen Wert hat, für den er es, sobald es ihm beliebt, an den Staat verkaufen
kann. Ahnen denn die Anhänger der Reform nicht, daß die Überführung des
Bodens in die Hand des Staates, wovon sie den allgemeinen Aufschwung
der Dinge hoffen, in der Regel erst dann eintreten wird, wenn die gegen¬
wärtigen Besitzer zu der Überzeugung gekommen sind, aus ihrem Boden nicht
mehr so viel herauswirtschaften zu können, daß ihnen mehr als die Reine des
festgesetzten Kaufpreises verbliebe? Wenn dann die allmähliche Verstaatlichung
des Bodens Schritt für Schritt eine entsprechende Summe von privatem
Kapital löst und auf den Markt drängt, so wird das unvermeidliche Zurück-
gehn des Zinsfußes die Besitzer erst recht von der Veräußerung ihrer Grund¬
stücke zurückhalten. Wo aber blieben alsdann die Summen, die unes der An¬
sicht der Reformer die Staatskassen zu füllen bestimmt sind?
Sie glauben und versichern, daß sich die Steigerung des Bvdenwertes in
Zukunft noch schneller vollziehen werde, als in dein letzte» Jahrhundert, das
trotz ungünstiger Verhältnisse dem Grund u»d Bode» i» Deutschland einen
vierzehnfachen Wert verliehen hat. Trotz ungünstiger Verhältnisse? Wenn
sich auf den: gegenwärtigen Reichsgebiete die Bevölkerung seit dem Jahre
1816 von 24833000 Einwohnern ans 49428000 im Jahre 1890 gehoben
hat, wenn ferner von den erwerbsthätige» Einwohnern gegenwärtig 6400000
"> der Industrie und 1570000 im Handel beschäftigt sind - ein Umstand,
der für die in der Landwirtschaft thätige Bevölkerung nicht nur eine Ver¬
minderung der Konkurrenz, sondern zugleich ein kauffähiges Absatzgebiet ge¬
schaffen hat —, wem, mau schließlich erwägt, wieviel der Aufschwung der
deutsche» Industrie auch zur Erhöhung der ländlichen Grmidrente beigetragen
hat, so wird ma» das Fragezeichen, das wir hinter die Behauptung nngü»-
feiger Verhältnisse gesetzt haben, wohl als berechtigt anerkennen. Nur an
einem Pnnkte können wir sür die Gestaltung des deutscheu Bvdeuwertes eine
Ungunst erblicken, noch dazu eine, die sich künftighin eher steigern als
abschwäche» wird. Wir denken daran, daß es infolge der verbesserten Ver¬
kehrsmittel dem Auslande möglich geworden ist, mit seinen Vodenerzeugnisfen
dem deutschen Acker Konkurrenz zu machen, sodaß die Aufwärtsbewegung der
deutschen Grundrente dadurch verlangsamt werden konnte, daß sich in andern
Erdteilen eine Grundrente zu bilden beginn. Aber das ist auf der andern
Seite doch wieder ein Glück, den» ohne diese Gestaltung der Dinge wäre für
einen großen Teil unsrer Bevölkerung kein Raum mehr im Lande, weil wir,
um nur einiges herauszugreifen, im Durchschnitt der letzten zehn Jahre auf
eine jährliche Zufuhr von 769581 Tonnen Roggen und 652016 Tonnen
Weizen angewiesen waren'") und allein im Jahre 1892 an Getreide und
sonstigen Erzeugnissen des Ackerbaus nach Abzug der verhältnismäßig geringen
Ausfuhr im ganzen 4121626 Tonnen im Werte von 608 Millionen Mark
bei uns einführen mußten.
Diese Zahlen reden eine deutliche Sprache. Noch giebt es auf der Erde
unermeßliche Flächen, die anbaufähig sind, aber bis jetzt nur eine ganz ge¬
ringe oder gar keine Grundrente haben. Das Vorhandensein dieser Gebiete
hängt sich bei dem von Jahr zu Jahr erleichterte» Verkehr wie ein Blei¬
gewicht an die einheimische Grundrente und wird ihr weiteres Steigen so
lange erschweren, bis einst die Zeit gekommen ist, wo Ackerland in West¬
europa nicht wesentlich teurer sein dürfte als an der Wolga oder dort, wo
im fernen Westen auf ihren unheimlich schnell znsammenschrnmpfcnden Jagd¬
gründen die letzten Stämme der Rothäute vor den Segnungen der weiße»
Zivilisation dahinsterben. Gewiß liegt diese Entwicklung noch fern, aber
kommen wird sie mit Notwendigkeit. Was das für eine Rückwirkung ans den
Wert des heimischen Bodens äußern wird, sehen wir aus einem Vergleich.
Wahrend Deutschland auf dem Quadratkilometer 91,5 Einwohner zu ernähre»
hat, und während sei» Ackerboden, der etwa 40 Prozent der Gesamtfläche
einnimmt, im Jahre 1891 annähernd 35 Millionen Hektoliter Weizen und
Spelz, 65 Millionen Hektoliter Roggen und 40 Millionen Hektoliter Gerste
erzeugte, wurden in demselben Jahre im europäische» Nußland, wo ans dem
Quadratkilonieter uur 18 Menschen leben, und wo erst 26 Prozent des
Ganzen in Ackerland verwandelt sind, 68 Millionen Hektoliter Weizen und
Spelz, 189 Millionen Hektoliter Roggen und 53 Millionen Hektoliter Gerste
hervorgebracht. Und nun erst die Vereinigten Staaten, die auf mehr als 9 Mil¬
lionen Quadratkilometer», d. i. auf der sechzehn- bis siebzehnfachen Fläche
des deutschen Reiches, auf einem Boden, wovon nur ein verschwindender Bruch¬
teil, etwa 3,3 Prozent, als unproduktiv bezeichnet wird, augenblicklich nicht
mehr als 63 Millionen Menschen zu ernähren haben! Nur dann ließe sich der
hemmciide Emflilß, den diese und andre Länder ans das Steigen der deutscheu
Grundrente ausüben müssen, verhüten, wenn es möglich wäre, unbekümmert
um die nach Brot schreienden Einwohner der Städte unsre Grenzen gegen
die auswärtige Zufuhr vollständig abzuschließen. Die Folgen einer derartigen
Maßregel kaun sich der Leser selbst ausmale»; jedenfalls wird er in dieser
Richtung nicht die Bahnen sehen, auf denen sich die Weiterentwicklung der
Kultur zu vollziehen hat. Die völlige Abschließung gegen das Ausland würde,
wenn sie überhaupt deutbar wäre, einen Rückschritt bedeuten, der uns mit
Siebenmeilenstiefeln wieder in die Zustände der Barbarei brächte; tausende
von Adern, durch die gegenwärtig der dentschen Volkswirtschaft ein leben¬
förderndes und krafterzeugendes Blut zuströmt, würden unterbunden werden.
Auf manches freilich könnten wir verzichten, was lediglich zur Verfeinerung
des Lebens gehört ^ andre nennen zwar auch das ein Bedürfnis, und daß
der Mensch überhaupt fähig ist, sich früher nicht vvrhandne Bedürfnisse an¬
zugewöhnen oder anzuquülen, betrachten ja viele als die erste Triebfeder des
menschlichen Fortschritts. Aber auf die Zufuhr der im Auslande erzeugten
Nnhrnngsmittel können wir bei dem gegenwärtigen Stande der Dinge nicht
mehr verzichten; eine Steigerung der Auswanderung und das Zurückgehen
der Geburten unter die Sterbefälle würden die unausbleibliche Folge sein. Und
wer dagegen verlangen wollte, daß die Industrie eine nennenswerte Zahl von
arbeitskräftigen Händen an die Landwirtschaft abgeben solle, der möge zuvor
die Frage beantworten, womit das deutsche Volk, um von andern notwendigen
Dingen zu schweigen, die Baumwolle bezahlen soll, von der wir in der letzten
Zeit jährlich im Durchschnitt für 214 Millionen Mark bei uns eingeführt
haben, und ohne die wir nicht mehr auskommen können, weil Klima und
Polizei die Anwendung jener einfachen Kleidung verbieten, mit der sich die para¬
diesische Menschheit zufrieden gab. Wie gesagt, gegen fremde Weine, Austern,
Pariser Litteratur und ähnliche Waren könnten wir unsre Grenzen zur Not ab¬
sperren, aber die 4,55 Kilogramm Baumwolle, die 2,69 Kilogramm Reis, die
3,53 Kilogramm Heringe, die 14,71 Kilogramm Petroleum, die im Jahre 1892
in Deutschland auf den Kopf der Bevölkerung verbraucht worden sind, können
wir nicht entbehren, und der Teil der Bevölkerung, der in der Industrie thätig
ist, setzt uns in den Stand, diese notwendigen Dinge zu bezahlen.")
Eher könnte man daran denken, daß von den 5,3 Prozent unproduktiven
Bodens noch einiges in Anbau genommen werden könnte, oder daß von den
20,3 Prozent Wiesenland und von den 25,7 Prozent, die der deutsche Wald
bedeckt, »och ein Teil an das Ackerland abzugeben wäre. Aber auch das hat
seine Grenze,"") und es wird auch niemand behaupten wollen, daß sich durch
derartige Flickmittel jemals die große Getreidekammer füllen ließe, aus der
unsre ftinfzig Millionen zu speisen sind. Mehr dürfte schon herauskommen,
wenn man in größerm Umfange die Lehren befolgen wollte, die sich aus den
kürzlich an dieser Stelle besprochnen Forschungen des Professors Max Gering
ergeben haben. Ich komme weiter unter ans diesen Punkt zurück.
Die deutscheu Fürsprecher der Reform sind selbst darauf gefaßt, daß durch
Bodenverschlechterungen, z. B, durch Versandung, ein örtliches Sinken der
Grundrente herbeigeführt werden kann. Ich füge hinzu, daß namentlich der
städtische Grund und Boden auch aus andern Ursachen einer unaufhaltsamen
Entwertung ausgesetzt ist. Ja bei der politischen Lage in Europa ist es leider
von Jahr zu Jahr weniger unwahrscheinlich geworden, daß dnrch einen künf¬
tigen Krieg die Grundrente gewisser Länder, wenn auch nur vorübergehend,
einen allgemeinen Niedergang erleiden wird, wobei die Verluste auf der einen
Seite nicht mehr durch Steigerungen an andern Punkten wettgemacht werden
können. Mit derartigen Zufällen würde man aber in der Ära der Bodenreform
umsomehr zu rechnen haben, als die Abschließung der Völker auf dem Gebiete
des Handels die Gefahr eines Krieges eher heraufbeschwören als zurückdrängen
müßte.
Da wir auf diese und ähnliche Fragen vergebens eine befriedigende, alle
Zweifel verscheuchende Antwort suchen, so fassen wir unser Urteil dahin zu¬
sammen, daß die Vorteile, die mau von der Durchführung der Reform er¬
wartet, fraglich erscheinen, da sie eine andauernde, die bisherige noch über¬
holende Steigerung der ländlichen Grundrente voraussetzen.
Unter diesem Gesichtspunkte gewinnt die Sache ein völlig verändertes
Aussehen. Das Anerbieten der Reformer, deu Grund und Boden in die Hand
des Staats übergehen zu lassen, wird durch die Forderung, daß der Staat
den gegenwärtigen Besitzern den heute festgesetzten Wert verbürgen solle, zu
einem Danaergeschenk, das dem Empfänger eines Tages vielleicht unermeßliche
Verluste, in keinem Falle aber die erwarteten Vorteile bringen würde. Der
in seiner Rücksichtslosigkeit konsequentere Amerikaner hat dadurch, daß er jede
Entschädigung der augenblicklichen Besitzer ablehnt, abgesehen von dem Unrecht,
das in seiner allgemeine» Konfiskation liegen würde, sein System jedenfalls
lebensfähiger gemacht. Wenn dagegen die deutschen Reformer von der Durch¬
führung ihres Halbplaus die gleichen Wirkungen erwarten, wenn sie sich in
der Schilderung ihres Znknnftstaats derselben leuchtenden Farben bedienen,
so wird man von ihren Verheißungen von vornherein einen Abzug machen
müssen, der, in Zahlen ausgedrückt, deu Zinsen jener mehr als hundert Mil¬
liarden gleichkommen würde, ans die man den gegenwärtigen Bodenwert in
Deutschland geschätzt hat.
Welcher Art sind aber jene Verheißungen? Zunächst glaubt man, daß die
künftige Steigerung der Grundrente einmal ausreichen würde, die jährlichen
Ausgaben des Staats zu decken; so wenigstens verstehe ich den Satz: „Die
Gesellschaft wäre in ihre Gerechtsame eingesetzt, und die Privaten genössen den
Ertrag ihrer Arbeit ganz; er wurde ihnen nicht einmal verkürzt durch irgend
welche Steuer, denn die Gesellschaft besäße in ihrem gesellschaftlich erzeugten
Nebenprodukt des steigenden Bodenwerts hinreichende Mittel, ihren Pflichten
gegen die Gesamtheit nachzukommen." Nun gut, das deutsche Reich hat augen¬
blicklich einen hauptsächlich auf indirekte Steuern gegründeten Ausgabcetat von
1259 Millionen Mark. Aber nicht nur diese wären von der steigenden Grund¬
rente zum größten Teile aufzubringen, sondern auch mancher ansehnliche Posten
im Haushalt der Bundesstaaten, z.B. in Preußen die 179 Millionen Mark
direkter und die 71 Millionen indirekter Steuern des heurigen Budgets. Rechnet
man die einschlägigen Summe» zusammen, so wird man die Hoffnung, daß
der jährliche Zuwachs der Grundrente jemals diese schwindelnde Höhe er¬
reichen werde, endgiltig begraben. Und zu alledem findet sich in der Rech¬
nung der Reformer noch ein großes Loch. Woher soll der Staat die hundert
und soviel Milliarden nehmen, die er nötig hat, um sich zum alleinigen Grund¬
besitzer zu machen? Woher?
Da sich aber die Anhänger der Reform über diese Frage nicht den Kopf
zerbrechen, sondern sich vermutlich in dem Gedanken trösten, daß die Reichs¬
druckerei das Geld beschaffen könne, folgern sie weiter, daß der Zins fallen
werde, weil das private Kapital nicht mehr in Grund und Boden angelegt
werden könne; daraus aber werde eine gesteigerte Nachfrage nach Arbeit und
eine neue Blüte produktiver Unternehmungen erwachsen. Auch hier fahren
die deutschen Bodenreformer im Kielwasser der amerikanischen Bewegung, ohne
zu bedenken, daß die Durchführung ihres Planes, infolge der Entschädigung
der gegenwärtigen Besitzer, mit unübersteigliche» finanziellen Schwierigkeiten
zu kämpfen hätte, die George leichter Hand und leichten Herzens hinweg¬
geräumt hat. Wir wollen jedoch die Behauptung, daß der fallende Zins eine
Nachfrage nach Arbeit und somit eine Erhöhung des Lohnes zur Folge haben
würde, einer Prüfung unterziehe», den» in diesem Satze steckt das Gewürz,
womit die Anhänger Flürscheims, die das amerikanische Gericht im Interesse
der heutigen Grundbesitzer verwässern müsse», den Appetit der Massen zu
reizen suchen.
Ich glaube den Gegner mit seine» eignen Waffe» schlagen zu können.
George sagt in dein Briefe, den er an Leo XIII. gerichtet hat, folgendes: „Die
Höhe des Lohnes schwankt zwischen dem vollen Ertrag der Arbeit, der ihr
dort verbleibt, wo noch freies Land zu haben ist, und dem niedrigsten Punkt,
bei dein der Mensch noch leben und arbeiten kann, nämlich dort, wo das Land
ganz monopolisirt ist. Deshalb sind dort, wo es leichter ist, Land zu bekommen,
z. B. in Australien und im Westen der Vereinigten Staaten, die Löhne höher
als in Europa." Was George hier vom Lohn sagt, muß er an einer andern
Stelle vom Zins zugeben, weil es über jeden Zweifel erhaben ist, daß im
Laufe der Jahrhunderte die fortschreitende Zivilisation auch diesen herunter-
gedrückt hat, daß er auch heute noch in blühenden Ländern niedriger steht als
dort, wohin die Kultur erst schüchtern ihren Fuß gesetzt hat, daß er in Zeiten
einer ruhigen Entwicklung fallt, mu bei der ersten Wolke einer Gefahr zu steigen,
mit einem Worte, daß man in gewissem Sinne imstande ist, an der Höhe des
Zinsfußes die wirtschaftliche und soziale Lage eines Landes in ähnlicher Weise
zu erkennen, wie an der Quecksilbersäule das Fallen und Steigen der Wärme.
Zwischen Lohnhöhe und Zinsfuß besteht ein Zusammenhang, den niemand
wegzuleugnen vermag, und wenn auch beide nur Anzeichen des wirtschaftlichen
Lebens sind, sich also nicht zu einander verhalten wie Ursache und Wirkung,
so erscheint es doch ausgeschlossen, daß irgend ein Vorgang auf wirtschaftlichem
Gebiete auf die Dauer eine einseitige Beeinflussung des Lohnes oder des Zinses
hervorrufen könnte. Wenn der Markt mit beschäftigungsuchendem Kapital über¬
schwemmt wird, so schafft der fallende Zins vorderhand freilich die Lust nach
neuen Unternehmungen und eine erhöhte Nachfrage nach Arbeit; mit der Zeit
aber muß ein Rückschlag eintreten, weil sich die Vermehrung der Unter¬
nehmungen bis zu einem Punkte steigert, wo der Unternehmer auch gegen
seinen Willen gezwungen wird, die Einbuße, die ihm die erhöhte Konkurrenz
verursacht, aus der Elastizität des Arbeitslohns wieder einzubringen. Dazu
ist er in der Lage, denn wenn auch Kapital und Arbeit gegenüber dem Unter¬
nehmer ein gemeinsames Interesse haben, so steht ihre Sache doch nicht gleich:
wo das Kapital feiern will, wird es nicht, wie die Arbeit, durch den Hunger
gezwungen, sich den Bedingungen des Unternehmers zu unterwerfen.
Diese Erwägung wirft auf die im übrigen beachtenswerten Ausführungen,
die George über die gemeinsamen Interessen von Kapital und Arbeit gegeben
hat, die richtige Beleuchtung. Bei dieser Gelegenheit sei bemerkt, daß die Ame¬
rikaner, denen es vor allem darauf ankommt, den Privatbesitz an Grund und
Boden als eine Rechtsverletzung darzustellen, die Sache so auffassen, als ob die
Grundrente den von Rechts wegen der Arbeit und dem Kapital gebührenden
Ertrag zum größten Teil verschlinge. Dem gegenüber wird es genügen, daran
zu erinnern, daß der Bodenbesitzer doch uur selten imstande ist, den Weg zu
verfolge», deu das Erzeugnis des Bodens, der Rohstoff, bis zur Herstellung
der Ware zurücklegt, daß vielmehr ein andrer ihm mit der Sorge für die weitere
Bearbeitung oder Verwertung seiner Erzeugnisse zugleich einen großen Anteil
an dem vollen Prvduktionsertrag abnimmt. Für George und seine Anhänger
giebt es freilich in der Theorie keinen Unternehmer, und auch die deutschen
Reformer stellen die Sache so dar, als ob in ihrem Zukunftsstaat Arbeiter nud
Unternehmer in der Regel dieselbe Person sein würden, weil ja der niedrige
Zinsfuß dem Arbeiter die Möglichkeit gewähre, selbst als Unternehmer auf¬
zutreten.
Damit sind wir an einem Punkte angekommen, wo Nur ans die schon
erwähnten Seringschen Forschungen einen Blick werfen müssen. Sering hat
den unwiderleglicher Beweis geliefert, daß die wirtschaftliche und soziale Wieder¬
geburt des schwer daniederliegenden deutschen Ostens nur durch eine planmäßige
Weiterführung der glücklich begonnenen Banernkvlvnisation erreicht werden kann.
Das ans verschiednen Gründe», namentlich aber dnrch das Hhpvthekenrecht
und die Fideikommisse geförderte Anwachsen der großen Güter hat jene sozialen
Gegensätze heraufbeschworen, die in den Jahren 1885 bis 1890 nicht weniger
als 873000 Einwohner der östlichen Provinzen zur Landflucht veranlaßt haben
Die Ausbreitung des Bauernbetriebes auf den bisherige» Latifundien erscheint
Gering nicht nur aus politisch-soziale», sondern auch ans volkswirtschaftlichen Er¬
wägungen geboten, weil »ach seineu Beobachtungen eine geeignete Parzellirnng
die Ertragsfähigkeit des Bodens in ungeahnter Weise erhöht. Eine allgemeine
Verwirklichung des Gedankens, der den Nentengutsgesetzen vom 27. Juni 1890
und vom 7. Juli 1891 zu Grunde liegt, eröffnet mich nach unsrer Ansicht den
Ausblick in eine glückliche Zukunft: für Generationen freier Männer ein ge¬
sichertes Heim und für den Staat ein Schutzwall gegen den äußern und innern
Feind. Selbst auf die Gefahr hin, einem Teil der Leser bekanntes zu wieder¬
holen, will ich eine besonders wichtige Stelle aus Seriugs Buch über die innere
Kolonisation hier anführen.
„Das Zusammendrängen großer Vvlksmnssen in den Städten und Industrie-
bezirken, die Eingliederung von Hunderten und Tausende» in de» starre» Mecha¬
nismus der Fabrikarbeit gefährdet im höchsten Maße deren körperliche und
geistige Entwicklung. Das rapide Anwachsen der Großstädte öedentet eine fort¬
schreitende Verschlechterung unsers Volkstums. Wie sich immer die gewerbliche
Verfassung in Zukunft gestalten vermag, die Zusammenhäufung als solche ist
geeignet, schablonenhafte Menschen von verkümmerter Individualität hervor¬
zubringen. Es stünde trainig um die Zukunft des Menschengeschlechts, wenn
ähnliche Formen des gesellschaftlichen Lebens auf dem Lande Platz griffen.
Nun ist aber gewiß, daß sich die ländliche Entwicklung nicht in der Richtung
einer zunehmenden Ausbildung großer Arbeitsgemeinschaften mehr oder weniger
sozialistischer Natur bewegt, sondern in der Richtung einer fortschreitenden Ver-
selbständigung des einzeln arbeitenden Wirtes und der Einzelfamilie. Gegen¬
über der wachsenden Sozialisiruug in den Städte» mache» die technische Ent¬
wicklung und der Selbstäudigkeitsdraug der Bevölkerung das platte Land zur
Heimstätte eines gesunden Individualismus. In dem Maße, als es gelingen
wird, den Bauernstand zu mehren und die Landarbeiter in Grundbesitzer zu
verwandeln, wird sich die Lage der handarbeitenden Klassen überhanptIheben,
der Zuzug vom Lande in die Städte wird geringer werden und aufhören die
Lebenshaltung der dortigen Bevölkerung herabzudrücken."
Nur auf dem hier gezeigten Wege vermag sich unsre Landwirtschaft aus der
gegenwärtigen Not herauszuarbeiten. Die Pläne der deutscheu Bodeureformpartei
aber werden an zwei Punkten dnrch die Ergebnisse der Seringschen Forschungen
erschüttert: erstens, insofern die Anhänger der Reform zu einer zweckmäßigen
Aufteilung der Latifundien nicht entschlossen die Hand zu bieten, sondern die
Zusammenballung so lange gestatten, wie es den heutigen Besitzern beliebt;
zweitens, und das ist entscheidend, insofern sie anstatt eines selbständigen
Bauernstandes einen Stand von Pächtern ins Leben zu rufen gedenkein
Auch vermag ich nicht zu erkennen, wie im gewerblichen Betriebe der kleine
Mann den gewaltigen Vorsprung einholen soll, deu der Großbetrieb auf diesem
Gebiete einmal gewonnen hat und kraft seiner natürlichen Überlegenheit wohl
dauernd behaupten wird. Denn darin unterscheidet sich das Großgewerbe vom
Grundbesitz, daß es für diesen eine Grenze giebt, über die hinaus die Ertrag-
fähigkeit abnimmt, die Ausdehnung des industriellen Großbetriebs dagegen, wenn
überhaupt, so doch uicht in gleichem Maße begrenzt ist. Sich in dieser Hinsicht
Träumen hinzugeben, überlassen wir füglich jenen katholischen Sozialtheologen,
die als Vorläufer der Würzburger Generalversammlung die Höhe der in einem
Betriebe beschäftigten Arbeiter gesetzlich bestimmen und jedem Arbeiter von
Staats wegen einen Mindestlohn verbürgen wollen, Forderungen, die George
selbst in seinem Briefe an den Papst ins Land Utopia verwiesen hat.
Noch an einem andern Punkte erwartet die deutsche Bodenreform von der
Anwendung ihres halben Mittels die volle Wirkung der von George empfohlenen
Radikalkur: sie verspricht der Industrie in ihrem Zukunftsstaate die Beseitigung
der Absatzschwierigkeit, jener Hauptklippe im Geschäftsbetriebe der kapitalistischen
Periode. Auch ich betrachte es nicht als das Zeichen eines gesunden Zu¬
standes, wenn sich der Wettbewerb der Unternehmungen in blinder Selbstsucht
so weit versteigt, daß der Druck der Lohne die Kauffähigkeit der großen Massen
herabsetzt. Aber ich nehme diesen Zustand nicht als ein Kismet hin,
sondern glaube, daß die wirtschaftliche Hebung des vierten Standes gelingen
muß und gelingen wird, nicht nur im allgemeinen Interesse des menschlichen
Fortschritts, sondern nicht minder zu dem nähern Zwecke, die deutschen Erwerbs¬
stände in wirksamer Weise gegen die Chikanen des Auslandes zu sichern.
Ich wollte prüfen, ob der Weg, der »ach den Verheißungen der Boden¬
reformer ins gelobte Land führen soll, ohne Gefährdung wichtiger Interessen
betreten werden kann. Dabei habe ich mich bemüht, nicht in den Fehler derer
zu verfallen, die sich in der Bekämpfung ihrer Gegner gegen Nebendinge wenden
und über diese einen billigen Sieg erfechten. Ich erkenne rückhaltlos den guten
Willen der Reformer an, aber diese Anerkennung hindert mich nicht, ihre
Ideen in das Gebiet jener Wünsche zu verweisen, die man als „fromme Wünsche"
zu bezeichnen pflegt. Eins aber hat mir an ihren Ausführungen besonders
mißfallen, der Satz, daß der Menschen nicht zu viele werden könnten. Diesen
Satz hält man seit Jahrzehnte» bald in dieser, bald in jeuer Form denen ent¬
gegen, die den Versuch macheu, den Steinhaufen der Schmähungen, die ein
blindes Vorurteil und eine falsche Humanität auf Malthus Andenken geworfen
haben, zu entfernen. Auch ich würde mich an der Sache vorbeidrücken, wenn
ich mich vor Wespenstichen fürchtete. Malthus Gegner gehen davon aus, daß
die Kultur mit der Zunahme der Bevölkerung begonnen hat, eine Wahrheit,
die von keinem bestritten wird. Wer aber möchte in Abrede stellen, daß die
lebenschaffenden und lebenfördernden Kräfte, inS Unendliche gesteigert, an einem
Pnnkte ankommen müssen, wo sie in ihr Gegenteil umschlagen? Wer mit
offnen Sinnen durch die Arbeiterviertel unsrer Großstädte geht, wird schwer¬
lich behaupten, daß das Anwachse» der Bevölkerung unter allen Umständen
einen Kulturfortschritt bedeute. Aber es ist nun einmal Mode geworden, auf
Malthus zu schmähen, statt ihn zu widerlegen. Ganz natürlich; denn der
Satz: „Zur Vermehrung seines Geschlechtes durch einen mächtigen Instinkt
angetrieben, wird der Mensch aufgehalten durch die Vernunft, die ihm vor¬
stellt, daß er kein Wesen in die Welt bringen darf, zu dessen Erhaltung und
Erziehung ihm die Mittel fehlen" — dieser Satz läßt sich eben nicht wider¬
legen. George und, ihm folgend, die deutschen Bodenreformer verfalle» in deu
Irrtum, daß sie für die Ertragfähigkeit des Bodens keine Grenze annehmen
und über die Schranke, die der Produktivnssteigerung des Erdreichs von der
Rat»r gesetzt ist, mit einem bewundrungswürdigen Saltomortale hinweg¬
springe». „Je nichr Hände, desto mehr Arbeitskraft, je mehr Arbeitskraft,
desto mehr Nahrungsmittel" — das ist die Kette ihrer Schlüsse, um der das
schwache Glied zu entdecken ich wohl dem Leser überlasse» darf.
Der Anwalt der deutsche» Bodeubesitzreform, den die Grenzboten haben
zum Worte kommen lassen, besprach am Schluß seiner Ausführungen das Ver¬
hältnis seiner Partei zur Sozialdemokratie; er legte dieses Verhältnis richtig
so dar, daß die Bvdenbesitzrefvrmer nur eine Verstaatlichung des Bodens, die
Sozialdemokraten dagegen auch die Vergesellschaftung sämtlicher Produktions¬
mittel auf ihr Programm geschrieben hätten. Die Verwunderung darüber, daß
die Sozialdemokratie, anstatt mit der Bodenbesitzreforin eine Strecke Wegs zu¬
sammenzugehen, sie geradezu totschweige, war unbegründet. Daß die Anhänger
Bebels so lange über diesen Punkt geschwiegen haben, ist aus verschiednen Ur¬
sachen zu erklären, von denen die wichtigste jedenfalls die ist, daß es der
Svzialdemvkmtie zunächst darum zu thun war, mit Hilfe des famosen Ncichs-
tagswahlrechts die großen Müssen der Industriearbeiter als gehorsame Ba¬
taillone unter ihrer Fahne zu sammeln, während sie es für gut hielt, die länd¬
liche Bevölkerung, die zähe an ihrem wenn auch noch so kleinen oder noch so
sehr belasteten Besitz festhält, vor der Hand nicht durch die laute Forderung
der Bodeukonfiskation kopfscheu zu machen. Jetzt, wo das erste Ziel erreicht
scheint, wendet man sich offen zum zweiten: auf dem Kongreß zu Zürich wurde
die Vergesellschaftung des Grund und Bodens mit klare» Worte» als Grundsatz
der internationalen Sozialdemokratie aufgestellt. Die Bodeubesitzreform fühlt
sich durch die Gesellschaft, mit der sie hier a» einem Seile zieht, offenbar des-
halb nur wenig belästigt, weil sie an den Spruch denkt, daß es nicht immer
dasselbe ist, wenn zwei dasselbe thun. Ich gebe die Wahrheit dieses Spruches
im subjektive» Sinne, d, h. soweit die Absicht der Bodenreformer in Betracht
kommt, zu, bezweifle aber, ob sich der Spruch auch im objektiven Sinne als
stichhaltig erweisen wird. Die Wirkungen wirtschaftlicher Maßregeln gleichen
in dieser Hinsicht dem Pfeil, über den der Schütze, sobald er die Sehne los¬
gedrückt hat, keine Gewalt mehr hat. Du giebst einem Menschen, den du in
Not siehst, von Zeit zu Zeit eine Unterstützung; gewöhnst du ihn daran, so
wird er in neunzig Fällen von hundert, ungeachtet deiner guten Meinung, in
seiner Arbeitsfreude erlahmen. Denn das ist das eine Gesetz, das der wirt¬
schaftlichen Entwicklung der Menschheit zu Grunde liegt, daß der Drang, die
vorhandnen Bedürfnisse zu stillen, die Menschen zur Bethätigung und Ent¬
faltung ihrer körperliche» und geistigen Kräfte bewegen soll, daß sie, wie es
in der kernigen Sprache der Bibel heißt, ihr Brot in: Schweiße ihres Ange¬
sichts essen sollen. Das andre aber ist das, daß der Mensch die Befriedigung
seiner Bedürfnisse mit dem geringsten Aufwand von Kraft zu erreichen fucht.
In diesen beiden Gesetzen, die eine weise und gütige Vorsehung gegeben hat,
liegt der Schlüssel für die vielen Rätsel, die uns die soziale und wirtschaft¬
liche Entwicklung der Völker aufgiebt. Wer diese Rätsel ohne jenen Schlüssel
zu lösen sucht, dem wird sich das Thor der Erkenntnis nicht öffnen.
Die Bvdenbesitzresormer sagen mit Recht, daß vou der Sozialdemokratie
deshalb kein Heil zu erwarte» sei, weil sie die wirtschaftliche Freiheit ersticke.
Ob aber diese Freiheit bei der Durchführung ihrer eignen Pläne nicht gleich¬
falls gefährdet ist? Wo der Boden thatsächlich noch ein Arbeitsmittel be¬
deutet, also vor allem in der Landwirtschaft, da mird sein Wert zwar von
den Fortschritte» der Gesamtheit i» die Höhe geschraubt, aber es liegt auf
der Hand, daß der Bebauer durch seine persönlichen Eigenschaften den
Wert eines Grundstücks anch unabhängig vou der Gesamtheit beeinflussen
lau». Das Streben, diese persönliche Einwirkung auf den Wert des
Bodens geltend zu macheu, erleidet durch die Verstaatlichung des Grund¬
besitzes wenn auch keinen tötlichen, so doch einen gefährlichen Stoß, insofern
der Behälter von einer erhöhten Ertragfähigkeit eine Steigerung der Pacht¬
summe zu erwarten hätte. Hat er so als Pächter auf der einen Seite weniger
zu hoffen, so hat er auf der andern auch weniger zu fürchten, wenn er sein
Grundstück herunterwirtschaftet. Was immer aber geeignet ist, dem Menschen
Hoffnung nud Furcht zu dämpfe» und ihm das Bewußtsein der Verantwort¬
lichkeit abzustumpfen, das hängt sich wie ein schweres Gewicht an die Trieb¬
feder seiner Thätigkeit. Der Gedanke, daß die Gesamtheit für das wirtschaft¬
liche Gebcchren der einzelnem verantwortlich sei, hat für die Schwachen eine
große Verlockung, aber zur allgemeinen Geltung erhoben, wird er ihnen
schwerlich einen Zuschuß von jeuer Kraft des trotzigen Selbstbewußtseins
geben, auf die es heute namentlich in Deutschland mehr als jemals an-
kommt.
Wenn ich mir also von der Anwendung der Bodenbesitzrefvrm auf das
ländliche Grundeigentum kein Heil verspreche, so stehe ich doch nicht an, zu
bekennen, daß die Reformpläne für den städtischen Grund und Boden, der nicht
in dem Sinne wie der ländliche als ein Arbeitsmittel angesehen werden kann,
zum Teil Bedeutung haben. Der bekannte Antrag des Oberbürgermeisters von
Frankfurt im preußischen Herrenhause, sowie die allgemeine Anerkennung des
Satzes, daß den Gemeinden das Recht zustehen soll, beim Verkauf städtischer
Immobilien eine besondre Abgabe zu erhebeu, erscheinen mir als die Vorboten
einer neuen Ausfassung, und wer sich um das Barometer der öffentlichen
Meinung kümmert, wird erkennen, daß Änderungen in dem, was jetzt gegen¬
über dem städtischen Grundbesitz als Recht gilt, in der Luft liegen. Zu pro¬
phezeien, wie weit diese Umgestaltung gehen wird, liegt hier außerhalb meiner
Aufgabe.
Während ich diese Sätze niederschreibe, veröffentlicht der Führer der
deutschen Vodeureforinbeweguug einen Bericht über die Wahrnehmungen, die
er vor kurzem in dem „Zukunftsstaat" Libertad gemacht hat; Libertad —
so nennt sich eine Ackerbaukolouie im nordwestlichen Mexiko, die nach den
Grundsätzen der deutschen Reformpartei eingerichtet worden ist, und für die
Flürscheim selbst eine Verfassung ausgearbeitet hat. Da sich Flürscheim
nächstens mit einem Aufruf an deutsche Auswandrer zu wenden gedenkt, einst¬
weilen jedoch die Entwicklung der Kolonie noch einige Monate abwarten will,
so will auch ich, bevor ich diesen Zukunftsstaat ein minig-durs den Lesern vor¬
führe, erst jenen Aufruf abwarten.
as weite Gebiet zwischen dem Himalaja und dem Kap Komorin.
vom Thale des Indus bis zu dem des Jrawadi, steht in po¬
litischer Abhängigkeit von einer kleinen Insel des Atlantischen
Ozeans. All die verschiednen Völkermassen, Hindus und Mu-
hammedaner, Sikhs und Buddhisten, Bengalis und Marathcn,
Tamulen und Sandalen einen sich in dem Gehorsam vor einem europäische»
Volke. Die Königin von England trägt die Krone der Großmoguln und bestellt
einen englischen Edelmann zu ihrem Stellvertreter als Vizckvnig von Indien.
Von Dvwning Street in London aus wird das Land im Süden des Himalaja
regiert, und das britische Parlament leitet seine Geschicke. Wenige tausend An¬
gehörige der britischen Nation führen an Ort und Stelle die Verwaltung,
und ein kleines Häuflein britischer Truppe» erhält die Ruhe ans der weiten
Halbinsel.
Nach der Volkszählung von 1881 befanden sich damals insgesamt nur
8^>7!>8 Engländer in Indien. Wie verschwindend klein diese Zahl gegenüber
den 260 Millionen Asiaten ist, können wir u. n. daraus sehen, daß in Frank¬
reich 1877 unter einer Gesamtbevölkerung von 37 Millionen nicht weniger als
809000 Fremde lebten! Es kam also ein Fremder auf 46 Franzosen; in
Indien kommt ein Brite auf 2666 Inder! Von der Gesamtzahl der in Indien
lebenden Engländer kamen ungefähr 56000 auf das Heer; 3000 wcircu Zivil¬
beamte, 2300 waren an der Eisenbahn angestellt. Nach den letzten Vermeh¬
rungen beläuft sich die Zahl der britischen Truppen in Indien auf 71000 Manu,
aber wie gering im Verhältnis diese Stärke immer noch ist, geht daraus hervor,
daß auf ein Gebiet von 56,3 Quadratkilometern mit 3521 Einwohnern nur ein
britischer Soldat kommt. Es klingt kaum glaublich, aber es ist wahr: 3000 Zivil¬
beamte und 71000 europäische Soldaten sind die Träger der englischen Herr¬
schaft nnter 260 Millionen Asiaten.
Es ist wohl der Mühe wert, zu untersuchen, wie eine solche Herrschaft
hat begründet werden können.
Die Geschichte des anglv-indischen Reichs beginnt mit dem Siege von
Plassey am 23. Juni 1757, und am 13. Februar 1856 wurde mit der Ein¬
verleibung Audhs der letzte Stein zu dem stolzen Gebände hinzugefügt. Ein
Jahrhundert also hatte genügt, die englische Herrschaft von den schneeigen
Gipfeln des Himalaja bis zu den grünen Hängen des Kap Komorin, von dem
bengalischen Meerbusen bis zum Snleiman auszubreiten. Binnen hundert
Jahren waren mehr als 200 Millionen Menschen dnrch eine Handvoll fremder
Eroberer ^bezwungen worden. In drei Menschenaltern war eine der ältesten
und zivilisirtesten Bevölkerungen Asiens dem Gebot einer jungen europäischen
Nation unterworfen worden. Die Erde hat viele gewaltige Eroberer gesehen,
mächtige Reiche sind im Laufe der Jahrtausende entstanden und wieder ver¬
gangen; aber soweit die Geschichte zurückreicht, nirgends zeigt sie uns ein gleich
seltsames Bild. Die große Monarchie Alexanders zerbröckelte mit dem Tode
ihres Stifters; der Staat Napoleons zerfiel rascher, als er entstanden war;
aber die Macht der Engländer in Indien weist nach drei Jahrzehnten ruhigen
Bestandes keine Anzeichen des Verfalls auf. Das Mittelmeerreich Hadrians
war das Ergebnis vierhundertjähriger Anstrengungen der ungezählten Legionen
Roms; im fernen Indien hat eine Handvoll britischer Truppen in einem viel
kürzern Zeitraum eine viel größere Herrschaft begründet. Cortez erfocht seine
Siege über ungebildete, mit Keulen und Steinschwcrtern bewaffnete Wilde;
Lord Clive stand auf dem Felde von Plasseh einer hochzivilisirten Rasse und
dem Feuer von fünfzig schweren Geschützen gegenüber.
Wahrlich die Eroberung Indiens scheint ans Wunderbare zu grenzen.
Welche Anstrengungen hat es den Franzosen gekostet, sich in den Besitz Al¬
geriens zu setzen! Frankreich, damals der erste Militärstaat der Welt, mit
einer Bevölkerung von 32 Millionen Menschen und einem Flächeninhalt von
520000 Quadratkilometern, entsandte nach Algier im Jahre 1830 eine wohl¬
ausgerüstete Macht von 35000 Mann, die bald durch Nachschübe auf die Stärke
von 50000 Mann gebracht wurde; aber siebenundzwanzig Jahre vergingen in
unausgesetzten Kämpfen, bis die Unterwerfung des Landes vollzogen war.
Dabei war Frankreich während dieser Zeit in keine andern Kriege verwickelt;
die nordafrikanische Küste liegt nur 400 Seemeilen von dem Hafen von Toulon
entfernt; Algerien mißt kaum 315000 Quadratkilometer, und die Bevöl¬
kerung zählt nicht drei Millionen. Indien hatte um die Mitte des vorigen
Jahrhunderts jedenfalls 120 Millionen Einwohner auf einem Gebiete von
4000000 Quadratkilometern, während das englische Volk auf 315000 Quadrat¬
kilometer« etwa 12 Millionen Köpfe zählte. Mehr als 15000 Seemeilen trennten
die beiden Länder. Und England hat niemals Anspruch darauf erhoben, ein
Militärstaat zu sein; es war damals ebensowenig wie hente imstande, für aus¬
wärtige Unternehmungen starke Heere ins Feld zu stellen. Und gerade wäh¬
rend der Jahrzehnte, die die entscheidenden Kämpfe und sowohl die Begrün¬
dung wie die hauptsächlichste Ausdehnung der englischen Herrschaft in Indien
sahen, war Großbritannien tief in die größten europäischen Kriege der Neu¬
zeit verwickelt. Clives Laufbahn fällt zum großen Teil in die Zeit des sieben¬
jährigen Krieges, und Lord Wellesleh brach die Macht der Marathen inmitten
des langjährigen Ringens mit Napoleon.
Überdies war England als Staat an der Erwerbung Indiens gar nicht
einmal beteiligt, wenn ihm auch schließlich die reife Frucht zugefallen ist. Das
anglv-indische Reich ist die Schöpfung einer Kompanie englischer Kaufleute, die
im Grunde ganz andre Zwecke verfolgten als die der Eroberung. Die Direk¬
toren in Leadenhall Street schenken thatsächlich nichts so sehr wie die unpro-
duktiven Ausgaben für Militär. Kostete ihnen doch der Transport nach In¬
dien allein 600 Mark für jeden Fußsoldaten und 1600 Mark für jeden Reiter.
Die Kompanie war und blieb eine Gesellschaft von Kaufleuten. Eine gute
Dividende war das Ziel ihrer Wünsche, und in jeder kriegerischen Unterneh¬
mung sahen sie nur eine Gefahr für den Stand ihrer Aktien. Gegen ihren
Willen und ohne ihr Zuthun wurde diese Gesellschaft von Handelsleuten auf
die Bahn der Eroberung gedrängt. Es waren die ehrgeizigen Bestrebungen
ihrer französischen Nebenbuhler, die die Engländer zwangen, in dus politische
Getriebe der Halbinsel einzugreifen. Es waren die ihre Existenz bedrohenden
Übergriffe und Gewaltthätigkeiten der indischen Fürsten, die die englisch - ost-
indische Kompanie veranlaßten, als unabhängige Macht eignen Landbesitz zu
erstreben. Die Ausbreitung aber der englischen Herrschaft über die ganze
Halbinsel wurde unternommen und durchgeführt von den ausführenden Or¬
ganen der Kompanie in geradem Widerspruch mit deren Zwecken und Wünschen.
Der Entschlossenheit, Thatkraft und Ausdauer einiger wenigen, fast ganz aus
sich selbst angewiesenen Männer dankt England sein stolzes indisches Reich.
Je näher wir dieser gewaltigen Schöpfung treten, desto rätselhafter er¬
scheint sie. Läßt sich die Entstehung des anglv-indischen Reichs überhaupt
anders erklären als durch eine dieser angelsächsischen Rasse eigentiimliche, fast
übernatürliche Thatkraft und Tapferkeit? durch eine grenzenlose Überlegenheit
des Engländers über den weichlichen Hindu?
Wir haben schon früher gesehen, daß die übliche Anschauung vou dein
weichlichen Charakter des Hindu durchaus nicht auf alle die verschiednen Rassen
Indiens zutrifft. Und selbst wenn die Schwäche der Inder so allgemein und
so ausgesprochen wäre, würde sie doch die englische Herrschaft über die indische
Halbinsel uoch nicht erklären. Mag immerhin ein Engländer auf dem Schlacht¬
feld« zehn, zwanzig, ja fünfzig Hindu aufwiegen: selbst das löst das Rätsel
des anglo-indischen Reichs nicht. Die Zahl der Engländer in Indien ist so
klein, daß die Hindu buchstäblich Recht haben, wenn sie sagen, sobald jeder
von ihnen nur eine Hand voll Erde aus ihre Herren würfe, so würden diese
inmitten ihrer Eroberungen lebendigen Leibes begraben werden. Heute kommen
auf jeden britischen Soldaten 3521 Eingeborne, und während der Errichtung
der englischen Herrschaft war das Verhältnis noch weit ungünstiger. Die
britischen Truppen der Kompanie beliefen sich zu keiner Zeit auf mehr als
40000 Mann.
Aber wenn die Überlegenheit der angelsächsischen Rasse nicht zur Erklä¬
rung der Eroberung Indiens ausreicht, wo finden wir sie sonst? Ein Er¬
eignis, das sich so im vollen Tageslicht der neuern Geschichte vollzogen hat,
wie die Eroberung Indiens, muß sich doch anders als durch übernatürliche
Kräfte erklären lassen. Nun, wenn wir die anglo-indischen Feldzüge studiren,
so sehen wir, daß darin weit größere Heere auftreten, als von 40000 Mann.
Lord Hastings versammelte im Jahre 1817 nicht weniger als 120000 Mann
zur Bekämpfung der Pindari-Räuberbanden. Die Schlachten der Kompanie
wurden also nicht ausschließlich, ja nicht einmal vorwiegend von britischen
Soldaten geschlagen. Nur der kleinere Teil ihrer Streitkräfte bestand ans
englischen Regimentern. Der Nest waren andre Truppen, waren indische, ein¬
heimische Soldaten. Augenblicklich stehen in Indien 212000 Mann, von
denen nur 71000, also nur ein Drittel, englische Soldaten sind. Und dieses
Verhältnis ist auch erst durch die Reorganisation von 1858 hergestellt worden.
Früher war das Übergewicht der eingebornen Truppen noch viel bedeutender.
Kaye, der Geschichtschreiber des Sepoykriegcs von 1857, berechnet die Zahl
der britischen Truppen zur Zeit des Ausbruchs des Aufstandes uns .'S9000
Mann, bei einer Gesamtstärke von 280000 Mann. Ungefähr dasselbe Ver¬
hältnis zeigen die Angaben Alisvus für das Jahr 1826. nämlich: 260000
Sepoys und !!1000 Engländer. Im Jahre 1808, also kurz nach dem ent¬
scheidenden Krieg mit den Marathen, zählte das Heer der Kompanie 155 000
Mann, darunter 25000 Briten. Auch 177,-! betrugen die Europäer weniger
als ein Fünftel der Gesamtstärke, während sich für 1775 in den uns vor¬
liegenden Listen nur 2500 Europäer gegenüber 16500 Sepvhs nachweisen
lassen. Also von ihren allerersten Anfängen an bestand die Militärmacht der
Kompanie zum größer» Teil aus einheimischen Truppen. Jene ersten Schlachten,
die den Ruf der britischen Waffen auf der indischen Halbinsel begründeten,
wurden in der Hauptsache von Sepohs geschlagen. An der Verteidigung von
Nrkot nahmen 5500 Sepoys und 200 Engländer teil; an der Schlacht von
Plasseh 2000 Sepoys und 1000 Engländer; an Clives Zug gegen Patna
2500 Sepohs und 450 Engländer, und an der Schlacht von Bnxar 2500
Sepoys und 1000 Engländer. Und man glaube nicht etwa, daß die Sepoys
nur gezählt und den Kampf den europäischen Truppen überlassen hätten. Bei
der Belagerung von Bhartpur pflanzte das zwölfte einheimische Regiment seine
Fahne auf den Wällen auf, gegen die zwei britische Regimenter vergebens zum
Sturm geführt worden waren. „Die Zahl der Europäer — sagt Alison —,
die an den Feldzügen von Clive, Lawrence und Coote um die Mitte des
vorigen Jahrhunderts teilnahmen, war so unbedeutend, daß fast der ganze
Ruhm ihrer wunderbaren Siege in Wirklichkeit den Sepoys gebührt." Man
thut gut, sich das zu vergegenwärtigen, wenn man bei den meisten englischen
Schriftstellern so viel von der Unwiderstehlichkeit der „britischen" Waffen und
den Heldenthaten ihrer Landsleute liest. Es mag ja den Söhnen Albions
schmeicheln, sich von Macaulay erzählen zu lassen, daß „Clive und seine Eng¬
länder ein Gegenstand des Schreckens für den ganzen Osten waren"; aber die
geschichtliche Genauigkeit kommt dabei zu kurz. Gewiß waren die Truppen
der Kompanie denen ihrer Gegner überlegen, aber diese Überlegenheit be¬
schränkte sich nicht aus ihre europäischen Regimenter. Ein Unterschied war
vorhanden, aber es war nicht so sehr ein Unterschied in der Rasse, als ein
Unterschied in der Disziplin, in der Kriegskunst und meistens anch in der
Führung. Man kann zugeben, daß die englischen Truppen einen verhältnis¬
mäßig größern Anteil an den kriegerischen Erfolgen der Kompanie hatten;
man kann auch zugeben, daß es die britischen Offiziere waren, die ihnen jene
Überlegenheit der Führung sicherten. Dennoch ist es unrichtig, zu behaupten,
daß die Engländer Indien erobert hätten. Indien ist erobert worden dnrch
eine Armee, von der durchschnittlich der fünfte Teil aus Engländern bestand.
Aber es genügt nicht, den Anteil der Engländer an dem Werke auf das rieb-
tige Maß zurückzuführen. Mau muß bedenken, daß die übrigen vier Fünftel
aus Eingebornen bestanden. Erst wenn wir uns der Bedeutung dieser That¬
sache bewußt werden, verstehen wir das Wesen dieser sogenannten „Eroberung
Indiens." Dann erst erscheint sie uns als das, was sie ist: nämlich weniger
eine Eroberung als eine Umwälzung (Seeleh). Indien ist nicht durch die
Engländer, sondern durch die Inder selbst erobert worden, freilich durch Inder
unter englischer Führung. Das Ergebnis ist deshalb auch die Herstellung der
englischen Herrschaft über die Halbinsel gewesen.
Es bleibt also nur noch zu erkläre», warum sich die Inder selbst in den
Dienst der Briten gestellt haben, warum sie einer fremden Macht geholfen
haben, ihr Land zu unterwerfen. Was würden wir sagen, wenn deutsche
Männer zur Bezwingung ihres Vaterlandes ihren Arm deu Franzosen leihe»
wollten! Und doch ist auch das dagewesen. Hat doch Napoleon Baier»
und Württemberger, Hessen und Sachsen zu den Trügern seiner Zwingherr¬
schaft über den deutschen Norden machen können. Freilich war damals infolge
der traurigen Zersplitterung unsers Vaterlandes das deutsche Nationalgefühl
fast bis auf deu Nullpunkt gesunken. Der Ausländer konnte mit Recht fragen,
wo denn dieses sogenannte Deutschland eigentlich liege; der gewaltige Korse
konnte „die Völker Sachsens" aufrufen zum Kampf für ihre „nationale Un¬
abhängigkeit"; die große „schwäbische Nation" konnte ihre Waffen erheben
gegen deu „preußischen Erbfeind"; und der Geograph Mannert konnte die Ent¬
deckung machen, „daß die Vaiern keine Deutschen seien, sondern ein keltisches
Volk, den Franzosen blutsverwandt, wie man schon an ihrem nationalen
Schnauzbart erkenne." Ist es denn aber nicht gerade dieser Mangel jedes
nationalen Bandes, der die politischen Zustände der indischen Halbinsel kenn¬
zeichnet? Haben wir nicht gesehen, daß das Bewußtsein ihrer Zusammen¬
gehörigkeit den Millionen Indiens gänzlich abgeht? daß es, anßer im geo¬
graphischen Sinne, ein Indien gar nicht giebt? Und man glaube nicht, daß
das Beispiel des napoleonischen Deutschlands anch nur annähernd einen Be¬
griff geben könne von der politischen Leblosigkeit und der gesellschaftlichen Zer¬
splitterung Indiens. Die Deutschen mußte doch die gemeinsame Sprache, mußte
die Erinnerung an die alte Kaiserherrlichkeit immer wieder darau mahne«, daß
sie Brüder seien. Die Millionen Indiens dagegen eint kein sprachliches Band;
ihnen sitzt kein Barbarossa in den Windhjas, der Zeit harrend, wo sich das
Reich erneuern werde. Und weiter: wohl gab es bei uns zur Zeit des Rhein¬
bundes kaum ein deutsches Nationalgefühl mehr; aber dafür lebte doch ein
preußisches, ein bairisches, ein sächsisches Stammesbewnßtsein. Napoleon konnte
Baiern gegen Österreich, Sachsen gegen Preußen ausspielen, doch er konnte
nicht einfach für Geld ein Heer von Preußen anwerben zum Kampf gegen die
Monarchie Friedrichs des Großen. Der Einzelne fühlte sich, wenn auch nicht
als Bürger Alldeutschlands, so doch wenigstens als Bürger dieses oder jenes
deutschen Kleinstaates. Er hatte als Ersatz für das Verlorne weitere Vaterland
wenigstens ein engeres, dem seine Liebe, seine Kräfte, sein Blut gehörten. In
Indien dagegen ist politische Bürgerschaft fast ein unbekanntes Ding. Der
Deutsche, befragt, was er sei, hätte Wohl vergessen können, daß er ein Deutscher
war, aber er hätte doch geantwortet: ich bin ein Preuße, oder: ich bin ein
Baier. Der Inder würde höchstens sagen: ich gehöre zur Sloanischen Schneider¬
gilde von Kalkutta, oder: ich bin ein wischnnitischer Goldschmied ans Madras.
Die Beziehungen des Einzelnen zum Staate sind den engern Verhältnissen, die
das ganze gesellschaftliche Leben beherrschen, untergeordnet. Die Regierung,
unter der ein Mann lebt, ist ihm eine ganz nebensächliche Einrichtung, die
gestern aus blindem Zufall entstanden und morgen vielleicht verschwunden ist.
Auf irgend welche Anhänglichkeit hat sie keinen Anspruch. Er wechselt seine
Herrscher, seine Staatsangehörigkeit, wie wir unsre Kleider wechseln. Er hat
nicht einmal ein „engeres" Vaterland, er hat nur seine Kaste. Darum hat
er auch nicht einmal Lokalpatriotismus. Wenn er überhaupt Neigung zum
Kriegshandwerk hat, so hindert ihn kein moralisches Band, sich von irgend
einer beliebigen Regierung anwerben zu lassen, die nur einen guten Sold ver¬
spricht. Und warum uicht auch von den Engländern, zumal wenn sie besser
und regelmäßiger zahlen als die übrigen, und unter ihren Fahnen mehr Ruhm
winkt als anderwärts? Der Umstand, daß sie Fremde sind, kann ihn nicht
abhalten. Denn was ist ihm überhaupt „ein Fremder" ? Der PandschM ist
dem Bengali, der Radschpute dem Madrassi nicht weniger ein Fremder als
der Brite. Ja selbst „innerhalb jeder einzelnen indischen Provinz sind die
politischen Sympathien der verschiednen Volksgruppen sür Männer, die in
geographischem Sinne ihre Landsleute sind, oft ebenso unvollkommen, wie für
ihre englischen Herren" (Stranses). Wo der Begriff „Vaterland" fehlt, muß
sich auch der Gegensatz von „fremd" und „einheimisch" verwischen. So erklärt
sich denn, was auf deu ersten Blick so rätselhaft erschien, auf die einfachste Weise.
Auch die Verschiedenheit des religiösen Bekenntnisses brauchte kein Hin¬
dernis zu sein. In Algerien hatten die Franzosen ebenfalls verschiedne über-
einandergeschichtete und bis dahin einander feindliche Nassen vorgefunden: die
eingebornen Numiden oder Kabylen, die ersten arabischen Eroberer und die
letzten türkischen Herren. Aber die Ankunft des Christen vereinigte sie bald
alle in dem fanatischen Haß des Muhammedaners gegen den Ungläubigen.
Nichts derartiges geschah in Indien. Hier standen sich zunächst Vrcchmanismns
und Islam in grundsätzlicher Feindschaft gegenüber. Auf der einen Seite hatte
der Islam die politische Führerschaft bereits wieder verloren; er umfaßte eine
kleine Minderzahl der Bevölkerung; er war in die feindlichen Lager der Sun¬
niten und Schiiten gespalten und hatte von früh an ein Gepräge religiöser
Gleichgültigkeit getragen, wie es ihm anderwärts nicht eigen ist. Akbar, der
größte der mongolischen Kaiser, war Rationalist und in einer Weise duldsam,
wie sie sehr deutlich den allgemeine» Ton des indischen Mnhammedniiismns
von dem andrer Länder unterscheidet. Ans der andern Seite war der Vrah-
manismus infolge seines Mangels an organischem Bau, an einer katholischen
Organisation und an leitende» Gedanken nicht befähigt, selbst unmittelbaren
Angriffen mehr als passive» Widerstand entgegenzusetzen. Die Engländer aber
standen von Angriffen jeder Art wohlweislich ab. Solange sie in Indien bloß
Handelsleute waren, mußten sie schon im Interesse ihrer geschäftlichen Be¬
ziehungen zu den Indern religiöse Duldsamkeit üben. Später schrieben ihnen
die Gesetze politischer Klugheit dasselbe Verfahre» vor- Und da die Begrün¬
dung ihrer Herrschaft ans der Halbinsel gerade in eine Zeit der tiefsten Ebbe
in dem religiösen Leben ihrer Nation fiel, so blieben die Brite» auch als Er¬
oberer de» alten Überlieferungen der Kompanie getreu. Die Kompanie als
politische Macht war religionslos.
Nachdem wir so im allgemeinen gesehen haben, wie die politischen Zu¬
stünde der Halbinsel die Errichtung einer Fremdherrschaft begünstigten, bleibt
uns nur noch übrig, nachzuweisen, wie gerade eine Gesellschaft britischer
Handelsleute die höchste Gewalt an sich reißen konnte. Die Begründung des
angloindischen Reichs fällt in eine Periode der Anarchie, wie sie Europa
höchstens während des Niederganges des Karolingischen Hauses erlebt hat,
und zu der selbst die Annalen Indiens kein Gegenstück bieten. Es war eine
Zeit vollständiger politischer Auflösung, eine Zeit der Verwirrung und des
allgemeinen Zusammenbruchs, wie sie nur auf den Fall eines weiten des¬
potischen Reiches folgen kann, das sorgfältig alle lokalen Stütze» und Bande
beseitigt und gelöst hat. El» solcher Zustand allgemeiner Verwirrung und
Anarchie begünstigt ganz besonders das Emporkommen »euer Mächte.") Uuter
andern Verhältnissen erfordert jede Eroberung eine feste Grundlage, ein ge¬
wisses „Anfangskapital." Niemand kann sie unternehmen, der nicht schon
einen anerkannten Einfluß besitzt und über eine feste Kriegsmacht verfügt.
Nicht so in dem Indien nach Aurangzebs Tode. Haidar Ali hatte nichts
als seinen klaren Kopf und seine feste Hand und ward doch Sultan von
Maisur. Denn Svldnerbanden gab es überall; sie dienten jedem, der sie be¬
zahlen oder sonst Einfluß über sie gewinnen konnte; und jeder, der ein solches
Söldnerheer befehligte, war den größte» Herrscher» Indiens gleich, da in der
allgemeinen Verwirrung nur noch der Säbel etwas galt.
Unter den verschiednen Mächten nnn, die uuter diesen besondern Ver¬
hältnissen mit einiger Aussicht auf Erfolg auf die Gründung eines großen
Reiches ausgehe» konnten, war eine gewisse Gesellschaft von Kaufleuten, die
in den größer» Hafenstädten Faktoreien besaßen. Allerdings waren sie Aus¬
länder, aber das ko»»te kein Hindernis sein in einem Lande, wo der Begriff
„national" el» unbekanntes Ding war. Sie waren andern Glaubens als die
Bewohner des Landes; aber anch das war kaum ein Hemmnis, da sie keine Ein¬
heit des religiösen Bekenntnisses und keine mächtige Kirche vorfanden. Jedenfalls
war unter den andern Mächten nicht eine einzige, die ein älteres oder besseres
Recht zur Herrschaft gehabt hätte als die Engländer. Es war darunter uicht
ein einziges altes nationales Staatswesen, uicht eine einzige alte nationale Dy¬
nastie. Der Großmogul selbst war ein Fremder mongolischer Abkunft. Der
Nawab von Vengalen war ein Muhammedaner, der in der Hauptsache über
eine Hindnbevölkerung herrschte und sich ans vaterlandslose Miettrnppen stützte.
So auch der Nawab von Audh, so der Naisam von Haidernbad. Alle drei
waren die Nachkommen von Vizekönigen des Anrangzeb, die sich nach dein
Tode des großen Kaisers selbständig gemacht hatten. Haidar Ali war ur¬
sprünglich ein gemeiner Soldat in den Diensten des Hindu-Rad Seba von
Maisnr, hatte sich durch Tapferkeit zum Befehlshaber einer großer» Ab¬
teilung aufgeschwungen, hatte diese dann für seine persönlichen Zwecke zu
gewinnen gewußt, die alte Dynastie gestürzt und sich, den Muhnmmedaner,
an deren Stelle gesetzt. Die größeren Marathafürsten, Sindhia in Gwalior,
Holkar in Jndur, der Gaebvar in Baroda, die Bhonslas in Berar herrschten mit
Hilfe kleiner Marathagefolgschaften über Bevölkerungen andrer Rasse und andrer
Sprache, Sie waren die Enkel glücklicher Räuberhänptlinge, die in der all¬
gemeinen Verwirrung des achtzehnten Jahrhunderts mit Hilfe von Sölduer-
bciudeu soviel Land an sich rissen, wie sie konnten. Selbst die Sikhs bildeten
die Minderheit in dem Gebiete, das ihr thevkrcitisches Staatswesen umschloß,
und in Radschputana stellen die herrschenden Klane eine geringe Zahl früherer
Eroberer dar, die das gesamte Land in Beschlag nahmen, die alten Besitzer
zu Kvlonen machten und von deren Abgaben leben.
Die Kompanie hatte vor all diesen größer» und kleinern Nebenbuhlern
schwerwiegende Vorteile voraus. Sie verfügte über große Geldmittel; sie hatte
zwei oder drei Forts, hatte in der See eine unangreifbare Basis, und hatte
den großen Vorteil, als Kompanie eine unsterbliche Persönlichkeit zu sein, die
nicht inmitten ihrer Eroberungen durch eine zufällige Kugel oder ein tückisches
Fieber aus diesem Leben abberufen werden konnte. Sie konnte einen festen
Kern britischer Truppen, und mehr als das, sie konnte die überlegne Kriegs¬
kunst und Disziplin des Westens ins Feld führen, und wie einst die gewaltigen,
aber ungeordneten Haufen des Darms vor der kleinen, aber festgeschlossenen
Schar Alexanders erlagen, so vermochten auch die größten Heere der indischen
Fürsten nichts gegen einige europäisch gedrillte Regimenter. Es war der
Franzose Dupleix, der zuerst die Möglichkeit sah, einheimische Söldner in dieser
europäischen Disziplin zu erziehen und dadurch unwiderstehlich zu machen. Es
war derselbe, der zuerst klar erkannte, daß hierin das Mittel zur Eroberung
Indiens liege. Beide Entdeckungen eigneten sich die Engländer an; und das
war es, was die Kompanie befähigte, als Siegerin aus dem Kampfe der
indischen Mächte hervorzugehen. Nicht irgend welche fabelhaften Eigenschaften
der angelsächsischen Rasse, sondern die überlegne Kriegskunst und Disziplin
Enropas hat Indien unter die Herrschaft der Engländer gebracht.
s giebt immer noch Leute, die an der alten Phrase Gefallen
finden, die Presse sei „das Organ der öffentlichen Meinung"!
sogar Freisinnige sollen noch hie und da diesen Kalauer ernst
nehmen, trotz der famosen Ausschließung der Presse von dem
letzten Parteitag. An diese Gläubigen wende ich mich nicht;
die fühlen sich nun einmal glücklich dabei, wenn sie alles, was sich eine Re¬
daktion aus den Fingern saugt oder aus ihrer „Hofluft" greift, als Ausdruck
dieser erhabnen «xinio unvlio» betrachten dürfen. Ich Streite mich anch nicht
mehr, wie früher wohl zuweilen, über den „wahren Beruf der Presse," über
ihre volkscrziehende, aufklärende, wissenverbreitende Thätigkeit, ich Null auch
keine Parallelen ziehen zwischen Aussprüchen von hoher und höchster Stelle,
die den Zeitungsschreiber gewissermaßen für vogelfrei erklären, und kürzlich ge¬
hörten fürstlichen und Miuistcrnrteilen, die der Presse eine sehr hohe Stelle
anweisen, so hoch, daß es selbst als demokratisch verdächtigen Journalisten so
gewaltig in die Krone fuhr, daß sie seitdem den umgekehrten Gang wie Teil
durchgemacht haben und hente von der Milch der frommen Denkart überlaufen.
Ich möchte hier nur vor verständigen Leuten — und wo fände ich sie voll¬
zähliger beisammen, als unter den Lesern der Grenzboten — einmal die Frage
erörtern, wie der Widerspruch zu erklären ist, daß selbst das aufgeklärte Publikum
den Zeitungen einen so weitgehenden Glauben schenkt, dem gedruckten Wort
so viel Autorität beilegt, aber die Journalisten als Stand weder gesellschaft¬
lich noch anch nur sozial anerkennt.
Gegen die blinde Gläubigkeit des zeitunglesenden Publikums hat einmal
vor langer Zeit ein Sonderling einen gewaltigen Feldzug eröffnet, das war
der treffliche Wuttke, der grimmige Großdeutsche mit dem ehrlichen Herzen.
Sein Buch über die Zeitungen und die öffentliche Meinung in Deutschland
machte viel Aufsehen, aber es ist heute kaum mehr bekannt, denn die Presse
hat es wohlweislich totgeschwiegen. Die Solidarität der Presse in solchen
Fällen hat meines Wissens nur ein Seitenstück, das ist die Solidarität der
Verbrecher,
Viele von den Personen, die Wuttke damals gezeichnet hat, leben heute
noch; der Angriff hat ihnen wenig geschadet, das Publikum ist im allgemeinen
»och genau so unerfahren in Zeitungssachen wie damals. Und doch sind die
Dinge eher schlimmer geworden. Wie viel Zeitungen in Deutschland dürfen
heute überhaupt noch den Anspruch erheben, selbständige Blätter zu sein? Ich
würde kein halbes hundert zusammenbringen. Der Inhalt der meisten Zei¬
tungen ist Abdruck vervielfältigter Korrespondenzen oder Nachdruck bis zur
äußersten Grenze des Erlaubten; großartiger als manche Redakteure stiehlt
ein Rabe nicht. Leitartikel, Feuilletons, Tagesberichte, Lokalnachrichten,
Mord, Totschlag, Ehebruch — alles wird su Aros fabrizirt. Ich kenne cm-
gcsehne Blätter, deren Redakteure wochenlang keine Feder zur Hand nehmen;
Blaustift, Schere und Kleistertopf genügen vollständig. Daß ganze Zeitungen
unter verschiednen Namen (ohne Kopf versandt) erscheinen, selbst in der Reichs-
hauptstadt, oder als „Ableger" größerer Blätter, dürfte bekannt sein.
Die geistige» Kosten der Zeitungsschreibers tragen uicht die Redakteure,
sondern die Korrespo»de»zbüreaus, die meist einen ganz unverhältnismäßig
hohen Ertrag abwerfen. Ein Berliner Gerichtsreferent, der sich eine Art
Monopol zu schaffen gewußt hat, wird auf jährlich 36000 Mark „geschätzt";
nicht viel weniger sollen die Inhaber eines Berliner Lokalnachrichtenbüreaus,
zwei frühere Polizeileutuants, verdienen. Im Verhältnis zu dem Aufwand
an Geistesarbeit sind die Einkünfte der meisten dieser Bureaus von unglaub¬
licher Größe.
An sich hätte ja nun die Arbeitsteilung im Zeitungswesen nichts Bedenk¬
liches, die Sache wird erst dadurch gefährlich und anrüchig, daß mit solchen
Korrespondenzen ein unerhörter Mißbrauch getrieben wird. Das lesende Publikum
wird wissentlich belogen und betrogen, man setzt ihm — es ist das ein be¬
liebtes Mittel, Abonnenten zu fangen — „Originalkvrrespondenzen," „Eigen¬
berichte," „Privattelegramme" vor, die gleichzeitig in einer ganzen Reihe
andrer Zeitungen als „Originalkorrespondenzen" erscheine»; die „Privattele¬
gramme" sind niemals durch einen Draht gegangen, selbst Nedaktionszeichen
werden gefälscht, um glauben zu machen, ein Leitartikel oder irgend ein andrer
Teil des Blattes rühre aus einer besonders beliebten Feder her.
Alles das weiß ein großer Teil des Publikums, es weiß, daß es tag¬
täglich belogen wird, es verachtet vielleicht auch die kleinliche Erbärmlichkeit
dieser Lügen, aber das gedruckte Wort gilt weiter als Autorität, weil die
Zeitungen bei unserm riesigen Verkehr unentbehrlich geworden sind, weil
sie bei der zunehmenden Schwierigkeit des Erwerbs, der immer größer werdenden
Notwendigkeit der Anspannung aller Kräfte in dem Kampf ums tägliche Brot
seist die einzigen Gednnkenvermittler und so seltsam es klingen mag — die
eigentliche Vildungsquelle für den größten Teil des Volks geworden sind.
Man braucht die Presse, sie ist unentbehrlich, aber man hat keine Zeit, sie zu
ändern, und so nimmt man sie, wie sie ist, und schüttet die geheime Verach¬
tung, die man trotzdem gegen sie fühlt, auf die ans, die hinter ihr stehn: auf
die Journalisten. So haben wir denn heute den bedenklichen Zustand, daß
der in seiner Ausdehnung und Stärke kaum zu berechnende Einfluß der Tages¬
presse von Leuten ausgeht, die in der öffentlichen Wertschätzung eine ganz unter¬
geordnete Stellung einnehmen, teilweise, sagen wir es frei heraus, einfach ver¬
achtet werden. Daß ein solcher Zustand auf die öffentliche Moral die denkbar
schlimmste Wirkung ausübt, muß dem Blödester einleuchten; leider ist es aber
denen am welligsten klar, die am meisten dabei beteiligt sind: den Journa¬
listen selbst.
Das lebt in den Tag hinein, dickhäutig, abgebrüht, eine lebendige Selbst¬
ironie und gleichzeitig eine Verhöhnung des Gedankens, der der eignen Existenz
zu Grunde liegt. Es giebt ja einige unter uns, die unter der Geringschätzung,
die die Gesellschaft den Journalisten entgegenbringt, schwer leiden, die einen
hohen Begriff von ihrer Aufgabe haben, und die mit schmerzlicher Resignation
die Versuche aufgegeben haben, den Stand zu heben und zu säubern. Aber
der große Troß der Journalisten, täuschen wir uns nicht darüber, führt
hinter dem papiernen Zaun ein sehr vergnügtes Dasein, beutet seinen Einfluß
nach Kräften aus und rächt sich für seine Zurücksetzung durch wohlgezielte
Pfeile aus dem sichern Versteck. Es ist so weit gekommen, daß sich unter uns
eine eigne Journalistenmoral ausgebildet hat, die eine verzweifelte Ähnlichkeit
mit der kurzen Diebsmvral hat: Du sollst dich uicht erwischen lassen! im übrigen
aber alles erlaubt, was Zeilenhonorar bringt.
Man greift die Tagespresse an, man spottet mit vollem Recht über die
blödsinnigen Dinge, die da getreulich mitgeteilt werden — das dümmste immer
telegraphisch —, man zieht mit schwerem Geschütz gegen die seichte Oberfläch¬
lichkeit, die Ungenauigkeit, die verbitterte Wirkung der Presse zu Felde, man
bekämpft die entsittlichenden Darstellungen von Mord und Totschlag, die schlecht
verhüllte Verherrlichung des Gaunertums, aber man sieht nicht, daß dieser
Kampf ein Kampf mit Windmühlen ist. Ihr werdet die Presse nicht besser
machen, wenn ihr die Journalisten uicht besser macht, wenn ihr diesen
Stand in seiner eingehegten Pfütze weiter vegetiren laßt, wenn ihr nicht
versucht, ihn zu heben und zu reinigen von den Elementen, die ihn jetzt
herunterziehen.
Was sind die Journalisten? Die einfachste Definition lautet: es sind Leute,
die für Tagesblätter schreiben oder als Redakteure an Tagesblättern beschäf¬
tigt sind.
Schon aus dieser Definition ergiebt sich, daß der Stand an sich nicht
minderwertig ist; im Gegenteil, lver zugiebt, daß unsrer Presse im nationalen
Leben hohe Aufgaben gestellt sind, muß mich denen, die mit der Lösung dieser
Aufgaben beschäftigt sind, eine entsprechende Stellung einräumen.
Zwei Ursachen aber wirken zusammen, den Stand herunterzudrücken und
damit auch die Presse: seine Zusammensetzung und seine wirtschaftliche Lage.
Das geflügelte Wort von den Leuten, die „ihren Beruf verfehlt haben,"
ist Vollaus berechtigt; ein großer Teil der Journalisten rekrutirt sich aus ab¬
gehenden Studenten, die entweder keine Aussichten auf Anstellung oder keine
Lust und Fähigkeit zu geregeltem, methodischem Arbeiten haben; auch andre
Stände, z. B. der Lehrerstand, geben ansehnliche Bestandteile ab, selbst Offi¬
ziere und pensionirte Beamte verschmähen es nicht, Preßmenschen zu werden.
Alle diese Leute lockt die fast unbeschränkte Freiheit des Berufs; keine Vor¬
bildung, kein Examen, kein Befähigungsnachweis wird verlangt, man braucht
nnr etwas Glück, einen Redakteur als Vetter, ein gutes Anpassungsvermögen
und die nötige Dosis Gewissenlosigkeit, über alles zu schreiben, um unver¬
frorensten über das, was man am wenigsten versteht. Hat der neubacknc
Publizist etwas Glück, so kann er nach kurzer Zeit eine ganz einträgliche Stel¬
lung haben. Erhält er gar eine feste Stelle als Redakteur u. dergl. an einer
verbreiteten, gutgehenden Zeitung, so wird er sehr bald merken, wie weit
sein „Ansehen" reicht, und wie treffend der Name „Presse" dem inserirenden
oder vielmehr dem nichtinserireuden Publikum gegenüber paßt; ist er besonders
gut geschäftlich beanlagt, so wird ihm sein Blatt auch noch privatim als Melt-
knh dienen, die Gewerbetreibenden lassen ja für ein bischen Reklame gern mit
sich reden.
Ist aber der Mann einmal so weit mit seinem Gewissen, dann wird nie¬
mand mehr von ihm eine ideale Auffassung seines Berufs verlangen, er ist
die verbesserte Auflage des frühern Nevvlverjournalisten, nur nicht mehr so
roh, so dreist wie dieser, er macht sein Geschäft in koulantern Formen.
Aber auch die, die sich von solchen Blutsaugergeschäften fern zu halten
wissen, machen doch mit wenigen Ausnahmen eine Abschwüchung ihres mora¬
lischen Feingefühls durch, wenn auch in andern Formen. Der journalistische
Beruf schließt im allgemeinen eine ernste, gründliche Vertiefung in die zu be¬
handelnde Materie aus. Was das Publikum von einer Tageszeitung verlangt,
ist schnelle und in der Form ansprechende Orientirung über die verschiedensten
Fragen; der Journalist muß umfassende Kenntnisse haben, er muß vielseitig,
gewandt im Denken und im Ausdruck sein; sobald er sich einer Frage mit
methodischer Gewissenhaftigkeit widmet, verliert er zu viel Zeit und riskirt
seine Stellung. Schon Lothar Bücher hat diesen Umstand beklagt. Gerade
in dieser Unmöglichkeit der Vertiefung in Einzelfrngen liegt aber ein Haupt¬
reiz für unreife Elemente. Sie haben nicht nötig, sich erst mit langen Studien
abzugeben, sie schreiben ja für den Tag, morgen schon ist das Geschriebne ver¬
gessen, da wird denn ein unglaublicher Unsinn über die wichtigsten Dinge zu-
sammeugeschrieben, das Publikum munter angelogen, die Thatsachen gefälscht
oder mindestens entstellt und einer gefälligen Form, vielleicht einem Kalauer
zu liebe das mühsam von der Wissenschaft zusammengetragne zerpflückt und
auseinandergerissen. Das Publikum behält zwar nicht viel davon, aber die
leichtfertige Urd sitzt doch fest und diskreditirt allmählich alles ernste Schaffen.
Der Journalist selbst gewöhnt sich daran, mit den Thatsachen leichtfertig um-
zuspringen, er wird zum Charlatan, aber zu einem gefährlichen, selten er¬
kannten, und das um so schneller, je jünger und unreifer er beim Eintritt in
den Beruf war. Im Verhältnis zu der Wichtigkeit des Berufs und zum Ein¬
fluß der Stellung sind die Journalisten, besonders die Zeitnngsleiter, überhaupt
viel zu jung; für einen „Generalanzeiger," dessen ganzer Inhalt, manche In¬
serate eingeschlossen, andern Blättern gestohlen ist, mag ein junger Mensch
von fünfundzwanzig Jahren als Leiter genügen, wenn er »ur ein bischen
redaktionelle Routine hat, aber für ein politisches Blatt taugt er nichts.
Ein politisches Blatt hat eine verantwortliche Stellung, es hat einen großen
Pflichtenkreis, sür den nur ein erfahrner und gesetzter Mann von umfassenden
Wissen und großer Lebensklugheit Paßt. Größere Blätter wissen das mich
und handeln darnach, aber auch bei ihnen scheint eS immer mehr Brauch
zu werden, die Kritik über Litteratur, Musik, Theater, bildende Kunst den
jüngsten, unreifsten und ungeschultesten Leuten zu übertragen. Es ist himmel¬
schreiend, wie miserabel die Kritik in unsern Tagesblättern ist. Anfängern,
denen ein Redakteur keine Lvkalnachricht zum Zurechtstutzen überlassen würde,
wird die schwere und verantwortungsvolle Aufgabe gestellt, über künstlerische
Schöpfungen zu Gericht zu sitzen. Kerlchen, die nicht imstande sind, eine kleine
Novelle zu schreiben, die kaum wissen, was Melodie und Harmonie heißt, die
von der Technik des Dramas den letzten Rest ihrer Primanerweisheit längst
verschwitzt haben, die ein Ölbild nicht von einem Aquarell zu unterscheiden
vermögen, sollen Kritiker sein! Wie es kommt, daß selbst angesehne Blätter in
diesen dümmsten aller Fehler verfallen, zeigt ein Blick in die Berliner Re-
daktionsstubeu. Du lieber Himmel, wie viel hat so ein Chefredakteur Bettern
auf dem Halse, die ihn alle um Beschäftigung anbetteln! In seiner Verzweif¬
lung überläßt er ihnen das Gebiet, das am meisten verträgt, und das ist die
Kritik. Bis ein Kritiker einem Blatte schadet, muß er schon riesige Dumm¬
heiten gemacht haben, und in unsrer Zeit, bei dem herrschenden Durst nach
Genialem, gelten manchmal die noch als — Genie. Die journalistische Vettern¬
schaft ist ein Krebsschaden des Zeitungswesens; hinter jeder Berliner Vakanz z.B.
stehen zwanzig Vettern. Ehe es hier einem tüchtigen, aber protektionslosen Talent
gelingt, sich eine Stellung zu verschaffen, kann der arme Teufel zehnmal ver¬
hungern, die Befähigung entscheidet bei der Anstellung eines Redakteurs in letzter
Linie, erst kommt die Familie, dann die Geschmeidigkeit und endlich die Religion.
Das bringt mich auf einen der bedenklichsten Punkte des Journalistcntnms,
insbesondre des Berliner Jvurnalistentums: die Exklusivität der jüdischen
Zeitmigen. Als seiner Zeit (fälschlich) behauptet wurde, die Bossische Zeitung
habe einen Redakteur wegen seines jüdische» Glaubens entlassen, erhob die
jüdische Presse ein Wutgeheul. Die jüdischen Blätter entlassen allerdings christ¬
liche Redakteure niemals, weil sie keine anstellen, selbst wenn der Chefredakteur
ein getaufter Jude ist. Ich bin kein Antisemit im Partcisiune, aber die zuneh¬
mende Überflutung der Presse mit jüdischen Elementen ist eine ernste Gefahr;
selbst die bescheidenste Auffassung von der Stellung und den Aufgaben der
Presse kann nicht verkennen, wie unsinnig es ist, wenn die tonangebenden
Blätter in den Händen von Leuten sind, die nun einmal, man sage, was man
will, Fremdlinge im Lande sind. Ich mochte den Grenzboten nicht deu Bor-
Wurf zuziehen, sie pflegten den Skandal, sonst konnte ich von dem Kliqueu-
weseu in der Berliner Presse trostlose Geschichten erzählen.
Wer die Entwicklung der Presse aufmerksam verfolgt, muß zu der Über¬
zeugung kommen, daß die geschilderten Verhältnisse von Jahr zu Jahr schlimmer
werden; je schroffere Formen der Kampf ums Dasein annimmt, desto stärker
wird der Anreiz eines Berufs, der keinerlei Schranken kennt und auch einem
bescheidnen Talent günstige Aussichten bietet. Wir brauchen uns nicht zu
wundern, wenn es nicht die beste» Elemente sind, die am stärksten angezogen
werden, sondern Leute, die in keinem andern Beruf etwas taugen, deren Ehr¬
begriffe teilweise schadhaft geworden sind, und denen für den neuen Beruf die
Hauptsache fehlt: die richtige Auffassung und das Gefühl der Verantwortlich¬
keit. Prostituirt dann diese Klasse von Leuten den Stand, zeigt sie sich ge-
sinnungslos, bestechlich, käuflich, so macheu wir alles mögliche dafür verant¬
wortlich, haben aber nicht den Mut und die Kraft, dem energisch entgegen¬
zutreten, daß mau unsern Stand als Nieselfeld der andern Berufe benutzt.
Und warum haben wir nicht die Kraft? Weil uns die Konkurrenz knebelt,
weil gerade in unserm Beruf ein wahnsinniger Kampf auf Leben und Tod,
eine tolle Hetzjagd tobt, auf der ein einziges Straucheln das Leben kostet —
über deu Gefallnen rasen die Nachfolgenden dahin. Aber es ist nicht nur der
Kampf nach außen, der das Standesgefühl lahmt, noch schlimmer ist der stete
Krieg, den der ehrenhafte Journalist mit sich selber zu führen gezwungen ist.
Sein Einsatz beim Erwerb sind seine Gedanken, seine Ansichten. Wehe
dem, der es nicht versteht, sie der Nachfrage anzupassen, wehe dem, der es
wagt, abseits zu stehen, bis ein Käufer kommt, der gerade die besondern
Ideen dieses Anbieters wünscht — in neunundneunzig von hundert Fällen muß
er verhungern. Was thut also der Erfahrnere? Er schließt diese „besondern
Gedanken," die man auch Ueberzeugung nennt, in das hinterste Fach seines
Herzens und sucht so schnell als möglich — de» Schlüssel dazu zu verlieren.
Mit dem übrigen Inhalt geht er Hausirer wie die andern, er verkauft sein
Denken an den Meistbietenden, nach dem Erfahrungssatz, daß es höchst un-
klug ist, die geistige Persönlichkeit auf Kosten der körperlichen zu erhaltein
Eine schöne Seele und ein knurrender Magen sind böse Gegensätze. Wir haben
hier dieselbe Erscheinung, wie bei den unglücklichen Geschöpfen, die der Hunger
zum Feilbieten ihrer körperlichen Reize zwingt. Hier wird der Leib prostituirt,
dort der Geist — ich weiß uicht, was von beiden schlimmer ist. Es lockt
dem ehrlichen Journalisten selbst ein bitteres Lächeln ab, wenn -)r die Jour¬
nalisten „Volkserzieher" nennen hört; wie wenige sind unter ihnen, die nicht
fortgesetzt sich selbst belügen und andre betrügen, die einen, weil der Hunger
hinter ihnen seine Peitsche schwingt, die andern aus moralischer Unreife.
Trotzdem hätte sich vielleicht längst ein Weg gefunden, den Stand von
seinen zweifelhaften Elementen zu säubern, wenn sich nicht ein zweiter Um¬
stand wie Blei um jeden solchen Versuch hinge: die Abhängigkeit den Ver¬
legern gegenüber. Die Journalisten sind wirtschaftlich völlig von ihren Ver¬
legern abhängig. Mögen diese auch noch so ungebildete Mensche» sein, mag
ihr gesamtes Nedaktionspersonal geistig über ihnen stehen: sie schreiben dem
Blatt und damit den Leitern die Gesinnung vor. Das geht so weit, daß in
einem großen Berliner Blatt der Verleger sogar die Leitartikel korrigirt! Nur
wenige Chefredakteure sind selbständig genug, ihr Blatt nach ihrer Ueberzeugung
leiten zu können, meist gehören solche Blätter Aktiengesellschaften. Ein Verleger
stellt niemals einen Redakteur seiner Überzeugung wegen um — die kann bei
wechselndem politischen Wind dem Geschäft leicht gefährlich werden; er kauft
sich lediglich den „Stilisten."
Diese wirtschaftliche Abhängigkeit trägt die Hauptschuld an den unhaltbaren
Verhältnissen der Zeitungsschreiber, sie bildet die Quelle stetig sich erneuernder
Unzuträglichkeiten und zwingt zu immer neuen Kompromissen mit der eignen
und der öffentlichen Moral. Es ist lange her, daß einmal der Vorschlag gemacht
wurde, die Schriftsteller sollten sich selber ihre Zeitungen gründen und zu diesem
Zweck Berufsassoziativnen bilden. Der Gedanke ist vortrefflich, aber es sehlt —
das Geld und die Solidarität. Kein preußischer Feldwebel kann seine Soldaten
anmaßlicher behandeln, als mancher Redakteur, der vor kurzem vielleicht noch
in Kyritz an der Kuatter Lokalreporter war, seine Mitarbeiter. Das Ärgste
leisten darin die Leiter der gesinnungslosesten Blätter; je charakterloser eine
Zeitung ist, desto anmaßender sind ihre Leiter. Ich glaube deshalb kaum, daß
jener Gedanke in absehbarer Zeit greifbare Gestalt annehmen wird, aber in
andrer Weise könnte man ihm nahe kommen, die Gesinnungssklaverei dem Ver¬
leger gegenüber mildern und gleichzeitig den Stand heben und etwas —
säubern.
Das Publikum kennt heute in den meisten Fällen nur den Namen des
verantwortlichen Redakteurs einer Zeitung. Daß das oft ein Strohmann ist,
weiß jeder; ich halte es für überflüssig, auf diese unwürdige, oft genug ge¬
brandmarkte Einrichtung einzugehen. Wenn ich aber auf eine Zeitung abon-
uire, so möchte ich auch wissen, wer dahinter steht, wer der Öffentlichkeit gegen¬
über die Verantwortlichkeit trügt; mit der strafrechtlichen ist mir nicht gedient.
Auch ein obskurer Schmierer, ein Zuchthäusler oder sonst ein Galgenstrick kann
einmal einen guten Leitartikel schreiben, er bleibt doch, was er ist, und wird,
wenn er den Artikel zeichnet, das Ansehen des Blattes nicht heben. Steht
aber, sei es als Eigentümer, Chefredakteur oder in irgend einer andern dem
Publikum bekannten Verbindung, eine in der Öffentlichkeit angesehene Persön¬
lichkeit hinter einer Zeitung, so wird ihr Ansehen gehoben, ohne daß das
Urteil über ihren jeweiligen Inhalt getrübt würde. Sollte es doch der Fall
sein, sollte den Leser auch bei der Beurteilung der einzelnen Aufsätze des
Blattes die Persönlichkeit beeinflussen, so sehe ich darin ein kleineres Übel
als in der ausschließlich papierener Existenz der Zeitung. Man sehe einmal
die englische, französische, schweizerische Presse an: bedeutende Parlamentarier
sind da mich meist die Eigentümer oder Leiter der bedeutenden Blätter, sie
vertreten mit ihrem Namen, ihrer Person offen die Haltung ihres Blattes.
Aber welche Stellung hat dafür auch die Presse dieser Länder! In Deutschland
gehören die Politiker zu den „verschämten Mitarbeitern" der Tagespresse, nur
wenige sind selbst Journalisten oder Redakteure, und auch die treten fast nie
mit ihrer Persönlichkeit für ihre Ansichten ein.
Das sind Zustände, die jede Presse auf ein niedriges Niveau Herabdrücken
müssen. Könnten sich unsre Politiker entschließen, nicht nur im Parlament
und in Versammlungen für ihre Überzeugungen einzutreten, sondern auch
uuter voller Namensnennung die Presse zu ihrem Sprachrohr zu wähle», sie
durch ihre Persönlichkeit zu heben, so erhielte diese ein ganz andres Gesicht,
auf diese Weise würde der Jonrnalistenstand durch wertvolle Elemente gestärkt
werden, die, einmal im Beruf, von selbst dafür sorgen würden, die zweideutige»
und anrüchigen Bestandteile abzustoßen. Es würde dann auch die traurige
Thatsache verschwinden, daß die deutsche Presse so gut wie gar nichts thut,
»in neue Entwicklungen, neue Bewegungen, neue Gedanken zu fördern. Es
ist eine brutale Heuchelei, daß die Presse eine Knlturträgeriu sei. Wo in aller
Welt hat jemals unsre Presse eine neue Bewegung gefördert, ja anch nur Ge¬
rechtigkeit walten lassen? Sie ist so ultrakvnservativ von rechts bis .links,
daß es ganz unerklärlich ist, wie sich das Märchen immer noch halten kann.
Ich will auf Einzelheiten hier nicht eingehen, aber ich bin überzeugt,
daß mit dem Aufhören der Unpersönlichkeit der Zeitungen unsre Zeitungs¬
schreiber von selbst gezwungen sein würden, positiv zu wirken, statt sich
jeder neuen Idee krittelnd entgegenzustemmen. Die Verantwortung für die
Publizistik würde von den Schultern litterarischer Dienstmänner auf die
Schultern übertragen werden, die dazu berufen sind. Vergleicht »ran das
kühne Vvranschreiten der Presse andrer Länder, selbst auf wissenschaft-
lichen Gebieten, z. B. in der Erforschung unbekannter Erdteile, mit der
Haltung der deutsche» Journalistik, dann kommt man zu einem jämmerlichen
Ergebnis.
Wenn die maßgebenden Personen den Mut hätten, die Bedeutung der
Presse dadurch anzuerkennen, daß sie sich ihrer mit offnem Visir bedienten —
ich glaube, daß schon damit die Grundlage für eine durchgreifende Reorgani¬
sation der Presse gegeben wäre; die lange ersehnte Organisation des Standes
würde nicht lange auf sich warten lassen, und diese ist die Voraussetzung zu
einer sittlichen und wirtschaftlichen Hebung, nur sie vermöchte es, schmutzige
Elemente fernzuhalten und die bereits vorhandnen mit eisernem Besen hiuaus-
zufegen. Aber eine solche Organisation setzt klare Rechtsverhältnisse voraus,
und da sitzt es!
Das Preßrecht (der Kürze halber verstehe ich darunter nicht nur das Pre߬
gesetz, sondern überhaupt die Rechtsverhältnisse der Jorualisten unter einander,
zum Verleger, zum Staat, zum Publikum u. s. w.) ist ein Muster von Unklar¬
heit und Verworrenheit; von irgend einem Verständnis oder auch nur einer
Anerkennung der Eigenartigkeit dieses Nechtsgebiets ist in keinem Gesetzbuch
etwas zu spüren. Die Gerichte beurteilen die einschlägigen Rechtsfälle nach
„gemeinem Recht," d. h. nach römischen Rechtsbegriffen; die Redakteure der
^.olu, cliurim waren aber offenbar sehr friedliche Leute, denn trotz eifrigsten
Studiums habe ich bei keinem einzigen römischen Rechtslehrer irgend eine An-
deutung über Journalistcnrecht gefunden. Was die neuern Gesetzbücher darüber
enthalte», ist entweder haarsträubend albern oder so allgemein gehalten, daß
damit nichts mizufangen ist. Und das Preßgesetz? Du lieber Himmel, wie
lange jammert die Presse schon darüber! aber sie findet weder bei der Re¬
gierung noch beim Parlament Verständnis. Vor anderthalb Jahren wurde
ein vox^-riZ^t-Vertrag mit Amerika im Reichstag einstimmig angenommen, ob¬
wohl ein Blick in die Bestimmungen genügte, ihn als hoc-isws Iscming., als
Karrikatur eines Rechtsschutzes zu erkennen. Gegenwärtig bemühen sich zwar
journalistische Vereinigungen um Revision des Preßrechts, aber bei der Ver-
ständnislosigkeit der maßgebenden Kreise für die Sache habe ich keine Hoffnung
auf Erfolg.
Unklare Rechtsverhältnisse sind aber immer der Tummelplatz anrüchiger
Elemente gewesen. Gewönne es die Kommission für das neue bürgerliche
Gesetzbuch über sich, hier einmal schöpferisch vorzugehen und ganze Arbeit zu
macheu, wahrhaftig, sie würde sich um das Bolkswvhl und die öffentliche Moral
ein hohes Verdienst erwerben.
In jüngster Zeit scheint sich übrigens doch in unsern .Kreisen die Er¬
kenntnis Bahn zu brechen, daß es so nicht weiter gehen kann; die Gründung
einer Pensionsaustalt hat den Gedanken einer umfassenden Berufsorganisation
wieder in Fluß gebracht, und es ist vielleicht dem nächsten Schriftstellertag,
der in Hamburg stattfinden soll, vorbehalten, den Gedanken seiner Verwirk-
lichnng näher zu bringen. Steht einmal hinter der Presse eine starke, selbst¬
bewußte Organisation, so hört auch der Zustand auf, daß sich das Verhältnis
der Regierung, der politischen und wissenschaftlichen Autoritäten zur Presse
nach dem Heinischen Verse richtet: „Vlamir mich nicht, mein schönes Kind"
u, s, w., dann kommt vielleicht die Zeit, wo sich der Journalistenstand den
übrigen Berufen gleichberechtigt anzugliedern vermag, wo unsre Zeitungen von
Leuten geschrieben werden, die etwas von dem verstehen, was sie beurteilen
solle», und — o schönster Traum! — wo die Journalisten ein anständiges
Deutsch schreiben.
or ein paar Monaten haben wir Grenzbotenleser einen Knrsnm
! in der Kunst zu reisen durchschmaruzt. Hat der Lehrer Erfolg
bei der deutschen Jugend, dann werden die beiden Aufsätze in
Heft 23 und 24 dereinst als Marksteine in der Geschichte unsers
I Geisteslebens gelten, denn dann wird eines der drei Gebiete
des Idealen, das des Schönen, für immer aus dem Sumpfe jener Gemein¬
heit, die sich mit Unrecht Realismus nennt, gerettet sein. Die Darwinianer
erklären bekanntlich das Schöne für die Erscheinungsform des dem Jndividual-
und Gattnugsleben zuträglichen; jedem Hans — so etwa sagen sie — erscheint
„diejenige" Grete, jedem Heuschreck „diejenige" Henschreckin, jedem Nilpferd
„diejenige" Nilpferdin ^ oder heißes Nilstnte oder Nilkuh? — am schönsten,
die für das Geschüft der Kinderzeugung am besten für ihn paßt. Wenn dem¬
nach die Ästhetiker einen Schönheitskanon aufstellen und etwa behaupten, die
Sixtina sei schöner als eine Heuschreckin oder Molchin und die mediceische
Venus komme dem Ideal weiblicher Leibesgestalt näher als Hansens Grete,
so machen sie sich einer lächerlichen und unerträglichen Anmaßung schuldig,
der sich zwar die Menge in ihrem blinden Autoritätsglauben lange Zeit hin¬
durch gebeugt hat, die aber ein hoffnungsvolles junges Geschlecht mit Erfolg
abzuschütteln beginnt.
Bei der menschlichen Schönheit liegt diese Verwechselung des Schönen
mit dem Zweckmäßiger und dein sinnlich Angenehmen so nahe, daß sie ent¬
schuldigt werden kann. Nahe verwandt sind ja die drei Gebiete an sich schon
und greifen vielfach in einander über. Ein zweckmäßig angelegtes und ein-
gerichtetes Gebäude braucht zwar nicht immer schön zu sein,") aber ein un¬
zweckmäßiger Bau ist gewöhnlich auch unschön, und Konstruktionsfehler sind
wohl stets zugleich Schönheitsfehler. Akademisch gebildete Baumeister unsrer
Zeit bringen es z. B. fertig, die Pilaster des Oberstocks ohne dazwischen¬
liegendes kräftiges Gesims unmittelbar auf die des Unterstocks zu stellen und
Wohl gar drei oder vier Reihen so unvermittelt aufeinanderzustengeln. Nun
haben zwar moderne Pilaster nichts zu tragen, aber sie machen doch den Ein¬
druck, als hätten sie etwas zu tragen und würden von dem, was unter ihnen
steht, getragen, und man erwartet bei jeder Erschütterung, diese wurmähnlichen
Gebilde umknicken und die obern Baukasteuklötzcheu über die untern herunter¬
purzeln zu sehen. Der Anblick macht seekrank und wirkt unschön im höchsten
Grade. Ähnlich ist es mit dem Angenehmen. Der peinigende schrille Klang
einer Brettsäge ist freilich keine Musik; aber auch die schönste Symphonie er¬
zeugt eigentlich kein leibliches Behagen, und bei der geringsten Unpäßlichkeit
wird jede Musik lästig. Am allerwenigsten Einfluß auf das leibliche Gedeihen
und Befinden haben die Wahrnehmungen des geistigsten aller Sinne, des Ge¬
sichtssinns. Es wäre geradezu lächerlich, wenn jemand behaupten wollte, dieser
oder jener schöne Anblick fördere das Leben des Individuums oder der Gat¬
tung. Nicht einmal das unmittelbar getroffne Sehorgan erfährt durch Schönes
irgend welche Förderung, wie ihm auch der häßlichste Anblick nichts schadet;
der Anblick eines abschreckend häßlichen Negerweibes erzeugt weder eine Augen-
entzündung, noch macht er kurzsichtig, noch schwächt er den Sehnerv. Im
Gegenteil sind es gerade schöne Erscheinungen, lebhafte Farbenspiele z. B.,
Schauspiele bei blendender Beleuchtung, die, allzu beharrlich angestarrt, den
Augen zuweilen schaden, und der Quell aller sichtbaren Schönheit, das Sonnen¬
licht, tötet, wenn seine Wirkung nicht abgeschwächt wird, die Sehkraft.
Also mit dem Zweckmäßiger und dem sinnlich Angenehmen steht das
Schöne freilich in Wechselwirkung, und der Anblick schöner Menschengestalten
kann durch die Verknüpfung gewisser andrer Nervenzeutreu mit dein Seh¬
zentrum in so besondrer Weise wirksam werden, daß hier die Verwechslung
des einen Gebietes mit dem andern nahe liegt, aber beim landschaftlich Schönen
ist keine Verwechslung möglich. Es giebt schlechterdings keine Stelle, weder
in den Verdanungsorganen noch sonstwo, an der das Individuum oder die
Gattung durch den Anblick einer schönen Landschaft gefördert oder dnrch den
eines Schmutzloches geschädigt würde. In der einförmigsten Ebne gedeiht das
Menschengeschlecht gerade so gut wie in einem hochromantischen Gebirge. Ja
bis in Rousseaus Zeiten hinein hat der allgemeine Geschmack die Gegenden,
die wir wildromantisch nennen, für häßlich erklärt, und sie sind geflohen worden.
In der landschaftlichen Schönheit tritt also etwas völlig neues, im ganzen
Umkreise der Sinnlichkeit nicht zu findendes und aus ihr schlechterdings nicht
zu begreifendes hervor, das für alle, denen der Sinn dafür abgeht oder noch
nicht aufgegangen ist, gar nicht vorhanden ist, gerade so wie es für Menschen
ohne musikalisches Gehör, sie mögen übrigens noch so scharf hören, gar keine
Musik als Musik giebt, »ud für die musikalisch Ungebildeten nur Tanzmusik
und einfache Lieder, aber keine symphonische Musik.
Doch was hat denn das mit dem Reisen zu schaffe»? Giebt es irgend
eine Gegend in der Welt, der die Schönheit ganz versagt wäre, steht nicht
sedem zu Hanse das Thor offen, durch das man ins Wunderland des Schönen
eintritt? Gewiß. Ein paar Bäume und ein Stück Wiese, namentlich wenn
auch noch ein kleiner Wasserspiegel dabei liegt, genügen zu einem anmutigen
Landschaftsbilde, und der Heide fehlt es so wenig an Erhabenheit wie dem
Meere. Aber wer nur eine Art von Landschaften kennt, kaun doch schwerlich
sagen, daß er die Schönheit der Natur überhaupt kenne. Auch giebt es Ab¬
stufungen darin, und eignen sich die freundlichen Bilder der Ebne und des
Hügellandes am bestem zum Hintergründe unsers täglichen Schaffens, so sind
es doch erst die romantischen und die erhabnen Landschaften, die uns packen
und aufrütteln, und bei deren Anblick uns die eigentliche Bedeutung der Schön¬
heit aufgeht. Wo die Wasserfluten als flüssiges Gold und flüssiger Smaragd
den Schwimmer umspielen, wo Berge, die ein kleines Paradies umrahmen,
ihre Körperlichkeit zu verlieren scheinen und als zartblaue Lichtgestalten an
die ewigen Höhen erinnern, ans denen das wahre Paradies ruht, wo die
Malerin Sonne Felswände findet, die sie allabendlich in buntsammetue Vor¬
hänge mit Goldstickerei verwandeln kann, und Eisriesen, die sie in holdselig
errötende Jungfrauen verwandelt, wo die schwarzen Steinkolosse mit ihrer
blendend weißen Zackenkrvne die Vorstellung einer unnahbaren Größe und
Reinheit erwecken, da erst merken wir, daß HzO und Lilioiuin. und «üiN'to
nicht bloß alles das verrichten, mas uns die Chemie, die Geognosie und die
Mechanik lehren, sondern nebenbei auch noch etwas andres können, ähnlich wie
Grillparzer nicht bloß Akten schreiben, sondern nebenbei auch dichten konnte.
Reisen ist also gewissermaßen notwendig, wenn der Menschheit die reine,
wahre und vollständige Idee des Schönen aufgehen soll, um so notwendiger,
als die landschaftliche Schönheit auf solche, die sie immer vor Angen haben,
ihre Wirkung zu verlieren scheint. Bei meinem gewöhnlichen Tagewerk und
immerfort möchte ich romantische und heroische Landschaften oder sonst ent¬
zückende Bilder nicht vor Augen haben, sie würden mich stören und aufregen;
was aber anfänglich aufregt, das stumpft mit der Zeit ab. Von welchem
Gesichtspunkte die Schweizer heutzutage einzig und allein noch ihre Berge und
Seen ansehen, das ist ja bekannt.
Damit sind wir einem Thema nahe gekommen, das schon zu sehr breit-
getreten ist, als daß es erlaubt wäre, sich an dieser Stelle noch einmal darnnf
zu tummeln. Nur das eine möchte ich bemerken, daß man weder den Schweizer
Wirten noch den Wirten im allgemeinen vorwerfen kann, sie übervorteilten die
Gäste — die steigende Bodenrenke und die Güte dessen, was geboten wird,
rechtfertigen die Preise —, daß sie vielmehr selbst sozusagen ein Opfer jener
Entwicklung siud, die heute jedermann zwingt, vorwärts zu hasten, wenn
er nicht überrannt werden will. Da eine stetig wachsende Zahl reicher Leute,
die, mit dem notwendigen nicht zufrieden, Bequemlichkeit und Luxus verlangen,
alle schönen Gegenden überschwemmt, so muß die braune Holztäfelung des Gast¬
zimmers Tapeten und Goldleisten Platz macheu, müssen sich Treppe und Flur
mit Teppichen bedecken, die Treppenabsätze mit Spiegeln, Topfgewächsen und
Thonfiguren schmücken, und muß das Schwarzbrot, das ehedem die Haupt¬
nahrung des fußreisenden Gymnasiasten und Studenten war (täglich drei- oder
viermal um einen bis anderthalb Silbergroschen), gänzlich verschwinden. Ja,
Brot, Butterbrot mit Käse, kann überhaupt im „Hotel" — und welches Vcrg-
wirtshaus hieße heute nicht Hotel! — gar nicht mehr bestellt werden; man
bekommt das Brot nur als Zugabe zum Ausschnitt oder zur „Salami," bei
welchen Speisen aber wiederum nicht das bischen Fleisch die Hauptsache ist,
sondern das Geschirr: ein Teller zum Brot, ein Teller zur Butter, ein, auch
zwei Teller zum Fleisch, zwei Paar Messer und Gabeln, noch zwei einzelne
Messer, mehrere Servietten; bei einem Kaffee für zwei Personen wird ein
ganzer Porzellan- und Silberwarcnladen aufgeboten. Alle diese Dinge kosten
Geld, viel davon geht beim Gebrauch zu Grunde, und es ist klar, daß, was
sie kosten, entweder den Preis der Speisen erhöhen oder die Portionen ver¬
kleinern muß. Und wenn Bädeker hener noch den „Wilden Mann" oder den
„Blauen Engel" oder das „Nößli" als billiges Gasthaus empfehlen darf, so
leitet er damit einen solchen Strom von Gästen, darunter auch anspruchsvolle,
dahin, daß sich der Wirt dadurch veranlaßt sieht, seine bescheidne Herberge auf
eine höhere Stufe emporzuheben, und übers Jahr ist aus dem „Nößli" das
HStsl an LlWv geworden. Zwar kann man sogar in Jnterlaken noch
ein gutes vollständiges Mittagessen für einen Franken bekommen,^) aber nur,
wenn man keine gesellschaftlichen Rücksichten nimmt. Nicht jeder Mann von
bescheidnen Einkommen kann das, und nicht jeder, der es könnte, wagt es.
Ist die Sache selbst bekannt und beklagt genug, so wird doch ihre soziale
Seite uoch lauge nicht genug beachtet. Wir haben es hier mit einer jener
Erscheinungen zu thun, an denen der Übelstand zu Tage tritt, daß die Fort-
schritte der Technik weit mehr den Reichen als den Armen zugute kommen, ja
die Lage der Armen wohl gar gegen früher verschlimmern. Daß Arme lediglich
zum Vergnügen reisten, kam in frühern Zeiten weit häufiger vor als hente.
Herbergen, in denen man nichts als Obdach fand — die Kost konnte zusammen¬
gebettelt werden —, gastfreie Hütten (im Mittelalter Klöster) gewährten billige
oder kostenlose Unterkunft, nach einem Paß fragte niemand, Kriegszüge, Wall¬
fahrten, Kaufmaunsgeschäfte, Vervollkommnung im Handwerk boten solchen
Leuten, die der Forschungsdrang oder die bloße Neugier oder Veräuderungs-
lust zum Wandern trieben, willkommne Vormunde, und wars einem in der
Fremde nicht geglückt, kehrte er arm heim und mußte er vou vorn anfangen,
so war er deswegen nicht verachtet. Man kannte nicht die schrecklichen Worte
„deklassirt," „entgleist," die heute jeden Mittellosen zwingen, ohne Unterbrechung
im Joche und bei der Stange zu bleiben, bis er zusammenbricht. Demnach
war es auch kein Unglück, daß man lange Zeit brauchte, um einen entfernter»
Punkt zu erreichen. Ein Armer, der zum Vergnüge» reist, ohne sofort zum
Strolch herabzusinken, ist heute ganz undenkbar. Ein Tagelöhner oder Fabrik¬
arbeiter, der eine Erholungsreise antreten wollte, würde der Gegenstand ein¬
gehendster Untersuchungen für ein halbes Dutzend Behörden werden. Nur wenn
seine Gesundheit schon ans dem Hunde ist, kauu es ihn: vielleicht glücken, ins
Bad — nicht aus freiem Entschluß zu reisen, sondern von wohlthätigen
Menschen geschickt zu werden, nachdem der Arzt sein leibliches und die Armen-
kommission sein wirtschaftliches Elend bescheinigt hat. Aber daß er reisen
sollte, um dem leiblichen Elend vorzubeugen, das ist ein unfaßbarer Gedanke.
Aber sogar der kleine Handwerker, der kleine Kaufmann sind Sklaven ihres
Berufs in einem Grade, wie es ehedem kein Höriger gewesen ist. Nament¬
lich kleine Kaufleute haben vor Erlaß des neuen Gesetzes über die Sonntags¬
ruhe nicht einmal Sonntags einen kleinen Ausflug in die nächste Nachbarschaft
ihres Wohnorts mache» können, und sie sind so gewöhnt an diesen Zustand
der Gebundenheit, und die Sorge und Angst um das tägliche Brot überwiegt
heute so sehr alle andern menschlichen Empfindungen, daß sie sich gegen die
Wohlthat, die zunächst allerdings ihren Gehilfen zugedacht war, aber doch auch
ihnen selbst zugute kommt, mit Händen und Füßen gewehrt haben und zum
Teil noch jetzt wehren. Und um entferntere Gegenden aufsuchen zu können,
dazu gehören trotz billiger Fahrpreise und rascher Beförderung bei der Ver¬
teuerung der Naturalverpflegung so bedeutende Mittel, daß auch Männer von
mittlerer Vermögenslage, wenn sie Familie haben, nicht leicht an so etwas
denken können, daß ihnen also, für diesen Zweck wenigstens, die „Aufhebung
von Zeit und Raum durch die Fortschritte der Technik" nichts nützt; einem
norddeutschen Familienvater von tausend Thalern Einkommen ist die Schweiz
so unerreichbar, als wenn sie im Monde läge.
Aber noch mehr. Verfüllt eine Gegend dem Bädeker, der in allem übrigen
hohes Lob verdient, so sind ihre schönen Punkte fortan dem gemeinen Volke
der nächsten Umgebung verschlossen. In die Promenndenanzüge, die dann dort
auf allen Wegen einherwandeln, in die Hotels, die an die Stelle der Wirts¬
häuser und Sennhütten treten, wagt sich der ärmlich gekleidete Mann nicht
mehr hinein. Vor fünfzig Jahren, wo das Riesengebirge zwar schon Wander¬
ziel für Botaniker und Studenten, aber noch nicht „Sommerfrische" war,
schwärmten an schönen Sommertagen, besonders an Sonntagen, Handwerks-
burschen, kleinbürgerliche und Landleute, die, um bequemer zu gehen, Schuhe
und Strümpfe in der Hand trugen, genug da oben herum, und obwohl das
Publikum im ganzen nicht eben fein war, hatte doch der einsame Wandrer
durchaus nichts zu fürchten, wenn er nicht etwa eine grüne Uniform trug,
denn von Schmugglern allerdings wimmelte es auf den Pfaden und manchmal
auch in den Bauden; hatten sie ihre schwere Last den steilen Berg hinauf-
geschleppt, so ruhten sie wohl in der Baude aus, indem sie den Rest der
Nacht — mit den Bauermägden tanzten. Heute wird sich ein Mann des
Arbeiterstandes schwerlich untersteh», ans der Schneekoppe zu übernachten, und
nachdem in jüngster Zeit mehrere Naubanfälle und eine Mordthat verübt
worden sind, wird sich ein schlecht gekleideter Mensch, der sich nicht als Wald¬
arbeiter oder Hirt oder Lastträger ausweisen kann, kaum noch da oben sehen
lassen dürfen. Nur in solchen Teilen des deutschen Mittelgebirges, die noch
nicht von Hauptstadtbewohnern besucht werdeu, erlaubt sich das Volk der
Umgegend noch ein Sonntagsvergnügen ans freier Bergeshöhe.
Aber diese Freistätten schrumpfen nach Zahl und Umfang täglich mehr
zusammen. Ist doch kein Flecken im Gebirge so unansehnlich, daß er nicht
seinen „Berein zur Hebung des Fremdenverkehrs" hätte. Das ist nun freilich
kein soziales Übel, aber ein Anzeichen eines solchen. Die eine Stadt schreit
nach Garnison, die andre bietet alle Künste der Reklame ans, um sich zu
einem Pensionvpolis heranzubilden, die dritte spekulirt auf „Touristen." Das
heißt, die Gewerbtreibenden gehen immer mehr darauf aus, ihr Einkommen
von solche» zu ziehen, die ihr Gewerbe nicht am Orte oder die überhaupt
kein Gewerbe treiben. Das würden sie nicht thun, wenn sie nicht dazu ge¬
zwungen wären, wenn noch allgemein der natürliche Zustand herrschte, wo
Güter gegen Güter eingetauscht werden, und solche, die keine Güter erzeugen,
also Unprvdnktive, nicht leben können. Ja der Produktive von heute fördert,
der dadurch vermehrten Arbeitsgelegenheit wegen, die Vermehrung der Un¬
produktiven, ohne zu bedenken, daß er es selbst ist, der sie durch Steuer oder
Zins erhalte» muß, daß er demnach um eines vorübergehenden Vorteils wegen
seine Lage auf die Dauer erschwert.
Mehr Arbeiter als Plätze für Arbeiter — das ist eben einer der Angel¬
punkte der sozialen Krisis. Recht grell tritt dieser Zustand in Italien hervor,
wo sich die Polizei noch nicht soviel Mühe giebt, ihn zu verstecken. Welche
Menge von Leuten ernährt sich dort mit dem Verkauf von Streichhölzchen
oder vielmehr Streichkerzchen! Früher soll es in Florenz von Blumenmädchen
gewimmelt haben. Die ließe man sich noch gefallen, sie würden wenigstens,
als hübsche Staffage, einen Zweck erfüllen. Leider waren diesen Sommer keine
zu sehen. Hielten sie Sommerschlaf bis zum Wiederbeginn der Fremdeusaison?
Waren sie von ihren Ersparnisse in die Bäder gereist? Haben sie sich, als
in unsre praktische, gewerbthätige, ernsthafte und Sittenstrenge Zeit nicht mehr
Passend, einen Schnurrbart anschaffen und in Zündkerzchenverkäufer verwan¬
deln müssen? Jedenfalls behaupten diese in erschreckender Überzahl das Feld.
Nicht daß ich mich, gleich andern Norddeutschen, durch den Anblick eines
Hausirers belästigt und entrüstet fühlte. Was mich schreckte, war nur der
Gedanke: selbst wenn alle Florentiner ebenso leidenschaftliche als ungeschickte
Raucher") wären und zu jeder Cigarre ein Dutzend Streichhölzer brauchten,
sie konnten unmöglich alle diese Dinger verbrauche!,, die hier höchst über¬
flüssigerweise feilgeboten werden, obwohl man sie in jedem Kramladen bekommt.
Der norddeutsche hat für diese und ähnliche Erscheinungen gewöhnlich die
Erklärung zur Hand: der Italiener ist eben zu faul, etwas Mühsameres zu
treiben. Aber wären sie wirklich so faul, und funde sich Arbeitsgelegenheit
genug im Lande, würden sie sich dn in Amerika, in der Schweiz, in Frank¬
reich dafür prügeln und totschlagen lassen, daß sie schwere Arbeiten billig und
gut verrichten und den Arbeitsverdienst nach Hause schicken? Die Thatsachen
sprechen hier zu deutlich, als daß sie sich mißdeuten ließen, und bestätigen
die in den Grenzboten wiederholt dargelegte Ansicht, daß bei den heutigen
Vevölkernngs- und Produktionsverhältnissen Mittel- nud Westeuropa für eine»
stetig wachsenden Teil seiner Bewohner nichts mehr zu thun hat. Die Be¬
trachtung dieses Zustandes wirkt in Italien um so peinlicher, als dort die
Denkmäler der Vergangenheit zeigen, wie angespannt thätig früher das ganze
Volk gewesen sein muß. Denn in einer Zeit, wo seine Kopfzahl nur den
dritten Teil der heutigen betrug (im sechzehnten Jahrhundert etwa elf Millionen),
hat es ohne die Hilfsmittel der heutige» Technik außer dem notwendigen
mich allen Schmuck des Lebens im reichlichsten Maße geschaffen. Haben doch
die alten Bauwerke weit mehr Arbeit gekostet als unsre heutigen, weil sie viel
solider und dabei bis in die kleinsten und feinsten Einzelheiten künstlerisch ausge¬
führt sind. Welche Uinnasse tuiistlerischer Handarbeit steckt allein in den Knpitälen
der fünfhundert Säulen von San Marco und der hnndertnndsiebeu Säulen der
Vorhalle des Dogenpalastes in Venedig, in der äußern Verkleidung des Domes
zu Florenz, in deu Erzthüren von San Giovanni! Und nun der innere Schmuck
aller Kirchen und Paläste an Mosaiken, Skulpturen, Gemälden, Gerätschaften,
von dem jetzt das meiste und beste von seinem Ort fortgeschleppt und in Museen
aufgestapelt ist. Was wollen unsre heutigen Tapeten, auch die kostbarsten,
sagen gegen die Arcizzi oder Gobelins, mit denen die Reichen im fünfzehnten,
sechzehnten und siebzehnten Jcchrhnndert die Wände ihrer Prunksüle behängten!
Es ist der Gipfel eines edeln Luxus, die Wände mit einem weichen, warmen
Seideutuche zu verhüllen, das des Bilderschmucks nicht bedarf, weil es selbst
Gemälde ist. Und wie viel Monate, vielleicht Jahre geduldiger kunstverständiger
Arbeit mag ein einziges dieser gewaltig großen Tücher erfordert haben! In
welchen Massen sie aber angefertigt wurden, davon bekommt man wohl nur in
Florenz einen Begriff. Den ganzen Oberstock des Archäologischen Museums
nimmt die dortige Sammlung ein; eine schier endlose Flucht von Sälen und
Gängen ist mit den herrlichsten gewebten Gemälden — nicht verschossenen, wie
die im Kuppelsale der Dresdner Gemäldegalerie, sondern meist wohlerhaltenen
und sarbenfrischen — austapeziert.
Also die Arbeit von elf Millionen hat damals hingereicht, das Leben
außer mit dein notwendigen auch noch mit Schmuck der dauerhaftesten und
edelsten Art zu versehen, und heute reicht der Markt nicht hin, die dreißig
Millionen mit Arbeit zu versehen! Um aber die Bedeutung dieses Menschen¬
überschusses vollauf zu würdigen, muß man den Blick nach Osten wenden, wo
ein Land zu Grunde geht, weil es ihm an Menschen fehlt. Die Gutsbesitzer
Südrußlands, so lasen wir jüngst, fürchten dieses Jahr bankrott zu werde»
wegen — der guten Ernte. Der reichliche Ernteausfall hat mehr Arbeiter,
daher mehr Geldkosten erfordert, aber der Erntesegen ist unverkäuflich. In der
Nähe giebts keine Städte, also keine Abnehmer. Den Absatz in die Ferne
hindert einerseits die Grenzsperre, anderseits der Mangel an Verkehrswegen,
an Eisenbahnen und Straßen. Weil Menschen, und namentlich weil geschickte
und gescheite, thätige und unternehmungslustige Menschen fehlen, darum bleibt
die volkswirtschaftlich notwendigste Arbeit umgethan, der Gottessegen ungenossen
und gehen die wenigen Menschen, die dort leben, zu Grunde! Also geschiehts
in einer Zeit, die angeblich „unter dem Zeichen des Verkehrs steht," und für
die, wenn sie nur will, die Entfernungen aufgehoben sind. O unbegreifliche
und ganz unerforschliche Weisheit der geheimrütlichen Vorsehung, der die Völker
Europas die Leitung ihrer Geschicke anvertraut haben!
Aber wo gerate ich hin! Tief in die Volkswirtschaft hinein und nach
Südrußland, das ich Gott sei Dank nicht nötig hatte zu besuchen. Dagegen
habe ich den guten Freunden und lieben Vettern der Russen, den Tschechen,
einen kurzen Besuch abgestattet, und dn ich diesem Volke gelegentlich böses
nachgesagt habe, so fühle ich mich verpflichtet, zu bekennen, daß es in der
Auch im Eisenbahnwagen begegneten uns, wir waren unser zwei Dents che,
die Mitreisenden, durchweg Tschechen, höflich und freundlich. Es ging sehr
lebhaft zu. Wir befanden uns in einem „Abteil," das vom benachbarten nur
durch die niedrige Sitzlehne geschieden war. Nicht weniger als drei Säug¬
linge erfreuten die Gesellschaft durch ihren Gesang, der meine vorteilhafte
Meinung von der musikalischen Begabung des Böhmeuvolks aufs erfreulichste
bestätigte. Kleinkindergeschrei ist nicht nnter allen Umständen unangenehm.
Peinlich wirkt es nur, wenn es durch irgend eine Pein verursacht wird. Da-
gegen höre ich es gern, wenn es bloß Lungenübnng zum Zeitvertreib oder
Protest gegen die in den Herren Eltern oder im Kindermädchen verkörperte
Unvernunft der Wirklichkeit ist; das höre ich nämlich heraus oder bilde ich
mir wenigstens ein herauszuhören. Aufrichtige Freude bereitete mir der zu¬
nächst sitzende kleine Musikant. Er protestirte mit solcher Energie gegen die
unvernünftige Einschnürung in Betten, daß sich die Mama endlich gezwungen
sah, ihn unter Assistenz des mehr gehorsamen als geschickten Papas auf¬
zuwickeln, worauf er seine lauten Betrachtungen über die Unvernunft des Da¬
seins und über die schlechte Beschaffenheit der Eisenbahnwagen in milderer
Tonart fortsetzte und stellenweise mit Kundgebungen einer behaglichen Stim¬
mung unterbrach. Das wird einmal ein tüchtiger Oppositionsmann werden,
dachte ich stillvergnügt. Dem einen seiner beiden kleinen Kameraden mag
wohl mit der Stimme zugleich auch der Atem und das Bewußtsein aus¬
gegangen sein. Seine Mama nämlich, eine jugendliche Böhmakin, schwang
ihn, aufrecht und quer im Wagen stehend, mit bewundrungswürdiger Kraft¬
entwicklung und Ausdauer, unaufhörlich hoch und tief und lag diesem Geschäft
wohl eine Stunde lang ob: mit ernsthaftem Gesicht, wie es sich für ein so
ernsthaftes Geschäft geziemt, ohne rechts oder links zu schaun und ohne sich
um irgend etwas in der Welt zu kümmern, machte sie immer in dem gleichen,
sehr raschen Tempo die Bewegung des Sägers oder Pumpens.
Nicht minder unverdrossen unterhielt während dessen der gemütliche
Kaplan seine nähere Umgebung abwechselnd mit Scherzen und belehrenden
Reden, in meiner nächsten Nähe aber entspann sich das erste Kapitel eines
Romans. Ein Mädchen steigt mit ihrem*) kleine«? Bruder ein und setzt sich
dem neben mir sitzenden jungen Manne gegenüber. Von Zahnschmerz ge¬
plagt, hält sie sich die Wange. Der junge Mann holt aus seinem Koffer
ein Flüschchen hervor und reibt ihr mitleidig die Wange ein. Da ist der
Zahnschmerz wie weggeblasen, und es beginnt die heiterste Unterhaltung. Aber
der junge Mann soll sehen, was für eine tüchtige zukünftige Hausfrau die
Jungfrau ist, und wie sie keinen Augenblick unbenutzt läßt. Sie zieht einen
Korb voll Schoten hervor und fängt an, sie auszukernen. Der junge Mann
lernt mit. Sie sind sehr vertieft in diese Arbeit, und nicht selten stoßen bei
einem Ruck des Wagens ihre Stirnen zusammen. Nach etwa zwei Stunden
ist das Geschäft beendigt. Was nun vornehmen? Zum Reden scheinen die
Herzen zu voll zu sein. Der Blick des jungen Mannes fällt auf den sechs¬
jährigen Bruder des Mädchens. Es ist ein großer Bengel von der fetten,
faulen Art, die sichs möglichst bequem macht, sich gern räkelt und sich schönthnn
läßt. Der junge Mann zieht den dicken Burschen auf seinen Schoß und küßt
ihn ab. Die Schwester schaut ein Weilchen zu, dann reißt sie das Brüderlein
an sich und küßt weiter. Dann soll sich wieder der Liebhaber das Leitungs-
klümpchen, dann wieder die Schwester, und so fort, bis die Geschwister auf-
steigen.
Ein Doppelkupce, noch besser ein sogenannter Salonwagen, bietet eben
weit mehr Unterhaltung als ein ganz abgeschlossenes, und hat ein Kupee
vollends nur zwei schmale Fenster, so bildet es ein Gefängnis, in dem einem
angst wird. Alte Wagen mit solchen Gefängniszellen werden noch auf meh¬
reren österreichischen Bahnen benützt. Überhaupt sind ans der österreichischen
Stantsbahn die Wagen und die Einrichtungen (in manchen Zügen keine Ab¬
teilungen für Nichtraucher und selbst in Schnellzügen keine „Aborte") durch¬
schnittlich schlechter als bei uns. Auch die Fahrkartenrevisivneu, die kürzlich
in einem englischen Blatte verspottet worden sind, werden drüben noch eifriger
betrieben als bei uns. So lernt mau in Böhmen nicht allein den Tschechen,
sondern auch unserm Herrn Eisenbahnminister so manches Unrecht abbitten.
Was hat er nicht alles zu leiden von bösen Mäulern und Federn, der arme
Herr von Thielen! Das „leiden" ist freilich nur objektiv zu nehmen, da ihn
sein glückliches Temperament davor schützt, die Nadelstiche und Hiebe zu em¬
pfinden. Möge ihm der Himmel seine Ruhe und die Hornhaut seiner Seele
bewahren, und möge er sich damit vor seinem Kollegen von der Finanz so
erfolgreich schützen wie vorm Publikum; denn läßt er sich von dein umgarnen,
dann ists mit dem Reisen zu idealen Zwecken vollends vorbei; sind doch die
wenigen Narren, die sich darauf einlassen, allesamt aus billige „.Zusammen¬
stellbare" augewiesen.
Freunde der Religion und der
Jugend, die wissen, wie schwierig der Religionsunterricht an sich ist, und wie diese
Schwierigkeit durch die ungeheure geistige Gnhrung unsrer Zeit ins Unerträgliche
gesteigert wird, müssen jeden verständigen und wohlmeinenden Reformvorschlag will¬
kommen heißen. Einen recht radikalen enthält das Buch: Das Jud enchristen-
tnm in der religiösen Volkserziehung des deutschen Protestantismus von
einem christlichen Theologen. (Leipzig, Fr. Will). Grunow, 1893.) Wenn wo
die Hauptförderungen des Verfassers: Beseitigung des Alten Testaments und des
Kleinen Katechismus von Luther ans dem Religionsunterrichte verraten, so wird
der Leser zunächst vermuten, er habe es mit einem fanatische» Antisemiten zu thun,
oder mit einem jener Anhänger der Hnmanitätsreligion, die sich nicht allein über
das Alte, sondern auch über das Neue Testament erhaben dünken. Doch nichts
könnte irriger sein. Der Verfasser ist im Gegenteil ein streng und tief gläubiger
Christ, der fordert, es solle „in der Volksschule nur Christus getrieben werde»."
Den Kleinen Katechismus verwirft er uur deshalb, weil er von Luther selbst gar
uicht zu einem Lehrbuche bestimmt, daher anch nicht dazu geeignet sei. Wegen des
Alten Testaments aber argumentire er, als gute Herbarticmer, folgendermaßen.
Zweck des Religionsunterrichts ist es, in dem Schüler den christlichen Charakter,
die christliche Persönlichkeit heranzubilden. Das kann nur geschehen durch Mit¬
teilung christlicher Vorstellungsmassen in dem Grade, daß zuletzt alle andern Vor-
stellungsmassen vou deu christlichen überwogen und beherrscht werden. Die im
Alten Testament enthaltnen jüdischen Vorstellungen sind aber von den christlichen
verschieden und ihnen teilweise geradezu entgegengesetzt. Weit entfernt davon, daß
sie dazu dienen sollten, die Herrschaft der christlichen vorzubereiten, können sie in
der Seele des Schülers keine andre Wirkung ausüben, als diesen den Eingang zu
erschweren und ihr Übergewicht unmöglich zu machen. „Ein deutsches Christen-
kind gehört der christlich-germanischen Gemeinschaft an, soll ans dieser seine Nah¬
rung ziehe» und für sie gebildet werden. Daher ist es ein Gewaltakt gegen seine
Individualität, we»n es eine Zeit lang und überdem noch in dein zartesten und
empfänglichsten Alter in die jüdisch-mosaische Gemeinschaft versetzt wird. Ist Indi-
vidualisiren eine Hauptaufgabe der Pädagogik, so darf es für Christenkinder keinen
alttestamentlichen Religionsunterricht geben."
Logisch ganz unanfechtbar. Aber man kaun sich denke», daß die Geistlichen
und Lehrer, als Staats- und Kircheubeamte, vor dieser Schlußkette davonlaufen
werden wie vor einem Hinrichtnngsinstrument, weil sie zur Betrachtung aller der
Widersprüche zwingt, um denen unser Kirchenwesen leidet. Es wird ihnen aber doch
zuguderletzt nichts übrig bleiben, als das stachlige Ding in die Hemd zu nehmen
und zu prüfe». Unsre Sache ist das nicht, nnr die Richtung wollen wir andeute»,
in der die Hauptschwierigkeite» liege». Zu»ächst müßte festgestellt werden, welcher
vou deu verschiedne» Gedankenkreise», die sich für christlich ausgeben, der rechte sei.
Und wen» bei der Prüfung Herauskommen sollte, daß dieser echt christliche Ge¬
dankenkreis nirgends die Volksmassen, ja auch uicht einmal die Geistlichen und Lehrer
beherrscht, so entstünde die Schwierigkeit, wie die Lehrer einen Gedankenkreis mit¬
teilen sollen, den sie selber nicht besitzen. Dieses pessimistische Ergebnis der Prüfung
stellt nämlich der anonyme Verfasser selber in Aussicht, indem er sich geneigt zeigt,
David Strauß in der Autwort auf seine berühmte Frage beizustimmen, nur daß
diese bei ihm nicht lautet: Sind wir noch Christen? sondern: Sind wir schon
Christen? Zwar soll nach ihm gerade das Alte Testament schuld daran sein, daß
wir bis auf den heutigen Tag noch keine rechten und echten Christen geworden
sind, allein das ist eben die große Frage, ob die Christen — hier taucht die dritte
und Hnuptschwierigkeit ans — echte und rechte Christen werden wollen! Die
alttestamentliche» Geschichte» preiszugeben, würde man unser heutiges Geschlecht
leicht berede» könne», vorausgesetzt, daß das, was ihm als Ersatz dafür gehste»
wird, nicht weniger als sie die Phantasie angenehm beschäftigte und deu Sinnen
schmeichelte, uicht weniger als sie — feigen wir es gerade heraus — naturalistisch,
heidnisch wäre. Nichts Geringeres scheint zur Beseitigung dieser drei Schwierig¬
keiten erfordert zu werden, als eine mächtige Persönlichkeit, die, selbst erfüllt vom
echt christlichen Gednnkcninhalt, die Massen fortreißt und sie zur Verzichtleistung
auf ihre heidnische» Vorstellungen und Neigungen bestimmt. Einstweilen, bis diese
Lösung durch eine weltgeschichtliche Persönlichkeit und ihre That erfolgt, werden
sich die Theologen und Pädagogen der Pflicht theoretischer Lösuugsversuche, wie
der vorliegende einer ist, nicht entziehen können. Wir glauben es dein Verfasser
gern, daß er oft genug nahe darau gewesen ist, „den Griffel aus der Hand zu
legen. Doch das Gewissen — sagt er — mahnte mich immer wieder, ihn zu
ergreifen." 'Möchte es ihn weiter mahnen, den ans zwei Seiten (179 und 180)
entworfnen Lehrplan in einem Religioushaudbnche auszuführen; denn erst dadurch
würden wir einen Begriff davon bekommen, wie sich ein christlicher Religionsunter-
richt ohne Altes Testament ausnimmt.
sind Laudesbcamte, sie gehen aus der Klasse der Pvst-
eleveu (höhere Karriere) hervor und müssen — abgesehen von den sogenannten
Militärpostdirektoren — die höhere Pvstverwaltungsprüfuug abgelegt haben. Über¬
tragen ist ihnen die Verwaltung eines Postamts erster Klasse. Außer der Über¬
wachung des hänfig sehr zahlreichen Personals (bisweilen im ganzen mehrerer
hundert Personen), dem sie unmittelbar vorgesetzt sind, das sie in straffer Zucht
zu erhalten haben, und dem sie selbst ein Vorbild von Tüchtigkeit und Pflichttreue
sein sollen, ruht auf ihren Schultern die Verantwortung für einen geregelten nud
gesicherten Pvstdieustbetricb für deu Ort und deu zugehörige» Laudbestellbezirk. Sie
gehören zur fünften Rnngklasse der höhern Beamten. Nach längerer Dienstzeit
wird einem Teil von ihnen der Rang (ohne Titel) der Räte vierter Klasse ver¬
liehen. In den mittlern Orten (ohne Obcrpvftdirektion) vertreten sie die Pvst-
behörde, sie zählen dort zu den „Spitzen" der Behörden.
Dem Gesagten gegenüber muß es befremden, daß die Postdirektoreu inner¬
halb der Postverwaltung selbst nicht die ihnen gebührende Stellung einzunehmen
scheinen. Die Postsekretäre werden, nachdem sie die höhere Verwaltnngsprüfung
bestanden haben, Oberpostdircktionssekretäre, nach etwa dreijährigem Verbleiben in
dieser Stellung Postkassirer, und nach weitern drei Jahren werden sie zu Post¬
direktoreu oder — Postinspektoren befördert. Während nun aber die Postdiret-
toreu ihrem Range nach vor den Postinspektoren kommen, ist mit der Beförderung
zum Postdireltor die Laufbahn im allgemeinen als abgeschlossen zu betrachten. Die
Beförderung zum Poftiuspeltvr dagegen ist eine Sprosse auf der Stufenleiter zu
deu höher» Stellungen: Postrat, Oberpostdirektor, Geheimer Postrat n. s. w.
Wenn »um auch im allgemeine» el»le»chtet, daß »icht alle Beamten der hoher»
Lnufbnhu zu deu höchste» Stellungen gelangen könne», so dürfte doch uicht klar
sein, weshalb die Laufbahn mit der Beförderung zum Postdireltor völlig abge¬
schlossen sein muß. weshalb die Praxis besteht, die Stellung als Postdireltor als
minderwertig, die Beförderung dazu gewissermaßen als „Kaltstellnng" zu betrachten,
ja sie sogar vielfach als Strafe eintreten zu lassen. Es liegt auf der Hand, daß
infolge dieser Praxis zu Postdirektoreu teils die nnfähigern Beamten, teils solche
Beamte cmsersehe» werde», die irgend etwas auf dem Kerbholz habe», oder die
sich durch irgend etwas das Mißfallen ihrer Vorgesetzten zugezogen haben. Aus¬
nahmen giebt es natürlich auch hier wie überall. Vollends herabgesetzt aber werden
Stellung und Ansehen der Postdirektoren dadurch, daß sie in ihrer Thätigkeit durch
Postiuspeltoreu, also jüngere, dem Range nach niedriger stehende Beamte, denen
es häufig an ausreichender Erfahrung fehlt, revidirt werden. Sind anch diese In¬
spektoren ans Reisen Beauftragte des Oberpostdirektors, so bleibt doch ein Mi߬
verhältnis bestehen, und nur zu oft wird dies von den Inspektoren zum Nachteil
der Postdirektoren ausgenutzt mit dem Vorwand: „im Namen der Oberpost-
direktion," insbesondre einem schwachen, weniger energischen Postdirektor gegenüber.
Ein ähnliches Verhältnis dürfte sich in keiner andern Lanfbcchn vorfinden.
Die Folge ist, daß die Postdirektorcn zum Teil unter den höhern Beamten
das Proletariat bilden und auch als solches von den Vorgesetzten behandelt werden.
Wie verträgt sich das aber mit ihrer Stellung? Sollen sie nicht die Postbehörde
vertreten? Sollen sie nicht die postalischen Einrichtungen des Ortes möglichst ver¬
vollkommnen und auf ihrer Höhe erhalten? Sollen sie nicht ihren Untergebnen in
jeder Hinsicht ein Vorbild sein? Eignen sich Beamte ohne Energie, mit nicht immer
tadelloser Vergangenheit, mit ungünstigen Vermögens- oder Fmuilienverhältnisscu
zu solchen Stellungen? Schneidet sich nicht die Postverwaltung mit solchen Ein¬
richtungen ins eigne Fleisch, stellt sie sich nicht selber bloß?
Zu Postdirektvren müßten die dienstlich tüchtigsten und auch in sonstiger Be¬
ziehung geeignetsten Beamte« ausgewählt werden, Männer, die durch ihre That¬
kraft und ihre Persönlichen Verhältnisse würdig erscheinen, die Verwaltung zu ver¬
treten, und die imstande siud, ihren umfangreichen Pflichten in vollem Maße
nachzukommen. Die Stellung der Postdirektoren müßte zu den bevorzugten ge¬
hören. Es scheint dringend geboten, in den bestehenden Verhältnissen Wandel ein¬
treten zu lassen.
Daß der Mensch die Statur verschönern
könne, ist ein anmaßender Gedanke. Die Naturschönheit ist etwas für sich, das,
was der Mensch hinzuthut, ist etwas andres, fremdes. Gewöhnlich beschränkt sich
der ,,Verschöncrungsverein" der Natur gegenüber auf die Anlegung von Wegen, die
Anbringung vou Bänken, Wegweisern, Schutzzännen gegen das Herabfallen von
Kindern oder Betrunknen, er errichtet aber bei Vermehrung der Mittel auch Trink
buben und Wirtshäuser. Er macht für die Masse den Naturgenuß Angänglicher
und bequemer, wobei aber die Schönheit und Größe der Natur oft verliert.
An einem Wegweiser in den Umgebungen eines berühmten hochgelegnen Gottes¬
hauses in Tirol, neben dem ein nicht bloß von Wallfahrern, sondern auch von
Touristen vielbesuchtes Gasthaus steht, lasen wir kürzlich: „Der Naturveredlungs-
verein von T." Der sinnige Manu, der dieses Wort erfand, hat das Unpassende
in dem „Verschönernngsverein" gefühlt. Aber sein Verein will im Grunde auch
nur für die größere Bequemlichkeit der Naturbummler sorgen, was doch an und
für sich keine Veredlung der Natur bedeutet. Ein Optimist könnte herauslesen :
Berein für Veredlung der Menschen durch die Natur. Nicht weit vom Fuß dieses
Berges legte uns ein betriebsamer Wirt die Statuten eines „Bankvereins" vor,
dessen Mitglieder als Aktionäre mit 2 si. 50 kr. Einzahlung Bänke für die müden
Wanderer in der Umgegend errichten.
Der „Verschönerungsvercin" hat seinen wahren Platz in unsern Städten, wo
er aber deu kräftiger» Namen „Verein zur Bekämpfung des Häßlichen" annehmen
sollte. Wie man die Natur zu verschönern sucht, indem man menschliche Werke
in sie hineinstellt, so glaubt man für die Verschönerung der Städte alles gethan
zu haben, wenn man auf ihren Plätzen und Wällen ein bischen Natur nachbildet,
in die man Bänke für Kindermädchen und Bummler und womöglich ein paar „Be¬
dürfnisanstalten" hineinstellt. Ein grünes Rasenviereck mit staubigen Bäumen im
.Kreuzungspunkt schnurgerader Straßen mit unabsehbaren und ununterscheidbaren
Häuserreihen mag „hygienisch" wünschenswert sein, schön ist es nicht. Am einen
Ende etwas derartiges schaffen und am andern eine alte Fassade zerstören, ein
altes Thor abtragen oder auch einen neuen Riesenschlot errichten, kann man das
Verschönerung nennen? Im besten Fall ist es eine ärmliche Flickarbeit. Das Städte¬
bauer ist in unsrer Zeit mit allem Aufwand für glänzende oder bizarre Fronten
etwas an sich Uukünstlerisches, das nicht zu Schönem führe» kaun. Der Ausdruck
eines krankhaften, mit niedrigen Spekulationen, Hast, Dürftigkeit, ja Elend ver-
bundnen Anhäufnngsstrebens, wie vermöchte er schön zu sein? Nur wenn jedem
einzelnen Hause und jeder Straße, jedem Platz die strenge Frage gegenübertritt:
Wie erschwerst du den Menschen ihr Dasein am wenigsten? Wie ärgerst du ihr
Auge am wenigsten? kann die Stadt etwas besseres werden als eine ihrem Wesen
nach unschöne, die natürliche Liebe zu Wohnsitz und Heimat erstickende, selbst in
Abneigung verkehrende „Bcickfteinwüste." Die Städte ihrem modernen Zuge nach
Häßlichkeit überlassen und gleichzeitig die alte große Natur durch sogenannte Ver¬
schönerungen für Huuderttnuseude präpariren, die auf ein paar Wochen Vergessen,
Trost, Heilung von der Stadt in der Natur suchen wollen, ist jedenfalls ganz
verkehrt. Der Nutzen dieses Verfahrens in gesundheitlicher Beziehung ist zweifel¬
haft, der Schade» in ästhetischer und wirtschaftlicher ist offenbar.
Das düstre Geschick des begabten schweizerischen Lyrikers Heinrich Leuthold,
der nach einem wunderlich zerfnhruen und mannigfach gepeinigten Leben sein Ende
im Irrenhause fand, hat schon seit dem Erscheinen der ersten Auflage seiner „Ge¬
dichte" (1879) tiefere Teilnahme erweckt; die Einleitung, mit der Jakob Baechtold
die zweite Auflage dieser Gedichte begleitete, muß das Interesse an der knorrigen
und rätselhaften Persönlichkeit verstärkt haben, sodaß auch die selbständige bio¬
graphische Studie von A. W. Ernst, die sich auf ein beträchtliches und zuverlässiges
Material stützt, bereits in zweiter Auflage erscheint.
Die nähere Kenntnis des Lebensganges und des Charakters, der äußern Schick¬
sale und der innern Bildung Leutholds flößt ernste» Anteil und zu Zeiten tiefstes
Mitleid, aber doch weder Bewunderung noch eigentliche Sympathie ein. Dieser
Hüne, der sich so willenlos den widerspruchsvolle» Stimmen des Unbewußten in
seiner Natur überließ, war eine Art Hölderlin, aber ein Hölderlin vom Ende
unsers Jahrhunderts, mit den Organen derber Lebenslust ausgestattet, statt der
elegische» Resignation, die den Dichter des „Hyperion" erfüllte, von angriffslustiger
Bitterkeit durchdrungen, von allen Gärungselemeuten der Zeit ergriffen oder ge¬
streift, aber zu keiner festen Weltanschauung durchgedrungen. Unerschütterlich und
siegesgewiß war nur eins in ihm, das Schönheitsgefühl, das nach Ernsts Wort
„in einer Zeit des frechsten Dilettantismus die klassisch vollendete Form des Kunst¬
schönen behütet und bewahrt hat." Sicher gilt auch Leuthold gegenüber das er¬
habne Wort: richtet nicht, auf daß ihr uicht gerichtet werdet, und die pietätvolle,
dem Zusammenhang von Selbstverschuldung und unverschuldeten Leid im Leben des
Dichters nachspürende philosophische Erörterung des Biographen ist uns lieber und
erweckt tiefere Achtung, als das Zetergeschrei etlicher Zivuswnchter. Ans der andern
Seite ist es unmöglich, mich die begabteste Künstlernatur von der Forderung an
Maß und Selbstzucht völlig loszusprechen, und es bleibt bedenklich, das echte und
heilige Feuer immer nur in dem Gefäß kranker Seelen zu sehen und jedes un¬
selige Mißgeschick in die Glorie tragischer Notwendigkeit zu hüllen.
Die ungedruckten Briefe und Gedichte, die A. W. Ernst in seinem kleinen Buche
mitteilt, siud zum Teil sehr wertvoll, das Gedicht „Auf eine Goethefeier in Klausen"
vom 27. August 1876 ist eins der letzten und schönsten Zeugnisse vou Lcutholds
lyrischem Beruf.
Die Anarchisten scheinen doch uicht so ganz ohne zu sein. Es liegt eine gewisse An¬
erkennung ihrer wachsenden Bedeutung darin, daß E. Bernstein in der sozialdemokratischen
„Remer Zeit" vou ihnen schreibt: „nachdem anarchistischerseits versucht worden war." Konser-
vativerseits, liberalerseits, sozialdcmokratischerseits und antisemitischerseits waren uns schon be¬
kannt; anarchistischerseits ist die neueste Errungenschaft in der Anarchie der deutschen Zcitungs-
sprache. Heil dem Erfinder!
Die Sozialdemokratie hat eine neue Frage in der Welt entdeckt, die ein großes Hindernis
für die Weiterentwicklung des Menschengeschlechts bildet, deren Lösung sie deshalb mit völliger
Furchtlosigkeit in die Hand nehmen wird. Es ist das die „Vielsprachigkeit." Die Sozial-
demokraten der verschiedne» Länder würden sich viel besser verständigen und sich nicht so leicht
mißverstehen können, wenn die „Vielsprachigkeit" nicht wäre. Bis jedoch die Sozialdemokratie
diese Frage gelöst hat, würden wir ihr empfehlen, wenigstens verständliches Deutsch zu reden.
Die Bewohner des Zukunftsstaats wären zu bedauern, wenn ihnen ein solches internationales
Deutsch vorgcseht werden sollte, wie es der im sozialpolitischen Zentrnlblatt und im Vorwärts
abgedruckte Beschluß des Internationalen Kongresses „über die Frage der nationalen und inter¬
nationalen Organisation der Gewerkschaften" ausweist."
Wir müssen darauf verzichten, alle drei Nummern dieses endlosen „Beschlusses wieder¬
zugeben, und lassen als Probe des neuesten sozialdemokratischen Amtsstils uur Nummer 3
folgen; verstehe sie, wer kauu. Also Ur. 3 (zu ergänzen ist irgendwoher aus der Luft: „Der
Kongreß erklärt"): Endlich (auf Antrag der italienischen Delegation) in Bezug auf die fremden
nichtorganisirten Arbeiter: Es ist notwendig, daß in Ländern, in welchen die von der Kon¬
kurrenz der eingewanderten, den Gewerkschaften nicht angehörenden Arbeitern verursachten Übel
fühlbar werden, die sozialistischen Parteien und Arbeiterverbände daran arbeiten, die Propa¬
ganda der Organisation des Proletariats und der internationalen Solidarität zu verbreiten,
sowie daß die sozialistischen Parteien und die Verbände der Gewerkschaften der erwähnten
Nationen sich um jede Berichterstattung und Hilfe, sei es direkt, sei es dnrch Vermittlung der
nationalen Arbeitersekretäre, wo solche bestehen, an die zentralen Vertretungen der Verbände
und entsprechenden Parteien der Länder, von welchen die Einwanderung herrührt, wenden.
In Ur. 446 des Berliner Tageblatts findet sich in einem Feuilleton: „Momentbilder
aus dem Salzkammergut" folgende Stelle:
Mit doppelter Genugthuung und aufrichtigem Vergnügen, dem sich ein gewisser Stolz
beimischte, erfüllte es mich, hier, fast 7000 Fuß hoch, im Angesicht des Dachsteingletschers das
„Berliner Tageblatt" anzutreffen. Ich erkundigte mich darnach, wieso (I) das Blatt herauf¬
kommt^). (Folgt eine gleichgiltige Erzählung,)
Uns hat Mese Stelle nach Inhalt und Form mit aufrichtiger Trauer erfüllt, der sich
ein gewisser Ekel beimischte.
s wäre thöricht, die Bedeutung der Judenfrage noch verkennen
zu wollen. Wenn eine Bewegung erst einen solchen Umfang
erreicht hat, so läßt sie sich nicht mehr mit schmückenden Bei¬
wörtern, wie inhuman oder kulturwidrig, abthun. Die Geschichte
der Sozialdemokratie sollte uns doch gelehrt haben, wie ge¬
fährlich es ist, die Triebkraft einer sozialen Bewegung deshalb zu unterschätzen,
weil die Leute, die am Steuer sitzen, manchmal nicht sehr schätzenswert sind. Die
Dvppelwcchl des Hanswursts Ahlwardt zeigt deutlich genug, wie sehr es an
der Zeit ist, daß mit den Quacksalbern und Charlatcmen aufgeräumt wird,
und daß an ihrer Stelle ernste Männer sich mit der Heilung der Gebrechen
unsrer Gesellschaft beschäftigen. Damit soll nicht etwa gesagt werden, daß das
noch nicht geschehen sei. Nur, scheint mir, hat man es zu oft übersehe«, daß
die Lösung einer solchen Frage uicht uach einem akademischen Rezept durch¬
geführt werden kaun. Und wenn ich selbst hier einen bescheidnen Beitrag zu
ihrer Lösung zu liefern versuche, so möchte ich im voraus nachdrücklich be¬
tonen, daß ich doch nur über die Bedingungen, unter denen ich eine vollstän¬
dige Lösung erst für möglich halte, einige Anmerkungen zu machen be¬
absichtige.
Die Wege, die angeblich zur Lösung der Judenfrage führen sollen, gehen
nach zwei Richtungen aus einander. Die einen wollen den moralischen Übeln,
die hauptsächlich deu Juden anhaften und daher in erster Linie das Erwerbs¬
leben schädigen, in ganz allgemeiner Weise zu Leibe gehen, um nicht allein
die jüdischen, sondern auch die christlichen Schwindler zu treffen. Das ist
ohne Zweifel nicht allem zweckmäßig, sondern nachgerade notwendig geworden.
Nur darf man zweifeln, ob durch ein allgemeines schärferes Vorgehen gegen
deu Schwindelgeist die Judenfrage aus der Welt geschafft, vor allem ob da-
durch die tiefe Abneigung beseitigt werden wird, die breite Schichten unsers
Volks gegen die Juden erfüllt. Es möchte wohl gehen, wenn alle Juden so
frei von Empfindlichkeit und Vorurteil wären, wie sich der sympathische Ver¬
treter dieser Richtung, der Jude Leopold Caro, in seinen Artikeln in den Grenz¬
boten gezeigt hat. Als den Chorführer der Gegenpartei, die die Juden durch
eine dicke Mauer von Sondergesetzen abschließen will, kann man, soweit sie
ans anständigen Leuten besteht, Eugen Dühring ansehen, schon deshalb, weil
er diese Frage ausführlich und im Zusammenhang erörtert hat. Freilich, den
Ruhm, den deutschesten Mann unsrer Litteratur in einer Weise mit Schmutz
beworfen zu haben, daß es der schäbigste Preßjude nicht besser gemacht Hütte,
den hätte sich Herr Dühring gut und gern sparen können. Auch darf man
nicht verkennen, daß der Satz: „Die Juden sind eine an sich schädliche Rasse"
von ihm nicht nachgewiesen wird, sondern als Axiom allen seinen Ausfüh¬
rungen vorangeht- Darum kann er sich auch die beneidenswerte Schlußfolge
erlauben: die Juden Hütten von Rechts wegen längst vertilgt werden müssen;
Lessing hat die Juden in Schutz genommen, folglich war er ein charakterloser
Mensch, Voltaire hat auf die Juden geschimpft, folglich war er ein welt¬
umfassender Geist. Ein weniger verbissener Fanatiker Hütte sich doch gehütet,
auf derselben Seite einen so zweifelhaften oder vielmehr über allen Zweifel
erhabnen Charakter wie Voltaire in den siebenten Himmel zu heben, auf der
er den Charakter Lessings in den Staub zu zerren versucht. Es ist überhaupt
nicht t-ur xlu./, seine Leser dadurch irre zu führen, daß man Geist gegen
Charakter ausspielt.
Allerdings hat die Forderung von Svndergesetzen gegen die Juden zahl¬
reiche Anhänger. Das ist aber nicht im geringsten wunderbar. Nachdem in
Rußland die Leibeigenschaft aufgehoben, nachdem in den Vereinigten Staaten
das Verbot der Sklaverei siegreich durchgedrungen war, ließen sich alsbald
Stimmen vernehmen, daß man diese Neuerungen eines unpraktischen Idea¬
lismus nicht werde beibehalten können. Heute wird Wohl niemand im Ernst
die Forderung zu erheben wagen, Leibeigenschaft und Sklaverei müßten wieder
eingeführt werden, obgleich sich die „freien" Neger in manchen Gegenden der
Vereinigten Staaten oft recht unangenehm bemerkbar machen. Es ist doch auch
ein ganz natürlicher Verlauf: wenn Menschen, die jahrhundertelang nnter einem
gesellschaftlichen Zwange gelebt haben, plötzlich losgelassen werden, so verfallen
sie in Zügellosigkeit, weil sie für die Freiheit noch nicht reif sind. Wie weit
sind nicht die deutschen Arbeiter, seitdem sie sich auf ihre bürgerlichen Rechte
besonnen haben, über jedes erreichbare Ziel hinausgeschwärint! So weit, daß
man glaubte, sie durch ein besondres Gesetz im Zaum halten zu müssen. Man
hat sich aber inzwischen überzeugt, daß mau damit einen verkehrten Weg ein¬
geschlagen hatte, und hat den Fehler in der einfachsten Weise gut gemacht,
indem man das seinerzeit viel gepriesene Gesetz wieder aufhob. Nun wollen
die Antisemiten mit Gewalt den Fehler noch einmal gemacht wissen, indem sie
die Regierung zu bewegen suchen, die bösen Juden durch ein Zwangsgesetz in
Märtyrer zu verwandeln. Denn etwas andres würde man durch ein solches
Gesetz nicht erreichen, als daß man die Juden widerstandsfähiger machte.
Daß sich die Juden nach ihrer völligen Gleichstellung mit den andern Staats¬
bürgern einer zügellosen Jagd nach Erwerb und Genuß hingegeben haben, ist
die Krisis in der natürlichen Entwicklung, die man nicht unterdrücken kann,
sondern die man überwinden muß. Das will der Antisemitismus uicht ein¬
sehen, wie er sich denn allgemein durch einen starken Mangel an geschichtlichem
Blick auszeichnet. Man betrachte nur die Art, wie Dühring in seinem Buch
über die Juden den Spinoza aus allem Zusammenhang herausreißt und nun
in einer Weise charakterisirt, die man genau so gut auf mindestens ein Dutzend
Philosophen jener Zeit anwenden könnte, wenn man sie in den Augen der
Gegenwart mehr als billig herabsetzen wollte. So geberdet sich auch der rein
verneinende Antisemitismus, als Hütte es nie Juden gegeben, die unter ganz
andern Verhältnissen lebten als ihre modernen Rassen- oder Glaubensgenossen,
wie man sie nun bezeichnen will. Die geschichtliche Entwicklung der Juden¬
frage ist aber völlig klar zu übersehen. Der Aufklärung des achtzehnten Jahr¬
hunderts war es unleidlich, daß ein und derselbe Staat seine Bürger mit
zweierlei Maß messen wollte, und es wäre geradezu verwunderlich, wenn ein
so Heller Kopf wie Lessing diesen zeitgemäßen Gedanken nicht besonders klar
ausgesprochen und besonders scharf verfochten hätte. Ihn aber gar darum
schmähen, heißt ihm vorwerfen, daß er nicht hinter seiner Zeit zurückgeblieben
ist. Gerechter scheint es mir zu sein, wenn man vielmehr der Zeit den Vor-
wurf machte, sie habe ihre Aufgaben nicht erkannt. Hätte der König, der
jeden nach seiner Fayon wollte selig werden lassen, der auch gegen die Jesuiten
keine Ausnahmegesetze duldete, den Juden volle bürgerliche Freiheit gewährt,
wir hätten vielleicht jetzt keine Judenfrage mehr. Wenigstens möchte es dem
aufgeklärten Despotismus leichter gewesen sein, die Juden von Ausschreitungen
zurückzuhalten, als dem modernen Verfassungsstaat. Ist die Judenfrage heute
eigentlich schon ein Anachronismus, so kommt noch hinzu, daß die Staaten in
der Zwischenzeit in ihrer innern Entwicklung fortgeschritten sind von bloß
Polnischer Gemeinschaft zur einheitlichen Volksgemeinschaft, sodaß es der
modernen „Aufklärung," d. h. den treibenden Kräften unsrer Zeit unleidlich
erscheint, daß in einunddemselben Staate verschiedne Nationalitüten leben sollen.
Diesen Fortschritt der Entwicklung haben aber die Juden nicht wohl mitmachen
können, da sie ja während der ganzen Zeit unter Ausnahmegesetzen gestanden
haben und sich unmöglich schon für reines Volkstum begeistern konnten, wäh¬
rend sie noch kein reines Bürgertum genossen. Indes, das Drängen der
Volker nach nationaler Einheit über die politische hinaus ist eine Thatsache,
mit der sich auch die Juden abzufinden haben. Hier weiß nun der Antisemi-
tismns einen sehr einfachen Ausweg: man werfe die Juden zum Lande hinaus,
dann sind wir mit unserm Volkstum allein, d. h. beinahe. Das Mittel ist
einfach und hat nur den Fehler, nicht mehr zeitgemäß zu sein, da es einen
Rückschritt in der Kultur bedeutet.-, Rußland freilich kann sich die Ausweisung
der Juden gestatten, denn Rußland weist jeden unbequemen Bürger aus dein
Lande, weit weg nach Sibirien. So möchten aber auch bei uns einer ge¬
waltsamen Austreibung der Juden andre Austreibungen folgen, die in dem
Programm der Antisemiten nicht vorgesehen sind. Ein berühmter Mediziner
in Leipzig hat einmal gesagt, ein Bein abzuschneiden, sei keine Kunst, aber ein
krankes Bein wieder gesund zu machen, darin zeige sich der Meister. In der
That, ein Mann, dem ein Bein abgeschnitten wurde, ist ein Krüppel, nicht
weil ihm ein Glied fehlt, das zum natürlichen Gebrauche doch nicht mehr
tauglich war, sondern weil es dem Arzt und seinem Körper nicht gelang, die
Krankheit zu überwinden und aus dem kranken Gliede ein gesundes zu machen.
Und wenn das deutsche Volk die Juden austriebe, so wäre es ein Krüppel,
nicht weil ihm eine Anzahl untauglicher Bürger fehlt, sondern weil es nicht
imstande war, eine Minderzahl untauglicher Bürger in brauchbare umzuwandeln.
Werfen wir denn andre Nationalitäten, werfen wir Polen, Dänen und Fran¬
zosen einfach aus dem Lande hinaus, wenn sie anfangen, uns unbequem zu
werden? Einzelne Schreier ja, und das mit Recht, aber die große Masse
suchen wir zu gcrmanisiren. Die Regierung freilich ist in ihrer Politik gegen
diese fremden Elemente schwankend, aber die Regierung ist nicht immer die
Trägerin der Zeitideen, und ihre schwächliche Haltung kann es Wohl ver¬
zögern, aber nicht hindern, daß alle Polen dereinst im deutschen Volke auf¬
gehen. Dasselbe aber muß auch mit den Juden geschehen, sie müssen Deutsche
werden, mit oder ohne ihren Willen. Denn das sind sie noch nicht, sie
mögen sagen, was sie wollen. Daß sie ihre staatsbürgerliche Pflicht so gut
thun wie andre, braucht man ihnen gar nicht zu bestreiten. Daß aber die
Juden, die bis in die jüngste Zeit herein eine Ausnahmestellung innehalten,
die Schmerzen und Freuden eines seit beinahe hundert Jahren um seine natio¬
nale Einheit ringenden Volks ungemindert mitempfunden haben sollten, daß
also in ihnen das Verlangen nach einem deutschen Vaterlnnde ebenso lebendig
sein sollte, wie in rein deutschen Staatsbürgern, das wäre eine Erscheinung,
die einzig dastünde in der Weltgeschichte.
Nun sagen die Antisemiten, es sei unmöglich, die Juden besser zu machen.
Das ist ja aber auch gar nicht nötig; gute Deutsche brauchen sie nicht zu
werden, wenn sie nnr erst Deutsche sind. Möge«? sie sich dann ruhig zu dem
Teil unsrer Volksgenossen schlagen, die wir als moralisch minderwertig be¬
zeichnen müssen; Verbrecher werden sie ja doch nicht samt und sonders werden.
Denn sollte es wirklich so weit gekommen sein, daß das deutsche Volk über¬
haupt nicht mehr imstande wäre, die Juden in sich aufzunehmen und ihre
Rassenfehler zu überwinden, so mag sich das deutsche Volk ruhig begraben
lassen. Denn dann hält es die weltgeschichtlichen Stürme sicher nicht mehr
aus, die seiner noch harren. Ich glaube das aber nicht, und ich komme hier
zu der ersten Bedingung, die erfüllt sein muß, ehe eine ersprießliche Lösung
der Judenfrage möglich ist. Das deutsche Volk muß sich nicht länger den
Bären aufbinden lassen, die besondern Verdauungsbeschwerden unsrer viel¬
geliebten Haupt- und Residenzstadt Berlin seien eine allgemeine Krankheit des
ganzen Volks. Der altjüngferliche Blaustrumpf an der Spree hat sich an
dem süßen Bewußtsein, Hauptstadt des Reiches zu sein, dermaßen verdorben,
daß ihm jetzt seine jüdischen Mitbürger schwer im Magen liegen. Nun lädt
Spreeathen mit der ihm eignen edeln Bescheidenheit das ganze Reich ein,
doch gefälligst die große Gesundkur mitzumachen, die ihm selbst vielleicht gut
bekommen oder — es ganz zu Grunde richten würde. Denn Berlin hat es
doch noch nicht schriftlich, daß es plötzlich zu ungeahnter Blüte erstehen würde,
wenn alle Juden aus seinen Mauern auszogen, selbst wenn sie so freundlich
wären, ihr Geld zurückzulassen. Dagegen ist es ihm schon mehr als einmal
schriftlich versichert worden, daß es sich durchaus unfähig gezeigt hat, die große
Aufgabe zu übernehmen, die ihm in den Schoß gefallen ist, nämlich eine wür¬
dige Hauptstadt des neuen Reichs zu werden. Wenn man übrigens nicht das
Glück hat, mit Spreewasser getauft zu sein, braucht man ob dieser Erkenntnis
nicht in Schwermut zu versinken. Es ist ganz gut, daß Berlin nicht zu einer
das Land allmächtig beherrschenden Hauptstadt mit selbstherrlichen Pöbel nach
dem Muster von Paris geworden ist. Und es wäre noch besser, wenn es
andre Städte des Reichs verstanden hätten, sich ein Stück der Führerrvlle
im Geistesleben unsers Volkes zu sichern, zu der sich Berlin als unfähig er¬
wiesen hat. Fürst Vismarck hat einmal in jüngern Jahren das große Wort
gelassen ausgesprochen: „Das wahre preußische Volk wird die großen Städte
zu bändigen wissen, und sollte es sie vom Erdboden vertilgen müssen." Das
deutsche Volk braucht nun seine Hauptstadt uicht gleich vom Erdboden zu
vertilgen, denn sie enthält ja doch ganz passende Räumlichkeiten für Volks¬
vertreter, Minister und andre gemeinnützige Einrichtungen, die mau ruhig
weiter benutzen kann, weil sie einmal basirt. Aber dazu wäre es freilich hohe
Zeit, daß sich das deutsche Volk aufraffte und die unfähige Hauptstadt auf
geistigem Gebiet „bändigte," d. h. ihren vormundschaftlichen Einfluß abschüttelte
und sie sich selbst überließe. Sollte sich dann herausstellen, daß sie von den
Juden bereits so weit unterwühlt ist, daß sie sich nicht mehr aufrecht halten
kann, so mag sie sich für zahlungsunfähig erklären; da Berlin eben noch nicht
das Herz Deutschlands ist, wie sein angeschmachtetes Paris das Herz Frank¬
reichs, so sällt sein Bankerott nicht auf das Reich zurück. Mit dem geistigen
Einfluß Berlins aber ist der Einfluß des Judentums in Politik, Presse und
Litteratur aufs engste verbunden. Wo sind sie denn groß gezogen worden,
die Apostel der alleinseligmachenden Auslaudsverhimmlung in der Litteratur,
wo anders als am „jrienen" Strand der Spree? Wo haben sie ihre hohe
Schule durchgemacht, unsre jüdischliberalen und sozialdemokratisch-weltschmerz-
licheu Staatsmänner in Duodezformat, die ganz genau wisse», was die Welt¬
geschichte seit fünfundzwanzig Jahren für Fehler begangen hat, und die von
Zeit zu Zeit schulmeisterlich-pedantisch die Stirn runzeln, weil sich Klio, die
hehre Göttin, noch immer nicht von ihnen die Hand führen lassen will? Wo
anders, als in derselben Kaiserstadt, in der auch die Schwindelpresse so üppig
ins Kraut geschossen ist, die dem deutschen Volke die Form seiner Gedanken,
seine altehrwürdige Sprache, bereits mit bestem Erfolg verhunzt hat und es
mit der Zeit wohl auch um sein freies, selbständiges Denken bringen wird?
Natürlich haben bei all diesen schönen Dingen die Juden ihre Hand ganz
hervorragend im Spiele. Berlin und die Juden, sie haben so ziemlich die
gleichen Schicksale gehabt; was Wunder, daß sie sich verbündeten, um sich
gemeinsam in die Hohe zu bringen! Berlin und die Juden, beide standen
bis zu den siebziger Jahren unter einem gewissen Druck, und beide wurde»
fast um dieselbe Zeit von diesem Druck befreit. Berlin, die Hauptstadt des
deutschen Staates, auf dem seit den Tagen des großen Friedrich die Zukunft
unsers Volkes ruhte, hatte auf geistigem Gebiet nie eine führende Rolle ge¬
spielt, himmelhoch wurde es hier von Weimar, Wien, München und Düssel¬
dorf überragt; das war der Druck, der auf ihm lastete. Und die Juden, an
Verstandesfühigkeiten ihren christlichen Mitbürgern gleich, ja nicht selten über¬
legen, wurden durch ungerechten Gesetzeszwang verhindert, diese Fähigkeiten
frei wie ihre Mitbürger zu entfalten; das war der Druck, der auf ihnen
lastete. Da wurden fast zur gleichen Zeit die Juden ihren Mitbürgern a»
politischen und bürgerlichen Rechten gleichgestellt und Berlin, die Hauptstadt
des neuen Reiches, äußerlich über alle andern deutschen Städte erhoben.
Natürlich fanden sich die schönen Seelen, und da sie ihren kleinlichen Begierden
nnn die Zügel schießen lassen konnten, so erzeugten sie zusammen ein litte¬
rarisch-künstlerisch-politisches Protzeutum, wie es die Geschichte des deutschen
Geisteslebens gleich widerwärtig noch nicht verzeichnet hat. Auf die harm¬
losen Schwächen des eingebornen Berliners wurden die angestammten Fehler
der Juden gepfropft, und so entwickelte sich aus gutmütiger Spottlust eine
höchst aufdringliche Nörgelsucht und aus naiver Selbstüberhebung ein voll¬
ständiger Größenwahn. Ein Ausfluß dieses Größenwahns ist es nun auch,
wenn uns der Nadauautisemitismus einreden möchte, die Verjudung Berlins
sei eine Angelegenheit des ganzen deutschen Volks. New, beides, das haupt¬
städtische Judentum und der hauptstädtische Antisemitismus, sind nur Er¬
scheinungen derselben Krankheit, die wie ein Krebsschaden an der Seele unsers
Volkes frißt, des schnoddrigen Berlinertums. Und als Teile des impotenten
Berlinertums in Kunst, Litteratur und Politik müssen sie beide bekämpft
Werden, denn ehe dieser Krebsschaden nicht ausgetilgt ist, eher kann sich das
geistige Leben unsers ueugeeinten Volkes nicht frei entfalten. Die allgemeine
Judenfrage aber hat mit der Judemwt Berlins nichts zu schaffen.
Sie hat aber meiner Meinung nach auch nichts zu schaffen mit der
Judennot einzelner Gegenden, wie Hessen und Preußisch-Polen. Niemand,
der diese Gegenden auch nur flüchtig kennen gelernt hat, wird leugnen, daß
hier eine Judeunvt thatsächlich besteht, aber mir scheint, sie muß für sich, muß
an Ort und Stelle bekämpft werden. Denn gerade in den Gegenden unsers
gesegneten Vaterlandes sind die Juden obenauf, wo das niedre Volk dnrch
lange Mißwirtschaft der herrschenden Klassen zurückgeblieben und verkommen
ist. Das kann doch auch kein Zufall sein. Wer sich darüber näher unter¬
richten will, der reise einmal von einem westfälischen Bauernhofe sofort in
ein hessisches Dorf, der rede mit einem niederdeutschen Bauer über Dinge aus
seinem Gesichtskreise und bemühe sich dann, aus einem hessischen Landmann,
der hinter dem Schnapsglase sitzt, eine Meinung über ähnliche Gegenstünde
herauszuholen, der vergleiche eine hochgewachsene Holfteinerin mit einem
schmutzigen Hessenweib oder einer polnischen Bäuerin. Ich glaube, diesen
Gegenden hilft man nicht dadurch, daß man die Juden austreibt, sondern
nnr dadurch, daß mau die zurückgebliebne Bevölkerung auf eine höhere Kultur¬
stufe zu heben sucht, und wenn der örtliche Antisemitismus hierzu auch nur
den Anstoß giebt, so hat er sich schon damit ein Verdienst erworben.
Aber wie gesagt, auch dieser örtliche Antisemitismus hat mit der all¬
gemeinen Judenfrage nichts zu thun. Diese Frage lautet nämlich: wie bringen
wir es fertig, daß die Trümmer der jüdischen Rasse, die das deutsche Bürger¬
recht genießen, nach und nach in unserm Volke aufgehn? Zwar die Juden
sagen: wir sind keine fremde Rasse, wir sind Deutsche. Aber mau kann es
keinem Deutschen übelnehmen, wenn er diese Behauptung dahin berichtigt:
dem Namen nach seid ihr Deutsche, aber nicht der Gestalt, nicht der Gesin¬
nung nach. Und wenn die Juden ihre Empfindlichkeit ablegen und einsehen
wollten, daß es Selbsttäuschung ist, wenn sie sich für Deutsche ausgeben, so
würden sie uns es ihrerseits nicht übel nehmen, wenn wir sie zu dem machen
wollen, was sie zu fein behaupten. Nun ist es aber leichter zu erkennen,
daß der Kern der Juden noch heutzutage einen besondern Volksstamm bildet,
als die Gründe anzugeben, wie sie ihre Rasseneigentümlichkeit durch achtzehn
Jahrhunderte hindurch erhalten konnten, obwohl sie in alle Welt zerstreut
waren. Mir scheint, es war das einzig und allein dadurch möglich, daß die
geistige Zugehörigkeit zum Volksstamm einen so äußerst schroffen sinnlichen
Ausdruck erhielt in den rituellen Gebräuchen der Juden. Der natürliche
Mensch hängt an der sinnlichen Erscheinung, und Bonifazius wußte sehr wohl,
was er that, als er die Eiche des Donnergottes vor den Augen seiner Ver¬
ehrer fällte. Als die Eiche stürzte, da war auch der Glaubenstrotz der Deutschen
gebrochen; und so wird auch der Rassentrotz der Juden nicht eher gebrochen
sein, als bis gewisse rituelle Bräuche der Juden gefallen sind. Denn das
jüdische Ritualgcsetz schreibt Dinge vor, die den Juden ausschließen von der
Gemeinschaft aller modernen Kulturvölker, und es ist die wesentlichste Be¬
dingung zur Lösung der Judenfrage, daß diese Dinge gesetzlich verboten
werden.
Die tiefste Wirkung übt uuter diesen rituellen Gebräuchen ohne jeden
Zweifel der jüdische Taufakt aus. Es ist kein sehr angenehmer Gegenstand,
den ich hier berühre, aber wem es Ernst ist um die Sache, der wird die Er¬
örterung nicht scheuen. Man hat wohl darüber gestritten, was die Beschnei¬
dung ursprünglich für eine Bedeutung gehabt habe. Darauf brauchen wir uns
nicht einzulassen, denn heute ist sie nichts anders als ein brutales Zwangs¬
mittel, dem Volke der Juden in der Zerstreuung die Stammesgemeinschaft zu
wahren. Etwas wesentlich andres wird sie wohl nie gewesen sein, mit dem
Unterschiede freilich, daß ein solches Mittel vor dreitausend Jahren und in der
schwülen Nachbarschaft des ägyptischen Isis- und Osirisdienstcs und der phö-
nikischen Baal- und Astarteverehrung mehr am Platze war, als in der ge¬
sitteten Gesellschaft des modernen Europas. Auch die christlichen Konfessionen
haben ja gewisse Zwangsmittel, die Gemeinschaft der Gläubigen zu erhalten,
und sie folgen damit schließlich nur dem Triebe der Selbsterhaltung, der jede
Körperschaft, die durch ein rein ideales Band zusammengehalten wird, nötigt,
eine gelinde Polizei über das Gewissen ihrer Mitglieder auszuüben. So hat
die katholische Kirche die Ohrenbeichte, und schon diesen Zwang empfanden die
Deutschen mit beginnender Neuzeit als so drückend, daß sie dagegen „pro-
testirten." Aber auch die protestantische Kirche behielt die Konfirmation bei,
die man bei der moralischen Unselbständigkeit der Konfirmanden doch auch nnr
als ein gebotnes Zwangsmittel auffassen kann, das etwa dem staatlichen Unter¬
richtszwang im Charakter gleichzustellen ist. Aber die Beichte sowohl wie die
Konfirmation üben doch nur einen geistigen Zwang ans, und wer sich ihnen
in reifern Jahren entziehen will, der kann das ohne die geringste Schwierigkeit
thun; niemand, der aus einer christlichen Konfession ausscheiden will, kann
daran verhindert werden, dies so zu thun, daß nichts von der alten Gemein¬
schaft an seinem Leibe oder seiner Seele hängen bleibt. Dem Juden ist das
nicht möglich. Wie könnte er mit seinem Fühlen und Denken in der Seele
eines andern Volks aufgehen, da er das Bewußtsein nicht loswerden kann: du
trägst an deinem Leibe das Merkmal, daß dn ein Jude bist! Mau unterschütze
die moralische Hemmkraft dieses Bewußtseins ja nicht, und man lasse sich vor
allein uicht durch das alberne Geschwätz der Nadauantisemiten irre machen,
die dem Juden alle und jede moralische Regung abspreche«. Mit einem Menschen
wie Ahlwardt, der jedes sittlichen Bewußtseins bar ist, muß man sich eben
nicht über die Wirkungen einer solchen Empfindung unterhalten. Bedeutend
lehrreicher ist es, zu beobachten, wie das Bewußtsein eines körperlichen Mangels
auf das Selbstbewußtsein eiues Menschen überhaupt drückt. Wie ängstlich
achtet nicht jemand, dem auch nur ein Glied des kleinen Fingers fehlt, darauf,
Fremden die Hand nnr geschlossen zu zeige»! Und wie fassungslos und ver¬
legen wird nicht oft ein solcher Mensch, wenn jemand, dem dieser Mangel
unbekannt war, ihn unvermutet bei ihm entdeckt. Es muß schon ein sehr selb¬
ständiger Charakter sein, der das niederdrückende Gefühl eines körperlichen
Fehlers in jeder Lage übermüdet. Bei dem Juden kommt nun aber noch
hinzu, daß er offenbar weiß, wie er um seines Mangels willen von andern
Völkern verachtet wird. Ich wenigstens bin der Meinung, daß ein guter Teil
der Mißachtung, die der Europäer, besonders der Germane, und um den handelt
sichs ja hier, dem Juden entgegenbringt, ans Rechnung der zwar unbewußten,
darum aber um so gesundem Geringschätzung gegen Menschen kommt, die ihren
Leib von andern Menschen verstümmeln lassen- Wie sollte der Deutsche, dem
es für ehrlos galt, auch nur sein Haupthaar von fremder Hand berühren zu
lassen, nicht eine alt eingewurzelte Abneigung hegen gegen Verschnittene und
Beschnittene. Im Orient freilich wird noch manche Sitte geübt, vor der wir
Ekel empfinden.
Als man alle Sondergesetze gegen die Juden kurzweg aufhob, da hat man
übersehen, daß man damit den Juden mehr Freiheit einräumte, als die übrigen
Staatsbürger genießen. Man hätte zu den Juden sagen müssen: Gut, ihr
sollt mit uns leben als gleichberechtigte Bürger; dafür aber verlangen wir von
euch, daß ihr euch den allgemeinsten Vorschriften moderner Sitte und Sitt¬
lichkeit fügt, daß ihr ablegt, was von euern Gebräuchen in den Nahmen mo¬
derner Kultur nicht paßt. Daß aber der jüdische Taufakt mit unsern An¬
schauungen von persönlicher Freiheit und Würde durchaus nicht zu vereinen
ist, das muß auch der größte Judenfreund zugeben, wenn er die Frage un¬
parteiisch beantworten will. Man sage nicht, das sei ein religiöser Gebrauch,
den man nicht antasten dürfe. Man kann zwar bei den Juden Religion und
Nasse nicht trennen, weil sie von alters her mit einander verquickt sind; ich
lege deshalb auch gar keinen Wert darauf, zwischen rituellen und nationalen
Gebräuchen, zwischen Rassengemcinschaft und Religionsgemeinschaft der Juden
zu unterscheide». Mit wahrer Religion kann aber ein äußerlicher Vorgang
gar nichts zu thun haben; im Gegenteil, wenn die jüdische Religion ohne ihre
rituellen Gebräuche nicht bestehen könnte, so würde ich das als einen Beweis
ansehen, daß sie sich überlebt hat. Religion ist eine geistige Macht, und wenn
sie sich erst an körperliche Vorgänge klammert, so ist es mit ihrer Macht über
die Geister vorbei. Ich tan» mir auch nicht denken, daß das religiöse Gefühl
des Juden dadurch wesentlich vertieft würde, daß man ihn eines Teiles seines
Leibes beraubt. Gewiß würden die Juden ein großes Geschrei erheben, daß
sie in der Ausübung ihres Gottesdienstes gehindert »ut in ihrem Gewissen
schwer bedrückt würden, wollte der Staat den jüdischen Taufakt in seiner
üblichen brutalen Form verbieten. Aber wer sagt uns denn, daß der Schwarze
in Afrika uicht auch schwere Gewissenskämpfe durchmacht, wenn wir ihn hindern,
dann und wann aus religiösem Bedürfnis einen Mitbruder zu verspeisen? Die
moderne Kultur zwingt ihm rücksichtslos ihre Ansicht von solchen Dingen ans,
und sie thut Recht daran. Ja ich behaupte, der moderne Staat kann nicht
nur die Beschneidung verbieten, er muß sie sogar verbieten. Wie kann das
Gesetz, das einen Menschen mit schweren Strafen belegt, der sich selbst ver¬
stümmelt, um dem Militärdienst zu entgehen, wie kann es dieses selbe Gesetz
dulden, daß einige seiner Bürger zu einer Zeit, wo sie noch keinen freien
Willen haben, an ihrem Leibe geschädigt werden? Ist das nicht ein Verstoß
gegen denselben Grundsatz, dem die Befreiung der Juden von allen Sonder¬
gesetzen entsprang, des Grundsatzes, daß Bürgern eines Staates das Recht
nicht mit zweierlei Maß zugemessen werden darf? Wünscht man sich ein un¬
parteiisches Urteil darüber zu bilden, wie eng der jüdische Taufakt mit der
jüdischen Religion zusammenhängt, so verbiete man es bei hoher Strafe, ihn
an Personen unter fünfundzwanzig Jahren zu vollziehen. Wenn dann mehr
als ein Prozent ihn im höhern Alter noch vornehmen läßt, so kann man ihn
ja wieder freigeben. Daß aber der Staat das Recht, die Pflicht und die Macht
hat, diesen Gebrauch zu untersagen, das scheint mir außer allem Zweifel zu
stehen. Wenn etwa die Sozialdemokratie auf den Einfall geriete, sich einen
eisernen Bestand an Mitgliedern dadurch zu sichern, daß sie ihrer unmündigen
Nachkommenschaft ein L I) auf die Stirne brennen ließe, ich glaube, der Staat
würde keinen Augenblick schwanken, was er hier zu thun Hütte.
Die Schweiz hat kürzlich mit überraschender Mehrheit das jüdische Schächten
verboten, und sie hat Recht daran gethan. Um ein solches Verbot zu erlassen,
bedarf es gar nicht einmal gelehrter Gutachten, ob das Schächten dem Tiere
Qual verursache oder nicht. Dem Bewußtsein eines modernen Volks gilt es
als unwürdig, religiöse Vorstellungen mit der blutigen Hantirung des Schlächters
zu verknüpfen. Dieser Grund reicht vollkommen aus. Wer will es denn einem
Volke verwehren, die ihm widerwärtigen Reste eines barbarischen, seit Jahr¬
hunderten überwnndnen Kulturzustandes aus seiner Mitte zu entfernen? Ob
diese Gebräuche den Juden heilig sind oder nicht, das geht die modernen Völker
ganz und gar nichts an. Sind diese äußerlichen Verrichtungen mit der Re¬
ligion so verknüpft, daß diese nicht ohne jene bestehen kann, dann sind die
Juden eben in der Kultur hinter uus zurückgeblieben, und wir haben das
Recht, thuen unsre Kultur aufzuzwingen, so gut wir sie unsern neuen Unter¬
thanen in Afrika aufzwingen, denen wir auch verbieten, was uns an ihren
Sitten barbarisch erscheint, ohne uns darüber sonderliche Gewissensbisse zu
machen. Sind diese rituellen Absonderlichkeiten aber keine unzertrennlichen Be¬
standteile der jüdischen Religion, sind sie vielmehr Merkmale eines längst unter-
gegangnen, orientalischen Staatswesens von ausgeprägter Nationalität, so
brauchen die Juden keinen Lärm zu schlagen, wenn wir sie höflich ersuchen,
diese bei uns zu Lande unpassenden Sitten endlich abzulegen; denn sie behaupten
ja, kein gesondertes Volk im Staate, sondern Bürger wie alle andern auch zu
sein. Ist aber, und das ist die dritte Möglichkeit, die jüdische Religion ohne
die jüdische Nationalität nicht denkbar, ist diese Religion nur ein Teil der
Nationalität, so können wir von den Juden verlangen, daß sie mit ihrer Natio¬
nalität zwar uicht ihre Religion aufgeben, aber sie doch so reformiren, daß sie
ihre nationale Färbung verliert, d. h. daß alle äußerlichen Merkmale ans ihr
ausscheiden, die auf dem Boden des jüdischen Staatswesens, vor zweitausend
Jahren, zeitgemäß waren, es heute aber längst nicht mehr sind. Und bietet
das Strafgesetzbuch keine Handhabe, diese unzeitgemäßer Brünche zu unter¬
drücke», so muß sie ihm geschaffen werden, wie das jetzt in der Schweiz für
einen Teil geschehen ist. Denn höher als das Strafgesetzbuch mit seinen Ver¬
boten stehen die Gebote des ungeschriebnen Gesetzes moderner Sittlichkeit, die
als ein unsichtbares Band alle Kulturvölker vereinigen im Gegensatz zu mo¬
dernen Barbaren.
Nichts andres als ein Ausfluß des jüdischen Nassentrvtzes ist es auch,
daß sich die Juden immer noch weigern, denselben Wochentag zu feiern, an
dem ihre christlichen Mitbürger von der Arbeit ausruhen. Mögen sie ihre
besondern religiösen Feste feiern, wann sie wollen; auch Katholiken und Pro¬
testanten haben ja gesonderte Feiertage. Was in aller Welt aber hindert die
Juden, ihren Sabbath auf den Sonntag zu verlegen? was anders als das
trotzige Pochen auf eine Staatseinrichtung, die seit Jahrtausenden dem Unter-
gange verfallen ist? Das ist eine Unduldsamkeit — hier ist ein Ausdruck
Dührings durchaus am Platze —, die der Staat nicht dulden darf. Daß
viele Juden den christlichen Sonntag feiern, oder wenn sie es dazu haben,
Samstag und Sonntag zugleich, hat mit der Sache nichts zu thun. Es handelt
sich darum, daß es der Staat klar und deutlich ausspricht, er erkenne den
jüdischen Sabbath nicht als besondern Feiertag an.
Also keine Sondergesetze, durch die man die Juden in ihre nationale
Eigenart oder Unart wieder zurückdrängt, von der sie sich sehr allmählich frei¬
zumachen beginnen. Wohl aber besondre Gesetzesvorschriften, die unsre sittlichen
Anschauungen vor der Beleidigung durch Bräuche aus einer barbarischen Zeit
schützen, denen man den Stempel religiöser Handlungen aufdrücken möchte,
obgleich sie heute jedem echt religiösen Gefühl zuwiderlaufen. Und unter diesen
Vorschriften besonders eine, die unmündige Personen davor behütet, daß unter
dem Deckmantel religiöser Satzungen Eingriffe in ihre persönliche Freiheit
möglich sind, die sie vielleicht nicht gestatten würden, wenn sie ihre freie Selbst-
bestimmung schon erlangt hätten. Das, scheint mir, ist der natürliche Anfang
zur Lösung der Judenfrage.
MKir haben kürzlich (in dem Artikel „Zur Silberfrage") die Klage
der Bimetcillisten über den angeblichen Preisfall aller oder vieler
Waren erwähnt und schon bemerkt, daß die Zurückführung dieser
Erscheinung auf die Goldwährung samt der Klage darüber der
merkantilistischen Überschätzung des Goldes entsprächen; spricht
doch Vever in der dort kritisirten Schrift von einem „ungeheuern Weltvermögens-
verlnste." Als ob die Menschheit dadurch ärmer würde, daß die Nahrungs¬
mittel billig werden! Und als ob sie reich wäre, wenn sie in einer Teuerung
Hungers stirbt! Im Gegenteil, im ersten Falle würde sie reicher werden. Denn,
wie der alte Adam Smith gesagt hat, ein Volk ist reich oder arm, je nachdem
es viel oder wenig Güter zu verbrauchen und zu genießen hat. Der Reichtum
eines Volkes ist nicht nach seinem Kapitalbesitz zu berechnen, der unsicher und
teilweise eine imaginäre Größe ist, sondern nach seinem Einkommen. Dieses Ein¬
kommen aber besteht, wie Smith klar gemacht hat, nicht in dem Gelde, das
ein Volk, ein Mensch einnimmt, sondern in den Gütern, die er oder es dafür
eintauscht oder — falls das Geld gespart wird — später einmal dafür ein¬
tauschen kann. Weit entfernt davon, daß das Einkommen im Gelde bestünde,
kann das Geld niemals anch nur den kleinsten Teil des Einkommens aus¬
machen.") Denn wenn ein Mann jährlich 1000 Mark einnimmt und verbraucht,
so besteht doch sein Einkommen nicht in 1000 Mark in Geld 1000 Mark
in Gütern — dann bezöge er ja 2000 Mark —, sondern nur in dem einen
oder in dem andern, und da das Geld nur deu Zweck hat, ihm Güter zu
vermitteln, so muß deren Summe als das eigentliche und wirkliche Einkommen
betrachtet werden. Dazu kommt dann noch der Umstand, daß die Glieder eines
Volks niemals so viele verschiedne Geldstücke beziehen, als die Summe ihrer
Einkommen beträgt; so viel Gold und Silber giebt es gar nicht. Sondern
ein und dasselbe Thalerstück verrichtet im Laufe eines Jahres bei vielen, viel¬
leicht bei hundert und mehr Personen seinen Dienst als Einkommenvermittler
und kehrt bisweilen mehr als einmal zu ein und derselben Person zurück. Ein
Manu kann 1000 Mark, Thaler oder Gulden Einkommen beziehen, ohne auch
nur ein einziges Mark-, Thaler- oder Guldenstück zu Gesicht zu bekommen,
wie das bei Naturalwirtschaft oder Papiergeldwirtschaft wohl vorkommt. Das
Geld ist also nicht das Einkommen, sondern es mißt nur die verschiednen
Euikommen, und es vermittelt sie. Geld, sagt Adam Smith, ist das große
Rad, das die Güter umtreibt. Er meint deshalb auch, es sei an und für sich
kein Grund vorhanden, dieses Rad aus einem so kostbaren Material anzu¬
fertigen, wie Gold und Silber sind, das billige Papier thue es auch; warum
sollte diese Maschine eine Ausnahme machen von der allgemeinen Regel, uach
der man alle Maschinen so billig wie möglich herstellt? Zu entbehren sind
freilich vorläufig Silber und Gold auch beim allgemeinen Gebrauch papierncr
Umlaufsmittel noch nicht. Denn ihr Vorrat in den Landesbanken ist es, der
dein Papiergelde Tauschkraft verleiht, und sie dienen dazu, die Bilanz im
internationalen Warenhandel Herzustellen, indem der Überschuß der Einfuhr
eines Landes über seine Ausfuhr dem kreditircnden Laude in Gold oder Silber
ausgezahlt werden muß. Konnten diese beiden Aufgaben auf andre Weise erfüllt
werden, so stünde nichts im Wege, Smiths Rat zu befolgen und das große Rad
des Weltverkehrs ganz aus billigem Papier anzufertigen. Aus dieser Natur
des Geldes geht hervor, daß zwar eine fehlerhafte Konstruktion der Maschine,
eine falsche Währungspoltik sehr empfindliche Störungen im Verkehr hervor¬
bringen und einer Menge von Personen ihr Einkommen vorübergehend schmälern
kaun, wie das jetzt die Bürger der Vereinigten Staaten zu ihrem Schaden
erfahren müssen, daß aber Wachstum und Abnahme des Volksvermögens im
allgemeinen so wenig von der Währungspolitik abhängen können, wie etwa
die Obsternte vom Dezimal- oder Duodezimalmaß und das Gedeihen des Rind¬
viehs von der Beschaffenheit der Viehwaagen. Mögen übrigens die Theo¬
retiker der Doppelwährung die Sache auffassen, wie sie wollen, ihrem Heer¬
bann in den Parlamenten und in den politischen Parteien ist es nicht sowohl
um Silber- oder Doppelwährung, als um schlechte Währung zu thun. Denn
sie Preisen unaufhörlich die glückliche Lage der ungarischen und der russischen
Gutsbesitzer, denen ihre unterwcrtigen Gulden und Rubel die Dienste eines
Schutzzolls erwiesen. Dieses Vorteils können wir Reichsdeutschen mit der Zeit
auch bei Goldwährung teilhaftig werden, sobald unser Kredit so auf dem Hunde
sein wird wie der russische, worauf wir ja beim stattlichen Wachstum unsrer
Reichsschuld gegründete Aussicht haben. Wenn erst alle modernen Staaten
bankrott sein werden, dann wird jeder vor dem andern trefflich geschützt sein
und ganz allein für sich im Sumpfe umkommen, ohne von den übrigen be¬
lästigt zu werden.
Wie steht es aber mit dem angeblichen allgemeinen Preisfalle, den die
Goldwährung verschuldet haben soll, indem sie die verwendbare Menge der
Zahlungsmittel einschränkte? An und für sich betrachtet, könnte sie diese Wirkung
recht wohl gehabt haben. Es fragt sich aber, ob sie sie wirklich gehabt hat.
und ob das ein Unglück ist.
Die Wörter teuer und wohlfeil bezeichnen das Verhältnis des Edelmetall¬
preises zum Preise der übrigen Waren. Wenn man im Jahre 1200 für ein Pfund
Gold oder Silber zehnmal so viel Güter bekam wie heute, so waren damals
die Waren zehnmal so wohlfeil, oder, was dasselbe ist, die Edelmetalle zehnmal
so teuer wie heute. Eben deswegen, weil damals die Edelmetalle zehnmal so
selten und daher zehnmal so teuer waren, hatten sie zehnmal stärkere Kauf¬
kraft, waren also die Waren zehnmal so billig. Der gewaltige Unterschied
zwischen dem mittelalterlichen und dein modernen Warenpreise beruht der Haupt¬
sache nach auf der Zunahme des Edelmetallvorrats seit jener Zeit und auf
der entsprechend gesunknen Kaufkrnft des Goldes und Silbers.
Es ist nun klar, daß zwar der Übergang von dem einen zum andern
Preisstande desto größere Nöte erzeugen muß, je plötzlicher er eintritt, daß
aber nach erfolgter Ausgleichung der eine Zustand ganz so gut ist wie der andre.
Sinkt der Edelmetallwert durch die Zunahme des Vorrath plötzlich, wird Heuer
vielleicht doppelt so viel Gold oder Silber erfordert, die zum Lebensunterhalt
nötigen Güter zu kaufen, als vorm Jahre, so geraten dadurch alle Personen,
deren Einkommen das nach dem vorjährigen Maßstabe zum standesgemäßen
Leben erforderliche nicht wesentlich übersteigt, in die entsetzlichste Not. Es
sind dies die Lohnarbeiter, die mittlern und kleinen Beamten, die kleinen Rentner.
Landwirte dagegen, Handwerker, Kaufleute und Fabrikanten passen sich der ver¬
änderten Lage am schnellsten an, oder vielmehr sie sind es eben, die durch
Preisaufschläge die Lage verändern. Mit der Zeit steigen die Einkommen der
übrigen Stunde entsprechend, und wenn die Ausgleichung vollendet ist, ist alles
wieder so wie vorher. Es ist vollkommen gleichgiltig, ob der Sack Roggen
einen Thaler oder zehn Thaler kostet, vorausgesetzt, daß im zweiten Falle die
Besoldungen und Arbeitslöhne zehnmal so hoch sind wie im ersten. Die Ein¬
führung der Goldwährung könnte demnach, als Beschränkung der Zahlungs¬
mittel des Weltmarkts, recht wohl das Geld teurer und die Güter billiger
gemacht haben, und das würde ein Vorteil für einige Klassen von Konsu¬
menten, ein Nachteil für manche Produzenten gewesen sein; allein mit der Zeit
würden die Besoldungen, die Grundstückpreise, die Leihkapitalien entsprechend
sinken, und nach Herstellung des Gleichgewichts würde alles wieder so sein
wie zuvor.
Diese Art von Teurung und Billigkeit, die auf der vorhandnen Menge
von Edelmetall beruht, ist demnach für das Volkseinkommen und das Volks¬
wohl gleichgiltig. Nur von den Übergängen von einem Preisstande zum andern
wird das Volkswohl berührt, und von den Verschiebungen der Warenpreise
und der Einkommen bei unverändertem Stande des Edelmetallpreises. Wird
bei gleichbleibendem Edelmetallvorrat die Produktionsweise in einzelnen Zweigen
der Landwirtschaft oder Industrie derart verbessert, daß die Prvduktenmenge
stärker wächst als die Bevölkerung, so werden diese Produkte billiger, ohne
daß sich die Edelmetallmenge verringerte, und diese Art von Verbilligung be¬
deutet eine Erhöhung aller Einkommen, indem sich jeder mit derselben Geld¬
summe eine größere Menge jener Produkte verschaffen kann. Ob aber diese
Einkommenerhöhung die Lage des Volks verbessert, und in welchem Grade, das
hängt davon ab, welcher Art die Güter sind, deren Menge vermehrt wird.
Je wertvoller für den Gebrauch und je allgemeiner nötig sie sind, desto mehr
bedeutet ihre Vermehrung, die den Preis ermüßigt, eine Erhöhung des Volks¬
einkommens und eine Vermehrung des Volkswohls. Deshalb steigen das
Volkseinkommen und das Volkswohl in dem Maße, als gute Wohnung, Nah¬
rung und Kleidung billiger werden; denn auf diese drei Arten von Güter»
beschränkt sich das Einkommen von neun Zehnteln des Volks; billig, meinen
wir also, nicht durch Verteuerung der Edelmetalle, sondern bei gleichbleibendem
Edelmetallpreise billig im Vergleich zu den Luxuswaren, zu den Arbeitslöhnen,
zu den kleinen Besoldungen und Renten. Für die Grundbesitzer bedeutet die
Verbilligung der Wohnungen und Lebensmittel einen Verlust, aber nur in dem
Maße, als ihr Besitz groß und ihr Einkommen nicht Arbeitslohn, sondern
Rente ist. Der Kleinbürger, der sein Hänschen selbst bewohnt, der mit Natu¬
ralien abgelohnte ländliche Arbeiter, der Kleinbauer, der seinen Roggen selbst
aufißt, diesen allen sind die Grundstückpreise und die Kornpreise gleichgiltig.
Was aber die Grundrentner anlangt, so wird von dem Nachteil nicht ihr
Stand überhaupt betroffen — denn die Grundstückpreise folgen den Preisen
der Produkte, und bleibt der Roggen billig, so wird mit der Zeit auch das
Bauerngut billig —, sondern nur die darunter, die ihren Grundbesitz in der
teuern Zeit gekauft haben. Wenn aber keinem das Recht bestritten wird, auf
billig gekauften Lande bei steigender Grundrente und steigendem Grundstück-
Preise reich zu werden, so hat auch keiner das Recht, den Staat und die Ge¬
setze anzuklagen, wenn er bei umgekehrter Preisbewegung arm wird. Wer die
Unglücksfälle gesetzlich ausschließen will, der muß auch die Glücksfülle aus¬
schließen, auf das Reichwerden verzichten und den Kommnnistenstaat fordern.
Das Volkswohl wird durch solches Glück und Unglück einzelner Grundbesitzer
nicht berührt.
Sind nun die hauptsächlichsten Einkommengüter seit 1873 im Preise der¬
art gefallen, daß man von einem allgemeinen Sinken der Warenpreise sprechen
könnte? Den Behauptungen der Bimetallisten widersprechen zunächst die Klagen
aller Beamtenklassen, die unter Berufung auf eine angebliche Verteuerung des
Lebensunterhalts allesamt Aufbesserung verlangen, und es würde kaum die
Mühe lohnen, jene Behauptungen ernstlich zu prüfen, wenn nicht in den letzten
beiden Jahren auch sehr angesehne Organe der öffentlichen Meinung dem Be-
denken Raum gegeben hätten, ob nicht infolge der durch die neue Währung
verschuldeten Geldknappheit ein allgemeiner Preisfall eingetreten sei.
Verschiedne Statistiker, die auch Bever erwähnt, haben den Preisfall nach¬
zuweisen gesucht. An einigen hundert Warcnsorten ist die Preisbewegung ver¬
folgt worden. Aber wenn auch einige tausend Warensorten billiger geworden
wären, so lange Wohnung, Kleidung, Nahrung und Heizung nicht billiger ge¬
worden sind, kann man von einem allgemeinen Preisrückgänge nicht sprechen;
diese Güter allein wiegen viele tausend für das Volkswohl gleichgiltige Handels¬
artikel ans.
Bever beruft sich namentlich ans Giffen, der den Preisfall seit 1873,
für England wenigstens, an Eisen, Kupfer, Kohlen, Weizen, Baumwolle, Wolle
und Zucker nachweist, und führt auch die steigende Verlegenheit der englischen
Banmwvllenindustrie auf die Goldwährung zurück. Es ist doch aber klar, daß
das Schicksal der Textilindustrie aller Länder bei jeder Art von Währung un¬
abwendbar ist. Die Maschinenspinnerei und -Weberei, die noch immerfort ver¬
vollkommnet wird, und die sich mehr und mehr über alle Kulturstaaten ver¬
breitet, hat die Produktion dermaßen erleichtert, daß es kein noch so toller
Modewechsel dem Weltmarkte möglich machen kann, die ungeheuern Gewebe-
masfen, die alljährlich erzeugt werden, zu verdauen, und keine Macht der
Erde und keine Währungspolitik vermöchte unter diesen Umständen den Ge¬
weben auf die Dauer lohnende Preise zu sichern. Der Zuckerkrach sodann ist
bekanntlich durch die Exportprämien verschuldet worden. Das Eisen kämpft
nicht erst seit 1873. Der Aufschwung der Maschinentechnik, die Eisenbahn¬
bauten, die großen Kriege und der bewaffnete Friede haben die Eisenindustrie
groß gemacht. Allein der Eisenbahnbau kann, nachdem die wichtigsten Netze
ausgebaut sind, nicht in demselben Tempo fortschreiten, auch sür den Bedarf
der Industrie und der Landwirtschaft an Maschinen giebt es einen Sättigungs¬
grad, und dem guten Willen der Regierungen und Parlamente, den Eisen¬
industriellen mit neuen Gewehren, Kanonen und Panzerschiffen zu Hilfe zu
kommen, zieht die erschöpfte Steuerkraft der Völker alljährlich immer engere
Grenzen. Auf diesen sehr natürlichen Gründen beruht der Fall des Eisen¬
preises. Von der Eisenindustrie häugen die Kohlenpreise ab, von deren Sinken,
nebenbei bemerkt, der gemeine Mann beim Einkauf seines Feuerungsmaterials
nicht viel spürt, da die Großhändler durch Ningbildung den Gewinn in ihre
Taschen zu leiten verstehen. Außerdem hat die fortschreitende Maschinentechnik
auch die Kohlengewinnung erleichtert und 'gefördert. Wenn aber der Getreide¬
preis gegen früher gefallen oder wenigstens nicht gestiegen ist, so haben wir
das nicht der Goldwährung, sondern bekanntlich dem nordamerikanischen Weizen¬
bau zu verdanken, der erst seit 1870 einen so gewaltigen Umfang ange¬
nommen hat.
Fragen wir nun, wie es sich mit den Preisen jener hauptsächlichsten Güter
verhält, die den größten Teil des Volkseinkommens ausmachen, so sind aller¬
dings die meisten Kleiderstoffe aus dem angeführten Grunde billiger geworden;
die meisten, sagen wir, nicht alle, weil Tuch seinen Preis so ziemlich behauptet.
Stiefel und Schuhe werden eher teurer als billiger. Die Wohnung wird stetig
teurer. Bei den Nahrungsmitteln ist zwischen den animalischen und den vege¬
tabilischen zu unterscheiden. Die erstem behaupten nicht allein ihren Preis,
sondern werden eher teurer als billiger. Im Handwörterbuch für Staats¬
wissenschaften, Band 3, S. 566 ff. finden wir folgende Angaben. Der Preis
des Rindfleisches und Schweinefleisches, in Pfennigen für 1 Kilogramm aus¬
gedrückt, ist in der Zeit von 1811 bis 1890 gestiegen in Berlin von 89 und
90 auf 126 und 144, in Halle vou 77 und 96 auf 126 und 135 Pfennige.
In deu Jahren 1861 bis 1890 ist der Preis beider Fleischsorten gestiegen:
in 165 Städten Preußens von 88 und 105 auf 117 und 128, in Baden von
121 und 125 auf 136 und 141, in Wien von 103 und 125 auf 136 und
141, in Frankreich (wo der Nachweis bloß bis 1887 reicht) der des Rind¬
fleisches von 111 auf 149 Pfennige, während Schweinefleisch, wie am Anfang
der Periode, auf 122 steht.
Sauerbeck und Soetbeer haben die Preise untersucht — der eine von 45 Ar¬
tikeln für London, der andre von 114 für Hamburg; Sauerbeck setzt die Durch¬
schnittspreise der Periode 1867 bis 1877, Soetbeer die von 1847 bis 1850
— 100, und beide berechnen darnach die Verhältniszahlen der Fleischpreise wie
der Durchschnittspreise jener 45 und 114 Artikel sür die Jahre vor und nach
jener Periode. Sauerbeck findet für London einen mäßigen Preisrückgang der
animalischen Nahrungsmittel von 90 in den Jahren 1818 bis 1827 aus 82
im Jahre 1890 (höchster Preis 104 im Jahre 1884, also nach 1873) und
für die Gesamtheit der in Betracht kommenden Waren von 111 (das zugleich
der höchste Preis ist) auf 73. Nach Soetbeer ist der Durchschnittspreis aller
Produkte der Viehzucht und Fischerei von 100 im Jahre 1847 auf 130 im
Jahre 1888 und für die sämtlichen 114 Artikel von 100 auf 102 gestiegen.
Für Ochsenfleisch, Kalbfleisch, Hammelfleisch und Schweinefleisch besonders lauten
die Zahlen des Jahres 1890: 158, 186, 147, 148.
Was das Getreide anlangt, so ist der Preis für 1000 Kilogramm Roggen
in Preußen von 151,8 Mark im Jahre 1816 auf 167 Mark im Jahre 1890
gestiegen; deu höchsten Durchschnittspreis von 170,8 Mark ergeben die Jahre
1871 bis 1875. Vou einem stetigen Fallen nach 1873 ist keine Rede; der
Preis steigt und fällt nach wie vor 1873 und wie zu allen Zeiten nach dem
wechselnden Erntcausfall, In England allerdings ist der Weizenpreis, obwohl
unter großen Schwankungen, seit 1816 stetig und bedeutend gefallen, nämlich
von 364 auf 147,8 Mark. Man muß aber auch bedenken, erstens, daß in
England wegen des enormen Reichtums der reichen Leute, worin es bis um
die Mitte des Jahrhunderts eine Ausnahmestellung in der Welt einnahm, der
Geldwert geringer war als in allen übrigen Ländern, und daß sich dieser
Unterschied seitdem ausgeglichen hat; zweitens, daß die englischen Getreidepreise
im Anfange des Jahrhunderts für die ärmern Klassen unerschwinglich waren,
und daß unter diesen bis in die dreißiger Jahre wirkliche Hungersnot herrschte.
Wenn in Deutschland die Nahrungsmittel heute durchschnittlich nicht viel
höher stehen als 1816, so bedeutet das allerdings schon eine Verbilligung,
weil ja seit der Erschließung der kalifornischen Lager der Preis der Edelmetalle
stetig gesunken ist. Dieser Vorteil für die untern Klassen wird aber einerseits
durch Verteuerung der Wohnung aufgehoben, andrerseits durch die Ausgaben,
zu denen die von den höhern Klassen ausgehende stetige Erhöhung der Lebens¬
führung, die Polizei, die Schule, der Staat nötigen.
Das Ergebnis unsrer Untersuchung lautet: 1. Ein allgemeines Sinken der
Warenpreise seit 1873 ist nicht nachzuweisen. 2. Im Gegenteil, die stetige Zunahme
der Edelmetallmeuge seit der Mitte unsers Jahrhunderts würde sehr empfindliche
Preissteigerungen zur Folge haben, wenn nicht bei den Jndustrieerzeugnissen
die verbesserte Technik, bei den Nahrungsmitteln der erleichterte Handelsverkehr
entgegenwirkte. Sollte die Einführung der Goldwährung 1873 in demselben
Sinne gewirkt und die Preissteigerung ein wenig gehemmt haben, was sich
jedoch nicht genau erkennen läßt, so würden wir darin nicht ein Übel, sondern
eine Wohlthat sehen. 3. Sollte irgend einmal irgendwelche Währnngspolitik
— was aber sehr unwahrscheinlich ist — dauernde allgemeine Billigkeit oder
dauernde allgemeine Teuerung in dem zuerst erklärten Sinne erzeugen können, so
wäre das ganz gleichgiltig sür das Volkswohl. Dieses wird, abgesehen von den
allerdings nieist schmerzlichen Übergängen, nur durch allgemeine Preisäuderungen
der an zweiter Stelle erklärten Art berührt, d. h. durch solche, die nicht von
der Vermehrung oder Verminderung des Geldvorrath, sondern von der Ver¬
minderung oder Vermehrung der Gütermenge im Verhältnis zur Volkszahl
verursacht werden, und zwar bedeutet dann die Wohlfeilheit ein Glück, weil
sie die Wirkung einer vermehrten Gütermenge, also einer Erhöhung des Volks-
eiukommeus ist.
ird nun gefragt, worin eigentlich der Unterschied zwischen der
althellenischer und der christlichen Volksmoral bestehe, so müssen
wir zunächst jene übernatürliche Tugend des wiedergebornen
Menschen, von der uns die Theologen in taufenden von Büchern
und Schriften so viel Schönes erzählen, von der man aber im
Leben so gar nichts spürt, beiseite lassen; sind wir doch schon froh, wenn es
die Leute, mit denen wir zu thun haben, an der gewöhnlichen Rechtschaffen-
heit nicht fehlen lassen, und hoch beglückt, wenn wir einen Edelsinn finden,
wie er auch so manchen Heiden geschmückt hat. Aber auch dem kann ich nicht
beistimmen, was Döllinger in dein mehrfach angeführten Werke über deu Unter¬
schied sagt: „Die Neigung der Menschen überhaupt, die sittliche Verantwort¬
lichkeit für ihre bösen Thaten von sich weg und ans eine außer ihnen befind¬
liche Macht zu schieben, war bei den Griechen nicht minder geschäftig als bei
andern Völkern; und so fehlt es denn nicht an Stellen, in denen die böse,
fluchwürdige That damit entschuldigt wird, daß der Trieb zur Begehung mit
unwiderstehlicher Gewalt vom Schicksal oder von den Göttern in die Seele
des Menschen gelegt worden sei." sind wir denn im Christentum auch nur
einen Schritt weiter gekommen? Sagt nicht Christas (Joh. 8) seineu Zuhörern,
sie hätten nicht Gott, sondern den Teufel zum Vater, dessen Gelüste in ihnen
lebten? Sagt er nicht (Joh. 17), er bitte nicht für die Welt, sondern nur für
die, die ihm der Vater gegeben habe, die zwar in der Welt lebten, aber nicht
von der Welt feien? Schreibt nicht Paulus (Rom. 9), Gott selbst habe den
Pharao verstockt, und Gott bereite die Gefäße des Zorns zur Verdammnis,
wie der Töpfer aus demselben Stoff nach Belieben Gefäße zur Ehre und Ge¬
fäße zur Unehre mache? Haben nicht die größten Theologen von Nngustinns
bis Calvin und Janscnius, auf solche Stellen gestützt, der schrecklichen Lehre
von der ewigen Vorherbestimmung der Mehrzahl aller Menschen zur ewigen
Verdammnis gehuldigt? Machen nicht die strengen Lutheraner der katholischen
Kirche noch heute deu Vorwurf, sie sei semipelagianisch, weil sie die Wahl¬
freiheit lehre, die Erlösung und Seligkeit von der freien Mitwirkung des
Menschen abhängig mache? Und ist diese katholische Lehre, so schön sie klingt,
etwas andres als eine Reihe schön klingender Worte? Daß da in Worten der
Schöpfer von aller Schuld an dem Schicksale der Geschöpfe rein gewaschen
wird, ist freilich richtig; aber wer versteht diese Worte? Wer versteht es, daß
Gott nicht die Ursache des sittlich Bösen und der ewigen Verdammnis der
ungeheuern Mehrzahl der Menschen sei, wenn er diese Welt schafft, obwohl
er vorher weiß, daß alles so kommen werde, wie es in Wirklichkeit gekommen
ist? Und bekennt sich nicht heute alles, was auf Wissenschaft Anspruch macht,
zum Determinismus? Natürlich ohne die allmächtige und unwiderstehliche Ur-
kraft in ein Jenseits fortwirken zu lassen, da man meint, es sei des Übels im
Diesseits schon gerade genug. Und wenn die Deterministen, teils aus Rück¬
sicht auf die löbliche Obrigkeit, teils weil sie aufrichtig ihre Mitmenschen lieben
und diese durch rücksichtslose Folgerichtigkeit zu schädige» fürchten, die mensch¬
liche Verantwortlichkeit retten wollen, sind da etwa die zu diesem Zweck auf¬
gewendeten scholastischen Künste mehr wert als die Kunststückchen, womit die
Theologen den Schöpfer von der Verantwortung für seine Kinder die Teufel
zu entlasten und alle Verantwortung für alles Unheil den Geschöpfen aufzu¬
bürden suchen?
Es ist richtig, die griechischen Tragiker lehren, teils mehr philosophisch,
daß eine allmächtige Notwendigkeit (heute nennt man sie das Kausalitätsgesetz)
Götter und Menschen beherrsche, teils mehr theologisch, daß die Götter die
Sterblichen verblendeten, um sie für ihre Zwecke zu gebrauchen; daß ins¬
besondre die Naturtriebe und die daraus entspringenden Leidenschaften unwider¬
stehlich seien. Als den Humor seine Liebe zu Antigone mit dein Vater ver¬
feindet, da singt der Chor zum Gott Eros: „Niemand kann dir entrinnen,
kein Unsterblicher, keiner aus der Menschen Tagcsgeschlecht; wen du fassest,
der raset. Reißest auch des gerechten Mannes Sinn zu kränkender Unbill
fort; hast auch jetzt den Hader erregt, welcher Vater und Sohn entzweite."
Und Jason schreibt alles, was Medeia für ihn gethan hat, der Gunst Aphro-
ditcns zu. Medeia selbst macht die Götter nicht so unbedingt für die eignen
Verbrechen verantwortlich. Sie müsse, spricht sie zu dem Pädagogen, not¬
wendigerweise das Schreckliche thun, das sie beschlossen habe: „Denn solches
hat ein Gott und mein verkehrter Sinn mir zugeteilt." Und in den Troerinnen
widerspricht Hekabe der Helena, die alles auf Aphrodite schieben möchte.
„O mache doch die Götter nicht zu Thoren, und beschönige nicht dein Ver¬
brechen! Mein Paris glänzte Göttern gleich an Wohlgestalt; dein Sinn, der
ihn erblickte, ward zur Kyprin." Einen Versuch, das Rätsel zu lösen, macht
Euripides im Hippolytus, indem er der Phädra die Worte in den Mund legt:
Nimmer glaub ich, daß aus angeborner Art
Der Mensch das Schlimmre wähle — ward so viele» doch
Einsicht des Rechten; sondern also seh ichs um:
Das Tugendhafte wissen und erkennen wir,
Thuns aber nicht; ans lasser Trägheit einige,
Und andre wieder, weil sie irgend andre Lust
Vorziehn der Tugend.
Ganz ähnlich hat sich Augustinus ausgedrückt in der ersten Zeit, nachdem er
sich vom Manichnismus losgerungen hatte; niemand wähle das Böse um des
Bösen willen, sondern nnr durch den Schein eines Gutes getäuscht. Man
sieht, an Bemühungen, das furchtbare Geheimnis zu ergründen, haben es die
Alten nicht fehlen lassen; wie hätte ihnen gelingen können, was bis auf den
heutigen Tag niemandem gelungen ist?
Weiter sagt Döllinger: „Waren nun auch die tragischen Dichter die Nor-
stelluugen vom Schicksale zu veredeln beflissen, so brachte es das griechische
Bewußtsein doch zu keiner Theodicee, und mochte auch in einzelnen Momenten
die Idee einer ethischen Weltordnung blitzartig aus dem umgebenden Dunkel
des polytheistischen Mythen- und Götterwesens aufleuchten, so ward es gleich
wieder verfinstert und verunstaltet. Der Hauptgrund lag darin, daß den
Griechen ein lebendiger Begriff vom Wesen des Bösen, der Sünde und die
Einsicht in dessen Ursprung mangelte. Selbst die Sprache bot keine präzisen
Bezeichnungen für das moralisch Böse, die Sünde dar; dasselbe Wort galt
auch für das physische Übel, und ebenso wenig konnte das positiv Böse von
dem Schlechten oder Geringen sprachlich gesondert werden." Also die Griechen,
deren Einbildungskraft die Gestalten der Eumeniden geschaffen hat, sollen keinen
lebendigen Begriff von der Sünde gehabt haben? Wo findet man denn heute,
von einzelnen Personen und kleinen Konventikeln abgesehen, im Volke ein so
tiefes und lebhaftes Schuldbewußtsein, wie es nach dem Zeugnis der Orestes¬
tragödien bei den Alten geherrscht haben muß? Was Döllinger von den Be¬
zeichnungen sagt, ist doch nur Silbenstecherei. Auch der Deutsche spricht von
einem bösen Finger und einem bösen Fall, und auch der Franzose gebraucht
wÄuvg-is und raal, der Italiener Licktwo unterschiedslos für das physische und
das moralische Übel. Um aber das „positiv Böse" auszudrücken, muß auch
Döllinger das lateinische Beiwort „positiv" zu Hilfe nehmen, und ist auch so
noch nicht sicher, ob er allgemein wird verstanden werden. Ich meinerseits
denke mir unter dem positiv Bösen die teuflische Bosheit eines Menschen, in
dem der letzte Rest vou Liebe erstorben ist, und der keinen andern Genuß
keimt, als seinen Mitmenschen Leid zuzufügen. Aus der griechischen Geschichte
ist uns kein solches Ungeheuer bekannt, und so hatten die Griechen auch keine
Veranlassung, für das „Positiv Böse" eine besondre Bezeichnung zu erfinden.
Daß aber die „Einsicht in den Ursprung des Bösen," die das Christentum
gewährt, so gut wie keine Einsicht sei, habe ich schon ausgeführt. .
Einen Vorwurf allerdings sind der Puritaner und der katholische Asket
von ihrem Standpunkte aus gegen die Hellenen zu erheben berechtigt: daß
sie sich vom Schuldbewußtsein, wie lebhaft sie es auch in einzelnen geweihten
Stunden empfunden haben mögen, niemals haben übermannen, sich niemals
ihre Heiterkeit dadurch haben trüben lassen. Aber indem Gott den Hellenen
diese Gemütsart verlieh, hat er allen spätern Geschlechtern eine unschätzbare
Wohlthat erwiesen. Glücksgefühl und Güte siud unzertrennlich von einander.
Leid bessert den Menschen nur, wenn es rasch vorübergeht, dauerndes Leid
verschlechtert fast immer den Charakter, und tiefes Schuldbewußtsein ist das
schlimmste Leid. Wo es sich einfrißt, da macht es Heiden wie Christen zu
Fanatikern und zu Teufeln. Man stelle sich vor, auch die Hellenen wären
vom Schuldbewußtsein und von der Furcht vor dem strafenden Zorne der
Gottheit übermannt worden! Sie hätten dieser zürnenden Gottheit entweder
wie die Semiten Kinder verbrannt oder gleich den Azteken Erwachsene ge¬
opfert unter so grausamen Martern, wie sie in den häßlichen Fratzenbildern
dieses zum Glück für die Menschheit wenigstens als Nation ausgerotteten
Volkes dargestellt werden, oder sie hätten alle Menschen, die nicht an Zeus
glauben wollten, gefoltert, verstümmelt und dann lebendig verbrannt, oder sie
Hütten, anstatt ihre fröhlichen Dionhsosfeste zu feiern, allwöchentlich einmal
mit Heulen und Zähneklappen eine siebenstündige Schilderung der Höllenstrafen
angehört. Sie würden dann entweder gar keine Skulpturen und Gemälde
hinterlassen haben, oder scheußliche Fratzen und Darstellungen von Marter¬
szenen, die den Geist verdüstern und zu wilder Grausamkeit entflammen. Um
wie viel tausend Scheusale und um wie viel Millionen Verbrechen würden
diese „Kunstwerke" die Masse des Bösen auf der Erde vermehrt haben! Wie
viel haben dagegen die uns vom Hellenenvolk wirklich hinterlassenen Kunst¬
denkmäler dazu beigetragen, das Fieber wilder Grausamkeit, dem die euro¬
päische Christenheit vou Zeit zu Zeit verfüllt, zu heilen, uns wieder menschen¬
freundlich, heiter und gut zu machen! Es ist doch etwas Großes, daß sich
unter den vielen tausend uns trotz aller Zerstöruugsarbeit barbarischer Jahr¬
hunderte erhaltenen bildlichen Darstellungen der hellenischen Kunst bis in die
Römerzeit hinein so äußerst wenige sich finden, die Mordszenen darstellen,
und — so viel ich weiß — gar keine Marterszenen;") Fratzen aber nur zum
Zweck der Komik. Der Geist, der aus alleu diesen in ihrem Charakter über¬
einstimmenden Bildern spricht, kann kein andrer als ein freundlicher Geist
gewesen sein, und ein freundlicher Geist ist niemals ein schlechter Geist, ge¬
schweige denn ein böser. Glückliche, an Leib und Seele vollkommne Menschen
zu schauen, war die höchste Freude der Hellenen, und diese Stimmung der
Seele ist unvereinbar mit der bewußten Absicht, Menschenglück zu zerstören,
also mit dem „positiv Bösen." Dem Griechen genügte ein Blick auf die
Eumeniden, um sich vom Bösen schaudernd abzuwenden; den christlichen
Fanatiker bezaubert der Anblick des Teufels, sodaß er sich mit seiner Phan-
kahle in die Hölle hineinstürzt und selbst ein Teufel wird. Danken wir Gott,
daß er uns in der griechischen Kunst ein Heilmittel gegen diese Seelenkrankheit
bereitet hat!
Nicht also in der Sittlichkeit selbst liegt der Unterschied zwischen Althcllas
und dem Christentume, sondern in den religiösen Stützen des sittlichen Lebens.
Die christlichen Apologeten haben vollkommen Recht, wenn sie darauf hin¬
weisen, wie wenig die Liebesgeschichten und Händel der Götter geeignet waren,
den frommen Verehrer zu bessern und zu erheben, während die christliche
Dreieinigkeit in der Seele ihres Anbeters nur würdige und erhebende Vor¬
stellungen erregt. Doch sollte man die entsittlichende Wirkung der Mytho¬
logie nicht in dem Grade übertreiben, wie es gewöhnlich geschieht. Nur der
grübelnde Philosoph verfiel darauf, daß aus deu Göttergeschichten gefährliche
Folgerungen abgeleitet werden könnten, und unter den Tragikern ist es nur
der philosophisch gebildete Euripides, der solche Erwägungen anstellt. Dem
gemeinen Manne blieben die Ehebruche der Götter Mysterien, über die er
nicht weiter nachdachte; ihm waren die Götter der Hauptsache uach nicht allein
Spender aller guten Gaben, sondern trotz aller Widersprüche in ihrem Cha¬
rakter auch die Rächer alles Bösen. Es waren immer nur einzelne freche
Vnrschen, die vor einem Lcdabilde sagten: „Zeus selber hat Ehebruch ver¬
übt, und ich Menschlein sollte besser sein als er?" Die Masse ließ sich durch
solche Widersprüche in der Volksreligion so wenig irre machen, wie unser heutiges
Volk, soweit es noch nicht von der Gedankengährung der gebildeten Stände
ergriffen ist, durch die bedenklichen Erzählungen des Alten Testaments. Sind
doch auch nicht alle Thaten des Heilands zur Nachahmung geeignet. Und
zwar hat diese unbefangne, unbeirrte Gläubigkeit, wie Friedländer in seiner
römischen Sittengeschichte nachweist, bis in die letzten Zeiten des antiken
Heidentums, bis zur Völkerwanderung fortgedauert. Andrerseits darf nicht
übersehen werden, daß es ja den Bewohnern Griechenlands und Italiens gar
nicht eingefallen ist, beim Übertritt zum Christentum ihren Olymp preiszugeben.
Sie haben ihn bekanntlich mitgenommen und den Hofstaat des dreieinigen
Gottes daraus gemacht. Von den drei göttlichen Personen ist es nur die
menschgcwordne, zu der sie ein näheres Verhältnis gewonnen haben; mit den
andern beiden, die sich nicht vollständig vermenschlichen lassen, wissen sie nicht
viel anzufangen.
Weit kräftiger als die reinere und einfachere Vorstellung von Gott wirkt
der feste Glauben an die persönliche Unsterblichkeit des Menschen; ja erst
hierdurch erlangt der gereinigte Gottesbegriff praktische Vedentnng. Die
Griechen glaubten nur an ein Schattendasein nach dem Tode, das eigentlich
nichts wert sei. Der ganze Wert des Daseins lag für sie im Diesseits.
Daraus folgte, daß, wenn es eine sittliche Weltordnung, eine göttliche Ge¬
rechtigkeit gäbe, sie sich unbedingt im irdischen Leben offenbaren und durch-
setzen müsse. Da nun das Herrlichste auf Erden, die leibliche und geistige
Blüte des Menschen, vergänglich und von kurzer Dauer ist, spätestens im
Tode und oft schon vor dem Tode verwelkt, da ferner auf Erden oft Un¬
recht und Unvernunft zu siegen scheinen, so mußte diese Wahrnehmung
Menschen, die an keine Ergänzung des Diesseits durch ein Jenseits glaubten,
tief erschüttern. „O Menschengeschick! — singt der Chorführer im Aga-
memnon —, Wenns glückt, ein Bild ists, stolz zu schauen; das mißlungne,
ein feuchter Schwamm fährt drüber hin und löscht es weg; und mehr als
jenes thut mir solch Verlöschen weh." Ein leeres Traumbild nennt sich
Ödipus in den Phönikerinnen, düstres Wahngebild der Chorgreis im rasenden
Herakles. „Jetzt seh ichs deutlich — ruft Odhsseus schmerzlich ergriffen beim
Anblick des wahnsinnig gewordnen Aias —, alle, die wir leben, sind doch
nichts als Scheiugestalteu, leere Schatten nur!" Deu berühmten pessimistischen
Schlußchor des Hippolytus brauchen wir, da er allgemein bekannt ist, nicht
erst anzuführen. Und von dieser Nichtigkeit des irdischen Lebens und alles
irdische» Strebens überwältigt, mochte sich der Heitere wohl zuweilen fragen,
ob es sich lohne, aus Pflichtgefühl einer Versuchung zu widerstehen, einem
augenblicklichen Genuß oder Vorteil zu entsagen. Sich alle ernsten Sorgen
aus dem Sinne zu schlagen und die Gaben des Augenblicks zu genießen,
schien so gestimmten die einzige vernünftige Philosophie zu sein. Da der
Durchschnittsgrieche zu heiter war, Pessimist zu werden, mußte ihn seine Re¬
ligion zum Hedoniker machen, sobald er anfing, über seinen Götterglaubeu
nachzudenken und ihn kritisch zu zersetzen. Die Götter erschienen nur als ver¬
körperte Abstraktionen, als Sinnbilder von Naturgewalten, von Trieben, von
Leidenschaften, von Tugenden und Lastern. Damit verloren sie für den
Sünder das schreckende, um so mehr, als die tägliche Erfahrung statt der
waltenden Gerechtigkeit eher das Gegenteil erkennen zu lassen schien. Neo-
ptolemos berichtet dem Philoktet über die vor Ilion gefallnen Helden und be¬
merkt dazu: „Niemals raffet gern der Krieg den schlechten Mann hin, nur
die Edeln nimmt er stets." Als er dann meldet, daß auch Thersttes lebe,
ruft Philoktet: „Er muß wohl! Denn das Schlechte ging noch nie zu Grund;
nein, sorglich stets umhegen es die Himmlischen. Was soll ich dazu sagen?
wie es loben, wenn die Götter ich erprobte und sie schlecht erfand?" Das
Christentum hat seine Anhänger mit einem Glauben an die Wirklichkeit
des Jenseits und an die persönliche Fortdauer der Menschenseelen erfüllt, der
kaum auf natürliche Weise zu erklären ist; nur bei den Mohammedanern er¬
scheint er gleich lebendig und unerschütterlich; hier aber kommt ihm eine
glühende Sinnlichkeit entgegen, der er volle und endlose Sättigung verheißt.
Darum bildet der Glaube an die leibliche Auferstehung Christi den Grund¬
stein des christlichen Lehrgebäudes, und ohne diesen Glauben würde das Neue
Testament kaum mehr wert sein, als Ciceros Buch über die Pflichten oder die
Platonischen Dialoge. „Wenn die Toten nicht auferstehen — sagt Paulus im
15. Kapitel des 1. Korintherbriefcs —, so ist auch Christus nicht auferstanden.
Ist aber Christus uicht auferstanden, so ist euer Glaube eitel, und so sind wir
elender als alle andern Menschen." Der Durchschnittschrist vertauscht die ersten
beiden Glieder dieser Schlußkette und spricht: ist Christus nicht auferstanden,
so habe ich auch keine Gewähr für meine eigne Auferstehung; giebt es aber
kein Jenseits, so bin ich, der ich um einer eiteln Hoffnung willen auf so manchen
irdischen Genuß verzichte, ein Narr und elender als die übrigen Menschen.*)
Erst durch diesen Glauben ans Jenseits erhalten die übrigen Grundlehren
des Christentums Wert fürs sittliche und Gemütsleben. An und für sich be¬
friedigen jene Erklärungen des Welträtsels, die der Katechismus enthält, die
Vernunft und das Herz so wenig, wie irgeud eine alte Mythologie oder Philo¬
sophie. Haben wir aber den Glauben an die persönliche Unsterblichkeit ge¬
wonnen und zugleich den Glauben, daß der Gott, den Nur im Jenseits finden
sollen, weder ein kinderfressender Moloch, noch ein blindes Verhängnis, noch
die Naturnotwendigkeit sei, sondern ein Wesen, das nach Christi Worten am
besten nnter dein Bilde eines gütigen Vaters vorgestellt wird, so vertrösten
wir unser Verlangen nach der Lösung des Lebensrätsels zuversichtlich aufs
Jenseits. Die Bibel- und Katechismuslehren darüber haben dann nur die
Bedeutung solcher vorläufigen Erklärungen, wie wir sie den Kindern zu geben
Pflegen, wenn diese uns über Dinge fragen, die ihnen auf ihrer gegenwärtigen
Erkenutnisstufe noch nicht begreiflich gemacht werden können. Die Dogmen vom
Teufel und vom Sündenfall, von der Erbsünde und der Erlösung bedeute« dann
bloß, das Gott weder das Böse noch die Unseligkeit des Menschen will, sondern
dessen ewige Seligkeit, und daß uns Christus dazu verhilft. Das sind An¬
deutungen des Zusammenhangs; den Zusammenhang zu durchschauen ist hienieden
keinem vergönnt. So flößt uns der christliche Glaube auch das Vertraue!?
ein, daß unser guter Wille nicht vergebens sei, aber das Geheimnis von Frei¬
heit und Notwendigkeit wird uns dadurch nicht entschleiert. In diesem Ver¬
trauen auf die Vernünftigkeit und Güte der Gottheit, die sich uns erst im
Jenseits ganz offenbaren will, besteht die moralische Wirksamkeit des Christen¬
tums ; denn dieses Vertrauen allein vermag die zagende Seele vor pessimistischer
Verzweiflung wie vor frechem Hedonismus zu bewahren. Es ist lächerlich,
wenn sich die Darwiniciner einbilden, dieses Vertrauen durch das Entwicklungs¬
gesetz, das sie gefunden zu haben meinen, ersetzen zu können. König Kau¬
salität kann uns Heutigen so wenig helfen, wie König Umschwung dem Stre-
psiades. Daß die nebelhafte und teilweise falsche Naturansicht der Alten der
klaren Einsicht in eine ziemlich lange Kette von Wirkungen gewichen ist, mag
sehr nützlich sein für die Maschinenbauerei, für die Verkehrsanstalten, sür die
Färberei, für die Landwirtschaft, mag auch den Erkenntnistrieb in höherm Grade
befriedigen, als es die Phantasien und Vermutungen der Alten vermochten, aber
unser Gemüt, den Ort unsers Wesens, wo die Seligkeit oder Unseligteit em¬
pfunden wird, lasten alle Herrlichkeiten moderner Naturerkenntnis leer. Es
nützt dem Arbeiter, der von einer Maschine zermalmt wird, gar nichts, daß
er den Mechanismus dieser Maschine durch und durch kennt und außerdem
vielleicht noch weiß, wie viel Kilogrammmeter lebendige Kraft dazu gehören, ihm
das Bein aus der Hüfte und deu Kopf vom Rumpfe zu reißen oder die Röhren¬
knochen seiner Oberschenkel zu zerbrechen.
Das andre Große, das die christliche Religion leistet, besteht in den Ein¬
richtungen ihrer Kirche. Die Alten hatten keine Kirche. Ihre «xx^s/a war
die weltliche Bürgergemeinde, und der Kultus war nur Anhängsel und Schmuck
des bürgerlichen Lebens. Die von dem theokratischen Judentum ausgegcmgnen
Christen organisirten sich als selbständige Kultusgemeinden innerhalb derBürger-
gemcinde und ihr gegenüber. Sie erfreuten sich eines geistigem Kultus als
Althellas. Wirkten der öffentliche Dionhsoskultus und die Mysterien auch
nicht sittenverderbend, wie der Christ und der moderne Mensch vorauszusetzen
geneigt sind, so enthielten sie doch auch nichts, was geeignet gewesen wäre, die
Gemüter über das Sinnliche zu erheben und die sittliche Kraft zu stärken.
Solches that nun zwar das Drama, aber dessen Wirksamkeit blieb auf eine
kurze Spanne Zeit beschränkt. Deren Dauer hing von den Personen der
Dichter und dem Geschmack des Publikums ab. Der Staat konnte nach dem
Tode der drei großen Tragöden weder die Geburt neuer Genies anordnen
— Aristophanes, der schon mit Euripides nicht zufrieden ist, läßt in den
Fröschen den Äschhlos aus der Unterwelt wieder heraufholen —, noch konnte
er die Bürger zwingen, sich jahrhundertelang immer wieder dieselben Tragödien
anzusehen. Die christliche Kirche erteilt ihren Gläubigen und deren Kindern
seit mehr als achtzehnhundert Jahren einen regelmäßigen Unterricht, der außer
tröstenden und stärkenden religiösen Lehren und anmutigen Erzählungen auch
die wichtigsten sittlichen Grundsätze nebst kräftigen, mahnenden und warnenden
Sprüchen und ungemein anregenden Gleichnissen von wunderbar tiefem und
reichem Inhalt mitteilt. Diese Einrichtung gewährt dem sittlichen Streben der
christlichen Völker einen festen Halt, macht es ihnen möglich, sich nach großen
Umwälzungen und Kriegen, die alle bürgerlichen Einrichtungen zerstören, aus
der Verwirrung und Barbarei leicht und rasch wieder zu erheben, und stellt
ihre sittlichen Anschauungen sicher gegen die Augriffe der weltlichen Wissenschaft
in Zeiten, wo diese, wie in der alten Sophistik und in modernen Zeiten wieder¬
holt, darauf ausgeht, die sittlichen Ideen und die sittlichen Grundsätze weg-
zudisputiren.
Also der feste Glaube ans Jenseits und die Einrichtungen der Kirche, das
sind die beiden Stützen, die das sittliche Leben vom Christentum empfangen
hat. Den Inhalt des sittlichen Gemüts konnte dieses nicht ändern, denn der
gehört zur Natur des Menschen und entwickelt sich bei allen höher begabten
Völkern gleichmäßig, nur daß er außerhalb des Christentums leichter der Ver
derbnis ausgesetzt ist; jedenfalls hat ihn außerhalb des Christentums und vor
ihm kein Volk in solcher Reinheit dargestellt, wie die Griechen. Will man
durchaus einen Unterschied im Inhalt nachweisen, so könnte dieser höchstens in
der dein Christentum eignen Liebe zu deu Seelen gefunden werden, die den
Glauben an die persönliche Fortdauer und an die mögliche ewige Verdammnis
voraussetzt. Es mich zugestanden werden, daß diese Liebe, die sich nicht von
selbst entfaltet, sondern dnrch Reflexion geweckt und durch religiöse Übungen
anerzogen, daher auch bloß bei Geistlichen und bei sehr frommen Personen des
Laienstnndes gefunden wird, die uneigennützigste aller Arten von Liebe ist und
die einzige von Sinnlichkeit ganz freie und von Naturtrieben unabhängige,
daher an sich höher steht, als jede andre, auch als die Mutterliebe. Leider
"ber ist die Grenzscheide zwischen ihr und dem Fanatismus, in den sie leicht
umschlügt, so schmal, daß sie leicht gefährlicher werden kaun, als selbst die
geschlechtliche Liebe. So entspricht also auch hier der Stärke des Lichtes die
Finsternis des Schattens.
Wenn ich das vorteilhafte Bild der athenischen Volkssittlichkeit, das mir die
Dramen darzubieten scheinen, für den Leser nachzumalen versucht habe, so ist es
nicht etwa zu dem Zwecke geschehen, die alten Griechen auf Kosten der modernen
Deutschen zu verherrlichen. Von der Thorheit, das eine Volk und Zeitalter
herauszustreichen und andre Völker und Zeiten schlecht zu machen, bin ich weit
entfernt. Meiner Ansicht nach gilt das Gesetz von der Erhaltung der Kraft
auch für die geistige Welt, daher muß die einmal voryandue Menge oder Stärke
der Sittlichkeit zu allen Zeiten dieselbe bleiben. Unter Sittlichkeit verstehe ich
hier nur das zur Erhaltung des Menschengeschlechts notwendige Gleichgewicht
zwischen Selbstliebe und Nächstenliebe; denn die formelle Seite der Sittlichkeit,
die in dein Mischungsverhältnisse der sittlichen Ideen (z. B. im Vorherrschen
der Gerechtigkeit oder des Wohlwollens oder der Freiheit) besteht, ist bei solchen
Vergleichungen aus dein Spiele zu lassen, weil die Überlegenheit der einen
Form über die andre nicht quantitativ gemessen werden kann. Jedes Volk
leistet jederzeit, was es seiner Naturanlage nach unter den eben obwaltenden
Umständen zu leisten vermag. Haben die alten Hellenen das Menschheitsideal
reiner, faßlicher dargestellt, als wir Neuern es vermögen, so haben sich dafür
auch leichter gehabt: in mäßiger Zahl bewohnten sie ein kleines Land in einem,
glücklichen Himmelsstrich in einer Zeit sehr einfacher Wirtschaftsverhältnisse
und eines Wissens von sehr mäßigem Umsange. Uns Moderne erdrückt die
Masse; die Masse der Menschen, die Masse des Wissens, die Masse der Ein¬
drücke; uns verwirrt eine unübersehbare Menge widersprechender Ansichten, uns
reißen unversöhnliche Interessen auseinander; und außerdem macht uns, die
wir weiter uach Norden wohnen, der Winter das Leben in einer Weise schwer,
von der die Völker des glücklichern Südens nichts wissen. Eben deshalb aber
bedürfen wir zu unsrer Sammlung und Klärung mitunter des erquickenden
Blicks auf einfachere Zustünde.
Damit ist der Zweck dieser Aufsätze und die Absicht des Verfassers aus¬
gesprochen. Ich möchte etwas zur Beantwortung der Frage beitragen, ob
der Gedankeninhalt und Formenreichtum der Hellenen wert sei, von uns be¬
wahrt und gepflegt zu werden, und mochte vor dem leichtsinnigen Wegwerfen
eines kostbaren Schatzes warnen. Mir scheint: kein andres Geschlecht bedarf
so notwendig wie unser heutiges des geistigen Umgangs mit einem in seinen
Werken fortlebenden Volke, bei dem wir einfache, verständliche und feste sittliche
Grundsätze, Wahrhaftigkeit und Klarheit im Denken, Schönheit und Anmut
der Formeu, Menschenfreundlichkeit, Herzensgüte und Milde, Heiterkeit, Lebens¬
lust und Thatkraft finden.
P
Ues hu—eiß nicht, hu—as soll es bedjuten — so buchstabirten
mir gegenüber im Kabelbahnwagen zwei hübsche junge Lehre¬
rinnen an der Heinischen Lorelei herum, die sie wahrscheinlich
in den Frühstunden ihren Schülerinnen beizubringen hatten. Da¬
bei knabberten die dem Backfischalter kaum entwachsenen lustigen
Mädchen Chokoladenbonbvns und ergingen sich in Späßen über die schreckliche
deutsche Sprache und die Deutschen im allgemeinen.
Warum muß man nur gleich traurig sein wegen eines Märchens, das
einem nicht ans dem Sinn kommt? sagte die eine. Ich glaube, diese deutschen
Dickköpfe sind immer traurig, weil sie so viel überflüssiges Zeug im Kopfe
haben, mit dem sie nichts anzufangen wissen, erwiderte die andre. Dabei
lachten sie beide herüber nach der andern Ecke des Wagens, wo zwei junge
Herren neben mir saßen, die diese englisch gesprochnen Bemerkungen offenbar
hören sollten. Sie hatten den Cornelius Nepos vor sich aufgeschlagen und
ließen sich von den Mädchen nicht stören, sondern lasen unbeirrt ihren
'liuzuüstoolos Akoolöi tsilius weiter in der Aankeeanssprache, wie sie ihnen
offenbar in der Schule beigebracht wurde.
An der Straßenecke vor einem großen Schulhause hielt der Wagen. Alles
stieg aus und begab sich auf den Spiel- und Turnplatz. Ich folgte den Aus-
steigenden als der letzte. Dicht vor mir ging eine der beiden hübschen
Amerikanerinnen. Sie schlug den einen der beiden Lateinschüler mit ihrem
Fächer auf die Schulter. Der schlanke junge Mann sah etwas blaß und an¬
gegriffen aus. Als er sich bei der Berührung nach der reichgekleideten
Schönen umsah, als wäre er solche kleine Vertraulichkeiten gewohnt, ging es
wie ein Zug aufleuchtender Freude über sein kluges Gesicht.
Das junge hübsche Paar — sie mochte etwa sechzehn, er siebzehn Jahre alt
sein — schritt unmittelbar vor mir her dem Schulplatze zu, sodaß ich ihre Unter¬
haltung hören konnte.
Das ist recht, Harry, daß Sie endlich die dumme Nachtarbeit in der
Druckerei aufgegeben haben. Sie sehen jetzt zehnmal wohler und frischer aus.
So habe ich Sie gern. Ich konnte Sie gar nicht leiden, als Sie immer so blaß
und krank aussahen.
Harry blickte ihr dankbar in die Augen und suchte ihre Hand zu erfassen,
indem er sie fragte: Und jetzt siud Sie mir wieder gut?
So gut, daß ich Sie heiraten möchte, wenn das nicht etwas so Ge¬
wöhnliches wäre.
O Lizzie — sagte er glücklich —, warum sind Sie mir denn so gut?
Und ihre Hände fanden und drückten sich, während sie erwiderte: Weil Sie
so ganz nach meinem Geschmack sind, und nun will ich anch nichts weiter, als
daß Sie mir wieder gut sind, aber ganz im Ernst und ganz von Herzen!
Trotz der Schülerschar in der Nähe machte Harry eine Bewegung, als
ob er nicht übel Lust hätte, ihr ans offner Straße um den Hals zu fallen.
Da ließ sie, schnell gefaßt, ihren Fächer fallen, und indem er ihn aufhob und
ihr reichte, trennte er sich von ihr mit einer vorschriftsmäßigen Verbeugung,
denn sie waren schon fast mitten in den Schwarm der Spielenden geraten, für
deren Ohren ihr Gespräch wahrhaftig uicht berechnet war.
Ich kehrte eben von einem Morgenspaziergang zurück und beschloß, einer
Einladung, die schon wiederholt an mich ergangen war, heute Folge zu leisten
und die Schule zu besichtigen. Ich war auch so glücklich, die Lehrer, die mich
eingeladen hatten, jetzt vor dem Beginn der Schulstunden vor dem Portal
versammelt zu finden, wo sie die Turnübungen der Schüler beobachteten. Es
war ein munteres Bild um uns her. Geduckte Gestalten mit Brillen sah man
nicht unter den geschmeidig und anmutig dahinfliegenden und -schreitenden,
auch keine blassen, scheuen Gesichter. Alle blickten frisch, dreist und selbst¬
bewußt uni sich und geberdeten sich, als ob ihnen die Welt gehörte. Es
kam mir fast so vor, als wäre der Turnplatz hier die Hauptsache, die Schulstube
die Nebensache.
Das Schulhnns war ein stattliches Rotsteingebäude von der hier beliebten
hochgiebeligen Bauart, mit weit vorspringenden in Schnörkel und Türmchen
ausgehenden Schrägdächern, mit breiten Freitreppen und prächtige» Thor¬
wölbungen. Über deu Portalen und oben an den Spitzbogenfenstern sah man
Butzenscheiben; die glasirten Steine glitzerten in der Morgensonne, die saubere
Schieferdeckung und die in schöner Schlosserarbeit hergestellten Gitter, Flaggen¬
stangen und die Erkerkrönnngen gaben dem Ganzen etwas Vornehmes und
Festliches.
Während ich noch die Baulichkeiten musterte, die den Eindruck eines Schlö߬
chens, mindestens einer herrschaftlichen Gutswohnung machten, wurde ich im
Kreise der Lehrer und Lehrerinnen, die sich eben beim Läute» der Glocken über
die marmorne Vorstufe uach dem Portal begeben wollten, vorgestellt, unter
andern den beiden Damen aus dem Kabelbahnwagen.
Die eine, für die ich mich besonders interessirte, stellte nur Herr Miller,
der mich einführte, als Fräulein Lizzie Brown vor, die Tochter eines der
reichsten Leute von Kansas City — fügte er später leise hinzu —, die erst
seit kurzer Zeit zu aller Erstaunen die Schullaufbahn ergriffen hat, obwohl
sie es durchaus nicht nötig hätte.
Ich erfuhr dann weiter, daß, wenn man von dem „Brvwuschen Glück"
sprach, man damit eine Börsenspekulation meinte, die mit Bleistiftnotizen auf
Manschetten geschrieben in Zusammenhang stehe. Das war mir neu, und ich
mußte es mir erklären lassen. Während wir die Treppen zu den Schulzimmern
hinaufstiegen, erfuhr ich weiter, daß es sich bei den beiden Familien Brown
und Green oder Grün (denn es waren Abkömmlinge von Deutschen) an der
Judependenee-Avenue um eine Rivalität zwischen zwei reichen und verwandt¬
schaftlich einander nahestehenden Familien handelte. Da haben Sie Mvntecchi
und Capulctti ins Amerikanische übersetzt, sagte Mr. Miller. Die Väter hassen
sich und spielen an der Börse gegen einander. Die Kinder lieben sich und
sollen sich natürlich nicht kriegen. Montecchi hat die Angewohnheit, seine
Börsennotizeu mit Bleistift auf seine linke Manschette zu kritzeln. Capuletti
merkt das. Die Frau seines Kutschers wäscht für beide Familien. Durch sie
erhält er die Bleistiftnotizen auf Browns Manschetten und spekulirt mit Glück
gegen ihn, bis dieser dahinterkommt. Aber er läßt sich nichts merken, sondern
macht seine Manschettennotizen ruhig weiter, aber falsch, um den Gegner irre
zu führen. Endlich kommt es zur Katastrophe. Die Sache hat vor kurzer
Zeit hier viel von sich reden gemacht: Green, der eben noch so hoch dastand,
fällt, kann seinen Bankrott nicht überleben, und ein „Schlaganfall" rafft ihn
hinweg.
Inzwischen waren wir in einen der Schulsüle getreten, wo die erste Klasse
der Knaben, junge Leute von fünfzehn bis siebzehn Jahren, zum Unterricht
versammelt war. Der dort auf der vordersten Bank, einer meiner besten
Schüler, ist der Sohn des verunglückten Kaufmanns — damit zeigte Herr
Miller auf den hochaufgeschossener jungen Mann, dessen Bekanntschaft ich im
Kabelbahnwagen gemacht hatte.
Es war eine Geographie- und Geschichtsstunde, der ich nun beiwohnte.
Es wurde gerade alte Geschichte getrieben, und ich bewunderte die praktischen Er-
läutcrnngstafeln und Geschichtstabellen, die an den Wänden hingen. Es waren
Farbendruckbilder, die die Entwicklung des Menschengeschlechts von einer Kultur¬
stufe zur andern unter dem Bilde eines Stromlaufs vergegenwärtigten. Dazu
kamen große stammbaumartige Zeichnungen, die die Ausbreitung der Rassen über
den Erdkreis darstellten. Fresken aus der alten Geschichte schmückten die Wände.
Der Unterricht lehnte sich an diese Anschauungsmittel an. Es war eine Unter¬
haltung zwischen Lehrer und Schülern, wie sie sich etwa bei der Betrach¬
tung eines Panoramas entspinnt. Es herrschte aber allgemein gespannte Auf¬
merksamkeit.
Die Einrichtung der Schulzimmer war musterhaft. Quaderfußboden,
Olcmstrich, Schulbänke, die sich in Stehpulte verwandeln ließen, Tische zum
Auf- und Zuklappen, alles zeugte von dem Streben, das Beste und Zweck¬
müßigste, sowie es erfunden und hergestellt war, auch sofort zu erproben.
Manche Vorrichtungen, wie Tafelgestelle, Schreibpulte, Stehpulte, schienen
sich in den verschiednen Klassenzimmern förmlich Konkurrenz zu machen.
Klappten hier Lehnen und Sessel so zusammen, daß sie Aufbewahrungs-
schränke für Schulsachen bildeten, so ließen sie sich im Zimmer daneben wieder
auf andre Art und sogar ganz geräuschlos zusammenlegen. Im Musiksaal
prangte eine stattliche Orgel mit Tonschwellung, in einem andern Saale
stand ein Flügel, der mit der Orgel in elektrischer Verbindung stand. Auf
Schritt und Tritt sah man die überraschendsten Neuerungen für Schulein-
richiung.
Ich fragte, wie die Schule zu so kostbarem Material käme. Die Ant¬
wort lautete: Die Fabriken beeilen sich, dem Staate und den Stadtverwal¬
tungen ihre neuesten Vervollkommnungen von Schuleinrichtungen zur Ver¬
fügung zu stellen. Modelle, Ausstellungsgegenstände, ja ganze Einrichtungen
senden die Fabrikherrn nicht nur zur Probe, sondern zum dauernden Gebrauch,
alles in der Hoffnung, bei den Schulvätern, deu Stadtverordneten, Anerken¬
nung zu finden, empfohlen zu werden und späterhin vielleicht auch einmal
Aufträge zu bekommen.
Aber auch Stadtverwaltung und Staat sparen nicht, um das Beste zu
ermöglichen. Wie ich von Mr. Miller erfuhr, und wie mir eine der Lehre¬
rinnen, die Tochter unsers deutscheu Architekten in Kansas City, bestätigte,
waren die Lchrergehalte sehr gut. Diese junge Dame, eine der sechs hier
angestellten Lehrerinnen, hatte diese Schule als Kind selbst durchgemacht,
hatte bayr ihr Schulexamen bestanden und war nach halbjähriger Seminarzeit
und einem zweiten Examen mit einem Gehalt von fünfzig Dollar monatlich
sofort angestellt worden. Im zweiten Jahre bezog sie schon sechzig Dollar,
also etwa 3025 Mark jährlich. Die Gehalte für alle zwölf Lehrer und
Lehrerinnen betrugen jährlich etwa 10000 Dollar.
In eiuer solchen Schule werden Knaben und Mädchen bis zum achten
Jahre gemeinsam, vom achten bis zum sechzehnten Jahre getrennt unterrichtet.
Dann gehen sie, um sich Fachbildung zu erwerben, auf zwei bis drei Jahre
in ein fachwisfenschaftliches Institut für Handel, Post- oder Telegraphendienst,
technische oder wissenschaftliche Fächer.
So eingenommen gegen amerikanische Oberflächlichkeit man auch dem
ganzen hiesigen Schulwesen gegenübertreten mag, so drängt sich doch jedem,
der an den deutsch-amerikanischen Nachwuchs denkt, die Frage aus, ob man
auch gut daran thue, Kinder und Enkel, wenn sie nun doch einmal in
Amerika leben sollen, in europäische Schulen und Pensionen zu schicken. Was
aber aus dem deutschen Nachwuchs in Amerika wird, das sehen wir am besten
in einer solchen Schule. Eine Stadt wie Kansns City hat eine ganze Anzahl
solcher Schulen, jede für etwa 250 bis 300 Kinder. Der Schulbesuch ist
obligatorisch und unentgeltlich in dem ganzen Gebiete der Vereinigten Staaten.
Selbst die Bücher werden vom Staate geliefert.
Man darf sich bei der Beurteilung der unfertigen Zustände der neuen
Welt, wo die Gegensätze so dicht beieinanderliegen, nicht verleiten lassen, das
Kind mit dem Bade auszuschütten und alles zu verwerfen. An manches darf
sich der gut erzogne, philologisch geschulte Deutsche eben nicht stoßen. Hier
giebt es die elegantesten Bänke neuester Bauart, aber auch die gemeinsten
Sprachfehler, die schönsten Landkarten, aber auch die gröbsten Schnitzer in
Ort und Zeit, und die hübschesten Lehrerinnen machen die ärgsten päda¬
gogischen Versehen: die Lehrerin schickt das Kind, dem sie vielleicht eben sür
eine Unart ein paar Klapse auf die Hand gegeben hat, über die Straße nach
Chokoladebonbons, wie um die Kleine zu versöhnen, obwohl diese recht gut
weiß, daß es streng verboten ist, während der Schulzeit auf die Straße zu
laufen.
Bei allem macht sich das Bestreben nach abgekürzten Verfahren geltend,
getreu dem Grundsätze: ^uns is nouv/. Trotzdem kann man nicht sagen,
daß daraus immer etwas verkehrtes entstehe. So bezweckt der Sprachunter¬
richt überall, nur lebende Sprachen so schnell als möglich leidlich (nicht schön)
sprechen zu lernen, um sich darin für den Anfang einigermaßen verständigen zu
können. Von den toten Sprachen werden nur die Wortwurzeln zum Ver¬
ständnis wissenschaftlicher Ausdrücke erklärt. Nicht die Sprachen, sondern
Rechnen und Naturlehre, wobei die Naturgesetze aus den physiologischen Bei¬
spielen des Anschauungsunterrichts genommen werden, erziehen zu logischem
Denken. Die sür den naturwissenschaftlichen Unterricht eingerichteten Schul-
süle waren ebenso reich an Bilderschmuck, Naturalien, Präparaten und Ge¬
rätschaften aller Art, wie die Süle für Geschichts- und Geographieunterricht.
Der Knabe durfte ruhig ut> mit dem Indikativ verbinden, wenn er nur
wußte, warum er das ausatmet, was die Pflanzen um ihn her einatmen,
und daß ihm kein Haar auf seinem Haupte gekrümmt werden kann ohne
natürliche Ursache. Die Belehrung über den menschlichen Körper und die
Schürfung der fünf Sinne beginnt in enehllopüdischem Unterricht schon früh
und gipfelt schließlich in der Kenntnis gewisser Gesetze, durch die all unser
Handeln bestimmt sein sollte von der Geburt bis zum Tode: der Naturgesetze.
Mit andrer Logik beschäftigt nun« sich nur so nebenher, um gewissen ver¬
alteten Schrullen doch auch Rechnung zu tragen. Man ist der Meinung,
das sei das kürzeste, denn wenn erst die altväterischen Gepflogenheiten
Europas überwunden sein würden, werde Logik und Naturgesetz doch das¬
selbe sein.
Ich hatte von meinem Newyorker Aufenthalt manche recht böse Schatten¬
seiten der amerikanischen Schulverhältnisse im Gedächtnis: Einseitigkeit, Ober¬
flächlichkeit, amerikanisches Knownothingtum, das mit sich fertig und zufrieden
ist, nichts von der alten Welt braucht, daher aber auch oft ungehobelte
Geister erzielt, die sich in die Welt außerhalb Amerikas nicht zu schicken wissen.
Ich sah vor meinem Geiste die Lxsllmg- llmtvllss, die Buchstnbierspiele der
Erwachsenen, die von Lehrern und Geistlichen arrangirten Sodawasser- und
Erdbeerpicknicks, wo der den Preis bekam, der beim Buchstabieren beliebiger
Wörter aus der Muttersprache die wenigsten Fehler machte. Ich sah die
candyknabbernden und gummikauenden Lehrerinnen umgeben von süßholz¬
raspelnden jungen Geistlichen und Lehrern, mit deren einem dann und wann
eine auf und davon ging, ich sah den mit Gemüse- und Obstkörben voll¬
gepfropften Doktorwagen des Schnlvorstehers Dr. Freeman. Wiewohl dieser
Herr reich war und vierzehn Pferde im Stall stehen hatte, fuhr er doch nie
unters auf die Praxis als mit Körben zum Einkaufen im Wagen. Er kaufte auch
immer nur da, wo ein andrer Arzt einen Patienten behandelte, und plauderte
mit den Leuten so lange, bis er den Fall schließlich selbst in Behandlung
bekam. Jeder, der eine der vielen von ihm zu vergehenden Stellen haben
wollte, wußte, wozu er die Körbe unter seiner Wagendecke mit hatte, und
ein Briefchen mit einem Geschenk wurde von dem kleinen schwarzen Nosfe-
lenker auf dem Bock richtig besorgt, auch wenn der Herr gerade mit Ein¬
käufen in den Läden der Patienten andrer Ärzte beschäftigt war. Dieser
Schulvater erwarb sich durch seine Geschicklichkeit ein kleines Vermögen.
Ich war also wahrlich nicht ohne Vorurteil an die Besichtigung der hiesigen
Schulen gegangen, auch war mein philologisches Herz durch I'lisirristovlss
Usoolei tsillns und durch die „deutschen Dickköpfe" arg gekränkt worden.
Als ich aber die körperliche und geistige Frische sah, mit der die jungeu
Leute auf den Unterricht eingingen, der sich stets an das Nächstliegende hielt
und Ausgangspunkt und Ziel im natürlichsten und einfachsten suchte und
fand, fing ich doch an, das zu verstehen, was hier in Gestalt einer natür¬
lichen (nicht konferenzmäßig ausgeklügelten) Schulreform im Keime vor mir
lag. Trotz alles Knownothingtums, trotz aller Verachtung, mit der man sich
über Formenlehre und Syntax hinwegsetzte, trotz alles Mangels an ge¬
ordnetem Sprach- und Geschichtsunterricht leuchtete doch aus allem das eine
durch: man hilft sich hier schneller über Altes, Unbrauchbares hinweg und tritt
frischer an das uns umgebende Neue heran.
Wo bei uns die Jugend noch befangen ist in altfränkischen Alfanzereien,
in Siegel- und Briefmarkensammlungen, treiben hier die Knaben desselben
Alters schon mit Eifer Chemie und legen sich nach und nach kleine Labora¬
torien an, blasen sich selbst ihre Glastuben, bestellt sich selbst ihre Öfen und
Regale zurecht, und während in Deutschland der Junge mit trübem Gesicht
die Lexika wälzt bei der Lektüre des Homer, Birgil und Horciz, schmiedet er
sich in Amerika aus zwei Gasröhren sein Spektroskop und macht sich den
Spaß, durch ein Prisma die Frauenhoferschen Linien zu beobachten und die
Bestandteile des Sonnenkörpers nachzuprüfen. Daß er deshalb unlogischer
denke als sein lexikonwälzender Altersgenosse in Deutschland, möchte ich nicht
behaupten. Er denkt, wenn er einmal angefangen hat, sich für eine Sache zu
interessiren, jedenfalls freier, ungehinderter. Vielleicht ist schließlich der Horizont
des siebzehnjährigen Amerikaners nicht so weit, wie der des philologisch ge¬
drillten deutschen Abiturienten, der, wenigstens zu meiner Zeit, die Verwandt¬
schaften der Zähringer wie die Anfänge der römischen Agrargesetzgebung am
Schnürchen herzählen mußte, vielleicht fehlt deshalb dem Amerikaner für immer
in seiner Weltanschauung der Schwung himmelanstürmender Gedanken; aber
es fehlt ihm auch die hamletische und faustische Schwere und Trauer, die nicht
zu naiver Lebensfreudigkeit gelangen kann.
Als ich mich dankend von Herrn Miller verabschiedete, fiel mir ein, daß
er in der Erzählung seiner Montecchi- und Capulettigeschichte unterbrochen
worden War.
Ja, da könnte wirklich ein Novellenschreiber von Fach Kapital drausschlagen,
sagte er, denn hier „kriegen sie sich," und das Gute wird belohnt. Und er
erzählte mir weiter: Die blasse Gesichtsfarbe, die an dem jungen Manne auf¬
fällt, hat er sich auf ganz eigentümliche Weise erworben. Um eine verarmte
Kutscherfamilie vom Untergänge zu retten und für sie heimlich den Mietzins
zu erarbeiten, hatte er den Nachtdienst in der Druckerei eines Morgenblattes
besorgt, und das hing so zusammen. In der letzten Zeit vor dem Bankerott,
als die Geschäfte von Harrhs Vater zurückgingen, sollte das Fuhrwerk ver¬
kauft werdeu. Der junge Mensch fuhr mit dein Kutscher aus, um das Pferd
einem Kauflustigen vorzufahren. Vor dem Hanse der niedlichen Lizzie, die auf
dem Balkon steht, scheut das Pferd vor dem plötzlich um die Ecke biegenden
Kabelbahuwagen. Der sonst so gewandte junge Mann kann das Tier nicht
bändigen. Es geht durch, und der Kutscher, der neben dem Herrn im Buggy
sitzt, wird herausgeschleudert und gerade vor den dahersausenden Kabelwageu,
sodaß ihm dieser im nächsten Augenblicke über beide Beine gehen mußte. Harrh
springt heraus, und während er mit der Linken dem Pferd in die Zügel fällt,
schiebt er mit der Rechten den Hilflosen von den Schienen weg, sodaß dieser
noch mit einem Schenkelbruch davonkömmt. Wenige Tage darauf ereignet sich
die Katastrophe mit Harrhs Vater. Der Kutscher mit seinem gebrochnen Bein
wäre nun ohne Erbarmen auf die Straße gesetzt worden und die Familie in
Not und Elend gekommen, wenn nicht Harrh, der sich verpflichtet fühlte, hier
zu helfen, dem treuen Diener versprochen hätte, aus seiner Tasche die Mittel
für Wohnung und Unterhalt der Familie zu schaffen. So kam es, daß er ein
Vierteljahr in der Druckerei des Morgenblattes Nachtdienst that, ohne daß die
Semen etwas davon gewahr wurden, bis der Rektor der Schule zufällig
dahinterkam und sich ins Mittel schlug. Durch Vermittlung des Rektors
fand der Kutscher wieder einen Dienst, und Harry war von seiner aufreibenden
Thätigkeit erlöst. Wer aber dem Geheimnis von der Nachtarbeit auf die
Spur gekommen war, das war niemand anders als Lizzy, die Tochter des
durch Greens Zusammenbruch reich gewordnen Brown, die sich ans Liebe zu
ihrem Harry quälte und nicht eher ruhte, als bis sie die Lehrerinnenstelle
an dieser Schule erhalten und dem Rektor die Sache angezeigt hatte. Den
Schluß des kleinen Romans konnte ich mir mich dem Erlebnis heute früh
beim Aussteigen aus dem Kabelbahuwagen selbst zusammenreimen. Und wer
hätte nicht auf die Vereinigung des jungen Deutschamerikaners mit Jnng-
amerika alles Glück herabwünschen sollen! War sie doch ein Zukunftsbild der
Entwicklung Deutschamerikas.
Weniger erfreulich als in der l^udlio Kellool sieht es in den höhern
Vorbereitungsanstalten für kaufmännische, industrielle, technische und wissen¬
schaftliche Berufszweige, wie Theologie, Rechtswissenschaft und Medizin, aus.
Nicht als ob die äußere Eleganz der Räumlichkeiten dort zu wünschen übrig
ließe. Wenn auch zuweilen räumlich etwas beengt, haben doch anch diese
Institute elegantes Mobiliar und die neuesten Hilfsmittel für den Unterricht
auszuweisen. Aber statt Universitäten, wie sie sich oft stolz nennen, sind es
mehr oder weniger einfache Seminare zur Einführung in die Praxis der be¬
treffenden Berufsarten. Mit Propädeutik und Vorgeschichte hält man sich
nicht im geringsten auf, der Zögling wird sofort in inscliW rs8 geführt.
Um zu einem dieser Seminare zugelassen zu werden, genügt eine Beschei¬
nigung von einem Fachmann, worin sich dieser für genügende Vorbereitung
verbürgt. Damit begiebt sich der Farmerssohn, der manchmal kaum seinen
Namen geläufig schreiben kann, der aber mit dem Gelde seines Vaters speku-
liren lernen möchte, in das Rialtogebäude, wo die höhere Kaufmannsschule ist,
und wo man Stenographiren, Schreibklavierspielen und Zinsrechnung lernt.
Hätten alle Schüler die vorhin geschilderte, wenn auch oberflächliche
Schulbildung, so würden sich diese Bernssseminare nicht so an der Menschheit
versündigen, wie sie es wirklich thun. Sie schicken Leute ohne Kenntnisse,
ohne Bildung und Charakter ins Leben hinaus. Die Schulpflicht ist zwar
streng durchgeführt, aber sie läßt sich nicht auf alle Eingewanderten aus¬
dehnen.
Wie sich ein Cowboy, der kaum des Schreibens kundig ist, in einem
halben Jahre oder einem Jahre zum Börsenspekulanten drillen lassen kann, so
macht ein Pfälzer Hütejunge, nachdem er vielleicht ein Jahr lang in einer
Apotheke Handlangerdienste geleistet und sich dann von einem befreundeten Arzt
den Zulassungszettel erbeten hat, in den üblichen drei Semestern seine Medizin¬
studien durch, ein Berliner Barbiergehilfe, der vielleicht eine leidliche Hand-
schrift mitgebracht hat, geht ein Jahr lang bei einem Advokaten in die Lehre,
legt dann, fleißig schwänzend, die üblichen Semester in einem juristischen Se¬
minar zurück und wird endlich Richter oder Advokat. Und so wird auch ein
eingewanderter Schulmeister leicht Pastor, wenn er ein paar Semester lang ein
Seminar besucht und dann kaufmännisch sein Rednertalent an den Mann zu
bringen weiß. Staatliche Prüfungskommissionen giebt es nicht. Die Diplome
werden von den Seminaren oder „Universitäten" auf Grund eines Examens
erteilt. Der examinircnde Professor aber sorgt dafür, daß durch möglichst
glänzende Zeugnisse seine Drillanstalt in das beste Licht gestellt wird und Durch¬
fälle möglichst vermieden werden. Die Gesellschaften, die solche Seminare
bilden, dort unterrichten, prüfen und Doktoren ernennen, sind meist Aktien¬
gesellschaften, die mit der landesüblichen Geschäftigkeit ihrem Beruf nachgehen,
weniger um die Wissenschaft, als um ihren Geldbeutel zu bereichern.
Aber es giebt auch hiervon rühmliche Ausnahmen. Es ist keine Selten¬
heit, daß ein Millionär sein ganzes Vermögen dein Staate vermacht, zur
Gründung einer „Universität." Ein solches Zeugnis amerikanischer Hochherzig¬
keit ist die Hopkinsuuiversität. Der Millionär Hopkins bestimmte eine so un¬
geheure Summe zur Errichtung einer großartigen Universität, daß das An¬
lagekapital während des Baus nicht verkleinert wurde, sondern durch die
Zinsen noch wuchs. Die Gebäude umfassen ein Gebiet wie das mancher mittel¬
großen deutschen Stadt. Sie haben elegante Dozentenwohnungen und zugleich
ausgedehnte Felder für die mit ihr verbundne Ackerbauschule. Als Lehrer
sollen die hervorragendsten Gelehrten aus aller Welt gesichert werden durch
festen Gehalt und Pension für Lebenszeit, nicht nach dein Gutdünken von
IruLtöös, sondern nach der Entscheidung über die Preisarbeiten, die von einer
eigens dafür angestellten und besoldeten internationalen wissenschaftlichen Kom¬
mission gestellt und beurteilt werden. Nicht nur für die vier Fakultäten in
unserm Sinne ist hier gesorgt, sondern auch für die Landwirtschaft, das Jn-
genieurweseu, die Elektrotechnik, die Luftschiffahrt u. a. Die Felder, die all¬
jährlich für die landwirtschaftlichen Übungen bestellt werden, liefern hinlänglich
Getreide und sonstigen Unterhalt für alle Mitglieder der Anstalt, Lehrer wie
Schüler. Die Hopkinsuniversität ist, wie die großen Klöster des Mittelalters,
als Mikrokosmos gedacht, der sich selbst erhält, nicht nur dnrch die geistige
Nahrung, die er in Form von Büchern, Lehrmitteln n. s. w. spendet, sondern
anch dnrch den Grund und Boden. Der Stifter war kein Gelehrter, sondern
ein tüchtiger Geschäftsmann, wie tausend andre um ihn her. Welcher Gegen¬
satz: die Hopkinsuniversität bei Baltimore und ähnliche neuere Stiftungen bei
San Franzisko, Boston, und die Seminare, wie ich sie in Kansas City sah!
Man merkt, daß man hier im Lande der größten Gegensätze, in einer noch un¬
fertigen Welt lebt.
Es war mir nun darum zu thun, auch eine deutsche Schule kennen zu
lernen. Das deutsche Element hat sich in jenem fernen Westen, obwohl es sich
in der Minderheit befindet, gegen alles Fremde und Feindliche zu Erfolgen
durchgekämpft, die nicht unbedeutend sind. Der Handwerker- und Arbeiter¬
stand bringt hier durch Zähigkeit und Beharrlichkeit mehr zuwege, als der
Großkaufmann durch seine Summen, denn diesem ist es doch schließlich nur
darum zu thun, sein Geschäft zu machen, seine Taschen zu füllen und dann
wieder nach Hause zu gehen. Trotz aller nationalen Anfeindungen ist schou
wiederholt zum Maire der Stadt Kansas ein Deutscher gewählt worden (frei¬
lich nativncckisirt), ein früherer Schreinermeister, jetzt Bankdirektor, wie denn
auch einige der wichtigern städtischen Ämter mit Deutschen besetzt sind. Deutsche
Ingenieure, Architekten, Rechtsanwülte und Pastoren befinden sich hier Wohl,
deutsche Droguerieu und Brauereien stehen in Blüte. Warum nicht auch eine
Schule einrichten, damit unsre Kinder ihre Muttersprache nicht ganz vergessen? —
so hieß es, und es wurde ausgeführt. Nach mehreren vergeblichen Versuchen
gelang es, eine eigne deutsche Privatschule unter Leitung des Direktors Rath-
mann aus Sau Louis zu errichten. Für die 15000 Deutschen in Kansas
City ist freilich die Zahl der Schulkinder klein, sie beträgt 200 bis 250 —
eine Folge des Umstandes, daß hier Schulgeld bezahlt werden muß. Aber
die Schule leistet sehr Erfreuliches, vor allem das eine, daß in Zeiten
politischer Reaktion, wenn vor den Wahlen die Hydra der Temperenzlerei,
des Muckertums und des Deutschenhasses ihr Haupt erhebt und das wüsteste
Knownvthingtum alles zu verschlingen trachtet, wenn der deutsche Unterricht in
Gefahr ist, aus den Staatsschulen verbannt oder doch wenigstens unterdrückt
zu werden, die Kinder ihre Muttersprache nicht ganz vergessen können. Denn
das Deutschsprechen der Eltern im Hause Schutze die vou lauter englisch-
fprechenden Gespielen umgebnen Kleinen nicht davor.
Die Schule liegt an der Ecke der Zehnten und der Mac Geestraße. Es
ist ein von hübschen Turm- und Spielplätzen umgebues einfaches, zwei- und
dreistöckiges Haus, frei auf einer Terrasse liegend, mit schönen Spiegclscheiben-
fenstern und hohen Schicksalen. Nach ihrer Organisation ist die Anstalt etwa
einer deutscheu Bürgerschule zu vergleichen. Sie nimmt die Kinder mit dein
sechsten oder siebenten Jahre auf und bringt sie für ein mäßiges Schulgeld
bis zum fünfzehnten Jahre so weit, daß sie sich entweder einem technischen
oder wissenschaftlichen Berufe widmen können, wenn sie es nicht vorziehen, in
dem meist kaufmännischen oder gelverblichen Geschäft der Eltern weiterzuarbeiten,
oder daß sie noch ein Paar Jahre nach Deutschland geschickt werden und dort
Gymnasium oder Realschule besuchen können. Mädchen gehen auch wohl auf
ein deutsches Konservatorium oder eine Gewerbeschule, doch kommt das sel¬
tener vor.
Auch in der deutschen Schule sah ich dieselben frischen, selbstbewußten
Kinder auf dem Turnplatze und in der Schulstube, wie in der amerikanischen
?ni>lie Lelaool. Um keine Antwort verlegen, dreist, oft laut, machten sie den
Eindruck von geistig selbständigen Menschen, die wohl wissen, wie viel sie sich
gefallen zu lassen brauchen. Wenn man mit ihnen sprach und scherzte, schien
es, als ob sie mehr nach der Seite des Verstandes, als nach der des Gemüts
entwickelt wären. I clon't, og-rs, ich gebe nichts drum, ist ihr zweites Wort,
namentlich in Gefühlssachen und Fragen der Heimathliebe, der Elternliebe.
Flink und behende sind sie aber infolge des vielen und guten Turnunterrichts,
den sie täglich genießen. Bestellen und Erfindungen fangen schon den Kleinen
an im Kopfe hcrumzuspuken; träumerisches Wesen findet man selten unter ihnen.
Viel Sinn haben sie für die Tier- und Pflanzenwelt, aber weniger aus
Naturschwärmerei, als aus praktischen Gründen. Man lernt die Pflanzen nicht
kennen, um die Staubgefäße zu zählen und die Klassen zu bestimmen, das sind
Nebensachen, mit denen man sich nicht lange quält, sondern um bald im Garten
der Eltern helfen, anpflanzen, säen und okuliren zu können und sich womöglich
durch ein paar seltene Sorten, die man auf dem Kinderbeete zieht, schon früh¬
zeitig ein kleines Taschengeld zu verdienen. Maxe und Moritze giebt es überall,
und in Amerika sind sie womöglich noch Pfiffiger als bei uns. Mädchen wie
Jungen sind am Barren und am Reck, auf dem Zweirad wie auf dem leben¬
digen Ponny —- wenn sie eins haben — gleich gewandt. Mit dem Revolver
wissen sie alle umzugehen, das lernen sie an den nationalen Festtagen, wo es
mit Knallerbsen anfängt und mit Scheibenschießen aufhört.
Wie gelehrig und anstellig sich dieser Nachwuchs in den Schulstunden
benahm, war eine Freude zu sehen. Ich wohnte mehreren Unterrichtsstunden
bei: Kopfrechnen, Geographie, Botanik, Handfertigkeit, Deklamiren und Lesen.
Überall herrschte dieselbe Munterkeit bei Lehrern wie bei Schülern. Die Schüler
sind nicht blöde und fragen viel, aber das sollen sie. So ist der Unterricht
wie ein Frage- und Antwortspiel, das namentlich in den obern Klassen in der
Mathematik und Naturkunde anregend wirkte und niemals Langeweile auf¬
kommen ließ. Hausarbeiten werden fast ganz vermieden, damit sich die Kinder
nicht angewöhnen, mit ihren Skrupeln und Zweifeln hinter dem Berge zu
halten oder sich mit Hilfe von Verwandten darüber hinwegzustümpern; sie sollen
dem Lehrer selbst damit kommen. Statt des lästigen Heftekorrigirens giebt
der Lehrer lieber dem und jenem eine Nachhilfestunde, die oft nichts weiter
als ein unterhaltender Spaziergang oder ein Plauderstündchen ist. Sowohl bei
meinen Besuchen in der Schule, die unangemeldet ans die Einladung des
Direktors hin stattfanden, wie beim Examen, wo die Kinder den anwesenden
Eltern zeigen sollten, was sie konnten, bewunderte ich die Gewandtheit im
Kopfrechnen, im Übersetzen und Deklamiren und die Findigkeit, wenn es galt,
kleine mathematische, technische und physikalische Rätsel zu lösen, wie sie sich
gerade aus der Unterhaltung zwischen dem Lehrer und der Klasse ergaben.
Mit dem Hersagen von auswendiggelernteu Bibelsprüchen hielt man sich
nicht auf. Aber man bemühte sich, das eben als wahr erkannte in kurze
Sprüche zu fassen. Das Unbegreifliche, Unfaßliche nannte man in den unter:?
Klassen Gott, in den obern „das Göttliche" oder auch „die Natur." Daß
darüber zu allen Zeiten und bei allen Völkern wandelbare Vorstellungen ge¬
herrscht haben, die von den Priestern zu Systemen verarbeitet worden seien,
das wußten die Größern. Das war aber auch so ziemlich alles, was sie
über Religions- und Konfessionsunterschiede hörten. Eingehenderes über
Branche und Unterschiede der Religionen lernten sie in der Lektüre kennen.
Besondern Religionsunterricht gab es nicht. Damit wird allem Konfessions-
streit schon in der Schule der Boden entzogen. Ebenso lehrt anch der Ge¬
schichtsunterricht nnr, wie der Mensch allmählich vom Kannibalismus zur
Sklaverei und von der Sklaverei zur Interessensolidarität fortschreitet, und
wie sich aller Rückschritt rächt. Auch hier ist alles erfüllt von dem kosmo¬
politischen Gedanken, und so wird das Kind auch schon über allen Rassen¬
haß durch die Schule emporgehoben. Ein „Leitfaden des religiösen Denkens"
führte unvermerkt zur Poesie. Lvngfellows Gedichte, auch Freiligrathsche,
faßten die Kiuder leicht auf, deutsch wie englisch. Es war überhaupt den
meisten gleich, in welcher der beiden Sprachen sie sich ausdrückten. Kinder,
die auf dem Schulplatze englisch mit einander geplappert hatten, hörte ich
dann den Goethischen Erlkönig in einer sächsischen Travestie (!) oder ein platt¬
deutsches Stück von Fritz Reuter vortragen.
Die beim Examen anwesenden Eltern sprachen meist kein so gutes Deutsch
wie die Kinder und drückten ihre Verwunderung über deren Leistungen oft in
sehr gemischtem ?WQKzckvg.mis.-I)nee1i aus, wie mau die Uranfänge der neuen
Weltsprache zu nennen beliebt.
In der obersten Klasse unterrichtete ein Amerikaner, der wenig Deutsch
sprach, im Englischen. Er las mit den Kindern Auszüge aus Byrons (Äcklcks
U-u'olÄ, und im deutschen Unterricht hörte ich unter der Leitung eines jungen
deutscheu Lehrers Schillers Glocke sehr gut und mit großem Verständnis vor¬
tragen von einem, der eben noch draußen auf dem Spielplatze nicht gewußt
hatte, was der Ball auf deutsch heißt. Die Fertigkeit auch der Kleinern im
Kopfrechnen setzte geradezu in Erstannen. Knaben und Mädchen von zehn und
elf Jahren rechneten den Kubikinhalt eines Zimmers aus und gaben an, ob
es nach den Gesundheitsregeln groß genug sei für die Zahl der Schüler darin,
sie wußten auch mit bewundernswürdiger Schnelligkeit Zinsesziusaufgciben zu
lösen, sooaß es einem oft schwer wurde, thuen zu folgen-
Freilich, welche Mühe es den Direktor gekostet hatte und noch kostete,
die von der Vortrefflichkeit der Sache vollkommen überzeugten Eltern zur
Weiterführung der Schule zu überreden, die man aller Augenblicke eingehen
lassen wollte, sobald sie Zuschüsse erforderte, das erfuhr ich erst später. Wenn
ein Geschäft wirklich gut sei, müsse es sich selbst erhalten, und die Gründer
müßten mindestens wieder auf ihre Unkosten kommen — so ungefähr dachten
die hartgesottenen Väter des Unternehmens.
Und was wird nun ans solchem dentschamerikanischen Nachwuchs? fragte
ich den Direktor, als sich der Schwarm verlaufen hatte.
Das, was Sie eben um sich gesehen haben: Bürgermeister, Kaufleute,
Brauer, Lehrer, Handwerker, Politiker. Die Eltern und Verwandten haben
meist auch schon solche Schulen hier oder wo anders im Lande besucht. Es
sind die Nachkommen unsrer großen achtundvierziger Answandrerwelle. Und
dieser Nachwuchs hat noch immer trotz aller Mischheiraten etwas von dem tief¬
wurzelnden Selbständigkeitsstreben in sich, das jener Zeit deu Charakter gab.
Sie haben alle ein Ziel: selbständige Menschen zu werden. Praktisch werden
sie alle; die der Erfolg nicht krönt, die sind bald verschollen und tauchen dann
wo anders, jenseits der Anden oder jenseits der großen Seen, wieder mit dem¬
selben Streben auf, und so schlecht es einem auch gehen mag, ein dienender
Geist wird keiner von ihnen. Das Deutschtum hat noch eine große Zukunft
in Amerika, und die deutsche Schule ist der Haupthebel dazu.
Stirbt der deutsche Nachwuchs nicht mit der Zeit aus, wie die Anthro¬
pologen behaupten? fragte ich weiter.
Hier unter dem vierunddreißigsten Breitengrade vermehren sich die Deutschen
ebensogut wie unter dem vierzigsten in Illinois und unter dem dreißigsten in
Louisiana, erwiderte er. Manch solches Vorurteil, das sich von Buch zu Buch
fortschleppt, würde längst besiegt sein, wenn sich die deutschen Herren Gelehrten
öfter in die neue Welt, besonders nach dem Westen und Süden hinauswagten.
Sie würden aufhöre», Amerika als ein Flüchtlingsasyl des Auswurfs von
Europa zu betrachten, und würden bald sehen, daß sich anch hier, wie im
alten Etrurien aus den griechischen Auswanderern, ein neues, großes, mächtiges
Rom gebildet hat, das der alten Welt in mancher Beziehung voran ist; am
meisten freilich im Kopfrechnen, in technischen Dingen und in der Thatcnfrische
und Naschheit des Handelns.
Ja, wenn es bloß aufs Kopfrechnen und auf die Technik ankäme, dann
gäbe ich zu, daß die neue Welt einst die alte überflügeln wird.
Da trauen Sie aber doch der amerikanischen Jugend zu wenig Gedanken¬
tiefe und Entschlußfähigkeit zu! Es ist ja richtig: wenn man so sieht, wie die
Eltern ihre Kinder erst so lange als möglich als Ersatz für die Dienstboten
betrachten, sie zum Feuermachen, zum Stiefelputzen, zum Einkaufen gebrauchen,
dann, wenn sie aus der Schule sind, sie zu Handlangern im väterlichen Ge¬
schäft ausbilden, so will einem als Schulmann manchmal der Mut sinken;
aber was solch ein junges Blut leisten kann, wenn es einmal eine Lieblings¬
idee erfaßt hat, und wenn man ihm dabei weiterhilft, das sehen Sie an einem
Eddisvn, einem Webster, einem Jngersoll, einem Marc Twain. Sie werden zu¬
geben, es steckt Schneid in dieser Nasse, sie leisten alles doppelt rasch und —
Brauchen deshalb zum Beispiel zum Studium der Medizin nur drei
Semester statt fünf Jahre, warf ich dazwischen.
Nein! Aber sie setzen ihre Gedanken schneller in die That um als die
Europäer, fuhr Herr Rathmann ruhig fort, und darum hat die Jugend hier
eine große Zukunft, die der alten Welt dereinst noch zum Muster dienen wird.
Ich würde Ihnen glauben, was Sie sagen, wenn nicht die Jugend auch
hier in Unwahrheit großgezogen würde: die Geldjagd, von der sie außerhalb
der Schule und zu Hause den ganzen Tag hört, stimmt so wenig zu den
idealen Vorspiegelungen der deutschen Dichter und Denker und zu allem, was
zur Religion in Beziehung steht, daß bei diesem ewigen Zwiespalt, in dem
sich die Kinder befinden, von Wahrhaftigkeit doch keine Rede sein kann. Wahr¬
haftigkeit im Denken und Handeln ist aber die einzige sichere Grundlage jeder
guten Jugenderziehung. Die Kinder haben bei dem mangelhaften Religions¬
unterricht kein Gegengewicht gegen die Oberflächlichkeit und Verlogenheit der
Tagcsrichtung.
Religionsunterricht, wenigstens konfessioneller, wird hier überhaupt nicht
erteilt, erwiderte der Direktor. Hier tritt Nnturlehre an die Stelle der Priester¬
offenbarung. Es giebt keine göttlichere, heiligere Lehre für die Jungen, als
was der gereiften Alten innerste, heiligste Herzensüberzeugung ist. Wir haben
mit der Gepflogenheit gebrochen, der Jugend erst etwas vorzuheucheln, damit
sie sich dann aus diesem Wirrsal selbst den Weg zur Wahrheit suche und uns
als Lügner verachte. Das Beste, das Wahrste ist für den Jugendunterricht
gerade wahr und gut genug. Und unsre Weltanschauung, gestehen wir Alten
es uns nur, beruht doch auf der heiligen Naturoffenbarung, die eins ist mit
der Gottesoffenbarung. Das ist das Beste, was wir haben, und dieses neue
Drummondsche Licht wird die Jugend trotz des sie umgebenden Baals- und
Mammonsdienstes, wenn sie erst selbständig zu denken anfängt, zu aller Wahr¬
heit leiten und —
Glücklicher Schwärmer! dachte ich, und er mochte wohl meinem Gesicht
meine Gedanken ansehen. Aber er fuhr unbeirrt fort: und wird das alte,
abgelebte Europa in der neuen Welt wieder frisch aufblühen lassen zur Weiter-
führung der Zivilisationsarbeit, nachdem sie drüben an den Schranken des
Absolutismus, der Hierarchie und der Anarchie zum Stillstande gekommen ist.
Das ist aber die Mission des Deutschtums in der neuen Welt, denn andre,
als die Deutschen, thun es doch nicht. Und darum fühle ich mich glücklich
als deutscher Schulmann hier auf diesem weitvorgeschobnen Posten, trotz aller
Schwierigkeiten meiner Pionierarbeit. —
Als ich wieder im Kabelbahnwagen faß, mußte ich unwillkürlich an die
Prophezeiung Lenaus in Kürnbergers Amerikamüdem denken.
Aber auf einmal wurde es lebendig im Wagen, denn Jungamerika sprang
herein. Es waren meine jungen Freunde aus der 1'ublio Lvuool mit dem Cor-
nelius Nepos. Sie suchten sofort in der ungenirtesten Weise dem sich sträu¬
benden Kondukteur die Zcihnrndbremse zu entwinden, sodaß dieser sie schließlich
gutwillig meinem besondern Freunde Hcirry eine Zeit lang überließ, dieser
dann sich wie ein Schiffssteuermann aufstellte und behauptete, daß er mit der¬
selben Geschicklichkeit auch das Staatsschiff lenken würde, wenn die Präsidenten¬
wahl einmal auf seine bescheidne Persönlichkeit fallen sollte.
Jugend hat keine Tugend, dachte ich; dabei gingen mir aber doch wieder
die Anfangsworte des Themistokles durch den Kopf: Die Fehler feiner Jugend¬
zeit wurden durch so große Tugenden allsgeglichen, daß keiner ihm vorgezogen,
wenige ihm gleichgestellt wurden. Warum sollte auch Hcirry nicht einmal
Präsident werden? Zumal mit Lizzie und ihrem reichen Anhang? Es ist
eine schöne Sache um das Selbstvertrauen! Hier traut sich jeder junge Mann
das Größte zu; in Deutschland werden sie erzogen, das Haupt gebeugt zu
tragen. Und warum tragen sie es gebeugt? warum?
Warum? Hatte es nicht die eine der beiden jungen Lehrerinnen in all
ihrer Backsischunschuld am Ende richtig durchschaut?
Was sind „die Baden"? Es giebt ein Land Baden, es giebt Orte des Namens Baden,
es giebt Badenser oder richtiger Badener, aber die Baden? Man weiß, daß die Hohenzollern
eins der ruhmreichsten Fürst engeschlechter sind, aber wer ist „die Hohenzollern"? Der Berg,
der die Stammburg auf seinem Gipfel trägt, ist doch „der" Hohenzollern. Es ist ein sonder¬
barer Mißbrauch, Schiffe unsrer Marine mir nichts dir nichts ins weibliche Geschlecht zu ver¬
letzen. Man sagt natürlich mit Recht „die Carola" oder „die Viktoria/' aber man sagt doch
„der Kaiser" und „der Blitz." Es ist also ebenso abgeschmackt, „die Hohenzollern" zu sagen,
wie etwa „die Kaiser." In denZeituugeu heißt es aber jetzt: Das Unglück auf der „Baden."
Warum nicht „aus dem Schiff Baden"? Oder sieht das Panzerschiff Baden nicht so gut aus
wie „die Baden"? _
An „Fällen" ist seit Jahr und Tag kein Mangel im deutschen Reiche gewesen. Die
Wissenschaft würde stillstehe», wenn Mangel an Fällen einträte, und den Zeitungen würde
der Stoff ausgehen, wenn nicht von Zeit zu Zeit ein neuer „Fall" die Spalten füllte. Dem
Vorwärts, dem sozialdemokratischen Zentralorgan, verdanken wir abermals eine Bereicherung
unsrer Kenntnisse: es giebt nicht bloß bürgerliche Fälle, wie der Fall Fusangel und der Fall
Baare, es giebt auch ndeliche Fälle. „Noch einmal der Fall von Bosse," schreibt der Vor¬
wärts in seiner Nummer vom 29. August. Wie lauge wirds dauern, so bekommt der Fall
auch noch einen Titel I Das kann gut werden: der Fall Müller, der Fall von Müller, der Fall
Freiherr von Müller.
Das sozialdemokratische Bcrichterstntterdeutsch steht auf ebenso luftiger Hohe wie das des
internationalen Kongresses. So lasen wir vor ewiger Zeit: „Zu Punkt »Verschiednes« machte
Genosse Peters darauf aufmerksam, daß u, s. w." „Zu Punkt Verschiednes" ist eine vorzüg¬
liche Lösung der Präpositionenfrage. Der Berichterstatter braucht sich nicht den Kopf zu zer¬
brechen, wie sich „zu" und „Verschiednes" verbinden läßt. Er setzt einfach „Punkt" da¬
zwischen.
In Ur. 34 des Darmstädter Stadt- und Landboteu ist eine Bekanntmachung des Ver¬
bands mittelrheinischer Bildungsvereine abgedruckt. Der Vorsitzende fragt an, ob die Einzel¬
vereine im Winter Vortrüge halten lassen wollen, und fährt dann wörtlich fort: „Welche The-
matas hält der Boreiu am geeignetsten?"
Was für Bildung mag da wohl verzapft werden?
Daß einer Zeitschrift, die sich rühmt, ein völlig fehlerfreies Deutsch zu schreiben, Freund
und Feind auflauern, um zu sehen, ob sie ihr nicht doch einmal etwas am Zeuge flicken
können, ist ebenso begreiflich wie erfreulich. Es vergeht denn auch kein Monat, wo uns nicht
Briefe oder Postkarten zugingen, die gewöhnlich mit folgendem guten Witz anfangen: „Ge¬
statten Sie mir, daß ich Ihnen für das in den Grenzboten mit so großem Eifer gepflegte
schwarze Brett einen kleinen Beitrag liefere" — und dann folgt ein Satz aus dem letzten
oder vorletzten Grcnzbvtenhefte. In den meisten Fällen verraten damit die Einsender ihre
eigne Unkenntnis oder Geschmacklosigkeit. Bor kurzem siud wir aber wirklich einmal auf
ein paar Sprachfehlern ertappt wordeu. Im 36. Hefte S. 477 steht : „daß die Redaktion
gleichgiltig genng ist, um solches Deutsch unverändert zum Abdruck zu bringen," und auf
der nächsten Seite: „die nun zum Abschluß gebrachten, zwölf Text- und einen Registerband
umfassende allgemeine Weltgeschichte." Beides sind natürlich grobe Fehler, und wir schlagen
sie am Schluß des Vierteljahres hiermit reuig an unser schwarzes Bret. Wie viel hundert
solcher falschen um zu berichtigen wir im Laufe eines Vierteljahres! Ju einem einzigen
Aufsatz oft zehn oder zwölf! Und hier hatten wir doch über eins weggelesen!
Bezeichnend ist es und für uns beruhigend, daß sich die beiden Fehler auf den letzten
Seiten eines Heftes finden, das wenige Stunden vor dem Druck noch einmal vollständig um¬
gestaltet werden mußte, weil mehrere Verfasserkorrektureu ausgeblieben waren.
Zur Beachtung
Mit dem nächsten Hefte beginnt diese Zeitschrift das
4. Vierteljahr ihres 32. Jahrganges. Sie ist durch alle Buch-
handlungen und Postanstalten des In- und Auslandes zu
beziehen. Preis für das Vierteljahr 9 Mark. Wir bitten, die
Bestellung schleunig zu erneuern.
Leipzig, im September 1et9ZDie Verlagshandlung