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]]>Drittes Vierteljahr
Leipzig
Verlag von Fr. tons. Grunow
l«92
(Die mit " bezeichneten Blinder sind in griisicm Slufsiipcu
behandelt w^rden)
as sind politische Parteien? Die einen sagen, das; sie ans der
Verdichtung politischer Theorien beruhten, die andern, daß sich
in ihnen die Interessen der verschiednen BevölkeruugSgrnppeu
abspiegelten und sich ihre parlamentarische Vertretung schafften.
In Wahrheit ist das zweite die Hauptsache und das erste neben¬
sächlich, oder beides fällt vielmehr um Grunde zusammen, denn die politischen
Theorien werden niemals ans der Luft gegriffen, sie sind abhängig von
der Zeit und der Umgebung, sind die Niederschläge beider. Selbst Platos
„Staat." der so ganz auf philosophischen Konstruktionen zu beruhen scheint,
wird mit seiner Herrschaft der „Philosophen," d. h. einer Aristokratie der
Bildung, wie sie der moderne Beamtenstaat thatsächlich ist oder wenigstens
sein will, nur erklärlich aus dem leidenschaftlichen Widerwillen, den der
Philosoph gegen die ätherische Demokratie empfand, und Roussea» hat seine
grimdstürzenden Theorien aus den thatsächlichen Verhältnissen kleiner schweize¬
rischer Demokratien abstrahirt. Jedenfalls haben bestimmte Bevölkeruugs-
gruppeu niemals andern politischen Theorien gehuldigt, als solchen, die ihrem
Interesse entsprachen, und praktische Bedeutung, Einfluß ans die Politik haben
derartige Theorie» überhaupt kaum vor dein siebzehnten Jahrhundert gewonnen.
In England verfochten die Tones das historische Königtum von Gottes Gnaden,
das die von ihm ausgegangnen Rechte des Parlaments nach Belieben erweitern
oder verringern könne. Die Tories aber waren so ziemlich gleichbedeutend
mit dem kleinen Landadel, dem das Überwuchern der städtischem Gewerbe mit
ihren Folgen, den fortgesetzten Handelskriegen, zuwider war, und ihre An¬
schauungen deckten sich mit den Bedürfnissen des Königtums, wie sie Karl der
Erste auffaßte, der nicht deshalb siel, weil er Unrecht hatte, sondern deshalb
Unrecht behielt, weil er fiel. Denn die englische Revolution, aus der schließ-
lich die Parlamentsherrschaft hervorginge war beiläufig gesagt eine Macht-,
aber keine Rechtsfrage. Die Whigs wiederum konstruirten sich ein Recht auf
Revolution, das die „große Rebellion" und die sogenannte „glorreiche Revo¬
lution" von l688 (an der dieser Name wohl das glorreichste ist) rechtfertigen
sollte, und zwar aus der Theorie von der Entstehung des Staats durch Ver¬
trag zwischen dem Herrscher und dein Volke, dessen Rechtsverbindlichkeit auf¬
höre, sobald er von der einen Seite, in diesem Falle vom König, verletzt
worden sei. Whigistisch aber waren die großen Städte und ein Teil des hohen
Adels, die trotz der königstreuen Gesinnung eines großen Teils der Bevölke¬
rung die „glorreiche Revolution" machten, weil ihnen an der Behauptung
ihrer parlamentarischen Rechte, d. h. ihrer Macht, alles lag. Welchen ver-
hnngnisvvllen Einfluß die radikal-demokratischen Theorien Rousseaus auf deu
Gang der französischen Revolution gehabt haben, ist bekannt, aber sie würden
ihn niemals geübt huben, wenn sie uicht den Interessen des großstädtische»
Proletariats entsprochen Hütten. In Deutschland gewannen politische Theorie»
erst in diesem Jahrhundert praktische Bedeutung, namentlich seit dein Ein¬
brüche des französischen Liberalismus in den dreißiger Jahren; aber anch hier
wurzeln die Parteien, die sich allmählich gebildet haben, weniger in bestimmten
Theorien, als in den Interessen der einzelnen Gesellschaftsgruppen. Die
Konservativen vertreten im ganzen die Elemente einer ältern Kultur, also das
platte Land, Adel und Bauern mit ihren landwirtschaftlichen Interessen, und
das städtische Handwerk, die Liberalen der verschiednen Schattirnngen die neu
aufkommende Kultnrmacht des Bürgertums oder vielmehr seine kapitalistischen
und industriellen obern Schichten, die Sozialdemokratin» die städtische Arbeiter-
bevölkerung. Nur die Ultramontanen wissen die verschiedensten Elemente in
Stadt und Land unter einem Banner zu vereinigen. Ähnliche Gruppen sind
im christlichen Europa immer vorhanden gewesen. Im früheren Mittelalter
stand das nltmmvntane Papsttum mit einem Teil des Klerus gegen das
deutsche Königtum, d. h. den deutschen Staat, in deu später» Jahrhunderten
der Adel gegen die Städte, »ut in den Städten die Handwerker gegen die
Großhändler. Damals wurde der Kampf oft mit den Waffen in der Hand
geführt; heute, wo die staatliche Souveränität allein das Waffenrecht übt,
sind die alten Gegensätze zu parlamentarischen Parteien abgestumpft.
Allerdings habe» alle diese Parteien in der Neuzeit immer bestimmte
allgemeine Ziele, Theorien, Ideale ans ihr Banner geschrieben, was ihnen im
Mittelalter nicht einfiel, und sie thun es noch. Dabei sind aber mehrere von
ihnen allmählich in eine gewisse Verlegenheit geraten. Denn wenn man fragt,
welche Parteien heute »och wirklich volkstümliche, die Massen bewegende und
beherrschende Ideale habe», gleichviel ob ihre Verwirklichung im allgemeinen
wünschenswert ist oder nicht, so können darnnf leider eigentlich nur noch zwei
im vollsten Sinne Anspruch erheben, nämlich die Ultramontanen und die
Sozialdemokraten. Die Ultramontanen erstreben kurz und gilt die Verwirk¬
lichung des mittelalterlichen Ideals, wie es zuerst Gregor der Siebente auf¬
gestellt hat, die Freiheit der Kirche von niler Staatsgewalt, also die Herr¬
schaft der Kirche über das gesamte geistige Leben und damit auch über den
Staat. Ihre Stärke beruht nicht bloß in der straffen Ordnung der katholischen
Hierarchie, sondern auch in der innern Folgerichtigkeit des Gedankens und in
der uralten Knlturbedeutung der Kirche, die dem Volke, und vor allem dem
katholischen Volke, weil sie sein geistiges Leben beherrscht, seine sittlich-religiösen
Bedürfnisse befriedigt, ihm in taufend Nöten hilfreich entgegenkommt, doch
immer viel näher steht, als der ewig heischende oder verbietende moderne
Staat, der als solcher ein persönliches Verhältnis zwischen seineu Vertretern,
den Beamten, und den Unterthaue» gar nicht aufkommen lassen darf und seine
Fürsorge dem Volke immer nur mittelbar angedeihe» läßt. Daß die Verwirk¬
lichung des nltramoiitanen Ideals diesen modernen Staat auflösen und ins¬
besondre die konfessionell gespaltne deutsche Nation zerstören müßte, kümmert
die Partei natürlich nicht, denn die römische Kirche ist zu allen Zeiten gegen
die Nationalität an sich und gegen die Form des Staats als untergeordnete
Dinge gleichgiltig gewesen und hat sich mit jeder zu stellen gewußt, wie jetzt
ihr Verhalten zur französischen Republik besonders schlagend zeigt. Wie
die Sozialdemokrnteu ihren Zukunftsstaat im einzelnen einrichten würden, das
verschweigen sie klüglich, weil sie es selbst noch nicht wissen, aber ihre Ideale:
Aufhebung des Privateigentums, Kollektivprvduktion und Verteilung des
Arbeitsertrages unter die arbeitenden Genossen, haben deshalb für die Massen
etwas so bestechendes, weil sie allen Nöten der Gegenwart ein Ende zu mache»
und de» Besitzlose», also der Mehrheit, el» beßres materielles Los zu sicher»
versprechen, nachdem durch die Zerstörung des Glaubens an eine sittliche
Weltordnung und an ein Jenseits der irdische Genuß als Ziel deS Daseins
hingestellt worden ist. Ju diesen atheistischen Grundsätzen liegt einerseits ihre
Stärke, weil sie die Bestie im Menschen entfesselt, ihn von jedem sittlichen
und religiösen Bedenken befreit, also unter Umständen zu rücksichtslosen Ge¬
waltthaten befähigt, andrerseits ihre größte Schwäche. Denn jede zügellose
Selbstsucht zerstört sich selbst, und eine Staatsordnung, die sich auf die Be¬
gehrlichkeit gründet, kann sich nur durch deu härtestell Zwang behaupten, trägt
also den Keim deS Untergangs in sich.
Ungünstiger stehen die Konservativen, und sie standen noch ungünstiger,
so lange sie sich lediglich Verteidigungsweise verhielten. Sie waren lange
Gegner jener Einigung Deutschlands, die sich unter Bismarcks Leitung voll¬
zog, und gelten daher mit Recht für grundsätzliche Partikularsten. Jetzt haben
sie diese Gegnerschaft längst aufgegeben und sind zu entschiednen Anhängern
der neuen Ordnung geworden. Aber sie betrachten die föderative Grundlage
der Reichsverfcissung als etwas gegebnes, unantastbares lind wolle» sie nicht
zu Gunsten einer zentralisirenden Richtung erschüttert oder verändert wissen.
Sie wollen weiter die historische Grundlage des deutschen Staatslebens be¬
haupten oder wieder zur Geltung bringen; daher wollen sie eine starke, also
keine parlamentarische Monarchie, die Erhaltung oder Wiederherstellung eines
.leistungsfähigen mittlern und kleinen Grundbesitzes und eines bürgerlichen
Mittelstandes. Sie bekämpfe» also das Übergewicht des großstädtischen Kapi¬
talismus und Industrialismus, in dem die Macht des Judentums wurzelt, und
sie erstreben endlich die Wiederbelebung einer positiven christlichen Welt¬
anschauung gegenüber dein seichten Atheismus und Materialismus, der die
„Gebildeten" in weiten Kreisen ergriffen hat. Das sind Ideale, denen der
gegenwärtige Zustand wenig entspricht, und eben weil der .Konservativismus
wieder Ideale hat, ist er fähig geworden, zum Angriff überzugehen. Es wird
daraus ankommen, ob er für diese tief einschneidenden Gedanken die Massen
derer gewinnen kann, die sie im stillen teilen, weil sie ihren Lebensbedürfnissen
entsprechen. Freilich verfügen die Konservativen weder über die straffe Or-
ganisation, wie sie den Ultramontanen die kirchliche Hierarchie zur Verfügung
stellt, noch über die blendenden Schlagworte der Sozialdemokratie, und des¬
halb wird es ihnen immer schwer werden, auf die Massen zu wirken.
So stehen jetzt in Deutschland drei große Parteien neben einander und
gegen einander, die jede ihre Ideale hat, für die sichs ihren Anhängern zu
streiten lohnt, die deshalb eine gewinnende, fortreißende Kraft haben.
Wie steht es in dieser Veziehnng mit dem Liberalismus? Seinem Ur¬
sprünge nach beruht er auf jenem französisch-englischen Naturrecht, das ein
für alle Völker, Zeiten und Kulturstufen giltiges absolutes Recht aufzu¬
stellen wähnte. Er hat deshalb immer etwas doktrinäres behalten. Er kon-
struirt sich zunächst ein souveränes Volk, dessen einzelne Mitglieder durch
Bildung zu möglichst gleichmüßiger Teilnahme am Staate heranzuziehen seien,
was freilich bei der modernen, von hundert Gegensätzen zerklüfteten Gesellschaft
ganz »»ausführbar ist; er verlangt die ausgedehnteste Selbstverwaltung der
kleinen Kreise innerhalb des Staats, obwohl diese dem demokratischen Prinzip
schon deshalb ganz und gnr widerspricht, weil jede Selbstverwaltung not¬
wendig aristokratisch ist; er will den „reinen" Parlamentarisnuis, d. h. die
Herrschaft der jeweiligen Mehrheit in der Volksvertretung, der notwendig zur
Republik führt, weil sie den Monarchen zur entbehrliche» Puppe dieser
Mehrheit macht. Er versieht in wirtschaftlichen Dingen den ungebundensten
Individualismus, das lAsnen-taire, d. h. das Recht des Stärkern und damit
den wirtschaftlichen Krieg aller gegen alle, und er ist endlich religiös gleich-
giltig, schwärmt allenfalls für eine vage Religion der „Humanität," die ans
eine flache Moralphilosophie hinausläuft und wohl für eine kleine Anzahl von
Gebildete» eine notdürftige Stütze bietet., aber den Masse» gegenüber völlig
wirkungslos bleibt. Nicht als ob diese Sätze in irgend einem der liberalen
Programme vollständig oder in scharfer Ausprägung vorhanden wären, aber
sie liegen bewußt oder unbewußt dem Liberalismus zu Grunde. Sein Sitz
ist von jeher in dem gebildeten und besitzenden Bürgertum gewesen, denn seinen
Bedürfnissen lam der Liberalismus entgegen. Es erstrebte ja eben die Be¬
freiung von der unerträglich gewordnen Bevormundung der Bürenukratie,
daher Selbstverwaltung, Anteil an der Staatsverwaltung und sreie wirt¬
schaftliche Bewegung, und es sah in den Formen und Glaubenssätzen der
Kirchen etwas veraltetes, der fortgeschrittnen „Bildung" widersprechendes. Es
sei ferne, diesem bürgerlichen Liberalismus seine großen Verdienste um unsre
innere Entwicklung absprechen zu wollen. Für große Fragen der auswärtigen
Politik hat er zwar niemals wirkliches Verständnis gezeigt, aber er hat in
einer Zeit, wo Konservativismus und Partikularismus gleichbedeutend waren,
die nationale Idee ans sein Banner geschrieben und lange Jahre hindurch die
parlamentarische Grundlage gebildet, ohne die eine Neugestaltung Deutschlands
unmöglich gewesen wäre. Er hat auch schon früher die Befreiung der Volks¬
wirtschaft von veralteten Fesseln herbeigeführt, er hat an der Errichtung der
konstitutionellen Staatsform deu hauptsächlichsten Anteil und hat die städtische
Verwaltung reorganisirt, die als sein eigenstes Gebiet naturgemäß in seinen
Händen geblieben ist und wohl die bedeutendste praktische Leistung des Libe¬
ralismus bildet, obwohl die in dem Wesen jeder kollegialischer Verwaltung
liegenden Schwächen, namentlich die persönliche Unverantwortlichleit des ein¬
zelnen, der sich immer mit einer Mehrheit decken kaun, bei ihr ebenso gut
hervortreten, wie bei jeder andern Verwaltung ähnlicher Art.
Es ist wesentlich der gemäßigte Liberalismus gewesen, der sich dieser
Leistungen rühmen darf, indem er seine Ziele oft mehr nach Zweckmäßigkeits-
rücksichten als nach Prinzipien bestimmte und die sogenannten freiheitlichen
Gesichtspunkte in entscheidenden Fragen hinter die nationalen zurückschob, d. h.
das Vaterland über die Partei stellte. Dagegen haben die „entschiednen"
Liberalen, die jetzt deu edeln Namen des „Freisinns" im Wappenschilde führen,
allerdings seit fünfundzwanzig Jahren an ihrem Parteikatechismus „unent¬
wegt" festgehalten, aber, indem sie „voll und ganz" die „echtliberalen" Grund¬
sätze verfochten, so ziemlich gegen alle Organisatiousgcsetze des Reiches gestimmt
und endlich den großen Baumeister des Reiches mit kleinlicher Gehässigkeit und
schnödem Undank zu verunglimpfen zur Schande Deutschlands nicht aufgehört.
So sind die ehemaligen Ideale des Liberalismus gegenwärtig entweder ver¬
wirklicht, oder so weit sie es nicht sind, sind sie der Verwirklichung nicht wert;
sie würden uns vielmehr, wenn sie verwirklicht würden, nur ins Verderben
sichren. Das haben die Erfahrungen der letzten Jahrzehnte deutlich gezeigt.
Der sogenannte „reine" Parlamentarismus, dem selbst nationalliberale Blätter
uoch gelegentlich verstohlene Liebesblicke zuwerfen, ist durch die Praxis der
damit beglückten Länder so gründlich widerlegt worden, wie selten ein poli-
tisches Systeiu. Eine verständigere Zukunft wird es dereinst für eine kindische
Thorheit halten, daß jetzt eine zufällige Mehrheit von ein paar Stimmen in
irgend einer vielleicht ganz untergeordneten Frage genügt, das jeweilige
Ministerium zu stürzen und unter Umständen eine schwere Krisis heraufzu-
beschwören, eine Thorheit, die dein berüchtigten polnischen I.ib«>nnn volo nicht
viel nachsteht, die jede Negierung zur Sklavin einer kennt zusammengewürfelten,
unter sich häufig zwiespältigen und zu jeder positiven Schöpfung unfähigen
Mehrheit macht und jede Stetigkeit der innern und äußern Politik aufhebt,
und ebensowenig wird man es dann begreifen, daß der rücksichtslose Despo¬
tismus und die schamlose Selbstsucht der herrschenden Partei, wie sie in Nord¬
amerika erscheinen, einmal für „Freiheit" gelten konnten. Diesem System gilt
die Regierung für die beste, die am besten zu gehorchen versteht, d. h. die
schwächste, eine Regierung also, die am wenigsten eine wahre Regierung ist.
Greift dann einmal in einem verzweifelten Falle der Monarch ganz persönlich
ein, um dem verbrieften Unfug zu steuern, wie jetzt in Griechenland, das sich
bekanntlich des reinsten Parlamentarismus erfreut und bei jedem Minister-
Wechsel sämtliche Beamten wechselt bis zum Nachtwächter hinunter, dann
schütteln die weisen Thebaner bedeutungsvoll die Köpfe über dieses „verfassungs¬
widrige" Beginnen und prophezeien ein Unheil, das merkwürdigerweise nie
eintrifft. Vial,ju8tit,in, persat muraal». Der Staat mag zu Grunde gehen,
wenn nur der „reine" Parlamentarismus gerettet wird. Wenn sich dieser
Parlamentarismus in England bis auf weitres ohne großen Schaden behauptet
hat, so verdankt er das noch mehr als dem lauge bewahrte» aristokratischen
Charakter der großen Parteien und der massiven Selbstsucht des englischen
Volkes der insulare» Lage des Landes, die es von der Notwendigkeit, eine
angestrengte, schwierige europäische Politik zu führen, entbindet. Eben deshalb
hätte dies Vorbild für festländische Staaten niemals maßgebend sein dürfen, nur
die bare Gedankenlosigkeit hat es dazu gemacht.
Noch viel schlimmer als mit dein Parlamentarismus ist die Welt mit
dem wirtschaftlichem Liberalismus gefahren. Es P ja nicht wahr, daß wirt¬
schaftliche Fragen mit dem Wesen politischer Parteien nichts zu thun Hütten;
das gerade Gegenteil ist der Fall. Vielleicht ist es gleichgiltig, ob sich ein
Konservativer zum Freihandel oder zum Schutzzoll bekennt, den» dabei handelt
sichs überhaupt nicht um prinzipielle, sondern um rein praktische Fragen, die
hente so und morgen anders beantwortet werden können. Aber ob jemand
dem manchesterlichen Gehenlassen huldigt, oder ob er der Ansicht ist, daß es
die Ausgabe des Staates sei, die wirtschaftlich Schwachen vor Unterdrückung
und Untergang zu schützen, das ist für seine politische Parteistellnng ent¬
scheidend. Das mnnchesterliche Ideal insbesondre hängt mit dem nnturrecht-
lichen Individualismus des Liberalismus aufs engste zusammen, es ist die
wirtschaftliche Folgerung uns ihm. Wer diesem liberalen Ideal wirklich treu
bleiben will, der kann gar nicht für irgendwelche Beschränkung der wirtschaft¬
lichen Freiheit des einzelnen eintreten, der muß die wirtschaftlichen Verhältnisse
dein „freien Spiel der Kräfte," dem wechselnden Verhältnis zwischen Angebot
und Nachfrage überlassen, Schon die annähernde Verwirklichung dieses Ideals,
wie sie in dem „glücklichen" England eingetreten ist, hat unermeßliches Unheil
über die Welt gebracht. Sie hat die ganze nlteOrganisation derArbeit zerstört, ohne
eine neue an die Stelle zu setzen, sie hat die arbeitende Gesellschaft in lauter
Einzelwesen aufgelöst, die sich zur weitaus größern Hälfte der Freiheit er¬
freuen, zu hungern, und zur andern sehr viel kleinern Hälfte der angenehmem
Freiheit, sich von der Arbeit der andern zu bereichern; es hat den in dieser
unvollkommenen Welt nun einmal unvermeidlichen Gegensatz zwischen reich
und arm furchtbar gesteigert und die arbeitende Menschheit in zwei schroff ge¬
trennte Kasten, die Arbeitgeber und die Arbeiter oder, wie man jetzt sagt,
„Arbeitnehmer," geschieden. Und da sollen wir in andern Ländern, wo dies
„Ideal" noch nicht so vollständig verwirklicht ist, wie in England, es noch
als ein Ideal gelten lassen und seine Verwirklichung erstreben? Das könnte
nur die Selbstsucht oder der Unverstand wollen. Für Unbefangne ist dieses
Ideal abgethan und tot.
Der religiöse Liberalismus endlich ist das Kind jener deistischen „Auf-
klärung" des vorigen Jahrhunderts, die den Unterschied der Konfessionen und
Religionen als eine» überwuuduen Standpunkt betrachtete und nur noch an
den Begriffen Gott, Tugend, Unsterblichkeit festhielt. Die edelste poetische
Verkörperung dieser Anschauungen ist bekanntlich Lessings „Nathan," und
unsre ganze klassische Litteratur steht auf diesem Standpunkte. Sie wollte
damit eine Aristokratie der Bildung schaffe», die sich aus Bekennern oder viel¬
mehr Augehörigen der verschiednen Konfessionen zusammensetzte und die reine
Humanität als das Ideal des gebildeten Mannes feierte, und hat sie ge¬
schaffen. Ihr verdanken wir Deutschen, daß die konfessionellen Gegensätze,
unter denen wir mehr gelitten haben als jedes andre Volk, zurücktraten, und
daß der nationale Gedanke möglich wurde. Aber jene ganze Richtung hat
doch übersehen, daß sie schlechterdings nur für eine kleine Minderheit brauchbar
war, der die wirkliche Not des Lebens fern lag. Für die materielle und sitt¬
liche Not der Massen hat sie wenig Sinn gehabt, und wer dürfte hente be¬
haupten, daß die Anschauungen unsrer klassischen Dichter ins Volk gedrungen
seien? Im vollen Sinne des Wortes volkstümlich ist diese Litteratur niemals
gewesen, sie wollte es nicht sein, und sie wird es nie sein. Wenn nur die
Mehrzahl der Gebildete,? »och jene Ideale wirklich hätte! Aber sie sind weit
entfernt davon. Der religiöse Liberalismus unsrer Tage ist zwar ein Ab¬
kömmling jener Aufklärung, aber ein recht entarteter Sprößling. Er hat mit
keiner Mutter nur noch die Gleichgültigkeit gegen den positiven Glauben, aber
seineswegs mehr ihre Ideale gemein, er ist pessimistisch und materialistisch,
d. h. atheistisch geworden. Daruns fließt einerseits eine bedenkliche Abschwächung
des Gefühls der sittlichen Verantwortlichkeit, da dies im vollen Sinne nur
der haben kann, der an eine sittliche Weltordnung glnnbt, andrerseits eine
ungesunde Überschätzung des irdischen Daseins, das ja für den Materialisten
und Atheisten gleichbedeutend ist mit dein Dasein überhaupt. Ans jener er¬
giebt sich die schreckliche Zunahme der Selbstmorde, da man zu feige ist, das
Unglück zu ertragen oder eine Schuld ehrlich zu sühnen, aus beide» die weich¬
liche Humanitätsduselei, die unsre Strafgesetzgebung und noch mehr unsre
Strafrechtspflege ergriffen hat. Hatte jene in der für Deutschland zum Glück
wieder rückgängig gemachten Abschaffung der Todesstrafe ihren Höhepunkt er¬
reicht, so behandelt diese den Verbrecher nur zu oft als unglückliches Opfer
der „Verhältnisse," oder wohl gar als einen Helden, oder am liebsten als
einen geistig gestörten Menschen, den man allenfalls ins Irrenhaus, aber nicht
ins Zuchthaus sperren dürfe, und bekämpft die wachsende Roheit mit kurzen
Freiheitsstrafen, die zuweilen geradezu als Prämie für das Vergehen erscheint.
Von der gedankenlosen Genußsucht vieler „Gebildeten" wollen wir gar nicht
reden, deun diese ist Wohl uicht schlimmer, als sie zu andern Zeiten gewesen ist.
Mögen nun die schlimmen Folgen des religiösen Liberalismus bei den Ge¬
bildeten äußerlich noch weniger hervortreten, bei den städtischen Arbeitermassen
hat er alle Grundlagen der Religion und der Sittlichkeit zerstört, sie zur
Sozialdemokratie getrieben, sie zu Todfeinden der Ordnung, die sie umgiebt,
zu zivilisirten Barbaren gemacht. Wollten wir dieser Richtung weiter folgen,
so würden wir mit sehenden Angen in den Abgrund rennen. Auch das re¬
ligiös-sittliche Ideal des Liberalismus, womit man ja uicht die Duldsamkeit
der Bekenntnisse unter einander verwechseln möge, ist tot.
Und damit ist das Urteil über den ganzen Liberalismus als politisches,
wirtschaftliches und religiöses Prinzip gesprochen. Er hat seiner Zeit geleistet,
was er leisten sollte und leisten konnte, aber heute sind seine Ideale, weil sie
entweder im Laufe der Entwicklung verwirklicht oder in ihrer Verderblichkeit
erwiesen worden sind, keine Ideale mehr, und eine Partei, die keine Ideale
mehr hat, ist selber tot, sie erliegt wie jede geschichtliche Erscheinung dem Ge¬
setze des historischen Undanks. Die üppigsten Redcergiisse der Parteifeste
können darüber eben so wenig täuschen wie etwaige künftige Wahlsiege der
Linksliberalen. Jene eröffnen, trotz der üblichen Selbstbespiegelung, kaum noch
einen Ausblick in die Zukunft, sondern nur noch Rückblicke in eine (für die
Partei) beßre Vergangenheit, und neue Wahlsiege der „Freisinnigen" würden
nur beweisen, daß die Zahl gedankenloser Gewohnheitsmenschen, blinder Egoisten
und unbelehrbarer Prinzipienreiter im lieben Deutschland noch groß ist.
Aber wenn die alten Ideale des Liberalismus für die Gegenwart nichts
mehr bedeuten, wird um etwa das gebildete und besitzende Bürgertum, das
sein Träger gewesen ist, ans der Zahl der politischen Mächte ausscheiden?
Ganz gewiß nicht, dein, es bildet einen sehr bedeutenden Bruchteil unsrer
Gesellschaft nud wird und muß daher als die Vertretung des beweglichen Ver¬
mögens und bestimmter hvchbedcnteuder Verufsarten in deu parlamentarischen
Körperschaften nach wie vor seine Bedürfnisse zur Geltung bringen. Aber es
wird künftighin weder die rein politische noch die wirtschaftliche Entwicklung
in dem Grade beherrschen, wie es ihm jahrzehntelang möglich gewesen ist, so
lange, als es die wesentlichste Stütze des nationalen Gedankens abgab und die
uichtbürgerlichen Elemente unsers Volkes sich jenein Gedanken noch versagten,
es wird auf die lauge festgehaltue Einbildung verzichten müssen, daß es mit
dem „Volke" zusammenfalle. Einen maßgebenden Einfluß, einen Einfluß, wie
er seiner materiellen und geistigen Kraft entspricht, wird es nur dann wieder-
gewinnen können, wenn es sich neue Ideale schafft an Stelle der erfüllten oder
abgelebte».
o oft sich der Reichstag mit der Beratung des Militnrhanöhalts
beschäftigt, bringen Deutschfreisümige und Sozialdemokraten
Soldateumißhandlungen zur Sprache. Es unterliegt keinem
Zweifel, daß gerade diese Rcichstagsverhandlnngen im Auslande
und hauptsächlich bei unsern westlichen Nachbarn Mit Behage»
gelesen und als Beweise für deutsche Barbarei ausgenutzt werden. Mancher
Elsässer und Lothringer wandert dann nach Frankreich und erduldet in der
Fremdenlegion in Afrika und in Asien in Tvngting eine Behandlung, gegen
die unsre Militärzucht selbst da, wo sie sich im Übereifer bis zu dem juristischen
Begriff der Mißhandlung steigert, ein Kinderspiel ist. Mau lese doch uur die
Berichte von Fremdenlegivnären, deren die letzten Jahre eine ganze Anzahl
gebracht haben, um sich über die dort dienstlich verhängten Strafen zu unter-
richten, und mau wird einsehen, daß die Behandlung, die dem Soldaten im
deutschen Heere zuteil wird, durchaus human ist, soweit sie sich in deu ge¬
setzlich vorgeschriebnen Grenzen hält. Unsre Militnrstrafgesetzgelmng und unsre
Disziplinarstrafvrduuug braucht den Vergleich mit keiner gesetzlichen Bestim¬
mung der Art in ander» Staaten zu scheuen. Die rücksichtslose» Anzapfungen,
denen die Vertreter unsers Heerwesens im Reichstage gerade in dieser Richtung
ausgesetzt sind, müsse» im Auslande den Gedanken erwecke», als wäre» unsre
Strafbestimmungen mangelhaft, soweit sie sich auf Verhütung von Mi߬
handlungen beziehen, oder vielmehr als wäre die gesetzlich vorgeschriebue Be¬
handlung unsrer Soldaten eine grausame. Und doch ist das keineswegs der Fall.
Es liegt durchaus nicht in meiner Absicht, zu behaupten, daß nicht in
der That Quälereien und selbst Mißhandlungen im Heere vorkamen. Ich will
vielmehr an der Hand einer vierzigjährigen Diensterfahrung in preußischen
und nnßerprenßischen Heeresteilen nachweisen, daß derartige Vergehen gegen
Untergebne überall zu Tage trete», wo es sich um die Beugung des Willens
vieler nnter einen und um die Erreichung einer für den Zweck nötigem körper¬
liche» Leistung handelt. Ich unterscheide dabei einfache körperliche Mißhand¬
lungen (wie Püffe, Ohrfeigen, Schläge) von Quälereien und Gemeinheiten,
wie sie durch den bekannten sächsische«: Erlaß zu Tage getreten sind. Daß
diese gründlich geahndet worden sind, beweist der erwähnte Erlaß. Anstatt
also immer nur dem Entsetzen über das Vorkommen solcher heimtückischen
Gemeinheiten Ausdruck zu geben, sollte man vielmehr seine Anerkennung darüber
aussprechen, daß sie so bestraft worden sind. Die erwähnten Gemeinheiten
gehören übrigens leider auch zu den Dingen, wie sie aus größern Instituten
erzählt werde», wo sich ältere Jungen herausnehmen, kleinere Schüler sür
Angebereien u. tgi. in ähnlicher Weise zu bestrafen. Diesen Dingen läßt sich
nur durch eine bessere Hcrzenserziehung der Jugend entgegenarbeite»; sie gehen
im Heere oft von den Kameraden selbst aus, auch von Unteroffizieren, deren
Bildungsstandpuukt und Erziehungsgang nicht ihrer Stellung entspricht. Die
Offiziere ohne weiteres sür diese Roheiten und Gemeinheiten ihrer Untergebnen
verantwortlich zu mache», wie es im Reichstage gewöhnlich von den erwähnten
Parteien geschieht, ist ein umso größeres Unrecht, als gerade dieselben Par¬
teien jederzeit die Mittel verweigern, die zur Beschaffung besserer Unteroffiziere,
oder sagen wir lieber, um unsern tüchtigen Unteroffizieren nicht zu nahe zu
trete», zur Ausmerz»»g der schlechte» Elemente unsers Ilnteroffizierkvrps
und zum Ersatz durch bessere erforderlich sind.
Wer den heutigen Dienst unsrer Offiziere aller Waffen kennt, wird es
durchaus nicht unbegreiflich finden, daß sie nicht jeden Abend noch Kasernen¬
zimmer und Ställe abpatrvuilliren können, um derartigen Vergehen ihrer Unter-
gebneu ans die Spur zu kommen. Gegen solche Vorkommnisse kaun nur die
Anzeige des Betroffnen oder seiner Angehörigen und, wie gesagt, die Ent¬
fernung aller schlechten Elemente aus dem Unteroffizierstnnde helfen. Vvn-
seiten der Offiziere kann dnrch geeignete Belehrung der Unteroffiziere und der
Mannschaften allerdings auch eingewirkt werden, und das geschieht auch. Der
Hauptmann benutzt die Appells, er nimmt seine Unteroffiziere allein zusammen,
er wirkt auf sie ein durch den theoretischen Unterricht, wo vorgekvmmne Be¬
strafungen in der Kompagnie durchgenvmme» und erörtert werden können, kurz,
es giebt für ihn und seine Offiziere eine Meuge von Gelegenheiten, wo er
auf den Geist seiner Untergebnen einwirken kann. Daß nicht jeder Hauptmann
und nicht jeder Offizier, auch nicht jeder höhere Kommcittdeur stets de» wirk¬
samsten, richtigen Weg einschlagen wird, liegt auf der Hand. Dafür find wir
Menschen. Ein Weg aber ist entschieden falsch und führt gerade zu Quäle¬
reien, während es der richtigen Wege viele giebt. Dieser falsche Weg besteht
in den Gesamtbestrafnngen, wenn ich es so nennen soll. Dahin gehört z. V.
die Entziehung der Erlaubnis, in der dienstfreien Zeit auszugehen, ganzen
Korpornlschaften, Beritten oder Geschützbedienungen gegenüber, wenn wiederholt
in dieser Korporalschaft Verstöße gegen Reinlichkeit, Ordnung u. tgi. vor¬
gekommen sind. Was ist denn natürlicher, als daß die Kameraden ihr Kor¬
poralschaftsmitglied, das die Ursache eines solchen Verbots gewesen ist, auf
irgend eine Art bestrafen. Diese Bestrafung artet aber dann allzuleicht zur
Quälerei aus. Man hüte sich deshalb vor dergleichen Mnssenstrafen und
bestrafe stets nnr den Schuldigen selbst. Massenstrafen oder Mnssenverbote
lassen sich nur rechtfertigen, wenn man ein Komplot vermuten muß, das den
eigentlichen Rädelsführer nicht nennen will. Eine ähnliche falsche Art ist es,
stets den Vorgesetzten für die Vergehen der Untergebnen verantwortlich zu
machen und zu strafen. Das reizt den Unteroffizier leicht, dann an dem Unter¬
gebnen, für dessen Vergehen er allein oder auch mit diesem leiden muß, Rache
zu nehme» und da dein Unteroffizier, und zwar mit Recht, keine Strafbefugnis
zusteht, so greift er zu Quälereien.
Diese Erörterung dürfte genügen, auch dem Laien klar zu machen, daß
der Dienst eines Vorgesetzten im Heere nicht leicht ist, daß der Vorgesetzte
ein hohes Maß von Menschenkenntnis, Berufstreue und Charakterfestigkeit
besitzen muß, um allen Anforderungen gerecht zu werden, die gerade die er¬
zieherische Seite unsers Heeresdienst? an ihn stellt. Die eigentlichen militä¬
rischen Kenntnisse, soweit man solche auf der Schule und, wie man im ge¬
wöhnlichen Leben sagt, aus Büchern lernt, sind bald begriffen. Aber damit
ist der Offizier noch lange kein Soldat für alle Wechselfälle des Dienstes und
noch lauge kein Erzieher. Dazu gehört Studium der Geschichte des Heer¬
wesens und vor allem des ihn umgebenden Lebens, Studium mit offnen,
klaren Augen. Denn die Schwierigkeit für ihn und seine geistige Thätigkeit
liegt uicht darin, daß er selbst das volle Maß der militärischen Kenntnisse
inne hat, die der Soldat haben soll, sondern darin, daß er die Naturanlagen
seiner Untergebnen richtig zu beurteilen versteht, um jedem dieses Maß von
Kenntnissen anch sicher beizubringen und ihn zum Soldaten zu erziehen.
Diese Hauptforderung muß man nicht nur für die geistige, sondern auch
für die körperliche Erziehung der Untergebnen an die Vorgesetzten aller Grade
stellen. Schon von dem alten General von Möllendvrsf ans den neunziger
Jahren des vorigen Jahrhunderts ist ein Befehl vorhanden, der den Offizieren
eine wohlwollende Behandlung der Mannschaften vorschreibt, und noch früher,
in den Reglements für die Infanterie vom Jahre 1726 wird die Erwartung
ausgesprochen, daß es ohne Schelten und Schlagen gelingen werde, dein „neuen
Kerl" Lust und Liebe zum Dienst und zum Soldatenstande zu erwecken. Daß
diese Forderung auch heute »och uicht ganz erfüllt wird, ist unbestreitbar.
Daß es aber mit der Behandlung wesentlich besser geworden ist, steht ebenso
fest. Diese Besserung hängt einmal mit der bessern und mildern Gesetzgebung
zusammen, die körperliche Strafen überhaupt aus dem Militärstrafgesetzbuche
verbannt und körperliche Mißhandlung Untergebner mit Strafe und zwar zum
Teil mit äußerst strenger Strafe ahndet; aber auch unsre verbesserte Erziehungs¬
art in der Schule und unsre veränderte Ausbildungsart im Heere hat einen
wesentlichen Anteil um dieser Besserung. Und mit den Fortschritten, die die
neuere Ausbildungsart noch machen wird, mit dem größern Verständnis dafür
wird die Behandlung immer besser, die Mißhandlung immer seltner werden.
Noch bis in die fünfziger Jahre unsers Jahrhunderts machte man z. B.
von den Turnübungen in manchen Heeresteilen gar keinen Gebrauch. Mau
sah sie als Spielerei, ja als politisch gefährliches und deshalb mit allen mili¬
tärische!? Übungen durchaus unverträgliches Treiben an. So wurde der Rekrut
vom Pfluge oder vou der Hobelbank weg unmittelbar in die vorschriftsmäßige
militärische Haltung eingezwängt. Wie der (leider zu früh verstorbne) Major
von Plönnies in seinem „General Leberecht Freiherr von Knopf" sehr richtig sagt:
man suchte dem Soldaten seine natürlichen Gehbeine möglichst rasch durch el»
pnnr militärische Marschierbeiue zu ersetzen. Die Handhabung der Waffe, na¬
mentlich des Schießgewehrs, suchte mehr ihren Erfolg und ihr Ziel im Klipp¬
klapp der Griffe, als in den Treffern am Ziele. Müssige Leute hatten aus
der Zahl der Verwundeten in den Kriegen zu Anfang des Jahrhunderts heraus¬
gerechnet, daß mau das Gewicht eines Mannes an Blei verschießen müsse,
um einen Mann außer Gefecht zu setzen. Die Reiterpistole erachtete mau als
sehr nützlich, um im Falle der Not einen Signalschuß abzugeben; wolle mau
sich aber den Gegner vom Leibe halte», so sei es zweckmüßiger, ihm die Pistole
an den Kopf zu werfen, als nach ihm zu schießen. Der Säbel diente auch
mehr zum Griffemachen und zum Paradire», als zum Fechte». Beim Reit-
uuterricht erachtete ma» es für zweckmäßig, wenn der Reiter erst einigemale
vom Pferde gefallen wäre; de»» ohne Herunterfallen erlerne niemand das
Reiten. Daß bei solchen Grnndsütze» den Rekruten die ersten Monate ihrer
Dienstzeit zu einem wahren Fegefeuer werden mußten, liegt ans der Hand,
ebenso, daß die Vorgesetzten im Diensteifer und in dem steten Anschauen der
Ungeschicklichkeiten der Leute die Geduld verloren u»d drei»schlugen, wo es
nicht schnell genng vorwärtsging. Da kamen die neuen gezognen, also besser
treffenden Waffe». Die Einführung der Hinterladung mit Eiuheitspatroue
verminderte die Zahl der Gewehrgriffe, die mit der alten glatten Muskete
mit dem Feuerschloß etwa sechsundzwanzig betrug, dann bei Einführung der
Muskete mit dem Zündhütchen-(Perkussivns-)Schloß auf etwa vierzehn hcrab-
gi»g, immer mehr, sodaß man hente, wo wir Mehrlader führe», die in zwei
Griffen schußfertig sind, und wo die eigentlichen Exerzirgriffe auch noch ver-
mindert worden sind, mit voller Befriedigung und mit voller Wahrheit sagen
dürfen, daß die Ausbildung des Mannes mit der Waffe heutzutage viel ge¬
ringere Schwierigkeiten biete als vor fünfzig Jahren. Dazu kommt, daß man
ein besseres Verständnis für die Anwendung des Turnens, der Freiübungen,
überhaupt der gesamten Gymnastik gewonnen hat. Man betrachtet das Turnen
nicht mehr als Selbstzweck, man will also keine Zirkus-, keine Trapezkünstler
ausbilden, sondern man wendet Freiübungen und Turnen an, um den Leuten
den gleichmäßigen Gebrauch ihrer Glieder zu lehren und um ihre Entschlu߬
fähigkeit zu steigern. Ein verständiger Jnstruktor sieht sich also seine Leute
an, beurteilt sie nach ihrer Körperbeschaffenheit, nach ihrer Verufsart und
nimmt dann die Freiübungen mit ihnen vor, die ihm angemessen erscheinen,
um den harmonischen Gebrauch der Glieder bei jedem zu erreichen, mit einem
Wort, er läßt den Schuster und den Schneider von Anfang an nicht die¬
selben Freiübungen machen, wie den Maurer und den Schreiner. Am Schluß
der Ausbildung muß natürlich jeder mit gleicher Fertigkeit leisten, was der
Waffendienst von ihm verlangt. Auch bei der Erteilung des Reitunterrichts
haben nach und nach andre Grundsätze Eingang gefunden. Man ist mit Recht
der Meinung, daß es dem zukünftigen Reiter mehr Lust an seinem Dienste
beibringe, wenn er als Rekrut, nachdem er vielleicht nie in seinem bürgerlichen
Leben in die Nähe eines Pferdes gekommen ist, nicht in jeder Reitstunde
einige Partcrrebillets nehmen muß, wie sich ein alter Offizier auszudrücken
pflegte. Man gestattet den Leuten vielmehr, sich in irgend einer Weise fest¬
zuhalten, um auf dein Rücken des Tieres zu bleiben. In Verbindung mit
den für den Reiter förderlichen Freiübungen lernt er bald das Gleichgewicht
auf dem Pferde und damit dann den richtigen Halt bei den verschiednen Be¬
wegungen finden. Wie sehr man an leitender Stelle den Wert der Freiübungen
und des Gerätturnens anerkennt, und von wie richtigen Grundsätzen man dabei
ausgeht, beweist die Thatsache, daß man, der verschiednen Anstrengung der
Muskeln elitsprechend, besondre Unterrichtsbücher sür das Turnen der Truppen
zu Pferde und für das der Truppen zu Fuß herausgegeben hat.
Um der Versuchung zu Mißhandlungen vorzubeugen, ist ferner in vielen
Regimen tern dem Unteroffizier verboten, beim Kommandiren den Säbel zu
ziehen, wenn kein Offizier zugegen ist. Ebenso besteht in manchen Regimentern
das Verbot, beim Neitnnterricht die Peitsche zu gebrauchen. Diese Verbote
beruhen auf der Erfahrung, daß der Borgesetzte in der Erregung des Augen¬
blicks, oft auch ganz absichtslos, mit Säbel oder Peitsche einen Mann verletzt
und sich dann selbst eine Strafe zuzieht, die für das Vergehen unverhältnis¬
mäßig hart ist. Wer sich aber unterrichten will, mit welcher Sorgfalt man
im Heere über die beste und zweckmäßigste Nusbildnngsart nachdenkt, und zwar
gerade in der ausgesprochen Absicht, alles wegzuräumen, was zu Mißhand¬
lungen führen kann, der lese in den Schriften des kürzlich verstorbnen Generals
der Artillerie und Generaladjutauteu des Kaisers, Prinzen Kraft zu Hohenlohe-
Jngelfingen, die Briefe über Infanterie, namentlich den zweiten und dritten
Brief. Ich will nur eine Stelle aus dem zweiten Briefe anführen, wo der
Prinz über die Ausbildung der Gardeinfanterie spricht und sich von einem
Kompagniechef des Aleranderregünents erzählen läßt, warum dort die Nelrnte»
nicht sofort nach ihrem Eintritt eingekleidet auf dem Übungsplatz erscheine»
und da gedrillt werde». „Er — nämlich der Hauptmann, den der Prinz
darüber befragt — setzte mir auseinander, wie jeder Mensch niedern Standes
in seinen heimatlichen Beschäftigungen seine Muskeln nur einseitig anstrenge,
andre der Schuster, andre der Schneider, andre der Holzhacker, andre der
Bauer; wie die minder entwickelten Muskeln durch Ruhen zu verkümmern
drohten, und wie es daher dem ankommenden Rekruten (unter zehn Fällen
nenn mal) schwer, fast unmöglich werde, gerade zu stehe» und zu gehen. Mit
Zwang könne er es allenfalls, aber nur unter Schmerz, der sich nicht selten
zu Muskelkrämpfeu steigere, ihn mitunter auch, in Verbindung mit all dem
Neuen und Ungewohnten, das der Rekrut in dein neuen Verhältnis finde, in
Verbindung mit dem Heimweh, zur Verzweiflung, nicht selten zu Widersetz¬
lichkeit, Verbreche», ja Selbstmord treibe. Deshalb sei es bei der Garde-
infanterie Tradition geworden, dem Rekruten erst durch allseitige gymnastische
Freiübungen, mit denen man in den Stuben ganz allmählich ohne Anstrengung
vom Leichter zum schweren übergehe, zu lehren, wie er Gewalt über alle seine
Muskeln gewinne." Dieses naturgemäße Verfahren besteht nun keineswegs in
der Garde allein. Es wird in andern Regimenter» aller Waffe»galen»gen in
der Linie ähnlich betrieben. Aber selbstverständlich ist es kein Universalmittel.
Es giebt auch keine bestimmte gedruckte oder geschriebene allerseits verbindliche
Instruktion darüber, und das kaun bei der Ausbildung des Soldaten so wenig
der Fall sein, wie bei der Ausbildung irgend eines andern Geschöpfs, weil
dabei stets der persönliche Charakter, das persönliche Verständnis von Lehrer
und Schüler mitsprechen muß. In unserm Heere setzt mau deshalb immer
nur das Ziel der Ausbildung fest, nämlich die Kriegsfertigkeit, während man
den Weg zur Erreichung dieses Zieles dem Ermessen des verantwortlichen
Vorgesetzten überläßt. Daß dabei das Verfahren oder Verhalten des einen
leichter zu einer Mißhandlung führen kann, als das des andern, liegt auf
der Hand. So ist z. V. der Begriff der „Schneidigkeit" bei jungen Vor¬
gesetzten leicht eine Veranlassung, den Untergebnen körperlich anzufassen, um-
somehr, als der Soldat selbst einen schneidigen Vorgesetzten höher schätzt, als, um
mich des Soldatenausdrucks zu bedienen, einen „schlappen." Zwischen schneidig
und schlapp liegt aber eine große Zahl von Zwischenstufen, und Sache des
Borgesetzten ist es, den richtigen, d. h. den zum Ziele führendem Weg, zu finden.
Ein weitrer Grund, weshalb Mißhandlungen nicht noch erfolgreicher be¬
kämpft werde», als es ohnehin schon geschieht, liegt in unsrer Strafgesetzgebung,
die jedes körperliche Anfassen, jeden Stoß oder Schlag, sobald er zur An¬
zeige kommt, gerichtlich zu behandeln befiehlt. Der höhere Vorgesetzte hat
also einen zu geringen Spielraum, seinen Untergebnen vor Folgen zu schütze»,
die weit über das Vergehen hinausgehe». Sobald nachgewiesen ist, daß ein
Vorgesetzter einen Untergebnen wirklich absichtlich berührt hat, um ihn
zu stoßen oder zu schlagen, so steht der Begriff der Mißhandlung fest, und
der Fall muß, sobald er zur Kenntnis des Vorgesetzte» kommt, gerichtlich be¬
handelt werden. Die Strafen lauten auf Gefängnis oder Festungshaft bis
zu drei Jahren; in minder schweren Fällen kann bis auf eine Woche Arrest
heruntergegangen werden. Neben Gefängnis oder Festungshaft kann zugleich
auf Dienstentlassung (Offiziere) oder Degradation (Unteroffiziere) erkannt
werden, im wiederholte» Rückfall ist auf diese Ehrenstrafe zu erkennen, wenn
als Freiheitsstrafe Gefängnis oder Festungshaft verhängt wird. Bei schweren
Verletzungen als Folge der Mißhandlung gehen die Strafen noch bedeutend
höher. Aus diesen Bestimmungen ergiebt sich, daß jede Mißhandlung kriegs¬
rechtlich geahndet werden muß. Der Vorgesetzte, der es unterläßt, eine zu
feiner Kenntnis gelangte Mißhandlung eines Untergebnen zum gerichtlichen
Austrage zu bringen, ladet schwere Verantwortung auf sich, und ich kann aus
meiner Dienstzeit einen Fall anführen, wo ein solcher Vorgesetzter, der eine
Mißhandlung nur disziplinarisch, nicht kriegsrechtlich geahndet hatte, genötigt
wurde, seinen Abschied zu nehmen. Also die Vorgesetzten werden in diesen
Fällen nicht geschont. Man vergegenwärtige sich nun, daß sich ein braver,
vielleicht nahe an der Erreichung seines Zivilversorguugsschcins stehender
Unteroffizier hat hinreißen lassen, einem Untergebnen eine Ohrfeige zu geben
oder ihn fest anzufassen. Die Sache wird kriegsgerichtlich behandelt; deun
sein Hauptmann und sein Regimentskommandeur können ihn bei Gefahr für
ihre eigne Stellung nicht bloß disziplinarisch bestrafen. Der Unteroffizier er¬
hält vielleicht nur die geringste Strafe von einer Woche Arrest, aber eben
diese Strafe muß als eine kriegsgerichtliche in seine Personalpapiere einge-
tragen werden. Nun meldet er sich uach seinein Abgange zu einer Zivilstelle.
Wird der betreffende Zivilbeamte, dem vielleicht die Auswahl unter recht vielen
Bewerbern zusteht, nicht vor allem die ausschließen, die während ihrer Dienst¬
zeit gerichtlich bestraft worden sind? Niemand wird bestreikn, daß in diesem
Falle, und deren giebt es viele, die Folgen der Strafe die Schwere des Ver¬
gehens weit überschreiten! Schon zu Kaiser Wilhelms des Ersten Zeiten mußten
die Regimenter alljährlich Verzeichnisse der wegen Mißhandlung vou Unter¬
gebne» bei ihnen vvrgekvmmnen Bestrafungen an das Kriegsministerium ein¬
reichen. Die Strafbücher der Kompagnien, Schwadronen und Batterien werden
in gewissen Zeiträumen von den hohem Vorgesetzte», nud zwar nicht bloß
ans richtige und saubere Führung, sondern ans die Angemessenheit der ver¬
fügten Strafen hin durchgesehen. Zweifelhafte Fälle müssen auf Befehl durch
Berichte erläutert werden. Man wird also zugestehen, daß von oben herab
alles geschieht, den Soldaten zu schützen. Man wird aber auch die Ansicht
nicht unberechtigt finden, die dahin geht, daß der Vorgesetzte besser geschützt
wäre und öfter und sachgemäßer eingreifen könnte, wenn die Mißhandlungen
geringerer Art seiner Disziplinarstrafbefugnis ausdrücklich überlassen wären.
Bestimmungen oder Erläuterungen darüber bestehen wohl, sie sind aber nicht
präzis genug. Das Publikum selbst ahnt oft nicht die Tragweite, die eine
Anzeige gegen einen Vorgesetzten wegen Mißhandlung hat, und es sind mir
aus der Praxis Fälle bekannt, wo der Anzeigende, als ihm Mitteilung davon
wurde, welche Strafe der betreffende Vorgesetzte infolge dieser Anzeige be¬
kommen hatte, höchlich erstaunt war und erklärte, so schlimm habe er es nicht
gemeint, er sei des Glaubens gewesen, der verklagte Offizier oder Unteroffizier
würde eine kleine Verwarnung bekommen, aber an Arrest oder gar an Festung
habe er nicht gedacht. Ein etwas größerer Spielraum des mit der Straf¬
gewalt bekleidete,? Vorgesetzten in der Bestrafung von Mißhandlungen könnte
und würde gewiß nur von Nutzen sein.
Aus allem dürfte hervorgehen, daß die Art und Weise, wie das Kapitel
der Svldatenmißhandlungen im Reichstage und in vielen Parteiblättern gegen
unsre Heeresverwaltung und gegen die Vorgesetzten unsers Heeres ausgebeutet
wird, zu einer ungerechten Beurteilung unsers Heerwesens im Lande selbst,
namentlich aber in dem uus wenig günstig gesinnten Auslande führen muß.
Daß Verbesserungen möglich sind, habe ich anzugeben nicht unterlassen; daß
man aber auch an maßgebender Stelle fortgesetzt strebt, solche Verbesserungen
einzuführen, steht ebenso fest. Ein öffentliches Gerichtsverfahren, wie es als
Radikalmittel von der Opposition hingestellt wird, könnte auch nicht alle Mi߬
handlungen verhüten. Denn damit wäre immer noch nicht erreicht, daß alle
Fälle zur Anzeige käme», und auch in der öffentlichen Verhandlung könnte
nicht strenger geurteilt werden als jetzt. Denn ich glaube gezeigt zu haben,
daß gerade das Publikum, Gemeinheiten abgerechnet, wie sie eingangs erwähnt
wurden und strenge bestraft worden sind, die gewöhnlichen Mißhandlungen
weit milder ahnden würde, als es das Kriegsgericht thut. Man vergleiche doch
nur Strafe», die das öffentliche Schöffengericht in ähnlichen Fällen verhängt!
Damit Null ich keineswegs gegen das öffentliche Gerichtsverfahren im Heere
sprechen; denn das Heer braucht in keiner Hinsicht die Öffentlichkeit zu scheuen.
Daß der Heeresdienst nicht die Hölle ist, wie man nach den Reden unsrer
Oppvsitionsmänner gelegentlich des Heereshaushalts denken müßte, geht schon
aus dein Bestehen der zahlreichen Kriegcrvereiue hervor, die sich mit Freuden
um die im Heere zugebrachte Zeit erinnern. Daß aber ein Hauptmann seine
Kompagnie mit denselben Mitteln ausbilden sollte, wie die Vorsteherin eines
Instituts ihre „höhern Töchter," das wird wohl niemand verlangen.
s könnte sein, daß unsre Volksvertretungen einmal über das
Thun und Treiben der Studenten, ihre Organisationen und
Formen nicht bloß bei Gelegenheit debattiren wollten, sondern
auch zu beschließen hätten. Dazu fehlt es aber der Öffentlich¬
keit so sehr an einer genaue» Kenntnis dieser Dinge, daß dieser
Mangel auch durch Material aus den Ministerien und Gutachten von akade¬
mischen Senaten oder von Professoren nicht ausgeglichen werden könnte; wir
fürchten sogar, daß derartige Denkschriften selber bedeutend unter jener Un¬
kenntnis leiden würden. In den Erörterungen der Presse taucht freilich das
Studentenwesen zuweilen kometenhast auf, verschwindet aber selbst in der
Sauerngurkenzeit wieder unheimlich schnell, weil die Journalisten sehr bald
ihre ärmlichen Quelle» über den Gegenstand ausgeschöpft haben und auf
neue Speisung warten müssen, die ihnen ja auch gelegentlich zu teil wird; so
neulich dadurch, daß ein paar sachkundige frühere Äußerungen des Herrn Bosse
plötzlich „aktuell" wurden und ihren Rundlauf durch die Tageszeitungen
machten, nachdem ihr Urheber Kultusminister geworden war.
Man wird unsre Behauptungen vielleicht einschränken wollen, und wenn
wir die Hanptursache jener mangelnden Kenntnis darin erblicken, daß von dem
Studeutenwesen nur allerhand Firlefanz deutlicher ans Tageslicht tritt, da¬
gegen das eigentliche Wollen und Denken der akademische» Bürger in ihren
Angelegenheiten fast gar nicht, so wird man einwenden: man sieht, beobachtet
und kennt denn doch die Studenten genauer. Nun ja, in Jena, Erlangen,
Göttingen, Von», Heidelberg mag das zutreffen, aber auch nur da. Die
dortige» studirte» und unstudirten Philister wollen nur sür ganz kompetent
halten, mehr als manchen Vater, der vor dreißig Jahren studirt hat, und
ma»chen vortragenden Rat. Man wird weiter sagen: seit den achtziger Jahren
giebt es doch eine Fachpresse des studentischen Lebens, aus der man schöpfen
kann: die Akademischen Blätter der Vereine deutscher Studenten, die Akademischen
Monatshefte der Korps, die Burschenschaftlichen Blätter u. f. w. Ganz richtig,
der bloße Einwand schon zeigt von „seltnem" Wissen, aber man erlaube die
Frage: wer außerhalb der jeweilig beteiligten engern Kreise, für die diese
Blätter bestimmt sind, liest sie? Weiter wird es heißen: es sind doch neuer¬
dings so viele Broschüren über studentische Dinge erschiene». Nun, gerade
diese Flugschriste» haben bewiesen, welche Rolle bei solchen Erörterungen
Urteilslosigkeit, Vorurteil und Einseitigkeit spielen. Entweder rührten sie
— das waren noch die bessern — von Studenten her und litten dann haupt¬
sächlich unter methodischen Schwächen: der umständlichen Besprechung gerade
der Dinge, die für die Mitwelt die gleichgiltigsten sind, mangelnder Praxis und
Lebenserfahrung in den übrigen Punkten und dem Überwiegen eines jugendlichen
Dogmcitizismus, der mit Begeisterung und Blindheit die dem Verfasser fest ein¬
gepaukten Grundsätze einer einzelnen Richtung verfocht oder nicht minder ein¬
seitig und verständnislos die einer andern bekämpfte. Muß man doch überhaupt,
wenn man die einzelnen studentischen Gruppe» so mit einander dahinlebe» steht,
oft an das Bild einer Flotte denke», deren Panzerschiffe neben einander schwimme»
und dabei unaufhörlich mit vollen Breitseiten feuern, wobei sich immer die
nächsten Nachbarn gegenseitig am kräftigsten ihre Stückkugeln in die Seiten
und in die Takelage jagen. Oder die Reformbroschüren — denn um solche
handelt sichs meist - gingen von „alten Herren" aus. Hier zeigte es sich
den» am deutlichsten, wie außerordentlich schnell diese mit gesenktem Blick ins
Philisterland zurückgekehrten ehemaligen Studenten der studentischen Praxis
entwachsen, und wie gerade die eifrigste» und schnellsten Reformatoren am
wenigsten mit der Wirklichkeit, mit Gedanken und Thun der „Aktiven" in
Fühlung Ware«. Und da nun gerade die letztgenannte Menschenklasse ganz
ungemein empfindlich ist und über ein paar drastischen Schnitzern ohne meiteres
auch deu beabsichtigte» guten Kern verwirft, so ist bisher für sie nichts oder
doch mir äußerst we»ig dabei herausgekommen. Diese Schriften verpufften,
das Publikum kam gar nicht dazu, sich mit ihrem Inhalt zu befassen. Wer
einen Beleg für bloßes Näsonniren über solche Dinge auf der Grundlage eiues
völlig ungetrübte» Nichtwissens wünscht, der blicke etwa in den zweiten Band
von Felix Dahns Erinnerungen. Aller Eindruck aber auch des Selbständige»
und Zutreffenden in solchen Refvrmschrifte» »ut -aufsätzen ist bei deu Stu¬
denten schon ausgelöscht, wenn z. B, immer wieder als Paradestück der ihnen
längst wohlbekannte Heidelberger Professor wiederkehrt, der kolpvrtirt haben
soll, daß el» dortiges Korps seine» Leute» deu Kollegienbesuch verboten habe,
während jeder Aktive weiß, daß bei keinem einzige» der fünf Heidelberger
Korps studirt wird, also bei keinem von ihnen der Kollegienbesuch verboten
zu werde» braucht. Um bei diesem Punkte kurz zu verweilen: viel mehr
als vo» der Verbi»d»ngsgattu»g hängt Studiren oder Nichtstndiren von der
Faknltätsangehörigkeit ab, Juristen verbummeln fast regelmäßig in sämtlichen
Verbindungen die erste» drei Semester und „ochse»" später, und zwar gern
bei sogenannten Einpankern oder mich zu Hause, während die Kollegien nur
belegt werde». Mediziner sind meistens von Anfang an oder doch frühzeitig
fleißig, selbst bei .Korps. Theologen, ohnehin mehr ans bestimmte Verbin¬
dungen angewiesen, wo sie dann fast unter sich sind, sind ebenfalls und von
selber fleißig. Dagegen lassen sich die Angehörigen der elastischen „Philo¬
sophischen" Fakultät am meisten von dem durch sie selber weniger bestimmten
Geiste ihrer Verbindung treiben, je nachdem sie als Korpsstudenten Chemiker,
in der Burschenschaft, Landsmannschaft, „schlagenden Verbindung" Philologen
sind n. s. f.
Aber die akademische Lern- und Faulenzsreiheit soll nicht das Thema
dieses Aufsatzes sei». Er will vielmehr versuchen, denen, die sich über diese
Dinge ein näheres Urteil bilden möchten, die Znsammensetzung der Studenten¬
schaft und die größere oder geringere Verschiedenheit der studentischen Gruppen
darzulegen, dabei aber auch solche Punkte näher behandeln, die die „alten
Herren." d. h. die nach Zehntnusendeu zählenden ehemaligen Verbindnngs-
stndenten unter den Beamten, Lehrern, Ärzten u. s. w. besonders interessiren.
Dahin gehören namentlich die mancherlei Reformversuche und sodann das Ver¬
halten der verschiedne» Verbiudungsgruppeu gegen einander, das in der
studentischen Presse und Litteratur diskreterweise kaum oder gar nicht be¬
rührt wird und doch die Gedanken der Aktiven unablässig beschäftigt, selbst
den alten Herren bis ans Lebensende nachgeht, ihre öffentliche und gesell¬
schaftliche Stellung zum guten Teile, ja in vielen Fällen sogar ihr Lebens¬
schicksal beeinflußt. Der Verfasser dieser Zeilen zweifelt zwar nicht daran,
daß ihm bei seinem Versuch einige Irrtümer und Schiefheiten unterlaufen
werden, aber sein besondrer Beruf und andre mitwirkende Umstände haben ihn
in steter Berührung mit studentischen Verbindnngstreisen verschiedner Waffen-
gattungen erhalten, und nicht selten benutzt er auch die Gelegenheit, die eignen
Studeuteucrinnernngen ein wenig wieder aufzufrischen. Eine „Tendenz" haben
diese Auseinandersetzungen nicht, sie möchten nur aufklären und vor allem die
Dinge beim rechten Namen nennen. Darin liegt freilich fast immer etwas
Oppositionelles, bisweilen sogar scheinbar Gehässiges.
Beginnen wir mit dem schwierigsten, einer Betrachtung der Burschenschaft.
Sie ist von all diese» Gruppen bei weitem die mannichfaltigste und schwankt
in allerlei Paradoxie» zwischen Theorie und Praxis hin und her, wird von
der Öffentlichkeit am wenigsten gekannt und am schwersten begriffen, ist aber
unter der Studeuteuschnft immer noch am ehesten die Bewahrern von ab¬
strakten Ideen und schönen Idealen. Es klingt bitter, wenn wir in einem
weniger starren Festhalten an diesen Ideen in mancher Hinsicht den Fort¬
schritt und das Vernünftigere sehen.
Publikum und Studentenschaft im allgemeinen sagen: heutzutage ist kein
Unterschied mehr zwischen Korps und Burschenschaft. Das ist falsch und richtig
zugleich. Äußerlich richtig z. B. darin, daß gerade nur diese beiden große»
Gruppen einander eifrig und unablässig im Auge halten, besonders der Burschen¬
schafter immer nur mit dem Korps vergleicht und ganz unter dem posi¬
tiven oder negativen Einfluß dieser Augenrechtsbewegung denkt und handelt.
Die kleinern Gruppen bleiben mehr auf der Seite liegen oder sind von dem
Verhältnis jener beiden abhängig. Korps und Burschenschaft sind ja auch
Vater und Mutter der übrigen Nerbindungsarten, sie führen aber freilich eine
äußerst unverträgliche Ehe miteinander.
Die erwähnte Beobachtung, daß zwischen Burschenschaft und Korps kein
Unterschied sei, ist aber auch in ihrem Kern richtig, wenn man sie nnr anders
formulirt: die Gesamtheit der Burschenschafter bewegt sich, wobei einzelne
schneller vorangehen, andre sich sträuben, in einer Richtung vorwärts, die sie
den Korps immer ähnlicher machen muß. (Der Leser wolle sich nicht durch
die Beteuerungen der neuen sogenannten Reformburschenschaften irre machen
lassen. Das sind gar keine Burschenschafter, weder geschichtlich noch thatsäch¬
lich, weder äußerlich noch innerlich.) Der Grund dieser Bewegung und Rich-
tung liegt nicht oder doch nur zum kleinsten Teile in der eigentümliche,,
magnetischen Kraft des Kvrpsweseus, sie ist vielmehr die durch alles halbe
Hemme,, und Strande« doch nur etwas verlangsamte Folge des Umstandes,
daß die Burschenschaft schon lange nicht mehr ein loser Bund und eine bloße
studentische Partei, sondern eine festgeschlvßne Verbindung ist und einig in
den, Willen, es zu sein nud zu bleiben. Auch in der Burschenschaft suchen,
ebenso wie beim Korps und bei andern Verbindungen, die Eintretenden eine
verschönerte studentische Geselligkeit, eine festgeknüpfte Freundschaft und fürs
ganze Leben eine jederzeit offne Heimstätte zu gelegentlicher erinnerungseliger
Rückkehr in die alte Burschenherrlichkeit; auch die Burschenschaft giebt ihnen,
und um so tüchtiger und treuer, je besser der Geist der einzelnen burschen-
schaftlichen Verbindung ist, die Erziehung des Charakters und die diseiplinirtc
Ausbildung für das spätere Leben mit, die der jetzige Kultusminister dem Ver-
biuduugslebe» nachrühmt, und dazu manche an kleinem Beispiel gründlich durch¬
gemachte praktische Erfahrung, die für das Verständnis späterer größerer Fragen,
namentlich auch der politischen Frage», ihre Früchte trägt. Was die Burschen¬
schaft hindert und aufhält, ihren Weg als Verbindung, auf dem sie nicht mehr
zurückkam,, mit mehr Klarheit und „Zielbewußtsein" zu gehen, das sind
— teil, treuer Burschenschafter wird das freilich gerne hören — die altehr¬
würdigen Prinzipien und Ideale, die noch aus der Zeit stammen, wo sie uur
studentische Richtung und Partei war. Neuerdings (1886) hat sie übrigens,
freilich auch wieder ohne volle Klarheit und gegenseitige Offenheit, einen Schritt
gethan, das Gute und Schöne ihrer alten Überlieferung zu wahre» und es
doch ihren neuern Pfaden — Stimmungen kam, man kaum sagen, Instinkten
möchten wir nicht sagen — anzupassen.
Ein Hauptfundament der alten Burschenschaft ist z. B. ihre Kampfparole
gegen die Korps: Vertretung der Gleichberechtigung aller Studenten. Manche
von den heutigen burschenschaftlichen Verbindungen kümmern sich freilich gar
nicht mehr um diesen Satz, die Jenaer Burschenschafter machen sogar mit den
Korps darin gemeinsame Sache, die ganze übrige Studentenschaft Jenas
niederzuducken, andre begnügen sich mit der grauen Theorie, aber hie und da
versucht doch eine ehrliche und wohlmeinende Burschenschaft, besonders wenn
sie einen ideal angelegten und prinzipieneifrigen Leiter hat, den alten Grund¬
satz bei allgemeinen studentischen Gelegenheiten, in sogenannten Ausschüssen
und bei Berührungen mit andern Verbindungen oder einzelnen „Finken" (Nicht-
verbindungsstndenten) praktisch zur Geltung zu bringen. Das ist freilich eine
sehr schwere Sache, und kein Mensch weiß recht, wie es gemacht werden soll.
Wohlgemerkt: es handelt sich nicht um die bloße Anerkennung jener Gleich¬
berechtigung— das wäre ja eine ganz vernünftige und einfache Sache —, viel¬
mehr um ihre positive Vertretung. Man stelle sich vor: eine Verbindung,
festgeschlossen, mit starren Ausnahmebestimmungen (Einhelligkeit oder Vierfünftel¬
mehrheit bei den Mitglieder!?), mit vollberechtigter Burschen und mehr oder
minder rechtlosen Füchsen, mit Mütze und Band, mit Bierzipfel, Ringen,
Kravattenncideln und anderen mehr oder weniger geckenhaften Farben- und
Zirkeltand, mit der Forderung unbedingter Satisfaktion, mit der angemaßten
Strafgewalt der Verrufserklärungeu n. f. w. giebt vor, der Teil der Studenten¬
schaft zu sein, der die Gleichberechtigung, die l^auto aller akademischen Bürger
ganz besonders vertrete! Und was sagt denn die Studentenschaft selbst dazu?
Die übrigen Verbindungsgruppen haben alle, hie und da mit einer papiernen
Wendung gegen die Korps in ihren Statuten, den »tru^lo lor Ule auf ihre
Fahnen geschrieben und suchen in der studentischen Rangordnung eine möglichst
hohe Stufe zu erklimmen. Das Entgegenkommen der einen oder andern für
Gleichberechtigung kämpfenden Burschenschaft nehmen sie dabei sehr gern an.
Aber wenn die Sache dem lokalen d (den .Korps) irgendwie bedrohlich
oder nicht genehm sein sollte, so braucht er nur einen einzigen Gnadenblick
nach der mit den Burschenschaftern fraternisirenden Verbindung herüberzu¬
senden, oder, auch ohne absichtliches Zuthun des 8. 0., es braucht nur einmal
ein Mitglied jener sonstigen Verbindung in den Ferien Gelegenheit zu haben,
mit einem alten Mitschüler, der Kvrpsfnchs geworden ist, zu verkehren, so
ist alles wieder aus, die Burschenschaft hat für jene dritte Verbindung ihre
Schuldigkeit gethan und kann gehen, und der hohe L. (I braucht gar keine
weitern Gnadenblicke mehr zu verschwenden. In noch weit höherm Grade ist
der 'Finke ein schmachtender Korpsbewundrer, und wenn er sich gar zufällig in
der Ehre wiegt, irgend einen Korpsier auf der Straße grüßen zu dürfen, so
pfeift er auf die Gleichberechtigung und thut vou seiner menschlichen Höhe herab
die Burschenschaft als eine doch nur ruppige Bande in seinen persönlichen
Verruf. Es liegt an den Jämmerlichkeiten der menschlichen Natur, wenn unter
den Standpunkten, die eine Verbindung einnehmen kann, einzig und allein
der zum System gemachte Hochmut der Korps der erfolgreiche, der Ver¬
bindung selber uicht schädliche und in gewissem Sinne auch logische ist.
Oder nehmen mir das Freiheitsprinzip der Burschenschaft und ihr heutiges
Verhältnis dazu. Ehre, Freiheit, Vaterland — das war einst die von welscher
Eroberung zurückerkämpfte Freiheit des Vaterlandes und daneben die Hoffnung
auf irgendwelche Volksfreiheit, wie sie nach den Versprechungen der Befreiungs¬
kriege und noch der Wiener Kvngreßtage von allen bürgerlichen Kreisen auch
außerhalb der Burschenschaft gehegt wurde. Antimonarchisch und demo¬
kratisch haben sie erst die Schmühnngen und Verfolgungen nach Sands That
gemacht, an der die Burschenschaft doch höchstens sehr mittelbar schuld war.
Von 1848 an, wo sie viel gelernt hat, hat sie dann die rote Feder wieder
vom Hute gethan und allmählich immer tiefer und schamvoller zu ver¬
stecken gesucht. Heute sind die Aktiven in der ungeheuern Mehrzahl vor allen
andern Dingen stramm monarchisch und begeistert hoheuzvllerisch, und wo es
der einzelne nicht ist, wird dadurch die Gesamthaltung nicht verändert. Aber
auch das etwas ältere lebende Bnrschenschaftergeschlecht weist diese Wandlung
schou auf, wenn auch hier natürlich an die Stelle des <Mi>8> militärischen
monarchischen Sinnes der Aktiven die Zuteilung an politische Parteien tritt.
Nach einer 1889 gemachten Statistik waren von den alten Burschenschaftern,
die im letzten Reichstage saßen, zwölf uativualliberal, je zwei freikonservativ,
beim Zentrum und deutschfreisinnig, eiuer wildliberal; im preußischen Ab¬
geordnetenhause einer deutschkvuservativ, sechs freikvnservativ, acht national¬
liberal, zwei beim Zentrum, je einer wildliberal und deutschfreisinnig; für die
sieben Burschenschafter des Herrenhauses ist die Zuteilung nicht so ohne weiteres
zu machen. Bnrschenschafteruamen ans den Ministerien und hohen Beamten-
stellen könnten wir hier eine Menge anführen, da die Burschenschaftlichen
Blätter gern nud mit Stolz solches Material znsanunentragen; mir der Bot¬
schafter von Keudell nud zehn Minister, darunter Thielen und — Miguel
seien erwähnt. Das kann man außerdem behaupten, daß die Jugend innerlich
mehr rechts steht, als das ältere im Durchschnitt nntionalliberale Geschlecht.
Sonderbarerweise bringt das alte Prinzip der Freiheit, das der Burschen¬
schaft kaum »och, wie hie und da die Gleichberechtigung, Kopfschmerze» macht
und von den Füchsen, die zuweilen mit allerlei schwülen Erwartungen darüber
eingesprungen sind, sehr glatt verdaut wird, diese Verbinduugsgruppe in Mi߬
verständnis mit dem Publikum: man scheut dort oder auch man beansprucht
von ihr demokratische oder sonstige stark links gerichtete Tendenzen. Besonders
das schwerfällig-traditionelle Denken der Behörden sieht in den Burschenschaftern
immer noch Umstürzler. Die Hnldigungstelegramme der burschenschnftlichen
Kaiserkommerse gehen einem etwas ungewissen Schicksal in den zuständigen Hof¬
ämtern entgegen. Auch die Landesfürslei, sind für die gelegentliche!, Gelöbnisse um-
verbrüchlicher Treue nicht allzu lebhaft empfänglich; Prinzen erscheinen fast nur
bei Korpskvmmersen, auch wenn sie als Studenten nicht ausschließlich bei einen,
Korps verkehrt haben. Manche geradezu beleidigende Zurücksetzung durch Ver¬
waltungsbehörden, die irgendwie mit burschenschaftlichen Korporationen zu thu»
hatten, ist schon von den Vurschenschaftlichen Blättern berichtet worden; auch
Bismarck antwortete den ihm zu Ehren veranstalteten Kommersen immerhin
kühler, und als er 1890 an seinem fünfundsiebzigsteu Geburtstage in Friedrichs-
ruh die Vertreter der deutschen Burschenschaft durch persönlichen Empfang
sehr vor andern auszeichnete, sagte er ihnen doch: „An Sie ergeht in dieser
Stunde die Mahnung, festzuhalten das, was wir haben, und das, was besteht,"
und noch manche ähnliche ernst klingende Warnung.
Nun ist freilich eines wahr: es giebt noch heute ein paar „rote" Burschen¬
schafter, schwerlich aber mehr als drei oder vier nnter einem halben Hundert.
Was die Ursache ist? nachwirkende alte Überlieferung, die hier in unklarer
Treue gepflegt wird, zufällig vorhandener Einfluß einzelner mißvergnügter
alter Herren, auch chronisch gewordene Oppositiouslust gegen die übrigen
Burschenschafter. Was sie vertreten? Soweit die Mitglieder Deutsche siud,
wen» überhaupt etwas bestimmtes, etwa eine Art vormärzlichen deutschen
Repnblikanertnms mit großdeutschem Beigeschmack. Zum guten Teil sind es
aber keine Deutschen, sondern gerade die maßgebenden Mitglieder oder alten
Herren sind Juden. Was die vertreten, darf man aber nicht sagen und über-
haupt nicht wissen, weil man ja kein Antisemit sein darf. Von irgendwelchem
teutonischen oder heckermäßigen Aussehen findet sich darum auch bei diese»
„Prinzipieutreueu" keine Spur, sie laufen gerade so hauptnmschoren wie die
übrigen und eher gigerlmüßiger als die meisten andern herum. Die andern
halten diese grimmigen Leuen strenge darnieder und gewissermaßen in Quaran¬
täne, haben wenig schmeichelhafte Namen für sie und waschen ihnen bei Ge¬
legenheit tüchtig den Kopf, so z. V. als bei einem Verweilen des Kronprinzen
(Kaiser Friedrichs) in Würzburg die dortige rote Burschenschaft sich der ge¬
planten Feier demonstrativ durch einen Ausflug entzogen hatte. Diese Würz¬
burger Uriniren hatten damals wohl keine Juden, sonst hätten sie sicher die
große Verheißung gewußt, daß die Hoffnung des „Freisinns" auf dem Kron-
prinzen beruhe. Das Beispiel giebt zugleich einen Maßstab für das Ver¬
ständnis und thatsächliche Wissen dieser jugendlichen Politiker, da irgendwelcher
unversöhnte Bajnvarismus hier absolut nicht in Betracht kam.
Die andern machen sich vielfach über ihre eigne alte Zeit lustig, singen
mit komischem Berserkertum das „Dreiunddreißig Jahre währt die Knechtschaft
schon" zu»> Frühschoppen und lächeln innerlich bei gewissen Kraftstellen ihrer
alten im ganzen so schönen und von hohem Idealismus durchwehte» Lieder. Daß
seit Jahrzehnten kein regierungsfeindlicher Spott von der Burschenschaft zur
Welt gebracht worden ist, zeigen die paar alten Parodien, von denen ihr
politischer, aber in diesem Falle vollkommen harmloser Humor nur aus histo¬
rischer Anhänglichkeit und ohne jede Tendenz noch lebt, wie
stößt an, freies Wort lebe!
Wer die Wahrheit kennet und saget sie frei,
Der kommt nach Berlin auf die Hausvogtci.
Dagegen wird in allem nur möglichen Eifer entgegengesetzter Art eher zu viel
geleistet; weniger wäre da manchmal mehr. So, wenn einzelne Burschen¬
schafter auch ganz kleine Festlichkeiten, wie sogenannte Antrittskueipen u. s. w.,
mit einer Kaiserrede eröffnen und stehend die preußische Hymne singen. Das
ist doch blinder Übereifer.
Auch aus dem alten Rufe der Burschenschaft nach der deutschen Einheit
scheint ein gewisser Konflikt für sie heraufbeschworen werden zu solle».
Wenigstens erklären gerade außenstehende Kreise sehr oft, die Burschenschaft
sei seit 1871 überflüssig geworden und hätte sich auflösen sollen. Als ob sie
sich nicht längst vor 1870 zur Verbindung, die sich schließlich auch selbst genug
wäre, verpuppt hätte. Hierin ist die neuere Burschenschaft einsichtsvoll verfahren,
wenn sie ihrerseits erklärt, es gebe auch heute der nationalen Aufgaben noch
genug, sie wolle ihre Mitglieder „zu tüchtigen, im Denken und Handeln freien und
selbständigen Bürgern eines einigen, nach innen kräftigen, nach außen mächtigen
deutschen Vaterlandes" erziehen und nach Kräften „die Erhaltung deutscher
Sitte und Sprache und das Gefühl der Zusanunengehörigkeit der Stämme
deutscher Zunge" pflegen. Besonnenen Takt bewies sie dabei in der mehr¬
fachen freundschaftliche» Abwehr der um die Aufnahme in den Eisenacher Bund
werbenden österreichische» Burschenschafter, denen die deutsche Zunge doch
etwas gar zu lose sitzt; die Österreicher haben seitdem schließlich einen Bund,
der in Linz tagt, geschlossen, und eine gewisse Pflege der Zusammengehörig¬
keit, wie sie der genannten Satzung entspricht, ist dadurch erleichtert worden
und wird zugleich durch die Burschenschaftlichen Blätter geübt.
Schon die eben angeführte Stelle aus den neuen Satzungen von 1886
führt dazu, einen Blick auf die Stellung der Burschenschaft zur Judenfrage
zu werfen. Im allgemeinen ist die Burschenschaft offenbar bestrebt, von der
Aufnahme jüdischer Mitglieder loszukommen. Die Gründe dieses Wunsches
wollen wir hier nicht breiter erörtern, sicher liegen sie in der Hauptsache in der
antisemitischen Gesamtüberzeugung des ganzen jungen Geschlechts und in der
Einsicht, daß die jungen Juden weniger Burschenschafter sein, als vielmehr
überhaupt da, wo sie noch können, sich eindrängen und eine Rolle in ihrer
Art spielen wollen lind dann durch ihre Respektlosigkeit gegen alles, ihre
Lüsternheit, ihr Protzentum und ihren Mangel an außerjüdischem Gemeinsinn
zersetzend und korrumpirend wirke». Da»eben fällt aber jedenfalls auch der
praktische Gedanke ins Gewicht, daß heutzutage jede verjudete Verbindung
- - und zur baldigen Verjudung bedarf es zunächst nur der Zulassung eines
einzelnen - bei den übrigen „druuterdurch," d. h. um alles Ansehe» gebracht
und, wenn sie nicht ein rein jüdischer Klub werden will, in ihrem zukünftigen
Bestehen bedroht ist. Freilich hat es die Burschenschaft hierin schwerer als
andre Verbiuduugsgruppeu: sie hat von Alters her, als die Juden noch nicht
so reich waren (also weniger ins Korps strebten, was damals noch ging) und
in dem damaligen Liberalismus der Burschenschafter ihre natürliche Heimstätte
fanden, sehr viele jüdische alte Herren, darunter manche bescheidne und höchst
ehrenwerte Männer. Die mochte man nnn jetzt nicht vor den Kopf stoße».
Ferner sind in einzelnen, wenn auch nur wenigen aktiven Burschenschafteu
uoch Jude». Diese spielen dort, unterstützt von Moses und den Propheten,
leicht die erste Violine, indem sie zum Freisinn einerseits und zugleich zur äußer¬
lichsten Korpsnachäfferei dränge», und wenn sie hin und wieder auch zu mehr
Bescheidenheit gezwungen werden, so wirken sie doch schon durch ihr Vorhanden¬
sein und die dadurch gebotene bundesbrüderliche Rücksicht hindernd auf die
Freiheit der Besprechungen und Beschlüsse ein. Zu den Berhandluugeu des
^V. v. (I, d. h. des Allgemeinen Deputirten-Konvents (o deutsche Burschen¬
schaft!) zu Pfingsten in Eisenach sollen von solchen „konfessionell" gemischten
Burscheuschafteu gern die Juden als Vertreter gesandt werden oder doch als
freiwillige Begleiter der Vertreter, als sogenannte ^. I). d-Bummler, mit¬
kommen, sodaß durch ihre Anwesenheit mit und ohne Stimmrecht auch diese
Verhandlungen von vornherein ihr »oll uro tanggro erhalten. Trotz cilledem —
ihre Tage sind auch in der Burschenschaft gezählt, und das verdankt diese
hauptsächlich der frühzeitige» Abwendung einer Gefahr, die sie übrigens kaum
gciuz übersah, dem Umstände nämlich, daß der 188l innerhalb des L.. I). <ü.
vertraulich betriebne Gedanke: jede Burschenschaft durch ^. v. (I-Beschluß zu
verpflichten, jedes Mitglied einer andern, wenn es die Universität wechsle, auf
Verlangen (als sogenannten Zweibändermann) aufzunehmen, n limws abge¬
wiesen wurde. Die Gründe der Abweisung lagen damals mehr in dem Be¬
stehen von Sonderkartells und von besondern, ablehnenden Traditionen mehrerer
ältern Burschenschafter im Punkte der Doppelmitgliedschaft, in allbekannten
Abneigungen einzelner Burschenschafter gegen einander und ähnlichem; was
aber thatsächlich und mehr »»wissentlich damals verhindert wurde, war die
planmäßige Verteilung der jüdischen Burschenschafter über den ganzen ^. I). <ü.,
die um so fester allerorten das Heft in den Händen gehalten hätten, als sie
stets für ihre Stellung in der einen Burschenschaft dnrch ihre Zugehörigkeit
zu einer zweiten eine Stütze gehabt hätten, die peinliche Rücksicht erforderte.
Ein weiterer Konfliktsherd für die Burschenschaft ist neuerdings öfter das
Mensurwesen gewesen. Hier hat allerdings, wie auch bei sonstigen Äußerlich¬
keiten, z. B. der Kleidung, den dreifarbigen Schnurrpfeifereien und leider viel¬
fach auch dem Geldverthnn, die landläufige Ansicht wieder Recht, daß zwischen
Korps und Burschenschaft kein besondrer Unterschied mehr sei. Denn daß die
Korps zum Teil (aber nur zum Teil) noch häusiger als ihre feindlichen Brüder
pauken, daß die jungen Korpsfüchse die erstenmale unter vermehrten Schutz-
maßregeln fechten, die Füchse der andern aber schon das erstemal ihre Haut
ganz ebenso wie alle spätern male zu Markte tragen müssen, sind keine Unter¬
schiede. Die Mensuren sind es nun aber, an die sich in erster Linie die
Öffentlichkeit stößt, und zwar besonders die sogenannten Bestimmuugsmeusuren,
die überall bei deu „schlagenden" Verbindungsgruppen eingebürgert sind.
Eine Verpflichtung, das Mensurwesen zu bekämpfen, hat die Burschenschaft
in ihren Anfängen nicht übernommen und nie als gemeinsame» Grundsatz in
den Vordergrund gestellt; sie steht also hier in keinem Widerspruch zu ihrem
alten Prinzip. Und als geschloßne Verbindung braucht sie, wenigstens vorläufig,
die Mensur: zur Fernhaltung von Elementen, die sich mit den bunten Farben
nur zieren und decken möchten, zur Beobachtung der eignen Mitglieder, denn
der persönliche wirkliche Mut wird nicht durch das geringe Wagnis einer
Mensur, sondern erst durch das Verhalten während der Mensur kund, zur
Schulung von Geistesgegenwart und Gewandtheit — die bloßen Fechtboden-
übnngeu vermöge» das allein so doch uicht zu gebe» — und, so sonderbar eS
klinge» mag, als »nersetzliches Korrelat des Verkehrs u»ter einander. Die
einzelnen Mitglieder aber wollen auf Mensur gehen, denn Obsiege» ist rühm¬
lich, und Abgeführtwerde» bleibt ohne jeden Stachel, wenn man nur „gut ge¬
standen" hat — es war ja jedesmal „reines Pech" —, und die Mcnsurtage
im Walde oder im geräumigen Dorfsaal sind wirklich etwas ganz Hübsches.
Wir sind deshalb keine Bewundrer des Mensurwesens, aber unter dem Banne
der jetzt noch herrschenden Anschauungen ist für eine Farbenverbindnng nur
zweierlei möglich: völlig anzuthun, oder den unbedingten Abscheu vor dem
Blutvergießen zur Hauptgrundlage und Losung ihres Bestehens zu machen
und sich freiwillig in eine Art von Pariastellung zu begeben. Beseitigte man
jetzt schon den Schläger, so würden die Pistole und der Knotenstock sein Erbe
antreten. Unnötige Mißstände kommen allerdings genug vor; dahin gehört
vor allen:, daß vielfach eine Partei ihren schon übel zugerichteten Paukauteu
zu lange weiter schlagen läßt, weil sie immer noch auf eine glückliche Wen¬
dung hofft. Das giebt nachher die böse zugerichteten Gesichter. Hier sollte
die Behörde eingreifen, hier, wo die einzige Möglichkeit ist, daß sie Erfolg hat,
nämlich indem sie auf Einsetzung eines bei beiden Parteien angestellten, also
unparteiischen ältern Paukarztes dringt, der das nötige Ansehen genießt und
frühzeitig „abführen" läßt. Wo bei den Parteien „ältere Mediziner," d. h.
junge Kliniker flicken, liegt die Entscheidung viel zu sehr in den Händen der
ehrgeizigen Sekundanten. Vortrefflich in diesen Dingen war der verstorbne
ordentliche öffentliche Heidelberger Paukarzt Dr. Jmmisch, der zum Glück
auch einen entsprechenden Nachfolger gefunden hat. Der sorgte denn auch
dafür, daß die Verwundeten genügend lange im Korbe lagen, d. h. zu Hanse
blieben und nicht mehr Bier tranken, «is durchaus notwendig war. Dafür
sehen aber auch die alten Paukauten der Heidelberger Hirschgasse beneidens¬
wert menschlich aus.
Wir wisse» selber, daß über und auch sür das Meusurwesen noch manches
gesagt werden könnte, aber es Ware zwecklos, dn Fernstehende hier doch
schwerer verstehen und ehemalige Finken, die nie „loswaren," sich darin
begreiflicherweise ganz absprechend verhalten. Was ein guter Teil der alten
Burschenschafter den jungen zum Vorwurf macht, und was das Hauptstecken-
pferd der Reformmahnnngen bildet, das ist die sogenannte Bestimmungsmensur.
Die Alten bekämpfen sie, weil sie ihrer Zeit sie nicht gehabt, sondern als
korpsmäßig angesehen haben. Und doch ist die Bestimmungsmensnr gerade
das, was als die glücklichste Wandlung in der Geschichte des Fechtens und
als eine Beseitigung zahlreicher Übelstände anzusehen ist. Die Fechtchargirteu
der einzelnen Verbindungen machen miteinander die Paare aus, die „losgehen"
sollen, und zwar darnach, wie die Gegner einander am ehesten gewachsen sind.
Damit ist dein Raufbvldweseu der Boden entzogen, schwache Fechter und ins¬
besondre unschuldige Finken sind gegen Anrempeln mit nachfolgender Forderung
geschützt. (Die Korporationen bestrafen vielfach sogar ihre Mitglieder, wenn
sie ohne Veranlassung rempeln, und zwar sehr empfindlich.) Ferner fällt so
jeder Beigeschmack der persönlichen Beleidigung weg. Daß die einzelnen öfter
nnter der Herrschaft der „Bestimmung" losgehen müßten, als sie Lust haben,
richtiger gesagt: als ihnen auch ohnedies nahegelegt wäre — es handelt sich ja
immer nur um aktive Verbindungsstudenten —, trifft nicht zu, man vergleiche
nur statistisch die heutigen Zahlen mit denen der fünfziger und sechziger Jahre,
am bequemsten auf Grund der sorgfältig geführten chronistischen Panlbücher.
Nun, man hat es trotzdem anders versucht, und eine Anzahl Burschen¬
schafter hat eine Zeit lang unter dem Druck der alten Herren nicht mehr auf
Bestimmung, sondern nur aus „Coutrahage" zu fechten beschlossen. Da ging dann
der junge Aktive abends vor die Wohnung des Kommilitonen, dessen Namen
ihm der Fechtwart zugeflüstert hatte, rief ihn ans Fenster, unterhielt sich mit
ihm und sagte ihm zum Schluß, er sei übrigens ein dummer Junge, worauf
der gar uicht erstaunt war, sondern höflichst kontrahirte. In Jena wurden
sogar, ebenfalls unter dein erwähnten Druck, über diese Forderungen auf
Schläger Ehrengerichte gehalten! Dabei blieb nicht ans, daß bei der verlangten
Auskunft über den Grund der Beleidigung und Forderung allerhand schlechte
Witze gemacht wurden, es gab z. B. einer an, die Nase seines Gegners habe
ihm nicht gefallen, und wenn diese Nase ohnehin in dem Verdachte krampf¬
haft abgelengneter orientalischer Abstammung stand, so setzte es nachträgliche
Forderungen auf Säbel und Pistolen, und das alles hatten mit ihrem best¬
gemeinten Einschreiten die alten Herren gethan. So hat man denn diese nu-
Würdige Heuchelei auf selten der Aktiven, denen sich der Gedanke an ein wirk¬
liches und ehrliches Nachgeben von Anfang an als undurchführbar dargestellt
hatte, schließlich doch wieder füllen lassen.
Ferner hat das Festhalten an gewissen alte» Grundsätzen der Burschen¬
schaft, die sich auf ihre innere Organisation beziehen, allmählich und teilweise
verblümt aufgegeben werden müssen, seit sie in erster Linie Verbindung ist.
Ihre Füchse dürfen sich ja, im Gegensatze zu den Renoncen bei den Korps,
als Mitglieder betrachten. Aber Füchse müssen sie bleiben, bis sie die Sta¬
tuten und die Grundsätze, wie die Formalitäten des innern Verbinduugs-
lebens, die Geschäftsordnung, die Zusammensetzung und Organisation des
^. l). und ähnliche Dinge gelernt und begriffen, sich in ihrem Benehmen
nach außen und auf der Mensur bewährt und eine gewisse „Direktion" und
Erfahrung gewonnen haben. Trotzdem hat man ihnen auf Grund der alt-
burscheuschaftlicheu Gleichberechtigung hie und da volles Stimmrecht verleihen
wollen. Das hat dann zu den übelsten Folgen, besonders in mitglieder¬
schwachen Verbindungen geführt. Ehrgeizige Burschen singen die Seelen der
Füchse dnrch Liebenswürdigkeit und süße Versprechungen ein, untergruben die
Disziplin, der sich der nicht „aufgeklärte" Fuchs sonst mit harmlosen Eifer
unterwirft, hetzten gegen die Chargirten, und die Folge waren unglaubliche
Wahlen und verhängnisvolle Beschlüsse, besonders auch in Kassenangelegen¬
heiten. So ist auch auf diesem Gebiete die Gleichberechtigung praktisch in die
Brüche gegangen. Einzelne Burschenschafter haben zwar das Stimmrecht der
Füchse beibehalten, erledigen aber dafür alle Angelegenheiten kritischer Art in
Ausschüssen, Bnrschenkouventeu, Ehrengerichten oder wie sich sonst nennen.
Das wären so ein paar Punkte aus dem Widerstreite von Theorie und
Praxis, Rückwärts- und Vvrwärtsblicken, unter dessen Bann die heutige
Burschenschaft steht. Dieses Doppelspiel ist auch der Grund, weshalb weder
die Studentenschaft noch das Publikum recht weiß, was die Burschenschaft
eigentlich will, ein Umstand, der den Korps praktisch zu gute kommt, die sonst
an sich viel weniger auf wirkliche Sympathie von außen rechnen konnten. Die
Burschenschaft hat diesen Schaden und die hemmenden Einflüsse jener Konflikte
auf ihre logische innere und äußere Entwicklung auch mehr oder minder ge¬
merkt und im Jahre 1886, nachdem der ^. I). (I bis dahin nur ein äußer¬
licher Verband mit bloßer Geschäftsordnung gewesen war, der alle grund¬
sätzlichen Fragen den einzelnen Verbandsburschenschaften überließ, einen Ausgleich
der Forderungen, die die Wirklichkeit an die heutige Verbindung stellt, mit
ihren alten Überlieferungen durch ein gemeinsames Programm versucht. Dessen
Formulirung war bei allerhand verschiednen Meinungen und Richtungen und
sehr verschiedner Klarheit der Kopfe unter den Beschließenden natürlich ein
schweres Stück, und wenn die Losung vorläufig einigermaßen zur allgemeinen
Zufriedenheit der Beteiligten gelungen ist, so ist das doch nur aus Kosten
Völliger Entschiedenheit und Aufrichtigkeit geschehen. Die eilten Überlieferungen,
auch die unhaltbaren, stehen alle darin, um ihre theoretischen Anhänger und
die alten Herren zu versöhnen, aber durch die nähere Umschreibung und aller¬
hand Verbrämung werden sie dann wieder aufgehoben oder abgeschwächt. Die
sehr glückliche Formulirung des nationalen Prinzips wurde schon (S. 24)
in der Hauptsache angeführt. Mi-t der Freiheit finden sich die Satzungen so
ab, daß sie „das Prinzip der geistigen und studentischen Freiheit" aufrecht¬
erhalten und dann definirein „Die geistige Freiheit sieht die Burschenschaft in
der Lossagung von Vorurteilen, der Unabhängigkeit und Selbständigkeit des
Denkens, der Energie und Freiheit des Handelns." Das klingt heutzutage
geradezu wie eine Absage an den landläufigen Liberalismus. Die „Gleich¬
berechtigung aller ehrenhaften Studenten" hinkt bei der Definition der „studen¬
tischen Freiheit" als unschuldiger Nachsatz zu dem wenig behagenden aner¬
kannten „Rechte jedes einzelnen Studenten, von allen akademischen Vorrechten
Gebrauch zu macheu und sich an allen studentischen Angelegenheiten zu be¬
teiligen," hinterher. Die „Wissenschaftlichkeit," die die Burschenschaft von jeher
hat Pflege» Wollen, ist völlig ausreichend definirt, notabene, wenn sie auch
beherzigt wird, die „Sittlichkeit" ebenso. Nebenbei bemerkt halten einzelne
Burscheuschnften von traditionell rein christlichem Charakter ihr altes Keusch¬
heitsgebot mit einer Treue aufrecht, die bei den heutigen recht häßlichen
studentischen Anschauungen in dieser Beziehung besonders rühmenswert ist.
Für die übrigen ist immerhin auch die bunte Mütze, besonders in kleinern
Universitätsstädten, wo man ihren Träger auch im Hute wiedererkennt, kein
geringer äußerer Schutz, wie bei andern Verbindungen ja auch. Ihren Stand¬
punkt als Verbindung wahrt die neuere Burschenschaft durch die Hervorhebung
ihres Eintretens für die „Eigenheiten des deutschen Studentenlebens" und die
mehrmalige Erwähnung „strammen Auftretens"; von den alten Grundsätzen
wird die Ausbildung der körperlichen Kräfte in diesen Zusammenhang gezogen
und durch „Fechten nud sonstige passende Leibesübungen" (nur wenige turnen
offiziell) erläutert. Verhältnismäßig jung, aber aus der Erfahrung genommen
und dem Herkommen der tüchtigem Burschenschafter entsprechend ist die For¬
derung des Matnritütszeugnisfes für die Mitgliederaufnahme im ganzen ^,D,<Ü.,
wodurch die Elite der Chemiker, Pharmaceuten, Tiernrzneistudenten u. s. w.
fern gehalten wird.
Die hier ausgehobuen wichtigern Punkte mußten aber, wie gesagt, in
jenen Satzungen teilweise recht verklausulirt werden. Geradezu komisch wirkt
der Übergang vom hohen Kothurn zur allermodernsten Praxis bei dem einen,
dem letzten Paragraphen: „Die Burschenschaft verlangt von ihren Mitgliedern,
daß sie sich stets vollbewußt sind, wie hohen Idealen sie als Burschenschafter
nachstreben, und daß sie dies Bewußtsein auch äußerlich durch strammes, selbst¬
bewußtes und einheitliches Auftreten an den Tag legen."
Wird die Burschenschaft jemals ganz und gar Korps werden? Jedenfalls
uicht so bald und hoffentlich auch nicht unter diesem undeutschen Name». Eine
Annäherung der in vielem die gleichen Ziele verfolgenden und durch nichts
mehr ganz schroff geschieduen Brüder, dieser Walt und Vult, um mit Jean
Pauls Flegeljahren zu reden, halten wir für eine unausbleibliche Folge der
ganzen unabänderlichen Bewegung und auch für wünschenswert, weil dadurch
dein Wetteifern in manchen Thorheiten die Spitze abgebrochen werde» würde,
ferner aus dringenden gesellschaftlichen Veranlassungen für die Studenten wie
für die alten Herren. Diese Fragen und Zustände alle, auch was der 8. (>.
bei solcher Annäherung gewinnen würde, worin er nachgeben müßte, soll ein
zweiter Aufsatz behandeln, der dabei zugleich die andern Verbindnngsgrnppen
von den Korps bis zu den „Reformlmrscheuschaften" in bequemer Kürze be¬
leuchte» soll.
le Kunstgeschichte ist in der Anerkennung vergangner Leistungen
zuweilen hartherzig. Nur wer wirklich etwas gekonnt hat,
findet Gnade vor ihren Augen. Für das bloße Wollen hat sie
kein Verständnis. Künstler, die auf halbem Wege stehen geblieben
sind, werden von ihr nicht beachtet.
Und doch, wenn Kunstgeschichte mehr sein will als bloße Aufzählung
großer Künstler und bedeutender Kunstwerke, wenn sie eine Geschichte des
künstlerischen Geschmacks, der künstlerischen Ideale sein will, kann sie dann
die vergessen, die nur gewollt, die nur das Höchste erstrebt haben, ohne es
zu erreichen? Kann sich nicht schon in dem Wollen eines Künstlers — und sei
er selbst unbedeutend — der Geist einer bestimmten Kunstepoche aussprechen,
kann nicht schon sein Streben, sein ideales Ringen die geistigen Mächte ver¬
anschaulichen, die ein Zeitalter bewegen, eine Epoche in die andre überführen?
Das waren die Fragen, die sich mir wiederholt aufdrängten, als ich die
lebendig geschriebne Biographie Bärtels las, die ein hannoverscher Lehrer
kürzlich herausgegeben hat. Der Schöpfer des Armindenkmals im Teuto-
burger Walde war solch ein Wollender, über den die Kunstgeschichte erbar¬
mungslos hinweggeschritten ist; ein guter Kerl, aber ein schlechter Musikant,
würde der Volkswitz sagen, ein Mensch voll großartiger Ideen, aber ohne
jenes anhaltende, stetige Feuer künstlerischer Begeisterung, das von dem
allgemeinen zum einzelnen, von der Idee zur Durchführung herabzusteigen
und den Geist in die sinnliche Form zu bannen weiß. Die Kunstgeschichte
kennt ihn so gut wie gar nicht, selbst in ausführlichen Schilderungen der
modernen Kunst findet er keine oder nur eine flüchtige Erwähnung, lind
doch ist er interessant wegen der Ideale, die ihn erfüllten. Was gegenwärtig
unsre Kunst bewegt, hat Bärbel schon vor mehr als einem halben Jahr¬
hundert gewollt, geahnt, mit begeisterten Worten gefordert. Der nationale
Zug, das gesunde Naturempfinden, die Abkehr vom Klassizismus und von
ausländischen Vorbildern, kurz alles, was wir unsrer heutigen Kunst wünschen
möchten, hat schon in ihm einen Propheten gefunden. Freilich einen Pro¬
pheten in der Theorie, nicht in der Praxis. Denn nichts von all den schönen
Ideen einer nationalen, modernen, volkstümlichen Kunst, die ihn erfüllten, hat
er zur Ausführung gebracht. Wohl hat er von einer deutschen Kunst der
Zukunft geträumt — und er selbst wollte ihr Hauptvertreter werden. Aber
seine Werke sind in einem leeren Klassizismus stecken geblieben, der in nichts
über den Stil der herrschenden Schule hinausgeht. Wohl hat er gefühlt,
daß Nachahmung der Natur das Höchste in der Kunst sei. Aber er hat nicht
die Kraft gehabt, sich über die idealistische Schablone zu erheben und mit
dein Naturstudium Ernst zu machen- Wohl hat er die Schwächen der da¬
maligen Kunst klar erkannt. Aber es blieb ihm versagt, diese Erkenntnis
in die Praxis umzusetzen, ein Reformator der deutschen Kunst zu werden.
Die Gründe dieses Mißlingens waren zum großen Teil persönlicher Art.
Der Verfasser hat gut gethan, aus dem Titel seines Buchs den „deutschen
Mann" vor den „Künstler" zu stellen. In der That war in Vaudel der
Mann stärker entwickelt als der Künstler. Ein Überschuß an Charakter schadete
seinen Fähigkeiten. Das klingt paradox und ist doch richtig. Nur Idealisten
glauben noch das Märchen, daß Charakter und Talent notwendig zu einander
gehörten. Es wäre gewiß schön, wenn es so wäre, aber die Künstler- und
Gelehrtengeschichte beweist das Gegenteil. Wohl schließen sich Talent und
Charakter nicht geradezu aus. Aber bei vielen Naturen ergiebt sich aus der
einseitigen Entwicklung der Verstandes- und Phantasiekräfte geradezu eine
Verkümmerung der sittlichen Fähigkeiten. Wie viele Künstler kennt die Kunst¬
geschichte, die im Leben geradezu verächtlich waren und doch von der
Nachwelt vergöttert wurden! Ihre schlimmen Charaktereigenschaften wurden
eben bald nach ihrem Tode vergessen, ihre Werke dagegen dauerten fort und
verkündeten ihren Ruhm. Bei Bärbel war es umgekehrt. Das beste Teil
von ihm, sein frischer, natürlicher Sinn, sein männlicher Charakter, sein kern¬
deutsches Wesen, ging mit ihm zu Grabe. Es blieben nur die unglücklichen
Erzeugnisse seiner Kunst, die uns sein Bild in ganz unvollkommner Weise
wiederspiegeln.
Solche Künstler bedürfen ganz besonders eines liebevollen Biographen.
Ihr äußerer Lebensgang, ihre Briefe, ihr sonstiger schriftlicher Nachlaß gehören
dazu, um sie ganz zu verstehen. Wir wollen nicht nur wissen, was sie ge¬
macht haben, sondern auch, was sie gewesen sind. Ihr Leben und ihre Werke
gehen uicht in einander auf. Einen solchen Biographen hat Baudel in dem
Verfasser gefunden. Als Hannoveraner, als Freund der greisen noch lebende»
Witwe Bärtels, war er ganz besonders geeignet, diese Biographie zu schreiben.
Mit großem Fleiß hat er alle schriftlichen Quellen für Bärtels Leben ge¬
sammelt, seine Werke in Originalen, Gipsabgüssen oder Photographien nach¬
geprüft, und man kann ihm das Lob nicht versagen, daß er aus diesem Material
ein fesselndes Lebensbild zusammengestellt hat, das man mit Spannung liest
und mit Befriedigung aus der Hand legt. Ein frischer nationaler Zug weht
durch das Ganze, und nur selten läßt sich der Verfasser bei der Schilderung
der Werke seines Helden zu einer schwungvollern Tonart hinreißen, als sie
der Gegenstand zu fordern scheint.
Bärbel war von Natur nicht ohne künstlerische Gaben. Er hat zwar
erst spät zeichnen lernen, aber früh modellirt und überhaupt für werkthätiges
Schaffen schou als Knabe Sinu gehabt. Dennoch kam er verhältnismäßig
spät und nicht ohne Schwankungen in die Künstlerlanfbahn hinein. Er selbst
wäre am liebsten Soldat geworden, was bei seinem kräftigen Naturell und
den Anregungen der nnpoleonischen Zeit wohl begreiflich ist. Aber sein Vater,
der in Ansbach preußischer Regierungsdirektor, später bairischer Appellations¬
gerichtsdirektor war. litt es nicht, und ihm zu Liebe mußte er sich für die Forst-
karricre entscheiden. Als Vierzehnjähriger kam er zur Vorbereitung für diesen
Beruf nach Nürnberg auf die höhere Realschule. Aber eine Reise, die er von
dort aus nach München unternahm, entschied über sein Schicksal. Er wurde
mit dem Architekten Karl von Fischer bekannt, der damals gerade das könig¬
liche Theater baute, und trat schon mit achtzehn Jahren als besoldeter
Hofbauzcichner in dessen Bureau ein. Als dann Fischer schon nach zwei
Jahren starb und man Bärbel anbot, Schüler von Leo von Klenze zu
werden, weigerte er sich, da ihm Klenze unsympathisch war, entschieden und
sattelte gleichzeitig, um seiner Meinung nach rascher vorwärts zu kommen, zur
Malerei um. Als Schüler der beiden Langer, von denen der Vater damals
Akademiedirektor war, trat er in die Akademie ein.
Kurz zuvor war Cornelius vom Kronprinzen Ludwig nach München be¬
rufen worden, um die Säle der Glyptothek mit Fresken zu schmücken. Wir
verdanken Bärbel eine interessante Schilderung des Gegensatzes, der sich damals
zwischen den Schülern von Langer und Cornelius bildete. Die neue Romantik
und der alte akademische Klassizismus konnten sich nicht verstehen. „Die
Akademie sagte: Bursche, lernt erst gehen, ehe ihr tanzen wollt. Die cor-
uelianische Schule aber sagte: Acht Tage im Gebirge ist besser als Mouate
lang Anatomie studiren. Tötet den Geist nicht durch ängstliches Studium.
Sie gingen spazieren, machten Skizzen und Skizzcheu und waren überglücklich
in Selbstberäucherung, während wir »ochsten,« wie sie es nannten, und mit
unsern Arbeiten unzufrieden warein Sie wurden immer mehr Sklaven ihres
Meisters und halfen ihm Flächen anstreichen, während wir immer mehr festen
Fuß faßten und uns selbständig bewegen lernten." Gewiß überschätzt hier
Barbet die Vorzüge der Laugerscheu Schule, aber man muß zugeben, daß
sein Urteil über die Cornelinssche Lehrmethode nicht unrichtig ist.
Aber auch seine Thätigkeit als Maler sollte nicht lange dauern. Ohne
sichtbaren äußern Anlaß, rein aus Laune wandte er sich mit einemmale
der Bildhauerei zu und trat in das Atelier von Thorwaldsens Schiller
Johann Haller ein. Hier scheint er sich besonders das Handwerksmäßige der
Plastik rasch angeeignet zu haben. Nußerlich betrachtet war es ein Glück für
ihn, daß er gerade in die Jahre hineinkam, wo durch die Bauthätigkeit des
Königs Maximilian Joseph und des Kronprinzen Ludwig den Bildhauer»
Münchens ein reiches Feld der Thätigkeit eröffnet wurde. Ein königliches
Stipendium, das er für die Ausführung des Skelldenkmals im englischen
Garten erhielt, ermöglichte ihm einen zweijährigen Nnfenthalt in Italien.
Während der Jahre 1825 bis 1827 hat er in Rom gelebt, wo damals ein
reges künstlerisches Treiben herrschte.
Aber von Natur hartköpfig und selbstbewußt, verwöhnt noch durch seine
frühen Erfolge, verfeindete er sich bald mit deu maßgebenden Persönlichkeiten.
Bei König Ludwig fiel er durch Nichtachtung der königlichen Wünsche vor¬
übergehend in Ungnade, und wenn er anch später wieder zu Gurten an¬
genommen und unter Rauchs Leitung bei den Giebelgruppen der Glyptothek
beschäftigt wurde, so scheint ihm doch Klenzes Einfluß dauernd beim König
geschadet zu haben. scheute er sich doch auch selbst nicht, durch einen ganz un-
motivirten Eigensinn bei einer gleichgiltigen Sache seine« königlichen Gönner zu
reizen. Er mochte wohl bald merken, daß man ihn zwar als guten Techniker
ausnutzen, aber nicht als erfindenden Künstler beschäftigen wollte, und das be¬
leidigte ihn. Als man ihm 1833 zumutete, Statuen zur Verzierung der Glypto¬
thek und der Pinakothek mich deu Entwürfen Hallers und Schwanthalers in
Stein auszuführen oder unter seiner Leitung ausführen zu lassen, empfand er
das als eine Herabsetzung und verließ München, um nach Berlin überzusiedeln.
In Berlin gelang es ihm freilich nicht, festen Fuß zu fassen. Schadow
erklärte ihm mit der brutalen Deutlichkeit, die ihm eigen war, er könne in
Berlin auf keine Arbeit rechnen, da er nicht hier gebildet sei. Auch der philo¬
sophische Ton, der in der damaligen Berliner Gesellschaft herrschte, gefiel ihm
durchaus nicht. Er folgte deshalb 1834 einem Rufe nach Hannover, um dort
die plastische und malerische Ausschmückung des Leiueschlosses und der Schlo߬
kirche zu übernehmen.
In Hannover hat Bärbel dann, allerdings mit längern Unterbrechungen,
die durch den Aufenthalt in Detmold und mehrere italienische Reisen ver¬
anlaßt waren, bis an seinen Tod gelebt. Für die geringen ästhetischen Be¬
dürfnisse des damaligen hannoverschen Hoff und die noch geringern der
Bürgerschaft genügten seine künstlerischen Gaben vollkommen. Auch Göttingen
verdankt ihm einige in den dreißiger Jahren entstandne Werke, deren schwache
dekorative Ausführung nur in der vollkommen kunstlosen Atmosphäre, in der
sie entstanden sind, einigermaßen erträglich erscheint. In Göttingen erhielt er
auch bei Gelegenheit eines Rektoratsessens eine neue Anregung für seinen
Äeblingsgedanken, die Errichtung eines Arminiusdenkmals.
Schon 1819 hatte Bärbel den Plan gefaßt, dem Befreier Deutschlands
vom römischen Joch ein Denkmal zu setzen. In Berlin, im Hause Wacker¬
nagels, hatte er das zweite Modell gemacht und viel mit Schadow über
die richtige historische Ausfassung Arnims disputirt. Als ihm dann nach dem
Regierungsantritt Ernst Augusts von Hannover (1837) jede Aussicht auf
künstlerische Beschäftigung für den hannoverschen Hof genommen war, warf
er sich mit neuem Eifer auf die Ausführung seines Gedankens. Er suchte
selbst im Teutoburger Walde den Platz für das Denkmal aus, gründete den
Denkmalverein in Detmold und brachte durch eifrige Agitation die erste Bau¬
summe in Form freiwilliger Gaben zusammen. Seine damaligen Ideen wichen
in vieler Beziehung von den später zur Ausführung gekommenen ab. Arminius
sollte noch auf einem seifenartiger Unterbau stehen, den Bärbel dann glück¬
licherweise mit dem zwanzigeckigen kuppelgekrönten Unterbau vertauschte, der
zwar nicht sehr schön ist, aber doch in glücklicher Weise den Eindruck urwüch¬
siger Kraft macht und gut zu der Umgebung des Berges und der Wälder
paßt. Auch sollte die eigentliche Statue damals noch beträchtlich kleiner werden,
wie ja bekanntlich auch die ersten in Kupfer getriebnen Teile der Figur in
kleinerem Maßstabe ausgeführt worden siud. Dafür beabsichtigte Baudel aber
damals, wie es scheint, eine große monumentale Treppeuanlage von dein Fuße
des Berges bis auf die Grvtenburg, und eine Art Ehrenforum um die Statue
herum anzulegen. Man kann sich freuen, daß er sich in all diesen Dingen
später eines bessern besonnen hat.
Die Ausführung des Unterbaus machte eine Übersiedlung nach Detmold
nötig. Ju den ersten Tagen des Jahrs 1838 steckte er den Platz auf dem
Teutbcrge ab, und von da an bis 1846 wurde der Unterbau ausgeführt.
Bald nachdem dieser fertig war, trat jene Stockung der Arbeit ein, die bis
1862, also'volle sechzehn Jahre, dauern sollte.
In spannender Weise hat der Verfasser alle die Schwierigkeiten geschildert,
die sich dem Unternehmen in den Weg stellten. Politische und persönliche
Verhältnisse wirkten zusammen und verzögerten die Vollendung. Es ist
wirklich interessant, die Geschichte dieses Denkmals zu verfolgen, weil sie voll-
kommen parallel geht der Geschichte der deutschen Reichsidee. Geplant in den
Jahren, wo noch die Begeisterung der Freiheitskriege nachwirkte, in Angriff
genommen zwischen Juli- und Märzrevolution, wo sich der nationale Gedanke
wieder von neuem zu regen begann, gefördert in den Zeiten vorübergehender
Begeisterung, wo auch die „Wacht am Rhein" entstanden ist, vollständig
stockend während der Reaktion und Vaterlandslosigkeit der fünfziger Jahre,
dann wieder aufgenommen in den sechziger Jahren, wo die Macht des
Schwertes den gordischen Knoten des deutschen Bundes durchhieb, endlich voll¬
endet nach der glücklich vollbrachten Schöpfung des neuen deutschen Reichs —
es giebt wohl kaum ein Kunstwerk, das enger mit der deutschen Geschichte
unsers Jahrhunderts zusammenhinge als dieses. Wie stark die politische
Stimmung auf den Fortgang der Arbeit einwirkte, dafür nur ein Beispiel.
Als Baudel 1852 den damaligen hannoverschen Minister von Malortie um
seinen Beistand bei der Förderung des Denkmalprojekts bitten wollte, ant¬
wortete ihm dieser: „Ich fürchte, der französische Gesandte könnte das als
eine Demonstration ansehen." Das ist bezeichnend sür die Beweggründe, von
denen sich die Minister der damaligen deutschen Kleinstaaten leiten ließen!
Dazu kamen dann die ewigen Reibereien, die Bärbel mit den Hand¬
werksmeistern der Umgegend und dem Detmolder Denkmalverein hatte. Auch
hier scheint der Verfasser, dem die Akten des Vereins vorgelegen haben, die
Verhältnisse richtig zu beurteilen. Er giebt wohl zu, daß Bärbel durch sein
selbstbewußtes Auftreten vieles verdorben, vor allen Dingen dnrch seine Weige¬
rung, einen genauen Kostenanschlag aufzustellen, dem Verein große Schwierig¬
keiten bereitet habe. Aber andrerseits hebt er doch auch hervor, daß der
Verein mehr auf des Künstlers Ideen hätte eingehen müssen. War es doch
Bärbel gewesen, der den Plan gefaßt, das Modell entworfen, den Platz aus¬
gesucht, die Errichtung des Unterbaus geleitet hatte. Mit größter Selbst¬
losigkeit hatte er seine künstlerische Arbeit dem Unternehmen unentgeltlich
gewidmet, seine Laufbahn als Künstler dadurch in Frage gestellt, die Bequem¬
lichkeit seiner Familie, sein Vermögen der guten Sache geopfert. Wie muß
ihm da die Zumutung erschienen sein, einen Entwurf von Schinkel und Rauch,
der von Berlin aus vorgeschoben wurde, anstatt des seinigen zur Ausführung
zu bringen! Wie schmerzlich muß es ihn berührt haben, als man eine freie
Konkurrenz forderte, wo es sich doch um einen Plan handelte, der ganz aus
seinem Kopfe entsprungen war, mit seiner Person stehen und fallen mußte!
Aber der Verein betrachtete ihn als seinen Beauftragten und scheute sich sogar
nicht, sich in technische Fragen einzumischen, indem er z. B. die Partei jenes
Kupferschmiedes in Lemgo nahm, dessen getriebne Arbeiten Bärbel für voll¬
kommen ungenügend erklärt hatte. Können wir es da Bärbel verdenken, daß
er sich alles Hineinreden und Bevvrmundschaften in künstlerischer Beziehung
verbat, ja daß er es schließlich zum Bruch mit dem Verein kommen ließ?
Gewiß war auch dieser in einer schwierigen Lage. Das Projekt Bärtels
war, besonders anfangs, keineswegs tadellos und erfuhr auch von verschiednen
Seiten herbe» Tadel, Aber hier handelte es sich gar nicht darum, das schlecht¬
hin beste zu macheu, was die deutsche Kunst damals hätte zu stände bringen
können — und ob Schinkel oder Rauch das gekonnt hätten, ist bei der Eigen¬
tümlichkeit gerade dieser Aufgabe sehr zu bezweifeln —, sondern vielmehr darum,
den Plan eines einzelnen Künstlers, der sich die Errichtung dieses Denkmals
zur Lebensaufgabe erkoren hatte, zur Ausführung zu bringen. Dies Recht
der Persönlichkeit, das sich Bärbel wahrlich verdient hatte, hätte man aner¬
kennen sollen.
Aber alle diese SchUüerigkeiten konnten einen Mann wie Bärbel ans die Dauer
nicht abschrecken. Er war von einem wahrhaft rührenden Optimismus beseelt.
Noch in den sechziger Jahren gab es nnßer ihm kaum jemand in Dentschland,
der mit Bestimmtheit an die Vollendung des Werkes geglaubt hätte. Und
doch hatte 1862 dnrch die Gründung des hannoverschen Deukmnlvereius die
Sache einen neuen Aufschwung genommen. Das einzige Gefühl, das man
für deu Künstler übrig hatte, war das des Mitleids, daß er die besten Jahre
seines Lebens einem unausführbaren Ideale widmete.
In der That muß man sagen, daß die Denkmalarbeit für Bärtels künst¬
lerische Entwicklung verhängnisvoll geworden ist. Während er mit äußern
Schwierigkeiten aller Art zu kämpfen hatte und seine Kräfte mit der Leitung
handwerksmäßiger Arbeite» aufzehrte, starb der Künstler in ihn, mehr und
mehr ab. Bon Anregung in künstlerischer Beziehung könne man weder in
Hannover noch in Detmold viel reden. Vergeblich hatte Bärbel früher ver¬
sucht, in München wieder festen Fuß zu fassen, vergeblich zu wiederholten
Malen in Italien neue Anregungen gesucht. Vergeblich bewarb er sich bei
großen architektonischen Konkurrenzen wie dem Hamburger Rathaus, der
Wiener Votivtirche lind der Fassade des Florentiner Domes. Selbst in der
Stadt Hannover hatte er mit seinen Konkurrenzen, z. B. um daS Schillcr-
denkmal, kein Glück. Wir begreife» es, daß er vorübergehend daran dachte,
nach Frankfurt a. M. überzusiedeln, ja daß ihm sogar der Gedanke gekommen
ist, nach Italien oder selbst Amerika auszuwandern. Während er in hoch-
fliegenden Phantasie» davon träumte, dem dentschen Volke el» hochragendes
Wahrzeichen zu errichten, war er genötigt, um des lieben Brotes willen Tauf¬
steine, Grabmäler, Altäre, Gesimse, Sünlenkapitäle und Konsolen in Sandstein
auszumeißelu, er, der es früher verschmäht hatte, Statuen nach den Modellen
andrer auszuführen! Während sich das Werk seines Lebens langsam der
Vollendung näherte, sank seine künstlerische Kraft von Jahr zu Jahr mehr.
Der Künstler in ihm wurde zum Handwerker.
Der siegreiche Krieg vou 1870/71 brachte der Denkmalsangelegenheit de»
letzte» entscheide»den Anstoß. Freudig trug die Jugend des neu erstand»?»
deutschen Reiches ihr Scherflein bei, und Kaiser und Reich spendeten die letzten
großen Summen. Als aber am 16. August 1875 die Vollendung des Werkes
gefeiert wurde und unter dem Jubel einer tausendköpfigeu Menge Kaiser
Wilhelm der Erste mit dem Künstler um Arme aus der Tribüne erschien, da
war der alte Bärbel ein gebrochner Mann. Sein Auge, das so lange „treu¬
fest" in die Zukunft geschaut hat, versagte ihm beinahe deu Dienst. Noch
ein Jahr und wenige Wochen, und er gehörte nicht mehr zu den Lebenden.
Es ist wohl ohne Beispiel in der Kunstgeschichte und wird auch ohne
Beispiel bleiben, daß ein Werk von solcher Größe, unter solchen Schwierig¬
keiten, ohne Hoffnung auf nußern Gewinn von einem einzelnen in siebennnd-
dreißigjähriger Arbeit zu Ende geführt wird. Dazu gehört eine Zähigkeit des
Willens, ein Idealismus, eine Selbstverleugnung, wie sie nur bei uns Deutschen
vorkommt, und selbst bei uns nur in seltenen Fällen. Diese Energie des Willens
ist offenbar der hervorstechende Chnratterzug Bärtels.
Ein zweiter Charakterzug von ihm ist sein Unabhängigkeitsstreben. Dies
mag zum Teil Familienerbe gewesen sein. Hatte doch sein Vater zu jene»
Richtern gehört, die Friedrich dem Großen in dem Prozeß des Müllers Ar¬
nold Widerstand geleistet hatten. Zum Teil hatte es sich durch die frühe
Erziehung entwickelt. Denn sein Vater hatte ihn absichtlich sich vollkommen
selbständig entwickeln lassen. Freilich war dieses Streben nach Selbständigkeit
für ihn ein zweischneidiges Schwert. Es diente wohl zur frühen Entwicklung
seiner Eigenart, aber es hinderte ihn doch auch an der künstlerische!! Ausbildung
und am Verkehr mit den Menschen. Mit seinem Stiefvater konnte er — nach
dem frühe» Verlust seines Vaters — in kein richtiges Verhältnis kommen,
da ihn dieser durchaus vom Küustlerberuf, den er verachtete, abbringen wollte.
Mehr aus Eigensinn als aus inner»! Bedürfnis sprang er von einer Kunst
zur ander» über und verscherzte sich dadurch die Unterstützung seines Königs
und das Zutrauen seiner Lehrer. Durch Mißachtung äußerer Formen und
Nichterfüllung königlicher Wünsche verdarb er es mit König Ludwig, und es
kam zu einem Auftritt zwischeu beiden, der in München sogar das Gerücht
entstehe» ließ, Baudel wäre gegen den König handgreiflich geworden. Während
er von seinen eigentliche» Lehrern, meist unbedeutenden Leuten, mit großer Pietät
spricht, fühlte er sich zu allen bedeutenden Künstlern seiner Zeit in einem
schroffen Gegensatze. Von Leo von Klenze wollte er nichts wissen, Cornelius
Lehrmethode war ihm zuwider, ein Schüler des nazarenischen Bildhauers
Eberhard mochte er nicht werden, das Ansinnen, in Thorwcildsens Atelier zu
treten, wies er mit Entrüstung vou sich. Mit Rauch kam er durch seine ganz
unmotivirte Heftigkeit und Rücksichtslosigkeit in Konflikt, und selbst seinen in¬
timen Freund Schwanthaler, der sich ihm freilich später ziemlich kühl gegen¬
überstellte, nennt er in eine»! Briefe einen „genialen Stümper." Auch
M. Wagner, der künstlerische Berater König Ludwigs, scheint nicht gerade
sein aufrichtiger Freund gewesen zu sein. Er gehörte eben zu jeuer Klasse
von Menschen, die keinem andern etwas verdanken wollen, am wenigsten einem
von denen, die von aller Welt angestaunt und vergöttert werden. Mit Ver¬
achtung spricht er von dem „Schlendrian der Künstlerbilduug durch Künstler."
Er glaubte schon fertig zu sein, als er kaum angefangen hatte.
Jedenfalls kann bei einer solchen Sinnesart von regelmüßigem künst¬
lerischem Fortschritt nicht die Rede sein. Ein Künstler, der so hochmütig jeden
Einfluß von sich abweist, so ängstlich über die reine Erhaltung seiner Eigen¬
art wacht, wird in seiner Entwicklung nur dann keinen Schaden leiden, wenn
er selbst von vornherein genial angelegt ist. Das eigentliche Genie fehlte aber
Bärbel gänzlich. Es war zwar ganz richtig, wenn er einem Tadel gegen die
egoistische Art und Weise, wie König Ludwig die von ihm beschäftigten Künstler
ausnutzte, die Worte hinzufügte: „Das Schaffen in der Kunst verträgt eben
keinen hemmenden Zwang, nur der Freie erstrebt Hohes. Welcher große
Künstler war Schüler eines Meisters? Alle, die sich hohen Ruhm erwarben
im Reiche der Kunst, sind entweder ganz selbständig vorgeschritten oder haben
sich früh von fremden Einflüssen freigemacht. Wo Gott keinen Genius ge¬
schenkt hat, kann keiner eingeschult werden. Weder die Erziehung von Kunst-
jüngern durch Kunstschulen, noch die durch einzelne Meister hat Wert, wenn
nicht die freie Entfaltung der dem Künstler innewohnenden Kräfte gewahrt
bleibt." Sein Fehler war nur der, daß er diesen Satz auf sich anwendete,
d. h. sich stillschweigend für ein Genie hielt.
Ein weiterer Charakterzug Bärtels war sein ausgesprochner Patriotismus.
Schon bei Gelegenheit der Okkupation Ansbachs durch die Franzosen war
dieser geweckt worden. Als der französische Feldzug nach Rußland mißglückte,
steinigte der zwölfjährige Knabe zum Entsetzen seiner Eltern auf offner Straße
eine Gipsbüste Napoleons. Die Begeisterung der Freiheitskriege that das
ihrige, solche Gefühle in dein Knaben, der zu feinem Kummer noch nicht
mitziehen konnte, zu befestigen. Es rollte etwas von dem Blute E. M. Arndts
und des Turnvaters Jahr in seine Adern. Hatte schon der Vater durch seine
Erzählungen das Interesse für die altdeutsche Geschichte erweckt, so brachte
den Jüngling dann ein wiederholter Aufenthalt in Nürnberg mit deutscher
Art und Kunst in Berührung. Bildhauer wie Peter Bischer und Adam Kraft
tauchten in seinem Gesichtskreis auf. Als dann sein Deukmalplan an die
Öffentlichkeit trat, zählte er Germanisten wie Maßmann und Wackernagel zu
seinen Freunden. Er begriff nicht, wie der Dichter Platen, mit dem er von
Jugend auf befreundet war, in Italien den Deutsche» so sehr verleugnen und
ganz in italienischem Wesen aufgehen konnte. Er selbst hat auch in dem
lockenden Süden sein Bolkstniu niemals vergessen. Auf den Trümmern des
^orniu liomÄirum und unter der Kuppel der Peterskirche weilte er mit
seinen Gedanken „in unsern germanischen Hainen, in denen der Allmächtige
lebte ohne Einschränkung und sich ein freies Volk erschuf, das in Wahrheit
und Treue fest an seiner Menschenwürde sich haltend, allen Anfechtungen
menschlichen Übermuts riesenstark widerstand." Und unter der Eiche des Tasso
bei S. Onofrio in Rom dachte er an den Weihnachtsbaum der nordischen
Heimat, wie er sich in Parma nach den Bergen des Teutoburger Waldes
zurücksehnte. Aus diesen Gefühlen heraus versteht man auch seine Klage über
die deutsche Kunst seiner Zeit: „Nun tragen eure Königsstädte, ihr Deutschen,
von den Zeiten her, wo wir unser deutsches Wesen vergaßen, alle Zeichen
der Fremdherrschaft, die in einer Kette von Nachäffungen sich offenbaren.
So sind sie Musterkarten des Fremden geworden, während unsrer Vorfahren
Werke, die wahrhafte Bilder deutschen Sinnes sind, in der Heimat oft un¬
heiligen Gebrauch verfallen sind oder geradezu zum Hohn niedergerissen werden,
um Gemischen von griechischen, römisch-französischen und wer weiß sonst noch
für Dingen Platz zu machen. Auf griechischen Konsolen stehen die Büsten
deutscher großer Männer, in einem Griechentempel, der den ehrwürdigen
deutscheu Namen Walhalla trägt, zwischen griechischen, aber in der That ele¬
gant französischen Viktorien, hoch über einer unsrer schönsten Städte ragt stolz
die fremde Siegerin und schaut auf die unvollendeten Türme herab, sie sieht
spöttisch lächelnd, wie, nach ihr sich modelnd, Altdeutschland sich nun kleidet.
Dem wahrhaften Deutschen wird unheimlich in den Städten, in denen er nur
schlechte, unverstandne Nachbildungen der Fremde findet, und er .sucht die
Winkel seiner alten Städte ans, um sich auszuweinen über sein bei andern
berühmtes, zu Hause aber Verlornes Vaterland. Verkannt, vergessen ist unsrer
Väter großer ernster Sinn, wir sind stolz in unserm Ruin, die Kunst geht
in der Irre. Wer möchte den Beweis führen, daß das jetzige Streben der
Deutschen in der Baukunst eine Volkstümlichkeit hat? Sollte unser deutsches
Volk wirklich so wenig künstlerischen Sinn haben, daß es keinen eignen Bau¬
stil mehr gebären könnte? Möchten wir doch bald im alten treuen deutschen
Sinne wieder erstarken." Man glaubt kaum, daß diese Worte in den dreißiger
Jahren niedergeschrieben sind, so sehr erinnern sie uns an gewisse Strömungen,
die heute wieder, wie zur Zeit des jungen Goethe, weite Kreise in Deutsch¬
land bewegen.
Bärbel hatte ein vollkommen richtiges Urteil über die gewaltsame und
unnatürliche Art, wie König Ludwig von Baiern die Kunst pflegte, und was
der deutschen Kunst notthat, hat er treffend ausgesprochen. Aber er hat seiue
richtige Erkenntnis nicht in die That umsetzen können. Wenn man sich nach
solchen Worten zu Bärtels Werken wendet, so hofft man Gegenstünde von
durchweg nationalem Charakter zu finden. Weit gefehlt! Die Stoffe seiner
plastischen Werke und seiner dekorativen Gemälde sind zum großen Teil dem
antiken Götter- und Heroenkreise und dem der klassizistischen Allegorie ent¬
nommen. Da haben wir Juppiter und Juno, Mars und Venus, Hermes,
Anior und Psyche, Herakles und Omphale, Theseus und Ariadne, Orpheus,
Arion, den Faun, die Musen, die Grazien, die Amazonen, Homer und Anakreon.
Da haben wir Caritas, die Tages- und Jahreszeiten, die Genien der Wissen¬
schaft und des Friedens, die Fakultäten, Gerechtigkeit und Einigkeit n. s. w.,
kurz, die stehenden Repertoirestücke der damaligen autikisirend-idealistischen Kunst.
So wenig stimmte Theorie und Praxis bei ihm überein.
Man sollte denken, daß ein Künstler von so ausgeprägter nationaler
Eigenart wie Bärbel damals mir hätte Romantiker werden können. In der
That hatte er eine gewisse Vorliebe für die gothische Baukunst. Mit Ohl-
müller und Heideloff war er wohl bekannt, und die Werke über deutsche Bau¬
kunst, die in seiner Jngend erschienen waren, hatte er mit Begeisterung gelesen.
Malerinnen der romantischen Richtung wie Marie Elleuriedcr und Luise Wolf
waren ihm von Jugend ans befreundet. Auch behandelte er nußer dem Ar-
miuius in seinen plastischen Werken noch andre romantische Stoffe: Thusnelda,
ein Mädchen mit der Orakelblume, Szenen ans dem Leben der alten Deutschen.
Schon als junger Mann hatte er bei der Restauration des schonen Brunnens
in Nürnberg mitgeholfen und sechs von den sechzehn Statuen an den Pfeilern
neu angefertigt. Vorübergehend dachte er daran, den staufischen Kaisern in
Lorch ein Denkmal zu setzen. Auch Figuren des Alten und Neuen Testaments
und Reliefe biblische» Inhalts hat er gemacht: David, Ruth, Maria mit dem
Christkind, den segnenden Jesus, das schlafende Jesuskind, Szenen aus der
Geschichte Christi. Aber seiue Auffassung und Formensprache ist nicht die
eines Romantikers. Es fehlt ihm ganz im allgemeinen der romantische Sinn.
Wohl hat er deutsche Geschichte mit Interesse getrieben, und von Dichtern, die
er liebte, werde» Th. Körner, W. Scott, Chateaubriand und Lamartine ge¬
nannt. Aber das intensive poetisch-historische Interesse der Romantiker war
ihm fremd, und für den historisch-romantischen Reiz z. B. einer Stadt wie
Venedig hatte er nicht den mindesten Sinn. Vor allen Dinge» fand der
ausgesprochen religiöse Zug der damaligen Romantik keine Gnade vor seinen
Angen. Schon in Rom schloß er sich weder an die Nazarener, die ans den
Klosterbrüdern von S. Jsidoro hervorgegangen waren, noch an die protestan¬
tischen Kapitoliner, die sich um Schmorr von Carolsfeld scharten, näher an.
Die Weltkinder wie der alte Koch, Reinhart, Riedel, Jacobs, Flohr u. s. w.
bildeten seinen Verkehr. Obwohl von Natur fromm, haßte er doch jedes zur
Schau getrague Christe»tum, sowohl a»f katholischer wie auf protestantischer
Seite, und die ungesunde» katholisirende» Neigungen der Overbeck und Ge¬
nossen waren ihm vollends ein Greuel. Auch von der romantischen Begeisterung
für die mittelalterliche italienische Kunst oder die Meister der Renaissance findet
man bei ihm. keine Spur.
So stand er zwischen Klassizismus und Romantik mitten inne, weder der
einen noch der andern Richtung angehörig, und doch auch nicht fähig, ein.
drittes zu ergreifen. Denn dieses dritte, den Naturalismus, gab es damals
in der deutschen Kunst noch nicht. Besonders in der Plastik waren dazu erst
wenige Ansätze, z. B. bei Schadow und Rauch, vorhanden, Ansätze freilich,
die noch ganz von dem Schleier der traditionellen Formensprache verdeckt
waren. Es ist müßig, zu fragen, was aus Bärbel geworden wäre, wenn er
fünfzig Jahre später gelebt hätte, oder wenn er damals in die richtige na¬
turalistische Schule, z. B. zu Rüde oder David d'Angers, gekommen wäre,
denn das letztere war aus andern Gründen ganz unmöglich. Sicher ist nur
so viel, daß sein ganzes Naturell ihn zum Realismus hindrängte. So ver¬
mißte er an Overbecks Zeichnungen die „kräftige Naturwahrheit," an Thor-
waldsen „das Handwerkliche und die nordische Luft." So schwärmte er für
den alten Schadow, in dem er ein verwandtes Streben spürte, und tadelte
Thorwaldsen, daß er seinen Pvniatowsky in der Tracht eines römischen Feld¬
herrn darstellte, während er selbst die realistische Tracht bei Porträtstatuen
für das einzig richtige hielt. Auf eine gewisse realistische Begabung deutet
auch sein frischer, kerniger Natursinn, sein nüchternes Urteil über die Unnatür-
lichkeit der damaligen Kunst, vor allen Dingen aber fein früh erWachter Trieb,
Bildnisse zu zeichnen und aus Wachs zu modelliren. In dieser Beziehung
ist es wichtig, daß Porträtstatuen und Büsten in der Reihe seiner Werke einen
großen Platz einnehmen, und daß seine künstlerische Stärke ohne Zweifel im
Bildnis lag. König Ludwig hatte nicht so Unrecht, wenn er ihn für seinen
Büstenbildhauer und besten Steinbildhauer erklärte. Er war also in gewisser
Weise ein Realist, freilich, wenn ich so sagen darf, ein latenter. Denn diese
realistische Gabe ist bei ihm nicht zur Ausbildung gekommen. Ein Wider¬
spruch zeigt sich schon darin, daß er nur sehr wenige genrehafte Figuren oder
Gruppen gebildet hat, ja daß ihm das Sittenbild überhaupt wie eine un¬
würdige Spielerei erschien gegenüber den großen monumentalen Ausgaben
der Kunst.
Daß in Bärbel eigentlich ein verkappter Naturalist steckte, zeigt auch seine
wenigstens für die damalige Zeit auffallende Borliebe für das Technische der
Kunst. Bei seinem Lehrer Halter hatte er rasches Arbeiten und volle Be¬
herrschung der Marmortechnik gelernt. Wie Michelangelo, pflegte er zuweilen
Köpfe und Reliefe ohne Modell und Puuktsetzung gleich aus dem Marmor
herauszuhauen. Aus einer im Unmut zerstörten Sickingenbüste stellte er in
Rom ohne Modell innerhalb weniger Tage eine Marmorbüste seines Freundes
Ebeling her. Ein von einem italienischen Gehilfen verhauenes schlafendes
Christkind brachte er über Nacht durch eine kleine Veründrung wieder ins Ge¬
schick. Später beim Arminiusdenkmal ließ er es sich nicht nehmen, die tech¬
nischen Konstruktionen, Stützen, Gerüste u. s. w. selber auszudenken. Aber
auch in dieser Beziehung wollte er möglichst wenig von andern lernen, mög¬
lichst alles sich selber verdanken. Es klingt doch etwas naiv, wenn er bei den
Statuen am Schollen Brunnen eine Praxis der Puuktsetzung selbst gefunden
zu haben vorgiebt, die er von jedem italienischen Scarpellino hätte lernen
können.
Es war Bärtels Unglück, daß seine technischen und realistischen Neigungen
in der damaligen Münchner Atmosphäre nicht die richtige Entwicklung finden
konnten. König Ludwig hatte durch sein ungeduldiges despotisches Drängen
damals besonders in der Plastik jene „Eilknnst" geschaffen, die nur auf de¬
korative Wirkung, nicht auf naturalistische Durchbildung ausging. Eine stumpfe,
flüchtige Auffassung der Formen war eingerissen, jene Auffassung, die wir
aus Schwanthalers Werken zur Genüge kennen. Schwanthalcr war wenigstens
als Erfinder genial, ein würdiger „Skizzenfabrikant" König Ludwigs, wie
Bärbel sagte. Aber Bärbel, dem auch diese Eigenschaft fehlte, mußte an
einem solchen Vorbilde notwendig zu Grunde gehen.
So ist denn der Schöpfer des Arminiusdenkmals thatsächlich in seiner
Entwicklung stecken geblieben. Es ist doch sehr bezeichnend, daß seine Akt¬
studien vom Jahre 1819, wie sein Biograph hervorhebt, besser sind als die
vom Jahre 1834, daß also z. B. auch der römische Aufenthalt in dieser Be¬
ziehung gar keinen Einfluß auf ihn ausgeübt hat. Wenn das von dem jungen
Bärbel gilt, was konnte man da von dem alten erwarten? In der That ist
Bärbel als Künstler keine erfreuliche Erscheinung. Seine Werte sind zwar
nicht alle gleichwertig, aber selbst die besten unter ihnen stehen tief unter denen
eines Schadow und Rauch. Seine plastische Komposition ist der Regel nach
ungeschickt, hart in der Linienführung, ohne Rhythmus in der Haltung der
Glieder, nicht für die Ansicht von verschiednen Seiten berechnet. Einen leben¬
digen Ausdruck der Gesichter hat er nie erreicht, seiue Figuren haben meistens
starre, leblose Züge. Ihre Hände sind schablonenhaft in der Haltung und
matt in der Bewegung, sie fassen meistens nicht recht zu. Die Durchbildung
der Körperformen und besonders der Beine ist rundlich, wurstartig, ohne
Verständnis für die anatomischen Einzelheiten. Von einem freien, lebendigen
Faltenwurf ist nicht die Rede. Nirgends zeigt sich ein Naturstudium, das
über das übliche hinaufginge, nirgends ein Ansatz zu selbständiger Formen-
auffassung. Bei seinem Arminius hat er wenigstens in der Komposition einen
glücklichen Gedanken gehabt, eine gewisse monumentale Wirkung erreicht. An
seinen kleinern Werken aber, z. B. seinen Marmorstatuen, vermißt man durch¬
weg jene lebensvolle Durchbildung der Naturformen, die in erster Linie den
Wert des plastischen Kunstwerks ausmacht.
So wendet sich denn der Blick, der von dem Künstler Bärbel abgestoßen
wird, um so freudiger wieder dein Menschen zu. Mag man ihm einen Platz
in der Reihe der ersten Künstler versagen, er war doch, das muß mau zu¬
geben, in seinen Fehlern und Vorzügen ein ganzer Mann. Stark an Körper
und gesund an Geist, abgehärtet und bedürfnislos im höchsten Grade, toll-
kühn als Reiter, Wanderer und Ruderer, furchtlos im Verkehr mit den
Großen dieser Erde, ein Mann des Willens und der That, eine Kraftuatur
nach unserm Herzen. Man hat Bärbel häufig die feinere Bildung abge¬
sprochen, und es klebte ihm ja wohl bis in seine letzte Zeit etwas vom Natur¬
burschen an. Aber ein Mann, der solche Briefe schreibt, so klar und treffend
über Dinge und Personen urteilt, ist nicht ungebildet, auch wenn er vom
Lateinischen und Griechischen wenig verstünde und auch sonst im Leben wenig
gelesen hätte. Männer des Wissens und der Bildung haben wir in Deutsch¬
land genug, Männer des Willens und des Charakters wie Bärbel nur wenige.
Man sollte solchen Naturen ein treues Andenken bewahren. Ich wüßte nicht,
was man an dem Menschen Bärbel, abgesehen von seinem Eigensinn, tadeln
sollte. Als Künstler hat er wenigstens das Richtige gewollt. Mag die Zu¬
kunft entscheiden, ob ihn selbst oder seine Zeit die größere Schuld daran trifft,
daß er es nicht erreicht hat.
or kurzem lief die lustige Nachricht durch die Zeitungen, daß
Most unter dem Drucke seiner Sünden zusammengebrochen und
als neuer Mensch in der Heilsarmee wieder aufgestanden sei,
sich selbst und andern zum Heil. Ja man wußte sogar zu er¬
zählen, daß er sich Deutschland und insbesondre Berlin zum
Schauplatz seiner künftigen Missionsthätigkeit ausersehen habe. Ein wahrer
Jammer, daß auch diese frohe Botschaft, wie so viele andre, sich nachträglich
als eine Sommerente erwiesen hat. Wir werden den bekehrten Most nicht
sehen und uns nicht von ihm bekehren lassen, aber dafür hat doch der große
Gedanke, die bekehrten Anarchisten in die Heilsarmee zu schicken, seineu An¬
spruch aus Unsterblichkeit nicht eingebüßt. Wir möchten sogar dafür eintreten,
daß sich auch andre bekehrte oder unbekehrte politische Sünder die Anregung
nicht entgehen ließen und verwirklichten, was Most — wir fürchten es wirk¬
lich — in seiner Seelen Härtigkeit nicht ausführen wird; giebt es doch so
manchen im Vaterlande und darüber hinaus, dem wir die heilsame Disziplin
des General Booth wünschten. Schon gestaltet sich uns ein Bild nach
Spangenbergschem Vorbilde: der Zug der Heilsarmee! Voran natürlich der
General — Booth, dann die andern, alle die falschen Propheten, denen ihre
Sünde leid geworden ist oder doch leid werden sollte, Hinz und Kunz oder
wie sie immer heißen mögen. Wir zweifeln nicht daran, daß es bloß des
Anstoßes bedarf, damit sich jeder in Gedanken das Bild ausführe. Für die
deutsche Gruppe verzichten wir daher auf genauere Angaben, aber unsre aus¬
wärtigen Lieblinge sollen nicht vergessen werden. Da ist vor allem der N'und
old man, Gladstone, für den, nachdem er alle andern Fahnen bereits abge¬
braucht hat, wirklich keine andre mehr übrig bleibt als die der Heilsarmee,
und da er ja von jeher für den Gedanke» geschwärmt hat, das unvereinbare
zu verbinden, könnte man ihm gleich einen Franzosen an die Seite stellen,
das Symbol jener neuen - aMkmoe kMvo-russo-dritmmiqne, für die er seine
Anhänger zu begeistern bemüht ist. Etwa Mr. Freycinet oder Constans, von
denen es ja allerdings heißt, daß sie insgeheim unter einer Decke spielen, um
die pstiw souri» humore zu beseitigen. Die pstiw souris, die immer noch
einen Unterschlupf und Ausweg zu finden wußte, wenn man meinte, sie fest
in den Winkel gedrückt zu haben, und die jetzt mit der Glorie von Naiuy
selbstbewußter und zuversichtlicher als je ihren Paradeplatz wieder hat ein¬
nehmen können. Und sollte Rochefort nicht auch den Augenblick für geeignet
halten, an die Brust zu schlagen und sich dem Zuge anzuschließen? Er, dessen
Metier es ja von jeher gewesen ist, die Sünden untrer Leute mit scharfem
Blick zu erkennen und mit schärferer Geißel zu züchtigen? Es ist der geborne
Missionar der Armee, mit bester Aussicht, einst die Führung zu gewinnen.
Und all die hohen Herren, die eben auf Kommando, als gälte es eine Tanz¬
tour, ein ellMAö? ig« äg.in<Z8, sich von der Monarchie zur Republik umgedacht
haben, die ehemaligen Kürassieroffizicre wie die Herren im roten Hute, sie alle
gehören in die Heilsarmee, der dann zum Schutz wohl uoch einige Zuaven
beigegeben werden könnten, damit die „ersten Soldaten der Welt" anch hier
ihre Vertretung finden. An Sündern kann es wohl in diesem Elitekorps
nicht fehlen. Aus dem benachbarten Portugal müßte das gesamte Ministerium
hinein, vor allem der Herr Finanzminister, ja man kann zweifelhaft sein, ob
überhaupt irgend jemand in Portugal fern bleiben sollte. Heulen und Zühne-
tlappen sind die beste Vorbereitung zu spätern Bußpsalmen, und das erste
Stadium soll ja erreicht sein, das zweite sich vorbereiten. Damit Italien nicht
fehle, rufen wir Herrn Jmbriani heran, und um dann zu den „interessanten"
Völkern überzugehen, Exkönig Milan von seinein Spieltisch weg, nebst all
jenen russischen lÄMurs, die seit Jahren bemüht sind, das Feuer für deu
künftige» Welteubraud im Balkan nicht ausgehen zu lassen. Der eigentlich
klassische Bode» für die Heilsarmee aber wäre Rußland selbst, mit Herrn
Pobedonoszew an der Spitze, mit Wyshnegradski, dem, seit das französische
„Tischchen deck dich" nicht mehr arbeiten will, recht klüglich zu Mute geworden
ist, mit Herrn Hurko, dem Nachfolger und Nachäffer des weißen Generals,
und all jenen Ehrenmännern, die schon heute die Augen verdrehen und Buße
risen, um dem faule» Weste» anzukündigen, daß ihn: nur noch eine kurze
Frist gegeben ist, reumütig das Haupt zu schlagen vor den unverdorbnen
Orient, vor dem „reinen Kosakentum," das wie der reine Thor bestimmt ist,
den bösen Zauber zu lösen, unter dem die arge Welt duldet. In die Heils¬
armee mit ihnen, so viel ihrer sind! Gewiß, es wird ein gutes Bild, so recht
geschaffen für einen Dürerscheu oder Hvgarthschen Stich, wenn wir nnr jemand
wüßten, der ihn zu stechen die Kunst und den Mut hätte!
Wahrlich, es fällt schwer, die Satire nicht zu schreiben, die sich bei Be¬
trachtung der Komödie aufdrängt, die sich heute in unsrer großen Politik ab¬
spielt. Jene französisch-russische Freundschaftskomödie, die die Welt genötigt
ist, ernst zu nehmen, weil ein Zufall, ein Ungefähr dahin führen kann, daß
sie wirklich Ernst wird.
Seit zwanzig Jahren ruft Frankreich Revanche, so laut es irgend gehen
null, und seit zwanzig Jahren flüstert in Frankreich jedermann dem Nachbar
zu, der Krieg werde nicht kommen, denn man wünsche ihn nicht und sei ent¬
schlossen, alles zu thun, seinen Ausbruch zu verhindern. Aber Revanche ist
nun einmal das Schlagwort aller derer, die den Platz noch nicht eingenommen
haben, ans dem sie zu sitzen wünschen, es ist der Götze, den man anbetet,
ohne an ihn zu glauben, den man dein Pöbel der Gassen zuliebe Verehrung
zollt, als gäbe es keine Götter neben ihm. Seit zwanzig Jahren rüstet Frank¬
reich diesem Phantom zuliebe, und seit es den russischen Bundesgenossen ge¬
funden hatte, dessen einziger Freund vor wenigen Jahren noch Montenegro
war — jetzt hat er zwei Freunde, der Glückliche —, war Frankreich wirklich fertig,
^ronixrst, so sehr fertig, daß den Herren, die in Paris um Ruder waren,
das Blut heiß zum Herzen znrückströmte und sie fürchteten, es könne nun
doch der Krieg kommen, der Krieg mit seinen Sorgen und Gefahre», mit
seine» ehrgeizigen Generalen, mit seinen neuen Männern, und darüber
könnten sie der schönen Stellen verlustig gehen, die sie so warm hergerichtet
hatten!
Aber der Krieg kam nicht, denn das rauchlose Pulver kam, und mit ihm
das neue Gewehr. Nun konnte das Spiel nochmals beginnen: neue Vor¬
bereitungen, neuer Lärm, neues Kokettiren mit dem russischen Freunde, bis
man wieder srÄupi-Le war, und die Verbrüderung von Kronstäbe neues Herz¬
klopfen und neue Sorgen brachte. Der Krieg, den man zu wünschen vorgeben
mußte, schien wieder möglich zu sein.
Da kam die Hilfe von Nußland. Rußland brauchte Geld und hatte in
Deutschland „zugeknöpfte Taschen" gefunden. Es wandte sich an Frankreich,
und die klugen französischen Geschäftsleute zeigten sich unendlich bereitwillig
und gaben zu möglichst hohen Prozenten möglichst wenig. Die russische
Hungersnot, zu deren Linderung Frankreich opferwillig 2V000 Franks beitrug,
half weiter, und es war glücklich wieder ungefährlich geworden, Revanche zu
rufen. Man konnte wieder aufatmen. Die yet,it,«z Muri-s vlMvInz rieb sich
die Pfötchen, sie hatte sich selbst und den Franzosen aus der Klemme geholfen:
in Wirklichkeit Friede, in der Theorie Revanche!
Man kann sich wohl fragen, wie lange das frivole Spiel so weitergehen
wird. Denn ein frivoles Spiel ist es ohne Zweifel. Die Franzosen brauchen
sich nnr aufrichtig und öffentlich zu jenem Frankfurter Frieden zu be¬
kennen, den sie in Wirklichkeit zu respektiren entschlossen sind, um den Alp
zu bannen, der auf der Welt lastet und die Völker nur mit halber Kraft an
die ernsten Aufgaben hinantreteu läßt, die ihnen die sozialen, wirtschaftliche,,
und idealen Bedürfnisse der Zeit stellen. Ein frivoles Spiel, denn es ist die
Moral des 5Mo8 mein8 >«z äciluM, die hier in praktische Politik umgesetzt wird;
Väter, die sich den ruhigen Genuß ihrer Stellung erkaufen, indem sie Leben
und Zukunft des heranwachsenden Geschlechts preisgeben, wenn dieses nicht
gleich frivol ist und schließlich den Enkeln die Entscheidung zuschiebt. Viel¬
leicht wäre das »och das beste!
Aber wenn einst die Geschichte zu Gericht sitzen wird über die völkischen
Roßtäuscher, die heute die Welt betrüge», wird sich ein Räukespiel enthüllen,
das seinesgleichen kaum je gehabt hat, wie es jedenfalls zu keiner Zeit durch
so kleinliche, so ganz egoistische Beweggründe in Szene gesetzt worden ist.
Die Leser wundern sich vielleicht, daß wir in diesem Anlaß nur vou fran¬
zösischer, nicht von russischer Schuld reden. Der Grund liegt eigentlich auf
der Hand: Rußland gegenüber läßt sich mit den Begriffen abendländischer
Moral nicht rechnen. Die Russen stehen trotz des Firnisses europäischer oder
sagen wir französischer Kultur, mit dem ihre Wortführer die angebornen Züge
verdecken, ganz außerhalb des Kreises der Gesittung, der die übrigen Völker
und Staaten Europas in höherm Sinne doch als eine Familie erscheinen
läßt. Wie ihnen unser Christentum „Nichtchristentum" ist - das ist der
technische Ausdruck, mit dem das russische Volk jeden Katholiken oder Pro¬
testanten bezeichnet —, so ist ihnen unser Recht Unrecht, denn wie ein russisches
Sprichwort sagt: Was dem Deutschen gesund ist, das ist den, Russen Gift.
Der Deutsche aber ist hier nur eine andre Bezeichnung für den Nichtrussen.
1806 und 1812 nahmen die Franzosen, die angeblichen Freunde von heute,
genau dieselbe Stelle im russischen Volksbewußtsein ein.
Also wozu mit ihnen rechten? Es ist, als redete man zu ihnen in
fremden Zungen. Das Land geht aus den Fugen, das Volk ist an sich irre
geworden, weil man ihn, genommen hat, wozu eine tausendjährige Ge¬
schichte erzog: jene Gleichheit in der Knechtschaft, die der schärfste Gegensatz
ist zu dem abendländischen Begriff, der die Gleichheit sucht in der Gleichheit
im Recht und in der gleichen Achtung der Menschenwürde an jedem Einzelnen,
kurz in den Früchten moderner Humanität, die zu den ewigen Errungenschaften
der idealen Theoretiker der Konstituante gehören. Alle diese Ideen haben in
der russischen Volksseele keinen Raum gefunden.
Was von Rußland droht, ist eine Politik der Verzweiflung, des politischen
Nihilismus, der in jeder Wandlung des Bestehenden eine Erlösung steht aus
der unleidliche» Wirklichkeit, die von dem Zufallsspiel eines leichtfertige»
Wagens erwartet, was die >to/5)/, «^«,/>^ des Weite»le»ters n»r der Selbst¬
zucht und der redlichen Arbeit gewähren: Freiheit und Glück.
Dieser Tage wurde mir ein lange gehegter Wunsch
erfüllt: es gelang mir, für meine kleine Sammlung erster Ausgaben von Werken
unsrer Klassiker die erste Ausgabe der „Leiden des jungen Werthers" (Leipzig, 1774)
in einem schönen, wohlerhnltnen, saubern Exemplare zu erwerben. Die Exemplare,
die ich früher gesehen hatte, waren immer zerlesen und schmutzig gewesen, wie alte
Leihbibliotheksschmöker. Wie groß war aber vollends meine Freude, als ich sofort
beim ersten Aufblättern am Schlüsse des ersten Teils von Goethes eigner Hand
die vier Reimzeilcn eingeschrieben fand, die dann vor der zweiten Auflage mit
gedruckt wurden, »ut zwar geschrieben mit einer Abweichung, die deutlich zeigt, daß
hier die erste Niederschrift vorliegt. Es heißt nämlich nicht, wie später — mit
entschiedner Verbeßrnng — im Druck:
Jeder Jünglinn sehnt sich so zu lieben,
sondern:
Jeder JnnMng wünschet so zu lieben.
Ich blätterte weiter und sah nnn auch, daß Goethe eigenhändig eine Anzahl Druck¬
fehler in dem Exemplar verbessert hat, und zwar nicht nur die meisten von denen,
die am Schlusse der Ausgabe verzeichnet sind, sonder» auch nach einige andre, die
dort nicht verzeichnet sind. Von Wichtigkeit sind wenigstens zwei. Der eine ist,
wie ich sehe, von der zweiten Ausgabe an überall berichtigt: im zweiten Teil
unteren t7. Dezember steht in der ersten Ausgabe falsch: „und delle ihren lieben
lispelnden Mund mit unendlichen Küssen"; Goethe hat verbessert: „ihren Liebe
lispelnden Mund." Über den andern aber hat er auch in den spätern Drucken
immer wieder weggelesen, und so steht er bis heute in allen Ausgaben: im erstell
Teil unterm t0. September ist in der ersten Ausgabe gedruckt: „Ich hatte mich
etwa eine halbe Stunde in denen schmachtenden süssen Gedanken des Abscheidens,
des Wiedersehns geweidet"; Goethe hat die letzten beiden Buchstaben von schmach¬
tenden sorgfältig durchstrichen, hat also gewollt, daß gelesen werde: „in denen
schmachtend süssen Gedanken." Und das ist anch sicherlich vorzuziehen, denn
schmachtenden, süßen enthält keine Steigerung, wogegen das süß durch
schmachtend vortrefflich gesteigert und gefärbt wird.
Das Exemplar ist offenbar eins von denen, die Goethe unmittelbar nach
Beendigung des Drucks an Freunde verschenkte, und in denen er, wie junge
Autoren, die noch wenig haben drücken lassen, heute noch thun, die Druckfehler
vorher sorgfältig berichtigte.
schreibt der preußische Justiznnmfter an den
Herausgeber der Deutschen Revue folgendes: „Ans die Klarheit und Einfachheit
der Ausdrucksweise in den Entscheidungen und Verfügungen der Justizbehörden
lege ich meinerseits einen großen Wert. Daher kann ich es nur dankbar begrüßen,
wenn Sie den hierauf gerichteten, auch in Richterkreisen schon hervorgetretenen
Bestrebungen durch eine Erörterung in Ihrer Zeitschrift eine Förderung zuteil
werden lassen."
Excellenz hätten auch schreiben können: „Auf klare und einfache Ausdrucks¬
weise in den Entscheidungen und Verfügungen der Justizbehörden lege ich großen
Wert und begrüße es daher dankbar, daß Sie solche Bestrebungen, die auch in
Richterkreisen schon hervorgetreten sind, in Ihrer Zeitschrift erörtern und dadurch
fördern."
Ferdinand von Saar gehört zu den besten und feinsinnigsten Talenten, die
Deutschösterreich unsrer Litteratur gegeben hat. Freilich mangelt seinen Novellen
jene robuste Energie, die augenblicklich mehr als jede andre Eigenschaft gepriesen
wird, aber Erfindung und Ausführung zeichnen sich durch lhrische Stimmung,
schlichte Anmut des Vortrags und echte Lebenswahrheit ans. Auch die vorliegenden
beiden, „Ginwra" und „Geschichte eines Wiener Kindes," zeigen die alten Vorzüge
des poetischen Erzählers. Namentlich die erste Resignationsnovelle, die Geschichte
einer leichtsinnig verscherzten Jugendliebe, deren Andenken wie ein trüber Schatten
auf der Seele eines tapfern Soldaten liegt, entspricht dem besondern Naturell und
dem künstlerischen Zuge Saars. In der zweiten, umfangreichern Erzählung stellt
der Verfasser den Lebenslauf eines leichtsinnigen, leichtherzigen Mädchens dar, die
eine tief unglückliche Frau wird und durch Selbstmord endet. Nicht die Tragik
des Borgangs und die schwüle Atmosphäre, von der die feingezeichneten Situationen
teilweise umhaucht sind, sondern die bedenkliche Dunkelheit, in der der Charakter
des Herrn Roher bleibt, dem zuliebe Frau Elsa Stadler Haus, Mutterglück, Ehre
und schließlich das Leben opfert, beeinträchtigt die Wirkung dieser Novelle, die
die Umrisse zu einem ganzen Roman enthält. Im Ganzen muß mau vor der
ernsten Lebensanschauung und der ruhigen Sicherheit der Lebensdarstellung Saars
aufrichtige Achtung hegen, wenn man mich wünschen möchte, daß er sich einmal
mit kühnerem Schwung über die Linie erhöbe, die seine Produktion bis jetzt einhält.
age wie die „Vismarckwoche" hat Deutschland noch nicht erlebt.
Ein vor mehr als zwei Jahren entlaßner Minister, der sicher¬
lich nicht mehr die Gnade seines kaiserlichen Herrn besitzt, wurde
in Dresden und München und überall auf seiner ganzen Reise
dnrch Sachsen und Baiern, ja selbst in Wien und Linz mit
einer Begeisterung begrüßt, die mit geradezu elementarer Gewalt hervorbrach.
Es ist vielleicht der größte Triumph, den der viclgefeierte jemals gefeiert hat,
und ein ehrendes Zeugnis für das deutsche Volk; wir sind doch leine Nation
von Byzantinern! Denn eben jene Staaten haben 186ti mit den Waffen in der
Hand die von ihm geleitete Politik bestritten, und von vielen ist er hier lange Zeit
bis aufs Blut gehaßt worden. Jetzt hat diese großartige Aufnahme aufs neue
und in wahrhaft imposanter Weise bewiesen, daß das Werk seines Lebens, die
deutsche Einheit, festgewurzelt ist im Volke, daß die Sachsen und Vaiern, denen
erst er ein großes Vaterland geschenkt hat, obwohl es ihnen wahrlich nicht so
ganz leicht gemacht worden ist, sich in die neuen Verhältnisse zu schicken, sich
dieses Vaterlands warmherzig, ohne Vorbehalt und ohne Rückhalt freuen und
seinem großen Mitbegründer von Herzen dankbar sind. Etwas Kindischeres hat
die freisinnig-jüdische Presse Berlins niemals geleistet als die Unterstellung, die
Huldigungen in Dresden seien eine „partikularistische Demonstration" gegen die
jetzige „preußische" Regierung gewesen! Sollten diese Herren den „hellen"
Sachsen wirklich eine solche Thorheit zutrauen? Wissen sie nichts mehr von dem
jubelnden Empfange Kaiser Wilhelms I. im September 1882 und seines Nach¬
folgers im August 1888? Wir Wollen zu ihrer eignen Ehre umnehmen, daß
sie mit vollem Bewußtsein die Wahrheit verleugnet und eine Verlegenheits¬
auskunft, eine recht herzlich alberne allerdings, gesucht haben. Doch es lohnt
nicht darüber zu reden. Mächtig wie kaum jemals hat das Volk das Bewußt-
sein bekundet, daß es in Fürst Vismcirck die Verkörperung des glorreichsten
Vierteljahrhunderts der deutschen Geschichte sieht, und daß er für sich allein
eine Macht ist im deutschen Leben.
Mit dieser Thatsache muß jeder rechnen, muß auch die Regierung rechnen,
die seine Erbschaft übernommen hat. Er ist nicht ein gestürzter Minister wie
andre auch, sondern er ist eben Fürst Bismarck. Und wie in der ganzen Dent-
und Empfindungsweise außergewöhnlicher Menschen immer etwas lebt, was
über das menschliche Maß hinausgeht, so auch hier. Wir wissen nicht, was
deu Fürsten bewogen hat, in der Wiener Unterredung eine so herbe Kritik
an dem „neuen Kurs" zu üben, aber wir sind überzeugt, daß er keineswegs
in einem Augenblicke der Erregung gesprochen, und daß er nicht aus Ärger
über gewisse Vevbachtuugen und Erfahrungen gehandelt hat, obwohl Erregung
und Ärger sehr erklärlich wären. In Wien Scharte sich der Adel Österreich-
Ungarns um deu Fürsten, und der russische Botschafter nahm an der Ver¬
mählungsfeier teil, aber der deutsche Botschafter sollte wenige Tage vorher
auf Urlaub gehen, und die beim Kaiser nachgesuchte Audienz wurde uach
der nicht widerlegten Angabe des Fürsten von Berlin aus hintertrieben; auch
in München war der preußische Gesandte abwesend. Wir maßen uns nicht
um, dieses Verhalten zu kritisiren, aber eine großherzige Gesinnung an leitender
Stelle war es nicht, die diese Anordnungen traf, und wenn der Fürst das
schwer empfunden haben sollte, und wenn darauf seine Äußerungen zurück¬
zuführen wären, menschlich wäre es wahrhaftig, und dem Wesen Vismarcks,
der eine tief und leidenschaftlich empfindende Natur ist, würde es auch ent¬
sprechen. Aber zunächst kann der Fürst doch wohl verlangen, daß man bei
ihm sachliche Gründe voraussetze. Freilich, gewisse Leute bestreikn ihm über¬
haupt das Recht, Kritik zu üben außerhalb des Reichstages. Es sind dieselben,
die nichts mehr fürchten, als daß er im Reichstage erscheine, dieselben, die jede
Art von Kritik an seiner Politik geübt haben und noch üben, dieselbe-u, die für
den „reinen Parlamentarismus" schwärmen. Wissen sie nicht, oder wollen sie
es hier nicht wissen, daß in Ländern, wo ihr Ideal verwirklicht ist, abgetretne
Minister die neue Regierung sofort und zwar keineswegs nur im Parlament,
sondern auch in der Presse und in Wahlreden aufs heftigste angegriffen haben,
Gladstone in England, Crispi in Italien? Wir sehen darin nichts besonders Nach¬
ahmenswertes für uns, denn unsre Verhältnisse sind andre, aber die Links¬
liberalen, deren Ideal jener Parlamentarismus ist, haben am wenigsten Grund,
sich darüber aufzuhalten, wenn Fürst Bismarck, der doch noch etwas mehr be¬
deutet, als Gladstone und Crispi. gelegentlich dasselbe thut, und sich ausdrücklich
und nachdrücklich dies Recht als das allgemeine Recht eines deutschen Staats¬
bürgers vorbehält. Und was hat er in Wien an der Geschäftsführung seines
Nachfolgers ausgesetzt? Im wesentlichen zweierlei: den Abschluß der Handels¬
verträge und das Verhalten gegenüber Rußland. Beides ist in seinem Munde
gar nichts Neues. Daß er gegen die Handelsverträge in ihrer vereinbarten
Gestalt ist, wußte man längst, und daß er auf gute Beziehungen zu Rußland
den höchsten Wert legt, das ist ebenfalls längst bekannt- Jene haben die Probe
noch nicht bestanden, erst die Zukunft also muß lehren, wer Recht hat; aber
wenn Vismarck die „Unzulänglichkeit" der deutschen Unterhändler tadelt, so
hat er doch wohl den Anspruch darauf, daß diese seine Meinung mindestens
ebensoviel gelte, als die Lobpreisungen irgendwelches namenlosen Zeitungs-
korrespoudcnteu für Volkswirtschaft. Was das zweite betrifft, so versucht die
„norddeutsche Allgemeine Zeitung" den Nachweis, daß der frühere Reichs¬
kanzler selbst die von ihm jetzt getadelte Veränderung unsers Verhältnisses zu
Rußland herbeigeführt habe, indem er den Dreibund schloß und die russischen
Werte aus Deutschland verdrängte. Gewiß hat er das gethan, aber hat er
es etwa jetzt geleugnet oder — vergessen? Er hat nur bedauert, daß der
„Draht" zwischen uns und Rußland abgerissen sei, und dieser „Draht" war
das Vertrauen des Zaren auf den Fürsten, ein Vertraue», das beide« um so
mehr Ehre macht, je schwerer es sich Vismarck erworben hatte, und das der
Selbstherrscher in sehr bestimmter Weise zu bekunden noch jetzt nicht verschmäht
hat, indem er dem Grafen Waldersee in Kiel Grüße uach Friedrichsruh auf¬
trug. Die Politik, auch die große, wird bekanntlich nicht von Maschinen,
sondern von lebendigen Menschen gemacht, die ebenso fühlen wie andre
Sterbliche. Das Vertrauen ist also auch in diesen Verhältnissen etwas ganz
Persönliches, so gut wie im gewöhnlichen Leben, es läßt sich nicht über¬
tragen, es will durch Thaten erworben sein. Daß dies dem Grafen Caprivi
gegenüber dem Zaren nicht gelungen ist, das und nichts andres hat Vismarck
mit seinem Bilde sagen wollen, und weil er das wußte, deshalb hat er
auch den Augenblick seines eignen Rücktritts für schlecht gewählt erachtet.
Nun tadelt er außerdem die neue Poleupolitik. Daß sie so ziemlich das
Gegenteil von dem ist, was der gewesene Reichskanzler seit mehr als
vierzig Jahren für richtig gehalten hat, ist weltkundig. Wer ein gutes
Verhältnis zu Rußland will, der darf in den preußischen Polen keine Hoff¬
nungen erwecken, deren Verwirklichung die Russen mindestens bis hinter die
Pripetsümpfe zurückwerfen würde; wer das thut, der gefährdet unser Ver¬
hältnis zu Rußland. Das kann ja notwendig sein, und wir maßen uns nicht
an, die Gründe der jetzigen Regierung zu verurteilen, weil wir sie nicht kennen.
Wenn man wirklich einen Krieg gegen Rußland für unvermeidlich ansieht,
dann mag man ja die nationalen Hoffnungen der Polen beleben, und man
wird vielleicht sogar die Wiederherstellung Polens ins Auge fassen müssen,
aber gewiß nur als letztes, äußerstes Mittel, das unabsehbare Umwälzungen
in Osteuropa herbeiführen würde. Vorläufig ist die Antwort auf die neue
deutsche Politik die Verbrüderung von Kronstäbe und das russisch-französische
Einverständnis, das hintanzuhalten Fürst Vismarck immer als eine seiner
Hauptaufgaben betrachtet hat. Seine Kritik ist jedenfalls nur die Konsequenz
dessen, was er immer vertreten hat.
Es wäre gewiß uuter allen Umständen rücksichtsvoller gewesen, wenn er
diese Kritik jetzt nicht geübt hätte. Aber er hält es nicht nur für sein Recht,
sondern geradezu für seine patriotische Pflicht, auf Grund einer Erfahrung, wie
sie kein andrer Sterblicher besitzt, seine warnende Stimme zu erheben, wo nach
seiner Meinung das Neichsschifs einen falschen Kurs steuert. Diese Auffassung der
Pflicht aber ist auch etwas höchst Persönliches. Und wenn er das Verfahren der
jetzigen Regierung in dem einen oder dem andern Punkte tadelt, ohne doch je¬
mals die Ehrfurcht vor der Person des Kaisers zu verletzen, so hat er bloß das
offen herausgesagt, was Hunderttausende denken. Es ist nicht anders — und das
sei ehrlich ausgesprochen, wie es diesen grünen Blättern ziemt — das felsenfeste
Vertrauen, das die Nation früher auf die Neichsregiernng setzte, solange Fürst
Bismarck das Nuder führte, hat sich auf seinen Nachfolger nicht übertragen, denn
es ist etwas Persönliches und will in langer, erfolgreicher Arbeit erworben sein.
Und wenn die „norddeutsche Allgemeine Zeitung" in erfreulicher Übereinstim-
mung mit Ultrnmontanen, Sozialdemokraten und Freisinnigen die vorwurfsvolle
Frage hinzufügt, ob eine solche Kritik „patriotisch" sei, oder wenn gar andre
Leute, die die freiheitliche Gesinnung in Erbpacht genommen haben, gegen ein
freies Wort des größten Deutschen nach dein Staatsanwalt rufen und von „an
Vaterlandsverrat streifenden" Handlungen faseln, so fragen wir entgegen: Darf
man dem Mitbegründer des Reichs, und zwar in demfelben Augenblicke, wo er
immer und immer wieder, in Dresden, München und Augsburg, feine patriotische
Freude über das Gelingen seines Lebenswerks in den wärmsten Worten und oft
in tiefster Bewegung ausgesprochen hat, zutrauen, daß er etwas Unpatriotisches
thue? Und wir fragen weiter: Ist die Kritik der Regierung an sich etwa un¬
patriotisch? Handelte der Freiherr vom Stein »»patriotisch, als er vor der
Katastrophe von 1800 die Kabinettsregierung Friedrich Wilhelms des Dritten in
der denkbar schärfsten Weise angriff? Halten sich die „Freisinnigen" für Neichs-
verräter, weil sie fast gegen alle Grundgesetze des Reichs gestimmt haben? Für
solche Kundgebungen wie die ihrigen in diesem Falle haben wir nur herzliche
Verachtung.
Wir beklagen aufs allertiefste den, wie es nach dem letzten, vor wenigen
Wochen wohl unzweifelhaft unternommenen Ausgleichsvcrsuche leider scheint,
unheilbar gewordnen Bruch zwischen dein Kaiser und dem Kanzler, denn die Ver¬
pflichtung des deutschen Volks gegen den Fürsten Bismarck ist so groß, daß es
nichts giebt, was unsre Dankbarkeit auslöschen kann und darf, und wir sind viel
zu gut monarchisch gesinnt, als daß wir es nicht peinlich empfinden sollten, wenn
seinem Nachfolger, der das Vertrauen des Kaisers hat. das Vertrauen der
Kreise fehlt, mit deren Hilfe das Reich aufgerichtet worden ist. Aber das möge
man bedenken: wer gegen den Fürsten Bismarck in der Weise vorgeht, wie es die
offiziöse Presse in den letzten Tagen gethan hat, der greift Hunderttausenden
deutscher Mäuner ans Herz, und der erweist der monarchischen Sache einen
schlechten Dienst. Es ist ein schweres Verhängnis, daß sich die Wege des
jungen Kaisers und des greisen Kanzlers geschieden haben und vielleicht haben
scheiden müssen, denn ein Mann von der Bedeutung und der Vergangenheit
des Fürsten Vismarck hat kaum eine andre Wahl, als der Leiter oder der
Gegner der Regierung zu sein. Der Popularität des Kanzlers hat das aller¬
dings nichts geschadet. Aber man möge sich hüten, daß das einfache Volks¬
gefühl nicht irre werde, und daß es nicht da verletzt werde, wo es am
empfindlichsten ist: in der Verehrung für seine nationalen Helden.
rchimedes, der große Forscher, soll bekanntlich gesagt haben, er
wolle die Erde aus ihren Angeln heben, wenn man ihm einen
festen Standpunkt außerhalb der Erde gebe. Nun, wenn er den
festen Punkt gefunden Hütte, und wenn er darauf eine Kraft,
die Erde zu bewegen, gestützt hätte, so wäre er der größte Er¬
finder aller Zeiten gewesen, aber — er hätte schleunigst müssen gehenkt werden.
So paradox das klingt, so dürften sich doch in der gegenwärtigen Zeit
der Dynamitbomben einige Leute finden, die Neigung verspürten, meine Be¬
hauptung nicht so ohne weiteres von der Hand zu weisen, sondern die nach¬
folgenden Gedanken ernstlich zu prüfen. Ich denke so: wenn Archimedes eine
Kraft, sei es in Form einer Maschine oder eines Sprengstoffes oder wie sonst,
erfunden hätte, durch die die Erdkugel hätte aus ihrem natürlichen Laufe
gebracht oder in ihrer Gesamtheit zerstört werden können, so wäre das der
gewaltigste Sieg des Menschengeistes über die Natur gewesen, der uns möglich
scheint. Aber die Gefahr, daß diese Erfindung eines Tages in Wirklichkeit
angewandt werden könnte, müßte dazu nötigen, daß die Erfindung samt dem
Erfinder so schnell als möglich wieder aus der Welt geschafft würde. Denn vor¬
läufig sind deren nur wenige, die ernsthaft die Selbstvernichtung des Menschen¬
geschlechts für das Vernunftmäßige halten, und es giebt noch weniger Leute, die,
obgleich sie so denken, bereit wären, es auszuführen. Die meisten wollen weiter
leben und fürchten nichts so sehr, als daß sie getötet werden, oder gar daß der
letzte Tag dieser Welt herankommen könnte, und diese meisten würden einen solchen
Archimedes samt seiner Erfindung mit aller Vernunft henken und vernichten.
Archimedes hat feinen Punkt zum Glück nicht gefunden; aber unser Jahr¬
hundert ist zu Erfindungen und Entdeckungen gelangt, die mannichfache Natur-
laste in solchem Maße dem menschlichen Willen dienstbar machen, wie es
selbst der kühne Geist eines Archimedes schwerlich geahnt hat, und wenn wir
auch nicht mit Dynamik, Melinit u. s. w. den Erdball aus seiner Bahn werfen
können, so können wir doch Wirkungen der Zerstörung damit erzielen, die Leben
und Güter der Menschen in großem Umfange treffen. Die neuen Sprengstoffe
zeichnen sich zugleich dadurch aus, daß sie von Übelthätern angewandt werden
können mit weit stärkerer Wirkung und weit geringerer Gefahr der Entdeckung
des Thäters, als es bei den frühern Zerstöruugsmitteln möglich war. Der
Verbrecher ist mit seiner persönlichen Kraft weit weniger an dem Verlaufe
der Zerstörung beteiligt als früher, wo zur Erzielung derselben Zerstörung
ganze Tonnen Pulvers oder schwerfällige und zahlreiche Werkzeuge nötig ge¬
wesen wären. Die Spur, die der Verbrecher, der mit Melinit oder Dynamik
arbeitet, zurückläßt, ist gering, seine Ergreifung und Bestrafung entsprechend
schwieriger; mit jeder Verbesserung dieser Stosse läuft der Verbrecher weniger
Gefahr, und in demselben Maße verkürzt sich der Weg von der Absicht zur
Ausführung. Wer vor hundert Jahren ein Haus zerstören wollte, mußte
dazu Vorbereitungen treffen und Gewaltmittel anwenden, die kaum geheim
bleiben konnten: ein Faß Pulver trägt man nicht in der Hosentasche durch die
Thür, und ohne Pulver hätte es einer ganzen Bande, mit Axt und Stangen
bewaffnet, bedurft, um die vier Wände eines Dorfhäuschens umzuwerfen. Heute
zieht man eine Sardinenbüchse ans der Tasche, legt sie mit angezündeten Faden
im Hältst nieder, geht seiner Wege, und das Haus, eine Wohnung von Hun¬
derten von Menschen, stürzt zusammen. Früher hörte der Förster im Walde
den Knall aus dem Gewehr des Wilderers und sah den Rauch, und dadurch
gewarnt konnte er den Verbrecher einfangen oder sich wehren. Jetzt erkennt
er kaum den Gegner hinter dem Busch; auch der Wilderer ist, mit rauchlosem
Pulver versehen, im Vorteil, wie jeder andre, der heimlichen Mord mit der
Feuerwaffe plant. Gerade die schwersten Verbrechen, die gegen das Leben der
Mitmenschen gerichtet sind, die Massenzerstörung von Menschen oder Gütern
bezwecken, gerade diese werden heute so leicht bewerkstelligt, wie nie zuvor, und
diese Leichtigkeit ebenso wie die Verminderung der Gefahr der Entdeckung und
Ergreifung des Thäters mehren die Versuchung, erleichtern dem Bösewicht den
Entschluß. Vor hundert Jahren wäre es einem Ravachol gar nicht in den
Sinn gekommen, ein großes Haus zu zerstören, um einen darin befindlichen
Mann zu töten; die Pulververschwöruug gegen das englische Parlament wird
noch heute, uach Jahrhunderten, alljährlich als ein Anschlag von unergründlicher
Schrecklichkeit feierlich gebrandmarkt, obwohl es damals zu gar keiner Explosion
von Pulver gekommen ist. Heute vermag der feigste Wicht das englische
Parlamentshans so gut als ein beliebiges andres Haus in die Luft zu sprengen,
und eben kommt aus London die Nachricht, daß ein solches Attentat befürchtet
werde. Wie viel leichter ausführbar ist aber ein solches heute als vor zwei-
hundert Jahren! Ja was ist heute überhaupt vor der Zerstörung durch die
frevelnde Hand eines einzigen Menschen, durch den zur That werdenden Willen
weniger Minuten sicher? Ein verbrecherischer, ein wahnsinniger Mensch kann
in einem Nu den Kölner Dom, den Se. Peter, ja eine Pyramide Ägyptens
vernichten. Der Gedanke ist unheimlich, grausig. Denn wir kurzlebigen Menschen
achten die Dauerhaftigkeit unsrer Werke um so höher, als wir uns der Ver¬
gänglichkeit alles Irdischen und unsrer eignen Kurzlebigkeit bewußt sind; Nur
empfinden uus selbst dauernder in unsern Werken, wir leben in ihnen fort,
und darum ist uns heilig, was „grau vor Alter" ist. Und diese unsre höchsten
Heiligtümer, sie sind heute jedem Buben preisgegeben! Giebt es nicht die
allerabsvnderlichsten Formen geistiger Unregelmäßigkeit? Kann es nicht jeder¬
zeit einen weltmüden Touristen geben, der, bloß um etwas außerordentliches
gethan zu haben, den Vatikan sprengt oder den Louvre? Mir geht aber,
aufrichtig gestanden, der Vatikan oder der Louvre selbst über das sehr ehren¬
werte englische Palament. Was der Wut ganzer Völker, was einer langen
Reihe von Jahrhunderten widerstand, die Schöpfungen von Menschenhand, an
denen wir uns in unserm menschlichen Bewußtsein erheben um ihrer Größe,
Schönheit und Dauer willen, um der Kraft des Geistes willen, der sie schuf,
des Talents, das sie ausführte, die höchsten Werke der Kultur — sie siud heute
gefährdet, wie sie es noch nie waren. Was ehedem nur ein gewaltiges Natur¬
ereignis, etwa ein Erdbeben, zu erschüttern vermochte, das vernichtet heute
jeder, der sich ein paar Zentner Dynamik verschafft. Und jeder kann sich die
heute verschaffen. Was früher der Kraft von Völkern widerstehen zu können
schien, ist jetzt wehrlos dem einzelnen preisgegeben. Schon die Möglichkeit
so ungeheurer Zerstörung reicht hin, die gebildete Welt in steter Sorge zu
erhalten und die Forderung in ihr zu erwecken, daß diese Sorge so weit als
irgend möglich aus ihrem Gesichtskreis entfernt werde. Vielleicht wäre uns
besser, wenn weder das Pulver noch seine spätern Verwandten jemals erfunden
worden wären; denn wollte man berechnen, wie viel diese Sprengmittel den
Menschen genützt und wie viel sie zerstört haben, ich glaube, die Rechnung
würde dafür sprechen, daß wir da ein Danaergeschenk der Kultur empfnngeu
haben. Freilich, es kommt auch auf den Empfänger an, er kann es nützen oder
mißbrauchen. Wir Europäer haben das Pulver zwar nicht zuerst erfunden, aber
sobald wir es kennen lernten, wurde es sofort hauptsächlich zu zerstörenden
Zwecken verwandt. Die Chinesen haben es viele Jahrhunderte vor uns gekannt,
aber, soviel ich weiß, nur in beschränktem Maße für den Krieg angewandt. Und
kaum haben wir Dynamik, Nitroglyeeriu, Fören und wie diese Teufelspulver
alle heißen, zusammengebraut, so sind wir Kultnreuropäer auch flugs dabei,
deu möglichst schlechten Gebrauch davon zu machen. Zu allererst treten diese
Kraftmittel in den Dienst des Krieges der Staaten und der Völker gegen ein¬
ander; sodann werden sie die Waffe im Kampf der Bürger unter einander:
die Revolution, die Anarchie greifen ihre Gegner mit diesen so einfachen und
fo verderblichen Waffen an.
Die Gefährlichkeit dieser Sprengstoffe und besonders ihrer Anwendung
durch jeden einzelnen gegen unersetzliche Schöpfungen der Kultur und gegen
große Menschenmengen, schon diese Möglichkeit müßte uns zu schleunigen
Mitteln der Vorbeugung greisen lassen. Nun kommt aber hinzu, daß sich
große Verbindungen von Menschen zusammengefunden haben, die der Kultur¬
welt offen mit diesen neuen Waffen entgegentreten.
Unsre neuere Kultur zeichnet sich dadurch aus, daß sie die Bewegung
von großen Massen befördert. Auf den wesentlichsten Gebieten des gesell¬
schaftlichen Lebens ist diese Wirkung im großen bezeichnend sür unsre Zeit:
so in der Produktion, im Verkehr, in der Litteratur, in der Kunst, im Kriegs¬
wesen, in der Politik — jede Bewegung, jedes Schaffen, jedes Unternehmen
geht gleich ins Massenhafte, und jeder neue Gedanke — wenn auch nen nur
für uns Lebende — trifft alsbald den Geist von Millionen, er wirkt heute
rund um den Erdball, während ihm gestern, während vor tausend Jahren, als
er in Rom, in Alexandrien schon einmal gedacht wurde, die Mauern der
Stadt, die Ufer des Mittelmeers zur Grenze der Wirkung wurden. Zu allen
Zeiten hat der einzelne nach Besserung seines Lebenszustandes, haben die
untern Volksklassen nach Mehrung von Besitz, Recht, Macht gestrebt, haben
sich die obern Klassen verteidigen müssen gegen dieses Andrängen, das sie in
ihrem Besitz, ihrem Recht, ihrer Macht einengte, bedrohte. Und je höher die
Kultur eines Volkes war, um so sicherer und heftiger traten diese Kämpfe
ein und wurden wieder im Verhältnis zur Kulturhöhc zerstörend. Denn
überall wird die Kultur namentlich von den obern Volksklassen getragen und
vertreten, und der gegen diese Klassen gerichtete Angriff trifft zugleich die von
ihnen gehüteten Schöpfungen des Kulturlebens. Selbst so verderbte Herrscher¬
klassen wie die des kaiserlichen Roms oder Frankreichs im vorigen Jahr¬
hundert oder Englands unter Jakob dem Ersten waren doch die Inhaber
und Trüger der Kultur ihres Landes, und als sie gestürzt wurden, rissen sie
eine Menge von Schöpfungen hohen Geistes und langer Arbeit mit in ihren
Fall. Die Moral wandelt eben ihre eignen Wege, oder vielmehr die Kultur,
das materielle und geistige Schaffen des Volks, ist in ihrem Gange nicht ge¬
bunden an gut und böse, an moralischen Auf- oder Niedergang. Sie ist es
so wenig, daß viele der erhabensten Denkmäler der Vergangenheit ihr Ent¬
stehen gerade Geschlechtern verdanken, die durch das Sinken der sittlichen Kraft
bezeichnet werdeu. Die Wunder des kaiserlichen Roms, die Schöpfungen des
Cinquecento, der Louvre zu Paris, ja die Werke eiues Horaz, Ovid, Moliöre,
Shakespeare, sie alle sproßten keineswegs auf einem Boden empor, der durch
die sittliche Größe seiner Bewohner glänzte.
Wo aber die in ihrem berechtigten Streben nach Besserung ihrer Lage allzu
sehr gehinderten niedern Volksmassen zur Gewalt greifen, da überträgt sich
leicht der Grimm gegen die Unterdrücker, der Neid gegen die Reichen, die
entfesselte tierische Wut gegen alles höher stehende dem menschlichen Gegner
ans dessen Besitz und zuletzt auch auf das, was, wenn es nicht sein Besitz ist,
so doch der rohen Masse geistig und sittlich zu ihm, den leitenden und
herrschenden Klassen gehörig erscheint. Instinktiv erkennt der Pöbel an, indem
er eine Bendvmesäule oder die Tuilerien zerstört, daß diese Schöpfungen der
Kunst weniger zu ihm, als zu den obern Klassen als Trägerinnen der Kultur
des ganzen Volkes gehören. Er meint, indem er gegen Kunst und Wissen
anstürmt, damit fremdes Gut zu treffen, seine Gegner in den herrschenden
Klassen zu treffen; denn es fehlt ihm das Verständnis für die allgemeine,
auch für ihn geltende Bedeutung der höchsten Kräfte und Schöpfungen der
Kultur. Die Nolksrevvlutionen haben zwei vorherrschende Veweggrüude, den
religiösen und öfter noch den nackt materiellen. Das niedre Volk erhebt sich
gegen Negierung oder Aristokratien meist aus materiellen Ursachen; es will
etwas beßres in seinem Topfe haben, als bisher darin zu finden war, die
rohe Masse wird wütend für ihren Glauben und für ihren Magen. In beiden
Fällen haben Wissen und Kunst wenig mitzureden. Denn die religiösen Ge¬
meinschaften haben sich erfahrungsmäßig zu beiden bald freundlich, bald feind¬
selig verhalten, und die hungernde Menge achtet beide gering. Der Instinkt
der Menge sieht in den Werken eines Malers so gut wie eines Professors
Gegenstände des Luxus, und indem er den Luxus berechtigterweise mit den
herrschenden Klassen in Verbindung setzt, richtet er seine Angriffe auch gegen
die Erzeugnisse der Kunst und der Wissenschaft. Noch schneller als diese fallen
andre Güter des Kulturlebens den erregten Massen zum Opfer. Recht, Ord¬
nung, Sitte, sie siud es, die in erster Linie dem materiellen Verlangen im
Wege stehen und daher von der Voltsrevolntion zuerst niedergerannt werden.
Aber der Kampf auf diesem zunächst immateriellen Boden ist doch in seinen
Wirkungen ein sehr andrer, als der gegen Werke von Kunst und Wissenschaft.
Recht, Sitte, Ordnung sind flüssig, sie wechseln stets in Form und Inhalt,
und eigentlich hört, auch in den friedlichsten Zeiten, der Kampf um sie nie
ans: die gesamte Thätigkeit von Justiz und Polizei ist eine Verteidigung gegen
die auf diesem Gebiete geschehenden Angriffe. Diese Güter können daher
ihrer Natur uach, auch nach einer gewaltsame!? Zerstörung durch eine Volks¬
erhebung, wieder hergestellt werden, und sie werden auch in der That immer,
wenn auch in geänderten Formen, wieder hergestellt infolge des Bedürfnisses
jedes Kulturvvlks, diese Grundlagen des Kulturlebens zu sichern, in welcher
Form es auch geschehen möge. Gesetz, Ordnung, Sitte erheben sich alsbald
aus dem Aschenhaufen, auch wenn er so groß ist wie der von 1794. Die
materiellen Werke der Kultur dagegen, einmal vernichtet, bleiben verloren für
alle Zeit; die von der Wild der Menge hingemordeten Menschen leben nicht
wieder auf. Vor diesen unersetzlichen Verlusten hat sich jedes Volk möglichst
zu schützen.
In früherer Zeit haben durch Mißregieruug, durch Hunger, durch reli¬
giösen Wahn erregte Volksmassen gemordet, gebräunt, große Verwüstungen
angerichtet. Es hat soziale Erhebungen gegeben, in denen die mißhandelten
Bauern sich zusamiuenthaten, um die Schlösser zu brechen, um Städte einzu¬
äschern zur Befriedigung ihrer Rache für erlittnes Unrecht. Aber es hat,
wenigstens in Europa, noch keine Zeit wie die unsre gegeben, wo, ohne die
Erhitzung des Blutes durch revolutionäre Erhebung, in so weiten Kreisen des
niedern Volkes die Zerstörung dessen, was wir als Errungenschaften unsrer
Kultur verehren, zum Ziele kühl denkender, planvoll handelnder Verbindungen
gemacht wird. Ja mehr noch: was jederzeit für Verbrechen galt, wird von
vielen Tausenden offen sür Wohlthat erklärt, von Millionen mit moralischer
Duldung angesehen; grundsätzlich, in sittlichem Vewußtseiu werden Mord und
Verwüstung gepredigt und ausgeführt. Vielleicht ließen sich in dem China
des elften Jahrhunderts ähnliche Zustände wiederfinden, wie die sind, zu denen
die heutige soziale Strömung in Europa hintreibt. Wenigstens wird erzählt,
daß damals die sozialistische Idee bis zur Verstaatlichung von Grund und
Boden, Handel, Gewerbe durchgeführt wordeu sei, wodurch dann das Land
ruinirt wurde. Aber es hieße Perlen vor die Säue werfen, wenn man mit
Lehren der Geschichte gegenüber Volksbewegungen kämpfen wollte, die sich von
dem allgemeinen sittlichen Boden alles Kulturlebens offen lossagen, indem sie
das persönliche Eigentum für ein Unrecht erklären und dann im Kampfe gegen
dieses Unrecht zur Rechtfertigung der Zerstörung von Eigentum und Leben
der Besitzenden gelangen, indem sie bestehendes Recht zum Verbrechen und
das Verbrechen zum Recht machen. Mag das Streben der untern Volksklassen
nach Besserung der Lebenslage noch so sehr gebilligt werden, so kann doch
nimmer als richtiger Weg zu diesem Ziele der Umsturz der ersten Grundlagen
alles gesitteten Volkslebens angesehen werden. Hier muß das Prinzip fest¬
gehalten werden, oder es giebt in aller Welt kein Prinzip. Der heutige
Anarchismus sagt sich offen los vom staatlichen Gesetz: der Staat hätte also
wohl ein formelles Recht, das Gesetz ihm gegenüber außer Geltung zu setzen —
es wäre das mir logisch. Wer sich vom Staat und von seinem Rechte
lossagt, der darf auch nicht mehr auf den Schutz des Staats Anspruch machen:
streng genommen müßte er vogelfrei sein. Doch fordert die staatliche Moral,
daß über die strenge Logik des Rechts hinaus auf die Leidenschaft des ein¬
zelnem wie der Massen Rücksicht genommen werde; und hier ist Leidenschaft,
nicht Vernunft, hier ist, wenigstens bei der großen Masse der Anarchisten,
rohes Wollen, nicht geordnetes Denken. Schwer ist es, im einzelnen die
Richtschnur anzugeben, nach der der Staat seine Abwehr gegen diesen offnen
Feind zu treffen hat. Wie bei offnem Aufruhr der Unschuldige mit dem
Schuldigen leidet, wie der ruhige Bürger, der seines Weges geht, von der
Kugel getroffen wird, die dem Empörer galt, und sich deshalb doch nicht über
die staatliche Gewalt beklagen darf, so wird in weit größerm Umfange der vou
Demagogen mißleitete Arbeiter zu leiden haben unter den Schlägen, die der
Staat zu seiner Selbstverteidigung zu führen hat. Wie verdunkelt ist das
staatliche Bewußtsein des Arbeiters, der jahraus jahrein predigen hört, er sei
der von Staat und Bürgertum ausgebeutete, rechtlose Sklave, der seine Fesseln
brechen müsse! Wie abgestumpft ist der Rechtssinn des einfachen Mannes,
dessen ganzes Rechtsleben im sittlichen Empfinden liegt, und der jahrelang
daran gewöhnt worden ist, seine ersten bewußten Nechtserörterungen von dem
Ausgangspunkte der Gewalt aus vorzunehmen und auf dem Boden des ihm
vermeintlich durch Staat und Aristokratie zugefügten Unrechts reifen zu lassen!
Darf der Staat diese wichtigste Quelle allen Kulturlebens, den Rechtssinn,
trüben lassen im Namen der Freiheit des Denkens und Redens? Gedanken¬
freiheit! Ja wenn es auf Erden irgend etwas Ideales gäbe, das in unfehl¬
barer Reinheit keiner Fälschung ausgesetzt wäre! Aber was liegt alles zwischen
der Gedankenfreiheit, die Posa fordert, und der, in deren Namen die Zerstö¬
rung gepredigt wird! Wenn der Staat dein Anarchisten, der sich von ihm
lossagt, nicht alle staatlichen und bürgerlichen Rechte entzieht, so muß er sich
um so stärker gegen den Mißbrauch der dem Anarchisten gelaßnen Rechte
schützen. Er muß das Rechtsbewußtsein des Volks vor der Vergiftung schützen,
gerade wie er Leben und Eigentum vor dem Dynamik zu schützen hat, mit
den stärksten, nötigenfalls mit gewaltsamen Mitteln.
Man setze auf die anarchistische Propaganda hohe Zuchthausstrafe, man
lege jedem Dynamitpolitiker für den erwiesenen Versuch den Kopf zwischen die
Füße, und man wird nicht mehr gethan haben, als was die Selbstverteidigung
eines Kulturstaats, was das Interesse eines gesitteten Volks fordert. Hier
ist keine Milde möglich, denn es steht allzuviel auf dem Spiele. Vor allem
aber muß die Fabrikation von Sprengstoffen verstaatlicht, monopolisirt, jeder
Handel damit sowie der unberechtigte Besitz streng bestraft werden. Die un¬
erlaubte Anfertigung dieser Sprengstoffe und die Entwertung von Spreng¬
stoffen muß als Versuch der Sprengung behandelt und mit dem Tode bestraft
werden. Wird die That, auch der allerentfernteste Versuch eines mit Spreng¬
stoff auszuführenden Verbrechens nicht mit der äußersten Härte geahndet, dann
wird nichts übrig bleiben, als die Gesinnung, den Anhänger der anarchistischen
Lehre zu strafen: der Staat wird die Lossagung von seinem Gesetz mit Ent¬
ziehung der Staatsangehörigkeit beantworten müssen. Wenn heute ein Atha-
uasios, in den Schluchten des Balkans den Reisenden auflauerud, bei guter
Gelegenheit einige tausend Goldstücke erschnappt, so hallt ganz Europa wieder
von Entrüstung, und man hält jedes Gewaltmittel sür gut, diesem Übel¬
thäter den Garaus zu machen. Und welch ein harmloser Geselle ist dieser
Athanasios samt seiner bis an die Zähne bewaffneten Bande, und wäre sie
tausend Strolche stark, gegenüber einem Ravachol und den Tausenden, die zu
dessen Bande gehören! Dort wird Herr Cohn um etwas von seinen Schätzen
erleichtert — gut, es ist nicht recht, und kriegt man den Athanasios, so henkt
man ihn. Nur daß Athauasios sich nicht kriegen läßt, sich verbirgt und in
harmloser Tracht den friedlichen Bürger spielend, fortan vielleicht ein stilles,
höchst ungefährliches Dasein führt. Ein Nnvachol, mit einer Blechkapsel be¬
waffnet, kann den Palast Vourbon samt allen Deputirten in die Luft sprengen,
ja er kann noch mehr, nämlich Louvre oder Aotrv vamo als ?ari8 in Ruinen
legen, ehe mau mit allen zu Gebote stehenden Mitteln und in ganz Europa
der ungeheuern Gefahr zu begegnen sucht, die einem Ravachol durch die mo¬
dernen Sprengstoffe in die Hand gelegt ist. Kann man aber etwa die Börse
des Herrn Cohn oder irgend eines andern Mannes mit dem Wert vergleichen,
den der Louvre für die gesamte kultivirte Welt hat? Kann man die Ziele
eines Räubers denen eines Anarchisten gleich stellen? Kann man die Gefähr¬
lichkeit ihrer Waffen vergleichen? Kann man die Moral des Räubers niedriger
stellen als die des Anarchisten, oder die moralische Kraft der türkischen Re¬
gierung niedriger als die der französischen Negierung und des Pariser Schwur¬
gerichts? Kann man, in gewissem Sinne genommen, sagen, die staatlichen Zu¬
stände seien gesicherter, der Schutz von Leben und Gütern größer, der Sinn für
Ordnung stärker in der Heimat eines Ravachol, als in der eines Athanasios?
Und nach wie vor erklärt ein Ravachol seine That für eine löbliche, nützliche
That, die Nachahmung verdiene, und rühmt sich des Zerstvrens und findet
Anhänger, die nicht verfolgt noch dingfest gemacht werden, bis auch sie dies
oder das auffliegen lassen. Es wandelt einen bei diesem Vergleich fast die
Neigung an, sich aus der Nähe eines Navcichvl fortzumachen und einen Atha¬
nasios zum Nachbar zu suchen. Weiß wie Wolle erscheint das Verbrechen im
Balkan, und blutrot das in Paris. Athanasios samt seinen Gesellen ist ver¬
schwunden; aber überall in Frankreich, Belgien, in Spanien, in Italien knallt
es von Sprengpatronen, die Bande der Dynamitpolitiker ist sehr groß und
sehr viel besser bewaffnet und sehr viel zerstörungswlltiger, als es alle Räuber¬
banden Europas jemals waren. Und diese Bande geht frei umher, rühmt
sich ihres Handwerks, unterhält Zeitungen, und die Welt will sie im ganzen
noch nicht einmal sür Verbrecher halten, man untersucht ganz ernsthaft diese
Dynamitpvlitik nach Für und Wider, und meint, das wäre keine Verbrecher¬
bande, sondern eine Partei, das wären nicht Halunken, sondern Politiker!
Wenn solche Lammsgeduld die Gesellschaft unsrer Zeit oder auch nur
einen Teil beseelt, dann verdient sie wohl auch vom Wolf gefressen zu werden;
es wäre bald zu Ende mit unsrer Kultur. In den Darlegungen Toquevilles
und Taines über die große Revolution hat mich kaum etwas andres so in
Erstaunen gesetzt, als die Lammsnatur der französischen Aristokratie beim
Beginn der Tragödie. Da wird gemordet, geplündert, gesengt und gebrannt,
und kaum einer der Geschädigten verteidigt sich und seine Habe. Der Schloß-
Herr öffnet auf die Forderung seiner Bauern die Thore seines festen, ver¬
teidigungsfähigen Hauses und läßt es plündern; der kräftige, wvhlbewciffnete
Mann läßt den Pöbel, mit milder, vorwurfsvoller Rede ihn empfangend, in
sein Haus dringen, sein Weib, sein Kind, sich selbst mißhandeln, ohne auch
nur die Faust zu erheben; der junge, gesunde Mann, ja der Offizier reicht
einem Dutzend Strolchen die Hände zur Fesselung dar ohne Widerstreben;
der Hausherr verbietet seinen treuen Dienstboten, die ihn und das Haus ver¬
teidigen wollen, eine Hand zu rühren gegen die eindringende Schar, fast gewiß,
zum Tode abgeführt zu werden. Kaum einer, der es vorzieht, sein Leben
sich so teuer als möglich bezahlen zu lassen, der Manns genug ist, den Degen
zu ziehen, und wenn es dann zum Tode geht, im Kampf für Leben, Familie,
Hab und Gut zu fallen. Nachher gehen dann diese blutscheuen, unnatürlich
manierlicher Leute mit einer wunderbaren Würde aufs Schafott, eine in
vollendeten Umgangsformen entnervte Gesellschaft, ein in der Treibhausluft
des Hoflebens, in geistreicher Leckerei, in weicher Formeuknltur der kräftigen
Luft der Natur entwöhntes, an Willen zum Handeln und an Willen zum Leben
erschlafftes Geschlecht, zuoberst der König selbst, dem nicht bloß die Kraft,
sondern auch das Bewußtsein seiner königlichen Gewalt fehlte. Wären es
kräftige Männer gewesen, diese obern Klaffen von 1789, wer weiß, ob eine
entschloßne Verteidigung trotz all der schreienden Mißstände politischer und
sozialer Art, die sich angehäuft hatten, nicht dennoch Staat und Gesellschaft
vor diesen Orgien der Bestie im Masfenmenschen, die man noch heute manch¬
mal als notwendige und große Episode der Weltgeschichte rühmen hört, ge¬
rettet hätte. Freilich ein Schwächling wie König Ludwig, der kein Blut
sehen konnte, und eine Aristokratie, die ihm gleich war, kurz leitende Gewalten,
die nur noch von Anstand, Würde, Milde, von Scheu vor der Gewalt be¬
herrscht waren, sie wurden von der geistlosen Faust und dem unanständigen
Willen der Massen leicht niedergeschlagen. Nachher machte man aus dem
Siege brutaler Naturkraft über krankhafte Verweichlichung weltbewegende Ideen-
kämpfe, aus dem Fußtritt eines zügellos gewordnen Pöbels erhabne Prin¬
zipien, aus der Sinnlosigkeit der wild gewordnen Herde tiefe Weisheiten von
Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit. Und noch heute betet so mancher
diesen Götzen an. und noch heute kann man die drei Heiligenbilder des
Anarchismus von 1793 an allen Straßen zu Paris prangen sehen, zum Be¬
weise dafür, zu welchem Unsinn ein Volk herabsinken kann, wenn die Staats¬
formen seines Kulturlebens nicht von starken Händen, klarem Bewußtsein und
kräftigem Willen gehütet und verteidigt werden.
Gott bewahre uns vor solcher Schwäche! Die leitenden Klaffen wenige
seems, einige Männer wenigstens sollten die Erfahrungen der Geschichte sich
und der Welt zu nutze machen. Mit Leuten von dem Schlage der Pariser
Kommunarden von 1871 giebt es kein Pallirer, es muß Gewalt angewendet
oder Gewalt erlitten werden.
Man ist in Paris und anderwärts empört über die Schwäche, die Richter,
Anwalt, Geschworne und zuletzt die gesamte Regierung in und nach dem
Prozeß gegen Ravachol gezeigt haben. Mit einigem Recht, wenigstens gegen¬
über Regierung, Richter und Anwalt. Allein man darf von dem Durchschnitts¬
menschen nicht mehr als einen Dnrchschnittsmut verlangen. Der Geschworne
ist ein Durchschnittsmensch; und mau wird vergeblich erwarten, daß er seinen
Spruch thue genau nach dem Thatbestand, wenn dieser in der Rocktasche eine
Dynamitdrohung mitbringt. Das wäre eine unbillige Erwartung. Selbst
Staatsanwalt und Richter werden ihre Sicherheit einbüßen, wenn man ihnen
allein, ohne Geschworne, den Anarchisten überliefert. Bleibt es bei dem
ordentlichen Prozeßverfahren, so wird der Terrorismus der Anarchie die
Folge sein. Vielleicht führt das zu Zuständen, wie die waren, die das Vehm-
gericht schufen. Gegen das im Geheimen schleichende Verbrechen ersteht die
im Geheimen schleichende Rechtsprechung, gleichviel ob vom Staate geleitet oder
vom Bürger selbständig geübt. Und es wäre des Erwügens wert, ob nicht
die Gründung geheimer Orden zur Bekämpfung der Anarchie eine zeitgemäße
Handhabe abgeben könnte, um die Gewalt des Staats in diesem Kampfe zu
ergänzen. Die Verantwortung des Staats für die Handlungen der Dynamit¬
politiker ist so groß, daß sie ihn allzusehr gefährdet. Wenn heute das Rat¬
haus in Berlin aufflöge, würde die Stellung der Regierung dadurch etwa
nicht erschüttert werden, wie die der französischen Regierung durch die letzten
Vorgänge erschüttert worden ist? Und wäre irgend eine Negierung imstande,
vermöge des Musters aller Polizeien annähernde Sicherheit dafür zu bieten,
daß sich morgen kein Mensch in Berlin im privaten Besitz von ein paar Pfund
Dynamik oder etwas Nitroglycerin, oder wie diese interessanten Erzeugnisse
der Wissenschaft sonst heißen, befinde? Fliegt dann übermorgen eine der
großen Bierhallen, später noch einiges andre auf, so werden auch bei unsrer
guten Zucht und Ordnung die Anarchisten nicht mehr gar fern von ihrem
nächsten Ziele angelangt sein. Die beste Polizei und die stärkste Regierung
vermag, wie die Sprengstoffe gegenwärtig gehnndhabt werden, die Sicherheit
vor dem anarchistischen Massenmord und der Zerstörung im großen nicht zu
gewähren. Die rohe Gewalt der Masse, zu allen Zeiten in ihrer Erregung
gefährlich, wird durch diese Waffen so sehr gesteigert, daß die Waffe ihr um
jeden Preis entwunden werden muß. Denn an Erregung wird es der Masse
heute nie fehlen, dank den andern Erfindungen, durch die auch die wahn¬
witzigsten Gedanken, die leidenschaftlichsten Unternehmungen nach unbegrenzten
Fernen in sehr kurzer Zeit und auf große Mengen ihre Wirkung ausüben können
(Schluß folgt)
star Peschel beginnt in seiner Völkerkunde den vortrefflichen
Abschnitt, der von den Chinesen handelt, mit der Bemerkung,
daß sich bei einer bedauerlichen Mehrheit unsrer Landsleute das
Wissen vom chinesischen Reiche auf den Zopf und auf die große
Mauer beschränke. Seitdem diese Bemerkung zum erstenmale
gedruckt wurde, mag es etwas besser geworden sein, aber es bleibt doch noch
immer sehr viel zu wünschen übrig. Deun dem, der hier in Shanghai im
vorigen Sommer in europäischen und amerikanischen Zeitungen die auf China
bezüglichen Abschnitte las, mußte es wieder einmal klar werden, daß man sich
nicht uur in Deutschland, sondern überhaupt im Abendlande, selbst England
nicht ausgenommen, im ganzen herzlich wenig um China kümmert und daher
oft eine erstaunliche Unwissenheit in dieser Beziehung verrät, lind dabei wird
das alte Reich der Mitte von dem vierten Teile der gesamten Menschheit be¬
wohnt! Nur den ganz eigentümlichen geographischen Verhältnissen ist es
zuzuschreiben, daß der übrige Teil der Erde nicht schon längst viel stärker das
friedliche Andrängen des Überschusses dieser Hunderte von Millionen Menschen
gespürt hat. Doch sind die Anfänge davon schon seit längerer Zeit da. In
Japan und Hinterindien ist bereits ein sehr großer Teil des Handels in
chinesischen Händen. In diesen Gegenden ist aber der Europäer ein Fremder,
und deshalb können hier, wo sich Asiaten zwischen verwandte Asiaten ein¬
drängen, die Gegensätze nicht sehr stark hervortreten. Dies war aber sofort
der Fall, als die Chinesen anfingen, in größern Mengen nach Australien und
Amerika auszuwandern. Hier stießen sie ans einheimische arische, ihnen ganz
fremde Elemente, die ihnen schroff entgegentraten und eine allzu starke Aus-
breitung der gelben Rasse einfach nicht dulden wollten-
In Europa scheint man sich in dieser Hinsicht bis jetzt noch ziemlich
sicher zu fühlen. Vereinzelte in deutschen Zeitungen auftauchende Angaben,
hier oder dort sollten Chinesen als ländliche Arbeiter eingeführt werden,
schienen nicht sehr ernstlich gemeint zu sein. Aber wie, wenn die Chinesen
bald kämen, ohne gefragt zu sein? Damit hats noch gute Weile, meint man
wohl allgemein, und freilich wird der Wasserweg ihnen wahrscheinlich noch auf
lange Zeit hinaus zu teuer sein. Aber schon sind die Russen dabei, den bisher
so abgeschloßnen fernen Osten durch die Erbauung der sibirische» Eisenbahn
mit dem Westen auf dem Landwege in bequeme Verbindung zu bringen. Dieser
ursprünglich aus militärischen Gründen unternommene und bei der geringen
Dringlichkeit der Sache nicht eben rasch geförderte Bau wird wahrscheinlich
demnächst beschleunigt werden, weil die Hungersnot im europäischen Nußland
und die gleichzeitige sehr reiche Ernte in Südsibirien den Russen die Augen
darüber geöffnet haben, daß eine solche Bahn nicht nur einen nebensächlichen,
fondern unter Umständen einen geradezu unschätzbaren volkswirtschaftlichen
Wert habe» kann. Schon hat sich ein Syndikat aus Ncmevuver angeboten,
mit erfahrnen chinesischen Arbeitern, die die kanadische Pacificbahn gebant
haben, nach Sibirien zu kommen. Wird dies angenommen, dann erleben wir
in wenigen Jahren die Vollendung der großen Eisenbahn, zugleich aber bald
daraus uoch etwas andres, worauf wohl noch niemals hingewiesen worden ist.
Denn diese Bahn und ihre unabwendbare Verbindung mit chinesische» Eisen¬
bahnen ermöglicht es dann den Chinesen, die sich schon jetzt, und zwar nicht
gerade zur Freude der Russen, in Südsibirien anzusiedeln beginnen, sich weiter
und weiter nach Westen auszubreiten. Damit wird sich Europa dann vor
eine neue, ganz gewaltige Frage gestellt sehen, deren Wichtigkeit allein schon
hinreichen sollte, die Blicke des Abendlandes etwas mehr, als es bisher ge¬
schehen ist, auf das himmlische Reich zu lenken. Vielleicht wird sich diese
Frage schon in wenigen Jahrzehnten in ihrem ganzen Ernste zeigen. Denn
ob die Russen, die selbst halbe Asiaten sind, dem Eindringen von zahlreichen
andern asiatischen Elementen nachhaltigen Widerstand entgegensetzen werden,
ist wohl sehr fraglich. Und dann hat das deutsche Reich die erfreuliche Aus¬
sicht, seine breite Ostgrenze noch mehr schützen zu müssen als bisher, wenn es
nicht einen Teil des Erwerbs von Arbeitern, Dienstboten u. s. w. in die Hände
der höchst anspruchslosen, fleißige» und gehorsamen Chinesen übergehen lassen
will. Über kurz oder lang werden diese Verhältnisse jedenfalls eintreten, und
deshalb ist es gut, wenn man möglichst früh darauf aufmerksam macht, selbst
auf die Gefahr hin, daß einem etwas abenteuerliche Ansichten vorgeworfen
werden könnten.
Bis jetzt bekümmert man sich in Europa eigentlich nur dann um die
fernliegenden chinesischen Verhältnisse, wenn im Reiche der Mitte etwas unge-
wöhnliches vorgeht. Aber selbst dann ist es durchaus nicht immer in dem
Maße der Fall, wie man erwarten sollte. Als ich kürzlich bei einer gerade
in gebildeten Kreisen viel gehaltenen Berliner Zeitung anfragte, ob sie einen
Aufsatz über die Unruhen in China haben wollte, wurde mir geantwortet, daß
man dafür bei den Lesern wohl kaum genügendes Interesse voraussetzen könne.
Dabei hatte das Blatt oft genug kurze Notizen über denselben Gegenstand
gebracht, bei denen, wie gewöhnlich, Wahres mit Falschen arg vermischt war.
Denn weil bei solchen Gelegenheiten nur sehr wenige Leser zu beurteilen ver¬
mögen, wo die Wahrheit aufhört und die Erfindung der Berichterstatter an¬
fängt, so ist der Phantasie der Zeitungsschreiber ungemeßner Spielraum
gewährt. Was hat man nicht im vorigen Sommer während der Unruhen
für Zeug lesen müssen! Gelogen wie telegraphirt! konnte man da oft, sehr oft
mit Bismarck ausrufen. Fast immer gut unterrichtet zeigten sich nur ganz
wenige Blätter, darunter, wie zu erwarten war, die liinss und der ^so
?orta Hsi'^Ja. Aber sogar die Minieh machten vor einiger Zeit den groben
Schnitzer, von den Fremdenverfolgungen in Hunan zu sprechen, während doch
in dieser Provinz kein einziger Ausländer ansässig ist. Ju den meisten andern
Zeitungen traf man selten ans einen Artikel mit ganz richtigen Angaben.
Vielmehr fanden sich auch in englischen Blättern wiederholt solche Annahmen
wie die, daß Shanghai und Harlan Vorstädte von Hongkong wären. In
Wirklichkeit sind diese beiden großen Städte in der Luftlinie etwa eintausend¬
fünfhundert Kilometer vou Hongkong, also weiter als Berlin von Petersburg,
und etwa tausend Kilometer von einander entfernt. Nun wird man einwenden,
die Engländer stünden überhaupt, ebenso wie die Franzosen, mit der Erdkunde
auf sehr gespanntem Fuße; sie wüßten nicht allzu gut in ihrem eignen großen
Reiche auf der Karte Bescheid und erst recht nicht in andrer Herren Ländern.
Zugegeben! Aber Verwandte des Schreibers dieser Zeilen können davou er¬
zählen, daß anch ein Beamter am Schalter einer Kaiserlich deutschen Ober¬
postdirektion nicht wußte, wo Shanghai, der Endpunkt einer vom Reiche
unterstützten Postdampferlinie, liegt.
Ganz unabhängig von der Kultur des Westens und infolge der großen
Entfernung gar nicht davon beeinflußt, hat sich im äußersten Osten des asiatisch-
europäischen Kontinents eine ebenso alte Kultur entwickelt. Erst in unsern
Tagen sehen wir beide in nähere Berührung mit einander kommen; Europa
und Amerika suchen tausende von Fäden in diplomatischer, geschäftlicher und
religiöser Beziehung in China anzuknüpfen, finden aber fast überall, daß der
zwar meistens passive, aber sehr zähe Widerstand, der sich ihnen entgegenstellt,
schwer zu überwinden ist. Noch niemals ist die abendländische christliche
Kultur auf einen solchen Widerstand gestoßen wie in China, und für den un¬
befangnen Beobachter wird es von größtem Interesse sein, zu verfolgen, wie
sich dieser Kampf in den nächsten Jahrzehnten gestalten wird.
Ehe wir aber von dem jetzigen Stande der Beziehungen Chinas zum
Abendlande sprechen, werden ein paar geschichtliche Angaben am Platze sein.
Das Altertum weiß sehr wenig von China. Ob der Name Sirien, der
im Jesaias vorkommt, gleichbedeutend ist mit China, ist ungewiß. Arrian,
Ptolemäus und Plinius geben die erste sichere Kunde von einem großen zivili-
hirten Volke der Serer im fernsten Osten, deren Haupthandelsartikel Seide sei.
Doch blieb noch aus Jahrhunderte hinaus die Kenntnis des Abendlandes von
China im übrigen sehr dürftig, wozu der Umstand beitrug, daß kein unmittel¬
barer Verkehr stattfinden konnte, da sich in den Tagen der Römer die Parther
und später die mohammedanischen Reiche dazwischenschoben. Die Feststellung
der Namen in verschiednen mittelalterlichen Gesandtschafts- und Reiseberichten
bietet meistens nicht geringe Schwierigkeiten und hat Anlaß zu mancherlei
gelehrten philologisch-geographischen Untersuchungen gegeben; diese hier näher
darzulegen, würde zu weit sichren. Allzu wenig sind, wie es scheint, dabei
bisher die chinesischen Geschichtswerke verwertet worden. Es ist allerdings
keine Kleinigkeit, sich dnrch eine Reihe von Bänden meist mit sehr trocknem
Inhalte durchzuarbeiten, um vielleicht auf einige gesuchte Namen zu stoßen,
die doch nur selten mit Sicherheit zu identifiziren sind.
Größere, ja wie erst viel später ganz gewürdigt worden ist, sogar sehr
große Klarheit brachten erst die Reiseberichte der Poli ans Venedig. Nicolo
Polo und sein Bruder Matteo Polo, zwei angesehene venetianische Kaufleute,
machten in der zweiten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts zwei Reisen nach
China, wo sie von Kublai Khan gut aufgenommen wurden. Nicolos Sohn
Marco, der auf der zweiten Reise Vater und Oheim begleitete, wurde beim
Khan rasch sehr beliebt. Er hielt sich im ganzen einundzwanzig Jahre im
Osten auf und kam mit seinen Verwandten im Jahre 1295 nach Venedig
zurück. Dort brachten ihn Ränke seiner Gegner ins Gefängnis, wo er seine
unfreiwillige Muße dazu benutzte, einem Mitgefangnen seine Erlebnisse zu
diktiren. Allgemein wurden damals diese Berichte über die von Menschen
wimmelnden großen Städte des ferner Ostens sür starke Übertreibungen ge¬
halten, sodaß Marco Polo von seinen Landsleuten den Spitznamen Millionen¬
schwätzer erhielt. In neuerer Zeit ist aber durch eingehende Untersuchungen,
besonders vom anglo-indischen Jngenieurobersten Unke in seiner ausgezeichneten
Ausgabe von Marco Polos Reisebericht, bewiesen worden, daß dieser eine
durchaus zuverlässige Quelle der mittelalterlichen Staatenkunde Asiens ist.
Wieder vergingen zwei Jahrhunderte, ohne daß ein merklicher Schritt
vorwärts gemacht wurde. Der Handel zwischen Europa und Ostasien ging
während des ganzen Mittelalters durch die Hände der Araber, die seit dem
neunten Jahrhundert Beziehungen zu China unterhielten. Doch wurde die
Nachfrage nach den in der spätern Römerzeit vielbegehrten echten chinesischen
Seidenstoffen geringer, seitdem im sechsten Jahrhundert einige nestorianische
Mönche die Seidenraupe von China nach Griechenland gebracht hatten.
Erst als im fünfzehnten Jahrhundert die großartigen Entdeckungsreisen
der Portugiesen und Spanier begannen, wurde zum erstenmale die Flagge
einer europäischen Macht auch nach China geführt. Aber merkwürdig, während
man im Abendlande schon länger als ein Jahrtausend um das Bestehen der
großen, geheimnisvollen Reiche Cathay und Zipangu (China und Japan) im
fernen Osten wußte, sollte sich der plötzlich erwachende Thatendrang des kleinen
Europas, der sich allmählich fast den ganzen Erdball unterthänig gemacht hat,
erst in unserm Jahrhundert ernstlich nach Ostasien wenden. So sehr ist China
durch seine geographische Lage geschützt gewesen. Freilich hatten die Europäer
auf der einen Seite so viel mit der Besitznahme von Teilen Afrikas und von
Südasien, sowie auf der andern mit der Besiedlung des unerwartet aufge-
fundnen neuen Kontinents Amerika zu thun, daß die Wellen der allgemeinen
Eroberungslust nur uoch in ganz matten Schlägen bis nach China gelangten.
Allgemein bekannt ist es, daß Columbus auf dem westlichen Seewege
nach Indien zu gelangen hoffte. Als er dann, vor nunmehr vierhundert
Jahren, auf die amerikanischen Jnseln stieß, glaubte er der ostasiatischen Küste
nahe zu sein und ist bis zu seinem Tode in diesem Irrtum befangen geblieben.
Ja als er auf seiner vierten und letzten Reise die Mündung des Orinoko ent¬
deckte, schloß er sehr richtig, ein so gewaltiger Fluß könne nur einem Konti¬
nent entströmen; also, folgerte er weiter, muß ich mich irgendwo an der Ost¬
küste Asiens befinden.
Die ersten europäischen Schiffe, die nach China kamen, im Jahre 1517,
waren vier portugiesische Galeonen, und damit begann der unmittelbare Ver¬
kehr verschiedner europäischer Nationen mit dem Reiche der Mitte. Noch bis
zum heutigen Tage haben die in China lebenden Ausländer von der Nach¬
wirkung des verkehrten und inkonsequenten Auftretens dieser ersten Ankömm¬
linge zu leiden. Denn hier, wo viele Gebräuche und Ansichten jahrtausende
alt sind, und man sich nur sehr ungern zu Neuerungen entschließt, ist es un¬
gemein schwer, Auffassungen, die sich einmal festgesetzt haben, wieder auszu¬
rotten. Alles dies muß billigerweise berücksichtigt werden, wenn man das
Benehmen der Chinesen gegen die Europäer während der letzten Jahrhunderte
richtig beurteilen will. Die Chinesen sind nämlich durchaus nicht gegen den
Verkehr mit Europäern an sich gewesen, wie es ja auch bei einem so handels-
liebeudeu Volke gar nicht anders zu erwarten war. Unter den Portugiesen
scheinen sich aber viele Abenteurer befunden zu haben, und als diese nun
ebenso auftreten zu können glaubten wie die Konquistadoren in der neuen Welt,
da allerdings suchte man sie zu vertreiben. Das gelang auch an mehreren
Orten der Küste, und nur damit der Handel nicht ganz aufhöre, ließ man die
Portugiesen Macao behalten, erkannte jedoch ihr Besitzrecht erst vor einigen
Jahren an, ein echt asiatisches 1iÜ88ör Kurs durch Jahrhunderte hindurch!
Außerdem wurden die Europäer nur noch in Kanton geduldet, mußten sich
aber alles mögliche gefallen lassen. Um diese unerträgliche Lage zu andern,
schickten dann im sechzehnten und siebzehnten Jahrhundert verschiedne euro¬
päische Staaten Gesandtschaften an den Hof von Peking. Diese richteten
aber nur wenig ans, im Gegenteil wurden die Geschenke, die sie zu bringen
pflegten, als Tribut angesehen. Den nach China kommenden Europäern fehlte
eben leider von Anfang an die ruhige Sicherheit des Auftretens, die gerade
Asiaten gegenüber von so großer Bedeutung ist. Statt einfach Handel zu
treiben, was die Chinesen überall sehr gern gesehen hätten, und statt mir im
Notfalle ihre Zuflucht zur Gemalt zu nehmen, ließen sich die Ansiedler arge
Übergriffe zu schulden kommen, während sich andrerseits manche Gesandten,
z. B. die der Holländer, in Peking so weit demütigem, sich dem Kaiser zu
Füßen zu werfen. Was wunder, wenn die Chinesen nicht glauben konnten,
Vertreter von stolzen Nationen vor sich zu haben! Ihre Verachtung der Aus¬
länder mußte durch solche elende Zugeständnisse uur noch steigen, und zwar
um so mehr, als die fremden Nationen nicht zusammenhielten, sondern fort¬
während Krieg gegen einander führten. Als dann in nnserm Jahrhundert
dem unhaltbaren Zustande mit Waffengewalt ein Ende gemacht werden mußte,
waren die Vorurteile gegen die Ausländer schon zu tief eingewurzelt, als daß
sie rasch Hütten verschwinden können.
Man muß aber bei der Beurteilung der nun eintretenden Ereignisse die
rein kommerzielle und die politische Seite vorsichtig auseinanderhalten. Die
große Menge des chinesischen Volkes, soweit es mit den Fremden in Berüh¬
rung kam, sah sehr bald ein, welche Vorteile ein reger Verkehr mit dein Aus¬
lande brachte, während der Hauptwiderstand gegen das Neue von der Klasse
der Beamten und Gelehrten ausging. Solange die ersten Europäer einfach
ihren Geschäften nachgingen und sich höchstens insofern um die Mandarinen
kümmerten, als diese, damit sie dem Handel keine unnötigen Schwierigkeiten
bereiteten, gelegentlich bestochen werden mußten, sind ihnen wohl kaum Hinder¬
nisse in den Weg gelegt worden. Ob sich dann das große Reich nicht viel¬
leicht allmählich friedlich dem Verkehr mit dem Abendlande geöffnet hätte, ist
schwer zu sagen und im Grunde jetzt anch eine müssige Frage. Denn so ein¬
fach sollten sich die Dinge uicht entwickeln; vielmehr sorgte die regierende
Klasse der Beamten durch ihr hochmütiges Auftreten bald dafür, sich gründ¬
lich ius Unrecht zu setzen. Es scheint, daß die Mandarinen von vornherein
eine instinktive Angst gehabt haben vor einem unbestimmten und unbekannten
Etwas, das hinter diesen plötzlich angelangten Europäern lauere und nur auf
eine günstige Gelegenheit warte, hervorzubrechen und ihrer Macht zu schaden.
Deun so allein kann man sich das oft schroffe Benehmen gegen die fremden
Gesandten erklären. Nur die fortwährenden europäischen Kriege schoben den
endgiltigen Bruch so lange Hinaus.
Wahrlich, kein erfreuliches Schauspiel für den rückblickenden Abendländer,
diese sich immer wiederholenden Bemühungen, fast möchte man sagen Bette¬
leien der christlichen Mächte um Besserung der Handelsbeziehungen mit China!
Der Verlauf solcher Gesandtschaftsreiseu war stets derselbe. In Peking
wurden die Herren ersucht, gefälligst vor dem Kaiser den Fußfall zu thun.
Weigerten sie sich, so wollte man von so widerspenstigen Vasallen auch den
mitgebrachten Tribut nicht annehmen. Aber auch in den Fällen, wo sie der
Forderung nachkamen, waren die Erfolge sehr gering und standen nicht ent¬
fernt im Verhältnis zu einer solchen Erniedrigung. Die bleibenden Ergebnisse
waren fast uur litterarischer Art. Vor allem sind die Reisebeschreibungen von
Nieuwhof, der im Jahre 1655 Goyer und Keyzer begleitete, sowie von Staun-
ton, der sich im Jahre 1792 im Gefolge des Earl of Macartney befand, noch
jetzt lesenswert.
Nur die Russen setzten es schon viel eher als andre Völker durch, von
den Chinesen als gleichberechtigte Macht anerkannt zu werden. Zwar ver¬
suchte es der Pekinger Hof auch hier mit seinem gewohnten Hochmute: mehrere
Gesandte mußten unverrichteter Sache umkehren, weil sie keinen Fußfall thun
wollten. Als aber um die Wende des sechzehnten Jahrhunderts die Russen
ganz Sibirien in Besitz nahmen, da erwiesen sich bald die Verhältnisse stärker
als der Widerwille der hohen chinesischen Beamten gegen den politischen Ver¬
kehr auf gleichem Fuße mit Ausländern — der erste derartige Fall in der
Geschichte des Reiches der Mitte. Denn um den ewigen Grenzstreitigkeiten
ein Ende zu machen, bequemten sich die Chinesen endlich zu Verhandlungen,
die im Jahre 1689 zum Vertrage von Nertschinsk führten. Darin wurde
bestimmt, daß längs der genau festgestellten Grenze herüber und hinüber freier
Handel stattfinden dürfte. Noch größern Erfolg hatte eine Gesandtschaft im
Jahre 1727, denn in dem Vertrage vou Kinchta erlaubten die Chinesen den
Russen unter anderm die Errichtung einer Missionsstation in Peking, das
erste Beispiel dieser Art. Römisch-katholische Missionare wurden zwar schon
lange in China geduldet, sie hatten aber noch kein formelles Recht zur Nieder-
lassung. Der Vertrag von Kiächta ist bis 1851, also mehr als hundertund¬
zwanzig Jahre, in Kraft gewesen; hierzu läßt sich in aller Geschichte wohl
kaum irgendwo ein Gegenstück finden. Beiderseits scheint man also recht zu¬
frieden gewesen zu sein. Dazu trug allerdings auch bei, daß die russischem
Gesandten lange nicht so hochmütig behandelt wurden als die meisten andern,
die nach Peking kamen.
Der Karawanenhandel entwickelte sich gut. Lange Zeit hindurch kam der
bei weitem größte Teil des in Europa verbrauchten Thees auf dem Land¬
wege an; deshalb herrscht noch jetzt vielfach die irrige Ansicht, dieser Kara¬
wanenthee sei besser als der auf dem Seewege gekommene, während es doch
ganz klar ist, daß die Seeluft dem Inhalt von luftdicht verkoteter Blechkisten
nichts anhaben kann.
Für alle andern Abendländer blieb der Handel bis zum Jahre 1842 auf
Kanton beschränkt, und bis dahin, also bis kaum vor einem halben Jahr¬
hundert, waren die Verhältnisse dort ganz ungeregelt. Alle Ausländer waren
auf einige Faktoreien angewiesen und durften nur mit solchen Chinesen Handel
treiben, die von ihrer Regierung ausdrücklich Erlaubnis dazu hatten. Die
Ostindische Handelsgesellschaft, die bis 1834 das Monopol für den Handel
zwischen England und China besaß, hatte gewisse Konsularbefugnisse, besonders
insofern, als sie nötigenfalls englische Staatsangehörige aus Kanton ausweisen
konnte. Die kaufmännischen Konsuln der übrigen Nationen dagegen hatten so
gut wie gar keine Machtvollkommenheiten, und die chinesischen Beamten
kümmerten sich nicht um sie und ihre Flaggen. Wurde dann einmal bei
einem Streit ein Chinese von europäischen Matrosen erschlagen, so gab es
unendliche Weitläufigkeiten, und einzeln sah man sich wirklich dazu gezwungen,
den unglücklichen Übelthäter der Gnade der Mandarinen zu überlassen, weil
es vollständig in deren Belieben stand, die Verhältnisse ster alle Ausländer
ganz unerträglich zu machen. Fürwahr, es wurde hohe Zeit, daß die Eng¬
länder, an die allmählich der größte Teil des Handels übergegangen war,
endlich diesem Naturzustande ein Ende machten.
In den dreißiger Jahren unsers Jahrhunderts trieben die Dinge um so
unaufhaltsamer dem Kriege zu, als die Chinesen die seit 1834 ernannten eng¬
lischen Regicrungskommissare ebenso von oben herab behandelten, wie vorher
die Vertreter der Ostindischen Handelsgesellschaft. Bevor wir aber die nun
folgenden Ereignisse kurz erzählen, möge der Geschichts- und Kulturgeschichts¬
freund noch eine kleine Betrachtung mit uns anstellen. Unzweifelhaft waren
die Chinesen, wenn sie sich nachher auch noch so oft ins Unrecht setzten, ur¬
sprünglich durchaus im Recht. Wenn mir ein Handelsmann ins Haus kommt
und allmählich unbescheiden wird, so habe ich das Recht, ihn hinauszuwerfen,
auch wenn ich ihn anfangs geduldet habe. Kein Mensch wird das bestreikn.
Wenn er aber nun durchaus wieder mit mir anknüpfen will, so ist es ebenso
unbestreitbar, daß ich die nötige Macht haben muß, wenn ich mir den Men¬
schen erfolgreich vom Halse halten will. Diese Macht hatte aber die chinesische
regierende Klasse nicht. In, werden nun Leute vom Schlage der Eugen
Richter und Bamberger sagen, dann hätten die Europäer die Chinesen hübsch
in Ruhe lassen sollen! Ach, wenn sich alle Menschen immer wie artige Kinder
hätten benehmen wollen, so hätte es nie einen Fortschritt gegeben, und wir
Deutschen lägen dann wohl noch in unsern Wäldern auf der Bärenhaut.
Der ganze, jetzt so blühende Handel an der chinesischen Küste bestünde nicht;
ja noch mehr: wenn die Klasse der chinesischen Beamten ihrem geheimsten
Herzenswünsche gemäß handeln könnte, so würde sie uus Ausländer alle lieber
heute als morgen bitten, gefälligst das Reich der Mitte zu verlassen. Zu
solchen Folgerungen kommt man, wenn durchaus alles nach einer bestimmten
Theorie gehen soll, in die man sich verrannt hat.
Nun hat allerdings der unmittelbare Anlaß zu dem unvermeidlich ge-
wordnen Kriege sehr viel Staub aufgewirbelt, weil die heikle Opiumfrage den
Bruch herbeiführte. Der Eindruck davon hat sich auch jetzt noch nicht verwischt,
obgleich schon fünfzig Jahre darüber hingegangen sind. Immer noch heißt es:
die selbstsüchtigen Engländer haben damals nur deshalb Krieg mit den Chinesen
angefangen, weil diese den Handel mit Opium in ihrem Lande nicht erlauben
wollten. Prüfen Nur die geschichtlichen Thatsachen, so finden wir, daß die Dinge
doch nicht so einfach lagen. Freilich konnte es niemand den chinesischen
Beamten im Ernste verdenken, daß sie energische Maßregeln zur Unterdrückung
des um der ganzen Südküste schwunghaft betriebneu Opiumschmuggels ergriffen,
sobald sie sich von der Verderblichkeit des Opiummnchens für alle nicht ganz
charakterfester Leute überzeugt hatten. Aber in ihrem grenzenlosen Hochmut,
bei ihrer Verachtung der „Barbaren" und bei ihrer völligen Unkenntnis von
der Macht europäischer Nationen hielten sie es für vollkommen überflüssig,
irgend welche internationale Rücksicht zu nehmen. So hielt im März des
Jahres 1839 der Gouverneur von Kanton, um seinen Willen durchzusetzen,
die Ausländer in ihren dortigen Faktoreien gefangen, bis sie ihm alles in
ihren Händen befindliche Opium ausgeliefert hatten. Es wurde dann ver¬
nichtet, aber jede Entschädigung für den sehr bedeutenden Verlust wurde
verweigert.
In England war die öffentliche Meinung über ein solches Verfahren um
so aufgebrachter, als sich unter den eingesperrten Personen auch der zur
Beilegung der Streitigkeiten ernannte Regierungskommissar, der Kapitän
eines Kriegsschiffs, befunden hatte. Dies mußte durch Krieg gesühnt werden.
Später ist es allerdings auch von einigen Engländern getadelt worden, daß
die Opiumfrage zum Anlaß des Bruchs genommen worden ist. Die so urteilen,
und außerhalb Englands ist das wohl die große Mehrzahl, halten offenbar
zweierlei nicht richtig aus einander. Man setze nämlich nur einmal an Stelle
des Opiums irgend einen für China unschädlichen oder nützlichen Einfuhrartikel,
lasse aber alle übrigen Umstände, wie sie waren, und sofort wird das aller
internationalen Sitte ins Geficht schlagende Benehmen der chinesischen Beamten
noch schärfer hervortreten. Die zufällige Schädlichkeit des Gegenstandes be¬
rechtigte sie durchaus nicht zu ihrem schroffen Vorgehen. Es ist auch mit
Sicherheit anzunehmen, daß weit mehr der Haß gegen die Fremden als die
Einsicht von den schlimmen Folgen des Opiumrauchens die Mandarinen zu
möglichst rücksichtslosem Auftreten gereizt habe.
Der Krieg wurde von englischer Seite mit großem Nachdruck geführt,
offenbar in dem richtigen Gefühl, daß ein solcher Hochmut, wie ihn die
Mandarinen immer gezeigt hatten, nur durch eine möglichst empfindliche
Lektion zu brechen sei. Zum erstenmale mußte sich das alte Reich der Mitte
im großen Kriege mit einer Macht des Abendlandes messen. Der Erfolg
konnte von vornherein nicht zweifelhaft sein. Zwar fochten die chinesischen
Soldaten in vielen Fällen ganz tapfer, aber ihre Bewaffnung und vor allein
ihre Führung waren gar zu schlecht. So ging ein Gefecht nach dem andern
verloren, und eine Hafenstadt nach der andern fiel in die Hände der Sieger,
bis diese schließlich mit einer mächtigen Flotte von zweiuudsiebzig meist großen
Kriegsschiffen in den Aangizetiang einliefen. Tfchinkiang, eine am Schnitt¬
punkte dieses Stromes und des großen Kaiserkanals gelegne befestigte Stadt,
wurde erstürmt, wobei schreckliche Szenen vorkamen. Denn da dieser Ort damals,
als es noch keine Dampfschiffahrt nach Tientsin gab, wegen der Versorgung
der nördlichen Provinzen mit Reis und Getreide besonders wichtig war, so bestand
ein großer Teil der Besatzung aus Mantschus, die lieber ihre Häuser anzündeten
und ihre Frauen und Kinder und sich selbst töteten, als daß sie sich den
Feinden ergaben. Solch eine wilde Verzweiflung, wie sie die Engländer bisher
noch nicht angetroffen hatten, war darin begründet, daß die Mantschus, deren
Vorfahren im Jahre 1644 als Eroberer ins Land gekommen waren und die
einheimische Ming-Dynnstie gestürzt hatten, nun das Ende ihrer eignen Herr¬
schaft für gekommen hielten.
Tschiukiang war ein Schntthciufe, als es die Sieger ganz in der Gewalt
hatten. Aber viel war damit gewonnen, nämlich erstens ein Stützpunkt, von
dem aus sie ebenso den Vantzekinng wie den Kaiserkanal erfolgreich absperren
konnten, und zweitens die Aussicht, das uur wenige Stunden flußaufwärts
liegende Nanking, an Wichtigkeit die zweite Stadt Chinas, bald gleichfalls zu
erobern. Ohne Verzug wurden die Vorbereitungen zum Sturm getroffen; aber
es sollte nicht mehr dazu kommen. Denn die Absperrung der Wasserwege
machte sich bei dem sehr bedeutenden Schiffsverkehr bereits in der ganzen
Umgegend empfindlich fühlbar, und außerdem fingen die Chinesen an, sich
von der Aussichtslosigkeit weitern Widerstands zu überzeugen. Nachdem die
kaiserliche Genehmigung eingetroffen war, wurden Verhandlungen angeknüpft,
die zum Frieden zu Nanking führten (1842).
War der Krieg von den Engländern mit Energie und Umsicht geführt
worden, so bewiesen sie auch bei den Friedensverhandlungen großes Geschick.
Mit dem ihnen in solchen Sachen eignen weiten Blick erkannten sie, daß die
Erwerbung einer größern Strecke Landes weniger vorteilhaft für sie sei und
dabei doch die Chinesen weit mehr schmerzen würde, als die Eröffnung einer
zu den gebrachten Opfern und erreichten Erfolgen im Verhältnis stehenden
Anzahl von Häfen für den auswärtigen Handel. Sie begnügten sich also
mit der kleinen Felseninsel Hongkong. Dafür wurden, in der Reihenfolge von
Süden nach Norden, folgende fünf großen chinesischen Häfen für den Verkehr mit
Ausländern freigegeben: Kanton, Amoy, Futschau, Ninggo und Shanghai. Von
allen diesen Orten aus sollte auch der Transithandel ins Innre des weiten
Reiches erlaubt sein. Ein Zolltarif sollte vereinbart werden. Ferner mußte
China eine Entschädigung für das vernichtete Opium sowie sür die Kriegskosten
zahlen, und endlich wurde ausdrücklich festgesetzt, daß in Zukunft jeder der
beiden Staaten den gleich hohen Rang des andern anerkennen und seinen
offiziellen Schriftwechsel darnach einrichten sollte. Die Opiumfrage kam gar nicht
zur Verhandlung, und schon darum ist es nicht gerechtfertigt, diesen Krieg, wie
es noch immer oft geschieht, den Opiumkrieg zu nennen. Vielmehr blieb hierin
nach wie vor alles beim alten, also beim Schmuggel. Wohl aber erkundigten
sich die chinesischen hohen Beamten beim Friedensschluß im Privatgespräch
nach der Auffassung der Engländer. Weshalb, fragten sie, wollt ihr uns denn
durchaus ein solches Gift ins Land bringen? Ihr solltet uns doch lieber be¬
hilflich sein, das Laster des Opiumrauchens in China nicht weiter um sich
greifen zu lassen, und solltet darum euern Staatsangehörigen den Handel mit
Opium streng verbieten! Hierauf vermochten die Engländer nur eine sehr ge-
wundne Antwort zu geben. Ihr müßt, sagten sie, euer Volk von der Schäd¬
lichkeit des Rauchers zu überzeugen suchen, dann hört der Handel von selbst
auf; solange er aber besteht, können wir uns den für uns daraus erwachsenden
Vorteil, der sonst doch ganz gewiß andern Nationen zufallen würde, nicht
entgehen lassen. In der That, eine in jeder Beziehung kümmerliche Entgegnung!
Diese Beweisführung ist, wie Williams in seinem Uickclls IQng'nimm treffend
bemerkt, im ersten Punkte um kein Haar besser, als wenn ein Gastwirt der
Frau eines Trunkenbolds, die ihn händeringend ansieht, ihrem Manne keinen
Schnaps mehr zu verkaufen, die kalte Antwort gäbe, sie solle doch ihren Mann
ernähren, keinen mehr zu trinken. Und auch der zweite Teil der Erwiderung
steht auf schwachen Füßen. Denn hätten die Engländer wirklich den Handel
mit Opium verboten, so würde es mit ihrer mächtigen moralischen Unterstützung
den Chinesen kaum schwer geworden sein, von andern Nationen gleiche Be¬
dingungen für die Handelsverträge zu erlangen. Es hätte auch christlichen
und gesitteten Völkern wohl angestanden, wenigstens den Versuch zu machen,
dies Unheil von China abzuwenden. Da jedoch nichts derartiges geschah, so
wurde, wie gleich hier erwähnt werden mag, der Schmuggel zuletzt so uner¬
träglich, daß nach dem zweiten Kriege allerdings schließlich nichts andres übrig
blieb, als den Handel mit Opium nnter Festsetzung eines Einfuhrzolls zu er¬
lauben. Die Vereinigten Staaten von Nordamerika sind das einzige Land, das
im Jahre 1880 freiwillig mit China vereinbarte, seinen Bürgern und den
unter seiner Flagge fahrenden Schiffen den Opiumhandel zu verbieten, ein
zwar sehr ehrenwertes, wahrscheinlich aber doch gcfühlspolitisches und den Zweck
verfehlendes Vorgehen. Denn solange die andern in China vertretnen Nationen
nicht diesem Beispiele folgen, hindert amerikanische Firmen nichts daran, Deutsche
oder Engländer zu engagiren, die dem Wortlaut nach auf ihren Namen, in
Wirklichkeit aber auf Rechnung der Firma Opium kaufen. Und man müßte
die Amerikaner nicht kennen, um nicht zu wissen, daß es die meisten von ihnen
für gar keine Sünde halten, ein solches Verbot zu umgehen, wenn es so leicht
gethan werden kann, übrigens wird jetzt auch in China selbst schon viel
Opium gewonnen. Die Hoffnung also, die manche wohlmeinenden Missionare
anscheinend noch immer hegen, nämlich daß noch der Tag kommen werde, wo
im ganzen China kein Opium mehr zu haben sei, ist leider wohl vergeblich.
Noch vor fünfzig Jahren wäre es wohl möglich gewesen, das durchzusetzen,
aber jetzt ist es zu spät dazu.
Es wird immer bedauerlich bleiben, daß sich die ersten Europäer, die
den Chinesen als Sieger gegenüberstanden, nicht dazu entschließen konnten,
hochherzig die Bitten der Besiegten in dieser Hinsicht zu erfüllen und selbst
mit aller Kraft dem Opiumhandel entgegenzutreten. So griff nun daS Übel
zugleich mit der zunehmenden Anstedlung von Ausländern, die im übrigen so
segensreiche Folgen hatte, immer weiter um sich. Denn ein Übel bleibt es,
man sage, was man will. Alle Beweise von der im Verhältnis zur Größe
des Reichs nicht weiten Verbreitung des Rauchers, die auch in ausländischen
Blättern stark übertrieben wird, sowie von der sehr geringen Schädlichkeit bei
mäßigem Genuß können die Thatsache nicht aus der Welt schaffen, daß eine
große Zahl von Menschen dadurch körperlich und geistig vollständig zu Grunde
gerichtet wird. Auch die sehr beliebte Behauptung, die meisten Menschen
könnten nun einmal nicht ohne ein Reizmittel auskommen, ist oberflächlich und
trifft nicht den Kern der Sache. Könnte man in einem europäischen Lande
den Branntwein auf irgend eine Weise ganz abschaffen, so würde dieses Land
dadurch im allgemeinen gewiß nicht unglücklicher werden, sondern glücklicher.
Genau so ist es in China mit dem Opium.
(Schluß folgt)
le vielen deutschen Gäste, die sich seit der Anlegung der großen
Gaststätten zu Abbazia am istrischen Strande alljährlich nach
diesem lorbeernmschatteten Orte begeben, finden an dem felsigen
Ufer, wo der Waldwuchs immergriiner Bäume bis zum Wellen-
schaum hinabreicht, allerlei Schaustücke, die sich von denen der
nordischen Meeresufer ganz und gar unterscheiden.
Wenn um die Mitte des Mai der Judasbaum blüht (der türkische Er-
gavan, dessen roter Blütenwipfel sich dort im Osten gern zwischen den Cypressen
der Grabstätten erhebt), dann sind die anmutigen Gaststätten dieses Strandes,
des österreichischen Norderney oder Tronville, schon angefüllt mit lustigem
Badevolk, wie es sich erst zwei Monate später nach den Meeren des Nordens
wagt. Korkeichen und andre inunergrüne Eichen, mit den klafterhohen, wei߬
blütigen Calluuas und allerlei Weißen und roten Cistrosen untermengt, von
der rvtbecrigen rauhen Stechwinde des Mittelmeerbeckens durchflochten, von
einem Wirrsal des baumartigen immergrünen Wegdorns durchsetzt, veranschau¬
lichen die Wirkung des südeuropäischen Meerklimas.
Oft erscheine» Fischer zwischen den Klippen und ziehen mit Gesang ihre
Netze ein, in denen die Tiere mit dem silbernen Meerglanz blinken. Ist es
doch dieselbe Thalatta, die der ionische Dichter die fischreiche genannt hat.
Der Anblick der Fische, wenn sie auf den Grund der Barke gelegt oder
einem Harrenden, der am Strande steht, zugeworfen werden, ist nicht nur ein
Küchengedicht, sondern ergänzt in seinem Stillleben jenes Farbenspiel, das
uns die innern Flächen der Muschelschalen geboten haben, als wir sie zu¬
sammen mit vielem Meersand mit der Hand aus der hintersten Klüftung des
Felseneinschnitts schöpften. Wie das Meer im Laufe des Tags unter dem
Wandel des Gestirns allerlei metallische Farben annimmt, so glänzt es auch
an vielen dieser Fische goldig oder knpfern oder in der Färbung andrer
Erzstufen.
Wer sich ermannt und von den weichen Lehnsttthlen des Kaffeehauses
weg hinausgeht auf die Wege, die sich längs des Meers, längs der Lorbeeren,
Steineichen und Cedern hinziehen, der handelt nicht nur dem Zweck ent¬
sprechend, der ihn hierher geführt hat, sondern er verschafft sich auch einen
Genuß, wie er nur in solchen Landschaften geboten wird.
In der Schlucht, aus der ein reichlicher Bach dem Meer entgegenrinnt,
das ihn mit langen Wellenreihen auf dem flachen Sand aufhält, begrüßt
den Gast vielstimmiger Gesang der Nachtigallen. Citronenkraut, Satureja,
Thymian und Lavendel duften ihm aufgefrischt entgegen. Die Nachtigallen
lieben, gleich dem Ölbaum, die Nähe des Wassers. Tief neigt sich dort, wo
das süße Wasser sich mit der Salzflut zu vermengen beginnt, unter dem An¬
drange des salzigen Hauchs das hohe Schalmeienrohr, das noch heute mit
dem Namen ^runclo clormx, den es von der gelehrten Botanik bekommen hat,
an die sanfte Bewegung des Schafes erinnert, die vor allem den Augen der
Griechen auffiel.
In diesen Wochen regt sich ein absonderliches Leben in den Tiefen des
Meeres, wohin kein menschlicher Blick dringt. So können wir es anch nur
nach seiner Fernhinüußerung abschätzen, etwa so, wie der Bewohner einer Ge¬
birgsgegend, der zu gewissen Zeiten die Scharen städtischer Ankömmlinge
wahrnimmt, sich aus diesem Schauspiel ein Bild von den Vorgängen auf
entlegnen Bahnhöfen macht. In diesen kalten, finstern Tiefen, in den Thälern,
die Hunderte von Metern hoch von der Salzflut überwallt werden, beunruhigt
die stummen Lebewesen in diesen Tagen derselbe Trieb, von dem die Bewohner
der trocknen Erde und der Lüfte in so vielen Bewegungen und Tönen Kunde
geben. In diesem Bethätignngstrieb wandern die Insassen, für die es in der
Kälte und Dunkelheit der tiefen „Meerschaft" keine Jahreszeiten giebt, zu
entlegnen, sonnigen Usern, in deren Schaum der Frühlingswind schon längst
so manches Blütenblntt der Mandelbäume hinabgeweht hat.
Die Griechen sahen einst in dem Thunfisch, jenem mächtigen Stachelflosser,
der sich jetzt gegen die Oberfläche und den Rand des Meeres emporhebt, eine
Hinweisung auf den Mond, der schimmernd den Wellen entsteigt — nicht
minder aber auch auf die Einwirkung jeuer Göttin, die den Pfeilen der Jäger
und den Netzen der Fischer ihre Beute entgegenbringt, und weihten ihn, beide
Bilder im Auge behaltend, der Artemis, die Seen und Meere durchschweift.
Die Einbildungskraft des Volks an diesen Küsten bringt den Wanderzug der
Thüre, zu deren Empfang man jetzt anfängt sich bereit zu halten, nicht mit
solchen Erwägungen und Vorstellungen in Zusammenhang. Es setzt diese
Spende des Meers mit den ersten Anzeichen der freundlichsten Spende des
Landes, nämlich dem Wein, in Verbindung. Die Leute sagen: Wenn der Wein¬
stock seine Knospen zu öffnen beginnt, dann rücken die Heere der Thüre heran.
Das ganze Treiben, das damit zusammenhängt, ist zugleich so seltsam und
so wenig bekannt, daß sich eine Schilderung davon wohl lohnt.
Der Gast von Abbazia hat an sieben nahe gelegnen Örtlichkeiten Gelegen¬
heit, es zu beobachten: in Prelula, bei der Punta Sereica am Eingänge des
Fjordes von Buecari, bei Buecari selbst, bei Buearizza, in der Bucht von
Dubno, bei Se. Jakob und im Hafen Vos auf der Insel Veglia. Überall
dort ist das Ufer nicht seicht, man kommt wenige Schritte vom Festland in
eine Tiefe von etwa zwanzig bis dreißig Metern.
Kein andrer schwimmender Gast unsrer Küsten wird mit der gleichen
Umständlichkeit empfangen. Die rechtwinklig ausgespannten Netze,") Kammern
darstellend, mit all ihren künstlich darin angebrachten Durchschlüpfen, die be¬
sonders zu diesem Zweck am Ufer aufgerichteten Gebäude und andre Vorrich¬
tungen, die Teilnahme der Bevölkerung und schließlich auch noch das Mit¬
wirken der Geistlichkeit als Vertreterin der Kirche — das alles kommt nicht
annähernd bei andern Hantirungen derartig vor, für die das Meer Saat¬
feld ist.
Es wird wohl uur wenige Gäste dieses Strandes geben, die einer den
Thunfischen gelieferten „Schlacht" (die Italiener gebrauchen einen derartigen
Ausdruck) zugesehen hätten. Noch wenigem war es wohl gegönnt, einen Blick
in die Gold- oder in die Totenkammer zu werfen, wie man die beiden hintersten
Abteilungen des ganzen Netzaufbaus nennt, aus denen es für die eingedrungnen
Tiere kein Entrinnen mehr giebt. Wohl keinem Ankömmling aber sind die
drei mächtigen am Ufer von Preluka schief über das Meer hinausgeneigten
etwa fünfzehn Meter hohen Stangen entgangen, deren oberstes Ende eine Art
von Sitz trägt, zu dem man auf Sprossen emporsteigt. Das ist die „Wache,"
wie es die Leute nennen, und der Wächter, der oben sitzt, hat nach dem
Herannahen der mit soviel Spannung erwarteten Gäste zu spähen. Er wird
alle Stunden abgelöst und hat dies wohl anch notwendig, denn obwohl er
sitzt, ist es gewiß eine ganz absonderliche Anstrengung, sich auf dem Ende
einer Stange hoch über der dunkeln Flut in der Luft so lange Zeit zu halten
und nach jeder Kräuselung der Wasserfläche, die nicht vom Winde ausgehen
kann, auszulugen.
Endlich wird eine solche Kräuselung wahrgenommen. Nun giebt die
Wache das Zeichen, und am Strande macht sich eine Regsamkeit bemerkbar,
die an die einer Truppe erinnert, der man das Herannahen des Feindes
meldet. Nicht bloß die Fischer, die an deu Tauen beschäftigt sind, womit die
Netze eingeholt werden sollen, halten sich bereit, es kommen Leute von weit
und breit, es erscheint auch der Geistliche, der das Meer segnet, eine Hilfe¬
leistung, für die ihm, nebenbei gesagt, der erste gefangne Thun zufällt. Es
kommen Händler und Leute, die Wem ausschenken, Weiber und Knaben, die
sich anschicken, einen kleinen Teil der erwarteten Beute alsbald dem häuslichen
Herde zuzutragen.
Schon ist aber auch noch ein andrer Bote gekommen, nämlich die Weiß-
slügclseeschwalbe, die man als den Vorläufer einer Schar von Tunen betrachtet.
Dieser Vogel nährt sich von kleinen Fischen und hält sich nach einer Über¬
lieferung gern über solchen Stellen des Meers auf, wo ein Schwarm von
Thunfischen gegen die Oberfläche heraufkommt. Die Fischer wolle» ihn oft
haben auf den Stricken des Netzes, die auf dem Wasserspiegel sichtbar sind,
sitzen sehen. In ihrer Sprache heißt er deshalb Thunfischvogel (wnsÄe).
Je höher das Netz emporgehoben wird, desto mehr steigert sich die Auf¬
regung, und zwar nicht nur unter den versammelten Menschen, sondern auch
unter den Fischen. Während jene ihre Beute, auf die sie hoffen, mit Geschrei
begrüßen, wallt das Meer schäumend auf über den gewaltsamen Bewegungen
der großen Tiere, die, indem sie allenthalben Hindernissen begegnen und eine
Empfindung von ungewohnten Vorgängen haben, das Wasser peitschen.
Allerdings erweist sich der Thun auch insofern als „Aprilfisch," als
er oft die Leute mit ihren Hoffnungen in den April schickt. Statt der Fleisch¬
haufen, mit denen die bereit gehaltnen Geschirre bedeckt werden sollen, kommen
dann nnr ein paar Verlorne, einsiedlerische Wanderfische zum Vorschein. Es
geht nicht immer so, wie vor einigen Jahren zu Buecari, daß mit einemmale
mehr als tausend dieser Tiere herausgezogen werden. Das ist aber keine
Kleinigkeit, wenn man sich vergegenwärtigt, daß viele ein Gewicht von zwei¬
hundert Kilo haben, ja daß man auch schon solche von mehr als dreihundert
aus dem Meere gezogen hat.
Der Auftritt, der nun folgt, ist bei uns nicht so wild und gewaltthätig,
wie ihn seinerzeit der Abbate Cetti beschrieb, der die Matcmzci, d. h. die
Schlachterei an den sardinischen Küsten mit angesehen hat. Dieser erzählt,
mit welcher Wut die Totschläger arbeiten, weil sie einen gewissen Anteil an
der Beute erhalten und deshalb so viel wie möglich, und hauptsächlich die
größten Thuue, zu töten suchen. Einem Menschen, der ins Meer fiele oder
sonst in Gefahr käme, würden sie jetzt gewiß nicht zu Hilfe kommen, wie man
während der Schlacht auf die Verwundeten auch keine Rücksicht nimmt. Man
schlägt, schreit, wütet und zieht den Thun so eilig wie möglich aus dem Wasser.
Nachdem sich die Fische einigermaßen vermindert haben, wird eingehalten, die
Kammer von neuem herangezogen, der noch übrige Fang enger eingeschlossen:
und ein neuer Sturm erhebt sich, ein neues Morden beginnt. So wechseln
Schlagen und Anziehen des Netzes, bis endlich auch der Boden der Toten-
kammer nachgekommen und kein Thun mehr übrig ist. Das Blut der Fische
färbt weithin das Meer.
So heißblütig sind unsre Leute an der Adria nicht. Sie werfen die
Fische an eine umzäunte und abgegrenzte Stelle, wo sich nur sehr wenig
Wasser befindet. Dort schlagen diese um sich, drängen und quetschen sich, be¬
spritzen die Steine mit Blut, bis sie erschöpft oder leblos den Menschen zum
Opfer fallen, die alsbald mit ihren Messern herankommen. Die Menschen aber
drängen sich nicht minder zusammen, um im größten Getümmel und in der
ärgsten Aufregung so rasch wie möglich ein Stück zu erwischen. Solchen Tieren
gegenüber, die die Größe eines Mannes haben, und im Angesicht des Blutes,
das weithin das Ufer färbt, der scharfen Messer, die in den Eingeweiden
arbeiten, kann man wohl auch daran denken, daß das Gejohle und Geschrei
mit einem tiefinnerlichcn Zug in den Menschen zusammenhänge, der sich be¬
sonders laut dann äußert, wenn sich eine große Menge angesammelt hat —
nämlich an die Berauschung oder die Genugthuung durch und an Massenmord.
Es ist das eine Mitgift unsrer Substanz, die bei allen derartigen Gelegen¬
heiten durchschlügt.
Die Tiere werdeu dann ans einer Art von Gerüst aufgehängt, nach¬
dem ihr Unterleib auseinandergeschnitten und die getrennten Körperhälften dnrch
hineingeschobne Stäbchen auseinandergespreizt worden sind, damit die Luft
freien Zutritt habe.
Cetti erzählt, daß auf diesem Schauplatz jedermann Dieb sei. Das
Stehlen sei hier weder eine Schande, noch ein Verbrechen. Dem ergriffnen
Diebe widerfahre weiter nichts, als daß er das gestohlene Gut wieder verliere.
Habe er es aber schon in seine Hütte gebracht, so sei es in Sicherheit. Hierin
liege eine gewisse Billigkeit; denn der Lohn, um den der Unternehmer die
Arbeiter dinge, stehe mit der ihnen ausgegebnen Arbeit in keinem Verhältnis,
und um einen Ausgleich zu treffen, müsse zu dem versprochnen Lohne noch
eine gewisse Zugabe kommen. Aus diesem Grunde läßt der Patrone das
Stehlen uuter der Bedingung zu, daß es geschehe, ohne ihm kund zu werden.
Diese Art von stillschweigendem Übereinkommen und der Gebrauch, daß der
Patrone sein Eigentum rettet, wenn er den Räuber fängt, macht ihn und seine
Beamten außerordentlich aufmerksam, wogegen die Diebe, die weder Be¬
schimpfungen noch Strafe, sondern nur Verlust des Gutes zu befürchten haben,
überaus dreist und flink sein müssen. Beim Stehlen einzelner Stücke lassen
sie es nicht bewenden; das Beutemachen erstreckt sich auf ganze Thüre, und sie
wissen tausenderlei Kunstgriffe anzuwenden, um sie in Sicherheit zu bringen.
Mit der Hurtigkeit eines Taschenspielers lassen sie einen Thun verschwinden,
wie ein andrer eine Sardelle einsteckt.
Von derlei Vorgängen und Übungen habe ich an unsrer Küste niemals
etwas gehört. Es ist das offenbar eine Lücke in ihrer Kultur. Dagegen
dürfte dort, unter den Sardiniern und Provenyalen, auch der naive Brauch
nicht vorkommen, den man, wie Dragutin Hire in seinem Urv-z-tslco ?riurorss
(Das kroatische Küstenland) erzählt, noch immer bei den Vorbereitungen zum
Fang beobachtet. Es wird berichtet, daß die Fischer, wenn sie die Netze in
Bncarizza, wo sie aufbewahrt werden, abholen, um sie auf den Fischplatz nach
Bueeari zu bringen, unterwegs von der Barke aus ins Meer hinein reden,
als ob sie mit dem Thunfisch sprächen, und sagen: Siehst du, das ist sür dich
der Weg zur Tonnara! (Fangplatz).
Diese Leute, die sich mit dem Thunfischfang abgeben, sind weder aus
Preluka, noch aus Abbazia, noch aus Bnceari, noch aus irgend einem andern
der benachbarten Küstenorte, sondern sie kommen fast samt und sonders aus
dem weiter südlich gelegnen Cirkvenica, weshalb man sie Kirci nennt. Darauf
deutet auch die Bezeichnung des kleinen Molo hin, eines aus Steinen zu¬
sammengesetzten halbinselfvrmigen Baues, der sich um Ufer jedes Fangplatzes
befindet, und auf dem einige Säulen zum Befestigen der Winden und Taue
angebracht sind. Einen solchen Bau nennt man „kirskischen Landsporn"
(IQrsKi xuutio). Dort sitzen diese Männer, den Kopf mit langen blauen
Mützen bedeckt, und treiben allerlei seemännische Allotria, indem sie Polenta
kochen, Netze flicken, Löcher in den Jacken zusammennähen, rauchen oder
auch bloß tiefsinnig ins Wasser schauen, bis die Wache, die oben auf dem
Korbe der Stange sitzt, dieses Stillleben durch den Ruf, der die Ankunft der
Thüre bedeutet, unterbricht.
Es ist selbstverständlich, daß bei einem solchen Zug auch mitunter Ge¬
schöpfe herausgehoben werden, auf die es nicht unmittelbar abgesehen war.
Darunter befinden sich vor allein mancherlei Fische, auch solche, die nur von
den Fischern unter sie gerechnet werden, in Wirklichkeit aber keine sind, wie
Tintenfische, Sepien und andre Kopffüßer. Derlei hält sich an den Maschen
des Netzes festgeklammert. Ein unverhofftes Beutestück andrer Art dagegen
ist der Hai, der mitunter auf der Jagd hinter den Thuner her sich in das Tau¬
werk verstrickt. Wenn man die Anwesenheit eines solchen Gastes wahrnimmt,
dann heißt es, das Netz so rasch als möglich herausziehen, weil er es sonst
unfehlbar durchbeißt und dann mit ihm auch die Thüre sich auf Nimmer-
wiedersehn empfehlen. Alles läuft dann, um Beile, Bootshaken und ähnliche
Werkzeuge zu holen, um für alle Fälle, die sich mit der Ankunft des Ungetüms
ereignen können, bereit zu stehen.
Ich selbst war bei einem solchen Auftritt gegenwärtig, der fest in meiner
Erinnerung haftet. Plötzlich entstand während des Herausziehens des Netzes
ein Geschrei, neben dem das übrige Unser und Brüllen fast wie ein Gelispel
klang. Nachträglich, nicht in der Totenkammer, sondern am Ende des Flecht¬
werts, kam eines jener Ungetüme zum Vorschein, das die Slaven vol (Ochs),
die Italiener xc?8vo nmnM (MtickimuL Sri^us (no.) nennen, ein rotbrauner
Hai. Er war einige Meter lang. Man tötete ihn dadurch, daß man ihn in
der Schwebe im Netz hängen ließ, bis er durch Mangel um Luft zu Grunde
gegangen war. Bald lag die Bestie zwischen den Felsen des Gestades auf dem
Sand und gemahnte mit ihrer Körperwucht an die Dickhäuter, die noch den
Grund bevölkerten, als eben dieser Sand aus dem Meere sich niederschlug.
Dieser „Ochs" fühlte sich fein und sammtig an, wenn man vom Schädel ab¬
wärts strich, dagegen rauh und borstig, wenn man die Hand in umgekehrter
Richtung bewegte. Die Stachelflosfe starrte ihm weit unten aus dem Rücken.
Seine rundlichen Zahnreihen waren ein ganzes Zeughaus. Weißliche Fleisch¬
trümmer, die mit ihm ans dein Netze gehoben worden waren, konnten es be¬
zeugen. Es waren Überreste von Delphinen, die er in seiner Todesangst von
sich gegeben hatte. Über dem Gewimmel der Wogen an dein mit Blut be¬
feuchtete» Strande trieben sich Möven umher, ihres Anteils an der Beute
gewärtig.
Übrigens ist die Erlegung eines derartigen Tiers, obwohl man weder
mit dem Fleisch noch mit andern Teilen des Körpers — vielleicht Stücke der
rauhen Haut ausgenommen, die man als Reibflächen zum Anbrennen von
Zündhölzchen benutzt — etwas anfangen kann, doch nicht so ganz ohne Nutzen
für die Fischer. Allerdings wäre die Bestie imstande, schauderhaft unter den
Thüren aufzuräumen, und es fehlt nicht an Gewährsmännern, die behaupten,
daß ein Hai imstande sei, mehrere dieser großen Fische auf einmal zu ver¬
schlucken. Deshalb erhalten die Männer für den Fang eines solchen Tiers
aus der Gattung Lg.rolmrm8 eine Geldbelohnung, die sicherlich mit ebenso viel
Recht ausgesetzt worden ist, wie auf das Töten eines Wolfs oder eines
Bären. Deal sein Rachen und sein unersättlicher Bauch wütet nicht nur gegen
Fische, sondern auch gegen Menschen, die das Unglück haben, in den Bereich
des Tiers zu kommen. sogar noch auf dem Lande hat man sich vor ihm
in Acht zu nehmen. Vor wenigen Jahren wurde zu Bueeari einem Manne,
der sich als Neugieriger ans dem Hafendamm zu nahe hinangewagt hatte, von
einem solchen Fisch, der schon auf dem Trocknen lag, ein Fuß kurzweg ab¬
gebissen. Eine solche Zugabe zu dem Schauspiel, das die Ankunft dieser be-
floßteu Zuzügler aus der Fremde gewährt, steigert natürlich die Wirkung des
ganzen Auftritts. Doch bleibt er auch ohnedies so seltsam und merkwürdig,
daß ihn niemand vergißt.
Wer weiß, wodurch ein Ungetüm, wie der Thunfisch, dieser rohe, un¬
geschlachte Räuber, in den Ruf eines zärtlichen Ehegatten gekommen ist!
Thatsache ist, daß er wegen dieser seiner Eigenschaft bei Hochzeitsmahlen der
Römer auf den Tisch gebracht wurde. Vielleicht verdankt er dies dem blinden
Eigensinn, mit dem sich die Männchen um die eierlegenden Weibchen an den
Küstenscharen und dem verderblichen Netze entgegendrängen.
Wenn wir griechische und römische Bücher hervorholen wollten, so fände
man darin eine Menge von Seiten, auf denen dieses Unholds Erwähnung
gethan wird; das „sardische Eingesalzene" war nichts andres als das Fleisch
des Thunfischs. Man hat gesagt, daß seine Wanderungen, die seit Jahrtausenden
ununterbrochen fortgehn, einem sich unablässig bewegenden Strome von
nährenden Fleisch glichen. Der Mensch kann mit diesem Strome, aus dem
ein Geschlecht nach dem andern schöpft, verschwenderisch Hausen, und er thut
es auch. Viele Tausende von Gulden wirft der gedankenlose Fischer jährlich
auf den Schindanger. Denn man hält es nicht für nötig, die ungeheuern
Fleischmassen, die an diesen Klippen, insbesondre an den dalmatischen, aus dem
Meere gezogen werden, einzusalzen, sodaß man oft die Hälfte der Beute und
noch mehr zerstören muß, ehe sie in der Fischhalle zu Trieft und Venedig
ankommt — eine Art von Verwüstung des Reichtums, wie er leider noch bei
andern Erzeugnissen, insbesondre beim Wein, beklagt werden muß.
Ein andrer Fisch, der gleich dem Thun nur plötzlich und zeitweilig in
Scharen auftaucht, ist die Makrele (italienisch Seombro, slawisch Lvearda).
Auch für das Erscheinen dieses Zugfisches giebt der Frühsommer das Zeichen.
Schon am Tage des heiligen Markus (25. April) wird er erwartet. Es ist
das derselbe Tag, wo im koatischen Binnenland von den Geistlichen die Weizen¬
felder eingesegnet werden. „Der heilige Markus zündet das Meer an und
fängt alle Makrelen." Am Vorabend sieht man die Feuerzeichen der Fischer,
da sie ihr Geschäft meistens bei Nacht, beim Schein von Fichteuholzflammen
betreiben.
Gleich dem Fange des Thuns setzt sich auch das Fangen der Makrele den
ganzen Sommer hindurch fort. Da es aber nicht nur mit Netzen verschiedner
Art, sondern auch mit Angeln betrieben wird, so ist ans dieser Fischerei ein
Sport geworden, den nicht nur die Einheimischen, sondern auch die Fremden,
insbesondre auch die Badegäste von Abbazia, mit Erfolg betreiben. Für die,
die der Luftkneiperei schlechtweg keinen Geschmack abgewinnen können, und die
im Freien immer etwas zu thun haben müssen, wenn sie das von der Natur
gebotne genießen wollen, empfiehlt es sich allerdings, in einem leichten Kahn
über der krystallnen Flache zu schweben und sich mit den mancherlei Wechsel-
fällen einer solchen Hantirung die Zeit zu vertreiben. In dieser Hinsicht
kommt von allem, was auf dem Meere vorgenommen werden kann, für den
Fremdling nichts so in Betracht, als die Makrelenfischerei. Die Makrelenzeit
gestaltet fast das ganze Leben an der Küste um. Der Gast von Abbazia, der
sonst, wenn er auf irgend einem der finstern Lorbeerpfade dahinschritt, nur
den Kampfergeruch dieser Bäume gewohnt war, wird jetzt auf einmal von
einem wenig anmutenden Schwaden überrascht, der von gesvttnem Öl ausgeht.
Da wird eben in irgend einer der von den Baumwipfeln versteckten Hütten das
unvermeidliche Makrelengericht gebraten. Der Einheimische, den man hie
und da herumlungern zu sehn gewohnt war, ist jetzt von seinen Standorten
verschwunden. Er fischt auf Makrelen oder auf Köder, die er zu diesem
Fischfang braucht. Aber auch die deutschen Stammgäste in der berühmten
„Schweinen" des Hotels Stephanie, die sonst niemals bei ihrem Spatenbräu
oder Wiener Lagerbier fehlen, vermissen den einen und andern ihrer Genossen.
Er ist in einem Kahn aufs Meer hinausgerudert und kommt vielleicht noch
vor Schluß der Sitzung mit einem Haufen der in Regenbogenfarben schim¬
mernden Stachelflosser zurück, die selbst als Geschenk nur mit Mühe angebracht
werden können, weil allenthalben Überfluß vorhanden ist. Im Fühjahre 1892
z. B. waren diese Fische, dem Binnenländer ein Leckerbissen, an der Küste
nahezu unverkäuflich, und Hunderte von Zentnern verdarben, weil niemand
davon etwas wissen wollte. In manchem Jahre, wie 1891, werden jedoch
die Menschen um diesen Genuß gebracht. Wie zeitweilig unter den Tieren
des Festlandes oder auch unter Krebsen und andern Geschöpfen reißt da eine
Art von Seuche ein. Auch das Meer, die heilkräftige Wiege alles Lebens
und alles Gewordnen, bleibt davon nicht verschont. Man zog damals kaum
eine Makrele aus dem Wasser, in der sich nicht gewisse Entvzoen befanden.
Heuer hat man diese Beobachtung nicht mehr gemacht.
Ein andres Fischereivergnügen, dem auch die Gäste während der Früh-
lingsmonate gern obliegen, ist das Harpuniren allerlei Seegetiers, insbesondre
des mittelländischen Stockfisches (Asinello) und andrer Dorsche. Auch diese
Beschäftigung bietet anziehende Nachtbilder. Der Fackelschein erhellt das klare
Wasser bis zum Grunde hinab, und der, der vorgebeugt bei der leisen Fahrt
über den Rand der Barke schaut, späht in das geheimnisvolle Treiben auf
dem Grunde. Jäh saust die vierzackige Gabel hinab, sie hat sich in einen
Fisch eingebohrt, der, vom Glänze wie betäubt, sich dem Verfolger nicht zu
entziehen wußte. Im nächsten Augenblick liegt das Tier zappelnd auf dem
Boden der Barke. Mild weht der Seehanch, kaum hörbar plätschern winzige
Wellen am Ufer, die Fläche ist glatt, und die Fischer im blutroten Lichte der
von Harz genährten Flamme erscheinen als wunderbare Eindringlinge in dieser
Finsternis der Wasser.
Als Gegensatz hierzu mag man sich die Umgebung vorstellen, in der der
Gast, der das Meer nicht nur als Wasser-, sondern auch als Luft- und Sonnen¬
bad ausnutzen will, an einen: Sommermorgen seine Fangschnüre auswirft.
Da ist die blaue, tief aufgewühlte Fläche, über die unter sonnigem Himmel
der Maestro dahiusaust, der Schönwetterwind. Silberne Spitzen züngeln am
Ufer hinauf, draußen schwanken blendende Segel. Zwischen die Felseninseln
hat sich besonnter Nebel eingelegt, aber alles weit und breit funkelt, silber-
füßig wandelt Amphitrite, Lichtdreiecke zurücklassend, über die Meere. Trotz
Sonnenglanz schwebt die bleiche Mvndhalbkugel hoch oben im Blauen, draußen
aber, am weiten Gesichtskreis, liegt die lange Linie einer Nauchbank, die irgend
ein entschwundnes Dampfschiff gezogen hat.
le kurzsichtig sind doch die hoffentlich nur die Minderzahl aus¬
machenden Menschen, die noch immer nicht die hohe Bedeutung
des Zeitungslesers für das moderne Kulturleben voll und ganz
würdigen! Allerdings besteht zwischen Zeitung und Zeitung
ein Unterschied. Allein die öffentliche Meinung erfreut sich so
vieler auf der Höhe ihrer Mission stehenden Organe in den kleinsten wie in
den größten Städten (und Formaten), daß die Ausrede der Unkenntnis absolut
unzulässig ist. Und wenn man nicht auffallenderweise unterlassen hätte, mich
zu der berühmten und folgenreichen Schulkonferenz beizuziehen, würde ich
mich mit solcher Entschiedenheit auf die Seite der erleuchtetsten Reformatoren
unsers veralteten Unterrichtswesens gestellt haben, daß ich, wenn auf deren
äußerstem Flügel kein Platz mehr für mich gewesen wäre, mich nicht bedacht hätte,
mit dem Kopfe dnrch die Wand — der alten Vorurteile — zu rennen. Ich
würde die Ansicht zur Geltung gebracht haben, daß alle höhern Bildungsanstalten
in Fachschulen umzuwandeln seien, da das, was man allgemeine Bildung
nennt, viel rascher, bequemer und mit viel geringern Kosten aus den Tages¬
blättern gelernt werden kann. Natürlich dürfte die wichtigste Fachschule, eine
Abrichtungsanstalt für Journalisten, nicht fehlen, und ich wäre bereit, sofort
für diese einen Lehrplan auszuarbeiten. Kommen wird es zu dieser Ein¬
richtung, darauf können wir uns verlassen, und ich will mir für den Fall
nur die Priorität wahren.
So oft ich ein Zeitungsblatt der richtigen Art gelesen habe, ist mein
Gesichtskreis dermaßen erweitert, daß ich gleichzeitig meine Angen mit einem ins
Unendliche tragenden Fernrohr und mit einem das Unsichtbare sichtbar
machenden Mikroskop bewaffnet glaube. Ich erkenne die geheimsten Gedanken
aller Staatenlenker rund um die Erde; die schwierigsten, verwickeltsten An¬
gelegenheiten der Finanz- und Wirtschaftspolitik liegen klar vor meinen Blicken;
ich lose spielend den Kampf streitender Interesse»; ich urteile mit untrüglicher
Sicherheit und Schürfe über das Getriebe in Wissenschaft und Kunst; ich bin
zugegen bei einer Kabinettsberatnng und bei dem Zank zweier Weiber in der
äußersten Vorstadt, und hinter dein glücklichen Paare, das seine eheliche Ver¬
bindung anzeigt, erscheint mir mit aller Deutlichkeit die Figur des Heirats¬
vermittlers, der das Band zwischen Krotoschin und Öttingen geknüpft hat,
und nicht minder der künftige Scheidungsprozeß. Doch wer vermöchte mit die
Schätze aufzuzählen, mit denen ein einziges solches Blatt unser Wissen be¬
reichert, all die Vorstellungen, die es weckt, all die großen Gedanken, die es
anregt!
Nur einen Gedanken, einen schöpferischen, wie ich in aller Bescheidenheit
sagen darf, der mir heute aus der Zeitungslektüre aufgegangen ist. will ich
hier mitteilen und durch die Verfolgung des Wegs, auf dem ich zu ihm ge¬
kommen bin, alle Skeptiker überzeugen.
Mit Entzücken las ich die Schilderungen, welchen glänzenden Erfolg die
liebenswürdige Feindin Deutschlands, Fürstin Metternich. mit ihren rastlosen
Bemühungen hat, die schöne Zeit des zweiten Kaiserreichs, das von den
Neidern LW-Nmxirö geschimpft und von den plumpe» Händen der Deutschen
zertrümmert wurde, in Wien wieder auferstehen zu lassen: die goldne Zeit,
da echtes Gold in Rauch aufging und als Niederschlag Talmigold blieb, ganz
wie in der Zauberküche der Alchimisten! Die Nörgler von dazumal behaup¬
teten zwar, es sei ein schlechter Handel, für edles Metall eine schlechte Kom¬
position zu erwerben, doch seitdem haben wir vom Herrn Staatssekretär
von Bötticher gelernt, daß zwischen echtem und unechten: Material kein Unter¬
schied besteht. Und selbst angenommen. Talmi wäre wirklich weniger wert
als Dukatengold, und die heutige vergoldete Jugend müßte richtiger vermesfingt
genannt werden: was läge daran? Der eine Zeit lang, wie es schien, ver-
geßne Wiener Wahlspruch: „Alleweil fidel!" kommt wieder zu Ehren. Man
lebt nur einmal! VvAus ig, Mlsrö! ^prös nous 1s cleluM! Morgen wieder
instit! Die sonderbaren Schwärmer, die sich in harter Gehirnarbeit um das
Heil der Menschheit sorgen, was haben sie davon, wenn ihre Anstrengungen
fruchtlos bleiben? Enttäuschung, aufgeriebne Geistes- und Körperkräfte, viel¬
leicht Welt- und Menschenverachtung. Wer dagegen sich und andern als
Lebenszweck Spiel und Tanz und Mummenschanz setzt, der hat wenigstens,
wenn das Schifflein auf dem Sande sitzt oder am Felsen zerschellt, sein Leben
genossen, und das Bewußtsein, seine Mannschaft gut unterhalten zu haben,
erhebt ihn. Wie beschämend für alle offiziellen Stantskünftler, zu sehen, wie
jetzt im Wiener Prater höheres und tieferes Verständnis für Theater und
Musik in den Massen verbreitet und nebenher die brennendste Frage unsrer
Zeit aus der Welt geschafft wird! Wer Geld hat, verpufft es in Schauspielen
aller Art, wer keins hat, darf zusehen; „Vlnmenpromenaden" heben, wie wir
lesen, alle veralteten Schränken auf zwischen den seltensten Treibhauspflanzen
und jenen bunten Lilien, die nicht säen und nicht ernten und doch immer
jemand finden, der sie kleidet. Freiheit, Gleichheit und Schwesterlichkeit
— alles ist eins — ach du lieber Augustin!
An dies bestrickende Schauspiel einer in sorg- und gedankenloser Lustig¬
keit geeinten glücklichen Bevölkerung reiht sich ungezwungen die Betrachtung,
daß gegenwärtig alles Große aus freien Vereinigungen hervorgeht. Nicht
am grünen Tische, nicht in den Verbänden sogenannter Fachmänner wird der
Fortschritt gefördert. Genug mit den Kongressen der Staatsmänner und der
Gelehrten! Die einen schmieden geheime Protokolle, die andern streiten über
Spitzfindigkeiten, die den Gebildeten völlig gleichgiltig, meistens sogar unver¬
ständlich sind. Wie anders die freien Vereinigungen, die nicht erst pedantisch
fragen, ob einer etwas von der Sache versteht oder nicht, sondern jeden frisch,
frei und fröhlich seinen Kohl zu Markte bringen lassen! Alle Völker seufzen
unter der Last des bewaffneten Friedens und der Angst, daß ihm jeden Tag
durch einen fröhlichen Krieg ein Ende gemacht werden könne, alle Minister,
Diplomaten, Generale und Politiker von Fach zerbrechen sich deswegen den
Kopf, die Herrscher machen sich persönlich auf die Reise, um das schwarze
Gespenst in seinem unbekannten Schlupfwinkel aufzuspüren und zu bannen,
und alles das nützt keinen Pfifferling. Aber eine freie Vereinigung beschließt,
daß von nun an Friede herrschen soll, die Präsidentin, wieder eine Wienerin
— diesmal nicht die Fürstin Metternich —, schreibt einen Roman, in dem
die allgemeine Entwaffnung dekretirt wird, und — alles ist in Ordnung. Alte
Leute erinnern sich noch, daß nach 1848 dieselben Bestrebungen auftraten
und gewiß zum Ziele geführt hätten, wenn nicht der alte Friedensstörer, die
Türkei, darauf versessen gewesen wäre, mit den arglosen Russen anzubinden,
wenn nicht Österreich den Friedenskaiser so lange gereizt hätte, bis er
blutenden Herzens zum Schwerte greifen mußte u. f. w. Heute bedrohen
einzig die Deutschen alle ihre Nachbarn. Sie wollen durchaus Dänemark, die
Niederlande und die Schweiz unterjochen, Frankreich zertrümmern, sich die
englische Flotte aneignen und deu Russen die bulgarische Verfassung auf-
nötigen, und wer weiß, was sie noch im Schilde führen! Aber nun Frnu
von Suttner kommandirt hat: „Die Waffen nieder!" müssen sie knirschend
gehorchen, und die Welt kann aufatmen.
Ferner: die Knechtung des jüdischen Stammes schreit gen Himmel. Nur
ausnahmsweise wird ein Jude auf einen Ministerposten berufen, und einen
jüdischen Feldmarschall giebt es nicht; ein befähigter Christ wird ohne Scheu
jedem jüdischen Dummkopf vorgezogen, und an christlichen Festtagen wird die
Börse geschlossen; in Ägypten durften die Juden doch wenigstens Ziegel
streichen, bei uns aber verwehrt man ihnen jede schwere Arbeit, sodaß ihnen
in ihrer Verzweiflung nichts übrig bleibt, als Zeitungen herauszugeben oder
Koupons abzuschneiden. Die Regierungen hatten kein Auge für diese, das
schwärzeste Mittelalter noch übcrdunkeluden Zustände, und schon mußte man
einen allgemeinen Auszug der Kinder Israel, etwa nach Rußland, befürchten:
da trat wiederum eine freie Vereinigung edeldenkender Männer als rettender
Engel auf, und die größte Gefahr ist beseitigt.
Durch solche Erwägungen war ich in die richtige Stimmung versetzt, als
aus Rom die Kunde kam, Held Jmbriaui, der doch vermöge seines Abgeord¬
netenmandates „ehrenwert" ist, sei ohne alle Ehrerbietung hinausgeworfen
worden, nur wegen eines Ausbruches seines glühenden Patriotismus, der doch
nach Friedrich Wilhelm IV. selbst in seineu Übertreibungen noch schön und herz-
erwärmeud bleibt. Der Borfall erschütterte mich, aber zugleich blitzte in mir ein
großer Gedanke auf. Die Gewalt ist nirgends in den rechten Händen, auch freige¬
wählte Parlamente, wie das italienische, unterbrechen ihre segensreiche Thätig¬
keit des Ministerstürzeus, um der Tyrannei Schergendienste zu leisten. Wie
ist diesem schmachvollen Zustande abzuhelfen? Ganz einfach durch Bildung
eines aus der Blüte der freien Politiker beider Hemisphären zusammengesetzten
Weltarevpags, der allein Gesetze zu geben, über Finanzen und Armeen zu ver¬
fügen hätte! Denken wir uns eine Versammlung, zu der Jmbriani aus Rom,
Paul aus Cassagnac, Henri Rochefort, Waschaty aus Wien, Jstvezy ans Pest,
Fürst Krapotkin aus Nußland, die bewährtesten Freiheitsmüuuer aus Kroatien,
Montenegro, den Balkanstaaten und sämtlichen Republiken Amerikas gehörten,
und wir müssen uns sagen, daß dann, aber auch uur dann Freiheit, Friede
und Glückseligkeit auf der ganzen Erde herrschen würden. Aus Deutschland
dürften vor allen Eugen Richter und Bamberger nicht fehlen. So oft ich
das Glück habe, einen dieser beiden großen Männer zu sehen und zu hören,
klingen mir die Worte Titanias im Sommernachtstraum in den Ohren: „Du
bist so weise, wie du reizend bist," und auch die gewissen Fußtritte, die sie
dem Löwen, den sie nicht mehr zu fürchten brauchen, erteilen, stehen mit dein
durch das Zitat aus Shakespeare heraufbeschworen Bilde nicht in Widerspruch.
Und zwar bin ich stets geneigt, dem, der gerade spricht, die Palme der Weis¬
heit und der Schönheit zu reichen. In einem Punkte freilich schien der große
Richter dein großen Bcnnberger überlegen zu sein: er war der eigentliche
Überwinder des Aberglaubens, daß sich ein alter Mann im Sachsenwnlde vor
langen Jahren einige unbedeutende Verdienste um das deutsche Volk erworben
habe (denn Mosse und die Propheten Barth, Rickert, Habakuk, Zephanja,
Virchow u. s. w. wiederholen nur, was sie von ihrem großen Baal gehört
haben), doch seitdem Vamberger in Atzel die verbrecherischen Anschläge, die
ihm Bismarck wohl in einer schwachen Stunde anvertraut haben muß, mit
edelm Mannesmute enthüllt hat, könnte Engen auf Ludwig eifersüchtig werden.
Auch Herr Tutzauer und andre seiner Art würden dieser allerhöchsten Behörde
zur Zierde gereichen, die, um ganz unabhängig zu sein, das Kooptationsrecht
haben müßte. Der Befürchtung, daß auch da wieder nur Reden gehalten
werden könnten, dürfen wir uns entschlagen, da verschiedne von den Genannten
und Ungenannten gewiß nicht zögern würden, mit einem „Der Worte find
genug gewechselt!" zu eindringlicherer Beweisführung überzugehen. Sollte
man aber als Gegengewicht gegen das Haus der Feuerköpfe eine erste Kammer
der Nocheinsichtigern und Vedächtigern für nötig halten, so weiß ich auch
dafür Rat. Man beriefe nicht ein Herren-, sondern ein Damenhaus! Daß die
Damen Metternich und Suttner abwechselnd das Präsidium führen müßten,
scheint mir selbstverständlich. Außerdem drängen sich Wohl jedem die Namen
Lina Morgenstern, Jda Kettler, Louise Michel, Jnliette Lambert, Sarah Bern¬
hardt auf die Lippen, und daß es auch sonst nicht an geeigneten Senatorinnen
mangeln würde, dafür bürgen die zahllosen Bereine, die sich der Einbürgerung
der Mieder am Kongo, der Gründung von Ferienkolonien für blutarme Mai¬
käfer und ähnlichen humanen Bestrebungen widmen.
Ob der Gedanke bald zur That werden wird? Vielleicht ist er dafür zu
schön. Aber erwärmt sich jetzt auch nur eine kleine Gemeinde für ihn — und
warum sollte einzig und allein dieser kühne Gedanke keine Anhänger ge¬
winnen? —, so wird sie sich allmählich schon erweitern, lawinenhaft wird die
Bewegung fortschreitend anwachsen, alles mit sich fortreißen, das Widerstrebende
vernichten. Dann wird die befreite Menschheit einstimmig beschließen, dem
Vater der Idee ein Weltdcnkmal zu errichten, etwa ein Standbild, das mit
dem einen Fuße auf europäischem, mit dem andern auf amerikanischen Boden
ruhte. Aber davon hätte er möglicherweise nichts mehr, weshalb er sich be¬
scheiden mit einem baren Jnternativnaldnnk bei Lebzeiten begnügen möchte.
haben den Versuch gemacht, unsre
Bemerkungen über ihre schiefe Stellung zu Deutschland und Frankreich soviel wie
möglich zu verdrehen und das Unangenehme, was wir ihnen zu sagen hatten, tot¬
zuschweigen. Auf Herrn Secrotcm in Lausanne werden wir zurückkommen, aber
nicht um elsaß-lothringische Angelegenheiten mit ihm zu diskutiren; denn das thun
wir unter uns. Heute möchten wir nur auf den merkwürdigen Zufall aufmerksam
machen, daß in derselben Woche, in der unsre motivirte Ablehnung der „neutralen"
Ratschläge der LiKliotbLlZus vuivsrssllö und der 6a,Mtw as I^usnuus in die Welt
ging, wieder zwei von diesen neutralen Schweizern wegen deutschfeindlicher Hal¬
tung aus dem Elsaß ausgewiesen werden mußten- ein Herr G. in Mnrkirch,
Beamter einer Fabrik, der es für passend hielt, an einer unmittelbar an der Grenze
veranstalteten Demonstration mit Vivs I» ^r-uros- und Vivo In, RuWioRufeu
— die letztern besonders hübsch von einem Schweizer! — u. s. w. teilzunehmen, und
ein andrer Herr G. in Mülhausen, Wcinreisender, der öffentlich damit prahlte,
daß er allein es wage, seiner Abneigung gegen Deutschland selbst deutschen Be¬
amten gegenüber Ausdruck zu geben, und der außerdem als Vertreter einer der
ersten Mülhnuser Weinhandlungen ein ganz erkleckliches Agitationstalent verwertete,
um die Bevölkerung gegen deutsche Herrschaft und deutsches Wesen aufzureizen.
„Es war geboten, solchem Treiben ein Ende zu setzen," heißt es in einer halb¬
amtlichen Mitteilung; es war längst geboten, müssen wir hinzufüge», den
Schweizern im Reichslande ihre Pflicht als Gaste auf deutschen Boden in die
Erinnerung zu rufen, so wie wir kürzlich der Presse der französischen Schweiz die
ihre in Erinnerung gebracht habe«.
Die nachfolgenden Erwägungen waren schon nieder¬
geschrieben, als die Zeitungen die Unterredung des Fürsten Bismarck mit einem
Wiener Journalisten und andre Äußerungen des Fürsten über unser Verhältnis zu
Rußland brachten. Wir unterdrücke» sie trotz des Gegensatzes nicht, der aus ihnen
zu diese» Äußerungen hervortritt, weil sie im Zusammenhange mit volkswirtschaft¬
lichen Anschauungen stehen, die in diesen Blättern wiederholt vertreten worden sind.
Die vorjährige Mißernte im östlichen Nachbarreichc hat den wcltgeschichlichen
Wendepunkt, vor dem wir stehen, den Augen so nahe gerückt, daß der mit Blindheit
geschlagen sein müßte, der ihn nicht deutlich zu erkennen vermöchte. Nach den
unverdächtigen Schilderungen russischer Patrioten, die in den letzten Jahren zu
uns herübergedruugeu siud, kann gar kein Zweifel mehr daran bestehen, daß es
mit der vielbesprochnen Verlumpunq des russischen Adels und Bauernstandes
seine Nichtigkeit hat. Durch die Aufhebung der Leibeigenschaft ist jener, durch ein
unzweckmäßiges Ablösungs- und Steuersystem, sowie dnrch den Wucher ist dieser
zu Grunde gerichtet worden, und wenn ein tüchtiges Volt die Schwierigkeiten viel¬
leicht überwunden hätte, so war bei den schlappen, dem Branntwein ergebner
Russen, die im Jahre zweihundert Feiertage begehen, nicht daran zu denken. Die
Hungersnot hat min nicht allein die wirtschaftliche Schwindsucht zur galoppirenden
gesteigert, sondern wird jedenfalls eine ganze Reihe weiterer Hungersnöte erzengen,
der Hunger wird zum chronischen Leiden werden, ans dem sich das russische Volk aus
eigner Kraft kann, wird herausarbeiten können. Denn die Bauern der heimgesuchten
Provinzen haben, so weit sie sich überhaupt noch im Besitz befinden, ihr Vieh und den
Rest ihrer Energie eingebüßt, und das von der Regierung gelieferte Saatgetreide hat
nicht hingereicht. Unter anderm widmet auch der „Vorwärts" diesem Zustande
Rußlands eine Artikelreihe, die selbstverständlich nach der sozialdemokratischen
Schablone zugeschnitten ist und zu zeigen versucht, wie dieses Land im Begriff
stehe, die Geschicke des Kapitalismus zu vollenden. Der ganze Bauernstand werde
depossedirt werden und teils der Fabriksklaverei verfallen, teils als Landarbeiter¬
schaft die nun entstehenden Latifundien im Dienste neuer Herren ans dem Kapi¬
talistenstande bewirtschaften. So werde jetzt auch in Rußland dem Kapitalismus
sei» Weizen blühen, zugleich aber auch die internationale Sozialdemokratie um den
größten Teil des russischen Volks verstärkt und hierdurch der Sieg beschleunigt
werden. Diese Perspektive, die wir für verfehlt halten, interessirt uns weiter nicht,
dafür aber etwas andres um so mehr. Der „Vorwärts" führt u. a. die wahr¬
scheinlich richtige Thatsache an, daß Rußland bisher mehr als die Hälfte der
Getreideznfnhr geliefert habe, deren die europäischen Industriestaaten bedürfen.
Nun überlege man! Schon hat, abgesehen von der eben angedeuteten Mißwirt¬
schaft, ein heilloser Raubbau verbunden mit unsinniger Waldverwüstung die russische
Getreideproduktion vermindert; von allen Seiten her wird es bezeugt, daß die Flüsse
austrocknen, und in den ehedem, fruchtbarste» Provinzen der Humus verschwindet.
Wir haben also folgende Lage. Im Westen Europas stoßen einander, in angstvolle
Enge eingekeilt, dritthnlbhnndert Millionen Menschen, die Geist genug haben,
ein paar hunderttausend Quadratmeilen Ödland in ein Paradies zu verwandeln.
Im Osten hungern einhundert Millionen Menschen, verstreut über eine Fläche, die
so groß ist wie das ganze übrige Europa, und lassen den fruchtbarsten Boden
veröden. Wem gehören nun eigentlich diese sechstehalb Millionen Quadratkilometer
russischen Bodens? Sind sie den herrschenden Mächten bis zum jüngsten Tage
verschrieben? Oder gehören sie der spitzbübischen russischen Bureaukratie? Oder
den Wucherer», die deu Bauer vou Haus und Hof jagen, nachdem sie ihn so voll¬
ständig ausgepreßt haben, daß er keinen Zins mehr herauszuarbeiten vermag?
Alles positive Eigentumsrecht wird Unrecht und Unsinn, sobald es seinen Zweck,
die Erhaltung des Menschengeschlechts, nicht mehr erfüllt, sondern selbst vereitelt.
Nicht die Erhaltung des Friedens kann das Endziel der europäischen Staats¬
weisheit sein, eiues Friedens, der die Völker mit Steuern erdrückt und die Sol¬
daten zu einem unausgesetzten Drill verurteilt, der zehnmal anstrengender ist, als
ers vor dreißig Jahren war, und die absolut vollkommne Waffe für den Krieg
schaffen und scharf halten soll, damit nnr kein Krieg aufbreche; sondern das nächste
Ziel der europäischen Staatskunst kann nur sein, die Macht, über die sie verfügt,
dazu zu verwenden, daß sie das Leben der europäischen Völker wieder auf eine
breitere, auf eine gesunde Grundlage stellt, die unnatürliche Verteilung von Geist
und Boden ausgleicht, dem verkümmernder Geiste wieder Boden als geräumige
Werkstatt, dem verwahrlosten Boden wieder befruchtenden Geist meent und so
gleichzeitig der Not der Russen wie der westlichen Jndustrievvlker abhilft.
Die Revanchelust der Franzosen ist bei den Verständigem nur Maske der
Furcht. Sie wissen, daß ihre Volkszahl stehen bleibt, während die Deutschlands
stetig wächst und die Grenzen zu überfluten droht.") Sie fürchten, das gewaltige
Nachbarreich werde nach Westen überschäumen in einem Ervberungs- und Beute¬
züge. Könnten sie sich überzeugen, daß Deutschland gar nicht daran denkt, sich
westwärts auszubreiten, sondern daß sein Sinn nach Osten steht, so würden sie sich
wohl hüten, bei einer Aktion Deutschlands und Österreichs zur Öffnung der russischen
Grenze eine für sie selbst so vorteilhafte Entwicklung durch unverständige Einmischung
zu hindern. Denn abgesehen davon, daß Frankreich durch unsre Ausdehnung nach
Osten für immer von jeder Gefahr und Furcht befreit würde, hatte es von der
vermehrten Zahl wohlhabender Grundbesitzer reichlichern Absatz seiner Luxuswaren
zu hoffen. Mit der Ausdehnung uach Osten meinen wir keineswegs die Eroberung
russischer Provinzen. Es gälte nnr die Beseitigung aller russischen Zölle und volle
Eiuwaudernngsfreiheit sür uns zu erzwingen. Die weitere politische Gestaltung
des Niesenreichs bliebe dem natürlichen Lauf der Dinge überlassen, sowie der
Thatkraft und Klugheit der Deutschen, die als Fabrikanten, Kaufleute, Gutskäufer,
Gutspächter, Lehrer u. s. w. einwandern würden.
In einem Wochenblatt fanden wir kürzlich wieder einmal den Gedanken aus¬
geführt, daß England unser schlimmerer Feind und Rußland als Gegengewicht
gegen das Inselreich gut zu gebrauche» sei. Das mag früher wahr gewesen sein,
aber heute paßt es nicht mehr. Zu fürchten haben wir keine der beiden Mächte.
Rußland nicht, denn wer sich selbst nicht zu helfen weiß, wie konnte der einem
mächtigen Nachbar furchtbar sein? Die Engländer nicht, obwohl sie klüger, geld¬
mächtiger, bösartiger als die Russen und als Bamphre jederzeit begierig sind,
irgend ein Opfer auszusaugen. Denn die englische Konkurrenz könnte uns nicht
mehr schaden, wenn unsre Industrie nicht mehr auf deu Auslandsmarkt angewiesen
wäre, weil sie bei einem reichen Volk inländischer Bauern und durch Vertrag an
Deutschland gebundner Kolonisten Absatz fände. So weit wir noch auswärtige
Abnehmer brauchten, wären uns deren genug am Balkan und in der Levante ge¬
sichert, von welche» Ländern wir die Engländer auszuschließen vermöchten, wenn
wir im Verein mit Österreich über das südliche Nußland geböten. Das indische
Reich, dessen Geschicke uns übrigens nicht unmittelbar berühren, ist mit seiner Aus¬
dehnung längst an seinen natürlichen Grenzen angelangt und sangt überdies an,
dem Mutterlande Verlegenheiten zu bereiten.
So stehn die Dinge jetzt; so werden sie wohl noch eine Weile stehn. Aber
wird in Zukunft die Lage noch gleich günstig für uns sein, d. h. vor allem unsre
Volkskraft noch ungebrochen dastehn? ' Wie groß die Zahl der Dienstuntauglichen
in den Industriebezirken jetzt schon ist, ob sie zu- oder abnimmt und in welchem
Grade sie zunimmt, das wird man ja im Kriegsministerium wohl wissen. Und
ob nicht am Ende anch das Landvolk schon hie und da zu verkümmern anfängt?
Im Jahresbericht der deutschen Gewerberäte für 1891 schreibt der Königsbergs
Gewerberat Sack: „Ich habe Tagelöhner gesprochen, die behaupteten, seit Monaten
nur minderwertige Kartoffeln genossen zu haben, Fleisch überhaupt nicht, und Brot
nur um Sonntagen. Man konnte die Bestätigung ihrer Aussagen in ihrem Aus¬
sehn und in ihrer schlaffen Körperhaltung finden." Ans solchen Zuständen blickt
uns ein drohendes Gespenst entgegen!
Der vorläufige Friedens¬
schluß zwischen den Durhamer Bergwerksbesitzern und ihren Arbeitern ladet zu
einem kurzen Rückblick auf den Riesenstreik ein. Die volle Wahrheit zu ermitteln
ist sehr schwierig, weil sich die großen Zeitungen über wichtige soziale Erscheinungen
gruudsntzlich nicht den zehnten Teil so viel berichten lassen, wie über einen durch-
gebrannten Kassierer oder eine Mordthat. Anfänglich verlautete, die Bergleute
hätten den Aufstand im Einvernehmen mit den Grubenbesitzern oder gnr ans deren
Anstiften eingefädelt, weil die Erhöhung der Kohlenpreise, die dadurch bewirkt werden
sollte, für beide Teile in gleichem Maße eine Lebensfrage sei. Das scheint auch in
der That der Fall gewesen zu sein, und nur die Hartnäckigkeit der Durhmner, die
noch drei Monate lang feierten, nachdem die übrigen die Arbeit mit verkürzter
Förderzeit wieder aufgenommen hatten, mag bei der Verabredung nicht vorgesehen
gewesen sein. Die Lawi-ela^ Loviow wußte von diesem Einverständnis nichts, oder
stellte sich vielleicht auch nur so, als wüßte sie nichts. In der Nummer vom
5. März redete sie den Bergleuten ab, natürlich in der ausgesprochenen Erwartung,
daß sie tauben Ohren predigen werde. Sie meinte, die ^säerativu gleiche einem
Manne, der, um wärmer Wetter zu schaffen, seinen Thermometer in heißes Wasser
stecke. Wenn die Bergleute den Arbeitslohn von zwei Wochen, ja auch nur von
einer Woche verlöre», so sei das schon ein ernstliches Unglück für sie und so
schlimm, als wenn sie sich den Rest des Jahres hindurch eine kleine Lohnreduktion
gefallen lassen müßten. Wie sehr die gesamte Arbeiterschaft unter einer auch nur
vorübergehenden Verteuerung der Heizkohlen leiden müßte, sei offenkundig und
jedermann klar. Zudem würden zahlreiche Bahnarbeiter entlassen, Fabriken und
Eisenwerke geschlossen, Hochöfen ausgeblasen werden, der Exporthandel samt den
darin beschäftigten Matrosen und Dvckarbeitcrn würden es schwer empfinden. Der
allgemeine Stillstand der Industrie werde die Nachfrage nach Kohlen vermindern,
und so würden die unseligen Folgen des Streiks am schwersten auf die Bergarbeiter
selbst zurückfallen. Sie hätten sich durch den Erfolg eines Streiks täuschen lassen,
der vor einigen Jahren, und zwar erwiesenermaßen ans Wunsch der Grubenbesitzer,
unternommen worden war. Damals seien Industrie und Verkehr gerade in einem
Aufschwung begriffen gewesen und habe demnach die Spekulation auf dauernde
Preiserhöhung gelingen müssen; heute, bei flauem Geschäftsgang und fallenden
Preisen, könne der Aufstand die Lage nur verschlimmern. Die Vorhersagung hat
sich erfüllt, das Elend der betroffnen Arbeiterklassen soll unbeschreiblich sein; Einzel¬
heiten mitzuteilen, dürfen die Zeitungen aus bekannten Gründen nicht wagen.
Die Auslassungen der englischen Wochenschrift und der Eintritt der voraus¬
gesagten Folgen sind in mehrfacher Beziehung beachtenswert. Gewisse Leute wollen
uns einreden, der Zerfall der englischen Gesellschaft in die Klasse der obern Zehn¬
tausend und in ein elendes Proletariat sei eine Lügenmär, und schildern den Wohl¬
stand, in dem der neue industrielle Mittelstand Englands schweige, in den verlockendsten
Farben. Dieser angebliche Mittelstand besteht nun einerseits aus deu Angestellten der
Großhändler und Fabrikanten, und deren Lage kann weder glänzend noch aussichtsvoll
noch sicher sein, wenn, wie die große Wochenschrift fast in jeder Nummer klagt, die
Geschäfte allgemein schlecht gehen, und Wenn schon ein Kohlenstreik viele solche Leute
mit dem Verlust ihrer Stellen bedroht. Jener Mittelstand besteht ferner aus den
qnalifizirtcn Arbeitern, und zu denen gehören die Grubenarbeiter, und zwar, wie
allgemein anerkannt wird, zu den besser gestellte». Wenn nnn aber, wie die Laturclay
Revicnv, und zwar doch gewiß nicht ohne Sachkenntnis schreibt, der Verlust eines
Wochenlvhnes sorious sür sie ist, so sind sie einfach Proletarier, und man ist gar
nicht berechtigt, von einem aus Arbeitern bestehenden Mittelstande zu sprechen. Mög¬
lich, daß diese Leute bei gut gehendem Geschäft so gut oder besser leben, als bei uns
ein Bauer, oder gut gestellter Handwerker, oder kleiner Kaufmann, oder Gym¬
nasiallehrer; aber wenn einen solchen Arbeiter der Ausfall eines Wochenlohns
ernsthaft schädigt und wegen allgemein elenden Geschäftsganges seine ganze Existenz
unsicher ist, so gehört er nach unsern Begriffen nicht zum Mittelstände. Auch daß
schon eine vorübergehende Kohlenteuerung der „arbeitenden Klasse" schmerzliche
Leiden aufzuerlegen droht, läßt den angeblichen Wohlstand der englischen Arbeiter
in sehr zweifelhaftem Lichte erscheinen. Wer sollte sich auch darüber wundern!
Quillt ja doch Englands Einkommen nicht aus dem vaterländischen Boden, sondern
aus einem Handel und einer Industrie, die von der stetig wachsenden Konkurrenz
täglich mehr bedrängt werden, und aus papiernen Kapitalansprüchen, die, in bessern
Tagen aufgehäuft, allmählich teils zusammenschmelzen teils wertlos werden. Die
bisher angestellten schwächlichen Versuche, dem Nationalwohlstand dnrch innere
Kolonisation seine natürliche Grundlage zurückzugeben, haben nichts gefruchtet, und
auch der jetzt vom Ackerbauminister Chaplin dein Unterhause vorgelegte Gesetz¬
entwurf wird trotz der bedeutenden Mittel, die er für die Begründung von sirmll
bolclinM (Wirtschaften von einem bis zwanzig Acres) fordert, von der Lawrctg^
Lsvie^v spöttisch als harmlos bezeichnet. Und dabei schreiten die fünf Millionen der
Hauptstadt rüstig der Kommune entgegen! Trotzdem daß der abgetretene radikale
Grasschaftsrat Londons von den Torys mit unsäglicher Verachtung als eine ganz
unmögliche Gesellschaft hirnverbrannter Phantasten behandelt worden und bei der
Wahlagitation den Steuerzahlern Tag für Tag vorgepredigt worden ist, sie könnten
unmöglich so dnnun sein, sich nochmals ans drei Jahre eine solche Rute aufzubinden,
haben die Radikalen, oder wie sie sich jetzt nennen, die Fortschrittler bei der Wahl
am 5. März mit einer noch größeren Mehrheit gesiegt als das vvrigemal, und auch
der bekannte Arbeiterführer John Burns befindet sich unter den Gewählten. Dieser
hat nun kürzlich im MnswöiM «üvutui? die Pariser Kommune als sein Ideal be¬
zeichnet, und wenn den Londoner Gemeiudefortschrittlern die Durchführung ihres
Programms: Hohe Besteuerung der Landlords und Kvmmnnalisirnng der Polizei
gelingt, denn sind sie ja auch nicht mehr weit davon. In der Woche vor Pfingsten
haben sie einen Beschluß durchgesetzt, wonach bei Arbeitsverträgen der Arbeiter
die Höhe des Lohnes zu bestimmen hat.
Um nochmals auf die Kohlenfrage zurückzukommen, so tritt in ihr wieder
recht schroff das Endergebnis der kapitalistischen Wirtschaft^ hervor: die Kohlen-
vrvdnzenten gehn zu Grunde, weil es zuviel Kohlen giebt, und sollen sie durchkommen,
dann muß der Kvhlenvvrrat erst soweit vermindert werden, bis die armen Leute
erfrieren und die Industrie stillsteht. Es ist ja überall dieselbe Leier: der Land¬
wirt kann nnr bestehen, wenn die Städter hungern, der Leinwandfnbrikant nnr,
wenn die Leute ohne Hemden herumlaufen n. f. w., und wie gute Zeiten, so sind
reiche Vorräte von Brennmaterialien, Kleidungsstücken u. s. w. das größte Unglück.
Von dieser Tollheit kann man unmöglich sagen : es war immer so, denn noch am
Anfange unsers Jahrhunderts sind gute Ernten und reiche Vorräte andrer Güter
für das gehalten worden, was sie wirklich sind, für Reichtum und für einen Segen.
Hier, ihr Herrn Professoren, liegt eine Aufgabe vor, durch deren Lösung ihr euch
unsterblichen Ruhm erwerben könnt! Befreit die Völker von diesem verrückten und
lächerlichen Widerspruche, aus dieser Tantaluslage, desto mehr entbehren zu müssen,
je größere Reichtümer sie aufhäufen! Damit läßt sich mehr Ehre einlegen, als mit
dem Liedlein vom Pfaffen und Junker und der Reaktion, das der liberale Star¬
matz seit hundert Jahren auswendig Pfeife.
Seit es eine öffentliche Meinung, ein geistiges
Leben der Gesamtheit giebt, giebt es auch jene gefährlichen, unheimlichen, schwer
zu besiegenden Mächte, die „Schlagwörter." Es ist entsetzlich, welchen Einfluß sie
auf das öffentliche Leben nnsüben, und es ist ein trauriges Zeichen, daß fie es
können. Wie Blitze durchzucken fie die Luft; aber sie wirken nicht reinigend und
belebend, sondern verdampfend und erstickend.
In der christlichen Welt, der gebildeten wie der ungebildeten, der kirchlich
interessirten wie der kirchlich gleichgiltigen, verdrehen besonders zwei Schlagwörter
die Köpfe der nicht selbständig urteilenden Mehrheit: gläubig und ungläubig. Im
Kampfe der Parteien werden fie wie unheilvolle Torpedos gebraucht, die uuter
günstigen Bedingungen ihre Sprengkraft bethätigen. Was bedeuten aber eigentlich
diese Wörter, und in welchem Sinne werden sie verwandt? Gläubig nennt das Neue
Testament und die christliche Gemeinde den Christen, der sich voll Vertrauen Gott
hingiebt, wie ein Kind sich rückhaltlos seinem Vater anvertraut. Ungläubig ist der,
dem dies Vertrauen mangelt, der diese Hingebung nicht hat. Und in welchem Sinne
gebraucht man diese Wörter heute im Parteikämpfe? Gläubig rühmt man den
Christen, namentlich den Theologen, der die kirchlichen Symbole unbedingt als
ewig giltige Wahrheit hinnimmt, ohne diesen Anspruch auf dauernde Giltigkeit
kritisch zu prüfen und zu bezweifeln, kurz den, der bekenntnistreu ist. Ungläubig
schilt man den, der in freiem, nicht dogmatisch gebunduem Forschen die Bekennt¬
nisse kritisch betrachtet und ihre Unwandelbarkeit bezweifelt. Man sieht, welch
großer Unterschied zwischen der eigentlichen Bedeutung dieser Wörter und der heute
üblichen besteht! Die ursprüngliche, die evangelische, urprotestantische Bedeutung,
die auch in der heutigen protestantischen Theologie noch gebräuchlich ist, liegt auf
dem Gebiete der Praxis, während man sie im Parteistreit stillschweigend umdeutet
und auf das theoretische Gebiet verlegt. Solche stille Änderung der Bedeutung
dieser religiösen Grundwörter kommt einem Betrüge gleich, und ihre Anwendung
in diesem veränderten Sinn bedeutet eine Verleumdung.
Es ist merkwürdig, wie eine bestimmte Richtung unsrer heutigen Theologie
für sich den Anspruch erhebt, alleinige Inhaberin der Wahrheit zu sein uur des¬
halb, weil sie auf demselben Standpunkte zu stehen glaubt, auf dem die Refor¬
matoren standen. Es ist nicht schwer, nachzuweisen, daß der Standpunkt der
Reformatoren im Prinzip, und nicht nur im Prinzip, ein völlig andrer war als
der dieser Richtung. Die Reformatoren reformirten, gingen auf das Wesen des
Christentums zurück und suchten das seinem Wesen widersprechende oder das Un¬
wesentliche zu beseitigen; jene Richtung ist eine Gegnerin des Reformirens, fie faßt
die Reformation mit wenig geschichtlichem Sinn auf als eine einmalige That, die
sofort ihren völligen Abschluß gefunden habe, und deren Ergebnisse ein für alle¬
mal feststehend und bindend seien und jede Weiterentwicklung und Wiederholung
ausschlossen. Es mangelt ihr an einer geschichtlichen Auffassung der Reformation
wie des Christentums. Von der falschen, nnevaiigelischen, erzkntholischen Meinung
ausgehend, daß die Wissenschaft die Religion gefährde, sieht sie das Christentum
bedroht, wenn ernste Forscher nach dem Wesen des Christentums fragen und mit
geschichtlichem Weitblick eine von Vorurteilen freiere Auffassung von ihm und seiner
Entwicklung, von der Reformation und ihrer Bedeutung, von Dogma und Be¬
kenntnis bekommen, wenn sie das Wesentliche vom Unwesentlichen sondern wollen,
wenn sie zeigen, daß alles eine zeitliche Form hat, die die Zeit auch wieder zer¬
brechen kann, sobald sie nicht mehr genügt, den Inhalt zu fassen. Einen solchen
Mann beehrt man dann mit dem Namen ungläubig. Man thut, als ob er Gott
nicht als nater betrachte, als ob er sich ihm nicht hingebe, kurz, als ob er Gott
nicht anerkenne. Ist das nicht Verleumdung? Ja, wenn man ihn wenigstens
noch „Ketzer" nennte! Dazu hat man freilich auch kein Recht; aber dieser
Ausdruck liegt doch wenigstens auf dem hier in Frage kommenden Gebiet, dem
theoretischen.
Es wird endlich Zeit, sich darauf zu besinnen, ob ein solch leichtsinniger Ge¬
brauch dieser Wörter, durch den sie zu Schlagwörtern gestempelt werden, die
Mißverständnis erzengen müssen, christlich ist! Den Menschen, der vom Christen¬
tum nichts wissen will, der am besten ohne Gott zu leben glaubt, der gottlos ist,
nennt man ungläubig, und ungläubig nenut mau in demselben Atem den, der aus
Liebe zum Christentum sein tiefstes Wesen zu ergründen strebt, der Gott sucht
und seinen verlangenden Geist die Schränken der Erkenntnis der Väter übersteigen
läßt, weil er sich bewußt ist, daß sich die Menschheit der Wahrheit nur schritt¬
weise nähert, weil er weiß, daß jede Zeit die Aufgabe hat, die Probleme des
Lebens immer wieder von neuem zu erforsche», weil er die Pflicht des Menschen
erkannt hat, alle Kräfte, hier die Geisteskräfte, die in ihm liegen, nicht zu ersticken
und zu hemmen, sondern auszubilden und zu bethätigen. Und die, die diesen
hohen Beruf des Menschen und jeder sittlichen Gemeinschaft, vor allem der Kirche,
erkannt haben, nennt man in traurigen Unverstand oder in trägem Aberglauben
ungläubig! Man sollte doch endlich einsehen, daß das Christentum nicht Lehre,
sondern Leben ist im höchsten Sinne des Wortes. Sonst nützt uns die Reforma¬
tion, auf die man sich so gern beruft, wirklich nichts. Wodurch unterscheiden wir
uns dann noch wesentlich von der toten Formelreligion und dem geistlosen Schwören
auf den Buchstaben, das wir dem Katholizismus vorwerfen? Ist man denn immer
noch nicht zu der Freiheit von der Form gelangt? Was ist das Wesentliche,
Form oder Inhalt?
Man lasse den Geist herrschen, man kämpfe auch mit Geisteswaffen, man
widerlege sachlich, man drohe nicht mit dem ^mtlrsum sit! Im Kampfe der
Geister, nicht der Parteien, mit sachlichen Gründen, nicht mit Schlagwörtern, wird
die Erkenntnis der Wahrheit gefördert; ein solcher Kampf um die Wahrheit, ein
solch wissenschaftliches Ringen nach der Erkenntnis kann auch die Kirche nur för¬
dern, ja ist sogar notwendig, um die Kirche lebensfähig zu erhalten, während der
unerquickliche Kampf um die Macht, das starre Festhalten am Gegebnen, als sei
es nicht ein geschichtlich Gewordnes, die Heilighaltung des Buchstabens das Salz
der Kirche verdummen und sie an der Erfüllung ihrer Aufgaben hindern muß.
Zu dem Aufsatze „Noch¬
mals die Reform des ReiclMagswnhlrechts" in Ur. 26 der Grenzboten kann ich die
Bemerkung nicht unterdrücken, daß mir die Ansicht, die Persönlichkeit sozialdemo¬
kratischer Kandidaten sei Nebensache, doch nicht richtig zu sein scheint. Ich weiß
freilich nicht, welche Verdienste etwa der (wenn ich nicht irre) Zigarrenarbeiter
und Genosse Schmalfeld aufzuweisen hat — auf jeden Fall sind sie in unsern Augen
von Quentchensgewicht im Vergleich zu den zentnerschweren Thaten des Mit¬
begründers unsrer deutschen Einheit —, ich weiß auch nicht, welche Gründe die
Parteileitung bewogen haben mögen, in dem Wahlkreise Geestemünde gerade diesen
Kandidaten als Bismarcks Gegner vorzuziehen. Es scheint mir aber für die Be¬
urteilung der Sozialdemokratie und ihrer Taktik keineswegs gleichgiltig, wenn die
Überzeugung festgehalten wird, daß die Partei bei der Auswahl ihrer Wähl¬
bewerber im allgemeinen dieselben Rücksichten nimmt wie andre Parteien auch.
Unbeschadet ihrer Grundsätze, die ihr den Personenkultus untersagen, berücksichtigt
sie sehr sorgfältig die persönlichen Verhältnisse. Das mag ein Widerspruch sein,
aber ähnliche Widersprüche lassen sich bei ihr auch in andern Beziehungen nach-
weisen. Die Sozialdemokrntie hat kaum ihresgleichen an feiner Empfindung für
die Art, wie das Volk genommen werden will, um Verständnis für jede Regung
und Forderung unsrer Zeit. Wir sind erklärlicherweise leicht geneigt, die Un¬
bedeutendheit, die von uns selbst einer Person ans jener andern Welt, der Sozial-
demokratie, beigelegt wird, auch für das Urteil aller andern als vorhanden anzu¬
nehmen, verfallen damit aber in einen bedenklichen Irrtum, wie es umgekehrt ganz
falsch ist, einen stattlichen amtlichen Titel oder die Berühmtheit etwa eines Uni-
vcrsitätsprvfcssors, dessen Name von uns allerdings mit Ehren genannt werden
mag, für wesentlich und gewichtig in der Anschauung von Wählern der Arbeiter¬
klasse zu halten. Ist es ferner nicht bekannt, daß die sozialdemokratischen Abge¬
ordneten und Kandidaten zum Teil ihren ständigen Wohnsitz in ihren jetzigen oder
vielleicht zukünftigen Wahlkreisen von früher her haben oder genommen haben?
Ich erinnere mir an Ewald in Brandenburg, Peus in Anhalt, Vollmar in
München. In meinem engern Vnterlande Mecklenburg sind vor kurzem bereits
die Kandidaten für die nächste Neichstngswahl von einem Parteitage zu Lübeck be¬
stimmt worden; sie mögen nicht wenigen Leuten unbekannt, neu sein, sie sind aber
entweder in dem betreffenden Kreise zu Hanse oder dort schon mehrmals auf¬
gestellt gewesen und sind von sämtlichen Genossen als eifrige Glieder der Partei
geachtet, verfehlen anch in ihren Reden nicht auf die besondern Angelegenheiten
des Kreises und Landes einzugehen, was sie sicher auch im Reichstage, schon aus
taktischer Berechnung, nicht unterlassen würden. Die Sozialdemokratie legt also
soviel Wert wie alle andern auf eine passende, unanfechtbare, beliebte, mit den
Sitten und sogar der Sprache des Volks vertraute Persönlichkeit. Die liberall
wohlbekannten, hervorragenden unter ihren Führern kann die Sozialdemokrntie
freilich mit Aussicht auf Erfolg überallhin im deutscheu Reiche schicken, denn deren
Namen dringen hier wie dort durch, aber sonst haben die Herren Frohne,
Schippel, Molkenbuhr u. s. w. ihre gewissen, landschaftlich beschränkten Arbeits¬
gebiete. Nur so kann sich die Partei den gegebnen Bedingungen anpassen und
sie vorteilhaft ausnutze».
Übrigens ist auch das Wort „Genosse" kein Zeichen reiner Parteiwahlen.
Gerade Bebel und Liebknecht, die Matadore, werden nie anders als mit „Ge¬
nosse" bezeichnet, und höchstens ein „Unabhängiger" würde es wagen, sie mit der
Bezeichnung „Herr Bebel" oder „Herr Liebknecht" zu ärgern; „Herr Schmalfeld"
wäre fogar eher möglich und weniger diesem besondern Sprachgebrauchs zuwider
als „Herr Bebel" — es heißt nun einmal und zwar gar nicht so übel, gar nicht
Während ich mich an einem schönen Sommersonntag
an den Rosen in meinem Garten erfreue, ruft im Nachbargarten eine Kinderstimme:
Rudi! Rudi! Drauf schnarrt eine militärische Männerstimme: Rudi hat jetzt zu
arbeiten — darf uicht gestört werden! Ich luge durch deu Gartenzaun und sehe
in einer Laube Rudi mit seinen Schulbüchern sitzen, ihm gegenüber den gestrengen
Herrn Pupa. Sowohl als auch — schnarrt es weiter, was heißt: sowohl als auch?
Was Rudi antwortete, konnte ich nicht hören; es wird wohl et ot gewesen sein.
Und mit solchem Deutsch, das dem verteufelten ot ot und x«,. x«t zu liebe nur
in unsern Schulgrammatiken fortgeschleppt wird, in der lebendigen Sprache aber
nirgends vorkommt, muß sich der arme Junge Sonntags nachmittags plagen!
Onkel August. Roman von F. Peters. Zwei Bände, Leipzig, 0'art Meißner, 1892
Ein wunderlicher Roman, bei dem mau wieder einmal kaum weiß, ob er
ernste Lebensdnrstellnng oder eine fröhliche Parodie der neuerdings beliebten „Wahr¬
heit" sein soll. Er kauu beides sein, eine Geschichte, die uns sagen will, daß so,
wie der schlampampende Superintendent Amt, der unverschämte und ungebildete
„Fetthammel" Onkel August, die alberne Frau Oberamtmann Vnpnpp und die
dummen Jungen Walter und Wilhelm Amt, die Nur durch Universität und Leut-
uautsgarnison bis zu ihrer glücklichen Verehelichung begleiten, ungefähr die große
Mehrzahl der gegenwärtigen Menschen beschaffen sei, oder auch eine satirische
Spiegelung der jüngsten Ideale, die dann mir etwas größere Deutlichkeit zu wünschen
übrig lassen würde. Auf alle Fälle redet der bewegende Protz der gnuzen Hand¬
lung, Onkel August, ein Deutsch, das ihn durchaus befähigen würde, in einem
Drama von Gerhart Hauptmann oder A. Holz aufzutreten. Gegen die Annahme,
daß es sich um eine Satire handle, spricht die breitspurige Wichtigkeit, mit der im
ersten Bande die Korpssimpelei Walter Amts, das Schnldenwescn des Leutnants
Wilhelm Amt behandelt und der erzieherische Einfluß beider Erfahrungen ius beste
Licht gerückt wird. Einen Anlauf zu erquicklicher Wirkung nimmt der Roman in
den Kapiteln, die das Hanslchrerlebcn Walter Amts, seine Neigung zu Wally
Bahnson schildern und dem verwöhnten jungen Philologen soviel Trotz und echten
Stolz zusprechen, daß er sich lieber durch mißliche Verhältnisse durchschlägt, als
bei dem widerwärtigen Onkel Angust bettelt. Besonders erstaunlich ist das freilich
nicht, und da am letzten Ende Onkel August, ohne ein Testament zu machen, von
einem wohlthätigen Schlage gerührt wird, so bleibt der Ausgang weit unter dem
Leben, in dem es, sagen wir manchmal, doch unabhängige Menschen und glückliche
Ehen auch ohne reiche Erbschaften giebt. Auch von Wilhelm Amt erfahren wir,
daß er als Pächter eines großen Guts „die richtige Mitte zwischen der Zag¬
haftigkeit des Schülers und dem Hochmut des Offiziers" findet. Selbst die widrige
Episode der armen, von ihrer Familie grausam und schamlos mißhandelten Tante
Minna kommt durch ihre Hälfte der Erbschaft zu einem glücklichen Abschluß und
so saure und dazu verhutzelte Essiggurken die Fräulein Schwestern der beiden Amts
sind, so steht zu hoffen, daß sie als Erbinnen auch noch Männer finden werden
in einer Zeit, die keinen andern Gott anbetet, als den Mammon. Im Ernst muß
man sich fragen, an welchen Leserkreis der Verfasser eines Romans wie „Onkel
August" denkt. Die Wirklichkeitsfanatiker jüngsten Datums werden die Abwesenheit
gewisser „erotischer" Elemente nicht verzeihen, und die wenigen, die von der
poetischen Litteratur etwas mehr verlangen, als die Photographie zufälliger Tri¬
vialitäten und Plumper Häßlichkeiten des alltäglichen Lebens, werden bedauern, daß
der Verfasser, der nicht ohne Beobachtungsgabe und Frische ist, in der Hauptsache
nur widerwärtige Eindrücke vom Leben empfangen zu haben scheint.
er Patient muß recht krank sein. Ärzte und alte Weiber drängen
sich heran, und jedes hat sein Spezifikum. Ich meine unser
Volk. Als neuester Arzt kommt unserm kranken Volke der neunte
deutsche Lehrertag zu Hilfe, der zu Pfingsten in Halle tagte.
Auf diesem Lehrertngc hat Herr Schulinspektor Scherer aus
Worms einen Vortrag über die allgemeine Volksschule mit Rücksicht auf die
soziale Frage gehalten, der allseitige Zustimmung fand und ein so gehobnes
Bewußtsein erzeugte, daß man unter Hinweisung auf die eben vollendete That
Begrüßungsworte an den Kultusminister telegraphirte. In der That hat der
Vortragende auch nur ausgesprochen, was in der Lehrerwelt neuerdings in
zahllosen Versammlungen und Aufsätzen erörtert worden ist. Um so mehr
muß es Wunder nehmen, daß man in allem Ernste zu glauben scheint, mit
Gedanken und Mitteln an die soziale Frage hinankommen zu können, die sich
als Redensarten und folglich als gänzlich ohnmächtig erweisen.'
Der Vortragende begann mit einer geschichtlichen Erörterung.") Er wies
auf Comenius zurück, der ausdrücklich fordert, daß die Kiuder einer Gemeinde
vom sechsten bis zwölften Jahre, zusammen die Muttersprachschule besuchen
sollen, damit sie sich zu allen Tugenden, besonders der Bescheidenheit, gegen¬
seitig anregen. Erst dann mögen die Gymnasialstudien folgen. Ebenso for¬
dert Pestalozzi erziehenden Unterricht für alle ohne Rücksicht auf Stand und
Konfession. Nach dem preußischen Schulgesetzentwurfe von 1819 gliedert
sich die Schule in die allgemeine Volksschule, die allgemeine Stadtschule
und das Gymnasium; diese drei sino als eine einzige Natioualschule zu be-
trachten. Leider beseitigte die beginnende Reaktion diesen Entwurf, schied die
Nation wieder nach Standen und Konfesstonen und errichtete Standes- und
Konfcssionsschnlen. Aber kirchlich-dogmatische Schulbildung giebt keine feste
religiös-sittliche Weltanschauung, die des Mensche» Gemüt und Denken befrie¬
digt. Der so erzogne Mensch fällt der Sozialdemokratie und dem Atheismus
anheim. - Die Sozialdemokratie will das andre Extrem, die „Zwangsschule,"
die allen eine völlig gleiche Ausbildung giebt. Diesen Fragen gegenüber muß
die Schule Stellung nehmen.
Der Drang des deutschen Volksgeistes nach nationaler Einheit ist durch
die Errichtung des deutschen Reichs nicht völlig befriedigt worden; denn die
„wahre Homogenität" eines Volks besteht nicht in äußern Dingen, sondern in
der Gemeinschaft der geistigen und sittlichen Grundlagen. Stände und Kon¬
sessionen müssen sich wie Glieder eines Organismus aus dem nationalen Kultur¬
leben in naturgemäßer Weise „herausentwickeln" und nicht künstlich gemacht
sein, wenn die „wahre Homogenität" einer Nation, auf welcher ihre Stärke be¬
ruht, erzeugt werden soll. Nur dann können sie sich gegenseitig verstehen und
achten und sich gemeinsam in Liebe und Eintracht an der nationalen Kultur¬
arbeit beteiligen. Die Trennung der Kinder vom ersten Schnltage an nach
Ständen und Konfesstonen ist aber eine künstliche: denn „alle Menschen sind
in ihrem Wesen gleich, und allgemeine Emporbildnng zu reiner Menschenheit (?)
ist Zweck und Aufgabe der Erziehung bei allen Menschen." Durch eine natio¬
nale Schulbildung, die in ihrem Fundamente gleichartig und gemeinsam ist
und durch den gemeinsamen nationalen Bildungsstoff eine im ganzen gleich¬
artige, nur dem Grade nach verschiedne Bildung vermittelt, wird das deutsche
Volk zu einer nationalen Einheit erzogen und jeder befähigt, sich an der
nationalen Kulturarbeit zu beteiligen. Durch sie wird der Mensch zu einem
religiös-sittlichen Charakter, der sein Eigenwohl dem Wohle des Ganzen unter¬
ordnet und sich, wenn auch die Vildungs- und Berufswege auseinandergehen,
doch als Glied des nationalen Ganzen fühlt. Durch sie wird der Klasfenhaß
verbannt und edler Gemeinsinn nnter den Gliedern der Nation erzeugt. So¬
mit wird durch eine allgemeine Volksschule eine Ursache und eine Erscheinung
der sozialen Krankheit beseitigt, zwischen Reichen und Armen ein Band gegen¬
seitiger Liebe und Wertschätzung geknüpft, das Verständnis der Lebensverhält-
nisse der verschiednen Stände unter einander, vor allem aber der vertrauliche
Verkehr von Person zu Person angebahnt. Die Kinder der verschiednen
Stände regen sich gegenseitig an und müssen sich in ein soziales Ganze ein¬
fügen, worin alle gleiche Rechte und Pflichten haben. Die Gliederung der
Nationalschule auf dem Fundament der allgemeinen Volksschule beginnt, wenn
die Grundlagen zur allgemein menschlichen und nationalen Bildung gelegt siud
und sich die individuelle Ausprägung mit ziemlicher Sicherheit erkennen läßt.
Der Staat muß dafür Sorge tragen, daß es auch dem armen Kinde möglich
gemacht wird, den Weg zu einer seiner deutlich ausgesprochnen Individualität
entsprechenden Berufsbildung einzuschlagen.
Auf Grund dieser Erörterungen stellte der Vortragende folgende „Leit¬
sätze" auf:
Die Schule kann an der Lösung der sozialen Frage dadurch mitarbeiten, daß
sie, soweit es die ihr zu Gebote stehenden Mittel gestatten, alle Glieder der Nation
zu möglichst vollkommner Entwicklung ihrer körperlichen, geistigen und sittlichen
Kräfte im nationalen Sinn und Geist bringt und eine Jugend erzieht, die frei ist
von Standesöorurteilen und erfüllt ist von edelm Gemeinsinn und echter Vater¬
landsliebe.
Die Pädagogischen Vorbedingungen einer so gearteten Schulerziehung können
am vollkommensten erfüllt werden durch eine Schulvrgnnisatiou, durch welche die
Angehörigen aller Stände nach Möglichkeit zusammengeführt werden und sür den
Übertritt aus den niedern Stufen in die höhern durch den organischen Zusammen¬
hang aller Schnlnnstalten Sorge getragen wird.
Aus diesen Gründen erhebt der neunte deutsche Lehrertag folgende Forderungen:
Staat und Gemeinde sollen für die gemeinsamen Bildungsbedürfnisse auch
nur gemeinsame, allen in gleicher Weise zugängliche Bildungsanstalten errichten.
Insbesondre foll für den allen Kindern notwendigen Elementarunterricht nur
eine Art von öffentlichen Schulen vorhanden sein, und sollen daneben auf Kosten
des Staats oder der, Gemeinde besondre Vorschulen für höhere Lehranstalten,
Mittel- und höhere Mädchenschulen nicht errichtet noch organisch damit verbunden
werden. Die bestehenden Vorschulen sind aufzuheben.
Auf diesem gemeinsamen Unterbau der „allgemeinen Volksschule" bauen sich
die übrigen Schulen auf.
Die vorhandnen Einrichtungen, welche begabten ärmern Kinder» den Besuch
der höhern Lehranstalten ermöglichen (Befreiung vom Schulgeld, kostenfreie Alum¬
nate u. f. w.), bedürfen einer weitern Ausdehnung und werden der öffentlichen und
privaten Fürsorge empfohlen.
Dem Leser werden diese Gedankengänge einigermaßen fremdartig vor¬
kommen. Er wird den Eindruck haben, als seien eine Anzahl von Dingen
mit einander verbunden worden, von denen man bisher annahm, daß sie nichts
mit einander zu thun Hütten. Und so ist es auch. In welcher Weise sich die
verschiednen Schulen aus einander aufbauen sollen, ist eine schultechuische Frage;
aber sie wird hier nicht unter schultechnischem Gesichtspunkte, sondern unter
dem der sozialen Frage behandelt. Warum? Die Vorschulen gehören in das
Gebiet des Gymnasiums; welches Interesse haben die Volksschullehrer daran,
dein Gymnasium beizubringen? Die Sache verhält sich so: man hat ein per¬
sönliches Interesse daran, die Volksschule an die Stelle der Vorschule zu setzen,
und da benutzt mau die soziale Frage als Vorspann.
Fassen wir zunächst ins Auge, was sich der Lehrertag von der „all¬
gemeinen Volksschule" bei der Lösung der sozialen Frage verspricht. Natür¬
lich soll die Schule an ihrer Lösung mitarbeiten; sie kann und sie wird diese
Frage lösen, davon ist Herr Scherer fest überzeugt. Sie wird den Menschen
zu dem so lange schon schmerzlich vermißten Idealmenschen erziehen, sie wird
die Wurzel alles Übels, die kurzsichtige Selbstsucht, überwinden, sie wird lehren,
sich weise zu beschränken, verständig zu verzichten, geduldig zu tragen, wenn
es das große Ganze, wenn es die „Homogenität" des Volks,*) wenn es die
nationale Größe des Vaterlands fordert; sie wird erreichen, daß der Mensch
seinen persönlichen und nahen Vorteil einem fernen und unpersönlichen bereit¬
willig nachstellt. Sie wird Herren schaffen, denen das Wohl ihrer Diener am
Herzen liegt, wie das eigne, Knechte, die in herzlicher Ehrerbietung und Be¬
scheidenheit ihren Herren entgegenkommen, Fabrikanten, die gern und freudig
ihren Arbeitern einen billigen Anteil am Gewinne geben, Arbeiter, die bei
schlechten Zeitläufen willig ihren Lohn herabsetzen, kurz, sie wird den Himmel
auf Erden schaffen.
Aber es gehört ein kindlich gläubiges Gemüt dazu, den Versicherungen
des Herrn Scherer zu glauben. Wir haben dieses Gemüt nicht. Wir finden,
daß wenig Aussicht vorhanden ist, die Schule werde jetzt zu Ende des neun¬
zehnten Jahrhunderts fertig bringen, was etlichen Jahrtausenden nicht gelungen
ist. Der Mensch bleibt doch immer, was er gewesen ist, ein geborner Egoist.
Das Hemd ist ihm näher als der Rock, der persönliche Nutzen steht ihm näher
als ein unpersönlicher. Es sind immer nur einzelne gewesen, die um des
großen Ganzen willen sich selbst weise beschränkten. Die große Menge hat
von jeher dem Nutzen oder dem Zwange gehorcht. Und diese große Menge
soll nach Scherer umgewandelt, gleichsam neu geboren werden durch Dar¬
bietung eines gleichartigen nationalen Vildungsstvffs; dieser nationale Vildungs-
ftoff soll sie zu religiös-sittlichen Menschen umgestalten. Die kirchlich-dogma¬
tische Schulbildung giebt ja keine feste religiös-sittliche Weltanschauung, wohl
aber die einheitlich nationale Bildung, die thut es.
Wir möchten wohl wissen, was Herr Scherer unter „religiös-sittlich"
versteht. Wahrscheinlich die Liebe zum Vaterlande, die Begeisterung für alles
Wahre, Gute, Schöne und Edle, das andächtige Gefühl, das aus der Be¬
wunderung der Güte Gottes sowie der eignen Güte entsteht, das Bekenntnis
zu der heiligen Dreieinigkeit: Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Dies giebt
die gepriesene sichere und unerschütterliche Weltanschauung. Man stelle sich
nur die durch solche Mittel gegen alle Versuchnngei, des Lebens gefeite Seele
eines Bauerjungen vor!
Und wenn nun der wirtschaftliche Streit zwischen Parteien entbrennt, die
sich diesseits und jenseits der Landesgrenze befinden, zum Beispiel zwischen
sächsischen Ökonomen und polnischen Arbeiterinnen, wird der national-sittlich
erzogne Herr jenen Fremdlingen gegenüber eine Verpflichtung habe»? Er
schädigt das Vaterland nicht, wenn er sie untergehen läßt, er gehört nicht
mit ihnen zu einer „homogenen" Masse, er hat mit ihnen nicht einmal die
religiös-sittliche Unterlage gemein, denn diese ist national. Das Vaterland ist
eine gute Sache, aber das höchste Gut ist es nicht. Die Sozialdemokratie
hat ganz richtig erkannt, daß wirtschaftliche Fragen durch Landesgrenzen nicht
beschränkt werden. Darum wird auch die nationale Schule der internationalen
Sozialdemokratie nicht viel anhaben.
Das soll also die Schule leisten. Offenbar hat es die Schule bis jetzt
nicht geleistet. Denn die sozialen Notstände sind hervorgetreten zu einer Zeit,
wo es Schulen gab. Was stand denn der Schule im Wege? Sie war nicht
richtig organisirt. Es gab Standesschulen, Konfessionsschulen, aber es gab
nicht — die allgemeine Volksschule. Das Volk war auch in der Schule nach
Stünden und Konfessionen geteilt. Die nationale Erziehung der „homogenen"
Masse war unmöglich.
Schön, denken wir uns einmal die Schule nach dem Wunsche des Herrn
Scherer und seiner Freunde eingerichtet. Alle^ Privat- und Spezialschulen
sind aufgehoben, es giebt eine einzige paritätische Volksschule. Die Konfessionen
sind beseitigt, Christ und Jude, Katholik und Protestant, alles ist eins. Der
Sohn des Grafen sitzt neben dem des Dreschers, der Sohn des Beamten
neben dem des Vagabunden. Da hätten wir also keine Stunde mehr, und
damit wäre die soziale Frage glücklich beseitigt. Unter Anleitung des Herrn
Lehrers fangen die Kinder der „homogenen" Masse an, sich zu lieben. Sie
treten in persönliche Beziehung, sie lernen sich achten. Der Sohn des Grafen
sieht zu seiner Verwunderung, daß sein Nachbar anch eine Nase hat, der
Sohn des Vagabunden erkennt die Thatsache an, daß der Sohn des Prä¬
sidenten lieber Butterbrot als trocknes Brot ist. Sie alle fühlen sich als ein
Teil eines großen Ganzen, das man ihnen in bunten Farben gemalt auf der
Landkarte zeigt. Welch Schauspiel! aber ach, ein Schauspiel nur. Diese
künstlich geschaffne Schulwelt hebt die übrige Welt nicht auf. Wir wollen
Herrn Scherer in seiner Abneigung gegen die Konfession nicht bekämpfen, ob¬
wohl wir allen Grund dazu hätten, wir wollen annehmen, daß die Zugehörigkeit
zu einer kirchlichen Gemeinschaft keine soziale Kraft habe, daß die Konfession,
daß die konfessionelle Schule nie etwas Gutes geleistet habe, daß der kon¬
fessionelle Zwiespalt in unserm Vaterlande für alle und jede Not verant¬
wortlich zu machen sei , wir wollen alles das annehmen. Können wir aber
diese Konfessionen durch unsre Mißbilligung beseitigen? In Frankreich hat
man die konfessionslose Schule, und — Ultramvntane, Protestanten, Juden
und Atheisten bestehen ruhig ueben einander fort. Noch weniger wird es
gelingen, durch die Schulbank die Stnndesunterschiede und Standesvorurteile
zu beseitigen. Es würde nicht einmal innerhalb der Schule geschehen. Der
Sohn des Grafen und der Sohn des Dreschers bleiben beide trotz der
Unterweisung der Schule in Tracht und Gewohnheiten und Anschaungen
dieselben, die sie zuvor waren. Die Frühstücksfrage würde eine ungelöste
soziale Frage bleiben, man müßte denn die Frühstücksbrote einsammeln
und gleichmäßig verteilen. Dann Hütte man in der Schule den richtigen
sozialen Staat.
Das Verfahren, das Herr Scherer empfiehlt, kommt mir vor, als wenn
ein Hofbesitzer, der sich über die vielen Sorten seines Geflügels ärgert, alle
Eier derselben Art von Bruthennen unterlegen wollte. Aus Enteneiern werden
aber immer wieder Enten, und ans Hühnereiern Hühner. Jeder praktische
Schulmann, jeder Menschenkenner weiß, daß der Umgestaltung des Menschen
durch die Erziehung enge Grenzen gesteckt sind, er weiß, daß das sechsjährige
Kind bereits einen ausgeprägten Charakter mitbringt, um dem überhaupt nicht
viel zu ändern ist. Dazu kommt die fortdauernde Einwirkung des Hauses,
die die Arbeit der Schule lahmen kann und auch wirklich vielfach lahmt.
Das große Werk der sozialen Versöhnung soll zwischen dem sechsten und dem
zwölften Lebensjahre fertig gebracht werden; aber der Schulmann macht die
Erfahrung, daß seine besten Schüler, auf die er sich glaubte verlassen zu
können, ihm noch nach dem vierzehnten Jahre, wenn sie in die Lehre kommen,
verloren gehen, und daß andrerseits an Kinder, die unter sozialistischen Einfluß
stehen, überhaupt nicht hinanzukommen ist. Sie befinden sich äußerlich uuter
der Reihe der audern, sind aber innerlich fremd, gepanzert und unnahbar.
Wir fangen die Weltgeschichte nicht nen an, wir haben mit den Verhältnissen
zu rechnen, wie sie sind.
Entweder die Schule hat die Macht nicht, die man ihr andichtet; dann
ist es überflüssig, Hirngespinsten nachzujagen. Oder sie hat diese Macht; dann
hat sie auch bisher und unter den gegebnen Verhältnissen Gelegenheit genng
gehabt, sie zu zeigen. Ans denselben Bänken sitzen in der Volksschule der
Sohn des Handwerksmeisters und der Sohn des Arbeiters, der Sohn des
Großbauern und der des Knechts neben einander. Sie werden gleichmäßig
behandelt, erhalten dieselbe Unterweisung, es ist aber keine Rede davon, daß
dadurch, daß sich beide du nennen, die große soziale Kluft zwischen Bauer
und Knecht überbrückt werde, es ist nichts davon zu spüren, daß sich wegen
der frühern Schulgemeinschaft das spätere Verhältnis von „Arbeitgeber" und
„Arbeitnehmer" freundschaftlicher gestalte. Wenn man aber glaubt, daß durch
möglichst vollkommene Ansbildung des Schülers der Kampf ums Dasei»
erleichtert und die soziale Not gemildert werde, so irrt man sich. Man schärft
die Waffen, der Streit wird nur bitterer.
Aber das Zusammensein der verschiednen Stände wird doch wohlthätig
wirken, man lernt sich kennen, man lernt sich verstehen lind achten. Liebe
Herren, wo wäret ihr, als man die Welt geleitet? Um was handelt es sich
denn? Um einige wohlwollende Redensarten herüber und hinüber? Es
handelt sich um das Mein und Dein, um die Existenz, um unsern gesamten
Kulturstand. Es handelt sich darum, ob an die Stelle der Religion ver-
worrner Fanatismus, an die Stelle der Stände das allgemeine Staatsarbeits¬
haus, an die Stelle einer wohlwollenden und objektiven Negierung die Ty¬
rannei von Vvlksführern und ihrem Anhange treten soll. Und da kommt
man mit der allgemeinen Volksschule als einem Mittel der Versöhnung und
meint, das Zusammensein werde wohlthätig wirken! Mit Zuckerwasser heilt
man schwere Krankheiten nicht. Alle, die sich mit den vorliegenden Fragen
ernstlich beschäftigt haben, sind darüber einig, daß mit Worten, Vorstellungen,
Vernunftgründen nichts anzufangen ist. Man kann vielleicht noch da helfen,
wo man imstande ist, die Verhältnisse zu bessern. Im übrigen ist die Frage
zu einer Macht geworden. Die Zeit der diplomatischen Verhandlungen ist
vorüber.
Man mache doch die Probe, man gehe in eine sozialdemokratische Ver¬
sammlung, man sage den Leuten: Ihr seid im Irrtum, liebe Leute, ihr habt
eine falsche Erziehung genossen. Eure Kinder sollen es besser haben, sie sollen
die Wohlthat genießen, mit den Kindern der Kapitalisten auf derselben Schul¬
bank zu sitzen. Beide sollen lernen, Freunde zu werden und sich mit einiger
Rücksicht zu behandeln. Der Sohn des Bankiers wird zwar seine Millionen
behalten, und ihr werdet euern Taglohn behalten, aber ihr müßt einsehen,
daß das mit Rücksicht auf die nationale Größe unsers Vaterlandes nicht anders
geht. Was würde die Antwort sein? Ein einstimmiges Hohngelächter. Wenn
aber ein Mittel bei der einen Partei nicht verfängt, darf man um seinetwillen
der andern Partei keine Opfer zumuten.
Wird man aber dadurch, daß der Staat die Vorschulen oder andre höhere
Schulen aufhebt, die Kinder der höhern Stände in die Elementarschule be¬
kommen? Schwerlich. Vielmehr werden an ihrer Stelle sofort zahlreiche
Privatschulen entstehen. Seiner Zeit hat man diese Privatschulen, mit deren
Leistungen man nicht zufrieden war — schon darum, weil sie zu ungleich
waren und sich zu wenig dem Bedürfnis der Gymnasien anschlössen—, durch
Vorschulen ersetzt; man würde also für die Volksschule nichts gewinnen, viel¬
mehr nur das höhere Schulwesen schädigen. Wenn also aus dem Plan der
Volksschule überhaupt etwas greifbares werden soll, so geht es nicht anders,
als daß die Privatschulen untersagt werden, und daß geboten wird: alle
Kinder müssen die öffentliche Volksschule besuchen. Das wäre dann die so¬
zialistische Zwangsschule, gegen die sich der Vortragende ausgesprochen hat,
ans die er aber in Wirklichkeit hinarbeitet. Es ist nicht nötig, zu beweisen,
daß dies ein unerträglicher Zwang wäre, ein Gesetz, das in ländlichen Be¬
zirken überhaupt nicht durchzuführen sein würde.
Die andre Forderung, daß nämlich der Staat dafür Sorge tragen solle,
daß begabte Kinder armer Eltern die höhern Schulen besuchen können, ist
noch bedenklicher. Der Gedanke ist innerhalb des sozialistischen Staates von
selbst gegeben. Denn da der Staat alles bestimmt und alle Arbeit verteilt,
mag er sich auch die Kinder aussuchen, die für bestimmte Geistesarbeiten ge¬
eignet sind. So dumm sind die Sozialisten nicht, zu glauben, daß sie mit
dem großen Einmaleins auskämen. Sie haben ebenfalls Schulen verschiedner
Art im Auge. Wo aber der sozialistische Staat nicht besteht, ist es unerhört'
dem Staate die Aufgabe zu erteilen, für die Ausbildung der Jugend un¬
bemittelter Stände in höhern Schulen zu sorgen. Ja, wenn Mangel an Gym¬
nasiasten und Studenten wäre, könnte der Staat ein Interesse haben, indem
er selbst eingreift, den Mangel zu decken. Das ist aber nicht der Fall, viel¬
mehr befinden wir uns in der Verlegenheit der Überfülle. Die allgemeine
Schulpflicht bedeutet einen tiefen Eingriff in die Selbstbestimmung des Hauses.
Sie wird gerechtfertigt durch das allgemeine Staatsinteresse und bezieht sich
nnr auf das Minimum. Darüber hinaus kann der Staat unmöglich gehen,
schon darum uicht, weil er mit der Forderung auch die Pflicht übernimmt,
dafür zu sorgen, daß die nötigen Schulen unterhalten werden. Wieviel Mühe
macht es aber, auch nur sür das Minimum der Leistung hinreichend zu sorgen.
Das Stnatsinteresse geht mich keineswegs dahin, die Zahl der Gymnasiasten
oder Studenten zu vermehren. Das allerübelste wäre es, deu Anfang der
Laufbahn zu erleichtern, dann aber seine Hand abzuziehen und jene unglück¬
lichen Menschen, die ihre Studien nicht vollenden und die auf eine Anstellung
nicht warten konnten, untergehn zu lassen. Man würde sich ein Bilduugs-
prvletariat heranziehen ohnegleichen. Was ein solches Proletariat für Schaden
anrichtet, hat Rußland Gelegenheit, am eignen Leibe zu spüren.
Nun hat aber Herr Scherer gar nicht so viel gefordert, er ist auch hier auf
halbem Wege stehen geblieben. Das sieht man schon um der Fassung seiner
„Leitsätze." Der dritte „Leitsatz" fängt an: „Der neunte Lehrertag fordert,"
und dann folgt unter 3: die vorhandnen Einrichtungen zur Forderung armer
begabter Kinder werden der Ausdehnung und Fürsorge empfohlen. Das paßt
nicht zu einander. Es hilft auch nichts und befriedigt niemand, wenn ein paar
Stipendien mehr ausgesetzt werden. Man könnte mit gleichem Rechte sagen:
Einen drückenden und hoffnungslosen Mangel giebt es nicht, da jährlich zweimal
das große Los gewonnen wird. Entweder also bedeutet die Förderung armer
Kinder der Menge gegenüber gar nichts, oder sie müßte Maße und Formen
annehmen, die der gegenwärtigen Staatseinrichtung oder dem gegenwärtigen
Staatsinteresse gegenüber ganz undenkbar sind.
Sehen wir uns nun das, was Herr Scherer als die Aufgabe der Schule
bei Lösung der sozialen Frage bezeichnet, und was der Lehrertag, indem er
die „Leitsätze" annahm, zur eignen Sache gemacht hat, näher an, so enthält es
höchst bedenkliche sozialistische Züge. Der Vortrag des genannten Herrn könnte
auch die Überschritt haben: Inwieweit kam? die Schule den Forderungen
der Sozialdemokratie entgegenkommen? Antwort: Halbwegs. Die andere
Hälfte findet sich dann.
Wenn sich die Schule in dieser Weise an der Lösung der sozialen Frage
beteiligen will, muß sie ernstlich zur Ruhe verwiesen werden. Wir sind über¬
zeugt, daß sich Herr Scherer für einen entschiednen Feind der Sozialdemokratie
hält; Eugen Richter hält sich auch dafür. Aber die Sätze, die er angefangen
und unvollendet gelassen hat, können nicht anders als in sozialistischen Sinne
vollendet werden. Wir sind auch überzeugt, daß die große Menge der Lehrer¬
schaft, auch der größere Teil von denen, die den „Leitsätzen" zugestimmt haben,
mit dem Vortrage oder mit seinen gegebnen Folgerungen nicht ganz überein¬
stimmen. Man kann sich doch dem Eindrucke nicht verschließen, daß das
Zukunftsbild, das der Vortragende von der allgemeinen Volksschule entworfen
hat, Potemkinsche Dörfer sind, ein künstlich gemachter Schein, nicht die Wirk¬
lichkeit. Warum hat man sich denn aber auf die Frage überhaupt eingelassen?
Man gewinnt den Eindruck, daß der Lehrerschaft an der allgemeinen
Volksschule viel gelegen sei, aber wenig an der sozialistischen Begründung.
Diese ist nur als Vorspann hinzugenommen worden, da nun einmal die soziale
Frage zugkräftig ist. Der Augriff richtet sich gegen die Gymnasialvorschulen,
die man gern beseitigen möchte.
Daß sich das Urteil der Schulmänner gegen diese Vorschulen richtet, hat
seine Berechtigung, und man kann behaupten, daß in dem Wunsche, diese
Schulen zu beseitigen oder zu verbessern, eine große Übereinstimmung herrsche —
weit über jene Kreise hinaus, die gegen die Vorschule hinter der anti¬
sozialen Fahne zu Felde ziehen. Derartige Vorschulen pflegen die Methode
der Schnellfabrikation anzuwenden. In sechs halben Jahren wird das sechs¬
jährige Pensum durchgepeitscht. Dann wird der Schüler dem Gymnasium
überwiese,,, das seinen Schwerpunkt auf das Latein legt und die Elementar¬
fächer nur nebenbei betreibt, oft mit recht unglücklicher Hand. Die höhern
Mädchenschulen drängen in den Unterklassen schnell vorwärts, um zum Fran¬
zösischen und zur Litteraturgeschichte zu kommen. Man scheint dazu berechtigt
zu sein, da die Mädchen schnell auffassen und schnell gefördert werden können.
Aber die Sache ist ungesund. Keine Pflanze darf übertrieben werden, es straft
sich sonst später. Mit dem Jungen ist es dieselbe Sache. In der Vorschule
wird alles durchgenommen und durchgesetzt, aber es fehlt die Befestigung und
Vertiefung, die ihre Zeit haben will, es fehlt die Breite zur sichern Grund¬
lage, und dieser Maugel macht sich durchs ganze Leben geltend. Der preußische
Kultusminister soll gesagt haben, er bereue es nicht, daß er die Dorfschule
besucht habe. Das ist ganz richtig. Auch der Verfasser dieses Aufsatzes be¬
klagt es, daß er bis zum Gymnasium die Privatschule und nicht die Elementar¬
schule besticht hat. Das hat Lücken gegeben, die sich lange fühlbar gemacht
haben. Man kann auch erleben, daß die „höhere Tochter," die den Wert von
Schiller und Goethe gegen einander abwägt, mit dem Einmaleins auf gespanntem
Fuße steht. Hierzu kommt, daß die Vorschulen nicht selten überfüllt sind
und von Leuten besucht werden, die eigentlich nicht hinein gehören. Mancher
Bater tänscht sich über die Fähigkeiten seines Kindes. Das Kind zeigt sich
im vierten, fünften Jahre, in der Zeit der lebhaftesten Entwicklung, sehr ge¬
weckt, es verspricht etwas, aber schon die ersten Schuljahre zeigen, daß es
nicht hält, was es versprochen hat. Wird das Kind in die Volksschule geschickt,
so bleibt es da; wird es in die Vorschule geschickt, so geht es gegen die Ehre,
es wieder herauszunehmen, es geht in das Gymnasium über, führt dort ein
kümmerliches Dasein und verschwindet aus der Quarta, nachdem es weniger
fürs Leben gewonnen hat, als ihm die Volksschule gegeben hätte. Auch die
leidige Großmannssucht bringt viele Eltern dahin, ihre Kinder in die höhere
Schule zu schicken, wohin sie gar nicht gehören, nur um etwas beßres vor¬
zustellen.
Da erscheint es als ein praktischer Vorschlag, die Vorschulen aufzuheben
und durch die Volksschule zu ersetzen. Es hat etwas bestechendes, die eine
allgemeine Volksschule zum Fundament des gesamten Unterrichts zu machen
und die Fachschulen und höhern Schulen erst später abzuzweigen. Aber diese
eine allgemeine Volksschule giebt es nicht. Die Volksschule der großen Stadt,
der kleinen Stadt und des flache» Landes sind ganz verschiedne Dinge. Wenn
man auch die Armenschulen aufgehoben hat, so hat mau doch Volksschulen
verschiedner Art in denselben Städten. Diese eine Volksschule kann es erst
recht nicht geben, wenn sie die Unterlage zur höhern Schule sein soll. Wer
einen weiten Weg vor sich hat, muß früh aufstehn und ordentlich austreten;
die Volksschule wandelt aber einen recht gemächlichen Gang. Der Unterricht
schleppt sich laugsam vorwärts, langsamer, als es die Gründlichkeit fordert,
und das hat seinen Grund in Umständen, deren die Schule nicht Herr ist.
Herr Scherer begründet seine Forderung der allgemeinen Volksschule mit
dem Satze: Alle Menschen sind gleich, also bedürfen sie auch der gleichen Er¬
ziehung. Das mutet eiuen recht altertümlich an, wie der Duft aus der seligen
Großmutter Komode. Wenn ein solcher Satz vor hundert Jahren aufgestellt
wurde, so wandte er sich gegen den Übermut der höhern Stände, die zwischen
sich und dein nieder» Volk einen Rasfenuuterschied annahmen und dem Volke
die Schule als etwas dem höhern Wesen vorbehaltncs versage» wollten. Der
Satz beruht auf der damals für richtig gehaltne», aber seitdem längst aus¬
gegebnen Amiahme, daß die Seele» aller Menschen bei der Geburt ein un¬
beschriebnes Blatt und darum gleichartig seien. Die Pädagogik aus dem
Anfang dieses Jahrhunderts ging von dieser Annahme ans. Die Freude an
der neu gefundnen Methode verleitete zu ihrer Überschätzung. Man glaubte
mit seinen methodisch-psychologischen Mitteln alles machen, den Menschen wie
ein Haus aufbauen z» könne». Auch unsre große» Pädagoge» steh» unter
diesem Irrtum, woraus ihnen kein Vorwurf gemacht werden soll. Die Menschen¬
seele ist aber keineswegs ein weißes Blatt; wenn es auch noch keine Schrift
hat, so hat es doch Farbe und Art. Wollten wir uns auf Darwinschen
Standpunkt stellen, so müßten wir sagen: Die geistige Eigenschaft des Kindes
besteht in einer Summe ererbter Eigenschaften, ererbter Tugenden und Fähig¬
keiten. Gerade in dieser Verschiedenheit besteht der Fortschritt. Es bilden
sich vorzüglichere Arten aus, während die geringern aussterben. Darum würde
die Pflege dieser Verschiedenheiten den Fortschritt, Gleichmacherei den Rückschritt
bedeuten. Wir stellen uns nicht auf diesen Standpunkt, haben es auch für
unsre Frage nicht nötig, denn es ist weltkundig, daß die ersten sechs Jahre
bei den Kindern einen Unterschied hervorbringen, der ganz erstaunlich ist. Von
dem Satze: Alle Menschen sind gleich, kaun gar nicht die Rede sein. Kinder,
die zu Hanse Anregung gehabt haben, sind andern, die stumpf aufgewachsen
find, um Jahre voraus, sie haben einen ganz andern Schatz von Wörtern und
Wahrnehmungen als jene. Schon die Sprache macht einen großen Unterschied.
Es ist nicht einerlei, ob die Schule die richtige Sprache vorfindet oder erst
noch schaffen mich; sie braucht dazu jahrelange Arbeit. Es ist ein großer
Unterschied, ob die Kräfte der Kinder außerhalb der Schule zu häuslichen oder
Feldarbeiten aufgebraucht werden oder nicht, ob das Haus bei den Schul¬
arbeiten hilft oder sie unmöglich macht. Und alle diese verschiedenartig und
verschieden vorbereiteten Kinder will man auf dieselbe Schulbank setzen? Man
will die lebendigen und schnell fastenden Kinder der bessern Stände zum Ge-
dnukenstillstaudc verurteilen, damit die andern nachkommen können? Man
würde damit den größten Schaden anrichten. Ebenso unrecht wäre es natürlich,
wenn sich der Lehrer nur mit den Kindern befassen wollte, die vorwärts
kommen, nud die andern vernachlässigte. Herr Schulinspektor Scherer meint,
man könne die durch häusliche Erziehung vernachlässigten Kinder aus der
Volksschule entfernen. Ja, wohin denn mit ihnen, wenn es nur die eine Volks¬
schule geben soll? Wenn er der Meinung ist, mau könne eine Art Straf¬
kolonie einrichten, eine Volksschule „zweiter Güte," so möchte ich dem Herrn
Schulinspektor wohl wünschen, daß er seine eignen Vorschlüge auszuführen
hätte. Er würde bald sehen, daß die in der häuslichen Erziehung vernach¬
lässigten Kinder die große Mehrzahl sind, er würde es den verehrlichen sein
Haus stürmenden Müttern schwerlich klar machen können, daß der betreffende
Herr Sohn ein Schlingel oder ein Strvhkopf ist, sondern immer nur die Ant¬
wort erhalten: Das geschieht nur, weil wir arm sind, und weil die Reichen
vorgezogen werdeu. Und der ganze schöne soziale Plan würde schon an dieser
einen Ecke scheitern.
Es ist also klar, daß die eine allgemeine Volksschule zur Vorstufe des
höhern Unterrichts ungeeignet ist. Aber denkt mein sich auch die Volksschule
möglichst günstig gegliedert, so gehen doch, wenn man die Schüler bis zum
zwölften Jahre darin festhält, dem Gymnasium zwei bis drei Jahre verloren
Man sagt, das schade nichts, und hat auch insofern Recht, als das Gymnasium
mit kürzerer Zeit auskommen könnte, wenn es besser vorbereitete und reifere
Kinder in die Sexta bekäme. Es fragt sich in der That, ob die Plage mit
dem Lateinischen nicht zu zeitig anfängt. Man kann auch annehmen, daß ein
ordentlicher deutscher Unterricht, durch den die Kinder die Gesetze ihrer Mutter¬
sprache verstehen und handhaben lernen, dem Latein wirksam vorarbeiten, ja
der fremden Sprache einen großen Teil ihrer Schwierigkeiten wegnehmen würde.
Aber es fragt sich, ob die Volksschule diesen Unterricht geben würde. Rich¬
tiger würde es sein, den Arbeiten der Vorschule mehr Raum zu lassen und
diese bis in die Mittelklassen des Gymnasiums planmäßig fortzuführen. neuer-
dings hat man in den Oberklassen dem deutschen Unterrichte mehr Raum ge¬
schaffen. Dasselbe könnte auch mit der Sexta und Quinta geschehen.
Aber das sind Fragen, die das Gymnasium angehen, das selbst wissen
muß, was ihm frommt. Die Volksschule hat offenbar keinen Beruf, hineinzu¬
reden. Die Volksschule mag über ihren Elementarunterricht urteilen; wie aber
dieser Unterricht beschaffen sein muß, um als Unterlage für den höher» Unter¬
richt zu dienen, das weiß sie nicht. Sie thäte also besser, die Hände davon
zu lassen. Was würde der Volksschullehrer sagen, wenn der Philologe ihm
ins Konzept fahren wollte!
Hier entsteht nun die Frage: Wenn die soziale Frage mit der der all¬
gemeinen Volksschule ernstlich nicht verbunden werden kann, wenn innere Gym¬
nasialfragen den Elementarlehrer nicht interessiren können, wie kommt es, daß die
Forderung einer allgemeinen Volksschule in Lehrerkreisen so populär geworden
ist? Die Sache hat einen persönlichen Grund. Man denke sich einen Land¬
schullehrer, der es erlebt, daß alle seine bessern Schiller ans der Schule ge¬
nommen und in die Stadt geschickt werden, während er mit dem Schund
zurückbleibt. Oder man denke sich einen Elementarlehrer in der Stadt, dem
die Vorschulen die besten Schiller wegnehmen. Daß beide auf die Stadtschule
und auf die Vorschule nicht gut zu sprechen sind, ist begreiflich. Der Wunsch,
nicht bloß mit den Elementen zu thun zu haben, die die niedrigsten Vevöl-
kerungsklassen liefern, ist berechtigt. Aber es ist ein persönlicher Wunsch.
Man berücksichtige, daß jene Lehrer, denen man weismacht, sie stünden an
Bildung allen andern gleich, überträfen aber mit der Methode alle Welt, es
schwer empfinden müssen, wenn sie nur die Kinder der Ungebildeten unter¬
richten müssen. Sie möchten in die Reihen der höhern Lehrer, von denen sie
sich ja nur in Bezug auf das Fach unterscheiden. Es berührt sie angenehm,
wenn erstrebt wird, daß die Volksschule nicht eine niedere Bildungsanstalt,
sondern die Grundlage aller Schulen sein solle, wenn also die gesamte Volks¬
schule zur Vorschule für Gymnasium und Universität wird. Aber das sind
eben mir persönliche Gründe, die die Frage selbst nicht entscheiden können.
Es ist nicht unmöglich, daß später einmal eine angemessen organisirte
Volksschule die Grundlage der höhern Schulen und Fachschulen wird. Aber
so wie sich Herr Scherer die Sache denkt, geht es nicht, am wenigsten in
Verbindung mit der sozialen Frage.
n Amerika soll demnächst durch eine möglichst großartige Welt¬
ausstellung das Andenken der kühnen Männer gefeiert werden,
die vor vierhundert Jahren zum erstenmale die weite Fahrt
nach Westen gewagt und dabei unerwartet einen neuen Erd¬
teil entdeckt habe». Die That des Columbus stellte die alte
Welt plötzlich vor unübersehbare neue Aufgaben, und gewiß wird darum das
Jahr 1492 einer der wichtigsten Zeitpunkte in der Geschichte der Menschheit
bleiben. Vielleicht aber weist später der Kulturhistoriker dem Jahre 1842
einen nicht minder hohen Rang zu, denn da begannen die künstlichen Schranken
zu fallen, die bisher den freien Verkehr zwischen dem Abendlande und dein
großen Reiche der Mitte verhindert hatten. Zum erstenmale hatten die Chinesen
die schwere Faust einer europäischen Großmacht fühlen müssen; nun kam es
darauf nu, wie sie sich in die durch den Frieden ganz veränderten Verhältnisse
finden würden. Sehr bald zeigte sich allerorten wieder eine bedeutende Ver¬
schiedenheit zwischen dem Benehmen der Beamten und dem des Volks, und
obwohl sich dieser Unterschied seitdem etwas gemildert hat und jetzt nicht mehr
so offen hervortritt wie gleich nach dem ersten Kriege, so- ist er doch fast in
sämtlichen Beziehungen der Abendländer zu den Chinesen der alles beherr¬
schende Zug geblieben. Die ganze gewerbetreibende Bevölkerung der fünf dem
Verkehr geöffneten Häfen lernte rasch den bedeutenden Vorteil schätzen, der
ihr aus dem großen Wandel der Dinge erwuchs. Mächtig blühte der Handel
empor. Besonders Hongkong und Shanghai hatten schon nach wenigen Jahr¬
zehnten in der Statistik des Schiffsverkehrs, in der die tausende von chine¬
sischen Dschunken noch gar nicht einmal mitgerechnet werden, eine sehr hohe
Tonnenzahl auszuweisen, und jetzt stehen sie darin nur wenigen andern Häfen
nach. Mit allen Erdteilen wurden bald regelmäßige Dampferverbindungen
hergestellt. Zugleich entwickelte sich zwischen den einzelnen Vertragshäfen an
der chinesischen Küste ein reger Verkehr dnrch europäische Schiffe, wobei An-
gehörige der verschiedensten Nationen, darunter bald mich viele deutsche See¬
leute, lohnende Beschäftigung fanden.
Förmliche Vertrüge wurden kurz nach dein Frieden von Nanking mich
von Frankreich und Nordamerika, etwas später auch von Schweden und Nor¬
wegen, mit China auf der Grundlage des Vertrags mit England abgeschlossen.
,Mnig Friedrich Wilhelm der Vierte schickte im Namen des Zollvereins einen
Abgesandten nach China, der dort für kaufmännische und industrielle Zwecke
Erkundigungen einziehen sollte. Zu einem Vertrage kam es jedoch vorläufig
noch nicht.
Was thaten nun die Mandarinen der neue» Lage gegenüber? In, was
thaten sie! Zunüchst gar nichts, da ihnen der Schreck zu sehr in die Glieder
gefahren war. Gar zu unsanft waren sie auch aus der holden Täuschung
aufgerüttelt worden, daß sich die Auslüuder niemals ernstlich gegen den Sohn
des Himmels und gegen seine Stellvertreter, die Mandarinen, auflehnen würde».
Als sie sich dann allmählich etwas erholten, waren sie klug genng, einzusehen,
das; der frühere, für sie weit angenehmere Zustand unwiederbringlich dahin
sei. Aber es war vielleicht zuviel von ihnen verlangt, daß sie sich nun ans
einmal mit Grazie in die neue Ordnung der Dinge finde» sollten, nachdem
sie Jahrtausende hindurch alle nichtchinesische» Völker für Barbaren »ut dem
Kaiser von China für tributpflichtig gehalten hatten. Der Wechsel war zu
schroff. Da schickten nnn diese barbarischen Nationen eine nach der andern
ihre Gesandten, und diese sagten mit einer unverschämt ruhigen Bestimmtheit,
die hohe» chinesischen Würdenträger» gegeiiüber eigentlich ganz unerhört war:
Bitte, seid so freundlich, uns auch als gleichberechtigt anzuerkennen. Und mit
saurer Miene mußte »ran diesen Gesuchen willfahren. Äußerlich ließ man sich
zwar mit orientalischer Höflichkeit nichts merken, aber dafür wurde es all¬
mählich mit einem umso zähem passiven Widerstande in allen möglichen
kleinen Dingen versucht. Bald genug wurde es klar, daß die Wirkung der
ersten Lektion doch noch nicht nachhaltig genug war.
Ehe wir uns aber zu dem zweiten Kriege wenden, wollen wir rasch einen
Blick auf die innern Verhältnisse Chinas werfen, wie sie sich in den fünfziger
Jahren gestalteten. Es hätte den Rahmen dieses Aufsatzes weit überschritten,
wenn wir mich frühere Umwälzungen und Unruhen im Reiche der Mitte hätten
erwähne» wollen; aber bei dem Aufstande der Taipings, der das alte Reich
in allen Fuge» krachen machte, muß wegen der hineinspielcnden ausländischen
Einflüsse eine Ausnahme gemacht werden. In Deutschland wird es wenig
bekannt sein, daß diese ungefähr zwei Jahrzehnte dauernde Bewegung anfänglich
einen christlichen Schein hatte. Mehr als ein Schein war es freilich nicht,
denn der Führer Hung Hsiu Tschüan kann nur eine sehr äußerliche Auf¬
fassung vom Christentum gehabt haben. Überdies drängten seine weltlichen
Pläne bald alle etwa echten religiöse» Absichten zurück. In seiner nicht weit
Von Kanton gelegnen Heimat fielen ihm im Jahre 1843 eine Anzahl christ¬
liche Flugschriften in die Hände, und ungefähr z» derselben Zeit wurde er
infolge eiuer Krankheit fortwährend von Visionen heimgesucht. Diese hielt er
für Offenbarungen und deutete unter ihrem Einfluß allerlei aus den Flug¬
schriften entnommene Bibelstellen so, daß er berufen sei, christlicher Kaiser von
China zu werden. Bald fand er Anhänger, wie dies denn in China für
einen halbwegs energischen einheimischen Führer selten schwierig gewesen ist.
In mancher Beziehung nahm sich die Bewegung zu Anfang wirklich so aus,
als ob hier ein Apostel des Christentums unter den Chinesen erstanden wäre.
Hnng gebot die Heiligung des Sonntags und die Verehrung des Tim Fu,
d. i. des himmlischen Baders, sowie des Tim Hölung, d. i. des himmlischen
altern Bruders (Christus).") Er selbst ließ sich später, nach seinen großen
Erfolgen, nicht mehr mit seinem eigentlichen Namen nennen; seine Anhänger
gebrauchten dafür gewöhnlich den Ausdruck Tim Wang Tai Pirg, d. i. himm¬
lischer König aus der großen Friedens- (Tschav-) Dynastie. Davon ging
dann der Ausdruck Taipings in die europäischen Sprachen über. Auf Seiten
der kaiserlichen Partei wurde indessen eine minder ehrerbietige Bezeichnung
angewandt, nämlich Tschang Mao Tseh, d. i. langhaariger Empörer, weil
sich die Taipings den Zopf abschnitten und das übrige Kopfhaar wachsen ließen.
Im Jahre 1846 ging Hung nach Kanton, um sich bei dein dort wir¬
kenden amerikanischen Missionar Roberts im Christentum näher unterweisen zu
lassen. Aber zu seiner Taufe kam es nicht. Denn bald begannen die un¬
ruhigen innern politischen Verhältnisse, die der Krieg gegen England zur
Folge hatte, weit mehr seine Aufmerksamkeit zu erregen als alle religiösen
Fragen. Von Anfang der Empörung an benutzte Hung die Religion nur
noch als Mittel zum Zweck, nicht umgekehrt seinen politischen Erfolg zur
Ausbreitung des Christentums. Er hütete sich wohl, Missionare in sein Lager
zu rufen, weil er sich sagen mußte, daß sie niemals seine angeblich vom
himmlischen Vater erhaltnen Mitteilungen als Offenbarungen anerkennen
würde».
Zum offnen Aufruhr kam. es, als sich Hung und seine Anhänger in
ihrem religiösen Eifer an den buddhistischen Tempeln vergriffen. Unwillkürlich
drängt sich einem dabei der Vergleich mit den Bilderstürmern der deutschen
Reformation ans, und in der That haben beide Bewegungen viel Ähnlichkeit
mit einander. Ebenso wie Thomas Münzer wollte Huug keine frommen
Bildnisse dulden; auch ließ er nur die unmittelbare Eingebung des göttlichen
Willens gelten, dessen irdischer Arm zu sein er behauptete. Der Unwille des
Volks über die Schändung der Tempel zwang die Beamten endlich zum Ein-
schreiten. Sie sollten jedoch bald die Überlegenheit ihres Gegners kennen
lernen. Vom Jahre 1850 an war die Laufbahn Hungs lange Zeit hindurch
ein einziger großer Siegeszug. Nach mehreren größern Erfolgen im Süden
marschirten die Empörer nach Norden und nahmen eine Stadt nach der andern
ein. Nur Tschangscha, die Haupstadt der Provinz Hunnen, leistete solchen
Widerstand, daß die Belagerung schließlich ausgehoben werden mußte. Aber
am Nangtzekiang, wohin sich Hung dann wandte, waren die Erfolge wieder
umso großer. Der ganze mittlere und untere Lauf dieses mächtigen Stroms
nebst den angrenzenden reichen Provinzen geriet in seine Gewalt, und in dem
eroberten Nanking richtete er sich einen Hofstaat ein. Noch in demselben
Jahre, als Nanking fiel (1853), wurde ein bedeutender Teil des Heeres nach
Norden gesandt, um Peking einzunehmen. Auch diese Truppen drangen überall
siegreich vor, durchzogen in sechs Monaten vier Provinzen und nahmen sechs¬
undzwanzig Städte ein — wobei zu bedenken ist, daß alle großen Orte in
China mit starken Mauern umgeben sind — und schlugen sämtliche sich ihnen
entgegenstellenden kaiserlichen Heere. Aber ihren eigentlichen Zweck erreichten
sie doch nicht. Trotzdem daß Hung im Winter Verstärkung schickte, sahen sich
seine Truppen im nächsten Frühling zur Umkehr gezwungen, da sie sich zur
Belagerung von Peking und gleichzeitigen Offenhaltung der Verbindung mit
dem weit entfernten Jangtzekiang für zu schwach halten mußten. Hung konnte
sich nicht dazu entschließen, nun selbst mit allen ihm zu Gebote stehenden
Kräften einen zweiten Zug gegen Peking zu unternehmen, weil er so alles
ans eine Karte gesetzt hätte. Damit war die regierende Dynastie gerettet,
und von diesem Augenblick an war es nur noch eine Frage der Zeit, wann
die Empörung vollständig zu Boden geworfen sein würde. Denn nur im
fortwährenden Vorwärtsschreiten lag Hungs Kraft; sobald er still stand, konnten
ihm alle seine Machtmittel nichts mehr nutzen, weil er wohl ein für chinesische
Verhältnisse sehr tüchtiger Feldherr, aber gar kein Organisator war. Was
für eine Vorstellung er sich eigentlich davon gemacht hat, wie die Verwaltung
des großen Reichs nach seinem endgiltigen Siege neu zu ordnen und zu leiten
wäre, ist ganz unklar und jetzt nicht mehr festzustellen. Vielleicht überzeugte
er sich allmählich selbst von seiner Unfähigkeit und begnügte sich aus diesem
Grunde mit den errungnen Erfolgen. Sobald das aber geschah, mußte sich
die Revolution in sich selbst verzehren. Unterschied sich nämlich beim Beginn
der Bewegung das Verhalten der Empörer sehr vorteilhaft von dem der
kaiserlichen Truppen, so waren jetzt längst auch die Taipings Meister geworden
im Morden und Brennen, im Zerstören der volkreichen Städte und im Ver¬
wüster der blühenden Fluren Mittelchinas. Im Süden hatten sie wegen
ihres anfänglich menschlichem Benehmens viel freiwilligen Zuzug gehabt, jetzt
mußten sie die Bewohner der besetzten Provinzen mit Gewalt zu Soldaten
pressen. Der religiöse Schein verschwand mehr und mehr; nur der Führer
hielt die Behauptung seiner göttlichen Sendung stets aufrecht. Im ganzen
waren die Taipings schon bald nach der Einnahme von Nanking nicht viel
mehr als eine zuchtlose Räuberbande.
Die Ausländer thaten deshalb weise daran, schließlich der kaiserlichen
Partei ihre Hilfe zur Niederwerfung des Aufstands zu leihen. Denn mochte die
Regierung auch noch so viele Schwächen zeigen, sie war doch immer noch weit
besser als das Chaos, das ein Sieg der Taipings zur Folge gehabt hätte.
Die Nachrichten über den in Nanking herrschenden sonderbaren neuen Gewalt¬
haber hatten bei den in Shanghai wohnenden Ausländern schon frühzeitig
lebhaftes Interesse erregt, umso mehr, als unter ihnen schon lange, ehe die
Empörer den Aangtzekiang erreichten, verworrene Gerüchte über eine bevor¬
stehende Christianisirung von ganz China in Umlauf gewesen waren. Jetzt,
da mau diesen chinesischen Christen kennen lernte, war die Enttäuschung natür¬
lich groß. Gleichwohl gab es einige europäische Abenteurer, die gegen hohe
Bezahlung in den Dienst der Rebellen traten, aber die Sympathien der über¬
wiegenden Mehrzahl und vor allem des bessern Teils der Fremden neigten
sich sehr bald der kaiserlichen Seite zu. Als die Taipings Shanghai bedrohten,
schützten dieselben englischen und französischen Truppen, die gegen China Krieg
führten, die Stadt im Interesse des Kaisers gegen die Aufrührer, gewiß ein
sehr eigentümliches Verhältnis.
Eine Anzahl von Ausländern stellte sich den Chinesen ganz zur Ver¬
fügung, und da man das Glück hatte, tüchtige Führer uuter ihnen zu finden,
so verstummte allmählich der Spott des fremden Militärs über die im
Jahre 1860 errichtete gemischte Truppe, deren Offiziere alle Europäer oder
Amerikaner waren, während die Mannschaft aus Chinesen bestand. Der letzte
Anführer der „immer siegreichen Armee." wie diese Truppe bald von den
Chinesen genannt wurde, war zugleich der hervorragendste und selbstloseste,
nämlich der englische Oberst Gordon, derselbe, der später als General im
Sudan umkam. Er und Li Huug Tschang, der zur Zeit auch in europäischen
Zeitungen viel genannte in Tientsin wohnende Vizekönig, der damals einer
der kaiserlichen Generale war, erstürmten am Ende des Jahres 1863 das
nicht weit von Shanghai liegende Sutschau, eines der letzten Bollwerke der
Empörer. Bald darauf wurde die „immer siegreiche Armee" aufgelöst, weil
mau ihrer Dienste nicht mehr bedürfte. Offiziere und Mannschaften erhielten
Belohnungen, aber Gordon schlug das für ihn bestimmte ansehnliche Geld¬
geschenk aus. Mit der Eroberung von Nanking wurden die kaiserlichen
Truppen noch in demselben Jahre (1864) allein fertig. Wie der himmlische
König Hnng umgekommen ist, ist nicht genau bekannt geworden. Wahrschein¬
lich hat er sich kurz vor der Erstürmung seiner Hauptstadt vergiftet. Als die
Nachricht von seinem Tode nach Peking gelangt war, hieß es in einer kaiser¬
lichen Verordnung: Worte können keinen Begriff geben von der Menge des
Kummers und des Elends, die er verursacht hat; sei» Maß war voll, und
der Grimm von Göttern und Menschen hatte sich gegen ihn erhoben.
So endete der chinesische Thomas Münzer. Noch jetzt sind trotz der
großen Betriebsamkeit des Volks die fürchterlichen Spuren seines Wirkens
nicht verwischt. Wer von Shanghai aus den Mngtzekiang hinausfährt, erblickt
etwas oberhalb von Tschinkiang auf einem in den gewaltigen Strom vor¬
springende«? Felsenkegel in wunderschöner Lage ein mächtiges Bauwerk, das
wie eine Pagode aussieht, und doch wieder nicht wie eine Pagode. Das ist
Golden Island, eine frühere Insel. Die Pagode da oben zeigt noch deutlich
die Spuren davon, wie die Taipings hier gewütet haben: alle Verzierungen
sind weggebrochen, aber das starke Mauerwerk hat ihrem Feuer und Eisen
widerstanden. So ist ein weit in der Umgegend sichtbares Wahrzeichen stehen
geblieben, das noch heute von der grauenhaften Verwüstung erzählt, die der
himmlische König aus der großen Friedeusdynastie angerichtet hat. „Die
vorher von einer friedfertigen Bevölkerung dicht bewohnten Teile der neun
Provinzen — sagt Williams —, wo seine Horden hindurchzogen, haben sich noch
immer uicht wieder völlig erholt. Zerstörte Städte, verlaßne Ortschaften und
große Haufen von allerhand Schutt zeigen noch jetzt auf einer Strecke von
zweitausend englischen Meilen den Weg, den sie von Süden nach Norden
zurückgelegt haben. Ihre Gegenwart war eine Gottesgeißel mit schrecklichsten
Unheil im Gefolge; sie machten nicht den geringsten Versuch, das, was zer¬
stört worden war, wieder aufzubauen. Wilde Tiere streiften durch die ver¬
wüsteten Landesteile und suchten sich Höhlen in den verödeten Städten. Wo
sonst das Getreide des fleißigen Volkes zu hören war, schwirrte nun der
scheue Fasan, und Unkraut oder Dschungeln bedeckten den Boden, den einst
der geduldige Bauer bestellt hatte. Volle zwanzig Millionen Menschen müssen
bei dem Aufruhr umgekommen sein, während ungezählte weitere Millionen
auf Jahre hinaus ein elendes Dasein zu fristen hatten."
Ein aufmerksamer Beobachter wird aber auch hier die alte Regel bestätigt
finden, daß selbst das größte menschliche Elend immer irgend eine gute Folge
hat. So grauenhaft auch die Verwüstungen in den durch die Empörung be-
trofsuen Provinzen waren, und so sehr die Regierung darum wünschen mußte,
deu Aufstand rasch zu unterdrücken, so war doch für sie das Verlangen, das
die zu derselben Zeit wieder andrängenden äußern Feinde stellten, noch weit
schrecklicher als der ganze Aufruhr. Und was war das für ein unerhörtes
Verlangen? Nun, die unbequemen Ausländer erdreisteten sich wahrhaftig,
das seit Jahrtausenden gewahrte Vorrecht der Herrscher in Peking, mit den
draußen wohnenden Barbaren nur ganz nach eignem Ermessen und Beliebe»
zu verkehren, ernstlich in Frage zu stellen. So etwas war doch noch nicht
dagewesen! Außerdem traute man ihnen noch alle möglichen sonstigen Teufe¬
leien zu, und deshalb mußte mau die Empörung Empörung sein lasse» und
sich zunächst mit aller Kraft die Fremden von Halse zu halten suchen. Als
sich dann aber die Anstrengungen, sich ihrer zu erwehren, als vergeblich er¬
wiesen hatten, stieg das Mißtrauen, die Sieger könnten mit den Taipings
gemeinschaftliche Sache machen, aufs höchste. Welch ein Wunder nun, daß
diese Barbaren nach ihre» Erfolgen so viel Anstandsgefühl besaßen, der recht¬
mäßige» Regierung nicht nur nicht weiter entgegenzutreten, sondern ihr sogar
zu helfen! Das hatte mau nicht erwartet, und selbst bei sehr verstockten
chinesischen Beamten fing darüber allmählich das Vorurteil, daß die Ausländer
gar keine guten Seiten haben könnten, zu schwinden an. Das Hauptverdienst
hieran gebührt ohne Zweifel Gordon. Es wäre ihm ein leichtes gewesen,
Verrat zu üben und dann im Bunde mit den Empörern große Erfolge über
die kaiserliche Partei zu erringen. Doch ließ seine zwar etwas schwärmerische,
aber durchaus wahre und tiefe Religiosität niemals auch nur den Gedanken
des Treubruchs in ihm aufkommen. Als er dann die Waffe» niederlegte in
dem Bewußtsein, einfach seine Pflicht gethan zu haben, aber um nichts reicher,
als er vorher gewesen war, da mochten die Chinesen in sprachlosem Staunen
denken: Solch einen Mann hätten wir unter den fremden Teufeln nicht zu
finden geglaubt! Dieser gewaltige Eindruck von Gordvns schlichter Persönlich¬
keit auf die Chinesen war um so wichtiger, als er unmittelbar auf den zweiten
Krieg folgte, den sie gegen europäische Mächte zu führen hatten; er hat
wesentlich mit dazu beigetragen, daß die Mandarinen eine beßre Meinung von
den Abendländern im allgemeinen bekamen.
Dies war ein nicht zu unterschätzender Vorteil, denn die Zustände waren
kurz vor dem Kriege wieder einmal unerträglich geworden. Wirkte auch in
Peking der Schreck über die unerwartete erste Niederlage noch nach, so kam
doch der alte Hochmut bald genug wieder zum Vorschein, und der sich hieraus
notwendig ergebende Zwiespalt erzeugte nun die verkehrtesten Maßregeln, die
es geben konnte. Ganz konnte man die verhaßten Fremden zwar nicht wieder
loswerden, das leuchtete auch dem hartnäckigste» Mandarinen ein; aber man
brauchte sich ja einfach nicht um sie zu bekümmern. Der, der diesen schlauen
Ratschlag in Peking gegeben hat, wird wahrscheinlich gut dafür belohnt worden
sein; allmählich verfuhr man ganz darnach, indem grundsätzlich nur fremden¬
feindliche Beamte in die fünf dem auswärtigen Verkehr geöffneten Häfen
geschickt wurden. Von irgend welchem ersprießlichen Umgange zwischen den
Mandarinen und den fremden Konsuln konnte daher bald keine Rede mehr
sein. Schließlich weigerte sich der Generalgouvemeur von Kanton, Ach, den
englischen oder den französischen Bevollmächtigten überhaupt noch zu sehen,
obgleich eine Menge von kleinen Streitigkeiten am einfachsten und natürlichsten
durch persönliche Besprechung zu schlichten gewesen wäre. Jeder, der sich
einigermaßen unbefangen in die Vorgeschichte des zweiten Krieges vertieft,
nuiß erkennen, daß es die Chinesen nicht anders haben wollten. Der unmittel¬
bare Anlaß: die angebliche Verletzung der englischen Flagge auf einem kleinen
Küstenschiffe, das diese Flagge gar nicht einmal hätte sichren dürfen, war
allerdings kaum der Rede wert, und daher hat es auch natürlich in England
nicht an moralisirenden Leuten gefehlt, die aus diesem Grunde much den
zweiten Krieg verurteilten. Als ob er abzuwenden gewesen wäre, auch wenn
man diese Streitfrage gütlich beigelegt hätte! Die Zeit war eben gekommen,
wo sich das Abendland von den chinesischen Mandarinen nicht mehr von oben
herab behandeln lassen wollte. Konnte man sich in Peking nicht dazu ver¬
stehen, das zu begreifen, so mußte eben die Gewalt entscheiden.
Lord Palmerston war auch schon am Ende des Jahres 1856 hierzu ent¬
schlossen. Er forderte die Franzosen, Russen und Amerikaner zur Mitwirkung
auf, weil das ganze Abendland an dieser Sache gleichmüßig interessirt sein
müßte. Der Kaiser Napoleon war auch alsbald dazu bereit, da in demselben
Jahre ein französischer Missionar auf Befehl chinesischer Beamten gefoltert
und enthauptet worden war. Die Russen und Amerikaner liehen den beiden
andern Mächten wenigstens ihre moralische Unterstützung, indem sie einige
Kriegsschiffe mit Bevollmächtigten an Bord in die chinesischen Gewässer schickten.
Die Engländer wie die Franzosen waren sehr glücklich in der Wahl ihrer Be¬
vollmächtigten, da beide, Lord Elgin und Baron Gros, neben einem durchaus
klaren Kopfe für ihre nicht leichte Aufgabe großen Takt besaßen.
Der Beginn der Feindseligkeiten zog sich jedoch noch etwas hin, weil die
Engländer erst mit der Empörung in Indien fertig werden mußten. Als sie
dann Ende 1857 eine Anzahl einheimischer Regimenter ohne Gefahr von dort
wegnehmen konnten, wurde im Verein mit den Franzosen Kanton erstürmt,
was nicht viel Mühe machte. Den widerspenstigen Generalgouvemeur Ach
nahm man gefangen und brachte ihn auf ein englisches Kriegsschiff. Dann
fuhr die ganze Flotte nach Norden. Aber bevor die Feindseligkeiten fortgesetzt
wurden, versuchten es alle vier Mächte von Shanghai aus noch einmal, den
Hof von Peking ans gütlichem Wege umzustimmen und zur Vernunft zu
bringen. Vergebens! Die sehr gemäßigten Forderungen der Verbündeten, die
nur auf Herbeiführung beßrer Beziehungen gingen, wurden einfach zurückge¬
wiesen, ein ganz thörichter Schritt, da man gar nicht imstande war, nennens¬
werten Widerstand zu leisten. So blieb den europäischen Mächten nichts andres
übrig, als die Annahme ihrer Forderungen zu erzwingen, und das war am
schnellsten durch ein Vorgehen gegen Peking zu erreichen. Die vereinigte Flotte
dampfte also ins Gelbe Meer, das noch nie zuvor feindliche europäische Schiffe
getragen hatte, und nahm in: Mai 1858 ohne großen Verlust die sämtlichen
an der Mündung des Paiho bei Tccku liegenden Befestigungen ein. Dadurch
war der Weg nach Peking frei. Inzwischen aber hatten sich die Chinesen
endlich anders besonnen. In Tientsin kam es zu Verhandlungen, wobei so
ziemlich alle Forderungen der Abendländer bewilligt wurden. Eine ganze An¬
zahl bisher verschlvßner Häfen an der Küste und am Uangtzetiang sollte
darnach für den Verkehr geöffnet werden. Das wichtigste Zugeständnis aber
war die Zulassung von fremden Gesandten für ständige» Aufenthalt in Peking.
Es zeigte sich aber bald, daß diese Pille doch zu bitter sür die Chinesen
gewesen war. Als im folgenden Jahre (18ü!>) die Kriegsschiffe der Verbün¬
deten wieder vor der Mündung des Paihv erschienen, damit den in Tientsin
getroffnen Bestimmungen gemäß die ratifizirten Vertragsurkunden in Peking
ausgetauscht werden könnten, fand man den Fluß gesperrt und die Befestigungen
nicht nur wieder aufgebaut, sondern auch bedeutend verstärkt. Überland können
eure Gesandten kommen, sagten die Chinesen, aber nicht auf den Kriegsschiffen
den Fluß herauf. Die Verbündeten wollten sich jedoch hierin keine Vorschriften
machen lassen, sondern rückten vor. Die Folge davon war, daß die Chinese»
aus den Forts ein so kräftiges Feuer eröffneten, daß mehrere der Schiffe zum
Sinken gebracht wurden, und der übrige Teil der Flotte sich zurückziehen
mußte.
Natürlich hatten die Chinesen damit nichts weiter erreicht, als daß das
unabwendbar gewordne Geschick etwas hinausgeschoben worden war. Die
Engländer und Franzose« trafen sofort energische Maßregeln zur Fortsetzung
des Kriegs und erschienen im Sommer des Jahres 1860 mit einer Flotte
von mehr als zweihundert Schiffen abermals im Gelben Meere. Diesmal
wurden die Forts von Tciku von der Landseite aus angegriffen und erstürmt.
Dann trat man den Marsch nach Peking an. Die Chinesen leisteten nnr noch
geringen Widerstand, verdarben sich aber das ohnehin schon Verlorne Spiel
dadurch noch mehr, daß sie einige Parlamentäre nebst deren Begleitung ge¬
fangen nahmen, obwohl sie die Bedeutung der weißen Flagge recht gut kannten,
da sie sich dieses Zeichens oft genug selbst bedient hatten. Diese Gefangnen
wurden daun so schlecht behandelt, daß einige ihren Leiden erlagen. Die
Verantwortung für eine solche Verletzung des Völkerrechts schrieb man nicht
mit Unrecht am letzten Ende dem Kaiser zu, und Lord Elgin beschloß daher
kurzer Hand, diesen durch die Zerstörung seines bei Peking liegenden Svmmer-
palastcs zu bestrafen. Eine ganze Anzahl von prächtigen Gebäuden und weite
Strecken des schönsten Parks wurden infolge dessen dein Erdboden gleich ge¬
macht. Unter den unschätzbaren hier aufgehäuften Kunstgegenständen hatten die
Franzosen schon in der schlimmsten Weise gehaust, wobei sich der Graf Mon¬
tan bau, später Palikav genannt, in traurigster Weise hervorthat.
Bald daraus nahmen die Chinesen das Ultimatum der Verbündeten an,
dem zufolge den Siegern das nordöstliche Thor von Peking geöffnet werden
sollte, und am 24. Oktober 1860 sahen die Bewohner der chinesischen Haupt¬
stadt staunend deu Einzug der Engländer und Franzosen. An demselben Tage
wurde der Friedensvertrag unterzeichnet, dessen Bestimmungen für die Chinesen
sehr mild waren. Sie mußten die Kriegskosten bezahlen und außerdem solchen
katholischen Missionen, die in früherer Zeit durch Verfolgung Schaden erlitten
hatten, Ersatz leisten. An Land verloren sie nnr einen unbedeutenden Strich
gegenüber von Hongkong. Im übrigen blieb es bei dem, was man vor zwei
Jahren in Tientsin vereinbart hatte.
Nach mehr als zwanzigjährigen Bemühungen waren also die Abendländer
so weit, China zur thatsächlichen Anerkennung ihrer Gleichberechtigung ge¬
zwungen zu haben. Ein englischer und ein französischer Gesandter wurden
sofort für Peking ernannt; nach und nach folgten dann die andern fremden
Nationen diesem Beispiele. Wie sich das Verhältnis der Ausländer zu den
Chinesen auf der Grundlage der seitdem wenig veränderten Verträge von
Tientsin gestaltet hat, und wie die Aussichten für die Zukunft sind, dies müßte,
ebenso wie eine Übersicht der Missiousbestrebungen, einer besondern Darstellung
vorbehalten bleiben. Für diesmal sei nur noch ein Punkt erwähnt.
Wo blieben die Deutsche» während dieser ganzen Zeit? Ach, der starke
Schmied, der die neben einander liegeudeu Stücke des deutschen Landes zu
einem ordentlichen Ganzen zusammenschweißen sollte, hatte seine schwere Arbeit
damals noch nicht begonnen. Wir waren noch keine Nation und bedeuteten
deshalb auch nichts, denn trotz der erfolgreichen Bemühungen Preußens, unser
Vaterland zunächst wenigstens wirtschaftlich zu einigen, trat doch gerade in
allen überseeischen Handelsfragen immer wieder unsre alte Zerrissenheit hervor,
weil die Hansestädte dem Zollvereine nicht angehörten. Kann man sich daher
wundern, daß überhaupt nicht davon die Rede gewesen zu sein scheint, uns
zur Teilnahme an dem gemeinschaftlichen Vorgehen gegen China aufzufordern?
Es war ja die traurige Zeit gleich nach dem Krimkriege, wo Preußen kaum
noch als Großmacht mitgezählt wurde.
Aber schon nach wenigen Jahren zeigten sich auch hier die erfreulichsten
Spuren des Erstarkens. Als der Vertrag von Tientsin in Europa bekannt
geworden war, rüstete die preußische Negierung eine Expedition nach Ostasien
aus, um im Namen aller deutschen Staaten einen ähnlichen Handelsvertrag
abzuschließen. Wir haben von Reinhold Werner eine hübsche Beschreibung
dieses Unternehmens, das zum gewünschten Ziele führte. Am 2. September 1861
wurde in Tientsin der Vertrag zwischen dem Zollverein, den Hansestädten und
Mecklenburg einerseits und China andrerseits vom Grafen Eulenburg und
den chinesischen Bevollmächtigten unterzeichnet. Die Bestimmungen waren im
wesentlichen dieselben, wie die für die andern Staaten geltenden. Seitdem
hat sich der deutsche Handel in China so mächtig gehoben, daß er jetzt den
zweiten Platz einnimmt. Von großem Werte hierfür war der Umstand, daß
im Jahre 1875 die deutschen Interessen in Peking in die Hände eines Herr,
gelegt wurden, der sich durch die schwierigen Verhältnisse niemals hat ent¬
mutigen lassen, sondern unermüdlich für sein Vaterland thätig gewesen ist.
Herrn vou Brandt verdanken wir unter cinderm die erste Anregung zur Er¬
richtung einer deutschen Pvstdampferlinie nach Ostasien. Welch ein Jubel
unter deu Deutschen in allen den Hufen des Ostens, in die der erste Dampfer
mit der an Maste wehenden Reichspostflagge einlief, während auf Deck die
Musikkapelle das Heil dir im Siegerkranz spielte! Man würde aber unseru
geschäftstreibenden Landsleuten Unrecht thun, wollte man diese Freude nur
durch platten Eigennutz erklären. Nein, es war mehr als das, es war die
Befriedigung darüber, daß sich endlich, endlich auch unser Staat dazu ent¬
schlossen hatte, seine kräftig vorwärtsstrebender Angehörigen im Auslande
durch seine Unterstützung zu weiteren, angestrengtem Fleiße anzuspornen. Und
nun finden sich Leute, die alles Ernstes zu erwarten scheinen, eine solche Saat
müsse schon nach einigen wenigen Jahren aufgehen! Durch so abgeschmackte
Tiraden, wie sie die Herren Richter und Bamberger jeden Winter, den Gott
werden läßt, im Reichstage vorbringen, machen wir uns allmählich vor der
ganzen Welt lächerlich.
Wenn nur die deutsche Regierung ein übriges thun, nämlich, ohne sich
durch die öden Reden solcher Worthelden einschüchtern zu lassen, wenigstens
noch ein oder zwei Kriegsschiffe in Dienst stellen und das Geld dafür vom
Reichstage verlangen wollte! Während früher in Ostasien stets zwei Korvetten
und zwei Kanonenboote standen, hat man beim Beginn der Kolonialbewegung
die beiden Korvetten von hier weggenommen. Allerdings sehen wir dasür
von Zeit zu Zeit ein fliegendes Geschwader; aber daß dies doch nur ein recht
ungenügender Notbehelf ist, zeigt sich, sobald an mehreren Punkten der Erde
zu gleicher Zeit ein kräftigerer Schutz der deutschen Interessen nötig wird.
Kaum hatte sich z. B. im vorigen Frühling das Geschwader dem Befehle
gemäß auf den Weg nach Chile gemacht, als auch hier Unruhen ausbrachen,
wobei dann unser Gesandter in Peking lediglich auf die beiden Kanonenboote
angewiesen war, also auf eine Zahl von Schiffen, die nicht annähernd im
Verhältnis zu der Bedeutung der deutschen Interessen steht. Frankreich,
Rußland und Amerika sind trotz ihres geringern Handels alle weit besser
vertreten als Deutschland. Die haben auch mehr Geld, wird man einwenden.
Nun, man sollte denken, daß wir doch noch nicht wieder so weit wären, wie
zur Zeit des seligen Bundestags, und unsre im Auslande lebenden Lands¬
leute dem Schutze fremder Flaggen überlassen wollten. Wie viel mehr ent¬
spricht es der nationalen Würde, wenn das Reich diesen Schutz in allen Erd¬
teilen selbst ausübt! Nicht ernstlich genug kann man wünschen, daß die Nation,
deren Handel den zweiten Platz in China einnimmt, bei später etwa ein¬
tretenden Verwicklungen an Machtentfaltung nicht hinter andern Völkern des
Abendlandes zurückstehe. Wir Deutschen im Auslande finden es ebenso un¬
begreiflich wie bedauerlich, daß man daheim noch immer nicht lernen null,
wenigstens bei solchen Fragen, wobei die nationale Ehre ins Spiel kommt,
das elende Parteigezänk beiseite zu lassen; denn bei uns heißt es stets: Das
Vaterland über alles!
is schwere Sorge lastet auf vielen Vaterherzen die Frage nach
dein künftigen Beruf ihrer Söhne. Die Überfüllung ist in den
meisten Berufsarten groß. Die Anwärter müssen sich auf eine
Reihe von Jahren des Wartens gefaßt machen, ehe sie in der
Lage sind, selbst für sich sorgen zu können. Und das Leben
kostet viel Geld. Kann der Bater, dein kein Vermögen und vielleicht nur
unbedeutende Ersparnisse zu Gebote stehn, solch längeres Warten ermöglichen,
ohne sich in Schulden zu stürzen? Noch schwieriger gestalten sich die Ver¬
hältnisse, wenn vielleicht der Vater wegen Krankheit auf kargen Ruhegehalt
gesetzt ist, oder wenn gar einer Witwe die Sorge obliegt, ihre Söhne zu einer
Lebensstellung zu bringen, die der des verstorbnen Vaters einigermaßen ent¬
spricht. In diesem Falle wird freilich, wenn sonstige Hilfsquellen mangeln,
die Unmöglichkeit, das gewünschte Ziel zu erreichen, ohne weiteres klar sein.
Die Verhältnisse werden eben dazu zwingen, ein früher zu erreichendes, wenn
auch bescheidneres Ziel ins Ange zu fassen.
Für Fälle nun, die man als normal bezeichnen kann, d. h. wo der Vater
in geachteter, auskömmlicher Stellung lebt und in der Lage ist, seine Söhne
zu erhalten, bis sie ans eignen Füßen stehn, sei im Nachfolgenden auf die
Laufbahn des Offiziers hingewiesen. Wir wollen sie einmal vergleichen mit
der Laufbahn des Philologen, des Theologen und Juristen, da gerade über
die Ofsizierslaufbahn in weiten Kreisen recht unklare Ansichten herrschen.
Nur zu häufig hört man die Meinung aussprechen: Offizier kann mein
Junge uicht werden, dazu habe ich uicht die Mittel. Er soll darum zunächst
das Abiturientenexamen machen, dann kann er studiren, was er will. Ein
tüchtiger Arzt, ein Rechtsanwalt oder Richter, schließlich auch ein Philologe
oder Theologe — die finden immer ihr gutes Brot und sind geachtete Leute.
Hier spricht sich eine gewisse Voreingenommenheit aus gegen den Ofsiziers-
beruf. Die weitverbreitete Meinung, der Offiziersberuf sei nur vermögenden
Leuten zugänglich, dn er seinen Mann nicht nähre, ist falsch. Wäre der
der Offiziersberuf die Domäne der Reichen, so stünde es in der Zeit der Gefahr
traurig um das Vaterland. Die ungeheuern Menschenmassen, die heutzutage
im Fall eines Krieges aufgeboten werden, brauchen auch eine entsprechende
Anzahl Offiziere. Intelligenz, wissenschaftliche Bildung, Thatkraft und sittliche
Tüchtigkeit sind aber doch, wenn sie auch durch Wohlhabenheit unterstützt und
gefördert werden, nicht von ihr abhängig. Ja man findet diese Eigenschaften,
die allerdings dem Offizier unentbehrlich find, da er ja in hervorragendem
Sinne Erzieher des Volkes ist, wohl eher in den Volksschichten, die darauf
angewiesen sind, eine geachtete Stellung im Leben zu erringen, als in denen,
die diesen Kampf nicht kennen, weil ihnen Geld und Gut durch ihre Geburt
bereits zugefallen ist. Vor hundert Jahren konnte die preußische Armee den
Ersatz ihres Offizierkorps ans dein Adel allein nehmen. Seit den Befreiungs¬
kriegen ist das anders geworden; und in neuester Zeit erst recht. Deu Sekonde-
leutnant macht uns keiner nach, hat einmal Fürst Bismarck mit Recht gesagt.
Kein andres Volk hat so viel Intelligenz, wissenschaftliche Bildung und sittliche
Tüchtigkeit in den breiten Massen des Volkes wie das deutsche. Hierin vor
allem ist ein dauerndes Übergewicht begründet über Nachbarnntionen, die
vielleicht an Gold oder auch an Einwohnerzahl reicher sind. Kaiser Wilhelm II.
hat auch die Regimentskommandeure darauf hingewiesen, daß jede Engherzig¬
keit aufhören müsse, wenn es gelte, für tüchtigen Ersatz des Offizierkorps zu
sorgen. Aus alledem geht hervor, daß die so oft gehörte Äußerung: „Mein
Junge kann nicht Offizier werden, ich habe nicht die Mittel dazu," unberechtigt
sein muß, wenn anders die in Frage kommenden Verhältnisse gesund sind.
Die Äußerung ist auch sicherlich in deu meisten Fällen unberechtigt. Die für
den deutschen Offizier als schlechterdings unentbehrlich bezeichneten Eigen¬
schaften siud unstreitig im Beamteustande am häufigste» zu finden und gehen
natürlich auf die aus seinen Häusern hervorgehenden Söhne über. Und wir
möchten das nicht etwa bloß für die Söhne höherer Beamten behaupten,
sondern dafür weit unter die Linie gehen, durch die höhere von niedern oder
Unterbeamten getrennt werden. Intelligenz und sittliche Tüchtigkeit finden sich,
Gott sei Dank, auch bei Subalternen. Mutterwitz ist auch bei nicht akademisch
gebildeten zu Hause. Und wer sich, mit „Mutterwitz" ausgerüstet, als Auto¬
didakt fortbildet, überragt oft an „allgemeiner Bildung" deu, der durch Zeug¬
nisse akademischer Behörden weit mehr als das als sein geistiges Eigentum
verbrieft und versiegelt erhalten hat.
Alle Zweige der Beamtenschaft erinnern ihre Anwärter daran, daß ein
jahrelanges Warten nötig ist, ehe selbst dem tüchtigen eine auskömmliche
Stellung winkt. Welche Unzahl von Juristen, die ihre Examina längst hinter
sich haben, warten auf Anstellung! Welches Elend geradezu herrscht uuter
den jungen stcllunglosen Philologen! Wie zahlreich sind die auf Anstellung
harrenden Kandidaten der Theologie! Welche Überfüllung herrscht auch im
ärztlichen Stande! Und selbst wenn der Jurist eine Besoldung erhält, so ist
sie keineswegs glänzend, obwohl er hierin noch besser gestellt ist als der
Theologe und der Philologe, die besonders übel daran sind; denn der Theo¬
loge in Preußen erhält als Anfangsgehalt mir 1800 Mark bei freier Wohnung,
wobei er sich sofort noch Abzüge zur Pensions- und zur Witwenkasse gefallen
lassen muß. Der Philologe erhält Jahre hindurch nichts! Die hier in Be¬
tracht kommenden Verhältnisse sind zu bekannt, als daß es nötig wäre, darüber
an dieser Stelle ausführlich zu handeln.
Wie sind dagegen die Einkommensvcrhältnisse zunächst des jungeu
Offiziers? Der Sekondeleutnant der Infanterie — der der berittnen Waffen
und der Garde bezieht 100 bis 300 Mark mehr — erhält jährlich 900 Mark
Gehalt und zwar in allen Garnisonen gleichmäßig. Dazu kommt aber noch
Servis "1 und Wohuungsgeldzuschuß, die je nach der Servisklasfe der Garnison
höher oder niedriger sind. Der Servis eines Leutnants schwankt zwischen
540 und 288 Mark jährlich. Der letztere Satz gilt aber nur für wenige
Garnisonen. Im allgemeinen ist anzunehmen, daß der Leutnant 300 bis
360 Mark an Servis bezieht. Der Wohnungsgeldzuschuß schwankt zwischen
420 und 216 Mark und wird in den meisten Fällen 240 Mark betragen.
In den Garnisonen der Servisklasfe I ^ (Berlin, Dresden, Hamburg,
Altona, Bremen, München, Stuttgart, Frankfurt a. M., Straßburg, Metz,
Mülhausen im Elsaß) erhält der Sekondeleutnant ein Gesamteinkommen von
1860 Mark; in den Garnisonen der vierten und fünften Servisklasfe 1404
Mark, in den meisten Fällen etwa 1500 Mark.
Der Premierleutnant erhält nur 180 Mark mehr Gehalt als der Sekonde-
leutnant. Servis und Wohnungsgeldzuschuß sind gleich. Das ist nun freilich
kein Einkommen, bei dem man „Sprünge machen" kann. Aber bei der Be¬
urteilung ist noch in Rechnung zu ziehen, daß der Offizierstisch in den Kasinos
ein meistens sehr reichliches und vortreffliches Mittagessen für etwa 1,20 Mark
gewährt. Auch der Aufwand für Bedienung ist bei dem Offizier sehr gering,
weil ihm ja der kommandirte Bursche zur Verfügung steht.
Gleichwohl ist die Meinung allgemein verbreitet, und Äußerungen von
höchster Stelle bestätigen sie ja auch als richtig, daß zum anständigen Aus¬
kommen des Offiziers eine Zulage erforderlich sei. Nimmt mau als niedrigste
Grenze für diese Zulage nur 35 Mark monatlich an, so entspricht das schon
dem Zinsenertrag eines Kapitals von 12000 Mark. Das gilt heutzutage nur
als ein kleines Vermögen. Aber dieser Zinsenertrag ermöglicht doch die
Offizierslaufbahn; der solide, sparsame Mann kann das Vermögen ungeschmälert
erhalten.
Das Einkommen des Hauptmanns ist derartig, daß es einen Zuschuß
aus Kapitalzinsen nicht mehr nötig macht, wenigstens für den Unverheirateten.
Wann tritt nun dieses Verhältnis ein? Nach den heutigen Avaneements-
vcrhältnissen nach etwa vierzehnjähriger Dienstzeit, also wenn der Offizier, an¬
genommen, daß sein Eintritt mit achtzehn bis zwanzig Jahren erfolgt ist, zwei¬
unddreißig bis vierunddreißig Jahre alt ist. Der Gehalt des Hauptmanns
zweiter Klasse beträgt bei der Infanterie 2160 Mark (bei den andern Waffen
ist er um 360 Mark höher); Servis und Wvhnungsgeldzuschuß betragen in
Orten der zweiten Servisklasfe 1116 Mark, sodaß also der junge Haupt¬
mann nahe um 3300 Mark Einkommen bezieht. (Stallservis und Pferdegelder
lassen wir hier unberücksichtigt.) Das ist doch ein Einkommen, mit dem ein ein¬
zelner Mann sehr anständig leben kann. Im Verhältnis zu Beamten, die mit ihm
im Alter gleichstehen, steht der Hauptmann nicht schlecht. Nach zwei bis vier
Jahren tritt aber bereits eine wesentliche Gehaltsaufbesserung ein, da die
Hauptleute erster Klasse einen um 1440 Mark höhern Gehalt als die zweiter
Klasse beziehen, sodaß sich ihre Gesamteinnahme in den Garnisonen der
zweiten Servisklnsse auf 4716 Mark beläuft. Das ist schon ein Einkommen,
das dein Philologen und dem Theologen überhaupt nur selten zuteil wird;
auch der Jurist und der höhere Verwaltungsbeamte erhalten sicher nur in
besonder» Fällen schon im gleichen Alter dasselbe oder gar mehr. Im all¬
gemeinen wird sich der Beamte, der noch nicht länger als siebzehn bis acht¬
zehn Jahre gedient hat, kaum eines so hohen Einkommens wie der gleich
lange dienende, aber doch schon viel früher in die Armee eingetretne Offizier
erfreuen.
Eine verhältnismäßig sehr gute Einnahme hat der Bataillonskommandeur
(Major), nämlich bei der Infanterie 5400 Mark, bei den übrigen Waffen
300 Mark mehr. Wvhnungsgeldzuschuß und Servis erhöhen dieses Ein¬
kommen bis auf 6516 Mark (zweite Servisklasfe); in den Garnisonen der
ersten Servisklcisse erhält ein Bataillonskommandeur 6762, in denen der
Klasse 1^ sogar 7272 Mark. Bedenkt man, daß nach den heutigen Avan-
eementsverhältniffen im allgemeinen Männer von zweiundvierzig bis vierund¬
vierzig Jahren dieses Einkommen erlangen, so kann, mit andern Verufsarten
verglichen, die Offizierslaufbahn durchaus nicht als schlechter, im Gegenteil,
sie muß als weit besser als die meisten andern angesehen werden.
Ein Regimentskommandeur endlich erhält 7800 Mark Gehalt; Servis
und Wohnungsgeldzuschuß erhöhen sein Einkommen (in der zweiten Servis-
klaffe) auf 9276 Mark. In Garnisonen der ersten Servisklasfe beläuft es sich
auf 9672, in denen der Servisklasse 1^. sogar auf 10314 Mark.
Die über den Regimentskommandeur hinausgehenden Stellen noch in Be¬
tracht zu ziehen, ist zwecklos. Denn im allgemeinen wird hier das Ziel als
erreicht gelten müssen. Ja für sehr viele bezeichnet der Bataillonskomman¬
deur oder gar der Hauptmann schon die Grenze. Was anderswo gilt, muß
auch hier gelten- Nicht jeder kann die höchste Stufe erreichen. Nur eine ge¬
ringe Zahl Juristen kann erwarten, Landgerichtspräsident oder, wenn sie sich
der Verwaltung zugewendet haben, Regierungspräsident zu werden. Nur
wenigen Philologen ist es beschieden, Rektoren oder Schulräte zu werden,
nur wenige Theologen sind zum Generalsuperintendenten bestimmt. Aber sicher¬
lich hat jeder Leutnant noch eher Aussicht, einst General zu werden, als der
junge Referendar, Schulamtskaudidat oder Kandidat der Theologie Aussicht
hat, die genannten hohen Stellungen zu erreichen ! denn die Inhaber dieser
Stellen bleiben oft Jahrzehnte hindurch in ihrem Amte, in der Armee dagegen
geht der Wechsel in den höhern Stellen sehr schnell vor sich, und diese Stellen
sind zahlreich. Die Aussicht, einst eine hohe Stelle und dem entsprechendes
Einkommen zu erreichen, ist also in der Armee größer als in allen andern
Berufsarten. Und das ist schließlich ein nicht zu unterschätzender Umstand bei
der Beurteilung der für die militärische Laufbahn sprechenden Verhältnisse.
Der am häufigsten beklagte, am schwersten einpfundnc Übelstand in der
Ofsizierslaufbahn ist das Damoklesschwert der frühen Verabschiedung. Sehr
oft hat der Verfasser dieser Zeilen die Klage gehört: „Ja, wäre ich meiner
Stellung sicher! Ich bliebe gern, so sehr auch gerade dieser Dienst die Kraft
aufzehrt, noch dreißig Jahre lang Kompagniechef! Ich wollte ans jedes Avance¬
ment verzichten, wenn man mir die Zusicherung gäbe, daß ich bis an mein
Lebensende meine Stellung behalten könne, oder wenigstens solange die phy¬
sische Kraft vorhanden ist,' sie auszufüllen." Das sind freilich unerfüllbare
Wünsche. Denen, die sie aussprechen, kann man es nachfühlen, wie schmerz¬
lich sie diese Verhältnisse empfinden. Aber darin sind alle militärischen Auto¬
ritäten einer Ansicht: das Offizierkorps des Heeres muß jugendfrisch bleiben,
es darf nicht alt werden. Darum, ist hier eine gewisse Härte nicht zu ver¬
meiden. Es leiden nnter ihr keineswegs bloß die unmittelbar betroffnen,
sondern die Gesamtheit; ist doch der Pensionsetat eine ungeheure Last für die
Bürger des Staats, und sie wird jeden Tag schwerer! Aber diese Last, wie
die ganze schwere Rüstung muß getragen werden.
Das führt aber sogleich wieder zu einer sehr großen Lichtseite der Osfiziers-
laufbahn. Ich meine ihre Pensionsverhültnisse. Nicht daß hier ein höherer
Satz in Anwendung käme, als bei den Reichs- und den preußischen Staats¬
beamten. Aber kein Beruf setzt den Beginn des bei der Pensionirung in Rück¬
sicht zu ziehenden Dienstes so früh an wie der des Offiziers. Die Vereidigung
des Avantageurs erfolgt unmittelbar nach der Einkleidung. Der Jurist, der
Philolog u, s, w., wie viel übler sind sie dran! Tritt für einen Hauptmann
erster Klasse die Pensionirung el», so ist das ja in vielen Fällen sehr hart,
aber rücksichtslos wird hier nicht vorgegangen; und schließlich ist die Pension
auch hier nicht gering. Wer nach dem Gehaltssatz des Bataillonskommandeurs
Pensivnirt wird, hat sicherlich nicht zu klagen, auch wenn er noch nicht fünfzig
Jahre alt sein sollte; denn seine Pension ist so reichlich beimessen, daß gewiß
viele Altersgenossen in andern Berufszweigen bei doch recht angestrengtem
Dienst lange nicht derartig gestellt sind.
Aber noch etwas: die Leutuautszeit beläuft sich nach den gegenwärtigen
Avancementsverhältnisseu auf etwa vierzehn Jahre. Das ist eine lauge Zeit.
Wenn man auch das Einkommen eines Setvndeleutnants für nicht zu gering
erachten darf, so wird doch vielfach ein höheres Einkommen für den Premier-
lentnant als wünschenswert bezeichnet. Es kann nun freilich nicht geleugnet
werden, daß ein Einkommen von etwa 1709 Mark für einen Mann von
dreißig bis vierunddreißig Jahren sehr gering ist. Aber hierin liegt noch keine
Ungerechtigkeit, denn der vierunddreißigjährige Premierlentnant hat schon mit
zwanzig Jahren fast denselben Gehalt bezogen. Er hat eben zu früh ein ver¬
hältnismäßig hohes Einkommen gehabt und empfindet es nnn als drückend,
wenn dieses nach neun Jahren nur um 180 Mark gestiegen und auf diesem
wenig höhern Satze wieder Jahre hindurch geblieben ist. Wäre der Sekonde-
leutnant die ersten vier bis fünf Jahre seiner Dienstzeit auf ein ganz geringes,
nur etwa als Taschengeld zu erachtendes Einkommen gesetzt, so würde es der
Premierleutuant nicht so bitter empfinden, daß er trotz seiner zehn bis vier¬
zehn Dienstjahre immer noch ein so geringes Einkommen bezieht. Hier liegt
eine gewisse Unbilligkeit vor. Aber hierin liegt auch zugleich der Umstand,
der die Offizierslanfbahn leichter durchführbar erscheinen läßt als manche andre.
Um ganz klar zu sein, mag einmal berechnet werden, welche Opfer eine
Familie zu bringe» hat, die vier Söhne dem Staats- und Kirchendienst über¬
weist, den ältesten als Offizier, den zweiten als Philologen, den dritten als
Theologen, den vierten als Juristen. Wir nehmen an, sie bestehen alle mit
neunzehn Jahren ihr Abiturientenexamen. (Unter den genannten Berufsarten
ist übrigens nur für den Offizier dieser Grad der Schulbildung nicht durchaus
erforderlich. Und besonders in neuester Zeit wieder pflegen die Negiments-
tommandenre auch Nicht-Abiturienten gern anzunehmen.) Eine auskömmliche
Stellung und ein sparsamer Haushalt sollen es dem Vater möglich gemacht
haben, für jeden der vier Söhne ein Kapital von 5900 Mark zu sparen, das
etwa mit dem zwanzigsten Lebensjahre eiues jeden zum weitern Fortkommen
bereit steht. Fast genau ein Jahr nach dem Abiturientenexamen wurde der
älteste Sohn — also nun zwanzig Jahre alt — Offizier. Der notwendige
Zuschuß in der Fähnrichszeit sowie die erste Ausrüstung hatten nicht unde-
deutende Mittel gefordert, rund 1000 Mark. Es waren also noch 4000 Mark
vorhanden. Diese, zu vier Prozent angelegt, ergaben nur 160 Mark Zinsen,
einen Betrag, der nicht ausreichen konnte, dem jungen Offizier ein angemeßnes
Leben zu sichern. Der Bater hatte sich zu einer monatlichen Zulage von
40 Mark verpflichtet; das sollte der junge Offizier anch erhalten. Es wurde
also vom Kapital genommen. Nach dem ersten Leutnantsjahr belief sich das
ursprüngliche Kapital nur noch auf 3680 Mark, da außer den 160 Mark
Zinsen »och 320 Mark davon zur monatlichen Zulage verwendet worden waren.
Bis in das zwölfte Dienstjahr hinein reichte das Kapital. Aber dann winkte
ja das Einkommen des Hauptmanns in unmittelbarer Nähe, sodaß ein Zu¬
schuß von einigen Hundert Mark genügte, den Sohn ohne Schulden in gesicherter
Stellung zu scheu, ohne daß die Familie eine zu schwere Last zu tragen ge¬
nötigt war.
Wie sah es nun bei dem Philologen aus? Die Universität wurde acht
Monate im Jahre besucht. Bei nur 90 Mark Monatswechsel erforderte das
allein 720 Mark; Kollegienhonorare, Kleidung und Bücher erhöhten die Ge¬
samtausgabe bis auf 1150 Mark. Dabei war der Student noch vier Monate
im Jahre daheim. Das zweite und dritte Semester gehörten dem Dienst als
Einjährig-Freiwilliger und forderten etwa 500 Mark mehr als jedes andre
Studienjahr. Nach dem achten Semester — das Militärjahr war für das
Studium völlig verloren gewesen ^ belief sich die einstige Summe von
5000 Mark nur noch auf etwa 300 Mark, kaum ausreichend, die Doktor-
Promotion zu bezahlen! War auch das Staatsexamen am Ende des elften
Semesters gemacht, da ja das Vaterhaus eifrige, ungestörte und sorgenlose
Vorbereitung hierin gestattete, so verging doch darnach noch eine Zeit von
drei Jahren, ehe das Provinzialschulkollegium 1200 Mark Vergütung bewilligte,
die dem „Kandidaten des höhern Schulamts" für seine anstrengende Lehr¬
thätigkeit an einer höhern Lehranstalt gezahlt wurden. Da warm also acht und
ein halbes Jahr seit dem Abiturientenexamen vergangen, ehe pekuniär annähernd
das erreicht wurde, dessen sich der Soldat schon sieben und ein halbes Jahr früher
nach Aufwendung doch nur geringer Kosten hatte erfreuen können. Geht mau
davon aus, daß für einen der Vorbereitung zum Examen lebenden Kandidaten
oder für einen seine Probezeit ableistenden Philologen mindestens dasselbe zum
anständigen Leben erforderlich ist, was der Student braucht, so kommt mau
zu dem Ergebnis, daß der Philologe gerade noch einmal soviel aufwenden
muß, ehe er eine gesicherte Existenz findet, als der Offizier. Ist auch sein
Einkommen vielleicht ein höheres zu der Zeit, wo sein Altersgenosse im Heere
noch Premierleutnant, und in sehr günstigem Falle ein gleiches, wenn der
Offizier Hauptmann zweiter Klasse ist, so hat dieser doch als Hauptmann
erster Klasse sicherlich weit mehr als der Philologe. Und auch der etwaige
Ruhegehalt ist dementsprechend bei dem Offizier schon jetzt viel höher, besonders
da dieser schon eine beträchtlich längere Reihe von Dicnstjcchren hinter sich hat.
Der Vergleich fällt also hier' ganz entschieden zu Gunsten der Offizierslauf¬
bahn aus.
Beim Theologen ist es ähnlich. Als Student und Einjahrig-Freiwilliger
braucht er genau dasselbe wie der Philologe. Vielleicht genügen ihm sieben
Semester auch trotz des Dienstjahres, sodaß, da auch die Promotion nicht er¬
forderlich ist, vielleicht nach beendeten Universitätsstudium noch etwa 909 Mark
vorhanden sind. Aber eine Anstellung winkt ihm nicht sobald. Es sind noch
zwei Examina zu machen, von denen das erste vielleicht am Ende des achten
Semesters abgelegt werden kann; bis zur Meldung zum zweiten, durch dessen
Bestehen die Wahlfähigkeit erlangt wird, muß aber mindestens wieder ein Jahr
vergehen, sodaß es sicher nicht vor dem Beginn des zwölften Semesters gemacht
werden kaun. Die Überfüllung ist aber heutzutage auch in der Theologie so groß,
daß sicher nach Erlangung der Wahlfähigkeit noch Jahre vergehen können, ehe der
junge Theologe die ersehnte Pfarre erhält. Wird aber der junge Theologe im
günstigen Falle vielleicht schon sechs Jahre nach dem Abiturientenexamen Pfarrer,
so bietet sich ihm keineswegs ein glänzendes Los. Ist doch (in Preußen! —
in den andern deutschen Landeskirchen nicht einmal) immer noch das vom
Staate gewährleistete niedrigste Einkommen eines Pfarrers 1800 Mark und
freie Wohnung, und davon sind noch Zahlungen für den Pensionsfonds und
die Witwenkasse zu leisten — Abgaben, die für den Offizier längst nicht mehr
vorhanden sind. Erst nach fünf Jahren erhält der Pfarrer 2400 Mark. Und
die höchste zu erreichende Stufe bietet nur 3600 Mark. Wie viel mehr hat
da der Altersgenosse in der Armee! Und der wohnt in der Stadt, wo die
Sorge um die Schule für die Kinder nicht auf dem Herzen lastet. Mag der
Offizier den Pfarrer vielleicht um seine Ruhe und seinen Frieden beneiden,
wenn er bei der Felddienstübung oder im Manöver den Pfarrherrn im schattigen
Garten bei einem guten Buche sieht — die Idylle hat ihre traurige Kehr¬
seite. Wo kein Vermögen in der Familie vorhanden oder die Stelle nicht gut
dotirt ist (Fälle, die wohl als Regel einzusehn sind), da ist Sorge und Kummer
im Pfarrhause oft reichlich vorhanden.
Und nun gar der Jurist! Das Studium und das Einjährig-Freiwilligen-
jahr fordern dasselbe wie bei den andern Fakultäten. Was aber erhält der
Referendar sür ein Einkommen? Nichts! Was giebt man dem Assessor?
Zunächst wieder nichts! Wo bleiben jene 900 Mark, die auch hier nach be¬
endeten Studium noch übrig waren? Sie reichen nicht weit. Das Semester
anzugeben, wo von dem sich dem Staatsdienst widmenden Juristen mit Be¬
stimmtheit auf ein auch nur bescheidnes Einkommen gerechnet werden kann,
ist augenblicklich kaum möglich. Die Tagesblätter betonen das ja nur zu oft,
dienen auch mit wahrhaft erschreckenden Zahlen, um die vorhandnen jungen
(oder schon alten?) Juristen zu bezeichne». Ob da Wohl, wie beim Philologen,
noch die Verdopplung der Summe genügt, die dem Offizier die Laufbahn er¬
möglichte? Kaum. Auch die juristische Laufbahn hält keinen Vergleich aus
mit der des Offiziers.
Möchte doch die Überzeugung davon, daß das Waffenhandwerk, dus wir
Deutschen mit Recht so hoch ehren, seinen Maun auch nährt, in den weitesten
Kreisen des Volkes Wurzel fassen. Mancher Vater würde sich dann uicht
veranlaßt sehn, vielleicht den sehnlicher Wunsch seines Sohnes nach dein bunten
Rock als Thorheit zu bezeichnen, da die Erfüllung dieses Wunsches außerhalb
des Bereichs der Möglichkeit liege. Vielleicht würde sich dann manches mutige
Herz, mancher kräftige Arm mit Freudigkeit dem Heeresdienst widmen, die
ihm jetzt fern bleiben müssen, nur weil ein nicht genügend unterrichteter Vater
der Meinung war, ein andrer, wenn auch vom Sohne weniger gern ergriffner
Beruf sei seinen Verhältnissen angemeßner.
eipzig! Wenn ich das Wort höre, so ist mir, als ob der Herr
riefe: Es werde Licht! und das Gewölk zerrisse vor meinen
Augen, und alle Schleier und Schatten verflogen am Himmel,
und die göttliche Sonne erfüllte mein Herz bis zum Grunde
mit freundlichem Licht und belebender Wärme. Das ist eigent¬
lich eine Lästerung, aber ich kauu nicht anders, und wenn Sie erst so alt sein
werden wie ich und zwanzig Jahre ans einer pommerschen Landpfarre gesessen
und geschmachtet haben werden wie ich, dann wird Ihnen meine Begeisterung
verständlich sein. Du altes, herrliches Leipzig!
Pfarrer Eichler ergriff sein Glas und ließ den köstlichen Rauenthaler,
den er für uns, meinen Freund Fritz, den Theologen, und mich, aus dem
Keller heraufgeholt hatte, mit einem andächtigen Augenaufschlag über die
Zunge gleiten.
Es saß sich unsäglich gemütlich in dein Studirzimmer des Pfarrers. Die
alten braunen Eichenmöbel, die sicher nicht sür einen modernen Salon be¬
rechnet gewesen waren, die einfache, aber warme Wandvertäfelung mit ihren,
von dem Pfarrer selbst ausgemalten altdeutschen Sprüchen, die verräucherte
Decke mit ihren vorstehenden Balken und die wohl aus alten Kirchenfenstern
herrührenden Butzenscheiben, die den Blick begrenzten und Geist und Herz zur
behaglichen Verinnerlichung zwangen, alles erinnerte uus unwillkürlich nu
unsre Leipziger Stammkneipe, den Thüringer Hof. Und der duftende Rhein¬
wein vor uns that das übrige und ließ uns ganz vergessen, daß wir in einem
abgelegnen pommerschen Dörfchen saßen.
Wir hatten die Empfindung, als bestünde zwischen uns und dem Pfarrer
schon seit Jahren eine alte, bewahrte Freundschaft, und doch hatten wir ihn
erst vor einer Stunde kennen lernen, als wir auf eiuer Ferienwandrung durch
das Dorf Bröhentien zogen und das Lied vom fahrenden Schüler fangen:
Berfahrner Schüler Stoßgebet
Heißt: Herr, gieb uns zu trinken.
Wir waren mit diesem Gesänge in einen Seitenpfad eingebogen und wollten
gerade den letzten Vers anfangen, als wir hinter einer dichten Hecke am Wege
gleichsam als Antwort eine mächtige Baßstimme hörten:
Einsiedel, das war mißgethan,
Daß du dich hubst von hinnen,
Es liegt, ich schö dem Keller an,
Ein guter Jahrgang drinnen.
Wir stutzten, schwiegen still und blieben verwundert stehn. Was war
das? Wer kannte das Studentenlied in dieser weltentrückten Gegend? Die
Baßstimme hinter der Hecke klang so herzhaft, so freudig, fast jauchzend, daß
wir zuerst lachend, dann aber mit voller Stimmentfaltung mit ihr im Trio
weitersangen.
Die Töne hinter der Hecke waren immer näher gekommen; wir sahen auf,
und über die Zweige und Blätter schaute das freundliche Gesicht des Dorf¬
pfarrers mit dem schwarzen SammeWppchen. Er war auf eine Bank gestiegen,
schwenkte seine lange Pfeife in der Luft, hob mit der Linken das Käppchen
hoch und fuhr lustig fort, mit uns zu singen, daß ihm die runden Backen nur
so zitterten:
Dn Heilger Veit von Staffelstein,
Verzeih mir Durst und Sünde!
Ballen, vallera, valleri, vallera.
Im Nu waren wir auf allen Vieren durch ein Loch der Hecke in den
Garten gekrochen. Wir klopften uus schnell die Hosen rein und wollten uns
dem Pfarrer nach allen Regeln des Anstands vorstellen; aber der faßte uus
ohne weitres den einen rechts, den andern links unter den Arm, und ehe wirs
uns versahen, war »r mit den wildfremden Gesellen durch den Garten über
den Hof in das weinumrankte Pfarrhaus getreten. Und da saßen wir denn
nun seelenvergnügt mit dein alten Leipziger Studenten bei einem Glase Rhein¬
wein, jeder mit einer laugen Pfeife, und erzählten ihm von Klein-Paris, was
uns gerade durch den Sinn kam: von Auerbachs Keller mit seinen Faust-
bildern und der Thomaskirche mit ihren Motetten, von der großen, stolzen
Pleißenburg und den kleinen, wackligen Meßbudeu, vom Rosenthal mit
seinein Knoblauch und vom Schützenhause mit seinen Sommerfesten, von der
Gosenschenke in Entritzsch und der Kuchenbäckerei auf dem Brandvorwerk, vom
Konvitt im Paulinerhvfe und vom Fechtboden im Gewandhause. Wiederholt
unterbrach er uns und fragte nach dem alten Kreuzgang in der Universität.
Wir beachtete,, die Frage wenig, denn was war von dein finstern, schmutzigen
Gange weiter zu erzählen? Als wir aber auf das alte Gewandhans in der
Nniversitätsstraße zu sprechen kamen, fing er wieder von dem Kreuzgang
an und fragte, ob es denn wahr sei, was er kürzlich in der Zeitung gelesen
habe, daß alte Wandgemälde darin aufgedeckt und von Künstlerhand wieder¬
hergestellt worden seien.
Wandgemälde? erwiderte Fritz, ach ja, vor einiger Zeit stand einmal
monatelang ein Gerüst im Gange, und dann und wann pinselten zwei oder
drei Männchen da oben herum. Aber sehen kann man nicht viel von dem,
was sie gepinselt haben.
Sie werden sich wundern, sagte der Pfarrer, daß ich von dem alte»
Gange so viel Aufhebens mache, aber es giebt keine Stätte in der Welt, die
so wichtig und bestimmend für mein ganzes Leben gewesen wäre, als dieser
Kreuzgang.
Uns fiel el», daß mau von dort much in die Universitätsbibliothek ge¬
langte, und wir brachten das mit seinen Worte» in Zusammenhang. Aber er
winkte lachend mit der Hand ab: sein Erlebnis habe mit der Wissenschaft
nichts zu thun, höchsteus mit der Poesie.
Wir wurden neugierig und drangen in ihn, zu erzähle». Da stopfte er
seine Pfeife, that ein paar Züge und sah schmunzelnd vor sich hin.
Ja, die Geschichte vom Kreuzgang — das ist eine ganz wunderliche Ge¬
schichte. Ich kam 59 im Oktober als junger Student nach Leipzig und
geriet nach wenigen Tagen in das große Schillerfest hinein, das dort mit
aller Gründlichkeit, Ausdauer und Begeisterung gefeiert wurde. Es herrschte
bei dieser Gelegenheit unter den Professoren, den Studenten und der Bürger^
schaft eine bewundernswürdige Einigkeit im Feier». Aber mir armem Teufel
kam das ganze Fest sehr ungelegen. Denn als ich mich um einen Freitisch
im Konvikt bewarb, sagte mir der Dekan der theologischen Fakultät: Lieber
Freund, kommen Sie »ach dem Schillerfeste wieder. Und als ich ven Pro-
fessor Müller um Stundung der Kollegiengelder bat, wies er mich geschäftig
zurück mit der Antwort: Lieber Freund, darauf kann ich mich vor dem Schiller-
feste nicht mehr einlassen. Und so ging es mir noch zwei- oder dreimal. Kurz,
ich hatte das Schillerfest gehörig im Magen, oder richtiger: ich hatte nichts
im Mnge», denu die Wurstsenduug meiner Mutter war ausgeblieben, und die
Festkvmmerse und Gastereien konnte ich nicht mitmache», weil mir der Drache
von Wirtin in der Johannisgasse die Miete präuumera»do und damit meine
ganze Barschaft abgenommen hatte. — Trinken Sie mal aus! Ja, das Glück
eines behaglichen Lebensgenusses weiß man nur dann zu schätzen, wenn die
Jugend entbehrungsvoll gewesen ist.
Während der Pfarrer den Rest in die Gläser goß, bemerkte Fritz, die
leitenden Kreise sollten ja damals gar keine rechte Teilnahme für das Schiller¬
fest gezeigt haben. Wenigstens habe ihm das sein Vater erzählt.
Der Pfarrer klopfte den roten Lack von einer neuen Flasche und zog sie
mit sichtlicher Anstrengung auf, sodaß sein Gesicht ganz rot wurde. Dabei
stieß er zwischen den Zähnen hervor: In, die da oben! Wir Studenten und
die Leipziger Bürgerschaft wurden damals durch die Behörden wiederholt auf¬
gefordert, uns beim Feste nur ja recht ruhig und ordnungsmäßig zu verhalten,
wie es ehrsamen Staatsbürgern gezieme. Vergessen Sie nicht, die Schiller¬
feier war nach 48 das erste allgemeine Volksfest in Deutschland, und da
mochte manchen wohl ein Gruseln über die Haut laufen bei dem Gedanken,
daß bei diesem Gelegenheitsfeste irgend eine kleine revolutionäre Bewegung
ausbrechen könnte. Schiller, der Dichter der Freiheit, der Männerwürde und
der allgemeinen Menschenliebe in. ez--ni.uno8! — die Sache ist ja nicht unwahr¬
scheinlich. Aber ich gebe Ihnen die Versicherung, in dem gemütlichen Leipzig
dachte kein Mensch an Revolution. Freilich gab es auch in Leipzig Angst¬
meier und Schwarzseher genug. Im Annoncenteil des Leipziger Tageblatts
habe ich damals manche Angriffe gegen „der Kauz und Uhus düstre Schar"
gelesen, die kein Verständnis für des Dichters „Himmelsfackel" besäßen und
in dem großen, hehren Feste nur einen „wüsten Lärm" sehen wollten.
Der Pfarrer trat an sein Schreibpult, schloß ein Schubfach auf und
nahm ein Päckchen gebrannter Zeitungen heraus. Sehn Sie, hier haben Sie
das ganze Festprogramm der Leipziger Schillerfeier. Die Tage find für mein
ganzes Leben fo bedeutungsvoll gewesen, daß ich mir die Blätter sorgfältig
aufgehoben habe. Dieses rote Seidenbändchen hat meine Frau darumgebunden,
fügte er mit leuchtenden Angen hinzu.
Er wollte das Päckchen öffnen, um uns einiges daraus vorzulesen, aber
wir baten ihn, uns seine Erinnerungen lieber selbst zu erzähle». Und so be¬
gann er denn fröhlich zu plaudern von all den Vorbereitungen, von der Aus¬
schmückung der Stadt und von der Vorfeier in Gohlis, wo alle Männer¬
gesangvereine Leipzigs unter Zöllners Leitung mit bunten Laternen vor dem
Schillerhänschen erschiene» waren und dort inmitten einer nach Tausenden
zählenden Volksmenge spät abends das Lied angestimmt hatten:
Das ist der Tag des Herrn.
Ich bin allein ans weiter Flur,
Noch eine Morgenglocke nur.
Nun Stille nah und fern!
Du lieber Gott! sagte er lachend, man hatte wohl kein andres Lied, worin
von einem „süßen Grauen" und einem „geheimen Wehn" an einer geweihten
Stätte die Rede war, und so mußte Schäfers Sonntagslied herhalten. Dieses
Lied hat mich seitdem überall verfolgt, wo nur ein deutscher Münnergesang-
verein mit dem bekannten blechernen Tenor und grunzenden Buß eine
Huldigung darzubringen hatte: morgens, abends, mittags und nachts, bei der
Pensionirung des Dorfschulmeisters und bei der Hochzeit des Landrath, bei
der Durchreise des Kronprinzen durch unsre Kreisstadt und bei der Eröffnungs¬
feier der Eisenbahn — alles waren „Tage des Herrn"! Übrigens schienen die
Leipziger mit dem Svnntagsliede nicht ganz zufrieden zu sein, denn man
stimmte dann noch Schillers Lied an die Freude an, und zwar mit solcher
Inbrunst, daß sich bei dein Verse: Seid umschlungen, Millionen! viele sonst
nicht gerade sentimental aussehende, wohlgenährte Leute in die Arme fielen
und Thränen der Rührung vergossen. Für mich war damit die Vorfeier zu
Ende, denn die Hauptsache für die meisten, das leckre Festessen und die gründ¬
liche Befeuchtung der Kehlen im Waldschlößchen, konnte ich natürlich nicht
mitmachen. Was ich am zehnten November, ohne meinen Geldbeutel aufzu-
thun, genießen konnte, das genoß ich selbstverständlich redlich: den Aktus
in der Universität, bei dem der kleine Preußenfresser Wuttke die Rede hielt und
Grillparzer und Ludwig Richter zu Ehrendoktoren ernannt wurden, den großen
Festzug der Innungen durch die Stadt nach dem Markte, wo der berühmte
Pandektenlehrer Wächter den toten Dichter hochleben ließ, und abends den
Fackelzug vom Augusteum nach dem „kleinen Joachimsthal" in der Hain¬
straße, wo Schiller gewohnt haben soll, und wo unter dem Gesänge der
Pauliner und nach einer Rede des Bürgermeisters Koch eine Gedenktafel ent¬
hüllt wurde. Aber zu solcher Begeisterung mit leerem Magen gehört Herois¬
mus. Jetzt könnte ichs nicht mehr. Und wie wurde einem damals in Leipzig
der Mund wäßrig gemacht mit Schillertorten, Mannheimer Schillerbrötchen,
Marbacher Knebeln, Schillers Lieblingsgebäck, Schillerbraten, Schillerpunsch-
essenz und andern leckern Sachen!
Aber Herr Pfarrer, sagte Freund Fritz. Sie wollten uns doch Ihr Aben¬
teuer im Kreuzgange erzählen!
Kommt gleich, nur Geduld! Was ich zu berichten habe, ist ja kein
Drama, auch keine kunstvoll gewebte Novelle, sondern nur ein einfaches Idyll,
und darin kann man sich schon etwas gehen lassen.
Als ich am dritten Tage des Festes drei ganze Tage nämlich dauerte
der Jubel! — spät abends durch die Straßen wanderte und um die hell¬
erleuchteten Weilt- und Bierlokale schweifte, wo die unzähligen Vereine, Innungen
und Korporationen „ihren" Schiller feierten, da war mir recht kläglich zu
Mute. Herr des Himmels! man hatte doch auch „seinen" Schiller lieb und
lebte in seinen Versen und schwärmte und litt mit seinen Helden. Man hätte
doch auch gern einmal Zeugnis davon abgelegt und den Manen des Dichters,
dein mau so viele selige Stunden verdankte, ein Weihopfer gebracht. Aber
Überall fehlte nur selbst das Eintrittsgeld, und so schlich ich denn traurig
beim, mied die laut bewegten Straßen, ging quer über den ersten Universitätshof
und wollte eben durch den kümmerlich beleuchteten Kreuzgang.
Als ich eintrat, sah ich eine hagre Gestalt vor mir, die sich von der
Lichtung am Ausgange silhouetteuhaft abhob. Sie griff mit den Händen bald
nach der rechten, bald nach der linken Wand und machte dabei die wunder-
lichsten Sprünge. Nun war es freilich für jeden Menschen, der nicht Platt¬
füße hatte, ein Kunststück, auf den schmalen, trogartig ausgehöhlten Laufschwellen
des Kreuzganges zu gehen, ohne zu torkeln. Aber die Bewegungen des
Schwarzen waren denn doch zu gewaltsam und zu sprunghaft, als daß man
dabei nu einen nüchternen Menschen hätte glauben können. Ich hatte keine
Lust, hier mit einem Betrunknen zusammenzugeraten, blieb stehn und wollte
warten, bis er glücklich hinaus wäre.
Kurz vor dem Ausgange bekam er jedoch einen kräftigen Ruck nach links
und flog dröhnend gegen eine mächtige Thür, die in die Lagerräume eines
Weinhündlers führte. Dort hielt er sich krampfhaft an der Klinke der Keller¬
thür fest, schwankte eine Weile pendelartig hin und her, bis er mit dem Rücken
glücklich die Holzfüllung und damit eine feste „Operationsbasis" für seine
weitern Kämpfe mit den bösen Geistern gewonnen hatte.
Ich trat näher und hörte, wie er abgerissen und ärgerlich die Worte vor
sich hinpoltertc: Durch diese hohle Gasse muß er kommen, es führt kein andrer
Weg — ist ja eine ganz falsche Betonung, ganz falsche Betonung! Und das
nennt sich Schillerrezitator!
Aha, dachte ich, ein Opfer der Schillerfcier! Eine teuflische Freude ver¬
mischt mit bitterm Groll über mein Geschick packte mich, als ich uun die
trunkfüllige Gestalt vor mir sah, diesen traurigen Philister, dem es vergönnt
gewesen war, den Dichter „programmmäßig" mitzufeiern.
Schauderhaft falsche Betonung! schrie ich ihm zu, schauderhaft! Was
versteht so ein Schillerrezitator von der Betonung! Das muß ganz anders
gemacht werden! Und nun brüllte ich ihm den ersten Teil des Tellmonvlogs
ins Ohr, daß das ganze Gewölbe dröhnte. Bei der Stelle: Fort mußt dn,
deine Uhr ist abgelaufen! packte ich ihn ingrimmig unter dem Arme, schüttelte
ihn, daß ihm der Chlinderhnt übers Gesicht flog, und schleppte ihn auf den
zweiten Umversitätshof, wo eine Gaslaterne brannte. Donnerstag und Frei¬
tag! ich hätte vor Schreck in die Erde sinken mögen! Der Unglückliche war
niemand anders als Professor Müller!
Alle Wetter, riefen wir lachend, eine nette Überraschung! Und Fritz setzte
hinzu: Da hätte ich sehen mögen, Herr Pfarrer, wie Sie uun davonstürzten.
Der Pfarrer schob sein Käppchen etwas zurück, blies ein paar Rauch¬
wolken in die Luft und wollte weiter erzählen, als die Magd eintrat: Die
Frau Pfarrerin ließe fragen, ob die Herren zum Abendbrot blieben.
Selbstverständlich, rief der Pfarrer, und Speckkuchen möchten wir hente
haben, echten Leipziger Speckkuchen!
Als die Magd verschwunden war, fuhr der Pfarrer fort: Ja, anfangs
dachte ich wohl an schnelle Flucht, noch ehe mich der Professor erkannt hätte.
Aber ich bemerkte bald, daß er gar nicht in der Verfassung war, mich zu
erkennen. Der unglückselige „Schillerrezitator," den er auf dem Feste gehört
hatte, beschäftigte ihn dermaßen, daß er aus seinem Bannkreise nicht heraus¬
kam und sich allmählich, während er an meinem Arme vorwärts stolperte, in
eine wahre Wut auf den Menschen hineintobte.
Ich wußte zwar nicht recht, um was es sich handelte, hütete mich aber
vor Widerspruch und schimpfte zu seiner Befriedigung wacker mit. Nachdem
wir ungefähr zwanzigmal stehen geblieben waren, hatte ich ihn glücklich über
den Augustusplatz. Auf seine Vorträge konnte ich dabei wenig Acht geben,
denn meine ganze Kraft und Aufmerksamkeit war völlig dadurch in Anspruch
genommen, die gerade Linie soviel wie möglich einzuhalten. Nur eine Stelle
seiner ästhetischen Irrgänge, die sich auf den Taucher bezog, ist mir in der
Erinnerung geblieben. Der Mensch hat ja keine Ahnung davon, rief er aus,
als wir über die Promenade wankten, daß der Hofstaat da oben auf der
Klippe ein ordentliches Weingelage abgehalten hat! Alle die Männer umher
und Frauen, der Knappen zagender Chor und die liebliche Tochter mit weichem
Gefühl sind in sentimentaler Weinlaune. Nur der König ist seiner Würde
gemäß bezecht, und da läßt ihn der Rezitator reden wie König Philipp und
den Edelknecht wie Marquis Posn! El» jämmerlicher Kerl, dieser Schiller¬
rezitator !
Die frische Luft wirkte auf den Professor wie Gift; die dreitägige Feier
schien alle seine Kräfte aufgezehrt zu haben, vielleicht war es auch der Schiller-
champaguer. Er klappte immer mehr zusammen, und ich war froh, als ich
ihn glücklich in die Querstraße hinciugesteuert hatte. Dort bewohnte er allein
mit seiner Tochter ein kleines Gartenhaus.
Ich klopfte an die Thür. Sie wurde vorsichtig geöffnet, und ich schob
den Professor langsam dnrch die Thürspalte. Dann hörte ich einen Aufschrei
und eine angstvoll jammernde Stimme. Ich blickte in den Vorsaal und sah
ein junges, etwa sechzehnjähriges Mädchen mit einer Lampe in der Hand rat-
und hilflos vor der geknickten Gestalt des Professors stehn, der sich mit dem
Chlinder auf dem linken Ohr gegen die Wand gelehnt hatte und im Anblick
seiner Tochter vergeblich versuchte, Herr der Situation zu werden.
Ach Gott, rief sie schluchzend, Bater, lieber Vater, was ist dir denn?
Dann stellte sie die Lampe weg und lief händeringend und weinend hin und her.
Ich muß sagen, daß mich diese Szene, so komisch sie war, doch etwas
ergriff. Ich trat entschlossen ein, stellte mich dem armen, in ihrem Schmerze
doppelt entzückenden Mädchen vor und suchte es mit einer Flut von Redens-
arten zu beruhigen. Dem Herrn Professor, sagte ich, ist etwas unwohl ge¬
worden, es ist aber durchaus nicht schlimm, liebes Fräulein, es hat keine
Gefahr. Es scheint mir am ratsamsten, der Herr Vater geht gleich zu Bette.
Man wird ihm dabei wohl etwas behilflich sein müssen.
O wie entsetzlich! rief sie und drückte das Taschentuch gegen die Augen.
Denken Sie nur, gerade heute ist unser Mädchen ausgegangen, weil der Vater
nicht zu Hause war; und nun bin ich mutterseelenallein! Dn lieber Himmel,
was fange ich nur mit dem kranken Vater an?
Der Alte stand mit gesenktem Kopf und geschloßnen Augen da, nur zu¬
weilen zuckte es in ihm, wie ein schlummerndes und träumendes Gefühl ver¬
letzter Menschenwürde.
Ich bot dem lieben Kinde meine Hilfe an, und nachdem wir dem macht¬
losen und doch eigensinnigen Alten den Frack ausgezogen hatten, brachten wir
ihn, so gut es ging, auf sein Bett.
Als ich mich von Fräulein Marie verabschieden wollte, bat sie mich in¬
ständig, sie doch nicht zu verlassen. Vielleicht würde es mit dem Vater
schlimmer, und dann müßte der Arzt geholt werden, und sie habe niemand
zu schicken, denn das Mädchen sei sicher zu Tauze. So saßen wir denu beide
still und eingeschüchtert vor dem Bette des von dem Schillerseste uieder-
geworfnen Professors. Aus dein Nebenzimmer hörte man das gedämpfte ein¬
förmige Ticken einer Wanduhr, sonst war alles still.
Der Professor schlief anfangs ruhig. Aber bald bewegte er sich lebhaft;
die Bettwärme schien noch einmal alle wildeu Geister in dem Schillerschwärmer
wachzurufen. Es dauerte nicht lange, und er schwamm wieder in einem Meere
von Sprüchen und Sentenzen aus Schillers Dramen und Balladen. Er war
fabelhaft darin beschlagen, aber er warf in seinen Deklamationen die Zitate
so wirr durch einander, daß einem zu Mute war, als hätte man ein Kaleido¬
skop vor den Augen.
Wir hörten anfangs traurig und ängstlich zu. Aber allmählich kam
über uns dieselbe Stimmung wie über den Konzertbesucher, der ein Potpourri
oder musikalische Wandelbilder hört und glücklich ist, wenn er weiß, daß
dieses aus Robert dem Teufel und jeues aus der schönen blauen Donum stammt.
Wir lebten schließlich ganz in den Schillerphantasien des Professors. Wir
paßten genau auf. Das einemal sagte Marie ganz leise zu mir: Das ist
aus der Klage der Ceres; ich nickte und fand für das nächste als Quelle den
Kampf mit dem Drachen, und während so der Alte im Bette sein unerschöpf¬
liches Füllhorn ausschüttete, flüsterten wir uns beständig die Titel der Gedichte
zu und nickten vergnügt, wenn es stimmte. Nur einmal waren wir nicht einig,
als der Alte sagte:
Das Weib soll sich nicht selber angehören,
An fremdes Schicksal ist sie festgebunden.
Ich meinte bestimmt, es wäre aus der Jungfrau, aber sie wollte es in den
Piccolomini gelesen haben. Da ich aber lebhaft auf meiner Meinung bestand,
legte sie leise ihre Finger auf meine Hand und sagte: Phe, nicht so laut! Ju
demselben Augenblick zitirte der Alte die herrliche Stelle aus der Glocke von
dem Jüngling und der Jungfrau, von der Einsamkeit und der zarten Sehn¬
sucht, von dem süßen Hoffen und der ersten Liebe goldner Zeit.
Sie zuckte leise zusammen, ein glühendes Rot flog über ihre Wangen;
ich erfaßte ihre Hand und hielt sie bebend zwischen den meinen. Meine lieben
Freunde, ich habe viele glückliche Stunden in meinem Leben gehabt, aber eine
solche Seligkeit wie damals habe ich nie wieder empfunden. Ich hätte dem
Mädchen zu Füßen sinken mögen!
Der Professor war, von seinen Deklamationen völlig ermattet, endlich ein¬
geschlafen. Er atmete in langen Zügen, und eine heitre Ruhe lag auf seinem
Gesicht, als hätten ihn die wilden Geister der Schillerfeier endlich verlassen.
Ich spürte, daß aus dem Nebenzimmer ein kühler Luftstrom hereindrang, es
mußte dort ein Fenster offen sein. Ich stand leise auf, schlich zwischen den
Polstermöbeln des andern Zimmers hindurch und gelangte ans Fenster. Einige
Blumentöpfe und eine kleine Gießkanne standen auf dem Fensterbrett -— wohl
ihre Lieblinge. Ich nahm eins nach dem andern behutsam weg und schloß
das Fenster so leise wie möglich. Als ich wieder in das Schlafzimmer trat,
sah ich, daß das arme Kind vor Ermattung auf dem Stuhle eingeschlafen
war; sie hatte den Kopf gesenkt und saß mit gefalteten Händen vor dem Bett
ihres Baders.
Ich stand eine Weile ans der Thürschwelle und wußte nicht recht, was
ich anfangen sollte. Eins von beiden mußte aber doch unbedingt wachbleiben,
und das wollte ich denu mit Freuden thu». Ich blieb im Nebenzimmer, schloß
die Thür ein wenig und setzte mich an den großen Tisch, der in der Mitte
stand. Manchmal fielen mir vor Müdigkeit die Augen zu, aber ich riß mich
immer wieder mit Gewalt empor. Endlich legte ich aber doch den Kopf auf
deu Tisch und dachte über die wunderbare Fügung nach, die mich armen Kerl
hier in das Allerheiligste eines für mich scheinbar unnahbaren Gelehrten ver¬
setzt hatte. Ich dachte an das Mädchen, das liebe freundliche Geschöpf, das
mir wie ein lichter Engel auf meinem dunkeln Lebenspfad erschienen war. Es
wehte um mich wie Frühlingshauch. Mir wars, als süße ich wieder als
Knabe daheim vor dem kleinen Försterhause und sähe die Strahlen der Morgen¬
sonne über die Tautropfen der Waldwiese zittern und hörte das Rausche»
der Bäume und das Zwitschern der Vögel. Dann kam mein Bater, der
Förster, und ich ging glückselig mit ihm nach dein Rehstand. Da setzte er sich
hin mit mir; ich war ganz still, rührte mich nicht und wagte kaum die Augen
zu bewegen, obgleich die Mücken um mich summten. Endlich kamen zwei Rehe
langsam ans dem Gebüsch hervor, streckten die Köpfe vor, äugten nach rechts
und nach links und blieben hart am Rande des Gehölzes stehn. Dann er¬
schien plötzlich mit mächtigen Sprüngen ein Bock und pflanzte sich mitten in
der Lichtung ans. Ich sah, wie das stolze Tier zu uns herüberblickte, wie es
stutzte — dann — ein furchtbarer Knall, ein Schrei — ich fuhr erschrocken
ans, rieb mir die Augen und sah in der Morgendämmerung vor mir die
Magd des Professors, die bei meinem Anblick vor Schreck den Kohlenkasten
hatte fallen lassen.
Ich sprang entsetzt auf und stierte sie wie geistesabwesend an. Ich sah,
wie sie gelähmt dastand und nach Luft schnappte, um Hilfe zu rufen. Diesen
Augenblick benutzte ich und stürzte Hals über Kopf aus der Thür. Im Vor¬
saal ergriff ich irgend einen Hut, und während mir die gellenden Rufe: Ein
Dieb, ein Dieb! nnchschallten, stürmte ich dnrch den kleinen Garten auf die
Straße. Dann lief ich wie ein gehetztes Wild über den Johannisplatz nach
meiner Wohnung.
Meine Wirtin war schon auf und stand da, mit den Fäusten an den
Hüften und mit einer Miene wie der leibhaftige Satan: El Herrjeeses! Das
nennen Se solid? Sie sin mer e netter „solider Mieter." E Schwiemelante sin
Se! Sich die ganze geschlagne Nacht rumzntreibeu! Und Sie wollen Paster
werden? Schämen sollte» Se sich. Wie sehen Se aus? Wie ne Kalkwcmd!
Nee so was!
So zeterte sie, während ich hastig ihren Milchtopf ergriff und ihn, ohne
abzusetzen, austrank. Dann warf ich mich, wie ich war, ins Bett und
schlief ein.
Als ich erwachte, war es elf Uhr vorbei. Ich sprang erschrocken auf,
denn um elf Uhr begann die Vorlesung bei unserm Dekan, und die wollte ich
wegen des Kouvikts unter keinen Umständen versäumen. Es summte mir im
Kopfe, als ich über den Angustusplatz ging. Das ganze Schillerfest mit seinen
Aufzügen, Reden und Gesängen, die Nachtszene in der Wohnung des Pro¬
fessors, seine Deklamationen, das Schlafzimmer, mein Traum, die Dienstmagd,
meine Flucht, alles ging mir wirr durch einander. Aus diesem Nebel aber
traten immer deutlicher die Umrisse eiuer einzigen Gestalt hervor, die Wolken
sanken, und schließlich sah ich im Geiste weiter nichts, als sie — das holde,
liebenswürdige Geschöpf!
Ich kam zu spät nach der Universität; die Borlesung hatte schon be¬
gonnen, die Höfe waren leer, und ich ging langsam und verstimmt im Kreuz-
gang auf und ab, ohne aufzuschauen.
Plötzlich hörte ich eine bekannte Stimme: Ah, da treffe ich Sie ja gerade!
Ich sah auf, und da stand sie vor mir! Ich war vor Überraschung und
Glück ganz sprachlos und nahm nicht einmal den Hut ab. Aber sie gab mir
die Hand und sagte: Ich wollte eben zum Pedell gehen, um mich uach Ihrer
Wohnung zu erkundigen. Der Vater wollte an Sie schreiben und Sie bitten,
zu ihm zu kommen. Nun kommen Sie nur gleich mit! Sie haben übrigens
Ihren Hut bei uns gelassen.
Ich griff nach meinem Hute. Wahrhaftig, es war ein fremder, und das
merkte ich erst jetzt! Sie lachte — es klang mir in dem alten Gewölbe wie
Engelsgesang. Dann gingen wir nach ihrer Wohnung. Dieser Weg aber wurde
für mich der Anfang eines neuen Lebens: ich bin der glücklichste Mensch
geworden, sehen Sie, und das alles nur durch den alten Kreuzgang!
Der Pfarrer machte eine kleine Pause und stellte seine Pfeife weg.
Was ist denn aus Fräulein Müller geworden? fragten nur gespannt.
Da kommt sie ja! rief der Pfarrer fröhlich lachend und wies auf die
eben geöffnete Thür, wo die Frau Pfarrerin mit einer Kvsteprobe duftenden
heißen Speckkuchens erschien. Er eilte ans sie zu, nahm ihr den Teller ub und
gab ihr einen herzhaften Kuß.
Die Frau Pfarrerin wußte gar nicht, wie ihr geschah, sie wurde rot
vor Verlegenheit und wehrte ihn mit einem Blick ans uns etwas unwillig ab.
Aber er rief: Laß nur, vor denen haben wir keine Geheimnisse, das sind
Leipziger! Prosit, meine Herren! Stoßt an! Leipzig soll leben, Hurra hoch!
Es war spät geworden, als wir uns von den lieben Pfarrerslcuten
verabschiedeten. Wir hatten zwei Meilen Wegs »ach unserm Städtchen zurück¬
zulegen und schickten uns an, den Weg durch die entzückende Sommernacht
zu Fuß zu machen. Aber davon wollte der Pfarrer nichts wissen; er ließ
die Braunen anspannen, der Knecht schwang sich auf den Wagen, und fort
gings über das holprige Dvrfpftaster nach der Chaussee. Wir fuhren eine
kurze Strecke, dann bog der Wagen links in eine Landstraße, die uns durch
eine» dichten Buchenwald führte.
Der Weg war etwas sandig, und der Wagen bewegte sich langsam vor¬
wärts. Die feierliche Stille, die milde Luft, das zauberische Mondlicht, das
durch die Wipfel flutete, der lebendige, beseligende Eindruck, den das freund¬
liche Pfarrhaus mit seiner Welt von Glück und Liebe in unsern Herzen zurück¬
gelassen hatte, alles beschäftigte nus so, daß wir lautlos dasaßen.
Als wir durch einen dichten Laubgang fuhren, der, wie bei dem alten Krenz-
gmige, vorn eine kleine Lichtung zeigte, unterbrach Fritz das Schweigen: Kennst
du die kleine Bergmann? Dunkle Augen, lange, schwarze Zöpfe, feine, zierliche
Gestalt, ein himmlisches Mädchen! Ich treffe sie fast täglich nach zwölf Uhr
auf dem Steiiiweg, wen» ich aus dem Kolleg komme. Herr Gott, wen» ich
doch auch eimual das Glück hätte, deu Alten im Kreuzgang an die Wand
gelehnt zu finden! Mit welcher Inbrunst wollte ich den nach Hause schleppen!
Ich lachte laut auf, denn nur stand deutlich das Bild vor Augen: die
mächtige, hünenhafte Gestalt Bergmanns und dazu als Schlepper über den
Augustnsplatz der kleine schmächtige Theologe.
Du lachst, sagte er ärgerlich; ja, giebt es denn noch einen andern Weg,
Wie sich unsereins auf anständige Weise in diese mit Stacheldraht nmgebne
Professorengesellschaft hineinstehlen kann? —
Ich hatte diese Erinnerungen gerade niedergeschrieben, als ich davon
hörte, daß nächstens auch der letzte Nest des alten Leipziger Universitäts¬
gebäudes, das Paulinum mit seinem Kreuzgange, niedergerissen werden soll.
So wirst denn auch dn verschwinden, du alter Weisheitstunnel, durch den
jahrhundertelang unzählige Meister und Jünger der Wissenschaft gewandelt
sind, durch den wie durch einen mächtig flutenden .Kanal dein deutschen Geistes¬
leben jahrhundertelang neue Kräfte und Säfte zugeflossen sind. Für viele
bist du wohl auch ein Kreuzgang in anderm Sinne gewesen. Wie mancher ist
unter deinen Bogen mit gesenktem Haupte einher gewandelt, das Herz voll
düstrer Zweifel und bittrer Enttäuschung! Aber wieviel stolze Hoffnungen,
wieviel frische Jugendlust und wieviel echt deutscher Geist sind auch zwischen
deinen Mnnern fast vier Jahrhunderte lang getragen worden! So leb denn
wohl. Ich werde deiner stets gedenken, wenn auch nicht mit der hohen Glücks¬
empfindung des Landpfarrers von Brvheutien!
Bei der amtlichen Bervffentlichnng der beiden Caprivi-
scheu Erlasse vom 23. Mai 1890 und vom 9. Juni 1892 stehen wir vor einem voll-
kmniimen Rätsel. Über die Erlasse selbst enthalten wir uns billig jedes Urteils,
weil dies bei alten unabhängig deutenden Leuten sofort feststand. Aber was soll
die Veröffentlichung? Glaubt man wirklich durch ein laut in die Welt hinaus¬
gerufenes Urteil von irgend welcher Stelle aus deu Wert der Urteile des größten
deutschen Staatsmanns herabsetzen oder gar vernichten zu können? Fürst Bismarck
ist seiner persönlichen Bedeutung nach derselbe geblieben, der er vor dem, ver¬
hängnisvollen 18. März 1390 war; ein feindliches Urteil ändert daran gar nichts.
Und mit der Veröffentlichung des zweiten Erlasses hat man ihm die urkundliche
Rechtfertigung für seine scharfe Kritik der gegenwärtigen Regierung in die Hand
gegeben. Das war doch Wahl nicht die Absicht. Man hüte sich, daß dnrch solche
Dinge ein Gegensatz der ehrlichen Monarchischen Empfindung mit der einfachen
menschlichen Empfindung der Dankbarkeit gegen den Mitbegründer des Reichs her-
vorgerufen werde und gewisse noch keineswegs erstorbne, sondern nnr zurück
gedrängte und eingeschläferte Antipathien gegen das von Berlin ausgehende neue
Nahrung erhalten. Wer Ohren hat zu höre», der hört das beides schon jetzt
heraus. Daher noch einmal: Okvsant cionxnls», um ^incl ilktriimznti imps-
rinnr c^piat!
An einem Orte, Wo wir es am wenigsten vermutet
hätten, in der schlesischen landwirtschaftlichen Zeitung „Der Landwirt," fände»
wir dieser Tage eine recht hübsche Beleuchtung des Verhältnisses von Kapital und
Produktion von ganz demselben Standpunkte ans, den wir in unsern volkswirt¬
schaftlichen Abhandlungen einnehmen. Der Artikel (Jahrg. 1888, S. 236) ist eine
der Monatsschrift „Deutsch Laud" entnommene Satire in Form eines Schreibens
eines holländischen Rentners. Wir Holländer, heißt es darin, haben es bis vor
kürzern gut gehabt. Wir besaßen riesig viel Geld, und die Großstnaten waren so
freundlich, mehr Geld auf ihr Militär auszugeben, als sie hatten, und uns anzu¬
pumpen. Sparsame Leute, wie wir es siud, verbrauchten wir unsre Zinsen nicht,
und mit unserm Kapital wuchs glücklicherweise die Geldnot unsrer Geschäftsfreunde.
Industrie, Handel, selbst Landwirtschaft hatten wir nicht mehr nötig; hatten wir
doch Geld genug, alles, was wir brauchten, im Auslande zu kaufen, natürlich ein
jedes dort, wo es am billigsten zu bekommen ist. Die Arbeit ist für die Dummen;
wir wählten das Couponabschneiden als das bequemste. Alles ging so hübsch, auf
einmal fing die Not an. Niemand mochte mehr unser Geld. Jetzt wissen wir
nicht mehr, wohin damit, sEs giebt zur Zeit mehr Kapitalansprüche in der Welt,
als durch Arbeit verwirklicht werden können, j Der Zinsfuß sinkt, alle Papiere
werden konvertirt. Wir legen unser Geld in Grund und Boden um, infolge dessen
steigt dessen Preis, während die Verzinsung niedrig bleibt, denn bei der Billigkeit
der Bodenprodukte können die Pächter keine hohe Pacht zahlen. Ja die Pächter
fangen schon an, Raubbau zu treiben, um nur die Pacht herauszuschlagen, und
mit der Zeit wird sich unser Acker- und Weideboden wieder in Heide und Moor
verwandeln. Nun fängt man an, nach Schutzzöllen zu schreien. Die Schutzzöllner
werden es so weit bringen, daß wir unsre Bedürfnisse wieder im Lande kaufen,
daher auch selbst Herstellen, uns mit Landwirtschaft und Fabriken werden Plagen
müsse«. Für Wen denn? Etwa für die Arbeiter? Ja, was setzen diese denn
Kinder in die Welt, da wir doch gnr keine Arbeiter brauchen! Um diesem Unheil
zu steuern, haben wir auch schon einen Malthusianerbund gestiftet. Jetzt ist unsre
einzige Hoffnung auf einen Krieg zwischen Österreich und Rußland gerichtet. Das
heißt, so schlimm darf er nicht werden, daß die beiden einander ruiniren und dann
keine Zinsen mehr zahlen können, sondern nur so, daß sie genötigt sind, neue
Schulden zu machen und ihren Unterthanen mehr Steuern auszupressen als bisher.
Mittlerweile scheint uns noch el« andrer Anlageplatz versperrt werden zu sollen:
Nordamerika, wo wir bisher viel Land ankauften. Jetzt fangen aber die Amerikaner
an zu räsonniren über die „Verschacherung des vaterländischen Bodens an fremde
Kapitalisten." Wird uns diese Gelegenheit vollends versperrt, „was sollen wir
armen holländischen Kapitalisten dann anfangen? Was denken Sie davon, wenn
nur den Boden Deutschlands aufkauften oder große deutsch-holländische Hypotheken¬
banken einrichteten? Dann könnten wir armen geplagten Leute auch noch ein bischen
von den deutschen Schutzzöllen Profitiren. Bitte, helfen Sie mir doch mal über¬
legen, wo ich meine Millionen placiren kann!"
Friedrich Nietzsche hat sehr begeisterte Anhänger.
So bekennt einer von ihnen, Dr. Max Zerbst, in einer Streitschrift gegen einen
Gegner, die er Nein und Ja! betitelt (Leipzig, bei C. G. Naumann, 1892):
„Es kam eine große Sehnsucht über mich nach einem neuen Gotte, aber nicht nach
einem, der über den Sternen thront, nein, nach einem frischen, fröhlichen Erden-
gvtte, nach einem Siegfried im Reiche der Geister, nach einem machtvollen, über-
mutigen Drachentöter! Ich fand ihn in — Friedrich Nietzsche." Zwar ist dieser
Prophet der Kraft und Gesundheit, der „blühenden Leiblichkeit," dieser „lachende
Löwe" vor der Hand nur ein armer Geisteskranker, aber wann hätte solches Mi߬
geschick eines Meisters jemals seine Jünger ein ihm irre gemacht! Nietzsches Philo¬
sophie ist nicht neu; zu ihren ältern Vertretern gehört u. a. ein gewisser Karl
Moor. Sie liegt auch heute so gut in der Luft wie in der Sturm- und Drang¬
periode des vorigen Jahrhunderts. Der leidenschaftliche Heroenkultus, durch deu
sich nicht wenige ans der Erbärmlichkeit unsrer demokratischen, d. h. aus lauter
gleich unbedeutenden Menschen und Verhältnissen bestehenden Welt zu erheben
suchen, der Eifer für eine Schulreform, die auch dem Leibe gerecht werden soll,
die Schneidigkeit und Kraftmeierei mancher studentischen und militärischen Kreise,
die verzweifelten Anstrengungen der kräftigern Naturen, in dem alles verschlingende»
sozialen Einerlei, das auch ohne Beihilfe der Sozialdemokratie überall zur
Herrschaft gelaugt, ein Stück Individualismus zu behaupten, das alles sind Äuße¬
rungen desselben Geistes. Beinahe dasselbe, was auch wir bei verschiednen Ge¬
legenheiten mit andern Worten gesagt haben, meint Nietzsche, wenn er schreibt:
„Keins von allen diesen schwerfälligen, im Gewissen beunruhigten Herdentieren
(die die Sache des Egoismus als Sache der allgemeinen Wohlfahrt zu führen
unternehmen) will etwas davon wissen und riechen, daß die «allgemeine Wohl¬
fahrt» kein Ideal, kein Ziel, kein irgendwie faßbarer Begriff, fondern nnr ein
Brechmittel ist, daß, was dem einen billig ist , durchaus uoch nicht dem andern
billig sein kann, daß die Forderung einer Moral für alle die Beeinträchtigung ge¬
rade der höheren Menschen ist, kurz, daß es eine Rangordnung zwischen Mensch
und Mensch, folglich auch zwischen Moral und Moral giebt." Nur die Rangordnung
in der Moral erkläre« wir für falsch, und darin vorzüglich liegt der Hauptunter¬
schied unsrer Auffassung von der Nietzsches. Wir glauben mit ihm, daß die Rang¬
ordnungen der Mettscheu notwendig seien, und daß der Vornehme, entsprechend
seinem anders gearteten Pflichteukreise, auch eine andre Gesinnung und Denkungsart
notwendig habe als der Geringe, aber wir denken nicht, daß die andersgeartete
Moral des Helden vor Gott mehr gelte als die des treuen Knechts oder des stillen
Dulders. Auf Wertschätzung lassen wir uus in diesem Gebiete überhaupt uicht ein.
Und daß das Christentum der niedern Menschenklasse über die höhere, der Sklaveu-
mornl über die Äristvkratenmoral zum Siege verholfen habe, ist auch nicht richtig.
Das Mittelalter gilt im allgemeinen als eine Zeit des Faustrechts, und niemals
habe» die niedern Klassen lauter über Unterdrückung geklagt als heute. Was es
gegenwärtig dem starken Individuum erschwert, sich geltend zu machen, das ist
nicht das Christentum, sondern die Massenwirkung, die Anhäufung, der gleichartige
Drill und die gleichartige Thätigkeit ungeheurer Menschenmassen, die den einzelnen,
der sich hervorthun möchte, erdrückt, die ihn, wenn er z. B. mit der Eisenbahn
reist, als ein lebendiges Packet unter unzähligen gleichartigen Packeteu erscheinen
läßt. Es ist wohl richtig, daß das Christentum mit seiner Vorliebe für das Kleine,
Kranke und Schwache die Wirkung haben könnte, alles Große und Kühne, alles
Gesunde und Starke zu erdrücken. Allein in Wirklichkeit geschieht das immer uur
vorübergehend in engern Kreise», und zur Entschädigung dafür hat der christliche
Glaube seine eigne» kühne» Helden erweckt und sittliche Größe vou mancherlei
Art erzeugt.
In einer Zeit, die so arm an wahrem Enthusiasmus ist, muß die enthusiastische
und offenbar aus dem Herzen strömende Redeweise Nietzsches ans empfängliche Ge¬
müter doppelt hinreißend wirken. Der vom Enth»Slahl»»s ergriffae aber merkt
natürlich die Einseitigkeiten, Übertreibungen und Verdrehungen von Thatsachen nicht,
woran Nietzsches Schriften nach den Proben, die wir davon kennen, reich zu sein
scheinen. Die Art und Weise z. B., wie er den guten Sokrates schlecht macht,
läßt mehr auf leidenschaftliches Vorurteil und Liebe zum Paradoxen, als auf Liebe
zur Wahrheit schließen.
Erst jetzt ist uns der Bericht über eine vor¬
jährige Vereinsgründnug in die Hände gefallen, die einigermaßen das allgemeine
Interesse berührt. In einer am ö. und 6. Oktober 1891 zu Braunschweig ab-
gehaltnen Versammlung haben Lehrer einen „Verein zur Forderung des Unterrichts
in der Mathematik und in den Naturwissenschaften" gegründet. Der Bericht darüber
ist im Pädagogischen Archiv veröffentlicht worden und im Sonderabdrnck bei
Herrcke und Lebeling in Stettin erschienen. Der einleitende Vortrag des Herrn
Krumme bewegte sich günz in jenen Gedankenreihen und Redensarten Prehers, die
wir im ersten Vierteljahre des Jahrgangs 1890. S. 100 — 104 einer kurzen Kritik
unterzogen haben, die gelegentlich einmal zu vervollständigen vielleicht nicht schaden
könnte. Heute lassen wir uns darauf uicht ein, sondern bemerken nur, daß nicht
die vielgeschvltnen alten Sprachen daran schuld sind, wenn, wie auf S. 8 erzählt
wird, in den Berliner Neuesten Nachrichten irgend ein Esel den Satz schreibt:
„aus dieser Pendelbewegung der Erde gegen die Sonne ist ja auch Sommer und
Winter zu erklären," und wenn sich Redaktion und Leser dergleichen Unsinn ge¬
fallen lassen. Wie die Jahreszeiten entstehen, das erfahren die Kinder in jeder
Elementarschule. Wenn nun trotzdem auch viele der sogenannten Gebildeten solche
einfache Dinge nicht wissen, so sieht man daraus, wie unzweckmäßig unser ganzes
Schulwesen eingerichtet ist, und daß, je mehr Wissensstoff die Spezialisten auf¬
häufen, die Unwissenheit der Durchschnittsiucuscheu desto ärger wird. Gründliches,
festes, klares Wissen ist bei der beschränkten Verslandeskraft des Durchschnitts¬
menschen nnr durch Beschränkung ans eine kleine Menge ausgewählten Stoffs zu
erreichen; die Vielwisserei, Vielschreiberei und Vielleserei unsrer Zeit muß daher
notwendig Oberflächlichkeit, Unklarheit und Verwirrung erzeugen, nicht bloß in den
Naturwissenschaften, sondern in allen Gebieten des Wissens. Die Zeitungsschreiber
müssen, um leben zu können, Tag für Tag so und so viel Seiten zusammen¬
schmieren, wie könnten sie jeden Satz überlegen, jedesmal, wo ihnen etwas unklar
ist, ein Buch nachschlagen oder einen Sachkenner befragen? Zudem haben viele
von ihnen angefangen, sich mit Schreiben ihr Brot zu verdienen, ehe sie noch
etwas ordentliches gelernt hatten, und bei der ewigen Schreiberei bleibt ihnen keine
Zeit, die Lücken ihres Wissens auszufüllen, das Gelernte durch Wiederhole» zu
befestigen. Die Redakteure sodann haben wieder keine Zeit, alles Eingesandte zu
prüfen, und schließlich sagen sich Einsender wie Redakteur, daß es Luxus wäre,
große Mühe und Sorgfalt ans das Zeug zu verwenden, das ja doch nur von
Leuten, die ebenso oberflächlich sind wie sie selbst, gedankenlos verschlungen wird.
Ob selbst der beste Unterricht dieser Zerfahrenheit, die eine Wirkung des moderne»
Lebens ist, steuern könnte, bleibt vor der Hand zweifelhaft. Natürlich ist nicht
das geringste dagegen einzuwenden , sondern es verdient vielmehr alles Lob, wenn
sich die Lehrer jedes Fachs bemühen, den Unterricht in diesem ihrem Fach so gut
und frilchtreich wie möglich zu gestalten. Darauf will ja Wohl auch der neu-
gegründete Verein hinwirken, und zu diesem Zweck haben seine einzelnen Abtei¬
lungen eine Reihe von Vorschlägen und Forderungen aufgestellt, die zu prüfen
uns die Sachkenntnis fehlt. Nur eine dieser Forderungen möchten wir ein
wenig beleuchten, deren Bedenklichkeit zu begründen unsre Sachkenntnis hin¬
reichen dürfte.
Herr Fricke sprach „über die Wichtigkeit und Verwendbarkeit biologischer Ge¬
sichtspunkte im naturgeschichtlichen Unterricht." Er meinte: „Beobachtung und Be¬
schreibung können für die Zwecke der Schule am besten mit Hilfe biologischer Ge¬
sichtspunkte zu einer wirklich planmäßigen erhoben werden, und die Auffindung
der biologischen Gesetze bietet in demselben Maße, wie Systematik und Morpho¬
logie, Gelegenheit zum induktiven Denken, wie auch zur Übung in zusammen-
gesetztern Denkvperntionen. Als biologische Gesichtspunkte für den Unterricht in
der Tierkunde empfehlen sich namentlich die Gestaltung der Ernährnngs-, Atmnngs-
und Bewegungsorgnue in ihren Beziehungen zum Aufenthalt und zur Lebensweise
des Tieres. . .. Bor allem verdienen die Beziehungen der Blumen zu den In¬
sekten Beachtung, und ebenso die abweichenden Einrichtungen solcher Blüten, deren
Bestäubung durch den Wind erfolgt. . . . Wenn anch eine biologische Behand¬
lung der Naturgeschichte an geeigneten Gegenständen schon in den untern Klassen
mit Erfolg vorgenommen werden kann, so ist doch naturgemäß das reifere Alter
schou infolge der Kenntnisse auf audern Gebieten der Naturwissenschaft für diese
Art der denkenden Naturbetrachtung besser geeignet. Eine Wiederherstellung des
Unterrichts in den obern Klassen ist daher für eine gedeihliche Entwicklung dieses
Unterrichts im höchsten Grade wünschenswert."
Was heißt denn das: biologisch? Ist damit bloß gemeint, daß neben der
Systematik und Morphologie auch die Physiologie zur Geltung kommen, daß außer¬
dem die Stellung jedes Geschöpfs im Haushalte der Natur, seine Beziehung zu
andern Geschöpfen, die Zweckmäßigkeit seiner Einrichtung für die Erhaltung seines
eignen Lebens und für andre Geschöpfe zur Sprache kommeu soll? O nein! Zur
Bezeichnung einer so alten Sache würde das neue Wort nicht gebraucht werden.
Sondern nun meint damit, daß das Geschöpf nicht vom Schöpfer zweckmäßig ein¬
gerichtet, sondern durch Anpassung an die iinßern Verhältnisse, in die seine Vor¬
fahren geraten sind, zweckmäßig geworden sei, und daß die verschiednen Arten der
Tiere und Pflanze» allesamt von einfachen „Lebewesen" abstammen, deren Nach¬
kommenschaft durch Anpassung an verschiedne Umgebungen, Verhältnisse und Lebens-
bedingungen in eine solche Mille verschiedner Gattungen und Arten auseinander
gegangen sei. Daß die Schüler nebenbei auch mit dieser Hypothese bekannt ge¬
macht werden, dagegen hätten wir nichts einzuwenden. Aber daß die Natur¬
beschreibung „biologisch behandelt," d. h. also daß die Hypothese für wissenschaft¬
liche Wahrheit ausgegeben werde, darf die Unterrichtsverwaltung nun und nimmer¬
mehr gestatten, schou aus dem Grnnde nicht, weil dnrch diesen Wechselbalg der
Begriff der Wissenschaft zerstört, und Schüler, denen Biologie als Wissenschaft ge¬
lehrt wird, niemals zum Begriff der Wissenschaft gelangen können.
Von den Naturwissenschaften sind einige exakter, die audern beschreibender
Art. Den Prüfstein der Exaktheit bildet der Eintritt eines vorbereiteten Erfolges
(beim physikalischen und chemischen Experiment) oder eines vorausgesagten Ereig¬
nisses (bei der astronomischen Berechnung). Wenn es den Biologen gelungen sein
wird, unter der Einwirkung der von ihnen gefundnen äußern Bedingungen Bienen,
tippen- und röhrenblütige Pflanzen, Insekten von bestimmter Färbung, Parasiten u. s.w.
entstehen zu lassen, dann wird die Biologie eine exakte Wissenschaft sein, eher nicht;
bis dahin ist sie ein phantasievvlles Hypothesengcwebe. Die ältere Physiologie
war, gleich der Anatomie, nur eine beschreibende Wissenschaft; sie wollte nnr be¬
schreiben, was in der Pflanze, im Tier vorgeht, soweit wir es zu erkennen ver-
mögen; sobald sie darüber hinansstrebte und Biologie wurde, verlor sie den Boden
unter den Füßen und hörte auf, eine Wissenschaft zu sein. Wehe dem jungen
Manne, dem die Dichtungen Häckels als Lehrbücher der Naturwissenschaften em¬
pfohlen werden! Dieser junge Mann wird niemals Phantasien von Thatsachen
und Wirkungen von Ursachen unterscheiden lernen; er wird sich daran gewöhnen,
das zu beweisende ganz gemütlich als bewiesen vorauszusetzen, und er wird weder
in der Naturwissenschaft noch in irgend einem andern Gebiete des Wissens oder
des Lebens jemals genau und richtig denken lernen.
Aber selbst wenn die verwerfliche Tendenz fehlte, die Grundlagen der exakten
Wissenschaft zu Gunsten von Modetheorien und Liebliugsmeinuugen zu zerstören,
würden wir nicht dazu raten, die Naturbeschreibung bis in die Prima hinauf zu
führen und den jungen Leuten mit den Geschichten Darwins, Lnbbocks und Häckels
von Regenwürmern, Ameisen, Schlupfwespen, Quallen, von Zuchtwahl und Kampf
uns Dasein, von Symbiose und Mimiery die. kostbare Zeit zu stehlen. Soll denn
für die freie Thätigkeit gar nichts übrig bleiben? Soll der junge Mann niemals
die Freude haben, außer der Schule oder nachdem er die Schule verlassen hat,
manches zu erfahren oder zu lesen, wovon er in der Schule noch nichts vernommen
hat? Herbart stellt den richtigen Grundsatz auf, daß Dinge, die sich der finge
Mensch bequem durch Lektüre und Selbststudium aneignen kann, nicht in die Schule
gehören. Würde demnach von allen politischen Rücksichten abgesehen und die Schule
uur nach pädagogischen Grundsätzen eingerichtet, so dürften streng genommen nur
die Anfangsgründe der alten Sprachen und der Mathematik, allenfalls noch das
Französische gelehrt werden; Physik und Chemie nur darum, weil sich der einzelne
die zu den Experimenten nötigen Werkzeuge, Apparate und Stoffe nicht anschaffe»
kann; dazu käme dann noch eine Anleitung zum Beobachten von Naturgegenständen
und zum Zeichnen. Unsre sozialen Zustände und Staatseinrichtungen zwingen nun
freilich, über dieses Notwendige Hinanszugehen. Prüfungen werden vorgeschrieben,
und wer ein Amt erlangen null, der muß sich n. a. eine bestimmte Anzahl von
Namen, Jahreszahlen, Einwohnerzahlen einpankeu lassen, obwohl das noch lange
keine Geschichte und Geographie ausmacht, und er viel mehr wirkliche Geschichte
und Geographie innehaben würde, wenn er ein einziges klassisches Geschichtswerk
und einige gute Beschreibungen von Ländern und Landschaften durchgelesen hätte,
ohne sich irgend etwas einzupauken. Also dergleichen Einrichtungen müssen wir
uus gefallen lassen. Aber man hüte sich, den ohnehin ungehörig ausgedehnten
Zwang ohne Not uoch weiter auszudehnen! Die „Biologie" enthält nichts, was
ein mittelmäßiger Kopf nicht ganz leicht verstünde, alle Familienjournnle sind voll
davon, und dem Primaner, der sich einmal an leichter Lektüre erholen will, flehen
Büchlein wie etwa die sehr hübschen Naturwissenschaftlichen Plaudereien
von Dr. E. Butte (Berlin, Georg Reimer, 1891) dutzendweise zur Verfügung.
Und außerdem, je mehr man die Schüler mit allem möglichen und unmöglichen
Kram vollstopft, desto seltner werden die Gebildeten werden, die in den Elementen
fest sind. Eine Wiederholung aller Elemente, der unturwisseuschaftlichen wie aller
andern, in der Untersekunda und Oberprima könnte nicht schaden.
le antisemitische Bewegung ergreift immer weitre Kreise. Es
geht mit ihr, wie mit der Diphtheritis: sie reicht bald so weit,
als die gebildete Menschheit reicht. Wohin sie kommt, als ein
Neues, Gewaltiges, Unwiderstehliches, da treten ihr alle Parteien
entgegen. Was sich sonst in der Welt bis aufs Blut haßt,
gegen den Antisemitismus geht es mit gleichem Eifer vor. Und doch dabei
das unaufhaltsame Wachsen dieser Bewegung!
Die Sozialdemokraten sehen in ihr die gefährlichste Feindin, da ihr die
Massen zu Gebote stehn; auch spielt der Jude in der Sozialdemokratie schon
längst die erste Violine. Die Ultramontanen, von denen früher so manches
scharfe Wort gegen die Juden fiel, aus deren Reihen der „Talmudjude" (von
Rodung) hervorgegangen ist, und deren Gesinnungsgenossen in Österreich mit
die lautesten Rufer im Streite sind, sie sind bei uns gegen die Juden eitel
Liebe und Güte und können den Antisemitismus uicht hart genug verdammen.
Das kommt von den unnatürlichen Wahlbündnissen seit den letzten Reichs¬
tagswahlen. Man hat da so manchmal „Schulter an Schulter" mit Freisinn
und Sozialdemokraten gegen Regierung, Konservative und Nationalliberale ge¬
fochten und bei den Stichwahlen manchen Sitz gewonnen oder an die Bundes¬
brüder abgegeben, daß die Freundschaft auch in der Friedenszeit zusammen¬
hält. „Weihrauch, Knoblauch und Petroleum haben uns geschlagen," so tele-
gravhirte das Komitee der nationallibernlen Partei im Wahlkreise Friedberg i. H.
nach einer Wahlniederlage an den Fürsten Bismnrck. Das ist der Dreibund,
der unsre politische Lage so elend macht.
Daß der Freisinn den Juden liebt, und daß ihm der Name Jude schon
lange heilig ist, ist ganz begreiflich. Er besteht zum großen Teil ans Juden;
seine Preß- und Wahlfonds spendet der Jude. Der Jude treibt ihm in Stadt
und Land die meisten Stimmen zu, da ist es ein Gebot der Notwendigkeit
und der Dankbarkeit zugleich, mit aller Treue und Aufopferung, die einem
Hörigen zusteht, den Antisemitismus als das schlimmste Gist des Jahrhunderts
zu bekämpfen.
Daß sich aber die Regierungen, die Nationalliberalen und ein Teil der
Konservativen mit solcher Geflissentlichkeit gegen den Antisemitismus erklären,
daß sie gegen die Ursachen, die die Bewegung immer wieder hervorrufen,
blind zu sein scheinen und alsbald bei der Hand sind, den Antisemitismus
als die „größte Schmach des Jahrhunderts" zu bezeichnen, halten wir weder
für recht noch für klug. „Die größte Schmach des Jahrhunderts" — wie
oft ist dieses Wort schon gegen den Antisemitismus gebraucht worden! Und
doch, ja vielleicht gerade darum entwickelt er sich mit elementarer Lebenskraft
weiter. Diese vernichtenden Verdammungsurteile schaden der naturgewaltigen
Bewegung so wenig, als einst den draoi die Verfügungen der spanischen Re¬
gierung im Herzogtum Mailand, von deren Wortlaut und Erfolglosigkeit
Alessandro Manzoni in seinen ?rc>in<ZLsi sxoÄ so ergötzlich zu erzählen weiß.
Wir halten es nicht sür klug, dem Freisinn die Kastanien aus dem Feuer
zu holen; wir halten es nicht für recht, die Bewegung in dieser Art zu ver¬
urteilen. Es ist treues konservatives Bauernvolk, wenigstens in Hessen, dessen
Notschrei in dieser Bewegung der Welt zu Gehör gekommen ist, wenn auch
der Gang der Bewegung manches Trübe und Widerwärtige im Gefolge ge¬
habt hat. In andern Gegenden mag es anders sein. Wir wollen hier nur
von dem hessischen Antisemitismus und besonders von dem Antisemitismus in
dem nördlich vom Main gelegnen Oberhessen reden.
Der auf dem Gebiete der unfreiwilligen Komik so fruchtbare Bürger¬
meister Ramspeck von Alsfeld begann einmal seinen Bericht an das Kreisamt
mit den schönen Worten: „Das Großherzogtum Hessen ist ein vierseitiges
Oblongum, das mit allen seinen Seiten an das Ausland grenzt." Der Mann
hat ahnungslos einen Umstand ans Licht gestellt, der die Ausbildung eines
spezifisch hessischen Vaterlandsgefühls sehr erschwert hat: das Ländchen hat
zu viele Grenzen. Die drei „Provinzen" werden von drei ganz verschiednen
Stämmen bewohnt; in dem Gebiete Hessens lag einst eine ganze Musterkarte
kleiner und kleinster Ländchen. Auch die Religion eint nicht, sondern trennt
die Bevölkerung; die Lebens- und Wirtschaftsverhültnissc sind die denkbar ver¬
schiedensten. Nichts hat diese willkürlich zusammengeschweißte Ländcrvereinigung
zu einem Staate verbunden, als die gemeinsame Dynastie und Negierung und die
gemeinsame Geschichte seit 1815. Trotzdem ist das Vaterlandsgefühl der
Hessen heute in den drei Provinzen wohl gefestigt. Wenn die Rekruten singen:
Seid nur lustig, seid nur fröhlich,
Hesse-Darmstädter sein mir,
so kommt das aus den: Herzen, und wenn sich neulich am Sarge des Gro߬
herzogs Ludwig fast das ganze Land zusammenfand, so bezeugt auch das
die Thatsache, daß hier am Rhein ein im Volke wurzelndes Staatswesen vor¬
handen ist.
Die Regierung ist seit zwanzig Jahren reichstreu und wird in national¬
liberalem Sinne geführt; im deutschen Reichstage wie in den hessischen Stände-
lnmmern sitzen nationalliberale Abgeordnete. Der Freisinn kann nur in sehr
abgeschwächter Gestalt ankommen, die wenigen Ultramontanen werden überall
leicht niedergestimmt, konservative Kandidaten wurden hie und da einmal auf¬
gestellt, aber sie blieben in der Minderheit.
Regierung und Kammer überboten sich seit Beginn der liberalen Ära in
Gunstbezeigungen gegen die Juden. Ihre Schulen wurden vom Staate über¬
nommen und mit den christlichen Schulen zu Kommunalschulen verschmolzen;
der Judeulehrer wurde Kommunalschullehrer. Alle Schranken, mit denen sich
eine frühere gewitzigte Zeit gegen das Judentum vorgesehen hatte, wurden
niedergerissen. Man sah in dem Juden nur den gemißhandelten und unter¬
drückten Bruder, man konnte ihn nicht fest genug an das deutsche Bruder¬
herz drücken.
Das heißt: in tluZÄ. In xruxi war es noch nicht so schlimm, als es in
Preußen ist. Da der reich und nobel gewordne Jude gern nach Frankfurt a. M.
zieht, fo war die Zahl der studirenden Juden immer gering. Sie wurden
nach wie vor nur Ärzte und Anwälte, weil in diesen Verufsarten am schnellsten
zu verdienen ist. Das Lehrerpersonal an den Hochschulen, Gymnasien und Real¬
schulen Hessens ist noch heute nahezu judenrein; es giebt keinen jüdischen Richter,
noch weniger jüdische Verwaltungs-, Steuer- und Fvrstbeamte, auch sind in
der hessischen Division keine aktiven jüdischen Offiziere. Die meisten städtischen
Kasinos weigern sich grundsätzlich, einen Juden auszunehmen. Einige Aus¬
nahmen, die mau hie und da mit Juden macht, die ihr Judentum aufgegeben
zu haben scheinen, bestätigen die Regel. Auch weiß man sich gegen die Vor¬
dringlichkeit der Juden zu wehren. Mancher Stammtisch hat ein Schild mit
der Aufschrift „Besetze," d.i. hier darf kein Jude her. Die Bäder haben sich
gegen die am Samstag erfolgende Überflutung mit Juden durch ein besondres
Eintrittsgeld sür diesen Tag vorgesehen.
Heute haben wir in Hessen den vollständigen Antisemitismus; schon hat
er zwei Reichstagsmandate errungen, und er hofft zuversichtlich, bei der nächsten
Reichstagswahl das ganze Ländchen zu erobern. Überall mehren sich die
Abonnenten für den Bvckelscheu Reichsherold; überall finden unter ungeheuerm
Zusammenlauf Volksversammlungen statt. Die vorgeschlagnen Resolutionen
werden mit ungeheurer Mehrheit angenommen; viele Stunden weit kommen
die Bauern her, um Böckel und Zimmermann zu hören, und sind Feuer und
Flamme für diese Leute! Der das ganze Land bewegende Antisemitismus in
Hessen ist wohl der stärkste Beweis dafür, daß Hessen ein Staat mit festem
Gefüge geworden ist.
Die höchsten Autoritäten des Landes haben sich aufs schärfste gegen
den Antisemitismus erklärt; das Oberkonststorium hat den evangelischen Geist¬
lichen jede Teilnahme an der Bewegung untersagt. Und dennoch dieses riesige
Wachsen. Woher kommt das? Nicht von oben, von den „Junkern und
Pfaffen" und ihrem Anhang, wie man sich ebenso taktvoll als liebenswürdig
ausdrückte, sondern die Bewegung kommt aus dem innersten Leben des Volks
mit Naturgewalt heraus. Keine Gewalt wird sie unterdrücken oder ersticken.
Die Bewegung ist da, sie wird zunehmen. Es gilt, mit ihr zu rechnen, sie
zu studiren, das Berechtigte an ihr anzuerkennen, sie von ihren Schlacken zu
reinigen und dazu zu helfen, daß auch sie zum Wohle des Vaterlandes aus¬
schlage.
Den Hauptsitz hat der Antisemitismus auf dem flachen Lande, bei den
kleinen und mittlern Bauern. Es fehlt zwar auch in den Städten nicht an
Antisemiten, aber sie treten dort nicht besonders hervor. Warum gerade in
den ärmsten Teilen des Landes, im Vogelsberg und seinen Ausläufern? Weil
hier wirkliche soziale Notstände vorliegen.
Die hessische Regierung hat vor einigen Jahren auf Ansuchen der Land¬
stände eine Erhebung über die Verschuldung der landwirtschaftlichen Grund¬
besitzer veranstaltet. Es wurde zum Beweise eins der am höchsten gelegnen
Dörfer des Vogelsbergs nach dieser Seite hin genau untersucht. Da stellten
sich ganz erschreckende Ergebnisse heraus. Die armen Leute, die dort oben
in den Wäldern auf ihrem Gütchen mit magerm Ackerboden Hausen, haben
eigentlich gar nichts mehr. Auf dem Hause und Gütchen steht eine Hypothek,
so hoch als nur möglich. Die Kühe im Stalle sind geborgt und können nicht
bezahlt werden. Die Bauern müssen das Jahr hindurch hart arbeiten, sich
in Nahrung und Kleidung auf das Allernotwendigste einschränken und können
doch den Gerichtsvollzieher nicht abhalten! Es ist ein entsetzlich trauriges Bild.
Und sie alle haben denselben unbarmherzigen Treiber, der dieser Armut
den letzten Groschen abpreßt. Das ist der Jude. Mag er Salme (Salomon)
oder Kalme (Calmen), mag er Jtzig oder Jekof heißen, sür den armen Bauer
ist es immer dasselbe. Der Jude hat die Hypothek auss Haus und kann den
Bauer jeden Augenblick aus die Straße setzen. Der Jude hat das Vieh geborgt
und nimmt es weg, wenn es der Bauer fett gefüttert hat, um ihm dafür
wieder mageres einzustellen. Der Jude hat in magern Jahren Vorschüsse ge¬
geben; der Bauer hat von der verschriebnen Summe vielleicht nur die Hälfte
erhalten und muß die ganze Summe mit hohen Prozenten verzinsen. Einen
Strick nach dem andern dreht sich der Hilflose, bis der Jude sieht, daß nichts
mehr zu holen ist. Dann wird er grob, schimpft auch über den Leichtsinn,
die Faulheit und Liederlichkeit der Bauern, wofür er sonst kein Wort hatte.
Dann klagt er ihn aus, der Staat muß ihm Handlangerdienste thun, der
Bauer mit seiner Familie fliegt auf die Straße. Es ist der Kampf der Mücke
mit der Spinne.
Daß der so auf die Straße gesetzte Bauer, der nur die Wahl hat, ob
er in den Kohlenwerken Westfalens arbeiten oder zu Hause halb verhungern
will, dem Juden gram ist, versteht sich von selbst, ebenso der, der dieses sein
endliches Schicksal vor Augen hat und ihm hoffnungslos entgegengeht. Er
flucht seinem Peiniger, er ballt die Faust gegen ihn, er haut ihn auch ein¬
mal durch oder wirft ihm die Fenster ein; aber solange er im Hause ist und
dem Scheine nach noch etwas sein eigen nennt, muß er dem Juden Ordre
Pariren. Verzweiflung erfaßt ihn, der Schnaps wird sein Tröster. Auch den
Schnaps liefert ihm der schmunzelnde Jude und lobt ihn, wenn er ein immer
eifrigerer Kunde wird.
So sinkt ein Teil des Volks in vollständige Hörigkeit. Die Zustände
werden schou ganz mittelalterlich. Früher hatte jedes Dorf seinen Raubritter,
jetzt hat es seinen Juden. Auch das jus xrim^ö nootis hat seine moderne
Wiederholung gefunden. Von manchem Handelsmann mit krummer Nase geht
die Sage, es müsse ihm die Frau oder Tochter des Bauern zu Willen sein,
damit er noch etwas mit der Ausklagung warte.
Visher hatten die armen Leute niemand, der sich ihrer ernstlich annahm.
Der Jude ist vorsichtig; der Thatbestand des Wuchers ist ihm nie nachzu¬
weisen, dafür ist er ein viel zu geriebner Kriminalstudent. Der Richter mußte,
wenn er auch innerlich über das schändliche Unrecht wetterte, seinen Spruch
thun, der Gerichtsvollzieher mußte den Schuldner pfänden. In den Kreisen
der nationalliberalen und auch der freisinnig gerichteten städtischen Bevölke¬
rung war von jeher nur eine Stimme der Empörung über dieses Treiben;
aber die Stimme wagte nicht laut zu werden. Man fürchtete intolerant ge¬
scholten zu werden. Man wollte es mit den einflußreichen Juden nicht ver¬
derben. Bei den Neichstagswahlen wurde hie und da ein vollständiges
Wettkriechen veranstaltet um die Stimmen und die Beihilfe der lieben israeli¬
tischen Mitbürger deutscher Nation. Nun ist zweierlei möglich. Entweder
der Bauer wird des Juden Höriger und hascht dankbar nach seinen Gnaden¬
brocken; der Jude wird sein Herr und — sein Held. Bei Kirmessen, in der
Spinnstube, in der Schmiede, im Wirtshaus und im Backhaus sind es des
Juden Familienverhältnisse, seine Freiereien, seine listigen Händel, seine Kunst,
den Gesetzen ein Schnippchen zu schlagen, die fast im Tone des Nibelungen¬
liedes von den Bauern besprochen und bewundert werden. Wer es doch auch
so könnte! Sie, die Bauern, sind doch auch touragirte Kerle, denen es auf
ein bischen Meineid nicht ankommt, aber — sie werden überführt und kommen
ins Zuchthaus. Der Judenbann und die Judenknechtschaft lagen thatsächlich
schon jahrzehntelang auf manchen Dörfern. Oder, es empört sich in dem
Bauern das deutsche und christliche Gefühl gegen den Juden, und das ist
eben der Antisemitismus.
Es kommt aber noch manches andre hinzu, was dazu beiträgt, daß der
Antisemitismus gerade jetzt zu einer brennenden Frage wird. Früher wußte
der Jude seinen wachsenden Reichtum zu verbergen. Er fürchtete die Wieder¬
kehr spanischer Vorkommnisse; er ging schmierig und lumpig einher, und erst
zu Hause, im 'Kreise der Seinen, gönnte er sich Erholung und Genuß. Jetzt
ist er äußerlich ganz anders geworden. Er kleidet sich städtisch; seine „Damen"
haben die neuesten Moden. Er hat eine höhere Schule besucht und mehrere
Jahre in fremden Städten zugebracht. Er gehört zu deu „feinen" Leuten.
Da erwacht, in dem Bauern der Neid. Er hat von seinen Großeltern, gehört,
wie der erste Jude ins Dorf kam, arm und verlumpt; wie er am Sonntag
seinen Rock versetzen mußte, um Geld zum Betriebe eines kleinen Geschäfts in
Zwirn und Schnur zu bekommen und seinen Rock für den Schabbes wieder
aufzulösen. Die Söhne dieses „Bündeljuden" wurden schon Hausbesitzer und
haben im Vieh- und Getreidehandel riesige Summen verdient. Von den Enkeln
ist der eine ein renommirter Badearzt, der andre ein wohlbekannter Advokat,
der dritte, der im Elternhause geblieben ist, ist sein Zwingherr, der nicht bloß
ihn, sondern noch dreißig bis vierzig weitere Bauern in den Krallen hat.
Mit dem Juden ist es ebenso vorwärts gegangen, wie mit der Familie des
Bauern rückwärts. Er sieht aber die Hanptursache des Ruins nicht in
seiner Faulheit und Liederlichkeit, nicht darin, daß er in seiner Dummheit und
Unbesonnenheit, im Schnapsdusel einen verkehrten Handel nach dem andern
gemacht hat, sondern allein im Juden. Warum hat er sich denn mit ihm
eingelassen? Warum hat er nicht gerechnet? Warum hat er den Juden, der
ihm alles dienstwillig besorgte, über sich walten lassen, wie eine Vorsehung?
Und noch etwas: der Antisemitismus, dessen Führer dem Christentum
zum Teil kühl bis ans Herz hinan gegenüber stehn, findet auch bei den
Bauern der ruhigen, fleißigen, unverschuldeten Dörfer der Wetterau (den
„Muckerdörfern") so begeisterte Aufnahme, weil es viele Juden geflissentlich
darauf anlege», das christliche Vvlksgeftthl zu verletzen.
Der heutige Jude betrachtet das Judentum als den eigentlichen Sitz der
Kultur und Intelligenz. Das Christentum verachtet er von Herzen. Er hat
seinen Renan und Strauß gelesen, die jüdisch-rabbinische Litteratur mit ihrem
Hohn über deu „gesenkten" Messias der Christen wird wieder unter die Leute
gebracht. Mancher Stadtrabbiner und mancher „Bacher" auf dem Lande hat
sich schon ernstlich mit dem Gedanken getragen, die „Gottgläubiger unter den
Christen" ihrer Jehovahgemeinde „anzugliedern"! Früher hielten jüdische Herr¬
schaften ihr Gesinde zur Kirche an; das dürfte kaum noch vorkommen. Wohl
aber kommt es vor, daß sie ihren Dienstboten den Kirchenbesuch verbieten oder
unmöglich machen. „Nu, biste aach fromm?" heißt es da. Sie versuchen
ihre „Bälle" mit Vorliebe auf den ersten christlichen Feiertag zu legen. Die
Viehhändler haben sich wegen des am Montag in Frankfurt a. M. abgehaltnen
großen Viehmartts die Berechtigung erkämpft, ihr Vieh des Sonntags an die
nächste Eisenbahnstation zu treiben. Sie richten das gerne so ein, daß sie an
der Kirche vorbei kommen oder still halten, wenn die, Glocken läuten. Früher
war der Jude sichtlich bemüht, sich mit dem „Gallach," d. i. dem evangelischen
Pfarrer, auf gutem Fuß zu halten; heute thut er ihm Schabernack an, wo er
nur kauu, auch wenn der Pfarrer gar nicht in Antisemitismus macht. Es ist
also nicht so zu verwundern, daß auch in deu „Muckerdörfern" und bei einem
Teile der evangelischen Geistlichkeit antisemitische Stimmung herrscht.
Wir sehn also bei dem jetzigen Antisemitismus in Hessen Berechtigtes
und Unberechtigtes durcheinander gühren. Berechtigt ist die Gegenströmung
des deutsch-christlichen Volksgesühls gegen die zunehmende Verjudung über¬
haupt; berechtigt ist für Hessen der Wunsch, der auch von Fürst, Regierung
und Kammer geteilt wurde, daß die Herren Juden in ihren Geschäften mit
den armen Bauern etwas ehrlicher und barmherziger werden möchten. Be¬
rechtigt ist die Forderung, daß der Jude, als Gast im deutschen Volke, bescheidner
werden und die Gefühle der christlichen Mehrheit achten lerne. Berechtigt ist
das Vorgehen der Antisemiten, notorische Wucherer an den Pranger zu stellen
und das Volk wirtschaftlich von den Juden unabhängig zu machen. Die
Konsumvereine, die Vereine zu direktem Bezug landwirtschaftlicher Artikel, die
Raiffeisenschen Kassen, die überall entstehen, wo der Antisemitismus Wurzel
gefaßt hat, sind sehr segensreiche Einrichtungen. Auch die Einrichtung „judeu-
reiner" Märkte und die Parole: „Kauft bei keinem Juden!" kaun man den
Leuten, die einen so schweren Kampf zu kämpfen haben, nicht übel nehmen.
Die Juden, die ihr Geschäft ehrlich und redlich betreiben, bekommen schon
Kunden. Berechtigt ist auch der Wunsch, nach wie vor die Juden von den
höhern Staatsämtern fern zu halten, mit oder ohne Ausnahmegesetz. Mögen
sie nach wie vor Ärzte und Advokaten sein, für jüdische Kreisräte, Richter,
Forstmeister, Steuerräte und Ghmnasiallehrer wird man sich im Hessenlande
nicht erwärmen.
Zu verurteilen, und zwar aufs entschiedenste, sind die Roheiten und
Gewaltthaten, die hie und da gegen Juden, ihr Eigentum und ihre Familie
vorgekommen sind. Mit solchen Mitteln kämpft kein anständiger Mensch. So
etwas ist am allerwenigsten christlich oder deutsch. Zu verurteilen ist ferner
die Rede von dem Juden als einem „fremden Körper," der entfernt werden
müsse. Das heißt doch nichts andres, als man solle die Juden totschlagen
oder aus dem Lande treiben. Man fürchte den Einfluß des Judentums auch
uicht zu sehr. Der deutsche Michel wäre Menus genng, es in den Schranken
zu halten, wenn er nnr einmal aufwachte. Die 600000 Juden, die wir bis
jetzt in Deutschland haben, schaden uns nichts. Man suche nur das Ein-
Mindern der russischen und österreichischen Juden zu verhindern. Mit denen,
die wir bis jetzt haben, wollen wir schon fertig werden. Wir können sie auch
nicht entbehren. Setzen wir einmal den Fall, über Nacht seien Böckels kühnste
Wünsche in Erfüllung gegangen und die Juden alle tot oder jenseits der
Grenze, man würde sie schwer vermissen. Unser Handel, unser Verkehr kann
gegenwärtig ohne den Juden gar nicht bestehen. Unser Volk muß besser
erzogen werden, und das kann ganz gut geschehen, auch wenn die Semiten
bei uns bleiben. Selbst von dem unbarmherzigen Landwucherer kann man
noch Gutes lernen. Nie sieht man einen solchen Juden betrunken; Tag und
Nacht ist er bei seinem Geschäft. Im Judenhause lebt meist noch Gehorsam
und Pietät. So grausam der Jude dem verschuldeten Bauern das Fell über
die Ohren zieht, so zärtlich und besorgt ist er als Gatte und Vater.
Was soll aus dem ganzen Dinge noch werden? Man mache sich in
Darmstadt nicht zu viel Sorgen. Die Bewegung wird von selbst in ruhigere
Bahnen kommen. Es wird schließlich nicht anders werden, als wie es nach
Buschs Buche einst Bismarck in Versailles sagte. Wir werden uns die Juden
„eingliedern," die Autisemitenfrage wird verschwinden. Und zwar, indem wir
das Beispiel befolgen, das längst von unserm höchsten und ältesten Adel
gegeben wird.
In der zweiten hessischen Kammer hat neulich ein nationalliberaler Ab¬
geordneter vom Lande für das Berechtigte im Antisemitismus ein gutes Wort
gesprochen und davor gewarnt, die Antisemiten wie die Sozialdemokraten zu
behandeln und zu bekämpfen. Das Wort des wackern Mannes wird gewiß
nicht vergebens gesprochen sein. Zunächst ist es schon eine ganz gute Wirkung
des Antisemitismus, daß das Judentum jetzt auch in Hessen anfängt, zurück¬
haltender und bescheidner zu werden. Und wenn die oberhessischen Bauern
wenig darüber erbaut sind, daß die Negierung so entschieden gegen sie vor¬
geht, sie sind und bleiben doch das treueste Volk, das es giebt. Sie danken
der Regierung, daß sie bis dahin das Beamtentum judenrein gehalten hat,
und sie hoffen von ihr, wenn auch jetzt noch nicht, so doch spater, Berück¬
sichtigung ihrer Klagen und Wünsche.
u den im vorigen Abschnitt bezeichneten Gefahren, die in der
Energie der modernen Zerstörungsmittel wurzeln, kommt hinzu,
daß leider wenig Aussicht vorhanden ist, daß die wesentlichen
Ursachen der Gührung in den Massen, die zu den anarchistischen
Ausbrüchen führt, werden entfernt werden. Die neue soziale
Gesetzgebung ist der Ausdruck des Bestrebens einer pflichtbewußten Negierung,
nicht bloß der Gewalt die Gewalt entgegenzusetzen, sondern den Leiden der
untersten Klasse Abhilfe, wenigstens Linderung zu bringen. Doch kann sich
keine Regierung in der Hoffnung wiegen, jemals das Ideal des idealen Sozial¬
demokraten zu verwirklichen, das doch wesentlich darin besteht, einen Zustand
zu schaffen, worin es keine leidende, keine entbehrende unterste Klasse, keine
von dem Verdienst des Tages lebende, von Kapitalisten und Aristokratie ab¬
hängigen Arbeitermassen gäbe. Am wenigsten geeignet, sich diesem Ideal zu
nähern, ist der Industriestaat. Hier liegt es in dem grundlegenden System
der Volks- und Staatswirtschaft, daß sich große und schwankende Kapital-
mengen anhäufen in den Händen einzelner, und daß sich ihnen gegenüber
große und abhängige Arbeitermassen zusammenballen. Das Volk, dessen Haupt¬
arbeit eine industrielle ist, arbeitet notwendig und zum großen Teil für die
Ausfuhr, für andre Völker. Der moderne Verkehr verpflanzt die Möglichkeit
industrieller Produktion sehr schnell in Länder, die bisher nur von fremder
Industrie lebten. In früherer Zeit wachte der Staat eifersüchtig darüber, daß
die Fertigkeiten des eignen Volks nicht von andern Völkern erlernt, daß die
eignen Kenntnisse nicht auswärts verbreitet würden. Wo die Weberei blühte,
suchte man keinen Weber aus dem Laude zu lassen, wo die Waffenschmiede
berühmt waren, suchte man zu verhindern, daß Waffenschmiede zum Nachbar
zögen, um ihre Kunst dort zu lehren. Vor dreihundert Jahren wäre man
wohl nicht wie heute bestrebt gewesen, in China Fabriken zu errichten und
damit den gelehrigsten Nachahmern, den begabtesten Technikern der Welt die
Mittel aufzudrängen, die eigne Ausfuhr europäischer Waren nach China
in diesem ungeheuern Absatzgebiet entbehrlich zu machen. Damals hätte man
sich auch gehütet, die besten Geschütze der Welt aus der eignen Werkstatt in
Essen an alle Staaten, die sie wünschen, verkaufen zu lassen; man Hütte auf
den aus dem Verkauf nach auswärts dem Herrn Krupp und der unter ihm
arbeitenden Menge zufließenden Gewinn verzichtet, um sich die Überlegenheit
der eignen Geschütze über fremde möglichst lange zu erhalten. Heute ist man
darin sorgloser, man ist auch weniger imstande zu verhindern, daß irgend eine
Erfindung oder Entdeckung sofort Eigentum aller kulturverwandteu Völker werde.
Eine Folge dieser Fähigkeit freier und schneller Verbreitung der indu¬
striellen Produktionsmittel ist, daß sich die Sicherheit und Stetigkeit der Ab¬
satzgebiete vermindert haben. Jahrhundertelang besaßen die alten Kulturstaaten
Europas das Monopol der Industrie sür Osteuropa, Amerika, einen Teil
Asiens, jahrhundertelang hat England zäh und rücksichtslos sein Monopol
der Fabrikarbeit nicht nur gegenüber seinen Kolonien, sondern auch Spanien,
Portugal, der Türkei gegenüber festgehalten, was ihm hauptsächlich die Mög¬
lichkeit gewährte, große Reichtümer, aber auch eine außerordentliche Arbeiter¬
menge in seinen Grenzen anzuhäufen. Die Monopolisirung der industriellen
Produktion in diesem Sinne ist in neuerer Zeit geschwunden, und an ihre Stelle
ist das eifrige Bestreben der Staaten getreten, sich möglichst schnell und
möglichst vollständig industriell selbständig zu machen; das heißt: jeder Staat
sucht die Industrie bei sich aufs lebhafteste zu fördern und die Einfuhr in¬
dustrieller Erzeugnisse zu beschränken. So schließt sich Rußland seit Jahr¬
zehnten industriell immer mehr ab, so hat Nordamerika ziemlich plötzlich durch
die neueste Zollpolitik aufgehört, der offne Markt für alle Fabrikate Europas
zu sein. Ein Beschluß der Regierung irgend eines Landes der fünf Welt¬
teile, ans den unsre Regierung keinerlei Einfluß hat, kann plötzlich den ver¬
derblichsten Einfluß auf Hunderttausende, ja Millionen deutscher Bürger üben,
weil sie bisher von dem Verkauf ihrer Fabrikate an jenen Staat lebten und
nun ihres Absatzes beraubt worden sind. Solche Wirkung auf einige Staaten
Europas haben wir vor kurzem bei Gelegenheit der Mac Kinley-Bill erlebt.
Der Gang der Entwicklung zum Industriestaat führt zur Anhäufung von
Reichtümern, aber auch zu erschütternden Rückschlägen und zu sozialen Mi߬
stünden, die unter Umständen die Wohlthat des aufgehäuften Geldes cuchviegen
können. Ja ich meine, daß ein Volk, das sich vorwiegend von Industrie
nährt, sich ungesund nährt und stets einer tötlichen Krankheit ausgesetzt ist.
Es gleicht dem Schmarotzer: fehlt oder verschwindet der fremde Körper, von
dem es zehrt, so geht es zu Grunde. Und heute bemühen sich die fremden
Nährkörper sämtlich, so schleunig als möglich zu verschwunden.
Ein gesundes Verhältnis, scheint mir, wäre es, wenn die Industrie eines
Landes ihren Schwerpunkt im Lande selbst, im Absatz daheim hätte, und die
Ausfuhr nur in zweiter Reihe stünde. Von dem Augenblick an, wo die In¬
dustrie ohne die Ausfuhr uicht mehr lebensfähig wäre, wo der Überschuß an
Fabrikaten, der ohne Ausfuhr unverkäuflich bliebe, so groß wäre, daß der
überwiegende Teil der industriellen Anlagen und Arbeiter dadurch zu Grunde
gerichtet würde, von diesem Augenblick an hört die Industrie auf, eine Wohl¬
that des Landes zu sein und wird eine Gefahr. Es ist wie eine Hypertrophie
eines Organs; eine Stockung des Blutumlaufs kann den ganzen Körper
gefährden.
Zu dieser sozial-wirtschaftlichen Gefahr gesellt sich aber eine andre, die
im Fall eines Krieges eintreten kann. Ein Land wie England ist zum größten
Teil auf die Einfuhr von Nährmitteln von außen angewiesen. Sobald England
von fremden Mächten zur See blockirt werden kann, ist es vom Verhungern
bedroht. Die vier Millionen Menschen Londons, ein paar Wochen lang von
der Zufuhr zur See abgesperrt, müssen einer Lage anheimfallen, in der die
fürchterlichsten Beispiele von entfesselter Leidenschaft, die jemals bekannt ge¬
worden find, in Schatten gestellt werden. Aber auch Deutschland, von der
See abgesperrt und mit Österreich verbunden im Kampfe gegen Rußland, wäre
heute in einer verzweifelten Lage trotz seiner Kriegskraft. Denn unsre Jndustrie-
bevölkerung findet, von Jahr zu Jahr anwachsend, von Jahr zu Jahr weniger
ausreichende Nährmittel im eignen Lande.
Dieser äußern Gefahr sucht England vorzubeugen durch Stärkung seiner
Kriegsflotte, jener innern Gefahr, daß der Industrie der Absatz gebrechen
könnte, durch unermüdliche Erweiterung seines Kolonialbesitzes. Auch Deutsch¬
land hat seit zwölf Jahren begonnen, sich nach neuen Landerwerbnngen um¬
zuthun. Doch hat es bisher kein Kolonialland gefunden, das seiner Industrie
erheblichen Absatz bieten könnte, noch auch solches, wohin der Teil seiner
Bevölkerung auswandern könnte, der bisher in der Heimat aus irgend welchen
Gründen kein Genügen mehr fand. Solch ackerbauendes Kolonialland könnte
es nur dnrch einen Krieg, eine Eroberung erwerben. Die Landbevölkerung
drängt wie anderwärts, so auch bei uns, den Städten zu, und hier verwandelt
sie sich großenteils in industrielle Bevölkerung. Das übermäßige Angebot
industrieller Hände reizt das Kapital zu neuen industriellen Unternehmungen
und fördert so noch mehr die über das gesunde Maß hinausgehende Massen¬
produktion von Waren, die erst einen Markt suchen müssen und, wenn sie
keinen finden oder einen verlieren, soziale Mißstände und staatliche Gefahren
hervorrufen. So wächst der industrielle Wasserkopf bedenklich an, und die
Beine werden immer dünner, der Vrotacker, von dem sich das Stadtvolk nähren
sollte, wird im Verhältnis zu der Menge der Verzehrer immer ungenügender.
Man hat längst erkannt, daß das Volkswohl bei weitem am sichersten
auf der Grundlage des Ackerbaus ruht. Es wäre überflüssig heute noch den
längst gelieferten Beweis zu wiederholen, daß die Gesundheit des einzelnen
wie der Massen am besten in den einfachen Verhältnissen des Landlebens mit
seiner frischen Luft, seiner einfachen Kost, seiner Gleichmäßigkeit, seiner per-
fortleben und gesellschaftlichen Ruhe erhalten wird. Diese Gesundheit hat
dann auch die Stetigkeit, die Dauerhaftigkeit, die erhaltende Kraft zur Folge,
die zu allen Zeiten und allerorten die Landbevölkerung vor den Städtern aus¬
gezeichnet hat. Wenn Entwicklung und Leitung der Kultur vornehmlich in
der Hand der Städter liegt, so hat das Landvolk die beßre Befähigung zu
ihrer Erhaltung. Ein städteloses Land wie Rußland bleibt in der Kultur
zurück, ein Volk von Städtern wie England oder Belgien ist der Gefahr aus¬
gesetzt, das Gleichgewicht von Bedürfnissen und Mitteln der Befriedigung
plötzlich zu verlieren und in heftigen Erschütterungen den Gang seiner Kultur
auf lange hinaus zu unterbrechen. Ein starkes Übergewicht des Landvolks ist
die beste Gewähr für gesunde und gesicherte soziale Verhältnisse.
Aber der heutige Berliner weist mit Stolz auf die Hunderttausende
hin, die in Berlin zusammengepackt sind, und überall in Deutschland schwellen
die Dörfer zu Städten, die Städte zu Großstädten an. städtischer Geist und
städtische Bedürfnisse wuchern hinaus aufs platte Land und ziehen den Land-
mann magnetisch vom Pfluge fort in die Werkstätten, die bunten Straßen, die
erleuchteten Vierhallen, die Schauspiele der Stadt. Vielfach und dauernd
ertönt die Klage, daß es auf dem Lande an Händen mangle, während die
Städte von Arbeitern strotzen, die oft keine Arbeit finden. Das Ergebnis ist,
daß immer mehr die Beschaffung der wichtigsten Lebensbedürfnisse, der Nähr¬
stoffe fremden Ländern und Völkern überlassen wird. Daraus folgt weiter,
daß Deutschland in wachsendem Maße gerade in den unentbehrlichen Erzeug¬
nissen von Fremden abhängig wird, während diese Fremden sich beliebig von
dein Bedürfnis nach den weit eher entbehrlichen Erzeugnissen Demschlands
befreien können. Unsre Lage nach außen verschlechtert sich mit dem Überhand¬
nehmen unsrer Industrie trotz der durch sie herbeigeschleppten Geldmengen, die
überdies an sich nicht zu den dauerhaftesten Werten gehören.
Es gab eine Zeit, wo sich unter dem Bundschuh der verknechtete und
mißhandelte Bauer zu Mord und Brand erhob wider die Herren. Wie heute
der Landmann mit Schrecken auf die wildeu Massen der städtischen Arbeiter
blickt, die nur gewaltsam von der Erhebung zurückgehalten werden, so erschien
dem damaligen Stadtbürger der Bundschuh als etwas Unerhörtes. Denn in
dem städtischen Wesen herrschte Ruhe und Ordnung, Recht und Gesetzlichkeit,
obwohl es an Reichtum und aufstrebender Kultur keineswegs fehlte. Aber die
städtische Arbeit war wohlgeordnet, das Gemeinwesen selbst handhabte die
öffentliche Gewalt, die unterste Klasse der Arbeiter war beschränkt in der Zahl,
und durch die gesetzlichen wie physischen Hindernisse in der Bewegung des
Volks wurde das Ausdauer der Massen vermieden. Vor allem hatte die rohe
Masse nicht die heutigen Mittel der Zerstörung in der Hand, der Bürger aber
war ihr in den Waffen überlegen. Niemals hat die städtische Arbeit bei uns
so geblüht, wie zu jener Zeit, und niemals ist die soziale Ordnung der Städte
fester gewesen. Die städtische Produktion hatte zwar ihren Absatz auch nußer-
halb des Weichbildes, außerhalb des eignen Staats, sogar außerhalb des
Reichs; aber nur zum kleinen Teil wurde für ferne Länder gearbeitet, in der
Regel fand die Ware ihren Markt im Reiche selbst. Dieses Gewerbe des
Mittelalters stand in gesundem Verhältnis zum gesamten Volk und war lange
Zeit hindurch das gesündeste Glied am Körper des Reichs. Erst die Gro߬
industrie der Neuzeit ermöglichte den verhängnisvollen Umschwung: daß die
Knechtung des Arbeiters vom Lande in die Stadt zog, daß der Landarbeiter
ein freier, gesund lebender Mann und der Fabrikarbeiter der gefesselte, ver¬
kommende Knecht der Dampfmaschine wurde. Stadtluft macht frei, sagte der
alte Rechtsspruch; in anderm Sinne kann es heute heißen: Landluft macht frei.
Je weitern Umfang die Industrie eines Landes annimmt ohne ent¬
sprechende Erweiterung des eignen Verbrauchs der Waare, um so bedrohlicher
muß die anwachsende städtische Arbeitermasse der sozialen und staatlichen
Ordnung werden. Entweder wir erwerben neue ackerbautreibende Länder, oder
wir schränken unsre Industrie ein und befördern die Auswandrung der über¬
schüssigen Kräfte; das wären die Mittel, das Mißverhältnis zwischen Fabrik¬
volk und Landvolk sich nicht weiter vergrößern zu lassen. Jedenfalls sollte
der Staat, das Reich sich hüten, ohne Vermehrung des eignen Ackerbaues
wie bisher es für seiue heilige Aufgabe zu halten, der weitern Entwicklung
der Exportindustrie bei uns mit allen Kräften beizustehen und noch mehr als
bisher uns von den Bedürfnisse» Rußlands, Nordamerikas oder Chinas ab¬
hängig werden zu lassen. Die Industrie kann in hoher Blüte stehen, ohne
doch das Übermaß zu erreichen, von dem ab sie Schmarotzer wird in dein
bezeichneten Sinne, abhängig von dem Willen und dem Leben eines fremden Volks.
Man wird mir vielleicht entgegenhalten, bei uus sei ja kein Ravachol,
kein Anarchismus vorhanden. Ich meine jedoch, daß, da wir eine Sozial-
demokratie haben, wir anch den Anarchismus haben werden. Wer an das
Evangelium Bebels glauben kann, der kann auch an das Evangelium des
Anarchismus glauben. Denn die gesunde Vernunft und der gebildete Verstand
haben mit diesen sozialistischen Theorien nichts zu thun. Solange vom Stein
bis zum Elefanten nicht die Gleichheit, sondern die Ungleichheit in allem
herrscht, wird auch der Mensch die Herrschaft der Kraft über die Schwäche,
die Unterordnung des einen unter den andern in der Wirkung wohl mildern,
in Schranken halten, aber sie selbst niemals aufheben können. Herren und
Knechte sind nicht durch die Bosheit der Menschen geschaffen worden, sondern
durch die göttliche Weltordnung. Wenn das die Sozialisten eine Unordnung
nennen, so stimmt es freilich damit zusammen, daß sie den Schöpfer dieser
Ordnung auch gleich mit verwerfen; aber die Ordnung zu ändern vermag
niemand. Nicht Vernunft und Kultur schufen die sozialen Theorien, sondern
Leidenschaft, Wille, der Trieb nach Genuß, Besitz und Herrschaft. Und dieser
Trieb schreitet, wenn weder befriedigt noch durch stärkern Willen zurück¬
gedrängt, von der Theorie des Sozialdemokraten sicherlich fort zu der Theorie
des Anarchisten, von dem gesetzlichen Mittel zu dem gewaltsamen Mittel. Die
Befriedigung ist unmöglich, also bleibt nur die Niederhaltung übrig.
Ein dauernd wirksames Gegengewicht gegen die sich organisirenden Massen
würde ich uur in der Organisation der obern Klassen sehn. Nur seit die
Macht der Stände gebrochen ist, seit alle politische Macht vom Staat und
alle soziale vom Kapital aufgesogen wurde, seit die Gliederung des Volks ver¬
schwand, ist die niedre Masse dein Demagogen überantwortet worden und zur
gefährlichen Macht gelangt. Besonders gründlich hat Preußen mit der alten
Gliederung des Volks aufgeräumt. Der Soldat, der Staatsdiener hier, der
Arbeiter dort, diese beiden Gruppen haben Organisation und Macht für sich,
und sie suchen heute nach einer Verständigung. Wenn die Hauptsorge des
Staats eine längere Zeit hindurch darin bestehen wird, Heer und Arbeiter zu-
frieden zu stellen, so wird deu Gewinn der Arbeiter haben, aber auf Kosten
des ganzen Volks und seiner Kultur und seiner Zukunft. Für die andern
wird es zu enge werden in einem Staate, der sich Schritt für Schritt weiter
wird gezwungen sehn, die Volksarbeit staatlich zu organisiren, um sie nicht
ganz in die Hand des Handarbeiters geraten zu lassen. Die Verstaatlichung
der Eisenbahnen geht ihrem Abschluß entgegen. Inzwischen bringen die Streiks
der Bergleute die Gefahr nahe, daß eines Tages Verkehr und Industrie im
ganzen Reiche wegen Kohleumcmgels still stehn. Diese Gefahr ist so groß,
daß der Staat, wie er heute ist, die Kohlengruben wird verstaatlichen und den
Abbau mit militärischer Disziplin betreiben müssen. Es ließe sich auch denken,
daß, wenn das Abströmen des Landbauern in die Städte weiter fortschreitet
und der Acker verödet, wiederum der Staat gezwungen sein wird, seine Ge¬
walt einzusetzen, um den Landbauer am Leben zu erhalten, d. h. er wird den
Ackerbau verstaatlichen müssen. Auch kann man sich denken, daß ein fort¬
gesetzter Kampf der Staaten um ihre industrielle Unabhängigkeit, wie sie heute
verstanden wird, den Absatz unsrer industriellen Waren so sehr ins Stocken
bringen würde, daß Millionen unsrer Fabrikarbeiter brotlos werden, und daß
dann wieder der Staat die Organisation der Industrie an sich reißen müßte,
um einer weitern gefährlichen Überproduktion vorzubeugen. Damit wären wir
an dem Hauptziel angelangt, das sich die Sozialdemokratie in ihrer Theorie
gesetzt hat, wie denn der ganze Weg von der Verstaatlichung des Verkehrs
an bis zu der des Ackerlandes und der Fabrik der ist, auf dem man den
Sozialisten zum Gefährten haben kann.
Ich meine überhaupt, daß es eitel sei, vom Staate die Rettung vor dem
Sozialismus zu erwarten. Der Staat mag helfen, aber die Hauptarbeit müssen
die obern, die gefährdeten Klaffen selber thun.
Der Staat ist an sich kein Gegner des Sozialismus; siegt heute der
Sozialismus, so wird sein Staat äußerlich wesentlich dieselben Formen zeige»
wie der republikanische oder monarchische, insofern als auch er seine Gesetze,
seine Gesetzgeber, seine Beamten haben wird, und sicherlich auch seine Soldaten.
Was der Sozialismus anstrebt, ist ja gerade, daß alle Volksarbeit, alles
Volksleben staatlich geregelt werde. Je stärker nnn unser heutiger Staat ist,
um so mehr ist er geneigt, alles selbst zu regeln. Unser Staat ist vermöge
seines vortrefflichen Heeres und des gleich tüchtigen Beamtentums sehr stark
und zeigt längst die Neigung, seine Kräfte im bürgerlichen Leben arbeiten zu
lassen, oft mehr als nötig wäre. Es ist nun natürlich, daß diese bestorgani-
sirten, gewaltigen Körperschaften: Beamtentum und Heer, sogleich zu Hilfe ge¬
rufen werden, wenn irgendwo eine Schraube los ist, und daß sie stets bereit¬
willig den Schaden auszubessern suchen. Gerade die Tüchtigkeit der Staats¬
organe, gerade die Pflichttreue unsrer Beamten trägt dazu bei, daß die Viel-
regiererei um sich frißt wie Schwamm. Es ist soweit gekommen, daß vom
Keller bis zum First kein Winkel und kein Nagel in unsern Häusern mehr
außer dem Bereiche des Staats- oder des Gemeindebeamten liegt: der Be¬
amte ist fast mehr Hausherr bei mir, als ich selbst. Denn dem Staat hat
auch die Gemeinde das Vielregieren abgelernt. Das ist die heutige Ordnung,
und ordentlich geht es bei uns ja freilich her, nur daß ein Mann, der gern
seiner eignen Weise nachlebt, leicht vor lauter Ordnung seine menschliche Frei¬
heit und Natur nicht mehr wiederfindet. Dieses Eindringen des Beamten¬
tums in alle Verhältnisse des bürgerlichen Lebens ist sozialistischen Geistes,
so monarchisch oder kommunal es auch aussehen mag; es ist das Zurück¬
drängen der Persönlichkeit durch den Massenwillen, die Allgemeinheit, das
Aufsaugen des Einzelinteresses durch das Gesamtinteresse. Wir graben staat¬
lich von oben her die Ungleichheiten ab und arbeiten so von oben her dem
Sozialismus in die Hände, der dasselbe von unten her thut.
Indem wir den bezeichneten Weg der Verstaatlichung der Arbeit gehn
und auf ihm durch den Sozialismus selbst vorwärts gedrängt werden, meinen
wir, den Sozialismus zu bekämpfen, und die obern Klassen beeifern sich, dem
Staate die Mittel zur Abwehr des Feindes zu mehren. Allein dieses selbe
Anwachsen der staatlichen Macht in dem vermeintlichen wie in dem wirklichen
Kampfe gegen den Sozialismus trägt doch wieder dazu bei, das sozialistische
Wesen im Staate zu fördern. Selbst die großen vorbeugenden Gesetze über
Altersversorgung, Unfallversicherung, Frauen- und Kinderarbeit u. s. w. ver¬
pflichten den Staat zu einem Eingreifen, einem Mitwirtschaften in der Volks¬
wirtschaft, das den sozialistischen Geist im Staate weiter entwickeln muß und
den gewollten Nutzen, wenigstens im Hinblick auf den sozialdemokratischen
Gegner, vielleicht aufheben wird. Je weiter dem Staate der Kampf gegen den
Sozialismus überlassen bleibt, um so sozialistischer wird der Staat werden.
Beamte hier, Arbeiter dort werden alle öffentliche Macht an sich ziehen und
den dazwischen liegenden Kern, des Volks aufzehren, der Stamm wird hohl,
die Krone bricht, und der Sozialismus behält das Feld. Wenn sich eine Re¬
gierung dauernd bloß auf das Heer, die Beamten und die unterste Volks¬
klasse stützt, so werden über lang oder kurz die Massen herrschen. Wir haben
in Deutschland viel Partikulnrismus, Lokalgeist, Heimatssinn, Gemeindebewußt¬
sein; der Leipziger steht für Leipzig ein, der Holsteiner für Holstein, der Valer
für Vaiern, auch der Deutsche für Deutschland, sofern es von außen bedroht
wird. Aber wenn wir uns nach einem Gemeinsinn innerhalb des Reichs um¬
sehen, der eine gewisse Gruppe von Reichsbürgern zusammenfaßte, so finden
wir, von den politischen Parteien abgesehen, nur etwa drei solche umfassende
Verbünde: das Heer nebst der Marine, die Beamten, die Arbeiter. In den
einzelnen Staaten dasselbe Bild. Der Soldat ist durchdrungen vom Korps¬
geist, der Beamte auch. Jeder Fähnrich, jeder Gemeine ist stolz auf sein
Regiment, hat das Bewußtsein, dahin zu gehören, steht dafür ein. findet darin
den Quell seiner ständischen Ehre. Der Beamte fühlt sich als Mann seines
Ressorts, als Teil einer festen Körperschaft; er verkehrt, wenn er Postbeamter
ist, vorwiegend mit Postbeamten, mit Juristen, wenn er zum Richterstande
gehört, er wahrt die Geheimnisse des kollegialen Lebens, er wird von dem
Korpsgeist getragen, der in seiner Behörde gebietet, ob sie nun im Rathause
oder in der Wilhelmstraße von Berlin sitzt. Mustert man nun, von hier an¬
fangend, die andern Berufsklassen der Bevölkerung von dem genannten Ge¬
sichtspunkte aus, so wird man lange die Stufen hinunter zu wandern haben,
ehe man überhaupt wieder etwas wie Korpsgeist findet. Der Student hat
sein Korpsleben, von der Börse sagt man, daß sie ein eignes Leben führe;
im ganzen ist es eine fast zusammenhangslose Menge, die sich allenfalls Sonn¬
tags mit Gesangsbändern und Gewerksschleifen schmückt. Zuletzt kommt nun,
zum Fabrikarbeiter und findet einen stark entwickelten Gemeinsinn, mehr Korps¬
geist, als in all den Zwischenschichten bis zu den in dem Soldaten- und Be¬
amtenstaate Preußen obersten beiden Menschenrassen hinauf.
Die Begriffe von Ständen und Zünften erregen das Blut noch heute
bei vielen, und gerade den Gebildeten. Obwohl von diesen niemand unter der
Übermacht solcher Körperschaft zu leiden gehabt hat, weil ihre Macht längst
gebrochen und sie nur in unbedeutenden Abbildern der frühern HerrschaftS-
formen fortleben, so haben doch Schule und Tradition den Widerwillen der
Gebildeten gegen sie wach erhalten. Dennoch wird ähnliches geschaffen werden
müssen, wie es unser Mittelalter hatte, wenn wir unsre sozialen Zustände be¬
festigen wollen.
Schwache Ansätze zur Organisation des Gewerbes sind vorhanden: Schneider
und Zimmerleute, Eisenindustrielle und Fabrikanten von Chemikalien haben
ihre Vereine, ihre Satzungen; bricht ein Streik aus, so thun sich die gefähr¬
deten Fabrikherren zusammen zur Abwehr. Aber kampffähig, stets gewappnet,
wie sie sein müssen gegenüber den heutigen feindseligen Arbeitermengen, sind
sie nicht, und ebensowenig sind sie dazu fähig, innerhalb des Gewerbes Organi¬
sation der Arbeit und Disziplin im Geschäftsleben durchzuführen. Aber gerade
hier müßte die disziplincire Machtvollkommenheit wesentlich vom Gewerbe selbst,
nicht vom Staate ausgeübt werdeu. Der Staat vermag dem Einzelinteresse,
der Persönlichkeit nicht gerecht zu werden, er erdrückt sie. Nur der Stand
kann es, die Zunft, die Klasse, die Berufsgenossenschaft, kurz die soziale
Gliederung. Wenn die Eisenindustrie in geschloßnen Verbänden der einzelnen
Staaten geordnet, unter Leitung eines von den Verbänden beschickten Reichs¬
tinges, oder wie man nun eine solche oberste Amtung nennen will, vertreten
wäre, wenn der Tiug die Gewalt hätte, die Produktion zu regeln, eine Über¬
produktion niederzuhalten, gegen das „schlecht und billig" anzukämpfen, Klagen
der Arbeiter anzunehmen, zu untersuchen, zu entscheiden, wenn er den Fabrik¬
herrn zwingen könnte, Mißlageu seiner Arbeiter abzustellen, wenn er die Aus¬
führung dessen, was die neuen Arbeiterschutzgesetze bezwecken, in der Hand
hielte, wenn er auf Absatz und Marktverhältnisfe Einfluß hätte, wenn er die
Konkurrenz deutscher Eisenwaren unter einander in Schranken hielte, wenn
er für die Ausübung seiner Gewalt dem Staat verantwortlich wäre, so würde
die Eisenindustrie sicherer dastehn, der Fabrikant sich wohler befinden, der
Eisenarbeiter weniger Grund zu Klagen haben, weniger der Mißleituug durch
Volksschwätzer und Ehrgierige ausgesetzt sein. Wenn der Ackerbau in gleicher
Weise bis zum Ting der deutschen Bauergutsbesitzer hinauf organisirt würde,
so könnte er seine Interessen nach oben und unten besser wahren, als jetzt,
wo er von der Industrie oft über den Haufen gerannt, im Reichstage von
Leuten, die oft mehr persönlich-ständische als Ackerbaupolitik treiben, übel ver¬
treten ist. Wenn die Tinge der Gewerbe, als Vertreter der schaffenden Arbeit
einander nahe stehend, naturgemäß in einen gewissen Parallelismus, um nicht
zu sagen Gegensatz zum Geldkapital gerieten, der ihnen einen bedeutenden
Einfluß auf die Börse sichern müßte, so könnte das dein Giftbaum nur
heilsam werden. Der Staat aber fände in solchen Körpern eine mächtige
Stütze, er fände den Rettungsanker.
Der Beamtenstaat ist sehr leistungsfähig, wenn die Beamten gut sind;
das zeigt Preußen und mancher andre deutsche Staat. Der Beamtenstaat
ist unfähig zur segensreichen Leitung eines Kulturvolks, wenn die Beamten
schlecht sind; das zeigt Nußland. Ist der Beamtenstaat stark durch ein tüch¬
tiges Beamtentum, so wird er durch die im Laufe der fortschreitenden Ver¬
zweigung und Verfeinerung des Kulturlebens sich mehrenden Anforderungen
an Organisation, Leitung im einzelnen, Aufsicht, gesetzliches und administra¬
tives Eingreifen zur Ausdehnung seiner Machtsphäre gedrängt und hält dieses
Machtgebiet wirklich fest; er wird immer mehr Alleinherr im Volksleben, und
indem seine Aufgaben zuletzt unerfüllbaren Umfang annehmen, indem er auf
den sozialdemokratischen Boden gerät, gerät er in Widerspruch mit seinem
eigentlichen Zweck, er wird nicht mehr zum Förderer, sondern zum Hemmnis
des Volkslebens. Ein Veamtenstaat wie Nußland, mit einem untüchtige!? Be¬
amtentum, reißt allerdings die Macht, den Einfluß immer weiter ein sich; aber
die untüchtigen Beamten sind nicht fähig, die lebendige Macht der zweckvollen
Leitung des Volkslebens festzuhalten, sie fließt ihnen wie Wasser durch die
Hände. Mit unverständiger Hand behandeln sie den zu pflegenden Baum,
sie schneiden viel und scharf an ihm herum, aber der Stamm gedeiht nicht,
sondern daneben schießen wilde Triebe auf. Ju Rußland wird für alles und
jedes sofort ein Gesetz gemacht und ein Beamter dazu gestellt; nachher läßt
der Beamte ruhig das Gras des grünen Lebens über das Gesetz wachsen, zum
Segen des Volkswohls, das sonst an Gesetz und Beamten längst erstickt wäre.
In den Händen des russischen Beamten bleibt dann die nackte Gewalt zurück,
die eigentliche lebenspendende Macht entschlüpft seiner Hand. Bei uns ist die
Fabrikation von Paragraphen ebenfalls im Schwange, aber indem der Beamte
den Paragraphen mit Pflichteifer und Verständnis anwendet, indem er ihn
lebendig erhält, erhält und erweitert er zugleich nicht die bloße Gewalt, souderu
die organische Macht des Staates. Denn „was man nicht nutzt, ist eine
schwere Last," und unter dieser Last seufzt Rußland. Dort aber schlüpft die
gesunde Vernunft leicht durch die Maschen des staatlichen Netzes und rettet,
wenn auch entstellt, die Macht der Gewohnheit und Volkssitte, die sonst sämtlich
vom Staat verspeist würden. Bei uns hat der Staat mehr Achtung vor dem
traditionellen natürlichen Volksleben, aber wo er es packt und zwingt, da setzt
er seinen Willen an die Stelle der Gewohnheit des Volks, er vollbringt
wirklich, was der russische Tschinownik nur scheinbar thut. Dieser zerstört,
ohne zu bauen, unser Staat zerstört und baut Neues; und damit mehrt er
seine Macht auf Kosten der freien Bewegung des Volkes, zweckvvll zwar und
verständig, aber doch zwängend und engend.
Wollen wir Staat und Reich vor dem sozialen Zusammenbruch und dem
Ansturm der Massen retten, wollen wir ihm Dauerhaftigkeit geben, so wollen
wir ihm nicht alle öffentliche Macht aufbürden, so wollen wir ihn möglichst
auch von dem entlasten, was ihn schon heute gefährdet. Wir sind bereits in
einer Lebensfrage an die Grenze der staatlichen Macht gelaugt. Einkommen¬
steuer mit Selbsteiuschützung, Kapitalsteuer, das sind Zeichen dafür, daß der
Staat nicht weiter imstande ist, die wachsenden Geldbedürfnisfe durch die Hände
des Beamtentums allein zu befriedigen. Könnten Einkommen und Kapital
von seineu Dienern allein gefaßt werden, der Staat von heute würde sich
schwerlich an das Gewissen und den Willen des einzelnen wenden, um sein
Geld zu bekommen; das ist die Art des „Rackers" nicht. Der Staat ist eifer¬
süchtig für seine Macht und ein Besserwisser in allen Dingen; aber mit dem
Verstaatlichen von allerlei Volksarbeit, mit dem Aufsaugen aller öffentlichen
Aufgaben wächst das Geldbedürfnis ins Maßlose, und der Staat gewinnt es
über sich, nicht mehr bloß zu befehlen, sondern an das gute Gewissen der
Menschen zu appelliren. Freilich mit Strafandrohung für Hinterziehung, mit
amtlichen Beschnüffeln der Taschen aller Bürger, aber doch mit Aufopferung
seines Allmachtsbewußtseins. Ich konnte mir wohl denken, daß diese und
manche andre Staatssteuern besser aufgehoben waren in Rücksicht ihrer An¬
lage und Erhebung in den Händen von großen Verufsverbänden, als in denen
des staatlichen Beamtentums. Vor Alters steuerten die Stände in runden
Summen zum Staatssäckel. Warum sollten heute die Tuchmacher, die Lein¬
weber, die Uhrmacher n. s. w. in der angedeuteten Weise zu Körperschaften
geschlossen, nicht bloß Gemeinde-, sondern auch Staats- und Neichssteuern
innerhalb ihres Gewerbes umlegen und aufbringen können? Warum sollten
die Kohlenbergleute, die Droschkenkutscher, die Steinmetzen, die Arbeiter der
verschiednen Gewerbe nicht gleichfalls ihre Steuern umlegen und aufbringen
können? Warum sollte selbst die Börse nicht dasselbe thun, obwohl hier mehr
als anderwärts die Mitwirkung und Kontrolle des Staates am Platze wäre?
Wäre es nicht denkbar, daß ein Reichstag, in dem die Tinge aller GeWerke
ihre natürliche Vertretung Hütten, besser die Steuergesetzgebung handhaben
könnte, als ein Reichstag, der bloß aus Vertretern redender und hörender
Massenversammlungen besteht? Wäre es für den Einzelstaat nicht heilsam,
zwischen sich und den wählenden und steuerzahlenden Massen Körperschaften zu
haben, die ihn und seiue Beamten den Blicken ein wenig verdeckten, die ihn
zugleich in die Lage setzten, das Heer seiner Beamten zu verringern und damit
sozusagen die Angriffsfläche an seinem Leibe einzuschränken?
Weil die in den Streiks zu Tage tretende Organisation der Arbeiter, z. B.
in den Kohlengruben, für die Volkswirtschaft und die äußere Sicherheit des
Staates bedrohlich wird, sucht mau jetzt diese Organisation zu hindern durch
staatliche Gewalt, gelegentlich ihr entgegenzuwirken durch zeitweilige Vereinigung
der unmittelbar betroffnen Jndustrieherren. Man wird die Organisation ans
diesem Wege nicht dauernd niederhalten, sondern nur immer gewaltsamer, auf¬
rührerischer, wilder machen. Es wäre, wie mir scheint, besser, wenn der Staat
offen die Organisation der Arbeitermassen selbst betriebe, aber zugleich auch
die soziale und gewerbliche Organisation der Arbeitgeber. Man helfe den
Arbeitern sich verbinden, aber man setze ihnen nicht den Staat entgegen, sondern
Verbände der Arbeitgeber. Mögen die beiden eigentlichen Gegner ihren Kampf
ausfechten mit den Mitteln, die mit Gesetz, Ordnung und Sicherheit von Person
und Besitz verträglich sind; erst die Ausschreitung oder die Gefährdung andrer
Interessenkreise rufe den Staat herbei. Überschreiten die Verbünde der Ar¬
beiter schon gegenwärtig die nationalen Grenzen, so können die Verbände der
Arbeitgeber dem Beispiel folgen, und sie werden es, ohne die Hilfe der staatlichen
Waffen gelassen, notgedrungen thun müssen. Vielleicht sehr zum Vorteil des
internationalen Friedens. Wendet sich dann die Wut der Dynamitbanden,
wie vorauszusetzen ist, in erster Reihe gegen die Verbände, das Leben und
Eigentum der Arbeitgeber, so ist es nur in der Ordnung, daß diese den ersten
Stoß auszuhalten haben, und nicht der Staat, nicht die Träger der Staats¬
gewalt, nicht nationales Eigentum, nicht die Heiligtümer des Volkes. Der
Staat kommt erst in dem Augenblick ins Treffen, wo die verbrecherische Hand¬
lung beginnt.
Prvvinzialordnung, Kreisordnung, Gemeindeordnung, kurz die territorialen
Verbünde vermögen bei der heutigen Energie des Verkehrs und dem über den
ganzen Erdball reichenden Zusammenhange den Verufsinteressen nicht gerecht
zu werden. Einem Kreistage kann man nicht zumuten, sich über die Lage des
Strumpfwarenmarktes in den Vereinigten Staaten von Nordamerika ein Urteil
zu bilden oder die Lohnsätze in diesem Gewerbe festzusetzen. Das vermag am
besten ein Berufsverband, eine korporativ geschloßne Verufsgenosfenschaft.
Soll aber eine solche Körperschaft wirksam die Interessen des Gewerbes regeln,
so muß sie Macht besitzen über Herren und Arbeiter ihres Gewerbes. Die
Gewerbefreiheit, wie sie heute besteht, müßte sollen. Aber der Zwang, der
darin lüge, wäre federleicht zu tragen gegenüber dem Despotismus, dem wir
zusteuern, wenn es bei der heutigen Ordnung bleibt. Wird der soziale Kampf
bloß zwischen den Dynamitpolitikern und dem Staate weitergekämpft, so kommen
wir zu unerträglicher Unfreiheit, sei sie nun heutiger staatlicher Ordnung oder
künftiger sozialistischer Ordnung.
er vor wenigen Jahren von dem Freiherrn Woldemar v. Bieder¬
mann heransgegebne Briefwechsel Goethes mit Friedrich Rochlitz
hat die Blicke auf einen Schriftsteller zurückgelenkt, der zwar, dank
seiner eigentümlichen Stellung in der musikgeschichtlicheu und
musikwissenschaftlichen Litteratur, keineswegs vergessen, aber doch
weiter in den Hintergrund gedrängt worden war, als seiner Bedeutung,
seiner Bildung und seiner wahrhaft liebenswürdigen Natur entsprach. Eine
dankenswerte Vergünstigung ließ mich vor kurzem Einblick in eine Reihe noch
ungedruckter Briefe des verdienstlichen Mannes gewinnen, unter denen sich
namentlich drei unmittelbar zu einander gehörige, höchst interessante Briefe
an seine Gattin aus dem August 1832 und aus Weimar zur Mitteilung an
weitere Kreise empfehlen. Sie knüpfen insofern an den Briefwechsel Goethes
mit Rochlitz an, dem die Grenzboten seiner Zeit eine eingehende Würdigung
zu teil werden ließen/') als die musikgeschichtlicheu, mit historischen Konzerten
verbundnen Vorträge, die der Leipziger Ästhetiker in jenem Sommer 1832 in
Weimar hielt, noch bei Goethes Lebzeiten geplant worden waren. Rochlitz
war im Mai 1831 in Weimar gewesen, um dem regierenden Großherzog Karl
Friedrich, dem Gemahl der Großherzogin Maria Paulowna, seinen Dank für
das Ritterkreuz des weißen Falkenordens, mit dem man ihn ausgezeichnet hatte,
abzustatten. Er hatte bei dieser Gelegenheit mit Goethe, der wie Rochlitz
selbst durch Unwohlsein am freien geselligen Verkehr behindert war, nur Briefe
gewechselt. Es war die wunderliche Situation, die Goethe am 4. Mai 1831
mit den Worten bezeichnete: „Da ich Sie, teuerster Herr und Freund, nur
einige hundert Schritte von mir entfernt, von gleichem Übel befangen und uns
in solcher Nähe ebenso getrennt fühlte, als wenn Meilen zwischen uns lägen,
so gab das einen bösen hypochondrischen Zug; wie ein mißlungnes Unter¬
nehmen, eine so nah und in der Erfüllung getäuschte Hoffnung nur störend
in unsre Tage hineinschieben können." Rochlitz schied damals nicht ohne die
Ahnung, daß er Goethe wahrscheinlich nicht wiedersehen werde. Aber sobald
er sich in Leipzig in der Stille seines Hauses selbst einigermaßen erholt hatte,
meldete er an Goethe als seinen dringenden Wunsch: „Ich möchte nach Weimar
kommen und Ihnen, den höchsten Herrschaften, Herrn von Müller und manchem
andern Freunde oder Zugeneigten das nun werden oder leisten, was ich da¬
mals gewollt, aber nicht vermocht." Er wollte dem von ihm verehrten Wei¬
marischen Lebenskreise „gesellige und gewissermaßen gesellschaftliche Musik"
darbieten, und er dürfte mit Recht sagen: „Sie — soweit ich sehe — könnte
Alle vereinigen, die man vereinigt wünschte; sie, wohlgewählt, ließe zuverlässig
Keinen leer ausgehen- Ans sie würde ich nun auch noch weit mehr eingerichtet
seyn, als damals; und — es werde mir der Anschein von Unbescheidenheit
vergeben — was ich eben da bieten könnte, kann man auf andere Weise oder
durch einen Andern durchaus nicht erlangen; ich meyne: was und wie ein
Anderer, wie weit er darin mir vorzuziehen sey, möchte er anch dasselbe ge¬
lernt haben, so besitzt er nicht, was ich besitze und in den Ideen dies zu fassen,
zu ordnen, darzulegen und gelten zu machen, bleibt doch Jeder ein Anderer."
Er schilderte sein Vorhaben anschaulich und vielverheißend: „Ich denke mich
in einem ziemlich großen und nicht niedrigen Zimmer, umgeben von vier
Sängerinnen und vier Sängern, je zwey zu jeder Stimme; neben mir Herr
Hafer, der von mir vorbereitet mich im Begleiten auf dem Pianoforte ablösen
kann, wenn meine Kräfte nicht mehr ausreichen wollen. Vor uns, mit mög¬
lichst großem Zwischenraume, befinden sich die Zuhörenden. Mit den aller-
einfachsten Worten, in möglichster Kürze, lege ich eine Uebersicht des Zustandes,
Sinnes und Zwecks deutscher und italienischer Tonkunst in einer ihrer Haupt-
Perioden vor, und nach jedem Hauptmomente wird sogleich ein und der andre
Gesang ausgeführt, der, was ich behauptet, beweist, es anschaulicher und in
den Theilnehmenden lebendiger macht. Man bekommt durchaus nichts zu ver¬
nehmen, außer — dort, letzte Resultate lebenslänglicher Forschungen, hier von
dem Allerschönsten, was ein eigentlicher Kammermusik jeder Gattung die Welt
besitzt und jemals besessen hat."
Freilich mußte Rochlitz seinem verlockenden Antrage gleich die Nachschrift
hinzufügen, daß ,,die beunruhigendsten Nachrichten hinsichtlich der unseligen
Cholera" (die im Sommer 1831 zum erstenmal als Würgengel durch Nord¬
deutschland zog) ,,jedem Hausvater Bedenken einflößten, sich für etwas ver¬
bindlich zu machen, was ihn von den Seinigen entfernte." Aber das aus¬
geworfene Samenkorn war doch nicht auf unfruchtbaren Boden gefallen; Goethes
letzter Zuruf an den Leipziger Freund und Verehrer des Shakespearischen
?imo g,n6 llvru' runns tlircmA eilf rvngest ! (Goethe an Rochlitz,
11. September 1831) sollte sich bewahrheiten, im Sommer 1832 drohte keine
Choleragefahr mehr, an Rochlitz erging die Einladung, die angebotnen musik¬
historischen Vorträge und musikalischen Unterhaltungen am Weimarischen Hofe
zu veranstalten.
Als er aber im August in der Musenstndt anlangte, fand er ein andres
Weimar vor. Der Heros, der für ihn und Hunderttausende recht eigentlich
Weimar bedeutet hatte, schlummerte in der Fürstengruft des Weimarischen
Friedhofs. Die Zurückgebliebnen standen noch ganz unter dem erschütternden
Eindruck des Ereignisses und hießen Rochlitz schon darum freudig und herzlich
willkommen, weil sie in ihm einen der hingebendsten und verständnisvollsten
Bewundrer des Genius ehrten. Das Leben machte sein Recht geltend, obwohl
jeder in jedem Augenblick daran gemahnt wurde, was man verloren, freilich
auch, was man in der geistigen Hinterlassenschaft des großen Toten behalten
hatte. Rochlitz wurde, wie aus den Briefen hervorgeht, von dem Vertrauen
der Nächststehenden berufen, den litterarischen Nachlaß mit zu prüfen. Es
scheint schou damals die Absicht bestanden zu haben, die Goethischen Kunst¬
sammlungen von der Familie zu erwerben, und es ist unklar, woran der Vor¬
satz der damals regierenden Großherzogin gescheitert ist. In den drei Briefen,
die Rochlitz während dieser Wochen schrieb, scheint und klingt überall das
Verlangen hindurch, sich in dem Anschauungs- und Vildungskreise zu be¬
haupten, den der Gewaltige mit weitreichender Hand gezogen hatte, und ihm
reinsten Dank zu zollen, und doch liefen, wie sich erraten läßt, einzelne Mensch¬
lichkeiten zwischendurch. Die Briefe lauten:*)
Weimar, den 10 August 1832.
Nach meiner Gewohnheit sauge ich schou heute einen Brief an Dich an, ge¬
liebte Henriette, ohngeachtet er uicht eher abgehen soll, bis ich Nachricht von Dir
habe und kaum Etwas mit mir vorgefallen ist, was zu schreiben geeignet, will ich
nicht in lange Schilderungen dessen verfallen, was weit besser einer mündlichen
Unterhaltung aufgespart bleibt.
Es gehet mir wohl und mehr uach Wunsch, als ich erwartet hatte; so daß
ich durchaus über nichts zu klagen wüßte, als über das allerunterste Stückchen
meines ganzen Wesens. Daß ich hier in demselben Zimmer, des denselben dienst-
fertigen Leuten wohne, die meine Art längst kennen und wie ich die Einrichtung
schon längst ersonnen und in Uebung gebracht hatte: das ist schon eine Art guter
Grundlage meiner Existenz. So weit man häuslich leben kann außer dem Hanse,
so weit lebe ich hier häuslich. Freylich habe ich nur die ersten Morgenstunden
ganz und ini Stillen sür mich — von gegen 6 bis höchsteus 9 Uhr: dann geht
die Unruhe an und endet gewöhnlich erst in späteren Abendstunden. Das würde
mir nun ebeu recht seyn — denn es sind meist angenehme Unruhen — wenn ich
etwa 20 Jahre jünger wäre: so aber seufze ich doch zuweilen wie jener Hnns-
vater am Wochenbett: Herr, hör auf zu segnen! Doch magh recht heilsam seyn,
daß die alte stagnirende Masse einmal tüchtig umgerührt wird. Der Kanzler
von Müller thut, was er uur ersinnen kann, mir das Leben angenehm zu macheu.
Er widmet mir alle seine freye Zeit den ganzen Tag hindurch. Er thut bey
weitem zu viel, indem er den Maasstab von sich, in vollkräftigen Jahren und bey
immerwährender Thätigkeit nach außen, uicht aus der Hand zu legen vermag.
Seine Frau braucht eine Cur auf dem Guthe und kömmt uur von Zeit zu Zeit
zur Stadt. Anders und weit mehr mir, wie ich nun bin, angemessen, macheu es
die Hoheiten; denn da waltet und dirigirt eine Frau. Man überhäuft mich durch¬
aus nicht, läßt mir aber gerade das zukommen, was eben mir das Allerwertheste
seyn kann, ohne mir zugleich eine Last aufzubürden. Jedes Andere, woran ich
theilnehmen könnte, wird mir nnr gemeldet, und zwar — damit ich ganz uach
freyem Willen verfahre, nicht mir selbst Zwang auferlege — gleichsam blos durch
die dritte Hand, durch deu Ober-Hofmarschall, deu Kanzler und tgi. Davon wird
Vieles zu erzählen seyn. — Von Andern, die Dir bekannt wäre,:, weiß ich nur
die Frau von Goethe. Diese ist von Frankfurt zurück. Ich fand sie kränkelnd,
unzufrieden (wegen der nun begonnenen Auseinnndersetzungeu mit den Kindern,
wo sie sich durch das, was doch gar uicht anders sein kann, verletzt, zurückgesetzt
glaubt) und entschlösse», sich von Weimar wegzuwenden. Sie ist nun ebeu ein
vou klein an verwöhntes Kind; mag, wie alle solche, kein Gesetz anerkennen, als
das sie selbst gegeben oder doch zu geben Belieben tragen würde undsieht in
jedem Widerstande eine Zurücksetzung, wo nicht einen üblen Willen, was dann
ihre Opposition reizt, die ja doch vergebens seyn und nnr ihr schaden muß. Da¬
durch erschwert sie alles; und auch ich — so scheint es wenigstens bis jetzt —
werde in dieser Hinsicht nicht alle das wirken können, wozu ich mich bereit ge¬
macht. Doch wird sie wenigstens jenen wichtigen Ankauf nicht hindern, weil sie
ihn nicht hindern kann. Gegen mich ist sie dankbar und sehr artig.
Gestern hatten wir den ersten wahrhaft schönen Tag und der heutige scheint
eben so schön zu werden. Was ich an Arbeiten mir mitgenommen, wird Wohl
eben in derselben Gestalt mit mir zurückkehren. Das ist kein Uebel: arbeiten kann
ich zu jeder Zeit, nicht aber das thun, was bey mir an dessen Stelle getreten ist.
Ich bin nämlich umgeben mit Goethes schriftlichen Nachlaß: mit dem, was gedruckt
und mit dem, was nicht gedruckt werden wird. Ich schweige darin und weiß vor
der Fülle des Stoffs zum Denken und zum Genuß kaum wo aus noch ein. Je
länger und je tiefer man in dieses Wnndermenschen Seyn und Wirken, Wesen
und Leben eindringt, je mehr wächst das Erstannen und je deutlicher wird Einem
der innerste Zusammenhang, die vollkommenste Einheit von Allem. Auch davon
wird Vieles zu erzählen sein.
den 12 den.
Guten Morgen, meine liebe Fran! guten Morgen Ihr Alle, groß und klein!
denn nun glaube ich gewiß Euch Alle wieder beysammen, und hoffe gesund: dann
wird es auch um Heiterkeit nicht fehlen, denn es fehlt nicht an Liebe; und wo
Liebe ist, da ist auch Heiterkeit, wenigstens in der Grundstimmung, selbst bey
manchem, was sonst betrübte. Nun hoffe ich auch auf Nachrichten und fehlte mich
darnach. Gott gebe, daß sie günstig sein können!
Wenn ich neulich schon vou vielfältigen Unruhen sprach, so müßte ich es jetzt
von noch viel mehreren; denn zu allem Früheren ist nun noch das Geschttftmnßige
getreten, >veshalb ich hier bin: jene Angelegenheiten (Durchsicht, Prüfung) mit dem
— wie man um, nachdem Alles zusammengetragen worden, erst sieht — wahrhaft
kaum übersehbaren Nachlaß Goethes; und jene musikalischen Abende, den unsrigen
im verwichenen Winter aehnlich. Zu letzteren machen die Vorbereitungen weit
größere Weitläufigkeiten, als ich vermuthet hatte und rauben mir nur allzuviel
Zeit und Kraft, obschon ich blos anzuordnen oder sonst Resolutionen zu geben habe.
Uebermorgen (Dienstag) um 6 Uhr beginnt die erste dieser Unterhaltungen; die
zweyte folgt Freytag; dann in künftiger Woche wieder Dienstag und Freytag: und
nun genug! Denn obgleich, ist die Sache einmal im Zuge, die Schwierigkeiten
geringer seyn werden, so bleiben sie doch noch anstrengend genug, daß ich das
Ende möglichst nahe Herbeyrücken werde. Ist aber für diese Sache einmal das
Ende da, so wird auch das Ende meines Aufenthalts sehr bald folgen; denn mit
jener ersten eigentlich durchzukommen, wäre unmöglich, wenn ich auch noch vier
Wochen bliebe. Indessen will ich bitten an den angegebnen Tagen mir den Daumen
zu halten. Es ist kein Spaß. Die Elite der ganzen Stadt kömmt in Bewegung
und ich Prügelte mich selbst aus, wenn es mir nicht gelänge diesen Credit zu
rechtfertigen.
Unter den Capiteln, wovon zu erzählen seyn wird, wäre auch das: „die
Fahrt uach Buttstädt."
Ich werde gestört — —
deu 14ten.
Ihr alle glaubt nicht, wie ich Euch, selbst in dem Strudel der Beschäftigungen
und Zerstreuungen, der, alles Widerstrebens und Ablehuens ungeachtet, fast täglich
wächst, vermisse und mich wieder unter Euch zu sehnen anfange. Indessen: was
aus guter Absicht und mit Ehren begonnen ist, muß hindurch, dann aber soll mich
auch nichts zurückhalten; selbst nicht das bis zur Uebertreibung gütige, fürsorgende,
zutraulich entgegenkommende, zutraulich ermunternde Benehmen der vortrefflichen,
so höchst liebenswürdigen Fürstin, welcher es der Fürst — so viel er irgend kann
uachzuthuen eifert und, wie er nun ist, dabey nicht selten so über die Schnur hauet,
daß ich kaum weiß, wie ich dabey mich nehmen soll. Ich muß mich sehr in Acht
nehmen, im lebhaft laufenden Gespräch mir nichts entwischen zu lassen, was wie
ein Wunsch aussieht, und uicht einmal einer ist, sondern wie es heraus, auch von
mir vergessen worden — sonst, ehe ich minds versehe, ist es da. Daß ich mich
dessen nicht etwa gegen Dich berühmen will, sey hoch und theuer versichert; ich
rechne es auch gar nicht mir selbst zu, soudern die Sache ist: diese geiht- und
seelenvolle Frau bedarf der Nahrung für Geist und Seele; diese gab ihr vor¬
nehmlich Goethe; der ist dahin; und nun umgeben von leeren blos schmeichlerischen
Hofleuten — und durchfliegendeu Fremden, die der Natur der Sache nach sich
doch nur auf weltliche Neuigkeiten und tgi. beschränken — ich sage: diese Frau
fast verlassen in jener Hinsicht, sehnt sich, seit sie dies ist, nach dergleichen Stoff
und greift nach dem, der ihr ihn bietet und sich ihres Zutrauens nicht überhebt —
heiße dieser nun Hinz oder Kunz. Willst Dn davon künftig mehr wissen, so er¬
innere mich an deu „gestrigen Abend in Belvedere." Ich, meines Theils, werde
ihn lebenslang nicht aus der Erinnerung verlieren. Aber nun denke Dir auch für
mich aeltlichen ruhebedürftigen Mann die stete Aufregung und Anstrengung, wenn
ich Dir gerade den gestrigen Tag skitzire: In der Nacht, vor Hitze und dem Nach¬
klang des Sonntags sehr wenig geschlafen; von 5—8 Uhr erst die gewohnten,
dann für die unmittelbare Folge nöthigen Beschäftigungen; von 8 bis nach 1Ü Uhr
Hauptprobe der heute vorzutragenden Gesänge im Fttrstensaale, welche Probe ich
— nachdem der Kapellmeister zuvor Alles aus dem Rohen einswdirt hat — selbst
halten und dirigiren muß, da die Sänger und Sängerinnen nicht die Festigkeit
und Geübtheit der Leipziger für solche Sachen besitzen; zu Hause vou da bis
nach 12 Uhr Besuche solcher Art, daß ich die Thür nicht verriegeln kann; nun
Ankleiden, und von gegen 1—2 Uhr im Goethescher Hause mit deu Vormündern
beschäftigt; von uach 2 bis gegen 6 Uhr bei der Goethe in kleiner, aber sehr
gewählter Gesellschaft gespeiset und im Garten Kaffee getrunken; halb 7 Uhr vom
geh. Rath v. Müller im Wagen zum Thee und Abendessen in Belvedere abgeholt!
um 11 Uhr zurück uach Hause. — —
Wider Willen bin ich ins Schwätzen gekommen, doch wohl nnr um mit Dir,
liebste Henriette, länger zu thun zu haben. Nun aber auch genug! Schreibe mir
ja bald wieder; u., wenn Du kannst, nicht zu kurz. Grüße stehen schon oben.
Euer guter Engel sey mit Euch!
Weimar, den 17 Ang. 32.
Nicht sowohl, Dir einen Bericht zu senden, meine Liebste, denn es muß bey
der Abrede bleiben: sondern nnr, um mit Dir zu schaffen zu haben, wonach ich
mich sehne, fange ich einen Brief an. Daß ich Nachrichten von Dir und den
Unsrigen, erwünschten heitern Nachrichten verlangend entgegensehe: das branche ich
nicht erst zu versichern. Wiewohl jeden Tag von früh bis spät Abends arg ab-
getrieben, bin ich gesund, frisch und fröhlich. Was wollt' ich nicht? Immerfort
beschäftigt mit Gegenständen, die ich hochachte, liebe und denen ich gewachsen bin;
jeden Tag ihren und meiner Bemühungen guten, wahrhaft nützlichen und be¬
deutenden Einfluß vor Augen; Alles mit nur all zu verschwenderischer und dank¬
barer Freude erkannt und belohnt, was kann einem Manne, besonders höheren
Alters, Schöneres begegnen? was ihn stärker reizen, alle Kräfte dran zu setzen?
was ihm einen reicheren volleren Genuß gewähren?
„Alle Kräfte"; eben darum aber muß ich — da das Maas der Eintheilung
nicht von mir abhängt und selbst nicht von denen Personen, welche mir vorzüglich
wohlwollen, wie nun die Dinge sich in einander verflechten — eben darum muß
ich, eingedenk meiner 62 Lebensjahre, den Faden, was mir auch die Hand halte,
so bald abreißen, als mir irgend thunlich. Und das soll auch geschehen und ist
schon angekündigt.
Jetzt nun vorerst meinen Dank, daß Dn am Dienstag offenbar meine Bitte
stattfinden lassen und mir den Daumen gehalten hast. In meinem ganzen Leben,
so viel ich irgend weiß, ist mir ein freyer mündlicher Vortrag über eine Stunde
lang und ohne ein Papierschuippselchen zur Nachhülfe jnicht'j so gelungen. Die Herr¬
schaften und ihr Hof, die Minister und was sonst in solche Versammlung gehört
— ungefähr 80 Personen, etwa zwey Drittheile Herren — haben mich, als ich
nur einmal gegenübersaß, nicht einen Augenblick genirt. Dein ist dies Gelingein
das liegt am Tage. Darum o liebes Kind, mach' es doch heute wieder so —
mit dem Daumen nämlich! und die folgenden zwey Abende desgleichen!
Von dem, was eine Erzählung abgeben kann, führe ich den gestrigen „Tag
in Tiefurt" vor Allem an. Und hiermit für heute: Amen; denn nun will ich
meine Thür verschließen und mich zu besinnen anfangen, wovon um sechs Uhr
gepredigt werden soll.
Sonnabend, d. töten.
Nun ja! gepredigt ist worden und eher zu viel als zu wenig. Gesungen ist
worden, und gleichfalls eher zu viel als zu wenig. Angestrengt haben wir uns
nach Möglichkeit: und doch — Ach. liebe Frau, ich fürchte sehr, Du bist verge߬
lich oder zerstreut oder wer weiß was gewesen und hast deu Daumen nicht ge¬
halten! Es war wohl Alles recht gut und alle Leute waren auch recht wohl zu¬
frieden: aber es verlief ein Jedes nicht so frisch und rund, und der Enthusiasmus
war nicht so licht und laut, wie neulich. Den geheimen Grund und Zusammen¬
hang weiß, außer mir, Niemand. Man schiebt es auf die alle Kraft auflösende
Gewitterhitze, die durch Menschenzahl und viele Lichter noch vermehrt wurde und
wahrlich kaum erträglich war, die Köpfe betäubte, die Stimmen ermattete; und ich
lasse die Leute dabey. Aber — aber! Nun vergiß mir nur die beyden Tage der
künftigen Woche deu Daumen nicht!
Den Goethescher Angelegenheiten widme ich täglich mehrere Vormittagsstunden
und fange nun an durchzublicken. Alles dies würde mir sehr erleichtert worden
seyn, hätte sich nicht getroffen, daß ich den alten würdigen, mit Recht berühmten
Meyer nahe am Todte gefunden hätte. Zwar bessert es sich nun mit ihm: aber
er darf noch immer Niemand sprechen,") Die Dinge zeigen sich im Ganzen weit
anders als ich und alle Andere, von denen ich weiß, sie sich gedacht haben. Der
Goethe hat auch in seinem Sammeln mit der unwandelbaren Consequenz gehandelt,
die nun einmal sein Eigenthum war und nach welcher er ganz nichts berücksich¬
tigte, als seiue Bedürfnisse und Wünsche — die geistigen nämlich. Sonach
muß, wer damit zufrieden seyn soll, Etwas von denselben Bedürfnissen und Wün¬
schen, er muß — was dies voraussetzt — auch Etwas vou denselben Kenntnissen
Neigungen nud Absichten in sich tragen. Das ist nun freylich uicht Vieler Sache
und kann es nicht seyn: wie nun da, wenn es gekauft werden soll und zwar
von Einem, aber nicht für Einen, sondern für Viele, für Jeden, der es benutzen
kaun und will? Wohlwollendes Vertrauen darf nie getäuscht werden: ich habe
daher die Fürstin Etwas vou meiner Ansicht des Ganzen — vorläufig wenigstens
ahnen lassen. Die wahrhaft edle Frau horte mir ernst und sehr aufmerksam zu,
ließ mich ganz ausreden und sagte dann: Ich habe fast so Etwas vermuthet, da
unser einziger wahrer Kenner (Meyer) sich eines Ausspruches enthielt und die
Dilettanten in enthusiastischen Lobpreisungen sich verloren, die recht gut seyn mögen,
aus denen man aber nichts lernt. Doch lassen Sie einem Jeden seine Weise.
Goethe hat im Leben so Vieles für mich gethan: billig daß ich im Todte Etwas
für ihn an den Seinigen thue u. f. w.
Doch was rede ich Dir von Dingen vor, die nur mir nahe liegen--
In diesem Augenblicke kam der Gelbrock mit Deinem lieben Briefe mich auf
das Erfreulichste überraschend; denn ich hatte ihn erst Sonntag oder Montag er¬
wartet. Desto herzlicher ist mein Dank und da Du mir fast nur Günstiges hast
schreiben können und es mir, theure Frau, so liebreich und freundlich geschrieben
hast, desto lebendiger meine Frende. Laß mich den Brief kurz durchgehn damit
ich ihn noch besser genieße.
Du bist gesund, thätig, genießest heiter das Dir verliehene Gute und hältst
über das Bedenkliche Dich an die beruhigende Hoffnung. Alles das gut und schön
und sehr erfreulich. Aus dem Völkchen um Dich ist uun ein Volk geworden, ein
fröhliches, Dich liebendes Volk. Auch gut und schön: nur aber vergiß nicht, was
Du mir versprochen, nämlich, Dich nicht zu übernehmen, den Schwarm nicht zu
nahe und zu lange an Dich kommen zu lassen, besonders aber Deine Morgen¬
stunden Dir frey und ruhig zu erhalten! — — — —
Endlich meine Zehe! Die war wirklich recht schlimm: unterwärts geschworen,
der ganze Fuß entzündet; ich mußte jeden Weg im Wagen machen, selbst in der
Stadt. (Fast Alles in des guten Müllers Wagen, den er mir aufdringt.) So
war es aber nur bis zum dritten Tage. Da, auf einem Spaziergange im Park
zu Belvedere mit dem Großherzog merkt nur dieser ub, daß ich nicht gut fort¬
kann und ich muß ein Wort davon sagen. Kaum bin ich nach Hause, so ist auch
schou der Hofchirurgus da und schafft gar bald — erst Linderung der Schmerzen,
dann Hülfe. Jetzt und schon die ganze Woche kann ich — in Schuhen, die ich
zum Glück bey dem trockenen warmen Wetter tragen kann — ohne Schmerz, ja
fast ohne alle Empfindung, über Stock und Stein. Ueberhaupt: der vielfältigen,
täglichen Unruhe und Geiflesaustreugung ungeachtet, befinde ich mich vollkommen
wohl; wenn ich auch von den fetten Tafeln nicht fetter zurückkommen sollte.
Mit diesem Zurückkommen soll es übrigens bey dem bleiben und aus den an¬
geführten Ursache», wie ich neulich geschrieben habe. Dienstag über acht Tage
werde ich wieder zu einem Theile der Eingeweide des schwarzen Rosses. Einen
Wagen aus Leipzig brauche ich nicht: mein Wirth fährt mich rascher, einen Thaler
wohlfeiler, und ich bin dann auch für unvorhergesehne Zufälle gesichert. Weil ich
aber nicht vergeblich mich möchte erwarten lassen — denn die Anzahl heftigster
Sehnsuchten, die jetzt aus mich gerichtet seyn werden, müßte, auch nur um einen
Tag getäuscht, eine furchtbare Ravaxs nnter Euch anrichten: so werde ich zuvor
uoch einmal schreiben.
Und nun lebe wohl, meine liebe Frau, in, mit und unter der Schaar, die
sich um Dich versammlet. Sage ihnen Allen meine freundlichsten Grüße: Allen
und Jedem besonders. Es kömmt mir komisch vor, in diesem Augenblick, wo ich
sie mir überzähle, zu bemerken, daß einem solchen weiblichen Personale gegenüber
Paul der ansehnlichste Mann im Hause ist. Ist deun Julius auch gegen die
Dresdner Damen hübsch galant und zärtlich? Meinem Bruder laß wissen, bitte
ich, daß es mir wohlgeht.
Sonntag, d. 19im.
Nur noch ein einfaches, unnöthiges Postscript, liebste Henriette! unnöthig,
weil nichts hineinkommt, als was Du längst weißt. Mitten unter alle dem, was
mir hier nur allzureichlich und allzugünstig wiederfährt — weil Weimar nun ein¬
mal durch seine vormaligen eminenten Geister gewohnt ist, Geistiges hochzuhalten,
mitunter wohl auch um selbst für geistig hoch angesehen zu seyn, und weil die
Näherstehenden jenes mein doppeltes eigentliches und allerdings anstrengendes Ge¬
schäft mir allzusehr verdanken: — mitten unter alle diesem sag' ich, sobald mir
eine einsame ruhige Stunde wird, denke ich Deiner mit Liebe und mit sehnenden
Verlangen nach Dir, den Unsrigen und unserer Häuslichkeit. Lernet man doch erst
wie lieb man manches hat, wenn mans entbehrt! Thue doch auch darum, liebe
Frau, was Du vermagst, Deine Gesundheit und Kraft uicht zu übernehmen; anch
darum, daß Dem Mann, wenn er zurückkömmt — so viel dies von Dir abhängt —
sich Deines Wohlseyns erfreuen und sorgenbefreyt in seinem Hause still hinleben
könne! Er lebt ja dann auch für Dich und die Du liebst. — Von ganzem Herzen
Weimar. Mittwoch, den 22sten Aug. 32.
Guten Morgen, meine geliebte Frau! Möge mein Blatt Dich und Alle, die
Dich umgeben, gesund und heiter finden! Es ist das letzte, das Du von mir
diesmal erhältst; wenn nicht ganz besondere Umstände eintreten, die ich dann melden
würde. Ich bin gesund und überstehe das Alles, was ich hier mir selbst zumuthe
oder was von reger Theilnahme mir zugemuthet wird, zu meiner eigenen Ver¬
wunderung, ohne den geringsten Nachtheil für mein Befinden. Was meine Abreise
anlangt, so wird es bey dem bleiben, was ich neulich geschrieben. Gäbe ich, wie
freylich vou allen Seiten in mich gedrungen wird, einige, ja mehrere Tage zu:
so würde sich das Bisherige immer wieder fortwickeln und der Faden dann doch
wieder ebenso zerrissen werden müssen. Möglich wäre es, daß ich nicht ausweichen
könnte, den Dienstag noch hier zu bleiben, mithin die Mittwoch Abends anzu¬
kommen, indem man vorhat fortan jedes Jahr Goethe's Geburtstag (eben den
28sten) auf eine würdige stille Weise feyerlich zu begehen; was diesen Dienstag
zum erstenmale geschehen wird. Aber, stets gespannt und gereizt, wie ich hier
ohnehin bin, gestehe ich, diese Feyer zu scheuen. Auch möchte ich uicht gern den
letzten Eindruck eiuen schmerzlichen seyn lassen.
Schon sind die Hauptmomente der mir noch übrigen Tage festgesetzt. Da
ich nichts näher liegendes zu schreiben habe, bevor ich Deinen Brief erhalten, und
mich doch gern mit Dir unterhalten mochte: so gebe ich Dir sie an. Gestern
Abend war die dritte musikalische Versammlung: für mich und die Sänger die
schwierigste von allen. Um in der historischen Anordnung zu bleiben und doch die
drängende Zeit nicht auszudehnen, hatte ich unser beyder diesmaliges Pensum zu
groß machen müssen. Die Unterhaltung dauerte drey volle Stunden. Wir hatten
aber auch nicht weniger und nichts Geringeres abzuthun, als: Pergolesi, Hasse,
Seb. Bach und Händel. Alles, Wort und Werk, gelang über mein Erwarten,
und zum Schluß — während der Arie Er war verachtet — und nach dem dar¬
auf folgenden Chor: Hoch thut euch auf ihr Thore der Welt — beydes, wie
Du weißt, aus dem Messias — ereignete sich noch eine besondere Scene, welche
die tiefe Rührung aufs höchste steigern mußte, aber der mündlichen Erzählung auf¬
gespart bleiben muß. Hierauf und beym Scheiden sagte die Fürstin, die stets
Fassung und Haltung behauptet, jeden Ueberschwang wieder in sanfte Umgränzung
zurück zu leiten: „Nun heute kann Ihnen doch wohl kein Wunsch übrig geblieben
seyn!" „Und doch einer." „Welcher?" „Daß die Meinigen hätten gegenwärtig
seyn können." „O, kommen Sie bald wieder und bringen sie mit: Alle! Alle!
Wir wollen thun, was mir nur können, daß sie gern unter uns verweilen."
Du magst Dir denken, liebste Henriette, was ich erwiedern und wie ich bewegt
seyn mußte. Doch ich wollte ja vom Künftigen, nicht vom Vergangenen sprechen.
Heute speise ich (um 3 Uhr wie allemal) mit den Herrschaften, dann soll mit ihnen
eine Spazierfahrt ich weiß noch nicht wohin stattfinden. Morgen Vormittag soll
eine Schlnßconferenz in der Goethescher Angelegenheit gehalten werden, mit der
Goethe, den Vormündern und dem Dxsontor tsstiuncznti, unserem Müller, worauf
wir um 2 Uhr bei der Goethe essen und den Nachmittag im Goethescher Garten
(im Park) der eben in köstlicher Blumenpracht pranget, zubringen. Gegen Abend
halte ich die Hauptprobe für den Freytag. Diesen Tag — wie ichs bey jedem
aehnlichen eingerichtet — überläßt man mich ganz meiner Vorbereitung, bis Schlag
6 Uhr die Unterhaltung beginnt. Wir werden uns da mit Haydn und Mozart
beschäftigen; und für den gänzlichen Abschluß habe ich noch eine besondere Idee,
von welcher ich jetzt um so weniger sprechen kann, da ich selbst noch nicht weiß,
ob ich sie ausführen werde. — Im Gespräch war mir einmal entschlüpft, daß ich
mit Müller den (Du weißt ja wohl?) historisch merkwürdigen Wald von Ettersberg
besuchen würde. Das war aufgefangen und dem Müller gesteckt worden, er solle
es verschieben; und nun führen die Herrschaften mich selbst dahin. Es soll den
Mittag im Jagdschloß daselbst gespeiset und dann umher gestreift werden. Das
geschieht den Sonnabend. Den Sonntag: Tafel in Belvedere und nach derselben
werde ich mich von den Herrschaften beurlauben. Den Montag: Abschiede, Ein¬
packen und tgi. Die vortreffliche Witterung erleichtert, begünstigt und verherrlicht
mir fast Alles, was ich vornehme; und es thut mir wohl, mir zu denken, daß
dies mit dem, was Du liebste Frau vornimmst oder die Unsrigen vornehmen, eben
so seyn wird. Deß allen ungeachtet, glaube mir, daß ich Eurer Aller stets ge¬
denke, nicht nnr mit herzlicher Neigung, sondern wohl auch in der Stille mit
wahrer Sehnsucht. Gerade jetzt habe ich diese ins Freundliche ableiten wollen und
deshalb so Vieles im Grunde Unnöthige geschrieben.
Sonnabend, den 25sten.
So habe ich nun wieder ein Geschäft hinter mir, das zwar viele Mühe und
Anstrengung gekostet, das aber auch Vielen — darunter den bedeutendsten Menschen
des Ländchens — große Freude gemacht, den Geistern einen, ihnen ganz neuen
fremden und würdigen Stoff geboten, sie dafür gewonnen hat und dessen nähere
Folgen schon als wohlthätig sich zeigen, dessen entferntere Folgen man noch nicht
ahnen kann.
Ter gestrige Abend war wirklich ein überaus schöner und sein Schluß ins
Innerste greifend. Mehr darüber vielleicht mündlich: genug, meine Kräfte reichten
aus und Alles lies glücklich zu Eude. Heute endige ich nun auch das zweite —
jenes Goethesche Geschäft; dann neige sich Alles dem Abschiede zu. Ich schreibe
dies einfache Wort in einer sonderbaren Mischung der Gefühle. Wie so Alles
dahingeht, an das Dahingehende sich ein Neues knüpft: Jedes gut und schön,
wenn wir es also zu fassen und zu gestalten wissen; wenn es in uns steht, wie
es soll, daß wir es also zu fassen und zu gestalten vermögen! Nichts aber ohne
treue Prüfung und Darbringer seiner Selbstigkeit! wohin denn paßt, was schon
das Urdocument unsrer heiligen Schriften sagt: „Solche Mühe hat Gott den
Menschen gegeben auf Erden." — Doch genug! Es hat eben früh 6 Uhr ge¬
schlagen: bald werde ich ein Schreiben von Deiner lieben Hand in der meinigen
halten. Dies wird meinen Blick mehr von dem abwenden, was dahingeht und an
das heften, was nen sich wieder anknüpft — wie schon gesagt: Jedes gut und
schön, unter den angegebnen Bedingungen; und diese will ich redlich erfüllen.
Der erwünschte Brief — sogar ein zwiefacher — ist gekommen: aber er
bringt mir nicht die erwünschte Nachricht von Deinem Wohlbefinden, liebste Hen-
riette, und wirft damit einen trüben Schatten in mein Inneres — eben darum
auch über mein Äußeres. Zwar hat die freundliche Marie versucht, ihn nufzu-
helleu; ich bemühe mich auch ihre beruhigenden Ansichten mir anzueignen: es will
mir aber noch nicht recht gelingen. Darum will ich auch lieber zu schreiben ab¬
brechen; und ich kann es um so eher, da wir ja deu Dienstag, wenn auch spät
am Abend, einander sehen. Gebe Gott, daß es in Heiterkeit geschehen könne. Bis
dahin Allen, vom Ersten bis zum Letzten, meine herzlichen Grüße. Mit treuem
Antheil der Liebe und Freundschaft
Den Briefen selbst ist nichts hinzuzufügen. Wie sie tren und doch so ge¬
winnend den Charakter ihres Schreibers spiegeln, so gewähren sie ein höchst
anschauliches Bild der kleinen Welt, in der sie sich bewegen, der Zustände und
Stimmungen, die in Weimar in den ersten Monaten nach Goethes Tode vor¬
herrschten, sie bleiben liebenswürdige Zeugnisse einer .-Zeit, die zwar schon
sechzig Jahre hinter uns liegt, aber doch denen nicht fremd geworden ist, die
es wissen und festhalten, wie segensreich die Bildung jener Zeit auf die Menschen
jener Zeit gewirkt hatte, in denen sie reif geworden und rein geblieben war.
Daß Friedrich Rochlitz zu diesen Menschen in erster Reihe gehörte, ist schon
oft zur Genüge gesagt worden und braucht am wenigsten hier angesichts dieser
Briefe wiederholt zu werden.
s soll in diesem Jahre das letzte mal sein, daß eine Einrichtung
im Kunstleben Berlins, die über hundert Jahre bestanden, frei¬
lich sich nicht gerade immer bewährt hat, ihr verbrieftes Vor¬
recht übt. Die dreiundscchzigste Ausstellung der königlichen Aka¬
demie der Künste soll die Reihe abschließen, die 1786, bald nach
dem Tode des großen Königs, begonnen hat. Wie in so viele Einrichtungen
des Berliner Lebens, deren Bestand bis in alle Ewigkeit hinein gesichert schien,
hat der gewaltige Umschwung seit 1871 auch in die Kunstausstellungen der
Akademie den Keim des Todes gelegt. In dem Grade, als sich die notwen¬
digen oder vermeintlich notwendigen Reprüsentationspflichten Berlins als der
Hauptstadt des deutschen Reichs mehrten, mußten auch alle öffentlichen Unter¬
nehmungen der Reichshauptstadt damit gleichen Schritt halten. Wir hatten
bis 1874 aller zwei Jahre eine Kunstausstellung gehabt, die oft glänzend und
überraschend, immer aber gediegen und achtbar ausfiel. Dann wurden Jahres-
ansstellungen durchgesetzt, von denen sich zehn Jahre lang keine einzige über
die Mittelmäßigkeit erhob, und um diesem Jammer ein Ende zu machen, ent¬
schloß man sich zu internationalen Kunstausstellungen, deren erste durch das
Sükularfest der akademischen Kunstausstellungen (1886) veranlaßt wurde. Der
Rückschlag blieb nicht aus: auf das fette Jahr 1886 — fett nur deshalb, weil
die Einnahme an Eintrittsgeldern größer war als je zuvor — folgten vier
magre Jahre, und nachdem der Berliner Kttnstlerverein zur Feier seines funfzig¬
jährigen Jubiläums 1891 abermals eine internationale Ausstellung veranstaltet
hatte, die die von 1886 an Umfang, Bedeutung und materiellem Erfolg weit
übertraf, ist in diesem Jahre wieder ein Rückschlag eingetreten, der freilich er¬
wartet worden ist, und zu dessen Abwehr oder Abschwächung man mehrere
Mittel versucht hat.
Das wichtigste ist ein in aller Stille vorbereiteter Plan einer gründlichen
Umgestaltung der großen Berliner Ausstellungen. Die Urheber dieses Plans
sind anscheinend so vorsichtig und klug wie nur möglich zu Werke gegangen.
Sie haben sich die alte Gegnerschaft zwischen Akademikern und unabhängigen
Künstlern zu nutze gemacht und nach dem Sprichwort Vuodu8 1issitg.ntidus
tsrtius ZÄuclet eine Art Vorsehung spielen wollen, die die einander oft wider¬
strebenden Interessen der Akademie und der im Künstlerverein ihren Mittelpunkt
findenden unabhängigen Künstler — es kommen dabei sowohl Macht- als
Geldfragen in Betracht — zu versöhnen, am Ende aber eine noch im Dunkel
gehaltne Persönlichkeit zum Meister aller Dinge unter staatlicher Autorität zu
erheben sucht. Dieser Plan, der, wie man sich erzählt, besonders in einzelnen
Kreisen der Düsseldorfer Künstler lebhafte Unterstützung gefunden haben soll,
ist aber vorläufig gescheitert, und zwar — ganz gegen die Weltweisheit des
angeführten Sprichworts — durch das einmütige Zusammenwirken der strei¬
tenden Parteien. Nach mehreren Beratungen von Vertretern der Akademie
und des Künstlervereins ist der Entwurf zur Begründung einer „Landes- und
Kltustausstelluugs-Gemeinschaft" ohne eingehende Erörterung grundsätzlich ab¬
gelehnt und ein neuer aufgestellt worden, der beiden Körperschaften gleiche
Rechte gewährt, eine ersprießliche Thätigkeit in gemeinsamem Interesse sichert
und der Ministerialbehörde nur das Recht der Oberaufsicht und die Entsen¬
dung eines Beirath einräumt.
Dieses entschlvßne Vorgehen muß der Akademie als hohes Verdienst an¬
gerechnet werden, auch dann noch, wenn man bedenkt, daß es sich in diesem
Streite auch für sie um Kopf und Kragen handelte. Es ist sehr leicht und
immer der Wirkung auf urteilslose Leser sicher, wenn sich ein Kuustkritiker
aus der Gefolgschaft der naturalistischen Litteratur in die Brust wirft, auf
die Akademiker schimpft und beantragt, alle Antikenklassen, Aktsäle und Meister¬
ateliers vou Staatswegen abzuschaffen. Darum ist es für den, der die Kunst
höher stellt, als die Schlagwörter und Kriegsrufe fanatischer Parteigänger, eine
tröstliche Beobachtung, daß sich in diesem Punkte, um den sich die Lebens¬
interessen des Ganzen wie der Einzelnen drehen, die Akademiker ihrer
Würden und Vorrechte entäußert, daß sich Künstler mit Künstlern zusammen¬
gefunden haben.
Zugespitzt hat sich dieser Kampf zwischen staatlicher Autorität. Überliefe¬
rung und Interessengemeinschaft erst, als die dreiundsechzigste Ausstellung der
Akademie längst eröffnet war. Die akademische Körperschaft scheint aber ge¬
wußt zu haben, daß ihr schwere Kämpfe zur Behauptung ihres alten Ansehens
bevorstehen, und sie hat darum an ihre Mitglieder den Ruf ergehen lassen,
durch Svuderausstellnngen alter und neuer Werke zu zeigen, daß die Akademie
keine Bewahranstalt verstaubter Perücken und verrotteter Zöpfe sei. Dieser
Aufforderung sind die Mitglieder der Akademie leider nicht so bereitwillig und
eifrig nachgekommen, wie es der Würde dieser Körperschaft geziemt hätte und
zur Widerlegung billigen Spotts und Hohns nötig gewesen wäre. Es ist
überall nur Stückwerk zu stände gebracht worden, das dem Kenner der hei¬
mischen Kunst wenig oder nichts Neues bietet und dem Fremden eine lücken¬
hafte, zum Teil sogar höchst unvorteilhafte Vorstellung von der neuern deutschen
Kunst gewährt. Man hat in Berlin, München, Paris und London schon
Sammelausstellungen der Werke Adolf Menzels gesehn; aber keine ist in ihrem
Inhalt und nach ihrer äußern Einrichtung kläglicher ausgefallen, als die auf
der letzten Ausstellung der Akademie. Kraus ist mit einer stattlichen Anzahl
älterer und neuerer Werke vertreten; aber sie lassen nicht erkennen, worin
eigentlich die nationale Bedeutung dieses Meisters für uns liegt. Es siud
meist Bildnisse von Herren, Damen und Kindern aus deu Kreisen der Ber¬
liner Geldaristokratie, an und für sich fesselnd durch die scharfe, geistvolle
Charakteristik, die so viel vom innern Leben giebt, als überhaupt herauszuholen
ist, und durch die bestechende Technik, die geschmackvolle Anordnung, die zwar
aus dem Studium der alten Niederländer, insbesondre Terborchs und Meissouiers,
abgeleitet siud, daneben aber auch einen modernen und einen persönlichen Zug
haben. Aber von dem Genremaler Kraus, der früher so tief in das deutsche
Volkstum und die deutsche Volksseele hineingeschaut hat, daß die Franzosen
vor solchem Bildern wie vor neuen Offenbarungen standen und ausnahms¬
weise einmal nicht von Nachahmung ihrer Kunst und von deutschen Philistern
reden konnten, sieht man in dieser Sonderausstellung nichts. Die karten¬
spielenden Schusterjungen, ein altes, durch den Stich verbreitetes Bild, und
die Schulknaben, die auf dem Erdboden liegend mit einander raufen, bieten
für diesen Ausfall eine nur mäßige Entschädigung, wenngleich der Humor
dieser Darstellungen in einer Zeit, wo der Mehrzahl der deutschen und aus¬
ländischen Genremaler der Humor gänzlich abhanden gekommen zu sein scheint,
dankbar begrüßt werden muß.
Am reichsten und vielseitigsten ist die Sonderausstellung Ednard von
Gebhardts gestaltet worden, auf den alle, die es mit unsrer Kunst ernst meinen,
mit nicht geringerm Stolze blicken als auf Menzel und Kraus. Je mehr
sich Fritz von Abbe, von dem man eine Verinnerlichung der religiösen Malerei
in Übereinstimmung mit der modernen Anschauung von der Gleichberechtigung
aller Menschen vor dem Mittler erwartete, in naturalistische Schrullen und
koloristische Experimente verliert — der „Ostermorgen" (Christus erscheint der
Magdalena als Gärtner) ist ein besonders bezeichnendes Beispiel für die letzten
Ausartungen seiner Manier —, desto höher steigt Eduard von Gebhardt in
unsrer Schätzung. Wie Abbe, bietet uus auch Gebhardt meist nur Malerei
ans zweiter Hand. Aber die erste Hand, aus der er sie entnimmt, ist doch
eine deutsche, während wir bei Abbe niemals vergessen und übersehen können,
daß er seinen Naturalismus nicht der Natur, sondern zuerst den Franzosen
abgesehen hat. Gebhardt hat dagegen sein Bestes von den alten, uns stamm¬
verwandten Niederländern, von Dürer und von Holbein gelernt, und da man
durch Hasser und Neider den Wert seines eignen Besitztums am besten kennen
lernt, wissen wir auch längst, was wir an Holbein besitzen, zu dessen ein¬
samer künstlerischer Höhe alle Prahlsucht der Franzosen ihren Jean Clouct
nicht hinaufzuschrauben vermocht hat. Fast alle schlechten Holbein haben sich
in neuerer Zeit als gute Clouets entpuppt, und auf diese Thatsache sollten
wir ein höheres Gewicht legen als auf die Ehrenbezeugungen, die die fran¬
zösischen Naturalisten für ihre deutscheu Schüler abfallen lassen, auf die
Medaillen und ehrenvollen Erwähnungen, die Liebermann, F. von Abbe,
G. Kuehl, Fräulein Dora Hitz, Fräulein Breslauer und andern zuteil werden,
oder gar auf die Herrn Liebermann erwiesene Ehre der Mitgliedschaft der
LovivtL ng.t,ioinü<z (d. h. doch „französischen") ac-s vög,ux-g,re.8. Ein Franzose
würde eine solche Auszeichnung von deutscher Seite mit Entrüstung und tra¬
gischen Pathos zurückweisen, der Deutsche nimmt sie als „internationaler"
oder vielmehr „supranationaler" Mann ruhig an und freut sich vielleicht auch
darüber, daß die Zeitungen davon Notiz nehmen und die Unparteilichkeit der
Franzosen rühmen. Das geschieht ein Jahr nach der Berliner Kunstaus¬
stellung von 1891, die den Franzosen wieder einmal den Anlaß zur Ent¬
hüllung ihres pöbelhafter, von der Straßenrevolte diktirten Chauvinismus
gegeben hat!
Eduard von Gebhardt hat sich an seine Vorbilder aus dem fünfzehnten
und sechzehnten Jahrhundert nur insoweit angeschlossen, als er von ihnen die
Trachten, die eigentümliche Befangenheit der Körperbildung, die die Wahrheit
über die Schönheit stellt, oder vielmehr das Zufällige an einem Individuum
einem aus einer Reihe von Einzelwesen abstrahirten Typus vorzieht, die mehr
auf scharfe Betonung der Lokalfarben als auf Gesamtton und Stimmung hal¬
tende Färbung und gewisse Einzelheiten der äußern Anordnung angenommen
hat. Sein eignes künstlerisches Verdienst liegt in der Charakteristik der
Köpfe, in der Analyse der Seele, in der Herauslösung des geistigen und
seelischen Lebens selbst aus anscheinend stumpfsinnigen Wesen. Aus einer großen
Zahl von Studienköpfen nach der Natur lernen wir sein Verfahren kennen,
wie er allmählich der Persönlichkeit, die er für seine Zwecke brauchbar erfunden
hat, beizukommen sucht, wie er die charakteristischen Züge immer stärker hervor¬
hebt und am Ende den Kops zum Gefäß einer religiösen Empfindung oder
zum Träger eines begeisternden oder sittlich erhebenden Gedankens macht.
Das ist auch eine Art von Idealisirung, bei der auch ein häßlicher Kopf
gleichsam von innen heraus veredelt wird. In den fertigen Bildern, denen
diese Naturstudien gedient haben, in deuen aus der evangelischen Geschichte
wie in den Einzelfiguren und Genreszenen aus dem Neformationszeitalter, sind
Umgebung und Trachten mit den aus dem modernen Leben gezognen Menschen
so eng verwachsen, daß nur selten eine Figur an Maskerade oder an die Pose
des Modells erinnert. Wie innig Eduard von Gebhardt trotz seiner alter-
tümelnden Neigungen mit der Natur vertraut ist, erfahren wir noch besser
ans seinen Bildnissen, in denen er weder mit Holbein noch mit Quentin
Massys liebäugelt, soudern ohne Mittelsleute auf die Natur losgeht. Was
er uns ein alten und jungen Herren und Damen, an jovialen, weinfrohen
und in sich gefestigten Naturen, die sich ohne besondre seelische Empfindlichkeit
ihres Daseins freuen, oder an nervösen Gemütsmenschen, an Denkern und
Grüblern vorführt, hat zwar meist einen philiströsen Zug, aber es ist doch
Natur, und zwar gesunde Natur, und das ist sehr viel in einer Zeit, wo der
Begriff Natur zum Schlachtruf für eine Horde von Sansculotten geworden
ist, die die schlimmsten Schändungen an dem Heiligtum der Natur verüben.
In Berlin haben wir freilich noch keine Ursache zu schwerer Klage. Wenn
Akademie und Künstlerverein auch oft im Streite lagen, so sind sie doch in
der Bekämpfung der schädlichen Einwirkungen des Naturalismus und in der
Ausschließung seiner groben Ausschreitungen einig gewesen. Aus den Erleb¬
nissen einer Kunsthandlung, die mit den Erzeugnissen des Naturalismus jahre¬
lang ein verderbliches Spiel getrieben hat, werden andre, die den Versuch
machten, mit ihr zu wetteifern, vielleicht eine heilsame Lehre gezogen haben.
Hoffentlich wird ein öffentliches Ärgernis wie die „Ausstellung der Elf" nicht
fo bald wiederkehren. Es müßte denn sein, daß sich das deutsche Volks¬
gewissen am Ende ganz einschläfern ließe und der deutsche Michel wieder in
seiner Glorie erstünde.
Von diesem Gesichtspunkte aus betrachtet erlangen die Sonderausstellungeu
der Akademiker, von denen die des Aquarellisten Passini, des Landschafts¬
malers Gustav Schönleber in Karlsruhe und der Hauptwerke des im vorigen
Jahre gestorbenen Geschichtsmalers Gustav Spangenberg durch ihren Umfang
und ihren Inhalt wenigstens ein richtiges Bild der künstlerischen Individuali¬
täten geben, trotz ihrer Lücken und Schwächen gewissermaßen eine pädagogische
Bedeutung. Den jungen Stürmern und Drängern kann nicht oft und ein¬
dringlich genug das, was wir besitzen und besessen haben, und was sie gegen
höchst zweifelhafte Theorien und Experimente preisgeben wollen, vor Augen
geführt werden. Leider hat man sich aber mit der Vorführung nachahmens¬
werter Muster, in denen entweder das nationale Element zu starker Geltung
kommt, oder die sich durch hohe Entwicklung der malerischen und bildnerischen
Technik auszeichnen, nicht begnügt. Vielleicht aus Furcht, daß die Räume
des großen Gebäudes wegen der Münchner Konkurrenz nicht anständig gefüllt
werden könnten, hat man auch Sonder- und Sammelnusstellungen von solchen
Künstlern zugelassen, deren Berechtigung zu einer solchen Bevorzugung stark
bezweifelt werden muß. Mit diesen Sammelausstellungen ist in den letzten
Jahren von spekulativen Kunsthändlern ein so arger Mißbrauch getrieben
worden, daß die Akademie, oder wer sonst für die Anordnung der Ausstellung
verantwortlich ist, diesen Weg nicht hätte betreten sollen. Wenn ein Künstler
die Akademie durchgemacht hatte und durch ein Staatsstipendium, einen aka¬
demischen Preis oder die Unterstützung eines reichen Vaters oder Onkels in
die Lage gekommen war, eine Studienreise nach Italien, dem Orient oder
Südamerika zu machen, war es das erste, was er nach seiner Rückkehr in die
Heimat that, daß er, teils aus eignem Antrieb, teils freilich auch durch die
Ausstellungswut der Kunsthändler veranlaßt, eine Sammelausstellung seiner
unterwegs in Öl und Aquarell gemachten Studien und Zeichnungen veran¬
staltete, um der staunenden Welt zu zeigen, welch neues großes Genie über
Nacht entstanden war. Wenn mit solchen Ausstellungen ein ethnographisches
oder geographisches oder ein andres wissenschaftliches Interesse verbunden war,
konnte man sie sich noch gefallen lassen. Aber am Ende kamen allerhand
naturalistische Gernegroße und Sensationsmacher hergelaufen und kramten ihren
ganzen Atelierplunder vor den Angen des Publikums aus. Eine Aufwärmung
derartiger Ausstellungen war also mindestens überflüssig und jedenfalls nicht
geeignet, das Ansehen eines von so vielen mißlichen Nebenumständen begleiteten
Unternehmens zu heben. Wenn wir auch die Aquarelle des Münchner Haus
von Bnrtels — Strandlandschaften, Dorfansichten, Straßenbilder und Innen-
räume ans Holland, Rügen, Bornholm u. s. w. — wegen ihrer gesunden
Naturanschauung und ihrer großen Kraft in der malerischen und plastischen
Darstellung gern wiedersehen, so darf man doch, selbst angesichts des Guten
und Besten, nicht vergessen, daß das Wesen der modernen Ausstellungen darin
liegt, daß sie uns den Fortschritt, nicht das Verharren oder, wenn ein Fort¬
schritt nicht zu finden ist, doch stofflich immer etwas Neues zu bieten haben,
wenn sie nicht ihre Berechtigung verlieren sollen. Mit den Sonderausstellungen
von Hans Thoma, Franz Stuck, Wilhelm Trübner u. a. hätte uns die Ans-
stellnngsleitung aber aus rein ästhetischen Gründen verschonen müssen, um so
mehr, als alle bisherigen Massenaufzüge dieser Sonderlinge der modernen
Malerei aller Orten auf den entschiednen Widerstand des großen Publikums
gestoßen sind.
Es ist überflüssig, noch weiter die Gründe zu erörtern, die trotz eines
reichen, zum Teil wertvollen Materials den ungünstigen Gesamteindruck eiuer
Ausstellung herbeigeführt haben, zu der weder die Veranstalter noch die Aus¬
steller großes Vertrauen gehabt zu haben scheinen. Aus alleu Ecken und Enden
guckt auch hier, wie auch auf andern Gebieten unsers öffentlichen Lebens,
Zerfahrenheit, Planlosigkeit und Ermattung heraus, und darüber kann nur
eine Zusammenziehung aller Kräfte nach dem Innern, nicht eine Zersplitterung
nach allen auswärtigen Seiten, ein Wettlauf um eine Weltausstellung u. tgi. in.
hinweghelfen. Wichtiger als diese traurige Beobachtung, die wir hier nicht
weiter ausführen wollen, obwohl Grund genug dazu vorhanden wäre, ist für
unsern Zweck die Frage, ob die Berliner Kunstausstellung von 1892 neben
dem bekannten Alten, was meist immer noch gut ist, auch etwas Neues und
Verheißungsvolles gebracht hat, natürlich soweit die deutsche Kunst in Betracht
kommt. Diese Frage kann im allgemeinen, wenn auch nicht für jeden Zweig
der Malerei und Plastik im besondern — von der Architektur sehe ich hier
wegen ihrer dürftigen Vertretung ab —, bejaht werden. Am meisten, deut¬
lichsten und wirkungsvollsten stellen sich, wie seit zwanzig Jahren stets, die
Fortschritte der Landschaftsmalerei dar, die in keinem Lande der Welt zu
gleicher Vielseitigkeit entwickelt worden ist, und zwar sowohl nach der technischen
wie nach der stofflichen Seite. Der den Germanen im Blute steckende Wander¬
trieb, der schon so viel Unheil angerichtet hat und noch anrichtet, schlägt hier
einmal zum Segen aus. Als die Franzosen vor sechzig Jahren den Orient für
die Landschafts- und Genremalerei entdeckten oder „eroberten," wurde großes
Hallo erhoben, das noch heute nachklingt, weil man sich in Frankreich ge¬
wöhnt hat, alles Nichtfranzösische schlechthin als minderwertig anzusehen und
die deutsche Landschaftsmalerei uubesehn als romantisch, phantastisch, stim¬
mungslos und akademisch zu verdammen. In Wahrheit haben die deutschen
Landschaftsmaler in neuerer Zeit Eroberungen gemacht, von denen sich die
Franzosen trotz ihrer weit ältern Kolonialpolitik nichts träumen lassen. Wir
legen dabei nicht den entscheidenden Wert auf die Neuheit des Motivs. Ferdinand
Bellermann und Eduard Hildebrandt haben schon vor vierzig Jahren süd¬
amerikanische Urwald- und Flußlandschaften gemalt, und demnach würde ein
junger Berliner Maler namens Karl Oenike, der zwei Jahre lang in Brasilien,
Paraguay und Argentinien seine Studien gemacht hat, nicht als Entdecker zu
gelten haben. Aber welch ungeheuern Fortschritt in der Technik, in der un¬
befangnen, von keiner romantischen Schönfärberei angekränkelten Art des Sehens
und in der Wahl der Motive, die keinen Unterschied zwischen dem dankbar
malerischen und dem schlichten, an sich reizlosen Naturausschnitt macht, stellen
die Landschaften Oenikes dar, insbesondre die „Palmenlichtung im Urwald
von Paraguay," über der trotz der tropischen, alle Mitteltöne gleichsam auf¬
zehrenden Beleuchtung ein Hauch poetischer Stimmung schwebt! Nicht die
Ausdehnung ins Weite ist das Hauptverdienst der neuern deutscheu Land¬
schaftsmalerei, sondern die mit dieser Ausdehnung gleichen Schritt haltende
Entwicklung der Darstellungsmittel, die den atmosphärischen Erscheinungen und
dem plastischen Charakter, dem Wechselnden wie dem Bleibenden gerecht werden.
Manche dieser malerischen Entdeckungsreisen fallen freilich in das Gebiet
jugendlichen Sports, dessen geglückte Thaten man noch nicht in die Jahrbücher
der deutschen Kunstgeschichte eintragen darf. Wir machen aber die Beobachtung,
daß auch ernste, gereifte Männer und Greise ungeachtet aller drohenden Stra¬
pazen und Entbehrungen immer wieder zu der Quelle zurückkehren, aus der
ihre Phantasie und ihre Gestaltungskraft die erste Begeisterung geschöpft haben.
Auch dieser Drang nach häufigem, unmittelbarem Verkehr mit der Natur gehört
zu den Eigentümlichkeiten des deutschen Volkscharakters, die wir in hohen
Ehren zu halten haben. Daß er sich bisweilen zum Heroismus und zur
Selbstaufopferung erhebt, haben wir erst vor kurzem an dem Orientmaler
Wilhelm Gentz erfahren, der noch ein Jahr vor seinem Tode seinen siechen
Körper nach Nordafrika trug, weil es ihn trieb, die bei einem frühern Auf¬
enthalt in Tunis und Marokko gewonnenen Eindrücke zu vertiefen und darnach
sein weiteres Schaffen einzurichten.
Gewisse Richtungen der Lcmdschcifts- und Marinemalerei sind freilich Zier¬
pflanzen einer Liebhaberei, deren Dauerhaftigkeit nicht zu berechnen ist. Seit 1888
hat sich in Berlin eine Kolonie von Marinemalern gebildet, die so schnell an Mit¬
gliedern zugenommen hat, daß ein Zusammenhang zwischen dieser Neubildung
und den Neigungen des jetzigen Kaisers klar ist. Eine Pflanzstätte hatte die
Marinemalerci immer in Berlin; jetzt ist sie aber zur Treibhausknltnr ge¬
worden. Ein gleiches gilt von der Nordlandsmalerei, von den Schilderungen
norwegischer Fjorde, Gebirgsthäler, Inseln und Strandlandschaften. Sie hatte
früher, schon seit dem Ende der vierziger Jahre, ihren Sitz in Düsseldorf ge¬
habt, dessen Akademie die norwegischen und schwedischen Kunstjünger an sich
zog und festhielt. Jetzt hat Düsseldorf seine führende Rolle an Berlin ab¬
gegeben, wohin die deutschen und skandinavischen Nordlandsmaler übergesiedelt
sind, vielleicht in der Meinung, daß man das Eisen schmieden müsse, so lange
es warm ist. Daraus hat sich eine Massenproduktion entwickelt, der man zum
Glück nicht nachsagen kann, daß sie an Tiefe und Gründlichkeit verliere. Es ist
sogar ein förmlicher Wettlauf entstanden, der sich bisweilen, ganz wie beim
Sport, um ein bestimmtes Motiv dreht. Drei unsrer ersten Nordlandmaler,
Adelsteen Normann, von Eckenbrecher und Fritz Grebe, haben das Naeröthal
von Stalheim aus gemalt, jeder in einer andern perspektivischen Verschiebung
der das Thal überragenden Spitzen und Kuppen, und die Berliner Marine¬
maler haben mit einander gewetteifert, alle Nüancen des Meerwassers bei
ruhiger, leicht bewegter und stürmischer See, bei allen nur möglichen Wand¬
lungen des Dunstkreises zu ergründen und koloristisch festzuhalten, und zwar
mit einer Virtuosität, daß man am Ende doch zu dem Glanben geführt wird,
daß die Kunst — wenigstens in einzelnen ihrer Gebilde — der Natur gleich¬
kommen könne. Die Mariner mit Schiffsporträts und mit Darstellungen von
Schisfsmauövern, die Jagd- und Tierstücke und die militärischen Genrebilder,
die sich hoher Neigung erfreuen, wollen wir nicht nach ihrem künstlerischen
Verdienst beurteilen. Aber eines kommt zum andern, und schon die Wahr-
nehmung eines Schutzes, eiuer Förderung von hoher Seite ist ein Sporn für
die Kunst, auch wenn diese Förderung zunächst mehr an dem Stoff als an
der künstlerischen Form haftet.
Aus der Landschaftsmalerei und zwar aus ihrer jüngern realistischen Rich¬
tung, die hauptsächlich uach dem Ausdruck eiuer starken Stimmung strebt, ist
auch das Bild erwachsen, das auf unsrer Kunstausstellung in Bezug auf selb¬
ständige Erfindung und die Bethätigung eignen Denkens die erste Stelle ein¬
nimmt: eine nach Art der mittelalterlichen Tripthcha aus drei Abteilungen,
einem breiten Mittel- und zwei schmälern Flügelbildern, bestehende, durch ihren
Inhalt zusammenhängende Konipositivn von Ludwig Dettmcmn. Der Künstler
hatte bisher in Strand- und Düneulandschaften, in Flußuferpartien, in Schilde¬
rungen von Wiesen, Feldern und blühenden Obstgarten eine glückliche Be¬
gabung für die Erfassung des Stimmungsgehalts und ein malerisches Dar¬
stellungstalent gezeigt, das die Öl-, Aquarell-, Gouache- und Pastelltechnik mit
gleicher Fertigkeit beherrschte, bisweilen auch in dem Streben nach starker,
plastischer Wirkung zu tadelnswerten Ausschreitungen neigte. In dem drei¬
teiliger, in Öl gemalten Bilde, das den Titel „1. Mose 3" trägt, ist der Land¬
schaft zwar eine hervorragende Stellung eingeräumt, aber die Figuren haben
daneben eine durchaus selbständige Bedeutung und sind darnach auch mit
großer Sorgfalt, man möchte fast sagen im großen Stil durchgeführt. Das
Motiv, der Sündenfall, der Fluch der Erbsünde und die Erlösung durch den
Mittler, der der Welt Sünde trägt, ist im fünfzehnten und sechzehnten Jahr¬
hundert ein beliebter Gegenstand künstlerischer Darstellung gewesen. Allgemein
bekannt sind die cyklischen Bilder der beiden Cranach. Wie ganz anders im
Vergleich zu jenen pedantischen Schriftauslegungen hat aber der moderne Maler
diesen Gedanken gestaltet! Im Hintergrunde des linken Flügelbildes steht der
Engel mit dem flammenden Schwerte vor dem Verlornen Paradiese. Vor ihm
breitet sich eine dicht mit weißen Lilien, den Sinnbildern der Unschuld, besäte
Wiese aus, die ein Bächlein von dem Vordergründe scheidet, wo sich im Grase
die Schlange, die Verführerin, ringelt. Auch ohne die typischen Figuren des
ersten Elternpaars ist diese Symbolik so deutlich, daß sie überall verständlich
ist, wo man die Bibel liest und kennt, und mit solchen Voraussetzungen darf
jeder Künstler rechnen, so lange die menschliche Gesittung und Bildung in dem
Zusammenhange ihrer Entwicklung noch nicht unterbrochen ist. Es ist gewiß
bezeichnend, daß selbst ein Künstler, der nach seiner ganzen Naturanschauung
dnrch und durch Realist ist, die Symbolik nicht entbehren kann, obwohl es
ihm geglückt ist, für einen uralten Gedanken eine neue und eigentümliche Aus-
drucksform zu finden. Diese tritt noch stärker in dein Mittelbilde hervor, das
an und für sich völlig realistisch erfunden und ausgeführt ist, aber durch den
Zusammenhang mit den Flügelbildern auch eine symbolische Bedeutung erhält.
Bei Sturm und Regen im Spätherbst bewegt sich ein armseliger Leichenzug
eine zwischen Feldern bergan führende Landstraße aufwärts: ein von zwei
Männern gezogner Handwagen mit dem Sarge darauf, zwei andre Leichen¬
träger dahinter und dann ein paar Leidtragende, die mit aufgespannten Schirmen
gegen Wind und Regen kämpfen. Links vom Wege Landleute, die beim Kar¬
toffelausmachen in ihrer Arbeit inne halten, im Hintergrunde ein paar Ge¬
stalten, die, im Regen und Nebel nur undeutlich sichtbar, scheu zurückblicken.
Es ist der modern-realistische Kommentar zu den Worten der Schrift: „Ver¬
flucht sei der Acker um deinetwillen, mit Kummer sollst du dich darauf nähren
dein Leben lang. Dornen und Disteln soll er dir tragen, und sollst das Kraut
auf dem Felde essen. Im Schweiß deines Angesichts sollst dn dein Brot esse»,
bis daß du wieder zu Erde werdest, davon du genommen bist." Über diesen
tröst- und hoffnungslosen Fluch hebt das rechte Flügelbild hinweg. In himm¬
lischen Sphären empfängt der Heiland der Welt, nicht in thronender Majestät,
sondern in der Gestalt, in der er auf Erden gewandelt ist, die Gläubigen, denen
das Himmelreich ist. Der Maler hat sich auf drei Figuren beschränkt, wohl
in der Absicht, keinen Vergleich mit klassischen Darstellungen des jüngsten Ge¬
richts herauszufordern. Ein weltlicher oder geistlicher Fürst in prunkvollen,
mittelalterlichen Ornat kniet demütig vor dem Erlöser, neben ihm steht ein
greiser, auf Krücken gestützter Bettler, lind zwischen ihnen blickt ein kleines
Mädchen aus dem Volke scheu zu Christus auf, hinter dem das Kreuz und
rechts und links davon ein gothischer Dom und eine italienische Kuppelkirche,
vermutlich die Sinnbilder des Protestantismus und des Katholizismus, sicht¬
bar sind.
Wir wollen uns bei Betrachtung dieses Bildes des Sprichworts erinnern,
daß eine Schwalbe keinen Sommer macht. Aber es ist doch ein Ansatz vor¬
handen, aus dem die Hoffnungen für die Fortbildung und die Zukunft der
religiösen Malerei, die durch die Entartung des Uhdischen Naturalismus
grausam gestört worden sind, wieder belebt werden könnten. Dieses Anzeichen
einer bessern Zeit steht auf unsrer Ausstellung uicht vereinzelt da. Auch die
ideale und die historische Malerei hat einen neuen, verheißungsvoller Auf¬
schwung genommen, die eine in einem großen auf Gobelinleinwand gemalten
dekorativen Bilde, das einen Elfenreigen am buschigen Ufer eines Flusses an
einem Sommerabend mit großer Anmut und fein entwickeltem Schönheits¬
gefühl schildert, von Max Koch, die andre in einen, Vorgang aus den Kämpfen
der Römer und Germanen (Rettung eines vou römischer Übermacht verfolgten
Germanen und seiner Familie in das Dunkel der heimischen Wälder und
Sümpfe) von Ernst Henseler in Berlin und in dem durch höchst energische
und mannichfaltige Charakteristik der zahlreichen Figuren ausgezeichneten, in
überlebensgroßen Maßstabe ausgeführten: Gemälde „Professor Steffens be¬
geistert zur Volkserhebung im Jahre 1813 zu Breslau" von Arthur Kampf
in Düsseldorf.
Schon diese Bilder allein würden die Erinnerung an die letzte der unter
dein Protektorate der Akademie veranstalteten Kunstausstellungen eine Zeit
lang lebendig erhalten, wenn uicht auch noch die Bildhauerkunst ein Wort
mitzusprechen hätte. Wir haben noch niemals zuvor eine so große Fülle vou
Bildwerken in kolossalen Maßstabe in einer Kunstausstellung vereinigt gesehen
wie hier in diesem Jahre. Die in Auftrag gegebnen Denkmäler für die beiden
ersten Kaiser des neuen deutschen Reichs gehen schnell ihrer Vollendung ent¬
gegen, und die Künstler beeilen sich, wenigstens Teile des Geschaffnen zu zeigen.
Manches erhebt sich nicht über die Schablone, manches ist auch dürftig, weil
die Mittel gefehlt haben; aber das meiste ist doch groß gedacht und würdig
ausgeführt, so besonders die beiden mit Sockelfiguren versehenen Reiter¬
denkmäler Kaiser Wilhelms des Ersten für Elberfeld und Mannheim von
Gustav Eberlein. Im Durchschnitt steht die Plastik in allen ihren Zweigen,
von der monumentalen bis zur Kleinbildnerei, höher als die Malerei. In
der Kleinplastik sind die deutschen Bildner den italienischen an Fingerfertigkeit
gleich, an Schönheitsgefühl sogar überlegen, und an ganz eigentümlichen
Schöpfungen fehlt es auch nicht. Der „Philosoph von Sanssouci in seinen
letzten Stunden," Friedrich der Große, im Lehnstuhl sitzend, von zwei Wind¬
spielen umgeben, von Harro Magnussen ist eine Charakterstudie, in der der
Naturalismus zur Natur zurückgekehrt ist und doch in der Ergründung einer
seelischen Stimmung Großes geleistet hat, und die nackte Gestalt eines jungen,
ans einem Ruhebett schlummernden Mädchens von Robert Toberentz ist eine
vollendete Verkörperung der Kunstlehre: Kunst und Natur sei eines nur! Trotz
der unvorteilhaften Gesamterscheinung der Berliner Kunstausstellung ist also
nicht der mindeste Anlaß vorhanden, das Ungeschick der Unternehmer etwa mit
dem Hinweis auf einen Rückgang unsrer Kunst zu entschuldigen.
es hatte meine Ziegen eingetrieben und saß, die Stunde des
Mittagessens erwartend, mit gekreuzten Beinen auf dem Arbeits¬
tische des Baders, der heute auswärts schneiderte. Vor mir
auf meinen Knieen lag der neue Uniformrock des Polizeidieners
Gartumb von Schilliugsberg. Dein stolzen Kleidungsstücke aus
zweierlei Tuch fehlten, damit es in schönster Vollendung prange, nur noch die
großen gelben Messingknopfe. Diese sollte ich annähen.
Aber meine Hände lagen einstweilen müßig im Schoß, und ich sah durch
das offne Fenster, zwischen den hochroten Geranienblüten hindurch, nach dem
Hanse unsers Nachbars drüben, des Gerbers, der mit einem Zeitungsblatt in
der Hand vor seiner Thür stand und zwei mit Rechen und Sensen von der
Heumahd heimkehrenden jungen Bauern etwas vorlas.
Der Herr Nachbar von der Eichenlohe hielt für sich keine Zeitung; er
mußte sie beim Ochsenwirt mitgenommen haben, wo er die zahlreichen täglichen
Schoppen zu trinken pflegte, deren er bedurfte; denn die Gerber sind allezeit
durstige Leute, weil sich ihnen der feine Lohenstaub in die Kehle setzt und
immer hinuntergespült sein will.
Diesmal schien der Meister Appel einen Krug mehr als sonst getrunken
zu haben; denn sein Gesicht leuchtete noch röter als gewöhnlich, und seine
nervigen Arme mit zurückgewickelten Hemdärmeln und geballten Fäusten ge-
stikulirten mit großer Heftigkeit. Er hatte auch den einen Zipfel seiner safran¬
gelben Schürze in den Gürtel hinaufgesteckt und rauchte statt seiner kurzen
Pfeife eine Cigarre, zwei Umstände, die bei ihm auf eine außergewöhnliche
Stimmung hinzudeuten pflegten.
Nachdem der Meister die Lesung beendet hatte, schien er deren Inhalt
den beiden Hörern zu erläutern. Am häufigsten und zugleich am lautesten
klang dabei der Name Preußen an mein Ohr.
Meine Neugierde erregte aber dieser Name nicht, denn ich verband damit
nur sehr undeutliche Vorstellungen. Bei unserm Schulmeister Langbein hatten
wir darüber nichts erfahren, auch in meinen lateinischen Stunden beim Pfarrer
war er nicht vorgekommen; nur vom Vater wußte ich, daß man damit ein
deutsches Land und Volk bezeichnete. Auch hatte mir der Vater früher in der
Kinderzeit allerlei Geschichten von einem berühmten König der Preußen erzählt,
den man den alten Fritz oder auch den großen Kurfürsten nannte, und den
mein Vater sehr bewunderte, besonders weil er einen ehemaligen Schneider¬
gesellen zum General gemacht hatte, der dafür dem König später mehr als
hundert Schlachten gewann. So wenigstens erzählte es mein Vater. Nicht
in Büchern hatte ers gelesen, wie überhaupt das Lesen von Gedruckten nicht
seine Sache war; aber er hatte es von den Preußen selbst gehört, und den
alten Fritz und seinen Schneidergeneral hatte er mit eignen Augen gesehen,
nämlich wie sie abgegossen find in der großen Stadt Berlin, der Hauptstadt
der Preußen, wo mein Vater im Anfang der fünfziger Jahre sieben Wochen
lang in Arbeit gestanden hatte.
Ich dachte deshalb an die Preußen nicht viel anders und nicht viel klarer
als etwa an die Perser, von deren großem König Cyrus ich sehr.rührende
Geschichten in einem alten Buche gelesen hatte, oder um ein gewisses Volk der
Franken und ihren König Dagobert, der unter dem Kaiser Octavianus einen
gewissen gottlosen Mohrenkönig besiegt hatte. Ohne mir also weitere Gedanken
zu machen, verwunderte ich mich doch über die erschrocknen Gesichter, womit
die zwei Bauern drüben den Gerber anstierten.
Daun kamen über die Brücke zwei andre, ältere Männer mit ihren
Frauen und Töchtern. Der Gerber rief ihnen schon von weitem zu, und
diesmal verstand ich das Wort Krieg. Die Ankömmlinge stutzten. Ich aber
schnellte vom Tisch empor, und ehe man drei zählen konnte, stand ich im
Hausen bei den übrigen, die sich bald durch Neuankommende noch vermehrten.
Ein tolles Durcheiuanderreden schlug da an mein Ohr.
Jesses, wenn nur die Russen nicht kommen!
Die Preußen sind auch nicht weit davon, die werden uns schön kahl
fiepen. ..... ^ ^^.^ .)^'^, ,^ ^^.v,, u-^:^.^
Sie sollens bleiben lassen; wir wollen ihnen schon auf die Finger klopfen;
wir jagen sie nach Rußland.
Aber die Preußen mit dem Zündnadelgewehr, wenn die uns nur nicht
heimlenchten. , .
Was will Preußen gegen Osterreich, gegen Österreich und Baiern und
Württemberg und Hessen und Sachsen und Hannover; Preußen muß verlieren,
und wenn es schlimm geht, ist auch noch Napoleon da und sind die Franzosen
da, die lassen uns nicht von den Preußen einsanken.
Jesses, die Franzosen, wollen denn die Franzosen kommen? Von denen
erzählt man sich gar nichts gutes.,
Lieber Franzosen als Preußen! , . ,, , . ,^
Wir brauchen die einen nicht und brauchen die andern nicht, sie können
beide daheim bleiben.
Ihr müßt es ihnen halt nur sagen, Vlessenvogt.
Was wollen denn die hungrigen Preußen?
satt essen wollen sie sich bei uns, habt ihrs noch nicht gemerkt? und unsern
Wein wollen sie saufen. !, ,
- Schleswig-Holstein wollen sie in die Tasche stecken, die Langfinger, und
das will Österreich nicht leiden.
Was ist denn das, Schleswig-Holstein?
Schleswig-Holstein meerumschlungen, Schleswig-Holstein stammverwandt!
Was geht uns das an, das ist weithin.,
Was uns das angeht? Wenn man dem Teufel den Finger giebt, nimmt
er die ganze Hand.- Zuerst gehts an Schleswig-Holstein und dann an uns,
so weit ist das gar nicht aus einander. Österreich soll aus Deutschland hinaus¬
geworfen werden, und uns macht man dann nach und nach preußisch. Wenn
euch das nichts angeht, dann könnt ihr heim gehen und euch ins Bett legen.
Wenn nur die Franzosen nicht kommen!
Unser König ist ein Freund Napoleons, die Franzosen thun uns nichts,
die hauen nur die Preußen.
Wenn nur mem Jörgmichel nicht grad bei deu Soldaten wär.
Ja, müssen denn unsre Soldaten auch in den Krieg? Großer Gott im
Himmel, da schießen die Preußen meinen Anton tot.
Jesses, und mein Bernerd, der bei den Dragonern in Ludwigsburg steht!
Mehrere Weiber brachen in lautes Heulen aus.
Der Polizeidiener Kappes näherte sich der Gruppe, alle sahen sich mit
erschrocknen Gesichtern um, und einen Augenblick lang herrschte allgemeines
Schweigen.
Der Mann der öffentlichen Ordnung machte ein furchtbar ernstes Gesicht.
Mit militärisch straffer Haltung blieb er vor dem Volkshaufen stehn. Von
mehreren Zetteln in seiner Hand brachte er einen seiner Brille näher, und
indem er fast die Stimme eines Feldherrn annahm, las er: Lienhard Reichen-
bühler. Damit streckte er den Zettel einem der anwesenden jungen Burschen
entgegen, der einen Blick darauf warf und leicht erblaßte.
Lienhard war ein zurückgezogner Mensch von sanftem Charakter, ein
wenig Mutterkind, nicht ganz und gar Bauer, sondern er betrieb neben der
Landwirtschaft gemeinsam mit seinem Vater auch ein kleines Töpfergeschäft,
worin er für fehr geschickt galt.
Johann Peter Muthes, las der Kriegsbote unterdessen weiter.
Der Träger dieses Namens, ein armer Bursch und Knecht beim Blessen¬
vogt, nahm die Nachricht anders auf, als der erste. Hurra! rief er aus,
hätt net glaubt, daß ernst is; nun aber nix als drauflos, und mach mir
kein so Gsicht, Liuerd, im Krieg gehts lustig zu.
Holla, du nimmsts Maul groß voll, du Tagdieb, du Nichtsnutzer, rief
der Blesfenvogt, aber wer soll mein Heu machen und meine Ernt schneiden?
Macht euch keine Sorg, wir reiten mit den Gäulen drüber, dann ist sie
schon gschnitten, rief der Knecht übermütig. Jedenfalls gram ich mich nicht,
daß ich sie nicht zu schneiden brauch, und euer hartbacken, schimmelig Brot,
Vlessenvogt, gönn ich euch auch; zu weit nach Preußen nein, wo der Pumper¬
nickel anfängt, kommen wir Schwaben doch nicht, und unterwegs giebts beßres.
Nach und nach verlor sich der Haufe. Das Durcheinanderschreien hatte
aufgehört, seitdem der Krieg in so bestimmten Zeichen an die Leute heran¬
getreten war, und ziemlich kleinlaut ging alles auseinander.
Die einbernfnen Soldaten, sechs im ganzen, mußten ohne Zögern ab¬
marschieren. Dabei gab es viel Thränen, aber auch viel tapfre Reden. Der
Pfarrer Bartholomes erschien ebenfalls beim allgemeinen Abschied. Von ihm
hörte ich zum erstenmale das Wort Bruderkrieg. Aber unsre Soldatei?
durften mit Gottvertrauen in den Kampf ziehen; ihre Sache war eine heilige,
sie verteidigten nicht nur ihren König und ihr Vaterland, sonder» anch ihre
heilige Religion.
Diese Ansprache hinderte nicht, daß Lienhard Neichenbühler zuletzt mit
seiner Mutter um die Wette weinte, während sich der Hannpeter Muthes den
Abschiedstrunk schmecken ließ und deutlich zu erkennen gab, daß es ihm ziem¬
lich gleichgiltig sei, was er verteidige, wenn er nur gegen Sichel und Sense
den Säbel eintauschen durfte. Sein Wesen steckte die andern an, und als sie
dann ausbräche» und, von der Schuljugend begleitet, zum Dorf hinauszogen,
just an unserm Häuschen vorbei , über die Haselbach drücke, sangen sie mit
lauten Stimmen:
Morgenrot, Mvrgenrot,
Leuchtest mir zum frühen Tod.
Sogar der Lienhard sang leise mit. Ich schaute ihm zum Fenster hinaus
nach, und er that mir leid, weil ich seine Mutter unter einer benachbarten
.Hausthür stehn und heftig weinen und schluchzen sah. Da dachte ich nicht,
daß ich ihn allein wiedersehen würde, und in welchen entsetzlichen Augenblicken.
Unterdessen hatten die fortziehenden Krieger das schöne Mvrgenrotlied
beendigt, und ich hörte von ferne den Hannpeter mit machtvoller Stimme
einen andern, derbern Gesang anstimmen, der seinem Geschmack mehr zusagte.
Es kann ja nicht immer so bleiben
Hier unter dein wechselnden Mond,
Und der Krieg muß den Frieden vertreiben,
Und im Kriege wird keiner verschont
hörte ich sie brüllen, wobei sie die einfache Melodie durch tausend willkürliche,
abenteuerliche Schnörkel verzierten.
Ich mußte immer an den bleichen Lienhard denken. Er war, wiewohl
acht Jahre alter, eine Art Freund von mir. Mit meinem Paten Rother¬
muno verwandt, war er viel zu diesem ins Haus gekommen und hatte dabei,
als wir, Rothermunds Olga und ich, noch jünger waren, uns jedesmal etwas
mitgebracht, meist ein freies Erzeugnis seiner Kunst, kleines niedliches Spiel¬
geschirr oder buntfarbige, vogelgestaltige Bildungen, auf denen man pfeifen
konnte. Er war in solchen Dingen sehr erfinderisch. Ebenso hatte ich ihn
mit meiner kleinen Freundin oft in seiner Töpferwerkstatt besucht und mit Er¬
staunen der Drehscheibe zugeschaut, die so schnell lies, daß das Auge ihr gnr
nicht folgen konnte, wobei es mir immer wie ein Wunder erschien, wenn bei
so schwindliger Drehung unter der Hand des Töpfers der feuchte Thon¬
klumpen auf der Scheibe seine Gestalt veränderte, wenn er in die Höhe wuchs,
sich aushöhlte, sich bald bauchig weidete, bald halsartig einschnürte, seine Bil¬
dung immer deutlicher wurde, bis die Scheibe still stand und das fertige
Gefäß nur mit einem Draht von dem scheibenrund abgeschnitten zu werden
brauchte, um in der Trockenkammer aufgestellt zu werden. Die zur Fahne
gerufnen waren längst über alle Berge; ich dachte aber noch immer an den
Lienhard. '
Begierig war ich nun, was mein Vater über den Krieg sagen würde.
Beim Abendessen sollte ichs erfahren. Mein Vater verwunderte sich über
den Mut Preußens, Österreich den Krieg zu erklären. Gute Soldaten habe
Preußen, und gute Generale, das müsse ihnen der Neid lassen. Und wenn
der alte Fritz noch lebte, der große König und Kurfürst, und sein General
Derfflinger, der ehemalige Schneidergesell, wer weiß! Aber auch so noch werden
sie den Österreichern genug zu thun geben.
Was du für scheckiges Zeug redst, man meint, du wärst ein Preußen-
sreund, rief Nepomuk Rothermund, der Pate, der zu uns herübergekommen
war. Sie werden schön ankommen, die Berliner Hungerleider. Zu thun
geben? Dummheiten! Sind wir gar nichts? Denk einmal: Österreich mit
Ungarn, Vcüern, Württemberg, Baden, Hessen, dann Sachsen, Hannover; die
Preußen sind nicht recht im Kopf, sonst würden sie daheim bleiben.
Ich hätte gar zu gern erfahren, was Schleswig-Holstein sei; denn das
seltsame Wort, das der Gerber Appel so begeisterungsvoll ausgesprochen hatte,
reizte mich sehr durch seinen fremdartigen Klang. Mein Vater, der einige
Jahre in Hamburg gewesen und oft nach Altona hinüber gekommen war,
wollte mir eben antworten, als der Nachbar Gerber mit lautem
Schleswig-Holstein meerumschlungen,
Schleswig-Holstein stammverwandt,
Warte nicht, mein Baterland
die Thüre aufriß und, selber leicht wankend, in die Stube hereinstürmte. Die
abermalige geheimnisvolle Deklamation erhöhte nur meine Neugierde. Aber
sie für den Abend noch befriedigt zu sehn, blieb keine Hoffnung; die Unter¬
haltung gestaltete sich zu aufgeregt, als daß ein armer Junge dabei hätte zu
Worte kommen können.
Der Tag war ein Samstag, und am andern Morgen, mitten im Gottes¬
dienst, schlugen zum drittenmal die dunkeln und doch so eindrucksvoller, einer
Verschwöruugsformel ähnlichen Worte an mein Ohr:
Schleswig-Holstein meerumschlungen,
Schleswig-Holstein stammverwandt.
Der Pfarrer Bartholomes rief sie von der Kanzel herunter, und lange sprach
er von diesem Schleswig-Holstein. Wir Hütten das Land erobert, wir, und
die Österreicher, die „Großdeutschen" (ein neues aufreizendes Rütsel für mein
Ohr), gegen den Willen von Preußen; wir mit unserm Blut hätten Schles¬
wig-Holstein gewonnen, und die Preußen wollten das Land in die Tasche
stecken. Da habe Österreich Recht, es nicht leiden zu wollen, und wir dürsten
es ebenfalls nicht leiden. Aber das sei nicht der wichtigste Punkt. Um
Größeres handle es sich. Österreich solle aus Deutschland hinaus, damit
Preußen darin allein Herr sei. Dann müßten wir preußisch werden. Seither
Hütten auch die Katholiken in Deutschland leben dürfen, weil Österreich dagewesen
sei, der katholische Kaiserstaat. Nach Österreichs Beseitigung aber hätten die
Katholiken keinen Schutz und Schirm mehr, und es müßte ihnen übel ergehn.
Darum seien auch von den Evangelischen einige preußisch gesinnt, einige
Katholikenfresfer und Dummköpfe nämlich; die Mehrzahl aber sei dennoch gegen
Preußen, wenn sie uns gleich gern das Unglück gönnten. Aber die wüßten
auch, was sie von den Preußen zu erwarten hätten, nämlich zehnmal so hohe
Steuern und zehn Jahre Kasernenzeit für ihre Söhne, für alle ohne Aus¬
nahme. Und die Pastoren könnten es sich an den Fingern ausrechnen, daß
dann die schönen Pfarrstellen im Lande von ausgehungerten Preußen besetzt
würden. Es nütze darum den Preußen nichts, die katholische Religion in
Deutschland ausrotten zu wollen, die Evangelischen in Schwaben wollten
dennoch nichts von ihnen wissen. Das beweise aber zur Genüge, welche Gäste
diese Preußen sein müßten. Um so mehr sollten wir Katholiken sie verab¬
scheuen und in inbrünstigen Gebet Gott um den Sieg unsrer Waffen bitten,
der übrigens gar nicht zweifelhaft sei; denn der Kampf sei zu ungleich, die
Übermacht zu sehr auf unsrer Seite: Sie müssen verlieren, die Preußen, es
ist nicht anders denkbar. Sie können schon deshalb nicht siegen, weil ihr Krieg
ungerecht ist, ein Krieg gegen deutsche Brüder, ein himmelschreiender Bruderkrieg!
Dann sprach er noch von einem Kreuzzug, einem heiligen Kreuzzug, was
ich nicht verstand.
So lang wie an diesem Sonntag hatte der Pfarrer Bartholomes noch
nie gepredigt, und doch war ihm dabei, vielleicht zum erstenmale, niemand
eingeschlafen.
(Fortsetzung folgt)
Akademisch. Die Kritik der „Jüngstdeutschen," wenn man angesichts des
rohen Absprechens und der hohlen Phraseologie dieser Litteraturapostel noch von
einer Kritik sprechen darf, hat die Wirkung gehabt, daß ein Teil unsrer Zeitungen
und sonstigen Tagesblätter mit dem Schlagwort „akademisch" um sich wirft, von
akademischer Poesie und akademischer Malerei spricht, womit alle nicht der modernsten
Richtung ungehörigen Schöpfungen bezeichnet und gebrnndmarkt werden sollen. In
dem vollen Bewußtsein, daß das Wort „akademisch" von alter Zeit her — und
im ursprünglichen, eigentlichen Sinne des Worts mit gutem Recht — einen schlimmen
Klang hat, daß es eine leblose, dem Zusammenhange mit der Natur entfremdete,
an die äußerliche Nachahmung äußerlich überlieferter Formen gebundne Kunst be¬
zeichnete, im Fanatismus für ein sogenannt Neues, was zwar nicht akademisch, aber
oft in der kläglichsten Weise konventionell erscheint, hauptsächlich doch wohl in be¬
liebter Gedankenlosigkeit wird die Beschuldigung, ein Werk, ein Talent, eine Rich¬
tung wären akademisch oder doch wenigstens akademisch angehaucht, Tag für Tag
gegen Leistungen und Bestrebungen ausgespielt, auf die es schlechter paßt, als die
Faust aufs Auge. Und jene angenehme Mehrheit unsers lesenden Publikums, die
sich längst entwöhnt hat, mit den Worten irgend einen Begriff zu verbinden, betet
die Beschuldigung gläubig nach und wird am Ende selbst überzeugt, das; alles,
was sich nicht naturalistisch geberdet, schon deshalb akademisch sei. Es ist un¬
gefähr, als wenn gegen jede Kleidung, die nicht zerrissen und zerschlissen ist, die
Behauptung geschleudert würde, daß sie geckenhaft sei. Ans diese Weise könnte ein
Mensch, der im einfachsten, aber in anständigem Rocke, ja nnr in reinlicher Bluse ein¬
hergeht, dazu kommen, unter die Modenarren gerechnet und >, Gigerl" genannt zu
werden. Unsre zu Zeiten von geradezu unglaublich flachen und bildungslosen Ge¬
sellen bediente Tagespresse scheint die Worte: innerlich, vornehm, reif, schön und
anmutig, klar, durchgebildet, plastisch, stilistisch rein mit dem Wort akademisch nicht
nnr für sinnverwandt, sondern für völlig gleichbedeutend zu halten. Durchaus
lebensvolle, innerlich warme, aus dem eigensten Leben ihrer Dichter hervorge¬
gangn Werke müssen sich gefallen lassen, mit dem Worte akademisch abgefertigt
zu werden.
Nun wirkt es geradezu verderblich, wenn einem leidlich feststehenden Begriffe
plötzlich ein durchaus andrer Sinn untergelegt wird, denn die herrschende Ver¬
wirrung in ästhetischen Dingen ist ohnehin groß genug, und wenn es so weiter¬
geht, würde akademisch noch zum Ehrennamen für alle gut geschrielmen und die
lichtern Erscheinungen des Lebens mit künstlerischer Frende wiedergebenden Bücher
werden. Es ist jedoch im höchsten Maße wünschenswert, daß der Unterschied
zwischen lebensvollen und leblosen Dichtungen, zwischeu wirklichen Schöpfungen und
bloßen Nachahmungen, zwischen Empfindung und Anempfinduug weder vergessen
noch verwischt werde. Die unterschiedslose Geringschätzung, die der litterarische
Anarchismus über alle Leistungen verhängt, die den revolutionären Stempel nicht
tragen, würde erst denn zur ernsten Gefahr für unser geistiges Leben werden,
wenn wir umgekehrt verlernte», in der Gesamtmasse der als akademisch verunglimpften
Dichtung die echt schöpferischen Naturen und Werke zu erkennen. Es ist lange
her, daß Friedrich Hebbel in einem seiner schönsten Epigramme daran gemahnt hat,
nicht mit dem Joche das Maß zu zerbrechen, und die Frage aufwarf: „Wer setzte
Barbaren im Ungebnndnen die Grenze?" Aber Mahnung und Frage sind heute
mehr als je am Platze, wo das mißbrauchte Schlngwort „akademisch" die Luft
durchschwirrt. Am letzten Ende wird doch wieder das wundervolle Wort des
Dichters gelten:
Seien die Stempel uns heilig, die alle Jahrhunderte brauchten,
Sei es die Weise sogar, die sie bedächtig gewählt;
Fand ein Goethe doch Raum in diesen gemessenen Schranken,
Wären sie plötzlich zu eng für die Heroen vdn heut?
Gleichen wir der Natur, die nie das Wunder der Schöpfung
Wiederholt und doch jährlich im Lenz sich erneut:
Alt sind die Formen, es kehren die Lilien wieder und Rosen,
Frisch ist der Dust, und im Kranz thut sich der Meister hervor!
an könnte fragen, ob es richtig sei, Gegenstände wie die christ¬
liche Ethik an dieser Stelle zur Sprache zu bringen. Man
könnte sagen, so etwas gehöre in die theologischen Fachblätter
oder in Erbauuugszeitschriften. Und es ist auch noch nicht lange
her, daß dies die allgemeine Meinung der gebildeten Kreise war.
Religiöse Fragen waren von der Behandlung ausgeschlossen; man redete nicht gern
davon, man überließ die Kirche und das Christentum den Frauen und Kindern
und glaubte durch die Philosophie, durch die Spekulationen der Naturwissen-
schaften und durch den Kultus der Kunst (und der Künstler) einen ausreichenden
Ersatz gefunden zu haben.
Inzwischen hat sich doch gezeigt, daß diese Ersatzmittel niemand befrie¬
digten, daß Leute, die sich für hochgebildet und vorurteilsfrei gehalten hatten,
merkwürdigerweise selbst ein religiöses Bedürfnis hatten. Man empfand es
auf die Dauer als unerträglich, die Eudfragen in der Schwebe lassen zu sollen,
und sehnte sich nach einem endgiltigen, sicher» Worte, und wenn es auch die
Behauptung eines Glaubenssatzes gewesen wäre. Auch im Leben, im Volke
zeigte sich das Christentum als unentbehrlich. Und so traten denn die religiösen
Fragen wieder in den Vordergrund, und gegenwärtig bilden sie überall da,
wo Sinn für geistige Güter vorhanden ist, den Gegenstand ernster Erwägungen.
Hierbei scheint nun die christliche Ethik von besondrer Wichtigkeit zu
sein, da sie einen Vereinigungspunkt darbieten könnte für solche, die sich ans
Grund von Glaubenssätzen nicht zu vereinigen vermögen. Ob dies zu hoffen
ist, wird davon abhängen, ob die christliche Ethik abgetrennt von dem christ¬
lichen Glanben etwas selbständiges darstellt. Auch ist die Frage von Bedeu¬
tung, ob dieser christlichem Ethik die treibende Kraft innewohnt, die von manchem
an ihr gerühmt wird, oder ob sie so ohnmächtig ist, wie von der andern Seite
behauptet wird.
Drei Meinungen stehn sich jetzt sast unvermittelt gegenüber. Nach der
einen wird man aus den gegenwärtigen Nöten nur dann herauskommen, wenn
man zur christlichen Weltanschauung zurückkehrt, wenn man der Religion die
ihr gebührende Stellung einräumt und der Kirche die Stützung des Thrones
überträgt. Diese Meinung, von der wir annehmen wollen, daß sie bei allen
denen, die sie vertreten, auch ehrlich gemeint sei, hat zu dem Bündnisse des
Zentrums und der konservativen Partei und zur Aufstellung eines Schul¬
gesetzes, wie des vom Grafen Zedlitz eingebrachten, geführt, sie beherrscht die
kirchlichen und die der Kirche nahestehenden Kreise. Nach der zweiten Mei¬
nung ist von Kirche und Christentum nicht viel zu halten, vielmehr hat eine
allgemeine Sittlichkeit an die Stelle der christlichen zu treten. Diese allgemeine
Sittlichkeit hat sich mit dem zu decken, was bürgerlich anständig und ersprie߬
lich ist, was dem allgemeinen Nutzen entspricht und durch die Staatsgesetze
geboten oder verboten ist. Nach der dritten Meinung endlich ist „sittlich" ein
Wort ohne eine bestimmte Bedeutuug. Sittlich ist der Mensch oder die Sache,
die nützen, unsittlich sind die, die schaden. Im Grunde genommen giebt es
nur ein Gebot, das des Egoismus, und das „heilige Wissen" zeigt, was dem
Ich erreichbar und was unerreichbar ist. Was man sonst sittlich nennt, sind
Vorurteile, Reste untergegcmgner oder dein Untergange verfallner Kulturen.
Daß diese letzte Sittenlehre die Vorfrucht des Sozialismus bildet, und
daß bei dieser Herrschaft die Welt eigentlich nur zufolge einer merkwürdigen
Inkonsequenz bestehen kann, ist einleuchtend. Ebenso einleuchtend ist, daß die
an zweiter Stelle angedeutete Lehre, da sie die Moral des herrschenden
Teils der Gesellschaft ist, mit dieser Gesellschaft oder dein Staate steht und
fällt. Was aber ist von der ersten Meinung zu halten?
Es scheint logisch unanfechtbar zu sein, daß man, wenn unter der Herr¬
schaft der christlichen Weltanschcinung alles gut und schön war, und wenn man,
nachdem dieser Boden verlasse» war, die bittersten Erfahrungen gemacht hat,
zu der christlichen Weltanschauung und christlichen Ethik zurückkehren müsse,
und daß dann der frühere Zustand wieder eintreten werde. Ja, wenn! Manche
bestreikn aber, daß unter der Herrschaft der christlichen Moral alles gut und
schön gewesen sei. Wir geben das zu, ohne deshalb an dem Werte, auch an
dem praktischen Werte der christlichen Ethik im geringsten, zu zweifeln. Es
ist anch nicht gleichgiltig, ob man einen Schritt vorwärts oder rückwärts thut.
Man kann keinen Schritt seines Lebens rückwärts thun, und es geht das auch
im Leben der Völker nicht. Auf eine Arznei, die früher geholfen hätte, die
dann geschmäht wird, kann ich später nicht wieder zurückgreifen, denn statt
des insclieÄMvntuin heilt nun nur noch körruin oder igni8. Dies wird von
den Freunden der christlichen Weltanschauung offenbar übersehen, wenn sie
dem Staate raten, er möge der Kirche nur die nötige Freiheit und den nötigen
Auftrag geben, sie werde mit ihrer christlichen Ethik schnell alles wieder zurecht
bringen. Man kann, was in einem Menschenalter geworden ist, nicht zwischen
heute und morgen ungeschehen machen; es fragt sich auch, ob das Heilmittel,
das unsern Vätern geholfen hat, heutzutage, nachdem die Krankheit so weit
vorgeschritten ist, Heilkraft besitzt. Wenn aber die Vertreter der christlichen
Weltanschauung ihre Zuversicht aus der Erwägung ableiten, daß die christliche
Ethik das beste sei, und daß alles, was gut ist, auch wirken müsse, so kann
man immerhin das erste zugeben und doch aus der Erfahrung die Lehre ziehen,
daß das gute keineswegs immer das wirksame sei.
Aber ist es auch richtig, daß die christliche Moral etwas so Wertvolles
sei, wie von kirchlicher Seite behauptet wird? Die Gegner haben viel an
ihr auszusetzen: sie bilde kein System, sie gehe vou keinem einheitlichen
Prinzip ans, sie habe keine feste Abgrenzung und spiele in den Eudämonismus
über. Sie sei nicht gegliedert, nicht logisch durchdacht, sie habe keine klaren
Begriffe, sie sei mystisch, sie enthalte — überhaupt nichts neues. Man kann
alle diese Einwände gelten lassen, ohne von dem Werte dieser Ethik etwas
preiszugeben. Sie stellt wirklich kein System dar, aber gerade das ist einer
ihrer größten Vorzüge. Denn sie ist keine papierne, sondern eine wirkliche
Lebensweisheit. Und im natürlichen Leben geht nichts systematisch zu. Auch
die reinliche Zergliederung der Motive, wie sie die Aufgabe des Philosophen
ist, kommt im wirklichen Leben nicht vor. Hier ballen sich Mengen von Vor¬
stellungen, Erinnerungen, Wünschen zusammen, hier wirken nicht einfache, son¬
dern höchst zusammengesetzte, wohl selbst hinter der Schwelle des Bewußtseins
liegende Kräfte wider einander. Will einer diese Kräfte in Bewegung setzen,
so wird es ihm am schlechtesten gelingen, wenn er sie auseinanderwickelt
und einzeln beurteilt und anredet. Am besten geht es dann, wenn einer das
Kommandowort kennt, das die Masse in Bewegung setzt. „Logische" Redner
sind nicht immer die wirksamsten, sondern die mit treffenden Worten Vor-
stelluugsmengen der Zuhörer zu wecken und zu bewegen verstehn.
Schopenhauer macht sich das Vergnügen, die Motive der verschiednen
philosophischen Moralen auf ihre Kraft zu prüfen. Er setzt den Fall, daß es
möglich sei, einen Nebenbuhler ohne Gefahr aus dem Wege zu räumen. Aus
welchen Gründen könnte min diese That unterlassen werden? Man könnte
sagen: Ich bedachte, daß die Maxime meines Verfahrens in diesem Falle
sich nicht geeignet haben würde, eine allgemein giltige Regel für alle mög¬
lichen vernünftigen Wesen abzugeben, indem ich ja meinen Nebenbuhler allein
als Mittel und nicht zugleich als Zweck behandelt haben würde. Oder man
sagt mit Fichte: Jedes Menschenleben ist Mittel zur Verwirklichung des Sitten¬
gesetzes, also kann ich nicht, ohne gegen das Sittengesetz gleichgiltig zu sein,
einen vernichten, der zu dieser Verwirklichung beizutragen bestimmt ist. Oder mau
sagt much Wollastone: Ich habe überlegt, daß jene Handlung der Ausdruck eines
unwahren Satzes sein würde. Oder man sagt nach Hutcheson: Der moralische
Sinn, dessen Empfindungen, wie jedes andern Sinnes, nicht weiter erklärlich
sind, hat mich bestimmt, es sein zu lassen. Oder nach Adam Smith: Ich sah
voraus, daß nieine Handlung gar keine Sympathie mit mir in den Zuschauern
erregt haben würde. Oder nach Christian Wolf: Ich erkannte, daß ich dadurch
meiner eignen Vervollkommnung entgegenarbeiten und auch keine fremde fördern
Würde. Oder nach Spinoza: Hcmiini mittit ullum3 lloinins: srg'o Irominsrn
intei'incl'v nolui.
Man fühlt die Lächerlichkeit, Thaten mit solchen Erwägungen begründen
zu wollen. In Wirklichkeit erwägt kein Mensch in dieser Weise. Schopen¬
hauer selbst begründet die Unterlassung des Mordes, indem er den betreffenden
sagen läßt: Wie eS zu deu Anstalten kam, und ich deshalb für den Augenblick
mich nicht mit meiner Leidenschaft, sondern mit jenem Nebenbuhler zu beschäf¬
tigen hatte, da zuerst wurde mir deutlich, was jetzt mit ihm eigentlich vor¬
gehen sollte. Aber nun ergriff mich Mitleid und Erbarmen, es jammerte mich
sein, ich konnte es nicht übers Herz bringen: ich habe es nicht thun können.
Mitleiden! Der Begriff ist offenbar zu eng und nur unter Voraussetzung
der schlechtesten aller Welten Schopenhauers lind unter der grilligen Annahme
begreiflich, daß das Leben aus einer fortlaufenden Kette von Leiden bestehe.
Erweitert man „Mitleid" in „Mitgefühl," so hat man das christliche Motiv
der Liebe. Und in der That hat auch Schopenhauer sein Mitleid und vieles
andre nirgend anders her entnommen, als aus der christlichem Ethik. „Die
Liebe thut dem Nächsten nichts Böses, so ist die Liebe des Gesetzes Erfüllung."
Das ist die Summe der christlichen Ethik.
Was hier Liebe genannt wird, ist offenbar kein „Begriff" in philo¬
sophischem Sinne. Begriffe sind Abstraktionen, und Abstraktionen sind leer.
Darum erweisen die Theologen ihrer Sache keinen Dienst, wenn sie sür ihre
Ethik einen Grundbegriff suchen und aus diesem, wie der Taschenspieler aus
seinem Hute, lauter schöne Dinge hervorholen. Das Wort Liebe enthält vielerlei
in ungesondertem Zustande. Sie ist eben so gut Wohlwollen wie Mitleid, wie
Zuneigung, wie Pflicht, wie Gefühl. Sie ist auch bei jedem Menschen etwas
andres, Pflicht bei dem einen und mystisches Empfinden bei dem andern,
aber bei allen eine Kraft, die den ganzen Menschen packt. Sie ist etwas, das
dem wirklichen Fühlen und Handeln des Menschen entspricht, theoretisch an¬
fechtbar, praktisch das höchste. Das Wort: „Liebe deinen Nächsten" war nicht
neu. In den heiligen Briefen der Inder steht es geschrieben, im Alten Testa¬
mente wird es als die Summe der Gebote bezeichnet. Aber neu war an dem
neutestamentlichen Gebote, daß diese Liebe unbedingt, auch dem Feinde gegen¬
über und allgemein, auch dem Unbekannten und Unwürdigen gegenüber geübt
werden soll. Das ist eine Höhe, zu der sich eine in griechischer Weise ästhcti-
sirende Moral, zu der sich auch Plaw mit seiner freiwilligen, doch nur in
seiner Republik geltenden Gerechtigkeit uicht erhob. Uns ist dies Wort ein Ge¬
meinplatz geworden, man findet es in jedermanns Munde, die Logen Habens zur
Religion gemacht, und alle, denen es zu unbequem ist, etwas bestimmtes kleines
für den Nächsten zu thun, verstecken sich hinter diesem höchsten Gebot und reden
sich ein, ein Gefühl allgemeiner Menschenliebe sei christliche Ethik. Aber das
ist ein Mißbrauch. Der christlichen Ethik liegt nichts ferner als Gefühls¬
seligkeit, sie ist durch und durch praktisch. Ein gewisser Zug der Unthätigkeit
ist erst später durch die Mystik oder durch die Dogmatik hineingetragen worden.
Das besondre der christlichen Sittenlehre besteht also nicht darin, daß
der Kreis der Pflichten erweitert worden wäre — was fehlt mir noch? fragt
der reiche Jüngling des Evangeliums, und Christus verweist ihn auf die alten
zehn Gebote und fordert deren Erfüllung, aber im tiefern Sinne —, das be¬
sondre ist die Kraft des Beweggrundes, die sie schafft. Wir können hier nicht
an der Frage vorübergehn, ob es zu billigen sei, daß die christliche Moral
den Lohn als Beweggrund gebraucht. Der Lohn ist als Beweggrund offenbar
sehr wirksam; aber er ist kein ethisches Motiv. „Man muß das Gute thun
um des Guten willen." Aber was bedeutet diese „rein ethische" Formel
anders als: um. des Lohnes willen, der in dem Bewußtsein einer guten That
liegt. Genau dasselbe ist im Evangelium gemeint, wenn wir lesen: Es wird euch
solches alles wohl gelvhnet werden, denn es steht dabei: im Himmel, worunter
der Zustand der sittlichen Vollendung gemeint ist. Die das Gute thun, um
von deu Leuten gelobt oder belohnt zu werden, haben nach dem Worte Christi
ihren Lohn dahin. Doch soll nicht bestritten werden, daß die christliche Moral
nicht bloß den Lohn kennt, der im Himmel ist oder von Gott als dem höchsten
Gute gespendet wird. Das entspricht ganz der Art der christlichen Ethik;
die sich nicht bloß an die erleuchteten Geister wendet, sondern auch an die
Kinder. Die meisten Menschen bleiben ja zeitlebens Kinder. Ans Kinder
aber machen rein ethische Beweggründe gar keinen Eindruck, sondern nur Lohn
und Strafe. Die in der That selbst liegende Belohnung verstehe,? sie uicht,
sie brauchen eine über ihnen stehende lohnende und strafende Autorität, sie
brauchen auch die Aussicht auf einen Lohn, den sie begreifen können. So
gut wie Christus die Wahrheiten des Evangeliums in Gleichnisse faßte, so
stellt er auch deu innern Lohn im Bilde des äußern dar. Er faßt sein Sitten¬
gesetz in die volkstümliche und allgemein verständliche Regel zusammen: Alles,
was ihr wollt, daß euch die Leute thun sollen, das thut ihnen auch. Hier
wird sogar der Egoismus zu einem Maßstabe und Beweggründe selbstlosen
Handelns genommen. Es ist genau dasselbe, wie wenn Christus im Gleich¬
nisse sagt: Machet euch Freunde im Himmel mit dem Mammon der Un¬
gerechtigkeit. Der Eudämonismus im Christentum bedeutet also eine sittliche
Vorstufe, in der der äußere Lohn gleichnisweise vor dem innern steht.
Einen Antrieb zum Guten entnimmt die christliche Ethik ferner daraus,
daß das sittliche Ideal in konkreter Gestalt in der Person des Erlösers, als
„des schönsten der Menschenkinder," dargestellt wird. Dies ist von großer
pädagogischer Bedeutung. Wenn Cieero schreibt: Wenn man die Tugenden
leibhaftig sehen könnte, so würden sie eine große Liebe zu ihrer Schön¬
heit einflößen, so giebt die christliche Ethik das leibhaftige Bild im Vorbilde
des Meisters. Dieser tritt dem Jünger gegenüber nicht fordernd, sondern
gebend, als ein Wohlthäter, der den Menschen aus tiefster Not erlöst und in
die höchste Glückseligkeit versetzt. Daß sein Gebot erfüllt werde, gebietet also
nicht allein der Wert dieses Gebots, sondern auch die brennende Pflicht der
Dankbarkeit. Das sind „feurige Kohlen auf dem Haupte," ein Antrieb aller-
stärkster Art. Thu es um meinetwillen! ist sein Gebot, du darfst ein weniges
von der großen Pflicht der Dankbarkeit, die auf dir liegt, abtragen, wenn du
mein Gebot erfüllst.
Endlich richtet die christliche Ethik die Aufmerksamkeit nicht auf einen ein¬
zelnen Fall oder eine gedachte Reihe von Fällen, sondern auf die Summe
aller Handlungen und kommt zu dem Schlüsse, daß diese Summe nicht zu
erfüllen ist. Es bleibt ein großer Rest — „zehntausend Pfund." Von diesem
Reste geht sie aus. Nicht allein in der Weise, daß sie zum Bewußtsein bringt,
was alles noch zu thun ist, was offenbar viel wirksamer ist, als wenn einer
betrachtet, was er schon gethan hat, sondern indem sie lehrt, daß Gottes
Barmherzigkeit denen gegenüber, die Buße thun, das heißt, die die Lage der
Dinge mit Beschämung anerkennen und das lebhafteste Verlangen haben, zu
bessern und gut zu machen, was sie irgend können, Nachsicht üben wolle.
Und zwar um desselben Erlösers willen, der die größte That der Liebe dnrch
seinen Tod am Kreuze gethan hat.
Die christliche Ethik, von der ich hier ein paar Grundlinien gezeichnet
habe, ist also weit davon entfernt, eine verschwommene, gefühlsselige Welt¬
anschauung darzustellen, die mit den wirklichen Dingen nichts zu thun hat,
sondern sie ist eine Pflichtenlehre, der ganz bestimmte Aufgaben gestellt sind,
und die mit einer Kraft zur That ausgerüstet ist, wie sie größer nicht gedacht
werden kann. Aber die Wirkung dieser Kraft ist an Voraussetzungen gebunden.
Wer der christlichen Moral ihren Glaubensuutergrund nimmt, nimmt ihr das
Leben. Das, was übrig bleibt, erscheint den widersittlichen Kräften des Lebens
gegenüber schwach. Auch ist die christliche Ethik da ohne Wirkung, wo der
sittliche Ernst fehlt, wo man sich mit einer formalen Gesetzmäßigkeit seines
Handelns begnügt, wo die Ehrlichkeit und Wahrhaftigkeit des sittlichen Urteils
vermißt wird. Der Boden, den das göttliche Gebot vorfindet, ist keinesfalls
gleichgiltig; es bleibt, auf ungeeigneten Boden gebracht, ebenso wirkungslos
wie das Weizenkorn, das ans den Weg fiel. Da nun der Boden nicht nach
Belieben geschaffen, die Umstünde nicht durch Vorschriften oder Wünsche ge-
ändert werden können, so entscheiden über die Wirkung des christlichen Sitten¬
gesetzes auch Gründe, die gar nicht in diesem Sittengesetze liegen. So wirk¬
sam dieses Sittengesetz ist, wenn die nötigen Voraussetzungen gegeben sind,
so unwirksam ist es, wenn diese Voraussetzungen fehlen. Die christliche Ethik
bedarf einer Vorgeschichte, als deren oberster Autor Gott gilt. Er schafft,
indem er Erfahrungen machen läßt, indem er anstößt, erinnert, Augen und
Ohren öffnet, die in dein Menschen vorhandnen sittlichen Kräfte freimacht,
das Instrument, das imstande ist, den Ton jenes „königlichen Gesetzes der
Freiheit" wiederzutönen. Dies alles wird begriffen unter der Lehre von der
Wirkung des heiligen Geistes. Daher spricht Christus zu seinen Gegnern: Wer
von Gott ist, höret meine Stimme; ihr seid nicht von Gott, darum höret
ihr nicht.
Diese Lehre führt in ihren Folgerungen zu der äußersten Unfreiheit, wie
denn wirklich in der Richtung eines Paulus, Augustinus und Luther die
Lehre von der vorausgehenden göttlichen Wirkung und der Unfreiheit des
menschlichen Willens ausgebildet worden ist. Aber nur in der Theorie; in der
Praxis stehen alle drei auf dem entgegengesetzten Standpunkte und lehren,
daß Gott wolle, daß allen geholfen werde und daß man annehmen müsse,
die göttlichen Veranstaltungen seien überall da vorhanden, wo sich ein Mensch
sittlich zu entscheiden habe.
Es wäre interessant, dieser Frage, die uns zu dem Problem der Verant¬
wortlichkeit führt, weiter nachzugehen, sie liegt aber außer der Richtung unsers
Weges. Es genüge, gezeigt zu haben, daß nach christlicher Lehre die christliche
Moral nicht als ein unfehlbar wirkendes Universalmittel angesehen wird.
Wenn nun jetzt von kirchlicher Seite die christliche Moral als das einzige
Heilmittel der Zeit angepriesen wird, so ist richtig: eine soziale Frage giebt
es nicht, wo einer seinen Nächsten liebt wie sich selbst, auch da nicht, wo
einer in christlicher Geduld das Übel vertrüge. Eine Heilung der sozialen
Frage ist nur denkbar, wenn der Geist der christlichen Moral Große und Kleine
beherrscht. Leider steht nur das Wörtchen „wenn" im Wege, und es ist gar
keine Aussicht vorhanden, daß dieser Stein des Anstoßes weggewälzt werde.
Daß die christliche Moral so große Dinge aus eigner ihr innewohnender Kraft
vermöge, wird mit großer Freudigkeit behauptet, aber es ist eine Selbst¬
täuschung, es ist eine Annahme, die durch die christliche Lehre selbst wider¬
legt wird. Wenn nun dem Staate angepriesen wird, was die Kirche alles
leisten würde, wenn sie zur Stütze des Throns gewonnen würde, so geht man
von einen: Irrtum aus. Die Kirche kann die Kraft, die sie hat, zur Stütze
des Throns verwenden, sie wird aber kein Loth an Kraft gewinnen, wenn
ihr diese Aufgabe ansdrücklich gestattet wird. Im Gegenteil, sie wird ihrer
eigentlichen Aufgabe entfremdet und in die Versuchung geführt werden, die
staatliche Kraft ihren kirchlichen Zwecken dienstbar zu machen. Und darauf
dürfte es auch auf gewisser Seite abgesehn sein. El» Baum im tropischen
Urwalde, der, von Lianen umsponnen und erdrückt, morsch in dieser Um¬
klammerung hängt — das ist das Bild des Staates, in dem sich die Kirche
mit Erfolg zur Stütze des Throns emporgeschwungen hat. Hier liegt die
kranke Stelle des verfloßnen Schulgesetzes, hier liegt auch der Fehler in der
Rechnung kirchlicher Unternehmungen zur Bekämpfung staatsstürzender Parteien.
Die christliche Ethik ist ein Band, aber keine Kette, sie fördert die wollenden,
aber sie zwingt nicht die widerstrebenden. Diesen bringen der Staatsanwalt
und der Hunger viel triftigere Gründe bei, als das Gebot der Liebe. Es
geschieht nicht zum Nutzen der Kirche, wenn man sie zum Kampfe gegen den
Sozialismus aufbietet. Die Kirche führt nicht das Schwert, sie thut Samnriter-
dienste. Ihre Aufgabe ist Bewahrung, Pflege, Heilung. Auf dem Schlacht-
felde kämpfender Interessen hat sie nichts zu thun. Sie sollte den kleinen,
aber wichtigen Zug des Evangeliums nicht übersehe», worin berichtet wird,
wie Christus einem Menschen, der ihn bat: Sage meinem Bruder, daß er das
Erbe mit mir teile! antwortete: Wer hat mich zum Richter oder Erbteiler
über euch gesetzt?
Damit soll keineswegs gesagt sein, daß die soziale Frage und andre den
Bestand der Kirche bedrohende Fragen für diese nicht vorhanden seien. Im
Gegenteil, sie hat ein lebhaftes Interesse daran zu nehme», sie hat mit aller
Kraft zu verhindern, daß ihr von ihrem Eigentum etwas verloren gehe, und
sie hat die Aufgabe, das Verlorne wieder zu gewinnen. Sie hat sich auch
nicht bloß auf erbauliche Redensarten zu beschränken, sondern Ursache und Art
der Krankheit zu studiren. Aber sie thut dies alles in eigner Sache. Sie hat
es nicht mit Zeitkrankheiten, nicht mit sozialen Nöten, sie hat es mit der
Krankheit an: eignen Leibe und mit den sittlichen Gebrechen der eignen Glieder
zu thun. Sie thut auch über ihren Bezirk hinaus ein gutes Werk, wenn sie
betont, daß soziale Nöte doch im Grunde in sittlichen Gebrechen liegen. Man
fängt an, dies jetzt zu übersehen, und hofft alles Heil von einer bessern Ge¬
setzgebung; aber auch die beste Gesetzgebung wird die Unzufriednen nicht zu¬
frieden machen. Freilich wird ebenso wenig die Predigt oder gütliches Zureden
Leute, die aus ihrem sittlichen Gleichgewichte herausgerissen sind, wieder in
den frühern Zustand zurückführen. Was bleibt übrig? Nur das Muß, die
bittere Erfahrung. Die Sache ist bereits in einen Zustand gekommen, wo
nur noch drastische Mittel anwendbar siud. Wo die Vernunft ein Ende hat,
bleibt eben nur der Zwang übrig. Es ist recht schon, zu glaube», mau könne
die Staatsform und die gegebnen Ordnungen preisgeben und auf sozialdemo-
kratischen Boden die christliche Moral aufbaue»; aber es ist doch u»r ein Traum.
Eine wahre Volkspädagogik wird nicht auf die kräftige» Mittel verzichten zu
Gunsten feinerer, die einen gesunde» sittlichen Organismus voraussetzen, die
aber bei verdorbnen Magen gar nichts wirken.
Die christliche Ethik der Gegenwart hat, wenn auch die Grundzüge die¬
selben geblieben sind, in den verschiednen christlichen Kirchen ein verschiednes
Gepräge gewonnen. Auf katholischer Seite tritt die kirchliche Vorschrift an die
Stelle de-°, freien Entschlusses. Die Kirche ist die Mutter, die ihre Kinder
bevormundet. Ein Kind fragt man nicht viel, sondern mau verlangt, daß
es vor allen Dingen gehorche. Das ist pädagogisch unzweifelhaft richtig.
Denn die große Menge der Menschen erreicht niemals die Mündigkeit, und
wenn auch einzelne Personen Erfahrung und Besonnenheit gewinnen, so
bleibt doch das Volt im großen und ganzen immer ein Kind. Demnach
ist es ganz praktisch, daß die katholische Kirche den Gehorsam zur vor¬
nehmsten christlichen Tugend macht und verlangt, daß man der Kirche, die
für alles die Verantwortung auf sich nimmt, vor allen Dingen gehorche.
So erleben wir, daß in Trier ein „heiliger Rock" ausgestellt wird, dessen
Echtheit an maßgebender Stelle gar nicht behauptet wird. Die Sache ist eine
Kraftprobe, ein sittliches Exerzitium über das Thema des Gehorsams. Aber
die Sache hat doch auch ihre Übeln Seiten. So wohlthätig es sein mag,
einem Kinde die Verantwortung abzunehmen und es auf den simpeln Gehorsam
zu beschränken, so schädlich ist es dein Kinde gegenüber, das zu überlegen an¬
fängt, seine Autorität durch die rohe Kraft geltend zu macheu und etwaige
Einwände durch den Befehl: Gehorche! niederzuschlagen. Man zerbricht mit
dem Willen leicht auch den Charakter. Oder man knickt ihn wenigstens an,
ein Verfahren, dessen Folgen schon lange zu spüren sind. Oder man erzieht
sich bei denen, die sich uicht brechen lassen, fanatische Feinde. Es entsteht die
Gefahr, daß über der Form des Gehorsams der sittliche Inhalt vernachlässigt
werde. Das ist kein sittlicher Gewinn.
Die Sittenlehre der katholischen Kirche richtet ferner ihre Aufmerksamkeit
auf die einzelne That. Auch das ist praktisch und pädagogisch richtig. Sie
stellt bestimmte Aufgaben und fordert bestimmte Leistungen. Sie stellt auch
für jede dieser Leistungen einen entsprechenden Lohn in Aussicht und lehrt,
daß das Werk als solches, nicht bloß in Bezug auf das Gesamtverhalten des
Menschen verdienstlich sei. Es wird also alles wohl ausgerechnet. Bleibt eine
Pflicht unerfüllt, so tritt sie selbst mit ihrem Schatze guter Werke ein. Daß eine
solche Lehre einen außerordentlich starken Antrieb enthält zur That, zur Ent¬
sagung, zu guten Werken, die ja alle wohl angeschrieben werden, ist ein¬
leuchtend, ebenso aber auch, daß die Höhe und Würde des sittlichen Ideals
darunter leiden muß. Die Tugend wird ein Geschäft, das Ziel des christ¬
lichen Wandels ist ein wvhlgefülltes Sparkassenbuch mit himmlischen Einlagen.
Natürlich giebt das die katholische Lehre uicht zu; sie macht genug Vorbehalte,
aber in der Praxis ist es wirklich so. Noch bedenklicher ist es, wenn die
Kirche sich selbst zum Objekt für die christliche Liebesthätigkeit macht, und ganz
schlimm steht es mit der Lehre von der Übertragbarkeit guter Werke. Wir
enthalten uns, geschichtliche Beispiele zu geben, sonst wäre es leicht genug, zu
zeigen, was mau auf Grund dieser Lehre aus der christlichen Ethik gemacht hat.
Auf evangelischer Seite ist man bestrebt gewesen, der rein sittlichen Forde-
rung ihr volles Gewicht zu bewahren. Die persönliche Verantwortung wird
durch keine Bürgschaft der Kirche gemindert, die einzelne That ist nicht Gegen¬
stand besondrer Wertschätzung, da die Summe aller Thaten immer unzureichend
bleibt. Das Bewußtsein der Unzulänglichkeit aller sittlichen Leistung beherrscht
alles, und so treten als höchste sittliche Gebote allem andern voran Buße und
Glaube; Buße, die das sittliche Unvermögen anerkennt, und Glaube, der sich
des göttlichen Ersatzes getröstet. Daher ist Glaube und Buße, Buße und
Glaube das A und O der evangelischen Predigt. Darüber kommt aber nun
wieder dus wirkliche Leben mit seinen Anforderungen an die sittliche Kraft und
sittliche Reife der Gemeindeglieder leicht zu kurz. Ja die christliche Ethik
nimmt in dem Lehrgebäude der evangelische» Kirche eine merkwürdig unter¬
geordnete Stelle ein, sie wird nebensächlich, gleichsam anmerkuugsweise be¬
handelt. Glaube und immer nur Glaube! Wo bleibt das Werk? Nun, das
liegt, sagt mau, in dem Glauben drin, denn der rechte Glaube muß sich auch
bethätigen. Ganz recht, aber es ist ein Unterschied, von welcher Seite man
eine Sache anfängt, ob von der nächstliegenden oder von der fernerliegenden;
denn hier könnte es geschehen, daß es bei allem guten Willen zum nächst¬
liegenden nicht komme. Dies ist ein Mangel der evangelischen Kirche, der bis
auf ihre Anfänge zurückreicht. Ist man doch sogar einmal soweit gegangen,
die Schädlichkeit guter Werke zu lehren, und hat doch mehr als einmal das
innere und äußere Bedürfnis des Menschen gegen den dogmatischen Formalis¬
mus Einspruch erheben müssen!
Diese Erscheinung hängt freilich damit zusammen, daß die evangelische
Lehre im Widerstreite mit der katholischen entstanden ist. Dabei sind alle
Unterscheidungslehren mit größter Schärfe ausgebaut, alle Wege, die zur katho¬
lischen Kirche zurückführen könnten, sorgfältig vermauert worden. Und dazu
gehört in erster Linie die Lehre von den guten Werken, also die christliche
Ethik. So gleicht die Lehre der evangelischen Kirche dem alten Athen, als
man nach den Perserkriegen Tempel, Altäre und alles in die Stadtmauern
hineingebaut hatte. Man muß zugeben, daß die evangelische Kirche in Gefahr
ist, trotz ihrer geläuterter« Ethik in Bezug auf thatsächliche Wirkung der katho¬
lischen Kirche nachzustehn.
Also soll man einer Neuformnlirung der Lehre das Wort reden? Nein.
Formnlirt ist auf dem Papiere nachgerade genug. Theoretische Gründe
und Thaten können uns nichts helfen. Die beste und, wie es scheint, gegen¬
wärtig auch einzig mögliche Formulirung ist die des praktischen Christentums.
Auch in der Beurteilung andrer Rechtsformen, besonders derer des Staats,
zeigt die Ethik beider Kirchen bedeutende Unterschiede. Nach katholischer
Lehre ist es die Kirche selbst, die alle wirklichen Rechtsformen erst schasst
und alle wirklichen Rechte erst überträgt. Sie unterscheidet menschliches und
göttliches Recht, hält aber die Tugenden der Heiden für glänzende Laster und
den Staat für ein totes, mechanisches Ding. Erst wenn die Kirche ihren Auf¬
trag erteilt, wird Recht Recht und Sitte Sitte. Es ist keine bloße Fri¬
volität gewesen, wenn man Karl dein Fünften einreden wollte, daß er einem
Ketzer das Wort nicht zu halten brauche. Der Ketzer hat eben kein Recht.
Das ist die Folgerung längst festgesetzten päpstlichen Rechts. Diese Folge¬
rung widerstreitet aber so sehr dem natürlichen Rechtsbewußtsein, daß man
sich natürlich hütet, so etwas unverhüllt zu lehren; doch im Geheimarsennl der
Kirche wird diese Waffe gegen den Staat wohl aufgehoben. Es ist doch
eine Rückkehr zu vorchristlichen Anschauungen, wenn es innerhalb und außer¬
halb der Kirche verschiednes Recht geben soll.
Wenn nun nach dieser Lehre die katholische Kirche dem nicht katholischen
Staate nur soviel Recht einräumt, als ihr beliebt, so ist es dem protestantischen
Staate nicht zu verdenken, wenn er auf seiner Hut ist. Man wendet ein: Das ist ja
alles nur Einbildung, das ist eure protestantische Katholikenfurcht, eine reine
Gespensterfurcht. Wann hat die katholische Kirche dem Staate gegenüber ihre
Schuldigkeit uicht gethan? Etwa 1864, 1866 oder 1870? Nun, das fehlte
auch noch, daß die Kirche in solchen Zeitlüufeu den Staat im Stiche lassen
wollte; dennoch geschieht manches nicht, was geschehen sollte, und im geheimen
geschieht manches, was nicht geschehen sollte.")
Nach biblischer Lehre ist jede Obrigkeit von Gott, und es ist keine, die
nicht von Gott wäre, jegliche Rechtsordnung ist ein Teil der göttlichen Welt-
ordnung, und der Christ ist gehalten, Unterthan zu sei», nicht um des Zwanges,
sondern um des Gewissens willen. Dies ist der Standpunkt der evangelischen
Kirche, der sich auch darin zeigt, daß die evangelische Kirche zum Staate in
nähere Beziehungen getreten ist, als ihr selbst gut ist.
Eine Untersuchung darüber anzustellen, was die christliche Ethik nicht ge¬
leistet hat, liegt uns fern. Diese Frage könnte leicht zu einer ungerechten Be¬
antwortung führen. Man konnte, indem man aufzählt, was Bismarck alles
nicht geleistet hat, ein Bild von ihm entwerfen, das im einzelnen richtig sein
kann, aber im ganzen nicht die mindeste Ähnlichkeit hätte. Auch ist es leichter,
mit kräftigen Strichen Sünden zu zeichnen, als herauszufinden und zu wür¬
digen, was im stillen gutes geleistet worden ist. Und das ist die Art der
christlichen Ethik, die darum leicht unterschätzt wird, weil sie nicht bestimmte
und augenfällige Erfolge auszuweisen hat, Ihr Einfluß wirkt viel weiter, als
man zugiebt, auch in Kreisen, die äußerlich mit dein Christentum gebrochen
haben; sie umgiebt uns wie die Luft, die wir atmen. Was die Luft bedeutet,
spürt man auch erst, wenn sie zu mangeln anfängt.
Die christliche Ethik ist wie alles in der Welt vor der Entartung nicht
sicher, sie wird zur Verkehrtheit, wenn sie die Form bewahrt, aber den Geist
entfliehen läßt, ja sie ist nach einer gewissen Seite hin dem Verderben leichter
ausgesetzt, als eine kühl überlegende Verstandesmvral. In dem Maße nämlich,
als das sittliche Urteil lebhafter, als der Wunsch brennender wird, daß das
auch geschehe, was man als recht erkannt hat, in dein Maße ist die Möglichkeit
gegeben, daß der Eifer zum Fanatismus wird, das heißt, daß man sich um des
guten Zweckes willen in den Mitteln vergreift. Unter Christi Jüngern waren
es nicht die schlechtesten, die, empört über den Unglauben der Juden, sagten:
Willst du, daß wir Feuer vom Himmel fallen und diese Stätte verzehren
lassen sollen? Christus antwortete: Wisset ihr nicht, wes Geistes Kinder ihr
seid? In ähnlicher Weise sind jene betrübenden Erscheinungen in der Geschichte,
wo man im Namen der Religion oder der Kirche Unrecht gethan hat, darauf zurück¬
zuführen, daß man vergessen hatte, welchem Geiste man diente, daß sich
der gute Wille — wenn ein solcher überhaupt noch dawar — in den Mitteln
vergriff. Wir wollen milde urteilen, wir lernen an unserm eignen Beispiel,
wie sehr irren menschlich ist.
Die sittliche Arbeit der Menschheit an sich selbst ist eine mühsame, eine
Sisyphusarbeit. Jedes Geschlecht muß von neuem anfangen. Es ist das
thörichtste, was es giebt, das neunzehnte Jahrhundert für geforderter zu halten
als irgend ein andres Jahrhundert. Auf dem Bilde von Lehs „Die letzte
Kanone" sieht man, wie Eisenbahnzüge gen Himmel fahren. So denken sich
manche den Fortschritt dieses Jahrhunderts. Aber es ist die Frage, ob es
überhaupt einen allgemeinen Fortschritt giebt. Im Menschen — ich meine
nicht den einzelnen, sondern den Gattungsbegriff — steckt doch nach wie vor
die alte Bestie, die zivilisirter thut, als sie ist. Wir müssen es als ein Ver¬
dienst von Gregvrovius anerkennen, daß er uns in seiner Schrift „Der Himmel
auf Erden" mit grausamer Deutlichkeit die Möglichkeit gezeichnet hat, daß die
Bestie einmal wieder losbrechen könnte. Davor schützen werden uns am
wenigsten die, die das liebe Tierchen streicheln und als harmlos darstellen.
Aber vielleicht auch die nicht, die jetzt die christliche Weltanschauung und die
christliche Ethik als das letzte und einzige Hilfsmittel preisen.
Wenn die christliche Ethik nicht die Kraft haben sollte, einen äußersten
Verfall aufzuhalten, so schelten wir sie darum ebenso wenig, als wir das Brot
dafür verantwortlich machen, daß Leute am Branntwein zu Grunde gehen.
er 30. März 1892 ist ein wichtiger Tag in der Geschichte der
Frauenarbeit in Deutschland: das preußische Abgeordnetenhaus
hat ein Bittgesuch des Frauenvereins Reform, das die Zulassung
vou Frauen zum medizinischen Studium und zu diesem Zwecke
die Erlaubnis zur Ablegung der Reifeprüfung an einem Gym¬
nasium beantragte, der königlichen Staatsregierung zur Erwägung überwiesen.
Seit Jahrzehnten schon ist in Deutschland der lebendigste Wunsch rege
nach Ärztinnen, natürlich zur Behandlung der Frauen selbst; denn an Ärzten
leiden wir wahrlich keinen Mangel. Es giebt zahlreiche Krankheitserscheinungen,
von denen einen Weib nur höchst ungern, nur unter dem Drange der eisernen
Notwendigkeit dem Arzte Mitteilung macht. Die Gefahr liegt nahe, daß
diese Mitteilung so lange hinausgeschoben werde, bis es zum heilenden Eingriff
zu spät ist, und so mag gar manches teure Leben dem weiblichen Zartgefühl
zum Opfer gefallen sein, seit jene Maria von Burgund, die Gemahlin Kaiser
Maximilians des Ersten, nach einem unglücklichen Sturz vom Pferde sich
nicht entschließen konnte, die Hilfe eines Arztes anzurufen und lieber in der
Blüte der Jugend starb. Man mag es thöricht finden, aber schon die Mög¬
lichkeit genügt, den Ruf nach Ärztinnen für Frauenkrankheiten berechtigt
erscheinen zu lassen. Anderwärts, nicht nur in Nordamerika, das dem alternde»
Europa in solchem Dingen weit voraus ist, in Frankreich, in der Schweiz, in
Italien, sogar in dem sonst so zurückhaltender England und Schottland ist
dem weiblichen Geschlecht das medizinische Studium eröffnet. Schon im
Heldengedicht des Mittelalters kommt Tristans Mutter Blancheflour als Ärztin
verkleidet zu dem todwunden Geliebten; den deutschen Frauen der Gegenwart
ist, wenigstens in der Heimat, jede Möglichkeit, zum Nutzen ihrer Mitschwestern
Heilkunde zu studiren, verschlossen. Warum?
Da wehrt sich zunächst gegen die Zulassung der Frauen zum ärztlichen
Studium die Ausschließlichkeit der akademischen Senate, die von der Zulassung
von Studeutimien eine Herabsetzung der Wissenschaft befürchte«. Es
wehrt sich ferner dagegen der Eigennutz der Ärzte, die in deu Ärztinnen un¬
bequeme Mitbewerberinnen fürchten. Es wehrt sich auch dagegen der Chor
der sentimentalen Anhänger des Hergebrachten, deren ganze Weisheit darin
besteht, zu behaupten: das Weib gehört nicht in die Öffentlichkeit, das Weib
gehört ins Haus, obwohl wir doch wissen, daß ein starker Prozentsatz unsrer
Mädchen gebildeten Standes, aber in wenig vermögenden Verhältnissen er¬
wachsen, unverehelicht bleibt, weil sich entweder keine Gelegenheit zur Ehe dar¬
bot, oder weil sie nach Ed. von Hartmanns Ansicht thöricht genug sind, nicht
ohne Herzensneigung heiraten zu wollen. Und zu diesen Hindernissen, die
bisher dem ärztlichen Studium der Frauen entgegengestanden haben, gesellt
sich noch ein weiteres: die Gewerbeordnung legt zwar dem Weibe kein Hindernis
in den Weg, den ärztlichen Beruf auszuüben; aber die deutscheu Universitäten
bieten ihm nicht die Möglichkeit zum Studium, und thäten sie es auch, so
ist doch das medizinische Studium abhängig von einer Reifeprüfung, wie sie
nur am Gymnasium möglich ist, und dazu gehört Griechisch und Latein und
höhere Mathematik, Wissensgebiete also, die dem weiblichen Geschlechte bisher
völlig verschlossen waren und wohl auch, besonders begabte Persönlichkeiten
ausgenommen, dauernd verschlossen bleiben werden. Daraus ergiebt sich ein
wunderbarer fehlerhafter Zirkel: die deutsche Frau, die die erforderlichen Kennt¬
nisse nachweist, darf in Deutschland die ärztliche Praxis üben, aber sie findet
in Deutschland keine Lehranstalt, wo sie sich die zur Reifeprüfung für die
Universität erforderlichen Kenntnisse erwerben, keine Universität, wo sie Heil¬
kunde studiren kann. So sind denn die wenigen mutigen und thatkräftigen
deutschen Frauen, die sich bisher zur ärztlichen Praxis in einigen unsrer Gro߬
städte emporgerungen haben, überall, nur nicht in Deutschland gebildet, in
Zürich, Paris, England. Seltsame Zustände!
Dabei ist es der gesamten Bewegung für das ärztliche Studium der
Frauen sehr nachteilig gewesen, daß die russischen Studentinnen, die sich in
Zürich den medizinischen Studien widmeten, bisweilen in unliebsamer Weise
zu zeigen schienen, diese Studien seien mit der Bewahrung einer idealen Weib¬
lichkeit nicht vereinbar, und für ein echtes deutsches Gemüt ist mit vollem
Rechte nichts widerlicher als ein Weib, das sich unweiblich geberdet. Man hielt
es für unvereinbar mit der guten Sitte, daß ein junges Mädchen, auch wenn
es die scheinbar unübersteiglichen Schwierigkeiten der Vorbildung überwunden
hatte, gemeinsam mit jungen Männern im Kolleg sitzen, auf der Anatomie
arbeiten sollte. Man forderte daher nicht bloß besondre Mädchengymncisien
für die Vorbereitung, sondern auch Frauenkurse sür Studentinnen der Heil¬
kunde oder gar besondre Frauenuniversitäten. Das war natürlich auch wieder
arg übers Ziel geschossen, denn derartige Einrichtungen würden Geldmittel
fordern, die zu dem wirklichen Ergebnis kaum im Verhältnis stehe» würden.
Dazu kam noch etwas. Ein Teil der Frauenvereine, die sich bildeten, um
diese Bewegung im Fluß zu erhalten, fand es zweckmäßig, nicht bloß die
Forderung aufzustellen, daß den Frauen der Zugang zum medizinischen Stu¬
dium eröffnet werde, sondern da sie einmal am Fordern waren, so forderten
sie gleich das Recht zum Studium überhaupt, und dagegen sträubte sich unser
gesunder deutscher Menschenverstand, der von Juristinuen und Theologinnen
ebensowenig wissen will wie von weiblichen Offizieren. So thaten eifrige
Widersacher und übereifrige Freunde das ihrige, den gesunden Kern der
ganzen Sache nicht gedeihen zu lassen. Und wenn sie es gar mit der Be¬
gründung thaten, daß bei dem in der Gegenwart stetig schwerer werdenden
Kampf ums Dasein dem Weibe die Berechtigung zu jeder Thätigkeit offen¬
stehen müsse, die bisher in dem Alleinbesitze des Mannes gewesen ist, so war
das freilich nicht das richtige Mittel, weitere Kreise für diese Bestrebungen
zu erwärmen.
Bei alledem ist es sehr erklärlich, daß thatkräftige Frauen bestrebt waren,
ihr Geschlecht aus den bisherigen Zuständen heraufzuführen. In dieser Rich¬
tung arbeitete vor allem seit dem Jahre 1888 der Frciuenverein Reform, der
seine Mitglieder in einer Reihe größerer Städte von Deutschland, Österreich
und der Schweiz hat; Vorort ist gegenwärtig Weimar, Leiterin eine Frau
I. Kettler, die eine Reihe von Abhandlungen über diese Fragen geschrieben
hat, eine Monatsschrift „Frauenberuf" herausgiebt und jedenfalls eine sehr
thatkräftige Fran ist.*) Der Zweck des Vereins geht dahin, eine Steigerung der
Erwerbsfähigkeit des weiblichen Geschlechts durch Erschließung der ans wissen¬
schaftlichen Studien beruhenden Berufe zu erzielen, „und zwar vertritt der
Verein die Ansicht, daß die Frau gleich dem Manne zum Studium aller
Wissenschaften Zutritt haben soll, uicht aber auf vereinzelte derselben, wie
Medizin oder das höhere Lehrfach, beschränkt werden darf." Zu diesem Zwecke
will der Verein vorzüglich wirken für Errichtung von Mädchenghmnasien mit
demselben Lehrplan, wie ihn die auf die Universität vorbereitenden Knaben-
schulen haben, für Erlangung des Rechts für diese Mädchenghmnasien, Ab¬
gangszeugnisse zum Studium an den Universitäten auszustellen, für die Zu¬
lassung des weiblichen Geschlechts zum Studium auf Universitäten und andern
wissenschaftlichen Hochschulen, für Erlangung der staatlichen Erlaubnis, die auf
wissenschaftlichem Studien beruhenden Berufe, deren Ausübung einer Geneh¬
migung der Behörden bedarf, auch wirklich auszuüben, soweit das praktisch
durchführbar ist, und sofern die betreffenden Prüfungsnachweise geliefert sind.
Schon durch die Bemerkung „soweit das praktisch durchführbar ist" wird
ausgesprochen, daß es eine Anzahl von Gebieten männlicher Thätigkeit giebt,
die nicht so ohne weiteres dein Mitbewerb weiblicher Kräfte offen stehen.
Daher hätte der Frauenverein Reform von Nnfmig ein seine Ziele besser darauf
beschränkt, dem weiblichen Geschlecht den ärztlichen Beruf zu erschließen; da¬
durch daß er auf allen Gebieten der Wissenschaft der Mannesarbeit den weib¬
lichen Wettbewerb entgegenstellt, hat er bisher anch seinen Erfolg auf dem
engbegrenzten Gebiete beeinträchtigt, wo dieser Erfolg erwünscht gewesen wäre.
Frau Kettler ist neuerdings namentlich bemüht, dnrch Petitionen an den
Reichstag und an die verschiednen deutschen Regierungen und Volksvertretungen
ihre Ziele zu fördern. Über eine derartige Eingabe an den Reichstag wurde
am 11. März 1891 zur Tagesordnung übergegangen, nachdem sich die Mehr¬
heit gegen die Zulassung der Frauen zum medizinischen Studium ausgesprochen
hatte. Eine ähnliche Petition kam im Mai 1891 im preußischen Abgeord-
netenhause zur Verhandlung; sie sprach die Bitte um Errichtung eiues Mädcheu-
ghmnasiums oder Zulassung des weiblichen Geschlechts zur Ablegung der an
den bestehenden Gymnasien eingeführten Reifeprüfung aus. Die Bitte war
begründet durch den Hinweis auf die große Zahl der aus den breite» Schichten
des sogenannten gebildeten Mittelstands, der Beamten, Offiziere, Künstler, her¬
vorgehenden Mädchen, die, auf bescheidne Mittel beschränkt, nicht zur Ehe ge¬
langten und daher der Ausbildung zur Erwerbsthätigkeit bedürfte». Es sei
wünschenswert geworden, daß anch einzelne Teile der uns wissenschaftlichen
Studien beruhenden Berufe der heranwachsenden Mädchcnwelt erschlossen würden.
Die Petition erbat demnach die Errichtung von Mädche»gym»afier mit dem
gleichen Lehrplan und dem Rechte der Entlassung zum Studium auf Universi¬
täten und andern Hochschulen und infolge davon die Zulassung der Frcinen zu
allen auf wissenschaftlichen Studien beruhenden Berufen, „soweit das praktisch
durchführbar ist." Allerdings ließen es die gegenwärtigen sozialen Verhält¬
nisse in Deutschland wie die physische (!) Natur (!) des weiblichen Geschlechts als
thöricht erscheinen, die Zulassung der Frau zur Ausübung aller Berufe zu
fordern; dagegen (!) sei vor allem (!) die Zulassung zur Ausübung des ärzt¬
lichen Berufes zu fordern. Der Frauenverein Reform hat also verständiger¬
weise bereits Wasser i» seinen Wein gethan.
Der Berichterstatter Seyffardt hob sehr richtig hervor, daß die Petition
in einem Atem sehr weitgehende und verhältnismäßig beschränkte Forderungen
stelle. Halte man sich an die erstern, so werde man leicht zu einer abweichenden
Stellung gelangen; sehe man von den großen Theorien ab und fasse nur die
praktischen Einschränkungen ins Ange, so komme man zu einem viel günstigern
Ergebnis. Es sei Pflicht und Schuldigkeit, der aus dem Bedürfnis der
Gegenwart erwachsenen Frauenfrage, die in der Steigerung der Erwerbsfähig¬
keit und Erwerbsthätigkeit des weiblichen Geschlechts ihr hervorragendstes Ziel
finde, Beachtung und Unterstützung zu gewähren; Deutschland sei in dieser
Beziehung hinter andern Kulturuaticmen, jedenfalls hinter Franzosen, Eng-
läutern und Amerikanern zurückgeblieben. Es gebe in Deutschland tausende
und abertausende von Mädchen gerade in dem gebildeten Mittelstande, denen
unsre gesellschaftlichen Verhältnisse die Ehe, unsre Wirtschafts- und Unter-
richtsverhültnisse versagten, sich eine bescheidne Existenz zu schaffen. Die
Petition verlange zuerst alle wissenschaftlichen Berufe, dann zunächst und vor
allem die Ausübung des ärztlichen Berufs. Man habe außerdem wissen¬
schaftliche Vorbereitung für den Beruf der Lehrerin gefordert; aber der Wunsch,
mehr Lehrerinnen auf der Oberstufe höherer Mädchenschulen zu beschäftigen,
gründe sich weniger auf die wissenschaftliche als auf die gemütliche Bedeutung
eines erhöhten Einflusses weiblicher Mitwirkung. Man werde doch wohl
Bedenken tragen müssen, dein in erster Linie stehenden Verlangen nach Errich¬
tung eines Mädchengymnasinms zuzustimmen; einstweilen dürfte die Zulassung
von privatim ausgebildeten Mädchen zu den Prüfungen an den bestehenden
Gymnasien oder einigen von ihnen, wobei gleichzeitig die Berechtigung zum
Besuche wenigstens einer deutschen Universität ausgesprochen werden müßte,
vollständig genügen. Der Berichterstatter schlug demnach vor, über den ersten
Antrag der Petition zur Tagesordnung überzugehen, den zweiten, die Zu¬
lassung zur Reifeprüfung der Gymnasien, der königlichen Regierung zur Er¬
wägung zu überweisen.
Der Negierungskommissar Geheimer Oberregiernngsrat Dr. Schneider
empfahl über beide Antrüge zur Tagesordnung überzugehen. Der Zeitpunkt
sei übel gewählt, weil das Gymnasialwesen eben in einer Wandlung begriffen
sei. Der Vorschlag der Frau Kettler gefährde unsre Mädchenbildung und
-Erziehung. Die Gymnasiasten blieben in der Regel bis zum zwanzigsten Jahre
und würden in den letzten Jahren gerade besonders angestrengt; es sei be¬
denklich, in diesen Jahren Mädchen eine andauernde sitzende Thätigkeit zuzu¬
muten. Unser Mädchenschulwesen sei in glücklicher Entwicklung, die man nicht
stören dürfe, das geschehe aber, wenn man verlange, daß die Mädchen zu den
Bildungszielen auf denselben Wegen kämen wie die Knaben. Die Rücksicht
auf die verschwindend kleine Zahl der zukünftigen Ärztinnen könne ungünstig
auf den Charakter der höhern Mädchenschule wirken, wie es schon die Rücksicht
auf die Vorbildung einzelner Schülerinnen für den Lehrberuf thue. Nach
längerer Verhandlung für und Wider wurde dem Antrage des Berichterstatters
gemäß beschlossen; übrigens kam die Frage wegen des Schlusses der Session
im Hause der Abgeordneten nicht mehr zur Verhandlung.
Fran Kettler ließ sich aber durch diesen Mißerfolg nicht abschrecken,
sondern richtete — wohl Ende 1891 oder Anfang 1892 — an verschiedne deutsche
Abgeordnetenhäuser einen etwas veränderten Antrag. Die Zeitungen haben
über den Erfolg dieser Gesuche berichtet. Hessen lehnte, soviel mir erinnerlich
ist, ab; im badischen Abgeordnetenhause legte die Uuterrichtskommissivu in der
Sitzung vom 5. März 1892 folgenden Antrag vor:
1. Das in der vorliegenden Petition hervortretende Streben der Frauen nach
Erweiterung ihrer Erwerbsmöglichkeit, insbesondre durch Erschließung einzelner
auf wissenschaftlicher Vorbildung beruhenden Berufe, ist gerechtfertigt und teilweise
erfüllbar. 2. Keinesfalls darf der Frau ein Beruf unter leichtern Bedingungen
zugänglich gemacht werden als dem Manne. Es muß darum für alle gelehrten
Berufe das Mntnritätsexamen gefordert werden. 3. Zur Ablegung dieser Prüfung
können Inländerinnen dem Examen an einem der bestehenden Gymnasien zugewiesen
werden. Dagegen ist die Schaffung von Mädchengymnasien zur Zeit ebenso un-
thunlich wie die Zuweisung von Mädchen zum Unterricht an den bestehenden
Knabengymnasien. 4. Der Besuch von Vorlesungen an der Universität kann auch
fernerhin ausnahmsweise und widerruflich solchen Frauen gestattet werden, bezüglich (!)
deren (!) die Fakultät es für zulässig erklärt. Er ist denjenigen Inländerinnen zu
gestatten, welche das Abiturientenexamen abgelegt haben und im übrigen den für
Studirende geltenden Erfordernissen genügen. 5. Die Großherzogliche Regierung
wolle mich fernerhin die Entwicklung der Frauenfrage wohlwollend im Auge be¬
halten.
Es entspricht durchaus dem Wesen des badischen Landtags, daß er durch
den Vertreter der Negierung wohlmeinend unterstützt, den Antrag der Kom¬
mission annahm und die Petition der Großherzoglicheu Regierung zur Kenntnis¬
nahme übermies.
Wenige Tage darnach, am 11. März 1892, kam dieselbe Frage in der
Unterrichtskvmmission des preußischen Abgeordnetenhauses zur Verhandlung.
ES lagen zwei Petitionen vor. Die des Berliner Vereins „Frauenwohl,"
daß den Frauen nach erlangter privater oder durch Teilnahme am öffentlichen
Unterricht gewonnener Vorbildung die Ablegung (Erlangung?) des Reifezeug¬
nisses an preußischen Gymnasien und Realgymnasien gestattet werde, können
wir hier, da sie in der Verhandlung kaum erwähnt wurde, übergehen. Der
Vorstand des deutschen Frauenvereins „Reform" zu Weimar, vertreten durch
die unermüdliche Frau Kettler, wiederholte mit geringer Änderung den Antrag
vom vorigen Jahre, daß ») einem vom Verein „Reform" zu errichtenden
Müdchenhumaugymnasium (!) das Recht zur Abhaltung der zum Universitüts-
besuche berechtigenden Maturitätsprüfung seiner Schülerinnen zuerkannt werde,
sobald und solange diese Anstalt bezüglich ihres Lehrplans und der Quali¬
fikation ihrer Lehrkräfte genau den Anforderungen entspricht, welche diesbe¬
züglich (!) jeweils (!) für die bestehende» Humanitätsgymuasien gelten; d) den
mit dem Reifezeugnis entlaßnen Schülerinnen dieses Mädchengymnasiums der
Besuch der medizinischen und philosophischen Fakultät der preußischen Universi¬
täten gestattet werde; v) bis zur Errichtung eines solchen Mädchengymnasiums
einstweilen die Zulassung von Mädchen zur Ablegung der Maturitätsprüfung
an einem der bestehenden Humangymnasien und den dort mit gutem Erfolge
geprüften der Besuch der genannten Fakultäten gestattet werden möge.
Der Berichterstatter v. Kölichen erkannte an, daß die Reichs-Gewerbe-
ordnung der Ausübung der ärztlichen Praxis durch Frauen nicht im Wege
stehe, sondern daß es ihnen nur durch die gegenwärtige Einrichtung der höhern
Unterrichtsanstalten unmöglich gemacht sei, die Bedingungen der Zulassung
zur ärztlichen Prüfung zu erfüllen. Diese Gestaltung der höhern Unterrichts-
ansralten aber sei Sache der Einzelregierungen, Ebensowenig schließe die
Prüfungsvrdnung für Ärzte das w.ibliche Element aus. Das Hindernis liege
also darin, daß Frauen auf preußischen Universitäten zum Studium der Me¬
dizin bisher nicht zugelassen worden seien, oder doch nur ganz ausnahmsweise
mit besondrer Genehmigung des Ministers. Der Berichterstatter erwähnt den
Beschluß des badischen Abgeordnetenhauses, wonach der Besuch von Vor¬
lesungen ausnahmsweise und widerruflich Frauen gestattet ist. bezüglich (!)
deren (!) es die Fakultät für zulässig erklärt; er vergißt aber zu erwähnen,
daß es Inländerinnen gestattet ist, die die Reifeprüfung abgelegt haben, daß
also das badische Abgeordnetenhaus eine solche Reifeprüfung als möglich und
vielleicht einst durchführbar betrachtet. Der Berichterstatter erkennt an, daß
es Pflicht der Gesellschaft und des Staats sei, der Frau gesicherte Lebens¬
und Existenzbedingungen offen zu halten; der Wettbewerb, der den Männern
durch die Frauen entstehe, dürfe kein Grund sein, die Frauen um der Er¬
langung neuer Erwerbsquellen zu hindern. Auch müsse er das Bedürfnis
von Ärztinnen für Frauenkrankheiten anerkennen; es sei deshalb nicht richtig,
sie grundsätzlich vom Besuche der Universitäten auszuschließen. Aber eS sei
ebenso unrichtig, das geforderte Mädchengymnasium in allen Punkten dem
Knabenghmnasittm gleich zu machen; nur die Ärztin, die zugleich im besten
und höchsten Sinne die Weiblichkeit bewahrt habe, werde das Vertrauen ihrer
Patienten gewinnen und damit die Konkurrenz der Ärzte besiegen können. In
welcher Weise die Vorbildung der Mädchen für die Universität und das medi¬
zinische Studium zu regeln sei, könne allein von der Staatsregierung richtig
geprüft werden.
Der Regierungskommissar Geheimer Oberregiernngsrat Dr. Schneider er¬
klärte, daß bereits am 28. Februar 1892 der Kultusminister v. Zedlitz aus
eigner Entschließung die Universitätskuratoren ersucht habe, sich über die Frage
zu äußern, ob und wieweit eine Abänderung der Bestimmungen ratsam er¬
scheine, wonach Frauen weder als Studirende aufgenommen noch als „Gast¬
zuhörerinnen" zugelassen werden dürfen. Er erkannte einen gesunden Kern in
den Bestrebungen der Bittstellerinnen an; das Verlangen nach Erweiterung
der Erwerbsfühigkeit der Frau sei bei den gegenwärtigen Verhältnissen der
bürgerlichen Gesellschaft durchaus berechtigt, Frauen und Mädchen würden
ärztliche, namentlich wnndürztliche Hilfe in manchen Fällen lieber von einer
Frau als von einem Manne begehren. Dagegen sei es bedenklich, den von
den Bittstellern vorgeschlagneu Weg einzuschlagen; der Gedanke, daß die Mädchen
ihren Bildungsgang unbedingt ans demselben Wege zu nehmen hätten, wie die
heranwachsende männliche Jngend, sei falsch. In einer Zeit, wo gegen den
bisherigen Unterricht der Knaben laute Anklagen erhoben würden, sei es dop¬
pelt bedenklich, den Unterricht der weiblichen Jugend in diese Bahnen hinüber-
znführen und zu behaupten, daß die höhere Bildung der Mädchen durch Gym¬
nasien und Universitäten gehen müsse. Man brauche bloß den Namen Moltkes
zu nennen, um sich zu vergegenwärtigen, daß jemand auch auf anderen Wege
zu hoher Bildung kommen könne, und ähnliche Beispiele hoher Bildung ohne
Gymnasium und Universität gebe es unter unsern Offizieren und Industriellen
mehr. Es sei daher Pflicht der Unterrichtsverwaltung, entsprechende eigne
Wege für die Mädchen zu suchen, aber die Erfüllung dieser Pflicht erfordre
besonnene Prüfung.
Bei der Verhandlung in der Kommission sprachen sich fast alle Mitglieder
im Sinne des Berichterstatters und des Negieruugskvmmissars aus; ebenso
wurde mit zehn Stimmen gegen eine der Antrag des Berichterstatters an¬
genommen: über die Petitionen, soweit sie die Errichtung eines Mädchen¬
gymnasiums und die Zulassung zum philosophischen Studium betreffen, zur
Tagesordnung überzugehen, soweit sie die Zulassung zum medizinischen
Studium und die Erlaubnis zur Ablegung des Maturitätsexamens an einem
Gymnasium beantragen, der Königlichen Staatsregierung zur Erwägung zu
überweisen.
(Schluß folgt)
le Chemie hat man wohl scherzend eine Kunst, alles in alles
zu verwandeln, genannt, und die drei Wissenschaften der ver¬
gleichenden Sprachenkunde, der vergleichenden Mythologie und der
Prähistorie laufen ungefähr ans dieselbe Kunst hinaus. Wirken
sie, wie in dem am Fuße dieser Seite genannten Buche, ^) zu¬
sammen, um uns über Dinge, die vor der Geschichte geschehen sind, zu belehren,
dann läßt die Reihe in einander übergehender Wandelbilder, die uns vorgeführt
werden, an verwirrender Buntheit und Unbeständigkeit nichts zu wünschen
übrig, und wer sich nicht schwindelfrei fühlt, der möge so schnell wie möglich
hindurcheilen. Mit der Hervorhebung dieses von dem Gegenstande untrenn¬
baren Übels soll kein Vorwurf gegen den Verfasser ausgesprochen werden, der
mit achtunggebietender Gelehrsamkeit und großem Scharfsinn ans der Sache
gemacht hat, was sich immer daraus machen läßt, und den ein edler Patrio¬
tismus zum Forschen und Schreiben begeistert: der arischen Rasse, vor allem
unsrer deutschen Nation, die mit den Skandinaviern zusammen die Vorzüge
dieser Nasse am reinsten und vollständigsten bewahrt hat, will er den ihr ge¬
bührenden Rang unter den Völkern der Erde schon in den Urzeiten sichern.
Aus dem Norden haben nach ihm kimmerische Einwandrer jenen Sageustoff
gebracht, dessen schönste Bearbeitung uns in den homerischen Gedichten vor¬
liegt. Die Urverwandtschaft aller arischen Völker und ihrer Sagen haben
andre Forscher längst nachgewiesen; sein Bestreben geht dahin, „den Namen
der Edda als einer Urgroßmutter der arischen Überlieferung zu rechtfertigen
und damit im Einklang die Urheimat der Arier in Nordeuropa zu erkennen."
Nachdem er auf dem Wege der Sagenvergleichung gefunden hatte, was er
suchte, und die Ergebnisse dieser Forschung, die den größten Teil des Buchs
ausmachen, bereits niedergeschrieben waren, erachtete er es für nützlich, „gleichsam
als Einleitung" noch eine Übersicht der seine Ansicht bestätigenden Ergebnisse
der Sprachforschung und der prähistorischen Studien voranzustellen. Er hat
sich dabei vorzugsweise an die Arbeiten von Perla angeschlossen, obwohl er
dessen Ansicht nicht ganz teilt, daß die Arier aus Skandinavien stammten.
Ich halte, sagt er, „eine so enge Begrenzung des mntmaßlichen Heimatsge-
bietes nicht sür angezeigt, da das gesamte mittlere und nördliche Europa seit
Urzeiten von der arischen Rasse bewohnt gewesen ist, und wenn ich meinem
Buche den Titel »Tuisko-Land« vorgesetzt habe, so geschah dies nur in dem
Sinne, daß der uralte, in alle indogermanischen Sprachen übergegangne Name
des arischen Adam, Mani (Manu) dem Manuus entspricht, den Taeitus einen
Sohn des Tnisko nennt, welcher sich uns als der richtige Eschenvater si'j des
germanischen Jsko, Ask oder Aschnnos (Ast'anius), des persischen Mnshya
(Meschia) und des griechischen Eschengeschlechts (den Jscävonen des Tacitus
vergleichbar) entschleiert hat." Uns, das will sagen, dem Verfasser; denn uns
andern, müssen wir gesteh», erscheint der „Eschenvater" immer noch stark
verschleiert.
Der Verfasser beginnt damit, daß er das „Trugbild" einer indogerma¬
nischen Rasse zerstört. Die Semiten bildeten so gut wie die Mongolen eine
von der arischen verschiedne Rasse. Nichtarier seien von Südosten aus bis
ins nördliche Europa vorgedrungen, Arier ans dem europäischen Norden nach
dem Süden gewandert, wo sie überall den herrschenden Stand bildeten. Die
Urbevölkerung Griechenlands sei nach dem Zeugnis alter Bildwerke semitisch
gewesen (zum Beweise wird ein Vasenbild ans dem mhkenischen Funde Schlie-
mcmns abgedruckt und ans die Ägineten in der Münchner Glyptothek hin¬
gewiesen), und nur seine Helden bezeichne Homer als blond. Dasselbe Ver¬
hältnis finde sich in Indien. Die Heimat der Arier hätten einige in Armenien,
andre am Fuße des Hindukusch gesucht. Nach der ersten Annahme würde
Arminius soviel wie der Armenier bedeuten. „Wir brauchen aber dafür nicht
soweit zu gehn; dem, der Name der Urias und Arimannen verbreitete sich
nicht nur über das ganze persische Reich bis Baktrien, sondern auch Thrakien
führte im Altertume den Namen Uria, und das ostpreußische Ermland hat
»ach den Ari- oder Hermannen (H<?rmionö8) seineu Namen empfangen. Und
hier liegt die Sache um so bedeutsamer, als bekanntlich die litauische Sprache
unter allen lebenden Sprachen diejenige ist, welche dem Sanskrit am nächsten
steht. Überdem ist für Armenien die Thatsache verhängnisvoll, daß die ältesten
Denkmäler des Landes in einer nichtarischen Sprache abgefaßt sind." Demnach
hätte Litauen am meisten Aussicht, als Urheimat der Arier im engern Sinne
anerkannt zu werden, und so wäre jener Bibelforscher des vorigen Jahr¬
hunderts — sein Name ist uns entfallen — gerechtfertigt, der das Paradies
nach Ostpreußen verlegte.
Von Pamir, dem ,,Duch der Welt," meint Krause, konnten die Arier
unmöglich herabgestiegen sein. Denn im Vendidad, im alten Gesetzbuche des
Zoroaster, werde „das Samen- oder Ursprungsland der Arier, Airyana-vaeja",
als ein eisiges Land beschrieben, das zehn Monate Winter und uur zwei
Monate Sommer habe. In Pamir sei freilich der Winter kalt, der Sommer
aber heiß und lang. Auch hätten die Inder ursprünglich, gleich den Nord¬
ländern, in ihrer Zeitrechnung nach Wintern gezählt. Und der alte gemein-
fame Wortschatz der arischen Völker enthalte zwar Ausdrücke für Schnee und
Eis, für Winter und Frühling, nicht aber für Sommer und Herbst. Dem
gegenüber hat Professor A. Hillebrnndt, der auch über Perla sehr abfüllig
urteilt, in der ,,Schlesischen Zeitung" auf Johannes Schmidt, Professor der
indogermanischen Sprachforschung in Berlin, verwiesen, der gezeigt habe, daß
alle der Sprachvergleichung entlehnten Beweise für den europäischen Ursprung
der Arier unhaltbar seien; das ,,gruudsprachliche" Lexikon enthalte auch eine
Bezeichnung für Sommer. Darin wird man Krause beistimmen müsse», daß
die Entstehung einer weißsandiger, blondhaariger und blauäugige» Nasse in
einem heißen Lande physiologisch unmöglich sei.
Bei dem Übergange zum prähistorischen Teile seiner Untersuchungen sagt
Krause: „Es ist die Frage, ob wir nicht aus dem Regen in die Traufe ge¬
raten, wenn wir uns nun mit unsern Zweifeln an die junge Wissenschaft der
Prähistorie wenden. Einer solchen noch in den Kinderschuhen befindlichen
Wissenschaft weittragende Fragen vorzulegen, kaun nicht ohne Bedenken ge¬
schehen." Die Bedenken sind sehr berechtigt, aber nicht deswegen, weil die
Pra Historie eine noch sehr junge Wissenschaft ist, sondern weil sie auch uach
Jahrtausenden niemals wird Geschichte werden können. Unbeschriebne Stein¬
denkmäler, Gräber mit ihrem Inhalt an Gebeinen, Zieraten und Gefäßen,
urweltliche Wohnstätten mit Speiseüberresten und Werkzeugen können uns zwar
sagen, daß irgend einmal ein Volk von solcher Körperbeschaffenheit und Große,
von diesem bestimmten Kulturgrade in dieser Gegend gehaust habe, und aus
der Bodenschicht, in der ein gewisser Fund gemacht wird, können die Geologen
vielleicht mit einiger Wahrscheinlichkeit sein Alter bestimmen, aber ob das frag¬
liche Volk von Norden oder von Süden an den Fundort gelaugt sei, darüber
können die Bestandteile des Fundes keine Auskunft geben; das könnten nnr
geschriebne Urkunden und Nachrichten, die eben leider nicht vorhanden sind.
Krause selbst ist auch besonnen genng, aus deu „megalithischen Denkmalen,"
die er betrachtet hat, weiter nichts zu schließen, als „daß sie von einer dolicho-
kephalen (langschädligen) Nasse herrühren, bei der persönliche Tapferkeit und
Heldentum im höchsten Ansehen standen. Ferner ist deutlich eine große Vor¬
liebe für das Wasser zu erkennen; denn längs der baltischen und atlantischen
Küsten, auf den Inseln und Halbinseln, an dem untern Lause und deu Mün¬
dungen schiffbarer Flüsse zieht sich die dichteste Reihe dieser Denkmale hin,
während das Binnenland Europas auffallend arm an denselben (!) geblieben ist.
Man kaun aus dieser Eigentümlichkeit der Verbreitungsweise zwei Schlüsse
ziehen, erstlich den unsichern, wenn auch nicht gerade verwerflichen, daß der
mit Wanderblöcken besäte Gürtel Nordeuropas gewissermaßen von selbst zur
Errichtung solcher Denkmale aufforderte, und daß daher hier das Ursprungs¬
land der Sitte zu suchen sei; zweitens, daß die Wanderungen dieses Volks
vielfach zu Wasser mittels Küstenschiffahrt in kleinen Kähnen geschehen sein
dürften." Also nur deu Urspruugsort einer Sitte, nicht den eines Volks
glaubt er hier gefunden zu haben. Sehr hübsch ist die Charakteristik der lang-
uuo kurzschüdligen Menschen: die erstem geborne Krieger, Herrscher, Organi¬
satoren und — Protestanten, die andern zum Arbeiten und Dienen geschickt
und dem Katholizismus zugeneigt. Doch weist Krause mit gerechtem Unwillen
die schon 1814 von Pehrvnx de la Cordonnwre aufgestellte Behauptung zurück,
daß die „aktive Rasse" allein Kultur schaffe; woraus dann weiter die Folge¬
rung gezogen worden ist, die „passive" sei von der Natur zur Sklaverei be¬
stimmt. Wie immer die Rassen sich ursprünglich unterschieden haben mögen,
hente findet man oft genug lange und kurze, kluge und dumme, regierungs¬
fähige und regierungsbedürftige Schädel in ein und derselben Familie bei¬
sammen, und mit einer ans anthropologische Unterschiede gegründeten Politik
würde mau nicht weit kommen.
Was endlich die Mythologie anlangt, so ist längst bekannt, daß die Götter
ursprünglich Personifikationen von Naturmächtcn waren, und daß die Sonne
im Norden als die wohlthätigste aller Gottheiten verehrt zu werden pflegt,
während sie im Süden, wo ihre Strahlen nicht selten deu Menschen und seine
Saaten toten, eine Doppelnatur annimmt, als bald wohlthätige, bald schreck¬
liche Gottheit. Ferner daß die zu Fanatismus und Wollust hinneigenden
Semiten den feindlichen Sonnen- oder Feuergott mit grausamen Menschen-
opfern, die fruchtspendende Mutter Erde mit allerlei Unzucht geehrt haben.
Darauf baut nun Krause eine Betrachtung auf, in der es heißt: „Die Bar¬
baren können von sich sagen, daß sie besser waren als ihr Ruf; denn so hoch
ein Taeitus ihre guten Eigenschaften schon im Altertum gepriesen hat: ihre
größten Verdienste um die Menschheit konnte er nicht rühmen, weil er sie nicht
kannte, und weil von ihnen keine geschichtliche Aufzeichnung meldet, ihre
weltbewegende Rolle als Träger und Verbreiter einer erhabnen? Weltanschauung
und Religion, als alle die dunkeln Völker besaßen, zu denen sie kamen. Es
war ihr eigentümliches Schicksal, daß diese ihre zivilisatorischer Thaten bis
auf den heutigen Tag vergessen werden mußten, weil sie dieselben (!) nicht selbst
aufzeichnen konnten, und weil wir von ihnen nur auf den äußersten Umwegen
Kunde erhalten, sodaß wir gezwungen sind, das Bild der altnordischen Ge¬
dankenwelt aus indischen, persischen, griechischen und römischen Schriften zu¬
sammenzusuchen. Denn die ältesten eignen Niederschriften erfolgten ja so spät,
daß irgend ein Vergötterer der griechischen und römischen Gedankenwelt die
nordische als einfaches Nach- oder Spiegelbild, wenn nicht als Plagiat der¬
selben (!) verdächtigen konnte, wie es denn bisher meistens mit vollem Gelingen
geschehen ist." Sogar für ein Plagiat der „Christuslegende" haben einige
neuere Gelehrte, die Krause bekämpft, manche Eddasagen erklärt. Das wird
zwar nicht richtig sein, aber daß die christlichen Lehren und Legenden, die
christliche Weltansicht und Frömmigkeit bis ins zweite Jahrtausend neben dem
nordischen Gvtterglauben hergegangen sein sollten, ohne Einfluß auf ihn zu
üben, das ist doch wohl nicht denkbar. Die ungeschlachten und rohem, wenn
auch nicht gerade unsittlichen Züge, die auch in den Ebben noch vorkommen,
dürsten in der ursprünglichen nordischen Göttersage weit häufiger gewesen sein.
Über die höhere Sittlichkeit der nordischen Religion sagt Krause: „Die
Antigone des Sophokles ist ein gepriesenes Drama; aber wie armselig sticht
ihr ethischer Gehalt gegen die Lehren der Sigurdrifa im Eddaliede ab, sich des
Toten anzunehmen, wo er auch im Felde gefunden werde, ihn zu bestatten
und für seine Seele zu beten ^dieser Zug ist doch gewiß christlichen Ursprungs!^,
ohne daß ein Unterschied gemacht wird, ob er fremd oder befreundet sei. jDer
Schwerpunkt des Antigone-Dramas liegt doch wohl nicht in der Pietät gegen
die Toten, sondern in der Behauptung des individuellen Gewissens gegenüber
dem Staatsgesetz.f Als fernere Grundsäule der ethischen Höhe dieser arischen
Weltanschauung steht der Preis, welcher der Treue und Wahrhaftigkeit des
Mannes, der Unverletzbarkeit des Weibes zugebilligt wird, worüber dasselbe
Sigurdrifa-Lied herrliche Ratschlüge enthält. Die Tiefe der nordischen Welt¬
anschauung bewährt sich darin, daß der Germane sogar über die Götter seiner
eignen Vorzeit sich zum Richter aufwarf, Odin und einen Teil seiner Genossen
ihrer moralischen Unzulänglichkeit überführte und die Lehre von der Götter¬
dämmerung aufstellte, die aus der innersten Überzeugung hervorging, daß die
ältere Weltanschauung zum Falle reif sei. Wer jene moralisch unzulänglichen
Göttergestalten waren doch gerade ein Produkt und Spiegelbild des ursprüng¬
lichen nordischen Geistes, und zu welcher Zeit, ob vor oder erst nach Christus,
dem Volke ihre Unzulänglichkeit klar geworden sein mag, ist bei dem gänzlichen
Fehlen schriftlicher Zeugnisse schlechterdings nicht auszumachen.^ Wir kennen
kein ähnliches Gericht über veraltete Göttervorstellungen bei Griechen und
andern Kulturvölkern. Sie vertuschten die Schwäche ihrer Fabeln, suchten
ihnen einen andern Sinn beizulegen, aber die Forderung, daß etwas höheres
an die Stelle ihrer Zeusreligion treten müsse, kam ihnen nicht. ^Deu Weisen
der Griechen und Römer ist sie bekanntlich gekommen, und das Volk stöberte
in allen orientalischen Kulten herum und ergriff dann gierig den Christen¬
glauben, weil es eben nach besserm verlangtes Diese Bergeistigung würde
sich im Norden vollzogen haben, auch wenn das Christentum nicht gekommen
wäre jwas in diesem Falle geschehen sein würde, kann niemand wissen^, wie
sie sich in Indien zu einer Religion des Mitleids mit aller Kreatur auf¬
geschwungen hat ^die den Kühen Mitleid erweist, die Witwen aber erbarmungs¬
los verbrennt^. In der Balderlegende, die bedeutend älter ist als das Christen¬
tum, bereitete sich eine Erlösungslehre und eine strenge Scheidung der Lehren
von gut und böse vor joder vielmehr Scheidung von gut und böse in der
Lehre?j, und es ist hervorzuheben, daß das griechische Epos so vollendete Ver¬
körperungen der Schuldlosigkeit, die schnödem Verrat zum Opfer fällt, wie
Balder und Siegfried, nicht besitzt."
In den uun folgenden fünfundfünfzig Abhandlungen über Gegenstände
der vergleichenden Mythologie stützt sich der Beweis für die Abstammung der
arischen Götter aus dem Norden vorzugsweise auf drei Thatsachen: daß die
Griechen selbst ihre Gottheiten aus dem Lande der ,,frommen Hyperboräer"
einwandern lassen und von Belehrungen berichten, die sie diesem weisen und
gerechten Volke verdanken; daß der den griechischen und indischen Göttern zu
Grunde liegende Naturmythus auf ein nördliches Land hinweist; und daß in
den südlichen Sagen viel Ungereimtes vorkommt, das erst aus den nördlichen
Parallelsagen verständlich wird. Wir lassen alle drei Beweisarten gelten,
wenn auch der Verfasser ihre Beweiskraft hie und da überspannt. Warum
soll z. B. die Sage von Boreas und Chionc, dem Nordwind und seiner Tochter,
dem Bergschnee, nicht auch am Balkan entstanden sein können, der im Winter
ganz gründlich zu verschneien pflegt? Und bewunderte AMbiades den Sokrates
nicht u. a. deshalb, weil er bei starkem Frost, wo sich die andern entweder
gar nicht oder nur in Filzschuhen hinauswagten, unbeschuht herumspazierte?
Von Italien und Griechenland wenigstens kann es wohl nicht gelten, wenn
Krause sagt: ,,Schon in den Mittelmeerländern haben die Jahreszeitenfeste
keinen rechten Boden mehr. Wie kann man den Frühling mit Inbrunst be¬
grüßen, wo der Winter nur ein paar Monate dauert, wo immergrüne Ge-
Sträuche und Bäume kaum einen Verlust der Vegetation im Winter merken
lassen, und höchstens einige Frühlingsblumen daran erinnern, daß für die
Pflanzenwelt ein neuer Abschnitt beginnt?" So viel ist allerdings richtig, daß
in Ägypten ein Svnneuwendfest nicht volkstümlich werden kam?, und daß von
Italien aus nordwärts die Inbrunst der Frühlingsluft wächst.
Zur Veranschaulichung der dritten Art von Beweisführung heben wir
den Baldermythus heraus, zu dem Krause in der Geschichte von den Söhnen
des Krösus die griechische Parallele findet. Folgendermaßen faßt er seine
Untersuchung zusammen. „1. König Odin hat zwei Söhne, von denen der
eine, ein Muster aller Vollkommenheit, von Göttern und Menschen geliebt wird,
der andre durch einen Naturfehler (er ist blind) von der Thronfolge ausge¬
schlossen erscheint. König Krösos von Lydien hat zwei Söhne, von denen der
eine durch seine Tugenden alle Altersgenossen überstrahlt, der andre durch
einen Naturfehler (er ist taub) von der Thronfolge ausgeschlossen erscheint.
2. Die Asen haben böse Träume, nach denen ihrem allgeliebten Balder von
einer unheimlichen Waffe Gefahr drohe. Krösos träumt, daß ein spitzes Eisen
seineu geliebten Sohn Alss töten werde. 3. Frigga nimmt alle Geschöpfe in
Eid, ihrem Sohne nicht schaden zu Wollen. Krösos entfernt alle eisernen
Waffen aus dem Bereiche des Sohnes. 4. Balder wird jung vermählt, seine
Gattin heißt Nanna, Atys wird jung vermählt, seine Mutter heißt Nana.
5. Die Asen machen sich ein Vergnügen daraus, auf Balder zu schießen, weil
kein Geschoß ihm schaden kann. Alss giebt sich dem Jagdvergnügen hin, weil
er den Zahn des Ebers nicht zu fürchten braucht. 6. Sein eigner Bruder
tötet ihn (den Balder) unabsichtlich. Ein Freund, durch dessen Versehen be¬
reits ein Bruder ermordet wurde, tötet den Atys unabsichtlich. 7. Dem Loki
wird Schuld gegeben, den Mord veranlaßt zu haben. Die Schuld an dem
Tode des Atys wird einem Gotte beigemessen. 8. Das unschuldige Werkzeug
wird trotzdem ebenfalls ermordet. In der andern Sage entleibt sich der schuld¬
lose Mörder am Grabe. Man wird sogleich bemerken, daß die wenigen, in
diesen beiden Erzählungen nicht übereinstimmenden Stellen in der Edda bei
weitem beßres Gefüge zeigen, als in der Herodotischen Fassung. Denn wenn
man auch nicht wüßte, daß der betreffende Sagenkreis aus demjenigen der
Götterzwillinge hervorgegangen ist, von denen einer den andern tötet, so sieht
man doch nicht ein, weshalb, um das Maß der Leiden des Krösos voll zu
machen ^vielmehr nicht voll zu machen! oder soll das folgende »nicht« hinter
»weshalb« gedacht werden?j, nicht der eigne Bruder den andern »aus Ver¬
sehen« tötet, sondern erst noch ein Fremder herbeigezogen wird, der schon seinen
eignen Bruder versehentlich getötet hat, als ob zu diesen Versehensinorden
einige Übung gehörte! Wozu ist dieser von der Natur vernachlässigte Bruder
überhaupt vorhanden, da er doch den Verlust mindert, anstatt ihn zu mehren?
Der Naturfehler selbst ist in der nordischen Fassung ganz wohl motivirt; denn
Hödur ist der Sohn des oft blind oder einäugig gedachten Odin; er ist, nach¬
dem die Dioskurenmythe mit der svlarischen zusammengeflossen war, außerdem
der Vertreter des lichtarmer, finstern, blinden Wintergottes. So spricht alles
dafür, daß der nordische Baldermythus schon vor drei Jahrtausenden vorhanden
war, daß er zu Herodots Ohren ^dem Herodot zu Ohrenkam, ohne völliges
Verständnis zu finden, und dadurch (?) in verballhornter Gestalt in die lydische
Geschichte verwebt wurde."
Hierzu mochten wir uns einige Bemerkungen erlauben. Es vergeht kein
Monat, wo man nicht in der Zeitung von irgend einem dummen Jungen läse,
der mit einem Schießgewehre gespielt und ein Geschwister oder sonst jemand
erschossen hat. Auch absichtliche Brudermorde aus Eifersucht, Neid, Habsucht
kommen in allen Jahrhunderten vor. Selbstverständlich ist der Ermordete
stets der beßre Bruder. Nun ist es ja gar nicht zu bezweifeln, daß sich die
mytheubildende Phantasie namentlich im Norden die Nacht als den schlimmern
Bruder des Tages und als seinen Mörder gedacht und nach Phantafiebmuch
bald dem Tage das Tagesgestirn, bald der Sonne den Tag untergeschoben
hat. Aber muß darum jede Brudermordgeschichte ein Naturmhthus sein, da
doch Brudermorde leider nichts so ganz seltnes sind? Und kann nicht so ein
Ereignis am Hofe des Krösus wirklich vorgekommen sein, wenn es auch viel¬
leicht von der Sage ausgeschmückt worden ist? Trügende Träume und Orakel
aber find ein in den alten Sagen so häufig vorkommender Zug, daß wir
darum, weil er auch in die Geschichte des Krösus mehrfach verwebt ist, die
Hauptereignisse dieser Geschichte noch nicht für unwahr zu halten brauchen.
Und diesen Gedanken weiterspinuend, sagen wir serner: gewiß haben die
Alten überall, wie es auch der Psalmist thut, in der Sonne bald einen glän¬
zenden Helden gesehen, der aus seinem Zelte hervorgeht, die ruhmvolle Bahn
zu laufen, bald einen Bräutigam, der sich des Morgens, strahlend von Glück
und Schönheit, vom Lager erhebt. Aber hat es in alten Zeiten nicht auch
wirkliche Helden und wirkliche Bräutigame gegeben, und muß jeder Held, jeder
Bräutigam und Ehemann, der in alten Geschichten vorkommt, unbedingt ein
Sonnengott sein? Denn selbstverständlich gelten den modernen Mythologen,
auch unserm Krause, Achilleus und Odysseus für Sonnengötter. Und nicht
minder sollen alle Geschichten von Ehemännern, die nach langer Abwesenheit
zu ihren Gattinnen heimgekehrt sind, Variationen des Sonncnmhthus sein, als
ob nicht solche Geschichten auch bei uns noch zuweilen vorkämen! Und jedes
junge frische Mädchen ist ja allerdings eine Frühlingsgöttin — als solche
wird Nausikan bezeichnet -, aber zum Glück ist sie doch meistens kein bloßer
Mythus, sondern nebenbei auch ein wirkliches Mädchen, und die liebliche
Tochter des Phüakenkönigs wird doch so menschlich geschildert, sie ist doch so
aus dem Leben gegriffen, daß der Gedanke an ein menschliches Modell weit
näher liegt, als an einen nebelhaften Mythus. ,
Weit annehmbarer klingt die Behauptung, die Sage von der Erbauung
Trojas durch Apoll und Poseidon sei der vom Bau der Asenburg durch einen
Niesen nachgebildet nud nur in der nordischen Form verständlich, wo der Bau¬
meister, der in einem Winter die Burg vollenden wollte, der Winter selbst
war, und sein windschnelles Roß, das des Nachts die Steine herbeischaffte,
der eisbildende Nordostwind. Ob aber der Troicmische Krieg, „ursprünglich
nichts als eine Göttersage, die Wiederertampfung der Sonnengöttin ^Helena^
von den UnterweltS- und Kälteriesen darstellte," mag dahingestellt bleiben.
Alle Titanenkämpfe sollen die Überwindung der Feuergötter durch die Licht¬
götter, deren Kultus schließlich den der erstern verdrängte, zum Gegenstände
haben; warum nicht, wie man bisher glaubte, die Überwindung der Natur¬
kräfte überhaupt, unter denen allerdings das Feuer eine große Rolle spielt,
durch den Menschen oder durch menschenähnlich gedachte Götter? Wüten doch
im Norden die Kälteriesen weit schlimmer als die Feuerriesen. Und andrer¬
seits wieder, warum muß es gerade ein nordischer Kültegott sein, der in Italien
und Indien so häufig Kühe, d. h. Wolken stiehlt? Das besorgt doch dort
und gewöhnlich auch noch bei uns der Hitzegott weit gründlicher. Natürlich
gehört auch der Prophet Elias — bei der Erklärung seines Namens ist uns
ein wenig schwindlig geworden — zu den Feuergöttern. Weniger hätten wirs
uns vom guten Pan versehen. Als Probe sür die Art und Weise, wie Krause
Mythen behandelt, geben wir folgende auf die Pausage bezügliche Stelle wieder.
„Derjenige, der den alten Feuergott entthront hat, war der Lichtgott der
spätern Zeit, und darauf bezieht sich höchst wahrscheinlich auch die Sage vom
Wettstreit des Apoll mit Pan (Marsyas) in der Musik. Denn Pan war zu¬
gleich der Gott der fröhlichen, einfachen Hirtenmusik gewesen, nur übertraf ihn
Apoll durch Knnstmustk, zog ihm das Fell über die Ohren und nahm seine
Herden in Besitz, d. h. er entthronte den alten Feuergott auch als Hirtengott.
Wir müssen uus erinnern, daß die Fenergötter in den Ruf gekommen waren,
die Sonne bei der Gewitterschwüle zu umarmen und zu umhüllen, und so
heißt Bali, Panis Vater, in Jndien gerade so der Umhüller, wie der Feuer¬
gott Vritra. Nun kommt der Sonnenkümpfer Thor oder Zeus und zieht der
Ziege Amalthea oder dem Ziegengott Pan, dem Sounenusnrpator, die Haut
vom Leibe, um sich selbst darin (?) zu kleiden oder sie als Dounersack zu ver¬
wenden; denn eine Art »Knüppel aus dem Sack« blickt hindurch, wenn Zeus
sein Ziegenfell schüttelt. Auch der Kunstrichter Midas mit den Eselsohren,
der dein Pan den Preis zuspricht, hat eine weite Verbreitung, sowohl in der
Tierfnbel, als im irischen und mongolischen Märchen. Der Esel gehört eben
zu den Freunden des Pan; aber nicht bloß, weil er ein bespötteltes Tier war,
wurde er deu Feuergöttern zugesellt. Das Märchen von der Eselshaut, in
die sich das schöne Madchen verbirgt, oder der glänzende Lucius (bei Apulejus)
verwandelt sin die Eselshaut?^, sowie die Eigenschaft des eselsgestciltigen Midas,
alles, was er berührt, in Gold zu verwandeln, scheinen alle auf den indo¬
germanischen Mythus zurückzugehen, daß der Feuergott die Sonnenjnngfran
in Gestalt einer umschattenden eselsgrauen Wolke umarmen wollte, wobei aber
die goldnen Ohren des Midas (im mongolischen Märchen), d. h. die goldnen
Spitzen und Ränder der Wolke, den Verräter abgeben."
Auch Rotkäppchen und der Däumling werden an den Himmel versetzt.
Das vom Wols gesreßne Rotkäppchen bedeutet die verfinsterte Sonne, und
Däumling ist der kleine Stern, der auf dem mittelsten Stern der Deichsel des
großen Himmelswagens oder auf dem mittelsten Zugtier reitet. Der Not-
käppchensage schreibt der Verfasser ein Alter von fünftausend, der Däumlings¬
geschichte eines von dreitausend Jahren zu. Und damit wir Nordländer ja
keines Ruhms ermangeln, muß auch der Priapkultus von uns herstammen.
Allerdings bemerkt der Verfasser mit den Worten Rudbecks, dieser Kult sei im
Norden ein „höchst ehrbarer" gewesen; er sei aber auch hier von den Frauen
besorgt worden, „für die sich an den Gedanken der Unfruchtbarkeit die höchste
Verachtung knüpfte."
Das Spiel der Volksphantasie in den Mythen und Sagen zu verfolgen,
gehört zu den angenehmsten Beschäftigungen und ist auch nicht ohne Nutzen,
sofern sich ja in der verschiednen Gestaltung desselben Sagenstoffs, an ver-
schiednen Orten und zu verschiednen Zeiten die verschiednen Volkscharaktere
und Kulturzustüude wiederspiegeln. Aber zur sichern Beantwortung prähisto¬
rischer Fragen wird dieses Studium so wenig wie irgend ein andres führen,
weil eben von den Dingen, die sich vor aller Geschichte ereignet haben, irgend¬
welche historisch zuverlässige Kunde schlechterdings nicht zu erlangen ist. Und
bei der Frage, die Krause zu beantworten unternommen hat, waltet noch dazu
der eigentümliche Umstand ob, daß wir noch gar nicht einmal wissen, was sie
für einen Sinn hat. Was soll das heißen: Urheimat der Arier? Das Land,
in dem die Arier auf Eschenbäumen gewachsen, oder von Gott erschaffen worden
sind, oder sich aus Menschen andrer Nasse oder aus Tieren entwickelt haben?
Viererlei glauben wir ohne alle prähistorische Gelehrsamkeit mit voller
Klarheit zu erkennen und ganz bestimmt zu wissen. 1. Daß es edle und un¬
edle Menschenrassen giebt- 2. Daß die Arier unter den edeln Rassen die edelste
sind. 3. Daß diese Nasse die Fülle ihrer körperlichen Vorzüge nur in einem
solchen Lande erwerben oder wenigstens bewahren konnte, das einen ordentlichen,
erfrischenden Winter hat, und solche Länder giebts in Hochasien auch. 4. Daß
sich die Fülle ihrer geistigen Vorzüge uur in Europa entfalten konnte. Aber
über ihren Ursprungsort vermag schon darum keine Wissenschaft Auskunft zu
geben, weil nicht einmal der Begriff des Ursprungs oder der Entstehung fest¬
steht und wissenschaftlich auch gar nicht festgestellt werden kann. Man bekennt
sich entweder zum Schöpfungswunder oder zur Darwinischen Hypothese. Im
ersten Falle ist als zweites Wunder die Verzweigung der Nachkommen des
Urmenschen in Nassen anzunehmen. Dieses braucht nicht als plötzlich wirkend
gedacht zu werden, sondern Gott kann es so gefügt haben, daß natürliche
Ursachen die erforderlichen anatomischen und physiologischen Veränderungen
allmählich hervorbrachten. In einer kalten Gegend kann man sich den Ur¬
menschen nicht gut denken, weil für Wesen mit nackter, zarter Haut schon eine
gewisse Summe von Erfahrungen und erworbnen Fertigkeiten dazu gehört,
einen nordischen Winter lebendig zu überstehen, besonders da die menschliche
Kindheit so lange dauert. Man wird daher annehmen müssen, daß Adam in
einem milden Klima entweder als Arier erschaffen worden ist, daß aber nur
die von seinen Nachkommen, die nordwärts zogen, die Merkmale der arischen
Nasse festhielten und weiter entwickelten, oder daß er ein brauner Mensch von
einer weniger edeln Bildung war, und daß die Veredlung eines Zweiges seiner
Nachkommenschaft teils auf asiatischen Gebirgen, teils in Enropa vor sich ge¬
gangen ist. Glaubt man an die Darwinische Hypothese, so nimmt man als
Stammväter des Menschengeschlechts ein Geschlecht geschwänzter Baumtiere an,
das sich in die Gattungen der Vierhänder und der ungeschwänzten Zwcihänder
verzweigte. Die Menschenrassen können dann eine aus der andern oder sämtlich
unmittelbar aus verschiednen Arten der zweihändigen Alalen entsprungen sein.
Malen: Menschen ohne menschliche Sprache, nennt Häckel unsre unmittelbaren
Vorfahren.) Nimmt man das letztere an und zugleich, daß die Arier in
Nordeuropa entstanden seien, so müßte ein Zweig der Alalen, ehe sie sich zu
vollkommnen Menschen entwickelten, nach Nordeuropa gewandert sein. Da
aber die Affen nur im heißesten Klima fortkommen und gegen Kälte sehr em¬
pfindlich sind, so ist anzunehmen, daß ihre von denselben Vätern abstammenden,
also auch in derselben Heimat entstandnen Brüder ebenfalls für ein Tropen-
klima organisirt gewesen sein mögen. Demnach ist es wahrscheinlich, daß nicht
eine vormenschliche dem Affcngeschlecht näher stehende Art von Wesen im Norden
die Stammväter der Arier abgegeben haben, sondern daß es wirkliche vollendete
Menschen gewesen seien, deren Fähigkeit, sich allen Arten von Klima anzu¬
passen, ja bekanntlich die aller Tierarten übertrifft. Der Ausdruck: Ursprung
der Arier in Nordeurvpci, würde also den Sinn haben, daß sich dieser edelste
Menschenschlag hier aus einem unedlem, entweder aus einem der noch jetzt
lebenden oder aus einem längst ausgestorbnen, entwickelt habe. Ehe nicht in
dieser Weise festgestellt wird, was man mit dem Ursprünge der Arier meint
-^und das wäre eben nur auf dem Wege eines willkürlichen, also ganz unwissen¬
schaftlichen Übereinkommens möglich —, scheint uns die Frage nach deren
Urheimat gar keinen Sinn zu haben.
is Robert Schumann kurz vor seiner letzten Krankheit seine in
den Jahren 1833 bis 1844 für die Neue Zeitschrift für Musik ver¬
faßten Aufsätze ordnete und zum Druck vorbereitete, bemerkte er
mit Freuden, daß er in der langen Zeit, seit über zwanzig Jahren,
von den damals ausgesprochnen Ansichten fast gar nicht ab¬
gewichen war. Seit dem Erscheinen seiner gesammelten Schriften sind nun
zweimal zwanzig Jahre verflossen, aber noch heute gilt, was Schumann darin
niedergelegt hat. Seine Urteile haben sich bewährt, seine Hoffnungen sind
erfüllt, kühne Weissagungen sind bestätigt worden. Und dem klassischen Gehalt
entspricht die Schönheit der Sprache, durch die sich Schumann den besten
deutschen Schriftstellern angereiht hat.
Vor kurzem sind seine Schriften von F.Gustav Jansen*) neu heraus¬
gegeben worden, und damit ist das schon vor Jahren von Spitta ausgesprochne
Verlangen nach einer „alles umfassenden und originalgetreuen Ausgabe" be¬
friedigt worden. Es siud zwei stattliche Bände, gegen die beiden ersten Aus¬
gaben (die dritte war nur eine Titelauflage) reich vermehrt. Hinzugekommen
sind zunächst Arbeiten, die Schumann schon vor 1833 in Zeitschriften ver¬
öffentlicht hatte, die heute verschollen und kaum noch nuffiudbar sind.**)
Schumann hat auch für politische Zeitungen geschrieben, namentlich für die
Leipziger Allgemeine: Kvnzertberichte und kurze, oft begeisterte Hinweise auf
einzelne Künstler. Einige dieser kurzen Notizen finden wir schon in dem
Anhange zu Schumanns Leben von Hermann Erker (1887), der eines schon
die meisten Aufsätze gesammelt hat, die Schumann nicht in seine Auswahl
(so nennt er seine Schriften) eingereiht hatte. Sie betragen ungefähr den
achten Teil der Schriften und sind mit Auslassung des Unwesentlichen und
der von Wicck und Bauet verfaßten beiden Aufsätze (Erker II 235, 265) auch
von Jansen wieder aufgenommen morden. Doch sind Erker immer noch ver-
schiedne Arbeiten Schumanns entgangen, die Jansen zuerst gebracht und womit
er nun die möglichste Vollständigkeit erreicht hat. Nur eine größere Ab¬
handlung Schumanns hätte noch hinzugefügt werden können, die zwischen
Noten versteckt ist, nämlich die Vorrede zu den ersten Pagcminietüden (Werk 3).
Diese wundervolle Darstellung mit ihren zahlreichen Notenbeispielen zeigt, durch
welche Mittel Schumann dem Klavier neue Wirkungen abzugewinnen wußte.
Hier sieht man die Grundlage seiner eignen Klaviertechnik. Nimmt man noch
den Aufsatz „über die Pianoforteetüden, ihrem Zwecke uach geordnet" hinzu, so
läßt sich eine vollständige Schule des höhern Klavierspiels darauf aufbauen. Die
genannte Vorrede gehört zu dem Trefflichsten, was Schumann geschrieben hat.
Hier, in den zahlreichen, eingehenden Besprechungen von Etüden, hören
wir den praktischen Musiker. Als solcher zeigt sich Schumann aber auch, wenn
er in den Partituren Beethovens und Bachs lange durchgeschleppte Fehler
aufdeckt, wenn er eine C. M. von Weber zugeschriebne Komposition für unter¬
geschoben erklärt. Vor allem aber offenbart sich seine musikalische Seele darin,
daß sie für alles Echte in der Kunst unmittelbares Verständnis hat, mochte
es alt oder neu sein.
In Ausdrücken der höchsten Bewunderung spricht Schumann von Johann
Sebastian Bach; „der größte Komponist der Welt ist er." Einer Zeit, die
sich „erst auf Beethoven besann," hielt er vor, welche Schätze in Beethovens
letzten Quartetten lägen. „Dem menschlichen Geiste kann kaum etwas Wunder¬
würdigeres geboten werden als diese Schöpfungen, denen in ihrem alle mensch¬
lichen Satzungen überschwebendeu Ideenflüge von andrer neuerer Musik gar
nichts verglichen werden kann." Welch ein herrliches Bild giebt er von der
<ü-rnoU-Shmphonie (in dem ersten Aussatze über das Beethovendcnkmal), welche
Verehrung weiht er der großen Leonorenouvertüre, „dem Ergreifendsten viel¬
leicht, was die Musik überhaupt aufzuweisen hat." Heute weiß das ja jeder,
aber vor sechzig Jahren war es Schumann, der Beethovens Bedeutung zum
erstenmale ganz erfaßt hatte. Weit über hundertmal nennt er Beethovens
Namen in seinen Schriften. Oft gedenkt er Mozarts, des „frischen, lebens¬
reichen," treffend urteilt er über Haydn, Gluck und Weber, vor allem feiert
er Franz Schubert, den er schwärmerisch liebte. „Er war der Höchste nach
Beethoven." Schumanns Aussprüche über Schubert sind wahre Bausteine zur
Musikgeschichte, die mit Schumann und den andern Tondichtern seiner Zeit
gerade in eine neue Periode trat. Auch über diese zeitgenössischen Künstler
geben Schumanns Schriften die beste Auskunft.
Mehr als einmal hat Schumann die Bedeutung eines neu auftretenden
Komponisten gleich nach seinem ersten Werk für alle Zeiten festgestellt. Auch
hier erkannte seine musikalische Seele die verwandten Geister. So huldigte er
Chopin, über dessen Don Juan-Variationen er schrieb: „Ich beuge mein Haupt
solchem Genius, solchem Streben, solcher Meisterschaft." Chopin wurde von
Nellstnb leidenschaftlich bekämpft; Schumann begleitete seine Laufbahn mit
liebevollster Teilnahme und doch frei von aller Parteilichkeit. Er bewunderte
seine Schwärmerei, seine Grazie, seine Glut und seinen Adel, aber er ver¬
kannte auch nicht seine Wunderlichkeit und seine krankhafte Überspanntheit.
Er lobte es wohl, wenn andre Komponisten Chopins zarte Wendungen nach¬
ahmten, doch „seine sonstigen Kränseleien und Säuseleien sollten sie nicht nach¬
machen. Chopin bezaubert damit, an andern sind sie nicht auszustehen."
Auch auf Berlioz hat Schumann zuerst hingewiesen. In seiner sorg¬
fältigen Zergliederung der Symphonie „Aus dem Leben eines Künstlers"
sucht er das Bestreben zu rechtfertigen, poetischen Gehalt durch die Musik
auszudrücken. Dieses Streben war ihm erfreulich, da es übereinstimmte mit
seiner eigne» Auffassung der „Toudichtkuust." Schumann trat mit seinem
günstigen Urteil über den von den Franzosen selbst erst jetzt beachteten und
gar zum Nationalheldeu erhobnen Berlioz damals aller Welt gegenüber.
Felis, dessen Aufsatz über Berlioz Schumann übersetzt, auch Jansen wieder
abgedruckt hat, ließ an dem jungen Neuerer kein gutes Haar. Auch Mendels¬
sohn urteilte sehr ungünstig über ihn und wollte nicht einmal seine Instru-
mentirung gelten lassen. Auf Schumann übte Berlioz trotz des vielen be¬
leidigenden und für ein deutsches Ohr ungewohnten in seiner Musik einen
unwiderstehlichen Reiz aus. Doch gesteht auch er: „Man weiß nicht, ob man
ihn ein Genie oder einen musikalischen Abenteurer nennen soll. Wie ein
Wetterstrahl leuchtet er, aber auch einen Schwefelgestank hinterläßt er; stellt
große Wahrheiten hin und füllt bald darauf in schülerhaftes Gelalle."
Junige Freude empfand Schumann an den Werken von Vennett, Stephen
Heller und Adolf Henselt, sehr schön spricht er auch über Field, Cramer und
Ludwig Berger. Gerechte Würdigung finden Moscheles und Hummel, Spohr,
Lachuer, Loewe und Hiller, Taubert, Dorn und Marschner, Gabe und Rietz.
Hoch über alle aber stellt er Mendelssohn, „die gebildetste Künstlernatur
unsrer Tage, in allen Gattungen gleich eigentümlich und meisterhaft wirkend.
Ihm gebührt die Palme unter den Zeitgenossen." Schon durch eine
Ouvertüre habe er sich unsterblich gemacht: „es wäre genug Ruhms an der
Sommeruachtstraumouvertürc, die andern könnten andre Komponistennamcn
tragen."
Auch bei Robert Franz und Joachim Raff erkannte Schumann nach den
ersten Werken, wie sie sich entwickeln würden. Von dem jungen Rubinstein
hat er nur noch eine kleine Komposition erwähnt, ehe er sich von der Zeit¬
schrift zurückzog. Aber l 853 ergriff er noch einmal das Wort, um der Welt
das Erscheinen von Johannes Brahms zu verkünden. Es war die letzte
große Freude seines Lebens, daß er diese Weissagung aussprechen konnte, deren
glänzende Erfüllung wir heute erleben. ,
Neben den Komponisten wird uns eine Reihe ausübender Künstler vor-
geführt, allen voran Clara Wieck, die unvergleichliche Künstlerin, der es in
einem an Freuden und Prüfungen reichen Leben noch zu sehen vergönnt
ist, wie sich der Ruhm und die Werke ihres Ganten über die ganze Welt ver¬
breitet haben.
Blicken wir aber auch auf die Kämpfe, die Schumann als Redakteur zu
führen hatte. Er stritt gegen die unkünstlerische Richtung, die nur auf äußer¬
liche Virtuosität ausging; er wehrte sich gegen die Charakterlosigkeit der All¬
gemeinen musikalischen Zeitung, die sich zur Schutzpatronin der Mittelmäßigkeit
gemacht hatte, die stets „am Vortrefflichen eine mangelhafte Seite herauszu¬
kehren und selbst das Stümperhafte nicht ohne Verdienst zu finden wußte."
Er meinte, das Zeitalter der gegenseitigen Komplimente gehe zu Grabe, und
er wolle zu seiner Belebung nichts beitragen. Indem er sich so von einer
unwahren Höflichkeit lossagte, sprach er denselben Gedanken ans wie Lessing
(Dramaturgie Se. 4l): „Wenn die Höflichkeit darin besteht, daß man einem
auch in solchen Stücken Recht giebt, wo er sich schämen müßte, Recht zu haben,
so weiß ich nicht, was beleidigender und einem freien Manne unanständiger
sein kann als diese verzweifelte Höflichkeit." Mit demselben Sinne für Wahr¬
heit übte er freilich bisweilen eine herbe Kritik; zornig loderte er auf, wenn
er die Würde der Kunst gefährdet sah. So sprach er sich gänzlich ablehnend
gegen die Hugenotten aus, und rückhaltlos verwarf er das Oratorium von
A. B. Marx. Gegen die Philisterhaftigkeit „lebloser, leichtsinniger und hand¬
werksmäßiger" Kompositionen ist er nicht müde geworden zu kämpfen.
In seinem tiefgegründeten Sinne für Wahrheit dachte aber Schumann stets
darauf, jede Einseitigkeit des Urteils zu vermeiden; darum ließ er so entgegen¬
gesetzte Charaktere wie Florestan und Eusebius sich über dieselbe Komposition
aussprechen. Dadurch kommt Leben und Farbe in die Kritiken, der Leser wird
zu innerlicher Beteiligung herangezogen, um Rede und Gegenrede selbst abzu¬
wägen. Übrigens versteht man Florestan und Eusebius erst recht, wenn man
sie auffaßt als die beiden großen Gegensätze aller Musik selbst, die sich zu
einem harmonischen Ganzen vereinen. Als solche rein musikalische Charaktere
werden sie uns erkennbar in der ersten und siebenten Novellette von Schumann
<!''-,!»>' und it-clur), wo die Hauptsätze rasch und feurig sind wie Florestan,
die Mittelsätze zart und singend wie Eusebius. Wir sinden sie auch ungesucht
bei Beethoven, denn das Adagio der ^is-moll-Sonate steht dem Finale gegen¬
über wie Eusebius dem Florestan. Ja jedes rechte zweite Thema eines Satzes
steht zu dem ersten in diesem Verhältnis; man denke nur an die Corivlan-
vnvcrtttre!
Was aber der Kritiker Schumann mit seiner musikalische» Seele empfunden
hatte, das stellte er auch herrlich dar in der Sprache des Dichters. In
treffenden Bildern giebt er den Eindruck dieser Kompositionen wieder. Nur
ein Beispiel. Nachdem er Mendelssohns Violinkonzert gehört hat, schreibt er
an ihn darüber: „Kritisiren nach dein ersten Hören eines solchen Stücks kann
ich nicht — aber mich ganz hingeben. Dann drängt sich mir wohl ein Bild
auf, und daß ichs nicht verschweige, welches es war, das einer Grazie, die
auf Augenblicke, wie sich selbst vergessend, von leidenschaftlichem Regungen
ergriffen wird, sodaß sie wie die Muse selber anzusehn ist; gleich malen möchte
ich es." Wohl versteht er es auch, ein Musikstück mechanisch zu zergliedern,
und dabei verschmäht er es nicht, den geringsten Unregelmäßigkeiten in seinem
Bau nachzuspüren. Doch hält er immer die für die höchste Kritik, „die durch
sich selbst einen Eindruck hinterläßt, dem gleich, den das anregende Original
hervorbringt. Das ist freilich leichter gesagt als gethan und würde einen nur
höhern Gegendichter verlangen." Er selbst war aber ein solcher Dichter,
und darum kann man feine Kritiken mit Genuß lesen, selbst ohne die besprochnen
Musikstücke zu kennen. Aber man wird höchst begierig gemacht, sie kennen zu
lernen, man möchte sich womöglich eine kleine Bibliothek anlegen von all den
Kompositionen, die in Schumanns Schriften genannt sind. Darum hat Jansen
mit Recht der neuen Ausgabe viele Notenbeispiele hinzugefügt, besonders aus
Werken, die nicht in jedem Notenschranke zu finden sind.
Schumanns Kritiken erschienen zuerst im Jean Parischen Gewände, aber
das legte er mit der Zeit ab. Sein Stil wird später ganz anders, er ge¬
winnt ein wahrhaft klassisches Gepräge, er ist anmutig, glänzend, ruhig,
klar und überzeugend. Man lese mir die in Wien geschriebne Vorrede
zum Jahrgange 1839, den Aufsatz über Schuberts <ü-aur-Symphonie oder die
goldnen Haus- und Lebensregeln. Daß sich ein Schriftsteller von unfreier
Nachahmung eines einflußreichen Vorbildes so zur Selbständigkeit erhebt,
dafür wird es wohl mir wenige Beispiele geben. Moltke gehört zu ihnen,
dessen erste Abhandlung (Holland und Belgien seit ihrer Trennung nnter
Philipp II.) ebenso gut von Schiller verfaßt sein könnte; aber schon seine
türkischen Briefe zeigen volle Selbständigkeit des Stils. Beiden gemein ist
auch ein reiches Gemüt und eine Fülle von Humor. Namentlich den Tadel
kleidet Schumann gern humoristisch ein. „Herz, mein Herz, warum so traurig?"
ruft er bei dem in der ernsten Tonart D-moll gehenden Klavierkonzert von
H.Herz, und weist dann nach, daß das ganze Werk aus Reminiscenzen zu¬
sammengeflickt ist. „Sogar eine Stelle ans Beethovens neunter Symphonie
kommt darin vor, die doch Herz gewiß nicht kennt." Von einer Sonate
eines andern sagt er, der letzte Satz würde neu sein, wenn es keinen letzten
aus der ?-mol1-Sonate von Beethoven gäbe; über eine Serenade von Tedesco:
„Wer kein Musiker ist, sollte nicht musiziren"; von Balfe: „Er ist ein wahrer
musikalischer Taugenichts." Welch ein Humor, wenn er einen Kantor vom
Lande in die Musikstadt kommen läßt: „man legt ihm Neustes vor, von nichts
will er wissen, endlich nimmt er eine Sonate mit, die erste von Chopin (ox. 35).
Zu Hause fällt er her über das Stück — aber schon nach der ersten Seite
wird er bei allen heiligen Musikgeistern darauf schwören, ob das ordent¬
licher Sonatenstil oder nicht vielmehr wahrhaft gottloser. Aber Chopin
befindet sich im Kantorat, und vielleicht wird in derselben Behausung einst ein
romantischerer Enkel die Sonate finden, spielen und für sich denken: der Mann
hatte doch so Unrecht nicht."
Mit großer Freimütigkeit behauptet Schumann seine selbständige Stellung
dem Publikum gegenüber. „In höchsten Dingen, sagt er, kommt es auf die
Meinung des Publikums gar nicht an. — Das Volk will so wenig als mög¬
lich nachdenken. — Die Mehrzahl ist nicht über die ersten Aufünge musika¬
lischer Bildung und Empfindung hinausgekommen. — O Drittel vom Publikum,
man sollte dich in eine Kanone laden, um das zweite der Philister tot zu
schießen."
Sehr anziehend ist es, zu beobachten, wie Schumann selbst in seinen
Tonschöpfungen befolgte, was er als Kritiker ausgesprochen hatte. Bor
allem hält er auf gesangvolle Führung der Hauptstimmen. „Kühne Melodien
mußt du finden!" Er lobt sinnige Rückblicke, und an den Dnrchfnhrnngs-
teilen und den Rückgängen zum Thema will er den Wert einer Komposition
messen. Wie schön hat er alle diese Anforderungen selbst erfüllt! Einmal
hatte er die Komponisten aufgemuntert, kurze Konzert-Allegros zu schreiben.
Er selbst schrieb deren drei, und als er das erste (in ^.-moll) nicht beim Ver¬
leger anbringen konnte, baute er es zu dem Klavierkonzert op. 54 aus.
Die neue Ausgabe ist von der Verlagshandlung aufs würdigste aus¬
gestattet worden. Höchst anerkennenswert sind auch die Bemühungen des
Herausgebers, durch ein genaues Inhaltsverzeichnis, durch Register über die
besprochnen Werke und die Personen uns schnell zurecht zu weisen. In dem
Register sind zuverlässige Angaben über Lebenszeit, Wohnort und Lebens¬
stellung der besprochnen Komponisten zu finden, die herbeizuschaffen für Jansen
gewiß keine geringe Arbeit gewesen ist. Die Vorrede über Schumanns Ent¬
wicklung als Schriftsteller bedarf keines Wortes, sie ist vor kurzem schon in
diesen Blättern gedruckt worden. Voll biographischer Gelehrsamkeit sind die aus¬
führlichen Anmerkungen am Schluß der Bände, wo Erläuterungen gegeben
werden über Schumanns Mitarbeiter an der Zeitschrift, über die Davids-
bündler die als ordentliche Mitarbeiter auf dem Titelblatt der Zeitschrift
unter den andern Namen angeführt wurden —, über seine Kämpfe mit Fink,
Varel und Schilling, über das Leipziger Musikleben. Auch über Schumanns
Verkehr mit Bennett und Henselt, über sein Leben in Dresden erfahren wir
viel neues aus Briefen und. Tagebüchern. Das Theaterbüchlein wird ergänzt
durch gelegentliche Äußerungen, die sich in dem Feuilleton der Zeitschrift über
die Opern des Tages vorfinden. Sie reichen bis zum Tannhäuser. Auch Be¬
sprechungen von Schumanns ersten Werken werden mitgeteilt, die in Rellstabs
Iris, in Gottfried Webers Ccieilia und im Wiener musikalischen Anzeiger er-
schienen waren. In Fußnoten giebt Jansen, was zum Verständnis des Textes
nötig ist.
Bei der Durchsicht des Textes hat Jansen die neue Zeitschrift verglichen
und nach dieser den Druck besorgt. Mancher Druckfehler, der aus der ersten
Ausgabe noch in die zweite und auch in die Neelamsche AuSgnbe übergegangen
war, ist dadurch beseitigt wurden. Mitunter mußte Jansen auch die Lesarten
der Zeitschrift verwerfen, weil offenbare Druckfehler oder auch kleine Irrtümer
in Zahlenangaben u. tgi. vorlagen; solche Unrichtigkeiten hat er verbessert,
und das ist gewiß kein Unrecht gegen Schumann, der selbst sagt, „die seligen
Meister müßten wohl manchmal lächeln, wenn von ihren Werken einige mit
allen den Fehlern hinüberklängen, wie sie Zeit und Gewohnheit, auch wohl
ängstliche Pietät habe stehen lassen." Bisweilen war der Herausgeber darauf
angewiesen, durch Vermutungen den vom Verfasser beabsichtigten Sinn herzu¬
stellen, um einen ohne Anstoß lesbaren Text geben zu können. ^"^) Ein andermal
hat Jansen dem Verständnis dadurch nachgeholfen, daß er die Wortstellung
leise geändert hat. Einmal ist Schumann in der Eile eine falsche Präposition
entschlüpft: II 145 abweichend mit; Jansen hat geändert: abweichend von.
Daß I 2Z8 worein mit worin vertauscht worden ist, ist wohl uur ein Druck¬
fehler. 1216 schreibt Schumann: „Es scheint mir, als ob sich der Komponist
noch zu sehr vor seinem Gedichte, als ob er ihm weh zu thun fürchte." Die
Stelle macht den Leser stutzig, der Herausgeber hat sie lesbar gemacht. Unklar
und einer Änderung bedürftig sind noch zwei Stellen; II MO müßten vier
Wörter (gewiß anch sehr günstig) gestrichen, II 3K5 zwei Wörter geändert
werden (mit Genuß in: gewiß) oder ausfallen.
In seiner lebensvollen Sprache ist Schumann nicht vor Provinzialismen
zurückgeschreckt; diese muß man doch wohl gelten lassen. Wenn Schu¬
mann in nnsprnchlos, Hochzeittag das Genetiv-s unterdrückt, so folgt
er darin Jean Paul, ebenso wie in der Auslassung des sogenannten Hilfs¬
zeitwortes. Wo Härten dadurch entsteh», hat es Jansen zuweilen eingesetzt
(1247: Grillparzers Bruder scheint ein Talent, das sich freilich noch aus dem
Rohen herauszuarbeiten !hats); es immer zu thun, hat er sich wohl nicht für
berechtigt gehalten.
Die Orthographie mag dem Herausgeber mauche unruhige Stunde ge-
kostet haben. Das Auge des heutigen Lesers ertrüge es nicht, seyn, Himmel-
farth, hohlen und die vielen überflüssigen Doppelvvkale zu sehn. Schumann
hat so geschrieben, und für seine Zeit war er unzweifelhaft im Recht. Wir
sind jetzt durch die halbe Reform der Orthographie in eine leidige Übergangs¬
zeit geraten, deshalb hat Jansen manche zweckmäßige Änderungen vorgenommen,
wenn er sie auch uicht mit gleichmäßiger Strenge durchgeführt hat. Er hat
wenigstens angestrebt, alles entschieden veraltete ans dem Text fern zu halten.
Jansen hat mit seiner gewissenhaften Arbeit alle Freunde Schumanns zu
herzlichem Danke verpflichtet. Möge nun auch die neue Ausgabe recht weite
Verbreitung finden!
ngefähr vier oder fünf Wochen waren vergangen. Die Hinter-
winkler hatten beim schönsten Wetter das schönste Hen gemacht,
und der Blesfeuvogt hatte dabei viel geflucht, weil er keinen
Ersatz für den Hannpeter bekommen hatte und darum das Dop¬
pelte hatte arbeiten müssen als sonst; aber die Arbeit war
zuletzt doch gethan worden.
Alles ging seinen ruhigen Gang wie jedes Jahr, man merkte in Hinter¬
winkel wenig davon, daß mitten im Vaterlande der blutige Krieg wütete. Die
Bauern berechneten, wieviel teurer sie den Hafer unter solchen Umständen
verkaufen würden, und freuten sich des Gewinns. Daß ihnen selbst keine Un¬
annehmlichkeit aus dem Krieg erwüchse, dafür sorgten ja die Soldaten.
Zwar liefen einige dunkle Gerüchte um, daß die Hannoveraner eine Schlacht
gegen die Preußen verloren und daß die Preußen in Böhmen sogar die Öster¬
reicher fast besiegt Hütten. Allein diesen Berichten glaubte man nicht, oder
man hielt sie wenigstens für sehr übertrieben. Einige Hinterwinkler Soldaten
hatten Briefe nach Hause geschickt, aus denen hervorging, daß die entscheidende
Schlacht noch gar nicht geschlagen sei, und daß Preußen auf alle Fülle unter¬
liegen müsse.
Verfchied»e Bauern wollten in der letzten Zeit wiederholt Kanonenschüsse
gehört haben; sie wurden aber ausgelacht. Man erklärte den Schall für fernes
Donnern, und nichts schien glaublicher in diesen Tagen des Juli.
Dann verbreiteten sich aber auf einmal sehr beängstigende Nachrichten.
Unsre Soldaten seien bereits über den Odenwald zurückgewichen, der Krieg
komme immer näher. Die Kanonenschüsse wurden deutlicher, manche Leute
machten sich daran, ihre Schätze zu vergraben, Schätze, wie man sie in Hinter¬
winkel besaß. Dabei ließ die Arbeit nach; mau stand vor der Ernte, es fehlte
nicht an Getreide, das schon reif war, aber niemand mochte Hand anlegen.
Keiner war aufgeregter als ich. Und dabei fühlte ich mich glücklich, oder
vielmehr, ich fühlte mich frei. All das Elend, das sich, durch eigue und fremde
Schuld, durch äußere Verhältnisse und innere Anlage veranlaßt, wie giftiger
Mehltau auf mein junges Lebensgefühl gelegt hatte, und das mich nicht
weniger zu verderben drohte, weil es vielleicht nur in meiner Einbildung be¬
stand, es zeigte sich plötzlich wie verflogen, aus dem einfachen Grunde, weil
ich nicht mehr dran dachte.
Ich lebte und webte statt dessen ganz in den großen Vorgängen der Zeit.
Zwar wußte ich wenig von ihnen, nicht mehr als das übrige Hinterwinkel,
und hatte von Einzelheiten des Krieges nicht die geringste Vorstellung. Umso
geschäftiger zeigte sich meine Phantasie, nach ihrer Art die Dinge zu sehen oder
vielmehr mir zu zeigen, im Wache» und im Träumen. Ich lebte den ganzen
Krieg im Geiste mit, ich dichtete ihn mir, groß, gewaltig, eine Epopöe mit
ungeheuerlichen Umrissen, nach Reminiscenzen ans dem Kaiser Octavian und
den vier Haimouskiuderu. Ich wurde ein Schlachtcudeuker in des Worts ver¬
wegenster Bedeutung. Meine Bilder und Vorstellungen, voll Blut und Rauch,
ließen an phantastischer Originalität nichts zu wünschen übrig.
Dabei zeigte ich mich auch sonst wie verwandelt, ich betrug mich gegen
jedermann lieb und freundlich wie in der frühern Kindheit. Alle gemütlichen
und geistigen Auswüchse der Flegeljahre schienen auf einmal überwunden. Nur
ein Wunsch blieb mir: das in der Phantasie vorgestellte einmal auch mit leib¬
haftigen Angen schauen zu dürfen.
Durch diesen Wunsch stand ich freilich wieder im Widerspruch mit ganz
Hinterwinkel, und hätte man meine Gedanken gewußt, so wäre ich sicherlich
dafür geprügelt worden. Aber ich konnte mir nicht helfen. Mochte der Krieg
ganz Hinterwinkel verheeren und Jammer und Elend mit sich bringen, wenn
ich ihn nur sehen durfte, den geheimnisvollen, unheimlich wilden Gesellen. Ich
war in meiner Jugend immer so. Wenn irgendwo ein Feuer ausbrach, gleich
wünschte ich, das ganze Dorf möchte davon ergriffen werden, um mich an dem
schrecklichen Schauspiel weiden zu können. Wenn sich bei Tauwetter, im
Februar oder März, der sonst so nüchterne Haselbach übernahm und die Gassen
von Hinterwinkel in eine einzige gelbe Pfütze verwandelte, daß die Bauer»
mit dem Vieh im Stall und den Sauerkrautkufen im Keller ihre Not hatten,
schmerzte mich nichts mehr, als daß zuletzt das Wasser wieder zu sinken be¬
gann. Die andern Buben des Dorfs zeigten sich, wie in so vielem, auch in
diesem Stück ganz anders. Sie verwiesen mir meine sündhaften Wünsche,
wenn ich sie vor ihnen laut werden ließ.
Diesmal nun ging mein Wunsch in Erfüllung, nicht auf Kosten der lieben
Hinterwinkler, aber fast auf meine eignen.
Eines Morgens früh saß ich droben auf der Schillingsbergcr Hohe — dem
kahlen Buckel gegenüber — am Saum des schönen Sindelwaldes: denn ich
hatte gerade gar nichts zu thun. Weder mit den Gänsen noch mit den Geißen
fuhr man um diese Zeit auf die Weide, und der Bater wußte mich auch nicht
zu beschäftigen, er blieb selber fast ohne jede Arbeit. Ich saß also am Wald¬
saum und träumte Schlachten.
Den Waldsaum entlang kam ein altes Weib auf mich zu, in dem ich
bald die Henne Strohmelker vom „kleinen Dörfle" erkannte.
Kleines Dörsle — so hieß das dem Dörrhof, wo meine Eltern wohnten,
entgegengesetzte Ende von Hinterwinkel, die Heimstätte der Allerärmsten, zum
Teil wirklicher Bettler und Gauner.
Die Hanne Strvhmelker war kein Bettelweib. Sie nahm es vielleicht
nicht zu genau mit dem Mein und Dein und hatte wohl schon mehr als
einen Krautkopf stibitzt, pflegte auch, wenn sie sich abends durch die Gemüse¬
gärten nach Hause schleppte und niemand in der Nähe gewahrte, bald da
bald dort eine Hand voll Bohnen oder eine gelbe Rübe mitzunehmen, was
ihr, wie sie meinte, sehr gut und den Bauern nicht wehe that; denn sie ver¬
teilte weise ihren Diebstahl unter soviel Eigentümer als möglich. Ihr Brot
im wörtlichen Sinn aber verdiente sie redlich mit Steinklopfer. Sie betrieb
dieses Geschäft Sommer und Winter, bei Frost und Hitze, bei Wind und
Regen, und da sie die Feldsteine klopfte, die die Bauern von ihren Ackern
weg auf die „Wüstungen" karrten, ans dieselben uncmgebauten Stellen, die
auch als Geißweiden dienten, so führte uns unser Beruf oft zusammen.
Die Hanne hatte auf mich von der ersten Kinderzeit an immer einen
unheimlichen Eindruck gemacht; nicht so wohl weil sie im Geruch einer Hexe
stand, als weil sie einer Hexe auf ein Haar ähnlich sah. Aus ihrem em-
gefallnen Gesicht ragte eine unerhört dünne und lange Nase hervor, an deren
Spitze immer ein brauner Tropfen hing, weil sie fleißig Tabak schnupfte.
Noch abschreckender aber wirkte auf mich ihre Kleidung. Diese bestand im
Sommer nur in einem groben Hemd und einem einzigen vielgeflickten Unter¬
rock. Das Hemd ließ die entfleischten Schulteru ganz bloß und verdeckte auch
die sonnverbrannte, welke Brust nur wenig. Aber auch der einzige Rock war
ihr hinderlich, wenn sie mit ausgestreckten, gespreizten Beinen dasaß und die
geklopften Steine vor sich häufte; sie schob ihn dann zurück, unbekümmert um
die sich dabei entblößenden Beine und Kniee. Dann bot sie einen entsetzlichen
Anblick für mich.
Und doch gestaltete sich mit der Zeit eine Art Freundschaft zwischen uns.
Ich sah, daß ihr meine Gesellschaft wohl that, und wollte nicht stolz gegen
sie scheinen. Deshalb gesellte ich mich manchmal zu ihr und horte ihre Klagen
an, ihre Auseinandersetzungen über soziale Ideen, über arm und reich, die
sie aller drei Worte mit dem Ausruf: „O du kreuzsterbender 5^)enand!" unter¬
brach. Man hat oft seltsame Freunde während seines Lebens.
Besonders weichherzig und weinerlich wurde die Rede der Hanne, wenn
sie das Gespräch auf ihren Cypria» lenkte. Sie hatte als junges Mädchen
in Nürnberg gedient und war mit diesem Chprian nach Hinterwinkel zurück¬
gekehrt. Sie sprach gern von ihm, wenn sie auch sehr dabei greinen mußte;
sie rühmte seine Schönheit und seinen Witz, gelegentlich auch seinen Vater,
einen blauen Reiteroffizier. Wenn ihr Chprian bei ihr wäre, meinte sie, so
ginge es ihr besser, dann wäre sie nicht wie eine Vogelscheuche jedem Wetter
ausgesetzt. Das bildete ihr ewiges Lied. Aber der Chprian hatte sast seit
zwanzig Jahren nichts von sich hören lassen. Beim Dorfschmied hatte er vier
Jahre lang in der Lehre gestanden, dann war er fortgezogen, und seine Mutter
hatte nichts wieder von ihm gehört.
Auch heute fing sie von ihrem Chprian an. Wo er uur sein mochte!
Gewiß lebe er noch; ihr Mutterherz sage ihrs täglich, das könne nicht lügen.
Am Ende sei er gar unter die Preußen gegangen und Soldat geworden. Das
sehe ihm ähnlich, das habe er von seinem Vater. Aber dann möchten sich
die schwäbischen Knollfinken, die Kraut- und Knöpflisschwaben vor ihm in
Acht nehmen.
Während diesen Reden der Hanne kam el» Fuhrwerk des Weges, des¬
selben Weges, der, ohne daß man ihn Straße nennen konnte, die Fahrverbin¬
dung nach Schillingsberg herstellte, das an der großen Landstraße lag. Es
war ein Leiterwagen, mit zwei Braunen bespannt, und als Fuhrmann erkannte
ich Jakob Schmitz von Lnngacker, genannt Schmitzenjockel, eine bekannte Persön¬
lichkeit. Er redete mich an, und ich hörte zu meiner größten Verwundrung,
daß der Schmitzenjockel in den Krieg ziehe, wirklich in den Krieg, weil er zu
Proviantfuhreu gedungen sei. Der alte Hauderer, selber ein ehemaliger Soldat,
las die Wirkung seiner Mitteilung in meinem Gesicht.
Wenn d' kein Schneider wärst, sagte er blinzelnd, würde ich sagen, du
solltest mitkommen, könntest was sehen und hören.
Die Anspielung auf den Schneider rührte mich nicht, ich fühlte mich im
Augenblick keineswegs als solchen. Ich erklärte dem Jockel, daß ich nichts
lieber thäte, wenn meine Eltern nur wüßten, wo ich bliebe, und sich nicht
ängstigten.
Die Hanne könne es ja meinen Eltern ausrichten, meinte Jockel. Wenn
sie meinem Vater sagte, daß ich beim Jakob Schmitz von Langacker sei, so
wisse er mich wohl aufgehoben und habe keine Angst um mich.
Die Henne erklärte sich bereit, die Botschaft zu übernehmen. Sie mache
sich daraus kein Gewissen, sagte siez ich würde meiner Mutter ja doch uicht
von der Schürze weglaufen; wenn ich nur einmal erst einen Flintenschuß hörte,
würde ich von selber umkehren und mich nach Hause schleichen, ich sei kein
Chpricm. Wo das auch herkommen solle bei einem Schneider! Dieser Hanne
Strohmelker mußte ich zeigen, daß sie sich in mir geirrt habe. Ich unter¬
drückte alle Bedenken und stieg unverweilt zu Jakob Schmitz auf den Wagen —
mit klopfendem Herzen.
In Schillingsberg stießen noch drei Fuhrwerke zu uns, und die Fahrt
ging von nun an rascher. Wir kamen in neue, mir noch fremde Gegenden,
durch unbekannte Dörfer und kleine, alte Landstädte, wo bald der altertüm¬
liche Bau eines Rathauses, bald die Kirche durch Größe und Schönheit, halv
ein lang heraushängender Löwe oder Engel, eine Sonne oder eine Rose, ein
wilder Mann oder drei Mohren in ehrwürdigen Rost oder in neustrahlender
Vergoldung meine Aufmerksamkeit auf sich lenkten und mein Erstaunen erregten.
In den Fuhrleuten dagegen erweckten diese Dinge etwas andres, näm¬
lich die Erinnerung an ihren Durst, wodurch die Fahrt dann immer eine Ver¬
zögerung erlitt. Der Schmitzenjockel war der Durstigste, er gab jedesmal zuerst
die Lösung aus. Er war auch ein Schalk. Ihr seid Narren, wiederholte er
bei jeder Einkehr, wir verlieren dnrch einen kurzen Aufenthalt gar nichts, und
durch einen langen ebensowenig; denn wenn die Preußen in ein paar Wochen
von Berlin bis in den Odenwald gelangt sind, brauchen wir uns Wohl nicht
groß anzustrengen, um mit ihnen zusammen zu stoßen, wir dürfen nur ein
wenig warten, und das thut man bei dieser Julihitze am besten im kühlen
Wirtshaus. Kommen wir dann nicht zum Kriegsschauplatz, so wird der
Kriegsschauplatz zu uns kommen, umgekehrt als bei dem falschen Propheten
Muhammed, der einem Berge befohlen hatte: Komme! und als der keine Lust
dazu zeigte, sich selber zu dem Berge auf den Weg machte, eingedenk des
Sprichworts, daß der Gescheitste nachgiebt. Für die Gescheitsten gelten wir
Schwaben um gerade nicht, aber vielleicht geben wir diesmal dennoch nach,
ausnahmsweise. Die andern, gute Patrioten, schimpften wegen solcher Reden;
aber die Einkehr machten sie jedesmal redlich mit.
Ich allein fühlte mehr Durst nach Kriegsschauplätzen als uach Bier und
Wein. Aber ich wurde nicht um meine Meinung gefragt und mußte wacker
mittrinken. Der Jockel besonders bot mir aller Augenblicke sein Glas. Daß
du Courage kriegst, sagte er lachend. Ich mochte wohl aussehn, als ob ich
ihrer nötig Hütte; auch war mir in der That nicht ganz wohl zu Mute. Wenn
ich an meine Mutter dachte und ihre Angst um mich und was der Vater zu
meinem Auf- und Davvngehn sagen würde, wäre ich am liebsten umgekehrt
und in einem Atem nach Hinterwinkel zurückgelaufen. Nur die Scham vor
den Fuhrleuten hielt mich davon ab, obwohl diese selber, den Jockel ausge¬
nommen, bedenkliche Gesichter zu meinem Abenteuer machten. Ja manchmal
schien nur, als ob sogar Schmitzcnjockel halb bereute, mich verführt zu haben,
und mir nur darum seinen Wein so reichlich gönnte, weil er das begangne
Unrecht einigermaßen gut machen wollte. In meiner kleinlauten Stimmung
sprach ich denn auch dein Vier und Wein eifrig zu, weit mehr als ich gewohnt
war, und wurde je länger je aufgeräumter. So vergaß ich uach und nach alle
Gewissensbisse, die mir bis dahin die Freude an meinem ersten größern Aus¬
flug in die Welt trotz der merkwürdigen Umstände dabei etwas vergällt hatten,
und sah den kommenden Dingen immer kühner entgegen.
In solcher Verfassung befand ich mich — es mochte ungefähr gegen sieben
Uhr abends sein —, als plötzlich die erste Kriegserscheinung vor uns auf¬
tauchte. Auf einer Querstraße sprengte sie an uns vorüber, in voller Karriere,
ein gelber Dragoner, mit Schweiß und Staub bedeckt, ans einem Gaul, der
weiße Schaumflvcken hinter sich warf.
Ich griff mir unwillkürlich an die Brust, das Herz drohte mir still zu
stehn, mein Atem stockte. Ich erwartete, daß es jeden Augenblick hinter den
Hügeln hervorbrechen würde, in farbigen Schwärmen, zu Roß und zu Fuß,
in kümpfender oder fliehender Wildheit.
Aber es geschah nichts; außer friedlich arbeitenden Landleuten zeigte sich
nichts Bewegliches in der fruchtbaren, gesegneten Hügellandschaft, die sich um
uns her ausbreitete. Die Bauern in den Dörfern nannten mehrere Orts¬
namen, wo wir unsre Württemberger finden würden; doch sprachen sie damit
nnr Vermutungen aus, etwas Sicheres wußten sie nicht.
Ich mußte aber immer über den jagenden Dragoner nachdenken. Was
der nur für eine Aufgabe haben mochte, so allein durch die Welt zu rasen!
Und wenn er nun dem Feind in die Hände fiel —
Wir fuhren auch die Nacht hindurch, und der Wem, der mich, im Bunde
mit der Kriegserwartung und den alten Fuhrmannsgeschichten des Schmitzcnjockel,
lange genug aufgeregt hatte, übte endlich die entgegengesetzte Wirkung: die
Augenlider wurden mir schwer, ich vermochte sie mit der größten Mühe nicht
mehr offen zu halten. Dann drohte ich von meinem Sitze herabzusinken und
wurde vom Jockel nnr gerade noch so aufgefangen. Ich fühlte mich noch
von ihm in den Wagenkorb zurückgelegt, zwischen Decken und Tücher, lind
mit dem nächsten Atemzug versank ich in tiefen Schlaf.
Beim Aufwachen verwunderte ich mich nicht wenig, als ich nicht ans
unsrer stillen Bodenkammer in meinem Bette lag, sondern in einem Wagen¬
korb, auf offner Straße, zwischen städtisch aneinander gereihten Häusern, ge¬
rade unter einer riesigen Laterne, die auf den ersten Blick mit einer ungeheuern
rostigen Kette am Himmel aufgehängt schien.
Doch leuchtete nicht die Laterne, sondern die flammende Julisonne, die
noch hoher am Himmel hing und schon seit lauger Zeit angezündet und auf¬
gezogen sein mochte. Ans der Straße wimmelte es von Soldaten.
Im Schlafe war ich, ohne zu wissen wie, mitten in den Krieg geraten, als
ob mich ein Wunschmantel hineingetragen hätte.
(Fortsetzung folgt)
Man muß es den beiden alten
Knaben, Büchner und Vogt, lassen, daß sie sich rechtschaffen Mühe geben, mit den
übrigen jungen Alten unsers Jahrhunderts Schritt zu halten. Ludwig Büchner
unternimmt, so viel wir wisse», «och Vortrngstournceu und hat voriges Jahr
wieder ein Erbauungsbuch für die reifere Jugend: Das goldne Zeitalter,
oder das Leben vor der Geschichte (Berlin. Allgemeiner Verein für deutsche
Litteratur) herausgegeben, worin er das Idyll des voreiszeitlichen Menschen an¬
mutig beschreibt und die Abschnitte seiner Entwicklungszeit sehr genau auf 78 000,
33 000 u. f. w. Jahre angiebt. Etwas Neues haben wir in seinem Buche nicht
gefunden, ausgenommen den Bericht über die musikalischen Affen. Die Schimpanse
sollen förmliche Konzerte aufführen, sie erzengen in größerer Gesellschaft Töne dnrch
Aufschlagen auf hohle Baumstämme und schreien dazu; da hätten wir also Chor¬
gesang mit Xylophoubegleituug. Karl Vogt wendet sich in seinem Buche: Die
Menschwerdung (Leipzig/Ernst Wiese. 1892) an die Gelehrten. Er sucht
darin alle Veränderungen in der Welt als die Ergebnisse eines Kreislaufs ab¬
wechselnder Verdichtung und Verdünnung der Weltsubstanz klar zu machen. Wenn
eine „Weltzonc," wie gegenwärtig die, der unser Sonnensystem angehört, Wärme
ausstrahlt, so befindet sie sich „als Trägerin emissiver Potentiale in der absteigenden
Phase des Kreisprozesses," ihre Körper sind in der Verdichtung begriffen und gehn
der Erstarrung entgegen. Ist der Endzustand eingetreten, dann empfängt diese
Zone wieder Wärme aus den benachbarten Zonen, ihre Körper werden wieder in
Gas aufgelöst, und die Entwicklung beginnt von neuem. Der jeweilige Zustand
des organischen Lebens auf den Planeten hängt von dem gleichzeitigen Zustande der
betreffenden Weltzone ab. „Jedesmal, wenn die Souue in den untern Teil ihrer
Bahn, in die höher gespannten Atherregionen eintritt, nehmen die sämtlichen physi¬
kalischen Prozesse an Intensität wieder zu. Es entstehen neue Arten, die den
physikalischen Konstellationen der neuen säkularen Entwicklungsperiode angepaßt sind,
während die alten nicht angepaßten zu Grunde gehen." Sehr schön und sehr klar!
Nun fehlt weiter nichts, als daß man ein paar Trillionen Jahre auf einem dem
Kreisprozesse entrückten ganz unparteiischen Sterne leben und von da die periodische
Weltwerdnug beobachten könnte, um zu sehn, ob und wieweit die Hypothese wahr
ist. Näher als der Anfang oder das Ende eines solchen Kreislaufs liegt uns die
eigne Seele. Deren Geheimnis verspricht uns Vogt zu enthüllen, denn nach dein
Titelblatt soll seine Untersuchung abschließen „mit der vollständigen Lösung des
Willensproblems, des Problems der juridischen Verantwortlichkeit und des theo¬
logischen Prinzips in der menschlichen Weiterentwicklung." Die „vollständige Lösung
des Willensprvblems" ist jedoch recht dürftig ausgefallen; sie beschränkt sich auf
die Beschreibung des Kampfes zwischen dem Hungergefühl und der Abneigung
gegen eine widerliche Speise in der Seele oder, vogtisch gesprochen, im Gehirn eines
Menschen. In Beziehung auf die Verantwortlichkeit ist anzuerkennen, daß Vogt
die thörichte Lehre Lombrosos vou der eingebornen Verbrechernatur zurückweist.
Er glaubt, daß durch die Zwangseinwirknng des Erziehers die Gehirnbahneu ebenso
in die richtige Lage gebracht werden können, wie die Finger des kleinen Kindes
beim Anfassen des Löffelstiels, und betrachtet die Strafjustiz als Volkserziehung,
die Strafen demnach als Abschreckung vom Bösen und Zwang zum Guten, wobei
die Wörter gut und böse das dem Gescllschaftskörper zuträgliche und schädliche
bezeichnen. Seine Teleologie endlich sucht zwischen Pessimismus und Optimismus
hindnrchlavirend zu dem Ideal der Freiheit, des absoluten Menschenrechts und der
uneingeschränkten Menschenwürde zu gelangen, wobei die gegenwärtige Lage der
Menschheit und die sozialen Aufgaben in einer von unsrer Auffassung nicht gar
weit nbweicheuden Weise beurteilt werden. Wie freilich die Freiheit verwirklicht
werden soll, wenn alles Handeln mit Notwendigkeit aus der teils angebornen,
teils durch Erziehungseinflüsse gebildeten Beschaffenheit des Gehirns hervorgeht,
wie die gerade im Besitze der Macht befindlichen dahin gebracht werden sollen,
daß sie nicht die Gesundheit des Gesellschaftskörpers fortwährend mit ihrem persön¬
lichen Wohlbefinden verwechseln, wenn es keinen Gott mehr giebt, dem sich alle
verantwortlich fühlen, und wie ohne das psychische Element der sittlichen Ideen
die Gchirnbahnenleitung jemals über das roheste Streben nach leiblichem Wohl¬
behagen hinausführen kann, darauf bleibt uns Vogt die Antwort schuldig.
Sind die Hypothesen des materialistischen Monismus bewiesene Ergebnisse
der exakten Wissenschaft, oder sind sie es nicht? Im ersten Falle wird man auf
die Verwendung religiöser Vorstellungen bei der Jugend- und Volkserziehung ver¬
zichten und aufhören müssen, über die Gottlosigkeit der Sozialdemokratie zu jammern.
Im zweiten Fall werden sich die Herren Professoren endlich einmal herablassen
müssen, dem Volke reinen Wein einzuschenken in Beziehung auf das, was in ana¬
tomischer, physiologischer, geologischer Beziehung feststeht und was nicht. Wir
wollen eine ganz bestimmte Frage stellen. Edward Aveling hat bei Dietz in
Stuttgart eine übrigens gar nicht üble Darstellung der Darwinischen Theorie
herausgegeben. Darm stellt er u. a. S. 129 ff. die Behauptung auf, der niedrigste
Mensch stehe in anatomischer Beziehung dem höchsten Affen näher als dem höchsten
Menschen. Ist das wahr, oder ist es nicht wahr? Wir glauben, daß sich diese
Frage mit absoluter Sicherheit und Genauigkeit beantworten läßt, und ist sie einmal
beantwortet, so muß die richtige Autwort in allen naturwissenschaftlichen Lehr¬
büchern stehn, so gut wie der Pythagoräer in allen Handbüchern der Planimetrie,
und falsche Angaben dürfen so wenig mehr geduldet werden, wie etwa das ?sr-
xstnnm modilv in einem Lehrbuche der Physik.")
Von den verschiedensten Seiten strengt man sich gegenwärtig
wieder einmal um, das Pferdefleisch Populär zu machen. Man führt den über¬
flüssigen Beweis, daß es genießbar und unschädlich sei, und erklärt es für eine
Lächerlichkeit, daß Leute, die ohne allen Widerwillen Schweinefleisch verzehren,
eines thörichten Vorurteils wegen das Fleisch des weit reinlichem Pferdes ver¬
schmähen. Wie das „Vorurteil" eutstmideu ist, wird von diesen Aposteln der
praktischen Nüchternheit nicht weiter untersucht. Da jedoch die Ursache zweifellos
auf dem sittlichen Gebiete liegt, und da wir allen Grund haben, auch die unschein¬
baren Keime eiuer sittlichen Weltanschauung zu achten und zu fördern, so lohnt
es sich wohl, eiuen Blick auf die Entstehung dieses eigentümlichen ungeschriebnen
Speiseverbvts zu werfen.
Mustern nur die wenigen Zeugnisse, die uns von der Einführung des Verbots
in Deutschland Kunde geben, so unterliegt es keinem Zweifel, daß es von den
christlichen Sendboten verbreitet wurde, zunächst, wie es scheint, im bewußten Gegen¬
satze zu den Pfcrdevpfern und Pferdeschmäusen der Germanen. So ist ein Erlaß des
Papstes Zacharias um Bonifatius erhalten, worin libri vt loxorvs ot oqni silvg-
tioi, außerdem einige Arten wilden Geflügels verboten werden. Daß dieser Erlaß
nicht sofort durchgriff, beweist eine Stelle ans einer Se. Galler Handschrift, die
uns belehrt, daß ums Jahr 1000 sogar Mouche uoch das Fleisch des Wildpferdes
genossen:
Lii loi^Il» e«M eam itulois in line. vruoe (!>>n»ti.
Aber veranlaßte den Papst wirklich nnr die Abneigung gegen den germanischen
Heidenbrauch zu seinem Verbote? Wie kommt es denn, daß er gleichzeitig anch
Hasen, Geflügel u. f. w. untersagte? Ans die christliche Lehre kann er sich ebenso
wenig berufen, denn das Christentum kennt ja im scharfen Gegensatz zum Judentum
keine Speiseverbvte. Es bleibt uur ein Ausweg- man empfand damals bereits in
Italien und in den römischen Kulturländern überhaupt jenen Widerwillen gegen
das Pferdefleisch, den auch wir jetzt größtenteils besitzen. Das Vorurteil gegen
den Hasen, das wir noch jetzt bei vielen Naturvölkern wiederfinden, ist nicht auf
Dentschland übertragen worden, im Gegenteil auch im Süden geschwunden, der
Abschen vor Pferdefleisch dagegen hat sich eingebürgert und an Kraft noch ge¬
wonnen.
Wir verstehen das, wenn wir bedenken, daß das Pferd nicht allein verschmäht
wird- der Hund, der in der Urzeit Europas eine willkommne Speise war und
noch jetzt bei den untersten Volksklassen nicht unbeliebt ist, wird ebenso gemieden.
Hier nun ist es jedem, der eiuen anhänglichen Hund besitzt oder besessen hat, leicht
möglich, sich den Grund der ganzen Abneigung zu vergegenwärtige»: der Gedanke,
seinen treuen Gefährten zu schlachten und zu verzehren, wird ihm als eine Art
sittliche» Frevels erscheinen — mit einem Worte, der Hund ist unser Freund ge¬
worden, dessen Zutraulichkeit wir erwidern, den wir aber nicht als Braten ans
unserm Tische sehen möchten. Damit habe» wir aber auch die Ursache des Pferde-
fleischvcrbvts gesunden.
Im Grnnde beruht diese Entwicklung ans derselben Vorstellung, die das Ver¬
schwinden des Kannibalismus begünstigt, auf deu viele Völker schon vor dem Ein¬
greifen der Europäer verzichtet haben. Menschenfleisch ist jedenfalls genießbar, und
es muß in den Angen eines Naturmenschen sehr unpraktisch erscheinen, daß wir
nach einer Schlacht oder nach einer Hinrichtung nicht wenigstens noch den mög¬
lichsten Nutzen von den Getöteten ziehen. Es ist zweifellos eine sittliche Ursache
— Mitleid vor allem —, die uns vor dem Kannibalismus zurückschrecken laßt;
aber äußerlich tritt diese Stimmung zunächst als Ekel zu Tage.
Daß wir gerade das Pferd aus der Reihe der Schlachttiere gestrichen haben,
hängt mit der Entwicklung unsers Volkslebens zusammen; das Pferd ist eben zum
besondern Liebling der arischen Kulturvölker geworden. Anderwärts tritt das Rind
an seine Stelle, so in Indien, China, selbst im alten Rom, wo das Töten eines
Pflugstiers, eines sooius llomliimn in rü8divo oxe-ro, wie Varro sagt, mit Ver¬
bannung bestraft wurde. Die brahmaistischen und buddhistischen Tötungsverbote,
die alle lebenden Wesen einschließen, wachsen aus derselben Wurzel, und so wenig
wir geneigt sein mögen, uns diesen Anschauungen anzuschließen, so kann uns doch
die statistische Notiz ein wenig zum nachdenke» anregen, daß unter den indischen
Eingebornen Verbrechen weit seltner vorkommen als unter uns.
Und das ist es ja auch, was die Beseitigung des „Vorurteils" gegen das
Pferdefleisch in einem bedenklichen Lichte erscheinen läßt. Alle sittlichen Gefühle
und Grundsätze hängen unter einander zusammen und stützen sich gegenseitig, und
es ist immer voreilig, vom bloßen Nützlichkeitsstandvnnkte über sie urteilen zu wollen.
In der Schonung des Pferdes haben wir deu Rest einer freundlichen Welt¬
anschauung bewahrt. Ob sich dieser Nest freilich halten lasten wird, ob er überhaupt
noch berechtigt ist, nachdem die Maschine das Pferd allenthalben zurückgedrängt
und seiner bevorzugten Stellung beraubt hat, das ist eine Frage für sich.
Dieser Tage ist uus eine „Novität" der Kunstindustrie zu
Gesichte gekommen, die nur noch mehr der Gesundheitspolizei als der ästhetischen
in aller Form zu denunziren wünschen: ein Briefpapier, das mit winzigen Figürchen
in allen Farben und Gold dicht besät ist. Welcher geistreiche Musterzeichuer diesen
Unsinn erfunden, und welcher „Papierkonfcktionär" ihn ausgeführt hat, wissen loir
nicht, wohl aber, daß dem Leser eines Briefes auf solchem Papier zu Mute wird,
als litte er an deu sogenannten wmxzlios voluuws im allerhöchsten Grade, und
ebenso laßt sich vermuten, daß die Briesschreiberiuueu — denn auf Damen ist das
Ding natürlich berechnet — den Zweck, sich die Augen gründlich zu verderben,
durch den Gebrauch dieses Papiers schnellstens erreichen werden. Man kann aller¬
dings sagen, das Publikum sei ja nicht gezwungen, ans jede Dummheit hineinzu-
fallen; aber so gut der Verkauf andrer Gifte überwacht wird, dürfte auch Schutz
gegen Augengift verlangt werden. Und wer in solchen Fällen über Bevormundung
klagt, der — würde ja dankbar dafür sein, wieder einen neuen Grund zum Klage»
zu erhalte». Unsrerseits benutzen wir die Gelegenheit, a»es über die immer häufigere
A»we»d»»g magerer, fadendünuer Schriftletter» z» klage», Wir habe» ohiiehi»
etwas nnter unsrer gothischen Druckschrift zu leiden, und in keinem Lande, wo man
sich der lateinischen Buchstabe» bedient, macht man diese so dünn und kritzlich,
während die Schriftgießer in Deutschlnud es zu Wege bringe», sogar Antiqua durch
Haarstriche weniger lesbar zu machen. Man vergleiche nnr einmal ein englisches
oder französisches kleingedrucktes Buch mit einem deutschen in lateinischen oder gar
in gothische» Lettern! Mit Recht erheben die Augenärzte stets muss neue ihre
Stimme gegen den schlechten Druck vo» Schulbücher»; »logen sie sich auch derer
annehmen, die ohnehin im Dienste der Wissenschaft ihren Auge» so viel zumuten
müssen und doch auch verurteilt sind, neue Bücher und Zeitungen zu lesen.
In Heft 22 d. I. veröffentlichten wir eine» Aufsatz vom
Rcichsgerichtsrat or. O. Btthr über die Reichstagswahlen. In Hest 2V gaben
Wir über dasselbe, für uns zunächst rein akademische Thema einem uns zugesandten
Aufsatz Raum, dessen Verfasser die Zweckmäßigkeit der Bährschen Borschläge be¬
stritt und andre Vorschläge machte. Dabei war ihm ein Mißverständnis unter-
gelaufen, das von uns übersehen wurde. Er hatte den Vorschlag Dr. Bahrs, daß
die Wähler nach ihrem Einkommen in verschiedne Klassen geteilt und die ab¬
gegebnen Stimmen verschieden gezahlt werden sollten, wobei als der Multiplikator
für die Stimmen aus den Klassen mit höherem Einkommen nicht mir die Zahlen
2, 3 u. s. w., sondern weit höher aufsteigende gedacht waren, dahin verstanden,
daß der Millionär vielleicht kaufende von Stimmen erhalten sollte. Diesen Ge¬
danken weist Herr Dr. Bahr in einer uns zugesandten Berichtigung als unsinnig
zurück, und er beruft sich dabei auf seinen auf Seite 388 stehenden, nicht berück¬
sichtigten Nachsatz! „Als selbstverständlich sehen wir es an, daß von einer gewissen
Höhe des Einkommens aufwärts keine Steigerung der Stimmberechtigung mehr
eintritt." Unter dieser Höhe des Einkommens hatte sich Herr Dr. Bähr, wie er
sagt, etwa ein Einkommen von 10 000 Mark gedacht.
Am Tiber. Novelle von Grazia Pierantoni-Mancini. Autorisirte Übersetzung
von Therese Hiipfner. Berlin, Georg Reimer, 1302.
Die vorliegende Novelle ans der italienischen Gesellschaft der Gegenwart ist
nicht ohne Feinheit und seelische Wahrheit, aber trüb und verstimmend, weil sie
wiederum die unerquickliche innere Auflösung einer Ehe darstellt, die von Haus aus
mit Resignation auf Seiten der Iran geschlossen worden ist, in deren weitern Verlauf
es aber an Resignation gebricht. Die Unvereinbarkeit eines nervösen Künstler¬
naturells mit der plumpen Tüchtigkeit eines erfolgreichen Strebers jüngster Gattung
ist mit lebendigem Anteil und guter Beobachtungsgabe geschildert; freilich muß sich
der arme Ingenieur Fulvins Terzani seinen in rastloser Arbeit erworbnen guten
Appetit als eine besonders schlimme und verletzende Eigenschaft anrechnen lassen.
Bemerkenswert und für Italiener rühmlich erscheint der strenge Maßstab, den die
geschilderte Gesellschaft ebenso wie die unglückliche Heldin selbst an die Tugend
und die innere Reinheit einer Verheirateteten Frau legen. Die Übersetzung scheint
sehr gut zu sein; ein Paar Jtalianismen, die allznwörtlich verdeutscht sind, wären
leicht zu beseitigen.
r ist eine im höchsten Grade verschieden beurteilte Persönlich¬
keit, dieser Dr. Emin. Man weiß nicht einmal recht: soll man
ihn Pascha, Exzellenz, Reichskommissar nennen; zuweilen möchte
um, fragen: ist er das noch, oder ist er es einst gewesen, oder
ist er es überhaupt nie gewesen? Wie seine äußere Stellung,
so verschwommen, so unklar, so dunkel erscheint sein Charakter, erscheinen seine
Absichten, seine Pläne, seine Fähigkeiten- Er ist ein afrikanisches Rätsel, eine
Sphinx, gleich dem rätselhaften Kontinent, in dem er so lange gehaust hat,
daß er sich nicht wieder von ihm zu trennen vermag, dem er seinen von ihm
selbst so genannten „fadenscheinigen" Ruhm verdankt. Undankbares Europa!
Wie zweifelhaft, wie unsicher, wie vergänglich ist die Berühmtheit, die du
denen verleihst, die sich unter der brennend heißen Tropensonne um die Aus¬
breitung deines Einflusses, deiner Kultur und deiner Macht abmühn! Tausend
Federn haben sich in tausend Zeitungen zu diesem gebrechlichen Machwerk von
Gegenwartsruhm zusammengethan, aber der große Forscher hat gar nicht nach
solchem Ruhm getrachtet, er hält sich schon dadurch für belohnt, daß er für
sein eifriges und gewissenhaftes Streben den bessern, den wahren Lohn in sich
selber findet. In Wirklichkeit wirst du, Europa, von Emin mit jenem schmä¬
lernden Beiwort seines Rufes kririsirt; er würdigt deine lahme Anerkennung
nicht, er spottet über deine seltsame Anmaßung, sein Wesen völlig zu verstehen,
wie das Land Afrika bis jetzt deiner allznhastigen Begierde gespottet hat, seiner
als Besitzer froh und als Kolonisator Herr zu werden. Was hat man nicht
alles von Dr. Emin Pascha gehofft und erwartet, und was hat man nicht
über ihn zusammengeredet, -gefabelt, -geschmäht! Emin, der Phantast, heißt
es, der Plänemacher, der Unzuverlässige und Wankelmütige, der Unberechen¬
bare, der Störenfried! Er will über Tabora in den fernen Westen ziehen,
und keine oder mir spärliche Nachrichten von ihm gelangen an die Küste des
Ozeans. Man wirft ihm vor, daß er nicht mehr und nicht breit genng über
die Bagatellen des Alltagslebens dienstlich Bericht erstattet. Man vergißt,
daß auch andre Reisende zuweilen in die dunkle Ferne untergetaucht sind, daß
sie sogar verschwanden und wieder gesucht werden mußten, und daß sie dann
auch ihrerseits, wie Emin jetzt, ohne die ersehnten Mitteilungen von dem Ver¬
laufe der Dinge in der übrigen Welt geblieben waren. Sollten sich die Zeiten
so geändert haben, daß man nun auch gegen die „Afrikaner" nach europäischer
Art schärfer und peinlicher geworden wäre, daß man seine Anforderungen in
jeder Hinsicht gesteigert und sich die schlechte Gewohnheit zugelegt hätte, zu
schelten, wenn diese in einem Lande, wo die Zeit noch keinen Preis, keinen
Geldwert hat, nicht alsbald mit europäischer Geschwindigkeit erfüllt werden?
Oder sollte die Verbindung mit der Politik auch dem Afrikaforscher das Leben
erschweren und verbittern? Jedenfalls können Gegner, Mißgünstige und Un¬
zufriedne die Kolonialpolitik auf keine leichtere und bequemere Weise schlecht-
machen, als wenn sie deren Träger um ihr sauer erworbnes Ausehen bringen.
Emin war, so sagte man, unterwegs nach seiner geliebten Äqnatorial-
provinz; er wollte, sagte« andre, sich in die von dem großen Stanley ent¬
deckten Waldestiefen zu irgend einem nur ihm selbst bekannten Zweck versenken;
er wollte vielleicht an die Westküste oder nach Kamerun, nur um anch seiner¬
seits, wie man meinte, der staunenden Welt das nicht mehr neue Kunststück einer
„Durchquerung" vorzumachen; er wollte— ja, das war eben das Schlimme,
daß niemand wußte, was Emin wollte, und daß man also annehmen zu müssen
glaubte, Emin wisse es selber nicht. Die einfachste und deshalb begreiflichste
Erklärung war, Emin habe freiwillig und auf eine seinem erkornen Namen („der
Getreue") wenig entsprechende ungetreue Manier seinen Abschied aus dem
strammen deutschen Dienst genommen, natürlich um sich in schnöder Gesinnung
den besser zahlenden Briten anzubieten. Man weiß jedoch nun aus den in der
letzten Zeit eingetroffnen Briefen und insbesondre aus dem im Junihefte von
Petermanns Mitteilungen erschienenen ausführlichen Berichte von Emins
wackerm Begleiter, Dr. Stuhlmann, daß man sich unnötig und übermäßig
aufgeregt und geängstigt hat.
Eine gewisse Freiheit des Handelns hatte sich Emin bei der Ausführung
der ihm im allgemeinen abgesteckten Ziele vorbehalten. Unmöglich konnte ihm
von vornherein in jenen so unvollständig erforschten nordwestlichen Gebieten
Deutschvstafrikas zwischen dein Viktoria Nhansa, dem Tanganika und den
andern westlichen Seen eine gebundne Marschroute vorgeschrieben werden. Es
ist mehr als zweifelhaft, ob der Reisende, als er sich ins Innere verlor, über
die so wie so nicht ganz klaren Grenzverhältnisse in jenen Landstrichen ge¬
nügend unterrichtet war. Sein ursprüngliches Vorhaben hatte er mehrmals
vorher bezeichnet. Er beabsichtigte, in Bukoba, dessen außerordentlich günstige
und wichtige Lage ihm von Dr. Karl Peters empfohlen worden war, eine
Station zu gründen, und er hat sich ein Verdienst erworben, indem er diese
Station allein Anschein nach in musterhafter Weise anlegte. Dann wollte er
das Karawanendurchzugsland Kciragwe womöglich dem deutschen Handel ge¬
winnen, ans jeden Fall aber dem deutschen Einflüsse sichern und endlich ein
von Europäern nie zuvor betretues, sagenumwobnes Land erschließen, Ruanda,
dessen kräftige Bewohner selbst die sogenannten Araber, was Emin in einem
seiner Briefe erwähnte, und was man mit Unrecht angezweifelt hat, bis jetzt
von ihren Grenzen fern zu halten gewußt habe». Das waren die ihm vor¬
schwebenden und mit aller Deutlichkeit vorher bezeichneten Ziele. Über das
dem Expeditionsführer durch die Stärke seiner Mannschaft auferlegte Maß von
Veschräukuug müssen die Meinungen notwendig verschieden ausfallen. Der
Vertreter des Reichskvmmisfars hielt seine Macht zur Errichtung und Be¬
setzung einiger größern Stationen für ausreichend; Wißmann selbst war der
Ansicht, daß Emin durch den geringen Umfang seiner Expedition in seinen
Bewegungen eingeengt sei. Nachdem nun Emin an der Grenze der Landschaft
Ruanda angekommen war, mußten sich alle die Schwierigkeiten, die einst auch
Stanley veranlaßt hatten, seitwärts auszuweichen, vor ihm auftürmen, mußte
wiederum die Wahrscheinlichkeit zu Tage treten, daß der gerade Weg durch
dies feindliche Gebiet nicht erzwungen werden könnte, sodaß sich der Versuch
einer Lösung der Aufgabe mit einer Umgehung der Hindernisse empfehlen
mochte. Als sich eben in diesem Zeitpunkte Gerüchte verbreiteten, daß
Emins ehemalige sudanesische Soldaten in der Nähe seien, lag wohl nichts
näher, als eine Rekognoszirung in nördlicher Richtung zu unternehmen,
wozu übrigens verschiedne Gründe raten konnten, nicht bloß der Wunsch,
eine den Eingebornen überlegne Truppe anzuwerben, sondern auch die Not¬
wendigkeit, die vielleicht von den Mahdisten und unter Umstünden auch von
den „Ägyptern" gefährdete Rnckzngslinie offen zu halten. Bekanntlich haben
es die Engländer unterdessen nicht verschmäht, die ehemals ägyptischen Sol¬
daten, die ein gänzlich unabhängiges Leben führten und zu der Regierung
des Khedive, nachdem sie Stanleys letzter Aufforderung zur Rückkehr, seinem
Ultimatum nicht nachgekommen waren, in keinerlei Beziehung standen, mit
offnen Armen aufzunehmen und gegen die widerspenstigen Waganda zu ver¬
wenden. Auch an Emins Karawane schlössen sich eine Anzahl Sudanesen an,
aber er scheint allerdings vergebens nach einer vorteilhaften Gelegenheit in
den Ländern am Albert-Eduard- und Albertsee ausgeschaut zu haben; er war
gezwungen, nach Süden umzukehren, ohne auf der West- und Nordwestseite
von Ruanda etwas wesentliches ausgerichtet zu haben. Auf alle Fälle hat
aber doch sein Zug den nicht verächtlichen Wert einer Nekognoszirungsfahrt,
durch die wir über die uns von den Mahdisten, Arabern und Eingebornen
drohenden Gefahren aufgeklärt worden sind.
Es Wäre also möglich, daß das so lange versperrte Ruanda nach wie vor
undurchdringlich bliebe, und daß sich auch fernerhin von Karagwe nach dem
Tanganika nur die eine Straße östlich von Ruanda durch das Flußgebiet des
in den Tanganika mündenden Malagarasi böte. Es scheint fast, als ob man
am besten thäte, gewisse afrikanische Landschaften bis auf weiteres sich selbst
zu überlassen und allmählich ringsherum zu isoliren, bis sie zur freiwilligen
Ergebung gezwungen sein werden. Emin ist jedoch bis jetzt nicht nach Vukoba
zurückgekehrt, und er hat es vielleicht vorgezogen, trotz des großen Übelstandes,
der in seiner immer zunehmenden Augenschwäche liegt, sich einen Weg zum
Nordende des Tanganika zu suchen, denn er besitzt, darüber ist kein Zweifel,
in hohem Maße die Kraft der Selbstüberwindung und die Energie, sich gegen
körperliches Leiden bis zum äußersten zu wehren. Was nun auch die weitern
Geschehnisse sein mögen, man hat zuviel Aufhebens davon gemacht, daß Emin
überhaupt über die nördliche Endlinie unsers Jnteressenkreises, den ersten süd¬
lichen Parallelkreis, hinausgegangen ist, und besonders, daß er stets seiner
Expedition die deutsche Flagge hat vorantragcn lassen. Welche schlimmen
internationalen Verwicklungen konnten denn die Folge sein? Thatsächlich
waren diese Landstriche noch von keiner europäischen Nation, auch den Eng¬
ländern nicht, in wirklichen Besitz genommen, und zwischen den Führern
zweier sich zufällig begegnenden Karawanen hätte eine Besprechung genügt,
um Feindseligkeiten zu verhüten und das wahrscheinlich größere Anrecht des
einen vor dem andern festzustellen. Emin konnte gar nicht anders, als seine
Flagge offen zeigen; er war auf diesem unbekannten und freien Gebiete in
einer ähnlichen Lage, wie der Kapitän eines Schiffs auf dem offnen Meere,
der gegebncnfalls auch seine Flagge zu zeigen verpflichtet ist. Kurz vorher
hatte er erst durch eine Vereinbarung mit dem englischen Beamten Gedge den
Zwang zur Flaggenführung für die Boote deutscher und englischer Nationalität
in den beiden Hälften des Viktoriasees festgesetzt, und bald darauf wurde die
Bedeutung der Flagge durch die Erlebnisse des Vizefeldwebels Kühne von der
Station Bukoba erwiesen, denn die Wasesse hielten Kühne bei seiner Landung
auf der Insel Sesse zuerst für einen Engländer und wollten ihn niedermachen,
begrüßten ihn aber freudig, nachdem sie die deutsche Flagge erkannt hatten.
Dazu kommt die Unbestimmtheit der Grenzen in den Gegenden westlich vom
Viktoria Nhcmsci, besonders um deu Albert-Eduard- und auch um den Albertsee,
wo sich deutsche, englische, kongostaatliche und in Zukunft möglicherweise auch
französische Ansprüche berühren. Emin konnte darüber im Zweifel sein,
wenigstens westlich vom dreißigsten Meridian, an dem der Kongvstaat theore¬
tisch, aber bis heute noch nicht thatsächlich seinen Anfang nimmt, wem gegen¬
über er sich etwa einer Grenzverletzung schuldig macheu und wofür er hier
eine Verantwortung auf sich laden könnte.
All den gegenteiligen Aussprüchen, all den Verdrehungen und Ver-
uuglimpfungen gegenüber, die das Beginnen Emins hat über sich ergehen
lassen müssen, scheuen wir uns nicht, offen eine abweichende Meinung auszu¬
sprechen, und wollen nun abwarten, wem die Zukunft Recht geben wird. Aber
wie auch die Beurteilung der Ereignisse schließlich ausfallen mag, Emins
Charakter und Intelligenz scheint uns durch nichts in ein schlechteres Licht
gerückt zu werden, und nichts nötigt zu der Annahme, daß etwa „nicht alles
gesund" in Emin Pascha gewesen sei, eilige Worte, die dem Reichskanzler
von Caprivi in einer Erwiderung auf eine feine kolonialfeindliche Äußerung
Herrn Ludwig Bambergers entschlüpften. Aber ganz abgesehen von dem Werte
oder der Wertlosigkeit des Abstechers nach Norden, den sich Emin mit einigem
Recht erlaubte, ohne daß damit zukünftige Grenzüberschreitungen, wenn hier
überhaupt eine stattgefunden hat, für entschuldigt ausgegeben werden sollen,
hat die Expedition verschiedne nicht unwichtige Ergebnisse gehabt. Bei dem
für uns Deutsche in mancher Hinsicht so ungünstigen englisch-deutschen Ab¬
kommen von 1890 wurde, Wohl auf Betrieb Stanleys, der auf seiner soge¬
nannten Emiubefreiungstour mit dem Bantustaat Aukori, zu dem der Staat
Mpöroro in einer Art Abhängigkeitsverhältnis stand, Verträge abgeschlossen
hatte, ein „Berg Mfumbiro," auch wenn er südlich von dem ersten Parallel¬
kreis südlicher Breite liegen sollte, den Engländern zugesprochen. Niemand
hatte bis dahin den Berg berührt oder bestiegen; er war nur von mehreren
Reisenden in weiter Ferne gesehen worden. Niemand konnte auch sagen, ob
er zu Mpöroro gehöre, ob der Name Mfumbiro irgend ein richtiger Name
sei, ob es nur ein Berg, ein Gebirge oder eine Bergkette sei. Wie viel oder
wie wenig Deutschland bei einer spätern Grenzrcgelung abzutreten hätte, wußte
niemand. Obwohl nun Emin und Stuhlmann den Berg Mfumbiro — denn
es ist uur ein Berg — ebenfalls nur aus einer gewissen Entfernung zu Ge¬
sichte bekommen haben, so konnten doch ziemlich ausführliche Nachrichten über
den Berg selbst und seine Umgebung eingezogen werden. Darnach bedeutet
Mfumbiro soviel wie Koch, und die Waganda und die Leute von Karagwe
nennen so den östlichsten und ersten Kegelberg in einer Reihe vou sechs Vul¬
kanen, von denen einer, der westlichste oder sechste, noch heute thätig sein soll.
Nach Stuhlmnnns Peilungen liegen diese Vulkane zwischen 1° 20' und t» 30'
südlicher Breite, sodaß also das englische Gebiet vielleicht der Länge nach
zwischen siebenunddreißig und fünfundfünfzig Kilometer in das deutsche ein-
schritte, wenn nicht der Kongostaat bessere Rechte als Großbritannien geltend zu
machen haben sollte, da nach Stuhlmanu sämtliche sechs Vulkane wahrscheinlich
im Westen jenseits des 30. Grades östlicher Länge liegen. Niemand hat bei
Abschluß des englisch-deutschen Abkommens an diese Möglichkeit gedacht, sodaß
sich späterhin unter Umständen eine mehr oder weniger internationale Ab¬
machung als erforderlich herausstellen konnte, wobei in Bezug auf deu Kongo¬
staat die Frage, ob die fließenden Gewässer in diesen Gegenden zum Nil oder
zum Kongo gehören, ein Wort mitzusprechei? hätte. Die ersten fünf Berge
gehören zu Mpororo, dessen übrigens ganz machtlose „Königin" mit dem
„größten Teil" ihres Gebiets ihrem nördlichen Nachbarstaat Ankvri tribut¬
pflichtig ist; der Name Mpürvro kann mithin keinen stichhaltigen Grund für
eine Ausdehnung des britischen Interesses abgeben. Der sechste Berg aber
gehört schon zu Ruanda, einer sicherlich vollständig deutschen oder höchstens
und zu einem kleinen Teile kongostaatlichen Landschaft. Nach dem Abkommen
von 1890 sollte die englisch-deutsche Grenzlinie, nachdem sie den Mfumbiro-
berg umgangen hätte, wieder zu dem vorher bezeichneten Endpunkte zurück¬
kehren, also zu einem Punkte, nämlich dem, wo das deutsche Gebiet und das
des Kongostaats am ersten Parallelkreis südlicher Breite auf einander treffen
würden. Demnach sollten sich am ersten Parallelkreis die beiden genannten
Staaten berühren. Es kommt auch in Betracht, daß Deutschland, als der
erste am Platze, gerade in diesem Winkel zuerst seine Flagge aufgerollt hat
und damit den ihm gebührenden südlichen Besitz ebenso thatsächlich über¬
nommen hat, wie etwa Kapitän Lugard den nördlichen Anteil durch seine
im Auftrage der britisch-ostafrikanischen Gesellschaft ausgeführten Durchzüge.
Stanley hatte seinerzeit seine Forderungen auf seinen schnellen Marsch durch
Ankori gestützt. Was ulltzeu uns alle schönen Auseinandersetzungen über
die Notwendigkeit, die deutsche Kolonialpolitik immer noch unter dem Ge¬
sichtspunkte der „Konquistci" zu betrachten, wenn sie nicht in der Praxis an¬
gewendet werden? Hier, wo sich einmal eine Stelle mit streitigein Besitzrecht
findet, haben wir das unleugbare Recht des ersten Ankömmlings und des
damit so ixso zugreifenden für uns; die deutsche Regierung hat die Expedition
Emins auf ihre Kosten zur Wahrung ihrer Interessen und ihres Nutzens aus¬
gerüstet und abgeschickt.
Auch die Expedition Emins und Stuhlmauns hat wieder gezeigt, daß
das deutsche Nordwestafrika ein wertvoller Teil unsers ostafrikanischen Gesamt¬
besitzes zu werden verspricht. In einer fernern Zukunft wird sich diese weide-,
Wald- und wasserreiche, abwechselnd gebirgige und ebne Gegend unter Auf¬
sicht europäischer Leiter durch deu Anbau und die Viehzucht der Eingebornen
ausnutzen lassen. Eine nähere Bedeutung kommt ihr für den Handel zu, der
hier von jeher einen seiner Sitze aufgeschlagen hatte; Karagwe hat zwischen
den Negerstümmen immer eine Vermittlerrolle, die Rolle eines Zwischenhändlers
gespielt. Emin schlug deshalb vor, daß die deutsch-ostafrikanische Gesellschaft
in Bukoba eine Faktorei begründen möchte. Stuhlmaun bemerkt, daß der
Kagernfluß, vielleicht der am weitsten nach Süden reichende Nilquellfluß, nach
der Aussage der Eingebornen der Schiffahrt von Kevinjo, 1" lZ' südlicher
Breite, bis zum Nhansa keine Hemmnisse bereiten solle. Wenn der Kara¬
wanen- und Tauschhandel in diesen Gegenden jetzt darniederliegt, so muß man
die Heimsuchungen und die Unsicherheit bedenken, die die Raubzüge der Araber
von dem Kongostaat, von Nyangwe und Manyema aus, sowie die der Mah-
disten und Ägypter von dem sozusagen englischen Obernil aus über sie ge¬
bracht haben. Die einst von Emin nördlich vom Albertsee und am Albertsee
selbst mühsam geschaffne, zwar gewiß nur an der Oberfläche haftende, aber
doch immerhin wirksame Kultur ist völlig wieder zu Grunde gegangen und
mit Stumpf und Stiel ausgerottet, wie es in einem durch langjährige Krieg¬
führung verheerten europäische» Lande auch geschehen würde. Die Pflichten
der Kolonialmächte, solchen Mißständen abzuhelfen, bestehen nicht bloß ein¬
seitig für uns Deutsche, sondern gegenseitig für alle zusammen. Übrigens
scheint der deutsche Anteil bis jetzt am wenigsten unmittelbar betroffen worden
zu sein, aber er hat doch eine Verwüstung seiner Grenzen und eine Unter¬
bindung seiner Verkehrsadern erfahren. Eine besondre Bedeutung beansprucht
der Nordwesten Dentschostafrikas für den Elfenbeinhandel. Emin hörte von
Herden dieser leider dem unvermeidlichen Untergang geweihten Jagdtiere und
beabsichtigte, den Gewinn aus dem Elfenbein, der begehrtesten und einträg¬
lichsten afrikanischen Ware, zum Teil in deutsche Hände überzuführen, um ihn
nicht gänzlich in den Taschen andrer verschwinden zu sehn. Er hatte bei dem
Bestreben, die Kolonie sich durch sich selbst bezahlt zu machen, immer dem
Elfenbein eine hervorragende Stelle zugedacht; die geeignetste Straße für den
Abfluß des Elfenbeins geht aber über Tabora nach Bagamoho. Was
demi Schotten Stokes gelungen ist, kann doch deutschen Kaufleuten nicht
unmöglich sein. Nicht dem Plantagenbau kann vorderhand die meiste Berück¬
sichtigung zu teil werden, sondern, sei es auf Betrieb der Negierung oder
Privater Unternehmer, dem Handel, dem Karawanenhandel und der Anlage
von Handelsfaktoreien.
Wenn die Kolvniefrennde die vielen Vorschläge über die Fortsetzung unsrer
Kolonialpolitik in Büchern, in Zeitschriften, in Zeitungen mustern, wenn sie
die Koloniedebatten lesen und die Maßnahmen der Negierung und Verwaltung
Prüfen, immer wieder werden sich ihre Blicke ans das wegweisende und ma߬
gebende Programm zurückrichten, das Emin in einem Briefe aus Tabora vom
18. August 1890 aufstellte, das sofort vielseitige Anerkennung fand und nie
wieder außer acht gelassen werden darf. Emins Kolonialprogramm allein
genügt, seine außerordentliche Einsicht und seine prophetische Voraussicht zu
zeigen. Man muß dieses Programm vergessen oder vergessen wollen, um sich
zu der lächerlichen Behauptung hinreißen zu lassen, daß der erfahrene Forscher
nicht gewußt habe, was er wollte. Wenn man die Anweisungen der Verwal¬
tung vou Deutschostafrika an die Untergebnen, an die Chefs der Stationen
und Expeditionen verfolgt, so findet man, daß sie immer wieder und selbst
unwillkürlich in die von jenem Programm vorgezeichneten Bahnen zurücklenken,
wenn sie überhaupt jemals abgewichen waren. Welches waren aber die Haupt¬
punkte des Programms?
Zunächst ist unser afrikanischer Besitz als Grundbesitz für Deutsche kaum
verwertbar, und man muß deshalb, wie Emin meint, „seine Hinterländer als
Prvdultivnszentren und unsre eigne Stellung als Handelsvermittler in Betracht
ziehen." Die Förderung des Handels, und zwar nicht bloß des Küsten-, son¬
dern auch des Binnenhandels, muß also unser erstes Ziel sein, und zwar in
der Absicht, die Einnahmen zu erhöhen, damit die Ausgaben gedeckt werden. Be¬
dingungen des Erfolges sind friedliches und schonendes Verhalten gegen die Araber
und die Eingebornen, Rücksicht ans religiöse und andre Vorurteile, Unter¬
drückung nicht der Sklaverei, sondern des Sklavenhandels und der Grausam¬
keiten gegen Sklaven. Sodann ist eine angemeßne Organisation nötig:
Schaffung eines festen Stützpunkts für die deutsche Macht im Innern; Heran¬
ziehung der Eingebornen zu Militär-, Polizei-, Handels-, Bebauungs-, Ve-
stencrungszwecken; Aufschließung der Seengebiete, deren natürliche Abflu߬
straße nach Sansibar gerichtet ist; Dreiteilung der ganzen Gebiete, „da ihre
Verwaltung von der Küste aus schon der Entfernung wegen illusorisch wird."
Emin hatte selbstverständlich sür sich das nördliche Secugebiet ins Auge ge¬
faßt, mit einer Hauptstation im Norden (nämlich Bukvba) und „Tabora als
Durchgangsplatz."
Es lohnt sich, diese Punkte wieder hervorzuheben und sie im Lichte der
Ereignisse und Erfahrungen seit 1890 zu betrachten. Die eifrige Pflege der
Handelsbeziehungen nach der herkömmlichen Verkehrsweise, also auch ohne Be¬
schaffung moderner Verkehrsmittel, so wünschenswert sie natürlich sind, ist
hinter andres mehr als billig zurückgetreten und erscheint doch nach wie vor
dringend geboten. Die Vermeidung einer frucht- und ziellosen Zersplitterung
der Geld- und Menschenkräfte ist die Hauptsache. Selbst was private Kreise
an Geld zusammenbringen, sollte in einheitlichem Sinne Verwendung finden.
Bei aller Anerkennung des Zwecks ist es z. B. zu früh, Denkmäler zu setzen,
dafür wird schon die Zukunft sorgen. Alle Unternehmungen müssen räumlich
und zeitlich konzentrirt sein, räumlich nicht zu weit auseinandergehen und zeit¬
lich möglichst dicht aufeinanderfolgen. Gerade der große Umfang unsers ost¬
afrikanischen Gebiets im Vergleich zu dem nachbarlichen portugiesischen und
britischen, seine Ausdehnung bis an alle drei großen Seen hinan, wo wir,
wie Wißmann treffend bemerkte, gewissermaßen eine zweite Küste besitzen, birgt
in sich die Versuchung zu einem alles umfassenden Zuviel des Guten und die
Gefahr eines zu schwachen Nachdrucks nach bestimmten einzelnen Richtungen.
Um diesen Schwierigkeiten zu entgehen, hat man bald eine sogenannte intensive,
bald eine extensive Kolonialpolitik empfohlen, bald zur Beschränkung auf das
Küstenland, bald zur zerstreuten Besetzung des Hinterlandes geraten; aber man
hat in dem einen wie in dem andern Falle nur allmählich — dies Wort kehrt
in den Erörterungen immer wieder — ans größere Erfolge gerechnet, da man
beidemal« das ferne Ziel einer vollen Unterwerfung des Gesamtgebiets vor
Augen gehabt but. Der Mittelweg, der beide Richtungen der Politik vereint,
und die schnellste und bequemste Methode werden von Emin angedeutet, wen»
er nachdrücklich die Wichtigkeit eines einzelnen Stützpunktes im Innern betont.
Natürlich wird die Einwirkung der Verwaltung und Besiedlung in dem
einen Drittel des Ganzen, nämlich in der nächst der Küste und an den
zum innern Plateau aufsteigenden Terrassen gelegnen Gegend, als der am
leichtesten erreichbaren, die intensivste sein und sein müssen. Aber wie sich
schon in dem Küstenstrich ein Teil schneller hebt und vor dem deutschen Regi-
mente unterwürfiger und schmiegsamer zeigt als der andre, und zwar der
nördliche durch die Endpunkte Mpagwa und Bagamoyo angedeutete mehr, als
der dem Nhassa zugekehrte, so auch im innern Hochlande: der Norden ver¬
dient, wenigstens gegenwärtig, den Vorrang vor dem großen Süden. Die
Völkerschaften des Nordens sind für die Wohlthaten der europäischen Kultur
und die guten Absichten der Kolonisatoren empfänglicher und leichter zugäng¬
lich als die des Südens. Mitten dnrch den Norden führt die belebte alte
Hauptverkehrsstraße mit den drei innern Endpunkten: Muansa oder Kngehi
und Bnkoba oder Kafurro am Viktvriasee und Udschidschi am Tangnnikasee;
sie wird sich bei der in Afrika so mächtigen Tradition vou keiner andern
Straße den Vorsprung abgewinnen lassen. Von den drei großen Seen ist der
Viktoriasee, wie Wißmann in seinem Vortrage in Bamberg am 2. Juli 1«91
erklärte, für den Handel der wichtigste. Er ist der einzige See, an dem wir auch
einen beträchtlichen Abschnitt des Westufers unser eigen nennen. Die hier
nach Emins Plan dauernd festzuhaltende Hauptstation ist in der gleichen
günstigen Lage wie die Hafenplätze der Meeresküste, indem sie auf der einen
Seite durch die Seefläche, eine natürliche Rückzugsbahn und Zufluchtsstätte,
wie die Geschichte Ugandas zeigt, gedeckt ist; die Küstenstädte erfreuen sich der
Unterstützung durch die das Meer beherrschende Kriegsflotte. Der Norden ist
ferner der am besten bekannte Teil Deutschostafrikas. Ein allmähliches Bor¬
schreiten von der Küste nach dem Innern heißt nicht soviel wie überall gleich¬
mäßig vorwärtsgehen; wir müsse» uns die freie Bestimmung über die beste
Zeit, wann wir uns mit den Wahehe und andern kriegerischen Stämmen ein¬
lassen wollen, vorbehalten, solange wir nicht gegen unsern Willen zu einer
andern Haltung schlechterdings genötigt sind. Weil das nördliche Drittel
unsers Gebiets schneller entwicklungsfähig ist, mußte es Emin als eine harte
Zurücksetzung empfinden, daß man ihm dafür das ihm gleichgiltige, unsympa¬
thische und fremde Südland aufhalsen wollte; er konnte seine Aufgabe nur dann
mit Liebe und Freude anfassen, wenn ihm ein ähnliches Feld seiner Wirksam¬
keit vorbehalten blieb, wie er es an: Bahr el Gebet in Lato und Wadelai
gehabt hatte. Wenn es Wißmann gelingen sollte, seinen Dampfer über den
Sambesi und Schire ins Innere zu bringen, so wird er sich nur dann eines
vollen Erfolgs rühmen können, wenn er ihn, wie er ja beabsichtigt, vom
Nyassa weiter bis zum Tanganika schafft, denn nur um Tanganika befindet
sich ein Punkt, wo der Hebel angesetzt werden kann, um das Gedeihen der
Kolonie zu beschleunigen, und dieser Punkt ist Udschidschi, die eine Spitze des
Dreiecks, an dessen Basis Udschidschi und Tnbvra liegen, dessen Scheitelpunkt
Bukoba ist.
Das Programm EminS, dessen Vorzüge ans der Übereinstimmung mit
den von der Natur gegebnen Bedingungen beruhen, ist auch jetzt noch die ein¬
zige Grundlage einer aussichtsvvllen und erfolgreichen Kolonialpolitik. Mög¬
lich, daß bei einer noch genauern Befolgung seiner Vorschriften die bedauer¬
lichen militärischen Schlappen, die unsre ostafrikanische Schutztruppe in der
letzten Zeit erlitten hat, vermieden worden wären, aber auch diese Mißerfolge,
sind wir überzeugt, können an dem Gange unsrer kolonialen Entwicklung ebenso
wenig andern, wie an dem über Deutschvstafrikci zu füllenden Gesamtnrteil,
Auch die Engländer, Franzosen und Italiener sind nicht von solchen schlimmen
Erfahrungen verschont geblieben; wir können über diesen Schlappen doch nicht
die vorhandnen Ansätze zu größerer Befestigung unsrer koloniale» Macht in
Afrika verkennen. Solche verheißungsvolle Ansätze sind die geregeltere Ver¬
waltung, die allmählich sich vollziehende sanberere Scheidung von militärischer
und Verwaltungswirksamkeit, die Fürsorge für die Stationen und ihr offen¬
bares Aufblühen, die Ankunft Baumanns am Ostufer und Fischers am Süd¬
ufer des Viktoriasees, das Vordringen der Dampferexpeditionen. Das alles
bezeugt ein energisches Draufgehen auf die bestimmten Ziele und dient mittel-
oder unmittelbar zur Erfüllung der Prvgrammfvrderungen Emins. Wenn
wir die Ergebnisse britischer Arbeit in Britischostafrika mit denen deutscher Ar¬
beit in Deutschostafrika vergleichen, so sehen wir, daß die Engländer auch nicht
weiter sind als wir, und doch sind sie dabei insofern im Vorteil gewesen, als
ihr Programm einfacher und selbstverständlicher war. Sie sind die glücklichen
Besitzer von Sansibar, das sich des Glanzes seines ererbten Monopols erfreut;
sie können nicht anders, als von Mombas in der einzigen gegebnen Richtung,
nämlich auf den Viktoriasee, vorzudringen suchen, wo dann der Mittelpunkt
ihrer Wünsche, das gesegnete Land Uganda ist, dessen Üppigkeit jedoch nach
neuern Berichten von Stanley und andern übertrieben worden sein soll. So¬
lange nicht die Eröffnung der Nilstraße in Frage kommt, was gute Weile
haben wird, sind hier arge Fehlgriffe fast unmöglich, nur daß es nicht leicht
sein dürfte. Uganda und Unjorv im Zaum zu halten. Für uns Deutsche aber,
denen in Ostafrika ein viel ausgedehnteres Feld zur Arbeit zugewiesen ist, war
die Ausarbeitung eines festen und brauchbaren Programms eine größere Not¬
wendigkeit und zugleich eine größere Schwierigkeit; die Grundlagen dieses Pro¬
gramms hat Emin geschaffen, das ist sein bleibendes Verdienst, das ihm nie¬
mand streitig machen kann.
in M. März kam die Frage zur Verhandlung im Abgeordneten-
hause. Zunächst erklärte der Abgeordnete Hartmann im Namen
der großen Mehrzahl der Konservativen sich für „Übergang
zur Tagesordnung," sie seien grundsätzlich der Ansicht, daß die
Frau in das Haus und in die Familie gehöre und dort
ihren Wirkungskreis finden müsse; lasse mau die Frauen zum ärztlichen
Studium zu, so sei zu fürchten, daß dies schließlich zu einer allgemeinen
Emanzipation der Frauen, also zu einem nationalen Unglück führen werde.
Anders äußerte sich der uativualliberale Abgeordnete Seyffardt. Es sei
hier nicht die Rede davon, die Frau dem Hause und der Familie zu entziehen;
man wolle nur dem in zahlreichen Kreisen der gebildeten Frauenwelt hervor¬
tretenden Bedürfnis nach erweiterter Gelegenheit zur Bethätigung ihrer Ar¬
beitskraft entsprechen. Es sei sehr erfreulich, daß zum erstenmal ein preußischer
Minister an die Universitäten die Bitte gerichtet habe, sich über die Zulassung
der Frauen zum Studium zu äußern, und daß endlich das, was fast alle
andern Kulturstaaten bereits in Angriff genommen und zum Teil durchgeführt
hätten, auch in Deutschland und in Preußen nicht mehr als schlechterdings
ungehörig bezeichnet werden dürfe. Der Kommissar habe sich zwar vorsichtig
verhalten, aber doch mit aller Bestimmtheit ausgesprochen, daß das ärztliche
Studium deu Frauen nicht länger ganz entzogen werden dürfe. Die Gewerbe¬
ordnung gewähre deu Frauen die Zulassung zur ärztlichen Praxis, aber man
müsse ihnen auch die Möglichkeit gewähren, sich in Deutschland selbst für die
ärztliche Praxis vorzubereiten. Die Kommission wolle in keiner Weise einen
bestimmten Weg vorschreiben; sie habe nur das im Augenblick einzig mögliche
Auskunftsmittel der Zulassung zur Abiturieuteuprüfuug vorgeschlagen, glaube
sogar, daß ein andrer Weg aus manchen Gründen richtiger sei. Hoffentlich
werde es das Abgeordnetenhaus für eine Ehrensache halten, in diesem Punkte
der Frauenfrage nicht eine absolut abwehrende Stellung einzunehmen, sondern
sich dem durchaus maßvollen Vorschlage der Kommission anschließen.
Ein Redner gegen den Antrag hatte sich nicht gemeldet, und der Ab¬
geordnete Nickert konnte also in dessen Befürwortung fortfahren, und er that
das mit großer Lebhaftigkeit und Entschiedenheit. Es sei ein Mißbrauch der Ge¬
walt, wenn die Herren der Schöpfung, die zu gleicher Zeit Herren der Gesetz¬
gebung seien, die größere Hälfte der Menschheit von allen den Wohlthaten
ausschlossen, auf die jeder Mensch ein Recht habe, nämlich die Kräfte, die
Gott ihm gegeben, auch auszubilden. Es sei Thatsache, daß eine sehr große
Zahl der Frauen nicht heiraten könne; also müsse man ihnen die Möglichkeit
gewähren, ihre Erwerbsthätigkeit zu erweitern. Fehle den Frauen zum medi¬
zinische» Studium die nötige Vorbildung, so überlasse man das (was?) denen,
die die Frauen prüfen solle»; woher die Frauen ihre Vorbildung erhielten,
sei ihre Sache. In Baden habe die Regierung bereits dahin entschieden, daß
wenigstens in Freiburg die Frauen zum Universitätsstudium zuzulassen seien.
Ein ganz besondrer Grund, die Frauen zum medizinischen Studium zuzulassen,
liege auf dem Gebiete der Sittlichkeit. Der Red»er nannte es geradezu skan¬
dalös, empörend, daß sich Frauen in manchen Krankheiten dnrch Männer
müßten untersuche» und ärztlich behandeln lasse». Hoffentlich werde die Mehr¬
heit deS Hauses diesen (?) milden Beschluß nicht ablehnen, sondern das be¬
rechtigte Gefühl der Frauen, das doch alle die befördern sollten, die sonst
von Religion und Sittlichkeit überströmten , berücksichtigen und ihnen wenig¬
stens Ärztinnen gewähren.
Der konservative Abgeordnete Stöcker hatte eine andre Meinung i» der
Sache als sein Freund und Kollege Hartmann. Auch er ist gegen Emanzi¬
pation der Fromm. Aber die amerikanische oder englische Art der Emanzi-
pationsbestrebungen finde ja, abgesehn von der Sozialdemokratin in der deutschen
Frauenwelt gar keine Stätte; die deutsche Frauenbewegung sür Erweiterung
des weiblichen Berufs sei unter allen Völkern die maßvollste und besonnenste.
Gewiß gehöre die Frau in (?) den häuslichen Beruf; aber es blieben Tausende
von höher gebildeten Frauen übrig, die einen Beruf suchten lind keinen fänden.
Diesen Notstand müsse man anerkennen, könne man nicht durch bloßes Ab¬
weisen beseitigen; für diese Tausende von Frauen müßten die Schranken des
weiblichen Erwerbs erweitert werden. Und dazu biete sich zunächst die höhere
Schule. Der Redner hat als Leiter einer höhern Töchterschule in Metz
Lehrerinnen bis in die obersten Klassen unterrichten lassen und die besten Er¬
folge damit erzielt. Es sei wünschenswert, daß dies mehr als bisher anch
in den Staats- und Gemeindeschulen geschehe. Ein zweites Feld ist die ärzt¬
liche Praxis in der Beschränkung, die durch die weibliche Natur geboten ist.
Der Redner hat gar nichts dagegen, daß Frauen an Frauen und Kindern den
ärztlichen Beruf ausüben. Der Gedanke, daß die Schwierigkeiten des ärztlichen
Berufs die Kraft der Frau überstiegen, sei unrichtig; Hebammen, Diakonissinnen,
Krankenpflegerinnen hätten oft schwere und blutige Arbeit, warum solle nicht
eine Ärztin gleiches leisten können? Die Hauptschwierigkeit liege in der Vor¬
bildung. Gegen Gymnasien für dus weibliche Geschlecht ist der Redner durchaus;
ebenso unmöglich sei es nach deutschen Anschauungen, so wie in Amerika, die
Mädchen mit den Knaben zusammengehen zu lassen. Aber die Fran brauche
gar nicht, um sich deu höhern Fächern zu widmen, die Bildung des Gymnasiums;
mau könne ihnen eine besondre Reifeprüfung auferlegen. Aber auch das habe
für ihn etwas Abschreckendes, zu denken, daß Studentinnen der Medizin mit
Studenten gemeinsam die Kollegia besuche», gemeinsam in der Klinik sein,
gemeinsam am Sezirtisch stehen sollten, er halte das nach deutschen Begriffen
für unmöglich. Warum könne man nicht an Krankenhäuser, an Diakonissen¬
anstalten Akademien anschließen, wo Frauen, die den Beruf dazu fühlten, zu
Ärztinnen ausgebildet würden? „Daß eine Notwendigkeit, die Frauen für die
höhern Fächer auszubilden, vorliegt, gestehe ich ohne weiteres zu. Und wenn
erst einmal im öffentlichen Leben diese Notwendigkeit allgemein anerkannt wird,
denn wird mau auch die erforderlichen Veranstaltungen treffen müssen. Aller¬
dings müßte die Sache ans eine Linie gestellt werden, wo sie mit unsern
deutscheu christlichen Anschauungen nicht zusammenstieße. Aber es muß si'ir
die Tausende vou Frauen eine befriedigende Beschäftigung geschaffen werden.
Nichts ist schlimmer, als wenn Menschen gezwungen sind, ohne Beruf ihr
Leben hinzubringen. Nicht alle haben das Bedürfnis, einen bestimmten Beruf
zu ergreisen; für die Hunderte und Tausende aber, die dies Bedürfnis haben,
würde ich es gern sehen, wenn ihnen die Möglichkeit geschaffen würde, einen
Beruf und damit die Zufriedenheit zu finden, die darin liegt, wenn man seine
ganze Kraft anwendet, um den Mitmenschen zu dienen."
Der Regieruugskommissnr sprach sich in demselben Sinne aus. Er er¬
kannte die Pflicht der Unterrichtsverwaltung an, für diese Erweiterung des
Frauenberufs die nötigen Vildnugswege zu suchen. Es gebe hochgebildete
Männer, die Gymnasium und Universität nicht ganz absolvirt hätten. „Was
selbst bei der Erziehung und Bildung von Männern der Fall ist, muß bei
Frauen in noch höherm Maße zutreffen. Die Entwicklung der Frau, ihre
ganze bisherige Erziehung weisen darauf hin, daß sie den Weg nicht geführt
werden kann wie der Knabe, und so wird es unsre Aufgabe sein, einen andern
Passendern Weg zu suchen." Die Mehrzahl der Mädchen werde sich erst in
vorgerückter» Lebensjahren entschließen, eine solche Laufbahn einzuschlagen, und
es dürfe ihnen daher auch nicht zugemutet werden, den alten bei uns gewöhn¬
lichen Weg zu nehmen. Die Regierung werde die Frage pflichtmäßig erwägen,
wie sie das bereits früher gethan habe.
Nach einem Schlußworte des Berichterstatters v. Kölichen wurde der An¬
trag der Kommission angenommen.
Dies ein kurzer Bericht über diese denkwürdige Verhandlung, in der sich
je ein Vertreter der nationalliberalen und der deutschfreisiunigen Partei wie
der äußersten Rechte«, für Zulassung der Frauen zum ärztlichen Studium aus¬
sprach, während ein Teil der Rechten, nach der Versicherung des Abgeordneten
Hartmann die Mehrheit der konservativen Partei, grundsätzlich Einspruch er¬
hob; vom Zentrum trat kein Redner ans, aber es spendete den Worten des
Abgeordneten Stöcker Beifall. Daß auch vom Regierungstische kein Einspruch
erfolgte, sondern Billigung, war umso überraschender, weil man dies nach
den frühern Verhandlungen kaum erwarten durfte.
Es mag das seinen Grund darin haben, daß nach den Umwandlungen
auf dem Gebiete des höhern Knnbennnterrichts die bisherige Ausschließlichkeit
der Vorbereitung sür die Universitäten sich wohl nicht mehr aufrecht erhalten
läßt. Das Studium der historischen Wissenschaften, der Theologie und Philo¬
sophie, der Sprachforschung und Geschichte, wird auch weiterhin auf der Grund¬
lage der .Kenntnis der alten Sprachen aufgebaut werden müssen. Die Heil¬
kunde gehört aber zu den Naturwissenschaften, die jener Grundlage nicht be¬
dürfen. Daß das Gymnasium noch allein berechtigt ist, auf das Studium der
Medizin vorzubereiten, scheint nur eine Folge davon zu sein, daß unsre Uni¬
versitätslehrer alle diesen Weg durchmessen haben. Es ist ein erfreuliches Er¬
gebnis dieser Verhandlungen, daß, im Gegensatze zu den Anschanungen des
badischen Abgeordnetenhauses, vom Tische der preußischen Regierung aus die
Ansicht laut wurde, der Lehrgang des Gymnasiums sei zur Heranbildung
eines tüchtigen Arztes nicht der alleinseligmachende. Es ist nicht bloß zu¬
gestanden worden, daß eine gemeinsame Vorbereitung auf dem Gymnasium für
Schüler und Schülerinnen nicht angehe, und daß die Einrichtung eigner
Mädchengymnasien unmöglich sei, es ist auch anerkannt worden — und das
ist ungleich wichtiger —, daß für Mädchen ein neuer und eigner Weg zum
medizinischen Studium aufgesucht werden müsse, ohne daß sie dadurch zu Stu¬
dentinnen zweiter Stufe herabsteigen.
Dieser neue und eigne Weg ergiebt sich von selbst. Ärztinnen, das ist
fast allseitig anerkannt worden, müssen wir haben. Der Weg des Gymnasiums
über Sophokles und Plato, Horaz und Tacitus und die höhere Mathematik
ist für das weibliche Geschlecht nicht gangbar; so mögen die Frauen wie bis¬
her den Weg der modernen Bildung einschlagen, der im wesentlichen über die
neuen Sprachen und die Naturwissenschaften führt. Wenn unsre Ärzte Hippo-
krates und Galen halb im Schlafe lesen könnten, es würde ihnen doch nichts
helfen. Die Naturwissenschaft ist heutzutage die internationale Wissenschaft;
die hochentwickelte naturwissenschaftliche und medizinische Litteratur von Frank¬
reich, England, Italien ist für den Arzt der Gegenwart unendlich wertvoller
als die Kenntnis der alten Sprachen. Die Unterrichtsverwaltnngen werden
sich freimachen müssen von veralteten Anschanungen, sie werden dem weib¬
lichen Geschlechte das medizinische Studium auf der Grundlage einer gediegnen
modernen Bildung ermöglichen müssen.
Ich denke mir eine derartige Vvrbereitnngsanstalt als eine vollausgebaute
zehuklassige höhere Mädchenschule, die ihre Schülerinnen mindestens bis zum
vollendeten sechzehnten Lebensjahre beschäftigt. Sie hat zunächst die Aufgabe,
den Mädchen eine allgemeine Bildung, wie sie die Gegenwart fordert, mit¬
zugeben durch das allmähliche Aufsteigen vom elementaren Lernen zu mehr
wissenschaftlicher Durcharbeitung des Lehrstoffs. Hauptfächer sind: Religion,
Deutsch, Französisch, Englisch, Welt- und vaterländische Geschichte, dazu die
andern Schulfächer. Der Grundstock der Schülerinnen tritt vor oder mit
Vollendung des sechzehnten Lebensjahrs aus. Für die zukünftigen Studentinnen
der Medizin werden noch drei weitere Klaffen aufgesetzt. In diesen werden
die wissenschaftlichen Hauptfächer weitergeführt und vertieft bis zu tüchtiger
Kenntnis, wobei die schriftliche und mündliche Beherrschung den beiden fremden
Sprachen erstrebt wird. Dazu kommt ausgiebig Naturwissenschaft, also Pflanzen¬
kunde, Chemie, Phhsik, Gesundheitslehre, ebenso zur Schärfung der Denk¬
thätigkeit Mathematik, jedoch nicht in der Ausdehnung wie in den Oberklassen
der Knabenschulen. Ob für das Nczeptiren und das Verständnis der Pharma-
kopöe ein Jahreskurs des Lateinischen, für die allgemeine Ausbildung ein
Jahrgang der Psychologie empfehlenswert sei. mag hier wenigstens frageweise
angedeutet werden. In diese dreiklassige Oberstufe können auch auswärts
vorgebildete Schülerinnen eintreten, doch nur uach dem Nachweis einer durch¬
aus genügenden Vorbereitung. Ebenso können diese drei Klassen ohne den
Unterbau einer zehnjährigen Hähern Mädchenschule eingerichtet werden; aber
auch da ist eine scharfe Aufnahmeprüfung erstes Erfordernis. Auch in den
Versetzungen muß Strenge herrschen, es muß strauuue Arbeit gefordert werden;
nicht auf viele Stunden, sondern auf Anleitung zu eigner Thätigkeit kommt
es ein. Natürlich würde dieser dreijährige Fortbildungs- oder Vorbereitungs¬
kursus auch gediegne Lehrkräfte und wirklich wissenschaftliche Vertiefung des
Unterrichtsstoffes fordern, denn es ist durchaus festzuhalten: die künftige
Ärztin bedarf zum Wettbewerb mit dem an den alten Sprachen geschulten
Jüngling eines wohl ausgestatteten Schulsackes, einer tüchtigen, gründlich
wissenschaftlichen Vorbildung. Es giebt keinen Königsweg zur Mathematik,
und es giebt keinen bequemen Frauenweg zu einem so hochverantwvrtlichcn
Berufe, wie es der ärztliche ist.
Ist dann die Arbeitsaufgabe der oben aufgesetzten drei Jahrgänge durch¬
gearbeitet, hat die Schülerin mindestens das neunzehnte Lebensjahr vollendet,
so folgt die Reifeprüfung vor einer besonders dazu niedergesetzten Kommission.
Festzustellen, was in dieser Prüfung zu fordern sei, wird Sache der staatlichen Be¬
hörden sein; treten an die Stelle der alten die neuen Sprachen, an die Stelle der
Mathematik die Naturwissenschaften, so wird die Gleichheit der Anforderungen
zwischen gymnasialer und moderner Bildung wohl hergestellt sein, besonders
wenn wir bedenken, daß die Abiturienten der Gymnasien teilweise Mittelkräfte
sind, die der Mädchenschulen voraussichtlich nur vorzügliche Kräfte sein werdeu.
Mädchen, die zehn Jahre gediegner Arbeit auf der Hähern Mädchenschule und
weitere drei Jahre auf der Vorbereitungsstufe zur Universität hinter sich
haben, werden dann anch wissenschaftlich und sittlich reif genug für das
Studium sein. Natürlich wird dafür zu sorgen sein, daß sie nicht infolge
zu mannigfaltiger Anforderungen durch ein zersplittertes Exameubüffelu in
ihrer Gesundheit geschädigt, daß sie nicht mit einer sür den zukünftigen Beruf
wertlosen Gelehrsamkeit belastet und zu bloßen Lernmaschinen herabgewürdigt
werden. Geschieht dies, wird das ideale Element an Geschichte, deutscher,
französischer und englischer Litteratur bis zur Prüfung genügend betont, so
ist auch nicht zu fürchten, daß tüchtige weibliche Naturen durch diese stramme
wissenschaftliche Arbeit eine Einbuße an echter Weiblichkeit erleiden.
Wo und wie aber werden solche dreijährige Vvrbereitungskurse einzu¬
richten sein? Jedenfalls nicht überall, so wenig wie sich jede höhere Mädchen¬
schule den Luxus einer Lehrerinnenbildungsanstalt erlaubt. Die Lehraufgabe
der höhern Mädchenschule im allgemeinen soll durch die künftige Möglichkeit
einer Borbereitung für das ärztliche Studium in keiner Weise geändert werden.
Es genügt bis auf weiteres, wenn an einigen Orten, etwa in den bedeutendsten
Universitätsstädten Deutschlands, derartige dreijährige Vorbilduugskurse ein¬
gerichtet werden. Ich nenne als solche Orte, die bereits vvllausgebaute höhere
Mädchenschule,: besitzen, Berlin, Göttingen, Leipzig, München, Heidelberg. An
diesen Orten würde es sich allerdings um die staatliche Unterstützung der drei¬
jährigen Vorbcreitungsstufe handeln. Aber ich halte diese Forderung nicht
für unbescheiden; der Staat hat in den meisten Fällen für die höhern Mädchen¬
schulen so wenig gethan, daß ihm zu thun noch sehr viel übrig bleibt. Es
handelt sich nur um einige wenige Anstalten, denen außerdem die an andern
Orten durch Privatstudinm oder städtische Veranstaltung vorgebildeten Schüle¬
rinnen zuströmei? würden. Wäre z. B. in Baden, wie der Abgeordnete Nickert
äußerte, Freiburg für das medizinische Studium ausersehen, so hätte Baden
auch die Pflicht, für die tüchtige Vorbereitung der einstigen Studentinnen
dnrch eine in Freiburg oder anderwärts einzurichtende Vorschule Sorge zu
tragen. Im übrigen liegt auch nach den jüngsten Vorgängen in Karlsruhe
und Berlin die ganze Frage noch so nebelhaft vor uns, daß es thöricht wäre,
jetzt schon mit genau festgestellten Vorschlägen zu kommen.
Ich setze noch voraus, daß allerorten gleiche Bedingungen gestellt, gleiche
Rechte gewährt werden. Die Wahl der Universität muß freistehen, wenn auch
aus Zweckmäßigkeitsgründen für die dreijährigen Vorbereitungskurse deutsche
Universitätsstädte genannt wurden. Der Aufenthalt an einer nichtdeutschen
medizinischen Hochschule wäre den Studentinnen anzurechnen; ihre sprachliche
Vorbildung würde sie befähigen, auch die besten Hochschulen des Auslands
mit Erfolg aufzusuchen.
Dann gilt es auf der Universität herzhafte Arbeit. Ich teile nicht die
Ansicht Stöckers, es habe etwas Abschreckendes, zu denken, daß Studentinnen
mit Studenten gemeinsam die Kollegien und Kliniken besuchten, gemeinsam am
Sezirtische stünden. Das junge Mädchen, das sich zum ärztlichen Studium
entschließt, muß sich darüber klar sein, daß sie damit die Pflichten einer öffent¬
lichen Stellung übernimmt, und bereit sein, auch die Unannehmlichkeiten der
Vorbereitung zu tragen. Die Ärztin muß nach Nerven und Willenskraft aus
einem festern Stoffe sein als der größere Teil ihrer Schwestern; was wir
Weiblichkeit nennen und als solche so hoch schätzen, braucht deswegen nicht
verloren zu gehen. Auf die Anfrage der Würzburger medizinischen Fakultät,
„ob und welche Anstünde sich bei der Zulassung von Personen weiblichen
Geschlechts und namentlich aus der Gemeinschaft mit männlichen Studi-
renden bei gewissen, für das weibliche Zartgefühl empfindlichen Vorlesungen
und Demonstrationen ergeben hätten," antwortete der akademische Senat der
Züricher Hochschule: „Die Anwesenheit der weiblichen Studirenden in den theo¬
retischen und praktischen Kursen giebt zu keinerlei Störungen Veranlassung.
Die Vorträge und Demonstrationen werden ohne Rücksicht auf die anwesenden
Damen gehalten, und auch bei den anatomischen Übungen und klinischen Vor¬
weisungen wird der Lehrstoff grundsätzlich so behandelt, wie wenn nur männ¬
liche Zuhörer anwesend wären. Trotzdem hat sich nie ein Anstand ergeben."
Mich dünkt, die Universitäten stellen der deutschen studirenden Jugend ein
unverdient schlechtes Zeugnis aus, wenn sie der Meinung sind, daß einem
Mädchen, das zu medizinischen Studien die Universität besucht, daraus irgend¬
welche Belästigung vonseiten der Studenten erwachsen werde. Unsre heutigen
Studenten, die, wie ihre Grußformen zeigen, vor einander selbst eine unbe¬
grenzte Hochachtung an den Tag legen, werden sich doch zwanzig- bis vierund-
zwanzigjührigen Damen gegenüber gewiß nicht ungeziemend verhalten. Eine
Dame wird freilich den Spötter oder Beleidiger, wenn sich ein solcher finden
sollte, nicht vor die Klinge oder die Pistolenmündnng fordern, aber vielleicht
werden es andre für sie thun; oder noch besser, das Universitätsgericht brauchte
nur einem unnützen Gesellen, der die Achtung vor einem wissenschaftlich stre¬
benden Weib außer Augen setzt, kurzerhand die Wege zu weisen. Aber es
wird schwerlich nötig sein, denn edle Weiblichkeit, fester Wille und ernste Arbeit
wirken auch auf ein rohes Gemüt. Darum spricht sich Professor Vöhmert
zu Zürich nicht bloß entschieden gegen besondre Fraueufachschulen, sondern auch
gegen die Einrichtung besondrer Franenkurse an den bestehenden Universitäten
ans. Die Zahl studirender Frauen wird noch lange Zeit eine viel zu be¬
schränkte sein, als daß sie die Begründung besondrer Frauenkurse rechtfertigen
sollte, auch würde man von den Zöglingen eines Frauenkursus selbstver¬
ständlich geringere Leistungen erwarten. Der letzte Grund erscheint mir be¬
sonders durchschlagend^ uur die Ärztin, die denselben wissenschaftlichen Lehrgang
hinter sich hat wie der Arzt, wird auch gleiche Wertschätzung mit ihm bean¬
spruchen können, wenn auch der Kreis ihrer Wirksamkeit beschränkter sein
wird. Wer also für die Frauen die Berechtigung zum medizinischen Studium
fordert, muß ihnen auch zutrauen und zumuten, daß sie denselben Lehrgang
wie der Arzt durchmachen.
Übrigens sollte, scheint mir, den Studentinnen freistehen, nach Wunsch
das ganze Gebiet der Heilkunde zu erfassen oder sich auf dieses oder jenes
Svnderfach vorzubereiten und dementsprechend eine umfassende oder auch be¬
schränktere Prüfung zu bestehen. Ich möchte z. B. der Meinung sein, daß nur
ein bescheidner Teil der künftigen Ärztinnen sich der operativen Chirurgie zu¬
wenden werde, soweit sie nicht etwa bei Frauenkrankheiten erforderlich ist, daß
sie sich überhaupt so gut wie ausschließlich der Heilung von Frauen und
Kindern oder auch der Geburtshilfe widmen werden. Welche Anforderungen
der Staat überhaupt stellen soll, um einer Frau den Zutritt zum ärztlichen
Berufe zu gewähre», darüber zu entscheiden ist Sache der wissenschaftlichen
Autoritäten; jedenfalls scheint es mir, daß die Anforderungen vielleicht weniger
weitgreifend, aber keineswegs weniger tiefgehend sein dürfen. Man wird die
Anforderungen um so höher stellen dürfen, als überhaupt nur auserwühlte
Kräfte sich dem Studium zuwenden werden. Das medizinische Studium
fordert, abgesehn von der zeitraubenden Vorbereitung, eine Freiheit des Geistes,
eine Kraft des Willens, eine Beherrschung weiblicher Schwachheiten, die nur
einer kleinen Zahl von Auserwählten gegeben sein werden. Ich glaube, daß
sich der Frauenverein Reform irrt, wenn er einen großen Zudrang der
Frauen zu dem ärztlichen Beruf erwartet, sobald die Möglichkeit dazu geboten
ist. Aber es ist an der Zeit, daß Deutschland, dem Vorgänge andrer Nationen
folgend, dem Frauenstudium der Heilkunde eine Stätte bereite. Schon vor
zwanzig Jahren habe ich geschrieben: „Jede größere Stadt wird eines Tages
ihre Ärztin haben." Hoffentlich hat Deutschland nicht noch weitere zwanzig
Jahre auf die Erfüllung dieses Wortes zu warten.
aß sich die Wirklichkeit nicht nach unsern Begriffen von den
Dingen richtet, und daß insbesondre der wirkliche Staat und die
wirkliche Kirche immer bedeutend anders aussehen als unsre
Ideen von Staat und Kirche, wissen wir wohl schon längst;
allein wenn man ein so sonderbares Gebilde zu Gesicht bekommt,
wie die unter russischer Herrschaft lebenden evangelisch-lutherischen Adelsrepubliken
der Ostseeprovinzen, so kann man doch nicht umhin, sich ein wenig zu wundern.
Wie sie anders sein könnten, dürfte freilich niemand anzugeben vermögen, und
daß ihr Untergang beschlossen scheint, bleibt für den evangelischen Deutschen
etwas Schreckliches. Die Lebensarbeit des Bischofs Walter war der Aufgabe
gewidmet, ihnen eine neue Zukunft zu erschließen. Daß er zuletzt den rus¬
sischen Feinden der evangelischen Deutschen weichen mußte, war eine böse Vor¬
bedeutung sür die Zukunft seines Landes. Wie schlimm sich diese gestalten
würde, hat er freilich nicht geahnt. Ehe wir auf seine kirchenpolitischen Kämpfe
und auf die eigentümlichen Verhältnisse des Landes, die sie enthüllen, einen
Blick werfen, wollen wir vorher nach einem vor kurzem erschienenen Buche/')
dessen Verfasser sich nicht nennt und auch durch kein Zeichen verrät, eine flüch¬
tige Lebensskizze entwerfen; der Mann gehört zu den Persönlichkeiten, mit
denen sich zu beschäftigen die Mühe lohnt.
Ferdinand Walter wurde 1801 zu Wolmar als ein Sohn des dortigen
Kreisarztes geboren. Er widmete sich dem Universitätsstudium gleich seinen
fünf Brüdern, von denen mehrere im jugendlichen Alter starben. Ferdinand
war ein kerngesunder, derber, starker Knabe von leidenschaftlicher Heftigkeit, die
aber bloß der Ausdruck der Kraft war, „nicht einer besondern Reizbarkeit der
Nerven; von diesen mochte er auch später nie etwas hören." Auf der Uni¬
versität Dorpat ein fröhlicher Bursche, aber dabei fleißiger Student und eifriger
Kantianer, zeigte er sich dann in Abo schou als freien Denker und selbstciudigeu
Charakter. Seine Gradualdissertation ^.et x8!illnum 86iZuuäurn eourrliöilllirius
wollte der theologischen Fakultät gar uicht gefallen. Man fragte ihn: „Kennen
Herr Kandidat unsre Konstitutionen?" Ja, soviel ich ihrer bedarf. „Kennen Sie
die L?ontL88lo ^.ug'v.8t.Ang. und (üoneillum, Up8g.lLN8ö, an welche Sie durch jene
versprochen haben, Ihr Leben lang zu hängen?" Die Promotion unterblieb.
Drei Jahre verbrachte er als Hauslehrer auf einem Landgute, wo sich sein
Beruf zum Seelsorger durch lebhaftes Juteresse sür die Bauern äußerte. Es
liegt, schreibt er von dort, „ein eigner Reiz für den Gelehrten darin, über das
Leben und Treiben und über die speziellsten Einzelheiten des Landmanns solche
Aufschlüsse zu bekomme:?, die ihm eine ganz neue Seite vom Leben der Mensch¬
heit aufdecken. Die Kenntnis des Lebens einer Dorfgemeinde hat eine weit
herrlichere und ergötzlichere Seite, als man ahnen mag." Nach Ablauf der
drei Jahre begab er sich auf Reisen. Schweden hatte er schon früher kennen
lernen; nun besuchte er Dänemark, durchwanderte dann Deutschland, schwelgte
im Genuß der Naturschönheiten Tirols, der Schweiz und des Rheinlands
und ließ sich endlich in Berlin nieder, wo er Landsleute fand und Hegel eifrig
hörte. Er arbeitete rüstig und gewissenhaft, vielleicht übermäßig, ging aber
doch nicht ganz in der Arbeit auf. „Extra ist zu bemerken, schreibt er einmal
nach Hause, daß, wenn Sachen zu sehen sind, lvie Phüdra (Stich), Julia und
Romeo (Stich), Tankred (Svntag), Lear (Devrient), wir ganz entzückt an
herrlichem Spiele und köstlichem Sauge uns erbauen. Oder wenn einmal ein
Heller, freundlicher Tag ist, wie er mir in diesem Nebellvche erst einmal be¬
gegnet ist, gehen wir spazieren und erfreuen uns wie in Italien unter Myrten
und Cypressen, leider nur im Treibhause des Tiergartens, an Pfeife und
Trinken. Die Stich ist wahrlich solch Teufelsweib, das; minds nicht Wunder
nimmt, daß Piers seiner seiner Brüderj über sie entzückt ist. Spielte sie schon
als Phüdra so, daß mir die Haare zu Berge standen, so war sie doch als
Julia noch köstlicher, und ich hätte, als sie so wunderschön in Schleier gehüllt
das späte Rendezvous ihm im Garten gab, sie wahrlich küssen mögen, so lieb¬
lich war sie; und wie sie «Amen» sagte, ging mirs doch durch Mark und
Bein. Und dann Devrient ganz furchtbar als Lear. Dafür gebe ich doch gern
der Svutag schönen Gesang hin — und wollte, ehe ich mich bei solchen Stücken
stören ließe, auch die wunderherrlichsten Leipziger Operndekorationen wegschaffen."
Auf seinen Charakter werfen Äußerungen der Schwestern aus jener Zeit ein
Streiflicht. Die eine meint, Ferdinand sei immer bei der Hand, unnütze Opfer
zu bringen, wenn er sie auch nachher bereue, und die andre schreibt ihm, als
er einmal krank geworden ist, er sei jedenfalls selbst schuld daran gewesen:
„Ich meine dies Losstürmen auf deine sonst krüftige Natur, die sichs abdarbt,
damit dn wie Krösus hündevollweise weggeben kannst, wo es vielleicht weniger
not thut als dir selbst; dies jämmerliche Abhärtnngssystem, das für unsre
Winter gar nicht berechnet war, und dergleichen Sünden mehr." Also wenn
sich ihr lieber Ferdinand in Bengalen durch leichte Kleidung und ungeheizte
Stuben hätte „abhörten" wollen, so würde diese zärtliche Schwester mit ihrer
allerliebsten weiblichen Logik nichts dagegen gehabt haben.
Nach einer „pädagogischen" Reise durch Preußen und Sachsen, auf der
er Harnisch, Fröbel und andre berühmte Pädagogen aufsucht und im Hause
der Frau vou Wolzogen in Jena auch Goethe kennen lernt, kehrt er in die
Heimat zurück, wird 1829 für die Predigerstelle zu Neuermühlen ordinirt, ver¬
mählt sich 1832 und erhält 1833 die Pfarrstelle seiner Vaterstadt Wvlmar.
Ein Freund schildert ihn in jenein ersten Abschnitte seiner Amtsführung
folgendermaßen: „Eine entschieden aristokratische Natur, imposant in der Er¬
scheinung, über die Interessen und Annehmlichkeiten des äußern Lebens vor¬
nehm hinwegsehend, dabei stolz und leidenschaftlich und trotz der eminenten
Kanzelberedsamkeit, zu welcher er es brachte, mit nur einer mäßigen orato-
rischen Begabung ausgestattet, war der Pastor zu Neuermühlen nicht, was
man einen gebornen Volksmann nennt. Er wurde es, weil sich in seiner
starken Brust eine Fülle echt menschlicher und echt christlicher Liebe barg, und
weil er in der Bethätigung dieser Liebe die vornehmste Aufgabe des Christen
und des Predigers sah. Nachdem er sich selbst und die widerstreitenden Seiten
seines Wesens mit dieser Liebe überwunden und das Wort: so viel einer liebt,
so viel lebt er, nicht nur unter sein Bild, sondern unter jeden Tag seines
Lebens geschrieben hatte, gab es keinen Widerstand mehr gegen die hinreißende
Gewalt seines Wesens. Wenn seine ernst gefurchte Stirn sich einmal glättete,
wenn sich um den sonst zusammengekniffneu strengen Mund ein freundliches
Lächeln zog, wenn seine tiefe, häufig rauhe Stimme weiche und warme Akkorde
erklingen ließ, so trug er den Sieg davon, einerlei, ob ein müder, stumpfer
Bauernknecht, ein aufgeblasener, wohlhabender Pächter oder ein frecher Junker
ihm gegenüber stand. Diese Überlegenheit seiner Natur, die mit unermüd¬
licher Treue in der Arbeit und großartiger Opfcrbcreitschaft im Wohlthun
Hand in Hemd ging, hatte Walteren j bereits während seiner Neuermühleuer
Amtsjahre eine Ausnahmestellung erworben; staunend erzählte das Landvolk
der Nachbarschaft von dem jungen Prediger, vor dem kein Ansehen der Person
galt, der allen mit dem gleichen imposanten Ernste und der gleichen Brüder¬
lichkeit begegnete."
Die Seelsorge übte er in jenem großen Stil, der nur dort möglich ist,
wo der Pfarrer in feiner Amtsführung weder durch „konstitutionelle" Ein¬
richtungen noch durch büreaukratische Einmischung und Aufsicht eingeschränkt
und gestört wird. Er ward allen alles. Seine kleine deutsche Stadtgemeinde
führte er in das höhere deutsche Geistesleben ein. Jeden Mittwoch nachmittag
hielt er von drei bis vier eine Katechese für die Stadtkinder ab. Daran schloß
sich von vier bis fünf eine Bibelstunde für die Erwachsenen, und dann be¬
gleiteten ihn zwanzig bis dreißig Personen hinaus auf den Pfarrhof, einen
weitläufigen, ländlichen Herrensitz vor der Stadt, wo mit ihnen „schwere Lek¬
türe," auch philosophische, getrieben ward. „Auch gehaltvolle Schriften, welche
die Zeit augenblicklich bewegten, wie das Leben Jesu von Strauß in den
dreißiger Jahren, lernte man hier gemeinsam kennen, und mancher Gefahr, die
sie für den einzelnen haben konnte, ward durch den Austausch der Meinungen
vorgebeugt." Die Besorgung der achttausend Seelen starken und in ein¬
zelnen Höfen über einen Kreis von drei Meilen Durchmesser zerstreuten Land¬
gemeinde war in der Weise, wie sie Walter betrieb, nur bei strengster Zeit¬
einteilung und vollständiger Ausnutzung einer gewaltigen Arbeitskraft möglich.
Abgesehn von den Zeiten ansteckender Krankheiten, wo er unglaubliches leistete,
kostete es auch schon unter gewöhnlichen Umstünden sehr viel Zeit, mit allen
Kirchkindern die persönliche Verbindung zu unterhalten, die Kranken zu be¬
suchen, für die entfernt wohnenden, wie er es that, Hausgottesdieuste abzu¬
halten. Für die rechte Art zu predigen hat er selbst sorgfältige Anweisungen
ausgearbeitet. Das freilich, wodurch er hauptsächlich wirkte, kaun mit keiner
Anweisung eingetrichtert werden: das Vermögen, „den Inhalt der Predigt
ohne Nest in eine persönliche Handlung umzusetzen." Selbstverständlich nahm
die Schule nicht den kleinsten Teil seiner Sorge in Anspruch. Nachdem er
schon in Neuermühlen, weil sonst niemand die Mittel dazu gab, in seinem
Hause ans eigne Kosten eine Schule eingerichtet hatte, gründete er in Wolmar
eine Armenschule für die Kinder der im Lande zerstreut lebenden Deutschen
und in seinem Hause eine Koufirmnndenanstalt, die, wie vormals die Katecheten¬
schule zu Alexandria, den Charakter einer christlichen Akademie annahm. End¬
lich machte er sich durch Gründung eines Lehrerseminars um das Volksschul-
wesen von ganz Livland verdient. Sehr energisch bekämpfte er die Herrnhuter
als Zerstörer des Gemeindelebens, obwohl er ihre guten Seiten rückhaltlos
anerkannte.
Im Jahre 1842 wurde diese fruchtreiche Thätigkeit durch seine Berufung
ins Generalkonsistvrium unterbrochen, die ihn zwar nicht zur Niederlegung
seines Pfarramts, aber zu mehrjährigem Aufenthalt in Riga und zu öfter»
Reisen nach Petersburg zwang. Die aufreibenden Kämpfe, die diese Stellung
mit sich brachte, erschütterten seine Gesundheit und nötigten ihn 1849 zur Kur
in Karlsbad. Hier wurde er aus dem Inkognito, »vorauf er sich gefreut hatte,
sehr bald herausgetrieben, zum Mittelpunkt der vornehmen Gesellschaft und
Vertreter der evangelischen Interessen gepreßt; die evangelischen Kurgäste Karls¬
bads verdanken ihm die Kirche, deren sie sich jetzt erfreuen. Aus seinen hübschen
Neiseaufzeichuungen wollen wir nur zwei Stellen mitteilen. Aus Karlsbad
schreibt er einmal: „Das ist doch eine sonderbare Sache um die hiesige Bil¬
dung. Die Dienstmädchen werden Fräulein genannt oder Sie, wenn man von
ihnen etwas verlangt, und doch bedienen sie mit einer Aufmerksamkeit, wie
man sie nur wünschen kann, und tragen Wasser und andre Lasten auf dem
Rücken, wie bei uns keinem Manne darf zugemutet werden. Die Frau und
Tochter des Joseph Wagner, meines Wirten, sind immer ganz einfach gekleidet,
obwohl er ein paar dreistöckige Häuser besitzt; sie leben sehr einfach, essen sehr
gut, ob sie auch mit den Fingern den Braten zerlegen helfen, greifen selbst
gleich an, wenn Bedienung nötig ist und die Magd nicht zur Hand ist — und
doch spielt die eben von der gröbsten Arbeit in der Küche kommende Tochter
so sKlaviers, daß alle Musikfreunde, die hierher kommen, sie besuchen und mit
ihr so freundlich und herzlich thun, wie mit einer Virtuosin von Ruf. Das
aber ist sie auch." Ju der sächsischen Schweiz sodann ärgert er sich darüber,
daß sie an den schönsten Stellen angefangen haben, Sandstein zu brechen, und
schreibt die wirklich weisheitsvollen Worte nieder: „Das unselige jetzige Nütz-
lichkeitsprinzip ist prinzipiell unnütz; und wenn die Regierungen, wie hier,
selbst vorangehen in solcher Verletzung der Pietät gegen schöne Ansichten, die
nun schon ein paar Jahrhunderte vom Vater auf den Sohn als ein Heiligtum
Deutschlands empfohlen wurden, wie mögen sie sich wundern, wenn das Volk
es auch so macht und auch für nichts mehr Pietät bewahrt."
Im Jahre 1855 mußte er sich für immer von seinem lieben Wolmar
trennen. Er wurde zum Generalsuperintendenten ernannt und später vom
Kaiser mit dem Bischoftitel ausgezeichnet. Aus einigen der mitgeteilten Briefe
an ihn ersehen wir, daß der Generalsuperintendcnt „Magnifizenz," der Bischof
„Eminenz" angeredet wird. Ans Leibeskräften hatte er sich gegen diese Be¬
förderung gesträubt, in einem Schreiben an den Präsidenten des Konsistoriums
sieben Grunde für seine Ablehnung angeführt. Ich verstehe mich nicht muss
stille halten, lautet Nummer 8, „und ergreife ich nun die Opposition, so
wird es heißen: er will mit dem Kopf durch die Wand, und die Ritterschaft
folgt nicht nach, und von den Amtsbrüdern würde ich dann die besten mit
mir begraben. 4. Ich bin dem scharfen Luthertum unsrer Tage ebenso
abhold, wie es mir abhold ist. 5. Als Prediger, Seelsorger und oppo-
nirender kirchlicher Wühler bin ich erprobt und habe durch Gottes Gnade Probe
gehalten; es fragt sich sehr, ob ich als Regens Probe hielte. Opponiren ist
leichter als besser machen. 6. Ich bin alt und zu arm, um abzutreten;
zu verfressen für mich und die Meinen, um abzutreten und zu hungern; zu
gewissenhaft, um zu bleiben, auf daß ich nicht hungre mit den Meinen, und
zu stolz, um dann Ininj ein Almosen zu bitten. Darf ich daher in eine solche
Lage selbst mich begeben? 7. Meine Söhne müssen erzogen und meine Witwe
versorgt werden. Das bietet mir Wolmar, Riga nicht."
Was er befürchtet hatte, traf ein. Er kam aus den Konflikten nicht
heraus, und die letzte seiner fünf Landtagspredigten wurde so übel genommen,
daß er sich 1864 gezwungen sah, seinen Abschied zu erbitten. Zu hungern
brauchte er freilich nicht. Der Kaiser, der ihm wie sein Vater Nikolaus ge¬
wogen war, bewilligte ihm aus Gnaden eine Pension. Überhaupt fehlte es
ihm uicht an Freunden bei Hofe. Die vornehme Welt Petersburgs trug ihn
ans den Händen, so oft er dort weilte, und stürmte die Kirchen, in denen er
predigte; seine besondern Gönnerinnen, mit deren Hilfe so manches durch¬
gesetzt wurde, wnreu die Großfürstin Helene und deren Hofdame, die Baronesse
Editha Reisten. Also materiell war der Schlag zu ertragen, aber tiefe De¬
mütigungen und herbe Enttäuschungen hatte sein ehrliches, stolzes, edler Ent¬
würfe und schöner Hoffnungen volles Herz zu erdulden. Jede Furcht, sagt
der Verfasser, „und jede persönliche Rücksicht war ihm von jeher verächtlich
gewesen. Er war gewohnt, in seiner Heimat das Beispiel der Gesinnungs-
sestigkeit und des Mutes in jeder Gefahr zu geben. Nun mußte er selbst den
Schein auf sich nehmen, einer Konsequenz aus dem Wege gegangen zu sein,
er mußte dem Unrecht einen Schein des Rechtes zugestehn, der weit über seine
Person Hinansgreifen sollte. Er mußte sein Gesuch um den Abschied formell
auf Gründe stützen, welche für ihn nicht die bestimmenden waren, und durch
ein thörichtes, undurchführbares Verschweigen der wahren Sachlage die Ur¬
teile und Erwartungen in die Irre leiten. Den Forderungen der Selbst¬
verleugnung war er freilich gewachsen, so lästig sie ihn im einzelnen auch
berühren mußten. Das paulinische Element in seiner Natur, das ihn sich
früher nur im Kampf und Ringen recht wohl fühlen ließ, war längst einer
in sich geruhigten ^hio!j milden Denkweise gewichen, deren er in dem ver¬
söhnenden und ausgleichenden Walten in der Kirchenleitung bedürfte. Wohl
hatte er auch schon in mancher Richtung resigniren gelernt; aber ans die Arbeit
selbst, auf die Thätigkeit fürs Gemeinwohl zu verzichten, sich in die Jsolirung
des Privatlebens zu finden, war eine Forderung, mit der er sich erst befreunden
konnte, als Gründe sie unabweislich machten, die ihn der Verpflichtung eines
weitern irdische» Wirkens enthoben." Man versteht unter diesen Umständen
um so besser die in heutiger Zeit ohnehin naheliegende Mahnung an einen
seiner Sohne: „Kräftige dich am Leibe, daß du später etwas vertragen kannst;
denn was du auch ergreifen magst, kein leichtes Leben bietet die Zukunft
unsrer Heimat. Ohne Vorliebe aber kein gelehrter oder gar ein theologischer,
weil das Gewissen immer berührender Beruf! Lieber Schuster sein mit un¬
getrübtem Gewissen." Bald folgten häusliche Schläge; seine geliebte Frau
ward ihm entrissen, auch ein Sohn im Jünglingsalter, den er nach Pan ge¬
bracht und dort mit rührender Sorgfalt verpflegt hatte. Noch einmal, im
Hnugcrwiuter 1868—69, entfaltete er in Dorpat eine gemeinnützige Thätigkeit,
indem er für die in Scharen herumschweifenden Vettelkinder eine Schule
gründete, in der sie beköstigt wurden, und erlag dann den erlittnen Anstren¬
gungen und Erschütterungen. Am 29. Juni 1869 brach er, vom Bade zurück¬
kehrend, am Meeresstrande tot zusammen.
Das also war der Manu, auf den die evangelischen Deutschen der Ost-
seeprovinzen ihre Hoffnung setzten in jener Zeit, wo sich die Verfolgung an¬
kündigte, die heute über sie hereingebrochen ist. Vier unter einander verflochtn?
Verhältnisse sind es, die den eigentümlichen Zustand jener Länder ausmachten,
der nun beseitigt werden soll und zum Teil schon beseitigt ist: das der luthe¬
rischen zur griechischen Kirche, das der Ritterschaft zur Bauernschaft, das der
deutschen Nationalität zur lettischen und esthuischeu, und das der Provinzen
zum Staate, zum Kaiser. Als sich die Livländer, von Rußland bedroht, im
Jahre 1561 unter den Schutz Polens stellten, sicherte ihnen das l^ivilkZium
ZigismunÄi zu, daß sie „bei der reinen evangelischen Lehre der Augsburgischen
Konfession und unter einer deutschen Herrschaft und unter einem deutschen
Rechte" gelassen werden sollten. Zwar wurden die Polen vertragsbrüchig,
aber beim Übergange des Landes an Schwede» (1602) wurde das Privilegium
erneuert und 1648 von der Königin Christine sowie 1678 von Karl dem
Zwölften bestätigt. Als Livland 1710 an Rußland fiel, erkannte Peter der
Große die Verbindlichkeit des Privilegiums für sich und seine Nachkommen
an. Noch zweimal, in den Friedensschlüssen von Nhstädt und Abo, 1721
und 1743, wurde es bestätigt und wurde bestimmt: alle Rechte und Gewohn¬
heiten, die Regierung, die evangelische Religion, das Kirchen- und Schulwesen
solle auf dem alten Fuße gelassen und kein Gewissenszwang eingeführt werden:
„jedoch daß in den cedirten Ländern die griechische Religion hinfüro ebenfalls
frei und ungehindert exerzirt werden könne und möge." Demnach blieb die
lutherische Kirche von Rechts wegen die herrschende, nur daß daneben die
griechische sreie Religionsübung haben sollte. Bis zum Jahre 1832 wurde
dieses Recht formell nicht angetastet, wenn auch von 1794 ab die Praxis auf¬
kam, daß die Kinder aus gemischten Ehen der griechischen Kirche zugewiesen
wurden, nachdem sich schon vorher Katharina die Zweite einen Eingriff in die
Verfassung der Lander erlaubt hatte. „Aber diese Verletzungen des Landes¬
rechts — schreibt der Verfasser — wurden teils wieder beseitigt, teils kam
ihre Tragweite einer Zeit gar nicht zum Bewußtsein, die von den Ideen der
Aufklärung beherrscht, ebensowohl des kirchlichen wie des geschichtlichen Sinnes
entbehrte." Im Jahre 1832 aber unterwarf Kaiser Nikolaus durch eine
Kirchenverordnung die Lutheraner der Ostseeprovinzen denselben Gesetzen, die
im übrigen Rußland gelten; die Kinder aus gemischten Ehen wurden aus¬
drücklich der griechischen Kirche überwiesen, und dieser ward das Recht der
Proselytenmacherei zugesichert, indem das Strafgesetz jeden evangelischen Geist¬
lichen bedrohte, der seine Gemeindeglieder vom Abfall abmahnte. Zu einem
Seelenfange im großen ward die Hungersnot von 1844 und 45 benntzt.
Die griechische Geistlichkeit und die russischen Beamten verbreiteten nämlich
das Gerücht, deu zur griechischen Kirche übergetretenen Bauern würde ent¬
weder Herrenland oder Krongut zugewiesen werden — schon vorher hatte es
geheißen, sie sollte» Land im Innern des Reiches bekommen —; wer dagegen
nicht überträte, der würde in die Leibeigenschaft zurückversetzt werden. Der
Zudrang der landgierigen Bauern zum Erzbischof von Riga war so stark,
daß die Massenfirmnng tumultuarisch, ohne vorhergehende Übertrittserklärung
vor der Obrigkeit, vorgenommen werden konnte. Wer sich in der Kirche ein Kreuz
umhänge» ließ, glaubte damit einen Anspruch auf Acker erworben zu haben. Vor¬
sichtige ließen sich auf einen fremden Namen firmen, um, wenn es etwa mit der
Landschenknng nichts wäre, ihre» väterliche» Glauben nicht umsonst preisgegeben
zu haben. Mit dem Lande war es anch wirklich nichts, aber die ärmsten,
deren Namen von falschen Brüdern gemißbraucht worden waren, hat dann
der Erzbischof für seine Kirche reklamirt, und die Polizei hat sie ihm zugeführt.
Walter äußerte über diesen Unfug u. a., das dabei bewegende trage einen
revolutionären Charakter; im Schweiße deines Angesichts sollst dn dein Brot
verdienen, dieser Grundsatz müsse als Grundlage des Staats verteidigt werden.
„In dem Augenblick, als es dem Volk in den Sinn gestellt ward, es könne
in der Fremde oder in der Heimat nicht durch den von Gott geordneten
Schweiß des Angesichts, sondern durch irgeud eines Machthabers Zauberwort
auf Kosten fremden Eigentums besitzlich (?) werden, seit dem Augenblick ist
der Funke der Revolution in das Volk geworfen."
Hätten sich die Bauern befriedigender Zustände erfreut, fo hätte eine solche
halb revolutionäre Bewegung keinen Sinn gehabt. Das war nun aber leider
nicht der Fall, und darin liegt die Schuld des Adels, für die das Land jetzt
büßt. Über die frühern bäuerlichen Verhältnisse sind wir ganz geuau unter¬
richtet durch die im Jahrgang 1890 der Grenzboten (viertes Vierteljahr, S. 141)
kurz angezeigte Arbeit von Transehe-Nvseneck: „Gutsherr und Bauer in Liv-
land im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert." Auch hier begann, wie
in ganz Deutschland, im fünfzehnten Jahrhundert unter dem Einflüsse des
römischen Rechts das Bauernlegen und die Vauernknechtung, nahm aber weit
hürtre Formen an, als selbst in Mecklenburg und Neuvorpommern. „Am
Ende der Ordenszeit, sagt Transehe, finden wir einen wohlhabenden, ja in
manchen Gegenden sogar reichen Bauernstand, der in üppigem Leben dem
städtischen Bürger und dem Ritter nacheiferte. Die Zahl der Freibauern ist (?)
nicht gering, der grüßte Teil der Bauern allerdings ist hörig und an die
Scholle gebunden, war (?) jedoch nicht leibeigen. Dies waren nur die so¬
genannten Drellen, deren Zustand sich aus der Kriegsgefangenschaft entwickelt
hatte." Im achtzehnten Jahrhundert finden wir den ganzen Bauernstand leib¬
eigen, und zwar uicht bloß leibeigen im Sinne der glelmu Ä«oriMo, sondern
so, daß der einzelne Mann ohne sein Gut verkauft, verschenkt, vertauscht, auf
den Markt gebracht werdeu kann. Auf dem Landtage von 1765, nannte die
Ritterschaft ihre Bauern 8<zrvi, „nach dein weitesten Umfange des römischen
Rechts, soweit es mit der christlichen Religion zusammenstehen kann." Die
Rücksicht ans die christliche Religion beschränkte sich darauf, daß man die Ehen
der Leibeignen als wirkliche Ehen betrachtete und bei Verkäufen die Ehegatten
nicht von einander zu trennen Pflegte; im übrigen war die Behandlung empörend.
Das Ausreißen wurde epidemisch unter den Bauern; mit Prügeln suchte man
ihm zu steuern, aber natürlich, je kräftiger die Herren prügelten, desto schleu¬
niger rissen die Bauern aus. Um Nachwuchs zu erzielen, gewährte man den
Burschen fürs Heiraten und Kinderzeugen Prämien in — Schnaps. Bis
1765 hatte sich die russische Negierung grundsätzlich uicht in die innern
Angelegenheiten des Landes gemischt, sondern deu Adel, der sich selbst und
das Land ganz allein regierte, ungestört schalten und walten lassen. Als sie
nun von dem genannten Jahre der schlimmen Lage des Bauernstandes ihre
Aufmerksamkeit zuwendete, setzte der Adel ihren Reformbestrebungen anfänglich
den hartnäckigsten Widerstand entgegen. Mit der Zeit aber bildete sich eine
liberale Partei in der Ritterschaft, und auf die dem Adel abgerungnen Zu¬
geständnisse folgte eine Anzahl von den Landtagen freiwillig beschlvßuer, die
in der förmlichen Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahre 1804 ihre Krö-
nung fanden.
In der Biographie Walters und in seinen Landtagspredigten finden sich
nur zarte Andeutungen an die frühern Zustände, dafür aber Klagen über den
Adel und Mahnungen an ihn, aus denen man ersieht, daß die berechtigten
Wünsche des Bauernstandes noch lange nicht alle erfüllt waren. Als die oben
erwähnte Vauernbewegung, die schon vor den Hungerjahren begann, vou Adel
und Geistlichkeit für revolutionär erklärt wurde, erwiderten die um Repressiv-
maßregeln angegangnen russischem Beamten achselzuckend: die Unterdrückung der
Bauern durch die Gutsherren habe die Gährung hervorgerufen, und unter diesen
Umständen könne man wohl füglich keine strengen Maßregeln ergreifen. Im
Jahre 1856 gewann die Reaktion gegen die Bestrebungen der liberalen Land¬
tagsmitglieder, die den Bauer vollends auf seine eignen Füße stellen wollten,
noch einmal die Oberhand. „Gott gebe dem Landtage Verstand!" seufzte
Walter, der gerade in dem genannten Jahre zum erstenmale als General¬
superintendent die Ritterschaft anzureden hatte. Die Grabrede auf den Land¬
tagsmarschall von Stein, mit der er seine Amtsthätigkeit eröffnete, versetzte
die Herren in Wut, und die bald darauf folgende erste Landtagspredigt trug
wenig dazu bei, die Stimmung zu verbessern. „Wie darf solcher Pfaff sich
unterstehen, uns belehren zu wollen!" hieß es. In beiden Reden stellt Walter
der ungeheuern und beinahe unbegrenzten Machtfülle, die die Ritterschaft als
Erbe von den Vätern überkommen habe, die daraus bei christlicher Auffassung
sich ergebende Pflichtenlast gegenüber. „Die Zeit ist vorüber, sagt er in der
Landtagspredigt, wo um dieses einen ^des französischen^ Adels willen in einem
große» Teile der zivilisirten Welt der Adel mit Ungebühr, ja als Ungebühr
behandelt ward; und ob es auch noch heute hie und da einen gäbe, der seine
Seligkeit darin sucht, was die Geschichte bereits gerichtet ^hatj, und sich ge¬
berdet, als ob er nur dazu berechtigt sei, das Land zu besitzen, um es zu zer¬
treten, und als ob die Pflichten der Nichtprivilegirten, die Rechte aber der
Nichtsthnenden wären: die Zeit ist vorüber, und es ist unbillig, der Maro¬
deure Treiben dein Heere zuzuschreiben." Und weiterhin heißt es: „Wer das
Land zu besitzen berechtigt ist, ist damit, als Haushalter Gottes, dessen das
Land ist, und des Herrschers, der ihn im Vesitzrechte schützt, verpflichtet, den
Landbesitz dahin zu verwende», wozu das Land da ist, hier also das Land
sowohl, das der Adel seinem ausschließlichen Besitz hat vorbehalten, als mich
das, welches auf des livländischen Adels eignen und wahrhaft edelmütigen
Vorschlag schon vor fünfzig Jahren, und wieder vor sechs Jahren, kaiserliche
Majestät als für den livländischen Bauern bestimmtes Land anerkannt hat,
das seiner Nutznießung gegen jährliche Vergütung übergeben wird, bis ers zu
erblichem Besitze gewonnen. Ohs Hofland heißt, ob Bauerland, ob steuerfrei
öder livländische Adel war absolut steuerfrei^, ob steuerpflichtig, aller Erdboden
ist da, uns daß er seinen Schöpfer lobe. Das thut er nicht, wen» er aus¬
gesogen wird und wüste da liegt. Der Erdboden lobet Gott, wenn er die
möglich reichste Frucht schafft und behagliches Lebe» de» Me»scheuki»dern, für
die er geschaffen ist, daß sie, nicht wie die Einwohner von Haftanstalten eben
vor Hunger und Blöße nur gesichert, jedes Augenblicks wahrnehmen möchten,
um ihm zu entlaufen, nein, daß sie sich heimisch fühlen auf dieser Erde, durch
all das, was wir eingeschlossen achten in unsre Bitte um das tägliche Brot."
Und in seiner letzten Landtagspredigt ruft er: „Lasset fallen die letzten Frohnen,
denen ihr schon vor zwanzig Jahren das Urteil gesprochen, daß nicht das
ganze Land Schaden leide dnrch einige Säumige! Laßt auch die Pachter,
deren Steigerung nicht, wie die der Frohne, in bestimmte Grenzen geschlossen
werden kann, bald dem Verkaufe des Baucrlcmdes weichen, daß ungetrübtes
Wohlbehagen wieder einziehe in der Bauern Häuser!"
Man kann sich nicht wundern, daß bei so starkem Interessengegensätze
zwischen Adel und Bauern diesen in unsrer Zeit krankhaft erregter nationaler
Empfindlichkeit auch der nationale Gegensatz wieder zum Bewußtsein kam und
sich in der Abneigung gegen deutsche Schulung äußerte. Walter bedauerte es
als einen Fehler, daß der Adel die Zeit seiner unumschränkten Herrschaft nicht
zur vollständigen Germanisirung des Landes benutzt habe. Schon in den
dreißiger Jahren schrieb er: „Das Absorbirtwerden einer an intelligenter Ent¬
wicklung ihrer Nachbarin nachstehenden Nationalität von dieser, namentlich wo
sie einem Volke gehört, das in seiner geringen Kopfzahl keine Hoffnung hat
auf selbständige, nationale Entwicklung der Intelligenz, ist ein naturgemäßer
Akt. Es ist das natürliche Opfer, welches der beschränktere Begriff der Natio¬
nalität dem allgemeinen Begriffe der Menschheit bringen muß, sobald er diesen
nicht in sich realisiren kann; ein Opfer, bei welchem das Volk in seinen Glie¬
dern nicht verloren geht, noch auch verloren geht sein bisheriges nationales
Ringen, ob es auch fürder nicht fortbestehe in seiner Nationalität. Dagegen
von der an Intelligenz höher stehenden Nationalität, und ob sie auch der ge¬
ringern Kopfzahl angehören sollte, zu fordern, daß sie in eine minder intelli¬
gente Nationalität aufgehe, heißt fordern, daß sie nicht nur für künftig ihre
nationale Beschränkung aufgebe, sondern auch aufgebe das Resultat ihres bis¬
herigen nationalen Strebens, ihr nationales Fördern der Menschheit, und das
ist ein Mord an Nationalität und Menschheit." Daß diese Zumutung deu
Deutschen in Rußland nicht erspart bleiben werde, kündigte die Haltung der
russischen Behörden in Walters letzten Lebenssahren schon an; man konnte be¬
merken, daß die russischen Behörden die nationallettische Bewegung im national-
russischen Interesse begünstigten. Dieser Gefahr gegenüber erinnert Walter daran,
was die Deutschen, die bisher fast allein das Bedürfnis des Reichs an Intelli¬
genz gedeckt hätten, diesem gewesen wären, und in einer Denkschrift über die
Bedeutung der Protestantischen Ostseeprovinzen für das russische Reich sagt er:
„Sollte die unselige Unifvrmirungsidee von der einen Sprache und dem einen
Glauben, welche zum Gedeihen eines Staats notwendig sein sollen (ein Gleich¬
machergedanke, der zunächst in den Kommunisten wie Sozialisten, in allen
Revolutionsmännern des Westens spukt), wirklich in den Ostseeprovinzen durch-
geführt werden, dann werden die ihres Glaubens und ihrer Nationalität ent¬
ledigten Livländer aufhören, Nußland zu sein, was sie gewesen; wirkliche und
gute Russen werden sie nie, an schlechten Russen hat aber das Reich auch
ohne sie keinen Maugel,"
Das Eigentümliche des Verhältnisses zwischen Land und Staat endlich
lag darin, daß sich zwar das Land, d. h, sein Adel und die Bürgerschaft von
Riga, einer beinahe vollkommnen Autonomie erfreuten, daß jedoch der Fort¬
bestand dieser Autonomie ganz allein von der persönlichen Willkür des Kaisers,
dessen Urteil und Entschluß aber von dein Bilde der Wirklichkeit abhing, das
ihm in jedem Falle seine rankevollen Höflinge zu entwerfen für gut befanden.
Daß der Kaiser die Religion jedes seiner Unterthanen zu bestimmen habe, daß
ihm gegen seinen Wunsch auch nicht einmal eine Bitte für gewaltsam be¬
kehrte vorgetragen werden dürfe, daran zweifelt kein russischer Beamter, mag
er auch den Evangelischen noch so wohlwollend gesinnt, mag er auch selbst
evangelisch sein. Auch Walter hat gegen diesen ungeheuerlichen Rechtszustand
kein Wort einzuwenden. Wie sich sein protestantisches Gewissen damit ab¬
gefunden haben mag, kann man aus der Bemerkung seines Biographen schließen:
„Es widerstrebte seiner religiösen Denkweise, leichthin die Meinung zu fassen,
Gott Hütte einen Unwürdigen an eine solche Stelle gesetzt und mit so großer
Macht über die Menschen ausgerüstet." Daß denselben Thron vormals Iwan
der Schreckliche innegehabt hatte, daran mag er bei solchen Erwägungen nicht
gedacht haben. Von Nikolaus versah er sich keiner Ungerechtigkeit, keiner Ge¬
waltthat, keiner Falschheit; was auch Schlimmes unter ihm geschehen mochte,
es war alles nur das Werk ungetreuer Diener. Auch die andre naheliegende
Erwägung scheint ihm nicht ausgestoßen zu sein, was wohl Gottes Fürsorge
für die Besetzung der Throne mit guten Menschen nütze, wenn nicht die Güte
dieser as M-s allmächtigen Gebieter, sondern die Schlechtigkeit der thatsächlich
herrschenden Diener entscheidet.
Im einzelnen haben Walter und seine Freunde so manches erreicht; sie
haben z. V. die theologische Fakultät Dorpat vor der Verkümmerung durch
ein Seminar errettet und eine Menge von der griechischen Kirche beanspruchter
Bauern lvsgebeten. Im ganzen aber unterlag ihre Richtung der erwachten
nationalrussischen Strömung. In seiner letzten LaudtagSpredigt pochte Walter
auf den Protestantismus und die deutsche Nationalität der baltischen Ritter¬
schaft, mahnte sie, in deu Schulen nachzuholen, was in der Germnnisirung des
lettischen Landvolks versäumt worden sei, und rief: „Jedenfalls aber bleibe, neben
den an Kopfzahl so weit überragenden deutschen Bürgern, die Ritter- und Land¬
schaft deutsch, sich dazu kräftigend durch möglichst erneute Berührung mit dem
väterlichen Volksstamme in dessen Heimat." Das brach ihm den Hals. Er ward
beschuldigt, die Ostseeprovinzen zur Losreißung vou Rußland ausgesetzt zu
haben. Kaiser Alexander der Zweite äußerte: „Mich hat in der Predigt
nichts bestoßen jÄe!j, aber die allgemeine Empörung der russischen öffentlichen
Meinung verlangt ein Opfer, und mir wirds schwer einem so loyalen Unter¬
thanen und treuen Anhänger gegenüber."
Seitdem haben sich die Dinge in den baltischen Provinzen ihrer „im¬
manenten Dialektik" nach weiter entwickelt. Diese Entwicklung hat zwei Seiten,
eine für uns Reichsdeutsche, und eine für die Weltgeschichte im allgemeinem
In ersterer Beziehung ist ja wohl niemand bei uns so thöricht, an eine An¬
nexion jenes fernen Landstrichs an Preußen zu denken. Aber es giebt Leute,
die auf deu dereinstigen Zerfall Rußlands hoffen und sich vorstellen, es wäre
schön, wenn dann die Brüder am baltische» Meere noch vorhanden wären
und uns beim Antritt der Erbschaft behilflich sei» könnten. Daß alter Hanse-
und deutscher Nitterbesitz, daß die Wiege Herders und einer großen Anzahl
von achtungswerten Vertretern deutscher Bildung dem Vaterlande für immer
und in jedem Sinne verloren gehen soll, darüber zu klagen haben wir wohl
kein Recht mehr; solche sentimentale Regungen gestattet die heute herrschende
Realpolitik nicht mehr. Für die Weltgeschichte im allgemeinen aber bedeutet
das Schicksal der baltischen Deutschen, daß die Idee des absoluten National¬
staats gegen Völkerbrnchteile von höherer Kultur so gut gilt wie gegen solche
von niederer. Wenn das Recht ohne Rest in der Macht aufgeht, wenn die
zum Schutze vou Minderheiten oder annektirten Landschaften abgeschlossen
Verträge nnr so lange gelten, als der stärkere Teil es nicht für „opportun"
hält, sie zu breche», wen» der jeweilige Machthaber, sei es ein Monarch, oder
eine zufällige Kammcnnehrheit, oder eine Bureaukratie, außer der Rücksicht auf
das, was ihm im Augenblick als der Staatsnutzen erscheint, keine andre Grenze
feiner Willkür kennt, dann wird mit einer Minderheit der allserlesensten Geister
so wenig Federlesens gemacht wie mit einer Zigeunerbande, und über das
Schicksal der Völker entscheidet nicht mehr ihre höhere Kultur, sondern die
Menge des Geldes, der guten Gewehre und der waffenfähigen Männer, die
jedes besitzt. Die Gegenwart ist nun zwar geneigt, zu hoffen, dieser Besitz
werde sich im großen und ganzen immer dort finden, wo die höhere Kultur
ist, und wir möchten diese Hoffnung um keinen Preis entmutigen; allein der
Begriff der höhern K»le»r selbst scheint uns zweifelhaft zu werden, wen»
Treue und Gerechtigkeit nicht mehr daz» gehöre» solle».
as gäbe ich drum, wenn ich jetzt ein gediegnes langes Zitat ans
einem antiken Schriftsteller zur Hand hätte, das meiner Berech¬
tigung zum Panuonisteu einen ehrwürdigen Stempel aufdrückte
und mich der Verpflichtung überhöbe, über solch ein nutik be¬
legtes Thema etwas neues vorzubringen. Leider bin ich in
diesem Falle mein einziger klassischer Schriftsteller, und das — übrigens sehr
wohlfeile — Reisebillet der Kaschau-Oderberger Bahn ist der einzige Berech¬
tigungsschein für mein Unterfangen, fern von allen Hilfsmitteln der gelehrten
Welt in einem mangelhaft geheizten, „sommerfrischen" Zimmer im Gebiete der
obersten Waag meinen westlichern Lesern neue Lichter über Ungarns Land und
Leute aufzustecken. Aber einen gewaltigen Nothelfer und Bundesgenossen kann
ich aufweisen: den Nebel. Zum Greifen leibhaftig lagert er sich vor meinen
Fenstern, er verhüllt nur nicht bloß die Lomuitzer und Schlagendorfer, sondern
geradezu meine eigne Nasenspitze, es ist bisher das einzige, was ich von der
„hohen Tatra" zu sehn bekommen habe — und er, der dem Kundigen so viele
Mhthen und Sagen in allen Gegenden des Erdenrunds erklärt, er sollte nicht
auch für meine „Pannonischen Bilder" einstehn?
Aber ich will keine Mythen erzählen und in das wallende, wogende,
granweißliche Meer um mich her, das mir die Aussicht ins Land versperrt,
keine Spukgestalten und Lügeugeschichten hineindichten. Wie graute mir in
meiner Jugend vor den wild zerrißnen Thälern und unendlichen Wäldern
dahinten gleich bei der Türkei —, wo düstere Magnatenschlösser, zwischen
himmelhochrageuden Tannen versteckt, schauerliche Geheimnisse bargen, Räuber
das Land durchstreifte», Zigeuner geraubte Grafentiuder in Erdhöhlen schleppten,
und vornehme Flüchtlinge als Flößer verkleidet die reißende Waag hinnnter-
schwammen. Jetzt sitze ich selber für ein ganz prosaisches modernstes Zonen¬
tarifbillet der Kaschan-Oderberger Bahn in diesen zerklüfteten Bergen unter den
hochragenden Tannen ihrer unendlichen Wälder. Ich weiß, daß es hier noch
ziemlich weit ist bis zur Türkei, daß die Maguatenschlösser auf der Audrassy-
straßc in Pest stehn und keineswegs düster sind, daß ein „Gvrale" zwar unter
Umständen wie drei Räuber aussehn kann, aber sich selber zu fürchten pflegt
wie zehn Hasen, daß die Zigeuner an ihren eignen Kindern genug haben, um
sich noch mit Grafenkindern zik schleppe», und daß die frühern Flvßerflücht-
linge gegenwärtig ihren ergebensten König in ihrer selbständigen Hauptstadt
zum fünfundzwanzigjährigen Krönungsjubiläum verurteilen.
So wird alles vernünftig und aufgeklärt in dieser fortgeschrittensten der
möglichen Welten. Nur das Wetter nicht! Das bleibt romantisch, was so
viel heißen will, als „zum Rückschritt anregend," „unberechenbar," „schmutzig."
Aber eben deshalb hat es sein gutes, dieses verflixte Wetter. Mau kann
darüber noch reden. Sonst über nichts mehr in der Welt. Es ist alles so
wohlpolizirt, selbstverständlich, reglementmäßig nichtssagend, wie eine Nummer
des Reichsanzeigers oder der Orientexpreßzug. Der dicke Viehhändler aus
Großwardein, der in Czvlna einstieg, hatte ganz Recht, als er bemerkte: „Es
giebt nnr zwei »Faktoren,« die in Frage kommen, den Saatenstand und die
Grenzsperre!"
Er hatte einen großen Haß gegen die modernen Einrichtungen, dieser
Romantiker des Schlachthofes, dieser Skeptiker der Trichinose, der diese Krank¬
heit lediglich als eine Erfindung tierärztlicher Gewinnsucht darstellt, dieser
Magnat und Bannerherr ungezählten Hornviehs zwischen Leitha und Waag;
einer von jenen Ösmagharen, „die mit Arpad ins Land kamen" und zwischen
Pferden, Schweinen und Rindern sich den erhabnen Glauben bewahrten, der
sich zwischen Akten, Folianten und diplomatischen Noten so leicht verliert, den
Glauben an die Freiheit, das heilige Menscheugnt, das den Ungarn anvertraut
ist als ein Palladium zur Aufbewahrung für alle kommenden Geschlechter.
Denn man muß wissen: Als der Großherr, der Vater des Unglaubens und
der Thrannei, vom Teufel und seinem Lügenvropheteu angestiftet war, die
Völker in Ketten zu schlagen und keiner sich ihm zu widersetzen wagte, als
der Kaiser in seiner Hofburg zitterte und bangte und der Pole in hellen Haufen
in seiue dicken Wälder floh, da berief Gott deu Arpad mit seinen Scharen
und schickte sie auf ihren schnellsten Rossen in die weiten Ebnen zwischen der
Donau und der Theiß. Dort standen sie und baten Christus um ein Zeichen,
daß er ihnen beistehn wolle im heiligen Kampfe gegen die Ungläubigen und
Unterdrücker. Nichts war da, was sie beschützen konnte, keine Burgen ans
dräuenden Felsen, keine dichten Wälder, keine Höhlen mit sichern Verstecken.
Nur die Ebne breitete sich um sie aus, weit und frei wie die Decke des
Himmels, und im Winde schwankten und rauschten die Grashalme auf der
unendlichen grünen Fläche. Da erschienen die Feldzeichen der Unterdrücker
am Horizont, und mit Wutgeheul stürzten sich die Tyranuenknechte auf die
unbewehrten Söhne der Freiheit. Und siehe, es geschah ein Zeichen und ein
großes Wunder. In ihrer Not kauerten sie sich nieder und griffen zu den
Grashalmen zu ihren Füßen. Und die Grashalme wurden scharfgeschliffne,
blitzende Schwerter in ihren Händen, sie schwangen sie ans die unzählbaren
Haufen ihrer gewappneten Bedränger, und die Schwerter durchdrangen den
härtesten Panzer und durchschnitten die festeste Kette, kein Arm ermüdete, der
solch ein Schwert führte, und am Abend des Tages färbten Ströme von Blut
die grünen Flächen, und darauf blinkten hell und rein und ohne Flecken die
glänzenden Schwerter der Freiheit.
Kann ein Viehhändler ein Symbolist sein? Und ist ein Schlachthof wohl
das geeignete milieu zum Ausspinnen so tiefsinniger Bilder für das Höchste
und Heiligste, was Menschenbrust bewegt? Ihr aufregenden Farben des
Ungarnbauners, wie beruhigend erscheint ihr mir, seit ich diese unbewußte
Deutung eures etwas stark allgegenwärtigen Zaubers kenne! Und das edle
Volk, das mit dem lieben Vieh zu thun hat, bis herab zum schmutzigsten
Schweinetreiber im Bnkouyiwalde von weiland König David angefangen, der
sich bekanntlich auch beim lieben Vieh auf die Befreiung seines Volks vor¬
bereitete — wie geistig groß und erhaben erscheint es bei seiner irdisch ange-
dufteten animalischen Beschäftigung! Es ist kein Kompliment für die Regenten,
daß sie bei den Menschen nur die Tyrannei lernen und „vou den Herden"
weggenommen werden müssen, um im Notfall was zu taugen. Ach, alle gute
und edle Frucht auf dieser irdischen Erde braucht recht hundsgemeinen Dünger.
So gedeihen denn auch die beiden edelsten Blüten des Menschengeistes, die
Freiheit und die Poesie, mir „in einem Thal bei armen Hirten," und im Stalle
ward seine heilige Frucht zur Welt gebracht, die alles umfassende Liebe und
göttliche Gerechtigkeit.
Unter dem männlichen Landvolk, das sich in seinen Weißen Wvllkitteln
und hufähulichen schwarzen Sandalen, den unförmigen, schweren schwarzen
Klumpenhut auf dem haarumflatterten, bartlosen Haupte um die Eisenbahu-
zllge herumtreibt, verladen wie sein liebes Vieh zu schwerer, schlecht bezahlter
Hölzer- und Flößerarbeit, unter diesen Halbmenschen und Ganzkerlen findet
sich manches höchst merkwürdige Gesicht. Jedem fällt das auf, der durch diese
Gegenden reist. Es sind Gestalten wie aus den Bildern der alten deutschen
und niederländische!, Meister, die sich um deu gekreuzigten Christus, den auf¬
erweckten Lcizarus oder sonst irgend eine aufregende Szene der biblischen und
evangelischen Geschichte drängen. Tiefernste, kühne, auch trotzige, selbstherrliche
Gesichter von einer ganz eignen, schwer faßlichen und noch schwerer zu er¬
klärenden gebändigten Wildheit. In einzelnen dieser Köpfe erreicht der ab¬
sonderliche Typus eine wunderliche Höhe von uicderschmetterndem, beherrschen¬
den Kraftbewußtsein. Große, geschloßne Bewegungen, unerschütterte Haltung,
starr angespannter, stetiger Ausdruck, das Pathos der Entbehrungssähigkeit
und des Todesmuth. Sie bedürfen nichts. Sie spinnen sich ihren Wollkittel
und ihr grobes Leinenhemd allein, zimmern sich selbst ihre Blockhütte und
schroten selbst den Mais für ihr kärgliches Mahl. Dafür setzen sie ihr Leben
aufs Spiel. Der aufgeregte Fluß rafft sie im Frühjahr zu Scharen dahin
und fordert seine Opfer vollzählig durch das ganze Jahr. Aber sie sind zu-
frieden. Sie wollen nichts weiter als kämpfen und untergehen gegen die
elementaren Gewalten, die den Menschen zu bezwingen streben, den Freigebornen
der Schöpfung,
Auffällig ist die Farblosigkeit der Tracht in diesen Gegenden. Schwarz
und weiß, wie das preußische Todesbanuer! Die Frauen tragen lange flat¬
ternde, weiße Leiuenmäntel, die sie nnter dem Halse zusammenbinden, weiße
Kopftücher und schwarze Schürzen. Sie sind gar nicht schön, ungleich den
Männern, völlig uninteressant. Schon dies könnte uns in der Ansicht be¬
stärken, daß wir es hier nicht mit flammensten Slawen zu thun haben, diesem
farbensrohesten, leichtlebigsten, geuußfreudigsteu Menschenschlag mit den liebens¬
würdigen Manieren und den schönen Frauen. Was sind sie eigentlich, diese
seltsamen Menschen mit ihrer angelernten, verdorbnen, aus allen slawischen
Idiomen zusammengestöppelten Sprache, ihren langen Schädeln mit den wal¬
lenden Hcldeumähueu, den sprechenden Angen und dem bartlosen, zusammen¬
gepreßten Munde? Könnte man nicht an alte Gothen denken, die vor den
Zeiten der Völkerwandruug hier saßen, und deren versprengte Neste man an
den äußersten Endpunkten ihrer thronstürzendeu und thrvnbcgründeuden Helden¬
züge mit der linguistischen und ethnographischen Laterne mühsam aufspürt?
Hier wäre mehr! Vielleicht das alte Volk selbst in seiner uralten Verfassung
und seinen angestammten Verhältnissen, der zurückgebliebne Grundstock jener
unruhigen Wanderzügler, nur sprachlich gemodelt, aber uicht hinweggespült
von der slawischen Völkerwelle; ein ethnologischer Petrefakt aus der ante-
diluvianischer historischen Schicht jener ungeheuern Gotcnfürsten, deren An¬
denken fortklingt in den ältesten Liedern und Mythen der Germanen! War
es nicht am Ende dies, was mich so wundersam berührte an der Erscheinung
des Steinalten, riesenhaften Hirten mit den nur an den Spitzen ergrauten
Lvckensträhnen um deu aufrechten Hals, der mit seinem spitzen Bergstabe wie
mit einer Lanze die dichte Menge zerteilte und mit solch heroisch wehmütigen
Lächeln in seine vierte Klasse stieg! Alter Hildebrand, welche Wala hätte es
dir geweissagt, und in welchen Runen stand es geschrieben, nachdem du deinen
geliebten Herrn verlieren und deinen verblendeten Sohn im Zweikampf töten
mußtest, daß du noch einmal würdest vierter Klasse fahren müssen — auf
ein Zoneutarifbillet der Kaschan-Oderberger Bahn!
Die Landschaft an der Waag ist voller Anmut, mit den feinsten idyllischen
Reizen lockend, gelegentlich aber auch durch einen schroffen, kühnen Zug auf¬
schreckend, durch eine» gewaltigen Ausblick erhebend. Auch die Romantik der
Burgruine fehlt uicht. Zu Paaren grüßen sie sich freundlich oder feindlich
auf den Granitkegcln der in der Längsrichtung wie eine der ans ihnen wei¬
denden Rinderherden vorwärtsstrebendeu Bergzüge. „Die waren alle noch
bewohnt in der guten Zeit," bemerkte mein romantischer Viehhändler, als ob
er von gestern spräche. „Viele flohen da hinauf vor dem Türken und seiner
Macht, Weiber und Kinder. Jetzt wohnt der Uhu drinnen und die wilde
Katze. Es ist mancher Schatz da vergrabe«? von den Römerzeiten her." Er
zeigte mir wirklich eine römische Kaisermünze aus Gold, die er als Berloque
an der dicken Uhrkette trug. „Die Hirten haben viel dergleichen und verkaufen
es für ein paar Kreuzer. Es ist ein gedüngter Boden, Blut und Gold und
Gold und Blut! Das giebt ein feines Salz, das das Vieh fett macht. Uugar-
vieh hat ein besondres Futter."
Der Fluß, den man in allen Gestalten kennen lernt als majestätischen
Ebnenstrom, als lieblichen Thalfluß mit snuftgerundeten Krümmungen und
buschigen Hängen, als wilden Bergstürzer, der die Ketten der Vergzüge durch¬
bricht und unter schwindelnden Brücken unter uns vorüberschießt, er teilt sich
und verliert sich in armbreite Gebirgsquellen. Immer höher und kälter, wird
es, die Lokomotive schleppt pustend und keuchend. Wir sind im Gebiete der
hohen Tatra angelangt.
„Noch etwas früh!" hatte die schöne Olinka, unsre leider nur allzu
flüchtige, aber auserwählte Vertreterin der berufnen Ungarinuenschvuheit, aus¬
gerufen, als wir unser Reiseziel, die Tatrabüder, genannt hatten; und ihr
Onkel, der Advokat ans einem Neste mit unendlichsilbigem Namen, hatte mit
seiner sprech- und lachlustiger Frau Gemahlin lebhaft zugestimmt. Sie machten
einen sehr mäßigen Pfingstausflug, um den Blumenflor für die würdige Feier
des Kronjubiläums in ihrem uneudlichsilbigen Neste aus Lipto-Szene-Miklosz
zu besorgen. Eine polnische Freundin der schönen Olinka, wahrscheinlich frisch
mitgebracht aus der Pension in Lausanne, freute sich sehr darauf, bei dieser
Gelegenheit einen echten Czardas tanzen zu sehen. Die Vielsprachigkeit dieser
jungen Damen war fast so sinnverwirrend als Olinkas „taufrische" Schönheit.
Ungarisch, deutsch, französisch, polnisch schwirrte es durch einander, am Ende
— es fällt mir nachträglich ein — hätte nach alter Ungarmnode auch La¬
teinisch in dem Konzert nicht gefehlt. „Ich habe gemeint, man spräche in
Ungarn nur ungarisch!" Diese kleinlaute Bemerkung, eine „verdichtete" Er¬
fahrung aus einem frühern Aufenthalt in Budapest, war mir entschlüpft und
hatte mir einen zornigen Blitz aus Olinkas sonst kiuderhaft guten, schwarzen
Augen zugezogen. Ich hatte es von diesem Augenblick an mit ihrer schönen
Ungnrnseele verdorben. Es ist eine gute Sache um das Nationalgefühl, aber
es erstickt in unsern Tagen die behaglichsten Gemeingefühle und verdirbt die
besten Reisebekanntschaften.
So kam es, daß die so freundlich am Horizont der Tatra aufgetauchte
Nationalitütserscheinnng verschwand, ohne mir sei es auf deutsch, polnisch,
französisch oder gar ans ungarisch Adieu zu sagen. Nur die Polin flüsterte
nach der verbindlichen Weise ihres Stammes ihr graziöses ^.u revoir. Wir
gerieten, wie angekündigt, allzubald in den dichtesten Tatrauebel und haben
von da an nur noch Zigeuner und Slowaken, höchstens noch fluchende Kutscher
und Hotelmädchen mit erfrornen Nasenspitzen, aber keine schönen Polinnen und
gar keine Ungarinnen mehr gesehen.
Die eigentlichen Tatrastädte — das Zipser Kvmitat — sind bekanntlich
deutsch oder sollen es wenigstens bekanntlich sein. Belege dafür sind für mich
zwei deutsche Blätter, die dort täglich mit Ausnahme der Wochentage erscheinen.
Es sind keine Witzblätter, denn sie berichten wesentlich über Tatrareisen, und
dabei hört der Spaß gewöhnlich ans. Die vielen Obcrschlesier, aus denen sich
der Stamm der Tatrareisenden im Kerne zusammensetzt, mögen sie zu ihren
Zwecken benutzen. Sonst mahnt nichts an Deutschland, aber auch — etwa
bis auf die streng ungarischen Aufschriften sogar in dem kleinen Tatramuseum
zu Pvprad — auch gar nichts an Ungarn. Es ist ein in unsern nationalen
Hundstagen erfrischend unuativuales Land. Ich will daher über die Herkunft
der braven Zipser auch nicht die obligaten historisch-genealogischen Unter¬
suchungen anstellen, denen sich jeder Tatrareiseführer — erster und zweiter
.Klasse, wie sich die mündlichen Tatraführer dort in hierarchischer Ordnung
scheiden — mit der nötigen, von Sachkenntnis nicht getrübten Voreingenommen¬
heit hingiebt. Es ist uns völlig gleichgiltig, ob die Zipser aus Flandern,
Schwaben oder Sachsen eingewandert sind, zumal da die, die wir zu kennen
die Ehre gehabt haben, durchgehend slowakisch sprechen. Es ist uns »och gleich-
giltiger, herauszubekommen, ob sie weiland reformirt, kontrareformirt oder
katholisch ans ihrem Lande gejagt worden sind. Denn obwohl sich die Zipser
eines eignen Bischofs erfreuen, erklärte unser Kutscher auf unsre heiligsten Be¬
schwörungen, uns nicht den Abgrund hinunterstürzen zu wollen, daß ihn Gott
nichts angehe, und daß alles Unsinn sei.
Dagegen mochte ich die prähistorische Hypothese wagen, daß die Zipser
ursprünglich Konditoren oder Zuckerbäcker gewesen seien. Nicht in dem Sinne,
in dem Sextaner dies von Romulus und Remus behaupten. Nein, in vollen:
völkerknndigem Ernste. Diese auffallende Sitte, die Häuser rosarot oder safran¬
gelb anzustreichen, läßt doch bündige Schlüsse auf eine eingehende nationale
Beschäftigung mit Himbeerauflauf und Pastetchen zu. Auch die Kirchtürme
haben in dem Lande so ein appetitlich gequirltes und „in die Form geschlagnes"
Ansehen. Ich möchte diese Spur nicht weiter verfolgen und eröffne sie nur
beiläufig, aber mit vollster „Selbstlosigkeit" unsern ethnologischen Hypothesen-
jägeru und ihrer unerschöpflichen Spürkraft. Doch dürfen sie die „Dobschauer
Eishöhle" nicht in ihre Hypothese hineinmengen, weil das nicht mehr streng
wissenschaftlich, sondern ein Kalauer wäre.
Die Eishöhle von Dobschau verdient in hohem Grade ernst genommen
zu werden. Nicht bloß wissenschaftlich, insofern sie den Touristen Gelegenheit
giebt, die jeweilig in ihren x. t. Führern vertretene Deluesche Kaltlufttheorie
oder die Schwalbische Kapillarwirknngslehre gegen einander zu verfechten. Wie
diese unendlichen Eismassen da wenige Fuß unter der üppigsten Hochwald-
Vegetation entstehn und sich erhalten mögen, scheint uns weder die eine noch
die andre dieser Theorien hinreichend zu erklären. Genug, daß sie basirt an
einigen wenigen auf den Nullpunkt des Thermometers kaprizirteu Erdstellen,
und daß sie die phantastischsten und verwegensten Bilder und Situationen her¬
vorzaubern können, die unser den Erdpolen gegenüber noch immer so sprödes
Forscher- und Dichtergehirn denken und sich vorstelle» kann. Vereister kann
es selbst am allereisigstcn Südpol — der ja eisreicher sein soll als der Nord¬
pol —, „gletscherhafter" auf dem unerstiegnen Dhawalagiri und Kiutschinjunga
nicht aussehn, als hier mitten im Znslußgebiet der schönen, blauen Donau.
Eissäuleu entstehn dort nach Angabe des Führers „im Umsehen," wie weiland
die Salzsäulen um Sodom und Gomorrha. Aber es müßten Damen von
umfassendster Neugierde sein, wenn sie sich darein verwandeln wollten, denn
diese Eissäuleu sind vou einer erstaunlicher Gestaltuugsfülle und nehmen darin
nach der Versicherung des Führers stetig zu. Nur die unablässig arbeitende
Axt kann so die Höhle vor dem allmählichen Übergehn in eine einzige kom¬
pakte Eismasse bewahren. Die Macht des Wassertropfens, die einflußreichste
unter den erdgestaltenden Faktoren, wirkt auch hier. Leise sickert er durch die
engen Spalten des Kalksteins, und dieselben launenhaften Gestaltungen eines
regellosen Bildungstriebes, wie in den Tropfsteinhöhlen, zaubert wie dort die
Auswaschung und Erweichung, so hier die Ansehung und Erstarrung hervor.
Sie wirkt von den Myriaden funkelnder Eislrhstalle, die wie Christbaum- oder
gewisse andre Sterne die Wände und Decken überkleiden und in den Knopf¬
löchern der staatserhaltenden Besucher vom Nachtwächter aufwärts ein tiefes
Gefühl unausgefüllter Sehnsucht erregen; von den Zäpfchen und Zapfen, die
wie Spieße und Dolche uns allerorten entgegen starren, bis zu den phan¬
tastischen Figuren und Formationen, in deren Deutung der Führerwitz sonst
so abenteuerliche Sprünge macht, während er hier, vielleicht in dem Bewußt¬
sein des Überschwangs seines Materials, mit einem trocken wissenschaftlichen:
„Der Name thut nichts zur Sache" zur Tagesordnung übergeht, angemessener
ausgedrückt: übergleitet. Deal wir befinden uns hier stets ans „schiefem,
glattem Boden," dem der Fuß der leicht Verführbaren, wie der Unberühr-
baren gleich leicht entgleitet. In der That, wir würden Faust nicht rate»,
seinen Weg „vom Himmel durch die Welt zur Hölle" über die große Eis-
sturztrcppe in der Dvbschauer Höhle zu nehmen. Sein Rückbillet in den
Himmel büßte er ein, und Mephistopheles hätte am Schluß gewonnenes Spiel.
Nein, es ist ganz gewiß keine Szenerie für Fausts „Zweiten Teil," sür
Helenabeschwörnngeu, klassische Walpurgisnächte, selige Knaben und roscn-
spendende Büßerinnen. Aber der nordisch-heidnisch-germanische Faust, der paßt
in diese Höhle, in diese Wälder, um deu erhabnen Geist anzurufen, der ihm
alles, alles gab — die allwaltende Natur zum Königreich, Kraft sie zu fassen,
zu genießen —, nur nicht die Ruhe, deu Frieden des Genügens. Hier ist der
nötige Kontrast für eine solche Empfindung: eine Starrheit, eine in sich ab-
geschloßne Selbstfertigkeit, eine alles abweisende Todeseinsamkeit, wie sie kein
Ort des Sterbens und der Entsagung sonst darstellt in der daran so reichen
Welt. Grabkammern des Willens, Grüfte ohne Moder und Verwesungsduft
scheinen diese Katakomben des ewigen Eises. Kein Besucher, und wäre er noch
so pfingstmäßig angeregt, kann sich dem Schauder entziehen, den alles ganz
und völlig Leblose, Daseinsfreude auf deu fühlenden Geist hervorbringt.
Noch liegt ein Hauch des Unberührten, Unbetretnen, nicht zu Betretenden auf
diesen Jahrtausende alten und erst seit zwanzig Jahren dem unaufhaltsamen
Menschenfnsze erschloßnen Grotten und Gängen. So malt sich die kühnste
Märchenphantasie Eiskönigs Palast und die Wohnungen der grimmigen Reif¬
riesen der nordischen Sage. Ein Böcklinsches Auge für diese unterirdische Welt
von weißblauen Glitzerglanz, grünlich polirten Grotten, schneeigen Säulen und
ungeheuern, fließenden Marmvrwänden! Denn der unten liegende mit dem
Eise veralgamirte Kalk setzt seine bekannte Zeichnung durch durch alle bedeckenden
Schichten, und das charakteristische Schillern des feuchterstarrten Elements giebt
jenen unglaublichen Eindruck des flüssigen Marmors.
Aber wir geraten ins Schwärmen, was' einem Neiseschriftsteller übel
ansteht. Sein Wahlspruch sei, zumal in unsrer naturalistischen Zeit, das An
mwuriU'i! Schwärmerei ist heute nnr noch der Reklame erlaubt, und Reklame
wird nur dann für anständig gehalten, wenn etwas dabei herauskommt. Aber
was ist für mich bei der Fahrt nach Dvbschciu herausgekommen? Nebel,
Regen und ans ihren Erdlöchern einige Nudel halbnackter, frierender Zigeuner.
Der Weg dnrch diese einsamen Langthäler der Ostkarpatcn, von denen scheinbar
ohne Aufhören eins das andere ablöst, ist sonst sehr lohnend. Sie verbinden
alle intimen Reize der deutschen Mittelgebirge mit den größer» Zügen, dem
freiern Schwunge der Nlpcnlandschaft. Die gleichförmigen, dichten Wälder,
der Mangel an Wasser und menschlicher Ansiedlung geben ihnen ein verschloßnes,
melancholisches Ansehen. Bis auf wenige schlechtgenährte Pferde habe ich
nichts dort weiden sehn. Unglaublich ist die Armut und das Elend, das man
in den paar Slomakendörfern am Wege zu sehn bekommt, und das seltsam zu
den auch dort schon nicht fehlenden pompösen Soinmerfrischenanlagen stimmt.
Es ist die Welt, in der man bettelt, friert und hungert. Es ist kein Wunder,
daß die Frauen hier so häßlich und verkümmert sind. Die Ansprüche, die
hier an die Frau als das Lasttier der Familie gestellt werden, überschreiten
alles erdenkliche Maß. Besonders habe ich mich über die dem rauhen Höhen¬
klima so wenig angemeßne Kleidung gewundert. Ein flatterndes, an den
Hüften zusammengeschnürtes Kattnnröckchen, die Füße in hohen Wasserstiefeln —
das scheint alles. Es ist schwer glaublich, daß noch etwas darunter sei. Und
das bei fünf Grad Neaumur und schneidendem Höhenwind!
Gegen die „Tracht" der Zigeuner ist dies alles freilich noch Luxuskleidung.
Man kann sich also denken, was dann wohl übrig bleibt. Sie bedecken ihre
Blöße durch starrenden Schmutz. Diese Leute wohnen hier unter dem Land¬
volk weniger wie Parias, als wie abergläubisch geduldete Tiere. Ich mußte
an die durch Schopenhauer berüchtigten heiligen Affen von Benares denken.
Eine Art von verfluchter Unverletzlichkeit, ein schlimmes ohn knüpft sich überall
an das trübselig interessante Volk. Ihre Sprache, die nach Indien, ihre
Körperbildung, die nach Ägypten, und ihr Charakter, der unweigerlich ins
Zuchthaus weist — eine wunderliche Zusammensetzung von Rätseln, die ihre
Lösung hartnäckig versagen. Wenn in diesem Volke sich eine der vielbernfnen
historischen Ideen verkörpern sollte, so ist es ohne Zweifel die der Faulheit.
Die Zigeuner haben sich gegen die Gesellschaft verschworen, an dem seit dem
Sündenfall eingerißnen Vorurteil der Arbeit nicht teilzunehmen. Vielleicht
sind es die direkten Nachkommen Adams und Evas. Sie führen ihr para¬
diesisches Dasein weiter unter nichts weniger als paradiesischen Zuständen. Wie
groß muß die Faulheit jenes herkulisch gebauten Jünglings mit der Sacklein¬
wand um die Blöße sein, daß er sich nicht, wenn nicht vor Frost, so wenigstens
aus Eitelkeit ein Paar Kreuzer zu einem Hemd verdient? Man wende nicht
etwa die Thesen des Arbeitsmarkts zu seinen Gunsten um. In diesen Strichen
der Erdoberfläche verlieren Malthus und Marx ihre Geltung. Da giebt es
wenig Menschen, man braucht die paar Hände, die da sind. Aber lieber nackt
in Erdlöchern wohnen und alle List und Findigkeit mit Daransctzung von
Leib und Leben aufs Stehlen konzentriren, als eine zwingende Arbeit verrichten!
Die ungarischen Zigeuner sind keineswegs ungeschickt. Ihr Hufbeschlag ist
gesucht, führt sie aber alsbald wieder auf die „freiere" Kunst des Roßtauscheus.
In den Dörfern haben sie eine Art Mterio iznolüv inne, nämlich eine
Flucht durch Latten gekeuuzeichueter Erdlöcher, die sich am Abhang über deu
Dorfhütten hinzieht. So habe ich es wenigstens auf der Durchfahrt ange¬
troffen. Eine treffende Illustration für ihre Ansprüche im großen Welttheater.
Diese schmutzigen Slvwakcnhtttten da oben in den Karpaten scheinen schon
der letzte erdenkliche Platz. Aber drüber hinaus giebt es noch einen, o einen
trübseligen Platz zur Bewältigung einer so tragischen Geschichte wie das Leben!
Aber er gefüllt deu Leuten. Es ist ein Freiplatz!
Wie sich diese Rassen in jenen Dörfern gegenüberstehn, kann man sich
schwer einen größern Gegensatz denken. Die flachsblonden, breitstirnigen, stark¬
knochigen Germanoslawen, und die braunen, schlankbeweglichen, dunkeläugiger
Kinder des Südens mit dem kohlschwarzen Gelock, der hamitisch aufgestülpten
Nase, der niedern, zurückfliegenden Stirn. Bis auf deu erwähnten jungen
Mann, der an den arabischen Typus hinanreichte, habe ich kein hübsches oder
gar schönes Gesicht uuter ihnen gesehn. Unter den Kindern findet man wahre
Affenphysiognvmien, daneben auch interessante und namentlich drollige Vubeu-
gesichter, die für unsre italienischen minori- und liguri-Verkäufer passiren
könnten. Daß die Rassenmischung nicht ausbleibt, dafür sorgen die Zigeune¬
rinnen. Schmutzig blondes Haar auf so einem Zigeunerschädel wirkt hoch¬
komisch. Am Vetteln beteiligt sich übrigens die blonde Rasse ebenso ausgiebig,
wie die schwarze. Doch wird es durchaus gesondert besorgt. Die Bauern¬
kinder haben ihren Anger, und die Zigeunerkinder kriechen unter den Treppen
und Einfahrten der Herberge herum. Auch bei Schlägereien bleibt man unter
sich, was gewiß die freundlichste Gestaltung der Rassenabsonderung bedeutet.
Die stolzeste Erscheinung in diesen Dörfern sind die jungen Burschen,
eine Art Szlachta und freie Adelsgenosscnschaft, die in der Herberge repräsentirt,
faul herumsteht, raucht, trinkt, schwatzt und spielt. Kräftige, kühne Gestalten
mit einer Art Rest von einem Panzer um Brust und Hüften, einem Gurt¬
gehänge, das in vier, fünf Reihen mit ringsherum laufenden Messingplatten
beschlagen ist. Einen andern Zweck, als martialisches Aussehn zu befördern,
scheint die Sache nicht zu haben. Die Burschen scheinen harmloser, als unsre
Oberbaiern. Einer Rauferei habe ich nicht beigewohnt. Fürs Boxen wäre
jener Gurtpanzer gewiß ein trefflicher Schutz der zumeist bedrohten edlern
Teile. Die einzige thätliche Auseinandersetzung, deren ich ansichtig wurde,
lief sehr zahm ab, als nämlich die Herbergswirtin einen der Dorfelegauts, der
sich allzu nahe an ihrem Holzverschlag, dem Berschleißorte ihrer Cigarren und
Spirituosen, zu schassen machte, mit einem energischen Ruck zur Seite abwarf.
Der junge Ritter taumelte, fiel unter dem unbändigen Gelächter seiner Genossen
und stand mit einem slawischen Kosewort, das sich nicht gut wiedergeben läßt,
wieder auf. Ju Pasing wäre dies das Zeichen zu einer ungeheuern Kellerei
gewesen.
Die Holzverschläge sind stehend in den großen Herbergsstuben. Sogar
die Küche, die sich auch darin befindet, hat einen solchen. Das Holz ist überall
in mächtigen Bohlen aufgeschichtet. Von kolossaler Größe sind auch die an
den Wänden hängenden Steingutgefäße. Der Eindruck des Urzeitmäßigen,
Prähistorischen wird in diesen Blockhütten vollständig. Neben den Herbergen
befindet sich ein Holzschober, Schuppen oder Stadel, dessen ganze Querwand
aus beweglichen Flügeln besteht. Er dient, soviel ich sehn konnte, lediglich
der Unterkunft der Fuhrwerke, die mit Sack und Pack, auch mit den Fnhr-
güsten, wem: sie es nicht vorziehn, auszusteigen, hier einfahren und angeschirrt
stehen bleiben. Viel Rast brauchen diese Bergpferde nicht. Es ist zu ver¬
wundern, wie sie die halsbrecherischen Kehren bei jeder einigermaßen erträg¬
lichen Steigung im Trab und bergab im Karriere zurücklegen. Zwei schief¬
geschlitzte Fenster über der Einfahrt, die an Mongolenaugen erinnern, habe
ich bei diesen Stationen stehend vorgefunden.
Die hohe Tatra, schon ganz allgemein als Vergland betrachtet, kann sich
wohl mit den schönsten Partien der besuchtesten Gebirgsländer messen. Den
Ostdeutschen bietet sie in verhältnismäßiger Nähe und bei dem großen Ent-
gegenkommen der ungarischen Bahnen für billiges Reisegeld ein Alpenland
von gewaltigen: und eigenartigem Charakter. Was sie hier besonders aus¬
zeichnet, ist das nahe Veisammenliegeu der wesentlichen Punkte, sodaß ein
dreitägiger Aufenthalt an Ort und Stelle schon in ausgiebigster Weise lohnt.
Man macht die drei Tatrabäder (Tntra-Furet, Uj und Also-Tatra-Furet),
die der Deutsche unter dem Gesamtbegriff Schmecks kennt, zum Ausgangspunkt.
Dann steigt man gewöhnlich in dem Gehänge und deu Zwischenthälern der
großen Spitzen herum, die sich hier zu mächtigen Abstürzen nach Süden
sammeln, während sie sich nach Norden in einem weiten Bvrbergland ver¬
lieren. Von Osten nach Westen sind es die Lomnitzer, die Schlagendorfer,
die Gersdorfer und die Tatraspitze. Man schließt mit dem See von Czorba,
dem größten und am weitesten ins Thal vorgeschobnen der unzähligen Alpen¬
seen, die die Tatra bedecken, und die man dort wunderlicherweise, so völlig vom
Meere abgelegen, im Volksmunde „Meeraugeu" nennt. An den Spitzen hat sich
der Fürwitz des Sports noch nicht viel gerieben. Sie geben keine angemeßnen
Höhen zum Einschneiden in die Bergstöcke, welcher Bergfex würde sich mit
der Höhe der Zugspitze zufrieden geben? sind aber zum „Abstürzen" äußerst
bequem eingerichtet und werden jedenfalls seltener „genommen" als die großen
Alpenfirnen. Gemsen und Edelweiß fehlen nicht. Die Staffage ist da, es
fehlen nur die Katastrophen. Immer rauf, meine Herrschaften vom deutsch-
österreichischen Alpenverein!
Schön gesagt, wenn es ginge! Was ich mir vorläufig mit Gefahr meines
Lebens oben geholt habe, sind Zahnschmerzen und nasse Füße. Nebenan im
Spielsaal wird auf ungarisch Billard gespielt und dicht neben mir auf slo¬
wakisch die L^vallörm rustiv-um. Es ist noch gar nichts gegen das, was ich
gestern Abend in Poprad im Nu-i erlebte, wo ein großes militärisches
Blechorchcster die Wände eines „Kursaals" von der Größe eines geräumigen
Taubenschlags von ungarischen Rhapsodien erdröhnen ließ. Und die Ungarn
überdrvhnten es noch mit Eljen und Händeklatschen. Gesegnete pannonische
Nerven! Wenn ich euch mitnehmen konnte ins „schwäbische" Land! Und die
pannonischen Magen, deren Tüchtigkeit man nach der Größe der Portion
Liptauer bemessen mag, die einem hier vorgesetzt wird. Ach, bei uns giebt
es menschlich und nicht bloß ungarisch lesbare Zeitungen, Bücher, Klaviere
und noch feiner gestimmte Nerven. Alles Dinge, von denen in Tatra-Furet
keine Rede ist. Aber wo findet man Fraihait nngorisches, pannonische Nerven
und pannonische Magen!
Keine Hütte ist hier so — klein kann man nicht sagen — aber so dreckig,
in der uns nicht ein durchaus veraltetes Herrenmodebild an die Auslage eines
stark rückschrittlich gesinnten Schneiders gemahnte. Man erwartet in den
Unterschriften die üblichen geheimnisvollen Aufschlüsse über „elegante lange
Herrenröcke aus ig, Bukskin, neueste Herbstmode" (von 1840) oder „eng-
anliegende Taillenjackets mit Schnüren, Fa<)vn ig. Schillsches Freikorps"
und dergleichen, aber nein — es ist Fraihait nngorisches, was hier verherr¬
licht wird. Es sind die Kämpfer, die mit der Kraft ihrer Lungen Radetzkys
Bataillone niedergedonnert haben, die Helden, die Nikolaus Zorn wie eine
Portion Liptauer verdaut und die Nerven eines österreichischen Erzherzogs bis
zur Gegenkröuung angegriffen haben: die Männer von 48, Kossuth, Deal
Ferenz und Genossen, Leute mit unglaublich langen Fortschrittsbeinen, Westen,
geschwellt von politischem Bewußtsein und so lang wie eine Verfassnugsrede.
Sie sehen aus, als schritten sie über den grünweißroten Erdball, „Globus
nngorisches," und hielten Reden in einer unendlich vielsilbigen Sprache, „un-
gorische Sproch," und gäben allen Völkern die Freiheit, sie anzuhören.
Für jetzt freilich liegt Nebel über dem ungarischen Globus, und Sklaven¬
sinn beherrscht „nach Schiller" die Erde. Aus diesem kann man nicht gut
heraus, oder „du müßtest die Welt räumen." Aber aus dem Nebel kann
man heraus. Ich will mich überzeugen, ob es wirklich in der ganzen Welt
regnet! Fast hat es den Anschein, ebenso wie man offenbar in der ganzen
Welt die «Ava-Ilörig, rv.8tie!eng, spielt. Janos! die Pferde aus dem Schlägel
Zum Zuge nach Pvprad, Richtung Oderberg! Nichts für ungut, lieber Leser,
daß ich mir meine Langeweile ans deine Kosten vertrieben habe. Pannonischer
Nebel! Lerne ihn nie kennen, oder du lernst begreifen und machst es nach.
Man kann litterarisch noch so charakterfest sein — niemand kennt sich selbst.
es kletterte nun von meinem Wagen herunter und sah mir die
Umgebung etwas näher an, besonders die Soldaten. Die machten
einen sehr friedlichen Eindruck; sie schlenderten in ihren „Holz¬
mützen" behaglich die Straßen auf und ab und rauchten ihre
Pfeifen dabei. Einige sprachen von den Preußen, und wie mir
schien, nicht mit Hochachtung. Angst und Schrecken bemerkte ich nirgends,
alles schien heiter und wohlgemut, nur die Gesichter der Bürgersleute zeigten
einen ängstlichen Ausdruck; doch sah man auch unter ihnen viele, die scherzten
und lachten, als ob ihnen der Krieg Vergnügen machte.
Von der engen Straße, in der ich stand, sah man auf einen offnen Platz
hinaus, wo eine alte schwärzliche Kirche mit hohen schmalen Fenstern empor¬
ragte. Dort herrschte ein noch bunteres Gewimmel, und ich ging langsam
darauf zu. Da klopfte mir plötzlich jemand auf die Schulter. Erschrocken
sah ich mich um, es war der Lienhard.
Wo ich denn nur her käme ums Himmels willen? Ich erzählte. Lienhards
Quartier lag nahe; wir stiegen hinauf. Da erfuhren auch seine Wirtsleute,
was ich für ein Abenteurer wäre, und die einen tadelten mich, die andern
spendeten mir Lobsprüche. -
Bald kam die Rede ans den Krieg, auf die nächste Schlacht, auf die
Preußen. Die wären noch weit entfernt, hieß es, und die Soldaten wußten
nicht, ob mau ihnen entgegenziehen oder ob man sie hier erwarten würde.
Der Hauswirt stimmte für das letztre. Er wäre in der Frühe in seinem
Weinberg gewesen und dann der Neugierde halber auf den höchsten Rücken
hinauf gestiegen, den man den Kützberg heiße. Da habe man die schweren
Geschütze aufgefahren, fünf Batterien, daß man hätte meinen sollen, man
könnte die halbe Welt damit zusammenschießen.
Ich stand am Fenster und sah auf den Platz hinunter. Dabei geriet ich
in das höchste Erstaunen über die immer größere Masse von Kriegern. Das
sei aber noch gar nichts, hieß es; draußen vor der Stadt, jenseits des Flusses
und gegen die bciirische Grenze zu in den Biwaks, da lägen noch viel mehr.
Während ich mit den Wirtsleuten redete, schrieb Lienhard an einem Briefe,
den ich seiner Mutter bringen sollte. Da entstand unten auf dem Platz eine
plötzliche Unruhe, und im uüchsten Augenblick ertönten von mehreren Seiten
zugleich laute Hornsignale. Lienhard fuhr empor. Es hatte zum Appell ge¬
blasen, er mußte mich verlassen.
Ich dachte einen Augenblick darau, daß es endlich an der Zeit wäre, mich
nach dem Schmitzenjockel umzusehn. Aber die Neugierde ließ mich Lienhard
auf den Versammlungsplatz folgen, wo die Soldaten bald in langen Linien
abteilnngsweise in Reih und Glied traten. Kommandorufe erschollen, und die
Offiziere stellten sich in einen Kreis um den Höchsten unter ihnen, der eine
kleine Ansprache an sie hielt. Dann trennten sie sich wieder, um sich zu ihren
Abteilungen zu verfügen. Neue Kvmmandornfe, kurze Worte der Offiziere an
die Soldaten, eine kleine Musterung, Reih auf und ab, und der Auftritt war
vorüber.
Die Soldaten traten aus einander, einzeln, gruppenweise, schwatzend, lachend,
ihre Pfeifen anzündend. Sie begaben sich in ihre Quartiere zurück oder zogen
in Haufen nach den Bierhäusern, wo es laut und lustig herging. Von allen
Seiten ertönte Gesang, patriotische Lieder und andre, lustige und wehmütige.
Auch Spottlieder auf die Preußen wurden in den Schenken und aus der Straße
gesungen; sie klangen nicht immer sehr anständig.
Ich meinerseits bedauerte, daß das Zusammentreten der Soldaten so kurz
ausgefallen und daß so wenig dabei geschehn war; ich hatte mir mehr davon
versprochen und war enttäuscht. Ich glaubte kaum, daß es mit dem Kriege
noch Ernst sei. Denn so ruhig und abgezirkelt, wie das alles ablief, ohne
Kanonendonner und Hurrageschrei, ohne Rauch und Blut und Tumult, das
konnte man doch keinen Krieg nennen.
Nachdem Lienhard in seinem Quartier das Gewehr abgelegt hatte, machten
nur uns auf den Weg nach meinem Fuhrmann. Wir fanden ihn aber nicht
mehr vor; er war mit den andern nach den Feldlagern vor der Stadt ab¬
geschickt worden. Als die Mittagsglocke läutete, kehrten wir zu Lieuhards
Wirtsleuten zurück, wo ich freundlich zum Mittagessen eingeladen wurde.
Man sprach viel über den Feind und seine Absichten. Einig war man
darüber, daß er noch sehr fern sein müsse, da die am frühen Morgen aus¬
geschickten Vorposten keine Spur von ihm entdeckt hätten. Die Wirtsleute,
eine Vückerfamilie, zeigten sich nicht ohne Besorgnis; aber sie suchten sie zu
verbergen, und da es nicht an selbstgebauten Wein fehlte, so herrschte während
des Essens die heiterste Laune.
Außer Lienhard lagen noch zwei Kameraden hier im Quartier, wovon
der eine, ein Tuttlinger, nur dazusein schien, um die Gesellschaft zu be¬
lustigen. Er brachte so drollige Sachen vor, daß das Lachen zuletzt gar
nicht mehr aufhören wollte. Nur Lienhard blieb ernst. Er hatte sich, während
noch alles bei Tische weilte, schon wieder an seinen Brief gesetzt, worin er
am Vormittag unterbrochen worden war.
Da that es plötzlich einen Knall. Es krachte so heftig, daß das ganze
Haus zitterte und jedermann auf seinem Stuhle in die Höhe fuhr, als ob er
von einer unsichtbaren Gewalt emporgeworfen worden wäre. Die Frauen
stießen unwillkürliche Schreie aus, die Kinder begannen laut zu weinen, selbst
die Männer ließen es an Äußerungen des Entsetzens nicht fehlen.
Dem ersten Geschützdonner folgte rasch ein zweiter, dann ein dritter, und
so fort.
Ein Mitbewohner des Hauses stürzte in die Stube und schrie: Die Preußen
sind da! Ihre Kanonen stehn schon auf dem Jmberg! Man sieht sie von der
Gasse aus! Sie speien Feuer über unsre Stadt! Wir sind verloren, wir sind
verloren!
In den Gassen und auf dem Platz ertönten die Alarmsignale; es trommelte
und trompetete von allen Seiten. Ich dachte: Gott Lob, nun wirds wohl
losgehen.
Die drei Soldaten stürzten sich auf ihre Ausrüstungsgegenstünde, und in
Wenigen Minuten standen sie bereit. Lienhard überreichte mir den unvollen¬
deten Brief an seine Mutter. Grüße sie alle, auch Rothermunds, sagte er
und eilte hinaus, ehe ich ein Wort hatte erwidern können. Die beiden
Kameraden folgten, der Tuttlinger, der einen Augenblick verstummt gewesen
war, mit einem ehnischen Wort auf die Preußen.
Auch mich triebs ins Freie. Ich fühlte mich nicht frei von Furcht und
heimlicher Beklemmung, aber meine Neugierde, von der Phantasie gestachelt,
trieb mich vorwärts.
Auf dem Marktplatz sah ich die einzelnen Kompagnien unter Trommel¬
schlag und Signalblasen abmarschieren. Ich folgte den Abziehenden, aber
keineswegs allein; auch andre vereinzelte Menschen, Schüler, Lehrjungen, auch
einige Bürger, wagten sich vor.
Doch nach kaum zwanzig Schritten hielt ich an. Der Geschützdonner auf
den Höhen hatten nachgelassen, dafür begann, wie es schien, in nächster Nähe
ein heftiges Gewehrfeuer, von Horn- und Trommelsigualen übertönt.
Es wurde Ernst mit dem Kriege.
Ich stand an eine Hausthüre gedrückt und sah mich plötzlich allein auf
der weiten Straße. Da dachte ich, daß es geraten sein möchte, mich irgendwo
in ein Versteck zu flüchten, als ein gewaltiges Hurrageschrei erscholl und unsre
Soldaten in eiliger Flucht sich in die Stadtgasse herein wälzten, von unzäh¬
ligen preußischen Pickelhauben verfolgt, die immer lautere und lustigere Hurra
ausstießen.
Ich hörte Kugeln durch die Luft sausen und sah einen Soldaten blutend
aufs Pflaster hinschlagen. Zu spät begriff ich, wie sehr ich in die Klemme
geraten war, und ich wußte nichts beßres zu beginnen, als ebenfalls die
Flucht zu ergreifen und vor den pfeifenden Kugeln in einer Seitengasse Schutz
zu suche». Aber auch hier war bald alles voll Soldaten, und zwei davon sah
ich sich in eine offne Scheune flüchten. Denen folgte ich.
Wir versteckten uns auf dem dunkeln Heuboden, und als sich die Sol¬
daten von dem ersten Schrecken erholt hatten und Worte zu wechseln be¬
gannen, erkannte ich in dem einen den lustigen Tuttlinger. Die Lustigkeit
war ihm vergangen gewesen; sie kam ihm erst in seinem sichern Versteck lang¬
sam wieder.
Indessen wurden die Flintenschüsse in den Straßen der Stadt seltner
und hörten endlich ganz ans. Nur draußen über dem Fluß knallte es noch
fort, doch nur kurze Zeit, dann ward es still, und alles schien vorüber.
Nun kam dem Tuttlinger sein Humor wieder. Er zeigte sich unerschöpf¬
lich in Auslassungen über die Preußen, ihre Pickelhauben, ihre Zündnadel¬
gewehre und noch andre Dinge an ihnen, auch solche, die man gewöhnlich
nicht nennt — und alles in seinem wunderbaren Tuttliuger Dialekt, der mir
als Unterländer so komisch erschien, in der Finsternis des Heubodens, wo mein
sich nur hören, aber nicht sehn konnte. Einmal mußte ich lant herauslachen,
so wenig mir auch darnach zu Mute war.
Hol mich der Teufel, da ist ja unser Herr Student! rief plötzlich der andre
Soldat, der sich bisher stumm verhalten hatte. Student hieß man mich wegen
meiner lateinischen Stunden beim Pfarrer. Der aber so gesprochen hatte, war
der Hannpeter, der Knecht des Vlessenvogts, und wir freuten uns beide des
Wiedersehns, wenigstens des Wiederhörens.
Aber gelt, hier nützt alles Latein nix, fiel der gesprächige Tuttlinger ein.
Diese Kalbe von Preiße, die redet denses mit eim.
Wenn er nur draußen wäre, statt in dem finstern Loch da, meinte der
Hannpeter; er wollte auch ein Wörtlein mit ihnen reden. Der Tutt¬
linger nieste.
Helf Gott, Tuttlinger! sagte er lachend und schimpfte über den Heustaub,
der einen in der Nase kitzle. Aber man müsse froh sein, wenn einen über¬
haupt noch etwas kitzle; wär ihnen die Scheuer nicht im Weg gestanden, gäbs
jetzt für sie alle drei kein Helf Gott mehr, im besten Falle Pumpernickel und
schmutziges Wasser in der Festung zu Spandau.
Ich weiß nicht, woher ich das Herz nahm, zu bemerken, daß ja gar nie¬
mand hinter ihnen drein gewesen wäre.
Der Tuttlinger lachte und verbarg seinen Ärger; das behaupte ein
Schneiderjung, der vor Angst einen Kirchturm und eine Pickelhaube nicht
mehr habe unterscheiden können.
Darauf begannen die zwei zu Politisiren. Es sei kein Zusammenhaltens
in dem Krieg, und darum kein Glück. Die obersten Anführer, allesamt Prinzen,
bis auf den ihrigen, den ehrlichen Hardcgg, steckten mit Preußen unter einer
Decke und führten den Krieg nur zum Schein. Es sei auch schon im voraus
unter ihnen abgekartet gewesen, daß die Preußen siegen sollten. Am verdäch¬
tigsten von allen sei der badische; der stünde immer beiseite und wollte nie
mit thun. Heute habe er sich, wie man von Bauern erfahren, eine Stunde
thalabwärts postirt, und wahrscheinlich habe er die Preußen vorher benach¬
richtigt, daß sie nicht zu ihm kämen, sondern zu deu Württembergern.
Da begann draußen wieder das Feuer. Gebt acht, unsre Leid kommet
zurück, die Preiße krieget no ihre Hieb, flüsterte der Tuttlinger.
Ein gewaltiges Geknatter ließ sich hören, und so nahe, als ob das Gefecht
rings um die Scheune stattfände. Zugleich erhoben die Geschütze ihre Stimmen
— bum — bum — immer häufiger, immer rascher hinter einander. Aber so
heftig wie das Schießen begonnen hatte, so schnell hörte es auch wieder auf.
Offenbar hatten unsre Landsleute dem Zündnadelgewehr nicht Stand halten
können und sich schleunigst wieder hinter ihre Deckung zurückgezogen.
Dene sakrische Preiße is bigott an nit beizkvmme, ma avant, die Kalbe
hättet de Deifel im Leib, klagte der Tuttlinger. Der Hannpeter dagegen war
sehr nachdenklich geworden; er meinte, es sei höchste Zeit, daß man über seine
eigne Lage zu Rate gehe. Das Städtchen sei von den Preußen genommen,
und wenn diese am Abend kämen, um Heu für ihre Pferde zu holen, und
zwei Württemberger Jäger im Futter fänden, so würde das ein schönes Fressen
für sie sein. Um keinen Preis aber wolle er sich von diesen Hungerleidern
gefangen nehmen lassen. Lieber laß ich mich von ihnen totschießen wie einen
tollen Hund! rief er in kühner Aufwallung aus. Dann gestand er, bereits
einen Plan ausgedacht zu haben, und ich müsse ihm dabei behilflich sein. Ich
brauchte nur mit dem Eigentümer der Scheune zu reden, der würde ihnen
gegen ihre Waffen und Uniformen gern alte Werkelkleider austauschen. So
könnten wir uusern Versteck gefahrlos als Bauern verlassen und gehn, wohin
wir wollten.
Ich versprach ihnen gern meine Dienste; ich sei selber froh, den weiten
Weg nach Hinterwinkel nicht allein machen zu müssen. Aber da wurde der
Hannpeter bös. Ob ich ihn denn für einen schlechten Soldaten, für einen
Ausreißer hielte, für einen Desserteur. Nicht nach Hinterwinkel, nein, zu
seiner Kompagnie wolle er. Und er lachte laut. Nach Hinterwinkel zum
Blesfenvogt, da käme er gerad recht zur Ernte. Nein, Wenns auch gar nicht
wegen des Dessertirens wär, nach Hinterwinkel ginge er nicht, fiele ihm gar
nicht ein; im Feldlager sei es schöner, und besonders in den Quartieren.
Er habe schon lang kein so lustiges Leben geführt wie die letzten vier
Wochen. Gut Essen und Trinken in Freundesland, in jedem Ort hübschere
Mädchen, und kein Feind weit und breit. Den ersten Preußen habe er heut
zu Gesicht bekommen. Warum es denn nicht wieder so werden könne. Die
Preußen ärgerten sich ja am meisten, wenn man ihnen vorsichtig aus dem
Schuß gehe.
Er habe Recht, fiel ihm hier der Tuttlinger in die Rede; wenn die
Preußen drei Tage lang ihre Zündnadel nicht losdrücken dürften, ärgerten sie
sich zu Tode, es sei also ganz unnötig, sie tot zu schießen.
Aber die württembergischen Anführer schienen andrer Meinung; denn
eben begann draußen der Tanz zum drittcnmcile. Einige vereinzelte Schüsse
Präludirten, und sofort erhob sich ein höllisches Geknall und Geknatter, zu dem
die Kanonen den Baß brummten. Auf den Dächern umher, auch auf unserm
eignen hörte man von Zeit zu Zeit ein Prasseln, als ob es Feldsteine hagelte.
Uns allen ward unheimlich zu Mute. Der Tuttlinger versuchte zwar einen
Witz zu macheu, aber das Wort ward ihm vom Mund abgeschnitten. Es ge¬
schah ein Krachen, wie ich noch nie gehört hatte, und zugleich wurde es taghell
um uns. In die Lehmwand unsrer Scheune war ein großes Loch gerissen.
Eine Granate, kaum drei Schritte davon geplatzt, hatte einen mächtigen Splitter
bis in unser Heu geworfen. Wir sahen einander bleich an; jeder dankte Gott,
daß er nicht getroffen worden war.
Doch ließen draußen die Schüsse schon wieder nach. Wir faßten uns des¬
halb ein Herz und näherten uns der zerrißnett Wand, durch deren Klaffnng
ein unheimlich rötliches Licht eindrang. Zwei brennende Häuser jenseits des
Flusses fielen uns zuerst auf. Dann gewahrten wir mit Schrecken, daß unsre
Scheune hart am Schauplatze des Gefechts lag, kaum zehn Schritte vom Flu߬
ufer, keine hundert von der Brücke entfernt, um die sich der Kampf drehte.
Um den Brückenkopf schien es sich hauptsächlich zu handeln. Wir sahen aber,
so weit das Gesicht reichte, nur Pickelhauben.
Im Augenblick fiel kein Schuß mehr; aber andre noch weniger erfreuliche
Laute trafen unser Ohr. Mark und Bein erschütterndes Winseln und Wim¬
mern, dumpfes Stöhnen und dazwischen einzelne wilde Schmerzensschreie, vor
denen mir das Haar zu Berge stand, drangen in unsern Schlupfwinkel. Die
Granate, vor der Scheune geplatzt, hatte zwei preußische Soldaten grüßlich
verstümmelt, dem einen den Leib aufgerissen und dem andern den Arm mit
samt dem Schulterblatt abgeschlagen. Wir sahen sie auf eine Bahre legen
und davontragen. Mein Leben lang werde ich den Anblick uicht vergessen.
So heftig sich meine Phantasie nach dem Schauspiel gesehnt hatte, so
genug hatte ich nun davon. Aber vergebens wünschte ich nun den .Kriegs¬
erlebnissen ein baldiges Ende. Ich hatte den Becher begehrt, freventlich, nur
meiner kindischen Laune folgend, hatte ich ihn an meine Lippen gerissen, nun
mußte ich ihn auch trinken bis zur Neige.
(Fortsetzung folgt)
us der im 28. Heft der Grenzboten besprochnen Bismarckwoche
ist ein Bismarckmonat geworden, und voraussichtlich werden sich
die Wogen noch lange nicht beruhigen. Denn das ist keine
oberflächliche Bewegung. Das Nntionalgefühl ist aufs tiefste
aufgeregt, wie wir es nur nach der französischen Kriegserklärung
und nach den Meuchleranschlägen gegen den ersten Kaiser des neuen Reichs
erlebt haben. Gott sei'Dank, daß es sich so kräftig zeigt, aber Schmach und
Gram, daß uns diese Erregung nicht erspart geblieben ist! Gegen gewisse Er¬
scheinungen in unsern: öffentlichen Leben waren wir ja bereits abgestumpft.
Daß sich jeder hergelaufne Zeitungsjunge in einem der vielen Blätter, die sich
nach dem Muster der alten Didaskalia „Blätter für Börse, Theaterklatsch und
Publizität" nennen könnten, erfrechen durfte, einem Bismarck Vorlesungen über
Staatskunst und Patriotismus zu halten, machte keinen Eindruck mehr. Und
wenn Herr Eugen Richter plötzlich den Regierungsassessor in sich wieder-
erwachen fühlte, daß er, seine gesamte Thätigkeit seit der Nichtbestätiguug
seiner Wahl zum Bürgermeister vergessend, sich an die Brust des sonst ma߬
los verachteten Herrn Pindter warf, um vereint mit ihm über Untergrabung
der staatlichen Autorität zu jammern, so vollendet das nur das Charakterbild
dieses „Volksmannes." Wir haben es immer sür einen Fehler gehalten, daß
man ihn nicht zum Polizeimeister in irgend einem Kuhschnappel gemacht hat.
Aber wie hat sich die der Negierung nahestehende Presse benommen! War es
wirklich notwendig, das populäre Vorurteil gegen alle Offiziösen so nach¬
drücklich zu rechtfertigen? Welchen Kredit kann die offiziöse Presse noch be¬
anspruche«, wenn Menschen, die noch vor zwei Jahren vor jedem Wimper-
zucken Vismarcks in Demut erstarben, solche Angriffe auf ihn — wohl nicht
verfassen, aber doch mit ihrem Namen decken?
Allerdings scheint es, als ob in der That besser für die Kenntnis der
neuesten deutschen Geschichte gesorgt werden müßte, da zahllose Zeitungen
offenbar von Menschen geschrieben werden, die gar nicht wissen, was sich in
den ersten zwei Dritteilen unsers Jahrhunderts zugetragen hat. Sie wissen
nichts von der Sammluug, Stählung und Erhebung des Volks zwischen Jena
und Jena, zwischen der Zertrümmerung Preußens und der unseligen That
Sands. Nichts von der Unterdrückung, Lähmung, Zerrüttung des National¬
bewußtseins in den folgenden Jahrzehnten. Nichts von den planlosen Anläufen
und dem regelmäßigen Zurückschrecken vor dem Sprunge Friedrich Wilhelms
des Vierten. Nichts von dessen unheilvollen Versvhnungsversucheu mit Polen
und Ultramontanen. Nichts von den Demütigungen Preußens in der deutschen,
der holsteinischen, der Neuenburger Angelegenheit und der beleidigenden Art
der Zulassung der fünften Großmacht zum Pariser Kongreß. Wüßten sie von
alledem das geringste, erinnerten sie sich noch, wie Nikolaus, Palmerston und
Louis Napoleon die Welt regierten, sie konnten nicht die Stirn haben, sich
anzustellen, als sähen sie die Unterschiede und Nhulichkeiteu nicht in der Welt-
stellung Deutschlands bis 1864, bis 1882 und seitdem. Mau müßte selbst
so naiv sein wie die norddeutsche Allgemeine Zeitung und Konsorten, wollte
mau ihre Frage nach Beweisen für die Verändrung unsrer Beziehungen zum
Auslande durch Aufzählung der Thatsachen beantworten, die leider jedes Kind
kennt. Lesen denn die Berliner Artikelschreiber und ihre Auftraggeber keine
fremden Zeitungen? Machen sie keine Reisen? Das höhnische Lächeln unsrer
grimmigsten Feinde, der Schmerz und Zorn unsrer aufrichtigsten Freunde
könnten sie aufklären. Und welcher unglückliche Einfall, die neue Wendung
in der Stellung zu Polen durch die Erinnerung daran, daß Bismarck einst
den Grafen Ledochowski empfohlen habe, entschuldigen zu wollen! Wenn
Bismarck von dem Manne besser dachte, als er verdiente — muß ihm denn
gerade ein Fehlgriff nachgemacht werden, da man sich so ängstlich hütet, ihn,
in seinen Meisterzügen zum Vorbilde zu nehmen?
Aber schlimmer als dieses ganze ekle Treiben bis hinab zu dem von
„demokratischen" Lakaien dem Berliner Pöbel freundlich erteilten Winke, an
dem Schöpfer des deutschen Reichs sein Mütchen zu kühlen, viel schlimmer als
alles das siud die ebenso kleinlichen als wilden Ausbrüche persönlichen Hasses
und — muß man nicht glauben: persönlicher Furcht! Wer Wagenseils Ge¬
schichte gefallener Staatsmänner durchblättert, schaudert bei der Erinnerung,
zu welchen Unthaten sich politische Leidenschaft, Neid, Nachsucht, Undankbarkeit
und Schwäche so oft verbündet haben. Die Gegenwart ist „humaner." Man
blendet, rädert, meuchelt die Helden und Staatslenker nicht mehr, die ihre
ganze Lebenskraft für das Wohl ihres Landes eingesetzt und dabei Privat¬
interessen und Privatempfindlichkciten verletzt hatten. Aber ist es wirklich
würdiger, für einen Bismarck die berüchtigten Worte Schuleuburgs, daß Ruhe
die erste Bürgerpflicht sei, und Rochows vom beschränkten Unterthancnverstande
neu aufzulegen? Ihn vor ganz Europa mit Acht und Baun zu belegen? Und
weshalb? Ein Besucher will von ihm die Äußerung gehört haben, er liebe
die Hunde, weil sie einen Fußtritt nicht nachtragen. Von ihm die Hunde¬
treue, die Grillparzer in seinen Baneban gefeiert hat, zu erwarten, hat er
niemand das Recht gegeben! Er ist aus hartem Metall geschmiedet, das weiß
die Welt, wie Hütte er sonst seine Thaten thun können! Und mochte man
auch wünschen, daß ihm manchmal möglich gewesen wäre, seinen Zorn zu be¬
mustern: das hat die Art der Verfolgung in Vergessenheit gebracht. Mit
Recht wurde in dem eingangs erwähnten Aufsatze an den Freiherr,: vom Stein
erinnert; der war auch kein Kautschukmann, und die Freisinnigen, die seinen
Namen unnütz im Munde führen, würden ihn, wenn er noch lebte und wirkte,
so bitter hassen, wie unsern ersten Reichskanzler.
Das ist die Empfindung, die in Mittel- und Süddeutschland so einmütig
zum Durchbruch gekommen ist. So legte einst das gebildete Berlin Zeugnis
ab für die Richter im Arnoldschen Prozesse, als sich Friedrich der Große
durch irregeleiteten Gerechtigkeitssinn zu höchster Ungerechtigkeit hatte hinreißen
lassen, und Europa feierte die Richter und die gegen den Gewaltspruch pro-
testirenden. In demselben Berlin verdächtigt man heute die Kundgebungen im
nichtpreußischen Deutschland. Partikularismus? O weckt doch nicht selbst
Mächte, die versöhnt und gewonnen zu haben zu den größten Verdiensten des
Mannes gehört, dem ihr jetzt keinen Dank gönnt! Ist es so schwer zu be¬
greifen, daß die Deutschen, die am meisten unter der Zerrissenheit und Ohn¬
macht des Vaterlands gelitten haben, lebhafter den Segen der Zeit von 1866
bis 1882 erkennen, als ihr in einem Staate, der im Notfall auf sich selber
stehen konnte? Berauscht euch nicht in hochmütigem Machtbewußtsein wie
eure Großväter, die Friedrichs des Großen Thaten sich selbst anrechneten, wie
ihr — die Thaten Bismarcks! Schämt euch vielmehr bis ins Innerste, daß
Sachsen, Franken, Baiern, Schwaben, .Hessen n. s. w. den preußischen Junker
besser würdigen als ihr!
Es ist ein tieftrauriges Bild: auf der einen Seite die Reichsregiernng
mit einer Gefolgschaft, um der sie selbst keine Freude haben kann, auf der
andern der Kern der deutschen Nation — wie in den schlechtesten Zeiten der
neuern Geschichte Deutschlands. Und darum können und wollen wir uns
nicht beruhigen. Reden, Gesänge und Huldigungen sind etwas schönes am
rechten Orte, aber damit dürfen wir nicht unsre Pflicht erfüllt zu haben
meinen. Vor allein ist es endlich an der Zeit, der freiwilligen Abhängigkeit
von einer Presse ein Ende zu machen, die wir von Herzen verachten müssen.
Wir dürfen nicht länger durch Abonnement und Insertion Blätter unterstützen,
deren Inhalt unsern besten Überzeugungen entgegengesetzt ist. Weshalb werden
sie von Deutschgesinnten gehalten? Wegen der vielen Anzeigen, wegen der
Privatnachrichten, von den Frauen wegen des Romans. Zu dem ersten Punkte
muß immer wieder auf die Notwendigkeit des Anzeigenmvnopols hingewiesen
werden. Daß es einen schönen Ertrag für die Reichskasse abwerfen und
drückende Steuern entbehrlich machen würde, ist eine wichtige, aber in diesem
Falle nicht die wichtigste Seite daran. Unkunde Auzeigeblätter konnten sämt¬
lichen Tagesblättern eiues Ortes beigegeben werden, würden also dem In¬
serenten die doppelte, dreifache, zehnfache Verbreitung seiner Ankündigung ohne
vermehrte Kosten gewähren und dem Leser denselben Inhalt,, der jetzt aus die
Spalten verschiedner Zeitungen verteilt ist. Die Preise könnten überhaupt
niedriger gestellt werden, da die Gebühren nicht, wie jetzt, fast ganz den Auf-
wand einer Zeitung zu decken hätten. Die allbekannte Art der Beeinflussung
publizistischer Organe durch unverhältnismäßige Honorirung von Inseraten
wäre beseitigt. Die Zeitungsindnstrie würde nicht mehr so stark den Spe-
kulations- und Schachergeist anlocken, und eine Menge unnützer oder schädlicher
Gewächse würde verschwinden, weil Unternehmer und Mitarbeiter von ge¬
wisser Sorte ihre Talente wieder der Börse, dem Pfandleihgeschäft u. s. w.
widmen würden, und der Familienvater wäre nicht mehr genötigt, Frau und
Kindern das Lesen der Anzeigen zu untersagen. Zur Einführung des Mono¬
pols wird es endlich kommen, dafür sorgen die geschätzten Organe, die bei
seiner bloßen Erwähnung in sittlichen Zorn geraten. Thue nnr jeder das
Seine, um den Gedanken zu verbreiten. Was die politischen Neuigkeiten be¬
trifft, braucht nicht erst gesagt zu werden, daß die „interessantesten," die
„sensationellen" Nachrichten in der Regel erfunden sind, und daß der Tele¬
graph fortwährend im Dienste der Parteipvlitik und der Privatgeschäfte aufs
schmählichste mißbraucht wird. Die meisten Romane endlich sind nicht des
Lesens wert, das gestehen die Leserinnen selbst, wenn auch in Ermangelung
von unanständigen oder Schauergeschichten oder falls es gilt, die Abonnemcnts-
einlndung aufzuputzen, ein namhafter Erzähler durch hohes Honorar ge¬
wonnen wird.
Alles in allem genommen, wollen wir nicht vergessen, daß wir eine große
Partei sind, wenn auch in Einzelheiten geteilter Ansicht, und daß wir Pflichten
gegen unsre Partei zu erfüllen haben. Nehmen wir uns darin andre Parteien,
namentlich die sozialdemokratische und die ultramontane, zum Muster. Genügen
Blätter unsrer Farbe nicht, so können und müssen wir dazu beitragen, sie zu
verbessern, schon dadurch, daß wir ihnen Nachrichten zukommen lassen, und
nicht verlangen, daß der Redakteur für jede Notiz einen Dankbrief schreibe
oder gar ein Honorar schicke, auch nicht gekränkt werden, wenn er von einer
Mitteilung keinen Gebrauch macht. Die allgemeine Sache erfordert allgemeine
Anstrengungen. Unsre Gegner glauben den ehrenwertesten Zeitungen einen
Schimpf anzuthun, indem sie sie „bismarckisch" nennen: bereiten wir ihnen
die Frende, dies Wort recht vielfach anwenden zu können!
„Einst hatte ich einen Mann, der hieß Griffenfeld!" soll Christian der
Fünfte von Dänemark oft geseufzt haben, nachdem er seinen großen Minister
dessen persönlichen Feinden geopfert hatte. Damals gab es freilich keine freie
Presse, die die Sache des Gestürzten und des Landes hätte vertreten können,
und der König selbst war zu schwach, das Netz von falschen Anschuldigungen
zu zerreißen. Heute und fiir uns handelt es sich ebenfalls um das Land,
wenn wir zu Vismarck stehn.
er Prozeß gegen Buschoff ist zu Ende, das Urteil ist rechts¬
kräftig geworden, denn binnen acht Tagen ist kein Einspruch er¬
hoben worden. Vttschvsf ist freigesprochen, der Mörder des
kleinen Hegemann ist nicht entdeckt.
Nach dem vorliegenden Material könnte niemand mit Sicher¬
heit behaupten, die That sei von Buschoff verübt worden, obgleich einige
Indizien gegen ihn so schwerwiegend waren, daß sie zur Verurteilung hätten
führen können, und obgleich in andern Fällen schon geringere zur Verurteilung
geführt haben; das giebt selbst das „Kleine Journal" zu. Angenommen aber,
Buschoff sei nicht der Mörder, wäre es unmöglich, daß er darum wüßte?
Hat man diese Frage auch nur aufgeworfen? Wer könnte nun den Mord
begangen haben? War es etwa ein andrer Jude, oder war es ein Christ?
Hat der langatmige Prozeß gar nichts Positives zu Tage fördern können?
Fast gewinnt es den Anschein, als ob die langen Verhandlungen nur den
Zweck gehabt hätte», herauszufinden, ob Buschoff der Thäter sei — um nicht
zu sagen: daß er es nicht sei —, und als ob man sich von Anfang an gar
nicht bemüht hätte, den eigentlichen Mörder ausfindig zu machen.
Es ist ein Mord verübt worden, der Leichnam ist unter auffallenden Um¬
ständen gefunden worden. Da gilt es doch, den Mörder zu entdecken. Bestand
nun die alleinige Aufgabe darin, immer neue Umstände heranzuziehen, die die Un¬
schuld des angeschuldigten Buschoff bewiesen? Hat sich ein Gericht nur auf diese
negative Seite zu beschränken? Man sollte doch denken, ein Staatsanwalt solle
ein Kläger sein Wider Mord, ein Ankläger des noch nicht entdeckten Mörders,
aber nicht ein Verteidiger des gerade Angeklagten, selbst wenn er persönlich
annimmt, daß dieser nicht der Thäter sei. Was hat man alles in dem Prozeß
Erbe-Bnntrock gethan, um Klarheit in die Sache zu bringen! Ist es je in
einer Sache, wo es sich um Blut handelte, vorgekommen, daß man nicht alle
Mittel angewandt hätte, um des Mörders habhaft zu werden? Man könnte
versucht sein, zu glauben, daß man hier von vornherein alles habe vermeiden
Wollen, den Urheber der ruchlosen That zu finden. Hätte dem Präsidenten
und den Staatsanwälten nicht alles daran liegen müssen, schon deshalb die
dunkle That an den Tag zu bringen, damit Buschoffs Unschuld aller Welt
sonnenklar würde? Haben die Staatsanwälte, hat der Präsident, denen man
doch eine derartige Routine zutrauen darf, auch nur ein einzigesmal mit dein
Angeklagten, seinem Sohne, der doch einen widerlichen Eindruck gemacht hat,
seiner Familie oder mit den für Busch off auftretenden Zeugen ein Kreuz¬
verhör vorgenommen? Haben sie an diese je verfängliche Fragen gerichtet?
Es war z. B. von zwei Seiten angezeigt worden, der kleine Hegemann sei
von einem Arme in Vnschoffs Haus hineingezogen worden. Hätte sich da
Buschoff nicht über deu Verbleib des Knaben rechtfertigen müssen? Ist ferner
energisch nachgeforscht worden, wer der fremde Jude gewesen ist, den man in
das Haus hat treten sehen? Einen geradezu peinlichen Eindruck macht es,
wenn fast vor jeder Sitzung der Präsident oder die Staatsanwälte, von den
Verteidigern gar uicht zu reden, sich gegen anonyme Briefe und gegen Zeitungs¬
berichte rechtfertige», wenn sie immer wieder ihre strengste Unparteilichkeit
hervorheben. Ist es soweit in Deutschland gekommen, daß die höchsten Justiz¬
beamten in diesem Umfange vou deu Anschuldigungen der Parteilichkeit Notiz
nehmen? Haben wir bisher nicht ein so hohes Vertrauen zu unsern Gerichten
gehabt, daß wir nicht daran zweifeln, der Präsident eines Geschwornengerichts
und die Staatsanwälte seien so erhaben über andre Rücksichten, daß, zumal
wenn es sich um den Mord eines unschuldigen Knaben handelt, eine wieder¬
holte Selbstverteidigung, ein Betonen der Unparteilichkeit gerade Mißtrauen
erregen muß? Ist es nicht eigentlich die schwerste Selbstbeleidigung, wenn
Männer, die im Namen des Königs, im Namen des heiligen Gottes Recht
sprechen, die Versicherung geben, sie brächen nicht das Recht? Worin unter¬
schieden sich zum Teil die Reden der Staatsanwülte von denen der Ver¬
teidiger? Und als sich nun der lange, schwere Prozeß seinem Ende nahte, er¬
gingen sich beide Staatsanwülte in Frende darüber, daß Buschoff als nicht
schuldig erfunden worden sei. Also das war alles, was sie herausgebracht
hatten, was sie herauszubringen sich bemüht hatten? Weshalb sagt der Staats¬
anwalt: „Es ist die Unschuld des Buschoff erwiesen"? Würde es nicht völlig
genügt haben, wenn er gesagt Hütte: „Buschoff ist nicht als schuldig befunden
worden" ?
Noch ein Punkt. Als der Vorsitzende des Gerichtshofs den Geschwor¬
nen die Schuldfrage auf Mord vorlegt, erhebt sich der Obmann, Graf Los,
und erkundigt sich, ob nicht anch die Frage auf Mitwissenschaft zu stellen
sei, und der Präsident verneint dies. Entweder haben also der Präsident
sowie die beiden Staatsanwälte in diesem Allgenblick nicht gewußt, was das
Gesetz sagt — und Juristen in dieser hohen Stellung so etwas zuzutrauen,
wäre doch einfach eine Injurie —, oder sie haben es nicht für angebracht ge¬
halten, dem Obmann der Geschwornen so zu antworten, wie es das Gesetz
befiehlt.
Als dann der Gerichsrat Vrixius, als Zeuge aufgerufen, sich in einer
glänzenden Verteidigungs- und Lobrede Vuschoffs und aller derer, die sür
ihn Zeugnis abgelegt hatten, erging, alle Gegenzengen aber und deren Aus¬
sagen verdächtigte und angriff, als er die Gelegenheit benutzte, sein Herz
über die Judenfrage überhaupt auszuschütten, ist er nicht darauf aufmerksam
gemacht worden, daß dies extin <zän8g,in liege. Herr Brixius erklärt selbst,
er habe nicht freiwillig als Untersuchungsrichter zurücktreten wollen, obgleich
ihm doch das Gefühl hätte sagen müssen, daß er gegen den alten Brauch
verstoße, der verbietet, daß Richter und Verteidiger nahe Verwandte seien.
Er setzt ferner mit schneidiger Sicherheit auseinander, daß alle Zeugen gegen
Buschoff die Unwahrheit gesagt haben, d. h. doch wissentlich oder unwissent-
lich Lügner und Meineidige find. Er demonstrirt dann seinerseits an der
Thür des Sitzungssaales, daß die Aussagen Mölders und des kleinen Heister
falsch seien, daß die Konstruktion der Hausthür derart sei, daß ein Hinein¬
ziehen durch einen Arm unmöglich gewesen sei u. s. w. Darauf führt der
ganze Gerichtshof nach Xanten, Heister muß zeigen, auf welchem Prellstein er
gesessen hat, Mvlder, wo er vorbeigegangen ist u. s. w., die Thür des Hauses
wird geschlossen, geöffnet, und siehe! es wird durch die That dargethan, daß
die Demonstration des ersten Untersuchungsrichters falsch war. Und der
ganze Gerichtshof setzt sich wieder ans die Eisenbahn und fährt nach Cleve,
und Buschoff ist und bleibt mit seiner Familie unschuldig.
Was endlich den Herrn Professor Nöldecke betrifft, so hat dieser selbst
öffentlich erklärt, ihm sei vor seinem Gutachten über die Talmudfrage von
den Verteidigern eine so hohe Summe als Honorar zugeschickt worden, daß
er sie nicht habe annehmen wollen, um etwaigen Verdächtigungen zu entgehen.
Wer hat je gehört, daß jemand vor Ausstellung eines Gutachtens ein Honorar
annähme? Was würden wir von einem Arzte sagen, der das thäte vor Aus¬
fertigung eines Attestes, von einem Anwalt vor Beglaubigung einer Sache,
welcher Lehrer bekommt vor Erledigung von Privatbemühungen Geld? Wes¬
halb fürchtet sich denn der Herr Professor überhaupt vor übler Nachrede?
Es ist ihm vorgeworfen worden, er habe in dem Prozeß Rodung gegen
35000 Mark für sein Gutachten erhalten, er hat aber die Erklärung ab¬
gegeben, daß er diese Summe nicht für sich allein erhalten habe. Wie viel
er davon genommen, oder wem er davon abgegeben hat, darüber schweigt er.
Wofür aber hat er dieses Geld eingesteckt? Nach seiner gerichtlichen Aussage
dafür, daß er nicht den ganzen Talmud gelesen hat, daß er aber überzeugt
ist, daß darin nichts von Ritualmord stehe. Und dies negative Urteil wird
als positiv bejubelt, wegen dieses Urteils erhält er schon vorher einen netten
Posten Geld! Würde man nicht einen Juristen laut auslachen, der das Urteil
abgäbe: „Ich habe freilich das ganze Oorxus surik nicht gelesen, aber ich bin
überzeugt: dies oder jenes steht nicht darin"?
Wenn es aber schon für die Herren vom Gericht vom größten Wert hätte
sein müssen, den wirklichen Thäter zu finden, um wie viel mehr für die Juden!
Ein Jude ist als Mörder eines Christenknaben angeklagt, die gesamte Juden-
schaft, ferner alle, die ans äußern Gründen oder aus Grundsatz sich zu An¬
wälten der Juden aufwerfen, rufen empört: Das ist nicht wahr! Man schent
keine Mittel in Wort und Geld, zu beweisen, daß der Jude Vuschoff nicht
der Mörder sei. Weshalb triumphirt die ganze jüdische und verjudete Presse
über dies doch nur negative Ergebnis? Wenn dieser Buschoff nicht der
Thäter war, so kann es doch noch immer ein andrer Jude gewesen sein.
Müßte ihnen nicht alles daran gelegen sein, ans Sonnenlicht zu bringen,
wer der Thäter gewesen ist? Dann könnten sie ins Horn stoßen und aus¬
posaunen: Es war alles Autisemitenhetze! Haben Semiten und Philosemiten
auch nur den geringsten Versuch dazu gemacht? Wenn nicht, warum denn
nicht? Hätten sie es nicht gekonnt? Wenn sie alle die Mühe, all das Geld,
das sie zur Rechtfertigung Buschoffs oder jetzt zu eiuer Gratifikation ver¬
wandt haben, dazu verwandt hätten, sie hätten es sicherlich herausgebracht!
Der Mord ist in eiuer kleinen Stadt begangen worden, wo sich alles unter
einander kennt, der Knabe ist unter besondern Umständen hingeschlachtet worden,
ein Lustmord liegt uicht vor. Da hätte doch einmal die Judenschaft ihre
Allmacht zeigen und sich dadurch für ewige Zeiten von der Anklage, Christen¬
blut zu gewissen Zwecken zu gebrauche», rein waschen können.
Also Buschoffs Unschuld ist klar erwiesen. Woraufhin denn? Wes¬
halb hat der Mord nicht in seinem Hause geschehen sein können? Er hätte
nnr im Keller vorgenommen werden können, und man hat festgestellt, daß
der Keller rein von Blut war. Eine Scheuerfrau wird verhört, die die
größern Reinigungen vorzunehmen pflegt; diese sagt aus, sie habe vor Ostern
den Keller gründlich gereinigt, seitdem nicht. Was für eine Bedeutung hat
dieses Zeugnis! Als ob ein Mörder, um seinen Keller von Blut zu säubern,
sich dazu eine Schenerfrau kommen ließe! Zweitens, heißt es, hätte man
draußen Schreien oder Wimmern hören müssen. Was für ein Schluß! Also
einem fünfjährigen Knaben kann man nicht dnrch einen Kuchen den Mund
stopfen oder durch ein Taschentuch oder einen andern Knebel oder den Mund
mit der Hand zuhalten? Ob wohl das Haus der angeschuldigten Familie von
Anfang an gründlich untersucht worden ist? Um von den verschiednen Messern,
die man erst später hinter Schränken u. s. w. steckend gefunden hat, zu schweigen:
nach Jahresfrist wird erst der bewußte Sack gefunden! Ob dieser von Be-
deutung für den Gang des Prozesses gewesen wäre, wer wagte das zu be¬
haupten? Nach Jahresfrist aber fiel die Unmöglichkeit, Tier- und Menschen¬
blut, Blut- und Rauchslecke zu unterscheiden, sehr für den Angeschuldigten in
die Wagschale. Ferner: hat nach Anlage des Hauses Hegemann in das Haus
hineingezogen werden können? und ist es geschehn? Als Zeugen stehen ein¬
ander gegenüber Mölders mit dem kleinen Heister und der nicht gerade gut
beleumundete Ullenboom. Mölders wird als Säufer und daher als verdäch¬
tiger Zeuge behandelt. Nach seinem frühern Leben befragt, sagt ein Arbeit¬
geber aus, Mölders habe wohl einmal einen über den Durst getrunken, sonst
sei er aber ein ganz ordentlicher Mensch gewesen. Eine Frau erklärt freilich,
sie habe ihn einmal nach einem Feste auf der Straße tanzen sehen. Nun
handelt es sich aber um die Zeit von zehn Uhr morgens, und es wird fest¬
gestellt, daß Mölders nur in einer Schenke gewesen und da ein oder zwei
Glas Schnaps getrunken hat. Und doch gilt seine Behauptung als erlogen.
Als er dann mit dem kleinen Heister dem Gerichtshof vormachte, wie damals
Hegemann ins Haus gezogen worden sei, da heißt es: „Das ist dem Heister
eingepaukt." Dem Ullenboom aber und den andern Zeugen des Alibibeweises
wird alles, was sie uach so langem Zeitraume aussagen, geglaubt. Überhaupt
mögen die Zeugen gegen Buschoff eidlich aussagen, was sie wollen, z. B.
daß Buschoff mit seinem Sohne Siegmund sich über den Mord unterhalten
habe, oder dergleichen mehr, sofort widersprechen alle Zeugen zu Gunsten des
Angeklagten: „Dessen entsinne ich mich nicht" oder „Das ist nicht der Fall" u.s.w.
Und wenn die Zeugen auch uoch uach diesem Leugnen bei ihrer Aussage bleiben:
„Es ist aber doch so," so sichren die Zeugnisse sür Buschoff doch zum Schluß
zu seiner Unschnldserklärung. Wenn Vuschoff etwas aussagt, so ist der stete
Refrain: „Buschoff hats gesagt, und Buschhoff ist ein ehrenwerter Mann."
Er hat die Äußerung gethan: „Wie sollte ich ein Kind ermorden? Ich habe
selbst zwei verloren; ich weiß, wie weh das thut." Wie konnte ein Mörder
eine so harmlose Bemerkung machen! Aus die Bekundung eines Zeugen, Buschoff
sei im Garten auf und ab gegangen und habe sich immer wie verzweifelt
den Kopf gehalten, weiß der Angeklagte die Erklärung, er wisse das nicht
"lehr, übrigens leide er oft an Zahnweh. Dann wird als allseitig aufgefallen
bezeichnet, daß Buschoff am Abende des Mordtags, während beim Kegeln
nur von dem Morde und dem etwaigen Mörder geredet worden sei, gegen
seine sonstige Gewohnheit sehr still und ernst gewesen sei. Zu seiner Ver¬
teidigung wird dann hervorgehoben, das gehe allen Menschen einmal so, daß
sie nicht gleich gut disponirt wären. luersciibiio äiew! Was für Entschul¬
digungen werden sonst noch für ihn vorgebracht? „Er ist völlig ruhig, zeigt
nicht die Spur von Erregung oder Angst." Hat man bei Erbe, dem Genossen
der Buntrvck, diese Ruhe, diese Sicherheit zu seinem Vorteil ausgelegt? Der
wurde trotz alles Leuguens zum Tode verurteilt.
Mail nimmt an, die Leiche habe schon vom Morgen an in der Scheune
gelegen. Ob der Knabe im Hause Buschoffs oder in der Küpperschen Scheune
abgeschlachtet worden ist — non liqaöt,. Daß das Blut, das in der Scheune
aufgefunden worden ist, für ein Kind in diesem Alter genüge, ist zuerst vou
den Ärzten verneint worden; dann hat sich während der Verhandlungen einer
der Ärzte, der diese Ansicht vertrat, dem Gutachten seiner Kollegen angeschlossen,
die erklärten, ein fünfjähriges Kind brauche nicht mehr Blut zu vergießen.
Aber ein Zeugnis scheint wenig Beachtung gesunden zu haben, das der Magd,
die am Mittag den Leichnam in der Scheune uicht erblickt hat, um Abend
aber auf einen dunkeln Gegenstand zugegangen ist, in dem Glauben, es süßen
da die Hühner. Auf die Entgegnung, sie hätte am Mittag nicht Acht gegeben,
sonst hätte sie ihn sehen müssen, erklärt sie, die doch wohl besser als die
Anwälte wissen muß, was mau in der Scheune sehen konnte oder nicht, sie
hätte ihn sehen müssen, wenn der Kleine schon am Mittag dagelegen Hütte!
In seiner ganzen Praxis hat ferner der eine der Staatsanwülte noch
nicht so schlagende Alibibeweise gehabt. Eine Anzahl von Zeugen, darunter
der sehr verdächtige Ullenboom, sagen aus, wo sich während des ganzen
Peter-Paulstags Buschoff aufgehalten habe, sie geben die halben Stunden um,
wann er ausgegangen, zu Hause gewesen, Mittagschlnf gehalten, Kaffee ge¬
trunken, wieder ausgegangen, sich zum Kegeln begeben habe u. s. w. Diese
Aussagen bezweifelt keiner, man findet es natürlich, daß fast nach Jahresfrist
jeder weiß, wo und wann immer Buschoff an diesem Tage gerade gewesen ist!
Man halte nicht entgegen: Der Tag ist als ein wichtiger in aller Erinnerung
geblieben. Denn alle diese Zeugen konnten doch nicht ahnen, daß sie nach so
langer Zeit nach den Einzelheiten über den Aufenthalt Buschoffs gefragt
werden würden. Und gesetzt auch, man wäre sich völlig klar über sein Thun
und Treiben während der fraglichen Stunden, genügt nicht zur Ermordung
eines fünfjährigen Knaben eine Spanne Zeit von fünf Minuten? Und hat
der Angeklagte nicht eine Fran, eine Tochter, einen Sohn?
Gewaltig fiel schließlich in die Wagschale der allseitig bezeugte gute Ruf
des Mannes. Ohne seinen Ruf irgendwie antasten zu wollen, behaupten wir:
der gute Leumund kann höchstens beweisen, daß Buschoff uicht aus Nach¬
sucht oder ähnlichen Motiven den Knaben getötet hat. Wenn er es aber aus
Fanatismus oder im religiösen Aberglauben befangen gethan hätte, so wider¬
spricht dem nicht, daß er im bürgerlichen Leben als rechtlich angesehen wurde.
Damit kommen wir auf den viel berufnen und verrufnen sogenannten Ritual¬
mord zu sprechen. Im Talmud, behauptet die ganze Judenschaft und be¬
stätigen einige christliche Gelehrten, im Talmud giebt es keine Vorschrift
über die Ermordung von Christenkindern zu Nitualzweckeu. Aber ganz ab¬
gesehn davon, daß z. B. Professor Rodung in Prag und andre das Gegen¬
teil behaupten, abgesehn davon, daß im Lause der Zeiten der Talmud sehr
beschnitten worden ist, so steht unumstößlich fest, daß nach altem Glauben
frisches und gesundes Blut Gesundheit oder Verjüngung herbeiführt. Wir
wollen mir als Gleichnis angeführt haben, daß anch unsre germanischen Vor¬
fahren ihre Gefangnen den Göttern so schlachteten, daß das Blut auf die
Erde floß, wir wollen nur der Erzählung Hartmanns von der Ane über die
freiwillige Opferung einer Jnngfmn zur Heilung des „armen Heinrich" be¬
rühren. Aber, wie kommt es, daß gerade den Juden von Alters her immer
wieder die Ermordung von Christenkindern vorgeworfen wird? Wir wollen
hier nicht ans den Haß eingehen und die Gründe zu dem Haß, den sich die
Juden während des ganzen Mittelalters bis zur Neuzeit zugezogen haben,
nicht auf ihren noch immer seltsamen orientalischen Ritus, nicht darauf, daß
altgläubige Juden uns als die Gojim verabscheuen und verfluchen müssen.
Nur zwei Beispiele. In der Geschichte Roms von Gregorovius, der doch die
Juden sehr freundlich behandelt, steht nach Prüfung der Urkunden geschrieben,
daß, als Innocenz der Achte totkrank war, sein jüdischer Arzt heimlich zwei
christliche Knaben schlachtete und dem Papst deren Blut zu trinken reichte.
Als der Papst das erfuhr, schauderte er zurück und nahm den gebotnen Trank
nicht, und nachdem er bald darauf gestorben war, flüchtete der Arzt aus Rom.
In der Berliner Bibliothek finden sich die Akten eines Monstreprozesfes vom
Jahre 1510, in dem Juden angeklagt waren, in wiederholten Füllen Christen¬
kinder getötet zu haben. Zu ihrer Entschuldigung gaben sie an, sie bedürften
des Blutes unschuldiger Kinder zu Medikamenten gegen gewisse Krankheiten, wie
Fluß u. s. w. Infolge dessen wurden fünf öffentlich verbrannt und sämtliche
Juden als Hehler aus der Mark ausgewiesen. Daß also selbst noch in unsrer
sonst so aufgeklärten Zeit altgläubige oder abergläubische Juden Blut zu Heil¬
mitteln nehmen sollten, wäre das so undenkbar, wenn man erwägt, wie überall
noch die unglaublichsten Besprechungen und Beschwörungen von Krankheiten
vorkommen? Wenn ein Zeuge vor dem Clever Gerichtshof mitteilt, zu seinem
Vater sei einst ein Jude gekommen, der etwas Blut gewünscht habe, das er
zu einer Medizin brauche, kein Bader wolle ihm solches verschaffen, so sollte
eine solche Aussage doch nicht sür unwesentlich gelten! Ließe man doch den
Tillard und das unglückliche Wort „Ritualmord" aus dem Spiele! Es wird
ja uicht behauptet, daß die Juden immer, daß alle Juden Christenkinder
schlachten. Ist es denn aber unmöglich, daß sich noch hente fanatische Juden
auf jede Weise, selbst durch Mord, Blut verschaffen? Einem „Reformjuden"
wird es ja nicht einfallen, einem, der nnr der Rasse nach noch Jude ist, einem,
der — wie wir es neulich erlebt haben —, wenn er als Arzt, ans Polen
gebürtig, mit völlig jüdischem Namen, mit unverfälscht orientalischem Typus,
vor Gericht als Zeuge auftritt, das von dem Amtsrichter geschriebne „jüdischer
Konfession" in „Dissident" umändern läßt. Ein strenggläubiger aber, am
alten Glauben oder — wer das lieber will — am Aberglauben hängender
Jude sollte das nicht thun können? Und Buschoff ist ein altgläubiger Jude.
Wie der Staatsanwalt hervorhebt, kann ein so frommer Mann, der morgens
fastet, weil der Sterbetag seines Vaters ist, der abends die Küppersche Scheune
nicht betreten will, weil er an diesem Tage keine Leiche sehen darf u. s. w.,
keinen Mord begehen. Gerade deshalb könnte er eines solchen Mordes
fähig sein.
Buschoff ist freigesprochen. Ganz Juda erhebt ein Jrokesengeheul vor
Freude, und es werden Sammlungen für ihn veranstaltet, bei denen sich anch
besonders Herren des „Fortschritts" mit christlichen Namen beteiligen. Ist
Buschoff unschuldig, so beklagen wir ihn und seine Familie wegen des ihm
widerfahrnen Unrechts gerade so tief, wie die Tausende und Abertausende, die
bisher unschuldig in Untersuchungshaft gesessen, die Jahre lang unschuldig in
Kerker und Banden gelegen haben. Nach unserm Dafürhalten ist dies ein
dunkler Punkt in der Gesetzgebung; es erscheint uns als ein schreiendes Unrecht,
daß die unschuldig Verhafteten oder Verurteilten keine Entschädigung erhalten.
Ist es aber jemals vorgekommen, daß für einen Christen derartige Aufrufe
erlassen und Sammlungen veranstaltet worden sind, daß sich Jude» mit
Namensunterschrift und Geldbeiträgen für einen Christen aufgeworfen hätten?
Und hier, wo es sich um einen Juden handelt, wetteifern Christen, zusammen¬
zuschießen — für einen Juden! Nur — weil er ein Jude ist!
Der ganze Prozeß hat gezeigt, daß Israel eine furchtbare Macht ist,
eine furchtbare Macht hat. Hüten wir uns vor zu weitgehenden Zugeständ-
nissen, und mögen sie sich hüten, den Bogen zu straff zu spannen, der Pfeil
könnte sonst auf den Schütze» zurückfliegen!
er die Entwicklung der deutschen Gesetzgebung mit Aufmerksam¬
keit verfolgt, dem wird es nicht entgangen sein, daß sich in den
letzten Jahren in Deutschland eine sonderbare Zurückhaltung,
um nicht zu sagen Abneigung des Handelsstandes gegen alle
in sein Gebiet eingreifenden gesetzgeberischen Maßnahmen bemerk¬
bar gemacht hat. Ihren vollendeten Ausdruck hat diese Erscheinung bei der
kürzlich in Angriff genommenen Börsenenquete gefunden, an der sich mit Jnter-W
M
esse nur volkswirtschaftliche und juristische Kreise beteiligen, während ihr die
Handelswelt kühl und teilnahmlos gegenübersteht, obwohl es sich doch gerade
hier nur eine Sache handelt, die in das Innerste ihres Lebens tief eingreift.
Leider kann man dieser Abneigung eine gewisse Berechtigung nicht ab¬
sprechen. Die Gesetzgebung des deutschen Reichs hat in dem letzten und in
der zweiten Hälfte des vorletzten Jahrzehnts einen Übereifer um deu Tag ge¬
legt, der unvorteilhaft absticht von der sichern Bedächtigkeit, die sie früher
stets ausgezeichnet hat. Einzelfälle sind zum Anlaß genommen worden für
Gesetzentwürfe, die, wenn sie das Licht der Öffentlichkeit erblickten und in das
Feuer der allgemeinen Erörterung geführt wurden, schneller verschwanden, als
sie gekommen waren. Wir erinnern nur an die Gesetzvorlage zur Bekämpfung
der Unsittlichkeit oder an die Gesetzanträge, die aus Anlaß der vorjährigen
Vankbrüche eine einseitige Beschränkung des Bank- und Börsenverkehrs be¬
zweckten. Besonders hat sich die Voreiligkeit bei den gewaltigen sozialpoli¬
tischen Gesetzen, die dem Ende unsers Jahrhunderts ihren Stempel aufdrücken,
gerächt. Bald machen sich „authentische Interpretationen" nötig, die der
Schöpfer seinem Werke nachfolgen lassen muß, bald Änderungen, Streichungen
und Zusätze, wie sie vou Jahr zu Jahr eine stündige Rubrik in der Tages¬
ordnung der parlamentarischen Körperschaften und des Bundesrath bilden.
Wenn sich aber hiermit, ganz abgesehn von den trüben Erfcchrnugen, die
Handel und Industrie mit dem Aktiengesetz und seinen Novellen gemacht haben,
das Mißtrauen des Handelsstandes gegen ein Eingreifen der Gesetzgebung
einigermaßen rechtfertigen läßt, so ist doch diese Stimmung, wenn sie so, wie
es geschieht, unterschiedlos allen Maßnahmen der Gesetzgebung entgegentritt,
tief bedauerlich; sie erschwert dem Gesetzgeber seine ohnehin mühevolle Arbeit,
sie mindert seine Arbeitslust, und eine schwere Schädigung der Sicherheit in
Verkehr und Kredit ist ihre letzte und notwendige Folge.
Diese Gedanken drängen sich jedem, der die einschlägigen Verhältnisse
einigermaßen zu übersehen Gelegenheit hat, in besonderm Maße ans, wenn er
der Geschichte des Checkverkehrs in Deutschland und der Versuche, diesem auf
dem Boden der Gesetzgebung eine feste Unterlage zu geben, nachgeht. Die
reichsgesetzliche Regelung des Checkverkehrs wird in Deutschland seit länger
als zwei Jahrzehnten von berufenster Stelle aus angestrebt. Längst hatte
mau die hohe Bedeutung des Checks als eines Zahlungsmittels erster Ord¬
nung und sein Bedürfnis für das gesamte Wirtschafts- und Verkehrs leben er¬
kannt. Längst hatte man die Vorzüge würdigen gelernt, die dieser Art der
kaufmännischen Anweisung den Vorrang vor ähnlichen Kreditpapieren und wirt¬
schaftlichen Gebilden verliehen: vor der Banknote dadurch, daß der Check erstens
anwrtisirbar, mithin weniger einer Verlustgcfahr ausgesetzt ist als diese, daß
er ferner keine Vermehrung der Zirkulationsmittel des Landes bedeutet und
damit die Gefahren vermeidet, die ein allzu ausgedehnter Notenumlauf für die
Gesamtwirtschaft des Landes mehr oder minder mit sich führt; vor dem Wechsel
dadurch, daß die in mancher Hinsicht zweifellos allzuharte spezifische Wechsel¬
strenge auf den Check keine Anwendung findet. Und doch wollte das Werk
nicht von der Stelle. Die Ursache lag, wie gesagt, darin, daß es gerade der
Handelsstand zum Te-it an den nötigen Anregungen fehlen ließ, zum Teil sich
sogar in entgegengesetztem Sinne aussprach, indem er die gesetzliche Regelung
dieser bedeutenden wirtschaftlichen Erscheinung nicht als empfehlenswert hin¬
stellte und in unangebrachtem Selbstbewußtsein nur verlangte, daß die Gesetz¬
gebung ihrer Weiterentwicklung dnrch Handelsbrauch nicht störend in den Weg
treten solle.")
Die leicht vorauszusehende Folge war, daß Rechtsunsicherheit und Willkür
in der Behandlung dieses Stoffs in Theorie und Rechtsprechung Platz griff
und bedenkliche Differenzen das Emporkeimen der jungen Einrichtung ungünstig
beeinflußten. Mag es nun dieser Umstand, oder mag es das allmählich klarer
aufdämmernde Verständnis gewesen sein, daß wir in dem Check das wichtigste
Zahlungsmittel, vielleicht das Zahlungsmittel der Zukunft vor uns haben:
genug, seit der Mitte der achtziger Jahre tritt ein langsamer Umschwung in
einem kleinen, aber maßgebenden Teil der deutschen Handelswelt hervor. Ohne
daß sich die allgemeine Abneigung gegen eine gesetzgeberische Regelung ge¬
mindert hätte, traten doch einzelne Hmidelskammcrn in ihren Gutachten und
Beschlüssen mit Entschiedenheit für die Notwendigkeit eines Checkgesetzes für
das einheitliche deutsche Wirtschaftsgebiet ein, und selbst der deutsche Handels¬
tag, der kurz vorher uoch in deu Reihen der Gegner gestanden hatte, machte
energisch Kehrt und glaubte in einer Resolution betonen zu müssen, daß nur
ein Gesetz durch positive Feststellung von Formen und Fristen dem Checkverkehr
die zur Förderung des Kredits notwendige Sicherheit schaffen könne. Mit¬
gewirkt an dieser Sinnesänderung mag auch der Vorgang von Nachbarländern
haben, wie Frankreich,"") Belgien,""") Italien, f) der Schweiz,ff) Ländern,
denen Deutschland an wirtschaftlicher Bedeutung teils überlegen war, teils
wenigstens nicht nachstand.
In ihrer Mehrzahl aber beharrten die Vertretungen der deutschen Handels¬
welt trotz der eifrigen Bestrebungen, die für den Gedanken eines Checkgesetzes
in der juristischen und volkswirtschaftlichen Litteratur hervortraten, bis zur
jüngsten Zeit eins ihrer Zurückhaltung. Es mußte daher immerhin einiger¬
maßen überraschen, als in den ersten Tagen dieses Jahres die Nachricht von
der Vollendung eines amtlichen Entwurfs zu einem Chcckgesetze kam, umso-
mehr, als von dessen Bearbeitung weitere Kreise der Öffentlichkeit vorher nichts
erfahren hatten. Am 26. Januar 1892 wurde dann in Nummer 22 des
Reichs- und Staatsauzeigers der dem Bundesrate zur Genehmigung vorgelegte
Entwurf veröffentlicht. Mit einigen Abänderungen im einzelnen, aber mit
Festhaltung der Grundgedanken wurde darauf der vom Bundesrate durch¬
beratene Entwurf dem Reichstage zur verfassungsmäßigen Beschlußnahme vor¬
gelegt. Der Schluß der Reichstagssession Ende Mürz dieses Jahres ver¬
hinderte die Dnrchberatung des Gesetzes. Doch ist zu erwarten, daß der Ent¬
wurf einen der ersten Beratuugsgegenstände der nächsten Session des Reichs¬
tags bilden wird. Aus diesem Grunde sind vielleicht einige Worte über den
Entwurf jetzt angebracht.
Die Notwendigkeit eines deutschen Checkgesetzes steht außer Zweifel. Wie
in den übrigen Kulturländern, so hat auch in Deutschland der Aufschwung
des modernen wirtschaftlichen Nerkehrslebens das Znhlungs- und Kreditwesen
dahin ausgebildet, daß ein großer Teil aller Zahlungen nicht in barem Geld
oder in Banknoten geleistet wird, sondern in Anweisungen — Checks genannt —
auf einen Dritten, bei dem dem Anweisenden die für seine Zahlnngsgeschäftc
erforderlichen Geldmittel zur Verfügung stehen. Zur Vollendung gekommen
ist diese Entwicklung des Geldverkehrs dadurch, daß sich nach dem Vorbilde
der englischen Ä«zg,rinS non«ö8 in neuerer Zeit die hervorragendsten Bankhäuser
zu sogenannten „Abrechnuugsstellen" — augenblicklich giebt es deren neun in
Deutschland — vereinigt haben, wo bei täglichen Zusammenkünften die massen¬
haft einlaufenden Checks, sowie andre Zahlungspapiere mit einander aus¬
getauscht und verrechnet werden. So betrugen z. B. die Checkumsätze bei der
Berliner Abrechnungsstelle, der „Bank des Berliner Kassenvereins," im Jahre 1884
etwa 4 580 000 000 Mark, eine Zahl, die in immer steigenden Ziffern im
Jahre 1890 ans etwa 5 620 000 000 Mark anwuchs. Von Einzelbauten hat
sich besonders bei der Neichsbank uuter der umsichtigen Leitung ihres jetzigen
Präsidenten der Checkverkehr in hervorragendem Maße entwickelt. Die Stück¬
zahl der allein bei der Reichsbank nud im Verkehr der Abrechnungsstellen ein¬
gelösten weißen (im Gegensatz zu den roten Giro-) Checks ist nach zuverlässigen
Berechnungen im Jahre 1891 auf 1Z52 234 geschätzt worden. Angesichts
dieser Zahlen mußte der Mangel eines das gesamte Checkwescn regelnden Ge¬
setzes von Jahr zu Jahr empfindlicher hervortreten, und eine in bedauerlichen
Maße um sich greifende unsolide Ausartung des Checkverkehrs war seine Folge.
Die einzige reichsgesetzliche Bestimmung, die bisher den Check unmittelbar trifft,
ist die in 'Z 24 Abs. 2 Ur. 1 des Wechselstempelsteuergesetzes vom 10. Juni 1869
enthaltne Vorschrift, wonach der nicht mit einem Aceept versehene Check von
der Stempelsteuer befreit bleibt. Im übrigen müssen die von der kaufmännischen
Anweisung handelnden Artikel 301 bis 305 des Handelsgesetzbuches auf den Check
angewandt werden. Diese allgemeinen Bestimmungen aber lassen gerade die
Hauptfragen des Checkverkehrs — so die Notwendigkeit eines Guthabens, die
Prüsentationsfrist, den Regreß des Inhabers — ganz ungelöst; andre Fragen
regeln sie im Gegensatz zu den Grundsätzen, die für eine gesunde Ausbildung
des Chcckverkehrs maßgebend sein müssen.
Der vorliegende Entwurf fcheint hauptsächlich auf Betreiben der Verwal¬
tung der Reichsbank entstanden zu sein. Schon im Jahre 1882 hatte das
deutsche Reichsbankdirektvrium einen Entwurf ausgearbeitet, als dessen Ver-
fasser mau wohl nicht mit Unrecht den ans dem Gebiete des Check- wie des
Warrautwesens so bewährten Reichsbankpräsideuteu Dr. Koch bezeichnet; wenig¬
stens finden sich dieselben Gedanken, die in diesem Entwurf hervorträte», später
auch in dem von Koch dein deutscheu Juristentage im Jahre 1884 erstatteten
Gutachten „Empfiehlt sich eine gesetzgeberische Regelung des Checkverkehrs?"
wieder. Wir glauben nicht fehl zu gehn, wenn wir auch deu vorliegenden amt¬
lichen Entwurf auf die besondre Veranlassung des Reichsbankprüsidenten zurück¬
führe». Wie ein Blick auf seinen Inhalt, ja auf einzelne Stellen seines Wort¬
lauts zeigt, ist er zum guten Teil nur als eine Neubearbeitung des Reichs¬
bankentwurfs aufzufassen.
Es giebt bereits eine kleine Litteratur über deu Entwurf. Hervorzuheben
sind die beiden Kritiken, die der Direktor der Bank des Berliner Kassenvereius,
Regierungsrat a. D. Hoppenstedt, über den ersten wie deu umgearbeiteten Ent¬
wurf veröffentlicht hat/") sowie die ausführliche Besprechung, die Amtsrichter
Simvnson dem Entwurf gewidmet hat."*) Eine kürzere Besprechung hat der
Verfasser dieser Abhandlung in der Berliner Börsenzeitung (Abendausgabe vom
30. Januar 1892) gegeben.
Inwieweit entspricht nun der Entwurf in seiner jetzigen Gestalt den Be¬
dürfnissen des Verkehrs und den Grundlage» einer rationellen Volks- und
Kreditwirtschaft?
Zunächst einige Bemerkungen allgemeiner Natur.
Für el» wirtschaftlich so bedeutsames Gesetz, das vor allem dem Ver¬
ständnis des Kaufmanns, also des Nichtjuristeu, angepaßt sein muß, sind
Sprache und Fassung der einzelnen Bestimmungen nicht unwichtig. In dieser
Beziehung ist lobend anzuerkennen, daß der Entwurf eine Sprache aufweist,
die vorteilhaft absticht von manchen andern Gesetzen, die die letzten Jahre
hervorgebracht haben, und daß er in einem besonders erfreulichen Gegensatze
steht zu der Sprache, die das sogenannte „bürgerliche" Gesetzbuch für das
deutsche Reich seinen „Bürgern" vorzusetzen sich nicht scheut. Ein klarer Satz¬
bau, verbunden mit einfacher und leicht verständlicher Ausdrucksweise, erleichtert
den Überblick und erspart die Erläuterungen, wie sie sonst die Motive nur
allzu oft zu geben gezwungen sind. Gegen den Umfang des Gesetzes läßt sich
allerdings mancherlei einwenden. Ein Vergleich mit ausländischen Gesetzen,
insbesondre der Schweiz, ergiebt, daß sich derselbe Stoff in gleicher Deutlich¬
keit auch in kleinem Umfange bewältigen läßt. Es kaun noch manches Über¬
flüssige ausgeschieden, manches Gleichartige zusammengezogen werden. Hoppen-
stedt hat dies mit Glück in seinem Gegenentwurf durchgeführt.
Von einer süddeutschen Handelskammer ist kürzlich mit Rücksicht auf die
zahlreichen Verweisungen auf die Wechselordnung, die sich in dem Entwurf
finden, vorgeschlagen worden, das Checkgesetz überhaupt nicht als besondres
Gesetz zu erlassen, sondern es als Novelle in die Wechselordnung einzu¬
fügen. Dieser Vorschlag ist zunächst aus äußerlichen Gründen unzweckmäßig;
seine Durchführung würde die wegen ihrer gedrängten Kürze mit Recht ge¬
rühmte Wechselordnung unnötig belasten, dem Checkgesetz die ihm gebührende
Selbständigkeit nehmen und anstatt zweier übersichtlichen ein unübersichtliches
Gesetz schaffen. Er ist aber auch sachlich zu verwerfen. Der Entwurf hat
im Gegensatz zu deu englischen LiUs ok LxollanAL von 1882, die in Art. 72
den Check als eine Unterart des Wechsels hinstellen, beide Papiere unter rich¬
tiger Würdigung der ihnen innewohnenden verschiednen wirtschaftlichen Auf¬
gabe«, trotz der Ähnlichkeit in ihren äußern Formen streng von einander geschieden
und die Anwendung einer großen Anzahl grundlegender wechselrechtlicher Normen
gerade für den Check ausgeschlossen. Durch die Zusammenfügung von Check-
recht und Wechselrecht würden also zwei durchaus verschiedne Dinge mit ein¬
ander vermischt werden.
Gehen wir nunmehr auf die einzelnen Bestimmungen des Entwurfs ein.
Man unterscheidet zwei Arten von Checks, den sogenannten Anweisungs¬
check, der sich als eine von dem Aussteller an den Bezognen gerichtete Zahlungs¬
aufforderung darstellt, und den sogenannten Quittungscheck, der in Quittungs¬
form abgefaßt ist. Die letztere, die in Holland ausdrücklich gesetzlich zugelassen,
in Frankreich wenigstens ziemlich üblich ist, steht aber in Widerspruch mit der
ganzen Aufgabe und dem Rechtsinhalt des Checks, denn dieser ist stets als Zah¬
lungsanweisung gedacht. Seitdem im Jahre 1883 der Quittungscheck von der
Neichsbank und den übrigen der Abrechnungsstelle zugehörigen Bankhäusern,
dem sogenannten Checkverein, ausgeschlossen worden war, verloren derartige
Checks immer mehr an Bedeutung. Der Entwurf hat mit Recht keine Ver¬
anlassung genommen, diese torwö iQ6iitsu8s von nettem rechtlich aufleben zu
lassen, hat vielmehr nur den Anwcisnngscheck — bei der Neichsbank „weißer
Check" genannt — berücksichtigt. Ebenso hat er den sogenannten „roten Check"
der Reichsbank aus seinem Bereich verbannt, da dieser mit dem echten Check
nur den Namen gemein hat, seinem Charakter nach aber nur als Um-
schreibuugsauftrag aufzufassen ist, laut dessen ein Girokuude seine Bank an¬
weist, einen gewissen Betrag von seinem Konw auf das Konto eines andern
Girokunden zu überschreiben.
'
Die englischen Lills ol Hxolmn^s definiren den Check als einen ans einen
bimksr gezognen Sichtwechsel. Daß der letzte Teil dieser Definition für uns
nicht brauchbar ist, ist schon erwähnt. Check und Wechsel stehn bei uns in
strengem Gegensatz. Der Wechsel ist in seiner hauptsächlichsten wirtschaftlichen
Bedeutung ein Kreditpapier, der Check ein Zahlungspapier. Bei dem Wechsel
handelt es sich in der Regel um die Einziehung oder Erneuerung einer befristeten
Forderung, die durch Jndossirung schon vor Eintritt des Fälligkeitstermins in
Geld umgesetzt werden kann und soll. Der Check hat nur den Zweck einer
Veränderung in der Person des Zahlungspflichtigen. Der Aussteller soll sich
durch die Hingabe des Checks nicht Kredit verschaffen, sondern nnr ein Zahlungs¬
geschäft in beiderseitigen Interesse vereinfachen. Aus diesem Umstände ergiebt
sich denu auch die Hauptaufgabe des Checks: er erspart dem Privatmann die
eigne Kassenführung, er enthebt ihn der Notwendigkeit, Zahlungsmittel in
großer» Mengen bereit zu halten und bei sich aufzubewahren, er macht den
gefährlichen und beschwerlichen Transport von barem Geld und Effekten
überflüssig.
Wenn aber so die Bezeichnung des Checks als Unterart des Wechsels im
Entwurf unterbleiben mußte, so ist es doch ein bedauerlicher Fehler, daß auch
der zweite Grundsatz des englischen Rechts, die Beschränkung der Checkziehnng
auf „Bankiers" oder „Banken," im Entwurf übergangen ist. Der Entwurf
hat im Anschluß an die Gesetze von Frankreich, Belgien und der Schweiz den
Grundsatz der Checkfreiheit angenommen, d. h. jede Person oder Firma kann
sich durch Check beziehen lassen. Mögen auch in Deutschland die Begriffe
„Bankhaus" und „Bankier" gesetzlich nicht abgegrenzt sein, mag sich ins¬
besondre der in England streng durchgeführte Unterschied zwischen dem war-
elmvll und dem vimlcsr oder dem oommon danksr, der allein den Check- und
Depositenverkehr Pflegt, und dem tvrsig'n dimkor, der das Spckulationsgeschäft
betreibt, in Deutschland auch nicht annäherungsweise finden, so hat sich doch
auch bei uns im praktischen Verkehrsleben durch Gewohnheit und Handels¬
brauch ein Begriff des van^tuer ausgebildet, bei dem allein die gewerbsmäßige
Besorgung fremder Zahlungen, die eine Voraussetzung für den gehörigen Ge¬
brauch des Checks darstellt, zu finden ist. Selbst Verteidiger der Checkfreiheit
aber müssen zugeben, daß die volkswirtschaftlichen Vorteile des Checkshstems
nur bei derartiger gewerbsmäßiger Konzentrirung fremder Gelder eintreten
können, daß sich nur aus dieser eine den Bedürfnissen des Checkverkehrs ent¬
sprechende gesunde Entwicklung dieses Zahlungsmittels bilden kann. Die Soli¬
dität des Checkverkehrs wird durch die Freigebung der Checkziehung in einem
Wichtigen Punkte gefährdet werden. Die Thatsache, daß sich die Checkziehung
auf Nichtbaukiers bis heute in Deutschland in einem kaum nennenswerten Um¬
fange entwickelt hat, dürfte hinreichend beweisen, daß ein Bedürfnis in dieser
Richtung nicht vorliegt, und es hieße einen Schritt rückwärts thun, wenn man
eine Einrichtung, die der Verkehr selbst von sich abgeschüttelt hat, jetzt recht¬
lich sanktioniren wollte,")
Die Gewähr dafür, daß sich die Benutzung des Checks in dem Nahmen
eines zur Einlösung drängenden Zahlungsmittels hält und nicht in eine
mißbräuchliche Berwertnng für Kreditzwecke ausartet, wird durch die Vor¬
schrift gegeben, daß der Check sofort bei Sicht zahlbar sein soll. Diese Be¬
stimmung, die in gleicher Weise in England, Frankreich, Belgien und der
Schweiz gilt — nur Italien läßt eine kurze Zahlungsfrist nach Sicht zu —,
stellt sich als ein notwendiges Erfordernis des Checks dar und verdient, da
sie scharf die Grenze zwischen ihm und dem Wechsel bezeichnet, durchaus Bil¬
ligung. Nur darin ist der Entwurf vielleicht über das Ziel hinausgegangen,
daß durch Angabe der Zahlnngszeit der Check nngiltig werden soll; hierfür ist
kein rechter Grund einzusehen, und es dürfte genügen, wenn in Übereinstim¬
mung mit dem Schweizer Gesetz die Angabe einer Zahlnngszeit als nicht vor¬
handen betrachtet würde.
Derselbe Gedanke, daß der Check uicht seinem wirtschaftlichen Zweck ent¬
fremdet und zu einem wechselähnlichen Papiere werden soll, findet seinen Aus¬
druck in dem Verbot der Acceptirung des Checks. Ein Accept des Bezognen
ist mit der Natur des Checks nicht wohl vereinbar; der Check würde dadurch
zu einem Umlaufs- und Kreditpapier werden, denn der Bezogne würde im
Fall einer Acceptirung nur auf Grund dieser Annahmeerklürung hasten, und
die erste und oberste Grundlage des Checks — ein bei dem Aussteller für den
Bezognen vvrhandnes Guthaben ^ würde dadurch in den Hintergrund treten.
Die weitere Bestimmung des Entwurfs, daß eine trotz des Verbots erfolgte
Acceptirung als nicht geschehen gelten soll, ist auch insofern zweckmüßig, als
dadurch die im Interesse einer möglichst erleichterten Umlanfsfähigkeit längst
erwünschte allgemeine Stempelfreiheit des Checks gesetzlich verbürgt wird. Denn
da die Stempelpflicht gemäß der erwähnten einzigen rcichsgesetzlichen Vorschrift,
die sich bisher für den deutschen Check findet, nur den mit einem Accept ver-
sehnen Check trifft, so wäre, da von nun an selbst der acceptirte Check für
nicht acceptirt gelten soll, anch dieser von der Stcmpelpflicht entbunden. Wer
allerdings die Hartnäckigkeit kennt, womit der Steinpclfiskal in Deutschland
vermeintliche Ansprüche zu verfolgen sucht, der wird zur Vermeidung künftiger
unliebsamer Stempelsteuerprozesse in dem Gesetz — vielleicht im Einführungs-
gesetz — einen sichern Ausdruck für die Kraftloserklärung des § 24 des Wechsel¬
stempelsteuergesetzes wünschen.
Dem Charakter des Checks als eines Äquivalents der Barzahlung ent¬
spricht es, wenn durch den Entwurf die Unwiderruflichkeit des Checks fest¬
gestellt wird. Die Vollendung des Zahlungsgeschäfts, der Übergang der Geld¬
summe auf den Inhaber des Checks, soll nach dessen Aushändigung jeder
Einwirkung dnrch Willensakte des Ausstellers entzogen sein. Die Unwider¬
ruflichkeit gilt zur Zeit für den Check nicht, da der übliche Check nach der
heutigen Gesetzgebung als ein Zahlungsauftrag aufzufassen ist, dessen beliebigem
Widerruf vor Annahme des Bezognen nichts entgegensteht. Insofern bedeutet
also die neue Bestimmung einen nicht zu verkennenden Fortschritt gegen das
bestehende Recht. Nur dürfte zu überlegen sein, ob es nicht zweckmäßig wäre,
den Widerruf uach Ablauf der Präsentationsfrist zu gestatten. Es hieße der
Verzögerung in der Einlösung des Checks einen gesetzlichen Hintergrund geben,
wenn man den Aussteller des Checks noch nach Ablauf der Präsentationsfrist
daran binden wollte.
Ebenso soll durch andre in der Person des Ausstellers eintretende Ereig¬
nisse, wie durch Tod, Eintritt der Geschäftsunfähigkeit, keine Änderung im all¬
gemeinen bewirkt werden. Bedenken bestehn hier nur noch für den Fall des Kon¬
kurses, zumal da ein Aus- und Absonderungsrecht des Checkinhabers in Bezug auf
das zur Konkursmasse abgeführte Guthaben in dein Entwurf nicht anerkannt ist.
In notwendigen Zusammenhang mit der Unwiderruflichkeit des Checks steht
das direkte Klagerecht des Checkinhabers gegen den Bezognen. Wie die Begrün¬
dung mit Recht ausführt, würde diese lediglich auf dem Papier stehn, wenn
der Bezogne in der Lage wäre, einen — vom Gesetz für unwirksam erklärten —
Widerruf des Ausstellers durch seine Einlösungsverweigerung ohne Nechts-
nachteil dennoch wirksam zu macheu. Aus diesem Grunde ist dem Checkinhaber
ein direktes Klagerecht gegen den Bezognen in demselben Umfange eingeräumt,
wie der Bezogue dem Aussteller nach den zwischen ihnen schwebenden Rechts¬
verhältnissen zur Einlösung des Checks verpflichtet ist. Mag diese Vorschrift
auch juristischen Grundregeln nicht entsprechen, insofern der die Einlösungs-
pflicht bedingende sogenannte „Checkvertrag" nur zwischen dem Bezognen und
dem Aussteller besteht, so ist sie doch durch das praktische Leben zur notwen¬
digen Sicherung der Interessen des Checkinhabers wie des Ausstellers geboten-
Für den Checkinhaber ist, namentlich mit Rücksicht darauf, daß die Hingabe
des Checks eine Barzahlung vertreten soll, der direkte Anspruch gegen den
Bezognen eine Notwendigkeit, und sür den Aussteller des Checks ist es natür¬
lich wünschenswerter, daß die Zahlung dnrch den Bezognen erfolgt, als daß
er auf dem Negreßwege genötigt wird, noch einmal anderweit sür Deckung zu
sorgen. Der Checkbezogne selbst erleidet dadurch keinen Nachteil, da er gegen¬
über dem Inhaber des Checks, gesetzlicher Vorschrift gemäß, alle Einreden
geltend machen kann, die ihm gegen den Aussteller zustehen. Hierbei ist aber
wohl nur an materielle Einreden gedacht, d. h. an solche, die den Anspruch
selbst betreffen. Man wird doch kaum annehmen können, daß z. B. die Reichs¬
bank, wenn der Aussteller, entgegen dem 8 g ihrer Girobestimmungen, den
Check nicht auf ein von ihr geliefertes Formular geschrieben hat, nun die Hono-
rirung auch dem prüsentirenden Checkinhaber gegenüber verweigern könnte.
Die Negreßansprüche gegen Aussteller und Indossant sind im wesentlichen
den Vorschriften der Wechselordnung nachgebildet. Der Inhaber darf das Re¬
greßrecht nur dann ausüben, wenn er nachweisen kann, daß der Check recht¬
zeitig präsentirt und die Zahlung verweigert worden ist. Dieser Nachweis
kann wie beim Wechsel dnrch eine Prvtestaufnahme geschehen, er kann aber
auch ohne solche in formloser Art, insbesondre durch eine einfache schriftliche
Erklärung des Vezognen auf dem Check, geführt werden. Diese Bestimmung
rechtfertigt sich daraus, daß, während beim Wechsel nach dem Verfalltage uoch
eine besondre zweitägige Protestfrist gewährt ist, der Protest beim Check inner¬
halb der kurzen Präscntationsfrist geschehen müßte, dies aber in vielen Fällen
kaum möglich sein würde. Dem Inhaber des Checks soll jedoch nur inner¬
halb der Prüsentationsfrist ein Anspruch auf checkrechtliche Befriedigung zu¬
stehen. Versäumt er diese, so sind die Jndosfanten von der Verbindlichkeit
aus dem Papier völlig befreit, und auch gegen den Aussteller steht dem In¬
haber nur noch ein begrenzter Anspruch zu, nämlich ein Anspruch auf die Be¬
reicherung, die dem Aussteller dadurch erwächst, daß der Checkbetrag nicht
abgehoben ist. Diese Bereicheruugsklage gegen deu Aussteller ist wohlbegründet.
Der Aussteller hat zwar einerseits ein berechtigtes Interesse an der rechtzeitigen
Präsentation, da er die Gefahr einer unversehrten Erhaltung der Deckung nicht
länger als notwendig tragen soll; andrerseits aber würde ihm eine grundlose
Bereicherung zufallen, wenn ihm die thatsächlich noch erhaltne Deckung über¬
lassen bliebe. Im Ergebnis stimmt die Bereicheruugsklage zum Teil mit den
Bestimmungen des englischen Checkrcchts und fast ganz mit denen des italie¬
nischen, französischen und belgischen Rechts überein.
Die Negreßvorschriften des Entwurfs verdienen alle Billigung. Nur ein
Punkt muß auch hier beanstandet werden: der Entwurf bestimmt, daß,
wer bei einem Inhaberscheck seinen Namen oder seine Firma auf die Rückseite
des Papiers geschrieben hat, für die Einlösung gleich einem Jndosfanten haftet.
Nach § 6 des ersten Entwurfs sollte jeder Check, gleichviel ob er auf eine be¬
stimmte Person oder Firma oder auf den Inhaber lautete, durch Jndossement
übertragbar sein. Da wurde um mit Recht darauf hingewiesen,*) wie wenig
zweckmüßig es sei, den Inhaber- oder Überbringercheck, wie er bei der Reichs¬
bank zur Zeit allgemein und ausschließlich üblich ist, für indosfabel zu erklären.
Schnelligkeit und freie Beweglichkeit des Verkehrs müßten darunter leiden,
wenn auch jeder Jnhabercheck, mag er noch so deutlich die Überbringerklausel
an der Spitze tragen, erst darauf angesehen werden müßte, ob sich auf seiner
Rückseite nicht irgend ein Name befinde, und wenn ein solcher Check dann der
umständlichen Legitimationsprüfung und damit der Checkbezogue der Gefahr
der Schadloshaltung bei der geringsten' Fahrlässigkeit in der Auszahlung
unterworfen sein sollte. Die Gesetzesvorschrift würde auch einen ausdrücklichen
Widerspruch mit der heutigen Praxis bedeuten, da die Reichsbankchecks be¬
kanntlich zur Zeit den Vermerk tragen: „Checks, in welchen der Zusatz »oder
Überbringer« gestrichen ist, werden nicht bezahlt," und die Reichsbank sogar
für Ordrechecks jedes Risiko mit der Klausel ablehnt: „Die Bank zahlt den
Betrag an den Überbringer ohne Legitimativnsprüfung, auch wenn der Check
an eine bestimmte Person girirt ist." Im zweiten Entwurf hat denn nun auch
der 6 erfreulicherweise eine Umwandlung dahin erfahren, daß nur Ordrechecks
iudvssirt werden können- Augenscheinlich aber um auch den Anhängern der
frühern Fassung entgegenzukommen, erklärt nun der zweite Entwurf jeden
als Checkbürgen für haftbar, der seiue Unterschrift auf die Rückseite des Checks
setzt. Ein Grund für diese dem jetzigen Charakter des Jnhaberchecks geradezu
entgegengesetzte Vorschrift ist nicht einzusehen. Die besprvchue Bestimmung
des Entwurfs, daß die Unterschrift des Bezognen als nicht geschrieben gelten
soll, gleichviel, ob sie auf der Vorder- oder Rückseite steht, muß dahin führen,
jede Namensunterschrift auf Jnhaberchecks für nicht geschrieben anzusehen.
Präseutationsfrist heißt die Frist, in der ein Check dem Bezognen am Zah¬
lungsorte zur Zahlung vorzulegen ist. Welche wichtige Rolle diese Frist in
dem ganzen Checkrecht spielt, ist schon aus dem Vorhergehenden zur Genüge zu
ersehn gewesen. Sie zieht sich wie ein roter Faden durch das Gesetz und drückt
einem großen Teile seiner Vorschriften ihren Stempel auf. Deshalb ist diesem
Punkte von der Kritik besondre Aufmerksamkeit zugewandt worden.
Daß der Entwurf in der Festsetzung der Präseutationsfrist einen Mißgriff
begangen hat, ist leicht zu erkennen. Der in dem genannten Gesetze immer
wiederkehrende Gedanke, daß der Check nur dann seine natürliche wirtschaftliche
Aufgabe in vollem Maße ausüben könne, wenn er den Charakter eines Zah¬
lungsmittels behält und nicht als Kreditmittel Verwertung findet, hätte auch
hier zur Festsetzung einer möglichst kurzen Präsentationsfrist führen müssen,
um so dem Check jeden wettern Umlauf und die damit verbundne Gefahr einer
mißbräuchlichen Anwendung nach Möglichkeit abzuschneiden. Diesem Gedanken
hat schon der erste Entwurf nicht in gebührender Weise Rechnung getragen,
indem er für Platzchecks eine Frist von drei Tagen, für Distanzchecks eine Frist
von fünf Tagen bewilligte. Noch in höherm Maße aber hat sich der zweite
Entwurf diesem Gedanken entfremdet. Er hat den Unterschied zwischen Platz¬
checks und Distanzchecks ganz aufgehoben und es für angemessen erachtet, die
Präsentationsfrist für alle innerhalb des deutschen Reichsgebiets ausgestellten
und zahlbaren Checks gleichmäßig auf fünf Tage festzusetzen.
Es ist ja richtig, daß in einzelnen ausländischen Gesetzen noch längere
Präsentationsfristen gelten, daß z. B. Frankreich und die Schweiz eine Frist
von fünf Tagen für Platzchecks und von acht Tagen für Distanzchccks, Italien
sogar Fristen von acht und fünfzehn Tagen hat. Aber gerade die Erfahrung
dieser Länder hat gelehrt, wie durch eine derartige Ausdehnung der Präsen-
tativnsfrist die dem Check eigentümlichen wirtschaftlichen Vorteile verloren gehn,
seine ursprüngliche Bestimmung, als Zahlungsmittel für einen einzelnen Fall
zu dienen, mehr und mehr in Vergessenheit gerät, seine Benutzung auf un¬
solide Bahnen gedrängt wird und er, von Hand zu Hand wandernd, mit der
Banknote und dem Wechsel in Konkurrenz tritt. Für Distauzchecks mag
aus praktischen Rücksichten eine vier- oder fünftägige Präsentationsfrist bei¬
behalten werden, da durch die Beförderung von einem Orte zum andern
immerhin zwei bis drei Tage verloren gehen können. Für Platzchecks aber
liegt keine Nötigung vor, ihre Präsentation über den nach dem Ausstellungs¬
datum folgenden Werktag auszudehnen. Diese Meinung hat auch mit Ent¬
schiedenheit der Neichsbankpräsideut Ur. Koch (Bedürfnis und Inhalt eines
Checkgesetzes) wie der Neichsbankgesetzentwurf vertreten.
Die notwendige materielle Basis des Checks ist ein Guthaben, gleichviel
welcher Art, das dem Aussteller bei dem Vezogncn jederzeit zur freien Ver¬
fügung stehn muß, dies im wesentlichen Unterschiede von der gewöhnlichen An¬
weisung, dem Wechsel und ähnlichen wirtschaftlichen Gebilden. Bei der Aus¬
arbeitung des Gesetzentwurfs ist denn auch ein besondres Gewicht darauf ge¬
legt worden, das Vorhandensein eines ausreichenden Guthabens durch strenge
zivilrechtliche — und leider auch strafrechtliche — Normen sicher zu stellen.
Zunächst ist die Beziehung auf ein Guthaben unter die formellen und
notwendigen Erfordernisse des Checks aufgenommen worden,*) eine Vorschrift,
die zu der Sicherung des Verkehrs insofern ihr Teil beiträgt, als sich der
Aussteller, der behufs Willigkeit des Checks eine ausdrückliche Angabe über
ein Guthaben in der zu vollziehenden Urkunde machen muß, sich durch unrich¬
tige Zusicherung, ungeachtet der sonstigen ihn treffenden Nachteile, der Strafe
des Betrugs aussetzen würde. Sodann aber macht der Entwurf den Aus¬
steller eines ungedeckten Checks für jeden entstehenden Schaden haftbar.
Als Zeitpunkt, wo das Guthaben vorhanden sein muß, hatte der erste Ent¬
wurf die Zeit der Begehung des Checks festgesetzt, 20 machte den Aussteller
eines Checks, der diesen begab, obwohl er wußte oder ohne grobes Verschul¬
den wissen mußte, daß ihm zur Zeit der Begehung ein ausreichendes Guthaben
bei dem Bezognen nicht zustand, für allen daraus entstehenden Schaden ver¬
antwortlich. Hierbei war aber zweierlei übersehen worden. Einmal ist der
Fall nicht selten, daß jemand zwar einen ungedeckten Check ausschreibt, aber
trotzdem durchaus doim nah handelt, indem er nach Lage der Verhältnisse der
sichern Erwartung leben darf, daß in kürzester Zeit Deckung bei dem Bezognen
vorhanden sein werde oder sogar jetzt schon vorhanden, nnr ihm noch nicht
bekannt sei. Es ist z. B. üblich,*) daß, wenn Wechsel im regelmäßigen Ge¬
schäftsverkehr der Neichsbank zum Diskontireu eingesandt werden, in der Vor¬
aussetzung der Annahme der Wechsel über ihren Betrag vielfach früher
durch Check verfügt wird, als die Nachricht über die Gutschrift einläuft. Es
wäre hart und widerspräche einem durchgebildeten Rechtsgefühl, wollte man
den auf diese Voraussetzung bauenden Checkaussteller, mag ihm auch zur Zeit
der Präsentation das Guthaben längst zur Verfügung stehn, nur aus dem
Grunde, weil dies zur Zeit der Begehung noch nicht vorhanden war, in
gleicher Weise für jeden Schaden ersatzpflichtig machen, wie den, der doloser-
weise ohne Guthaben einen Check ausstellt. Andrerseits ist es sehr wohl denk¬
bar, daß jemand zwar zur Zeit der Begehung des Checks ein Guthaben bei
dem Bezognen liegen hat, nach der Begehung aber und noch vor der Ein¬
lösung, sei es gezwungen, sei es uni-i it<is, das Guthaben abhebt, sodaß bei
der Präsentation der Check ungedeckt dasteht. Hier würde uach dem Wort¬
laute des Gesetzes der Aussteller wie jeder andre nur für den Eingang des
Checkbetrags haften, jedes weitere Verlangen auf Schadloshaltung aber, trotz
erwiesener ualli. llclss, mit der Einrede zurückweisen können, daß zur Zeit der
Begehung ja Deckung vorhanden gewesen sei. So müßte das Gesetz selbst die
Handhabe zu betrügerischen Manipulationen bieten und die Verkehrssicherheit
gefährdende Hinterthüren schaffen.
Beide Fälle beweisen deutlich, daß nicht die Zeit der Begehung, sondern
die Zeit der Präsentation als die maßgebende angesehen werden muß. Dieser
Gedanke ist auch in der veränderten Fassung des zweiten Entwurfs zum Aus¬
druck gekommen. Leider noch nicht vollständig. Es ist uur eine Ergänzung
dahin getroffen, daß der Aussteller auch dann für jeden entstehenden Schaden
haftbar ist, wenn er nach Begehung des Checks innerhalb der Präsentativns-
frist über das Guthaben in der Absicht verfügt, die Einlösung zu vereiteln.
Damit ist also nur auf den zweiten der genannten Fälle Rücksicht genommen.
Und doch Hütte der erstere Fall in gleichen! Maße Berücksichtigung verdient,
um so eher, als 8 28 des Entwurfs auf der Voraussetzung von § 20 eine
Strafe bis zu eintausend Mark festsetzt.
Was diese Strafbestimmungen anlangt, so ist in erster Linie ihre voll¬
ständige Streichung dringend zu befürworten. Wie wenig Strafbestimmungen
imstande sind, Mißbräuche und Unlauterkeiten zu verhüten, beweist zur Genüge
das Aktiengesetz. Nicht Repressiv-, sondern nur Präventivmaßregeln können
— das ist einer der obersten Sätze der modernen Wirtschaftslehre — den
zur Förderung des wirtschaftlichen Kredits nötigen Schutz gewähren. Die
gewöhnlichen Strafbestimmungen des Betrugs reichen sür die Grenzen des
Checkverkehrs vollkommen aus. Eine Geldbuße, wie sie 8 18 festsetzt, ist als
Strafe durchaus wirkungslos, und auch die fahrlässige Ausstellung eines
Checks ohne genügende Deckung mit Strafe zu treffen, dafür ist kein ver¬
nünftiger Rechtsgrund gegeben. Durch ein derartiges störendes Eingreifen des
Strafrechts würden der jungen Einrichtung nur Hemmnisse und Unannehm¬
lichkeiten bereitet werden. In zweiter Linie aber kann unmöglich mit Strafe
belegt werden,' wer einen Check auch ohne Deckung in der sichern und nach
den Umstünden gerechtfertigten Voraussetzung ausstellt, daß ihm zur Zeit der
Präsentation jedenfalls das erforderliche Guthaben bei dem Bezognen zu¬
stehen werde.
Damit schließen wir unsre Betrachtungen. Bei aller Klarheit und Schärfe
in der Fassung des Entwurfs, bei aller Trefflichkeit der darin durchgeführten
Grundgedanken erheben sich doch im einzelnen nicht unwesentliche Bedenken
dagegen, denen man sich an maßgebender Stelle kaum wird verschließen können.
Die Grundlage ist gesund. Aber die einzelnen Steine, aus denen der Bau
aufgeführt werden soll, bedürfen noch einer prüfenden Durchsicht. Diese Auf¬
gabe wird in der nächsten Session dem deutscheu Reichstage zufallen.
uf einem von den beiden Häusern, die am andern Flußufer in
Flammen standen, wehte die weiße Fahne, es war ein zum
Lazarett) umgewandeltes Wirtshaus. Entsetzliches Jammergetön
durchschnitt von dorther die Luft, und man sah Verwundete aus
den Flammen herausschleppen, der großen Mehrzahl nach Würt¬
temberger. Die Preußen hatten sie zu Schanden geschossen und retteten sie
nun mit eigner Lebensgefahr aus den Flammen.
Während dieser Vorgänge schafften andre Soldaten, den Fluß durch¬
watend, Patronen ans jenseitige Ufer, wo hinter einer Kapelle und an den
Gartenzäunen und Straßenecken entlang ihre Kameraden lagen und sich um
die Mordgeschosse rissen wie Verhungernde um Brot. Zugleich fielen wieder
Schüsse, und aufmerksam gemacht, sah ich von den naheliegenden jenseitigen
Thalwanduugeu die württembergischen Truppen in großer Zahl aus den Seiten¬
thälern hervorrücken, in geschloßnen Kolonnen.
Die Dickköpfe haben noch nicht genug! hörte ich die hohe und schnei¬
dende Stimme eines preußischen Obersten rufen. Dann erschollen von allen
Seite» Kvmmandorufe, und aus den preußischen Zündnadelgewehren brach ein
so massenhaftes Schnellfeuer los und mit solchem Geknatter, daß die Luft zu
zittern schien. Ganze Reihen meiner Landsleute stürzten und schlugen platt
auf die Straße hin, daß es zum Erbarmen war.
Sie stutzten auch einen Augenblick, aber nicht länger. Todesmutig, mit
tausendfachem Hurra warfen sie sich auf den Feind unter dem unaufhör¬
lichen Donner von mehr als vierzig Grvbgeschützen. Ein Mordschauspiel that
sich vor mir auf, schanervoll, meine kühnsten Phantasien übertreffend.
Da — eben unterscheide ich noch ein einzelnes preußisches Kommando: Zur
Attacke! Das Gewehr rechts! Füllt das Gewehr, marsch, marsch! — da ge¬
schieht ein Klirren über mir, ein Krachen und Pfeifen, dann ein Knistern und
Prasseln, und wie wir in die Höhe sehn, steht das über unserm Heuschuppen
aufgebalkte Korn in lichterlohem Brand. Erstickender Rauch erfüllt die Scheuer,
und Funken fallen ins Heu, das sich nun ebenfalls entzündet.
Wir sprangen auf die Tenne hinunter und taumelten hinaus ins Freie.
Ich hatte den Kopf ganz verloren, besinnungslos eilte ich durch die Straße.
Grnnntstücke und Ziegelsteine fielen vor mir und hinter mir ans den Boden.
Plötzlich thut sich eine Hausthür auf, ein Arm greift heraus und zieht
mich hinein, zerrt mich durch einen dunkeln Gang und eine steinerne Treppe
hinunter, und da stehe ich vor hellem Lampenlicht in einem wohlversehenen
Keller unter Menschen jedes Geschlechts und Alters. Ich befand mich in dem
Keller des Bäckerhauses, wo Lienhard Neichenbühler in Quartier gelegen hatte,
und dessen Besitzer, da er mein Leben in Gefahr sah, mich menschenfreundlich
von der unheimlichen Straße weggenommen hatte.
Das ganze Haus hatte sich in dem unterirdischen Raume znsammcn-
gcflüchtet, außer der zahlreichen Familie des Bäckers zwei Mietfamilien, die
eines Gymnnsialprvfcssors und eine andre, arme Leute aus den Mansarden.
Das Ganze bot wahrlich keinen erfreulichen Anblick dar. Die Weiber und
Kinder heulten und jammerten oder beteten, was sich nicht viel davon unter¬
schied; die Männer wechselten Reden, wie sie die Gelegenheit gab. Mich
empfing man in einer Weise, die mich sehr überraschte. Die dicke Bäckerfrau
unterbrach ihre Jmnmertöne und Stoßgebete und fuhr mich an, ob wir
Schwaben denn toll geworden wären, und ob das etwa ein neuer Schwaben¬
streich sein solle, die befreundete Stadt niederzuschießen, für nichts und wider
nichts, eine ganze Bürgerschaft unglücklich zu machen und das Kind in der
Wiege zu töten. Ich sollte ihr aus den Augen gehen, ich sollte mich schämen,
wir wären tausendmal garstiger als die Preußen. Wenn sie das gewußt
hätte! Drei Tage lang hätte man diese Krautschwaben gefüttert und ihnen die
besten Bissen zugesteckt, und zum Dank dafür schössen sie einem das Dach
über dem Kopfe zusammen. Tölpel warens, sonst thäten sie so was nicht.
Sie sollten doch auf die Pickelhauben zielen, aber Dächer freilich, die wären
leichter zu treffen. Man hätte ja auf die Preußen schießen können, ehe sie
in die Stadt gekommen wären. Wenns Kerle wären, diese Württemberger,
und keine Kraut- und Knöpfleschwaben, hätten sie die Preußen gar uicht ins
Land gelassen; sie hätten nur die Augen offen halten dürfen, die Schlafmützen.
Wenn sie aber nichts thun wollten, als badischen Landeskindern ihr Eigentum
verderben, Hütten sie zum bübischer Ländle drauß bleiben können.
Noch lange ergoß sich wie eine losgelaßne Schleuße der Strom ihrer
zornigen Rede über mich, der ich uicht wußte, ob sie Recht oder Unrecht hatte,
und in peinlicher Verlegenheit stumm vor ihr stand. Zugleich mußte ich daran
denken, daß ich erst vor wenigen Stunden an ihrem Tisch zu Mittag gegessen
hatte, und wie freundlich sie da gegen mich gewesen war.
Der Bäcker stimmte jedoch seiner Frau nicht bei. Er meinte, daß sie
übertreibe, daß die Stadt ja gar nicht zusammengeschossen würde, wenn auch
ein paar Ziegel zerbrochen würden; so genau könne mans im Kriege nicht
nehmen. Ein wenig vorsichtiger könnten sie ja schießen, aber schimpfen solle
man über die Württemberger nicht, wenigstens fürchteten sie sich nicht, und
den Preußen hätten sie heute Respekt eingeflößt; auf so hartnäckigen Wider¬
stand seien diese im ganzen Kriege noch nicht gestoßen. Die Badischen, die
hätten es freilich gut. die wichen immer auf die Seite. An den Soldaten
läge es nicht, die wären unzufrieden genng; aber ihr — nun man wisse, was
darüber zu sagen sei.
Der Professor verwies dem Bueler diese Rede. Dem Schießen nach sei
das Thal hinunter heute ebenfalls ernst gekümpft worden, und dort stünde
doch die badische Division.
Mit dem Ernst würde es nicht weit her sein, erwiderte der Bueler
spöttisch.
Dann würf umso besser! rief der Professor erhitzt. Die Menschen¬
schlächterei heute habe keinen Sinn und keinen Zweck; man wisse, daß der
Krieg bereits entschieden sei, daß die paar süddeutschen Soldaten daran nichts
ändern könnten. Wenn mau sie nun doch ins Feuer führe, so sei das die
verbrecherischste Tollheit, wie sie noch nie dagewesen sei. Der Prinz von
Baden verdiene die höchste Anerkennung dafür, daß er seine Leute schone.
Schon recht, schon recht! schrie der Bäcker, aber dann muß man ehrlich
sein und sich nicht stellen, als ob man ein Verbündeter wäre, während mans
mit dem Feinde hält.
So stritten sie immer heftiger und gehässiger, während mir unter dem
fortgesetzten Brüllen der Kanonen Erd und Himmel zu zittern schienen. Jeden
Augenblick konnte eine Granate einschlagen und den Hadernden das Dach über
dein Kopfe anzünden. Ich wagte kaum zu atmen.
Auch als das Schießen ziemlich bald wieder aufhörte, wie schon einige¬
mal an diesem Nachmittag, dauerte doch das Entsetzen in unserm Keller noch
lange fort. Erst als mehrere preußische Kompagnien in die Stadt zurück-
marschierten und viele Stadtbewohner sich wieder auf die Straße wagten, drang
auch zu uns die Nachricht, daß der Kampf in der That vorüber sei und die
Württembergischen endgiltig abgezogen seien.
Auch ich kroch hervor und schlich mich scheu durch die Straßen. Furcht
und Schrecken waren etwas von mir gewichen; aber dafür fühlte ich mich in
einem nicht weniger unerquicklichen Zustande der Seele und des Leibes. Ich
hatte zu viel und zu unbegreifliches in den paar Stunden erlebt, der Verstand
drohte mir stille zu stehen. Nur mit Mühe vermochte ich mir die Dinge um
mich her zum Bewußtsein zu bringen.
Ich kam hinaus gegen die Brücke, wo gekämpft worden war. Hier
rauchten noch die Brandstätten der zerstörten Häuser. Von allen Seiten
wurden Tote und Verwundete herbeigetragen.
So erschütternd dieses Schauspiel auf mich wirkte, und so gern ich die
Flucht davor ergriffen hätte, kehrte ich dennoch nicht um. Ich wollte nicht
Hinsehen, wo einer stöhnte und winselte; aber ich that es doch, ich sah fest
hin, und wenn es nur übel werden wollte, biß ich die Zähne auf einander.
Fast war mirs, als ob ich etwas suchte, als ob ich noch etwas ganz
besondres erleben müßte.
Ach, und das erfüllte sich. Ich fühlte mich auf einmal wie vernichtet.
Ich hatte einen Soldaten vorübertragen sehen mit zerschoßnem Unterkiefer,
mit brandig ausgelaufnem, entstelltem Gesicht. Aber die blutverklebten Haare,
und ich weiß nicht, was sonst noch, hatten mich an Lienhnrd Neichenbühler
erinnert.
Mir wurde schwindlig vor den Augen. Ich kam noch an einem Orte
vorüber, in der Nähe einer Kapelle, wo ein Hause preußischer Soldaten eine
weite Grube aufschaufelte. Ich dachte noch: da werden sie ihn hineinscharren.
Es war das letzte, was mir deutlich zum Bewußtsein kam.
Wie ein vor Schreck halb Irrsinniger, der einem Erdbeben oder einem
vermeintlichen Weltuntergang entronnen ist, floh ich hinaus ins Freie. Erst
nach längerer Zeit gewann ich genug Besinnung, einen Begegnenden nach der
Wegrichtung zu fragen.
So endete mein erstes Kriegserlebnis. Mit phantastischen Knabenträumen
hatte es begonnen, blutige Wirklichkeit bildete seinen Schluß. Ich hatte auf
Befriedigung meiner Schaulust gehofft, und ein Tag des Schreckens war mir dar¬
aus geworden. In der Geschichte heißt er der Tag von Tauberbischvfsheim. —
Als ich nach Hause kam, wurde mir nicht der erbaulichste Empfang. Ich
mußte die bitterste,? Vorwürfe hören, und das nach so großen Erlebnissen!
Es konnte nicht fehlen, daß ich die mir wiederfahrende Behandlung als
Ungerechtigkeit empfand, trotz allem Schuldbewußtsein. Aber ich verzieh meinen
Eltern großmütig, weil ich mir sagte, daß sie ja nicht wissen könnten, wessen
ich mich alles rühmen durfte. Und mir wiederum wurde alle Schuld zuletzt
vergeben mit Rücksicht ans mein Zusammentreffen mit Licnhard Reichenbühler
und seinen von mir überbrachten letzten Brief. Lienhard war in der That
gefallen, und die Nachricht von seinem Tode blieb nicht lange aus. So bildete
mein Zusammensein mit dem Unglücklichen kurz vor seinem Ende den einzigen
Trost für die Eltern, besonders für die Mutter, der ich hundertmal alle
Einzelheiten unsrer Begegnung und unsers letzten Abschieds berichten mußte,
wobei ihr Weinen mich oft so ansteckte, daß ich nur mit thränenerstickter
Stimme weiter erzählen konnte.
Aber auch andre Leute wollten von mir Auskunft haben, die Angehörigen
der übrigen Soldaten vor allen, und man bewunderte mich um das, was ich
alles gescheit und gehört hatte. Man hatte mir gar nicht so viel zugetraut.
Aus einem bisher nur mit Spott und Mitleid betrachteten Jungen war ich
auf einmal eine angestaunte Persönlichkeit geworden. Mein Hcldenruf wurde
aber noch gesteigert, und zwar von einer Seite her, von der ich es am
wenigsten erwartet hätte, nämlich dnrch den Hannpeter.
Mit einer leichten Armverwnuduug, die er — Gott mag wissen, wie und
wo — erhalten hatte, war er entlassen worden und nach Hinterwinkel heim¬
gekehrt, wo er sogar längere Zeit eine kleine Pension genoß und nicht zu
arbeiten brauchte. Es blieb ihm also Zeit genug, seine Kriegsthaten zu er¬
zählen. In eine davon verslocht er mich meine Persönlichkeit auf eine Weise,
die mir im höchsten Grade schmeicheln mußte, ihm allerdings noch mehr.
Von zehn bis zwölf Preußen verfolgt und in eine Sackgasse geraten,
hatte er sich Wohl eine Viertelstunde laug gegen die ungeheure Übermacht mit
dem Bajonett verteidigt. Fünf von den Feinden waren bereits seinen Stichen
erlegen; aber dann ermüdete sein Arm, und er wäre verloren gewesen, wenn
sich nicht plötzlich ein kleines Pförtleiu, an einem großen Scheunenthor an¬
gebracht, wie von selbst geöffnet hätte, daß es schien, als ob sein Schutzengel
in Person gekommen wäre, ihn uns diese wunderbare Weise zu rette». Da
erkannte er meine ihm zurufende Stimme, denn ich wars gewesen, der Lexel;
niemand anders als ich hatte ihn vor schmählicher Gefangenschaft oder sicherm
Tode gerettet. Ich zeigte ihm an der Hinterwand der Scheune ein Loch;
durch dieses entkam er ins Freie und gewann, ehe die Preußen ihm zu folgen
vermochten, das andre Flußufer, wo er gerade zurecht kam, um an einem
erneuten Angriff seines Regiments teil zu nehmen. Mich wollten die Preußen
nun erstechen, aber ich schrie, man sollte mir doch das Leben lassen, ich wäre
ja nur ein Schneider; so gottserbärmiglich schrie ichs, daß sogar die Preußen
lachen mußten und mir das Leben schenkten.
Von dem letzten Vorgänge konnte der Hannpeter eigentlich nichts mehr
gehört haben; aber er erzählte ihn doch. Gleich dem Dichter wußte er auch
solche Einzelheiten seiner Geschichte, die er der Natur der Sache nach gar
nicht wissen durfte.
Wie ich die Sache hier dargestellt habe, begreift vielleicht niemand, daß
einer damit Glauben finden konnte; aber wie sie der Hannpeter erzählte und
dramatisch dazu agirte, glaubte ihm jeder aufs Wort. Der Hannpeter war
ein großer Erzähler, und er war ein großer Sprachvirtuos. Er beherrschte
seine Sprache, das heißt seine Mundart aufs vollkommenste und verdarb sie
nicht durch fremde, schriftdeutsche Wendungen. Auch verfügte er über den
ganzen Wvrtreichtum der Mundart und wußte davon einen hohen Begriff zu
geben; am meisten aber liebte er, wie ein großer Schriftsteller, Wörter, die
nicht jeder im Munde führte, die ihm deshalb sozusagen allein gehörten,
und er bevorzugte diese um so mehr, je unähnlicher sie dem Schriftdeutsch,
je ungeschlachter, je nackter in gewissem Sinne und zugleich je ungewcischner
sie waren. Er brachte solche Wörter auf eine Art hervor, als ob er sie im
Augenblick erst selber gemacht habe, und das mag auch oft genug der Fall
gewesen sein. Ein solches Redetalent wurde in Hinterwinkel nicht unterschätzt,
besonders bei der Jugend; der Hannpeter hatte immer Zuhörer. Still und
einsilbig habe ich ihn nur einmal im Leben gesehen: in der Scheune zu Tauber-
bischvfsheim.
(Fortsetzung folgt)
etzt müssen wir aber doch wohl endlich daran denken, die Leute
einmal wieder einzuladen, sagte ich eines Tages zu meinem
Manne. — Wir waren seit drei Monaten verheiratet und lebten
in einer kleinen Stadt, wohin mein Mann versetzt worden war. —
Wohl am besten nur eine ganz kleine Gesellschaft, fuhr ich fort.
Aber da unterbrach mich Werner lebhaft. Um Gottes willen nicht! Wir wollen
so viel wie möglich mit einem mal abmachen! Diese kleinen „gemütlichen"
Abende machen eben so viel Umstände und Kosten und sind auch nichts netteres.
Eine große Abfütterung ist das allerbeste. Und nicht ohne Pathos setzte er
hinzu: Du mußt die Kulturerfahrungen, die die Menschheit schon gemacht hat,
dankbar hinnehmen und nicht immer alles uoch einmal selbständig durch-
experimentiren wollen!
Ich schwieg etwas kleinlaut und mußte ihm im Gründe Recht geben;
denu wir hatten uns in der That in den kleineren Gesellschaften mehr ge¬
langweilt. So wurde denn die „Schlacht" auf den übernächstem Freitag Abend
angesetzt.
Mein Mann hatte mir dringend geraten, einen Lohndiener zu nehmen;
aber solch ein befracktes Symbol der wohldressirtcn Steifheit und Langenweile
konnte ich nicht brauchen. Überdies wollte ich auch sparen und meinem Manne
zeigen, was ich aus Christinen, meiner „schwarzen Perle," zu machen verstünde;
langsam wollte ich ihr alles nach und nach beibringen. Als wir daher zu
Mittag gegessen hatten, rief ich sie mir herein, um ihr zunächst einen Begriff
vom Serviren zu geben. Sie sah mir freundlich lächelnd zu, indem sie sich
mit dem Rücken am Ofen scheuerte. Ich wollte ihr sagen, daß sich das nicht
schicke; aber da siel mir ein, daß sie doch ein ganzes Jahr älter sei als ich,
und so schwieg ich schüchtern. Ich zeigte ihr nun alles mehrere male aus¬
führlich. Haben Sie mich verstanden? fragte ich. Jo! sagte sie, indem sie
mich freundlich anlächelte. Und wenn es jemand nicht bemerkt, daß sie ihm
anbieten, so sagen Sie: Darf ich bitten? Christine sah mich ungläubig an:
Dus werdet sie scho merke, wemmer doch beim Esse isch! Aber man unter¬
hält sich doch auch! warf ich ein. Das schien sie uicht zu begreifen.
Mein Herz klopfte doch etwas bei dem Gedanken, wie alles vorübergehen
würde, besonders da ein paar sehr anspruchsvolle Kollegen kamen. Und gar
ein Geheimrat mit Frau! Mein Kopf schwindelte. Vor so etwas, hatte ich
immer besondre Angst; denn mein Murr behauptete, ich lernte nie einen Extra-
vrdincirinS von einem Geheimen Hofrat unterscheiden, ich hätte kein Organ
dafür. Wirklich hatte ich einmal zu einer sehr jung aussehenden Geheimrätin
„Frau Doktor" gesagt!
Ich entwarf mir nun einen Plan, was ich alles den andern Gesellschaften
gegenüber andern wollte. Vor allen Dingen das erwartungsvolle, hungrige
Herumstehen vor dein Essen, bei dem kein Mensch etwas wirkliches sagt, sondern
nur mit den Lippen spricht. Da sollte man auf die von blühenden Glheinien um¬
rankte Veranda hinaustreten; wenn dann von den nahen Bergen der frische
Walddnft herüberwehte und die Amseln aus der Ferne dazu sangen, so mußte
ja allen das Herz aufgehen, und die Gesellschaft war von vornherein in eine
schone Stimmung versetzt. Dann wollte ich die Wichtigkeit des Essens so viel
wie möglich verhüllen. Nichts war mir peinlicher, als wenn ich bei andern
die Hausfrau wahrend des Essens mit rotem Kopfe und ängstlich gespannten
Zügen dasitzen sah. Um ganz ruhig bleiben zu können, mußte ich allerdings
Christinen noch sehr häutigem Sie war ja noch ein „weißes" (?) Blatt, das
ich selber erst beschreiben wollte, damit sie ganz nach meinem Sinne wäre.
Mit Marktfrauen, Metzgerburschen u. s. w. kam sie ja ganz ordentlich zurecht,
aber das war doch etwas andres. Ferner mußte auf jeden Fall die Trennung
der Geschlechter uach dem Essen verhütet werden und die von diesem Augen¬
blick an unvermeidliche Niveausenkung der Damenunterhaltung, sowie die offen
eingestandue Bier- und Cigarrenseligkeit der Herren. Nun, das konnte ja nicht
schwer sein; ich hatte mehrere Pläne, was ich da machen wollte. Die herrlichen
Photographien, die wir von unsrer italienischen Reise mitgebracht hatten, sollten
wie zufällig in der Nähe liegen, ebenso die lieben Bilder von Ludwig Richter.
Auch sonst wußte ich noch allerlei. So hatte ich gar keine Angst, daß sich
die Leute nicht vortrefflich unterhalten würden. Nur Christine beunruhigte
mich noch etwas.
So kam denn der erwartete Freitag heran. Unter tausend Kleinigkeiten
war schon der Morgen und der Nachmittag dahingeschwunden. Alles wollte
von meinen Händen gemacht sein, denn Christine stand nur immer mit offnem
Munde daneben.
Haben Sie schon einmal Chokoladenpudding gemacht? fragte ich freundlich,
indem ich geschäftig den Creme rührte. Dies hier ist Gelatine — man nimmt
besser etwas reichlich als zu wenig, damit der Pudding auch sicher steht. —
Christine starrte mich wie ein Wundertier an. Ein leiser Ahnuugsschauer
überlief mich bei diesem Blick. Sie hatte sich doch in der Zeitung als eine
„gute bürgerliche" Köchin, ausgeschrieben! Doch ich wollte den Mut nicht
sinken lassen. — So, nun setzen Sie den Braten zu! — Mit Wasser oder
Schmutz? fragte sie. — Jetzt war das Anstarren auf meiner Seite. Mit Schmutz?
rief ich entsetzt. — Jo, mir Hans doch an scho so genandt! sagte sie gekränkt und
holte unsern Topf mit Fett. — Ach so, Sie nennen das Fett so; ich dachte —
ich glaubte — andern Schmutz. — Nei, dus nennet mir Dreck, antwortete sie
erläuternd. — Na also mit Butter! sagte ich, und damit war das appetitliche
Thema beendet. Wenn Sie irgend was nicht wissen, fügte ich noch hinzu,
so fragen Sie sofort; ich bin im Eßzimmer. Damit verließ ich die Küche.
Als ich dabei war, die Fruchtschale herzurichten, kam mein Mann herein.
Nun, wie macht sich denn Christine? fragte er. — O, sie scheint recht gelehrig.
Ich wurde unterbrochen. Die Thür ging auf, und ein roter Kopf fuhr
herein: Kümmel Si gschwind — 's bossirt was!
Hastig stürzte ich in die Küche. Vom Herde stieg dicker Qualm auf. Ein
brenzliger Geruch erfüllte den Raum. Wasser! schrie ich. Christine stürzte
an den Leitungsbahn und platschte eine Kanne voll in den schwarz an¬
gebrannten Topf, fuhr aber in demselben Augenblick entsetzt zurück: Gar Sie
obacht — 's spritzt! Dann sank sie keuchend ans den Küchenstuhl und sah
mir zu. Das schmeckt emol, sagte sie nach einer Pause, indem sie laut mit
der Nase aufzog, wahrend ich die verkohlten Äpfel wegschüttete und mit zit¬
ternden Händen neue zu schälen begann. Schmecken war nämlich ihr Aus¬
druck für riechen. So helfen Sie mir doch! rief ich, rasch! Fenster und
Thüren auf!
Todmüde kam ich ins Eßzimmer zurück. Ach, ich hatte es mir doch leichter
gedacht! Aber um keinen Preis durfte mein Mann etwas von diesen Kämpfen
merken! Plötzlich aber fragte er, ob etwas angebrannt sei. Ich mußte den
Geruch an meinen Kleidern mit hereingebracht haben. O nein — so — so
riechts immer, wenn Feuer auf dem Herd ist, sagte ich so unbefangen wie
möglich, und beugte mich tief auf die Apfelsinen, die ich auf der Fruchtschale
ordnete. Daun lief ich, mich umzukleiden.
Als ich fertig ins Eßzimmer trat, freute ich mich selbst über den schönen
Anblick. Festlied geschmückt hob sich der von dem Kronleuchter bestrahlte Tisch
aus der Mitte; wie nach der Schnur standen die Stühle herum. Die Bilder
hatten noch nie so feierlich von den Wänden herabgeschaut. Im Erker brannte
die rosa Ampel und verwob ihren weichen Schimmer mit dem bläulichen
Mondlicht, das zu allen Fenstern hereinspielte. Die Blumen dufteten. Ich
stand am Fenster und sah über die weiten Wiesen zu dem verdämmernden
Walde hinüber, der sich, fein gezackt, gegen den Abendhimmel abhob. Fast
hatte ich in diesen: tiefen Frieden die bevorstehende Schlacht vergessen. Da legte
sich ein Arm um mich, und meines Mannes Stimme fragte: Was denkst du?
Ich wollte mich an ihn lehnen, aber da ging die Thür auf, und breitspurig
kam Christine herein. Sie war in vollem Staate, d. h. sie hatte ihre sämt¬
lichen Kleider über einander angezogen und über ihre dicken roten Hände auf
meinen Befehl weißbaumwollne Handschuhe gezwängt.
Mueß der Kuh an abghäutet werde? fragte sie. — Um Gottes willen
nicht! stieß ich hervor. Ihr Bethütigungsdrang war mir unheimlich. Da tönte
die Klingel schrill durchs Haus. Christine stürzte hinaus, indem sie fast den
ganzen gedeckten Tisch mit sich fortriß. Während wir hastig alles wieder
zurecht zogen, hörten wir ihr freundliches: Gnade Daag! Eine schüchterne
Männerstimme fragte: Bin ich zu früh? — O, was denket Sie an, mir hält
scho lang gwardet. — Mir brauste es vor den Ohren. Die Thür ging auf,
und der junge Doktor Grimm kam herein. Er war immer der erste, in jeder
Gesellschaft, da er mehr Courage hatte, wenn er die Leute einzeln begrüßen
konnte, statt in den ganzen Kreis zu kommen. — Guten Abend, gnädige Frau,
flüsterte er und machte eine Verbeugung, daß ich durch sein aufrechtstehendes
dünnes, weiches Haar ans seine errötende Kopfhaut niedersah. Ich überließ
ihn meinem Manne, murmelte eine Entschuldigung und suchte draußen Christinen.
Sie dürfen die Leute nicht unterhalten, brachte ich mühsam hervor. Sie
haben nur zu helfen und die Herrschaften dann hereinzuführen. — Sie sah
mich traurig an; sie glaubte ihre Sache ausgezeichnet gemacht zu haben.
Nun klingelte es ohne Unterlaß. Drei Paare kamen auf einmal herein —
gewandt, liebenswürdig, fröhlich. Unversehens saß ich mit den Damen um den
Sofatisch, die Herren standen mit meinem Mann in der Nähe der Thür. Eigent¬
lich hatte ich das ja anders gewollt, man sollte an dem herrlichen Frühlings¬
abend auf die Veranda treten; aber niemand schien davon etwas zu bemerken.
Inzwischen füllte sich das Zimmer. Frau Hofrat Lorentz kam mit ihren
Töchtern, Geheimrat Zeisig mit seiner Frau, die nun aufs Sofa gelangte.
Dann Doktor Schuster, ein von vielen Gedanken umschwirrter Junggeselle.
Haben Sie gute Nachrichten von zu Hause? fragte er mich bei der Begrüßung
und zwinkerte freundschaftlich mit seinen kleinen braunen Augen; es war zu
reizend neulich, der Abend bei Lessings, als Ihr Fräulein Schwester bei
Ihnen zu Besuch war. — Er kannte dabei meine Eltern gar nicht, und
meine Schwester, die übrigens verlobt war, auch nicht viel mehr. Aber sein
freundliches Herz schloß alle Leute, und mit besondrer Vorliebe junge Do¬
zentenfamilien, mit Wohlwollen ein; Schuster ist wieder Onkel geworden, pflegte
mein Mann zu sagen, wenn die Stadtpost eine Karte im Dreipfennigkonvert
mit dem bekannten Anfang „Heute wurde uns" brachte. Von mir schlängelte
er sich in die Sofagegend, um die verschiednen Damen dort mit herzlichem
Händedruck zu begrüßen.
Stimmengewirr erfüllte den Raum. Ich sprach, ich lachte, ohne zu
wissen, worüber; meine Gedanken umschwebten unaufhörlich Christinen in ihrer
Küche. Was mochte ihr wieder „bossirt" sein? Ich hatte sie vorhin, zu
meinem Entsetzen, hinter der sich öffnenden Thüre mir heftig winken sehn.
Gleich einem Schreckgespenst verfolgte mich die „denaturirte Spiritusflasche,"
aus der sie uns einmal statt Essig an die Sauce gegossen hatte. Zum
Glück schienen sich wenigstens die Gäste gut zu unterhalten; denn alle Münder
sprachen mit größtem Interesse von den gleichgiltigsten Dingen, und die, die
schwiegen, lächelten freundlich. Nur Erichs fehlten noch. Daß die auch immer
so lauge ausblieben! Schon wiederholt hatte ich bemerkt, daß jemand in Gesell¬
schaft fragte: Kommen Erichs? Man wußte nämlich: wenn die erst da waren,
dann konnte zu Tisch gegangen werden. Hie und da beguckte einer der Herren,
besonders von den Studenten oder Assistenten meines Mannes, die Bilder an
den Wänden; nicht aus Interesse, sondern weil er nicht ins Gespräch hinein
kommen konnte oder durch Hinzutritt eines dritten wieder herausgeraten war.
Ich sah nach meinem Manne, aber der war gerade dabei, den einzelnen ihre
Tischdamen zuzuflüstern.
Endlich klingelte es wieder — Erichs! Die Gespräche wurden lauer,
lässiger, aber alle sahen erleichtert aus. Gleich darauf quetschte sich Christine
zur Thür herein: Mir könnet esse.
Anscheinend sehr zufrieden, liebenswürdig plaudernd, führte jeder Herr
seine Düne ins Nebenzimmer, das still und kühl des nahenden Getümmels
harrte. Die kleine Elfe Lorentz sah in ihrem einfachen, weißen Kleide, aus dem
ihr rosiges Kindergesicht wie ein Äpfelchen hervorblickte, entzückend aus,
Schuster hatte sie als Tischdame. Ich konnte nicht begreifen, daß das muntre
und gescheite Mädchen ihn nicht mehr interessirte. Auf seiner andern Seite
saß die reiche Frau Förstemann; sie war die Witwe eines berühmten Mediziners
und hatte zu Hause ein paar „Lenbachs," die zu sehen nicht jeder zugelassen
wurde. Frau Förstemann hätte sich zwar, wie mir schien, viel lieber mit
ihrem Tischherrn, dem Literarhistoriker, unterhalten, aber Schuster riß nicht
ab und war unerschöpflich in Kunstausstellungsnotizen. Ich sah, daß sich ein
leiser Schimmer der Enttäuschung auf Elses Gesichtchen legte, und nickte ihr
durch das Blumen- und Flaschcngcwirr zu.
Unterdessen hatte Christine ihre Runde begonnen, und die Unterhaltung
zog sich wie ein dünner Faden um den Tisch. Man sprach von der herrlichen
Umgebung der Stadt, von Reisen, von unserm kümmerlichen Theater und
natürlich! — vom Kaiser. Recht übel war der Professor Pfister daran;
seine Tischdame zeigte ihm fortwährend ihr zierlich mnlocktes Hinterköpfchen.
Sie war in ein Gespräch mit ihrem rechten Nachbar geraten, dem mehrere
Umhersitzende, die selbst nicht recht in Fluß kommen konnten, mit tiefstem
Interesse zuhörten. Zur Linken hatte er eine englische Freundin von uns,
die auf alles uur: Ul meinen Sie? oder On jäh! antwortete. Vergeblich be¬
mühte er sich, anderswo seinen Haken einzuschlagen.
Immer eifriger bethätigte sich Christine am Tische. Bald rasselte ein Löffel
oder eine Gabel zu Boden, bald rückte eine Dame vor einem drohenden Saucen¬
guß zur Seite. Einmal sah ich, wie Frau Zeisig mit graziösen Griff ihrem
Nachbar einen Petersilienzweig, der aus der Fischschüssel gelegen hatte, lächelnd
von der Schulter nahm. Aber Christine ließ sich durch nichts verblüffen.
So ging es flott weiter und vorwärts. — Er steht! flüsterte sie mir,
beim Wegnehmen der Vratenteller, mit einem strahlenden Blick zu; und bald
darauf trug sie mit verklärtem Angesicht den Pudding herein. Ich streifte
ihn flüchtig mit den Augen, anscheinend mit dein gleichgültigsten Gesicht von
der Welt; aber mein Hausfrauenherz schwoll vor Freude. Braun und steif
ragte er aus der Platte empor. Rührend sah das Schaf herab, das mit ge¬
kreuzten Beinen auf seinem Gipfel lag. Christine hatte in ihrer Begeisterung
vergessen, einen Löffel dazu zu legen, und hielt stumm lächelnd die Platte der
ersten besten Dame hin; es war Mrs. Hughs. Zum erstenmale kam in ihr
unbewegliches Gesicht Ausdruck. Hilflos starrte sie auf das fromme Lamm,
und über ihre schmalen Lippen drang es fast unhörbar: Uoo? — Einen
Löffel, Christine! stammelte ich. — Jesses Mareie! rief sie und stürzte an
den Schrank.
Die nun folgenden Minuten werde ich im Leben nicht vergessen! Ich sah,
wie sich die Dame vergebens bemühte, ein Stückchen Pudding abzustechen;
glatt wie ein Aal schlüpfte ihr die Masse immer wieder unter dem Löffel fort.
Endlich, mit Hilfe des Dessertmessers gelang es ihr, und das Schaf wanderte
weiter. Mir wurde bald heiß, bald kalt. Entsetzt folgte ich mit den Augen,
während sich mein Mund mit meinem Nachbar über die Sozialdemokratie
unterhielt. Ja, die Masse hält zäh zusammen, fuhr er gerade fort. Sollte
das gar eine Anspielung sein? Ich wurde über und über rot.
Unterdessen sah ich, wie Doktor Grimm, der nach langem Kampfe endlich
ein nußgroßes Stückchen heruntergesübelt hatte, es auf seinen Teller fallen
ließ, wobei es wie ein Stück Radirgummi in die Höhe sprang. Sein Nachbar,
ein verwöhnter Mediziner, mit weichen Polstern auf Gesicht und Händen,
dankte mit einer Handbewegung. Über Christinens verklärtes Antlitz hatte
sich schon vorher ein leichter Schatten gelegt. Aber sie versuchte es uoch
einmal und hielt ihm lächelnd die Platte hin. Aber er dankte nochmals, und
Christine zog sich kopfschüttelnd zurück.
Todesmutig schnitt ich mir nun selbst ein Stück herunter und suchte die
Gelatinemasse zu bewältigen. Gleich darauf sah ich, wie Doktor Grimm, an den
die Platte zum zweitenmale kam, sich noch ein Stück hernnterschnitt. Er mußte
meine Verlegenheit bemerkt haben. Ich werde ihm diese Großherzigkeit nie
vergessen.
Die Nelken auf dem Tische dufteten schwül, die Stimmen wurden immer
lauter, mein Gesicht immer heißer. Endlich war es so weit, und wir er¬
hoben uns, um uns im Nebenzimmer angelegentlich „gesegnete Mahlzeit" zu
wünschen. Mir war, als müßten mir alle gratuliren, daß die Schlacht über¬
standen sei; aber es schien niemand daran zu denken.
Nun stand man planlos umher. Die Verandathür mußte geschlossen
werden, weil Frau Pfister um Rheumatismus litt. Genug Stühle waren
schnell zur Hand, mein Mann und ich animirter zum Sitzen, und ich nötigte
mit vieler Mühe Doktor Schuster aufs Sofa nieder, damit man merkte, daß
bunte Reihe werden sollte. Aber die andern Herren nickten und dankten ver¬
bindlich, wenn ihnen mein Mann Stühle anbot, und bald saßen nur die Damen
um den Tisch. Vor dem Essen hatte ich herausgebracht, daß die Damen von
Konrad Ferdinand Meyer alle nur die Erzählungen kannten. So ging ich
denn an mein Bücherbrett, meinen größten Stolz, acht breite Reihen schöner
funkelnder Einbände, nahm „Huttens letzte Tage" heraus und bat Pro¬
fessor Andren darum, etwas draus vorzulesen. Ich hatte ihn so gern, mit
seinem lieben, weiß umrahmten Gesicht mit den hellen blauen Augen, in denen
eine stille Welt für sich zu liegen schien. Daß er schön vorlas, wußte ich.
Aber er verstand sich offenbar nicht gerne dazu und unterhielt mich lange
über das Buch und die Schönheit seiner Verse. Unterdessen hatte aber
die Gesellschaft gemerkt, daß von Vorlesen die Rede war, und nun hieß es
überall: Ach ja! ach bitte! Aber schließlich las doch nicht Andrea vor, sondern
einer der Chemiker meines Mannes deklamirte ein kölnisches Gedicht im Frank¬
furter Dialekt, wobei er erklärte, eine Stelle auslassen zu müssen. Die Wir¬
kung war sehr gering, wenn auch manchmal gelacht wurde, und er seine Sache
an sich ganz gut machte. Nur Professor Lechler, der „Lautschieber," wie ihn
mein Mann immer nannte, stürzte sich auf den Studenten und ließ sich ein
Paar Worte wiederholen, um sich dann in ein eifriges grammatisches Gespräch
mit dem beglückten jungen Manne zu vertiefen.
Inzwischen hatten sich schon ein paar Herren, mit dem Bier in der Hand,
das ich hatte herumreichen lassen, in meines Mannes Zimmer zurückgezogen.
Bring doch die Bilder von unserer Reise! flüsterte ich Werner zu. Er nickte,
bot aber erst den Herren trübe.n Cigarren an. Dann brachte er die Photo¬
graphien, und ich zeigte Frau Förstemmm ein Paar, über die ich mit ihr
vorher gesprochen hatte. Ein paar der ältern Damen sahen mit hinein, aber
mehr neugierig als aus Interesse. Frau Hofrat Marvth kannte alle, und zu
meiner großen Freude stimmten wir sehr in unsern Liebhabereien überein.
Die jungen Damen waren nun auch mit den Studenten ins Gespräch
gekommen. Der jüngste, ein „nett" aussehender, aber etwas ungelenkiger
junger Mensch, der mit seinen langen Gliedmaßen nirgends zu bleiben wußte,
hing stumm an Elschens Zügen, die sich fein und regelmäßig, wie aus
Marmor gebildet, gegen die Lampe abhoben. Schuster unterhielt sich mit
Frau Professor Pfister über eine Reise nach London, die er zur Besichtigung
irgend welcher Anstalten auf Kosten der Negierung machen wollte. Ich reichte
ihm eines der Bilder, eines der schönsten von Luini; aber er legte es ziemlich
gleichgültig vor sich hin und ließ kurz darnach einen großen Viertropfen auf
das Brokatgewand der heiligen Katharina fallen.
Aus dem Nebenzimmer drangen blaue Rauchwölkchen herein, und all¬
mählich zog sich von den noch übrigen Herren einer nach dem andern hinüber.
Die gewandteren verabschiedeten sich leicht scherzend, die unbeholfeneren standen
erst Tantalusqualen aus. Ihre Nasen zogen den feinen Duft ein, aber ihre
Füße fanden sich nicht von der Stelle. Aber endlich waren anch sie wie kleine
Eisenstttckchen dem Magnet zugeflogen, und in beiden Zimmern trat tiefer
Friede ein.
Unter langem Sträuben war endlich das Sofa von den zwei ältesten
Damen besetzt worden; die andern gruppirten sich nur den Tisch. Von den
Gewändern auf den Bildern ging das Gespräch auf die Kleider über. Darf
man fragen, wer Ihr reizendes Kleid gemacht hat, Frau Lechler? — Ach ja,
bitte! Ich wäre auch sehr dankbar für eine gute Schneiderin! Man bekommt
hier wirklich gar nichts ordentliches! ^- Ja, ich lasse auch sämtliche Kostüms
fertig aus Berlin kommen! — Aus Berlin? Lohnt sich dem: das? — Ja,
ich finde, es ist eben doch der einzige elegante Schnitt! — Aber der Preis
ist wohl auch darnach! — Nun, ich zahle für ein fertiges Straßenkostüm
hundertundfunfzig Mark. — Das finde ich gar nicht einmal viel; mein letztes
Hauskleid kam beinahe ebenso teuer. — Ach, ich ginge am liebsten immer
in Seide, es ist so angenehm, und man sieht immer elegant aus.
Ich merkte, wie es Frau Lorentz blau und grün vor den Augen
wurde. Doch alle Versuche, andre Themata anzuschlagen, mißlangen. Zum
Glück kam Christine gerade mit neuem Bier herein. Die erste Dame, der sie
es anbot, merkte es nicht sofort. Christine, meiner Mahnung eingedenk, be¬
sann sich nicht lange, sondern stieß sanft mit dem Brett an ihre Schulter:
He - Sie — — Und als die jungen Mädchen das Lachen nicht verbeißen
konnten, stimmte sie fröhlich mit ein, daß alle Glaser überschwabbelten. Ich
nahm ihr das Brett ab und winkte ihr, hinauszugehen.
Sie haben wohl ein neues Mädchen? — Ach ja, diese Not werden Sie
nun auch kennen lernen! — Denken Sie, nieine letzte hat — und nun folgte
eine lange Diebesgeschichte. — Am schwierigsten ist es aber doch mit den
Kindermädchen! — Was macht denn ihr Kleines, Frau Doktor? Kann es
denn schon sitzen? — O längst! erwiderte glückstrahlend die Gefragte, gestern
hat es sogar, glaube ich, Ma—ma gesagt! — Ach wie süß! riefen mehrere
Damen zugleich. Wreizend! fügte Frau Erich hinzu.
Da schlug unsre Kuckucksuhr elfmal. Es entstand eine Pause; die Frau
Geheimrat zog ihre Handschuhe heraus. Fast atmete ich auf; aber meine
Lippen sagten: Schon? es ist ja noch so früh. — O nein. Ihre Uhr mahnte
uns eben, daß es schon längst Zeit zum Aufbruch ist! Aber über dem reizenden
Abend hatte ich es wirklich ganz vergessen! — Mit liebenswürdigem Lächeln
erhoben sich nun auch die andern. Ein paar Damen sahen mit mir ins
Herrenzimmer hinüber. Dort verhüllte alles dicker Qualm. Sie schienen den
Aufbruch nicht bemerken zu wollen. Aber dann entstand ein Tumult, und
die so lange vermißten traten wieder ans Licht.
Gute Nacht, gnädige Frau! Danke gehorsamst! — Recht gute Nacht!
Vielen Dank sür den gemütlichen Abend! — Adieu, Frau Professor! Herz¬
liebsten Dank, es war wreizend!
Christine! helfen Sie! rief ich und fah gerade noch, wie sie den abweh¬
renden Herren in ihre Galoschen half. Endlich schloß sich die Korridvrthür;
und wir waren wieder allein.
Ich ließ mich auf einen Sessel im Eßzimmer nieder. Das Weinen war
mir nahe. Ach, es war schrecklich! brachte ich endlich mühsam hervor. Alles,
alles hatte ich mir ganz anders gedacht!
Mein Mann zog mich neben sich. — Glaub mir, sagte er, es war nicht
um ein Haar weniger nett als in allen andern Gesellschaften; es würde den
Leuten ungemütlich gewesen sein, Wenns hier anders gewesen wäre. — Wie
wars denn in deinem Zimmer? — Oh, wir haben uns sehr gut unter¬
halten. — Und der Pudding? fragte ich kleinlaut; ach, Werner, das war
fürchterlich! — Da steht er ja noch! Fest und treu! Das reine Helgoland!
sagte mein Mann und schenkte zwei volle Gläser ein. Während wir an¬
stießen und unten vorm Hause die letzten Gutcnachtwünsche verklangen, wurde
mir endlich wieder leichter uns Herz. Werner sah mich fröhlich an, und mit
den Worten:
umschlang er mich, und wir tanzten ausgelassen um die lange Tafel.
s ist schwer, sich den Eindruck zu vergegenwärtige», den die
beispiellos großartigen Huldigungen in München, Augsburg.
Kissingen und Jena auf die Männer des „neuen Kurses" ge¬
macht haben müssen. Jedenfalls hüllen sie sich in das Schweigen
der Würde oder der Verlegenheit. Wenn sie gedacht haben, mit
der unglücklichen Veröffentlichung der Caprivischen Erlasse den Fürsten Bismarck
als einen politisch toten Mann darzustellen, dessen Worte gleichgiltig und wertlos
seien für die Regierung wie für das Volk und das Ausland, so haben Hundert¬
tausende deutscher Männer darauf die Antwort gegeben, daß diese Absicht in
ihr Gegenteil verkehrt worden ist und auf einer unglaublichen Verkennung der
thatsächlichen Verhältnisse und Stimmungen beruht, auf einer Verkennung,
die gelinde gesagt von einer sehr geringen staatsmännischen Befähigung zeugt.
Oder wenn die Erlasse, wie man annimmt, um das Unbegreifliche begreiflicher
M machen, dem Zentrum die bündige Erklärung abgeben sollten, daß Fürst
Bismarck niemals wieder an die Spitze der Geschäfte zurückkehren werde, so
haben die Kreise Süd- und Mitteldeutschlands, die ihm jetzt gehuldigt haben,
d- h. der Kern des gebildeten Mittelstandes, damit bündig erklärt, daß sie
eine Politik, die davon ausgeht, durch Zugeständnisse diese Partei zur eigent¬
lichen Regierungspartei zu machen, rund heraus verurteilen, weil sie allen
geschichtlichen Erfahrungen schnurstracks zuwiderläuft. Das ist die Antwort
aus die Caprivischen Erlasse, eine Antwort, die an Deutlichkeit und Entschieden¬
heit minds zu wünschen übrig läßt. Sie enthält zugleich das Urteil über den
»neuen Kurs," dessen Wortführer so selbstbewußt, so herausfordernd aufzu¬
treten lieben. Wenn solches Selbstgefühl uur durch Erfolge gerechtfertigt
werden kann, wo sind diese Erfolge? Die erste That des neuen Regiments
war das trnnrige deutsch-englische Abkommen über Ostafrika. Für die Er¬
werbung der schwindenden Felstrümmer von Helgoland und um das Kabinett
Salisbury ein paar Jahre länger am Ruder zu erhalten, das nächstens wahr¬
scheinlich doch fällt, gaben wir die Vorherrschaft in Ostafrika preis, die Bis-
marck zu begründen im Begriffe stand. Seitdem hat unsre Kolonialpolitik
dort eine Reihe von Niederlagen, sogar von militärischen, zu verzeichnen ge¬
habt, die keineswegs dadurch ausgeglichen worden sind, daß die neue Weisheit,
entgegen allen Erfahrungen unter wilden Völkern, sie für bedeutungslos er¬
klärt hat. Der Erfolg der mitteleuropäischen Handelsverträge ist mindestens
zweifelhaft, das lange verhinderte Einvernehmen zwischen Rußland und Frank¬
reich dagegen ist Thatsache, und damit ist die Jsolirung Frankreichs, die Vis-
marck fast zwanzig Jahre hindurch meisterhaft aufrecht zu erhalten verstanden
hat, aufgehoben. Und eben haben wir uns in der Weltausstellungsfrage, die
mit so bemerkenswerten Mangel an Klarheit und Entschlossenheit betrieben
wurde, eine schwere diplomatische Niederlage gegenüber demselben Frankreich
geholt, und Graf Caprivi wußte keinen „kalten Wasserstrahl" nach Paris zu
senden. Über das Volksschulgesetz kann man verschieden denken; aber in jedem
Falle war entweder seine Einbringung oder seine Zurückziehung ein schwerer
Fehler. Wenn Regieren Voraussehen heißt und die Politik nach Fürst Bis-
marck die Fähigkeit ist, in jedem Augenblick das am wenigsten Schädliche oder
das Zweckmäßigste zu wählen, so haben die Leiter des „neuen Kurses" von
diesen beiden Dingen herzlich wenig bewährt und mit dem unschätzbaren Pfunde
des festen Vertrauens, das der Reichsregierung bis zu Bismarcks Entlassung
entgegengebracht wurde, schlecht gewirtschaftet.
Doch der schwerste Fehler der Caprivischeu Politik ist der unglückselige
und vollkommen gescheiterte Versuch, den größten Staatsmann Deutschlands
und der Welt politisch gewissermaßen zu ächten! Hat denn Graf Caprivi
gar nichts von der ungeheuern Macht geahnt, die Gott sei Dank noch immer
die Erinnerung an das nunmehr leider unwiederbringlich abgeschlossen hinter
uns liegende glorreiche Vierteljahrhundert Wilhelms des Ersten und Bismarcks
auf die gebildeten Deutschen ausübt und nicht zum mindesten auf die gebildete
Jugend, die auferzogen worden ist und, so Gott will, auch fernerhin auf¬
erzogen werden wird in der Verehrung für die Heroen dieser unvergleichlichen
Zeit? Hat er so wenig von der wuchtigen, alle Lebenden weit überragenden
Persönlichkeit Fürst Bismarcks gewußt, daß er meinte, der streitbare Recke
werde die tiefverletzende Herausforderung, die für die schlichteste Empfindung
in dem Eingriff in seine einfachsten staatsbürgerlichen Rechte und seine per¬
sönlichsten Verhältnisse lag, ruhig hinnehmen und schweigen? Was er seit¬
dem gesprochen hat, verrät in der erstaunlichen Fülle großer Gedanken, leben¬
diger Bilder, treffender Wendungen und in der furchtlosen Offenheit, mit der
er seiner Überzeugung Allsdruck giebt, ohne Rücksicht auf die Folgen für ihn,
daß der greise Staatsmann uoch derselbe ist, der er von jeher gewesen ist, daß
geistige Kraft und sittlicher Mut so ungebrochen in dem siebenundstebzig-
jährigen Greise leben, wie in dem reifen Manne. Niemals ist die Bedeutung
seiner Persönlichkeit energischer und wuchtiger hervorgetreten, als in diesen
denkwürdigen Wochen, niemals hat er dem Herzen des deutschen Volkes näher
gestanden als jetzt!
Und diesen Mann mit dieser Vergangenheit und mit diesem Rückhalt im
Volke hat der „neue Kurs" sich zum geschwornen Feind gemacht! Das ist ein
schlechthin unerträgliches Verhältnis. Das deutsche Reich kann weiter regiert
werden nur in dem Geiste seiner Begründer, d. h. mit den Parteien, die es
aufgebaut haben; eine Regierung, die sich auf das Zentrum und die Polen
stützt, ist, so wenig wir geneigt sind, die Bedeutung und die Rechte der katho¬
lischen Deutschen zu verkennen oder zu bekämpfen, auf die Dauer unmöglich.
Und ebenso unmöglich wäre es, daß absolutistische Neigungen einen persön¬
lichen Herrscherwillen in dauernden Gegensatz zu deu Überzeugungen jener
Parteien brächten. Fürst Bismarck hat noch in Jena erklärt, er sei wie immer
gut monarchisch gesinnt, aber er unterscheide zwischen dem Kaiser und seinen
Ministern. Er hat damit abermals Tausenden aus der Seele gesprochen und
den Weg zum Frieden gezeigt.
Woher soll die Lösung dieser verhängnisvollen Krisis kommen, die ohne
den schwersten Schaden nicht lange mehr dauern kann? Nur einer kann sie
bringen: der Kaiser. Wir appelliren von dem schlecht unterrichteten Kaiser an
den besser zu unterrichtenden. Er hat ohne Zögern den charakterfester Grafen
Zedlitz entlassen, als er sah, daß dessen Volksschulgesetzentwurf den heftigsten
Widerstand der Mittelparteien herausforderte; wenn er jetzt nach langer Ab¬
wesenheit aus dem Norden zurückkehrt, wohin das Tosen der Brandung, die
seit Wochen dnrch Deutschland geht, nur in schwachem Nachhall gedrungen
!ein kauu, so wird sein scharfes Auge vielleicht unbefangner, als wenn er da¬
heim geblieben wäre, die verhängnisvolle Lage überblicken, die während seiner
Abwesenheit geschaffen worden ist, und ein Ruf des Jubels wird durch das
^mit gehen, wenn er den Millionen treuer Herzen, die es nimmer glauben
können und glauben wollen, daß zwischen deu Hohenzollern und dem Schmiede
ihrer Kaiserkrone ein unausgleichbarer Gegensatz bestehe, die Sicherheit giebt,
daß die Gegenwart die große Vergangenheit fortführen wolle. Niemand denkt
daran, daß Fürst Bismarck ins Amt zurückkehren werde oder auch nur wolle,
aber sein Nachfolger darf nicht Graf Caprivi bleiben. Denn niemals wird
es diesem die Nation verzeihen, daß er den Versuch gemacht hat, den Bau¬
meister ihrer Einheit vor den Allgen der gebildeten Welt als einen unznfriednen
Nörgler hinzustellen, der nicht wisse, was er wolle und sage.
Einem Schnelldampfer ist vor kurzem ein Segelschiff gennu in
der Art zum Opfer gefallen, wie sie uns der Washingtoner Marinekonferenz von
dem norwegischen Kapitän Flvod (vergl. Grenzboten 1892, II S, 573) voraus¬
gesagt worden ist. Am 22. Juni morgens gegen 6 Uhr rannte bei Nebel im
Atlantischen Ozean unweit der nordamerikanischen Küste der Schnelldampfer Trcwe
das englische Segelschiff Fred. B. Taylor über und schnitt das Schiff (buchstäblich!)
in zwei Hälften. Der Schnelldampfer, noch mit nngcmäßigter Geschwindigkeit
laufend, war in eine Nebclbank hineingeraten, und der Wachhabende soll gerade
dem Schiffskapitän die Meldung des Nebels geschickt haben, um Erlaubnis zum
Mäßigen der Geschwindigkeit zu erhalten, als an Steuerbordseite, einen Strich (11°)
von vorn in nächster Nähe ein Schiff nnter vollen Segeln in Sicht kam, das den
Kurs des Dampfers zu kreuzen beabsichtigte Dem Dampfer fiel es nach dem
Straßenrecht zur See zu, aus dem Wege zu gehe»; außerdem lief er große Gefahr,
von dem Segelschiff augernnnt zu werde», und zwar in seine Breitseite hinein,
wodurch das Leben der 049 Köpfe auf der Trave vielleicht verloren gegangen
wäre. Für den Wachhabenden auf der Trave blieb nur der Ausweg, mit „Nuder
hart rechts" (wie in der Handelsmarine das Kommando jetzt lautet) nach Steuer¬
bordseite, so schnell es noch ging, zu drehen, wobei er den Bug seines Dampfers,
also seine stärkste Stelle, dem Gegensegler zuwendete und im schlimmsten Falle
ohne große Gefahr für sein eignes Schiff den Gegensegler in dessen Breitseite
treffen mußte. Dieser Fall trat ein; trotzdem daß die Maschine der Trave mit
Volldampf rückwärts arbeitete, war der Stoß infolge der bisherigen ungeheuern
Geschwindigkeit des Schnelldampfers so heftig, daß das Segelschiff in der Nähe
seines Kreuzmastes mitten durchgeschnitten wurde; deun wie mit der Schneide eines
Meißel durchbortes der scharfe Stahlbug die schwache» Bordwände des Engländers.
Den Bemühungen der Sclmelldamvferbesntzung ist es zu danken, daß fast die ge¬
samte Mannschaft des verunglückten Segelschiffs gerettet wurde; nur zwei Mann
kamen ums Leben.
Wo die Schuld nach dem Paragraphen des Gesetzes liegt, darüber zu ur¬
teilen ist Sache der zuständigen Seegerichte. Die moralische Schuld an dem
nur durch die Geistesgegenwart des wachhabenden Offiziers der Trave in der
Wirkung abgeschwächte» Unheil liegt auch hier an dem Schnellfahren der Schiffe
im Nebel. Aufrichtig zu bedauern ist dabei, daß gerade die tüchtigste und mit
den besten Offiziere» und Mannschaften versehene deutsche Gesellschaft des Llohd die
Sünden der englischen Schnelldnmpferlinien infolge eines verhängnisvollen Zufalls¬
spieles ausbilden muß. Deun gerade das rücksichtslose Schnellfahren der englischen
Dampfer veranlaßt leider unsre Gesellschaften der Konkurrenzfähigkeit wegen eben¬
falls, solange es irgend die Umstände erlaube», die rase»de Geschwindigkeit der
Schiffe bei eintretendem Nebel so spät und so wenig als möglich zu verringern.
Es heißt, daß die Einberufung einer zweiten internationalen Schiffnhrts-
kvnferenz, wahrscheinlich in Paris, gesichert sei. Daß die Franzosen, die über die
größte Zahl wissenschaftlich durchgebildeter Seeleute verfügen, mit der Abstellung
der vielen Mangel des Straßenrechts zur See, unter denen die Nebelfrnge die
dringendste ist, nochmals einen thatkräftigen Versuch machen »vollen, verdient die
Anerkennung aller, deuen an der gefunden Entwicklung des Weltverkehrs und am
Wohle der Menschheit ohne Aktien- und Gcldbeutelinteressen gelegen ist. Wie viel
gute Absichten freilich mich ans dieser zweiten Marinekonferenz von den hartleibigen
Engländern werden vereitelt werden, bleibt abzuwarten.
Der Seegerichtsspruch über den im vorstehenden erwähnten See¬
unfall wurde in Bremerhaven abgegeben und lautet- „Der Zusammenstoß des
Schnelldampfers Trave mit den: englischen Schiff Fred. B. Taylor im atlantischen
Ozean am 22. Juni ist auf dichten Nebel zurückzuführen, in den der Dampfer
Trave hineinfuhr. Zu tadeln ist, daß der wachthabende erste Offizier nicht sofort
bei Eintritt des Nebels die vorgeschriebnen Nebelsignale geben und die Fahr¬
geschwindigkeit mäßigen ließ. Die nach dem Zusammenstoß ergriffnen Maßregeln,
namentlich das mit eigner Lebensgefahr verknüpfte Nettuugswerk verdient lobende
Anerkennung." Einer weitern Bemerkung hierzu bedarf es wohl nicht.
In der Norddeutschen Allgemeinen
Zeitung wurde kürzlich auf das bestehende Recht in der Jrrenfrage Hingewlesen
und dabei ansgeführt, daß die Unterbringung von Irren oder Jrrverdächtigen
in öffentliche oder Privatirrcnanstalten in Preußen nie auf Privatautrag, sondern
nur ans Anordnung des Gerichts oder der Ortspolizeibehörde erfolgen dürfe. Diese
Darlegung war um so interessanter, als sie unzweifelhaft richtig ist, und auch ans
das Erkenntnis des Oberverwaltungsgerichts vom 10. Juli 1873 gestützt werden
kann, das in einer Meldesache erlassen, den Schutz der Irren in Privatanstalten
auf Grund des 8 10 Teil II Tit. 17 des Allgemeinen Landrechts lediglich der
Ortspolizeibehvrde zuspricht.
Bisher war man vielfach, much in Beamtenkreisen, der Ansicht, daß die
Unterbringung in Privatirrenanstalten lediglich nach der Anleitung zweier ministe¬
riellen Verfügungen aus den Jahren 1388 und 1889 erfolgen könne, und daß.
jetzt nach Aufhebung aller frühern Bestimmungen, nur ein Attest des Kreis-
physikus erforderlich )el, um die Einsperrung jedem Privatmanne ohne Mitwirkung
der Obrigkeit zu ermöglichen. Diese Ansicht, die die allgemeine Sicherheit in hohem
Grade bedroht, findet sich in bedeutenden Verwaltungsbezirken der Provinzen
Brandenburg und Pommern geradezu in die Praxis übersetzt, und nur dadurch
wird es erklärlich, daß man überhaupt den Mangel an gesetzlichen Bestimmungen
in der Jrrenfrage annimmt, wie die Artikel und Aufrufe zu eiuer Agitation in
der Kreuzzeitung und andern Blättern beweisen. Ein solcher Mangel besteht in
Wirklichkeit nicht. Die angeführte Bestimmung des Allgemeinen Landrcchts, der
Staatsratserlaß vom Jahre 1303, die Kabinetsordre vom Jahre 1804 und die
ministerielle Ausführungsverordnung vom Jahre 1839, sowie endlich die erwähnten
Anleitungen von den Jahren 1838 und 1339 bieten ein durchaus hinreichendes
Material, jede Person vor Willkürlichkeiten zu schützen. Ist dies aber der Fall,
dann brauchen wir keine neuen Gesetze; erst dann, wenn die vorhandnen Bestim¬
mungen bei der Ausführung nicht genügen, kann man neue verlangen. Es
'se höchst beklagenswert, daß Viele gute alte Gesetze gar nicht bekannt sind, oder
einfach vorausgesetzt wird, sie seien aufgehoben, daß man neue Gesetze wünscht in
Sachen, die längst und gut geregelt sind, und daß so schließlich dem ungeheuern
Gebiete der Gemeinde-, Kreis-, Regierungsbezirks- und Provinzialpolizeiverord-
nungen, der Landes- und Reichsgesetzgebung neue Gesetze zuwachsen, die nicht ein
neues einheitliches Ganze unter Aufhebung aller über die S.,che erlaßnen Vor¬
schriften bilden, sondern sich den frühern Bestimmungen. die sie grundsätzlich ändern
wollen, anschließen.
In der Jrrenfrage steht fest, daß die vorhandnen Bestimmungen nicht aus¬
geführt werden. Somit dürfte vor Erlaß neuer Gesetze zu erörtern sein, ob die
vorhandnen gesetzlichen Bestimmungen ausreichen nud die Ausführung überwacht
werden kann.
Beide Fragen sind durchaus zu bejahen. Gerade das, was der Aufruf der
Kreuzzeitung will, ist vorhanden; es bestehen durchaus genügende Gesetze zum Schutze
der persönlichen Freiheit in der Jrrenfrcige. Aber, fragt man, weshalb übt die
Staatsregierung nicht ihr Aufsichtsrecht, weshalb tontrollirt sie nicht die Orts-
Polizeibehvrden? Wenn, wie die Erfahrung lehrt und der Reichsbote behauptet,
die Ortspolizeibehörden so ziemlich das Gegenteil von dem thun, was vorgeschrieben
ist, wenn die Staatsanwälte die Vorschriften wegen der Entmündigung auszuführen
zögern, dann ist es doch für die mit dem Aufsichtsrecht ausgerüsteten Ministerial-
behörden ein leichtes, die nötige Ordnung zu schaffen. Weshalb diese abhanden
gekommen ist, entzieht sich der Beurteilung des Laien, genug, sie fehlt, und es ist
die allerhöchste Zeit, zu ihr zurückzukehren. Der betreffende Offiziöse der „nord¬
deutsche»" sagt, es genüge, die gute alte Regel der preußische» Verwaltung, Re¬
vision der Ortsbehörden, wieder zu üben. Wir möchten diesem Herrn aus vollem
Herzen zurufen: Gott sei Dank, daß endlich das erlösende Wort gesprochen ist.
In der That liegt hier der Kernpunkt der ganzen Sache: mau beaufsichtigt die
Ortsbehörden nicht durch örtliche Revisionen, und so geht der Zusanuuenhang mit
dem Staate zum guten Teil verloren. Wir haben nichts dagegen, daß die Ge¬
meinden ihre Armensachen, ihre Bauordnungen und alles, was eben auf örtliche
Eigentümlichkeit begründet ist, selbständig regeln; aber indem man sie vollständig
unbeaufsichtigt läßt in Dingen, die der staatlichen Bürgschaft unterliegen, er¬
wachsen die Gemeinden zu kleinen Republiken, und diese erfüllen ihre Pflicht gegen
die Bürger nicht, wie wir an der Vergleichung des Jrrenrechts und der Praxis
gesehen haben.
Nach den preußischen Verwaltungsvorschriften sollen die Ortsbehörden jährlich
revidirt werden. Hierzu müssen sich die Aufsichtsbehörde» im Interesse des Ganzen
wieder aufschwingen. Können sie nicht dazu gebracht werde», »»» so muß man
eben den konstitutionelle» Apparat in Bewegung setzen und auf eine Anregung im
Abgeordnetenhause hinwirke», ohne gleich die Klinke der Gesetzgebung in die Hand
zu nehmen.
Daß die Freisprechung Buschoffs
von der betreffenden Presse in der unerhörtesten Weise ausgenutzt werden würde,
war vorauszusehen. Selbst die Klugheit, um der es den Juden doch sonst wahr¬
haftig nicht fehlt, hat sie hier einmal völlig im Stich gelassen; sie scheinen nicht
daran zu denken, daß sie durch die Art ihres Vorgehens den Gegnern scharfe Waffen
in die Hand liefern.
In dieses Kapitel gehört auch ein Aufruf, den die Verlagsbuchhandlung von
I. van Groningen u. Co. in Berlin unter dem viel nußbrauchten Leitspruch:
„Freiheit, Liebe, Menschlichkeit" versendet. Unter diesem stolzen Titel, mit dem
nicht weniger schönen Zusatz „Ein Manifest des Geistes," soll nnter der Redaktion
von Herrn Ed. Mund eine Anthologie erscheinen. Sie soll dem Kampfe gelten
„Wider die Bannerträger mittelalterlicher Unduldsamkeit." Natürlich braucht man
dn wieder Lessing s!s Schutzpatron, Lessing, der sich ganz unzweifelhaft, wenn er
heute uuter uns wandelte, höflichst oder auch recht grob dafür bedanken würde,
seineu Geist auf diese Weise zu „manifestiren." Gerade weil er für echte Mensch-
lichkeit stritt, würde er ein offnes Auge haben für die „menschenfreundliche" Wirk¬
samkeit der jüdischen Wucherer in Hessen und anderswo. Die Zeiten haben sich
eben geändert. Aber Lessing kann sich ja nicht mehr wehren gegen den Mißbrauch,
der mit seinem Namen getrieben wird; ohne Besorgnis, von seiner scharfen Feder
gezüchtigt zu werden, konnte deshalb Herr Mund den Zweck seines „Manifests
des Geistes" in den herrlichen Versen — Wilhelm Busch brauchte sich ihrer nicht
zu schämen — aussprechen:
Aber für völlig ausreichend scheint Herr Mund seine eigne Poesie doch nicht ge¬
halten zu habe»; es folgt daher noch eine Strophe vou Hermann Lingg, um die
bekannten „hervorragenden Männer" noch geneigter zu machen, „einzutreten für den
welterlösenden Gedanken der Humanität." Wie aber könnte dies besser geschehen,
als durch eiuen „kurzen, aber kernigen Beitrag, eine Meinungsäußerung gegen den
Antisemitismus!" Dieser allein hindert ja noch die Herrschaft der Humanität auf
unsrer schönen Erde. Ihn zu bekämpfen soll hier „ein Sammelwerk von kleinen,
aber wertvollen Beiträgen bedeutender Zeitgenossen in Poesie und Prosa aus alle»
zivilisirteu Ländern und in allen modernen Sprachen" geboten werden. Natür¬
lich handelt auch die Verlagsbuchhandlung aus den reinsten Beweggründen. Sie
erläßt ihre Aufforderung „unbeirrt von den mit diesem Vorgehen verknüpften
großen Geldopfern, unbeirrt ferner um (!) die sicher zu erwartende» Angriffe der
bon Gift des Antisemitismus durchseuchten Bcvölkeruugsklassen." Ja, es giebt
noch uneigennützige Verleger! Wer wagt es, angesichts dieses Ausrufs darau zu
zweifeln? Freilich fehlt eine Angabe darüber, zu welchem Zwecke der Ertrag des
„Manifestes" verwendet werden soll. Aber da bietet sich ja von selbst der „er¬
weiterte Buschofffonds." Ob das „humanitäre" Sammelwerk zu stände kommen
wird? Wir wagen es uicht zu bezweifeln. Der geschäftliche Zweck des Unter¬
nehmens wäre damit erreicht; die „Humanität" hätte ihre Mohreuschuldigkeit gethan.
Von etwaigen weitern Absichten freilich könnte sich höchstens das Gegenteil erfüllen.
Die Damen, die nicht
nur die Freigebung des medizinischen Studiums für die Frauen fordern, sondern
überhaupt jeden wissenschaftlichen Männerberuf (die Handwerke stehn ihnen jn offen)
für sich geöffnet zu sehn wünschen, haben von ihrem Standpunkte aus ganz Recht.
Denn sie wollen nicht nur für prüde Frauen Ärztinnen haben, das ist nur ein
Nebenpunkt, sondern sie »vollen die soziale Frage, wenigstens für die Frauen, lösen.
Wir sind nnn nicht so unhöflich, den strebenden Frauen vorzuschlagen, Schlosser
oder Dachdecker zu werden und sich so einen Beruf zu schaffen, der sie selb¬
ständig macht und sie ernährt; denn die Damen bleiben sich bei all ihrem gewal¬
tigen Vorwärtsdrängen doch ihrer natürlichen Schwäche bewußt und beanspruchen
deshalb nur — es sind ja nur „Damen," nicht die Frauen des Volks, die waschen,
Plätten und schneidern gehn — die wissenschaftlichen Gebiete, die nicht nnmittel-
bcir der Muskelkraft bedürfen. Daß für gelehrten Beruf ihre Fähigkeiten und
Kräfte ausreichen, ist zwar uicht erwiesen, aber es wird zunächst als selbstverständ¬
lich angenommen, da ja das Ausland, das immer noch nicht genügend maßgebliche
Ausland, insbesondre das in jeder Beziehung hoch über uus stehende Amerika
und selbst unsre Freunde die Schweizer längst den glänzenden Beweis geliefert
haben, daß dort die Frauen machen können, was sie wollen. Damit werden sie
aber ganz sicherlich der sozialen Frage nicht aufhelfen. Denn diese besteht nach
unsrer Meinung für die Frauen allein darin, daß möglichst viele von ihnen ge¬
heiratet werden. Das aber wird nnr dadurch erreicht werden, das möglichst viele
Männer in den Stand gesetzt werden, zu heiraten, während jetzt eine große An¬
zahl dazu nicht gelangen kann. Dazu aber könnten in der That viele Frauen
segensreich mitwirken, wenn sie nämlich ihre Jungen mit mehr Vernunft erzogen,
als es viele jetzt thun. Erzieht bescheidne, sich an einem einfachen Leben genüge
lassende Männer! Dann wird eine große Zahl Mädchen mehr unter die Haube
kommen als jetzt, und den übrigen wird die Existenz leichter werden.
Über die Frage des medizinischen Studiums werden sich vielleicht noch Fach¬
stimmen in den Grenzboten hören lassen. Unsre Laienmeinung ist, daß die Be¬
hauptung, die Frauen würden sich nnr noch der Ärztinnen bedienen, wenn es erst
welche gäbe, keineswegs zutrifft. Wo es ängstlich wird, werden die Damen
doch nach wie vor zum „Spezialisten" schicken und laufen — die, deuen es weh
thut, und die, die tollern. Es liegt ja, Gott sei Dank, in der Natur der Frau,
sich am Manne anzuhalten und sich auf ihn zu stützen.
Was aber den. Hauptgrund unsrer Gegnerschaft gegen die Forderungen der
Damen ausmacht, das ist der Umstand, daß das Frauenstudium und das Sichein-
dräugeu der Frauen in die gelehrten Berufe die sozialen Nöte uicht verbessern,
sondern verschlimmern würde. Denn jemehr Konkurrentinnen für die Männer auf
den wissenschaftlichen Gebieten — als Ärztinnen oder was sonst — entstünden,
desto mehr Männern würde der Beruf verbaut werden, und desto weniger Heirats¬
kandidaten würde es für die Töchter des Mittelstandes geben. Ja die Perspektive
wäre ganz sicher, daß schließlich ein Teil der Männer zum waschen, bügeln und
kochen gedrängt werden und den Frauen hier nehmen würde, Was sie dort mit dem
Opfer der Heiratsfähigkeit der Männer gewonnen hätten.
Den medizinischen Doktorhut werden sich nnr wenig Mädchen holen — das
wissen die Damen wohl selbst. Wozu also dieser Sturm? Glauben sie wirklich
die Lage der Frauen zu verbessern, wenn sie eine Menge von Mädchen auf
eine Bahn führen, auf der sie scheitern müssen? Und wenn es alle Mädchen, die
sich nach Freigebung des Studiums unzweifelhaft auf die Hochschulen drängen
würden, wirklich zum Doktor oder zur Ableistung des Staatsexamens brächten,
glauben sie, daß damit etwas andres erreicht wäre, als daß das Gelehrtenprole¬
tariat, das doch wahrhaftig reichlich genug Vorhäute» ist — denn deshalb heiraten
ja so viele Männer nicht, weil sie trotz des Studiums im wirtschaftlichen Prole¬
tariat stecken bleiben — nur noch vermehrt werden würde? Meinen die Damen,
die jungen Mädchen würden den Kämpfen des Lebens besser gewachsen sein als
die jetzt schon seufzende und hoffnungslose junge Männerwelt?
Gilts einen Sport — nun zu, so betreibe man ihn fröhlich, viel Schaden
leurs nicht anrichten, denn der Rückschlag wird bald eintreten, wenn erst eine
Anzahl junge Mädchen hineingefallen sind. Aber die soziale Not der Frauen
wird es nicht lindern, wenn sie sich zum Gelehrtenbcruf drängen in einer Zeit,
wo der Staat des Andrangs wegen womöglich für Billctverkänfer ans den Bahn¬
höfen das Abiturientenexamen zur Bedingung machen möchte.
Da sollten die Damen den Hebel ansetzen, wo wirklich Mißstände zu beseitigen
sind; sie sollten z. B. dafür sorgen, daß die armen Frauenzimmer, die den
Lehrerinnenbernf ergreife» wollen, nicht im Examen geguält werdeu wie kein Schul-
amtskandidat, daß sie nicht in einem Dutzend von Fächern ans einmal geprüft
werden; oder daß die Wunderlichkeiten der Diakonissenhäuser weggeräumt werden.
Und wer Berufe für Frauen, die ledig bleiben müssen, finden will, der findet
genug, denn mich hier ist bei vielen Gelegenheiten der verrückte Zwiespalt bemerk¬
lich, der bei der Arbeiterfrage eine so große Rolle spielt: in den Städten drangt
sich das Volk zusammen und hungert, auf dem Lande sind keine Hände zu haben.
Man gehe uur aufrichtig und ernsthaft der sozialen Not der Frauen zu Leibe, ver¬
dienstlich wäre es! Aber man begnüge sich mit Erreichbaren! Der Ansturm auf
die Gelehrtenlaufbahn ist im Grunde ein eitles, albernes und kopfloses Unter¬
fangen, das sich sicherlich an denen rächen wird, die sich verleiten lassen. Daß
manches Mädchen auch Doktor irgend eiuer Fakultät werden kann, wird niemand
bezweifeln. Aber die Frage: zu welchem Nutzen? wird kein Weiser vernünftig be¬
antworten können. —
Diese Bemerkungen waren schon niedergeschrieben, als Nur eine Schrift in die
Hand bekamen: Die Bestimmung der Frau. Rektoratsrede des Gynäkologen
Professor Dr. H. Fehling in Basel (Stuttgart 1392, Ferd. Eure), die in vor¬
trefflicher Weise die Grenzen zieht, die der Frauenwelt nun einmal gesteckt sind
und gesteckt bleiben werden. Sie sei den Herren Parlamentariern, die ritterlich
für die kämpfenden Damen den Schild erheben, als eine nützliche Lektüre empfohlen;
sie wird ihnen wohl die Überzeugung beibringe», daß sie besser geschwiegen hätten.
In dieser Schrift findet sich die Notiz, daß von 789 auf den verschiednen schwei¬
zerischen Hochschulen in den Jahren von 1364 bis 1891 immatrikulirten Medi¬
zinerinnen nur 131 Promovirt nud uur 26 ein abschließendes Staatsexamen
gemacht haben! Dies Ergebnis wird hoffentlich für unsre Ministerien deutlich
genug sprechen, und sie werden es bei der höflichen Verbeugung gegen die Damen
bewenden lassen.
Der Verfasser erzählt nach Adolf Strodtmann: „Bischof Monrad trat nach
der Einnahme Athens durch die Preußischen Truppen mit folgendem Vorschlage vor
seinen König: Suchen wir den Verlornen Kampf durch einen Friedensschluß zu
enden, der unserm Vaterlande noch die Möglichkeit einer glücklichen und ehren¬
vollen Zukunft in Aussicht stellt! Bieten nur dem mächtigen Sieger mehr, als er
verlangt! Sagen wir ihm: vereinige nicht bloß unsre deutscheu Provinzen mit
deinem Reiche, sondern nimm uns ganz, cmnettire uns mit Haut und Haar, und
wir werden fortan nicht mehr deine Feinde, sondern deine treuesten Bruder und
Bundesgenossen sein. Aber gewähre uns eine Vergünstigung! Wir sind ein Jusel-
nnd Küstenvolk — laß unsre Söhne nicht in deinem Landheere, sondern als See-
soldnten auf deinen Kriegsschiffen dienen, nur bringen dir unsre Flotte als nicht
ganz wertlose Mvrgengabe des neue» Bundes — laß uns Deutschlands Admiral¬
staat sein!" Die Dänen dürfen sich Glück wünschen, daß Christian der Neunte auf
diesen Vorschlag seines leitenden Ministers nicht eingegangen ist. Trotz jenes Re¬
servatrechts würden sie in den Strudel des Großmachtslebens hineingezogen worden
sein, und ihr idyllisches Dasein, das den Grenzbotenlesern ans novellistischen Schilde¬
rungen so vertraut ist, würde ein Ende gehabt haben. Das dänische Volk erfreut
sich noch durchaus gesunder Zustände. Der Grund und Boden befindet sich größten¬
teils im Besitz von Bauern (der Großgrundbesitz umfaßt 16, in Pommern 62,6 Pro¬
zent), und im Parlament herrscht die Bauernpartei; eine volle Hälfte der Bevölke¬
rung lebt unmittelbar von ihrem eignen Grund und Boden. Die andre Hälfte
verteilt sich auf Gewerbe, Handel, Beamtenschaft, Fischerei, Schiffahrt und den
Stand der besitzlosen Arbeiter, der demnach uur einen kleinen Bruchteil des Volks
ausmachen kann. So reiche Leute wie bei uns giebts überhaupt nicht, und die
paar vorhandnen Millionäre bethätigen gemeinnützigen Sinn. Während die Be¬
soldungen der untern und mittlern Beamten der bei uns üblichen ungefähr gleich
kommt, beziehen die höhern und höchsten nur ein sehr mäßiges Einkommen, der
Ministerpräsident z. B. nicht viel über 12 000 Mark. Dieser Gleichmäßigkeit der
Vermögenslage und der sozialen Stellung, die auch durch keinerlei Staudesvor¬
urteile durchbrochen wird, entspricht die Gleichmäßigkeit der Bildung nach Grad
und Zuhält. Sechzig Volkshochschule», je eine ans dreißigtausend Einwohner, ver¬
mitteln den Bürger- und Bauernsöhnen, die sie nur im Winter besuchen, eine viel¬
seitige und dabei volkstümliche Bildung. Weder vom Gegensatz der Konfessionen,
noch vou dem zwischen der christlichen und der sogenannten modernen Welt¬
anschauung werden die Gemüter ans einander gerissen. Das Volk ist der Mehr¬
zahl nach gläubig lutherisch, und die Grundtvigianer haben die Religion neu belebt,
indem sie sie mit der nordische« Mythologie, mit der Volkspoesie, vaterländischen
Geschichte, Musik und andern Bildungselementen verschmolzen und dem Volke in
genießbarer Form darboten. „Sie predigen viel weniger, als sie singen, sie singen
stets und bei allen Gelegenheiten religiöse Lieder; diese Lieder find auch nach all¬
gemein bekannten, ganz weltlichen Melodien gedichtet, um leichter Eingang zu finden."
Das Tivoli in Kopenhagen, in dem die Vergnügungen fiir alle Schichten des Volks
hart bei einander liegen, gewährt ein gutes Bild von dieser Einheit des Volks¬
gemüth, und wenn wir dem Verfasser glauben dürfen, so ist das dortige Volks¬
theater wirklich ein Volkstheater im edelsten Sinne des Worts.
Unter diesen Umständen tragen die dänischen Vvlkslvvhlfahrtseinrichtungen einen
ganz andern Charakter als bei uns. Wir leiden an einem elenden und verbitterten
Massenprvletariat, das dnrch amtliche Sozialpolitik und durch allerlei vou den
Kathedersozialisten ersonnene Heilmethoden einerseits gehoben und veredelt, andrer¬
seits gezügelt und unterdrückt werben soll. Dort hingegen sind die teils vom
Staate gegründeten, teils aus freier Vereinsthätigkeit hervorgehenden Äeranstnl-
tnngen zur Bildung, Veredlung und Erholung uur Lebensäußerungen eines ge¬
sunden Volks, das sich eben dnrch sie gesund erhält. Es ist ja keine Möglichkeit
vorhanden, unsre deutschen Verhältnisse zur Einfachheit der dänischen zurückzuführen.
Aber das wenigstens nuisfen wir uns stets gegenwärtig halten, daß die Krankheit
eben in der Entfernung vom Einfachen und Natürlichen besteht, und daß alle
Sozialpolitik, die diese Grundwahrheit übersieht, uur auf Kurpfuscherei hinaus-
lnufen kann. Wir wünschen deshalb dem kleinen Schriftchen (das nebenbei bemerkt
aus Vorträgen nicht sehr sorgfältig zusammengenäht ist, sodaß einige ganz unmoti-
virte Anreden, wie „meine Damen und Herren," mitten drin stehn geblieben sind)
recht viele nachdenkliche Leser.
is vor einem Jahrzehnt eine für die Provinz Sachsen bestimmte
Polizeiverordnnng die Sonntagsruhe etwa in der Weise regeln
wollte, wie es neuerdings durch die Novelle zur Gewerbeordnung
geschehn ist, erhob sich ein Sturm des Widerstandes und der
Entrüstung. Man zeterte über Vergewaltigung, über Schädigung
der „vitalsten (!) Interessen," über den Untergang der Industrie und über die
Rückkehr in die finstersten Zeiten des Mittelalters. Nun ist seit dem ersten
Juli eine Art Sonntagsruhe eingeführt, und alles ist ganz glatt und still
verlaufen. Daß das Publikum dabei zu Schaden gekommen sei, wird man
schwerlich behaupten können. Denn wenn es in den Verkaufsftunden des ersten
Sonntags im Juli einige Drängelei gab, wenn es sogar vorgekommen sein
soll, daß eine allzu vertrauensselige Hausfrau am Abend keine Cervelatwurst
bekommen konnte, so ist das gerade kein Unglück; vielmehr ist den betreffenden
ganz Recht geschehn. Die Sonntagsstille wird zngestandner- oder nicht zuge-
standnermaßen als Wohlthat empfunden. Und im Gründe gefällt die
Sonntagsruhe auch den Prinzipalen sehr wohl. Besonders empfinden
die kleinen Geschäftsleute die Wohlthat des Gesetzes dankbar. Es ist die
Befreiung aus eiuer Knechtschaft, in der sich die Menschen gegenseitig
hielten, und die härter war, als das härteste Gesetz. Der kleine Kaufmann,
der jahraus jahrein wie ein Ameisenlöwe in seiner Falle saß, kann nun
auch ein paar Stunden lang den blauen Himmel sehn und wenn auch nicht
deklamiren, so doch fühlen: Hier bin ich Mensch, hier darf ichs sein. Daß
die Angestellten, die Kommis und andre moderne Sklaven erreicht haben, was
sie seit Jahren dringlichst gewünscht haben, wird von ihnen dankbar anerkannt.
Selbst der jüdische Kaufmann läßt sich seinen christlichen Sonntag gefallen;
bleibt ihm doch unbenommen, zu spekuliren, wie er das Gesetz fein umgehn
und so die Konkurrenz schädigen könne.
Trotz alledem kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß mit dem
Gesetz etwas begonnen worden ist, was so nicht bleiben kann. Entweder muß
man weiter gehn und die Sonntagsruhe zu einer wirklichen Ruhe machen,
oder man muß zulassen, daß von ihr soviel abgebröckelt wird, daß nicht einmal
das mehr übrig bleibt, was man bisher hatte. In dem ersten Sinne lassen
sich die Organe des Zentrums vernehmen, in dem zweiten schreiben die liberalen
Zeitungen, die Kölnische mit einbegriffen.
Es ist eine seltsame Sache, ein Gesetz über die Sonntagsruhe, das be¬
stimmt, daß am Sonntagvormittag fünf Stunden gearbeitet und daß nach¬
mittags gefeiert werden soll. Als ob es darauf ankäme, dem notleidenden
Stande der Gastwirte auf die Beine zu helfen! Gleichsam in Parenthese wird
hinzugesetzt, während der Stunden des Gottesdienstes dürfe nicht gearbeitet
werden, und es müsse auch soviel Zeit gegeben werden, daß man sich zum
Gottesdienste ankleiden könne. Wir möchten aber wohl wissen, wieviel Leute
von der so gegebnen freien Zeit Gebrauch machen, daß sie zum Gottesdienst
gehn. Man stelle sich einen armen kleinen Ladendiener vor, der bis dreiviertel
neun Uhr hinter dem Ladentische steht, dann die guten Höschen anzieht, um
in die Kirche zu gehn, und gleich nach Schluß des Gottesdienstes zur Herings-
toune zurückkehren muß; man stelle sich den Spott vor, mit dem der Herr
Prinzipal und die Herren Kollegen, denen die Sonntagsruhe nur die Freiheit
ins Wirtshaus zu gehen bedeutet, deu armen Menschen behandeln. Für Leute,
die die Sonntagsruhe vormittags zur Sonntagsheiligung benutzen wollen,
wäre eine Bestimmung, uach der ein Sonntag um den andern völlig frei
bleiben müßte, günstiger gewesen, als die neuen gesetzlichen Bestimmungen.
Aber auf die kirchliche Sonntagsfeier ist ja die Novelle gar nicht gerichtet
gewesen, sondern auf eine Sonntagsruhe für unselbständige Leute, denen man
diese Ruhe aus denselben Gründen sichern wollte, aus denen die Sozial-
demokraten den freien Sonntag fordern. Die neuen Bestimmungen gehören
zur sozialen, nicht zur kirchlichen oder sittlichen Gesetzgebung. Dies war
wenigstens die ursprüngliche Form des Gesetzes; erst durch die christlich¬
konservative Mehrheit des Reichstags hat es eine Gestalt bekommen, dnrch
die es ein Gesetz für die Sonntagsruhe geworden ist. Es ist nämlich ein¬
gefügt worden, daß in den geschloßnen Stunden des Sonntags nicht bloß die
Angestellten frei sein müssen, sondern auch, daß die Laden zu schließen seien,
und daß überhaupt nicht gearbeitet werden dürfe. Durch diese Verschärfung
des Gesetzes hat man bewirken wollen, daß das Gesetz überhaupt wirksam
werde. Deal wenn doch weiter gekauft oder verkauft worden wäre, so hätte
der Angestellte keine wirkliche Freiheit erhalten. Man wollte wohl auch den
Geschäftsinhabern durch den Zwang eine Wohlthat erweisen. Aber man hat
durch die Verschärfung des Gesetzes auch den in ihm liegenden innern Wider¬
spruch verschärft, man ist wieder bei dem alten Gegensatze einer liberalen und
einer autoritativen Anschauung angekommen. Bismarck steht in der Sonntags¬
frage auf liberaler Seite; er hat von jeher den Gedanken vertreten, es müsse
jedem freistehn, wenn er nicht andre stört, am Sonntage zu arbeiten. Die
Partei des neuen Kurses will, daß der Mensch in gewissen Dingen und gerade
hier dnrch den Zwang des Gesetzes vor sich selbst geschützt werde, daß also
von oben herunter befohlen werde, wenn es von unten her zu einem ver¬
ständigen und notwendigen Entschlusse nicht kommen will. Das richtige dürfte
Wohl in der Mitte liegen. Oder anders ausgedrückt: ist mau der Überzeugung,
daß man in der Sonntagsfrage die Bevölkerung dnrch Gesetze bevormunden
müsse, so muß es wenigstens in einer Weise geschehn, daß berechtigte Inter¬
essen geschont werden, das Gesetz darf nicht einseitig und ungerecht vorgehn.
Ist aber die rechte Mittellinie nicht getroffen, so muß das Gesetz entweder
erweitert oder verengert werden. Und diese Notwendigkeit scheint bei dem
Sonntagsgesetze vorzuliegen.
Nicht alle Klagen über das Gesetz sind berechtigt. Man sagt: es ist ein
Unsinn, dem jungen Manne soviel freie Zeit zu geben. Was soll er damit
anfangen? Er geht ins Wirtshaus. Dafür reicht sein Gehalt nicht aus,
und das Ende ist, daß er die Kasse angreift. Sollte aber der junge Manu
seine freie Zeit wirklich nur mit Kneipen ausfüllen können? Sollte er nichts
besseres und nötigeres zu thun haben? Oder mau fragt: Wo soll sich der
junge Mann in seiner Freizeit aufhalten? Man hat ihm ein Loch zum Schlafen
angewiesen, sein eigentlicher Anfenthalt ist der Laden. Nun gut, wenn das
so ist, ist es dann nicht zu loben, wenn das Sountngsgesetz solche Mißstände
aufdeckt und ihre Besserung fordert? Und vollends wenn die Verkäufer von
allerhand Kram und Plunder, wenn die „edelsten Glieder der Nation" mit
ihrem Hausirkasten in dem unveräußerlichen Menschenrechte, jedes schöne Fleckchen
Erde in einen Trödelmarkt zu verwandeln und jeden zu belästigen, der sich
des stillen Sonntags freuen möchte, gestört werden, so ist das doch nur zu
billigen. Ebenso wenig gerechtfertigt ist es, wenn sich Cigarrenhändler be¬
klagen, daß ihnen verwehrt werde, ihre Bude Sonntags nachmittags bis
tief in die Nacht hinein offen zu halten, um ein paar Dutzend Cigarren an
Leute zu verkaufen, die sich ihren Bedarf ebenso gut hätten einstecken können.
Geraucht wird doch; man wird künftig nnr weniger am Sonntag kaufen und
weniger einzeln kaufen.
Aber die Beschwerde wird sofort berechtigt, wenn man sich beklagt: Wir
dürfen nicht verkaufen, aber der Wirt darf es; mau entzieht uns einen Ver¬
dienst, um ihn dem Wirte zuzuwenden. In derselben Lage sind der Bäcker
und der Fleischer, sie müssen ihre Laden schließen und zusehen, wie ihre
Kunden zum Gastwirt gehen. Man hat diese Ungerechtigkeit dadurch mildern
wollen, daß man den Wirten verboten hat, während der geschloßnen Zeit
über die Straße zu verkaufen; aber man kann nicht hindern, daß sich jemand
beim Wirte vorsetzen läßt, was er sonst im Laden gekauft und zu Hause ver¬
zehrt hätte. In besonders übler Lage sind die Photographen, die von jeher
ihr Hauptgeschäft des Sonntags gemacht haben. Die meisten Leute, namentlich
die, von denen der kleine Photograph lebt, kommen nur zu ihm, wenn sie den
Sonntagsrock angezogen haben. In der Woche können sie das nicht, oder sie
thun es wenigstens nicht. Vom christlichen Standpunkte aus kaun man sagen:
Trage den Verlust; es ist besser, du leidest Schaden, als daß du den Sonntag
entheiligst. Vom Standpunkte der sozialen Gesetzgebung aus kann man das
nicht sagen. Man kann verbieten, daß die Kräfte des Personals über Gebühr
ausgenutzt werden, man kaun aber streng genommen nicht fordern, daß der
Gehilfe des Sonntags frei haben soll, wenn er die Woche über genug Freiheit
hat. Nimmt man dem Geschäftsinhaber den Verdienst, so setzt man den An¬
gestellten vor die Thür und richtet Schaden an, wo man eine Wohlthat
erweisen wollte. Oder unter welchem Vorwande wollte man die Photographie
freigeben? Sie ist wirklich ein Gewerbe. Hier ist der Gesetzgeber in Ver¬
legenheit. Die staatlichen Behörden haben auch bis jetzt auf die eingelaufenen
Beschwerden keine Antwort gegeben.
Die kranke Stelle des Gesetzes ist die willkürliche Abgrenzung derer, die
durch das Gesetz geschützt werden sollen. Der HandelSbeflißne, der Gesell
soll seinen freien Sonntag haben. Ist der Kellner nicht auch ein Mensch?
bedarf er des staatlichen Schutzes nicht ebenso wie der Kommis? Mau kann
ihn Sonntags nicht entbehren. Auch die Herren Gesetzgeber wollen des Sonn¬
tags ihr Glas Bier trinken. Der Kellner wird dem Sonntagsvergnügen der
andern zum Opfer gebracht. Das mag eine harte Notwendigkeit sein, eine
gerechte Sache ist es nicht. Es ist ein Stück sozialer Frage, das auch
einem Bebel zu schwer ist. Und wo bleiben die Tausende, die im Verkehrs¬
gewerbe angestellt sind? Wo bleiben die Dienstboten? Die Frankfurter Dienst¬
mädchen haben sich schon gerüstet, sie wollen auch ihren freien Sonntagnach¬
mittag haben, und die andern werden nicht zurückbleiben. Den Knechten auf
dem Lande ist es schon lange ein Ärgernis, daß sie am Sonntag das Vieh
füttern müssen. Wenn die nun auch alle Berücksichtigung finden sollten, so
würde die Folge sei», daß die Herren am Sonntag die Arbeit selber machen
müßten, was übrigens stellenweise schon jetzt der Fall ist.
Offenbar giebt es Arbeit, die auch am Sonntage geschehen muß. Richtet
man also die Sache so ein, daß man durchs Gesetz bestimmt: Der Arbeiter, der ab¬
kömmlich ist, soll seine Sonntagsfreiheit haben, jeden Sonntag und zu bestimmten
Stunden, der Arbeiter, der unabkömmlich ist, findet keine Berücksichtigung —
so schafft man Verhältnisse, deren Ungerechtigkeit allgemein gefühlt wird.
Ebenso bedenklich ist aber auch die Bevorzugung einzelner Gewerbe, denen
man den Svnntagsbetrieb in gewissen Grenzen oder ganz frei gegeben hat.
Bei der eingangs erwähnten polizeilichen Sonntagsverordnnng für die Provinz
Sachsen erregte der Umstand besondres Ärgernis, daß die Geschäfte auf preu¬
ßischem Gebiete geschlossen waren, aber jenseits der Grenze geöffnet blieben.
Dieser Übelstand ist dadurch, daß es sich jetzt um ein Reichsgesetz handelt,
weggefallen. Dafür haben wir aber nun die Svnntagsgrenze innerhalb der
Geschäfte. Das Volk der Wirte ist die meistbegüustigste Nation. Der Handel
mit Blumen und Kränzen ist bis vier Uhr freigegeben worden, aber der Photo¬
graph, der an die Stunden des Tageslichts gebunden ist, und dem geholfen
wäre, wenn er von elf bis vier Uhr arbeiten könnte, muß sein Glashaus
schließen. Ju Badeorten darf während der „Saison" bis fünf Uhr verkauft
werden. Warum denn? Es giebt doch nichts überflüssigeres, als den Kram,
der dort feilgeboten wird! Überdies ist in Badeorten „alle Tage Sonntag."
Gerade die Allsnahmen, die man gemacht hat, verschärfen die Ungerechtigkeit.
Der Grundfehler ist, daß in diesem Gesetze zwei Dinge mit einander ver¬
bunden sind, die nicht zusammengehören: der Schutz unselbständiger Arbeiter
vor der Ausbeutung ihrer Kräfte, und der Schutz des Feiertags vor Handel
und Wandel. Das erste gehört in ein Gewerbegesetz, das zweite nicht. Wir
machen für diese Zusammenstellung nicht die Regierung verantwortlich, sondern
in erster Linie die klerikal-konservative Mehrheit des Reichstags. Die Herren
haben es offenbar gut gemeint, auch etwas erstrebt, was an sich wünschens¬
wert ist, aber sie haben doch ein zu geringes Maß von Umsicht und Sach¬
kenntnis auf dem Handelsgcbiete bewiesen und haben aus dem Stegreife
Bestimmungen geschaffen, die reiflicher hätten überlegt werden sollen.
Schließlich ist man bei der Ausführung des Gesetzes, das doch auch zum
Besten der kirchlichen Interessen gemacht worden ist, mit diesen Interessen in
argen Widerstreit geraten. Wenn das Gesetz Arbeitspausen festsetzt, die mit
den Zeiten für den Gottesdienst zusammenfallen sollen, so ist eine Verstän¬
digung der staatlichen und der kirchlichen Behörden über diese Zeiten nötig.
Das einfachste wäre es gewesen, sich an die ortsüblichen Zeiten des Gottes¬
dienstes anzuschließen, aber das Hütte eine große Mannigfaltigkeit gegeben, und
in dem Militärstaate Preußen muß alles, was nur irgend geht, uuiformirt
werden. Man hat also zu den vorhandnen Schwierigkeiten ganz unnötiger¬
weise eine neue geschaffen, und zwar eine, die, was das platte Land be¬
trifft, überhaupt nicht überwunden werden kann, indem man gewisse Zeiten,
nämlich die Stunden von nenn bis elf Uhr vormittags und von zwei bis
drei Uhr nachmittags, als Normalzeiten festsetzte.
In den Ausführilngsbestimmungen der preußischen Ministerien des Innern,
des Handels und des Kultus wird gesagt: Der Anfangspunkt der Beschäf¬
tigungszeit ist in der Regel auf sieben Uhr vormittags, der Endpunkt auf
zwei Uhr nachmittags festzusetzen. Die Bestimmung eines frühern Anfangs-
und Endpunktes, halb sieben und halb zwei oder sechs und ein Uhr, ist zu¬
lässig, falls nach den örtlichen Verhältnissen die Zeit vor sieben Uhr vor¬
mittags für das Handelsgewerbe nicht bedeutungslos ist. Hier ist also für
die verschiednen Bedürfnisse noch Raum gelassen. Die als zulässig bezeichneten
Zeiten von sechs bis ein Uhr dürften ziemlich allgemein den Gewohnheiten
des platten Landes, die Zeiten von sieben bis zwei Uhr denen der Städte
entsprechen. Wenn in den erwähnten Ausführungsbestimmungen weiter gesagt
wird, die Regierungspräsidenten hätten dahin zu wirken, daß an denselben
Orten alle Gottesdienste auf dieselben Zeiten verlegt würden und, wo dies
nicht zu erreichen sei, „nach Besonderheit der obwaltenden Verhältnisse über
die Festsetzung der für den Hcmptgottesdienst freizulassenden Pause nähere
Bestimmungen zu treffen," so handelt es sich doch offenbar um die Bestim¬
mung der Arbeitspause, nicht um die der Zeit für den Gottesdienst.
In den Erläuterungen des Herrn Regierungspräsidenten — wir haben
hier einen bestimmten Regierungsbezirk im Auge — klingt aber die Sache
schon anders. Da heißt es: Die gesetzliche Veschäftignngszeit fällt mit Aus¬
nahme der Zeit für den Hauptgottesdienst (von neun bis elf Uhr) auf die
Stunden von sieben bis zwei Uhr. Die Ortspolizei hat nach „Benehmen"
mit den kirchlichen Behörden die Stunden für den Nachmittagsgottesdienst fest¬
zusetzen. Diese Zeit wird nicht vor zwei Uhr beginnen dürfen. (!) Also von
der Zeit von sechs bis ein Uhr ist gar nicht mehr die Rede.
Nun kommt der Herr Landrat: Die Herren Amtsvorsteher haben sich
schleunigst — denn es waren bis zum 1. Juli nur noch ein paar Tage übrig —
mit den pp. Gemeindekirchenräten ins „Benehmen" zu setzen, zu „veranlassen,"
daß der Verfügung des Herrn Regierungspräsidenten entsprechend Beschluß
gefaßt werde, und die in dem fraglichen Erlasse bestimmten „gottesdienstlichen
Zeiten" bekannt zu machen.
Der Herr Amtsvorsteher „veranlaßt" nnn — als ob er die vorgesetzte
Behörde wäre! — die Gemeindekirchenräte seines Bezirks, zu beschließen, daß
nach den Verfügungen des Ministers vom 10. Juni und des Oberprüsidenten
vom 1». Juni der Frühgottesdienst von nenn bis elf Uhr stattzufinden habe.
Der Nachmittagsgottesdienst dürfe (!) vor zwei Uhr nicht beginnen.
Darauf fassen die Gemeindekirchenräte Beschluß, meist des Inhalts, daß
die Novelle zum Gewerbcgesetze sür ländliche Bezirke ohne Bedeutung sei, daß
sich die gottesdienstlichen Zeiten der Tagesordnung des Landes anzupassen
Hütten, daß die bisherige»: Zeiten altherkömmlich seien, und daß eine Änderung
den Kirchenbesuch schädigen würde. Man wünsche also die bisher üblichen
Zeiten beizubehalten und beschließe dem entsprechend.
Darauf „erfolgt" die Antwort „seitens" des Herrn Amtsvorstehers:
Nein, die Zeiten müßten so gewühlt werden, wie der Herr Regierungspräsident
angeordnet habe. Endlich wird ausgeklingelt: Die gottesdienstlichen Zeiten sind
auf Anordnung des Herrn Regierungspräsidenten von jetzt an neun bis elf
Uhr vormittags und zwei bis drei Uhr nachmittags.
Also die Polizei schreibt vor, wann Gottesdienst gehalten werden soll
und wann nicht! Das ist eine so kuriose Geschichte, daß wir sie Herrn Fritz
Anders zur Bearbeitung in einer seiner nächsten „Skizzen" empfehlen möchten,
sie erinnert lebhaft an die nach unten hin immer schneidiger werdende Aus¬
führung eines Korpsbefehls.
Gesetze zu lesen ist nicht jedermanns Sache, besonders ist es nicht die
Sache der Herren Pastoren. Es ist also nicht zu verwundern, daß sich viele
haben einschüchtern lassen. Andre erkannten die Gesetzwidrigkeit der Vorschriften,
erhoben Widerspruch und hielten ihre Gottesdienste ruhig zur alten Zeit weiter.
Noch andre befanden sich vor der handgreiflichen Unmöglichkeit, zu gehorchen.
Hier ein besonders schöner Fall. In A. befindet sich eine katholische und eine
evangelische Gemeinde. Der katholische Pfarrer hatte ohne weiteres vorschrifts¬
mäßig beschlossen, der evangelische hatte Protest erhoben. Das hatte zu einem
vorwurfsvollen Bericht Anlaß gegeben mit der Andeutung, wie viel bessere
Staatsbürger doch die Katholiken seien. Aber man hatte merkwürdigerweise
übersehn, daß in A. beide Gemeinden, die katholische und die evangelische, die¬
selbe Kirche benutzen, und zwar die eine von neun bis elf Uhr, die andre von
elf bis ein Uhr. Da konnte freilich der evangelische Pastor einer burenukra-
tischen Liebhaberei zu Gefallen nicht nachgeben. Derartiger Fälle, wo es ganz
unmöglich ist, die Gottesdienste auf die angeordneten Stunden zu legen, giebt
es aber auf dem Lande unzählige. Man hatte sie vom grünen Tische aus
nicht bemerkt und eigentlich nur an die Städte gedacht. In den Städten
haben sich auch die Dinge ziemlich leicht geordnet. Nur in Berlin ist man
so schlau gewesen, zu verlangen, daß die Gottesdienstzeiten des lieben Ge¬
schäfts wegen auf eine ganz unmögliche Stunde gelegt werden, wogegen die
Synode Widerspruch erhoben hat.
Nun wandte sich der Herr Oberpräsident an das königliche Konsistorium:
königliches Konsistorium wolle die Geistlichen anweisen, die von den Behörden
vorgeschriebnen Stunden für ihre Gottesdienste anzunehmen. Aber das Kon¬
sistorium, dem doch wahrlich nicht der Vorwurf der Staatsfeindlichleit gemacht
werden kann, antwortete: es bedaure, nicht dienen zu können, da es unmög¬
lich sei, daß Geistliche, die, wie es bei der Mehrzahl der Fall ist, Filialen zu
bedienen haben, von neun bis elf Uhr an verschiednen Orten Gottesdienst halten.
Der Wagen ist also glücklich festgefahren. Daß ein besondrer Schade
dadurch entstanden sei, soll nnn zwar nicht behauptet werden; man hat einige
Konfusion angerichtet, und schließlich wird alles beim alten bleiben. Aber man
hat die kirchlichen Kreise, auf deren Hilfe man so großen Wert legt, verletzt.
Man hat mit Polizeiverfttgungeu in die Interim der Kirche eingegriffen. Und
dies zur Zeit des „neuen Kurses"! Die bevorstehenden Kreissynvden werden
den Mund vorcinssichtlich ordentlich aufthun, und das ist, da sie offenbar im
Rechte sind, für die staatliche Autorität nicht gut.
Was aus diesem Sonntagsgesetze noch werden wird, wer kann das sagen!
Man kann es, ohne auf Interessen, die verletzt worden sind, Rücksicht zu
nehmen, durchdrücken, man kann auch zurückweichen und soviel Ausnahmen
gestatten, daß das Gesetz wirkungslos wird. Daß für die Befreiung des Sonn¬
tags von der Arbeit etwas geschieht, ist gewiß löblich, ebenso, daß man sich
der Angestellten annimmt, die den unbilligen Anforderungen ihrer Arbeitgeber
gegenüber nicht aufkommen können. Ob aber die Art, wie man die Sache in
die Hand genommen hat, und wie man beide Angelegenheiten mit einander ver¬
quickt hat, richtig ist, das ist doch sehr die Frage. Oder vielmehr: es ist keine
Frage, daß es nicht richtig ist.
>>u der Sitzung des Ausschusses des Vereins für Sozialpolitik
vom 26. September 1890 — so berichtet Gustav Schmoller in
I der Vorrede zu den neuesten höchst verdienstlichen Veröffent¬
lichungen des Vereins für Sozialpolitik^) — wurde auf eine
^schriftliche Anregung von Dr. von Miaskowski hin beschlossen,
wenn es möglich sei, in einem Sammelbande die Entwicklung der Handelspolitik
der wichtigern Kulturstaaten in der letzten Zeit darzulegen. Man ging von der An¬
sicht aus, daß im Laufe der Jahre 1891 und 1892 keine volkswirtschaftliche Frage
größere Bedeutung gewinnen werde, als die der am 1. Februar 1892 meist ablau¬
fenden Handelsverträge, daß ein tieferes Verständnis der großen hierbei beteiligten
Interessen, eine bessere Einsicht in die veränderten Ziele der Handelspolitik am
ehesten durch eine solche möglichst objektive Erzählung der Zustände, Maßregeln
und Strömungen in den einzelnen Ländern erreicht werde. Unter Leitung des
Vorsitzenden traten einige Ausschußmitglieder mit Fachmännern der verschiednen
Staaten in Verbindung und gewannen für jeden Staat einen einheimischen
Bearbeiter; mir Italien wurde von einem Deutschen behandelt, von Professor
Werner Sombart, der das Land durch mehrjährigen Aufenthalt und ein¬
gehende Studien genau kennen gelernt hat. Indem von Übersetzung der in
englischer und französischer Sprache geschrielmen Beiträge Abstand genommen
wurde, konnten die beiden angezeigten Bünde noch vor Ablauf des vorigen
Jahres herausgegeben werden; ein letzter Band, der die Handelspolitik Eng¬
lands, Frankreichs, Spaniens und der Balkanstaatcn darstellen soll, wird noch
im laufenden Jahre erscheinen. Da es nicht möglich ist, die Hauptergebnisse
sämtlicher Abhandlungen in dem Nahmen eines Zeitschriftcnnufsatzes zusammen¬
zufassen, so wollen wir wenigstens die von dreien skizziren, und wir wählen
dazu die Vereinigten Staaten. Italien und Deutschland.
Die «üoiningroml ?o1lo/ ot' klls HiMvä Kwies ot' ^.uroriog, 1860—1890
haben Dr. Richmond Maso-Smith und Dr. Edwin N. A. Seligmcm, Pro¬
fessoren der Nationalökonomie im Columbia-College zu Newhork, dargestellt.
Die Abhandlung beginnt mit einem Rückblick auf die ältesten Zeiten Neueng¬
lands. Die Handels- und Kolonialpolitik aller europäischen Staaten, heißt es
hier, war so ziemlich dieselbe, und England „war in dieser Hinsicht nicht viel
liberaler als Spanien oder Holland." Das Mutterland Pflegte sich selbst das
Recht zum Handelsverkehr .mit seinen Kolonien ausschließlich vorzubehalten,
und Lord Sheffield drückte seine und seiner Landsleute Meinung in den
Worten aus: Der einzige Nutzen der englischen Kolonien besteht in dem
Monopol Englands auf ihren Konsum und auf den Transport ihrer Erzeug¬
nisse. Nach der Navigationsakte von 1651 dürfte der Warenumsatz zwischen
den Kolonien unter einander, sowie zwischen ihnen und dem Mutterlande nur
mit englischen Schiffen bewerkstelligt werden. Die Waren aber wurden in
enumsricköck Ave> non enuinLralöä ooilimoclitiös eingeteilt. Erstere durften nur
nach Großbritannien und nach andern englischen Kolonien ausgeführt werden.
Den übrigen, den nicht besonders bezeichneten Waren, wurde die Ausfuhr nach
beliebigen Ländern nicht beschränkt, mir durften sie auf keinen andern als
englischen Schiffen verschickt werden. Die Rohprodukten, die bei der Größe
und Fruchtbarkeit des dünn bevölkerten Landes ohnehin am nächsten lag, wurde
noch durch Ausfuhrvergütungen auf Indigo, Hanf, Flachs, Rohseide, Bauholz,
Faßtauben u. s. w. aufgemuntert, die keimende Industrie dagegen gewaltsam
darniedergehalten; aufs strengste wurde die Ausfuhr von Garn und Woll-
gewebeu, die Errichtung von Stahl- und Walzwerke:? verboten. So zwang
man die Neuenglandstaaten, reine Ackerbanstaaten zu bleiben. Sobald sie sich
frei gemacht hatten, öffneten sie ihre Häfen aller Welt, und schon während
des Kampfes um ihre Unabhängigkeit beeiferten sie sich, allerhand Industrien
ins Leben zu rufen. Die Zollerhebung blieb Sache der Einzelstaaten, und
einige von diesen verrieten sofort sthutzzöllnerische Neigungen. Der so ans¬
prechende Tarifkrieg zwischen den Bundesgliedcrn war es hauptsächlich, der
zur Schöpfung jener Bundesverfassung drängte, die 1789 in Kraft trat und
heute noch gilt. Bei der Aufstellung ihres ersten Tarifs ließ sich die nun
fertige Union fast ausschließlich von der Rücksicht auf ihre Finanzen leiten.
Sie brauchte Geld und belastete daher alle nicht besonders aufgezählten Waren
mit einem Eingangszoll von fünf vom Hundert des Wertes, aufgezählt aber
wurden nur wenig Artikel. In den Kriegen um die Wende des Jahrhunderts
wurden die Handelsflotten Frankreichs, Spaniens und Hollands nahezu ver¬
nichtet, und diese Länder sahen sich nun für ihre Versorgung mit überseeischen
Waren auf neutrale (nicht-englische) Flotten angewiesen, unter denen die der
Vereinigten Staaten sehr bald den ersten Rang einnahm. Der ungeheure Ge¬
winn, den unter diesen Umstünden die Frachtschiffahrt brachte, lenkte die nord¬
amerikanischen Kapitalien vorläufig noch von der Industrie ab. Aber die
folgenden großen Kriege und namentlich Napoleons Sperrmaßregeln vermin¬
derten die Einfuhr von Jndustrieerzeugnissen in Nordamerika in dem Grade,
daß sie dessen eigne Industrie rascher und stärker entwickelten, als es der höchste
Schutzzoll vermocht hätte. Damit wuchs denn auch die Zahl derer, die am
Jndustrieschutz interessirt waren, und diese erhoben ihn zum politischen Grund¬
satz, um zu erhalten und weiter zu fördern, was die Umstände geschaffen hatten.
Die nun beginnende Schutzzollperiode umfaßte den Zeitraum von 1816
bis 1846. Sie gipfelte in der UIII ok ^bon,irae>inen8 von 1828. Die über¬
triebnen Zollsätze dieses Tarifs mußten jedoch einer nach dem andern dein
Unwillen der Bevölkerung geopfert werden. Mit dem Präsidenten Pole kam
im Jahre 1844 die demokratische Partei ans Ruder. Die südstaatlichen Sklaven¬
halter, die in dieser Partei ihre Vertreter fanden, hatten als Exporteure von
Rohprodukten andre Interessen als die Großindustriellen und leiteten mit dem
Tarif des genannten Jahres eine vierzehnjährige „sogenannte" Freihandels¬
periode ein; die Zölle wurden herabgesetzt, waren jedoch auch so noch hoch
genug und brachten die Finanzverwaltung durch Überschüsse in Verlegenheit.
Aber kaum hatte man dieser durch eine weitere Herabsetzung der Zölle im Jahre
1857 abgeholfen, so trat eine Krisis ein, die ein Defizit zur Folge hatte
und die Vermehrung der Staatseinnahmen wünschenswert machte. Diese Ge¬
legenheit benutzte die neue „republikanische" Partei, die bei dieser Gelegenheit
zugleich das industrielle Pennshlvcmien sür ihre gegen den Süden gerichteten
Bestrebungen gewinnen konnte, an 1861 den Morrilltärif durchzubringen,
der besonders dem Eisen und der Wolle einen hohen Zollschutz gewährte.
Unmittelbar darauf brach der Sezessionskrieg aus. der noch in demselben Jahre
eine weitere Erhöhung der Zölle zur Vermehrung der Staatseinnahmen be¬
wirkte. Da diese nicht genügte, wurde 1862 eine Menge neuer Steuern ein¬
geführt, darunter Steuern auf alle Arten von Jndustrieerzeugnissen, und um
die Industriellen für die ihnen auferlegte Last zu entschädigen, mußten die
Eingangszölle abermals und zwar sehr bedeutend erhöht werden. So ging
auch diese zweite Schutzzollbewegung nicht aus Theorien und Grundsätzen
hervor, soudern wiederum zwangen äußere Umstände dazu, aber diesmal gingen
die im Drange der Not angenommnen schutzzöllnerischen Gewohnheiten dem
Volke in Fleisch und Blut über. So wenigstens stellen die Verfasser die
Sache dar. Sollte aber nicht doch am Ende kapitalistische Berechnung von
Anfang an mit im Spiele und die Zahl der Interessenten nur zu klein ge¬
wesen sein, sodaß sie ihre Absicht nicht hätten verwirklichen können, wenn
ihnen der Krieg nicht zu Hilfe gekommen wäre, und sollte dies nicht gerade
einer der Beweggründe zum Kriege gewesen sein?
Georg Hansen hat in seinein merkwürdigen Buche „Die drei Bevölkeruugs-
stufen" (vgl. Grenzboten von 1890. 2. Vierteljahr S. 331) folgende Ansicht
aufgestellt. Die Nordamerikaner würden noch lange Zeit ein Bauernvolk ge¬
blieben sein, wenn sich nicht die wenigen Städter der Regierung bemächtigt
und durch eine vom Standpunkte des Gemeinwohls aus kurzsichtige Gesetz¬
gebung eine großartige Industrie gewaltsam erzeugt hätten. „Das Interesse
des Landes erforderte, daß sich der Überschuß der ländlichen Bevölkerung so
gut wie die große Masse der Einwanderer auch ferner noch der Landwirtschaft
zuwandte. Im Interesse des Mittelstandes ^so nennt Hansen die wohlhabende
Stadtbevölkernngl dagegen lag es, durch künstliche Mittel einen Arbeiterstand
hervorzurufen, um sich mit Hilfe desselben durch Schaffung einer mächtigen
Industrie die Quelle zu neue-, Reichtümern zu eröffnen." Dieses Ziel sei
nun in der Weise erreicht worden, daß man einerseits durch Schutz- und Pro¬
hibitivzölle die Jndustriewaren verteuerte, hierdurch sich in den Stand setzte,
die Einwandrer durch hohe Löhne in die Fabriken zu locken, in den Städten
fest- und vom Landkauf abzuhalten, andrerseits durch großartige Landankünfe
und Laudverschleudcrung, wie die Schenkungen an die Eisenbahnkönige, den
Grund und Boden verteuerte und die Ansiedlung erschwerte. Daß dann,
nachdem das Land weggegeben und das arbeitende Volk auf die Fabriken an¬
gewiesen ist, die Arbeitslöhne fallen, versteht sich von selbst. Die Auffassung
Hansens ist umso wahrscheinlicher, als der Plan, der der innern Politik der
Vereinigten Staaten bewußt oder unbewußt zu Grunde liegt, schon zu der
Zeit, als Nordamerika noch englische Kolonie war, von dem Nationalökonomen
Wakefield, den Marx in seinem „Kapital" anführt, entwickelt worden ist.
Wakefield beklagt die „Kapitalzcrsplitteruug" in deu Kolonien als ein großes
Unglück. Man sinde dort keine andre Art Menschen als wohlgenährte, be¬
hübige Bauern, denen es gar nicht einfalle, ihre Selbständigkeit preiszugeben
und in die Fabrik zu gehen. Der Kapitalist sei dort wie verraten und ver¬
kauft. Einem Herrn, der Geld, Maschinen und Menschen mit nach Australien
genommen habe, um dort Fabriken anzulegen, seien gleich nach der Ankunft
sämtliche Leute fortgelaufen; nicht einmal ein Bursche zu seiner persönlichen
Bedienung sei ihm geblieben, sein Geld sei so gut wie nicht vorhanden ge¬
wesen. So könne es dort niemals zur „Kapitalbildung," zur Anhäufung von
Kapitalien kommen. Erst wenn sich viele durch Not zu billiger Lohnarbeit
gezwungen sehen, könne das Geld „Kapital" werden. Man müsse daher auf
das Kolonialland Beschlag legen, Grundstücke nur zu hohem Preise verkaufen,
gleichzeitig englische Proletarier in die Kolonien transportiren und dort einen
hungernden Arbeiterstand schaffen wie in England, dann werde die „beklagens¬
werte Zersplitterung des Kapitals" ein Ende haben. Sollten diese Gedanken
nicht fortgewirkt haben, wenn auch vielleicht halb unbewußt?
Der Tarif vou 1864 wirkte zwar zunächst sehr fördernd, aber bald er¬
folgte ein Rückschlag, da die Vorteile des Zvllschutzes die erhöhten Produktions¬
kosten: Steuern und höhere Arbeitslöhne, nicht aufwogen. Doch richtete sich
die Opposition natürlicherweise mehr gegen die hohen Steuern als gegen die
hohen Zölle, und das Fabrikanteninteresse war mächtig genng, einige Jahre
hindurch jede Tarifrefvrm zu verhindern. Die erste sogenannte Reform im
Jahre 1870 war nur Schein, denn nur die Zölle aus solche Waren, die keines
Schutzes bedurften, wie Thee und Kaffee, wurden herabgesetzt. Eine im Jahre
1872 beschloßne Herabsetzung der Zölle um zehn Prozent wurde bald darauf
aus finanziellen Gründen wieder rückgängig gemacht. Auch die Verhandlungen
von 1882 und 1333 endigten mit einem Siege der Prvtektivnisteu; und ihr
Ergebnis lief wieder auf eine Scheinreform zur Beschwichtigung der öffent¬
lichen Meinung hinaus. Im Jahre 1837 nahm Präsident Cleveland die
Tarifreform ins demokratische Programm ans und machte sie so zur Wahl¬
parole für die Präsidentschaftskampagne von 1888. Seitdem ist die Zoll¬
politik das Hauptunterscheidungszeichen der beiden großen politischen Parteien
geblieben: der Protektionismus steht und fällt mit der Nepublikanerpartei.
Da die längst mündig und mächtig gewordne nordamerilünische Industrie
unmöglich mehr als ein des Schutzes bedürftiges Kindlein dargestellt werden
konnte, so gingen die Republikaner zu einer andern Begründnngsweise über;
sie erklärten von nun an, der amerikanische Arbeiter müsse vor den niedrigen
Löhnen geschützt werden, an denen der europäische leide. Wenn dieses Argu¬
ment aufrichtig gemeint wäre, so würde es die amerikanischen Großindustriellen
von dem Verdachte des oben beschriebnen Wakefieldismus reinigen, aber wer
vermöchte wohl herauszubekommen, ob und wie weit eine politische Partei
aufrichtig ist? Die Republikaner gingen min frisch zum Angriff über und
forderten sogar Erhöhung der Schutzzölle; der Verlegenheit beständiger Über¬
schüsse könne zuerst durch Steuerermäßigung, sodann durch Herabsetzung der
Finanzzölle vorgebeugt werden. Der Senatsbill, die diesen Forderungen nach¬
kam, setzte zwar Roger Mills seine „finstre Laterneubill" entgegen, von
den Industriellen so genannt, weil sie nicht befragt worden waren —, allein
in der laufenden Session wurde keine der beiden Bills Gesetz, und mich dem
Siege der Republikaner bei der Präsideutschaftswahl gelang es den Schntz-
zöllnern, die wiedereingebrachte Senatsbill unter dem weltbekannten Namen
Mac Kinlehbill durchzudrücken; am 1. Oktober 1890 erlangte dieser berüchtigte
Tarif Gesetzeskraft. Seine Neuerungen können in fünf Klassen geschieden
werden. 1. Herabsetzung der Zölle auf Zucker und einige Waren zur
Verminderung des Überschusses. 2. Erhöhung der Zolle auf Wolle, Woll-
wareu, Baumwollenwaren, Glas- und Töpferwaren u. f. w. zum Schutze
der betreffenden Industrien. 3. Herabsetzung der Zölle in solchen In¬
dustrien, die, wie die Eisen- und Stahlindustrie, keine Konkurrenz mehr zu
fürchten haben. 4. Zollerhöhungen zu dem Zweck, neue Industrie» ins Leben
zu rufen; dahin gehört z. B. der Zoll auf Zinngeschirr. 5. Zollerhöhungen
aus politischen Rücksichten; damit sind die Zölle auf die landwirtschaftlichen
Erzeugnisse und auf Tabak gemeint. Die Farmer der nördlichen Staaten
stimmen zwar, wie die Bevölkerung des Nordens im allgemeinen, meist re¬
publikanisch, aber sie fangen doch schon an, über die Verteuerung aller
Gebrauchsgegenstände, die sie kaufen müssen, zu klagen und behaupten, daß
die Gesetzgebungsmaschine im einseitigen Interesse der Großindustriellen und
sonstigen Kapitalisten arbeite. Zu ihrer Beschwichtigung wurden in den Tarif
auch agrarische Zölle aufgenommen, die selbstverständlich in einem getreide¬
ausführenden Lande wenig zu bedeuten haben. Nur die Farmer an der Grenze,
denen die kanadischen Gutsbesitzer Konkurrenz machen, haben einen kleinen
Vorteil davon. Und um sich die schwankenden Wähler von Connecticut zu
sichern, hat man den dortigen Tabakbaueru einen Zoll bewilligt, der den
amerikanischen Raucher zwingt, Cigarren mit dem schlechten Connectieutdeckblatt
zu rauchen, während er früher Cigarren mit Sumatradeckblatt bekam.
Die Verfasser schließen ihre geschichtliche Übersicht der Entwicklung der
nordamerikanischen Zollpolitik mit der Bemerkung: „Der Tarif ist ein Werk
der herrschenden Republikancrpartei, die fester als je an den Schutzzoll glaubt.
Mit Stolz weist sie auf das fabelhafte Wachstum der amerikanischen Industrie
hin und behauptet, nur bei fortdauernden Zollschutz könne der hohe Ztg-ni-M
ok lito des amerikanischen Arbeiters aufrecht erhalten werden und könne die
amerikanische Nation ihre offenbare Bestimmung erfüllen. Eine Änderung
wird, wenn überhaupt, nnr sehr allmählich und stückweise vor sich gehen."
Ein zweiter Teil stellt die „allgemeine Handelspolitik der Bereinigten
Staaten" dar, ihr Verhalten in Beziehung auf Handelsverträge (die Union
ist solchen grundsätzlich abgeneigt), auf Zollverwaltung, Einwanderung, Ab¬
zahlung der Staatsschulden u. s. w. Über die Silberfrage wird gesagt, die
Träger der Bewegung für freie Silberprüguug seien einerseits die Silberminen¬
besitzer und andrerseits die stark verschuldeten Farmer der West- und Süd-
staaten, die (wie unsre deutschen Agrarier) ihre Grundschulden gern in Silber
abzahlen, d. h, ihre Gläubiger um einen Teil der Forderung bringen möchten.
Die freie Silberauspräguug würde das Gold aus der Union vertreiben und
die in Europa untergebrachten amerikanischen Effekten entwerten.
Aus der angefügten Statistik ersieht man, daß die Union im Jahre 1889
für 810497K03 Dollars Waren ausgeführt hat, nämlich für 591607102
Dollars Bodenerzeuguisse, für 138675507 Dollars Jndustrieerzeuguisse und
80214994 Dollars einheimisches Gold und Silber. Sie ist also, zum Glück
für ihre Bewohner, trotz aller zur künstlichen Züchtung der Industrie gemachten
fieberhaften Anstrengungen, bis zum heutigen Tage el» Ackerbaustaat geblieben;
der Wert der ausgeführten landwirtschaftlichen Erzeugnisse betrug 532141490
Dollars, die übrigen Bodenprodukte verteilen sich auf Bergbau, Waldwirtschaft
und Fischerei. Eingeführt wurden in den zwölf Monaten des Jahres vom
30. Juni 1839 bis zum 30. Juni 1390 für 789310409 Dollars Waren.
Die Handelsbilanz würde also passiv sein, wenn die Vereinigten Staaten ihr
Gold und Silber im Auslande kaufen müßten. Die Hauptmasse der Einfuhr
bilden in erster Linie Kaffee, Zucker, Thee und ähnliche Genußmittel, sodann
Rohstoffe für die Industrie und endlich halbfertige und fertige Jndustrie-
erzeugnisfe. (Die Einfuhr der letzten Klasse dürfte sich seitdem unter der Ein¬
wirkung des Mac Kinley-Tarifs vermindert haben.) Die Verfasser bemerken,
kein Mensch vermöge zu sagen, wie sich die Einfuhr bei völliger Zollfreiheit
gestaltet haben würde. Zweifelhaft sei auch, ob die Fabrikanten durch deu
Zollschutz mehr gewonnen, als sie durch die Verteuerung der ebenfalls hoch
zu verzollendem Rohmaterialien verlieren, nicht zu reden vom Konsumenten,
der schließlich beide Arten von Zoll trage.
Ein letztes Kapitel ist dein internationalen amerikanischen Kongreß ge¬
widmet, der auf Betreiben des Staatssekretärs Blaine in den Tagen vom
20. Oktober 1889 ab in Washington verhandelt hat. Dieser Kongreß sollte
eine Zollunion sämtlicher amerikanischen Staaten, sowie ein allen gemeinsames
Münz-, Maß- und Gewichtsshstem und Patent- und Markenschutzrecht zustande
bringen. Er verlief aber, wie vorauszusehn war, schon deshalb ergebnislos,
weil sich der Protektionismus der Vereinigten Staaten und die Unions¬
bestrebungen zu einander wie Feuer und Wasser verhalten. Vorläufig also
sorgen die Amerikaner selbst dafür, daß die Losung „Amerika sür die Ameri¬
kaner" nicht auch uoch durch ein Bündnis aller amerikanischen Staaten ihrer
Verwirklichung näher geführt werde. Möchten sich das die europäischen Re¬
gierungen zu nutze machen! Möchten sie es versteh», zwischen den Norden
und den Süden des schönen Weltteils einen Keil zu treiben und wenigstens
für deu Süden die Losung durchsetzen: Amerika für die Europäer! Aus Europa
hat Amerika alle Kulturgüter empfangen, deren es sich erfrent, darum haben
wir Europäer Anspruch auf den Mitgenuß seiner Naturschütze. Wird Europa
geduldig und unthätig zusehn, wie einige wenige von seinen Kindern, und nicht
die besten, zum Teil wilde Abenteurer und Spitzbuben, den neuen Erdteil mit
ihrer Naubwirtschaft ausbeuten, seine Wälder verwüsten, seine Ströme ver¬
sanden lassen, seine Viehherden vernichten und dann, wenn es dort für seine
überschüssigen Arbcitserzeugnisse Absatz und für seiue überzähligen Kinder Boden
begehrt, es sich gefallen lassen, daß ihm die Thür vor der Nase zugeschlagen
wird?
Wir wenden uns nun zu Italien. „Zweimal während der letzten Jahr¬
hunderte, sagt Werner Sombart in der einleitenden Vorgeschichte der neuern
Handelspolitik Italiens, hat dieses Land, auch darin den deutschen Landen
ähnelnd, geduldig anschauen müssen, wie große Umwandlungen im wirtschaft¬
lichen Leben, technische und ökonomische Errungenschaften, deren Ausbeutung
ihm vor allem auch gebührt hätte, von andern mächtigern Nationen allein zu
ihrem Vorteile ausgenutzt wurden, weil diese ein gnädigeres Geschick befähigt
hatte, durch nationale Einigung gewonnene politische Macht in die Wagschnle
zu werfen, dieweil die italienischen Stämme, vom Ehrgeiz der Fremden auf¬
gereizt, in fruchtlosen Fehden ihre beste Kraft vergeuden sollten." Diesem
Satze scheinen zwei falsche Vorstellungen zu Grunde zu liegen. Mit der einen,
daß die Vorsehung gegen die Engländer gnädiger gewesen sei als gegen die
Italiener, wollen wir uns später beschäftigen. Die andre besteht darin, daß
ein Zustand als möglich vorausgesetzt wird, wo alle Nationen Europas gleich
stark, gleich klug, gleich mächtig und in demselben Grade reich wären, und
zwar reich nicht durch die Ausbeutung des eignen Landes, sondern fremder
Länder. Diese Voraussetzung ist offenbar falsch. Wären Frankreich und
Spanien so klug und seetüchtig wie England, Deutschland und Italien so geeint
und nach außen mächtig wie England, alle vier Länder so industriell wie
England gewesen, dann hätte nicht nnr England nicht werden können, was es
geworden ist, sondern die fünf Nationen würden sich in einem mit materiellen
Waffen geführten wütenden Konkurrenzkampfe verblutet haben.
In Deutschland, heißt es weiter, „war es doch Preußen, das mit einem
leidlichen Besitze den Mindestanforderungen des modernen Verkehrs genügen
konnte. Italien dagegen war ganz und gar in Stücke aufgelöst; bei der eigen¬
tümlichen Struktur des Landes reichten die sieben selbständigen, auer geschich¬
teten Staaten durchaus hin, um jede Regung eines national-italienischen Wirt¬
schaftslebens zu unterbinden." Da hier das „nationale Wirtschaftsleben" als
ein unbedingt erstrebenswertes Gut erscheint, so wollen wir doch nicht ganz
unterlassen, auf seine Schattenseite hinzuweisen. Diese besteht darin, daß in
Deutschland z. B. eine sogenannte blühende Industrie, die eine winzige Anzahl
von Unternehmern bereichert, wie die Zuckerfabrikation, die ländliche Arbeiter-
bevölkerung von einem ganzen Drittel des deutschen Reichs mvbilisiren und
von der heimischen Scholle wegreißen kann, daß ein und derselbe Börsen-
Schwindler alle Schafe eines großen Reichs scheren kann, daß jeder Privat¬
mensch in jedem verborgnen Winkel von den Stößen unmittelbar getroffen
wird, die der Weltverkehr von den großen Weltveränderungen erleidet. Damit
wollen wir natürlich den Zustand Italiens vor 1859 weder gelobt noch
empfohlen haben, wo, wie Sombart anführt, die .Kaufmannswaren zwischen
Florenz und Mailand acht, zwischen Bologna und Lucca sieben Zollstätten zu
Vassiren hatten. Die Wegräumung aller Verkehrshindernisse im Jnnern des
Landes wird ohne Zweifel von allen Italienern, die den alten Zustand noch
gekannt haben, als eine große Wohlthat empfunden. Was das Verhältnis
zum Auslande anlangt, so hat Cavvnr seine piemvntesische Politik auch in
dieser Beziehung auf das geeinte Italien übertragen; sein Programm: ge¬
mäßigter Freihandel und Anschluß an Frankreich, ist die Grundlage der italie¬
nische« Handelspolitik bis aus Ende der siebziger Jahre geblieben; der Handels¬
vertrag mit Frankreich wurde am 17. Januar 1863 abgeschlossen. Svmbnrt
glaubt nicht, daß diese Politik dem Lande zum Heile gewesen sei. Die Beweg¬
gründe zu ihrer Annahme seien nicht den Bedürfnissen der italienischen Volks¬
wirtschaft entsprungen, sondern von außen geholt worden: aus der Politik und
aus dem doktrinären Liberalismus; was dem piemontesischen Staate nützlich
gewesen war, mußte, meint Sombart, darum uoch uicht für das Königreich
Italien tätigen. Ebenso wenig ging dann später die Abkehr vom Freihandel
aus der Natur der Sache hervor; die schlechten Finanzen waren es, die zur
Schwenkung zwangen. Der Staat brauchte Geld, und die ausländischen Waren,
mit denen seit der Wcgrüumung der Zollschranken das Land überschwemmt
wurde, und an die sich die Bevölkerung gewöhnt hatte, boten sich als viel ver¬
sprechende Einnahmequelle dar. Im Jahre 1875 ward der Handelsvertrag
mit Frankreich gekündigt und 1878 ein neuer, vorzugsweise für die Bedürf¬
nisse des Fiskus zugeschnittner Tarif eingeführt. Der nun beginnende Tarif¬
krieg mit Frankreich führte uoch einmal zu einem kurzen Frieden, der durch
den Handelsvertrag von 1881 abgeschlossen wurde. Mittlerweile aber war
neben dem fiskalischen Interesse auch das volkswirtschaftliche wach geworden,
und die schnell erstarkte schutzzöllnerische Strömung fand in dem Gesetz vom
6. Jltli 1883 ihren Ausdruck, das eine Untersuchung der Lage der Landwirt¬
schaft und der Gewerbe anordnete und die Regierung verpflichtete, spätestens
am 1. Januar 1887 einen neuen Tcirifentwurf vorzulegen. Die Gutachten
der beide» Enquetekommissiouen täuschten die auf sie gesetzten Erwartungen.
Die agrarische sprach sich mit dürren Worten gegen den Zvllschutz aus; daß
unter den Gründen der Ablehnung die Volksernährung keine Rolle spielte,
finden wir ganz natürlich, da ja die moderne Politik nur Finanzen, Land¬
wirtschaft, Industrie und andre Abstrakt« kennt, nicht aber das Volk und die
lebendigen Menschen, aus denen es besteht. Die Judustrietommissivu gestand
zwar die Zulässigkeit des Zollschutzes grundsätzlich zu, riet aber zur größten
Vorsicht bei Beantwortung der Frage, in welchem Maße das bedenkliche Heil¬
mittel dem volkswirtschaftlichen Körper zugeführt werden solle. Die Kammer¬
mehrheit kümmerte sich nicht um diese Abmahnungen und Warnungen und
machte bis zum 14. Juli 1887 einen schutzzöllnerischen Tarif fertig, der am
1. Januar 1888 in Kraft trat und den Handelsverträgen, die Italien in dieser
Zeit mit Österreich und der Schweiz abschloß, zu Grunde gelegt wurde. Mit
Frankreich wurde kein neuer Vertrag geschlossen; vielmehr schlug das innige
Freundschaftsbündnis, das beinahe zwei Jahrzehnte hindurch beide Staaten
fast zu einem einheitlichen Wirtschaftsgebiete verschmolzen hatte, in erbitterte
Feindschaft um, da ja gleichzeitig auch in Frankreich der schutzzöllnerische
Paroxhsmus seinen Höhepunkt erreichte und zu unfreundlichen Maßregeln gegen
Italien verleitete. Welche Rolle dabei außerdem der politische Stellungs¬
wechsel Italiens gespielt hat, ist hinlänglich bekannt. Italien, bemerkt Som-
bart, „ist in dem ungleichen Kampfe wenn nicht unterlegen, so ^doch^ auf das
äußerste geschwächt ^worden^. Es hat wohl ausdrücken wollen, daß seine
Kräfte erschöpft seien, als es einseitig, ohne ein gleiches von Frankreich zu er¬
langen, durch Gesetz vom 25. Dezember 1889, also nach mehr denn andert¬
halbjährigem Kampfe, die Retorsionszölle gegen Frankreich aufhob, hoffend,
damit den grausamen Nachbar zur Nachgiebigkeit gleichfalls zu bewegen. Zur
Zeit ist der Geueralzolltarif gegen Frankreich in Geltung; dadurch sind die¬
jenigen Nationen, welche mit Italien nur Meistbegüustigungsverträge ab¬
geschlossen haben, also namentlich England und Deutschland, wesentlich auf
die Vergünstigungen angewiesen, die seitens (!) Italien Österreich und der Schweiz
gewährt worden sind." Diesem Zustande haben, was Deutschland anbetrifft,
die Handelsverträge dieses Jahres ein Ende gemacht.
(Schluß folgt)
as Wörterbuch der französischen Akademie giebt zu dem Worte
ävizaels folgende Erklärung: rupwro, oräinairöniönt sndiw,
alö 1a cM vouvrait uns rivivro, se «mi Sö x^rlao^ küors
on A'IiU)vus aoud 1a clssvöntö sse plus on woins rapicls. Il Sö
alle, ÜZ'urvMMt küniiliin'virent, as tour oliiiuMMönt tru8W6
et ing-ttonäu cM nnwiw du äösorclrs, av l-i Kontusion. Der Titel heißt also
auf deutsch: Der Eisgang, und man muß gestehen, daß dieses Bild für einen
französischen Roman, der den Krieg von 1870 und 1871 behandelt, außer-
ordentlich treffend gewählt ist. Denn für Zola bedeutet der deutsch-französische
Krieg die Katastrophe in einem großen Sittendrama, die allgemeine Auflösung
nach einer durch die unerwarteten und unfaßbarer Schläge hervorgerufnen
Erstarrung, deu gewaltsamen Zusammenbruch aller festen, geordneten Zustünde
in Frankreich. Die entfesselten Ströme schrankenloser Leidenschaften stürzen
sofort nach den ersten unglücklichen Ereignissen in rasendem Wirbel über das
Land, durchbrechen die Dämme und zertrümmern die Werke jahrelanger fried¬
licher Arbeit, aber auch eine ganze Welt des Flitterscheins mit einem Schlage:
1<z 8<ze0na Empire sinportv c!g>n8 ig, et«zks,c,in; as 868 vioss se Z«z 868 tMts3.
Die beste und kräftigste Übersetzung des Titels ist daher nicht der Zusammen¬
bruch, wie man zu glauben scheint, sondern etwa die Sturmflut; will mau
aber das Familiäre, Volkstümliche, das in dem französischen Ausdruck liegt,
im Deutschen annähernd wiedergeben, so müßte der Titel heißen: Der
große Krach.
Zola ist in der Wahl seiner Büchertitel nicht immer glücklich gewesen;
erst in seinen letzten Romanen scheint er sich den Gedanken des von ihm viel¬
gelesenen Schopenhauer angeeignet zu haben, daß der Titel ein Monogramm
des Inhalts sein müsse. Es ist für Schriftsteller eine sehr lehrreiche Er¬
scheinung, daß Zvlas Romane mit längerem, nichtssagenden Titel, selbst wenn
sie zu seinen bessern Arbeiten gehören, eine kleinere Zahl von Auflagen aus¬
zuweisen haben als die weniger guten mit einem kurzen, knappen, auffallenden
Titel. I/^.88vinirwii', Hgng,, ^riving-l, I^g 'Isrrg, I^s Ro?6, I/^r^vnd, haben
alle bis jetzt einen Absatz von mehr als 75000 Exemplaren zu verzeichnen,
bei Hang, geht er sogar über die 150000! Das sind Erfolge, deren sich bis
jetzt noch kein Schriftsteller bei Lebzeiten zu erfreuen gehabt hat. Die Gründe
für die unerhörte Verbreitung aller Zolaschen Romane aber liegen weniger
in Zolas schriftstellerischen Vorzügen, als vielmehr in dem durch die Halb¬
bildung überall künstlich erweckten Lesebedürfnis, das durch kein ästhetisches
Urteil und litterarisches Verständnis in Schranken gehalten wird. Zugleich
liegt in diesem unglaublichen Absatz der französischen Romane eine kultur¬
geschichtlich bemerkenswerte Thatsache; nämlich die, daß der Einfluß der fran¬
zösischen Sprache und Litteratur auf das geistige und sittliche Leben der ge¬
bildeten Völker wieder im Wachsen ist. Ganz besonders gilt das für Deutsch¬
land, denn kein Absatzgebiet ist dem französischen Verleger so wichtig und so
sicher wie das deutsche. Zolas Romane sind bei uns selbst in den Leih¬
bibliotheken der kleinen Landstädte zu finde». Man wird aber von dem
großen Absatz französischer Romane in Deutschland nicht behaupten können,
daß er durch das Interesse an der französischen Sprache geschaffen worden
sei, denn was den Durchschnittsleser an Zola fesselt, das ist doch lediglich
seine beispiellose Gewandtheit, aufreizende geschlechtliche Vorgänge in immer
neuen und überraschenden Verwicklungen darzustellen.
Wer nun mit solchen Lüstlingshofsnungen seinen neuen Roman Ilg. vö-
dilvlo in die Hand nimmt, wird bald enttäuscht sein. Denn Zoln hat hier
nicht die geringsten Zugeständnisse an den verdorbnen Geschmack seiner litte¬
rarischen Gemeinde gemacht, selbst da nicht, wo alle Voraussetzungen zu den
bekannten Orgien vorhanden zu sein schienen. Die paar Szenen, wo die leicht¬
fertige, sinnliche Madame Gilberte Delaherche in Sedan Freund und Feind
ihre Gunst schenkt, sind so leicht, fast romantisch gezeichnet, daß der Leser
kaum merkt, Zola habe in diesem sittlich zerfreßnen Franeucharakter das weib¬
liche Geschlecht des zweiten Kaiserreichs geißeln wollen. Der ernste, düstre
Hintergrund des ganzen Romans, die Zertrümmerung eines scheinbar fest¬
gefugten Staatsbaues, die furchtbare Demütigung Frankreichs scheinen ihn so
mächtig ergriffen und seine Phantasie so gewaltsam von den alten Motiven
geschlechtlicher Aufregung abgezogen zu haben, daß er in I^g, volmols jeder
Schilderung dieser Art fast ängstlich aus dem Wege geht. Der kricgsgeschicht-
liche Stoff dringt mit überwältigender Macht und Fülle auf ihn ein, und so
behält er kaum Platz genug, den Charakter seiner beiden Helden Jean Macquart
und Maurice Levasseur klar und widerspruchslos zu entwickeln und unsre
Teilnahme an dem Schicksal dieser Menschen bis zum Schluß wach zu halten.
Zola hat nie einen Krieg mitgemacht, ist nie Soldat gewesen und stand
mit seinen frühern Studien und Arbeiten der Kriegsgeschichte ganz fern. So
ist er denn an den Stoff des vorliegenden Romans mit derselben kecken
Unbefangenheit getreten, die wir schon früher bei der Besprechung seines Ro¬
mans 1^ ?6rrs an ihm haben kennen lernen. Er hat sich in seinen kritischen
Schriften einmal über seine Arbeitsweise ausgesprochen, und die müssen wir
kennen, um zu verstehen, wie es ihm auch hier gelungen ist, trotz seiner
mangelhaften Bildung in militärischen Dingen einen lesbaren Roman fertig
zu bringen. „Einer unsrer Romanschriftsteller — sagt er — will z. V. einen
Roman über die Theaterwelt schreiben. Von dieser allgemeinen Idee geht
er aus, ohne eine bestimmte Thatsache oder eine Persönlichkeit vor Augen zu
haben. Dann ist es seine erste Sorge, über alles, was er von der zu beschrei¬
benden Welt erfahren kann, Notizen zu sammeln. Er hat diesen oder jenen
Schauspieler kennen lernen und ist bei dieser oder jener Aufführung zugegen
gewesen. Das sind schon »Dokumente,« und zwar die besten, wenn sie all¬
mählich in ihm reif werden. Dann beginnt er den eigentlichen Feldzug; er
unterhält sich mit Personen, die am besten über den Stoffe Bescheid wissen,
er stellt die Schlagwörter zusammen, die Geschichten, die Porträts. Aber
das ist noch nicht alles: er geht auch zu den geschriebn«.'« Dokumenten und
liest alles, was ihm irgendwie von Nutzen sein könnte. Endlich besucht er
die Orte, lebt einige Tage in einem Theater, um die entlegensten Winkel
kennen zu lernen, verbringt seine Abende in der Loge einer Schauspielerin
und umgiebt sich so viel wie möglich mit der ganzen charakteristischen Luft.
Sind diese Dokumente erst vollständig da, so macht sich sein Roman ganz von
selbst. Der Schriftsteller hat die Thatsachen nur logisch zu ordnen. Aus
dem gesammelten Stoff entwickelt sich allmählich die ganze Handlung, die
Fabel, die notwendig ist, um die einzelnen Kapitel des Romans aufzubauen.
Das Interesse liegt nicht mehr in der Seltsamkeit und Fremdartigkeit der Fabel;
im Gegenteil, je alltäglicher und allgemeiner sie ist, desto mehr wird sie
typisch. Wirkliche Menschen in einer wirklichen Umgebung (uülieu) in Be¬
wegung setzen, dem Leser ein herausgetrenntes Stück des menschlichen Lebens
geben, das ist das Wesen des naturalistischen Romans."
Man merkt es dem neuesten Roman Zolas sehr bald an, daß er nach
diesem Rezept gearbeitet worden ist; der Notizenkram guckt aus jeder Seite
heraus. Vor allem hat Zola seine Urkunden bei gemeinen Soldaten gesam¬
melt, die den Krieg mitgemacht haben. Das sind aber nur wenig zuverlässige
Quellen, denn der im Feuer stehende Füsilier hat von der Entwicklung einer
Schlacht nicht die geringste Ahnung. Aber was Zola 1'air g-mbiaut nennt,
das läßt sich allerdings aus dem Verkehr mit dem Soldaten gewinnen: die
militärischen Bezeichnungen, die Kommandos, die Schlagwörter, die Redens¬
arten, die Flüche, die großen und kleinen Dienstverrichtungen, das Biwakleben,
die Sorgen, Strapazen und Bedürfnisse. Daher kommt es auch, daß in diesem
Roman das Essen und das Hungern eine so große Rolle spielen, denn wo die
Leute einmal tüchtig gehungert haben, das vergessen sie Zeitlebens nicht.
Hatte Zola in den frühern Romanen den Geschlechtstrieb gleichsam als Leit¬
motiv für seine Geschichten benutzt, so nimmt er hier den Hunger dazu. Die
französischen Soldaten hungern in dem Roman fortwährend. Bald werden sie
durch deu unerwartet eiligen Ausbruch des Lagers am Abkochen gehindert,
bald sind die Proviantwngen abhanden gekommen, bald haben die Leute, um
sich den Marsch zu erleichtern, ihren Mundvorrat weggeworfen und finden
dann in den Quartieren nichts oder können von den geizigen Bauern nichts
erlangen. So hat Zola zu den Umständen, die eine fortwährende Niederlage
bei seinen Landsleuten herbeiführten, sehr geschickt einen neuen aufgedeckt, der
in der Verpflegung und in dem Verhalten der französischen Truppen selbst lag,
und mit dem er doch die Eitelkeit der Franzosen nicht verletzt, denn eine
hungernde Truppe, das ist doch klar, ist schon halb geschlagen.
Sein ganzer Kriegsroman ist die Geschichte einer Kvrporalschaft, und zwar
der Korporalschaft, die der Reserveunterofsizier Jean Macanart während des
Krieges unter seiner Führung hat. Die Soldaten dieser Zeltgenvsfenschaft
sollen gleichsam die Typen des ganzen französischen Heeres bilden. Ihre
geistigen und moralischen Eigenschaften, ihre Ideen und Gesinnungen sollen
das Wesen und den Charakter wiederspiegeln, die in den Truppen des zweiten
Kaiserreichs herrschten. Den Korporal Jean Macquart kennen wir schon aus
1^ Isriö. Gleich im Anfange dieses Vauernrvmans haben wir ihn in jener
seltsamen Hofszcne zwischen einer Kuh und einem Bullen gesehn, die unsern
naturalistischen Malern den Stoff für ein prächtiges Seitenstück zu Potters
bekanntem Gemälde vaoliö cM pisss bieten könnte. Nun hat der junge
Bauer seine Frau verloren, seine Familienverhältnisse sind unerquicklich, seine
Landwirtschaft ist heruntergekommen. Und so begrüßt er denn den Ausbruch
des Krieges wie eine Befreiung aus unerträglichen Zuständen. Er tritt in
sein altes Infanterieregiment, worin er den italienischen Feldzug mitgemacht
hat, und erhält, obgleich er kaum lesen und schreiben kann, sofort eine Kor¬
poralschaft.
Seine Untergebnen sind nach Bildung und Charakter so verschieden wie
möglich. Der Füsilier Chouteau, ein Pariser Stubenmaler, ist gleichsam der
zersetzende Geist in der kleinen Abteilung. Er ist Revolutionär vom reinsten
Wasser, verdreht durch seine hochklingenden Phrasen und Schlagwörter den
Kameraden den Kops und untergräbt die ganze Disziplin. Er ist der echte
großmäulige Franzose, ohne Achtung vor Autorität, ein eingebildeter, rücksichts¬
loser und dabei feiger Bursche. Das Gegenteil von diesem Pariser dig-gusur
ist der Bauer Pciche aus der Picardie, ein einfältiger, bescheidner und frommer
Mensch, der im Lager jeden Tag sein Morgen- und Abendgebet spricht und
an keinem Kreuze vorbeigeht, ohne sein Sprüchlein zu murmeln. Er erträgt
die Mühseligkeiten des Feldzugs ohne zu murren, wie ein Märtyrer; er ist in
den Krieg gezogen nicht aus Begeisterung für seinen Kaiser oder für sein Vater¬
land, sondern weil es die Gendarmen in seinem Dorfe so haben wollten. II
seine 1s LorM's-ckoulLur 6s 1'csoormäö. Neben ihm steht der rohe Bauernknecht
Lcipoulle, ein fauler, beschränkter und gefräßiger Mensch, der fern von aller
Kultur in den Sümpfen der Svlogne aufgewachsen ist, und der von der Ge¬
schichte seines Landes so wenig weiß, daß er bei seiner Ankunft im Regiment
fragt, ob er den Lvi sehn könnte. Die Kameraden machen den vierschrötiger
Kerl zum Packesel der Korpvralschaft; sie bürden ihm alles auf und reden ihm
ein, daß es eine Ehre sei, die Gebrauchsgegenstände der Abteilung, den Kessel,
den Spaten u. s. w. zu tragen. Der lustige Schwerenöter in der Gruppe ist
der Pariser Koch Loubet; mit seinen Canennliedern ergötzt er die Kameraden,
und durch faule Witze sucht er ihre Niedergeschlagenheit wieder zu heben. End¬
lich gehört zu dieser geistig ziemlich tief stehenden Gesellschaft noch der Kamerad
Maurice Levasfeur. Er ist Advokat in Paris, hat sein Leben uach deu Ge¬
wohnheiten der ^uiuzsso clorvö genossen und ist durch einen gewissen Ekel an
der Menschheit und besonders an den Weibern zum freiwilligen Eintritt ins
Heer getrieben worden. Das leicht erregbare Blut, die Erinnerung an die
französische ssloirs, das betäubende Geschrei einer siegestrunknen Menge auf den
Boulevards, die einen militärischen Spaziergang nach Berlin zu unternehmen
meinte, waren dazu gekommen, in ihm die Begeisterung für den Krieg wach¬
zurufen. Die Abkühlung war bald genng eingetreten. Die müssige Luft in
der Kaserne, die rohen, ihm widerwärtigen Kameraden, sein Vorgesetzter, der
ungebildete Bauernknecht Jean Macquart, die Entbehrungen und Strapazen
auf den Märschen passen dem verwöhnten und verweichlichten Lebemanne nicht.
Und so trügt er sein selbstgewähltes Schicksal düster und schweigsam.
Von den französischen Offizieren werden uns zwei Typen vorgeführt. In
Leutnant Rochas finden wir den altgedienter Kommißoffizier, 1'oKoisr as kor-
tnns, der sich durch bloßes Drciufgehn vom Gemeinen zu seinem Range empor¬
geschwungen hat. In Algier, bei Sebastopvl und bei Solferino hat er sieg¬
reich gefochten, überall sind die Feinde geschlagen worden, und so zweifelt er
keinen Augenblick, daß eines die Deutschen Prügel bekommen werden. Mit
einem Fußtritt will er sie heimschicken. Zola nennt ihn den Don Quichote
der alten französischen s'lon'6, 1o trouvisr ani g, eomznis 1<z morals kntrv 8-t
blzlls se uno dcmtcütlö as von vin.... ^.oso lui LnisWit, uno löMncle. Einen
Gegensatz dazu bildet der feinerzogne Hauptmann Beaudvin, der Stutzer von
Saint-Chr, der als Offizier von der Kriegsschule gekommen ist, sich aber das
Vertrauen und die Neigung seiner Leute uicht zu erwerben versteht; sie nennen
ihn un pöw-hoc. Um so mehr Glück hat er aber bei den Frauen. Als Bei¬
spiel eines völlig unfähigen Truppenführers stellt Zola den Brigadegeneral
Bourgain-Desfeuilles hin. Seine krähende Stimme ist überall zu hören, be¬
sonders dann, wenn dieser Lebemann seine Bequemlichkeiten vermißt, nicht gut
und im Überfluß zu essen hat und sich in der Gegend nicht zurechtfinden kaun,
weil er keine einzige Karte von Frankreich, sondern nur die von Deutsch¬
land besitzt.
Den würdigen Abschluß dieser militärischen Charakterzeichnungen bildet
der Kaiser Napoleon selbst. Er ist kein richtiger Soldat, er ist ein Träumer,
dem es im entscheidenden Augenblick an der nötigen Willenskraft fehlt; er steht
schweigend, machtlos, wie gelähmt da vor all den unerwarteten Schlägen. Er
ist überdies ein kranker Manu, der in den Krieg zieht, ohne eine Ahnung von
seinen Strapazen zu haben; er kann nicht essen, nicht trinken (wieder das
Magenmotiv!): um Aravivr clans ig, clair et'un noinnnz se los einpirsL s'eorou-
tönt. Die Soldaten schimpfen auf ihn und nennen ihn Badinguet — so hieß
der Maurer, in dessen Kleidung Napoleon als Prinz aus der Festung ge¬
flohen war. Und wenn vor den Truppen der Weg versperrt ist, und der
Marsch stockt, so rufen sie sich zu: O'ost <ZL eoollcm ä'ompörsur azul est ig,-
das, su travsrs as ig. rorcks, avoe ses »gAg^es, xour von» Motor. Und dann
fahren sie fort: dieser erbärmliche Kaiser, dieser arme Teufel, der in seinem
großen Reiche keinen Platz mehr hat, wird zwischen den Gepäckwagen der Armee
wie ein unnützer Ballast mitgeschleppt. Welch ein Hohn! Hinter ihm zieht die
ganze Pracht seines kaiserlichen Hauses, seine Leibwache, seine Staatswagen, seine
Pferde, seine Koche, die Prvviantwngen mit den herrlichen Silbergerüten und den
unzähligen Weinflaschen kreuz und quer auf den Heerstraßen der Niederlage.
Eine eingehende Charakteristik der deutschen Soldaten und Offiziere hat
Zola nicht versucht. Seine „Dokumente" mögen ihn wohl dabei im Stich ge¬
lassen haben, obwohl er anscheinend die Übersetzungen deutscher Werke über
den Krieg, vor allem das Buch vou Busch: „Bismarck und seine Leute," studirt
hat. Die Deutschen erscheinen gewöhnlich in weiter Entfernung und sind dann
so groß „wie Bleisoldaten." Führt er sie dem Leser näher vor Augen, wie
die Baiern in den Häuserkämpfen vou Bazeilles, so sind es natürlich gemeine,
rohe, ungeschlachte Menschen, die weder Weib noch Kind schonen, den Wehr¬
losen niederstoßen und zur besondern Erquickung Seife fressen. Auch den König
Wilhelm und seinen Generalstab zeigt er uns in großer Entfernung, von dem
Dache eines Hauses in Sedan, während die Schlacht tobt, und das französische
Heer allmählich' von allen Seiten umzingelt wird. Alle erscheinen auf der
Höhe de la Marfve so klein wie Kinderspielzeug, so hoch wie die Hälfte eines
kleinen Fingers: „Der König von Preußen stand in seiner dunkeln Uniform
immer aufrecht da vor den andern Offizieren, die sich zum Teil ans dem
Rasen gelagert hatten, und deren Goldstickereien eigentümlich funkelten. Da
Waren fremde Offiziere, Adjutanten, Generäle, Hofmarschälle, Prinzen, alle
mit Ferngläsern versehen; vom frühen Morgen an verfolgten sie den Todes¬
kampf des französischen Heeres, wie bei einem Schauspiel. Und das furcht¬
bare Drama sollte bald zu Ende sein. König Wilhelm hatte soeben die
Vereinigung seiner Truppen erfahren. Die Lage war folgende: die dritte
Armee unter dem Befehl seines Sohnes, des Kronprinzen von Preußen, die
über Saint-Mengcs und Fleigneux vorgerückt war, besetzte die Hochfläche bei
Jlly, während die vierte Armee, die der Kronprinz von Sachsen befehligte,
über Dciignh und Givonne vordrang und den Wald von Garenne seitwärts
liegen ließ. Das elfte und das fünfte Korps reichten so dem zwölften und
der Garde die Hand. Die gewaltige Anstrengung, den Kreis zu durchbrechen
w dem Augenblick, wo er sich schloß, der ruhmvolle, aber nutzlose Angriff der
Division Margueritte hatte dein Könige von Preußen einen Ausruf der Be-
wundrung entrissen: O, die braven Leute! Jetzt war die mathematisch be¬
rechnete, unbarmherzige Anschließung fertig. Die Klammern der Zange hatten
sich zusammengethan! Mit einem Blick konnte er die ungeheure Kette von
Menschen und Kanonen durchfliegen. die das besiegte Heer zusammenpreßte.
Im Norden wurde der Druck immer mächtiger und schob die Flüchtlinge nach
Sedum hinein, unter dem furchtbaren Feuer der Batterien, die den Horizont
wie eine ununterbrochne Linie begrenzten---- König Wilhelm ließ ermüdet
das Fernglas einen Augenblick sinken und verfolgte die Vorgänge mit bloßem
Auge. Die Sonne sandte ihre schrägen Strahlen über den Wald und sank
immer tiefer an dem klaren, wolkenlosen Himmel. Die ganze weite Landschaft
leuchtete wie vergoldet; die Luft war so durchsichtig, daß selbst die kleinsten
Gegenstände in auffallender Klarheit erschienen. Er sah die Häuser von
Sedan, die Wälle, die Festung, das ganze verwickelte System der Festungs-
anlagen. Und rund herum alle die Dörfer, über das Land zerstreut, und
sauber und irisch wie aus einem Spielzeugkasten... . Die Maas erschien unter
dieser Beleuchtung in ihren langgestreckten Windungen wie ein goldner Strom.
Und das entsetzliche, blutgetränkte Schlachtfeld glich bei diesem Sonnenunter¬
gang, von der Höhe gesehen, einem kunstvollen Gemälde: tote Reiter, zer-
rißne Pferde bedeckten die Hochfläche von Floing wie helle Stellen; rechts
nach Givonue zu fesselten die letzten Bewegungen des Rückzugs das Auge des
Zuschauers durch den Wirrwarr laufender, sich überstürzender kleiner schwarzer
Gestalten. Links auf der Halbinsel von Jges stand eine bairische Batterie;
sie sah mit ihren Kanonen, die so dick wie Zündhölzchen erschienen, wie ein
gut aufgezognes Spielwerk aus, so regelmüßig arbeitete sie. Das war der
hoffnungslose, niederschmetternde Sieg, und der König empfand keine Ge¬
wissensbisse vor diesen Leichen, vor diesen Tausenden zusammengedrückter
Menschen, vor diesem weitausgedehnter Grunde, worin die unempfindliche
Natur an diesem Schlüsse eines sonnigen Tages schon blieb trotz der Feuers¬
brunst in Bazeilles, trotz des Blutbades bei Jllh, trotz der Todesangst in
Sedan."
Von Moltke hören wir weiter nichts, als was man bei seinem Tode in
allen französischen Zeitungen zu lesen bekam, nämlich daß er kein großer Feld¬
herr, sondern ein geschickter Rechenmeister gewesen sei, der nnr durch die Über¬
legenheit der Masse den Widerstand niederzuwerfen vermocht habe. Hu tsr-
ridle- lwmnro, ve- als NolUlö, soo et aur, avso W fg,(Z6 Aiibrs as
Minute MatuLMütiviLn, <mi M^init Je8 dataillss Zu donet et«z son cAviuet',,
-l, <Z0up8 et'alAvw'o! Auch vou Vismarck weiß Zola nicht viel mehr zu er¬
zähle», als daß er bei der Begegnung mit Napoleon eine alte Mütze und
große Schmierstiefel getragen habe und von einem air as alö^no dem vulÄut.
sei. Der einzige deutsche Offizier, der als halbwegs gebildeter Mann auftritt,
ist der Landwehrhauptmann von Gartlanben. Zola unterläßt aber nicht zu
bemerken, daß dieser Offizier längere Zeit in Paris gelebt und sich dort bessere
Sitten angeeignet habe. So gelingt es denn auch diesem Deutschen, die Liebe
und die äußersten Gunstbezeigungen der koketten Madame Gilberte in Sedan
ziemlich leicht zu gewinnen. Selbstverständlich spielt der preußische Spion in dem
Roman eine große Rolle. Er heißt Goliath Steinberg, ist ein Mensch von
riesiger Kraft und dummschlauem Wesen und hat als Bauernknecht in der Nähe
von Beaumont gearbeitet. Als die Franzosen hier ihr Lager aufschlagen, führt
er die Baiern hiu und wird so der Urheber der furchtbaren Niederlage. Bei
einem Stelldichein, das ihm die Magd Silvine auf dem Hofe des alten Bauern
Fouchard gewährt, wird er von Franktireurs ergriffen, nach langem Wider¬
stände gefesselt und geknebelt und schließlich nach einem lächerlichen Gerichts¬
verfahren, das die drei Franktireurs über ihn abhalten, wie ein Schwein ab-
geschlachtet, wobei die Magd, die ein Kind von ihm hat, treulich Hilfe leistet.
Diese Szene gehört zu dem Widerwärtigsten, was Zola geschrieben hat.
Durch alle diese Episoden und Wandclbilder des Krieges, die bald auf
geschichtlicher Wahrheit beruhen, bald naturalistische Dichtungen sind, zieht sich
die einfache Geschichte der beiden Hauptpersonen Jean Macquart und Maurice
Levnssenr. Das siebente Korps, zu dem ihr Regiment gehört, hat beim Be¬
ginn des Feldzugs den Befehl erhalten, bei Mülhausen Stellung zu nehmen
und den Feind zu beobachten. In unglaublicher Verwirrung kommt das Korps
dort an, unvollständig und ganz unzureichend ausgerüstet. Die zweite Divi¬
sion fehlt noch; man erwartet sie aus Italien. Und die zweite Kavallerie¬
brigade hat man in Lyon zurückgelassen, weil man dort einen Volksaufstand
befürchtet. Drei Batterie» haben sich ans dem Marsche verlaufen, niemand
weiß, wohin. Die Magazine, die alle Kriegsausrüstungeu stellen sollten, sind
leer; nichts ist den Soldaten geliefert worden, weder Zelte noch Kochgeschirre,
weder gute Waffen noch ausreichende Kleidung. Der ganze Train des Kriegs
fehlt. Erst im letzten Augenblick hat man bemerkt, daß dreißigtmisend Reserve¬
teile für die Gewehre fehlten. Ein Offizier wird deshalb sofort nach Paris
geschickt, und diesem gelingt es denn auch nach langen Vorstellungen fünf¬
tausend zu erwischen; die übrigen Gewehre bleiben ohne Rcserveteile. Man
läßt die Regimenter unthätig im Elsaß liegen; die kostbarste Zeit verstreicht,
während die Deutschen unaufhaltsam vordringen. Trotzdem steht es bei den
französischen Soldaten ganz fest, daß die Deutschen geschlagen werden, und
daß man bald den Marsch nach Berlin antreten werde.
Erst Lavasseurs Schwager, der Elsüsscr Weiß, der von Sedan nach Mül-
hausen geeilt ist, um Geschäftsangelegenheiten zu ordnen, bringt den Leuten
eine andre Meinung von dein Zustande und den Leistungen der deutschen
Truppen bei. Der bramarbasirende Leutnant Rochas fährt dazwischen und
verbietet Weiß, im Lager solche Gespräche zu führen und die Leute zu ent¬
mutigen. Aber Weiß meint, die genaue Kenntnis der wirklichen Dinge könne
jedem nur nützlich sein, und fährt fort zu erzählen von Preußens Erstarrung
nach Sadowa, von der nationalen Bewegung in Deutschland, von der treff¬
lich geleiteten, gut geschulte,? deutschen Armee, und damit vergleicht er die ge¬
fährlichen Zustünde in Frankreich: das morsche Kaisertum, die durch leicht
gewonnene Siege in Algier verwöhnte Armee, die mangelhafte Ausbildung der
Führer, ihre Eitelkeit und Mißgunst und den kranken, kriegsuntauglichen Kaiser.
Rochas hat für alle diese Erwägungen kein Verständnis: „Österreich verhauen
bei Cnstiglioue, bei Marengo, bei Austerlitz, bei Wagram! Preußen verhauen
bei Ehlnu. bei Jena. bei Lützen! Rußland verhauen bei Friedland, Smolensk
und an der Moskwa! Spanien, England überall verhauen! Der ganze Erdkreis
von oben nach unten, in die Länge und Breite verhauen! Und heute sollen
wir verhauen werdeu! Warum? wie? hat sich denn die Welt so verändert?"
Aber bald dringen die Nachrichten von Mac Masons Niederlage bei
Fröschweiler und Frossards bei Spichern ins Lager. Die Soldaten des siebenten
Korps treten den Rückzug nach Belfort an, überall auf dem fluchtartigen
Marsche von deu Bauern beschimpft und von alten Weibern als Feiglinge
angeschrien. Jeans Korporalschaft schleicht mutlos dahin. Die Mannszucht
wird immer lockrer. Die Leute werfen ihre Tornister weg, und schließlich fliegen
auch die Gewehre über die Hecken am Wege. Hierbei geraten Jean und Mau-
rice hart aneinander, und erst später, als der Korporal in väterlicher Weise
für seinen Untergebnen, den verwöhnten Pariser Akademiker, sorgt, entsteht
zwischen beiden eine durch gleiche Leiden und Entbehrungen immer fester wer¬
dende Freundschaft. Das Regiment wird in aller Eile verladen und auf der
Bahn nach Reims geschafft. Von Reims geht es in Kreuz- und Querzügen
durch die Lause-Champagne nach Vouziers und nach CHLne. Endlich, nach¬
dem die Füsiliere sechs Wochen scheinbar zwecklos im eignen Lande umher
marschiert sind, sehen sie die deutschen Ulanen; aber keiner kommt zu Schuß,
und so schleppen sie denn ihre jungfräuliche Waffe, bis sie wie eingekeilt unter
den Wällen von Sedan liegen und an ein Entkommen oder eine siegreiche
Schlacht nicht mehr zu denken ist.
Damit schließt der erste Teil des Romans, die Exposition des gewaltigen
Dramas, das Zola dem Leser vor Augen führen will. Der zweite Teil ent¬
hält die Katastrophe, den Zusammenbrach des „sentimentalen" Kaisertums, die
Vernichtung der französischen Armee und die Gefangennahme Napoleons.
Von drei Stellen aus läßt uns Zola die Entwicklung der Schlacht bei
Sedan mitmachen, und überall versucht er, die uns bekannten Personen in den
Mittelpunkt der Handlung zu stellen. In Bazeilles beteiligt sich'Levasseurs
Schwager, der Elsässer und erbitterte Preußenfeind Weiß, an dem entsetzlichen
Straßen- und Hüuserkampf. Im Svmmerüberzieher, mit dem Pincenez auf
der Nase, das Gewehr eines gefallnen Franzosen in der Hand, so steht der
kleine untersetzte Mensch vor seinem Landhause und schießt unaufhörlich zwischen
die Reihen der vorstürmenden Baiern. Er wird gefangen genommen, und
während seine Frau Henriette aus sedem herbeieile, um den Tollkühnen aus
Bazeilles zu holen, wird er vor seinem Hause standrechtlich erschossen.
Die zweite Szene spielt sich auf der Hochfläche von Algvrie ab, von wo
man einen freien Blick auf das Dorf Flving, auf Saint-Meuges und Fleigueux
hat. Hier hat das hnndertsechste Regiment Stellung genommen; Jeans Kvrporal-
schaft liegt in einem Kohlfelde und erwartet den heranrückenden Feind, der bei
Flving vorgeht. Stundenlang bleiben die Soldaten mit dem Bauch auf der
Erde hinter den Kohlköpfen liegen, und die Granaten sausen über ihnen hin¬
weg, ohne Schaden anzurichten. Das erweckt ihren Galgenhumor, und der
Witzbold Loubet giebt dem dummen Kameraden Lapoullc den Rat, den Finger
vor die Nase zu halten, damit die Granaten rechts oder links vorbeigehn.
Das thut auch Lapoulle unter dem Gelächter der ganzen Korporalschaft. Aber
ihre Lage wird gefährlich, als die Deutschen den das ganze Hochland beherr¬
schenden Berg Le Halloh besetzen und dort Artillerie aufpflanzen. Das Regi¬
ment hat ein mörderisches Granatcnfeuer auszuhalten, ohne daß die Leute
einen Feind sehn. Endlich erscheinen vor einem Wäldchen in einer Entfernung
von vierhundert Metern die ersten Preußen; die französische Artillerie wirft
sie sofort ins Dickicht zurück. Trotzdem schießt Jeans Korporalschaft wie wild
in das Gehölz hinein, eine Patrone nach der andern, aus Freude und Auf¬
regung, endlich nach sechs Wochen den Feind vor Augen zu haben. Das Re¬
giment geht sprungweise vor, der Hauptmann Veandoin erhält einen Granaten¬
splitter ins Bein und bleibt liegen; die Verluste werde» immer stärker, und
trotz des heldenhaften Borgehens des Obersten Vineuil weicht das Regiment
und löst sich in allgemeine Flucht auf. Jeans Korporalschaft sindet Deckung
hinter einer Hecke und hinter Bäumen. Von hier sehen sie den kühnen, aber
nutzlosen Knvallcrieangriff der Division Margueritte, die den Ring der deut¬
schen Truppen durchbrechen will. Jean wird verwundet, und Maurice trägt
den Freund mit Aufbietung aller seiner Kräfte aus dem Feuer. Die einzige
noch freie Rückzugsliuie geht durch einen Wald, der sofort furchtbar von der
feindlichen Artillerie beschossen wird. Zolas Schilderung dieser Episode ist
anschaulich und lebendig: „Mit den ersten Schritten merkten alle, daß sie in
eine wahre Hölle geraten waren. Aber sie konnten nicht mehr zurück, man
mußte auf jeden Fall den Wald durchschreiten; es war ihre einzige Rückzugs¬
linie, dieser Wald der Verzweiflung und des Todes. Die Preußen hatten er¬
kannt, daß sich die Truppen dort sammelten, und schleuderten einen Hagel von
Gewehrkugeln und Granaten hinein. Der Wald war wie durch ein Sturm¬
wetter gepeitscht. Die Geschosse zersplitterten die Bäume, rissen das Laubwerk
herunter, und aus den geborstnen Stämmen klang es wie Ächzen und aus
den zerrißnen, stürzenden Zweigen wie Todesseufzer. Es klang wie das ver¬
zweifelte Geschrei einer geknebelten Masse, wie das Wimmern laufender von
Wesen, die an den Boden gefesselt waren und unter dem Gcschoßhagel nicht
fliehen konnten. Nie hat es eine größere Todesangst gegeben als hier in diesem
von allen Seiten beschoßnen Walde." Jean und Maurice kommen glücklich durch
den Schreckensort, sie werfen sich in den Park der Eremitage, der von einer
Handvoll Franzosen gegen die anstürmenden Garden verteidigt wird. Die
Sonne, co czoolion cke 8aloil, geht endlich unter, und sie erreichen die Mauern
von Sedan.
Der dritte Schauplatz, auf deu uns Zola während .der Schlacht führt,
ist das Haus des Fabrikbesitzers Delaherchc in Sedan. Hier giebt seine Frau
Gilberte ihrem frühern Geliebten, dem Hauptmann Beaudoin, ein Stelldichein,
bevor er in die Schlacht zieht; hier erfahren wir aus den Gesprächen, was
uns Zola noch über den Kaiser, über Mac Mahon und deu General Wimpffen
mitzuteilen hat; hier in dem Fabrikgebäude wird auch ein Lazarett auf¬
geschlagen, wo der Stabsarzt Bonroche seines Amtes waltet. Daß sich Zola
die Gelegenheit nicht entgehen läßt, hierbei alle seine anatomischen, chirurgischen
und kriegshygienischen Notizen auszukramen, ist selbstverständlich. In end¬
losen Zügen werden die Verwundeten herbeigeschleppt. Die Lazarettgehilfen
und Krankenträger haben Tag und Nacht zu schaffen, um alle Unglücklichen
unterzubringen. Wir werden mit allen nur möglichen Verwundungen von
den Füßen bis zum Kopf bekannt gemacht, alle chirurgischen Geräte und
Werkzeuge werden uns vorgelegt und beschrieben: Messer, Zangen, Scheereu,
Sonden; keine Handreichung und kein Schnitt bei der Amputation eines Armes
oder Beines bleibt uns erspart: II s'^issg-it <1«z 1^ als8artionlg.lion (l'uns
opuuls, et'g,xrö8 ig, rü(;t,lloä<z alö lästrWo, 06 aus Iss euirur^lors ÄppLliüönt-
rms Miö opvration, ausi^ruz okoss et'ölugiint se alö prompt, <zu tout WiUÄntö
86<zonale>s ^ xsins. On'A, on odlorotdrirmit Is pg-tisnt, psnclgnt ein'un ü.las
lui 8g,ihl8sind 1'sxg.ulo ^ äsvx og.in8, Jo8 «pmtrs cloigw 80U8 1's.i88sIIs, Is peines
su Äessu«. ^lors Lvnroods, armö an Annel oouteau lovA, axrös avoir oris:
^.88s^s^-1s! omxoißM Is clölto'läo, trMsxorys Is dra3, tranods 1e wusolo;
PUI8 rsveng-ut 611 Ärrisrs, it 6staolrg, ig, ^jointurs et'un 86u1 ooux; et Is KrÄ.8
sunt toiAdv, gdicktu su troi8 ni0uvsmsnt8.
Nach der Kapitulation werden die französischen Truppen entwaffnet und nach
der Halbinsel von Jges gebracht. Hier findet sich Jeans anseinaudergesprcngte
Korporalschaft wieder zusammen. Es wird ein großes Lager für die Ge¬
fangnen aufgeschlagen, aber es können so wenig Muudvorräte herbeigeschafft
werden, daß viele vor Hunger zu Grunde gehen. Manche springen ans Ver¬
zweiflung in die Fluten der Maas, um aus dem Litinx als ig Ul8srs zu ent¬
fliehen, aber die deutschen Wachposten schießen die schwimmenden nieder.
Von den Kavallcriesignalen herbeigelockt, stürzen ganze Scharen reiterlvse Pferde
über die Halbinsel, rennen wie toll umher und verschwinden wieder am Hori¬
zont oder brechen ermattet zusammen. Solch ein völlig entkräftetes Pferd
sehen Jeans Leute vor ihrem Lagerplatz niederstürzen. Es ist streug verboten,
die Tiere zu töten; aber alle sechs sind einig, ihren Hunger an diesem Pferde
zu stillen. Die Nacht bricht herein, Lapoulle ergreift einen großen Stein und
schleicht sich an das ermattete Tier, um ihm den Schädel einzuschlagen. Wir
wollen Zola selbst erzählen lassen, um noch ein Beispiel seiner Darstellung zu
geben: „Bei dem ersten Hieb machte das Pferd eine Anstrengung, sich aufzu¬
richten. Chouteau und Lonbet hatten sich über seine Beine geworfen und ver¬
suchten es niederzuhalten, während sie die andern zur Hilfe herbeiriefen. Das
Pferd schrie vor Angst und Schmerz mit einer fast menschlichen Stimme; es schlug
um sich und würde die beiden wie Glas zerbrochen haben, wenn es vor Ent-
kräftung nicht schon halbtot gewesen wäre. Aber den Kopf warf es hin und
her und die Schläge trafen nicht mehr; Lapoulle konnte es uicht tot kriegen. —
Schwerenot! hat der Racker harte Knochen! Haltet ihn doch fest, daß ich
ihn kalt machen kann! — Jean und Maurice waren starr vor dieser Roheit
und hörten nicht auf Choutccms Rufen; sie blieben stehen und konnten es
nicht über sich gewinnen, beizuspringen. Pache dagegen sank in einer religiösen
Anwandlung auf die Kniee, faltete die Hände und begann Gebete zu stammeln,
wie man das am Bette eines Sterbenden zu thun pflegt: Herr im Himmel,
hab Erbarmen mit ihm! Noch einmal schlug Lapoulle vorbei und riß dabei
dem unglücklichen Pferde das eine Ohr herunter; mit lautem Schrei stürzte
es nieder. Wart mal, wart mal! brummte Choutecm. Jetzt werden wirs
kriegen. Laß nicht los, Loubet! Er hatte sein Messer aus der Tasche ge¬
nommen, ein kleines Ding, dessen Klinge nicht länger als ein Finger war.
Er warf sich auf den Körper des Tiers, packte seinen Hals und stieß die
Klinge hinein. Dann wühlte er damit in dem lebenden Fleische herum, bis
er es in Fetzen geschnitten und die Halsader gefunden und durchgerissen hatte.
Das Blut sprang im Bogen heraus, dann floß es wie aus einem Wasserrohr,
während das Pferd mit den Beinen zuckte und ein krampfhafter Schauer über
seine Haut flog. Es dauerte fast fünf Minuten, bis es tot war. Seine
großen, weit geöffneten Augen blickten wie in angstvoller Traurigkeit; sie
waren fest auf die hungrigen Männer gerichtet, die auf das Ende warteten,
dann wurden sie trübe und erloschen. Himmlischer Vater, stammelte Pache,
der noch auf den Knieen lag, steh ihm bei und nimm es auf in deine
heilige Hut!"
Endlich sind die furchtbaren Tage in dem „Lager des Elends" vorbei.
Die Gefangnen werden in großen Trupps durch Sedan über Mouzon nach
der deutschen Grenze gebracht. Unterwegs suchen verschiedne zu entwischen;
manchen gelingt es auch, mancher, z. B. auch Loubet, bleibt unter dem Feuer
der Verfolger. In der Nähe vou Mouzon wird Halt gemacht. Jean und
Maurice kaufen von einem Mädchen Bauernkleider, werfen die Uniform weg
und entkommen. Nur Jenn wird dabei verwundet und muß in Remilly Zu¬
flucht bei Mauricens Onkel, dem Bauern Fonchard, suchen.
Hier in Remilly und später in Paris spielt der dritte Teil des Romans.
Fonchards Sohn Honoru hat als Artillerist die Schlacht bei Sedan mitgemacht
und ist gefallen. Seine Verlobte, die Magd Silvine, die von dem preußischen
Spion Goliath Steinberg vergewaltigt worden ist, eilt auf das Schlachtfeld,
um ihren Geliebten unter den Toten aufzusuchen. Damit schafft sich Zola
eine vortreffliche Gelegenheit, in epischer Lebendigkeit ein Bild von dem
Schlachtfelde zu entwerfen. Die Schreckensbilder, die Silvine zu sehen be¬
kommt, sind mit solcher Ausführlichkeit und so naturalistischer Genauigkeit
gezeichnet, daß sie der Leser nicht sobald wieder los wird. Die Verwüstungen
der Geschosse, das Wimmern der Verwundeten und Sterbenden, der Anblick
entstellter und zerrißner Soldaten, die Hyänen des Schlachtfeldes (von denen
Zola behauptet, es seien hauptsächlich Juden gewesen), alles erscheint vor
uns, und mau gewinnt den Eindruck, als habe Zola, wie Wereschagin mit
seinen Tendeuzgemälden, die entsetzlichen Bilder nur entworfen, um von dem
Kriege abzuschrecken.
In dem alten Fouchard giebt uns Zola den Typus des engherzigen, selbst¬
süchtigen und geizigen Bauern, der mit der Doppelflinte in der Hand die
hungernden Franzosen von seinem Hofe vertreibt, mit den Franktireurs in
enger Verbindung steht und sich trotzdem die einträgliche Stelle eines Fleisch-
licferanten für das deutsche Heer zu verschaffe» weiß. Dabei bringt er alles
kranke Vieh, dessen er habhaft werden kann, an den Mann und rühmt sich,
mit diesem Geschüft mehr Deutsche getötet zu haben, als manches Großmaul
mit seinem Chassepot. Hier auf den Bauernhof bringt Maurice Levasseur
seinen verwundeten Freund Jean Macquart. Und während dieser von Maurieens
Schwester Henriette gepflegt wird, eilt der junge Advokat nach Paris, um
noch einmal für die Befreiung des Vaterlandes zu kämpfen. Nach dem Ende
des unglücklichen Kriegs tritt er auf die Seite der Kommune und will dort
sein Ideal vou Freiheit und Gleichheit verwirklichen helfen. Bei einem Straßen¬
kampf erhält er einen Vajvnettstoß, er sieht dem Gegner ins Auge und er¬
kennt seinen alten Kriegskameraden Jean Macquart. Der leichtlebige Aka¬
demiker und revolutionäre Schwärmer ist auf den Tod verwundet, verwundet
von dem einst mißachteten, ungebildeten Bauernknecht.
„Ich bin, ruft er ihm zu, das faule Glied, das du abgehauen hast. Der
gesunde Teil Frankreichs, der vernünftige und wichtige, das war der, der
unsrer Erde am nächsten geblieben war; der mußte deu Teil ausrotten, der
durch die Zeit des Empire verdorben und durch Hirngespinste und Üppig¬
keiten charakterlos geworden war. Das Blut mußte fließen, und zwar fran¬
zösisches, der Aderlaß war notwendig, notwendig der Opfertod Lebender in¬
mitten eines reinigenden Feuers. Und der Berg Golgatha wurde erstiegen
bis zur letzten Stufe des Todes; die Nation wurde gekreuzigt, sie führte ihr
Vergehen und wurde von neuem geboren.
Mein alter Jean, du bist der unverdorbne, der gesunde. Geh, geh! nimm
die Hacke, nimm die Schaufel und bestelle den Acker und baue die Häuser
wieder auf. . . . Und ich — du hast gut gethan, mich niederzustoßen, ich war
das böse Geschwür an deinen Gebeinen! — Er phantasirte noch weiter. Er
wollte sich erheben und sich am Fenster aufstützen. —
Paris brennt, ruft er aus, nichts soll übrig bleiben. O dieses Feuer,
das alles verschlingt, das alles heilt, ich habe es herbeigewünscht, ja, es be¬
sorgt das Geschäft gut. . . . Laßt mich hinunter, laßt mich das Werk der
Menschlichkeit und der Freiheit vollenden."
Diese letzten Szenen, der Kampf der Regiernngstruppen mit der Kom¬
mune, die Feuersbrunst in Paris, der Tod des unglücklichen Maurice Le-
vasscur, die Szene zwischen dem biedern, treuen Jean Macquart und Maurieens
Schwester Henriette sind mit rührenden und ergreifenden Zügen dargestellt.
Von dem Bauern, von dem einfachen Menschen, der die Luft der reinen Natur
atmet und frei bleibt von den zersetzenden Einflüssen der überfeinerten Gesell¬
schaft, erwartet Zola das Heil, die Wiedergeburt des französischen Volkes.
Das ist ein gesunder Gedanke, den wir ihm hoch anrechnen, und den wir
nach seinem Bauernroman ^örrs nicht von ihm erwartet hätten. Es geht
durch deu ganzen Kriegsroman ein Zug bittrer Wehmut, die sich zuweilen
zu weinerlicher Rührseligkeit steigert. Es werden viele Thränen vergossen oder
hinuntergeschluckt. Der kranke Kaiser erscheint fast immer mit feucht ver¬
schleierten Augen, der Oberst Vineuil weint vor seinem Regiment, als er es
zurückweichen sieht, die beiden Freunde Jean und Maurice fallen sich oft
schluchzend in die Arme wie machtlos, wie gelähmt unter den Schlägen eines
unabwendbaren Schicksals. Es sind zu viel leidende und zu wenig handelnde
Menschen da. Sie erregen alle mehr das Mitleid als die Begeisterung. Aber
das finden wir auch bei andern französischen Schriftstellern, die Episoden aus
dem deutsch-französischen Krieg novellistisch behandelt haben, z. B. bei Daudet,
Maupasfant, Nichepin u. a. Es scheint doch, als ob dieser Krieg für einen
französischem Schriftsteller zu einer künstlerisch befriedigenden epischen Dar¬
stellung nicht geeignet sei. Möchte es einem deutschen Dichter einst gelingen,
dem großen Gegenstande besser gerecht zu werden, als es Zola in veMolv
gelungen ist.
le nächste Zeit verging mir sehr angenehm, innerlich in dem Hoch¬
gefühl meiner großen Erlebnisse, äußerlich in dem Nimbus, den
die Fama um mich wob. Zwar spielte auch bei dem letztem
die Einbildung wieder stark hinein. Ich kam aber nicht eher auf
diesen Gedanken, als bis er mir eines Tages sehr nahegelegt wurde.
Die Ernte war in vollem Gange, die Weltgeschichte stand still, wenigstens
Hinterwinkel, die Politik schwieg. Die Leute wollten noch ebenso wenig
preußisch werden, wie vor drei, vier und sechs Wochen; aber sie sagten es
nicht mehr so oft. Sie lebten wegen dieser Sache zwar in der größten Un¬
gewißheit, die sie sehr ängstigte, trotz ihrer unerschütterlichen Hoffnung auf
Napoleons Einschreiten, dem mau als Preis dafür „das Strumpfbüudellüudle
da trübe," nämlich das Großherzvgtum Baden, gern gegönnt hätte; die Ernte
aber konnte man deshalb, mochte es gehen wie es wollte, doch nicht im
Stich lassen. Man war ohnehin spät dazu gekommen. Auch trat ungünstige
Witterung ein, sodaß man die dazwischenfallendcn sonnigen Tage um so fleißiger
ausnutzen mußte. Da gab es keinen Arm in Hinterwinkel, der nicht in An¬
spruch genommen worden wäre.
Ich verdiente mir bei Gelegenheit gern ein kleines Taschengeld und ver¬
schmähte bezahlte Dienstleistungen nicht, nur mußten sie nach meinem Ge¬
schmack sein. Die eigentliche Bauernarbeit gehörte dazu nicht. Sie wurde
mir auch selten angetragen, man kannte mich schon. Aber an einem dieser
Erntetage, da es besonders heiß zuging, schickte doch ein Bauer meinetwegen
zu uns, der Fnllentoni, so genannt, weil er allem im Dorf Pferde züchtete.
Man wollte Dinkel heimfahren, und ich sollte beim Garbenbinden die Stroh-
bünder legen, eine Thätigkeit, die man sonst Kindern übertrug, wenn sie zur
Hand waren. Ich wurde also als ein Kind betrachtet, trotz meines neu-
gebacknen Ruhms. Ich sollte das Essen dafür haben und vier Kreuzer Tage¬
lohn, einen Batzen, wie man sagte.
Der Füllentvni wollte vier bis fünf Wagen Spelz an diesem Tage ein¬
heimsen und brachte außer Knecht und Magd und mir noch drei Tagelöhne¬
rinnen mit zur Arbeit auf das Hvheuloch oder Hoheuloh, eine weite, nicht
ganz ebne Hochfläche zwischen dein Kahlen Buckel und dem Waldwinkel der so¬
genannten Heiligenäcker. Alles mußte sich tüchtig rühren und flink und fleißig
zugreifen.
Ich glaubte aber mein Geschäft in aller Behaglichkeit verrichten zu können.
Gemütlich schleppte ich meinen Strohbnnd hinter nur her, zog Band für Band
heraus und breitete es über den Stoppelboden, eins ans andre. Zwei Mädchen
rafften mit ihren Sicheln das aufgereihte Getreide zusammen und häuften es,
je drei Arme voll, über die vorgelegten Bänder. Der Bauer kam dahinter
her und band. Er nahm die Enden der Strohseile, vorher angefeuchtet, vom
Boden, drehte zuerst das eine, klemmte es zwischen die Kniee, drehte das andre,
zog sie übers Kreuz an, indem er das Getreide mit dem Knie fest drückte,
wickelte die beiden Enden um sich selbst und klemmte sie mit seinem hölzernen
„Vinnagel" in geschickter Drehung und einem raschen Stoß unter das an¬
gezogne Seil. So band er Garbe um Garbe, so schnell die Mägde zusammen
rafften. Dasselbe geschah in einiger Entfernung, wo andre Mägde zutrugen,
der Knecht den Binder machte und der neunjährige Sohn des Füllentoni die
Strohseile legte.
An diesem jungen Füllentoni zappelte alles. Jedesmal, wenn er ein
Seil legte, bückte er sich bis auf den Boden, um es schön „kerzengerade" aus¬
zustrecken, und er that das auf eine Art, als ob er das Strohbaud dabei
streichelt? und liebkosen wollte. Ich verhielt mich viel kälter gegen die störrigen
Strohzvpfe. Das Bücken erachtete ich für höchst überflüssig; ich ergriff mein
Seil an dem einen Ende, warf mit einem zierlichen Schwung das andre Ende, so
laug es war, vor mir hinaus auf den Boden und ließ den festgehaltnen Zipfel
zu meinen Füßen niedergleiten. Das Strohband kam so nicht immer in eine
mathematisch gerade Streckung, es bildete vielmehr zur Abwechslung bald eine
Kurve, bald einen mehr oder weniger stumpfen Winkel. Aber ich sah darin
kein Unglück.
Der alte Füllentvni sagte lange nichts, aber er warf mir wütende Blicke
zu. Endlich konnte ers nicht mehr verbeißen. Kerl, dir kaun man nicht zu¬
sehen! stieß er zwischen den Zähnen hervor. Ruhr dich jetzt besser, oder ich
jag dich zum Kuckuck.
Ich konnte den Zorn des Bauern nicht begreifen. Wenn ein Band bereit
lag, so oft die Mägde dessen bedurften, mehr konnte er doch nicht verlangen,
meinte ich, und es konnte ihm gleich sein, ob ich mich dabei mehr oder weniger
„rührte." Ich ließ mich deshalb nicht aus meiner Art bringen; ich hatte
noch andres zu thun, als Strohseile zu legen. Die Lerchen schmetterten über
mir im wolkenlos blauen Himmel, und ich mußte, wenigstens von Zeit zu Zeit,
auf sie hören. Sie waren ja meine Kolleginnen; ich dachte, wenn ich es nur
auf meiner Klarinette so gut könnte, oder gar uns der Geige, denn anßer
der Schneiderei und dem Geishüten und außer meinen Lateinstudien pflegte
ich damals auch die Musik, auf der Klarinette beim Paten Rothermund
und auf der Geige beim Schulmeister Langbein. Und die Lerchen waren
so glücklich! Sie durften musiziren, wie sie wollten, ihnen sprach niemand
von brotloser Kunst; sie brauchten nicht zu mähen und auch keine Strvh-
bänder zu legen. Und weiter drüben im Felde, inmitten noch unberührter
Saaten von silbergrcinem Spelz und dunkel goldbraunem Stachelweizen, lag
eine Steinmauer von hoher Hecke umschlossen, von einem alten Nußbaum über¬
schattet. Und auf dem Nußbaum saß ein Hähervogel, Herr Marquart, wie
er bei den alten Dichtern heißt, und rief in einem fort: Komm her, komm
her! Ich konnte nicht hinkommen, aber ich mußte oft zu ihm hinübersehen.
Es half nichts, daß der Füllentoni mir immer grimmigere Blicke zuwarf,
-^es sehe den Bauern noch heute vor mir, sehe ihn die Zähne fletschen, indem
^ auf die Garbe kniet und das Strohband anzieht, sehe ihn seine Augen starr
auf mich richten, während er anhält und eine Prise nimmt.
Eigentlich gab er mir kein gutes Beispiel; denn er schnupfte ein wenig
v>t, fast wie der alte Fritz, aller drei Garben, nur ans der Dose statt aus
der Westentasche. Aber einen Kopf hatte er, den man so leicht nicht vergißt,
auch eine Habichtsnase wie Friedrich der Große, und das Rollen seiner Augen
erinnert mich heute ebenfalls an die guten und schlechten Bilder, die ich seit¬
dem vom alten Fritz gesehn habe.
Inzwischen rief der Nußhäher drüben immerfort sein: Komm her, komm
her! Und ich dachte, wie schön es sein müßte, wirklich hinzukommen. Aber
auch uoch andres dachte ich, darunter Dinge, die mir bis zu dieser Stunde
noch niemals eingefallen waren.
Von den zwei Dirnen, denen ich die Strvhbänder vorlegte, hieß die eine
Cölestine Bächle. Sie war gerade kein himmlisches Wesen, wie man nach
ihrem Namen glauben sollte, aber sie war doch ein sehr hübsches Mädchen
und strotzend von Gesundheit und Kraft. Der Hitze wegen hatte sie ihre Jacke
abgelegt, und ihr rotes Mieder hatte sich mit seinen Achselhaltern unversehens
aufgehenkt und hing über die Hüften herunter. Das grobleinene Hemd ging
zwar bis zum Hals empor und war dort mit Bändern zugeknüpft; aber durch
den klaffenden Spalt schimmerten Formen, auf die ich jetzt zum erstenmale in
meinem Leben aufmerksam wurde.
Erwachsene hübsche Mädchen hatte ich schon lange gern gesehn, aber ich
sah immer nur das Gesicht an ihnen, die zarte Hautfarbe, die feinen Lippen,
die schöngereihteu weißen Zühue, die leuchtenden Augen oder wodurch sonst
ein Gesicht schön wird. Nie war mein Blick bis unter das Kinn gegangen.
Nur einmal, etwa mit acht oder neun Jahren, hatte ich eine Vauerntochter,
die in ihrem Hause meinem Vater bei der Schneiderei half, gefragt, warum
ihre Brust so bausche. Sie lachte und sagte, sie hätte sich Lumpen vorgestopft,
um nicht zu frieren. Es war aber im Juli und ein so heißer Tag, daß mir
ihre Erklärung wenig einleuchtete. Sie sollte mich einmal die Lumpen sehn
lassen, meinte ich und wollte mit der Hand zugreifen, um selber zu unter¬
suchen. Aber die Dirne lachte noch mehr und klopfte mich mit der Schere
gehörig auf die Finger. Damit war meine Neugierde in diesem Punkte auf
lange geheilt.
Nun kam es über mich wie ein Schreck. Wenn Cölestine, gegen mich
gekehrt, sich zu Boden bückte, so klaffte der Spalt ihres groben Hemdes weit
aus einander, ich sah nicht nur Formen, sondern auch schimmernde Farbe. Mein
Erschrecken stieg auf den höchsten Grad und raubte mir fast alle Besinnung.
Meine Strohbünder legten sich immer spitzwinkliger, bildeten immer kühnere
Kurven. Ich verstand mich selber nicht mehr. Mein Zustand war der selt¬
samste von der Welt. Vieles mischte sich darein, auch jenes rätselhafte Gefühl,
das man Scham nennt. Sie mochte sogar das stärkste in mir sein. Ich
schlug die Augen nieder, und das Blut stieg mir nach dem Kopfe; eine Ver¬
wirrung kam über mich, wie von einem leichten Schwindel.
Damals kam mir kein Gedanke, daß Cölestine von dem, was in mir vor¬
ging, eine Vermutung haben könne. Aber wenn ich mir heute vorstelle, wie
das hübsche Mädchen sich vor nur bewegte und mir bisweilen einen Blick
zuwarf, wovor sich der meinige zu Boden senkte, muß ich annehmen, daß sie
meinen Zustand erraten und ihre Freude daran gehabt habe.
Über der neuen Entdeckung vergaß ich ganz den Füllentoni. Erst als
ich seine Stimme hörte, wurde ich mir seiner Gegenwart wieder bewußt. Mich
hat der Teufel grille, schrie er, deu dummen, turmeligen Schneider anzustellen;
der Kerl will mich zu Tod ärgern, aber nun hab ichs satt!
Damit sprang er auf, und mit ein Paar tüchtigen Püffen jagte er den
Helden von Tanberbischofsheim und Entdecker des Weibes von seinein Acker
hinweg.
Einen andern hätte ein solches Schicksal im höchsten Grade unglücklich ge¬
macht, zumal da das Vesperbrot bevorstand, wozu Cölestine schon die Dick¬
milch anrichtete und die Brote strich, mit dicken Lagen von Nahm und süßem
Meißein Käse. Aber nur riefs drüben vom alten Nußbaum hinter der ge¬
heimnisvollen Hecke: Komm her, komm her! Und ich folgte dem Ruf. Ich
schüttelte die Erde des Füllentoni von meinen Füßen und ging weiter, dem
lockenden Ruf entgegen.
Nur eins ärgerte mich: daß auch die schöne Cölestine Zeuge meiner
schnöden Vertreibung war; bei diesem Gedanken loderte ein heftiger Zorn in
mir auf, vermischt mit einer Scham ganz andrer Art als vorhin, einem höchst
verdrießlichen und widerwärtigen Gefühl. Doch das verflog schnell; ich hatte
bald alles vergessen, und wie ein Kind schlenderte ich nun in den Grcnzfnrchen
der Getreideäcker hin und pflückte Blumen zu einem Strauß, rote Kornrade-
nelken, blaue Chanen und die grauen Kätzchen des Hasenklces. Nach dem
Füllentoni und seinen Leuten sah ich mich nicht ein einziges mal um, sie waren
für mich nicht mehr auf der Welt.
Am höchsten stieg meine Befriedigung an dem längst ersehnten Ziele
meiner Wanderschaft, bei der grttnumfricdeten Steinmauer, wo zwar der rufende
Häher schleunig die Flucht vor mir ergriff und dazu noch ein höhnisches Lachen
erschallen ließ, als ob er mich mit Bewußtsein zum besten gehabt habe, wo
aber dafür eine andre wenn auch nicht ganz unvermutete Überraschung meiner
wartete.
Was man in Hinterwinkel eine Steinmauer nennt, sind eigentlich Stein¬
hügel, bald rundlich breit, bald lang und schmal. Sie könnten an Grabmäler
der Vorzeit erinnern, doch haben sie, in der Regel wenigstens, einen viel pro¬
faner« Ursprung. Sie sind dadurch entstanden, daß die Besitzer der um¬
liegenden steinigen Felder die abgelesener Steine Jahrhunderte hindurch auf
derselben Stelle zusammentrugen oder zusammenführen. Fast immer umgeben
hohe Dornhecken die alten Steinhaufen. Sie sind für die Gegend und Land¬
schaft charakteristisch, und oft hat sie das Volk mit eignen Namen bezeichnet.
Die, an der ich jetzt stand, hieß die Hohe Steinmauer. Sie war fast
kreisrund, und mit ihrer dichten Hecke und dem sie überschattenden, uralten
Nußbaum, dein einzigen Baum im Hohenloh, bildete sie einen lauschigen
Versteck; besonders jetzt, wo rings um sie her die überreife Saat der
Sichel harrte und sie nun mitten darin lag wie eine vergeßne märchenhafte
Wildnis.
Meine Überraschung bestand in einem mächtigen Stachelbeerbusch voll
blutroter, reifer Veeren. Ich kannte den stachligen Freund schou von frühern
Tagen her und hatte schon manchmal von ihm genascht. Bei seinein Anblick
fühlte ich mich vollends wieder als Kind. Ich machte mich an die Mahlzeit,
und sie ersetzte mir reichlich das Vesperbrot des Fülle»toni.
Nach dem Mahle legte ich mich am Fuße des Nußbaums in dem dicken,
schwarzgrünen Moos des einsamen Steinhügels auf deu Rücken. Meine Angen
sahen dem Spiel zweier Schmetterlinge zu, großer blaßgelber Segelfalter, die,
sich haschend und fliehend, die goldnen Blütendolden hochaufgeschoßuen Johannis¬
krauts umgaukelten.
Und bald kam auch mein Häher wieder uns einen Ast des Nußbaums
geflogen und fing an, mir allerlei vorzuschwatzen.
Und noch ein Schauspiel hatte ich. Ein blaugrauer, schwarzköpfiger
Würger kam ab und zu auf einen Schlehdorn meiner Märchenlande geflogen,
und jedesmal trug er etwas Lebendiges in seinem Schnabel. Er fraß aber
seine Beute nicht, sondern drehte sie in einen Dorn des Schlehenstrauchs, wo
der arme Karabus oder was es sonst sür ein Käfer oder Insekt war, noch
lange schmerzlich die Beine bewegte und mit den Fühlern zuckte. Einmal reckte
ich die Hand aus, einen Stein nach dem Raubvogel zu werfen. Aber ich
unterließ es — aus Faulheit. Es war zu schön, so ruhig dazuliegen und zu
denken, wie sie da drüben beim Fttllentoni sich plagten, zu schön, so die weite
sonnige Welt umher anzuschauen und auf die geheimen Stimmen und Regungen
in der Einsamkeit zu lauschen.
Einmal glaubte ich gar zu träumen, obwohl ich die Augen groß offen
hielt: ich hörte eine fernher klingende Musik, so reich und schön, so sanft
einschmeichelnd und doch so kühn, wie ich noch nichts gehört zu haben glaubte.
Aber es war mehr als ein Traum. Ich raffte mich empor und hörte die
aufregenden Klänge nun noch lauter und deutlicher, sie kamen immer näher
und klangen immer mehr nach Wirklichkeit.
Bald gewahrte ich denn auch deu Ursprung der berauschenden Klänge.
Drüben, auf der andern Seite des Haselbachthals, von der Schillingsberger
Höhe, vom Sindelwald klangen sie herüber. Ein langer Zug Soldaten, ein
Bataillon oder Regiment, zog dort die Steige gegen Hinterwinkel hinunter
mit klingendem Spiel und fliegende» Fahnen.
Da hie ltmichs keinen Augenblick mehr an meüiem Platz, in kaum einem
halben Viertelstündchen, noch vor den Soldaten, war ich drunten im Dorf.
Schon unterwegs erhielt ich die Erklärung der überraschenden Erscheinung:
Hinterwinkel bekam feindliche Einquartierung; die Quartiermacher befanden
sich schon seit der Morgenfrühe im Dorf.
(Fortsetzung folgt)
Ehe or. Karl Peters die Kilimandscharostativn
verließ, um einen Urlaub anzutreten, schrieb er ein kleines Schriftchen über „Gefechts¬
weise und Exveditionsführuug in Afrika" (Berlin, Walther und Apvlnnt, 1892).
Kurz darauf'fiel sein Stellvertreter von Bülow, einer unsrer erfahrensten Ost-
nfrikcmer, in einem der Gefechte, von deren Führung Dr. Peters so weise spricht
Schade, daß er ihm nicht selbst mit seinem Rat zur Seite stehen konnte! Das
Schriftchen enthält auf vierzehn Seiten die Essenz der Erfahrungen seines Verfassers
ans der Emin-Pascha-Expedition in echt Petersschen scharf geschliffnen Sätzen, deren
wesentlicher Inhalt etwa in die Worte gefaßt werden kann! Die militärischen
Aufgaben der Europäer in Afrika liegen nicht in grundsätzlicher Unterjochung der
Eingebornen, sondern in der Lösung bestimmter Aufgaben: Deckung eiuer Straße,
Pflmzuug u. tgi. Die Afrikaner haben wenig physischen und keinen moralischen
Mut. sie' suchen einzuschüchtern, um ihre Furcht zu verdecken, ihre starken Seiten
sind Tücke und List, und das ostafrikanische Gelände kommt den Ueberfällen ent¬
gegen. Milde der Kriegführung und Milde unes dem Siege find dem grausamen
und sklaveuhaften Neger unverständlich. Waffe, Gewohnheit und Gelände bedingen
den Nahkampf, in dem sich der Europäer jedesmal die Initiative sichern muß.
Der sorgsamste Vorpostendienst ist erste, rücksichtlvses Vorgehen die nächste Pflicht.
Entscheidende Feldschlachten sind bei dem „flüchtigen" Charakter des Afrikaners
unmöglich, die Militärstation sichert das Eroberte. Als Soldatenmaterial findet
der Doktor Zulus und Sudanesen gut, Suaheli verwerflich, möchte aber für
gesunde Biuneustativuen, wie Kilimnndschnro, eine deutsche Freiwilligentrnppe und
für größere Unternehmungen eine irreguläre aus Somali, Galla, Mahai gebildet
sehen, die mit Afrikanern afrikanisch zu fechten versteht.
„Was nützt es, allen Staub und Schutt der
Geschichte zu sichten und zu sieben, wenn das intuitive Verständnis für das Wehen
des göttlichen Geistes fehlt, der durch die Thaten der Menschen seine leuchtenden
Schicksalsfaden zieht und über das Woher und Wohin der Bewegung deutlich
genug Zeichen und Winke giebt?" „Aus einer sorgfältigen Vergleichung der Teile
gilt es eine durchgehende Tendenz in dem ganzen geschichtlichen Verlauf" zu er¬
kennen, ,,ein providentielles Gesetz," „einen Plan Gottes." Dreimal hat Gott
Preußen aus großer Gefahr errettet: 1762, 1312, 1370. „Auf diese göttliche
Guadenerweisnng hat unser Volk allemal geantwortet mit einer auffallenden Gott-
entfremdung." „Und wenn der Abfall vom Christentum eintritt, so taucht als
sein jdes Abfalls?j Schatten auch die Gestalt des Juden ans, mit der Miene
geistiger Überlegenheit (Mendelssohn, Heine, die Judokratie)."
Leider liegen die Vorbilder dieser seltsamen Art Geschichte zu schreiben im —
alten Testament, in den theokratisch zugespitzten Chroniken des auserwnhlten
Volkes. Diese doch etwas rückständige Geschichtsauffassung würden wir sich selbst
überlassen, wenn nicht in demselben Buch, dem diese Sätze entnommen sind (Aus
drei Epochen preußischer Geschichte. Eine Studie über das Woher und Wohin
unsrer Bewegung von Prof. Dr. Hellmuth Dondorff. Berlin, Wiegand und Grieben,
1892) auch recht beachtenswerte Dinge stünden: ,,Der Individualismus, dies
mächtig treibende Prinzip der modernen Kulturbewegung, um sich berechtigt und
notwendig, um die Fülle innerer Lebenskräfte zur Entfaltung zu bringen, mußte
doch, einmal losgelöst von der religiösen Grundlage, ohne zu wurzeln in den Kräften
einer ewigen Welt, die den einzelnen im Zusammenhang mit dem Weltganzen nach
einer gottgewollten Ordnung erhält, eine gesteigerte Selbstsucht, eine frühzeitige
Erschöpfung und Verödung des Einzellebens auf allen Gebieten menschlicher Thätig¬
keit zur Folge haben." Dvudorfs kritisirt nun den ästhetischen, den philosophischen,
den religiösen, den politischen und den wirtschaftlichen Individualismus der dreißiger
Jahre und den radikalen Liberalismus unsrer Tage. ,,Was unsrer Gesellschaft ein
so verzweifelt hippokratisches Ansehn giebt, das ist der Umstand, daß die Ethik, oder
sagen wir die sittliche Substanz im Volksleben, sich mehr und mehr aus den ver-
schiednen Lebensgebieten zurückzieht und von einer verblendeten Wissenschaft geradezu
zurückgewiesen wird." „Die Trennung aller Lebensgebiete (Gewerbe, Kunst, Schule,
Geschichtschreibung, Ehe, Dienstverhältnis, Recht) von der Ethik, die der gemein¬
same Nährboden aller sein sollte, ist der Tod der Gesellschaft, Der Lebensstrom
zieht sich zurück und versiegt, die verschiednen Organe treiben ihre Funktionen so¬
zusagen ans eigne Hand fort, bis das wild wuchernde Fleisch alle edlern Säfte
verzehrt und in das eiternde Gift der Korruption übergeführt hat." Dies zugleich
als Probe von Dondorsfs saftiger, aber anch etwas üppiger Ausdrucksweise.
Ingrimmig und witzig predigt er gegen den Witz: ,,Sonne, Mond und Sterne, zu
denen die Phantasie Haupt und Hände gläubig emporhebt, steckt Witz, der kleine,
behende Mann, kaltblütig in die Tasche."
Nach einzelnen solchen Sätzen gehört Dondorff in eine Reihe mit Viktor
Hehn und Paul de Lagarde; stünde nur das übrige auf derselben Höhe!
Es giebt eine gewisse Art, Wissenschaft zu treiben, die den Dingen nicht
gerecht wird, weil sie keine Ehrfurcht vor den Dingen hat; das ist der Rationalismus.
Aber eine besondre „ungläubige Wissenschaft" giebt es nicht. Wissenschaft wird
ungläubig sein, oder sie wird nicht sein; so auch die Bibelkritik. Doch warum
sollte die Bibel, sollte unsre gesamte religiöse Überlieferung nicht vertragen, was
doch nach Dondorffs Ansicht Schiller verträgt, „daß wir unterscheiden, was unver¬
gänglich ist, und was menschlicher Schwäche und Einseitigkeit angehört"? Übrigens
ist die Bibelkritik schon zufrieden, wenn es ihr gelingt, jüngere und ältere, selbständige
und abhängige Schichten zu unterscheiden. Aber Dondorff beklagt wohl mehr ein
überwiegen der kritischen Beschäftigung, ihn verdrießt mehr das Behagen des
Bildungsphilisters, der da meint, nun sei wer weiß was gethan. Leider beschränkt
er sich aber fast auf Klagen und Schwarzmalen, anstatt zu forgen, wie denn nun
mehr Wärme und Liebe, mehr Fühlung mit gestern und mit morgen, mehr Haltung
und fromme Sitte ins Volk zu bringen sei. Daß er selber in seiner Schrift mit
gutem Beispiel voranginge, läßt sich auch nicht sagen. Ein böser, polternder,
bilderstürmerischer Ton herrscht vor. Blaß und abgezogen erscheint in der Ferne,
wenig glaublich, das Ideal einer heiligen, allgemeinen, apostolischen Znkunftskirche.
Drum schade um soviel Pathos und soviel Witz, soviel reiche Bildung und
soviel Beredsamkeit, wohl, geeignet zu einem lauten Tamtam (vergleiche die Kreuz-
zeitung und den Reichsboten), aber schlieszlich doch unfruchtbar und nüißig.
Bei dem letzten internationalen Schachkongresz in
Dresden hat sich wiederholt ein Vorfall ereignet, der alle noch nicht von der
Sportmanie angesteckten Freunde des edeln Spiels mit tiefstem Unwillen erfüllt
hat. Ob ihn die Fachorgane gebührend verurteilen werden, erscheint bei der ein¬
seitigen Richtung, die unter englisch-amerikanischen Einfluß leider auch im deutschen
Schandleben eingerissen ist, fraglich; jedenfalls verdient er wegen seiner allgemeinen
Bedeutung besprochen zu werden. Die Sache ist, kurz gesagt, diese.
Eine ganze Reihe von Spielen wurde nach den ersten, theoretisch und buch¬
mäßig geführten Zügen, uach deren Ablauf keiner der beideu Spieler im Vorteil
stand, für „remis" oder unentschieden erklärt, also gerade da abgebrochen, wo die
Kämpen nicht mehr die Stärke ihres Gedächtnisses, sondern ihre eigentliche Spiel¬
starke zu zeiqeu hatten. Wiederholt hat Herr Dr. Tnrrasch. der erste Preisträger,
nach zehn oder elf Zügen Remis angeboten, das die Gegner des gefttrchteten
Kämpfers natürlich gern annahmen. sicherte es ihnen doch einen halben Point,
während Dr. Tarrasch, dem der Gewinn sicher war, nichts darauf zu geben brauchte,
ob er ihn mit einem ganzen oder einem halben Point mehr erzielte. Aber das
ist kein Spiel mehr, sondern einfach Plusmncherei, die gerade beim Schach wider¬
wärtig berührt, und die in das Gebiet der privaten Vereinbarungen fällt, deren
grundsätzliche Verwerflichkeit allgemein anerkannt ist; die Turuierregelu für das von
der Wiener Schachgesellschaft im Jahre 1873 veranstaltete Internationale Schach¬
turnier verfügten mit vollem Recht ausdrücklich -M 10, 11): „Alle Privatvereiu-
bnrungen sind im vorhinein »lo!) ungiltig. Jeder Teilnehmer verpflichtet sich
auf sein Ehrenwort, sämtliche Partien mit Aufwand seiner ganzen Kraft zu spielen."
Für das Dresdner Turnier hat man leider eine gleiche Bestimmung zu treffen
versäumt.
Es ist hier nicht der Ort, auf die aus der Natur des Schachspiels sich er¬
gebenden besondern Gründe, die gegen die gerügte Unsitte sprechen, einzugehn; hier
soll nur aus allgemeinen Gründen gegen einen Mißbrauch Einspruch erhoben
werden, ehe er noch weiter einreißt und deutsche sreie Sitte mit der thörichten
Schablone, in die mau in England selbst Spiel und Vergnügen einzuzwängen liebt,
noch mehr verunstaltet und verkrüppelt. Denn was sür das Schachspiel gilt,
macht sich auch uoch auf vielen andern Gebieten bemerkbar, und darin liegt die
weitergehende Bedeutung dieser scheinbar ein begrenztes Gebiet berührenden That¬
sache«: das deutsche Spiel artet zum englischen Sport aus. Von der unerfreulichen
Entwicklung, die im Wettrennen nach englischer Manier die Frende an schönen
und schnellen Pferden und an der Bethätigung der eignen Kraft und Gewandtheit
genommen hat, wollen wir, als von einer gar zu tief eingewurzelten, gar nicht
reden; die Welt würde doch nur über den Sonderling lachen, der die Art, wie
die Beduinen ihre Pferdeliebhabers bekunden, vernünftiger findet als das läppische
Jvckeytuin. dem der zivilisirte Europäer verfallen ist. Auch die siud uicht mehr
Zu kuriren, die der englischen Manier des Rudersports huldigen, wodurch ebenfalls
ein den Körper kräftigendes, den Geist anregendes und erfrischendes Vergnügen in
Grund und Boden riiinirt wird. Aber, bei allen Göttern des Frohsinns! Muß
denn jede Veranstaltung, die der Mensch ersonnen hat, um sich von den großem
Heiden und den kleinen Sorgen des Lebens zu erholen, dem Sportmoloch zum
Opfer fallen? Muß denn unser Ohr überall von dem mißtönenden room'Ä und
der widerwärtigen oÜAnxion8üip verfolgt werden? Muß denn der Zweiradfahrer
ein um die Meisterschaft der Welt ringender Bicyelist werden? Kann denn der
fröhliche Bergfahrer nicht feiner Neigung huldigen, ohne zum „alpinen" Fex zu
werden? Muß der gute Schuhe dem infamen Taubenschießen huldigen? Was
soll beim Billardspiel der öde Rummel mit den Serien von 1000 und mehr
Karambolagen? Selbst die gemütliche Kegelei und — der schauerliche Skat sind,
wie von den Kegler- und Skatbrüderkongressen her sattsam bekannt ist, diesem sinn¬
losen Ulk verfallen. Um den Skat, der, zu einer wahren Seuche geworden, die
Geselligkeit mordet und Charakter und Manieren verdirbt, ist es freilich nicht schade.
Aber unser Schach! Hat Herr Dr. Tarrasch wirklich kein Gefühl für die Lächer¬
lichkeit des Vorwärts, unter dem er einen Wettkampf mit einem anerkannt her¬
vorragenden und glänzend bewährten Meister nur deswegen abgelehnt hat, weil
dieser noch nicht „schachsportlich" geaicht worden ist? Warum sollen wir uns
unsre gemütvolle deutsche Freude am Leben und an den Dingen, die es verschönen,
durch die Pedantische englische Sportfexerei vergällen?
Ein hoher Offizier schreibt uns, er habe
sich über unser „Maßgebliches" in der Pferdefleischfrage gefreut, umsomehr, als
ein Berliner Blatt, das einen vom Tierschutzverein ausgegangnen, für den Konsum
vou Pferdefleisch eintretenden Aufsatz gebracht hatte, eine von ihm eingesandte
Entgegnung ignorirt habe, worin er geschrieben hatte, ebenso wenig wie man gern
einen Onkel oder eine Taute, seineu Hund oder seinen Kanarienvogel essen würde,
möchte man Pflerdefleisch genießen.
Es ist selbstverständlich, daß ein Offizier, der in ein intimeres Verhältnis
zum Roß treten muß, als etwa ein gelegentlicher Benutzer der Pferdebahn, auch
besondern Abscheu vor der Pferdefresserei fühle» muß; und anch wir — wir
kennen ihre Gründe nicht, aber wir mißbilligen sie — finden es erstaunlich vou
den Tierschutzvereiue», daß gerade sie das Aufessen für einen den Pferden wohl¬
thuenden Schlitz zu halten scheinen. Von da bis zu dem Antrag auf Ersetzung
der Altersvcrsorgungsgesetze durch solche, die ein geregeltes Aufessen unsrer Onkel
und Tanten zum Zweck hätten, ist doch nur ein Schritt! Und der nächste wäre
— uns schaudert! — der zum Aufessen unsrer Schwiegermütter. Aber das ge¬
sunde Gefühl des normalen Menschen wird sich doch gegen diese Ausartung ebenso
wie gegen die Roßschlächterei empören und diese auf die lebensmüden Droschken¬
gäule beschränken, die den armen Leuten, die auch bisher schließlich mit Hund
und Katze vorlieb nahmen, ein wenig animalische Nahrung zuführen,l solange unsre
bewundernswerter sozialen Verhältnisse sie nicht in den Stand setzen, sich menschen¬
würdigere Kost zu beschaffen.
Ein merkwürdiger Beweis für diese tröstliche Annahme fiel uns auf. Obwohl
nämlich die Bessergestellten im Volke mit dein größten Vergnügen Dutzende von
Lerchen und durch den Küchenraum „Krammetsvögel" unverfänglich gemachtes
Singgeflügel zu verspeisen gewohnt sind, denkt doch niemand daran, den, wie wir
uns aus unsern jugendlichen Jagdversnchen erinnern (die Jugend ist ja leider
grausam) — ebenso gut schmeckenden Sperling oder Spatzen zu genießen. Er wäre
doch in unsern Städten leicht zu taufenden zu haben, wo kein Schutz wegen des
Ungeziefers für ihn nötig wäre, wie auf dein Lande, und der Pferdemist vor der
Abfuhr nicht notwendig entkörnt werden muß. Sollte nicht dasselbe Gefühl, das
den nicht halbverhungerter Menschen das Pferdefleisch ekelhaft macht, gegenüber
dem MWsr ämnMticm» — traulicher Name! — im Spiele sein? Wäre es jemand
möglich, den kleinen Vagabunden zu essen, dessen Gezwitscher ihn getröstet hat,
wenn nach einer durchwachten Nacht endlich der Morgen kommt, den einzigen Boten
einer weit vor den Thoren draußen blühenden Natur?
In der Anzeige von Robert Schumanns Gesammelten Schriften
(Grenzboten vom 28. Juli 1392, S. 229) wird gewiß mit Recht behauptet, daß
Schumann in seiner Sprache nicht vor Provinzialismen zurückschrecke, serner aber,
daß er in der Schreibung anspruchlos, Hochzeittag (statt anspruchslos,
Hochzeitstag) dem Vorbilde Jean Paris gefolgt sei. ' Es bleibe dahingestellt,
ob viele Leser der Schumannschen Schriften gerade auf diese Bnchstabensachen be¬
sonders achten; aber heute sind ja Bemerkungen über Einzelheiten und Kleinigkeiten
des Sprachgebrauchs auch in sonst allgemein gehaltnen Bücheranzeigen wieder mehr
üblich als vor Jahrzehnten, und welcher Vernünftige wollte solche Sorgfalt im
kleinen tadeln? Aber bei Bemerkungen der Art geht mancher zu einseitig vom
gegenwärtigen Sprachgebrauch aus und wagt Behauptungen, die schon vor leicht
nachweisbaren Thatsache» der Sprach- und Wortgeschichte eines einzigen Jahr¬
hunderts zerfallen. So ist dem Verfasser der genannten Anzeige die Schreibung
anspruchlos und Hochzeittag aufgefallen, und da er sich wohl der bei mancher
guten Beobachtung doch im Grunde wissenschaftlich wenig bedeutenden Schrift Jean
Paris: Über die deutschen Doppelwörter erinnerte, glaubte er in der bezeichneten
Schreibung einen Anschluß an Jean Pauls Weise zu sehn. An solche Nachahmung
in diesem besondern Falle zu denken, ist jedoch ganz überflüssig, da die Schreibung
und Aussprache anspruchslos sich erst allmählich im neunzehnten Jahrhundert durch¬
gesetzt hat, während hingegen nicht bloß Jean Paul, sondern auch fast alle seiue gleich
>hin oder noch mehr als er berühmten Zeitgenossen anspruchlos, Anspruch-
losigkeit schrieben, nicht aber anspruchslos, Anspruchslosigkeit. Vielleicht
ist es dienlich, an dem Worte ansprnch(s)los die Unsicherheit des heutigen
Sprachgefühls zu zeigen, nachdem einmal die Aufmerksamkeit der Grenzbotenleser
auf Schumanns anspruchlos gelenkt worden ist.
Das Wort anspruchlos erscheint als ziemlich junge Bildung und wird nebst
Anspruchlosigkeit in den Wörterbüchern erst seit Adelung (1774) verzeichnet,
IN in gleichzeitigen und etwas spätern ziemlich ausführlichen Werken wie in Schwans
Vivtiomuürs MollumÄ-Klmyois (1783) oder in Moerbeeks deutsch-holländischem
Wörterbuch (1786) völlig übergangen. Campe (1807) führt nur anspruchlos
"uf. ebenso Heinsius (1818) und Heyse (1833). ohne die Formen anspruchslos
oder Anspruchslosigkeit auch nur zu erwähnen. Nur Cadet in der Berliner
Ausgabe des viotiaiumirs as 1'^WÄinnic; giebt schon im Beginn unsers Jahr¬
hunderts (1801) unter xrütsntiou anspruchsvoll und anspruchslos. Jakob
Grimm im Wörterbuch 1, 472 (1854) führt als Stichwort in Reih und Glied
nur anspruchlos und Anspruchlosigkeit auf, ebenso anspruchvoll, bemerkt
"ber, anscheinend als besondre Abweichung, daß Götter (gestorben 1797) an einer
Stelle anspruchslos biete. Also auch Grimm erachtet noch im Anfange der
fünfziger Jahre die Form anspruchlos für die übliche. Nicht anders verhält
sich Sanders, indem er in seinem großen Wörterbuche 2, 161^ (1363) noch nn-
spruchlos ansetzt, doch 3, 1433o (1866) neben anspruchvoll auch anspruchs¬
voll durch zwei Stellen Wielands belegt. Schon gegenüber diesen Angaben der
Wörterbücher wird man Bedenken tragen, die von Schumann gebrauchte Form
"nspruchlos auf eine Nachahmung Jean Pauls zurückzuführen. Die Schriftsteller
"um selbst stimmen mit den Anführungen der Wörterbücher ganz iiberein. Ich
finde unser Wort zuerst 1754 bei Wieland, Supplemente 4, 17 (Erinnerungen an
eine Freundin): der anspruchlose bescheidne Stolz auf selbstbewußten Wert.
Ebenso gebraucht es Wieland ein halbes Jahrhundert spater Bd. 33, 130 im
Hexameron von Rosenhain (1804): eine Unterhaltung, die ans beiden Seiten gleich
anspruchlos ist. Daß Schiller in der Jungfrau von Orleans und in der Schrift
Über das Naive die Form anspruchlos bietet, und zwar, wie Gödekes große
Ausgabe lehrt, ohne abweichende Lesart, ist vor einigen Jahren an anderm Orte
bemerkt worden. Campe in seinem Versuche Über die Reinigung und Bereicherung
der deutschen Sprache S. 20V (1794) giebt unter dein Worte Prätensionslos
das deutsche anspruchlos, ebenso im Vcrdeutschungswörterbnche S. 544d (1801);
auch Jördens im Lexikon deutscher Dichter und Prosaisten 1, 244 (1806) hat
Anspruchlosigkeit neben prätensionsvoll ehb. 4, 41. Gerade aus diesem
neben Prätensionslos und prätensionsvoll so übereinstimmend gesetzten an¬
spruchlos und -voll darf man wohl schließen, daß Campe und Jördens in den
entsprechenden ganz deutschen Wörtern die Aussprache ohne bindendes s für üblich
oder mustergiltig gehalten haben. E. M. Arndt zeigt früher und später überein¬
stimmend die Schreibung anspruchlos; so An spruchlosi gien in seinen Reisen
dnrch einen Teil Deutschlands 2, 235 (2. Aust. 1804), desgleichen in den Schriften
An meine lieben Deutschen 2, 264 (Über den deutschen Stndentenstaat, zuerst er¬
schienen 1815); anspruchlos ehb. 3, 339 (Über G. A. Reimer, 1842). Niemeyer,
Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts 1, 544 (1318) hat anspruchlos,
ehb. 3.174 (1819) Anspruchlosigkeit und 225 anspruchvvlles Wesen. Auch
im Rheinischen Merkur (1814 bis in den Januar 1816) steht wiederholt an¬
spruchlos, doch daneben auch anspruchslos in Ur. 83 vom 17. Juli 1814 und
in Ur. 356 vom 3. Januar 1816. Wenig später finde ich Anspruchslosig¬
keit in Claurens Mimili, S. 32 der Reelamscheu Ausgabe, und ich will annehmen,
daß hier, wie solche Genauigkeit ja in der Reelamscheu Sammlung seit einigen
Jahren üblich geworden ist, ein getreuer Abdruck der ersten Ausgabe vom Jahre
1816 vorliege. Diese leicht zu mehrenden Belege werden zum Beweise dafür
genügen, daß unsre großen Schriftsteller wie Wieland, Goethe, Schiller n. a. in
ihrer frühern und in ihrer spätern Zeit die Form anspruchlos gebrauchten, und
daß es die kleinern im allgemeinen ebenso machten; daß ferner schon in den letzten
Jahrzehnten des achtzehnten Jahrhunderts die Form anspruchslos vereinzelt
und seit dem zweiten Jahrzehnt unsers Jahrhunderts häufiger vorkommt, jedoch
in den Wörterbüchern, anßer bei Cadet, noch lange Zeit keine Anerkennung findet,
bis sie seit den fünfziger und sechziger Jahren das Übergewicht bekommt, sodaß
schließlich im Jahre 1392 in den Grenzboten die Form ohne s als fremdartige
Bildung betrachtet werden kann, die sich angeblich erst als Nachahmung des seiner¬
zeit ja vielen Schriftstellern als Vorbild geltenden Jean Paul erklären läßt.
Nicht viel anders steht es mit der ebenfalls auf Jean Paul zurückgeführten
Schreibung Hochzeittag. Die vorhin genannten Wörterbücher bezeichnen über¬
einstimmend sämtliche Zusammensetzungen mit Hochzeit ohne das bindendes, und
auch diese Angaben entsprechen dem bis vor einigen Jahrzehnten geltenden Sprach¬
gebrauche. Auf Vorführung von Beispielen kann verzichtet werden; es sei nur
erinnert an Herders bekannte Ballade Erlkönigs Tochter, in der Otus spricht:
Und weil dem Tage gewöhnlich eine Nacht entspricht, so möge Wieland noch einmal
zu Worte kommen, in dessen Lueianübersetzung wir Bd. 4, 412 (1789) lesen: die
meuchelmörderische Hochzeitnacht der fünfzig Dnnaidcn.
Und nun die Nutzanwendung: Möchten doch alle, die über deutschen Sprach¬
gebrauch etwas durch den Druck mitteilen wollen, sich sorgfältig umthun, wo schon
derselbe Gegenstand durch Sachverständige entweder ausführlich behandelt oder ge¬
streift worden ist. Im vorliegenden Falle würde schon eine Befragung der
genannten Wörterbücher, besonders aber ein Einblick in den zweiten Band der
Grimmschen Grammatik vor dem Aussprechen einer unhaltbarer Meinung bewahrt
haben.
Zusatz der Redaktion. Wir haben die vorstehende Belehrung abgedruckt, damit
der Verfasser nicht seine mühevolle Zusammenstellung vergebens gemacht habe.
Was aber nun Herrn Gombert unbekannt zu sein scheint, ist das, daß Schumann
jahrelang ausschließlich für Jean Paul geschwärmt, ausschließlich Jean Paul ge¬
lesen hat und daß er in seiner Ausdrucksweise aufs tiefste von ihm beeinflußt
worden ist. Der Gedanke also, auch in solchen Kleinigkeiten den Einfluß Jean
Pauls zu sehn — natürlich nicht der Schrift über die Doppelwörter (!), sondern
des Jean Paulischen Sprachgebrauchs — ist durchaus nicht so thöricht, wie es
Herrn Gombert erschienen ist. Im Übrigen mag er ja Recht haben.
In dem neuesten Hefte der Bierteljahrsschrift für
Musikwissenschaft (8. Jahrgang, 2. Heft) befindet sich ein Aufsatz von Max Fried¬
länder, der den Nachweis führt, daß das uuter Mozarts Namen gehende Wiegen¬
lied: „Schlafe, mein Prinzchen, es ruhn" n. f. w. nicht von Mozart sein kann.
Da die Vierteljahrsschrift uur in den hier sehr engen Kreisen der Fachwissenschaft
gelesen wird, das Liedchen aber allbekannt und allbeliebt ist — wird es doch sogar,
trotz des verfänglichen Fragesatzes in der zweiten Strophe, von manchen Sängerinnen
Ul öffentlichen Konzerten gesungen! —, so wollen wir die Beweisführung Fried-
länders kurz mitteilen.
Friedländer hat durch einen glücklichen Zufall entdeckt, Woher der Text des
Liedes stammt. Bisher wurde es bald Claudius, bald Gleim, bald Weiße zuge¬
schrieben. Es ist aber von keinem von allen, sondern von Götter, und zwar steht
es in dessen Schauspiel „Esther."
Die Esther ist eine Dichtung in Wielaudischer Manier, voll Grazie, voll Laune,
voll Satire, voll toller Anachronismen; nur Rambergische Kupferstiche gehörten
noch dazu. Im fünften Akt liegt Ahasver unruhig auf seinem Sofa und kann
keinen Schlaf finden. Eben hat er seinem Astrologen Belsatzar ein Traumgesicht
erzählt und dessen Deutung gefordert, und nun ist sein Leibarzt Hippokrates bei
eben und soll ihm Schlaf schaffen. Da Hippokrates seine Unfähigkeit gesteht, kommt
Ahasver selbst auf den Einfall, die schöne Sklavin Fatme rufen zu lassen, damit
sie ein Lied singe: „ein Lied — wobei man schlafen kaun — Gleichviel! — Ein
Wiegenlied!" Als sie sich einen Augenblick ziert, fügt er drängend hinzu: „Das
Wiegenlied, das ich vor kurzem Eheherr gab! — Du weißes! Besinne dich!" Und
nun singt sie „zur Guitarre":
Friedländer schließt nun so: Mozart starb 1791, Gollers Esther wurde erst
1795 veröffentlicht. Die Möglichkeit also, daß Mozart der Komponist des Lied¬
chens sei, würde nur dann vorliegen, wenn man annehme» dürfte, entweder: daß
Götter seine Esther schon vor 1791 gedichtet und das Wiegenliedchen Mozart zur
Komposition geschickt habe, oder: daß das Liedchen allein vielleicht schon vor 1791
von Götter irgendwo veröffentlicht, oder daß es vielleicht gar nicht von Götter
selbst gedichtet, sondern nur als Einlage von ihm benutzt, oder endlich daß es von
Götter einer bereits vorhandnen Mozartischen Melodie untergelegt worden sei. Alle
diese Annahmen sind ausgeschlossen bis auf eine: es steht in der That fest, daß
die Esther schon 1789 gedichtet war. Denn Karoline Böhmer schreibt-schon im
Oktober 1789 in einem Briefe an F. L. W. Meyer: „Götter hat eine stolze
Vastha (so!) und eine demütige Esther gemacht, die er in Weimar vorlas.""")
Die Echtheit des Liedchens wird aber auch aus andern Gründen zweifelhaft.
Bis 1828 hat niemand etwas von dem Liede gewußt. Erst da — also 37 Jahre
nach Mozarts Tode! — wurde es zum erstenmale gedruckt als musikalische Bei¬
lage zu der Biographie Mozarts von Nissen. Dieser Nissen war der zweite Mann
von Mozarts Witwe Konstanze; sein Buch wurde nach seinem Tode von Mozarts
und nunmehr auch Nissens Witwe herausgegeben. So wie das Lied aber dort
gedruckt ist, zeigt es ein paar auffällige Fehler, namentlich einen groben Verstoß
gegen die Deklamation, der Mozart schlechterdings nicht zuzutrauen ist, und einen
gegen die musikalische Grammatik. Übrigens hat nachweislich Nissen und seiner
Frau das Lied nicht in Mozarts Handschrift, sondern nur in einer Abschrift vor¬
gelegen; beide wußten nicht, souderu glaubten nur, daß das Lied von Mozart sei.
Also, schließt Friedlnnder, „wir können als sicher annehmen, daß auch das Wiegen¬
lied zu den Kuckuckseiern gehört, die in Mozarts Nest gelegt wurden" ssoll heißen:
gelegt worden sind^.
Endlich sucht Friedländer dem wirklichen Komponisten des Liedes auf die
Spur zu kommen. Es ist ihm gelungen, eine Komposition des Liedes von
dem Herzoglich Sachsen-Meiningischen Kapelldirektor Fleischmann nachzuweisen, die
179K in Offenbach gedruckt, auch anderwärts nachgedruckt wordeu ist, und deren
Anfangstnkte, ebenso wie ein chromatischer Gang in dem vorletzten Takte der
Klavierbegleitung, eine auffällige Ähnlichkeit mit denselben Takten der angeblich
Mozartischen Komposition zeigen. Und so schließt er denn mit der Vermutung:
«Ein geschickter Musiker, der mit Mozarts Stil vertraut war, wandelte in
den zwanziger Jahren Fleischmnnns Lied in die uns jetzt geläufige Form um.
Die neue Komposition fand dann ihren Weg nach Salzburg, wo einige Musiker
Mozarts Art darin zu erkennen glaubten, und daraufhin wurde das Lied von
Koustcmze ohne viele Skrupel als Mozarts Werk herausgegeben."
Ich möchte zu dieser Beweisführung nnr wenige Bemerkungen machen. Friedlnnder
selbst führt aus der Lebensbeschreibung Gollers vou Schlichtegroll (zuerst gedruckt
im Nekrolog auf 1797, daun wieder 1802 vor Gollers Nachlaß) die Nachricht
daß Götter sein Singspiel „Die Geisterinsel" an Mozart habe zur Kompo¬
sition senden wollen, daß aber Mozart vor der Ausführung dieser Absicht gestorben
sei. (Die Geisterinsel wurde später von mehreren andern komponirt.) Die Er¬
zählung Schlichtegrolls klingt so bestimmt, als ob er sagen wollte: Schade, daß
Mozart starb, sonst hätte er die Geisterinsel höchstwahrscheinlich komponirt! Wie
hätte nun Götter diese Hoffnung hegen können, wenn er bis dahin mit Mozart
gar keiner Verbindung gestanden hätte? Die Annahme also, daß Götter bereits
1789 sein Wiegenlied Mozart zugeschickt habe, mit der Bitte, es zu komponiren,
Uegt eigentlich nicht so fern. Höchst bedenklich aber ist der Umstand, daß sich
das Lied in Mozarts Nachlaß nicht in Mozarts Handschrift vorgefunden hat.
dieser Umstand allein hätte schon bisher ausreichen können, das Lied Mozart ab¬
zusprechen.
Wenig Glauben wird die Ansicht Friedländers finden, daß die angeblich
^ozartische Komposition aus der Fleischmannischen zurechtgeschnitten sei. Beide
Rmnpvsitivnen sind so verschieden, wie ein paar Kompositionen desselben Liedes
damals — d. h. vor Beethoven und Schubert — nnr sein konnten. Daß der
Anfang beider eine auffällige Ähnlichkeit hat, ist nicht zu leugnen. Aber Fried-
länder selbst weist ja ans die allbekannte Melodie des Volksliedchens: „Schlaf,
Knochen, schlaf!" hin, die durch beide hindurchtiingt. Wenn heute zehn Kom-
Vmnsten die Aufgabe bekämen, das Lied zu komponiren, so wäre es allerdings
Uwglich, daß ihre zehn Kompositionen nicht die geringste Ähnlichkeit unter einander
ö^gten. Aper wie komponirt man auch heute! Heute würde sich doch jeder, dem
d'ehe Aufgabe gestellt würde, zunächst fragen: Wie fängst dus an, daß du etwas
^de Ungewöhnliches, Unerwartetes, Unnatürliches zu stände bringst, in der
celodie, im Rhythmus, in der Bcgleitungsfigur u. f. w. Wenn dagegen vor
Mndert Jahren zehn Komponisten die Aufgabe gestellt worden wäre, so kann man
darauf schwören, daß ihre zehn Kompositionen alle im Dreiviertel- oder Sechs¬
achteltakt gewesen wären, und daß das „Schlaf, Kindchen, schlaf" wie durch Tap-
pertsche „wandernde Melodien" in alleu wiedergeklungen hätte. Die in Mozarts
Nachlaß gefundne Komposition kann also recht gut eine selbständige Arbeit sein.
Der Komponist bliebe dann noch nachzuweisen, wenn — es der Mühe lohnte.
Aber lohnt es denn der Mühe? Friedländer spricht das Lied augenscheinlich
mit einem gewissen Bedauern Mozart ab. Er spricht von seiner „feinen, zierlichen,
den Musiker wie den Laien gleichmäßig erfreuenden Melodie," die ebenso sehr
„Webers wie Mozarts Züge" trage, „aufs glücklichste die galante Stimmung des
Gedichts" treffe u. f. w.; sogar den recht gewöhnlichen chromatischen Gang am Schlüsse,
der wohl in hundert Liedern jener Zeit wiederkehrt, nennt er den „schönen chro¬
matischen Gang." Wie verschieden wir doch da sühlen! Ich habe das Liedchen
manch liebes mal Sängerinnen begleitet und habe das natürlich stets mit der
nötigen Pietät besorgt. Aber im Geiste sah ich doch dabei immer zu meiner
Rechten eine Hand die Kurbel drehn und dachte: Na, das Lied hangest du auch
nicht, wenn nicht Mozart drüber stünde! Auf mich hat offen gestanden der Nach¬
In wenigen Wochen wird Berlin durch Eröffnung
des neuen Theaters „Unter den Linden" um eine gUnrorioir bereichert werden —
so melden die Zeitungen. Eine ^ttrirotion für wen? An jedem Abend sollen zwei
große Ballets und eine Operette aufgeführt werden. Zweihundert „Figurantinnen
sind engcigirt"; das Theater faßt tausend Zuschauer. Gespiele wird bis Mitter¬
nacht, doch bleibt das „Etablissement" bis ein Uhr geöffnet. Mit dem Theater
wird sich ein Cas« und ein — Hotel verbinden. Honn^ soit c^ni irml xsnss!
Vielleicht ist sogar ein Gutes dabei. Man sieht endlich, wo das Ballet hingehört.
Amerika tritt uns immer näher. Einst schwamm es wie ein Wolkenstreif,
der sich ins Unbestimmte verliert, tief am Abendhimmel, rot und golden wie ein
Märchen; aber es ist gewachsen und steigt immer höher und dunkler am Firmament
herauf, wir unterscheiden schärfer einzelne Teile und ermessen die Größe des Ganzen,
dessen Schatten über das Meer bis zu uns herüberfällt. In dem Fremden dieser
Erscheinung liegt etwas Drohendes, wir erwarten unbestimmt einen Einfluß dieser
Raumgröße, dieser Menschenmengen und vervielfältigten Hilfsmittel und Leistungen
auf unser soviel kleiner zugeschnittnes Wesen und fragen uns, ob unser politisches
Kleingewerbe in der Konkurrenz mit diesem großen Unternehmer bestehen werde.
Nächst Nußland fordert Nordamerika am dringendsten zum Studium auf, nicht uns
nur, sondern alle Europäer, und da wir keinen Überfluß an guten Büchern über
dieses Land haben, begrüßen wir mit Dank neue, gute Berichte; sie sind um so
notwendiger, als die transatlantischen Länder in ihrem jugendlichen Wachstum sich
in vielen Einzelheiten überraschend schnell verändern.
Gegen das Buch, von dem wir heute ein paar Worte sagen möchten, haben
Wir freilich allerlei einzuwenden; wir wollen aber erst am Schlich berühren, was
uns nicht gefällt, um zuerst das Gute zu loben und zu empfehlen, was uns daran
angezogen und gefesselt hat.
Wir haben hier die gewissenhafte Arbeit eines gebildeten Deutschen vor uns,
der die bedeutendem Städte und Landschaften der Vereinigten Staaten östlich
vom Felsengebirge fast alle besucht und prüfenden Auges durchwandert hat, den
der Wunsch beseelt, wahrheitstreuen Bericht zu geben, und dessen Schilderungen
uns in angenehmer Plandersvrache ohne alle Länge und doch ernst belehre,', indem
sie uns zugleich unterhalten. Wir halten das Buch für geeignet, ein im ganzen
richtiges Bild der Bereinigten Staaten diesseits des Mississippi zu geben, und
wünschen, daß es aufmerksame Leser finden möge.
Von vornherein hat es uns für den Verfasser eingenommen, daß er offenbar
den aufrichtigsten Wunsch hegt, die Wahrheit zu finden und zu sagen. Wir wissen
aus Erfahrung, daß das nicht leicht ist, um so weniger leicht, als soviele von
unsern eignen Landsleuten drüben vor dem Amcrikanertmn ans dem Bauche liegen.
Das erbittert und mischt leicht das Grelle des Widerspruchs in die Farben unsrer
Schilderung. Es ist überhaupt schwer, einer so jugendlichen Erscheinung gegenüber,
wie es Nordamerika in Beziehung auf seine Kultur und in politischer Beziehung
i>t, den richtigen Weg in Anerkennung und Tadel zu finden. Unserm Verfasser
ist das größtenteils gelungen. Er hat geographische Studien gemacht und verliert
nicht das Große des Landes über den Einzelheiten ans dem Ange. Es ist ganz
gut, daß er uns öfter auf die in der Natur, sogar in geologischer Tiefe der neuen
Welt liegenden Schranken ihrer Entwicklung aufmerksam macht, denn auch in Europa
lassen wir uus allzu leicht von dem Großen bestechen, das ja nicht alles positiv
ist, und dem Jugendlichen, das ja nicht alles hoffnungsvoll ist. Wir vergessen
den ungeheuern Vorzug unsrer alten Geschichte, unsrer ehrwürdigen Umgebungen,
die uns Wie Kinder einer altangeseßnen Familie, die in großen geschichtlichen,
erinnerungsreichen Räumen aufwachsen, neben die des reichen, aber unbehaglich in
all seinem Neuen, Unehrwürdigeu, der Vergessenheit bestimmten Emporkömmlings
stellen.
Was uns weniger an dein Buche gefällt, ist der Mangel an Sicherheit und
Bestimmtheit. Wir meinen, der Mann, der es geschrieben hat, könnte nicht weit
von der mittlern Elbe oder Oder zu Hause sein. Seine vorsichtigen Urteile über
Dinge, in die ein andrer ein Donnerwetter hineinschlagen ließe, erinnern an die
bekannten Anekdoten von dem komisch-höflichen Obersachsen. Herr Deckert ist gerade
kein Bliemchen, aber er hat ein bischen von dessen Manier, was uns von dem
sonst vortrefflichen Mann aufrichtig leid thut. Es giebt so manches, was klar und
scharf zu verurteilen wäre. Ihm erscheint die Zukunft gewisser Dinge, die man
>n deu Boden verwünschen möchte, nur als „vielleicht zweifelhaft." Die Sprache
der amerikanischen Zeitungen ist manchmal ein „wenig kräftig." An den Niagara-
sällen, wo ihn, wie schon manchen vorher, die unverschämten Kutscher und Haus¬
knechte ärgern, schreibt er folgenden Satz nieder: „Land der Freiheit! seufzen
wir und lassen das Unvermeidliche über uns ergehn, wenn auch uicht, ohne
dann und wann eine kleine Portion göttlicher Grobheit auf die Zudringlichen
regnen zu lassen." Sehr gut: kleine Portion, göttlich, regnen lassen, Seufzer,
leider paßt nur dazu Grobheit nicht; wir glauben gar nicht, daß Herr Deckert
grob sein kann, und daß er das nicht sein kann, ist hier uicht bloß menschlich,
sondern auch stilistisch ein großer, ja fast ein grober Fehler. Die Erscheinungen
des amerikanischen Landes und Lebens sind selbst zu groß und zu massiv, als das
ein schüchtern zaghaftes Berühren genügte. Wer sich dem Großen gegenüber nicht
entschlossen auf die eine oder andre Seite zu stellen weiß, der wird oft um Teilen
herumtasten, indem er meint, das Ganze zu umfassen, kurz er läuft Gefahr, vor
lauter Objektivität oberflächlich zu werden. So geht es, fürchten wir, Herrn Deckert
mit dem großen Problem der neun Millionen Neger in den Vereinigten Staaten,
von dem er in den allerverschiedensten Kapiteln spricht, ohne die wahrhaft gewaltige
Bedeutung dieser schweren, niederziehenden Masse much nnr mit einem Worte zu
verraten. Auch andre Schäden, besonders die politische Korruption und das
geradezu stürmische Hineintreiben in die Stubet der Plutokratie, behandelt er viel
zu faserig.
Von dem löblichen Bemühen, einen guten Stil zu schreiben, das aber doch
zu sehr Bemühen bleibt, hebt sich komisch die Vorliebe für die abgegriffensten
klassischen Sentenzen ab. Es lassen sich einige Dutzend aus dem Buche heraussieben
von der Art des Imziclit in LoMcmi oder des vtilo oum eluloi. Die gleiche
Neigung, Bildung zu zeigen, bemerken wir auch in der geflissentlicher Anfwühlnng
des Geologischen an unpassenden Stellen. Wir würden nichts dagegen haben,
wenn uns nicht die Furcht beschliche, es möchte sich hinter solchen Schwächen eine
Unreife bergen, die außer Verhältnis zu der großen Aufgabe der Schilderung
Nordamerikas steht.
Einen starken Mann haben wir jedenfalls nicht vor uns, und so ist denn auch
das Buch mehr im einzelnen lehrreich und angenehm als im ganzen. Man liest
es nicht mit steigender Befriedigung, weil die vielen, an sich guten Einzelheiten
nicht zu einem Guß zusammengeschmolzen siud, daher mit der Zeit ermüdend wirken.
Aber freilich enthält es auch nichts Unrichtiges, Schädliches oder Abstoßendes, und
das ist schon viel für ein Buch über ein so großes, schwerverständliches Land.
Die neue Folge der „Grauen Geschichten" entspricht in Vorzügen und Mängeln
der ersten unter diesem Titel erschienenen Sammlung, der einzige Unterschied ist
vielleicht, daß in deu „Weihnachtsfahrteu" ein wenig mehr Licht in das Gran der
Lebensschilderung fällt, das die Verfasserin in ihren Skizzen bevorzugt. Denn
Skizzen, meist Skizzen zu einem ganzen Roman und nicht Novellen sind es, die
auch in dieser neuen Folge vorwalten; „Frnnlein Josephine," „Die Familie Morin,"
„Der Anfang vom Ende" schließen je einen ganzen, freilich je einen trostlosen
Lebensromcm in sich ein, womit wir nicht etwa gesagt haben wollen, daß es rät¬
lich und erquicklich sein würde, diese Romane thatsächlich auszuführen. Die Be¬
obachtungen der Verfasserin sind richtig, die Wahrheit der skizzirten Charaktere und
Schicksale ist meist unbestreitbar, lind trotz ihrer entschiednen Neigung für Dar¬
stellung des Peinlichen und Düstern verletzt M. zur Megede die Bescheidenheit der
Natur sehr selten. Wie die Dinge liegen, ist schwer zu sagen, ob an der leidigen
Bevorzugung der unerfreulichsten Seiten des Daseins die Grundstimmung der Ver¬
fasserin oder die leidige Mode den Hauptanteil hat. Daß die Schriftstellerin nicht
schlechthin unfähig ist, andre Erscheinungen zu sehn und zu würdigen, erweisen
Einzelheiten des kleinen Bandes. Geschrieben sind die kleinen Geschichten mit lobens¬
werter, ein wirkliches Talent verratender Einfachheit, und insofern bilden sie einen
Gegensatz zu den beliebten renommirenden Elendsdarstelluugen.
regorovius hat durch seine Blut in Blut gemalten Schilderungen
anschaulich bewiesen, wie schauerlich die Wirklichkeit wäre, in die
sich das phantastische Bild des sozialistischen Zukunftsstaats um¬
setzen müßte. Zwar ob er auf eine nennenswerte Zahl von
Sozinldemvkraten damit Eindruck gemacht hat, steht dahin. Sie
sind gegen Gründe der Logik und gegen psychologische Schlußfolgerungen vor¬
läufig noch dadurch gewappnet, daß ihnen ihr Programm einfach Glaubenssache
ist. Dem „Himmel auf Erden" und Eugen Richters Zukunftsbildern gebührt
aber das Verdienst, die bürgerliche Gesellschaft in der Form des Romans,
der einzigen, in der noch an sie hinanzukommen ist, von den Ideen unter¬
richtet zu haben, die in den Köpfen vou Hunderttnuseuden ihrer Landsleute
spuken. Mancher Leser wird sich freilich der Unausführbarkeit dieser Ideen
getrosten und damit diese selbst für abgethan halten. Andre mögen das Gruseln
gelernt und sich einem hoffnungslosen Pessimismus ergeben haben. Aus
Pessimistischen Kreisen stammt die Frage: „Wie kam es doch?" Stellen wir
die Gegenfrage: „Mußte es denn so kommen?"
Kein Zweifel, jeder denkende Sozialdemokrat sagt sich: die Beseitigung
der bestehenden Staats- und Gesellschaftsordnung ist nur durch Gewalt zu
erreichen. Phrasen wie: der heutige Staat werde unmerklich in die sozialistische
Gesellschaft hineinwachsen, eines Abends werde man sich uoch als Bourgeois
zu Bett legen, um am andern Morgen als Genosse aufzuwachen, können nicht
ernst gemeint sein. Man mag sich die Widerstandsfähigkeit der heutigen Ge¬
sellschaft noch so gering, die einstige Gewalt der sozialistischen Ideen noch so
groß vorstellen, niemals werden sich die Besitzenden freiwillig ihres Privat¬
eigentums beraube» lassen. Auch nicht, wenn ihnen diese Beraubung als
„Verwandlung des kapitalistischen Privateigentums an Produktionsmitteln
Grund und Boden, Gruben und Bergwerken, Rohstoffen, Werkzeugen, Maschinen,
Verkehrsmitteln — in gesellschaftliches Eigentum und die Umwandlung der
Warenproduktion in sozialistische, für und durch die Gesellschaft betriebne
Produktion" schmackhaft zu machen versucht wird. Um über den wahren
Sinn dieser Formel in den eignen Reihen keinen Zweifel aufkommen zu lassen,
wird denn auch immer wieder von der parlamentarischen Tribüne herab, in
der Presse, in den Versammlungen der „revolutionäre" Charakter der Sozial¬
demokratie betont. Es ist nur eine erzwungne Verbeugung vor dem Staats¬
anwalt, wenn dabei vorsichtigerweise von der „Revolutionirung der Geister"
gesprochen wird. Die Auguren unter sich wissen genau, was sie meinen.
Ehrlicher klingt es, wenn man die Führer sagen Hort: man solle sie doch
nicht für so dumm halten, daß sie schon heute oder morgen die Massen gegen
den Staat und gegen den Besitz Sturm laufen ließen. Sie wüßten ebenso
gut, wie ihre Gegner, daß sie mit blutigen Köpfen heimgeschickt werden
würden und dann die rücksichtslose Unterdrückung aller bürgerlichen und Wirt"
schaftlichen Freiheit über sich ergehen lassen müßten. Wir glauben deshalb
gern, daß die Heerführer der sozialistischen Revolution nicht eher auf die
Barrikaden steigen werden, als sie nicht sicher zu sein glauben, auch mit der
Armee fertig zu werden. Da sie niemals hoffen dürfen, die Waffen mit den
Massen zu überwinden, so können sie nur rechnen, die Armee selbst oder doch
einen großen Teil auf ihre Seite zu bringen. Kein Satz des sozialistischen
Programms ist daher logischer und aufrichtiger gemeint als die Forderung:
Volkswehr an die Stelle der stehenden Heere. Denn solange die heutige
Heeresverfassung in Kraft bleibt, ist nicht zu befürchten, die Disziplin der
deutschen Armee werde jemals so gelockert werden, daß sie dem Kampfe auch
gegen den innern Feind nicht gewachsen wäre. Zweifellos dienen schon heute
im aktiven Heere nicht wenige, in der Reserve und Landwehr tausende und
abertausende von Sozialdemokraten. Sie pflegen in der Truppe nicht durch
irgendwelche Nachlässigkeit im Dieustbetrieb kenntlich zu werdeu. Im Gegen¬
teil, ihre Führung ist in der Regel musterhaft, ihre Intelligenz meist über¬
mittelmäßig. Eine gewisse verdrvßue Zurückhaltung ist das einzige Anzeichen,
wodurch sie sich verraten. Jeder, der eine Landwehrübung mitgemacht hat,
weiß aber auch, daß diese Stimmung gegen das Wiederaufleben soldatischer und
kameradschaftlicher Erinnerungen selten Stand hätt. So kann man wohl sagen,
daß, die Armee die sozialdemokratischen Elemente, die sie heute in sich birgt, ein¬
fach in sich erdrückt, ja daß sie die beste Schule ist, ihre dem roten Banner ver-
fallnen Glieder wieder zu deu alten Fahnen zurückzuführen. Die Hauptsache
ist, daß das Offizierkorps der Linie wie des Beurlaubtenstandes niemals auch
nur zum kleinsten Bruchteile der sozialistischen Propaganda anheimfallen wird.
Freilich drückt der Rückgang der ländlichen, die Zunahme der Fabrikbevölkerung
die Beschaffenheit des Truppcnersatzes nicht bloß körperlich, sondern auch
moralisch herab. Zugleich vermehrt die gesteigerte Schulbildung die Zahl der
intelligentern, aber auch schwieriger zu diszipliuirenden Soldaten. Immerhin
ist die Macht der Überlieferung, die Lust am Waffenhandwerk, der gute Geist
in der deutschen Armee noch so lebendig, die Disziplin so sehr Fleisch und
Blut des ganzen Organismus, daß diesen Kräften eine längere Dauer pro¬
phezeit werden darf, als sie politische und soziale Bewegungen selbst der tief¬
gehendsten Art auszuweisen pflegen. Überall, wo die Armee gegen den innern
Feind versagt hat, war von oben her, durch Schwäche und Unentschlossenheit
der Befehlshaber, gesündigt worden. Daß in dieser Beziehung vorläufig nichts
zu besorgen ist, wissen Vebel und Liebknecht ganz genau.
sichrer als an die Flinte, die schießt, und an den Säbel, der haut, ist
an die mehr moralischen Machtmittel des modernen Staates, um seine Gesetze
und ihre Vollstrecker, die Obrigkeiten, hinanzukommen. Sie gleichen den Noten,
die der Staat an Stelle des gemünzten Geldes in Verkehr bringt. Sind sie
dnrch ein starkes Heer, die ultima ratio re^um, genügend gedeckt, so gelten sie
wie Gold und Silber. An dem Tage, wo die Macht nicht mehr hinter dem
Recht steht, sind die Gesetze wertlose Assignaten, die Behörden bankrotte Ver¬
walter eines bankrotten Geschäfts. Im geordneten Staatswesen können aber,
wie seine Noten auch ohne Zwangsknrs gern genommen werden, auch die
Obrigkeiten ihre Aufgaben schon mit Hilfe des Kredits erfüllen, den ihnen der
Sinn des Volks für Gesetzlichkeit verschafft. Ja sie überstehn damit, allen¬
falls noch mit der Scheidemünze der Polizeimacht, auch kleinere Krisen, ohne
die Goldreserve angreifen zu müssen. Daß es der Sozialdemokratie in weitem
Umfange gelungen ist, jenen gesetzlichen Sinn zu zerstören, ist gewiß. Doch
wäre es kaum gerecht, diese Zerstörungen nur auf ihr Schuldkvnto zu bringen.
Eine der zersetzendsten Säuren, den vielbeklagten Materialismus unsrer Tage,
hat sie bereits vor- und in voller Arbeit gefunden. Die Verbreitung der
allgemeinen Bildung, das Erwachen der nationalen und politischen Empfin¬
dungen, die Einführung der konstitutionellen Regierungsform und der Selbst¬
verwaltung in allen Zweigen des Staatslebens haben die mannichfaltigsten
Kräfte zur thätige» Mitwirkung an den staatlichen Aufgaben berufen, dadurch
die Leistungsfähigkeit des Ganzen ungeheuer gehoben, aber auch das Selbst¬
bewußtsein bis zur Selbstsucht und Selbstüberhebung gesteigert. An Stelle
der alten vertrauensvollen, patriarchalischen Verhältnisse sind im Staats- und
Privatleben sorgfältig abgezirkelte, wohlparagraphirte und doch stets uinstrittnc
Rechts- und Pflichtenkreise getreten, die Bequemlichkeit des Regierens hat
aufgehört, die Bureaukratie muß, wenn sie die Führung noch behalten will,
neuen Wein in die alten Schläuche füllen, selbst die Träger der Krone sind
mit einem Tropfen demokratischen Oich gesalbt. Mag man nun die heutige
Politische Entwicklung als glückverheißende Errungenschaft des Jahrhunderts
segnen oder als den Anfang vom Ende verfluchen, wir können nicht mehr
zurück. Auch der ärgste Reaktionär kann als praktisch erreichbar nur hoffen,
möglichst viel von dem Bestehenden und von dem alten Geiste in die neue Zeit
herüberzuretten. Daß die Sozialdemokratie als die jüngste und radikalste der
Parteien auch politisch auf den äußersten linken Flügel trat, war selbstver¬
ständlich. Ebenso, daß die bestehenden politischen Parteien im Interesse der
Staatserhaltung — ein klein wenig vielleicht auch im Interesse der Selbst¬
erhaltung? — zunächst versuchten, die neue Konkurrentin mit Gesetzesgewalt
zu unterdrücken. Dieser Versuch ist gescheitert, seine Wiederholung — täuschen
wir uns darüber nicht — ist aussichtslos. Was nun? Man hat eine Formel
gefunden, die auf viele, die sich schmeicheln, juristisch-logisch zu denken und
gerecht zu urteilen, eine außerordentliche Wirkung gehabt hat. Man sagt, der
Staat sei nicht verpflichtet, die unter seinen Einwohnern, die ihn selbst zu
beseitigen trachten, ihn „negiren," der staatlichen Rechte und Wohlthaten teil¬
haftig werden zu lassen. Er könne sie streng genommen auch von den durch
die Wahlen ihnen übertragnen Ämtern, vor allem von der Volksvertretung
ausschließen, mindestens sei er berechtigt, ihnen die praktische Mitarbeit in den
Parlamenten und ihren Kommissionen zu verweigern. Auch ihre Presse, ihre
Vereine und Versammlungen dürfe er mit anderm Maße messen, sehr wohl
könne er ihnen Vergünstigungen versagen, deren Gewährung überhaupt in das
Ermessen der Verwaltungsbehörden gestellt sei (Tcllersammlungeu u. dergl.).
Nun gilt aber doch schon im Privatrecht der Satz, daß niemand deshalb von
einem Vertrag zurücktreten kann, weil der Gegenpnrt dessen Erfüllung ver¬
weigert. Wäre aber ein solcher Rücktritt gestattet und wäre es selbst zulässig,
das Verhältnis zwischen Staat und Bürger unter die kümmerlichen Gesichts¬
punkte des Privatrechts zu bringen, so müßte doch das Rechts- und Pflichten¬
verhältnis gleichzeitig auf beiden Seiten zu Ende gehn. Folgerichtig wären
dann die sozialdemokratischen Staatsbürger von dem Heeresdienste, der Steuer-
Pflicht und zahlreichen andern öffentlichen Pflichten entbunden, umgekehrt
könnten sie auch keine Ansprüche auf Rechtsschutz für Leben, Freiheit, Eigen¬
tum n. f. w. erheben. Gegen die ersten dieser Folgerungen würden wohl der
Kriegs- und der Finanzminister, gegen die andern der Justizminister Einspruch
zu erheben haben. Und ob dem Verwaltungsminister damit gedient wäre, daß
die nun einmal im Lande wohnenden Hunderttausende von Sozialdemokraten
nach den Regeln des Pandekteurechts für nichtig erklärt würden, ist doch die
Frage. Auch dürfte sich das natürliche Rechtsgefühl schwerlich zu diesen
Höhen juristischer Sophistik erheben und die alten guten Sätze vergessen: Was
dem einen recht ist, ist dem andern billig, und: Was du nicht willst, daß man
dir thu, das füg auch keinem andern zu. Endlich müßte, wenn jene Grund¬
sätze auch nur im Sinn ihrer Verfechter einigermaßen gerecht gehandhabt
werden sollten, in jedem einzelne» Falle eine Prüfung der politischen Gesinnung
auf Herz und Icieren voransgchn, die die Inquisitoren schließlich selbst mit
Ekel erfüllen würde. Oder man müßte versuchen, mit dem Satze zu trösten,
daß um des höhern staatlichen Zwecks willen der Gerechte auch einmal mit
dem Ungerechten zu leiden verstehe« müsse. Der Erfolg wäre eine allgemeine
Einbuße an bürgerlicher Freiheit, mit der man die höhere Rechtsordnung doch
wohl ans die Dauer zu teuer bezahlt finden würde.
Also mit Svudergesetzcn geht es nicht, mit feinen juristischen Konstruk-
tionen geht es auch nicht. Warum soll es auf dem gradesten und deshalb
besten Wege nicht gehn, den sozialdemokratischen Staatsbürger, ohne überhaupt
nach seiner Gesinnung zu fragen, genau so wie jeden andern Staatsbürger zu
behandeln? Man braucht den Staat noch gar nicht für den „Racker" zu er¬
klären. Wahr ist aber, daß er kein Herz im Leibe hat. Er hat als Staat
weder Haß noch Liebe zu suhlen und seines Amts der Vorsehung gleich zu
warten, die ihre Sonne über Gerechte und Ungerechte scheinen läßt.
Wird doch das Hassen, wenn auch nicht das Lieben, schon gründlich genug
von den politischen Parteien besorgt, die sich freilich allesamt, mir die Sozial¬
demokratie ausgenommen, mit dem heutigen Staat für eins halten. Nun ist
es ja eine Zumutung für den monarchisch und religiös denkenden Bürger,
gegen die Sozialdemokrntie kaltblütig zu bleiben, wen» sie eingestandnermaßen
die Monarchie grundsätzlich verwirft und die Religion äußersten Falls als
Privatsnche gelten läßt. Dennoch heißt es auch hier: Richtet nicht, auf daß
ihr nicht gerichtet werdet! und: Wer unter euch ohne Sünde ist, der werfe
deu ersten Stein auf sie! Bleiben wir bei den monarchischen Gefühlen, zu
denen Nur uns gewiß gern und freudig bekennen. Hand aufs Herz! Wie viele
von uns sind denn königstreu, weil sie in der Person des Königs von Gottes
Gnaden Gottes Statthalter erkennen und deshalb nach seinen Tugenden oder
Fehlern, Vorzügen oder Mängeln nicht zu fragen brauchen? Machen sich nicht
viele den Vorbehalt, „ihre monarchischen Gefühle zu revidiren," wenn der
Monarch nicht nach ihrem Sinne ist? Sind nicht viele monarchisch, nur weil
sie in der erblichen Spitze des Staats den festen Pol in der Erscheinungen
Flucht, in der geltenden Verteilung der öffentlichen Gewalten zwischen der
Krone und der Volksvertretung die zweckmäßigste Einrichtung des Staats er¬
blicken? Wie viele sind denn in Deutschland fürstlich, herzoglich, großherzog-
lich, königlich, wie viele schlechthin nur kaiserlich? Wieviel deutsche Stämme
überliefern ihren Kindern die Erinnerungen an große und edle Herrscher, wie
viele wünschen die Geschichte ihrer Herrscherfamilien oder doch große Stücke
davon mit dem Schleier der Vergessenheit bedeckt zu sehn? Und stehn denn
nicht unter den heutigen politischen Parteien die Freisinnigen in dem Verdacht,
die Parlamentsherrschaft anzustreben, die dem Thron doch nur den Wert eines
Präsidentensessels mit den Abzeichen der Krone lassen würde? Besteht die
nationnlliberale Königstrenc auch dem einzelstaatlichen Herrscher, die klerikale
dem Päpstlichen Stuhle gegenüber jede Probe? Und haftet nicht auch an der
konservativen Partei das böse Wort: Unser König absolut, wenn er unsern
Willen thut? Gewiß geschieht jeder dieser Parteien mit diesen Verdächtigungen
schweres Unrecht. Trotzdem werden sie jeden Tag einer jeden ins Gesicht ge¬
schleudert. Die Sozialdemokratin aber verzeichnet schmunzelnd die wachsende
Zahl der Mnjestätsbeleidigungsprozesse, zu denen sie durchaus nicht allein die
Angeklagten liefert.
Gewiß bekennen wir uns gern und freudig auch zur Religion als einem
innersten Herzensbedürfnis. Aber vergessen wir nicht, wenn wir die Religion
in den politischen Tagesstreit hineinziehen, allesamt Christi Wort, daß sein
Reich nicht von dieser Welt sei? Wie reimt es sich denn eigentlich, daß wir
schon fast gewöhnt sind, gläubiges Christentum mit konservativer, Jndifferen-
tismus mit uationalliberaler, kirchlich-freisinnige mit deutsch-freisinniger Ge¬
sinnung und Atheismus mit Sozialdemokratie zusammenzuwerfen? Ganz zu
schweigen von der Ungeheuerlichkeit, daß das Zentrum zugleich politische und
Rcligionspartei ist und nur aus dieser Verbindung seine Daseinsberechtigung
herleitet. Könnte man sich denn nicht auch eineiz gläubigen Christen denken,
der mindestens wirtschaftlich ganz anfj dem Boden des sozialistischen Pro¬
gramms steht, wie denn unbezweifelt der Kommunismus die Wirtschaftsform
der ersten christlichen Gemeinde gewesen ist? Und könnte denn nicht auch ein
Atheist ein mindestens vcrstandesmüßig überzeugter strenger Anhänger selbst
der absoluten Monarchie sein? Was hat umgekehrt die Religion von den
politischen Parteien zu erwarten? Sie hat nur Schaden davon, wenn sich die
eine Partei ihrer bemächtigt und sie dadurch allein schon bei den Gegenparteien
in Verdacht bringt. So ist das sogenannte konservative Christentum sür die
Kirche in ihrem Verhältnis zur Sozialdemokratie geradezu verhängnisvoll ge¬
worden. Dort wird sie mit Vorliebe als die Magd der besitzende» Klassen
bezeichnet. Sie müsse, heißt es, den Tagelöhnern und Arbeitern ihr Los
als Gottes Willen, die Verheißungen des künftigen Lebens als ihren wahren
Lohn nur deshalb predigen, damit der konservative Großgrundbesitzer und der
ostentativ kirchliche Großindustrielle willige, mit niedern Löhnen zufriedne Ar¬
beitskräfte haben. Äußerungen, wie die von Göhre (S. 175) berichteten:
„Übrigens sind die Pfaffen selbst an der ganzen Feindschaft des Volks gegen
die Kirche schuld. Denn sie haben Partei für die großen Herren genommen.
Nur wenige machen davon eine Ausnahme," kann man alle Tage im Gespräch
mit Sozialdemokraten zu hören bekommen.
Die Kirche hätte somit allen Grund, sich von den politischen Parteien zu
verbitten, daß sie sich zu Anwälten und Beschützern der Religion aufwerfen.
Am meisten die evangelische Kirche, die bereits unter der zu engen Verbindung
mit dem Staat, der doch kein protestantisches Gemeinwesen sein kann und darf,
schwer zu leiden hat. Wie könnte sie vollends daran denken, nach dem poli-
dischen Glaubensbekenntnis zu fragen, wenn sie Christi Ruf: Kommt her zu
mir alle, die ihr mühselig und beladen seid! gerade an die arbeitenden Klassen
ergehen läßt? Wenn sie zunächst einmal alle Kräfte darauf konzentrirte, inner¬
halb der äußerlich zu ihr haltenden Gesellschaftsklassen ein lebendiges, durch
christlichen Wandel sich bezeugendes Christentum zu schaffen, sie würde damit
mehr zur Lösung der sozialen Frage beitragen, als durch Wiederbekehrung
Hunderter und laufender von Sozialdemokraten. Es ist das hohe Verdienst
Stöckers, daß er seine eindringlichen Bußpredigten zuerst und vor allen an die
besitzenden Klassen richtet, vielleicht auch die Erklärung dafür, daß er von
seinen sozialdemokratischen Gegnern noch immer angehört wordeu ist und noch
hente mit einer gewissen widerwilligen Achtung genannt wird. So soll es
auch der Kreuzzeitung nicht vergessen werden, daß sie oft genug gerade von
den Sünden ihrer nächsten Partei- und Standesgenossen furchtlos den Schleier
gezogen hat. Gegen den Grundbesitzer und Fabrikanten, der auch nur das
eine Gebot Christi befolgte: Liebe deinen Nächsten wie dich selbst! Hütte es
keiner Arbeiterschntz-, Sonntagsheilignngs-, Alters- und Unfallversicherungs-
gesetze bedurft, wie sie noch immer den staatserhaltenden Parteien abgerungen
werden müssen, ohne daß die Morgenröte des sozialen Friedens tagen will.
So lasse sich doch auch ein jeder daran genügen, selbst den König zu ehren,
anstatt täglich von neuem die Königstreue seiner politischen Gegner unter die
Lupe zu nehmen. Die monarchischen Empfindungen des ganzen Volks werden
nur Gewinn davon haben.
Die alten politischen Parteien mögen nnn leben oder sterben — vor der
Hand können sie weder das eine noch das andre —, ihre alten Schlagwörter
sind verbraucht. Auch Religion, Sittlichkeit und Königstreue können ihren
Programmen nicht aufhelfen- Selbst mit den wuchtigen nationalen Akkorden,
und wenn sie von der Hand des Meisters gegriffen werden, lassen sich die
täglichen politischen Geschäfte nicht erledigen. Die brennenden Fragen des
Tages sind die wirtschaftlichen, und ihnen thut nur eine nüchterne, langweilige
Behandlung gut. Hinter all den hochtönenden Phrasen der Programme pflegt
sich doch nur das soziale Nichtwollen, vielleicht auch Nichtkvnnen zu verstecken.
Wie oft schon, ist es auch heute wieder der hohe Beruf der Wissenschaft,
den durch das Getöse der widerstreitenden Tagesmeinungen verwirrten Gedanken
einen Sammelpunkt zu gewähren. Erst die geschichtliche Betrachtung des
Gewordnen öffnet, wie in der eigentlichen Politik, so auch in der Wirtschafts¬
politik das Berstäudnis für die Gegenwart und die Möglichkeit eines Ausblicks
in die Zukunft. Die heutige deutsche volkswirtschaftliche Litteratur zeigt nun
zwar den ganzen Widerstreit der Schulen und Lehrmeinungen. Sie ist aber
unverkennbar vou einem tiefen Streben uach Wahrheit erfüllt. Mit Erstaunen
gewahrt man die Sachlichkeit und Ruhe, mit der namentlich anch die sozia¬
listischen Forderungen auf ihre Ausführbarkeit geprüft werden. Das Ergebnis
ist, daß von den bekannten fünf Forderungen des Erfurter Programms, die
von der sozialdemokratischen Partei Deutschlands zum Schutz der Arbeiterklasse
„zunächst" aufgestellt werden,^) kaum eine grundsätzlich verworfen, manche be¬
schränkt und selbst unbeschränkt befürwortet werden. Es darf deshalb als ein
wissenschaftlich jedenfalls überwundner Standpunkt bezeichnet werden, wenn
auch gegen diesen Teil der sozialdemokratischen Bestrebungen immer wieder das
rote Gespenst und immer wieder mit Erfolg hervorgeholt wird. Auch ist es
ein Trugschluß oder ein Fechterkuuststück, den sozialistischen Zukunftsstaat act
Ädsuräuin zu führen und damit auch jene nächsten Ziele als ebenso unsinnig
und unlogisch ohne weiteres für abgethan zu erklären. Besonders erfreulich
ist, daß unter den Vertretern der heutigen nationalökonomischen Wissenschaft
selbst der verhängnisvolle Klassengegensatz und Klasscndünkel nahezu über¬
wunden, jeder Mitarbeiter willkommen scheint. Daß wir von verschiednen
namhaften Sozialdemokraten sehr beachtenswerte Untersuchungen über die Lage
einzelner Gewerbe besitzen, ist bekannt. Es ist ebenso politisch klug wie sach¬
dienlich, daß auch in die neugeschaffne Kommission für Arbeitsstatistik Sozial-
demokraten als ständige Mitglieder berufen worden sind. Denn man täusche
sich nicht: innerhalb der Sozialdemokratie beginnt der tiefe Wissensdrang, der we¬
nigstens an den deutschen Sozialisten schon längst bemerkt worden ist, jetzt Früchte
zu tragen. Neue, mit dem ganzen Rüstzeug der modernen Bildung gewappnete
Talente fallen ihr zu. Die Redakteure ihrer Blätter sind heute zum großen
Teil akademisch gebildete Leute, und ihre Tagespresse hat die Leistungen der
kleinen Prvvinzialpresse, die von politischen Waschzetteln und vom Tagesklatsch
leben muß, vielfach überflügelt. Zudem haben ihre Mitarbeiter täglich Ge¬
legenheit, die soziale Frage an ihrem Leibe und an ihrem Magen zu studiren,
Sie lauten:
und die Redaktionen versäumen nicht, ihnen fleißig das Wort zu lassen. Der
schon einmal in den Grenzboten gegebne Rat, die sozialistische Presse auf¬
merksam zu verfolgen, kann deshalb nur dringend wiederholt werden. Sie ist
für die besser gestellten Klassen, die nicht selbst im gewerblichen Leben stehn,
fast das einzige Mittel, ein Bild von der Lage der arbeitenden Bevölkerung
zu gewinnen. Auch wäre es thöricht, darin eine Unterstützung der sozial-
demokratischen Partei erblicken zu wollen. An Geld fehlt es ihr wahrlich nicht,
wenn es auch dunkel bleibt, woher sie die offenbar beträchtlichen Mittel nimmt,
die ihr selbst jetzt in der Zeit des wirtschaftlichen Niedergangs zufließen.
Daß wir nur deu reifen und urteilsfähigen Mann als Leser und etwaigen
Abonnenten im Auge haben, versteht sich von selbst.
Wir setzen unsre Hoffnung darauf, daß jene von der nationalökonomischen
Wissenschaft heute schon gepflegte sachliche Art der Behandlung wirtschaftlicher
Fragen eines Tages auch in den Parlamenten, in der Presse, im öffentlichen
Leben überhaupt durchbrechen und sich behaupten werde. Beschränkte man
sich einmal auf das Thema: Verbesserung der wirtschaftlichen Lage insbesondre
der arbeitenden Klaffen, so wäre die Aufgabe der Verständigung schon so
riesengroß, daß man sie durch Heranziehung der Punkte, über die niemals
eine Einigung möglich scheint: Monarchie, Religion, Privateigentum, nicht
unnötig erschweren sollte. Leitstern bleibt der Satz: Alle berechtigten Inter¬
essen sind harmonisch. An seiner Wahrheit verzweifeln, hieße verzweifeln an
der Weisheit und Gerechtigkeit der göttlichen Weltordnung. In der sozialen
Frage spitzt sich dieser Satz im letzten Grunde auf eine Art von Rechen-
Tempel zu: Wieviel muß dem Unternehmer als Unternehmergewinn, dem
Grundbesitzer als Grundrente verbleiben, damit Industrie und Landwirtschaft
gedeihen und Befriedigung gewähren können? Wie viel vom Produktions¬
gewinn gebührt dem Arbeiter als Ertrag seiner Arbeit, damit er nicht nur
^ben und in der Arbeit Befriedigung finden, sondern auch seinerseits als Kon¬
sument und damit als wirksamster Förderer der Produktion auftreten kann?
Die Lösung kann nur nach der Formel des vielgeschmähten Prätorischen Rechts:
mehr bonos iiZiör oporwt erfolgen.
Es ist nicht die Absicht, hier die eigentlichen wirtschaftlichen Fragen auch
uur andeutungsweise zu verfolgen. Wir kehren vielmehr zu dein Vorschlage
Zurück, der Staat sowohl als die sogenannte bürgerliche Gesellschaft solle sich
entschließen, den sozialdemokratischen Volksgenossen einmal genau so wie jeden
widern Staatsbürger zu nehmen. Man sollte zwar meinen, dies sei einfach
ewe Forderung der Gerechtigkeit, und zwar der Gerechtigkeit, die als t'unäa,-
nondum röAnorum gilt, die deshalb in einem sich christlich nennenden Staats-
^eher längst verwirklicht sein müßte. Und doch, wie gewaltig ist noch heute
der Bann, der in dein bloßen Worte „Sozialdemokrat" liegt. Ist nicht jeder
gesetzgeberische Gedanke, jeder Vorschlag einer Verwaltungsmaßregel oder son-
feigen Einrichtung schon deshalb des vielseitigsten und erbittertsten Widerspruchs
gewiß, weil er, gleichviel welchen Inhalts, aus dem sozialdemvkmtischen
Lager kommt? Und ist es nicht einer der beliebtesten Kunstgriffe parla¬
mentarischer oder publizistischer Dialektik, derartige Vorschläge völlig unver¬
dächtiger Herkunft damit zu bekämpfen, daß man sie als sozialdemokratischcr
Denkweise entsprungen hinzustellen versucht? Ist es nicht lange Jahre hin¬
durch gelungen, das soziale Reformwerk unsers ehrwürdigen Kaisers Wilhelm
und seines großen Kanzlers mit eben diesen Mitteln zu verdächtigen? Das;
sie immer noch versagen, erklärt sich erstens aus der Unbekanntschaft mit den
eigentlichen sozialistischen Lehren, die z. B. dem sogenannten Staatssozialismus
grundsätzlich entgegengesetzt sind. Vor allem aber aus der modernen Cha¬
rakterschwäche, die es nicht über sich gewinnt, sich eine eigne Überzeugung
von der Güte einer Sache zu erkämpfen und damit auf die Gefahr hin, ver¬
ketzert zu werden, furchtlos herauszutreten. Es bleibt tief zu beklagen, daß
dieser Terrorismus, die Gefahr, der öffentlichen Meinung sowohl als der
eignen Regierung als verkappter Sozialdemokrat denunzirt zu werden (so erst
unlängst in dem Wörrishvferschen Falle), auch die Beamten, namentlich die
Verwaltungsbeamten, noch vielfach hindert, mit den arbeitenden Klassen nähere
Fühlung zu gewinnen. Wäre es z. B. auch bei uns, wie in andern Ländern,
denkbar, daß die Beamten — wir haben vorzugsweise die Gewerbeinspektvren,
aber nicht sie allein im Auge — in Arbeitervereinen Vorträge hielten, der
Arbeiterpresse belehrende Aufsätze zugehen ließen, ja auch die Arbeitervereinsfeste
besuchten, die segensreichen Folgen würden nicht ausbleiben für beide Teile.
Freilich setzt es einen natürlichen Schatz von Takt und ungekünsteltem Wohl¬
wollen sowie den Verzicht auf jede Proselytenmacherei voraus, wenn ein Be¬
amter bei einem Arbeiterauditorium Vertrauen gewinnen soll. Daß es hoff¬
nungslos wäre, mögen wir nicht glauben. Doch einstweilen sind dies fromme
Wünsche. In republikanischen Staatswesen mag über manche äußere Schwierig¬
keit leichter hinwegzukommen sein. Im monarchischen Deutschland ist es ein
verhängnisvolles Hemmnis sür ein kräftiges und entschloßnes Vorwärts¬
schreiten auf der Bahn sozialer Reformen, daß die sozialistische Partei zugleich
eine demokratische ist. In der That, es gehörte fast mehr als hochherzige
Selbstverleugnung des Monarchen dazu, vorerst auch einmal darüber hinweg¬
zusehen, sich nur an das Vertrauen seiner Arbeiternntcrthanen zu wenden, ihre
berechtigten wirtschaftliche» Bedürfnisse zu befriedigen und abzuwarten, ob die
Zeit sie nicht doch noch um seinen Thron scharen werde. Für den verant¬
wortlichen Minister dürfte es schließlich auf seine Ansicht über die angeborne
Schlechtigkeit oder die angeborne Güte der menschlichen Natur hinauskommen,
ob er zu diesem Experiment raten soll. Jedenfalls hat der große Friedrich
mit seinen der schwerbedrückten Bauernschaft erzeigten wirtschaftlichen Wohl¬
thaten einst große Erfolge auch für das monarchische Prinzip erzielt. Noch
heute klingt, wenn auch gedämpft und viel bespöttelt, das Wort vom „Arbeiter-
kaiser" in der sozialdemokratischen Presse nach. Erst kürzlich bei der Beratung
des Berggesetzentwurfs im preußischen Abgeordnetenhause konnte man beobachten,
daß sie die arbeiterfreundlichen Vorschläge der Regierung Wohl zu würdigen
wußte und ihren Mißerfolg nur dem Druck der sogenannten kapitalistischen
Klassen zuschrieb.
Einstweilen ist es eine Anforderung weniger an die Gesiunungsgröße, als
an die politische Klugheit, den Kampf gegen die Sozialdemokratie seiner Be¬
deutung als Kampf zweier Weltanschauungen entsprechend wenigstens nicht mit
kleinlichen Mitteln zu führen.. Volle Koalitionsfreiheit für Arbeiter wie Ar¬
beitgeber wird als eines der erprobtesten Mittel, den unvermeidlichen Krieg
beider in geordneten Formen auszutragen, von der nationalökonomischen Wissen¬
schaft heute nahezu einstimmig gefordert. Vereins- und Versammlungswesen
wie die Presse sind niemals mehr niedergehalten worden, als nach den Karls¬
bader Beschlüssen. Und doch ist damit den revolutionären Ideen nicht ein
Fußbreit Laudes abgewonnen oder ihrem endlichen Siegeszuge auch nur einen
Augenblick länger Widerstand geleistet worden. Eine wohlwollende, gerechte
Staatsgewalt, die innerhalb des Rahmens der allgemeinen Strafgesetze un¬
reifen Meinungen Raum läßt auszutoben, von der mau aber weiß, daß sie
den ersten Versuch des Aufruhrs mit der Aufforderung zum Auseinandergehn,
dreimaligem Trommelwirbel und schließlich einer erbarmungslosen Salve der
kleinkalibrigen Gewehre in den dichtesten Haufen hinein begegnet, hat von einer
freimütiger, selbst gehässigen Presse oder von der abendlichen Erhitzung der
Gemüter durch Bier, unsinnigen Redeschwall und Tabaksaualm nichts zu be¬
fürchten. Wohl aber darf sie hoffen, daß der unvernünftige Teil der sozia-
Wischen Bestrebungen um so früher an seinem eignen Widersinn zu Grunde
Hehn werde. Dem vernünftigen Kern zum Siege zu helfen, und er ist nur
vernünftig, soweit dies ohne Beeinträchtigung andrer berechtigter Interessen
Möglich ist, ist ohnedies die Schuldigkeit der Staatsgewalt. Rechtzeitige Re¬
formen sind allezeit die besten Vorbeugungsmaßregeln gegen Revolutionen ge¬
wesen. Von der Seisachtheia unter Solon, der die Dike zu seiner Göttin er¬
wühlt hatte, rühmt Jäger, daß sie eine dauernde Heilung gewesen, und daß
Hr zu danken sei, wenn die Ruhe des attischen Landes, wie so manches
andern, durch ökonomische Wirren nicht wieder gestört worden sei. Re¬
formen gelingen aber am sichersten, wenn sie von der thätigen Mitwirkung
der Klassen getragen werden, denen sie zu gute gehen sollten. Die Regierungen
sowohl als die ganze bürgerliche Gesellschaft sollten deshalb jede Bereitschaft
der Sozialdemokratie zur Mitarbeit an den positiven Aufgaben des Staats
und der Gemeinde willkommen heißen, statt sie mit Mißtraue» oder gar mit
höhnenden Worten zurückzuweisen.
Noch einmal ist die Gelegenheit günstig. Der auf dem Hallischen Partei-
tag mühsam überbrückte Gegensatz der gemäßigten Richtung Bollmars gegen
die offizielle Parteileitung öffnet sich von neuem, die Parteileitung darf es
nicht wagen, die ihr unbequemen staatssozialistischen Tendenzen aus der Partei
sörmlich auszuschließen, ein Beweis, daß sie ihre Stärke nicht gering anschlüge.
Auf der linken Seite wird sie selbst von dem anarchistischen Flügel der Un¬
abhängigen bedrängt. Störe man diesen Läuterungsprozeß, von dem man
nur nicht schon morgen Früchte erwarten darf, nicht durch veraltete Rezepte
aus der Polizeioffiziu. Bleiben wir stark, weise und — gerecht!
n dem zweiten Abschnitte seiner Arbeit behandelt der Verfasser
„Italiens Handelspolitik in ihren Beziehungen zur Volkswirt¬
schaft." Hier interessirt uns vorzugsweise die Beantwortung
der Frage: „War es volkswirtschaftlich zweckmäßig und weise,
daß Italien es nach 1875 unternahm, mittels einer schutzzöllne-
rischen Handelspolitik sich eine selbständige nationale Industrie schaffen zu
molten?" Die Frage wird in fünf Unterfragen aufgelöst. Die erste lautet:
„Ist es für ein vorwiegend agrikoles (!)Land im allgemeinen ein erstrebenswertes
Ziel, eine selbständige nationale Industrie zu besitzen?" Sombart antwortet,
er für seine Person sei geneigt, diese Frage prinzipiell zu bejahe«; an dieser
Stelle könne die nationalökonomische Frage, „ob für ein Land der Jndustrialis-
mus ein erstrebenswertes Ziel sei," nicht erörtert werden. Hier fällt uns die
Ungenauigkeit des Ausdrucks auf, die freilich zum Teil dein noch unabgeklärten
Sprachgebrauch zur Last fällt. Wenn man unter dem Worte Industrie so viel
versteht wie Gewerbfleiß, so ist die Frage unbedingt zu bejahen, denn ein
Volk, bei dem die Gewerbe nicht bis zur Kunstblüte entwickelt sind, ist noch
kein Kulturvolk. Aber Sombart meint ohne Zweifel, wie das an der zweiten
Stelle gebrauchte Wort Jndustrialismus andeutet, die Exportindustrie; ihm
schwebt der Zustand Englands als Ideal vor, wo die Industrie den Ackerbau
zurückgedrängt hat, und die Existenz des Volks auf die Anfertigung billiger
Massenwaren mit der Maschine und auf deren Ausfuhr gegründet ist. Wir
verabscheuen dieses „Ideal" aus oft dargelegten Gründen und betrachten eS
als eine traurige Notwendigkeit, wenn sich ein ganzes Volk, um nicht zu ver¬
hungern, in Fabriken und Gruben einsperren lassen, die halbe Welt mit Hemden-
und Kleiderstoffen versorgen und die für den großartigen Fabrikbetrieb er-
förderlichen Steinkohlen aus ungeheuerlichen Tiefen heranfwühlen muß. Daher
vermögen wir auch in der früh erreichten nationalen Einheit Englands, sofern
sie als Vorbedingung des großartig entwickelten Jndustrialismus dieses Landes
betrachtet wird, keine besondre Begnadigung zu sehn.
Die folgenden Fragen haben nur dann einen Sinn, wenn die erste Frage
bejaht wird, so bemerkt Sombart selbst. Wir könnten also hier abbrechen,
wollen aber doch auch zu dem folgenden noch ein Wörtchen sagen. Die zweite
Frage lautet, ob das Ziel auch für Italien erstrebenswert sei. Sombart glaubt
den Einwand derer, die das leugnen und sagen, Italien sei von Natur zum
Ackerbaustaate geschaffen, und die Begünstigung der Industrie werde die Pflege
seiner natürlichen Hilfsquellen beeinträchtigen, als unbegründet zurückweisen zu
dürfen. Weder sei zu befürchten, daß eine Verteuerung der Lebensbedürfnisse
lz. B. der Maschinen und Kleider) dnrch Schutzzoll der Landwirtschaft die
Arbeitskräfte verteuern werde, da bei der Kultur von Wein, Öl, Süd¬
früchten u. f. w. keine Maschinen angewendet werden und die italienischen Land-
leute sich ihre Kleiderstoffe meist selbst anfertigten, noch könne die italienische
Landwirtschaft durch Verlust von Kapital und Arbeitskräften geschädigt werden;
das Kapital spiele beim Anbau von Südfrüchten u. tgi. keine Rolle, und Ar¬
beiter seien, wie die Auswanderung von jährlich zweihunderttausend Menschen
beweise, im Überfluß vorhanden. „Sollte aus diesen Emigrantenheeren sich
nicht das für eine aufblühende Industrie notwendige Arbeitsmaterial jsio!^
gut und gern bilden lassen?" Gut? O ja! dafür würden der Hunger und
die Peitsche des Aufsehers schon sorgen. Aber gern? Nein! wofern sich das
Wort nicht auf die Absicht der Unternehmer bezieht, sondern auf die Stim¬
mung der Arbeiter, die ja freilich bloß als „Material" gelten, und deren
Wünsche daher wohl kaum in Betracht kommen. Aber bei Beantwortung der
dritten Frage dürfen sie trotzdem nicht übersehen werden. Diese lautet: „Be¬
sitzt das heutige Italien hinreichende produktive Kräfte und Fähigkeiten, also
die Elemente, um (!) eine nationale Industrie großen Stiles heranzubilden?"
Ob fähige Unternehmer in ausreichender Anzahl vorhanden seien, das, meint
Sombart, lasse sich nicht gut ermitteln. An Geldkapital fehle es leider ganz
entschieden >und wird es so lange fehlen, als Italien eine Kriegsrüstnng unter¬
hält, die außer allein Verhältnis zu seinem natürlichen Vermögen steht; auf
künstlichem und gewaltsamein Wege, dnrch Kolonien und Ausbeutung andrer
Völker erworbnes Vermögen besitzt es nicht, muß also die Kosten seiner Rüstungen
durch Anleihen aufbringen, deren Verzinsung das Geld aus dem Lande zieht j.
Was endlich das wichtigste Element, die Arbeiter, anlangt, so werde allerdings
darüber geklagt, daß sie sich zur Maschinenarbeit nicht eigneten, doch, meint
Sombart, zur Routine könne der italienische Arbeiter ja erzogen werden, und
was ihm an Ausdauer abgebe, das werde er einigermaßen durch Gewandtheit
ersetzen. Einen Vorzug aber habe er, der für die Unternehmer ganz besonders
günstig sei, seine Anspruchslosigkeit; der italienische Arbeiter sei äußerst billig,
und kein nennenswerter Arbeiterschlitz setze dem Unternehmer in der Ausbeu-
tung dieser billigen Arbeitskraft eine Grenze.
Sombart Übersicht die Hauptsache. Der Italiener ist zu sehr Mensch,
um sich so leicht zur Maschine oder zum Maschinenteil herabwürdigen oder,
wie sich unsre humane Zeit lieber ausdrückt, „erziehen" zu lassen. Er will
im Freien arbeiten, seines Lebens bei der Arbeit froh werden, immer etwas
schönes sehn und womöglich selbst etwas schönes hervorbringen. Sich in eine
Fabrik sperren lassen, den ganzen Tag nichts zu sehn bekommen als Rädchen,
Wergputzen und kahle, schmutzige Wände, nichts thun als vierzehn oder acht¬
zehn Stunden lang auf zwanzig wirbelnde Spindeln starren und abreißende
Fädchen wieder anknüpfen, das widerstrebt seiner innersten Natur. Das blühende
italienische Gewerbe des vierzehnten, fünfzehnten oder sechzehnten Jahrhundert
war nicht Maschinenindnstrie, sondern Kunsthandwerk. Allerdings hat die schon
damals fabrikmüßig, wenn auch noch nicht mit Maschinen betriebne Sciden-
und Tuchweberei im dreizehnten und vierzehnten Jahrhundert zum Wohlstande
des Landes nicht wenig beigetragen. Aber erstens bildete die Ausfuhr von
Geweben doch bei weitem nicht in dem Maße eine Hauptquelle des italienischen
Nationaleinkommens, wie dies bis in die Mitte unsers Jahrhunderts in Eng¬
land der Fall war; der Levantehandel und der Geldwucher — waren doch die
Italiener lange Zeit hindurch die Bankiers aller europäischen Staaten —
brachten viel mehr ein. Und zweitens sicherte den italienischen Seiden- und
Tuchwaren die damalige Seltenheit guter, feiner Stoffe Monopolpreise, die es
auch den übrigens bestündig rebellirenden Webern und Spinnern noch möglich
machten, menschlich zu leben. Was die andre der beiden großen Hauptexport-
iudustrieu anlangt, die Eisenindustrie, die ein menschenwürdigeres Dasein er¬
möglicht als die Textilindustrie, so dürfte darin Italien vorläufig schon des¬
wegen nicht mit den Nordländern konkurriren können, weil seinen schlecht
genährten Männern die dazu nötige Körperkraft fehlt. Und endlich, was wäre
in volkswirtschaftlicher Beziehung gewonnen, wenn es gelänge, die Italiener
zu einem Volke von Fabrikspinnern und Kohlenbauern zu „erziehen"? Ihre
ästhetische Anlage, die doch auch ihren nationalökonomischen Wert hat, würde
dadurch vernichtet werden. Die Italiener würden ihre Geschicklichkeit für das
Kunsthandwerk, für Mosaikarbeiten, Schmucksnchen u. tgi., mit denen sich auch
heute noch ein bescheidnes Stück Geld verdienen läßt, einbüßen, um die un¬
verkäuflichen Massen von Baumwollen- und Wvllengeweben zu vermehren, die
der englischen und der deutschen Industrie so schwer auf dem Herzen liegen.
Auch die moralischen Zustünde pflegen durch den Übergang eines Volks von
der Landwirtschaft und dem Kleinhandwerk zur Fabrikindustrie nicht besser zu
werdeu. Vorläufig geben die amtlichen Berichte, wie Eheberg solche in seiner
Schrift über die agrarischen Zustände Italiens anführt, dem armen Lcindvolke
noch das Zeugnis, daß es gut begabt, einfach, nüchtern, fleißig, religiös und in
bewunderungswürdigem Grade sparsam sei und ein geregeltes Familienleben führe.
Und die Sicherheit des Staates! Sind doch italienische Staatsmänner, wie
unter andern auch die Berichterstatter der oben erwähnten agrarischen Enquete,
seelensfroh darüber, daß das Gesetz über den obligatorischen Volksschulunter¬
richt bis jetzt noch auf dem Papiere stehen geblieben ist. „Gerade die Be¬
schränktheit des geistigen Horizonts in jenen Kreisen der italienischen Bevölke¬
rung, die sich in der schlechtesten Lage befinden, bemerkt Eheberg, hat, so be¬
dauerlich sie sein mag, für den ruhigen Bestand des Staats anch ihr heilsames
gehabt. Es ist zu verwundern, wie bei der vielfach gedrückten Lage der Land¬
leute doch die Ruhe nie im größern Maßstabe auf längere Zeit gestört wird.
Werden die Kenntnisse allgemeiner um sich greifen, ^das »um sich greifen«
klingt nicht sehr schmeichelhaft für die Kenntnisse^, so wird, wenn nicht bis
dahin eine Besserung eingetreten ist, der italienische Bauer kaum noch sür lange
Zeit in der alten Gefügigkeit verharren. Erzählt man doch jetzt schon, daß
die in der Ableistung der Militärpflicht gewonnene Bildung vielfach Unzufrieden¬
heit hervorgerufen und geschürt habe. Ein Glück, daß die italienischen Land-
leute ^zum Ersatz für die fehlende Schulbildung^ in einem patriarchalisch ge¬
regelten Familienleben eine Quelle guter Gesinnung und moralischer Anschauungen
haben." Also schon das Militär wirkt aufwiegelnd! Wie würde es erst werden,
wenn sich die Landleute haufenweise in zeitunglesende Fabrikarbeiter verwandelten!
Die letzten beiden der Fragen, in die sich die Hauptfrage des Verfassers
gliedert, lauten: Ist die schutzzöllnerische Politik das rechte Mittel, zum Ziele,
d- h. zur Entwicklung der Industrie zu gelangen, und wenn ja, war das Maß
des Schutzes richtig bemessen? Die erste Frage vermag er als verständiger
Volkswirt weder unbedingt zu bejahen noch unbedingt zu verneinen. Auf die
Zweite antwortet er, die italienische Tarifreform sei im großen Ganzen als ein
notwendiger und gesunder Fortschritt zu begrüßen. Das gelte aber eben nur
von den Jndustriezöllen. Den Agrarzöllen könne keinerlei Berechtigung zu¬
gestanden werden. Erstens sei bei der ohnehin kärglichen Ernährung des italie¬
nischen Volks jede Steigerung der Brot- und Fleischpreise gefährlich, sodann
würde jede Verschiebung der Anbauverhältnisse, zu der sich die wenigen, denen
die Preissteigerung Vorteil brächte, die Großgrundbesitzer, möglicherweise würden
verleiten lassen, höchst verderblich sein. Schränkten diese zu Gunsten des Ge¬
treidebaus die Kultur des Weins, des Ölbaums, der Sauerfrüchte, des Maul-
beerbaums ein, also gerade der Bodenerzeugnisse, in denen sich die Vorzüge
des Klimas in wirtschaftliche Werte umsetzten, so würde dadurch der Gesamt¬
wert der Jahresproduktion Italiens vermindert werden. Noch schlimmer würde
es sein, wen» gesteigerte Viehpreise zur Ausdehnung der Viehzucht verleiteten;
dadurch würde die ohnehin auf den Latifundien Mittel- und Süditaliens be¬
merkbare Tendenz, Ackerland in Viehweide zu verwandeln, noch gesteigert werden.
In der ausgezeichneten Arbeit von Walther Lotz über die Ideen der
deutschen Handelspolitik von 1860 bis 1891 wird das Interesse besonders
durch zwei Gegenstande gefesselt: durch den Zusammenhang der Zollpolitik
Preußens vor 1866 mit seiner aus Ausschluß Österreichs gerichteten deutschen
Einigungspolitik, und durch den Umschwung vom Freihandel zum Schutzzoll
im Jahre 1879. Wir beschränken uns auf eine kurze Übersicht des zweiten
Gegenstandes.
Die freihändlerische Bewegung, sagt Lotz, „die in den sechziger und sieb¬
ziger Jahren die öffentliche Meinung beherrscht. ist(?) nicht in erster Linie
von den Universitäten geführt. Die ältere Freihandelsbewegung, welche zur Zeit
der Stein-Hardenbergischen Reformen die Universitäten und Ministerialbnreaus
beherrschte, war von der nächsten Generation der Gelehrten nicht mit gleicher
Energie fortgesetzt worden. Zur ^zu der!) Zeit, in welcher die politische«
Freihändler in Deutschland ihre größten Triumphe feierten, lehrten bereits
Röscher, Knies, Rau und Hermann auf den Kathedern eine Nationalökonomie,
die sich nicht absolut ablehnend gegen alle Schutzzölle verhielt. Obwohl nicht
von den Universitäten ausgegangen, hat die ^wie später ausgeführt wird, von
Prince Smith eingeleitetes deutsche Frcihandelsbeweguug der fünfziger und sech¬
ziger Jahre einen gewissen schulmüßigen, lehrhaften Zug. Dies ist in einem
Umstände begründet, durch welchen sie sich ganz wesentlich von der englischen
unterscheidet. Die Deutschen kämpfen zwar mit denselben Argumenten, wie
die englische Antikornliga. Doch die Argumentation, welche uns in beiden
Fällen begegnet, ist in England urwüchsig aus dem Leben hervorgegangen
und mit den Forderungen der einflußreichsten Interessen identisch, in Deutsch¬
land und überhaupt auf dem Kontinent dagegen eine Schulmeinuug. Der
Standpunkt, von welchem Cobden und seine Freunde in England durchdrungen
sind >wie kann man von einem Punkte, auf dem man steht, durchdrungen sein!),
ist der des exportirenden Fabrikanten. Der englische Fabrikant fürchtet nicht
die industrielle Konkurrenz des Auslandes; woran ihm liegt, ist, Käufer zu
gewinnen. Sein Hauptargument ist: wir müssen dem Auslande abkaufen,
damit wir wiederum als Verkäufer der Waren, in denen wir hervorragen, der
Jndustrieprodnkte, Erfolg haben können. Dies war ganz und gar nicht der
Standpunkt der deutschen Großindustriellen jener Zeit. Deutschland ist erst
neuerdings in diejenige handelspolitische Phase eingetreten, für welche die An¬
schauungen Cobdens über die Interessen eines exportirenden Industrielandes
wieder Geltung gewinnen können. Wollte man in den vierziger und fünf¬
ziger Jahren die freihändlerischen Interessen Deutschlands organisiren, so mußte
man eine Koalition ganz andern Charakters als die der englischen Freihändler
anstreben. Der Konsument, in dessen Interesse Cobden den Freihandel forderte,
ist der gewerbliche Arbeiter, dem die Kornzölle das Brot verteuern. Der Kor-
summt, für den man in Deutschland den Freihandel anstrebte, ist der Beamte
und Kleinbürger, der billige Kleider, der Großgrundbesitzer, der wohlfeile land¬
wirtschaftliche Maschinen und womöglich auch billigen Rotwein wünscht, der
schwächliche Hausweber und Strumpfwirker, der durch wohlfeilern Garneinkcmf
seine kümmerliche Existenz einige Jahre länger zu fristen hofft. Die Koalition
der deutschen Freihändler von 1862 bis 1875 ist aus heterogenen Elementen zu¬
sammengesetzt. Sie hat nicht in erster Linie die Großindustriellen und die
Arbeiterklasse zu Vorkämpfern. Die Wortführer sind persönlich von der abso¬
luten Richtigkeit des Freihandelsdvgmas überzeugte Schriftsteller und Parla¬
mentarier. Ihre Hilfstruppen sind erstens der deutsche Handel, zweitens der
Liberalismus, drittens die norddeutsche Landwirtschaft. Die Organisation, in
welcher um die Wende der fünfziger und sechziger Jahre die Wortführer des
Freihandels sich zusammenschließe,!, ist der Kongreß deutscher Volkswirte."
Wir unserseits sind schon lange so weit, daß wir uns durch einen Rummel
oder boon, weder verblüffen noch fortreißen lassen, daß uns in solchen stür¬
mischen Bewegungen weder eine große Autorität imponirt, noch der Ruf
schreckt: Das Vaterland ist in Gefahr, daß wir vielmehr kaltblütig den Gegen¬
stand der Aufregung prüfen. Wer noch nicht so weit sein sollte, der wird,
wenn er die Schrift von Lotz liest, vollends dahin kommen. Während der
freihändlerische Doktrinarismus der Liberalen als ein vom wirklichen Leben
abgelöstes fleisch- und blutloses Gespenst nur öde und langweilig aussieht,
wirkt die feurige Begeisterung der Agrarier zuerst für den Freihandel und
daun für den Schutzzoll geradezu hochkomisch. Schon im Jahre 1848 hatten
sämtliche landwirtschaftlichen Vereine Sachsens eine Denkschrift gegen alle Schutz¬
zölle bei der Frankfurter Nationalversammlung eingereicht, weil ihnen die durch
Schutzzölle begünstigte Industrie die Arbeiter abspenstig mache. Und als 1870
der Tarif im freihändlerischen Sinne reformirt wurde, geberdeten sich die
Agrarier am radikalsten und forderten ein viel schnelleres Tempo im Auf¬
räumen mit Zöllen. Im Zollparlcuneut erklärte ein norddeutscher Gutsbesitzer:
weil er konservativ sei, so sei er natürlicherweise auch Freihändler. Niendorf,
der spätere Vorkämpfer des Schutzzolls, bekämpfte am leidenschaftlichsten im
agrarischen Interesse den Eisenzoll; „unverschämte" Freihändler nannten sich
seine Mannen im Unterschiede von den gemäßigten Freihändlern aus dem
Handels- und Gewerbestande. Im schönen Monat Mai l873, in dem Monat
des Wiener Börsenkrachs, beantragten die Abgeordneten von Behr und Ge¬
nossen die völlige Aufhebung fast aller Eisenzölle. Nehmen Sie, sagte Herr
von Behr in seiner Rede, „vor allem die Versicherung entgegen, daß mir
nichts ferner liegt, als Ihnen die Notwendigkeit der Aufhebung der Eisenzölle
beweisen zu wollen; Axiome, meine Herren, beweist man nicht." Es war da¬
mals, sagt der Verfasser, als ob das deutsche Volk nicht ans Brvtessern, son¬
dern aus lauter Eiseufresseru bestanden hätte. Wer sich die Agitation der
Agrarier gegen die Eisenzölle vergegenwärtigt, der wird für ihre heutigen Be¬
weisführungen — vielleicht dürfen wir schon sagen gestrigen — nur ein
Lächeln haben. Wie heute mit Schutzzoll und billigem Silber, so sollten da¬
mals alle wirklichen und vorgeblichen Leiden der „Landwirtschaft" mit Frei¬
handel und billigem Eisen kurirt werden.
Für die Schwenkung im Jahre 1879 war ja freilich Grund genug vor¬
handen. Auf dem Londoner Gctreidemarkte waren die preußischen Großgrund-
besitzer von ihren russischen Konkurrenten geschlagen worden, denen sich bald
auch die amerikanischen zugesellten, und die von der überseeischen Konkurrenz
herabgedrückten Getreidepreise Päßler sehr schlecht zu den hohen Gutspreiscu,
die in den teuern fünfziger Jahren gezahlt worden waren. Und da jetzt hohe
Getreidepreise viel wichtiger waren als billiges Eisen, das man nach dem
.Krach auch noch beim höchsten Schutzzoll haben konnte, so war es natürlich
genug, daß die Agrarier, nachdem kaum ihre Eisenfresserreden verhallt waren,
mit den Eisenindustriellen ihre Schutzzollschachergeschüstchen machten. Wenn
die Herren, sagte der Abgeordnete Flügge bei der Zolldebatte von 1879, „hier
in der Kulisse des Hauses gewesen sind vor der Verhandlung über die Eisen¬
zölle, so ist es ihnen vielleicht ergangen wie mir, wenn ich die ehrlichen Makler
einhergehen sah; der eine bot: geben Sie fünfzig für Roggen, gebe ich den
vollen Eisenzoll, oder verwerfen Sie das von Wedellsche Amendement, so gebe
ich Ihnen den Roggen u. s. w. Meine Herren, man zweifelte mitunter, man
mußte sich besinnen, daß man sich an der Leipziger Straße befand und nicht
etwa in einer sonst sehr achtbaren Versammlung an der Burgstraße." Vom
Standpunkte der Interessenpolitik also ist gegen diese Schwenkung der Agrarier
nicht das geringste einzuwenden, nur mit ihrem patriotischen, sittlichen und
sonstigen Pathos sollen sie und alle andern Jnteressenpolitiler uns vom Leibe
bleiben.
Was das Interesse der Gesamtheit oder genauer gesagt der Mehrheit der
Bevölkerung anlangt, so ist das in allen diesen Wechseln, wenn auch vielleicht
nicht gerade ausnehmend schlecht, so doch gewiß mich nicht besonders gut ge¬
fahren. Man hat Freihandel getrieben zu einer Zeit, wo der Schutzzoll nichts
geschadet hätte und teilweise sogar uoch nützlich gewesen wäre, man hat gegen
alle Mahnungen der Sachverständigen den letzten Eisenzoll weggeräumt in
einem Augenblicke, wo die schwere Krisis der Eisenindustrie durch einen mäßigen
Schutzzoll hätte gemildert werden können, und man hat die Agrarzölle in einer
Zeit, wo der beginnende Brot- und Fleischmangel ihre völlige Aufhebung ge¬
rechtfertigt haben würde, unmäßig erhöht. Der Regierung dient dabei der
Umstand zur Entschuldigung, daß sie sich in Zollfragen fast niemals von rein
volkswirtschaftlichen Erwägungen leiten lassen durfte. Wurde Preußen zur
Zeit des Bundes durch den Gegensatz zu Österreich auf die Seite des Frei¬
handels gedrängt, so bildete dieser dann später, als die Freihändler ihre Sache
mit dem liberalen Stempel zu versehn geschickt genug gewesen waren, ein
letztes Band zwischen Regierung und Volksvertretung, während alle andern
Bänder zerreißen zu wollen schienen: die ganze Konfliktszeit hindurch waren
Regierung und Landtag in allen Zollfragen ein Herz und eine Seele. Beim
Umschwunge sodann war es einerseits die unabweisbare Notwendigkeit, das
Reich finanziell auf eigne Füße zu stellen, was zur Einführung von neuen
indirekten Steuern und Finanzzöllen zwang, andrerseits der Wunsch, den sozialen
Forderungen der Zeit Rechnung zu tragen, die bei den nunmehr zum Schutz¬
zoll bekehrten Konservativen und Zentrumsleuten mehr Verständnis fanden als
bei den Liberalen, was den Reichskanzler den Schutzzöllnern näher brachte.
Für seine Person hat sich Bismarck bekanntlich damit entschuldigt, daß ihm
bis dahin die Politik noch keine Zeit gelassen habe, sich mit wirtschaftlichen
Fragen zu beschäftigen.
Wie der märchenhaft rasche Wechsel zu stände kommen konnte und wirk¬
lich zu stände kam, das mag man bei Lotz selbst nachlesen. Die Grundansicht,
die Bismarck damals entwickelte: Deutschland müsse dahin streben, sich selbst
genügen zu können, alle seine Bedürfnisse müsse es selbst erzeugen, und andrer¬
seits müsse seine Produktion bei den heimischen Konsumenten genügenden Absatz
sinden, ist an sich vollkommen richtig. Der sich selbst genügende Staat ist
der Jdealstciat, auch nach Adam Smith; der Auslandshandel sollte sich auf
Luxusgegeustünde und Erzeugnisse andrer Himmelsstriche beschränken; Jndustrie-
erzeugnisse für den Bedarf sollten zwischen den Staaten nur soweit ausgetauscht
werden, daß durch die stete Berührung mit dem Auslande die Stagnation der
heimischen Gewerbe verhütet würde; vor allem seine Nahrungsmittel muß jedes
Volk in ausreichender Menge selbst erzeugen. Die Frage ist nur, ob das
deutsche Reich in seiner heutigen Gestalt und bei seinen heutigen Bevvlkerungs-
verhältniffen ein Ideal zu erreichen vermag, das in den Vereinigten Staaten
Nordamerikas nahezu verwirklicht ist. Wir bezweifeln es. Und zwar erstens
seiner Gestalt und Lage wegen. Ostpreußen würde ja mit seinem überschüs¬
sigen Getreide die überzähligen Bewohner Badens oder Hessens ganz gut er¬
nähren können, wenn diese hinzogen und sich auf ostpreußischen Rittergütern
ansiedelten, aber soll der Ausgleich auf dem Wege des Handels erfolgen, so
Kurt es keine Bahntnrifreform dahin bringen, daß ostpreußisches Getreide in
Mannheim so billig und vorteilhaft verkauft werden könnte wie in Stockholm
oder London. Und dann, selbst eine andre Verteilung der Bevölkerung über
das Land vorausgesetzt, genügt sich Deutschland nicht mehr, weil es nicht
mehr die ausreichende Nahrungsmittelmenge hervorbringt. Im Jahre 1879
lag die Zeit, wo Deutschland für fttnfunddreißig Millionen Mark mehr Weizen
aus- als eingeführt hatte, erst fünfzehn Jahre zurück, heute liegt sie weit hinter
uns. Zwar behaupten unsre Agrarier, sie seien imstande, den vaterländischen
Getreide- und Fleischbedarf zu decken, allein Behauptungen gelten in einem
solchen Falle nichts; wenn wirs sehen, werde» wirs glauben. Würde, was
Owen seinerzeit für England vorgeschlagen hat, das ganze Land in lauter kleine
Grundstücke zerteilt, die von den Eigentümern mit dein Spaten bearbeitet
würden, dann vermöchte unser Vaterland vielleicht sogar hundert Millionen
zu ernähren, und so ist es ja wohl auch in den bevölkertsten Provinzen Chinas;
aber bei der heutigen Verteilung des Grundbesitzes und bei seiner lediglich
nach Rentabilitatsrücksichten eingerichteten Bewirtschaftung ist nicht daran zu
denken.
Auch viele nähere Ausführungen jenes Grundgedankens in Bismarcks da¬
maligen Reden und Briefen sind von bleibendem praktischen Wert. So z. B.
hatte eine der deutschen Regierungen vom Standpunkte der Konsumenten aus
Bedenken geäußert gegen Zolle ans Gegenstände des Massenverbrauchs. Bis-
marck versah das Schriftstück mit folgender Randbemerkung: „Der Vorschlag
mag Bedenken erregen bei der Konsumtion, aber nur der geheimrätlichen und
jeder von dessen I^des Produzenten? es scheint etwas ausgefallen zu seinj Ge-
fallen sorgenfrei existirenden. Auch der aber werden die Subsidien ausgehen,
wenn sie sich nicht entschließt, die Lage der produzirenden Bevölkerung zu be¬
rücksichtigen. Ist diese erst verarmt, so ist es auch der Staat. Wer soll denu
schließlich die Staatslasten tragen? Der Produzent allein? Konsumenten
sind alle."
Aber, das muß ergänzend beigefügt werden, auch Produzenten sind alle
mit Ausnahme der Rentner, Geldwucherer, Börsenjobber, Spitzbuben und
andrer Schmarotzer. Damals stellten sich dem Auge des leitenden Staats¬
manns die Großindustrielle!« und die Großgrundbesitzer als vornehmste Pro¬
duzenten dar. Die bilden aber doch nur einen kleinen Bruchteil der schaffenden
Bevölkerung. Diese Auffassung findet ihre Korrektur in dein von Lotz auf¬
gestellten Ideal, das wir ebenfalls, aber ebenfalls nicht ohne Korrektur gelten
lassen. Die Schutzzöllner haben, verlegen um eine wissenschaftliche Autorität,
Friedrich List für sich angerufen. Lotz behauptet nun, daß sie kein Recht dazu
hätten, weil List den Schutzzoll ganz anders gemeint habe. Er fragt, wie der
große patriotische Volkswirt wohl sprechen würde, wenn er heute aus dem
Grabe aufstünde, und läßt ihn eine Rede halten, an deren Schlüsse es heißt:
„Ihr habt die Idee, die ich euch vor fünfzig Jahren zurief: Deutschlands
Zukunft sei, em exportirender Industriestaat zu werden, euch noch nicht völlig
aneignen wollen. Deutschland tastet noch in der Entwicklung zwischen Acker-
baustant und Industriestaat, gerade wie England nach 1815 noch tastete, und
mit ähnlichen Kämpfen und Gefahren. Wie wäre es sonst erklärlich, daß nicht
in erster Linie bisher das jeweilige industrielle Interesse den Ausschlag in
eurer Handelspolitik gab, sondern daß in den Koalitionen die Grundbesitzer
des Ostens die Entscheidung bestimmten? Deutschland war freihändlerisch,
solange die Großgrundbesitzer des Ostens freihändlerisch interessirt waren; es
Wurde schutzzöllnerisch, als sie schutzzöllnerisch interessirt wurden. Und doch
wäre es heute ein Anachronismus, allein von diesem Interesse in Zukunft
den Ausschlag geben zu lasse». Deal konntet ihr auch zweifelhaft sein im
Jahre 1860. als noch fünf Achtel des Volkes agrarisch interessirt waren,
konntet ihr zweifelhaft sein 1879. als noch eine sehr erhebliche Minorität der
Deutschen landwirtschaftlich interessirt war, so haben sich heute die Dinge ge¬
ändert. Deutschland kann nicht mehr im Zweifel sein, wohin sein Lauf treibt,
es opfert seine Zukunft, seine wirtschaftliche, seine politische und kulturelle selle!j
Zukunft, wenn es nicht das Interesse der exportirenden Großindustrie in erste
Linie stellt. Die Frage, ob Industriestaat oder Agrarstaat, ist nicht bloß eine
Majoritätsfrage, sondern vor allem eine Frage der Entwicklungstendenz. Welches
Interesse ist dasjenige, welches einen immer größern Bruchteil der Nation um
seine Fahnen sammelt? Das Interesse, welches jährlich wachsende Millionen
Arbeiter lohnend zu beschäftigen vermag, ist das der Großindustrie; das Inter¬
esse, dessen Anteil an der Erzeugung des Volkswohlstandes der Minorität zu¬
strebt, ist das agrarische. Jede andre Politik, als die mit Rücksicht auf die
Industrie unternommene, wird als Interessenpolitik für künstlich geschützte Mino¬
ritäten, wird als reaktionär ans die Dauer empfunden. Wie lange sie haltbar
ist. ist lediglich die Frage weniger Jahre. Heute gilt uicht mehr der Satz:
Hat der Bauer Geld, so hats die ganze Welt! sondern der Konsument der
Zukunft, von dessen Zahlungskraft das Gedeihen der Gewerbe und auch mittel¬
bar der Landwirtschaft abhängig ist, diese zukünftige Säule von Deutschlands
Kraft ist der industrielle Arbeiter."
So der aus dem Grabe erweckte List. Wir sind mit ihm einverstanden
in dem Gedanken, den Lvtz an andern Stellen weiter ausführt, daß die Pro¬
duktion nur blühen könne, wenn die Massen kaufkräftig sind; es ist der alte
Gedanke des Nodbertus, den wir in diesen Blättern mehr als einmal ent¬
wickelt haben, und der seit einiger Zeit unter der Losung: nicht Überproduk¬
tion, sondern Unterkonsumtion ist es, woran wir leiden, aller Orten gepredigt
wird. Wir verwerfen auch mit Lotz die Mittelchen, mit denen sich manche
Industrien für den fehlenden inländischen Absatz zu entschädigen suchen: Preis¬
steigerung durch Kartelle und Schutzzölle, Exportprämien, die so viel Gewinn
bringen/ daß die Waren, die der inländische Konsument teurer bezahlen
muß, im Auslande zu Schleuderpreisen verkauft werden können. Wir lassen
es auch gelten, daß der Fabrikarbeiter als Produzent wie als Konsument in
dem Maße eine Sünle des Staats wird, als er an Zahl zunimmt, und daß
er. wenn er einmal den Hauptbestandteil des deutschen Volks bilden sollte,
allerdings nicht bloß eine, °soudern die „Säule von Deutschlands Kraft" sein
würde. Es fragt sich nnr, wie es mir Deutschlands Kraft dann stehn würde.
Wir leugnen ganz entschieden, daß irgend ein Fabrikarbeiterstand der Welt
jemals als Kern der Volkskraft den Bauernstand ersetzen könne. Der durch-
schnittliche Fabrikarbeiter vermag, was hier nicht ausführlich begründet zu
werden braucht, den durchschnittlichen Bauer weder in wirtschaftlicher, noch in
geistiger, noch in sittlicher, noch in politischer, noch in militärischer Beziehung
zu ersetzen. Schon aus diesem Grunde und abgesehn von allem andern, was
wir bei andern Gelegenheiten gegen die Herrschaft des Jndustrialismus gesagt
haben, würden wir es als ein großes Unglück beklagen, wenn Deutschland ein
Industrie- und Hcmdelsstciat wie England werden müßte. Die Herren Pro¬
fessoren, die einen solchen Wandel als Ergebnis einer natürlichen Entwicklung
so gelassen hinnehmen, sollen nur einmal ein Jahr lang auf einem schlesischen
Bauerndorfe zubringen und dann ein Jahr in dem Proletarierviertel einer Gro߬
stadt oder in einem Jndustriebezirk, dann würden sie schon einsehn, was der
Wandel bedeutet; selbst die allerhöchsten Löhne in der Industrie vermögen das
Glück des gesunden, freien, behäbigen und gesicherten Vauernlebens nicht nuf-
zuwiegen. In Schlesien würden sie sich zugleich überzeugen, daß der deutsche
Bauernstand denn doch noch nicht daran denkt, vor oder hinter der Industrie
zu verschwinden. Damit soll nicht etwa den Agrarzöllen das Wort geredet
werden; unsre schlesischen Bauern nehmen zwar die jetzigen hohen Preise gern
mit, aber sie brauchen sie nicht. Noch vor zehn Jahren kostete es Mühe,
solchen Bauern, die nicht schon durch vornehmen Umgang „erzogen" worden
waren, die „Not der Landwirtschaft" begreiflich zu macheu. Seitdem ist ihnen
ja die Sache, namentlich in den landwirtschaftlichen Bereinen, soweit klar ge¬
macht worden, daß sie sagen: „Na ja, Wenns weiter nichts ist, als daß wir
mehr Geld einnehmen sollen, das lassen wir uns ja gern gefallen; je mehr,
desto besser!" Unser Ideal ist ein Staat mit einem kräftigen Bauernstande
und einer für den inländischen Bedarf arbeitenden Industrie, die beide den
Schutzzoll weder brauchen noch zu fürchten haben, und die deshalb Zollfragen
mit kaltem Blut als einen für sie gleichgültigen und hauptsächlich die Finanz¬
verwaltung angehenden Gegenstand behandeln.
Den Bauernstand preisgeben will nun allerdings auch Lotz nicht. Am
Schlüsse beantwortet er drei Fragen, die namentlich zu Anfang dieses Jahres
brennend waren: 1. Sollen wir die Agrarzölle ohne Äquivalent preisgeben,
also autonom abschaffen, oder sollen wir sie zu Handelsverträgen verwerten?
2. Bedeutet die Verminderung des Agrarschutzes Preisgebung der Landwirt¬
schaft? 3. Sollen wir etwa bloß das eine erhoffen als Wirkung der abge¬
schafften Getreidezölle, daß bei verbilligter Nahrung die Löhne herab(!)ge-
mindert (!) werden können? Soll unsre Konkurrenzfähigkeit auf niedern Löhnen
basiren? Die dritte Frage beantwortet er, wie man denken kann, mit einem
entschiednen Nein. Wir sagen zwar ebenfalls nein, sind aber überzeugt, daß
die Exportindustrieu aller Länder, sofern es sich nicht um Spezialitäten handelt,
die der Konkurrenz entrückt sind, nur bei Hungerlöhnen werden besteh«
können. Denn woher sollen die Abnehmer kommen, nachdem alle Völker, die
früher Englands Abnehmer waren, jetzt mit diesem in der Ausfuhr konkurriren?
Nur der allerbilligstc Mann wird noch etwas absetzen. Darum halten wir es
eben für einen unglücklichen Gedanken, heute uoch die Existenz eines Volks
auf die Exportindustrie gründen zu wollen. Die erste Frage wird dahin be¬
antwortet, das; die nun einmal vorhandnen Agrarzölle als Tauschobjekte ver¬
wendet werden sollen. In Beziehung auf Ur. 2 antwortet er, und wir sind
damit vollkommen einverstanden: eine andre Frage sei die nach der Zukunft
der Landwirtschaft, eine andre die nach der Zukunft der einzelnen Wirte. Die
Kleinbauern, die kein Getreide verkauften, wohl gar noch welches hinzulaufen
müßten, Hütten voi? hohen Getreidepreisen keinen Vorteil, sondern unter Um¬
stünden Schaden. Die Magnaten seien reich genug, auf das Privilegium einer
künstlichen Preiserhöhung verzichten zu können. Schwierig würde sich aller¬
dings bei gänzlicher Aufhebung der Zölle die Lage vieler Rittergutsbesitzer
gestalten. Manche von thuen seien so wie so ans keine Weise zu halten und
müßten ihrem Schicksal überlassen werden. Die noch lebensfähigen möchten
sich durch eines von zwei Mitteln helfen: ihren Besitz entweder parzellenweise
verkaufen oder verpachten. Die nicht überschütteten Bauern und Großgrund¬
besitzer seien für den Einnahmeansfall bei Aufhebung der Getreidezölle durch
Steuererleichterungen zu entschädigen; auch könne, meint Lotz, ein mäßiger
Viehzvll beibehalten werden.
Im Schlußwort wiederholt Lotz die früher schou ausgesprochue Warnung
an die Konservativen, mit ihren Angriffen gegen das mobile Kapital vorsichtig
zu sein, da die Arbeiter, wenn einmal das Kapital überhaupt verpönt sei. vor
dem in Grund und Boden angelegten nicht Halt machen würden, und giebt
den Liberalen zu bedenken, daß sie als Förderer der Exportindustrie mir so lange
am Ruder bleiben könnten, als sie bereit seien, die für die Wehrhaftigkeit des
Reichs notwendigen Opfer zu bringen; denn über allen wirtschaftlichen und
sozialen Fragen stehe die Existenz des Vaterlandes.
u Ostern 188!) wurde in dem damals leerstehenden „Russischen Hof"
auf der Zeil in Frankfurt a. M. ein Abendkursus für hcmswirt-
schnftlichen Unterricht eröffnet. Aber die Lehrstütte in jenem, allen
Fremden bekannten Gasthause mußte, weil es die Rcichspost-
behörde ankaufte, noch vor Schluß des ersten Schuljahrs um¬
siedeln; sie wurde im Februar t8U0 in das Herz der Altstadt Frankfurts, an den
alten Markt Ur. 5 verlegt, wo sie sich noch bellte befindet. Für ihre Umgebung
und das jenseits des Mains befindliche Sachsenhaiisen günstig gelegen, wird
sie vorzugsweise von Mädchen dieser Stadtteile besucht. Eine zweite Hcins-
haltungsschnle ist zwei Jahre später, Ostern 1891, in dem nordöstlich von
Frankfurt liegenden, ihm als Vorort zugehörigen Bornheim errichtet worden.
Sie dient zur Aufnahme der dort wohnenden Schülerinnen und auch von
Mädchen ans den ländlichen Außenorten Frankfurts. Namentlich richten diese
ihr Augenmerk auf die Morgenkurse, von denen in jedem Schullokal einer
abgehalten wird. Der Frankfurter Verein für Haushaltungsschulen hat dem¬
nach vier Lehrgänge: zwei Abendkurse, 1889 und 1891 eröffnet, und zwei
Morgenkurse, die, in denselben Schulräumen, Ostern 1890 sür die Altstadt
und Sachsenhauseu, und Ostern 1892 für Bornheim und den Nordosten der
Stadt errichtet worden sind.
Daß die Abendkurse den Mvrgenkursen vorangingen, liegt im Vereins¬
zweck begründet, der dahin geht, unbemittelten Mädchen nach dem Aus-
tritt aus der Schule und dem Eintritt in eine Lohnarbeit in ihren freien
Stunden die Gelegenheit zu hauswirtschaftlicher Ausbildung zu bieten. Die
Lohnarbeit wird, unter den gegenwärtigen gewerblichen Verhältnissen, fast
immer eine volle Tagesarbeit sein, die frei bleibenden Stunden werden daher
auf den Abend oder auf den Sonntag fallen. Soll nun den Mädchen, ohne
Beeinträchtigung ihres Broterwerbs, hauswirtschaftliche Unterweisung zu teil
werden, so kann dies — da der Sonntag aus manchen Erwägungen am besten
nrbeits- und unterrichtsfrei bleibt — uur abends geschehen. Mit fast allen
dem gleichen Zweck dienenden Unterrichtsanstalten haben also die Frankfurter
Haushaltungsschulen den Schwerpunkt ihrer Thätigkeit in die Abendkurse ge¬
legt; sie sind vor allem Abendhallshaltnngsschnlcn oder, als eins der drei
Glieder im Mädchenfortbildungsschulwesen, hauswirtschaftliche Fortbildungs¬
schulen, die, ihrem Namen entsprechend, neben einer Tageslvhnarbeit, einem
Broterwerb hergehen. Die Mvrgenkurse, die in Frankfurt beidemal erst in
zweiter Linie eingerichtet worden sind, schließen schon durch ihre Unterrichtszeit
die eigentlichen Lohnarbeiterinnen vom Besuch aus. Sie haben als Schülerinnen
solche Mädchen, die nach dem Verlassen der Volksschule nicht unmittelbar in
Lohnarbeit treten, teils weil sie dazu körperlich noch nicht kräftig genug sind,
teils weil es die Verhältnisse der Eltern gestatten, daß sich zwischen Volks¬
schulbesuch und Lohnarbeit, zu der die Töchter später doch übertreten, ein
Zeitraum einschiebt, der sich zweckmäßig auch zur Teilnahme an einem haus¬
wirtschaftlichen Morgenkursus verwenden läßt.
Ein Vergleich der Schülerinnen beider Lehrgänge zeigt, daß die abends
von sieben bis neun Uhr kommenden Mädchen im Durchschnitt älter und kräf¬
tiger, die morgens von neun bis zwölf Uhr thätigen jünger, weniger aus¬
gewachsen und — soweit in den durchgängig ärmlichen Verhältnissen der
Eltern überhaupt ein Unterschied bemerkbar wird — von Hause aus etwas
besser bemittelt, d. h. weniger unbemittelt sind. Es ist manche unter ihnen,
die am Nachmittage doch irgend welche Lohnarbeit, z. B. Zeitungentragen, be¬
sorgen muß; andre, und zwar die meisten, sind während der nicht in der Haus¬
haltungsschule verbrachten Stunden nach dem Maße der schon erlangten wirt¬
schaftlichen Kenntnisse und Fertigkeiten, im elterlichen Haushalt thätig. Gehn
somit die Morgenkurse über den bezeichneten Vereinszweck hinaus, so entsprechen
sie doch einem Bedürfnis derselben ürmern Bevölkerungsschicht, aus der unsre
Frankfurter Schülerinnen im Alter von fünfzehn bis einundzwanzig Jahren
überhaupt hervorgehn. Sie dienen den etwas jüngern und schwächern, den
um ein geringes besser gestellten Kindern in der kurzen Zeitspanne, die der
vollen Tageslohnarbeit vorhergeht; und sie werden, was uus ihre Errichtung
auch sehr nahe gelegt hat, in denselben Schulräumen und meist mit denselben
Lehrkräften abgehalten, die von den andern Kursen nur abends beansprucht
sind. Die letztern bleiben schon in der durchgängig großer» Zahl ihrer Be-
sucherinnen wie der Anfang so der Mittelpunkt der Vcreinsbestrebungen.
In beiden Lehrgängen findet, in dem einen zwei, in dem andern drei
Stunden täglich der gleiche Unterricht statt. Er wird räumlich getrennt, von
verschiednen. natürlich weiblichen Lehrkräften erteilt: in Handarbeiten, im Bügeln
(oder Plätten) und im Kochen. Da aber Freitags und Sonnabends auch alle
in den Schulräumen befindlichen Gegenstände und die Räume selbst, abgesehn von
ihrer täglichen Reinigung, noch eine gründliche Wochensänberung erfahren, so
werden die drei Hauptteile auch der einfachsten Haushaltsführung: Kleidung,
Nahrung und Erhaltung von Wohnung und Hausgerüt, im Verlauf einer
Schulwoche praktisch gelehrt und eingeübt. Eigentlich vollzieht sich der
Kreislauf der Unterrichtsgegenstände in zwei Wochen oder, da die Sonntage
frei bleiben, an zwölf Schulabenden und Schulmorgen. Ist z. B. die Ge¬
samtzahl der Schülerinnen eines Kursus dreißig, so sind fünfzehn in der einen
Woche im Handarbeitssaal beschäftigt mit allein, was die eigne Kleidung oder
die der Eltern und Geschwister an auszubessernden und neuzufertigeudeu
Sachen einem für Schülerinnen berechneten Handarbeitsunterricht liefert. Die
fünfzehn andern verbringen die halbe Woche in der Küche und im Bügel¬
zimmer, und zwar in letzterm immer fünf Schülerinnen je zwei Abende oder
zwei Morgen, sodaß die ganze Küchenhälfte im Verlauf einer Woche vier Abende
mit Kochen und zwei Abende mit Bügeln beschäftigt ist. Es kommen daher
auf die zwölf Schultage oder zwei Wochen: sechs Hcmdarbeits-, vier Koch-
und zwei Bügelabeude. Dieser Wechsel vollzieht sich für beide Hälften Woche
um Woche, sodaß am Schluß der halbjährigen Kurse jede regelmäßig erschei¬
nende Schülerin in den drei Lehrgegenständen die gleiche Stundenzahl erhalten
hat. Ein regelmäßiger Besuch ohne Versäumnisse hat sich aber in den drei
nun verflossenen Schuljahren immer mehr eingebürgert, obgleich die ganze
Nötigung zu regelmäßigem Erscheinen nur darin bestehen kann, daß die Unter¬
weisung selbst nicht zu schwierig, sondern einfach und — man möchte sagen —
handgreiflich nutzbringend im Rahmen der eignen Lebensführung der un¬
bemittelten Schülerinnen gehalten wird. Doch giebt es neben diesem festesten
Kitt des Schulbesuchs noch andre Bindemittel für die Mädchenschar.
Die Frankfurter Haushaltungsschulen werden von heimischen und aus¬
wärtigen Gästen viel besichtigt, und es wird manche Frage gestellt, um über
Einzelheiten des Unterrichtsbetriebs Auskunft zu erhalten. Eine der häufigsten
lautet: „Was macht ihr mit dem hergestellten Essen?" Diese Frage findet ihre
augenfällige Beantwortung um zwölf Uhr mittags und um neun Uhr abends,
am Schlüsse der Unterrichtsstunden. Die Mädchen essen das von ihnen Zu¬
bereitete selbst; die Kochschülerinneu, jene zehn von den dreißig, die sich gerade
in der Küche befinden, kochen für sich selbst und für die im Bügelrcmm
und Handarbeitssaal beschäftigten Genossinnen. Zwar ist keine gezwungen,
an der Abend- und Mittagsmahlzeit, die täglich mit zehn Pfennigen vergütet
werden muß, teilzunehmen; besondre Umstände, z. V. ein weiter Rückweg,
veranlassen einzelne Schülerinnen, sich mit dem Glockenschlage zwölf und neu»
Uhr nach Hause zu begeben. Doch sind das Ausnahmen gegenüber denen,
die sich nach den Mühen des Unterrichts das unter Anleitung der Kochlehrerin
hergestellte Essen munden lassen, wobei von jedem der kleinen Kochherde die
Kochälteste auch die Tischülteste ist und an einem der Tische die Anstellung
besorgt. Zu deu erwähnten Bindemitteln der Anstalt gehört diese leiblich kräf¬
tigende, gesellig stimmende Mahlzeit sicherlich auch.
Wichtiger ist eine andre Frage, nämlich die: „Was kosten denn solche
Schulen?" aber sie bietet einer allseitig befriedigenden Beantwortung viele
Schwierigkeiten. Der Vorstand des Frankfurter Vereins weiß freilich genau,
was ihn seine Schulen und die Einzelkurse kosten an Miete der Schnllokale,
an Gehalten der Lehrkräfte, an Führung des Schulhaushalts zu Unterrichts¬
zwecken und den andern großen und kleinen Erfordernissen des Schnlbetriebs
und der Vereinsführung. Auch kennt er die Einnahmen an Schulgeld: eine
Mark monatlich für den täglichen Besuch, und an Eßgeld die täglich zu
zahlenden zehn Pfennige. Er hat auch noch eine besondre Mittagsspeisung
eingerichtet, d. h. er läßt Abendschülerinnen, die mittags in ihrer kurzen Ar¬
beitspause von zwölf bis ein Uhr nicht nach Hause gehn können, mit den
Morgenschülerinnen speisen und erhebt dafür zwanzig Pfennige Eßgeld, einen
Betrag, der ihm die Herstellungskosten deckt. Er mag hierbei sogar einen kleinen
Überschuß haben, hat aber andrerseits den großen Fehlbetrag zu decken, den
sonst die beiden Einnahmen aus Schulgeld und Eßgeld gegenüber all den Aus¬
gaben lassen. Er kaun auch, da seine Schülerinnen unbemittelte Mädchen sind,
das Gleichgewicht von Soll und Haben nicht durch eine Erhöhung dieser Ein¬
nahmen herstellen. Die Einnahmen des Schulbetriebes werden eine solche
Schule nicht erhalten können. Er muß weitere Betriebsmittel mit Hilfe von
Freunden beschaffen; und an solchen Freunden hat es dem Frankfurter Verein
bisher nicht gefehlt. Zu ihnen gehören der Staat (Ministerium für Handel
und Gewerbe), die städtische Verwaltung, eine reiche Frankfurter gemeinnützige
Gesellschaft (Polytechnische Gesellschaft) und endlich die Vereinsmitglieder. Alle
diese Einnahmen und Ausgaben nun werden an neuen Schulorten vielleicht
in gleicher Zahl auftreten, aber die Einzelposten werden andre Betrage auf¬
weisen. Unser Frankfurter Budget zeigt, was für Einnahmen und Ausgaben
solche Schulen haben können; wie hoch sie sich in einer andern Stadt belaufen
werden, läßt sich erst aus dein Schulbetriebe selbst erkennen.*)
Furcht vor finanzieller Ungewißheit, die Scheu, ein Unternehmen ins
Leben zu rufen, dessen Bedürfnisse sich bei der Gründung nicht übersehn lassen,
mag das Entstehu mancher Haushaltungsschule verzögert oder verhindert
haben. Dennoch steht die Frankfurter Anstalt, die ihre Vorlüuferinuen in Han¬
nover und in M.-Gladbach hatte, heute nicht vereinzelt da, sondern sie hat für
eine Anzahl deutscher Großstädte — ich nenne nur Bremen, Kiel, Magdeburg,
Leipzig — und auch für kleinere Orte Anregung und Vorbild gegeben. Nicht
daß man dort die Frankfurter Einrichtungen einfach nachgebildet hätte; aber
man hat sie in ihren Grundzügen nachgeahmt und den Schulbetrieb im ein¬
zelnen den örtlichen Verhältnissen und Bedürfnissen angepaßt.
Unsre Anstalt hat den Vorzug, daß sie einfach, übersichtlich in all ihren
Teilen ist und treue, lernbegierige Schülerinnen hat. Vielfach sind diese lohn¬
arbeitenden Mädchen Fabrikarbeiterinnen, doch finden sich auch solche dabei,
die im Kleingewerbe als Näherinnen oder Putzmacherinnen oder als Laden¬
mädchen beschäftigt sind. Am spärlichsten sind die Dienstboten vertreten. Von
den Fabrikmädchen stand es ja jahrzehntelang sest, daß sie nach Arbeitsschluß
an ihrem Feierabend nur auf Vergnügungen aller Art bedacht seien und sich
jeder Unterweisung, ob hanswirtschaftlicher, gewerblicher oder sonst welcher Art,
unzugänglich zeigten. Wie man dies in Erfahrung gebracht haben will, ist
schwer verständlich. Richtig war doch nur soviel, daß sie ihre freien Stunden nicht
im stillen Knmmerlein und ebenso wenig in den ihnen fremd bleibenden Haus-
wirtschaftlichen Verrichtungen verbrachten, sondern herumbummelten und sich
vergnügten, wie sie es lieber nicht hatten thun sollen. Falsch war der Schluß,
daß sie sich gegen jeden Versuch, ihnen eine beßre Verwendung ihrer Muße¬
stunden zu bieten, widerwillig zeigen müßten. Der Versuch selbst hat das
Gegenteil bewiesen; ja er hat, wenigstens in der Frankfurter Abendhaushal¬
tungsschule, gezeigt, daß die Mädchen beim Lernen die eifrigsten sind, deren
Tagesbeschäftigung allen hauswirtschaftlichen Verrichtungen am fernsten steht:
die Fabrikarbeiterinnen.
Ich habe in den drei Schuljahren oft Fremde dnrch unsre Räume ge¬
leitet, denen der Stand der Lohnarbeiterinnen wohl bekannt war, ja die zum
Teil selbst als Arbeitgeber von Fabrikmädchen mit deren Tagesbeschäftigung
und der Art, wie sie die Abende und Sonntage ausfüllten, vertraut waren.
Wenn wir dann gegen acht Uhr — dies ist der zeitliche und sachliche Mittel¬
punkt des Abendunterrichts — in den Handarbeitssaal traten und dort die
„Handarbeitshälfte" emsig beim Flicken und Stopfen, beim Nähen und Schnei¬
dern fanden, wenn wir am Vügelraum vorbei, wo auch nicht gefeiert wurde,
in die große Küche und den Speiseraum kamen, die Herde gut gefeuert nud
die Mädchen herrichtend, kochend und tischdeckend trafen, alles in fröhlicher
Arbeit, so ging es oft wie ein Gelöbnis über die Gesichter unsrer Gäste.
Manche an andern Orten heute blühende Abendhaushaltungsschule hat in
solchen Augenblicken im Kopfe ihrer Stifter ihren Ursprung genommen.
Weibliche Lohnarbeit, auch die der Fabrikarbeiterinnen, ist ein Teil unsrer
gewerblichen Verhältnisse; wir können sie nicht beseitigen und brauchen das
heute auch nicht mehr mit dem blinden Eifer zu erstreben, der ehemals in der
zur Heirat schreitenden Fabrikarbeiterin, dieser „hauswirtschaftlich ganz unfähigen
Person," die Zerstörerin alles ehelichen Glücks erblickte. Wo sie dies zur Zeit
noch ist, da wende man ein Gegenmittel an, das gern und ohne Zwang be¬
nutzt wird: die Abendhaushaltungsschule.
uf dem Rundfluge, könnte es auch heißen. Denn obwohl man
sich nach heutiger Reisesitte seiner schneckenhaften Langsamkeit zu
schämen hat, wenn man in drei Wochen nicht mehr als drei¬
hundert Meilen zurücklegt, so ist doch dieses Tempo gerade rasch
genug, überall falsch zu sehen und zu hören,*) namentlich
wenn sich der Beobachter wegen mangelhafter Schärfe der Sinnesorgane einiger-M<^M
>' - «B,
WW
MW
maßen über die Natur zu beklagen hat. Die nachfolgenden Bosheiten sind
daher nur zu dem Zwecke geschrieben, den Grenzboten eine Reihe geharnischter
Proteste von den „Eingebornen" der betroffnen Orte und damit ein richtiges
Bild der Lage einzutragen.
Wer Berlin seit den Gründerjahren nicht gesehn hat und es erst in
diesem Jahre wieder besucht, der erkennt es, ich meine nicht die Physiognomie
seines Gemäuers, sondern seiner Bewohner, kaum wieder. Wo ist die aus-
gelaßne Menge geblieben, die auf den glänzenden Ballfesten der Demimonde
schwelgte und jubelte, die den übermütigen Zauberpossen und unzweideutigen
Tingeltangelwitzen Beifall zuwieherte? Überall geht es hübsch anständig, ge¬
setzt und langweilig zu, die Volksgarten, in denen sonst kein Apfel zur Erde
konnte, vermag selbst der große Tierbändiger Valley mit seiner Löwendrehlade
nicht mehr zu füllen, und die Unterlippen der verdroßnen Kellner hängen
Parallel mit ihren schäbigen Frackschößen herab. Sogar die Bestien des zoolo¬
gischen Gartens schauen ganz trübselig drein, nicht zu reden davon, daß viele
Käfige und Umzäunungen leer, die übrigen nur mit wenigen, kleinen und rup¬
piger Exemplaren versehn sind. Auch die Krokodile, Affen und Medusen des
Herrn Hermes werden immer spärlicher, kleiner und fauler.
Diese ernste Stille wäre ja nun äußerst erfreulich, wenn man sie als ein
Zeichen innerlicher Sammlung, als einen Vorboten sittlicher Wiedergeburt und
großer Thaten deuten konnte. Allein das dürfen wir Wohl kaum. Die auf¬
richtige und tiefe Teilnahme, die beinahe rührend kindliche Freude, mit der ein
vieltausendköpfiges, aus allen Bevölternngsklassen Hamburgs gemischtes Publi¬
kum allabendlich im Zirkus Renz die Späße des dummen Angust begleitet,
läßt weder vou einer Änderung des Geschmacks noch von einer Vertiefung des
Gemüts beim deutschen Michel etwas erkennen; und was wäre wohl in den
letzten Jahren vorgefallen, das uns berechtigte, die heutigen Berliner für
idealer zu halten als die heutigen Hamburger? Es ist lediglich der elende
Geschäftsgang, infolgedessen die Berliner die Kopfe hängen, und das hört mau
auch von jedem, den man drum fragt. Anderwärts giebt sich diese „schwere
Not der Zeit," über die man sich mit schlechten Witzen hinwegsetzen, aber die
man nicht leugnen kann, auf andre Weise kund. In Danzig steht von den
Speichern, die sich an der Mottlau hinziehen, die Hälfte leer; man fängt an,
sie zu Proletarierwohnungen umzubauen. In Zoppot sah man — im Juli
und beim schönsten Wetter! — an nicht wenig Häusern die Tafel mit „Woh¬
nungen zu vermieten" hängen, und in Breslauer Hotels bekam man für zwei
Mark ein Zimmer, das vor vier Jahren vier Mark kostete. Der vielbeklagten
Teuerkcit des Reifens in der Hochsaisvn hat also für dieses Jahr die Erbärm¬
lichkeit des Geschäftsganges ein wenig abgeholfen. Teuer genug bleibt es aber
immer noch im nordöstlichen Teile des lieben Vaterlandes, wo der etwaige
solide Preis gewöhnlich durch die schlechte Beschaffenheit der Zimmer, Betten
und Speisen aufgewogen wird. Gegenden, wo man für billiges Geld etwas
gutes bekommt, soll es allerdings auch heute noch in der Welt geben, aber
wer sie kennt, der hütet sich weislich, sie zu nennen.
Wenn in Berlin die Preise für Wohnung und Kost stetig in die Höhe
gehn und jetzt weit hoher sind als noch vor zehn Jahren, so kommt das nicht
von zunehmender Lebhaftigkeit des Fremdenverkehrs, sondern von dem lawinen¬
artigen Anschwellen der Einwohnerschaft, das den Bodenpreis zu schwindelnder
Höhe emportreibt. Ein Berliner Hausbesitzer sagte mir, daß in der Friedrich¬
stadt die Quadratrute mit fünfundzwanzigtausend Mark bezahlt würde. Wenn
sich der gute Maun nicht um eine Null geirrt hat, so würde also der Qua¬
dratfuß zweihundertfunfzig Mark gelten; dafür bekommt man schon einen Qua¬
dratfuß Goldblech. Daß bei diesem Preise des Baugrundes die Gastwirte und
Ladeninhaber unverschämt scheinende Preise fordern müssen und trotzdem keine
glänzenden Geschäfte machen, sieht jedermann ein. Aller Arbeitsverdienst und
alle Ersparnisse von Hunderttausenden fließen den boleti xv8Liäentö8 zu, die
durch den Zufall der Geburt vor 1870 schon in Berlin Grundbesitzer waren,
oder die durch geschickte und glückliche Spekulation rechtzeitig zu Grundbesitz
gekommen sind.
Besagter Hausbesitzer ist natürlich eifriges Mitglied des Hciusbesitzer-
vereins und schwärmt für zwei Dinge: als Hausbesitzer für die Kafernirnng
der Prostitution und als Berliner Philister für Ahlwardt. In ersterer Be¬
ziehung teilte er einen Fall mit, wo ein Hausbesitzer, der gar nicht in Berlin
wohnt und schlechterdings nicht weiß, was in seinem Hause vorgeht, wegen
Kuppelei verurteilt worden sei. Bekanntlich fordert der Hausbcsitzervereiu von
seinen Mitgliedern, daß sie kein unter Kontrolle stehendes Mädchen aufnehmen,
die Polizei aber verweigert die Auskunft darüber, ob eine Frauensperson unter
Kontrolle stehe oder nicht, um, wie es in einem Bescheide heißt, diesen Per¬
sonen das Wohnungfiuden nicht noch mehr zu erschweren. Ich habe nun dem
Herrn geraten, er soll dem Hausbesitzervereiu vorschlagen, auf Grund dieser
Motivirung der Auskunftsverweigerung den Polizeipräsidenten wegen Kuppelei
zu verklagen, dann wird wohl die blinde Justitia Augen kriegen und die heikle
Frage in einer der beiden möglichen Weisen entscheiden. Will man sich zu
keiner von beiden entschließen, dann wird nichts übrig bleiben, als daß der
Staat sür diese Personen Luftballons anschafft, in denen sie dann wohnen
und zweimal wöchentlich zu der vorgeschriebnen ärztlichen Untersuchung schweben
müßten. Was Ahlwardt anlangt, so behauptete mein Philister steif und fest,
alles, was dieser Ehrenmann erzähle, sei wahr, und alles, was die Zeitungen
über ihn und seine Vorträge berichteten, sei erstnnken und erlogen; ganz
Berlin glaube ihm aufs Wort, und wenn heute hunderttausend Mark Kaution
für ihn gefordert würden, so würden sie morgen zusammen sein. Was diese
Erscheinung erklärt, ist ja den Lesern der Grenzboten zur Genüge bekannt.
Man mus; Leute erzählen hören, die zur Zeit des Judenflintenlärms in Berlin
waren, um vou der Großartigkeit der Bewegung einen Begriff zu bekommen;
die Zeitungen haben die Wahrheit nicht verraten, erst das endlose und wahn¬
sinnig leidenschaftliche Geschrei der freisinnigen Blätter nach Pvlizeihilfe gegen
die Ausrufer der „Judenbvrdelle" ließ die Lage einigermaßen ahnen. Die
Sozialdemokraten behaupten mit einem österreichischen Reichstagsabgeordneten,
der Antisemitismus sei weiter nichts als die Sozialdemokratie der dummen
Kerle, die zu schwachsichtig oder zu furchtsam, zum Teil allerdings auch zu
interessirt seien, einzusehn. daß sie eigentlich nicht den Juden, sondern den
Kapitalisten meinten. Dem sei nun. wie ihm wolle, jedenfalls muß man einer¬
seits mit dem klagenden Hiob fragen: „Schreit etwa der Waldesel ohne Grund?"
und andrerseits die für Hartmanns „evolutionistischen Optimismus" wenig
günstige Thatsache verzeichnen, daß ..ganz Berlin" monatelang einem Menschen
wie Ahlwardt nachläuft und das Märchen von der internationalen jüdischen
Verschwörung gegen des deutschen Reiches Flinten glaubt. Dieser Glaube
scheint einen Grad von Gehirnschwund vorauszusetzen, der außerhalb der Stadt
der Intelligenz kaum vorkommen dürfte. Die Wundergläubigkeit der Frommen
kann man nicht ans eine Stufe damit stellen, denn wo einmal die Möglich¬
keit übernatürlicher Einwirkungen angenommen wird, da verletzt der Glaube
ein einzelnes Wunder weder die Logik noch einen Erfahrungssatz; hier aber
handelt es sich um Thatsachen, die ganz innerhalb der Verkettung diesseitiger
Ursüchlichkeit liegen. Da mein .Hausbesitzer einen Schwiegersohn in einem der
nervösesten Ministerien hat, so brachte ich ihn durch die Frage, wie man in
diesen allermaßgebendsten Kreisen über Vismarck denke, ein wenig in Verlegen¬
heit. Er wollte anfänglich mit der Sprache nicht recht heraus, gestand aber
dann, daß Vismarck auch dort noch warme Verehrer zähle.
Hie und da trifft man noch auf äußere Zeichen natürlicher und darum
erfreulicher Verhältnisse. Ju Kiel ist die „Kothes" noch nicht mit der Gnädiger
zu verwechseln, sondern geht im kurzärmligen Jäckchen bloßarmig auf den
Markt, im Lübeckschen und Bohnischen tragen die Bauerfrauen eigentümlich
geformte Strohhüte; die Posener Form ist ganz anders als die Lübeckische.
Die Posenerinnen, die ich in einem Leichenzuge einherstampfen sah. nahmen
sich mit ihren bunten Röcken, Tüchern, Jacken und hellen Hüten, alles von
recht ungeschicktem Schnitt, äußerst putzig aus. Schön ist die Tracht nicht,
aber es ist doch immerhin eine Volkstracht. Wie lange wirds dauern, dachte
ich. dann werden auch diese Weiblein vollkommen „germanisirt," zivilisirt und
aufgeklärt sein! Dann werden sie nicht mehr zwanzig Jahre lang ein und
dasselbe Urgrvßmutterhütlein tragen, sondern der Murr wird jedes Frühjahr
und jeden Herbst für Frau und Töchter neue Hüte kaufen müssen. Dann
wird er anfangen, in das Lied von der Not der Landwirtschaft einzustimmen
und statt eines von der Fraktion Admiralski einen Agrarier oder einen Anti¬
semiten wählen, und wieder ein paar Jahre später, wenn der hilfreiche Freund
aus der Stadt sein Gütchen verspeist hat, einen Sozialdemokraten. Recht
gemütlich gehts auch noch in Marienburg zu. Wie billig muß dort noch
Grund und Boden sein! Nicht in die Höhe, sondern in die Breite bauen die
Leute. Die meisten Häuser und Häuschen haben nur ein Erdgeschoß und
allenfalls noch ein Dachstübchen. Architekturstndien lassen sich da freilich nicht
machen, aber die alte Hvchmeisterburg hat ja Architektur genug für ein ganzes
Dutzend solcher Stüdtlein. Von den Krisen des Weltmarkts verspüren die
Handwerksmeister, kleinen Fabrikanten und Krümer des Ortes nicht viel, denn
ihre Abnehmer sind die umwohnenden Bauern. Hier gilt noch das Wort:
Hat der Bauer Geld, so hats die ganze Welt, hier herrscht noch Interessen-
Harmonie. Der Städter wünscht dem Bauer eine gute Einnahme, diesem aber
kommt es weniger auf hohe Preise als auf gute Ernten an, denn, sagt er,
was hilft mir der hohe Preis, wenn ich nichts zu verkaufen habe oder wohl
gar selbst Viehfutter und Brotkvrn kaufen muß? Das war leider im letzten
Jahre der Fall, in diesem aber siehts zum Glück anders aus. In Pommern,
in Preußen, in der Mark, in Posen, in Schlesien, überall im Nordosten körnert
das Getreide so reichlich, daß wir nicht bloß eine gute Mittelernte, sondern
eine wirklich gute Ernte erwarten dürfen; in Schlesien liefert der Probedrusch
geradezu erstaunliche Ergebnisse. Ganz so schlimm wie der vergangne wird
also der bevorstehende Winter nicht ausfallen. Das ist ein lichter Punkt am
düstern volkswirtschaftlichen Himmel.
Wird das billige Brot imstande sein, die finstern Sozialdemvkratengesichter
ein wenig aufzuhellen? Schwerlich! Der Ingrimm hat sich zu tief eingefressen.
es ist ein „prinzipieller" Ingrimm, den keine Verbesserung der Lage mehr zu
überwinden vermag. Scheint er doch gerade bei solchen Leuten, deren Lage
verhältnismäßig sehr befriedigend ist, am stärksten zu sein. Hütte ich nur einen
kleinen Anschütz bei mir gehabt, als ich an der Seite eines Marinebeamten
durch die Reihen der fünftausend am Feierabend heimkehrenden Werftarbeiter
in Kiel Spießruten lief! Die Augeublicksaufuahmen würden zeigen, daß die
Mehrzahl dieser Arbeiter trotz sehr guten Verdienstes ungefähr von denselben
Empfindungen beseelt ist, wie die römischen Sklaven vor Ausbruch der Sklaven¬
kriege. Es ist nicht möglich, daß ich mir die bösen Blicke, die mich trafen,
nur sollte eingebildet haben, denn ich kam nicht allein ohne Vorurteil, sondern
als erholungsbedürftiger Ferienbummler beinahe ohne Gedanken hin und bin
so harmlos und frei von Argwohn, daß ich vor Jahren an andern Orten
etlichemal die mir zugerufnen Schimpfworte für Grüße genommen und mit
einem freundlichen Grüß Gott! erwidert habe. Aber die Blicke, die dort der
Uniform und dem vermeintlichen Müßiggänger aus nächster Nähe zugeworfen
wurden, konnten auch von dem Kurzsichtigsten nicht übersehn und unmöglich
mißverstanden werden.
Diese Stimmung der Arbeitermassen allein schon könnte meines Erachtens
als hinreichender Grund gegen die vou deu Berliner Gastwirten und links¬
liberalen Politikern so warn: empfohlene Weltausstellung angeführt werden.
Der Glanz und die Pracht eines solchen Weltjnhrmarkts zusammen mit dem
Schauspiele verschwenderischer Üppigkeit, das die zusammenströmenden reichen
Fremden geben, könnte bei der einmal vorhandnen Weltansicht und Stimmung
der ebenfalls zusammenströmenden Arbeiter nicht anders als erbitternd auf sie
wirken. Die Gefahr, daß das Unternehmen zustande kommen könnte, ist ja
bei der Mattigkeit und teilweise deutlich hervortretenden Abneigung der Fabri¬
kanten nicht groß. Diese Fabrikantenstimmung müssen auch die als ein uu-
widerlegliches Zeugnis für die Elendigkeit der Lage ansetzn, die vor dem
Arbeiterelend grundsätzlich Augen und Ohren verschließen; denn bewegte sich
unsre Industrie in aufsteigender Linie, dann würden alle Unternehmer dem
Plane zugejubelt haben, ohne erst lange das Für und Wider zu erwägen.
Ausstellungen in kleinern Kreisen, die mit einem viel geringern Risiko
verbunden sind, kommen auch heute noch verhältnismäßig leicht zu stände,
^chweidnitz, eine in gesegneter Gegend liegende Stadt von 25 000 Ein¬
wohnern, hat diesen Sommer eine veranstaltet, und sie ist recht nett aus-
gefallen. Die in einem schattigen Park geschmackvoll und zweckmüßig an¬
geordneten Gegenstände geben ein kleines, aber ziemlich vollständiges Bild
der großartigen gewerblichen Technik unsrer Zeit. Bei ihrer Beschauung ist
w>r namentlich zweierlei im Kopfe herumgegangen. Erstens: wie rasend schnell
^'ehe Spinn-, Weh- und sonstigen Maschinen arbeiten, und wie bald wir uns
vor die Frage gestellt sehn werden, ob wir — nicht den achtstündigen, nein,
sechs-, den vierstündigen Arbeitstag einführen oder die überzähligen Ar¬
beiter totschlagen wollen. Sodann: wie traurig der Gegensatz ist zwischen den
Erzeugnissen der Industrie und ihren Erzeugern. Wie reinlich und appetit-
lch, wie schmuck und schön liegen doch alle diese Sachen da! Wie freilndlich
glänzen und blinken die Metallwaren und Maschinen, mit wie herrlichen Farben
und Zeichnungen prangen die Kleiderstoffe, wie mollig und wohlig wird einem
beim Anblick der mit weichen Teppichen belegten Speise-, Prunk- und Schlaf-
Muner, wie locken die Likörflaschen, mit wie stolzen, freudigen Gedanken schwellt
der prächtig aufgezäumte Rappe das Herz des Beschauers, und wie ästhetisch
nehmen sich sognr die Proben unsrer schwarzen Diamanten in saubern blin¬
kenden Gläsern ans. Und jede Abteilung hat ihren eignen, höchst charnkte-
nstischen, aber durchaus angenehmen Geruch: Eisen, Leder, Papier, Leinen
verraten sich sofort beim Eintritt in die Abteilung der Nase und erhöhen da-
durch den Genuß des Auges. Und nun stellte ich mir die Menschen vor, die
alle diese Dinge schaffen, in ihren schmutzigen Werkstätten, Fabriken und Berg¬
werken. Nicht überall, wir wissen es wohl, geht es beim Schaffen ungemüt¬
lich zu; die Fleischer z. B. mit ihren breiten lachenden Gesichtern, ihren rot¬
weißen Backen und rvtweißen Hemden sehen im Schlachthof und im Laden
nicht anders aus als hier bei der großen Würstelmaschine, die den kräftigsten
Anziehungspunkt der ganzen Ausstellung bildet. Aber die Bergleute, aber die
Weber, aber die schwindsüchtiger Steinschneider, die rheumatischen Töpfer und
unzählige andre! Und die Frage entringt sich der beklemmten Brust: Wann
wird endlich einmal das Erzeugnis sür den Menschen und nicht mehr der
Mensch bloß sür sein Erzeugnis dasein? Wann wird man es wagen dürfen,
den Schöpfer dieser Herrlichkeiten, der sie jetzt durch sein vogelscheuchenartiges
Aussehn nur verschimpfireu würde, als ihre Krone mitten hineinzusetzen?
in Anfang zeigten sich die Hinterwinkler untröstlich über die
Bescherung. Sie meinten, da Preußen im Dorfe lügen, sei
dieses nun auch selbst preußisch. Napoleon mußte also seine
Hilfe verweigert haben.
Aber bald erschien das Unglück nicht so groß, als man be¬
fürchtet hatte. Zunächst erwiesen sich die Einquartierten als ziemlich liebens¬
würdige Feinde und im ganzen als genügsame Gäste. Mit neuen Kartoffeln
und frischer Butter konnte man ihnen ein großes Fest bereiten. Auch waren
es nicht einmal Preußen, sondern Hamburger, Söhne einer freien Stadt, die
selber von den Preußen nicht immer als ihren besten Freunden sprachen und
es jedem sagten, der es hören wollte, daß sie den von Preußen herauf-
beschwornen „Bruderkrieg" von Herzen verabscheuten und nur gezwungen mit¬
gemacht hätten. So konnte es nicht fehlen, daß der Feind gar bald gut
Freund wurde, besonders da sich die sichere Nachricht verbreitete, daß man
württembergisch bleibe nach wie vor, und daß die Kosten der Einquartierung
Von Staats wegen reichlich vergütet werden würden. Man machte darum
Wohl auf die Melodie der Hornsignale cynische, den Preußenhaß zum Aus¬
druck bringende Neimverse; aber seinen Gästen selbst sagte man so viel Schmeiche¬
leien, als sie hören wollten.
Und nicht unverdientermaßen. Denn die fremden Soldaten zeigten ein
rührendes Entgegenkommen; die meisten gingen mit ins Feld und halfen bei
der Arbeit, als ob sie im Tagelohn stünden. Da gab es dann ein fortgesetztes
gegenseitiges Stannen über die fremde Art und Sprache.
Am höchsten stieg die Hinterwinkler Begeisterung am 15. August, am
Tage von Maria Himmelfahrt. Nicht nnr daß schon vorher die aus¬
gezeichnete Kapelle des Regiments auf den Wiesen bei der Haselbrücke
jeden Tag stundenlang die herrlichste Musik gemacht hatte für jedermann,
der zuhören wollte: an diesem Himmelfahrtstage, dem Lieblingsfeste der
Hinterwinkler, erbot sich der Kapellmeister, in der Kirche beim Hochamt ich
weiß nicht was für eine berühmte Messe zu spielen. Und so geschah es
auch wirklich. Während von der Orgelbühne herunter eine Musik erklang,
wie in den Mauern der Hinterwinkler Kirche noch nie gehört worden war,
standen vorn im Chor um den Hochaltar sechs Trommelschläger und die
ganze erste Kompagnie des Regiments, mit schwarzen Roßschweifen auf den
Pickelhauben, und beim Segen mit dem Allerheiligsten, beim srZo
saeraw6ut.nur und Leos xs.mis WKsloruin, beim Offertorium, bei der Wandlung
und der Kommunion schlüge» die Trommeln einen Wirbel, lind die Soldaten
prnsentirten das Gewehr, daß es nnr so rasselte. Da war eine große heilige
Freude und Seligkeit.
Am Nachmittag aber setzte sich die Frende ins Weltliche fort. Dieselbe
Musik spielte jetzt in der Krone zum Tanz auf. Das hätte zwar der Pfarrer
gern verboten, denu es war nicht Sitte, am Himmelfahrtstag zu tanzen. Aber
da er, ein Freund von Musik und feierlichem Gepränge, die gottesdienstliche
Teilnahme des Regiments angenommen hatte, mußte er nnn schon ein Ange
zudrücken und zu dem bösen weltlichen Spiel gute Miene machen.
Eine noch beßre machten die Hinterwinkler Mädchen. Mit den hübschesten
unter ihnen tanzten sogar die Offiziere, und sie thaten dabei, als ob sie im
Leben kein höheres Vergnügen gehabt hätten, und als ob es keine größere
Ehre für sie gäbe, als mit einer traiter Schwabendirne so herumzuwälzen.
Und nicht nur die Mädchen gewannen sie durch solche Liebenswürdigkeit; auch
die jungen Burschen machten sie kirre. Im Anfang standen diese verdutzt in
den Ecken herum oder getrauten sich auch gar nicht den Tanzsaal zu betreten.
Aber die Offiziere wurden nicht müde, die Trutzigen zum Tanz zu ermuntern
und ihnen vorzureden, daß der Ball nnr für sie und ihre Schätze veranstaltet
sei, daß Soldaten und Offiziere sich als Gäste betrachteten und sich nur mit
gütiger Erlaubnis der Herren von Hinterwinkel am Tanz beteiligten.
Eine einzige unter den Töchtern des Dorfs, die schönste von allen, tanzte
nicht, weder mit Gemeinen noch mit Offizieren; sie saß daheim bei ihrer
Mutter und weinte. Das war die braune Ludwiue, die schone Schwester
des Lienhard Neichenbühler.
Ein Fest andrer Art fand am darauffolgenden Sonntag statt. Diesmal
wollten die guten Hamburger zeigen, daß sie nicht nur die Religion der Hinter-
winkler nicht verachteten, sondern daß sie auch selbst welche hätten, und sie
veranstalteten einen feierlichen Feldgottesdicnst, an dem nicht mir die Hinter-
winkler Truppenteile, sondern auch die sämtlicher umliegenden Dörfer teil¬
nehmen sollten.
Im Wiesenthal drüben, nicht weit von der Haselbrücke, wurden die Vor¬
bereitungen getroffen. Ich benutzte natürlich die nahe Gelegenheit und ließ
mir nichts entgehen. Am meisten bewunderte ich die Bankunst der Soldaten;
aus losgestochnen viereckigen Rasenschollen errichteten sie, die Fugen zierlich
mit Moos verkleidend, eine mächtige, fast haushohe Kanzel, zu der eine breite
Rasenstaffel emporführte.
Nun kam der Sonntag. Unser Pfarrer Bartholvmes hielt diesmal zur
größten Verwundrung seiner Pfarrkinder das Amt schon früh um sieben Uhr,
damit sich ja alles den fremden, ketzerischen Gottesdienst ansetzn könnte. Nie¬
mand in Hinterwinkel hätte dem Pfarrer so etwas zugetraut; aber auch Seine
Hochwürden waren seit der Anwesenheit der „Preußen" wie umgewandelt.
Sonst eigensinnig, knorrig, zwirbelfaserig wie Hainbuchenholz, zeigten sie sich
auf einmal geschmeidig wie schwedische Handschuhe. Derselbe Mann, der ge¬
wohnt war, sich nach niemand als nach sich selber zu richten und jedermann
lieber zum Trotz als zum Gefallen zu leben, entsprach jetzt, und sogar in
kirchlichen Angelegenheiten, den leisesten Wünschen eines fremden, noch dazu
„lutherischen" Soldaten, der ihm doch gar nichts zu befehlen hatte.
Ganz in der Nähe der Rasenkanzel stand, über einer Grenzhecke aufragend,
ein alter Weichselbaum. Und ausnahmsweise kam ich einmal nicht zu spät,
ließ ich mich nicht von andern verdrängen. Ich war sogar der erste auf dem
Venen. Dann kamen noch viele nach, alle glücklich über den vorteilhaften
Platz, mit dem kein andrer zu vergleichen war.
Unterdessen marschierten die Bataillone unter Trommeln und Pfeifen von
allen Wegrichtuugen her in unser Hinterwinkler Thal herein und schlossen sich
zusammen. Viel Volk, altes und junges, folgte ihnen unter großem Jubel.
In einem weiten, regelmüßigen Viereck, die Kapelle in der Mitte, stellten sich
die Truppen um die Kanzel herum, und hinter ihnen das Volk weithin den
grünen Plan erfüllend. Niemals hatte Hinterwinkel so viel Menschen gesehen!
Da trat aus einem der ausgeschlagnen Zelte eine hohe schwarze Gestalt,
von langem Talar umwallt, das Haupt vom schwarzen Barett bedeckt, ein
großes, schwarzes Buch in den Händen haltend, alles schwarz. Nur auf der
Brust trug er zwei schneeweiße Läppchen. Und ein bitter ernstes Gesicht
machte er. Gravitätisch stieg er die weichen Stufen zu seiner Kanzel empor.
Ein Kommandoruf, ein Trommelwirbel, und heilige Stille herrschte.
Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes begann
der Prediger, und ich machte unwillkürlich das Kreuzzeichen. Er selber vergaß
es, wie ich im ersten Augenblick bei mir dachte. Aber langsamer, schöner,
andächtiger, unendlich viel feierlicher sprach er die Worte als unser Pfarrer
Bartholomes. Noch salbungsvoller sprach er das Vaterunser. Noch nie hatte
ich das Gebet des Herrn in so ergreifender Weise beten hören; ein heiliger
Schauer durchrieselte mich. Das Beten des Pfarrers Bartholomes war ein
lumpiges Herunterleiern dagegen. Nur eins kam mir komisch vor, daß der
Mann nicht Vater unser, sondern unser Vater sagte, und lebhaft bedauerte ich,
dnß der, der so schön betete, auch das „Gegrüßet seist du, Maria" vergaß, das
ich gar zu gern auch von ihm gehört hätte, weil es mich fast noch schöner
deuchte als das Vaterunser.
Nach dem Gebet erscholl die Musik und mit ihr lauter, weithin haltender
Gesang, dann begann die Predigt. Noch heute weiß ich den Anfang ganz
genau, und ich werde ihn auch nie vergessen. Es waren die Worte der
Schrift: „Meine Gedanken sind nicht eure Gedanken, und eure Wege sind nicht
meine Wege, sondern so viel der Himmel höher ist denn die Erde —" Mehr
hörte ich nicht. Da geschah ein Krachen, ein Aufschreien in der Luft und
auf der Erde, ein Gedränge, ein Tumult. Der Hauptast des Weichsel-
bnums, auf dem ich mit vier andern meinen Sitz erwählt hatte, war gebrochen
und samt seiner fünffachen lebendigen Last auf die Köpfe der unterstehenden
dicht gedrängten Volksmasse gefallen. Es dauerte eine Weile, ehe der Pre¬
diger von neuem beginnen konnte.
Über diesen Zwischenfall wurde in der Folge viel gelacht, und noch heute
wird er in Hinterwinkel oft erzählt. Die so erschreckenden und vielfach ver¬
wirrenden und verbitternden Ereignisse jenes Jahres, die ersten Stürme und
Gewitterschauer des bald darauf anbrechenden politischen Frühlings der
deutschen Nation, sie find heute in Hinterwinkel so gut wie vergessen. Wenn
wem ihrer noch gedenkt, so geschieht es fast nur in Verbindung mit der Ge¬
schichte des Weichselbaums, die eiuer dem andern ins Gedächtnis zurückruft.
Auch das Andenken des Lienhard Neichenbühler ist tot wie er selber; niemand
weint mehr um ihn. Über den gebrochnen Weichselbaum aber lacht man noch,
Ulan wird vielleicht noch darüber lachen, wenn die Jahreszahl 1866 in den
Gehirnen von Hinterwinkel so wenig mehr vorhanden ist als eine andre der
Weltgeschichte.
Noch eine Aufregung erlebten die Hinterwinller in jenen Tagen. Unter
den ins Dorf einmarschierenden Truppen, einfacher, blau montirter Infanterie,
wurde ein Reiter vou so ausfallender und glänzender Erscheinung bemerkt,
daß er aller Augen auf sich zog. Er ritt auf spiegelblanken Rappen und
trug über seinem schneeweißen, rotbesetzten Waffenrock einen vergoldeten Brust¬
harnisch, der so leuchtete und strahlte, daß er die Augen blendete wie die
flammende Sonne; auf dem Haupt aber saß ihm ein blanker Stahlhelm mit
wallendem Federbusch. Alle die Offiziere, die vor den Truppen herritten,
sahen armselig aus gegen ihn, der seinen Platz willkürlich wechselte und seinen
Rappen dabei die kühnsten Kunststücke ausführen ließ.
Man hielt die blendende Erscheinung für den höchsten General, wen» nicht
gar für den König von Preußen oder sonst einen mit ihm verbündeten Poten¬
taten. Zum mindesten mußte es ein Prinz sein. Alles blickte darum nur auf
ihn, und die Jugend von Hinterwinkel sah sich an seinem Glanz fast die
Augen aus.
Beim Auseinandertreten des Regiments auf dem Nathausplatze war jeder¬
mann vor allem begierig, was der glänzende Reiter nun macheu würde. Daß
er in eine Hinterwinkter Wohnung treten könnte, wenn auch in die vornehmste,
die des Pfarrers, hielt niemand für denkbar. Ein so vergoldeter Prinz, der
wie ein Cherub funkelte und die Sonne auf seiner Brust trug, konnte unmög¬
lich bei gemeinen Sterblichen wohnen. Wahrscheinlich führte das Regiment
für ihn ein goldnes Pruukzelt mit. So dachte wenigstens ich und zitterte
vor Begierde, wo man es aufschlagen würde. Einstweilen suchte ich es mir
im Geiste auszumalen, was mir auch wohl gelang; denn ich hatte einmal eine
Beschreibung davon gelesen, nicht von diesem, aber von dem noch reichern der
wundersamen Prinzessin Mirzabelle, der Tochter des berühmten Mohrenkönigs
in der Geschichte des Kaisers Octavianus und des frommen Königs Dagobert
von Frankenland.
Ich folgte dem goldnen Ritter auf dem Fuße. Er aber ritt, ohne jemand
zu fragen, mitten durch Hinterwinkel, hinunter ins kleine Dörsle. Vor dem
Haus der Hanne Strohmelker machte er Halt, sprang ab, band seinen Rappen
an den Fensterladen und trat ohne Umstände in die alte wacklige Lehmhütte.
Die Thür schloß er hinter sich zu.
Keiner wußte, was er davon denken sollte; aber es dauerte uicht lange,
da hörten wir drinnen die bekannten übertriebnen Ausrufe der Hanne: O du
kreuzsterbender Heiland! und andre, die jedoch diesmal schnell aufhörten und
lautem Freudengeheul Platz machten. Der goldige Reiter war niemand anders
als der Cyprian, der Sohn der Hanne Strohmclker!
Da wollte des Verwunderns kein Ende werden. Doch ließ sich der
Cyprian mit andern Leuten nicht ein; er ritt noch am Abend wieder davon,
ohne in Hinterwinkel über seinen Stand und Rang klare Begriffe zurückzulassen-
Darüber ärgerten sich die Hinterwinkter nicht wenig; doch allzusehr konnten
sie dem ehemaligen Buben aus dem kleinen Dörfle sein Betragen nicht ver¬
übeln, er war ja so vornehm geworden. Und nimmer hatten die guten Leute
geglaubt, daß einer aus ihrem Dorf bei den knauserigen Preußen zu solchem
Glanz gelangen könnte. Wer das fertig brachte, mußte ein wahrer Mords¬
kerl sein.
Niemand wurde durch die Erscheinung des Cyprian so im Innersten ge¬
troffen wie ich. Also das kann einer werden, dachte ich, wenn er nicht in
Hinterwinkel sitzen bleibt, und meine ganze, halb männliche halb kindische
Sehnsucht nach der Fremde, nach der weiten Welt, nach, ich wußte selbst nicht
was, vor allem nach etwas anderen als der elenden Flickerei und der Gesell¬
schaft von Geisen und Gänsen erwachte von neuem in mir und mit erhöhter
Gewalt. Warum sollte ich auch immerfort nur alte Hosen flicken, ich, der
die Vossische Odyssee auswendig wußte, der inöuW dekliniren und Schillers
Glocke deklamiren konnte, der fünf Instrumente zu spielen verstand: die Flöte,
die Klarinette, die Violine, das Klavier und die Orgel, der Talent zu einem
Schlachtenbummler und zu einem Kriegsberichterstatter an den Tag gelegt
hatte? Das alles bestritt mir auch niemand, und doch sollte ich immer der
Geisbub und Schneiderjung von Hinterwinkel bleibet?? Wenn ich doch nur
wenigstens wie mein Bater einmal hätte die Welt sehen können!
Diesen stillen Mann sah ich in diesen Tagen neu aufleben. Er wußte
den Soldaten von Hamburg zu erzählen, und sie bewunderten laut, wie weit
er gereist war, und seine Bekanntschaft mit ihrer geliebten Vaterstadt; sie
schwatzten mit einander vom Alsterdainm und vom Jungfernstieg, vom Hafen
und von der Sankt-Pauli-Vorstadt mit ihren bunten Schauzelten. Sie be¬
handelten sich gegenseitig fast wie halbe Landsleute. Und die Hinterwinkler,
die das mit ansahen und meinen Vater mit den Soldaten in ihrem heimischen
»Platt" sich unterhalten hörten, wovon sie keine Silbe verstanden, bekamen
auf einmal einen ungeheuern Respekt vor dem Schueiderjakob.
Da that sich unvermutet auch für mich eine Hoffnung auf.
Der Regimentskapellmeister, Herr Franke mit Namen, war unser Nachbar
geworden; und mehr als das: er war bei Nepomuk Rothermund einquartiert.
Diese Gelegenheit machte ich mir zu nutze. Wie ehemals, als ich mit der
Olga musizierte, lag ich wieder tagelang drüben bei meinem alten Meister,
und auf jedes Wort, das zwischen ihm, dem ehemaligen Ludwigsburger Ho-
boisteu, und dem fremden vornehmen Mann mit den goldnen Treffen und
Achfelborten gesprochen wurde, lauschte ich wie auf ein Evangelium. Keine
Silbe davon wollte ich mir entgehn lassen, und man konnte mich nicht un¬
glücklicher machen, als wenn man mich wahrend eines solchen Gesprächs nach
Hanse rief; ich war dann wie außer mir und zu nichts zu gebrauchen.
So konnte es nicht fehlen, daß ich dem Kapellmeister auffiel, was wiederum
Nepomuk veranlaßte, ihm einen Teil meiner Geschichte zu erzählen, besonders
die von meinen musikalischen Studien und den Plänen des verstorbnen Steuer-
perüquators Heinzelmann, mich ausbilden zu lassen, die durch dessen Tod
und meine Mittellosigkeit vereitelt worden waren.
Herr Franke betrachtete mich mit großer Teilnahme, indem er den langen
gelben Schnurbart durch die Finger zog, und stellte allerlei Fragen an mich,
deren Beantwortung ihn überzeugen mußte, daß ich nichts lieber auf der Welt
treiben möchte als Musik. Über manches Wort von mir lächelte er, ohne
daß ich begriff warum, weswegen ich allemal tief errötete. Er wollte dann
wissen, was ich konnte, und prüfte mich. Er legte mir Noten vor, ich sollte
sie auf der Klarinette spielen. Auch auf der Flöte mußte ich ihm eine
Probe geben. Für mein Violin- und Klavierspiel interessirte er sich nicht.
Als ich zuerst die Klarinette in die Hand nahm, zitterte ich so stark, daß
ich alle Kraft aufwenden mußte, sie fest am Munde zu halten. Ich wußte
vor Aufregung nicht, ob ich gut oder schlecht spielte, und der Kapellmeister
richtete nur stumme, prüfende Blicke auf mich. Er redete mich auch mit Sie
an, was mir im Leben nie geschehen war.
Ungeheuer erschrak ich, als Herr Franke plötzlich erklärte, es hinge nur
vou mir ab, ob ich eines Tages Kapellmeister werden wollte, so wie er. In
meinem Alter habe er noch kein Instrument spielen können, und mit siebzehn
Jahren sei er auch noch Schneider gewesen, so wie ich jetzt. Er wolle mir
gern behilflich sein, ja er wolle mich gleich mit nach Hamburg nehmen; ich
sollte schon von Anfang an freie Montur, freie Station in der Kaserne und
die Löhnung des gemeinen Soldaten erhalten.
Mir wurde schwindlig, als ich solche Dinge hörte. Bangigkeit, die Angst
vor dem Unbekannten, und ein unbeschreiblicher innerer Jnbel mischten sich in
meiner Empfindung. Wie in einem Rausche eilte ich uach Hause.
Dort wurde ich schnell ernüchtert. Die Eltern machten bedenkliche Ge¬
sichter. Der Vater schwieg eine Zeit lang; oann erklärte er, für ein solches
Kasernenleben sei ich noch zu jung, ich liefe dabei zu große Gefahr. Bei
meiner schwächlichen Konstitution würde ich leicht den Anstrengungen erliegen
und mir eine Auszehrung an den Hals blasen. Auch sollte ich uur ein klein
wenig bedenken, ob ich mir denn wirklich getraute, in einer so großen fremden
Stadt zu leben, und noch dazu in einer Kaserne, ohne Möglichkeit zurückzu¬
kehren; ob ich nicht selber fürchtete, daß ich sterbenskrank werden würde vor
Heimweh und Verlassenheit.
Wenn aber mein Vater schon so sprach, so mag man sich erst die Mutter
vorstellen. Ihr fiel zu guter letzt noch ein, daß ich in Hamburg ja uuter
lauter Evangelische käme, wo ich sicher meine Religion verlieren würde. Ich
könnte da nie in eine katholische Kirche gehen, denn dort gebe es wohl gar
keine. Und dazu weinte sie.
Daß der Vater selber nahe an drittehalb Jahre in der gottlosen Stadt
gelebt hatte und trotzdem ein guter katholischer Christ geblieben war, wurde
dabei nicht in Erwägung gezogen. Ich selber dachte nicht daran, diesen
Beweisgrund anzuführen, ich war schnell eingeschüchtert, besonders durch
die Thränen der Mutter, die eine Gewalt über mich hatten wie nichts auf
der Welt.
So zogen die Hamburger ab, ich sah ihnen betrübt nach, und von neuem
begann nun eine gemeine, nüchterne Werkeltagszeit. Ich fühlte ihre Ödigkeit
schon voraus und fing gar bald an, mir heimlich die bittersten Vorwürfe zu
machen, daß ich die dargebotne Hilfe nicht keck ergriffen hatte. Nun, da ich
die Möglichkeit dazu für immer abgeschnitten sah, schmerzte es mich von Tag
zu Tage mehr, daß ich mir durch Feigheit und Unentschlossenheit die einzige
Gelegenheit hatte entgehn lassen, wie ich fest glaubte, mein Glück zu machen,
und zur Verwirklichung meiner Träume einen ersten vielversprechenden Schritt
zu thun. Ich wurde zornig gegen mich selber.
Auch meinem Vater grollte ich im geheimen. Er selber war mit fünf¬
zehn Jahren in die Fremde gezogen, frei, ohne Bevormundung, und hatte
seinen Weg selbst bestimmt, und gegen mich zeigte er sich so engherzig und
behandelte mich wie ein Kind!
Wenn ich gar an den Cyprien dachte, wurde ich wütend. Und ich mußte
immer an ihn denken, an ihn, der viel weniger als ich, der nnr ein Bettelbnb
dens dem kleinen Dörfle gewesen war und nichts gelernt hatte, der die Odyssee
uicht auswendig wußte, keine Ahnung hatte, was uuzusg, sei, der weder die
Glocke von Schiller deklamiren noch fünf Instrumente spielen konnte, und der
nun in goldnen Lichtern funkelte wie der Erzengel Gabriel. Es war zum
Tvllwerden.
Und ich hielt es zuletzt auch uicht mehr aus, ich faßte einen kühnen
Plan. Noch immer konnte ich ja die rettende Hand aus Hamburg ergreifen.
^>es setzte mich also hin, droben in einer Bodenkammer, im geheimsten Winkel
des Hauses, und schrieb einen Brief an den Kapellmeister Franke nach Ham¬
burg. Ich Hütte mir sein Anerbieten überlegt und sei bereit, ihm zu folgen;
er möge mir nur raten, wie ich mein Vorhaben ins Werk setzen könne. Acht
Tage arbeitete ich an diesem schriftlichen Aufsatz.
Als ich aber im Begriff stand, meine Epistel auf die Post zu geben,
Zögerte ich von neuem. Ich konnte einerseits nicht recht an einen Erfolg
glauben, andrerseits fürchtete ich mich vor dem Erfolg. Ich fühlte, daß ich
dann nicht mehr zurückweichen dürfte. Aber würde ich anch wirklich den Mut
finden, Vater und Mutter zu verlassen, um Frau Musika anzuhangen? Ich
wollte noch einmal warten bis zum andern Tage.
^ Dieser andre Tag war ein Sonntag, und er brachte für Hinterwinkel ein
Ereignis, das nicht nur das ganze Dorf in Aufruhr versetzte, sondern auch
mich die Absendung meines Briefes vergessen ließ. In der Kirche, unmittelbar
vor dem Gottesdienst, geschah das Seltsame. Ich sah oben von der Orgel
herab den Vorgängen zu.
Zuerst begriff ich gar nicht, um was es sich handelte. Doch so viel be¬
merkte ich bald, daß die schöne Cölestine aus dem kleinen Dürfte die Heldin
des sich abspielenden Auftritts sein mußte, dieselbe Cölestine Vächle, der ich
vor ungefähr einem halben Jahr auf dem Acker des Fülleutoni die Stroh¬
bänder gelegt hatte.
Ich war ihr erst vor einigen Tagen im Sindelwald begegnet, wo sie sür
ihre lahme Mutter, die alte Hechelkasperin, Lesholz zusammentrug, was auch
mein Geschäft bildete, und wobei sie sich mir gegeuüber so seltsam benahm,
daß ich nicht klug aus ihr wurde.
Sie fragte mich zuerst, ob es denn wahr sei, daß ich mit den Hamburgern
hätte ziehen wollen, um Musiker zu werdeu. — Ich wunderte mich, daß sie
davon wußte. — Ich sähe so traurig aus seit jener Einquartierung, meinte
sie; allerdings sei ich schon vorher nicht sehr lustig gewesen. Ob ich mich denn
noch an das Garbenbinden bei Füllentonis erinnerte?
Du freilich warst damals lebhafter als ich, sagte ich errötend, denn die
Püffe des Füllentoni fielen mir ein. An etwas andres dachte ich nicht.
Cölestine schwieg; aber ein schwerer Seufzer entrang sich ihrer Brust.
Nach einer längern Pause sagte sie wehmütig: Ich ärgerte mich damals recht
über den Bauern, dich so vor dem Vesperbrot wegzujagen. Du hättest beim
Milchessen neben mir sitzen müssen. Da wär ich mit den Brocken nicht zu
kurz gekommen. Und sie lachte. Aber dn auch nicht; die schönsten hätt ich
dir hingeschoben. O, mir wars so froh zu Mut damals.
Du hattest an jenem Tage rötere Backen als heute, antwortete ich scherzend,
du bist blasser geworden seit dein Abzug der Preußen und auch stiller. Man
sieht dich nicht mehr lachen wie früher; fast sollte man meinen, du hältst auch
mit nach Hamburg ziehen wollen, um Musikantin zu werdeu, und es sei dir
verboten worden, wie mir.
Die Cölestine lachte darüber nicht, obwohl ich es erwartet hatte. Sie
that etwas ganz andres, sehr verwunderliches. Sie sank auf ihr Reisig¬
bündel nieder und begann laut zu weinen und zu schluchzen.
Umsonst fragte ich, was ihr fehle, und ob ich ihr helfen könne. Ich er¬
hielt keine Antwort. Und während ich in meiner Bestürzung und Ratlosig¬
keit neben ihr stand, erscholl durch den kahlen Buchenwald das Krächzen eines
Hähers, der an einem Kreuzweg auf einer Esche saß. Anders als damals im
Erntefeld klang heute sein Rufen.
Nach und nach erholte sich Cölestine von ihrem Weinen und erhob sich
wieder. Du bist gut, Alexander, sagte sie; wie kommt es denn, daß dich nie¬
mand mag? Doch, man mag dich, man muß dich gern haben, wenn dich die
Bauern auch verachte«. Hältst du mich für ein schlechtes Madchen? fügte sie
rasch hinzu.
Ich versicherte ihr das Gegenteil und berichtete ihr auch, daß mich an
jenem Erntetage die Püffe des Füllentoni nur ihretwegen geärgert hatten, und
daß es auch mir Freude gemacht hätte, beim Milchessen an ihrer Seite zu
sitzen. Wir hätten gewiß keinen Streit bekommen wegen des Eingebrockten.
Und ich bin dennoch ein schlechtes Mädchen, erwiderte sie in festem, ent-
schloßnem Ton, wiewohl sie von meinen Worten getröstet schien.
So rätselhaft und unbegreiflich mir damals im Walde das Betragen der
bleichgewordnen Cölestine erschien, so unfaßbar blieb mir hente in der Kirche
der Sinn von dem, was im Schiff drunten vor sich ging.
Die Colestine kniete an ihrem gewöhnlichen Platz; die übrigen Mädchen
dagegen, die sonst den Stuhl mit ihr teilten, hielten sich im Gange und wei¬
gerten sich einzutreten. Ein Geraume und Geplausche ging durch die Kirche
und wurde immer lauter und beunruhigender.
Dann sah ich, wie sich die Cölestine plötzlich erhob und mit wankenden
Schritten, aber trocknen Auges ihre Bank verließ, um auf dem letzten Bänk¬
lein des Schiffs, das Magdalenenbünklein genannt, neben der Hanne Stroh-
Melker und einer alten Bettelfrau niederzuknien, während ihr bisheriger Stuhl
nun von den andern Mädchen unter triumphirendem Gebühren in Besitz ge¬
nommen wurde.
Zu Hause fragte ich die Mutter, was denn mit der Cölestine sei. Ich
kann mich aber nicht mehr erinnern, was sie darauf anwortete. Sie erklärte
mir nichts und forderte doch auch kein weiteres Forschen heraus.
Ich hörte dann den Tag über genug Bemerkungen über die Angelegen¬
heit, darunter recht uuflütige; aber meine angeborne Zurückhaltung, in diesem
Falle gesteigert durch die Scham und Scheu, die aus der dunkeln Ahnung
eines Geheimnisses entspringt, und meine aufgeregten Gedanken über die eigne
nächste Zukunft ließen mich nur halb auf diese Reden hinhorchen und kaum
darüber nachdenken.
So kam es, daß ich es auch bei dieser so günstigen Gelegenheit versäumte,
den ersten Einblick in eine Wissenschaft zu thun, die meinen Altersgenossen von
Hinterwinkel schon geläufiger war als das Einmaleins.
Ein Satz besonders klang um jenem Tage als ewiger Refrain an mein
^hr: Und anch noch von einem Preußen! Es war für mich ein geheimnis¬
volleres Wort, ein dunkleres Rätsel als vier Monate vorher das:
Schleswig-Holstein meeruinschlnngen,
Schleswig-Holstein stammverwandt.
Aber etwas schlimmes, sehr schlimmes mußte der Cölestine von einem Preußen,
Melmehr von einem Hamburger geschehen sein. Das sah ich an der Wirkung
auf die andern und an ihrem eignen traurigen Aussehn. Ich konnte mich
deshalb nicht entschließen, meinen Hamburger Brief abzuschicken. Wie sollte
ich auch, wenn das Menschen waren, die andre Leute unglücklich machten?
Also blieb ich vor der Hand Geisbub und Schueiderjung in Hinterwinkel.
Vom ungarischen Globus. Vor uns liegt ein wunderliches Druckwerk,
so ingrimmig abgefaßt und von außen so karmoisinrot, daß man meinen könnte,
die darin aufgespeicherte Wut sei ihm in den Umschlag gefahren. Es trägt den
Stempel Hermannstadt (Siebenbürgen) 1892 und wendet sich in höchst erregter
Sprache in dreißig riesigen Quartseiten an Seine kaiserliche und königliche aposto¬
lische Majestät Franz Joseph I., um ihn anläßlich des ungarischen Krvnungs-
jubilönms in immer erneuten, leidenschaftlichen Anrufungen zu beschwören, sich nicht
ausschließlich zum König der Magharen machen zu lassen. Die heftige Streitschrift
hat gleichwohl viel überzeugendes; nicht immer ist der in Erregung geratene im
Unrecht. Sie beweist aktenmäßig, daß durch die Union die Autonomie Sieben¬
bürgens „auf eine ungerechte, dem Staatsrecht und den Rechten der freien Elemente,
die Siebenbürgen bilden, zuwiderlaufende Weise und mit Mißachtung seiner ethnischen,
geographischen Lage sowie seiner eigenartigen Entwicklung vernichtet worden ist."
Sie hält den Magharen entgegen, daß sie sich zu der von ihr vertretnen Be¬
völkerung wie 1 zu 8 verhalten; daß die Magharen auf Grund der den Edelleuten
und deu freien Szeklern verliehenen Wahlrechte „je auf 4000 bis 5000 Seelen einen
Deputirten entsenden," dagegen die von ihr vertretene Bevölkerung in den von ihr
bewohnten Komitaten erst auf 50 000 bis 00 000 Einwohner einen. Sie fragt, auf
Grund welcher Thatsache in der tausendjährigen Geschichte des Landes die Magyaren
dazu kommen, der Bevölkerung gegenüber „ein Staatsrechtsprinzip wie zwischen
dem Erobrer und dem Unterwvrfnen" durchzusetzen. Die Hauptsorge der Negierung
sei nicht die gute Verwaltung, sondern die Magharisirung des ganzen öffentlichen
Lebens. Die meiste Zeit des Schulbesuchs, „achtzehn Stunden wöchentlich," werde
auf die Erlernung einer „völlig fremdklingenden Sprache," der alle übrigen
Sprachen zu „Dialekten" herabdrückenden nmgharischen „Staatssprache," verwendet.
Sie beschwert sich über die „magyarischen Kultuvereine" (so!), die in Wahrheit
nichts andres seien als „eine Organisirung der magyarischen Gesellschaft für einen
ausgesprochen aggressiven Rassenkamps" n, f. w.
Ob die unterzeichneten Herren in der Wiener Hofburg großen Eindruck machen
werden, bezweifeln wir. Wir fürchten, das karmoisinrote Heft mit seinem heiligen
Zorne werde an irgend einer unheiligen Stelle verschwinden, ehe es sein Ziel, die
königliche und kaiserliche apostolische Majestät, erreicht. Kaum ein Lächeln für die
herausfordernde Tragikomik des Unternehmens werden die vielgeplagten Herren in
Wien dafür übrig haben, die so eifrig damit beschäftigt sind, Völkervorsehung zu
spielen. Was uns Deutsche nur dabei beruhigen — oder beunruhigen? — kann, ist
dies, daß es nicht, wie man wohl allgemein geglaubt haben wird, unsre deutschen
Sprach- und Stammesgenossen, die siebenbürger Sachsen sind, die sich der Abweisung
aussehen, sondern — die „Romanen" (so!) Siebenbürgens. Der Deutsche gehört
zwar, wie Einsichtige glauben, der einflußreichsten und unentbehrlichsten Knltnr-
nation um, er hat auch dort im Auslande seine Sitten, seinen reformirten Glanben,
seine köstliche niederdeutsche Sprache, seine ehrwürdige altdeutsche Stammesverfassung
mit dem „Graf" an der Spitze jahrhundertelang bewahrt. Aber er opfert alles
ruhig und ohne zu mucksen den verheißungsvoller Ansätzen zum „ungarischen
Globus," wie seine mehr oder minder nationalen Genossen in Pest, die Herren
Myller, Ferenz, Sezonlzkarol, scwarz, Szigmond und Konsorten. Er läßt den
Herrn Obergespan über sich walten, sich in Komitate zerschneiden, lernt „achtzehn
Stunden wöchentlich" pflichtgetreu eine „völlig fremdklingende Sprache," um darin
einmal vor der ungarischen Kommission das juristische (oder vielmehr juridische),
medizinische, theologische Staatsexamen machen zu können. Als Lehrer muß er
von Haus aus wissen, was z. B. sinus und oosinus auf magyarisch heiße u. s. w.
Will sich jemand regen, so mag es der „Romane" thun. Der Deutsche bewährt
uach altem Herkomme» seine nationale Kraft im Kampfe mit sich selbst, ans die da
draußen achtet er immer erst — Wenns zu spät ist! Nicht einmal den feinen, in
unsrer Schrift angedeuteten Zug hat er, „in passiver Abstinenz zu beharren gegenüber
dem Reichstag in Budapest," wie die Romanen, oder (im Hinblick auf die bal¬
tischen Provinzen sei es hinzugefügt) gegenüber dem Zar in Petersburg, wie die
Polen, oder —. Aber wir wollen nicht fortfahren in der Aufzählung unsrer
nationalen Verluste im Auslande. Wir fänden kein Ende!
Dieser Vortrag, in der feierlichen Sitzung der Akademie der Wissenschaften
zu Wien am 30. Mai d. I. gehalten, hebt zunächst mit Befriedigung die Wieder¬
annäherung zwischen Philosophie und Naturwissenschaft oder, genauer gesagt, zwischen
Psychologie und Physiologie des Gehirns hervor. Daß die Entfremdung zwischen
beiden Wissenszweigen, die so sehr darauf angewiesen sind, gemeinsam zu arbeiten,
im Schwinden begriffen ist. ist allerdings eine erfreuliche Thatsache, und die vor¬
liegende Arbeit ist schon dadurch doppelt erfreulich, daß der Verfasser nicht, wie
manche Naturforscher, glaubt, die Philosophie einfach meistern zu dürfen. Er sucht
wirkliche Verständigung und bemüht sich, von- Standpunkte seiner Wissenschaft aus
Entstehen und Wesen der Sittengesetze zu begründen. Unter stetem Hinweis auf
verwandte Erscheinungen im tierischen Leben findet er, daß der Mensch seine so¬
zialen Empfindungen und somit auch seine Ansichten über gut und böse teils
durch Naturanlage teils durch Vererbung besitzt, aber erst durch die Erziehung,
im weitesten Sinne dieses Wortes, wirklich erwirbt, ferner daß die Moral den
Zweck hat, das Individuum, die unmittelbare Nachkommenschaft und die Gemein-
schaft, in der es lebt, zu schützen. Hier nun wird einerseits betont, daß wir
Handlungen, die wir gegen Angehörige derselben Gemeinschaft (Stamm, Nation,
Staat u. s. w.) begangen, als unsittlich verurteilen, gegenüber Angehörigen einer
andern „Sozietät" billigen können; andrerseits, daß der moralische Instinkt der
Völker des klassischen Altertums von dem unsrigen wesentlich verschieden war. Der
Verfasser wählt zum Beweise dafür das Beispiel der Adipussage und zeigt, daß
die Griechen deu Untergang des Ödipus und seines ganzen Geschlechts als verdient
ansahen, weil er, obwohl unbewußt, Thaten begangen hatte, die der Sozietät, die
der Familie schaden müssen. Sie „verabscheuten die unsittliche Handlung als solche
und kümmerten sich nicht um die Vorgänge im Gehirn des handelnden Subjektes.
Die Sünden der Väter rächen sich an den Kindern, das ist eine Naturerscheinung
des sozialen Lebens, und dieser hat die antike Moral Rechnung getragen. Auch
in der Bibel wird die Strafe an Kindern und Kindeskindern mit der Allgüte
Gottes vereinbar gefunden; das Kindeskind muß sein Schicksal ertragen; maßgebend
für dasselbe ist seine Stellung in der Sozietät, in der Familie, nicht sein persön¬
liches Denken und Fühlen." Diesem ungetrübten moralischen Instinkt der alten
Völker giebt Exner unverkennbar, im Interesse der Erhaltung der Art, deu Vor¬
zug vor dem Grundsatze der modernen Kultur, der „das Individuum gegen die
Härte der die Sozietät beherrschenden Naturgesetze in Schutz nahm, den Persön¬
lichen Gedanken und Gefühlen Gewicht verlieh und das handelnde Subjekt aus
seiner verschwindenden Kleinheit in der Gesamtheit der Sozietät zu einer selb¬
ständigen Stellung emporhob." Daß eine solche Auffassung heutzutage vielfachen
Widerspruch hervorrufen wird, ist nicht zu bezweifeln; und in seiner Allgemeinheit
wird sich der Satz auch anfechten lassen. Doch ist es dem Verfasser, wenn er
das auch nicht ausdrücklich ausspricht, wesentlich um die Rechtfertigung dessen zu
thun, was wir sonst gesunden nationalen Egoismus nennen. Dafür zeugt schon
seine Beziehung auf den Engländer Greg, der den sozialen Kampf zwischen dem
„sorglosen, schmutzigen, nicht höher hinaus wollenden," sich stark vermehrenden
Jrländer und dem „frugalen, vorsichtigen, sich selbst achtenden, ehrgeizigen, in
seiner Moralität strengen, in seinem Glanben durchgeistigten und in seinem Wissen
disziplinirten" Schotten veranschaulicht. Und unter all den Anwendungen, die der
allgemeine Satz finden kann, ist gewiß diese von der höchsten Wichtigkeit; von
höchster Wichtigkeit auch, daß gerade ein Naturforscher, und zwar ein deutscher
Naturforscher, die Aufmerksamkeit auf diesen Punkt lenkt. Denn kein zweites Volk
leidet so sehr an der in das internationale politische Leben übertragnen und eigen¬
sinnig sestgehaltnen schwächlichen Humanität. Die Lehren des philosophischen Jahr¬
hunderts, die von andern Nationen immer nur, soweit es ihnen paßt, befolgt werden,
haben bei uns namenlose Verwirrung angerichtet. Man erinnere sich nur, wie
sich der deutsche Liberalismus verpflichtet glaubte, die deutsche» Soldaten, die bei
Leipzig den erzwnugnen Dienst im Heere Napoleons verließen, wegen ihres Bruches
des Fahneneides nach Jahrzehnten noch zu schmähen. An die zahllosen Beispiele
ans neuester Zeit brauchen wir kaum zu erinnern. Fielen aber Polen, Ungarn,
Italiener von ihrem Landesherrn ab, so war das eher zu rühmen als zu tadeln!
Haben doch heute noch Demokraten und Sozialdemokraten, darunter solche, die die
Ehre genießen, in der Vertretung des deutschen Volkes zu sitzen, die Stirn, mit
den revanchelustigen Franzosen zu liebäugeln. Phantastereien, die ein Jahrhundert
lang noble Pnssivu der Gebildeten waren, sind nun in den Köpfen der Masse
verbreitet, und man darf sich nicht Wundern, daß sich der Handwerksgeselle aus
seine Aufklärung etwas zu gute thut, wen» er das Nationalgefühl als alten Plunder
behandelt. Vielleicht dient die Schrift eines Physiologen dazu, manchem eine wirk¬
liche Aufklärung zu verschaffen, für die er nicht zugänglich sein würde, wenn sie
von andrer Seite käme.
Ein aus warmer Begeisterung und tiefer, klarer Ueberzeugung heraus frisch
und packend geschriebnes Büchlein! Der Versasser weist die Unvernunft der
Friedensschwärmerei auf naturphilosophischen Wege nach, indem er Krieg und
Frieden als polare Gegensätze charakterisirt, von denen jeder den andern nach einge-
tretner Differenzirung immer stärker hervortreibt, sodaß keiner ohne den andern
gedacht werden kann, und der vollkommene Friede im Innern des modernen Gro߬
staats die höchste Vollendung der kriegerischen Abwehr gegen den äußern Feind zur
Voraussetzung hat, während bei unvollkommener Differenzirung, wie im Mittel¬
alter, Krieg und Friede beständig ineinander fließen. Sehr richtig bezeichnet der
Verfasser als den Hauptgegenstand des Krieges den Besitz der Nahrungsmittel
und als seinen Hauptzweck die fortwährende Vernichtung der untüchtigeren Völker
durch die tüchtigeren, die Vernichtung der Lüge, indem der Fortbestand daseins¬
unwürdiger Personen und Zustände eine thatsächliche Lüge ist. Mit scharfem Spott
fertigt er die Träume der Chemiker von der zukünftigen Herstellung der Nahrungs¬
mittel auf künstlichem Wege als das „Paninkeltnm" (von xs^is) ab, dem wohl
bald das „Homnnkeltum" folgen werde, und unchdrücklich hebt er hervor, daß das
von der Industrie, der großen Friedensmacht, erzeugte Huugereleud weit schlimmer
sei als das Kriegselend, wie ja auch der Hungertod qualvoller ist als der Tod
"uf dem Schlachtfelde. In folgendem Satze begrüßen wir einen unsrer eignen
Grundgedanken: „Der Krieg ist es, der die Völker zwingt, den untern Schichten
ein menschenwürdiges Dasein zu bereiten, denn die untern, breiten Schichten stellen
mis Hauptmasse auch die Hnuptzcchl der Kämpfer, und Volker, die dem nicht Rech¬
nung tragen, kommen im Kriege zu Schaden." So ist es. Im modernen In¬
dustriestaat besitzt die Humanität fast nur noch einen Vertreter, der wirklich etwas
bermag, deu Kriegsminister, und die Hanptgegner, die er zu überwinde» hat, sitzen
in jenen Bourgeoiskreisen, deren Organe zu allen Zeiten, wo nicht gerade Polizei
und Strafrichter gegen unbotmäßige Arbeiter aufzurufen sind, von Humanität
triefen.
Um nun die unvermeidliche Last des Kriegsdienstes dem Volke möglichst zu
erleichtern, sie möglichst gleichmäßig und gerecht auf die Schultern aller zu ver¬
teilen und die Schädigungen des Wirtschaftslebens, die sie zur Folge hat, auf das
geringste Maß zurückzuführen, schlägt der Verfasser einen Reformplan vor, auf
dessen Prüfung wir uns wegen mangelnder Fachkenntnis nicht einlassen können,
der aber der Erwägung der militärischen Kreise dringend zu empfehlen ist. Als
Hauptgrundsatz tritt daraus hervor, daß die Länge der Dienstzeit ganz allein von
der Rücksicht auf den Zweck des Dienstes abhängen soll, daß daher, wer in einem
Jahre durchgebildet ist, ohne Rücksicht auf Person und Stand auch wirklich uur
ein Jahr dienen dürfe, während der Unfähigere, wiederum ohne Rücksicht auf
Stand und Person — die „Berechtigung" zum einjährigen Dienst wäre abzu¬
schaffen —, je nach seinen Leistungen zwei oder drei Jahre dienen müsse. Zur
Kürzung der Dienstzeit werde es beitragen, wenn sich die Jünglinge die mili¬
tärischen Eigenschaften und Fertigkeiten möglichst schon vorher aneigneten. „Diese
Aneignung wird in das Belieben eines jeden gestellt. Die Einrichtungen dafür
trifft der Staat, die Kosten dafür tragen bis auf weiteres die Benutzer." Gemäß
dem Zweck der Erziehung, die Bürger für Krieg und Frieden tüchtig zu machen,
soll das Unterrichtswesen umgestaltet, der klassische Zopf endlich einmal abge¬
schnitten werden. Eine einheitliche Weltanschauung als Grundlage der Bildung
aller Staatsbürger habe ehedem die christliche Kirche dargeboten. Durch ihre
Spaltung jedoch, die täglich zu immer weiterer Zerklüftung führe, habe sie sich
unfähig gemacht, das Volk zu einigen. Dem Staate bleibe unter diesen Umständen
als einigendes Gedankenband nur „der Kausalitätsgedanke und die auf diesem be¬
ruhende neue Wissenschaft." Auf eine Auseinandersetzung mit dem Verfasser über
diesen Puukt köunen wir nicht eingehen, weil sie zu weit führen würde. Auch auf
das boden- und uferlose Meer des Schulstreits lassen wir uns diesmal nicht ver¬
locken. Den Kulturwert des griechisch-römischen Altertums erkennt der Verfasser
übrigens an, wie wir unserseits die Verheerungen nicht bestreiten, die die Philologie
unter dem unberechtigten Namen der klassischen Bildung anrichtet. Aber der Ver¬
fasser übertreibt. Richtig ist, daß man in gewissen Kreisen immer dümmer wird.
Alls die Weltgeschichte von hinten folgen Examenfragen über das Jnvnlidengesetz,
nach den Namen der Söhne unsers Kaisers, und welcher davon die schönsten
Augen habe, und nach militärtechnischen Dingen aus der Kriegsgeschichte in einer
— Lehrerinnenprüfung. Aber griechisch-römische Reinkulturen dürften es nicht,
sein, aus denen der Dummheitsbnzillus hervorkriecht. Gegen Charakterlosigkeit
schützt keine Naturwissenschaft und kein Studium der Kausalität.
Des Verfassers Sprache ist nicht weniger schneidig als seine Weltansicht.
Manche Wendungen sind reizend in ihrer drastischen Kürze, z. B. wenn er sagt:
„wobei jedoch der Wirtschaftswert der eigentlichen Jugendzeit fast (Gänsejunge)
oder gänzlich (Gymnasiast) Null ist." Von seinen schneidigen neuen Wortbildungen
dürfte namentlich die „Jnbenutzungnnhme" in einer gewissen „diesbezüglich" ma߬
gebenden Stelle das Bedenken erregen, ob eine nach des Verfassers Grundsätzen
eingerichtete Schule die deutsche Jugend in jeder Hinsicht zum Heile führen werde.
Sachtüchtigkeit und Formvollendung „differenziren" sich eben auch gern ein bischen
von einander. Solche kleine Mängel halten uns natürlich nicht ab, der Schrift
die weiteste Verbreitung und nachhaltige Beachtung zu wünschen.
meer allen Borwürfen, die dem Reichskanzler gemacht werden,
billigen wir am wenigsten den, daß er nicht in der Volksseele
zu lesen verstehe, was diese wolle, ohne es selber deutlich zu
erkennen; dadurch gehe ihm die Fühlung nach der Tiefe ab, die
Bismarck die Macht über die Nation zu williger, weil dankbarer
Gefolgschaft verliehen habe. Wir meinen, daß Graf Caprivi nur zu sehr in
der Volksseele zu lesen suche, und finden gerade das bezeichnend für ihn und
sein politisches Handeln, daß er in allen wichtigen Fällen bekannte Neigungen
unsers Volks mit Klugheit in die Berechnung des Ausgangs gezogen hat.
Gerade darin liegt der Grund jeuer äußerlichen Erfolge, die der Form nach
nichts zu wünschen übrig ließen und doch nicht die Zufriedenheit zu schaffen
vermochten, die nur die Tochter der siegreichen Entscheidung ist. Sowie das
deutsch-englische Abkommen die zaghaften Philister zufriedenstellte, die in der
Kolonialpolitik eine unbesonnene Aufwallung befürchteten, und — abgesehn
von der stümperhaften Ziehung der Grenzen — sogar die Fach Politiker, die
die Vermehrung und Verwirrung der ohnehin die deutsche Diplomatie schwer
betastenden europäische» Aufgaben ohne greifbares Entgelt scheuten, so hat
die Ablehnung der Berliner Weltausstellung den Beifall der Mehrheit der
Geschäftsleute, denen die Opfer einer großen Ausstellung nicht im Verhältnis
zum klingenden Erfolg zu stehen schienen, und entspricht in weitern Kreisen
der höchst ehrbaren Abneigung gegen lärmende Kundgebungen des Marktes,
von denen der schwunglose Verstandesmensch weder politischen Erfolg, noch
eine Mehrung des nationalen Ansehens, noch endlich Belehrung oder Anregung
erwartet. Dazu paßt auch die mit den trockensten, man möchte sagen geizigsten
marinetechnischen Gründen belegte Weigerung, an der spanischen Columbus-
feier ein deutsches Kriegsschiff teilnehmen zu lassen. Aus rein sachlichen
Gründen hat in all diesen Fällen die Zurückhaltung ihre Berechtigung. Wer die
Berliner Weltausstellung so wie Jannasch oder Neuleaux als den Schlußstein
des Neichsbaues und ihre Ablehnung als ein nationales Unglück betrachten
und um die Frage: Weltausstellung oder nicht? einen großen politischen Feld¬
zug führen wollte, würde derselben Enttäuschung ausgesetzt sein, wie jene
Kolonialpolitiker, deren Entrüstungsschreie nach dem Abkommen über Ostafrika
ohne alle Erwiderung verhallten. Auch eine bis zur Dürftigkeit mäßige, bis
nahe an die Zaghaftigkeit vorsichtige Politik wird in Deutschland immer nur
von Minderheiten verurteilt werden. Wir machen keinem Staatsmann den
Mangel an Schwung zum Vorwurf, so gern wir an die heroischen Zeiten
zurückdenken, wo uns Bismarck uicht uur den Verstand überzeugte, sondern
Herz und Seele in Begeisterung fortriß. Wir wissen zu gut, mit wie harten
Notwendigkeiten die Leitung Deutschlands zu kämpfen hat, und die Mehrzahl
von uns hat die Zeit der schweren Not der Zerrissenheit und der Einheits-
tümpfe mit durchgemacht, die genügsam machte. Wir sind dem politischen
Luxus abgeneigt. Die Staatsmänner unsrer Wahl gleichen noch heute mehr
einem sächsischem Heinrich als einem hohenstaufischen Friedrich. Unsre Ver¬
ehrung und Liebe freilich gehört immer einem alten Fritz und Bismarck, deren
Größe beide vereinigt.
Und doch muß die Frage aufgeworfen werden, ob unsre Lage wirklich so
sei, daß wir uns mit Vorteil auf das kühl erwogne Notwendige zurückziehen.
Die Weltausstellung legt die allgemeinere Frage nach dem Werte der Reprä¬
sentation im Völkerleben nahe. Ist sie nicht eine Notwendigkeit unter Staaten
wie unter Einzelnen? Ein großer Teil der Geschäfte der Diplomatie geht ja
in ihr auf. Mit dem wachsenden internationalen Verkehr ist die internationale
Neprüsentationspflicht gegeben, die ein Ausbreiten und Darbieten von Höflich¬
keiten in den vom Herkommen geadelten Formen ist. Im Völkerverkehr ist
die Repräsentation Trägerin derselben Aufgaben, wie im Verkehr der Ein¬
zelnen: sie macht das Zusammenleben erträglicher, indem sie durch schöne
Formen die kleinen Reibungen verhütet oder doch vergessen macht; sie kann
aber auch darüber hinaus sachlicher und gründlicher wirken, indem sie durch Er¬
leichterung des internationalen Umgangs Vorurteile und andre Ecken oder
Beulen ausgleicht. Höflichkeit und Repräsentation sind unzertrennlich ver¬
bunden mit dem Begriff der Gegenseitigkeit; mit Geben und Nehmen ist ebenso
innig das Sichnühertreten beider Teile verknüpft. In den Formen des sozialen
und des Völkerlebens spielt die Anpassung an bestehende Satzungen eine mäch¬
tige Rolle; auch der Originellste ist nicht ganz von der Nachahmung dessen
befreit, was die andern ihm vormachen. Im kleinen wie im großen giebt
es eine volle Unabhängigkeit von den Regeln der Gesellschaft nur für den
Einsiedler. Der Staat ist als isolirtes Wesen durchaus uicht denkbar, und
heute weniger als je.
Mnu giebt sich nicht oft genug Rechenschaft von der Bedeutung, die die
geschickt und mit Liebe geübte Repräsentation gewinnen kann. An und für
sich erscheint sie uns ja ohne Wert, sie ist eine Form, die ohne Inhalt ein
Nichts ist, und der wir um so weniger Gewicht beilegen möchten, als sie um
so näher an die Reklame grenzt, je höhere Schätzung sie für sich verlangt.
Mit Recht betrachten wir die soziale Stellung als hohl, die vorwiegend auf
der Erfüllung äußerer Formen beruht. Die Erfahrung jedes Tages lehrt uns
aber doch, daß auf diesem Weg auch ehrliche Erfolge errungen werden, und
daß die Geringschätzung der Formen, weil es Formen sind, die Thorheit eines
Weltnnkuudigen wäre. Wir Deutschen haben uns zu hüten, daß hier wir nicht
in ein Extrem verfallen. Für Frankreich sind Repräsentation und Reklame ebenso
wichtige Werkzeuge der Wirkung nach außen wie Diplomatie oder Flotte. Ein
großer Teil des französischen Einflusses in der Welt beruht auf Illusionen, die
zu erhalten man sich jenseits der Vogesen die größte Mühe giebt. Wörtlich und
bildlich sind französische Mode und Küche, französische Zeitungen und Theater,
französische Litteratur und Kunst, Pariser Waren und Schweinereien Hilfs¬
truppen dieses Einflusses. Würde die innere Nichtigkeit einer oder der andern
dieser „Snuleu" der französischen Ruhineshalle nachgewiesen, so wäre das einer
Verlornen Schlacht gleichzusetzen. Dazu darf man es also nicht kommen lassen.
Besonders darf Paris, der Brennspiegel alles französischens Könnens, sich
nicht in den Schatten stellen lassen. Das ist ein gerade so triftiger Grund¬
satz der französischen Politik, wie daß Frankreich nicht vom Papst lassen dürfe,
und wäre es voltairisch bis ins Blut. Unter diesem Gesichtspunkt gewinnen
die Weltausstellungen, und was damit zusammenhängt, für Frankreich eine Be¬
deutung, die uns unbegreiflich bleibt, solange wir uns nicht in die französische
Auffassung hineindenken. Wir müssen diese eben verstehen, wenn wir den Wert
einer solchen Veranstaltung überhaupt schätzen lernen wollen.
Repräsentation bis zur Reklame ist aber durchaus nicht bloß französische
Eigentümlichkeit. Auch die Angelsachsen dies- und jenseits des Ozeans ver¬
stehen sich sehr gut daraus. Nur nimmt sie bei ihnen eine weniger aufdring¬
liche Form an. Einem Engländer wird es natürlich nie einfallen, mit den
schlugen zu kokettiren, die er empfangen hat, so wie die Franzosen seit jenem
herrlichen Jahre der Vergeltung 1870, aus dessen kriegerischen Niederlagen sie
Kapital schlagen, indem sie vorgeben, sich dafür längst litterarisch oder künstle¬
risch gerächt zu haben. Der Engländer sucht den Eindruck in der ruhigen
Hochschätzung und — Überschätzung des Eignen und verfehlt ihn nicht. Das
reicht von der Litteratur bis zu den Haarnadeln, und er läßt sich durch nichts
besseres irre machen. Wir impressionabeln Deutschen erholen uns von der
Bewunderung der französischen Überlegenheit, um — in die der englischen
ZU verfallen! Der ruhige Deutsche, den der Vergleich des Eignen und Fremden
gegen die Lust blöden Staunens gewappnet hat, findet mit Mühe seinen Weg
zwischen Französelei und Engländerei. Nicht einmal in der Wissenschaft ver¬
traut er seinem bessern Wissen und Können, sondern bewundert mit allen
Hohlköpfen der angelsächsischen Welt Scheingrößen wie Huxley oder Lubbock.
Mit Zornesröte lasen wir neulich in einer populär-wissenschaftlichen Zeitschrift
von dem „großen Naturforscher Huxley," der doch nur ein Phrasenmacher
ohne eigne Gedanken ist. Es wäre viel über die Schwierigkeit zu sagen, mit
der sich Deutschland zwischen diesen beiden Systemen von Repräsentation und
Reklame seine Stelle in der Welt zu erobern hat, Deutschland, dessen Ruhmes¬
titel den andern unbequem, weil übermächtig, oder unverständlich sind, und
das noch lange nicht frei von den Fehlern seiner Vergangenheit, besonders dem
Mangel an Selbstbewußtsein und Selbstvertrauen, der Kleinlichkeit und klein¬
lichen Selbstherrlichkeit ist.
Wir meinen, daß sür uns die Frage der Weltausstellung in allererster
Linie aus diesem Zustande heraus zu beurteilen gewesen wäre, und daß
auch alle, die abgeneigt sind, Nepräsentationsfragen blutig ernst zu nehmen,
hier einmal eine Ausnahme hätten machen und fragen sollen, ob der Vorzug
der Repräsentation nur immer den andern allein zufallen solle? Die Antwort
hätte uur lauten können, daß wir begründete Abneigungen zurückdrängen und
die Folgerung unsrer Stellung in der Völkergesellschaft mit kühnem Entschluß
ziehen sollten. Die Weltausstellungen mögen immerhin Märkte voll bunten
Trödels geworden sein, sie haben nun einmal ihre Stelle im internationalen
Verkehr eingenommen, sind im bösen wie im guten ein so treuer Ausdruck
unsrer wirtschaftlich fortschreitenden Zeit mit ihrer gedrängten Konkurrenz,
ihrer Beweglichkeit und Agglomerativnslust geworden, daß wir den Versuch
früher oder später doch unternehmen werden, aus der Sache das zu machen, was
wir können, und was natürlich in manchen Beziehungen etwas andres und,
wir glauben und hoffen es, besseres werden wird und muß, als in England,
Frankreich, Belgien oder Nordamerika. Wir werden dabei unter allen Um¬
stünden in der Richtung lernen, in der unsre Vergangenheit uns zu wenig
Schulung bieten konnte: in der nationalen Repräsentation. Ausdrücklich be¬
tonen wir aber, daß es gerade aus diesem Punkte unmöglich erscheint, die
Frage der Weltausstellung zu einer großen politischen zu erheben. Es handelt
sich bei einer solchen Veranstaltung nicht um das Wesen, sondern um die
Formen des wirtschaftlichen, des geistigen, des persönlichen Verkehrs der Kultur¬
völker und sür uns bei ihrer Besprechung nur um den Versuch, zur richtigen
Schätzung dieser Formen zu gelangen.
In Deutschland haben bisher die großen internationalen Ausstellungen
gefehlt, während kleinere, wie z. B. die Münchner Kunstausstellungen, ohne
Frage mit Erfolg veranstaltet worden sind, nicht bloß mit materiellem, sondern
auch mit dem tieferreichenden geistigen Erfolg einer eindringlichen Belehrung
durch ausgezeichnete Beispiele. Dagegen haben sich unsre Landsleute sehr
Von den internationalen Kongressen und Festen angezogen gefühlt, die ja mit
den Weltausstellungen nahe verwandt sind, und ihr Auftreten bei diesen ver¬
dient einmal etwas näher betrachtet zu werden.
Ein wichtiger Teil der internationalen Repräsentation ist sicherlich die
freiwillige Repräsentation durch ganze Gruppen oder Massen, die sich in unsrer
reiselustigen Zeit immer breiter über die Grenzen aller Länder ergießen. So
wie das Völkerrecht gegenüber den Massenein- und -auswanderungen hilflos
dasteht, so sieht die praktische Politik diesen großen Völkerzusammenkünften
ohne rechtes Verständnis zu. Die Zeitungen bemerken sie wohl, denn der
Lärm, den sie zu erzeugen pflegen, schlägt ganz in ihr Fach, sie nehmen auch
als Friedenskongresse, sogar als Schützen- und Turnerfeste u. tgi. politische
Formen an. Vor allem wirbeln sie viel Staub auf, wenn sie zu sogenannten
Weltausstellungen anschwellen. Aber von dem Nutzen, den die Völker aus
ihnen ziehen, und einige mehr als andre, giebt man sich keine genügende
Rechenschaft. Und doch ist das eine gerade so neue und zu neuem führende
Einrichtung wie alles andre, was die Völker beweglicher macht, wobei nie
die politischen Folgen fehlen können.
In frühern Jahrhunderten repräsentirten die ausgezeichneten Geister, die
von den Höhen des Geisteslebens ihres Volks zu Nachbarhöhen wie Adler
von First zu First und von Firn zu Firn ihre Flüge nahmen. Ein Händel
in London, ein Winckelmann in Rom, ein Alexander von Humboldt in Paris,
ein Pallas in Se. Petersburg vertraten Deutschland besser als ganze Depu¬
tationen von Professoren, die heute auf den internationalen Kongressen als
freiwillige Repräsentanten zu glänzen suchen. Auch heute fehlt es nicht an
solchen Sternen, die mit dem eingebornen Lichte ihres Geistes die aus der
Wanderung durch fremde Sphären erworbne Fülle entlehnten Lichts in wohl¬
thuend gedämpfter Mischung verbinden. Aber vor sie drängt sich die Masse
der besonders bei uns reiselustigen Deutschen so zahlreichen geistigen Irrlichter,
die keinen Kongreß, keine Ausstellung versäumen. Als einzelne zu unbedeutend,
suchen sie die Wirkung in der Masse. Aber alles Geistige hat die Eigen¬
tümlichkeit, frei von dem mathematischen Gesetze der Summirung kleiner Größen
zu bleiben. Aus hundert Mittelmäßigkeiten schlägt uns nie die Flamme des
Genies entgegen, die einzelnen Fünkchen glimmen um so trüber, je mehr davon
beisammen sind, und aus dem Bestreben, stärker zu leuchten, entwickelt sich
nur der übelriechende Dampf des Geltenwollens, der Streberei. Bedeutende
Menschen sind fast immer wahrer und daher bescheidner als andre, es fehlt
ihnen in der Atmosphäre versammelter Mittelmäßigkeit die Luft. So kommt
die wichtige Repräsentation an die Nichtigen und Eilein, sie sind es, die mit
Vorliebe auf den internationalen Kongressen glänzen, wo nur allzu oft nicht
die obern, sondern die untern Schichten der Litteratur, der Wissenschaft u. s. w.
in Berührung treten. Daher die Neigung zum schwindelhafter, die eine
große Anzahl dieser Versammlungen durchzieht, die Skandale, zu denen sie
Anlaß geben, ihre Unfruchtbarkeit nach innen und nach außen. Die tranrig-
lächerlichen Streitigkeiten des in die Brüche gegangnen Orientalistenkongresses,
die in alle Blätter getragnen Zwistigkeiten über den diesjährigen Moskaner
Anthropologeilkongreß, deu ernste Leute dort zuerst ablehnten, während ihn
Streber mit aller Macht zustande zu bringen suchten, obwohl jene vor An¬
nahme der Einladungen warnten, die entsprechenden Warnungen, die jetzt
schon ernste Gelehrte Nordamerikas vor den mit der Weltausstellung in
Chicago verbundnen Kongressen ergehen lassen, die von Unberufnen geplant
und verkündet werden, sind die neuesten Zeugnisse der Unsicherheit des Bodens,
uns dem diese internationalen Veranstaltungen stehn. Ähnliche Anzeichen sind
aber schon früher in Masse dagewesen und haben z. B. schon vor Jahren die
Neichsregierung und die deutschen Länder veranlaßt, sich auf den internatio¬
nalen Kongressen der Statistiker nicht mehr vertreten zu lassen. Von den
internationalen Kongressen, die 1889 zur Erinnerung an die erste französische
Revolution in Paris abgehalten wurden, sind die meisten nur von einer geringen
Zahl von Vertretern der europäischen Kulturvölker besucht worden. Dennoch
wurden dort Beschlüsse gefaßt, denen man internationale Geltung zu sichern
suchte, und so hat sich das Sinnwidrige ereignet, daß letzten Frühling eine
sogenannte internationale Chemikerversammlung in Genf, der nur zwei nam¬
hafte deutsche Chemiker beiwohnten, Regeln über chemische Nomenklatur fest¬
setzte, die wahrscheinlich nie Geltung erlangen werden. Die chemische Wissen¬
schaft ist heute so vorwiegend deutsch, daß die Anmaßung einer vorwiegend
französischen Versammlung, ihr, wenn auch nur über Äußerliches, Gesetze zu
geben, nur als eine gelungne Parodie ans den Wert des „Internationalen"
erscheint.
Aber derartige Unifikationen äußerer Dü«ge, deren Wichtigkeit wir nicht
leugnen wollen, wenn sie auch sehr oft weit übertrieben wird, sind na¬
türlich das Gebiet, auf dem sich die internationalen Kongresse mit Vorliebe
bewegen. Die Probleme des Kerns der Wissenschaft entziehn sich ihrem
Wesen nach der kollegialen Behandlung, sie gehören in die Zelle, sei sie Studir-
zimmer, Observatorium, Laboratorium, aber nicht in die Arena. Wer in der
Vereinheitlichung der Maße, der Terminologie und ähnlichen Äußerlichkeiten
das Heil der Menschheit sieht, kann mit diesen Kongressen höchlich zufrieden
sein, denn dort regnen nur so die menschenfreundlichsten Beschlüsse, die alles
verständlich und leicht machen wollen. Bon den Kongressen sind uns die
schönen Dezimalmaße gebracht worden, die es doch z. B. für Wege und Flächen
mit unsrer alten deutschen Meile und Quadratmeile nicht aufnehmen können.
Aber die Kongreßschwätzer unter unsern Professoren der Geodäsie, Geographie
n. s. w. haben es dahin gebracht, daß eiligst der Anschluß an die französisch¬
revolutionäre Einheit und Gleichheit dekretirt wurde. Die Engländer haben
ruhig ihre LtstutL Nils behalten, die viel weniger einfach als unsre deutsche
geographische Meile ist, und nur in einem Falle haben sie in den Einheits¬
und Gleichheitsschwindel eingestimmt, nämlich in der Annahme ihres Meri¬
dians von Greenwich. Da sich aber dieser die Franzosen nicht anschlössen,
zählen jetzt unsre deutschen Kartographen oben an ihren Karten die Längen nach
Greenwich, unten nach Paris. Wer die Zungendreschereien der Friedens¬
kongresse und der etwas handlichem Versammlungen der Völkerrechtler liest,
findet dort genau dasselbe Bestreben irgend einer rasch zusammenkluppendeu
und sich vrgnnisirenden, wortgewandten Nationalität, den andern ihre Pro¬
dukte und Liebhabereien als internationale aufzudrängen- Dabei sind natürlich
die Franzosen, die großen Repräsentanten und Schwätzer, immer voran. Wenn
sichdiese herablassen, auf einem internationalen Kongreß zu erscheinen, der
ausnahmsweise seinen Sitz in Deutschland hat, erheben unsre Zeitungen ein
Jubelgeschrei, denn ohne Franzosen geht es nicht, und dann erlebt man das
Erhebende, daß sogenannte Leuchten der deutschen Wissenschaft mitten in der
Reichshauptstadt ihr scheußliches Französisch parliren und die naserümpfenden
Franzosen anwedeln, denen sie wissenschaftlich um Haupteslänge überlegen sind.
Bei einem Kongreß naturwissenschaftlicher Handwerker und Dilettanten, denen
auch einige Geister beigemengt waren — es war wohl ein Geologenkongreß —,
wurde diese Komödie der französisch-radebrechenden Berliner Deutschen in einem
Sitzungssaal des provisorischen Neichstagsgebäudes zum öffentlichen Skandal.
Auch deutsche Mehrheiten ändern daran nichts, ein deutliches Zeichen, wie
weit wir in der Kunst der Repräsentation zurückgeblieben sind. Lernen wir
uns zur Geltung bringen, nicht indem wir uns zurückziehen, sondern indem
wir als ehrliche Deutsche dem schwindelhafter in diesen Vereinigungen ent¬
gegentreten.
Solange das Französische die Sprache der meisten internationalen Kon¬
gresse bleibt, werden sie auch vorwiegend französische Versammlungen sein.
Der Deutsche, der ihnen beiwohnt, begiebt sich in den meisten Fällen des kost¬
baren Vorzugs, seine Gedanken in das einzige ihnen ganz gemäße Gewand,
das der Muttersprache, zu kleiden. Seine geistige Repräsentation wird schwer¬
fällig, linkisch, Fülle und Tiefe werden ihm zur Last, aus einem Riesen
wird ein Krüppel. Selbst der geschwätzigste der deutschen Gelehrten, Virchow,
hat da kein Glück. Seine Eitelkeit, seine Fähigkeit, über alles und jedes etwas
nicht ganz Unverständiges zu sagen, sind französisch, aber sein Accent ist
hinterpommerisch. Die Veranstaltung und womöglich Leitung internationaler
Kongresse nehmen natürlich immer am liebsten Angehörige des französischen
Stammes in die Hände; nur dort treten sie in den Hintergrund, wo das Gewicht
der Leistungen oder einsach das Wissen zu gering ist. In den reinen Arbeits-
kvngressen, wie in dem der europäischen Gradmessung oder der Astronomengesell-
fchaft, treten sie von vornherein in den Hintergrund, und in deu andern drängt
sie wohl einmal der Verlauf der Verhandlungen zurück, wie man es voriges Jahr
bei dem Berner Unfallversicherungskongreß erlebte, auf dem die Meissen der
erschienenen Franzosen und Franzosenfreunde vor dem vourant g'örrniMquö die
Segel strichen, der von ein paar deutschen, österreichischen und deutsch-schweize¬
rischen Sachkennern, vor allen den Praktikern Bödiker und G. von Mähr, aus¬
ging. Je größern Runen für Dilettanten und Phrasenmachcr ein Kongreß
bietet, desto mächtiger ist die Anziehung, die er auf die kongreßwütigen Fran¬
zosen und ihre schweizerischen und belgischen Freunde übt. Für diese ist die
Veranstaltung von Weltausstellungen und internationalen Kongressen geradezu
ein Sport geworden, bei dem es auf ein bischen Schwindel mehr oder weniger
nicht mehr ankommt, und in deren Förderung Fremdenstädte wie Genf, Bern,
Brüssel eine noble Form der Spekulation im Interesse ihrer beutelustigen Gast¬
häuser und Lohndiener sehn. So weit ist es gekommen, daß es eine solche
Stadt wie einen Vorwurf empfindet, wenn ein Jahr vergeht, wo kein inter¬
nationaler Kongreß in ihren Mauern, und wäre es auch uur einer für anthro¬
pologische Kriminalistik oder von europäischen Buddhisten tagt. Selbst kleinere
Städte streben nach dieser Ehre und den damit verbundnen Ertrugen, und es
kommt ihnen dabei nicht auf eine so grobe internationale Taktlosigkeit an, wie
sie Neuenburg mit der Einladung des internationalen Schriftstellertages beging,
als seine französischen Dirigenten die vorher bestimmte Tagung in Berlin ver¬
hindern wollten.
Sehen wir von der naheliegenden, aber zur Zeit unfruchtbaren Erörte¬
rung der Frage nach angeblichen idealen Vorteilen dieser internationalen Ver¬
einigungen ab, nehmen wir sie als eine unvermeidlich gewordne Zeiterscheinung
hin, und fragen wir uns als praktisch und womöglich politisch denkende Men¬
schen, was wir daraus machen können, so liegt es auf der Hand, daß die
Dinge so nicht bleiben können. Gerade auf diesem Gebiet ist ohne Schaden
auf die Dauer das Übergewicht der Franzosen und Franzosenfrennde nicht zu
ertragen. Ohne allen Neid auf die ungezählten Vorteile, die sie daraus ziehen,
und ohne Feindschaft verlangen wir auch in den Formen des internationalen
Verkehrs die uns gebührenden Rücksichten und unsern gerechten Anteil an
Pflicht und Ehre der Repräsentation. Das war der ernste Wunsch, aus dem
heraus der Gedanke der Weltausstellung auch vou solchen freundlich betrachtet
wurde, die sich andern Gründen verschlossen. Das Äußerliche unsrer inter¬
nationalen Stellung genügt noch nicht ihrem innern Wesen und Wert, und
wir wollten die Gelegenheit ergreifen, Form und Inhalt unsers Lebens ein¬
ander näher zu bringen.
Aber wir stehn in diesem Bedürfnis nicht allein. Die Italiener sind
auch in dieser Beziehung unsre Schicksalsgenossen, und die uns geistig näher¬
stehenden Engländer und Skandinavier haben öfter das aufdringliche Sich-
geltendmachenwollen der Franzosen ruhig abgelehnt und sie bei internationalen
Vereinigungen in England oder Nordamerika ruhig in den Schatten treten
lassen. In den nächsten Jahrzehnten wird trotz der Pariser Jahrhundert-
ausstcllung die unvermeidliche Ausgleichung zwischen Wesen und Form der
nationalen Leistung weiter fortschreiten.
Es ist ein merkwürdiger Gegensatz zwischen der Disziplin, der sich die
deutsche Natur beugt, und der Formlosigkeit, zu der sie neigt. Etwas ähn¬
liches findet man bei keinem andern Volke. Von der militärischen Stramm¬
heit und den Förmlichkeiten der Beamtenhierarchie geht wenig ins Privatleben
über, und wenn die soziale Schichtung bei uns noch immer strenger durch¬
geführt ist als bei andern Völkern, so strebt doch in jeder Schicht jeder seinem
und nicht einem allgemeinen sozialen Ideal nach. Für Franzosen und Eng¬
länder giebt es eine einzige soziale Höhe, zu der alle streben, während das
deutsche Leben vielgestaltig wie der Boden ist, auf dem es sich bewegt. Bei
uns kann sich ein hochgebildeter Mann benehmen wie ein Bauer, und er wird
doch in seinem guten Kern anerkannt werden; in England würde er sich schon
eine Blöße geben, wenn er zu einem bestimmten Braten eine andre als die
übliche Sauce aus der Saueenflaschenbatterie herausgriffe, und würde sozial
unmöglich sein, wenn er nicht den Gesetzen der Mode über die Tageszeiten
folgte, an denen man Frack oder Rock, weiße oder blaue Halsbinden trägt.
Wir selbst wollen aber der Pflichten nicht vergessen, die sich uns daraus
ergeben. Es muß uns etwas von dem Selbstgefühl zuwachsen, das die andern
abzulegen haben werden, und unsre Schätzung der Formen muß sich heben.
Die bequeme Breite unsrer sozialen Formen, die allerdings von Süden nach
Norden rasch abnimmt und schon viel beschnitten worden ist, muß gewiß als
ein köstliches Gut für unser inneres Leben, d. h. für das Leben im Laude gelten,
aber sie erschwert unzweifelhaft unsre Repräsentation im Auslande, dort fehlt
unsern Landsleuten die Sicherheit und Klarheit, die jeder sozialen Verpflich¬
tung spielend gerecht wird. Unser Land, das seine Botschafter und Gesandten
unter den „Edelsten der Nation" wählt, sieht sich auf internationalen Ver¬
einigungen nur zu oft von kalt- und formlosen Gruppen vertreten, die diese
Gelegenheiten für die passendsten zum Abtragen alter Überzieher halten, in die
sie sich beharrlich von früh bis spät hüllen und über den Nutzen reiner
Wäsche ebenso selbständig denken, wie über ein Problem der Wissenschaft oder
Politik. Das sind nur die äußern Zeichen einer tiefern Unzulänglichkeit, die
sich in dem Mangel an Organisation und Zusammenschluß und in der Un¬
sicherheit ausspricht, die wichtige Abschnitte der Repräsentation verpassen
oder falsch auffassen läßt. Dem geschloßnen Auftreten der Franzosen bei den
großen Universita'löschten der letzten Jahre stand das Auseinanderfallen der
deutschen Vertreter, von denen einige „in Tracht," andre im Frack, noch andre
im Rock erschienen, kläglich gegenüber, und während jene von vornherein die
besten Redner bestimmt hatten, die sich in gutem Französisch mit der Sicher-
heit aussprechen, die nur die Muttersprache verleiht, quälte sich hier ein der
freien Rede unkundiger Kathederprediger in fremder Sprache ab, unbehaglich
Unbehagen verbreitend. Eine Korrespondenz aus Dublin in der Allgemeinen
Zeitung, der man doch nicht Abneigung gegen Professoren vorwerfen kann, schil¬
derte vor einigen Monaten das bedauernerregende Auftreten der Vertreter der
deutschen Universitäten bei dem Universitätsjubiläum in Dublin, wo sie ihre
Reden in unverständlichem Englisch stotterten, während warm und zu Herzen
dringend, weil in gutem Deutsch, nur der Vertreter der Schweizer Universitäten
sprach. Die gelehrten Herren, die sich für fähig hielten, dort zu repräsentiren,
waren nicht weltkundig genug, zu wissen, daß eine selbstbewußte, gerade Ver¬
tretung nicht uur würdiger, sondern auch im tiefsten Sinne höflicher ist als
eine sich wegwerfende und linkische. Zufällig siel vor wenigen Tagen im
Hause eines schweizerischen Freundes unser Blick auf die offizielle Sammlung
der bei der Gründungsfeier der Lcmsanner Universität um Pfingsten 1891 ge-
haltnen Ansprachen, die mit der in französischer Übersetzung gegebnen Ansprache
des Vertreters der deutschen Universitäten beginnt und mit der deutschen An¬
sprache des Vertreters der schweizerischen Universitäten schließt. Gerade wie
in Dublin! Was in aller Welt konnte den Berliner Professor, einen gebornen
Schweizer, veranlassen, seine Rede in Übersetzung zu geben, wenn der Ver¬
treter der mehrsprachigen Schweizer Universitäten, ein Basler Professor und
geborner Schwabe, die seine im deutschen Original gab? Auch wenn der Ber¬
liner nicht die Taktlosigkeit begangen Hütte, sein Schweizcrtum durchschimmern
zu lassen, indem er den Schweizern Bescheidenheit empfahl — was sonst ge¬
wiß nur zu billigen ist —, wäre dieses dem Ort und Zweck ganz ungemäße
Bevorzugen der fremden Sprache als Ausfluß eines Mangels an nationaler
Lebensart streng zu verurteilen. Diese erbauliche Lektüre ließ die Erinnerung
unwillkürlich über die grauen Juraberge weg nach dem alten Genf schweifen,
wo wir vor einigen Jahren in einer Festhalle saßen, in der nach der Begrüßungs¬
rede der Franzosen die bejubelte und mitgesungne Marseillaise erklang, wäh¬
rend der Rede des Deutschen die Jammerlaute von „Ich weiß nicht, was
soll es bedeuten" folgten. Die Schweizer „Freunde" hatten sie spielen lassen,
weil sie mit der „Wacht am Rhein" bei den Franzosen anzustoßen fürchteten,
und die deutschen Bedientenseelen lächelten vergnügt bei der Drehorgelmelodie.
Sie verdienten es nicht besser; nur wenige fühlten die Ohrfeige brennen und
schlichen sich beschämt von dannen.
Es ist klar, solchen und ähnlichen Leuten sollte die internationale Reprä¬
sentation nicht überlassen bleiben. Wir können aber keine Polizei über Fest¬
bummler und Kongreßschwätzer üben, und so können wir nur darauf hoffen,
daß die fortschreitende Selbsterziehung unsers Volks nicht bloß den Kern, son¬
dern auch die Formen unsers Thuns heilsam beeinflussen werde. Immer mehr
Menschen müssen, sobald sie die Grenze überschreiten, ihre Verantwortlichkeit
sich steigern fühlen und jene Empfindung der Zusammenfassung zur Bereit¬
schaft haben, mit der wir einen Salon voll fremder Menschen betreten. Um
andrerseits zu lernen, wie die Fremden bei uns zu empfangen sind, ohne ihnen
zu wenig zu geben und uns etwas zu vergeben, und um uns und unsre Produkte
etwas mehr aus dem Schatten zu ziehen, wäre ohne Frage eine Berliner
Weltausstellung recht nützlich gewesen. Wir bedauern aus uatioualpndagogischen
Gründen ihr Nichtzustandekommen, glauben aber nicht, daß man sich darum
in Trauer zu hüllen brauche, denn in der Idee einer solchen Kundgebung liegt
etwas aus unsrer nationalen Entwicklung hervorgehendes Notwendiges; sie
wird sich ohne Frage in irgend einer Gestalt im nächsten Jahrzehnt verwirk¬
lichen müssen, und die Regierung wird sich bestimmt nicht auf die Dauer
von ihr abwenden können.
WUM
c^WM?)n Deutschland ist gegenwärtig ein heftiger Kampf zwischen Juden
und Antisemiten entbrannt. Dies veranlaßt mich, in deutscher
Sprache das Wort in dieser Frage zu ergreifen, wenn ich auch
uicht Deutscher, sondern Pole bin. Ich bin der Ansicht, daß
nur ein Ausländer ein unparteiisches Urteil über Judentum
und Antisemitismus zu fällen imstande sei, weil er fern von dem Kampfe der
Parteien leichter das Wahre von dem Falschen, das Wesentliche von dem
Unbedeutenden und Nebensächlichen unterscheidet. Die folgenden Ausführungen
sollen den Kampf uicht hineintragen, wo er schon längst wütet; sie verfolgen
im Gegenteil den Zweck, die Schuldigen preiszugeben, um die Unschuldigen
Zu retten, die Verworfnen unnachsichtlich an den Pranger zu stellen, um der
Sache des sozialen Friedens zu dienen. Ich bin mir vollkommen bewußt, daß
ü'h es keiner Partei recht machen werde, aber da ich von der Nichtigkeit meines
Standpunktes aufs innigste überzeugt bin, so biete ich getrost allen die Stirn
und sehe allen Angriffen ruhig entgegen. Möge man sins irs, se swäio hin-
nehmen, was ich aus Liebe zur Wahrheit und im Dienste der guten Sache
sagen zu müssen glaubte!
Kann der Haß, die Verfolgung eines Menschen durch einen andern
berechtigt sein? Kann die christliche Religion, die Religion der Liebe und
Milde, der Barmherzigkeit und der Verzeihung, den Haß und die Verfolgung
überhaupt billigen? Oder kann sich ein philosophischer Altruismus, der das
Dasein Gottes in Frage zieht und die Weltordnung aus sich selbst herleitet,
dafür erklären, daß einzelne Menschen wegen der Verschiedenheit ihrer Nasse,
wegen ihrer besondern Gesichtsbildung, ihres Teints, ihrer Nasen, ja selbst
wegen ihrer angebornen Vorzüge und Fehler minder berechtigt, daß sie des¬
halb gehaßt und verfolgt sein sollen?
Wenn, wie nicht anders zu erwarten ist, diese Fragen verneint werden,
so muß man zu dem Schlüsse gelangen, daß die Judenfrage weder eine Re-
ligions- noch eine Rasfenfrage sei. Aber die Frage liegt trotzdem nicht so
einfach, wie sie sich die Juden selbst denken. Die Juden sagen einfach, sie sei
eine Neid- und Brotfrcigc. Die Juden könnten doch nichts dafür, daß sie in
dem Wettbewerb des Lebens den Sieg davontrugen, weil sie eben fähiger
seien. Die christliche Bevölkerung, die ihnen im ehrlichen Konkurrenzkampfe
nicht Stand halten könne, beneide sie dann um die Früchte ihrer Arbeit und
veranstalte Judenhetzen, wie in dem als unwissend verschrieenen Mittelalter.
Ich bin der Ansicht, die Juden seien zweifellos eine besondre Rasse,
die auch eine besondre Religion habe, die Judenfrage aber sei weder Religivns-
oder Nassenfrage, wie die Antisemiten, noch Brotfrage, wie die Juden behaupten,
sondern ich halte sie einfach für eine Frage der Sittlichkeit >und darin liegt
nach meiner Meinung die Berechtigung und zugleich die Schranke des Anti¬
semitismus.
Dieser Standpunkt, der, wie ich glaube, bis jetzt uoch von niemand, am
wenigsten von Juden eingenommen worden ist, hat den Vorzug, daß er die
antisemitische Bewegung aus ihrem Zusammenhange mit der Kulturgeschichte
erklärt, daß er darin einen Ausfluß der Volksseele erkennt und sie nicht mit
Schimpfworten abspeist, daß er aber auch ihre Auswüchse erkennen und ver¬
abscheuen lehrt.
Ohne Zweifel ist die jüdische Religion mit ihrem Monotheismus die
großartigste und sittlichste Religion des Altertums; mit ihrem starren Ver¬
geltungsprinzip aber ist sie gleichzeitig eine Religion der Vergangenheit und steht
tief unter der christlichen Sittlichkeit, die auch für den Niedrigen und Schwachen,
für den Kranken und Sünder noch Mitleid fühlt und ihnen Hilfe spendet,
wo sich die jüdische Religion von ihnen abwendet. Wenn es einen eigentlich
freien, von äußern Dingen unabhängigen Willen nicht giebt, wie die Wissen¬
schaft auf Grund des ausnahmslos herrschenden Kausalitätsprinzips thatsächlich
behauptet, so ist die jüdische Religion mit ihrem Vergeltungsprinzip eigentlich
ein Unding und eine Ungerechtigkeit; nur der Grundsatz christlicher Barm¬
herzigkeit und Nachsicht steht mit der Wissenschaft im Einklange.
Trotzdem hat es von jeher Juden gegeben, die ein warmes Herz für
ihre Mitmenschen hatten und von der christlichen Sittlichkeit tief durchdrungen
waren, wenn sie sich auch scheuten, die Quelle ihrer Erkenntnis zu gestehen.
Überdies beschäftigt man sich im modernen Europa mit Ausnahme von England
— ob mit Recht, soll hier nicht näher untersucht werden — so wenig mit
religiösen Fragen, und das Volk steht heute durchschnittlich auf einer solchen
Stufe religiöser Duldsamkeit, daß es heutzutage Wohl kaum ein Land in
Europa giebt, wo eine rein religiöse Verfolgung andersgläubiger in größerm
Stile mit Erfolg in Szene gesetzt werden könnte. Der religiöse Fanatismus
hat überall der Toleranz Platz gemacht, und Lessings berühmter Vergleich von
den drei Ringen, die die drei monotheistischen Hauptreligionen bedeuten, kann
zwar nicht im Sinne ihrer Gleichwertigkeit, aber doch in dem Sinne so¬
zialer Gleichberechtigung der Bekenner verschiedner Religionen als richtig an¬
erkannt werden. Wenn sich trotzdem die Judenfrage in immer neuen Volks¬
versammlungen, Flugschriften u. s. w. der öffentlichen Meinung aufdrängt, so
kann sie unmöglich eine religiöse Frage sein.
Rassenverfolgnngen kommen nun zwar auch heute, noch häufiger vor,
gelten aber doch bloß besondern Nationalitäten, von deren Erstarrung man ihre
Trennung von einer andern Nation und die Bildung eines besondern Staats-
ganzen befürchtet. Es sind politische Maßregeln, die sich auf kein sittliches,
sondern auf ein Herrschaftsprinzip gründen, sie haben auch nur lokalen Cha¬
rakter und gehen weniger vom Volke, als von den Regierungen aus. Wenn
man auch früher z. B. in Österreich gegen die Polen eine Politik der Unter¬
drückung beobachtete, die auf ein vermeintliches Staatsinteresse zurückgeführt
wurde, so ist doch das Volk in Österreich, in Deutschland, ja selbst in Rußland
dem polnischen niemals feindlich gesinnt gewesen.
Bei den Juden liegt die Sache ganz anders. Nur ein verschwindendes
Häuflein von ihnen denkt heute an die Gründung eines besondern Staats¬
ganzen; die meisten nennen diesen Gedanken utopisch. Wenn übrigens jemals
ein jüdischer Staat entstehen sollte, so könnte das nur in Palüstiua, Arabien
oder Argentinien geschehen, und da würden doch die meisten europäischen
Staaten, weit entfernt, diesen Gedanken zu bekämpfen, ihn im Gegenteil be¬
fördern, weil seine Verwirklichung ihnen ermöglichen würde, sich ihrer Juden
auf gute Art zu entledigen. Die Sympathie von ganz Osteuropa wäre diesem
Gedanken jedenfalls gesichert.
Es giebt ja aber auch Rassenhaß, der nicht künstlich geweckt und gro߬
gezogen wird, sondern spontan auftritt, ohne daß politische Gründe ihn ge¬
wissermaßen wo nicht entschuldigen, so doch begreiflich machen. Die chinesischen
Kukis wollen in San Franzisko gewiß keinen besondern Staat gründen und
werden trotzdem gehaßt, einfach deshalb, weil sie wegen ihrer geringen Be¬
dürfnisse imstande sind, billiger zu arbeiten. Die chinesische Frage in Kali¬
fornien ist deshalb eine Nassenfrage. Aber auch in diesem Sinne ist es die
jüdische Frage in Europa nicht. Während das ungezügelte, sich überhastende
amerikanische Wirtschaftsleben in jedem Konkurrenten einen Feind sieht, der
mit allen zu Gebote stehenden Mitteln bekämpft werden muß, wird der jü¬
dische Handwerker trotz seiner Bedürfnislosigkeit und der Billigkeit seiner Ar¬
beit lange nicht so gehaßt, wie der jüdische Wucherer oder Börsianer. Im
Gegenteil: während er sich einen Teil seiner Konkurrenten zu Gegnern macht,
was übrigens selbstverständlich ist, gewinnt er häusig das Gros der Bevöl¬
kerung, dem seine Arbeit von Vorteil ist, und damit ist er ihrer Sympathie
und Unterstützung sicher.
Die Judenfrage ist also auch keine Ncisfenfrage. Noch viel weniger aber
ist sie eine Brotfrage. Die Juden, die die meisten flüssigen Kapitalien be¬
sitzen und in ihren wissenschaftlichen Überzeugungen sehr radikal sind, weil der
Radikalismus den Vorzug hat, auf absehbare Zeit ein ungefährliches Ideal
zu bleiben, kommen sehr gern darauf zu sprechen, daß die „Judenhetze," wie
sie den Antisemitismus zu nennen belieben, der verirrte Kampf gegen das
Privateigentum sei, und der österreichische Abgeordnete Kronawetter, übrigens
kein Jude, hat diese landläufige Meinung in die geistreichen Worte gekleidet:
„Der Antisemitismus ist der Sozialismus des dummen Kerls." Wahrhaftig,
wäre der revolutionäre Sozialismus berechtigt, wäre die materielle Gleich¬
berechtigung aller, die Befriedigung aller nach ihren Bedürfnissen ausführbar
und in nächster Zeit zu erwarten, dann könnte man ja seine ganze Kraft der
großen Aufgabe widmen, das soziale Leben vom Grund aus neu zu gestalten
und brauchte sie nicht auf Einzelerscheinungen der Korruption zu zersplittern.
Wenn die souveräne Macht des mobilen Kapitals durch eine soziale Revolution
gebrochen wird, gegen die die französische Revolution ein Kinderspiel gewesen
ist, wenn diese Revolution mit Börsen- und Wucherunweseu wie mit Privat¬
eigentum überhaupt endgiltig aufräumt, dann hat der Antisemitismus aller¬
dings nicht die geringste Berechtigung, dann wird er überhaupt nicht mehr
sein oder gar nicht ernst genommen werden können. Ist aber eine soziale
Umwälzung in absehbarer Zeit nicht zu erwarten, dann verschieben die, die
sich durch ihre Schematisirung der Judenfrage als Teil der sozialen Frage
überhaupt den Anstrich von Wissenschaftliche zu geben versuchen, in Wahr¬
heit die Lösung der Judenfrage auf eine vollkommen ungewisse und jedenfalls
sehr ferne Zukunft, die sie gern in den schillerndsten Worten ausmalen, um
sich dafür der süßen Gegenwart mit ihrem wirtschaftlichen Egoismus und
ihrem Genußleben zu versichern. So wird selbst der träumerische Sozialismus,
der eigentlich nichts andres als die Verkörperung der göttlichen Lehren Christi
ist, zum ungewollten Verbündeten der Kapitalsherrschaft, die er bekämpft und
wegwünscht.
Ich kann mich nun, wenn ich gerecht sein will, nicht der Selbsttäuschung hin¬
geben, daß die sozialistischen Ideale bald erfüllt werden konnten, und wenn ich
auch von meinem Standpunkt gänzlich absehe und mich auf den sozialistischen
stelle, so muß ich auch hier der Überzeugung Ausdruck geben, daß man auch im
gegnerischen Lager wohl kaum vor hundert bis zweihundert Jahren die vollste
Aufhebung des beweglichen Kapitals erwartet. Wenn ich mir also das Vörsen-
und Wucherunwesen, das hauptsächlich von Juden betrieben wird, ansehe und
mir vergegenwärtige, daß dieses heute jeder gesittete Mensch von Grund
aus verabscheut, so halte ich es für eine ungeziemende Vertröstung auf jene
Zukunft, wenn man sich mit Phrasen gegen die Hebung von wahrhaften
Übelständen zu verschanzen erdreistet, sie aber in Wahrheit weiter fort¬
bestehen läßt.
Mir ist die Judenfrage also schlechthin eine Frage der Sittlichkeit. Das
moderne Erwerbsleben, und ganz besonders das jüdische, bringt eine ganze
Reihe unerquicklicher Erscheinungen zu Tage, die von jedem unparteiischen
Beobachter als sozial schädlich bezeichnet werden müssen. Nur diese Erschei¬
nungen aber sind es, die der antisemitischen Bewegung ihre tiefere Bedeutung
gegeben haben. Wären nicht die jüdischen Wucherer, die jüdischen Börsianer,
die jüdischen Pleitemacher, die jüdischen Zeitungsschreiber, dann gäbe es auch
eine unparteiische öffentliche Meinung, eine beiderseits unbeeinflußte Unter¬
scheidung zwischen gut und böse, dann gäbe es aber auch keinen Antisemitis¬
mus, oder er hätte seine soziale Bedeutung verloren und müßte sowohl vom
religiösen als vom philosophischen Standpunkt unbedingt verworfen werden.
In Osterreich sind etwa 70 Prozent aller abgestraften Wucherer, im Kron¬
lande Galizien 85 Prozent Juden. Diese Zahlen wären noch größer, wenn
nicht das Wuchergesetz so unvollständig wäre, und wenn es strenger gehand¬
habt würde. Ich kenne aus meiner Advokaturpraxis eine Unzahl jüdischer
Dorfwucherer, die bis jetzt unbestraft sind. Die Dorfschcnken, wo der Bauer
durch Fusel den Zwecken des Wucherers willfähriger, ja eigentlich willenlos
gemacht wird, wo Grund und Boden, Vieh und Getreide auf dem Halm dem
lächelnden Dorfschenken oder seinem „Geschäftsfreunde" verkauft werden, sind
alle in den Händen von Juden, und zwar von solchen, die nach einem Jahr¬
zehnt das Gut pachten und nach einem zweiten das Gut, wo sie ihre Laufbahn
so klein begonnen hatten, meist um einen Spottpreis erstehn. Während
der frühere Eigentümer durch wucherische Zinsen, durch gewagte Holzgeschäfte,
in die er sich auf Anraten seines Hofjuden eingelassen hatte, u. s. w. zu Grunde
gerichtet ist und in die Stadt zieht, um sich dort eine kümmerliche Existenz zu
gründen, oder wohl gar zu reichen Verwandten seine Zuflucht nimmt, schwingt
sich der frühere Dorfwucherer und Pächter zum Gutsbesitzer auf, wird wohl
auch mit der Zeit Bankier, Kommerzienrat und Konsul. Ich verfüge in der
Wncherfrage über ein überaus reiches, aus amtlichen Quellen herrührendes
Material und gedenke dieses demnächst in einem größern Werke selbständig zu
verarbeiten. Damit man aber nicht einwende, daß dies alles nur auf öster¬
reichische Verhältnisse Bezug habe, aber auf Deutschland nicht passe, mache ich
darauf aufmerksam, daß nach der Enquete des Vereins für Sozialpolitik (1887)
der Wucher auf dem Lande auch in Deutschland in allen Gegenden des kleinen
parzellirten Grundbesitzes, vorzugsweise in Ländern fränkischer, alemannischer
und thüringischer Besiedlung, somit in Südwest- und Mitteldeutschland, in
geradezu besorgniserregender Weise hervortritt und auch im übrigen Deutsch¬
land häufig genug ist.
An der Hand der Kriminalstatistik gelangt mau, auch ohne Antisemit zu
sein, zu dem unerfreulichen Schlüsse, daß die Juden überall zu den Verbrechen
aus Gewinnsucht ein sehr bedeutendes, weit über ihr Verhältnis zur Gesamt¬
bevölkerung hinausgehendes Kontingent liefern. Jeder Richter oder Rechts¬
anwalt, der die Sache aus eigner Anschauung kennt, wird dem nicht nur bei¬
stimmen, sondern auch die Geschicklichkeit bewundern, mit der sich die Juden aus
der Schlinge zu ziehn wissen, wenn man schon nahe daran zu sein vermeint,
sie fassen zu können.
Die Verheerungen, die die Hauffe- und Baissespekulation seit Jahren im
Volksvermögen anrichtet, sind so bedeutend, so ungeheuer, so unfaßbar, daß
wohl ein Hinweis auf den Wiener Börsenkrach von 1873 genügen dürfte, das
Börsenunwesen zu brandmarken. Erst kürzlich wurde auf der Wiener Börse
infolge der Audienz eines Abgeordneten beim Kaiser von Osterreich das Ge¬
rücht verbreitet, daß der Kaiser von einem herannahenden Kriege gesprochen
habe. Die Kurse fielen reißend schnell, die kleinen Kaufleute, Handwerker, Haus¬
besitzer verkauften, von parischem Schrecken erfaßt, alle ihre Wertpapiere, und
die Spekulanten kauften durch Vermittlung von Berliner Bankhäusern die
angebotnen Papiere zu Spottpreisen auf, worauf sie dann das Gerücht als
unwahr hinstellen ließen, die Kurse in die Höhe schraubten und beim Wieder¬
verkauf nun den Gewinn ihrer saubern Spekulation einsackten.
Beschränkten sich die wirtschaftlichen Krisen, die mit schrecklicher Regel¬
mäßigkeit immer wieder in gewissen Zeiträumen eintreten, bloß auf die berufs¬
mäßigen Börsenjobber, so könnte man ihnen ja schließlich gestatten, sich gegen¬
seitig aufzufressen. Ein solcher Schlag trifft aber immer die Gesamtbevölkerung,
alles hat spekulirt, und alles — mit Ausnahme einiger Finanzbarone und
ihrer Protvgvs — hat verloren. Und warum? War es nicht strafwürdige
Habsucht, wenn sich das Volk zu den Bankkontoren drängte? Nein, das war
es nicht. Seit Laws Zeiten weiß man durch Agenten Und Zeitungen das
Volk geschickt aufzuregen, ihm sein letztes Hab und Gut abzulocken und sich
dann, wenn das Geld in der Kasse ist, ins Fäustchen zu lachen. Dazu bedarf
es jedoch eines Verbündeten: der Presse. So wurde diese zum Markt¬
schreier der Börse, zu ihrem bezahlten, aber nicht minder treuen Prä-
toriauer, und damit war die Notwendigkeit geschaffen, auch sie in die
Hand zu bekommen, wenn man auf der Börse siegen, wenn man dem ge¬
samten wirtschaftlichen Leben der Gegenwart den Fuß auf den Nacken setzen
wollte. So geschah es, daß sich die Juden in vielen Ländern der Presse be¬
mächtigten.
Wie käuflich und verlogen diese Presse ist, wie sie trotz beßrer Einsicht
immer der verkrachten manchesterlichen Doktrin das Wort redet, weil nur diese
ihren Gönnern volle Freiheit der Bewegung gestattet, wie sie mit hochmütigen
Witzworten über den Zusammenhang zwischen Sittlichkeit und Volkswirtschaft
hinweggeht, wie sie in ihrer Hexenküche Aufregung, Begeisterung, Gleichgiltig-
keit, Haß und Verachtung je nach Bedürfnis und Auftrag der Börse künstlich
herzustellen versteht, wie sie anstatt des Beweises die Phrase setzt, den Hohn,
die Intrigue, den Schimpf oder das Todschweigen, wie sie jede sachliche Aus¬
einandersetzung verschmäht, mit welchem Eifer sie für den Materialismus
Propaganda macht, weil er ihrem nicht jüdischen, sondern geradezu gottes-
leuguerischen Handeln ein gewisses wissenschaftliches .iir verleiht, das alles
sind Erscheinungen, die, natürlich weit entfernt, den Antisemitismus gro߬
ziehen zu wollen, ihn doch recht eigentlich züchten und ihm, wenn sie nicht
bald verschwinden, die Unterstützung aller Unparteiischen — die anständigen
Juden selbst nicht ausgeschlossen! — sichern werden.
Die Juden leugnen freilich in ihrer falschen Solidarität alle diese That¬
sachen, sie verschließen sich geradezu jeder Erkenntnis, weil sie darin einen
Verrat an der eignen Sache erblicken. Sie sagen einfach: Unsere Betrüger
sind Betrüger, weil sie Kaufleute, nicht weil sie Juden sind; auf der Börse
und in der Presse giebt es auch Christen, die es ebenso oder noch ärger
treiben; mit welchem Rechte verlangt man, daß die Juden besser sein sollen
als die Christen?
Darauf läßt sich mit gutem Gewissen antworten, was die tägliche Er¬
fahrung lehrt, daß nämlich der christliche Kaufmann durchschnittlich ehrlicher
ist als der jüdische, daß die Kriminnlstatistik bedeutend mehr Verbrechen ans
Gewinnsucht unter Juden aufweist, als sich aus ihrer Beteiligung am Kauf¬
mannsstande zur Not erklären ließe, und daß doch schließlich in jedem Stande
die Möglichkeit der Übervorteilung in gleichem Grade geboten ist — im Kauf¬
mannsstande nicht mehr als im Unternehmerberufe, in diesem uicht mehr als
im Grund- oder Hausbesitzerstand, und in diesem ebenso wie in dem Berufe
des Nechtscmwalts oder des Arztes. Der Tagelöhner, der Fabrikarbeiter, der
Mieter, der Klient, der Patient kann ebenso gut ausgebeutet werden, wie der
Käufer im Kaufmannsladen oder im Kondor. Die christlichen Börsianer und
käuflichen Journalisten sind selbst absolut, den jüdischen gegenüber, in ver-
schwindender Minderzahl, und dann paßt auf sie eben die Fabel von dem
gesunden Apfel, der, neben den verfaulten gelegt, selbst verfault.
Es fragt sich nun, warum die Juden, eine geistig so hervorragende Nasse,
in ihrem fast ausschließlichen Sinn für Erwerbs- und Geistesleben die Gesetze
der Sittlichkeit so häufig hintansetzen, daß sie öffentliches Ärgernis erregen,
warum sie nicht einsehen, daß sie sich trotz ihrer Solidarität und ihrer be-
wundrungswürdigen Zähigkeit durch das hartnäckige Festhalten an einem rück¬
sichtslosen geschäftlichen Egoismus selbst den Todesstoß geben.
Die Antisemiten erklären dies aus Vorschriften des Talmud und aus
Eigentümlichkeiten der Nasse; die Juden entschuldigen es, wenn sie es nicht
überhaupt vorziehen, alles schlankweg zu leugnen, durch die Verfolgungen des
Mittelalters. Ich will mich in den Talmudstreit nicht einlassen, da ich nichts
davon verstehe. Das aber sage ich den Antisemiten ins Gesicht, daß ich es
vollkommen begreiflich nud geschichtlich begründet finden würde, wenn irgend
jemand der Nachweis gelänge, daß die jüdischen Sittenlehrer während der
Judenverfolgungen thatsächlich die haarsträubeudsten und unsittlichsten Lehren
von Christenverfolgung gepredigt Hütten. Konnte die christliche Lehre die
schmählichsten Judenverfolgungen nicht eindämmen, ja hat es selbst christliche
Priester gegeben, die die Lehre ihres Heilands vergaßen und in Spanien und
Deutschland gegen Juden, in England gegen Katholiken, in Frankreich gegen
Protestanten wüteten, so kann man es doch füglich den unterdrückten Juden
nicht verdenken, namentlich wenn man sich den alttestamentarischen Grundsatz
der Vergeltung ins Gedächtnis ruft, wenn sie ihre Unterdrücker haßten, sie
verwünschten, betrogen, ja vielleicht auch mordeten. Es ist das Recht einer
jeden Kreatur, sich gegen Ungerechtigkeit aufzulehnen, und wer Haß säet, wird
Haß ernten. Ausnahmegesetze erzeugen Ausnahmeverhältnisse. Nur Duld¬
samkeit und Gerechtigkeit, Objektivität und Menschenfreundlichkeit können eine
Verständigung zwischen verschiednen Nassen, wie zwischen verschiednen Gesell¬
schaftsklassen oder politischen Parteien anbahnen. Wenn ich an den Ritual¬
mord nicht glaube, so geschieht es nicht deshalb, weil er mir im Widersprüche
mit der wahrscheinlichen Stimmung der frühern Juden für die Christen zu
sein schiene, sondern weil ich ihn mit den religiösen Satzungen der Juden
absolut uicht in Einklang bringen kann. Aber diese Vergangenheit kann mir
doch die Gegenwart mit ihrer gesetzlichen Gleichberechtigung und thatsächlichen
Herrschaft des mobilen Kapitals und mit ihm der Juden noch lange nicht
erklären. Die Juden sind heute aus den Unterdrückten Unterdrücker geworden,
und nnn übt der Antisemitismus an ihnen dieselbe Vergeltungspolitik, die sie
im Mittelalter gegen die Christen zu üben wohl berechtigt gewesen wären.
Auch die Rassenunterschiede sind lange nicht so bedeutend, daß sie die
Rücksichtslosigkeit des jüdischen Erwerbslebens genügend erklären könnten. Es
giebt eine Reihe jüdischer Rasseneigentümlichkeiten, wie die Zudringlichkeit,
die Arroganz, das Geldprotzentum, die sozial durchaus ungefährlich, den Juden
selbst mehr schaden, als sie die Christen vorübergehend ärgern könnten. Spott,
nicht Haß wäre die richtige Antwort darauf. Den allgemeinen Unwillen gegen
die Juden rufen nicht diese Eigenschaften hervor, sondern die Unsittlichkeit
ihres Erwerbslebens.
Andrerseits ist es bekannt, welchen wohlthätigen Einfluß eine anhaltende
Erziehung ausübt, und wie wunderbar sie oft ererbte Instinkte niederhält. Ich
habe selbst Gelegenheit gehabt, dies in der musterhaft geleiteten Besserungs¬
anstalt für minderjährige Verbrecher in Studzieniec (Russisch-Polen) zu be¬
obachten, wo Söhne von Gewohnheitsdieben und öffentlichen Dirnen zu an¬
ständigen und ehrlichen Menschen erzogen werden. Jeder wissenschaftlich ge¬
bildete Pädagoge, jeder Kenner der Psychologie und jeder Kriminalist wird
mir hierin beipflichten. Die Unterdrückung der Juden in der Vergangenheit,
ihre Ausschließung von Ackerbau und Handwerk, die sie seinerzeit fast aus¬
schließlich zum Gcldleihgeschüft ihre Zuflucht nehmen ließ, die Mißachtung, der
sie überall begegneten, haben die schlechten Eigenschaften des ehemaligen Juden
zweifellos hervorgerufen oder doch wesentlich gefördert, wie dies sowohl Lecky
in seiner Geschichte der Aufklärung als auch Macaulay in seiner Rede über
Judenemanzipation betont. Aber das scheint mir denn doch für die Erklärung
der charakteristischen Merkmale des modernen Juden, der seit hundert Jahren
gleichberechtigt ist und unter dem Einfluß der öffentlichen Schule steht, sowie
zur Erklärung des gerade heute so stark hervorbrechenden Antisemitismus nicht
genügend.
Aber selbst wenn dies mit Hilfe der Rasseneigentümlichkeiten und der Juden-
unterdrücknng der Vergangenheit gelänge, so könnte es doch die Judenfrage
nicht lösen. Die Unsittlichkeit und Verworfenheit einer korrupten Presse, eines
blutsaugerischen Wuchers und eines rücksichtslosen Spekulantentums lassen sich
weder durch religionsphilvsophische noch durch naturwissenschaftliche und völker-
Pshchologische oder historische Untersuchungen aus der Welt schaffen. Es ist
zwar wahr, daß nur der, der die ersten Ursachen des Übels kennt, den Ver¬
such zur Heilung machen darf. Aber die Wissenschaft verfügt noch nicht über
eine ausreichende Theorie der Frage, wir vermögen noch nicht mit völliger
Genauigkeit deu Mangel gewisser sittlicher Eigenschaften aus einer besondern
Rcisfenbildung abzuleiten, ihn mit historischen und religiösen Einflüssen in Ein¬
klang zu bringen, diese Einflüsse genau zu begrenzen und die Gesamterschei¬
nung damit erschöpfend zu erklären. So bleibt uns nur die induktive
Methode der Beobachtung konkreter Fälle. An deren Hand aber gelange ich
zu dem Schlüsse, daß die Rücksichtslosigkeit und Unsittlichkeit des jüdischen
Erwerbslebens, die ich für die einzige berechtigte Ursache des Antisemitismus
halte, nicht der Religion und der Rasse, sondern einer andern Ursache zuzu¬
schreiben ist, nämlich — der Konfessionslosigkeit und dem Weltbürgertum bei
dem gebildeten Juden, und bei dem ungebildeten dem Fanatismus, der jede
Bibelstelle sich nach seinem Gutdünken zurechtlegt oder mißversteht, seinem
Mangel auch der elementarsten Kenntnisse, seiner Gleichgiltigkeit gegen alles,
was nicht unmittelbar oder mittelbar auf die Juden Bezug hat.
Die wenigen Juden, die zugleich gute Deutsche, Franzosen, Polen u. s. w.
sind, und die dem Glauben ihrer Väter wirklich treu anhängen, trifft gewöhn¬
lich im Geschäftsleben nicht der geringste Vorwurf. Und wenn ich gesagt
habe, daß die christlichen Kaufleute durchschnittlich ehrlicher seien als die
jüdischen, so kann ich hier die Gründe dafür angeben: sie ernennen eine posi¬
tive Religion an und fühlen sich eins mit der Nation, derev-Kprache sie reden.
Das ist bei dem jüdischen Bankier oder Journalisten nur ausnahmsweise der
Fall. Er setzt seinen Stolz darein, der ganzen Welt anzugehören, und dekla-
mirt mit Vorliebe von Humanität und Verbrüderung der Völker aus dem¬
selben Grunde, aus dem er sich für den Kampf gegen das Privatkapital er¬
klärt hat. Die weitesten Ziele, die weltstürmendsten Ideale sind ihm die
liebsten, weil sie den Vorzug haben, nie oder erst in fernster Zukunft erreicht
zu werden. ^.pr<Z8 nous le clöluAö! ist sein Wahlspruch, und nachdem er im
Klub oder in seiner Zeitung einige geistreiche Bemerkungen gegen das Kapital
und den Chauvinismus oder für den ewigen Frieden vom Stapel gelassen hat,
setzt er ans der Börse den ewigen Krieg gegen das fremde Kapital unermüd¬
lich in der Absicht fort, am meisten davon für sich zu erobern, und benutzt
jedes Mißverständnis zwischen Regierungen, ja jedes an sich gleichgültige Er¬
eignis, wenn es nur in der Presse entsprechend ausgelegt werden kann, je
nach seinem Vorrat von Papieren des betreffenden Staates zu Minen und
Kontreminen.
Der fromme Jude kehrt sich nicht an veraltete Talmudsatzungen, wenn
sie auch irgendwo vorhanden sind und er sie kennt; er weiß, sie sind in
einer andern Zeit entstanden und waren gegen andre Menschen, gegen die Ver¬
folger seiner Vorfahren gerichtet. Der Jude, der sich der Nation angeschlossen
-hat, unter der er lebt, sühlt Teilnahme für seine Mitbrüder, kümmert sich um
ihr Wohl und Wehe, fühlt sich eins mit ihnen, und es wäre ihm unmöglich,
andre zu übervorteilen. Wer Religion und Nationalität besitzt, findet an ihnen
den Halt, dessen der Mensch überhaupt bedarf.
Die Konfessionslosigkeit, die von dem Materialismus als moderne Re¬
ligion proklamirt wurde, wonach man das Gute um des Guten willen thun,
das Böse um des Bösen willen meiden solle — ohne Hoffnung auf Lohn
oder Strafe, ohne Glauben an Gewissen und göttliche Gerechtigkeit —, dieses
philosophische Glaubensbekenntnis hat im modernen Judentum seinen größten
Triumph gefeiert, aber auch seinen schmählichsten Schiffbruch gelitten.
Das Experiment ist gelungen: an der Brust einer kurzsichtigen mecha¬
nischen Weltanschauung hat man Menschen anferzogett, die den positiven
Glauben verlachten, die da meinten, die Deseendenztheorie habe die Nicht-
existenz eines Schöpfers bewiesen, die die armen Christen verspotteten, die
sich notwendig vor etwas beugen müßten und eigentlich Heiden wären, Heide»
im wahrsten Sinne des Wortes, die Menschen als Götter und Heilige ver¬
ehrten. Das Experiment ist aber auch schmählich mißlungen, und der Schüler
ging weiter, als es der Meister wünschte. Man verlachte mit Gott das Gute,
man bewies die Relativität aller Sittlichkeit und zog in Zweifel, ob das
subjektiv für böse Gehaltene auch das Böse an sich sei, ob es überhaupt ein
Böses an sich gebe, und somit kam man zu dem Grundsatz, daß jeder seinen
Instinkten folgen, seine Bedürfnisse befriedigen und alles, was sich ihm dabei
in den Weg stelle, bekämpfen dürfe. Die Schranken, die in Sitte und Sprache,
in Gewohnheit und Recht zwischen Nationen und Nationen bestehen, waren
für den Juden nicht vorhanden; er war durch soviele Jahrhunderte ge¬
knechtet und über den ganzen Erdboden zerstreut gewesen, daß ihn der Völker¬
zwist nichts anging. Begierig griff er daher den Gedanken der Verbrüderung
aller Völker auf, um desto gemächlicher seinem internationalen Ideal, der Geld¬
herrschaft, nachzuhängen, ^on sist wurde sein Wahlspruch in dem von sitt¬
lichen Schranken abgelösten wilden Wettbewerb.
Das muß, es muß anders werden, wenn die aufkündigen Juden nicht in
der Flut des Antisemitismus untergehen wollen. Anstatt sich aber Rechen¬
schaft darüber zu geben, was an der antisemitischen Bewegung berechtigt sei,
weisen sie dem einen oder andern Antisemitenführer nach, daß er selbst in
seinein Privatleben nicht vorwurfsfrei gewesen sei, berufen sich auf einzelne
große und verdienstvolle Männer, die die Juden Deutschland und den übrigen
Nationen gegeben haben, machen wohl auch manchmal einen Anlauf zur
Diskussion, aber dann kommen sie nicht über Phrasen und anmaßende
Schmähungen Andersdenkender hinaus. Das ist aber nicht der Weg gegen¬
seitiger Verständigung. Schluß folgt)
le beiden Bücher, die uus zur Abfassung dieses Aufsatzes Ver¬
anlassung geben/') sind nach demselben Plane angelegt, indem
beide dnrch einleitende Abhandlungen über den Begriff und die
Aufgaben des Staates sowie über seine möglichen Formen das
Verständnis für die Organisation des deutschen Reichs vor¬
bereiten, deren Darlegung den Inhalt des Hauptteils bildet. Vergleicht man
das Buch von Trieps (232 Seiten) seinem Umfange nach mit dem ausführ¬
lichen Werke Hnnels (856 Seiten Lexikonoktav), so könnte man das erste als
ein Kompendium bezeichnen, wenn ihm nicht zum kurz gefaßten Lehrbuche die
sehr wesentlichen Eigenschaften der Klarheit und Leichtverständlichkeit fehlten.
Da es, was ihm hieran fehlt, durch philosophischen Tiefsinn ersetzt, so werden
wir es eher eine Studie nennen können. Hänel schreibt klarer und befriedigt
durch die Vollständigkeit seines Werkes sowohl das wissenschaftliche wie das
praktische Bedürfnis. Die Kritik solcher Bücher gehört in Fachzeitschriften.
Hier wollen wir unsre Leser nur einladen, ein paar Gedankenreihen fortzu-
spinnen, zu denen uns beide Vorlagen mit sonderbarer Übereinstimmung an¬
geregt haben.
Das deutsche Reich stellt bekanntlich mit der Schweiz und den Vereinigten
Staaten eine eigne Klasse von Staatengebilden dar. Allerdings wären auch
noch die südamerikanischen Staatenbünde dahin zu rechnen, allein „ihrer Ein¬
reihung in irgend einen Typus der Staatenverbindungen, sagt Huret, stellt
sich die Unzulänglichkeit des Materials entgegen," und ihre Unfertigkeit, dürfen
wir wohl hinzufügen. Jene drei aber haben kurz nach einander die Ent¬
wicklung vom Staatenbunde zum Bundesstaate durchgemacht, nnter dem Zwange
derselben Notwendigkeit, insofern sich zeigte, daß der lockre und namentlich
nach außen hin ohnmächtige Bundesverband den Aufgaben nicht gewachsen
war, die ihm das Bedürfnis der Bürger seiner kleinen unzulänglichen Glieder¬
staaten stellte. Daß auch bei uns die strammere Zusammenfassung aus dem
wirklichen Bedürfnis aller Deutschen und nicht etwa bloß aus den Macht-
erweiterungsgelüsten Preußens hervorgegangen ist, braucht ja wohl heute
nicht mehr bewiesen zu werden, aber ganz besonders deutlich wird es einem,
wenn man sich bei Huret (S. 198 ff.) davon überzeugt, wie die Verfassungen
des Norddeutschen Bundes und des deutschen Reichs „an den entscheidenden
Punkten und in den Grundzügen Reproduktionen der deutschen Reichsverfassung
von 1849" sind. Wenn bei uns das den Umständen nach Mögliche und all¬
gemein als notwendig Erkannte nur durch einen Krieg verwirklicht werden
konnte, so lag das doch nur daran, daß zwei Großmächte vorhanden waren,
die beide auf die Führerschaft Anspruch machten; übrigens haben die Schweiz
und die große Union ihre schon fertige Einheit nachträglich auch noch gegen
Sonderbuuds- und Sezessionsbestrebungen mit den Waffen verteidigen müssen.
Das Merkwürdige ist nun, wie der Drang und Zwang äußerer Umstände eine
so genau übereinstimmende Entwicklung und Gestaltung auf so völlig ver-
schiedner Grundlage zu Wege bringen konnte. Nur in Deutschland haben wir
es mit einem Volke im Sinne einer national gleichartigen Masse zu thun,
einem Volke, das seit Jahrhunderten sein Land bewohnend und sich dessen
Besitz durch fleißige Arbeit jahraus jahrein aufs neue verdienend, von vorn¬
herein wo nicht auf den Einheitsstaat so doch auf den Bundesstaat den aller-
begründetsten Anspruch hatte. In der Schweiz sehn wir drei Völkerbruchteile,
deren an einander anstoßende und beim Bau der Großstaaten sozusagen übrig
gebliebne Landzipfel so günstig gelegen sind, daß sie ihren Bewohnern die
Macht des Großstaats entbehrlich machen und seine Last ersparen. In Nord¬
amerika endlich sehn wir einige Millionen englischer Kolonisten, die, mehr
durch des Mutterlandes Ungeschick als durch eigne Tüchtigkeit unumschränkte
Herren eines ungeheuern Landes geworden, ein Reich gründen, dessen Glieder
in Zukunft erst geschaffen werden sollen und nur mit Hilfe eines bunten
Völkergemisches von Einwanderern geschaffen werden können.
Das andre merkwürdige ist nun, daß während es ein Schweizervolk und
ein nordamerikanisches Volk im nationalen Sinne gar nicht giebt, aber trotzdem
der Schweizerstaat und die Union im strengsten Sinne des Wortes die organi-
sirten Bevölkerungen und ihre Verfassungen der Ausdruck ihres Willens sind,
in Deutschland das unzweifelhaft vorhandne uralte Volk hinter dem Staate
gänzlich verschwindet. Jahrzehnte hindurch sind die berechtigten Einigungs¬
bestrebungen unsers Volks von den Regierungen als revolutionär gebrand¬
markt und bekämpft worden; in der Form eines Vertrags zwischen den Re¬
gierungen, wenn auch unter dem Drucke der Volkswünsche, wurde dann der
neue Bundesstaat aufgerichtet, und noch heute stehen die verbündeten Regie¬
rungen an Macht so hoch über dein Reichstage, daß im Falle eines Konflikts
der Ausgang keinen Augenblick zweifelhaft sein könnte. Bei den herrschenden
sozialen Zuständen und bei der geographischen Lage des Reichs inmitten teils
eifersüchtiger, teils offenbar feindlicher Großmächte ist das ja wohl vor der
Hand auch das beste, aber das an sich natürliche ist es nicht. In den beiden
vorliegenden Werken ist es uns aufgefallen, wie ängstlich die Verfasser den
Namen Volk selbst an solchen Stellen vermeiden, wo er notwendig hingehört.
S. 92 und W z. B. spricht Hänel von der verschiednen Weise, wie die Über-
und Unterordnung der Behörden im Staate geregelt sein kann, und unter¬
scheidet von der absolutistischen Form, wo alle Behörden ihre Vollmacht vom
Hauptorgan empfangen, die demokratische und die konstitutionell-monarchische,
wo „wenigstens die dem souveränen Organ untergeordneten Hauptorgmie in
der nämlichen Weise wie das souveräne Hauptorgan selbst ihre Kompetenz un¬
mittelbar auf die Verfassung gründen, dergestalt, daß ein rechtliches Verhältnis
der Ableitung der Kompetenz der einen von der der andern ausgeschlossen ist."
Aus die Verfassung gründen — ja, aber von wem leiten sie ihre Kompetenz
ab? Von wem empfangen sie sie? Von der Verfassung doch nicht! Die ist
eine Regel, nach der abgeleitet und gespendet wird, aber keine Person oder
Macht, die irgend etwas verleihen, oder aus deren Fülle irgend jemand
schöpfen könnte. Wer deutlich reden will, der muß diese Person oder diese
Personen, diese Macht nenne». Entweder der Monarch oder das Volk ist die
Quelle der Befugnisse aller Behörden, oder der Monarch ist es für die einen,
das Volk für die andern. Die Vorstellung, daß irgend eine obrigkeitliche Ge¬
walt im Staate vom Volke herstammen könnte, ist ja dem Altpreußen das
denkbar anstößigste; will er doch sogar die Teilnahme des Volks an der Ge¬
setzgebung nur als den Ausfluß eines Rechts gelten lassen, das der König in
freiwilliger Selbstbeschrünkung seiner Allmacht") den Unterthanen aus Gnaden
geschenkt habe, aber als eine wissenschaftlich berechtigte Theorie kann man doch
diese Ansicht heute nicht mehr gelten lassen, wo wir die Thatsache vor Augen
haben, daß sich die Form der demokratischen Republik in zwei Grvßstnaten
als lebensfähig bewährt hat. Wir beneiden wahrlich diese Republiken nicht
um ihre Verfassungen, danken vielmehr Gott für die Gnade, daß er uns eine
Dynastie gegeben hat, die uus vor dem Unheil einer ausbeutenden Partei-,
Klassen- und Cliquenherrschaft zu bewahren vermag, indem einmal das Schicksal
jeder Dynastie an sich schon viel inniger mit dem Wohle des ganzen Volks
verknüpft ist, als das einer Partei, Vermögens- oder Berufsklasse, die Dynastie
daher um ihrer Selbsterhaltung willen das Gemeinwohl im weitesten Sinne
zur Richtschnur ihres Handelns machen muß, und indem andrerseits das seine
Verständnis für diese innige Verknüpfung im Hohenzollernhause sozusagen erb¬
lich geworden ist. Aber zum Wesen des Staats gehört die Monarchie strengster
Auffassung so wenig, daß vielmehr alle Staatswissenschaften znerst in Re¬
publiken ^ in denen des Altertums und des Mittelalters — ausgebildet
worden sind. Ja selbst sür die Festigkeit und Machtentwicklung des Staats,
die den absoluten Monarchen -i priori zu fordern scheinen, bietet die mon¬
archische Verfassung keineswegs immer die sicherste Gewähr, wie nicht allein
die Unterjochung vieler Königreiche durch die römische Republik, sondern auch
die Erschütterung und Umgestaltung des monarchischen Europas am Ende des
achtzehnten Jahrhunderts durch eine Handvoll Jakobiner und einen anfänglich
in ihren Diensten erobernden Abenteurer beweist. Die Wissenschaft darf also
nicht verschweigen, daß thatsächlich in vielen Fällen die Staatsgewalt vom
Volke verliehen und ausgeübt wird, wie klein, unwürdig und unfähig auch der
Bruchteil des Volks sein mag, dem die Vorsehung gerade im Augenblick die
Entscheidung in die Hand legt.
Jeder von den wechselnden Erscheinungen der Wirklichkeit abgezogne Be¬
griff des praktischen Lebens fordert zu seiner Ergänzung eine Idee, die dem
schwankenden Begriff als ein festes Musterbild gegenüber steht, dessen Ver¬
wirklichung alle Änderungen anzustreben haben. Wenn wir nun finden, daß
bei jeder Staatenschöpfung zwei Mächte zusammenwirken, ein Volk und eine
Dynastie, oder eine Aristokratie, oder ein genialer Mann, oder ein revolutio¬
närer Haufen, der dem dunkeln Sehnen der Menge zur Klarheit und ihren
vereinzelten Bestrebungen durch Einigung zur Macht verhilft, so erkennen wir
daraus, daß im Staatsideal dem Volke seine bestimmte Stelle angewiesen
werden muß, und daß mau sich nicht damit begnügen darf, es nur so nebenbei
und gelegentlich zu erwähnen. Namentlich über die Streitfrage nach dem
Verhältnis der Einzelstaaten zur Zentralgewalt, die den Angelpunkt aller ver-
schiednen Auffassungen des deutschen Staatsrechts bildet, wird man niemals
ins reine kommen, wenn man nicht untersucht, was das Volk braucht und,
wenn auch nur unklar, erstrebt. Wie das Verhältnis im Augenblick ist, das
sagt ja die Reichsverfassung. Aber wenn wir auch weit entfernt davon sind,
an ihr rütteln und sie ändern zu wollen, so kann sie doch so wenig wie irgend
ein andres irdisches Wesen unverändert bleiben, und die Richtung, nach der
hin sie sich verändert, hängt von dem Verfasfungsideal ab, das den leitenden
Kreisen vorschwebt. Je nachdem dieses partikularistisch oder zentralistisch aus¬
sieht, wird in jedem einzelnen Streitfalle die Verfassung ausgelegt, und jede
solche Auslegung begründet ein Gewohnheitsrecht, wodurch die Verfassung ganz
leise und allmählich in dem einen oder dem andern Sinne umgebildet wird.
Von den beiden vorliegenden Werken läßt sich nun zwar soviel sagen,
daß das Hänelsche mehr dem Einheitsstaate und das von Trieps mehr dem
Staatenbunde zuneigt, aber ein Ideal stellen sie nicht auf, durften sie vielleicht
auch nicht aufstellen, weil dann den Verfassern der Vorwurf hätte gemacht
werden können, daß sie statt wissenschaftlicher Werke Parteischriften geliefert
hätten. Aber das Volk kann eines Ideals nicht entbehren. Auf die gegen¬
wärtige Stufe unsers Staatslebens sind wir mit Hilfe von zwei Idealen ge¬
langt: dem großdeutscheu und dem großpreußischen, die einander so lange be¬
kämpften, bis es sich zeigte, daß das zweite von der Vorsehung als Werkzeug
ausersehen sei, das erste wenigstens teilweise zu verwirklichen. Nun fragt es
sich, in welchem Sinne der politische Vildungs- und Umbildungsprozeß in
unserm Baterlande weiter gelenkt werden soll. Gar keine Anhaltspunkte dafür
bietet Trieps. Wie wenig sich mit seinen vorsichtig gewundnen Sätzen an¬
fangen läßt, mag folgende Probe zeigen. „Die Teilung der staatlichen Auf¬
gaben unter mehrere Rechtssubjekte bedingt daher die rechtliche Möglichkeit
einer zwiefachen Gebietshoheit mit der Maßgabe, daß die Zuständigkeit der
beiderseitigen Staatsgewalten entscheidend ist, daß in Anwendung auf die vor¬
liegenden Bundesverhältnisse, die Kompetenzgrenze zwischen Reich und Einzel-
Staat zugleich die Grenze bildet, die die Gebietshoheit des Reichs am Reichs¬
gebiete von der Gebietshoheit des Einzelstaats am Staatsgebiete rechtlich
scheidet, und übereinstimmend damit, daß freilich gleich dem doppelten Eigen¬
tums das Nebeneinanderbestehen mehrerer allgemeiner Herrschaftsgewalten auf
demselben Gebiete ausgeschlossen ist, daß dagegen nach dem Vorgange der
privatrechtlichen Personalservituten die Ausscheidung von Spezialrechten aus
der allgemeinen Herrschaft möglich erscheint, die auf gleicher absoluter Grund¬
lage im Anschlusse an die sachliche Kompetenz mit Bezug auf das Territorium
die Konkurrenz einer doppelten Gebietshoheit in dem Nahmen der beiderseitigen
Rechte zur Folge hat."") Weit offner sagt Hänel, wie ers meint. „Der Unter¬
schied der Größenverhältnisse zwischen den einzelnen deutschen Staaten, die
Vormachtstellung Preußens stellte die Aufgabe, in die Struktur des Bundes-
staats ein hegemonisches Element einzufügen. Nur durch den Nachweis der
rechtlichen Gestaltung der preußischen Hegemonie wird der Begriff des Bundes-
ftacits für Deutschland über ein abstraktes Schema hinausgehoben. Unter
fünfundzwanzig deutschen Einzelstaaten sind zweiundzwanzig monarchisch orga-
nisirt. Vou jeher aber galt es als ein unlösbares Problem, Monarchien in
eine über den Staatenbund hinaus liegende Verbindung einzufügen. Ju der
That — der Begriff der Monarchie, wie er über den Einheitsstaat ab¬
gezogen ist, das monarchische Prinzip, wie es fordert, »daß die gesamte Staats¬
gewalt in dem Oberhaupt des Staats vereinigt bleibe« (Wiener Schlußakte
a. 57), ist unvereinbar mit der Unterordnung von Monarchien und Monarchen
unter eine Staatsgewalt. Beide können, wenn nicht der gleiche Name eine
vollkommne Umgestaltung des Begriffs und des Wesens nur verdecken soll,
unter dem Vundesstaate nicht besteh» in den Einzelstaaten, sie können nur sich
wiederfinden in der Organisation der Reichsgewalt. Die Monarchie im Sinne
eines festen wissenschaftlichen Begriffs ist in Deutschland, allen verdunkelnden
und beschönigenden Redensarten zum Trotze, nur darstellbar im Kaisertum
und nirgends sonst. An den verfassungsmäßigen Attributen des Kaisertums
allein entscheidet es sich, ob die Monarchie in Deutschland besteht oder nicht
besteht." Daraus tritt nun allerdings ein Ideal deutlich genug hervor: der
preußische Einheitsstaat, in dem Deutschland aufgehn soll; allein dieses Ideal
ist nicht das unsre, wir glauben nicht, daß es der Natur, den Vedürfnisfen
und berechtigten Wünschen des deutschen Volks entspreche. Denn, wie gesagt,
aus dem Begriffe des Staats allein und ohne Rücksicht auf das bestimmte
Volk, um das es sich handelt, läßt sich das richtige Ideal nicht gewinnen.
Was will unser deutsches Volk, was braucht es zu seinem Gedeihen?
Das ist die entscheidende Frage. Und wenn es dem absoluten Staate, der ja
für seine Zeit gut war und unabweisbare Aufgaben zu erfüllen hatte, so ziem-
lich gelungen ist, dem Volte sein Bewußtsein von sich selber zu nehmen und
damit auch den Volkswillcn zu vernichten, so muß unser Volk jetzt an der
Erkenntnis seiner Bedürfnisse wieder wollen lernen. Das deutsche Volk will
also gleich jedem andern Volke, oder hat zu wollen: Unabhängigkeit vom Aus¬
lande, Einrichtungen, die ihm die volle Ausnutzung seiner Bodenschätze, seiner
eignen körperlichen und geistigen Kräfte zur Befriedigung seiner leiblichen und
geistigen Bedürfnisse ermöglichen, die seiner Eigenart entsprechende Kultur und
Lebensweise, so viel Anteil an der Beherrschung des Erdballs, als zur Be¬
friedigung seiner Bedürfnisse nötig ist. Diese Leistungen, die das deutsche
Volk fordern muß, kaun auf die Dauer nur ein souveränes Zentralorgan über¬
nehmen, von dem es an sich gleichgiltig ist, ob es König von Preußen oder
deutscher Kaiser heißt, das aber unbedingt eine einzelne Person sein muß. Die
„verbündeten Regierungen" sind nur unter der Voraussetzung ein weniger un¬
taugliches Organ, als der alte Bundestag war, daß der Kaiser, der im König
von Preußen steckt, bei wichtigen Entscheidungen niemals überstimmt wird,
und diese Voraussetzung ist nur dann vorhanden, wenn entweder eine über¬
legne Persönlichkeit, mag es nun der Kaiser selbst oder ein Bismarck als Kanzler
sein, jeden Widerstand der übrigen Bundesglieder beugt und bricht, oder wenn
die deutschen Fürsten Einsicht und Patriotismus genug haben, ihr Stimm¬
recht nie im Interesse ihrer Teilsouveränität zu gebrauchen, sondern diese dem
Gemeinwohl unbedingt unterzuordnen. Andernfalls ist nicht einmal in der
Kriegsgefahr die Einheit gesichert, denn in Artikel 11 der Reichsverfassung
heißt es: „Zur Erklärung des Krieges im Namen des Reichs ist die Zustim¬
mung des Bundesrath erforderlich, es sei denn, daß ein Angriff auf das
Bundesgebiet oder dessen Küsten erfolgt." Wie, wenn die Fürsten der Mittel-
und Kleinstaaten sagen: Preußen hat den Angriff herausgefordert, es mag ihn
allein abwehren? Und ist denn der Fall undenkbar, daß das deutsche Volk einmal
gezwungen würde, um seiner Selbsterhaltung willen einen Angriffskrieg zu
führen?
Wir sind also mit Hänel der Ansicht, daß es nur eine wirkliche Sou¬
veränität im Reiche geben darf, die des Kaisers. Aber das deutsche Volk
ist keine ganz gleichartige Masse. Seine Verzweigung in Stämme gehört zu
seinem Wesen, und auf die Erhaltung dieses Wesens hat es einen Anspruch;
es würde sich selbst aufgeben, würde sich bereit erklären, ein andres Volk zu
werden, wenn es diesen Anspruch aufgeben sollte. Der fränkische Bauer hat
ein andres Erbrecht als der sächsische, der Oberbaier, der Rheinfranke, der
Alamanne haben ein andres Temperament und eine andre Art, sich zu Ver¬
gnügen, als der schwerfällige Bewohner der nördlichen Küsten, dazu kommen
die konfessionellen Unterschiede und mancherlei Verschiedenheiten der Lebens¬
weise, die in der verschiednen Beschaffenheit der deutschen Landschaften wurzeln.
Wären nun die deutschen Fürsten Stammesherzöge, berufen, unter dem sou-
veralten Kaiser die berechtigten Verschiedenheiten der Landschaften und Pro¬
vinzen zu wahren und dafür zu sorgen, daß ihnen die Gesetzgebung gerecht
werde, so würden sie notwendig und der Idee nach in die Reichsverfassung
hineingehören. Das ist aber nicht der Fall; die Einzelstaaten decken sich keines¬
wegs mit den Stämmen. Nicht bloß das große Preußen, sondern auch Vaiern
und Baden vereinigen Menschen verschiednen Stammes. Die Grenzen namentlich
der allerkleinsten Staaten sind nicht von irgend einer innern Notwendigkeit,
nicht vom Volksbedürfnis gezogen worden, sondern nach den Grundsätzen des
privaten Eigentumserwerbs sind die Gebiete dieser Staaten durch Vererbung
und Erbteilung, durch Kauf, Verkauf und Verpfändung, durch Tauschgeschäfte
und Prozesse, durch Kriege und Fehden bald vergrößert bald verkleinert und
willkürlich zerstückt worden ohne Rücksicht auf die darin wohnenden Menschen,
bis sie endlich, rein zufällig, ihre heutige Gestalt und ihren gegenwärtigen
Umfang erhalten haben. Wenn es daher auch mit Rücksicht auf die in
den Jahren 1866 und 1870 obwaltenden Umstände ein Akt hoher politischer
Weisheit war, das deutsche Reich auf keine andre Weise zu gründen als in
der Form eines Vertrages zwischen den damals zufällig vorhandnen Fürsten,
so darf doch dem deutschen Volke das Bewußtsein nicht abhanden kommen,
daß die vor der Hand allein mögliche Art seiner Einigung weder seinem
Einigungsbedürfnis noch seinem Anspruch auf die Wahrung seiner Stmnmes-
verschicdenheiten in den die Sicherheit und das Gedeihen des Ganzen nicht
berührenden Dingen hinlänglich gerecht wird. Aus diesen begründeten An¬
sprüchen des Volkes heraus ist das Ideal zu schöpfen, dem die zukünftige
Fortentwicklung des Reichs zuzustreben hat. Die Freunde des Staats dürsen
niemals vergessen, daß es keine größere Gefahr für diesen giebt, als wenn
er und das Volk auseinanderfallen. Fehlt dabei dem Volke das Selbst¬
bewußtsein, dann ist der Staat ohnmächtig, und ein Sturm wirft ihn über
den Haufen; fo erging es den deutschen Staaten um das Jahr 1800.
Erwacht aber das Volk zum Bewußtsein, so organisirt es sich gegen den
ihm fremd oder gar zum Feinde gewordnen Staat, wie Schmidt-Warneck
mit Beziehung auf die Sozialdemokratie in der beachtenswerten Schrift „Was
fordert die Menschennatur vom Staate?" (Vraunschweig, Grüneberg, 1890)
ausführt.
Noch mehr als das Volk scheint das Land den Blicken der modernen
Staatsrechtslehre zu entschwinden. Selbstverständlich versäumt es keiner zu
sagen, daß, wie Trieps sich ausdrückt, „Land und Leute die thatsächlichen
Unterlagen jedes Staates sind," und Hänel definirt den Staat als Gebiets¬
körperschaft.' Allein der Bedeutung des Landes für Volk und Staat wird
keiner gerecht. Seite 120 und 121 zählt Huret die Elemente des Staats auf
und sagt in Beziehung auf das Land: „Endlich ist das Gebiet des Staates
ein seine Struktur bedingendes ^ und bestimmendes Element. Seine recht-
liebe Bedeutung ist es, die Wirksamkeit des Staates nach außen abzugrenzen,
nach innen zu gliedern, vor allem aber seine Herrschaft auf alle seinem Gebiete
Einwohnenden ohne Unterschied ihrer Mitgliedschaft oder ihres Fremdseins
zu erstrecken." Nur als Gebiet und Machtbereich also kommt das Land für
die Staatsrechtslehrer in Betracht, als der Raum, worin der Staat seine
Wirksamkeit entfaltet und der seine Macht begrenzt. Indem Hänel nur die
„rechtliche Bedeutung" des Gebiets angiebt, setzt er allerdings voraus, daß
auch noch andre Bedeutungen vorhanden sind, die seiner Ansicht nach nicht
ins Staatsrecht gehören. Es fragt sich aber doch, ob die Politik ohne diese
andern Bedeutungen wird fertig werden können.
Das Vaterland ist nicht ein Gebiet wie etwa die Zuständigkeit einer Be¬
hörde, die aus der Herrschaft über gewisse Personen besteht, gleichviel, wo
sich diese befinden. Das Vaterland ist auch nicht ein bloßer Raum sür die
Entfaltung bewegender Kräfte wie ein Fußballplan oder ein Schießplatz, bei
dem es gleichgiltig ist, ob seine Unterlage aus Kies, ans Lehm oder aus
Rasen besteht. Sondern das Vaterland ist ein wirkliches Land, es besteht
aus Gestein, das mit Pflanzenwuchs bedeckt ist, enthält Berge, Thäler und
Ebnen, stehendes und fließendes Gewässer, Wälder und Wiesen, Äcker und
Gärten und allerlei Gebäude. Dieses Land ist nicht bloß „Unterlage" des
Staats, sondern vor allem die Daseinsbedingung und der Nährboden des
Volkes, und zwar in doppelter Weise. Materiell, indem die Mcnschenleiber
aus Erde gebildet sind, und zur Bildung und Erhaltung jedes einzelnen
Menschenleibes eine gewisse Menge Humus erforderlich ist, etwa soviel, als
aus einer zwei Morgen großen Fläche ausgebreitet zu sein Pflegt, sodaß die
in einem Staate mögliche Menschenmenge von der Größe seiner Humusflüche
abhängt. Dann geistig, indem Landschaft und Klima zusammen den Volks¬
charakter erzeugen oder wenigstens sehr stark beeinflussen. Diesen Nährboden
seines leiblichen und geistigen Lebens kann sich nun ein Volk auf keine andre
Weise sichern, als indem es jedem Volksgenossen den Besitz oder wenigstens
den Genuß von einem bestimmten Teile des Landes sichert. So haben alle
alten staatengründenden Völker, so haben die Griechen und Römer, so die
binden bei der Eroberung Palästinas, so die Germanen bei ihren Niederlassungen
und bei der Abgrenzung der Gebiete ihrer Markgenossenschaften, so unsre Bor¬
fahren bei der Kolonisation im slawischen Osten das Verhältnis des Volks
und Staats zum Lande verstände», und so verstehn es noch heute die Staats¬
männer drüben überm Ozean, die da rufen: Amerika für die Amerikaner!
Daß auch bei uns noch Verständnis für das richtige Verhältnis vorhanden
^se, wird sowohl durch unsre Poesie wie durch die Begeisterung des Volks
in den Jahren 1813 bis 1815, 1848 und 1849, 1864, 1866 und 1870 und
durch manche soziale Refvrinbewegungen der letzte» Jahre bezeugt. Aber, in
der Politik macht sich dieses Verständnis kaum bemerkbar, geschweige denn,
daß es sich irgend einmal Geltung verschafft hätte. Wenn man es ganz
natürlich findet, daß die Menschen nicht mehr auf der Erde, sondern in Türmen
über einander geschichtet Hausen, und nur etwa aus Rücksichten der Sitt¬
lichkeit und der bessern Polizei gegen diesen Zustand protestirt, wem? man
es für selbstverständlich hält, daß Millionen Volksgenossen erst Kadaver werden
müssen, ehe sie ihren Anspruch auf einen zehn Quadratfuß großen Anteil an
ihrem Vaterlande verwirklichen können, wenn die urkvnservative Ansicht, daß
die Grube eigentlich dem Bergmann gehören müsse, der ihre Schätze erschließt,
wie es auch in den Anfängen des dentschen Bergbaus gewesen ist, als re¬
volutionär und höchst staatsgefährlich gebrandmarkt werden kann, wenn die
Staatsweisen, Volkswirtschaftslehrer und Zeitungsschreiber das deutsche Volk
mit seinem Unterhalt auf das trügerische und unheimliche Gespenst der In¬
dustrie verweisen anstatt auf seinen vaterländischen Acker, so sind das genug
Beweise dafür, daß man den Staat in die Luft zu bauen im Begriff steht,
anstatt auf den Erdboden. Wäre es anders, so würden in den Regieruugs-
kollegien und gesetzgebenden Versammlungen Fragen auf der Tagesordnung
stehen wie die: Wo liegen die vier Millionen Morgen Acker, die die Stadt
Berlin braucht? In der deutschen Politik der letzten Jahrzehnte ist die richtige
Auffassung eigentlich nur zweimal zu Worte gekommen, in der Luxemburger
Frage, wo Vismarck den Grundsatz aufstellte, daß kein Fuß breit deutscher
Erde preisgegeben werden dürfe, und in der Absperrung unsrer östlichen Grenze
gegen die Einwanderung aus Rußland. Es ist aber noch fraglich, ob die
Politiker, die Bismarcks Politik in diesen beiden Punkten mit freudiger Zu¬
stimmung begrüßt haben, dabei wirklich das Grundverhältnis zwischen Volk
und Land oder nur die deutsche Ehre, die ja auch uns hochsteht, und mili¬
tärische oder andre ganz äußerlich politische Rücksichten vor Augen hatten.
Von der richtigen Auffassung dieses Verhältnisses zwischen Volk und Land
wird über kurz oder lang der Ausfall sehr wichtiger Entscheidungen abhängen.
Im ritterschaftlichen Anteile Mecklenburgs muß ein Teil des Bodeus unbenutzt
oder schlecht benutzt liegen bleiben, weil es an Arbeitern fehlt. Die erblich an¬
gesiedelten Arbeiter der Rittergutsbesitzer finden die Bedingungen, unter denen
sie zu arbeiten gezwungen sind, unerträglich und wandern aus. In den Kreisen
der mecklenburgischen Rittergutsbesitzer, wenn wir nicht irren anch in einer land¬
wirtschaftlichen Versammlung einer preußischen Provinz, ist nun die Frage auf¬
geworfen worden, ob es sich nicht empfehlen würde, chinesische Kukis einzuführen.
Dieser Vorschlag ist zwar überall, wo er bekannt wurde, der gebührenden Ent¬
rüstung begegnet, aber aussichtlos ist er durchaus nicht, wenn dem deutschen
Volke sein Verhältnis zu seinem Lande nicht klar wird. Wir haben kein Land
für Fremde übrig, auch nicht eiuen Fuß breit! Hätten wir übriges Land, so
könnte es unter Umständen ein Vorteil für uns sein, nach dem Beispiele des
Großen Kurfürsten etliche tausend Morgen an fremde Kolonisten zu verschenken.
Aber in einer Zeit, wo ein paar Millionen Volksgenossen Hunger leiden, mit
den Früchten unsers Bodens Fremde nähren, wäre Verbrechen, doppelt Ver¬
brechen, wenn diese Fremden dem ekelhaften und verdorbnen Volke der Chinesen
angehören. Es ist nicht erlaubt, den Kindern das Brot zu nehmen und es
den Hunden vorzuwerfen; es ist noch weniger erlaubt, die Volksgenossen vom
vaterländischen Boden zu vertreiben und Ungeziefer darauf anzusiedeln. Der
Volkswille, verkörpert in den Regierungen, muß die mecklenburgischen Ritter
zwingen, ihren deutschen Arbeitern erträgliche Lebensbedingungen zu bewilligen.
Etwas anders liegt die Sache bei der Sperrung unsrer Ostgrenze. Die
Frage, ob es richtig war, auch die schon seit langer Zeit bei uns ansässigen
Einwandrer auszuweisen, soll hier nicht untersucht werden. Allein die Ab¬
wehr weitern Zuflusses ist durch die oben erwähnte Thatsache, daß wir kein
Land für Fremde übrig haben, zweifellos gerechtfertigt, und doppelt gerecht¬
fertigt, wenn diese Fremden polnische Juden sind, die uns keinerlei Nutzen ge¬
währen, und außerdem, daß sie unnütze Mitesser sind, anch noch mannigfachen
wirtschaftlichen und sittlichen Schaden zufügen. Nicht dasselbe läßt sich von
den polnischen Arbeitern sagen. Es ist uns kein Fall bekannt, wo Deutsche,
die mit Slawen zusammen wohnten, deren nachlässige und liederliche Gewohn¬
heiten angenommen hätten, dagegen Pflegen die Slawen die ordentlichen Ge¬
wohnheiten der Deutschen anzunehmen. Nun behaupten die Landwirte der
östlichen Provinzen, sie könnten den polnischen Arbeiter nicht entbehre!?, weil
sie keine solche Arbeitslöhne und Wohnungen zu gewahren vermöchten, wie
sie der anspruchsvollere Deutsche oder in Preußen germanisirte Pole fordert.
Nehmen wir an, das sei wahr, so würde auf die Dauer die Zulassung russisch-
poluischer Arbeiter nicht verweigert werden können; zeit- und stellenweise ist
sogar die Erlaubnis schon erteilt worden. Nun entsteht aber der Widersinn,
daß die Einwanderung Fremder notwendig wird, während das Land die Ein¬
heimischen nicht zu ernähren vermag. Dieser Widersinn kann nur dadurch
aufgehoben werde», daß Deutsche in noch größerer Anzahl nach Rußland wan¬
dern, um dort Stellungen zu finden, die ihrer höhern Bildung und ihren
höhern Ansprüchen angemessen sind. Dann ist, wie wir in anderm Zusammen¬
hange schon wiederholt dargelegt haben, allen Teilen geholfen. Wie wenig
der deutsche Nationalcharakter in jenen Gliedern des deutschen Volks gefährdet
werden würde, die sich als herrschende Minderheit über den slawischen Osten
ausbreiten würden, sieht man an den 200 000 baltischen Deutschen, die mitten
unter Fremden sechshundert Jahre lang ihre deutsche Art weit reiner bewahrt
haben als wir im Reiche. Aus der richtigen Auffassung des Verhältnisses
zwischen Volk und Land folgt also, daß der Volkswille darüber zu entscheiden
hat, ob vaterländischer Boden an Fremde abgetreten werden darf, ob und
unter welchen Bedingungen Fremde zu seiner Nutznießung zugelassen werden
dürfen, ob neues Land hinzuerworben werden soll.
Daran zu erinnern, wie wichtig es sei, daß der Staat nicht als Kunst¬
produkt auf einem luftigen Gestell wissenschaftlicher Begriffe schwebe, sondern
als das organisirte Volk fest im vaterländischen Boden wurzle, war der Zweck
dieser Betrachtung.
aß dir eine Geschichte erzählen, lieber Leser. Eine Reisegeschichte
aus dem Jahre 1891, die den Vorzug hat, nicht nur lustig,
sondern auch wirklich und wahrhaftig wahr zu sein. Und die
Moral von der Geschichte laß dir ausnahmsweise im voraus
geben; sie steht bei Hölderlin im Hhperion. „Meine Insel war
mir zu enge geworden, ich wollt in die Welt. Geh vorerst mich,
Smyrna, sagte mein Vater, lerne die Künste der See und des Krieges, lerne die
Sprache gebildeter Völker und ihre Verfassungen und Meinungen und Sitten und
Gebräuche. Lern auch ein wenig Geduld, setzte die Mutter hinzu." Das ist die
Moral: lerne Geduld, lieber Leser! Übe dich in der Geduld, suche Meister zu
werden in der Geduld. Geduld, das ist was! Du weißt nicht, wie bald du
dieses Etwas gebrauchen kannst, sei es, daß dich der liebe Gott einmal bei¬
seite nähme und allein sprechen wollte, sei es, daß du — ach, erschrick nur
nicht, aber es kommt etwas schreckliches! — auch einmal in die Lage kämest,
eine Reise thun zu müssen von Wilhelmshaven nach Norden.
Die Entfernung von der berühmten neuen Stadt Wilhelmshaven nach
der berühmten alten Stadt Norden beträgt ungefähr sechzig Kilometer. Das
scheint keine so ungeheuerliche Reise befürchten zu lassen. Aber der Schein
trügt. In Deutschland betrügt die Eisenbahnfahrgeschwindigkeit für Schnell¬
zuge — aber lassen wir Schnellzuge außer Betracht; was wollen wir uns
mit ihnen aufhalten? Man kennt sie hierzulande ja doch nur vom Hören¬
sagen. Es geht uns mit ihnen wie den guten Leuten zu Kirchberg. Kennst
du Kirchberg, lieber Leser? Sage nur getrost: nein! denn es ist eine der
kleinsten unter den Städten Deutschlands und liegt noch dazu auf dem Huns-
rück, hoch oben, wo sich die Füchse und die Wölfe gute Nacht sagen. Bei
solcher Lage außerhalb des großen Weltverkehrs ist es kein Wunder, daß die
Errungenschaften der modernen Kultur etwas laugsam und zunächst nur ge¬
rüchtweise nach Kirchberg dringen. So hatten denn die Kirchberger auch ein
dunkles Gerücht vernommen, man munkle draußen in der Welt von Chaisen
und von Regenschirmen. Aber gesehen hatte noch keiner etwas von solchen
Wunderdingen. Nun verirrte sich eines schönen Tages ein fremder Reisender
nach Kirchberg, und da es regnete, spannte er seinen Schirm auf. Und siehe
da! alsbald hatte er die ganze Dorf-, wollte sagen Stadtjugend hinter sich;
die lief ihm nach und rief im Tone höchster Überraschung: Ein Chaise,
ein Chaise!
Also reden wir nicht von Schnellzügen, schon um nicht abenteuerliche
Vorstellungen bei unsern Freunden, Mitbürger» und Landsleuten zu erregen.
Für Personenzüge beträgt die Eisenbahnfahrgeschwindigkeit — ich muß das
Wort noch einmal gebrauchen, schon weil es ein so herrliches deutsches Wort
ist, dem gegenüber das griechische Wort Eilikrineia das reine Waisenkind ist,
und doch' hat das Jung-Stilling noch in seinem achtundzwanzigsten Lebens¬
jahre durch seinen Wohlklang und seinen Liebreiz angetrieben, sich hinzusetzen
und Griechisch zu lernen; und er hats auch richtig fertig gebracht. Also die
Eisenbahnfahrgeschwindigkeit für Personenzüge betrügt in der Stunde gerade
sechzig Kilometer, mithin genau die Entfernung, um die es sich hier handelt.
Steigungen von ungewöhnlicher Steilheit haben wir hierzulande nicht zu
befürchten; demnach können wir in etwa einer Stunde hinkommen. Wir wollen
aber zuvorkommend gegen die Eisenbahn sein und zwei Stunden rechnen, also
das doppelte. Da wir min um sieben Uhr in Norden sein sollen, so scheint
es, daß wir vollauf Zeit haben müssen, wenn wir den Nachmittagszug wählen,
der drei Uhr dreißig Minuten in Wilhelmshaven abfährt. Aber das ist wieder
nur Schein; denn ein Blick ins Kursbuch belehrt uns, daß wir mit dem Nach-
mitwgsznge erst sieben Uhr fünfunddreißig Minuten ankommen, für unsern
Zweck also eine gute halbe Stunde zu spät. Doch das möchte noch hingehn,
wenn man nur auch wirklich in Norden wäre, wenn es heißt: Norden! Aber
weit gefehlt: man ist dann' einsam, allein auf weiter Flur. Der Bahnhof
liegt nämlich eine Viertelstunde von der Stadt entfernt. Warum? ist nicht
einzusehn.
Es scheint ein Erb- und Familienfehler der Bahnhöfe Deutschlands zu
sein, daß sie sast alle eine Viertelstunde von der dazugehörigen Stadt entfernt
liegen. Was die großen Ströme anlangt, so meinte jener Dorfschulmeister in
der Geographiestunde, es sei sehr weise eingerichtet, daß sie immer dicht an den
großen Städten vorbcifließeu. Die großen und auch die kleinen Bahnhöfe
aber sind, wie es scheint, zu spät gekommen, als jene Weisheit verteilt wurde.
Nun sitzen sie zwar nicht, wie der Dichter, in den Wolken, aber wie der Kiebitz
und wie der bekannte einsame ostfriesische Deichhammel ans freiem Felde.
Ja warum? Ob es wohl mit der liebenden Fürsorge der Bahnverwal-
tung für das geehrte Publikum zusammenhängt? Ob sie den Reisenden wohl
Veranlassung zu gesunder Bewegung im Freien verschaffen will? Welch eine
herrliche Gelegenheit, sich in frischer Luft im Dauerlauf zu üben, wenn der
Weg zum Bahnhofe so weit ist! Du meinst, die biete sich anch anderweit?
Gewiß, aber wer nützt sie da? Wer ist so gewissenhaft? so tugeudsam? Herr¬
lich sang mit Bezug hierauf einst der königliche Säuger an der Jsar:
Schön ists, Wenns schon ist, im Sommer spazieren zu mehr, und man thuts auch;
Aber im Winter ists kalt; teils kommt man so nicht dazu.
Und eben weil man so nicht dazu kommt, darum haben offenbar die weisen
Eisenbahnväter die Bahnhöfe so weit von den Städten entfernt angelegt. Die
Bahn selbst verliert ja nichts dabei; wer reisen will, reist doch, die Leute
"Nissen ihr kommen. Und wenn der Berg nicht zu Muhammed kommt, so
muß sich ^,en Muhammed entschließen, zur Berge zu gehn. Dann ist er
wenigstens hie und da einmal genötigt, seinen Spaziergang zu machen. Er
würde sonst am Ende doch nur beim Frühschoppen sitzen, was Muhammed
bekanntlich streng verboten und auch Exzellenz Windthorst sehr mißbilligt hat.
Ich glaube gar, er hat es für unmoralisch erklärt. Jedenfalls ist es teuer.
Für ungesund wird es auch vielfach gehalten. Gesunder ists entschieden, sich
in frischer Luft zu ergehn; je schneller, desto besser, dann kommt das Blut in
Bewegung. Daß man sich auf dem weiten Wege zum Bahnhof leicht erhitzen
und sich dann in dem zugigen Eisenbahnwagen dritter Klasse leicht einen Hexen¬
schuß erster Klasse holen kauu, scheint freilich bei der Rechnung außer Acht
gelassen worden zu sein. Wer kann aber auch an alles denken? Außerdem
steht es ja jedem frei, ja es dürfte sogar jedem zu empfehlen sein, bei Berech¬
nung der Zeit einen ordentlichen Sicherheitskvvfsieieuten in die Rechnung zu
nehmen, damit man gemächlich und gemütlich und ohne Hitze und Aufregung
rechtzeitig den vielbegehrten Rückecksitz einnehmen kann.
Es bleibt uns also nichts andres übrig, als in den sauern Apfel des
Vormittagszuges zu beißen. Deun nicht das doppelte von einer, wir müssen
mehr als das doppelte von zwei Stunden rechnen, um das gewaltige Hindernis
von sechzig Kilometern „per" Eisenbahn zu nehmen: vier Stunden und ein-
undzwanzig Minuten!
Es fängt aber auch gleich darnach an. Denn kaum hat der Zug den
Bahnhof von Wilhelmshaven verlassen, so steht er auch schon wieder still, und
wir müssen Baut über uus ergehen lassen. Doch schweigen wir von Baut,
auch von Mariensicl, denn noch sind unsre Vorsätze der Geduld zu neu und
zu frisch.
Aber in Sande, da beginnen die Geduldsproben schon ernstlicher zu
werden. Eben haben wir die „Fahrkarte" ins Portemonnaie gethan, dieses
in die Tasche gesteckt und mit Mühe den Winterüberzieher wieder zugeknöpft,
da werden wir abermals um die „Fahrkarte" gebeten. Meine haben Sie schon
gehabt — mit diesen Worten versuchen wir an der Gefahr vorbeizusteuern.
Ich noch nicht! lautet die Antwort, und das zweite Loch wird geknipst, wie¬
wohl wir kaum zehn Kilometer gefahren sind. Nachdem wir also wieder auf-
und wieder zugeknöpft haben, denken wir, und ich denke wir haben einiges
Recht zu solchem Gedanken: Jetzt gehts weiter! Aber nein, jetzt warten wir
erst noch ein Viertelstündchen. Wie wäre dir bei dieser Botschaft gewesen,
lieber Leser, zum Lachen oder zum Weinen? Ich wappnete mich mit philo¬
sophischem Gleichmut und sagte mir, daß wir immer gut thun, menschliche
Dinge weder zu belachen noch zu beweinen, sondern daß wir versuchen sollen,
sie zu begreifen. Zu lachen war freilich auch nichts, und zu weinen schickt
sich für Männer nicht. Die Männer bei Homer heulen zwar manchmal ganz
entsetzlich, aber das ist lange her; jetzt, zu Ende des neunzehnten Jahrhunderts,
sind die Männer männlicher. Es bleibt also nichts weiter übrig, als zu ver¬
suchen, ob wir die fünfzehn Minuten begreifen können. 'I?out ooiuvrönärö,
e'sse tont xg-rcionner. Es ist zwar ein französisches Sprichwort, aber es hat
anch für Deutschland seine Wahrheit. Wenn der deutsche Jüngling erst ein¬
mal den Grund von einer Sache einsieht, wartet er gern ein Viertelstündchen.
Der Grund aber scheint hier der zu sein, daß erst noch ein Zug von Olden¬
burg kommt. Warum wir dann freilich nicht fünfzehn Minnten später von
Wilhelmshaven weggefahren sind? Wir unterdrücken solche rebellische Ge¬
danken, die Tugend siegt, die Geduld behält die Oberhand.
Und das ist gut. Denn wir sind ja ganz und gar, einzig und allein
auf die Geduld angewiesen. Wir wollen also den Versuch machen, auszu¬
schauen und uns die Gegend zu besehen. Ach Gegend! Zum Glück fällt uns
noch rechtzeitig ein, daß es hier gar keine Gegend giebt, gar keine geben kann.
Denn da, wo jetzt der Bahnhof von Sande steht, wälzte einst die Jade etwa
hundert Jahre lang ihre sturmgepeitschten Fluten. Bis nahe an die Kirche
von Sande hatte ja die Antoniusflut 1511 das Land dem Meere gewonnen,
und nur nach und nach ist es dem Meere wieder abgewonnen worden. Das
giebt nun zwar guten Marschboden und fette Bauern, aber keine Gegend.
Und wo die nicht ist, da giebts auch keine Aussicht. Also lassen wir nur
das Fenster zu und fassen wir uns in Geduld. Wir sind ja so geduldig!
Sehr von uns selbst überzeugt, setzen wir uns endlich auf Jever in Be¬
wegung. Laß mich schweigen, lieber Leser, von der Enttäuschung, die uns
schon nach fünf Minuten wieder Sanderbusch bereitet, denn da halten wir
wieder, und in Ostiem auch. Der Vizeadmiral Vatsch hat neuerdings eine
Lebensbeschreibung des Organisators der deutschen Kriegsmarine, des Prinzen
Adalbert von Preußen, herausgegeben. Dieser Prinz war durch seine Mutter
Marianne, die unter dem Namen Prinzeß Wilhelm von Preußen am bekann¬
testen ist, mit dem Fürstenhause Hessen-Homburg verwandt. Mit Stolz
rühmte er es, daß eine so stattliche Reihe seiner homburgischen Oheime in
den Freiheitskriegen mitgefochten und immer und überall im Vordertreffen ge¬
standen hatte, und mit besondrer Genugthuung erfüllte ihn, daß einst dem
Kaiser Napoleon nach einer Niederlage der Ausruf entfuhr: Überall ein Hom¬
burg! So können wir hier sagen: Überall ein Bahnhof! Wenigstens eine
Haltestelle. Gehalten wird unfehlbar. In Heidmühle sogar recht lange. Von
welchen Strapazen sich das Vahnpersonal hier ausruhen mußte, war ich be¬
scheiden und geduldig genug, nicht zu fragen. Ich vermute aber, die Männer
wollten sich bloß stärken und vorbereiten auf die Ruhepause von zehn, gut
zehn Minuten, die in Jever auf sie wartete."
Natürlich liegt auch der „Bahnhof Jever wieder in unnatürlicher Ent¬
fernung von der Stadt gleiches Namens. Sonst könnten wir wenigstens die
für uns unfreiwillige Ruhe dazu verwenden, die Getreuen von Jever oder
Edo Wiemken den Jüngern oder seine noch jüngere Tochter Maria im Vorbei¬
gehen zu besuchen. Aber so sind wir verurteilt, nur weitere Übungen in der
Geduld anzustellen. Das können wir denn auch, und zwar indem wir nun
schon immer anfangen, unsre Hoffnungen auf „Köln, rechtsrheinisch" zu setzen.
Wir müssen doch bald in Wittmund sein, und da fängt Köln rechtsrheinisch
an. Preußen ist bekanntlich schneidig, und alles, was rheinisch heißt, ist erst
recht schneidig. Also hoffen wir ans Wittmund. Mit hochgespannter Er¬
wartungen fahren wir dieser Großstadt entgegen. Bald wird das 6, 0, L.*)
ein Ende haben, dann —
In der frohen Hoffnung baldigen Triumphes nötigt uns Vereinigung,
nötigt uns Asel nur ein mitleidiges Lächeln ab. Mit einem siegesfroheu
Endlich! und mit der Gewißheit, daß nun die Tugend unsrer Geduld, wie
jede Tugend, ihren Lohn finden werde, fuhren wir in Wittmund ein. Das
heißt, wenn ich sage, wir fuhren ein, so ist das doch etwas zuviel gesagt,
der geneigte Leser möge diesen Optimismus meiner gehobnen Stimmung zu
gute halten. Denn wir hielten, ehrlich gesagt, auch hier auf freiem Felde.
Nur in der Ferne, im Nebel verschwimmend, sah man Häuser liegen. Und
auch das ist eigentlich nicht ganz genau. Man sah die schwachen Umrisse von
Bäumen, in deren Schatten eine einigermaßen lebhafte Phantasie Häuser ver¬
muten konnte. Aber was thut das? Unser Trost ist, daß wir uns ja hier
nicht lange aufhalten. Denn hier ists preußisch, da wollen wir einmal den
Oldcnburgern zeigen, was Eisenbahnfahrgeschwindigkeit ist!
Daß der preußische Schaffner auch wieder nach unsrer „Fahrkarte"
fragen und noch einmal knipsen wollen wird, das nehmen wir mit in Kauf,
das ist sein Dienst, und der Dienst wird in Preußen gewissenhaft gethan.
Übrigens muß ich der Wahrheit die Ehre geben und erwähnen, daß auch die
Oldenburger ihren Dienst nicht übel versehen hatten. Namentlich die Männer,
die die Ofen zu besorgen hatten, nahmen ihr Amt „sehr genau. Infolge
davon war es sehr warm in unserm „Abteil." Zur Übertreibung geneigte
Reisende hätten es unerträglich heiß nennen können. Wir aber gehören, wie
du wohl schon gemerkt haben wirst, lieber Leser, nicht zu dieser unbescheidnen,
anspruchsvollen, schwer zu behandelnden und schwer zu befriedigenden Menschen¬
art, wir wagten vielmehr nur, als „der Mann mit dem Koth" wieder ein¬
mal erschien, um neuen Torf aufzuwerfen, einen schüchternen Versuch, zu be¬
merken, daß es so wie so schon „recht warm" sei. Aber da kamen wir schön
an! „Hilft nichts, wenn der Zug nach Wittmund kommt, muß das Feuer
noch brennen, sonst werde ich angezeigt." Also rein ins Feuer mit dem Pre߬
torf! Das Feuer muß brennen, wenn auch die Passagiere braten. I?me
justitm, M-eg,t iMiulus. Wir haben also nur die Wahl, zu braten oder uns
zu erkalten, und wir wählen das letztere und machen alle Klappen und Fenster
auf. Übrigens soll es Gegenden geben, wo man von Dampfheizung munkelt.
Doch das sind wahrscheinlich Zukunftsträme eines Anspruchsvollen. Wir sind
bescheiden, bescheiden und — geduldig.
Denn wie ist denn das? Nun sind wir schon fünf Minuten in Witt¬
mund, und es geht noch nicht weiter? Die Übergabe an Preußen scheint also
doch etwas mehr Zeit in Ansprach zu nehmen, als wir dachten. Wahr¬
scheinlich zehn Minuten. Ja, auf so lange werden wir uns, wie es scheint,
doch wohl einrichten müssen. Wie soll ich dir aber nun beschreiben, lieber
Leser, wie uns wurde, als es noch länger dauerte? Fünfzehn Minuten,
zwanzig, fünfundzwanzig — dreißig! Wie die halbe Stunde um war, wagten
wir eine schüchterne Frage an den preußischen Schaffner, obs denn noch nicht
weiterginge. Wasser sagte, klang aber gar nicht Köln-rechtsrheinisch. Es
ging vielmehr ganz ans der bisherigen Tonart 0.0, IZ.; ja es stimmte den
Kammerton unsrer Laune noch tiefer, denn er sprach das große Wort gelassen
aus: Seine vierzig Minuten wird es wohl noch dauern! O heilige Geduld!
Noch vierzig Minuten!
Also heraus aus dem überheizten Eisenbahnwagen! Hinaus auf deu kalten
„Bahnsteig," und auf dem Bahnsteig auf und ab, hin und her, wie ein Tiger
im Käfig vor der Fütterung. Allmählich etwas abgekühlt, fragen wir so
gleichmütig wie möglich einen Bahnnrbeiter: Sagen Sie mal, lieber Mann,
warum halten wir nur hier so lange auf freiem Felde? Ein Blick deutlicher
Mißbilligung, ja tiefen Schmerzes trifft uns für das „freie Feld." Wir haben
es offenbar mit einem eingebornen Wittmunder zu thun. Aber Aufschluß
giebt er doch: erst müsse der Zug von Norden kommen; wenn dieser dann
nach Jever weg sei, dann kämen wir an die Reihe. Also abwarten!
Um uns die Zeit zu vertreiben, verfallen wir schließlich auf die Idee,
der Bahnhofrestauration einen Besuch abzustatten. Zweiter Klasse ist niemand,
nicht einmal ein Ganymed oder eine Hebe. Aber dritter Klasse, da treffen
wir einen schlanken Jüngling hinter dem Büffet. Bescheiden bitten wir um
einen Genever — der Leser verzeihe das harte Wort —, aber auf was ver¬
fällt der Mensch nicht in der Verzweiflung! Es war auch nur ein kleiner für
fünf Pfennige. Doch auch hier geht es wieder nicht ganz glatt ab. Der
Schlanke schleudert den Nickelfünfer, den wir herauskriegen sollen, mit solcher
Nonchalance in hohem Bogenschuß vor uns auf den Schenktisch, daß dadurch
unsre stark ins Wanken geratne Stimmung auch nicht gerade gestützt oder
gebessert wird.
Doch wie sagt der Ostfriese? Jiht g,1 sen dick, irmn llotmiMn int.
Aber darum handelt sichs hier zum Glück nicht, sondern um den Zug aus
Norden, und der kommt denn endlich auch wirklich an. Irgendwo muß Vieh¬
markt sein. Die Physiognomie der Leute, die da aussteigen, kommt mir, na¬
mentlich was den Schnitt der Nasen betrifft, gar nicht recht alt frei friesisch
eingeboren vor. Eine Viertelstunde dauert der Viehmarktgästetrubel. Da er¬
scheint endlich, mit dem Bewußtsein seiner Würde angethan, der Herr mit der
roten Mütze auf der Bildfläche, winkt wichtig mit dem rechte» Arm und sagt
kurz und gebieterisch: Abläuten! Der Zug nach Jever mit Seins und Japhets
Kindern saust ab.
Nun, denke ich, kann auch unsrer bald losgelassen werden. Sollte es
der Leser inzwischen vergessen haben, so rufe ich es ihm ins Gedächtnis zurück,
daß wir nach Norden unterwegs sind. Aber die nächsten fünf Minuten ge¬
schah nichts. Nach Verlauf dieser fünf Minuten aber erschien auf dem „Bahn¬
steig" eine Dame oder Frau, genug, ein weibliches Wesen in Hut und Mantel.
So weit man das bei den Leuten hierzulande merken kann, schien sie einige
Eile zu haben. Und in der That, sie hatte mit dem vor fünf Minuten ab-
gegangnen Zug nach Jever fahren wollen.
Hier muß ich um einen Augenblick in meiner Erzählung inne halten,
lieber Leser, um dir zu versichern, daß das, was ich dir nun erzählen will,
die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit ist. Denke also nicht etwa,
daß es nach Art der Geschichte von dem Briefträger ausgedacht sei. Schon
daß ich die im Vorbeigehn hierher setze, muß dir dafür eine Bürgschaft sein.
Es soll also einmal ein Briefträger die Gewohnheit gehabt haben, seinen Be¬
rufsweg eine Strecke mit der ostfriesischen Küstenbahn zurückzulegen, weil sein
Freund, der Zugführer, ihn umsonst mitnahm. Eines Tages macht er aber
Anstalten, den Weg zu Fuß zu gehn. „Nun, komm doch, steig ein!" rief ihm der
Zugführer zu. „Nein, sagte der Briefträger, heute kaun ich nicht mit euch fahren,
heute muß ich marschieren, denn ich habe einen eiligen Brief!" Diese Geschichte
M gut erfunden, nicht wahr? Aber meine ist nicht erfunden, sondern wirklich
geschehen. Die Dame also stand eine Zeit lang in der bekannten Verlegenheit
da, die solchen Situationen eigen ist. Aber was war zu machen? Sie mußte
sich davon überzeugen, daß sie den Zug versäumt hatte. Da tritt ein Bahn¬
arbeiter zu ihr: So, na Jever wollt Se? — Jo! — Hebb Se ok en Billet? —
Nee! — Na 't sall wol ok so gan! — Darauf führt er sie über ein Geleise,
stellt sie auf eine Art von „Bahnsteig," dreht sie mit dem Gesicht nach der
Züchtung, in der Jever liegt, und sagt gemütlich: So, nu kopf man to! Sie
lauft, und gar nicht einmal sehr eilig, und — hat wirklich den Zug noch ein-
geholt, um, wenn auch ohne Fahrkarte, einzusteigen. Und so ist sie in der
That noch mitgekommen. Es kam ihr freilich zu statten, daß der so feierlich
„abgeläutete" Zug sich nachher noch en pg,8sg,ut einige Güterwagen zusammen¬
holte, die auch noch mit nach Jever sollten, aber dieser Umstand raubt hoffent¬
lich meiner Geschichte nichts von ihrem Wert.
Noch immer also in Wittmund! Womit stärken wir unsre Geduld? Zum
Glück erinnern wir uns noch rechtzeitig, daß Wittmund ja kein simples Dorf
ist. Man kann das zwar in der Entfernung vom Bahnhof aus nicht merken,
aber es ist uns, als ob wir in der ostfriesischen Geschichte hin und wieder auf
den Namen gestoßen wären. Wir verfallen also aus lauter Ungeduld auf den
Trost der Geschichte. Und richtig! Stand hier nicht auch eines Häuptlings
Burg? Hauste hier nicht die Familie Kcmkena? Und trotzte nicht Balthasar
von Esens dem Grafen Enno durch einen Fehdebrief, der mit den Worten
begann: „Wir Balthasar, Herr zu Esens, Stedesdvrf und Wittmuud" ? Trost¬
reich freilich ist die Geschichte von Wittmund auch nicht gerade. Sie lehrt
uns, daß es auch früher schon schlechte Menschen gab. Verriet doch ein
Diener Tanne Kankenas seines Herrn Burg an den Feind. Und das that er,
als er suos dsreu Kroa in siiuzm live kmääs. O Wittmund! Wie froh sind
wir, daß wir dich endlich verlassen dürfen.
Nach fünfviertelstündigcm Hoffen und Harren fahren wir wieder. Natür¬
lich fragen wir den neuen, preußischen Schaffner nach dem Grunde der un¬
freiwilligen Reisepause. Der suchte und fand ihn im — Fahrplan! Es sei
dies ein ganz fahrplanmäßiger Aufenthalt gewesen, sagte er, und schien sich
sehr zu verwundern über unsre Verwunderung, daß es solche Fahrpläne geben
könne. Wir wagten den Einwand, daß durch das Fahrplanmäßige der Auf¬
enthalt nicht eben vergnüglicher werde. Da fühlte er ein menschliches Rühren
und versuchte uns zu trösten: Ja, wissen Sie, der Fahrplan kommt von oben! —
So, von oben? — Ja, wenn ich ihn zu machen hätte— weiter kam er nicht,
der Nest des Satzes wurde von der preußischen Disziplin hinuntergeschluckt.
Jedenfalls dampfen wir nun los. Natürlich immer noch mit der Hoff¬
nung auf die mehrfach erwähnte Eisenbahnfahrgeschwindigkeit von sechzig Kilo¬
metern in der Stunde. Freilich ist diese Hoffnung schon so beschaffen, daß es
uns eigentlich nicht mehr wundert, als wir mit immer größerer Gewißheit er¬
kennen, daß wir „vorbeigehvfft" haben. Chausfeegeschwindigkeit umfängt uns,
das ist des Pudels Kern. Ganz langsam, sanft, sachte und allmählich ruckeln
wir auf der Chaussee vorwärts. Wenn einer wenig Eile und die nötige Ge¬
duld hat, so hat übrigens solche Art zu reisen ihre Vorteile. Man bekommt
einen viel bessern Eindruck von Land und Leuten. Ja es bleibt einem eigent¬
lich gar nichts weiter übrig, als ans der Not eine Tugend zu macheu und
sich auf das Studium von Land und Leuten zu werfen.
Fangen wir also an. Welch ein friedliches Bild, dieser Bauernhof am
Wege! Ein wahres Idyll! Die Leute feiern gerade ein ländliches Fest, ein
Familienfest: sie schlachten ein Schwein. Wer da weiß, auf wie vertrautem
Fuße der Landmann mit seinen Tieren steht, gleichsam auf du und du, der
wird mich begreifen. Aber der Bauer hier, der mit den Händen in den Hosen¬
taschen dem Schlachten zusieht, scheint frei von Sentimentalität zu fein. Er
sieht recht behäbig aus, man sieht ihm an, daß, wenigstens was seinen Privat-
bedars betrifft, das Einfuhrverbot amerikanischen Specks für ihn zu den aka¬
demischen Tagesfragen gehört.
Nach sieben bis acht Minuten halten wir zur Abwechslung wieder einmal
still. Und dabei hatten es die zu Blersum noch gnädig gemacht und ihre rote
Fahne nicht herausgesteckt, sodaß wir an dem weißen Pfahl ruhig vorüber-
fahren konnten. Dafür waren wir nun in Vurhafe. Hier mußte freilich ge¬
halten werden, deun es stiegen ordentlich Leute aus. Vier Männer, eine Frau
und das Mädchen mit den roten Backen, das in Wittmund eingestiegen war.
nachdem es mit wahrhaft ostfriesischer Geduld auf deu Zug gewartet hatte.
Ob es wohl die Tochter des Bauernhofes ist. der einst Bnrhafe den Namen
gab? Denn daß Bnrhafe weiter nichts heißt, als Bauerhof, trotz der schein¬
baren Hinneigung zu Bauerhafen, ist gewiß. Wollen doch die Gelehrte« sogar
das „Hase" 'in Marieuhafe für „Hof" erklären, obwohl das ja wirklich ein
Hafen, wenn auch eigentlich nur ein Tief, Störtebekerischen Andenkens, ge¬
wesen ist. Dem sei, wie ihm wolle. Die Wangen des Mägdleins waren rot
genug, daß die Annahme berechtigt erscheinen konnte, sie seien auf irgend einem
Bauernhofe so rot geworden. Was mich die roten Backen einer ostfriesischen
Bauerndirne angehn? Ja, in der Verzweiflung klammert man sich eben an
alles, was den Geduldsfaden vorm Reißen bewahren kann. Und weil wir
uns doch einmal Land und Leuten zugewandt haben, gehört etwa das Fräu¬
lein, denn Fräuleins sind ja heutzutage alle, nicht mit zu deu Leuten? Ich
berufe mich hier auf Franz von Löser. Der schreibt in seinem prächtigen
Buche: „Griechische Küstenfahrten" etwa so: Daß ich viel von Frauen rede,
ist erklärlich, denn sie bieten dem Reisenden nicht nur das interessanteste, son¬
der« mich das lehrreichste Objekt der Beobachtung, weil sie Landesart und
Lnndessitte am längsten und treusten festhalten. Sonst war in Burhafe nichts
weiter los. Es wurden noch zwei Packete ausgeladen; der Briefbeutel war
sehr dünn, er wird wohl höchstens die Zeitung für den Herrn Pastor ent¬
halten haben. Sehr beunruhigte mich ein Eilgutfrachtbrief, der hier mit aus¬
geschifft wurde — ich erkannte ihn von weitem an der roten Farbe. Wer
oder was mag wohl in Bnrhafe Eile haben?
Jedenfalls nicht das Macadamisiren der Feldwege. Es mag ein saures
Stück Arbeit sein, sich bei Winterszeit durch einen dieser unergründlichen Wege
hindurchzuarbeiten. Denn sobald mau die Chaussee verlassen hat, scheint alles
unergründlich zu sein. Hier könnte sich die Geschichte ereignet haben, die
Doornkaat in seiner schalkhaften Art erzählt. Zur Illustration des landläu¬
figen Sprichworts: ^Vsn 6« vur nöt mot, rörck gon nur (Glied, Hand)
tut, sei unter andern die bekannte Anekdote von einem Bauern angeführt,
der sich von seinem Knecht fahren läßt und, indem er bei dieser Gelegenheit
auf einer schlecht unterhaltnen Wegstrecke fast umwirft und stecken bleibt, un¬
mutig und erbost ausruft: 't is cloolr cke sotmuciö ne-rei, nun ä'r iM inör an
6« vgMii <Zg.u vorä, und als der Knecht ihm darauf verwundert antwortet:
Aar dur! 't, is jo uns ö^n >vog'. og.r up sunt, diesem ruhig erwidert:
Val ist all not «Ille, <jeu fuit, ^.me uns ä'r t>o clvinzon, äat ovi Irum in^on.
hüllst 8und 6at nnLs sinken not. Ja ja, so ist der Bauer. 0<z dur is
u vur. Und das ist nicht nur in Ostfriesland so.
Inzwischen kommen wir, wenn auch laugsam, doch allmählich weiter. Wahr¬
haftig, schon sind wir in Stedcsdorf. Und merkst du auch, lieber Leser, wie wir nach
und nach dem SchanplaK altfriesischer Geschichte näher kommen? Ist dirs nicht,
als hörtest dn von Krieg und Kriegsgeschrei, von Fehde, Seeräuberei und Blut¬
vergießen? Zwar Stedcsdorf selbst erweckt zunächst nur eine sehr friedliche Er-
inuerung. Wir hören im Geiste Brautgeläute, sehn einen fröhlichen Hochzeitzug
und ahnen ein reiches Heiratsgut und fette Erbschaft. Das Haus Cirkseua ist,
was Heiraten anlangt, im kleinen ebenso glücklich gewesen, wie das Haus
Habsburg im großen. Nur daß es das hochfürstlich ostfriesische „Negierhaus,"
wie der treue Brenneisen immer sagt, nicht bloß mit Heiraten machte, sondern
es sich auch manchen sauern Kampf kosten ließ, um es vom einfachen Uovvt-
linA in nor 6rise bis zum Reichsfürstenstande zu bringen. Doch um auf
das Brautgeläute zurückzukommen, das ist der Foelke, des Wibel von Esens
Tochter, zweimal erklungen. Zuerst als sie mit Omke von Stedesdorf zum
Altar schritt. Als der gestorben war, und sie hatte nicht nur von ihrem
Manne Stedesdorf, sondern auch von ihrem Vater Esens geerbt, da war sie
eine begehrte Witwe, und Herr Ulrich Cirkseua, der von seinem Bruder Edzard
bereits das geerbt hatte, was dieser nicht nur vou vornherein zu eigen besessen,
sondern auch in zwei Ehen erheiratet hatte, Pilsum und Berna z. B., hatte
nichts eiligeres zu thun, als diese reiche Erbin heimzuführen. Die Freude
kann freilich nicht lange gedauert haben, denn wir wissen, daß hernach Ulrich
seinerseits eine zweite Ehe einging, die für ihn und sein Haus noch vorteil¬
hafter ausschlug als die erste. Er freite die mit Recht berühmte Theta aus
dem Hause Ukeua und legte damit nicht nur mit einem Schlage jahrzehnte¬
lange blutige Fehden bei, sondern erbte zugleich die ganze Macht und das
Ansehn des alten Löwen Fvkko Ulema, von dem noch hente Ostfriesland den
Löwen im Wappen führt. „Eine gute Heirat spürt man sein Leben lang,"
sagt das Sprichwort.
Ehe wir nach Esens kommen, fahren wir auf einer schonen, großen, schnur¬
geraden Chaussee. Welch wehmütige Gedanken erwachen in uns bei diesem
Anblick! An den Schwager denken wir, der diesen Weg wahrscheinlich noch
mit Peitschenklnng befährt. Wie oft schon habe ich mich nach einem solchen
Schwager gesehnt, wie oft schon geseufzt: Ist kein Schwager da? Wie bald
wird er ganz von der Vildfläche verschwunden sein! Es giebt eigentlich schon
jetzt keinen richtigen Schwager mehr. Denn was heutzutage noch so ans dein
Bock herumsitzt, ist lange nicht mehr die alte, kernfeste Art. Dem steht auch
der schreckliche, vorsüudflutliche Lackhut gar uicht mehr, der uns. anmutet wie
eine Merkwürdigkeit aus dem Reichspostmnscnm, seitdem ihn halbwüchsige
Burschen auf den schwachen Schultern sitzen haben, ihn, der einst bärtiger
Angesichter Schmuck und Stolz war, und der mit ihnen und dem Mantel
manchen Sturm erlebt hatte. Doch was soll die Wehmut? Ja, das ist es
eben! Als der Schwager noch Mode war. da wußte mans nicht anders und
erwartete es nicht anders, als daß alles hübsch langsam ging. Wer nicht
dringende Geschäfte hatte, blieb eben zu Hause, und wer reisen mußte, richtete
sich gleich auf längere Zeit ein, machte sein Testament, nahm zärtlich Abschied
von Weib und Kind, befahl Leib und Seele dem Himmel und fuhr dann
langsam in die weite Welt hinaus, von Wirtshaus zu Wirtshaus. Mau
wußte es nicht anders und sehnte sich ebenso wenig nach größerer Schnelligkeit,
als sich der Eskimo bei seiner Thraufunzel etwas von elektrischem Licht träumen
läßt. Aber wir Kinder des ausgehenden neunzehnten Jahrhunderts in Deutsch¬
land und andern Kulturländern bilden uns ein, durch die gekaufte „Fahrkarte"
ein Recht auf „Eisenbahnfahrgeschwindigkeit" erkauft zu haben. Daß wir uns
aber damit im Irrtum befinden, wird uns heute gründlich bewiesen. Und
das beste, was wir aus der Sache machen können,'ist, daß wir uns diesen
Beweis hinter die Ohren schreiben. Denn wenn irgend etwas, so muß doch
das zur Erhaltung unsrer freilich schon in den letzten Zügen liegenden Geduld
beitragen.
Aber wo ist Esens? Es steht doch an dem Bahnhofsgebäude groß an¬
geschrieben: Esens! Ach so, der Bahnhof liegt natürlich wieder eine Viertelstunde
von der Stadt entfernt; wie konnten wir das nur einen Augenblick vergessen!
Ich habe an diesem Orte einen guten Freund wohnen, der viel weiß. Den
will ich doch gelegentlich einmal fragen, ob er weiß, warum hier auch wieder
die Kirche ums Dorf herumgetragen ist? Ich fürchte nnr, er wirds anch
nicht wissen. Ohs wohl die „oben" wissen, von denen der Fahrplan kommt?
Ohs überhaupt jemand weiß?
Zeit, über diese Frage nachzudenken, haben wir hier wieder genug. Aber
da das doch aussichtslos ist, so denken wir lieber ein wenig an unsern Freund,
den alten Junker Balthasar von Esens. Wie fröhlich und kampfeslustig hat
der sich einst auf diesen nebligen Fluren herumgetummelt! Und wenn er
auch sonst manchen Ärger in seinem ruhelosen Leben gehabt hat, über einen
so abgelegnen Bahnhof brauchte er sich nicht aufzuregen. Übrigens scheint es,
daß er sich den Korb, den er sich in Jever geholt hatte, nicht allzusehr anfechten
ließ. Denn er hat zu Zeiten ganz Ostfriesland die Stirn geboten und zu
Wasser und zu Lande viele Thaten gethan. Als ihn die Bremer 1540 in
Esens belagerten, schlug eine Kanonenkugel in seine Schlafstube. Aber sie that
ihm nichts, denn er war schon einige Stunden vorher gestorben. Beim
Studium der ostfriesischen Geschichte aber ist es einem von da ab doch ordentlich
wie eine Erleichterung, daß es nicht mehr immer und überall heißt: Balthasar
hier, Balthasar da, Balthasar an allen Ecken und Enden!
Und so nehmen wir denn Abschied von diesem Hecht im ostfriesischen
Karpfenteich und zugleich Abschied von Esens und fahren auf Fulkum los.
Fulkum kann doch nichts andres bedeuten als Fulkoheim. Es geschieht ja
nicht bloß hierzulande, daß die Ortsendung „heim" ausgesprochen wird wie
ham, dem, hum, oder auch kurzweg um. Das oft gebrauchte ostfriesische Wort
Heinrich, Hamrik, Hämmert heißt z.B. nichts andres als Heimmark, die hei¬
matliche Grenze, Flur, Gemarkung. Ich fragte einst einen Eingebornen, ob
er wohl wisse, was Hammrich hieße. Da sah er mich erst ganz verwundert
an, daß ich das nicht wüßte, hernach wußte er es aber selber nicht. Über¬
haupt muß ich die Landsleute ten Doornkaat Koolmans hiermit anklagen,
daß sie besser über seineu Genever als über sein herrliches ostfriesisches Wörter¬
buch Bescheid wissen. Ostfriesland muß stolz darauf sein, ein solches Werk
zu besitzen. Ich wüßte keinen andern deutschen Volksstcimm, dem ein ähnliches
Buch ^schieden wäre. Doch der Stolz allein genügt nicht diesem Buche
gegenüber, es will auch studirt sein. „Wir wollen weniger erhoben und
stößiger gelesen sein." Es sollte mich gar nicht wundern, zu hören, daß
lemand Hammrich mit schinkenreich übersetzte, denn Jenen heißt holländisch
Schinken, und je weiter die Erklärung hergeholt ist, desto einleuchtender ist
sie ja vielen Leuten.
e ^ ^niche freilich denken über dergleichen überhaupt nicht nach. Sie werfen
Hochdeutsch und niederdeutsch durch einander, wies gerade kommt, und ich
gwube ganz sicher, daß die Geschichte von der Verwandlung des Familien¬
namens Blei in Pflaumenbaum wirklich passirt ist. Ein Mann hieß Blei.
>in der Zeit der Latinisirung vieler Namen nannte er sich Plumbum. Daraus
ward durch Mißverständnis des Sohnes: Plumbom. Dem Enkel in der Stadt
war aber Plumbom zu vulgär, und so nannte er sich hochdeutsch: Pflaumen¬
baum. Leider kann ich mich hierbei nicht länger aushalten, denn der Zug
pfeift, und wir sind wirklich in Fulkum.
Wer der Fulkv wohl gewesen sein mag, der hier sein Heim hatte? An
deu berühmten Krcuzprediger des vierten Kreuzzugs, Fulco von Neuilly, dürfen
wir kaum denken, denn der wird wohl ein Franzose gewesen sein. Einen andern
Fulko kenne ich aber nicht. Nun, wer er auch gewesen sein mag, jedesfalls
thut ihm jetzt kein Zahn mehr weh. Wenn ich aber den Fulkumern des vier¬
zehnten Jahrhunderts heute noch etwas wünschen darf, so wünsche ich ihnen,
daß sie nie etwas mit Madame Foelke möchten zu thun gehabt haben, des
Ocko ten Brook ssnivr ehelicher Hausfrau, der die Geschichte den Ehrennamen
„die Kwade" beigelegt hat. Wie mag Ocko ssnior wohl mit ihr fertig geworden
sein? Er war gewiß keiner von den ganz Furchtsamen, aber — doch lassen
wir den Vorhang fallen vor den häuslichen Szenen, die sich da manchmal
mögen abgespielt haben. Gewiß hat der Arme oft gedacht: Wäre ich doch nur
bei der Königin Johanna in Neapel geblieben! Wäre ich nur den Schwestern
nicht gefolgt, die da kamen, mich wider meinen Willen heimzuholen zu solchem
Eheglück! IK din als Hör! Zu, 6g Nan, alö Wtt us orator as clisod! — das
Sprichwort muß einer aufgebracht haben, der solch eine Foelke zur Frau hatte.
Und doch hätte ich diese Dame, nach dem Erfolg zu schließen, immer noch
lieber zur Frau als zur Schwiegermutter gehabt. Was muß jener Lütet
von Nesse für eine löwenmnßige Courage gehabt haben, dieser Mutter Tochter
zu heiraten! Es ist ihm freilich auch darnach bekommen. Wenn sich je einer
durch Heirat in die Nesseln gesetzt hat, so war es dieser unglückselige Lütet
von Neffe.
Wo waren wir doch gleich? Ach richtig, immer noch in Fulkum. Mußt
dir Fulkum auch noch einen Augenblick gefallen lassen, lieber Leser. Denn es
ist ja nicht, als ob es hier gar nichts zu sehen gäbe. Da ist erstens die Stelle,
wo wir halten, denn Fulkum ist Haltestelle. Aber wir halten nicht nur so
am weißen Pfahl mit der roten Fahne. Ein Bahnhof ist freilich auch nicht
da: aber — denke dir, welch ein Stück Poesie des alten Posel'utschwcigens! —
wir halten vor einem Wirtshause, und das Wirtshaus steht natürlich dicht
neben der Kirche. Die Kirche von Fulkum aber steht auf einer kleinen An¬
höhe, ob einer natürlichen oder künstlich aufgeworfnen, konnte ich trotz der
geringen Eile nicht genau bestimmen. Sie zerfällt in zwei räumlich von ein¬
ander getrennte Teile, der Glvckenturm steht nämlich etwas abseits, und er
steht aus, als hätte sich ihn die kwade Foelke im Zorn oder in einer besonders
kwaden Stunde ausgedacht, so vergrämt und verdrießlich und mißmutig schaut
er drein. Die Kirche selbst ist ein noch ziemlich neuer, einfacher, aber würdiger,
ja freundlicher und schmucker romanischer Bau, zu dem sich die Leute von
Fulkum gratuliren können. Sie haben es offenbar mit einem wirklichen Bau¬
meister zu thun gehabt. Wohl dem, der auf einen solchen trifft. Ich kenne
neue Kirchen, bei deren Anblick einem die Haare zu Berge stehen.
Aber da leuchtet uns ja schon wieder eine rote Fahne entgegen: der Krug
zu Roggenstede hat uns zu Ehren geflaggt. Wir unterbrechen also wieder
unsre gemütliche Fahrt. Ach ja, recht gemütlich, nur etwas einsam, denn auf
der ganzen Strecke begegnet uns keine lebende Seele, kein Wagen führt, kein
Handwerksbursche walzt die Landstraße ab, nicht einmal ein Jude auf dem
Viehhandel ist zu erblicken. Im Sommer mag wohl hie und da eine kleine
Abwechslung geboten werden, wenn sich irgend eine dumme Kuh, ein un¬
erfahrenes Rind oder ein harmloses Kälbchen dem Zuge in den Weg stellt und
nicht weichen will. Da kommt dann wenigstens Spannung in die Situation,
denn es muß doch ausgemacht werden, wer der Stärkere ist oder der Klügere.
Aber jetzt, zur Winterszeit, welche Einsamkeit! Kaum daß ein vereinzelter
Hammel sich anstrengt, die Landschaft zu beleben.
Aus Roggenstede hatten wir einmal eine Köchin. Und es war eine tüch¬
tige, brave Köchin. Verzeih, lieber Leser, daß ich eine so häusliche Angelegen-
heit hier öffentlich zur Sprache bringe. Aber bei der Wichtigkeit der Köchinnen¬
frage, und weil uns die Eisenbahn so viel Zeit zum Nachdenken läßt, ist es
wohl verzeihlich, daß wir auf solche Gedanken kommen. Also jene Köchin aus
Roggenstede war gut, was um so tobender hervorgehoben werden muß, als
es so wenig gute Köchinnen mehr giebt. Und da wären wir denn glücklich
auf einem Gebiete, das uns Stoff zur Unterhaltung bieten könnte bis nach
Norden und darüber hinaus: ja ein unabsehbares Feld der Unterhaltung er¬
öffnet die Dienstbotenfrage vor unserm geistigen Ange. Ein Ozean von Kaffee
und ein Aconcagua von Kuchen wird uoch drauf gehen, ehe dieses Thema genügend
besprochen ist. Ob es überhaupt jemals erschöpft werden wird? Und ob es
überhaupt jemals gelingen wird, die Damen vom dienenden Stande mit ihrer
Herrschaft und die Herrschaft einigermaßen mit den Dienstboten zufrieden zu
machen?
Der Krüger zu Roggenstede scheint übrigens nicht viel Zuspruch zu haben,
es sieht recht still und einsam bei ihm aus. Es wären ihm etliche solche
Kunden zu wünschen, wie mein Kutscher auf dem Hochwald vor bald zwanzig
Jahren einer war. Der fuhr, wenn er irgend konnte, nicht leicht an einem
Wirtshause vorbei. Er schien zu denken, die Wirtshäuser wären ganz be¬
sonders für ihn an den Weg gebant, und weil er ein so gutes Herz hatte,
glaubte er sich der ihm dadurch auferlegten sittlichen Verpflichtung nicht ent¬
ziehen zu dürfen. Daher kannte er alle Wirte weit und breit. Nun liegt da
herum in der Nähe eine alte verfallene Burg, die jetzt Oberförsterei ist,
Thronecken geheißen. Es geht die Sage, das sei die Burg des grimmen
Hagen von Tronege gewesen. Andre behaupten zwar, die Burg Tronje habe
"n Wasgau gestanden, aber das ist ja nicht so weit davon. Also fahre ich
eines schönen' Tages mit einem Besuch nach der Burg und sage: „Da soll
Hagen gewohnt haben." Da dreht sich Johann auf dem Bock herum und sagt:
»El, der wohnt noch da, bei dem han ich schon manche Schoppe getrunke!"
Siehe da, da sind wir ja sanft weiter gegondelt bis nach Domra. Ja,
was soll ich von Domra berichten? Wäre ich ein oberflächlicher Bericht¬
erstatter und ein Reisender von der Durchschnittsgattung, wie ste heutzutage
überall Weg und Steg unsicher machen, um, wenn sie acht Tage in ein fremdes
Land hineingerochen haben, gleich ein Buch darüber zu schreiben, dann würde
us — doch ich will es nachher sagen, was ich dann von Dornum sagen
würde. Erst uoch ein Wort von der modernen Art zu reisen. Da reist man
heutzutage mit Stangen oder mit der „Augusta Viktoria." Heißt das reisen?
Der Gedanke an eine Herde jener harmlosen Tiere, die von einem Leithammel
in der Welt herumgeführt werden, liegt doch gar zu nahe. Das heißt doch
acht reisen, sich auf die landläufigen Sehenswürdigkeiten „programmmäßig" mit
der Nase stoßen zu lassen. Für mich heißt reisen meiner Nase nachgehn und
am Morgen nicht wissen, wo ich am Abend mein Haupt hinlegen werde. Das
andre ist freilich bequemer. Aber wenn es sich bloß um die Bequemlichkeit
handelt, dann ist es doch noch viel bequemer, zu Hause zu bleiben, wie es ja
auch das sicherste, ja geradezu ein unfehlbares Mittel gegen die Seekrankheit
ist, am Lande zu bleiben. Aber dann kann man ja nicht mitreden, und viele
Leute reisen doch nur deshalb in der Welt herum, um mitreden zu können. Es
giebt sogar Erdumsegler, die keinen andern Zweck haben; Olovs-trottsr nennt
sie der Engländer. Diese sind imstande, dnrch die japanische Inland-See, also
durch eine der herrlichsten Gegenden der ganzen Welt zu fahren, und dabei —
Skat zu spielen. Hernach aber redet man mit, wenn über Japan geredet wird.
Aber Dornum? Beinahe hätte ich geschrieben: Dornum ist ein Ort, wo
alle Leute die Hände in den Hosentaschen haben. Denn was das Auge hier
von menschlichen Wesen erblickt, das nimmt ohne Ausnahme diese Stellung
ein: der Hoteldiener, der Arbeiter, der Handelsmann und — nachdem er sich
davon überzeugt hat, daß der Briefkasten am Bahnhöfe leer ist — sogar der
Briefträger, trotz seiner Uniform! Vier Männer neben einander aufgebaut, alle
vier die Hände tief in die Hosentaschen vergraben, wahrlich ein Bild zum
Photographiren! Und hier weiß ich mich nun wirklich frei von Voreingenommen¬
heit. Nein, Wenns auch „per Blitzzug" geht, über diese unanständige Haltung
werde ich mich immer empören. Es sieht gottsjämmerlich aus, Leute, denen
Gott gerade Glieder hat wachsen lassen, so in sich selbst zusammengesunken,
vornübergebeugt, als ob sie die Schwindsucht hätten, einherschlurren zu sehen,
denn gehen kann man das doch nicht nennen, wenn sich einer fortbewegt, ohne
die Füße von der Erde zu bringen. Hätte ein Fremder diese Schönheits¬
galerie des Dornumer Bahnhofs gesehen, etwa ein Engländer — doch die
stecken ja selber die Hände in die Hosentaschen. Also ein Franzose! Aber
da kommen wir aus dem Regen in die Traufe; die thuns erst recht. Es
scheint ein weitverbreiteter Unfug zu sein. Nur daß es bei den Franzosen,
die die Taschen auf den Seiten an der Naht haben, lange nicht so häßlich
aussieht, als bei den vier Dornumern, denen sie vorn auf dem Leibe sitzen.
Da ich mir nun nicht einbilde, durch meinen Tadel irgend jemand diese Unart,
die wahrscheinlich von den meisten ganz unbewußt geübt wird, abzugewöhnen,
so richte ich wenigstens an alle deutschen Schneider, denen diese Zeilen zu
Gesicht kommen sollten, die dringende Bitte im Interesse des nationalen An-
stands: Bringt, bitte, die Taschen möglichst weit nach hinten an! Ihr seid
es, die noch am ehesten hier eine Änderung zum Bessern, schönern, An¬
ständigern herbeiführen können!
In dieser Hoffnung will ich den vier Männern von Dornum den ge¬
gebnen Anstoß verzeihen, umsomehr, als sie einen so beredten Fürsprecher bei
mir haben. Sein Mund ist schon etliche hundert Jahre stumm, und doch
spricht er laut und einnehmend für alles, was irgend etwas mit Dornum
zu thun hat. Ich meine den ehrenfester, treuen, frommen Junker Ulrich von
Dornum. Der war der einzige aus der ganzen Harlinger Sippe, der dein
„Regierhause" unwandelbare Treue hielt. Er mußte sich dafür von seinem
saubern Bruder Hero Omken und von unserm Freunde, dem nicht minder
saubern Balthasnr, seinem Neffen, sein väterlich Erbteil und seine Güter vor¬
enthalten lassen, aber darum ist er doch in seiner Treue „unentwegt" geblieben.
Überall, wo es was Gutes und Rechtes galt, war er zu finden. Ein besonders
großes Verdienst hat er sich um das Religionsgespräch zu Oldersum erworben.
Ehre deinem Andenken, Junker Ulrich! Ehre dir, Domra, noch heute um
seinetwillen!
Nachdem wir bei Westerende vorüber sind, kommen wir in einen regel¬
recht angelegten und wohlgepflegten Wald. Welch eine erquickende Abwechslung!
Auch bemerken wir hier eine etwas beschleunigte Gangart unsers Dampfrosses.
Woher kommt das? Von der Kälte kann es nicht kommen, denn es ist Mittag,
und es wird eher etwas Heller und wärmer. Auch ist das Dampfroß ja nicht
der Leutnant, dessen Zivilwinterüberzieher sich von seinem Zivilsommerüber-
Aieher nur durch die schärfere Gangart seines Trägers unterschied, auch nicht
jener Student, der den Mangel eines Winterüberziehers durch stramme Haltung
zu verdecken suchte. Wir müssen uns bemühn, die unverhoffte Beschleunigung
anders zu erklären. Wahrscheinlich ist Norden nahe, und für die Einfahrt in
den Bahnhof hat sich der Zugführer jenen pommerschen Rittergutsbesitzer zum
Vorbilde genommen, der mit der Bahn nach Berlin wollte: Johann, Zugführer
sagen, wenn nach Berlin kommen, schneidig vorfahren und scharf Pariren!
Aber nein — auch das ist es nicht. Denn wie wir aus dem Walde heraus
sind und halten, ist es noch immer nicht Norden, sondern Hage.
Doch Hage lassen wir uns gefallen. Hier ist, was wir bei Sande ver¬
geblich gesucht haben, Gegend, also Aussicht. Ein prachtvolles Schloß ragt
aus hohen Bäumen empor, hinter einem Gehölz lugt ein hoher Kirchturm
hervor, und in der Nähe dürfen wir gewiß auch die Lütetsburg vermuten.
Die gehörte aber nicht jenem unglücklichen Schwiegersohn Lütet von Nesse,
sondern ihr Erbauer und Besitzer war Lütet Manninga, derselbe, der in der
Schlacht bei Bargebuhr gefallen ist und die schneidige Witwe hinterließ, die
dem ebenfalls in der Schlacht verwundeten und in ihre Hände gefallnen Feinde
sihet Papinga von Rustringer mit aller Gewalt an den Kragen wollte.
sihet erkaufte schließlich sein bischen Leben von ihr um teures Geld und vier
silberne Achsennngel. Die erst so erbitterte Hüuptlingsfrau ließ also schließlich
wie sich reden, aber ein Höherer nicht. Der rief den sihet ab aus einem
Unruhe- und wechselvollen Leben. Und doch wäre er daheim in Rustringer,
w seiner von den Hamburgern belagerten Sibetsburg noch so nötig gewesen!
Der letzte Manninga, Unicv mit Namen, war gräflich ostfriesischer Droht
w Emden zu der Zeit, als der achtzigjährige Orlog ausbrach; ein treuer
Warner und Berater seines Herrn, wie die eindringlichen Briefe an ihn be-
^sen.^die Brenneisen, wenn auch in ganz andrer Absicht, abgedruckt hat.
^em war Wilhelm von Inhausen und Kniephausen, sein
Schwiegersohn und Erbe seiner Herrlichkeit. Auch eine gute Heirat, die er
sein Leben lang gespürt hat, und die seinem Hause zu gute gekommen ist bis
auf diesen Tag.
Wie gut ists doch, daß wir nicht schneller fahren! Denn nun haben wir,
ins wir «ach Norden kommen, gerade noch Zeit, an einen Kniephausen zu
denken, den wir einen der edelsten Gestalten des ganzen dreißigjährigen Krieges
nennen müssen. Das wolle nicht viel sagen, meinst du, denn unter den Blinden
sei der Einäugige König? O nein, nicht nur vergleichsweise, souderu absolut
war dieser Dodo von Kniephausen ein Mann, vor dem wir den Hut ziehen
^"uem der eigentliche Gewinner der Schlacht bei Lützen, königlich schwedischer
Feldmarschall, überzeugter, begeisterter Kämpfer für die Sache der Wahrheit,
^"l Held im Kriege und ein Freund des Friedens, eine Lichtgestalt in dunkler
Zeit. Doch was reden wir? Wir können diesem Manne, der alles hatte, was
der Mann braucht, nur kein Glück, hier doch nicht das gebührende Denkmal
setzen. Das ist zum Glück auch nicht mehr nötig. Ein andrer, besserer, be¬
rufenerer Mann hat das gethan in einem kürzlich erschienenen Buche, das
hoffentlich nicht nur in Ostfriesland Leser finden wird. In Norden ist es
erschienen.
Und siehe da: endlich erscheinen auch wir in Norden, d. h. zunächst auf
dem Bahnhof. Aber nach allem, was wir glücklich überstanden haben, werden
wir an dieser letzten Klippe hoffentlich nicht noch scheitern. Kommen wir
über den Hund, kommen wir auch über den Schwanz. Mit einem Gefühl
der Erleichterung steigen wir aus, froh, daß wir nicht noch Georgsheil, und
was sonst noch alles für Schrecken dahinten auf den harmlosen Reisenden
lauern, über uns ergehen lassen müssen.
Und nun wir am Ziele find, nun die schrecklichen vier Stunden und
einundzwanzig Minuten hinter uns liegen, da gewinnt wirklich wieder die
sanftere Stimmung die Oberhand, und das Durchlebte erscheint wieder in
mildern Lichte. Mag der freundliche Empfang in Norden sein Teil dazu
beitragen, genug, beinahe reuen uns unsre Neckereien. Doch sei es drum!
Alles was sich liebt, das neckt sich. Mutter, der Hannes will mich heiraten! —
Hat er dir das gesagt? — Nein, gesagt hat er nichts, aber er hat mit der
Peitsche nach mir geschlagen! — Dieses Bauernmädchen war eine feine Ve-
obachterin des menschlichen Herzens. Der Hannes hätte sich nicht die Mühe
genommen, mit der Peitsche nach ihr zu schlagen, wenn sie ihm gleichgiltig
gewesen wäre. So kannst auch du dir, lieber Leser, leicht denken, daß ich den
Tag und die Tinte nicht verbraucht hätte, dies niederzuschreiben, wenn ich
das Land, durch das wir mit einander so langsam gefahren sind, nicht so
herzlich lieb hätte. Es ist ja leider eine Erfahrung, die wir oft genug machen,
daß der Mensch mit denen, die er am liebsten hat, und die ihm am nächsten
stehen, am ungeduldigsten ist. So sieht es also fast nach einer Liebeserklärung
aus, daß ich beinahe ungeduldig geworden wäre. Aber ich bins ja gar nicht
geworden. Und so bitte ich denn zum Schluß nur noch um ein gutes Zeugnis
in — der Geduld!
Es ist schwer, diesem dritten und letzten Bande der philosophischen Dar¬
stellung Kleinpauls vom Leben der Sprache gerecht zu werden, so widerstreitende
Gedanken und Gefühle erregt er. Aus den beiden ersten ist der selbständige Kopf
des Verfassers und sein beredter Mund zur Genüge bekannt, much der Zweck und
die Art seines Werkes. Die „Sprache ohne Worte" hatte sozusagen eine Sprache
fürs Ange, der zweite Band „Rätsel der Sprache" behandelt, wie sie sich dem
von heute zurückschauenden aufdrängen; der vorliegende dritte betrachtet das Strom¬
gebiet der Sprache von der Quelle aus, er „versetzt den Leser mit eins an den
Anfang aller Dinge, zum Urmenschen in den Urwald, unter die Whippoorwills
der Indianer, zu denen (!) wilden, Wolfsschreie einübenden Walsungen, in das
tierische und animalische Leben selbst, spärlicher aus die heutigen Kultursprachen Rück¬
sicht nehmend, bei den ersten Ansätzen, dem Stammeln der Vernunft verweilend
und sie soweit bringend, daß sie laufen kann." „Was dem Menschen vorgeschwebt
hat jwelche fröhliche Sicherheit in diesem Indikativs, wenn er seinen Feind an-
pfuite und wie sich ihm daraus der Begriff des Feuers entwickelte — die geheime
Analogie, die zwischen einem T und einer gespannten Saite, einem N und einem
Ton (!), einem Zitterlaut und einem Strom, ja der Undulation des Lichts ob¬
waltet — die dunkle Symbolik, die einst eine indogermanische Aspirata befähigte,
Blickfeuer, Sternenblicke und das stille Wachstum der Pflanzenwelt ^dieser Urmensch
hat wahrhaftig das Gras wachsen hören > zu malen: das bedachte, belauschte ich
andächtig." Es ist darnach kaum nötig, zu bemerken, daß der Verfasser die Sprache
in ihren Anfängen als einen Reflex der Erscheinungen der Welt ans der mensch¬
lichen Empfindung durch das Medium des Sprechorgaus ansieht. Darüber hat er
auf dem Gebiete der indogermanischen Sprachen eine Menge hübscher Beobachtungen
zusammengestellt, aus denen dann ein ganzes schimmerndes Gebäude von Etymo¬
logien emporwächst, schade nur, daß kein Stein mit notwendiger Sicherheit ans
dem andern ruht und alles nur durch das lose Band der Möglichkeit verknüpft ist.
Das hat der Verfasser auch selbst eingesehen; er glaubt aber doch wohl nicht im
Ernste, seine Aufstellungen dadurch wahrscheinlicher zu machen, daß er alle Konsequenz
in diesen ersten Ahmlauten und in ihrer Entwicklung zu Begriffsbezeichnnngeu
leugnet.
Sprache ist Musik: das ist ein längst ausgesprochner Gedanke, von dem auch
in diesem Buche viel die Rede ist. Unser Verfasser dreht ihn zur Abwechslung
einmal herum: Musik ist Sprache. So nackt sagt er das zwar nicht, doch erklärt
er die Musik für eine große Nachahmerin wie die Sprache und behauptet, der
musikalische Genuß liege „für den Kenner gar nicht in der Schönheit der Töne,
sondern in ihrer Ähnlichkeit." In ihren Anfängen müssen also Musik und Sprache
identisch gewesen sein, und nur die Verschiedenheit zwischen menschlichem Sprech¬
organ und musikalischen Instrumenten und — die Ungleichmäßigkeit dieser Entwick¬
lungen haben zu verschiednen Ende geführt. Wie Kleinpaul — er ist natürlich
Programmmusiker vom reinsten Wasser — bei der Durchführung dieses Nach¬
ahmungsprinzips verfährt, zeigt seine Aufstellung von „vier Hauptstufen der musi¬
kalischen Imitation." Die erste, naivste sei die, daß man z. B. in einer Militär-
lhmphvnie Militcirmnsik nachmache, der Schluß der Neunter wird hierhergezogen
als eine vollkommen „adäquate Darstellung" des gesuugneu Schillerschen Liedes!
Tie zweite Stufe soll in der Nachahmung von menschlichen Lauten mit Hilfe musi¬
kalischer Instrumente bestehn, die dritte in der Nachahmung von Tier- und Vogel¬
stimmen durch Instrumente und endlich die vierte und höchste — in der universellen
Nachahmung der Naturlaute überhaupt! So verirrt sich Kleinpaul zuweilen! solche
»Gedanken," die er „bei einigem Nachdenken" gefunden hat, ist er imstande, dem
Leser vorzusetzen!
Der Verfasser hätte doch um Ende lieber nicht, wie er sich im Vorworte
rühmt, beim Niederschreiben des Manuskripts rin der Druckerei um die Wette
arbeiten sollen. Auch seiue saloppe Darstellung gehört nicht zu einer gemein¬
verständlichen philosophischen Sprachbetrachtung. Ein verständiger Leser wird es
nur mit Mühe fertig bringen, fünfhundert Seiten in diesem bald legeren, bald
witzelnden Ton geschrieben zu lesen und sich dabei von den Einfällen lind Launen
des Verfassers vom hundertsten ins tausendste werfen zu lassen. Sind wir es oder
ist es Herr Dr. Kleinpaul, der hier die Bildung unsrer Nation verkennt?
Das ist es, was wir gegen das Buch auf dem Herzen haben. Als ein
Vorzug muß es schon bezeichnet werden, daß der Verfasser auf dem Gebiete reiner
Hypothese fast durchweg mögliches bietet, und ist bei unbeweisbaren Dingen nicht
die unbestreitbare Möglichkeit das höchste, was überhaupt erreicht werden kann?
Denn von zweien oder mehr Möglichkeiten eine um ihrer größern Wahrscheinlich¬
keit willen bevorzugen, das heißt jn doch schon die Grenze des sicher erreichbaren
überschreiten.
Was seine Stellung zur „zünftigen" Wissenschaft betrifft, so macht Kleinpaul
den Eindruck eines „Wilden." Man wird aber diesem „Wilden" zugestehn müssen,
daß er auf seinem unsichern Gebiete oft mit einer Feinfühligkeit tastet, die verrät,
wie innig er mit dem Leben der Sprache bis in ihr äußerstes Gecider vertraut ist,
und daß er andrerseits ihren ganzen Körper von einer Höhe überschaut, die wir
manchem von der Zunft wünschten.
Für ein geschichtliches Werk, das reifern Schülern ein wichtiges, vom Unter¬
richt oft nicht genügend behandeltes Kapitel vorführen will, klingt der Titel ziem¬
lich bescheiden. Aber gerade für das bourbvnische Königtum faßt er mehr in sich
als anderswo. Denn nirgends ist das gesamte Staatsleben so unmittelbar an die
Person des Herrschers und an das intime Hofgetriebe um ihn geknüpft gewesen
wie im französischen Absolutismus. IViztat o'sse moi: Ludwig der Vierzehnte hatte
ein Recht, dieses berüchtigte stolze Wort auszusprechen.
Der Verfasser giebt in frisch fließender Erzählung ein anschauliches Bild von
der Entwicklung und dem Falle der Bourbonen. Er hat besonders den reichen
Stoff der Memoiren- und Brieflitteratur jener Zeit mit Geschick verwendet, um
den Leser mitten in die Ereignisse hineinzuversetzen. Daß er es an einer klaren
Beurteilung der Schäden des Absolutismus und an nachdrücklicher Hinweisung auf
sie nicht fehlen läßt, daß er den oft heikeln Stoff mit gesundem Takt bewältigt
hat, läßt uns das Buch für seineu nächsten Zweck durchaus geeignet erscheinen.
Wir können ihm aber auch den weitern Leserkreis wünschen, auf den der Verfasser
bei der Niederschrift schließlich doch gehofft haben wird.
Die Bilder hätten wir der Verlagshandlung, abgesehn von einigen guten
Zeitporträts wie dem des Blaise Pascal, Moliüres, Labruyeres, gern erlassen.
Manche von ihnen erinnern doch gar zu sehr an die alte Spamersche Manier ü. 1i>,:
„Friedrich von Schiller das Lied von der Glocke dichtend," und über solche Illu¬
strationen sind doch jetzt wohl auch unsre Primaner hinaus.
^n diesem Jahre hat die Gesetzgebung über die Unfallversicherung
der Arbeiter eine siebenjährige Wirksamkeit hinter sich, und
man kann wohl sagen, daß sie sich in dieser Zeit bewährt und
den Erwartungen, die man auf sie gesetzt hatte, entsprochen hat.
Während nach dem Haftpflichtgesetz ein im Betriebe verletzter
Arbeiter nur dann Ansprüche auf Entschädigung machen konnte, wenn er ein
Verschulden des Unternehmers oder seines Stellvertreters nachweisen konnte,
was ihm in tausend Fällen noch nicht einmal möglich war, erstreckt sich die
Entschädigungsverpflichtnng nach dem Unfallversichernngsgesetze vom 6. Juli
^884 a„f sämtliche Betriebsunfälle, gleichviel ob diese auf höhere Gewalt,
auf Verschulden des Unternehmers oder auf Unachtsamkeit des Verletzten zurück¬
zuführen sind. Zugleich ist die Verhinderungspflicht nach und nach auf alle
u> Fabriken und in der Landwirtschaft, in Bergwerken und bei Bauten, bei
den Eisenbahnen und bei der Schiffahrt beschäftigten Arbeiter ausgedehnt
worden, und was das zu bedeuten hat, sieht man daraus, daß am Schlüsse
des Jahres 1890 die Zahl der Versicherten mehr als dreizehneinhalb Mil¬
lionen betrug, daß vom Oktober 1885 bis Ende 1890 beinahe zweiundfünfzig
Millionen, im Jahre 1890 allein zwanzig Millionen Mark an verletzte Arbeiter
ausgezahlt worden sind und im letztgenannten Jahre für 42038 neue Unfälle
Entschädigungen festzustellen waren. ^
Die Verwaltungskosten des Jahres 1890 haben sieben Millionen betragen,
und zur Bildung von Reservefonds sind bisher beträchtliche Zuschlage zu den
Entschädigungsbeträgen von den Mitgliedern der einzelnen Berufsgenossen-
schaften erhuben worden, im ersten Jahre Zuschlage von dreihundert, im
fünften noch von achtzig Prozent. Alles in allem haben für 1890 nahezu
neununddreißig Millionen Mark von Beteiligten für Zwecke der Unfallversicherung
aufgebracht werden müssen. Das sind gewaltige Lasten, die da den Arbeitgebern
zum Wohle der Allgemeinheit auferlegt worden find, wenigstens wenn man sie
für sich betrachtet, und wenn man im Auge behält, daß sie für Industrie und
Landwirtschaft eine neue bis dahin unbekannte Art von Steuern bedeuten.
Und doch haben sich die Ausgaben in bescheidnen Grenzen gehalten, wenn
man sie mit dem gezählten Arbeitslohn vergleicht. Ein Tuchfabrikant z. B. hat
im Jahre 1891 auf je tausend Mark Arbeitslohn, der in seiner Fabrik aus¬
gezahlt wurde, nur einen Beitrag von sechs Mark zur Unfallversicherung bei¬
zusteuern gehabt; das ergiebt sür zehn Mark Wochenlohn sechs Pfennige, einen
Zuschlag, bei dem Wohl die Befürchtung nicht aufkommen kann, daß unsre
Industrie durch die Kosten der Unfallversicherung an Konkurrenzfähigkeit mit
dem Auslande verlieren konnte. Die Ausgaben sind gering, wenn man sie
mit der Zahl der versicherten Arbeiter und den an sie gezählten Arbeitslöhnen
vergleicht, noch weniger fallen sie ins Gewicht gegenüber den in Industrie
und Landwirtschaft hervorgebrachten Werten, sie sind auch gering in Anbetracht
des Segens, den sie verbreitet, der Unmasse von Sorge und Elend, die sie
aus der Welt geschafft haben.
Aber nicht uur, daß für die alljährlich uach Tausenden zählenden Opfer
der Industrie, die ihre gefahrbringende Beschäftigung an den Maschinen mit
dem Leben, mit gebrochnen Gliedmaßen oder mit einer zerstörten Gesundheit
bezahlen müssen, materiell Fürsorge getroffen worden ist, dnß an Witwen
und Waisen Getöteter, an Krüppel, Lahme und sieche alljährlich viele Mil¬
lionen Mark gezahlt werden, die Unfallversicherungsgesetzgebung hat auch für
die ärmsten Bevölkernngsklassen, die, wenn nicht gerade der Tod vor der
Thüre stand, uur selten ärztliche Hilfe in Anspruch nahmen, eine zweite Wohl¬
that gebracht: eine geordnete Behandlung und Pflege in Krankheitsfällen. Die
Ärzte haben dadurch, daß sie den Berufsgenossenschaften billigere Preise stellen,
keinen Ausfall in ihren Einnahmen zu verzeichnen gehabt, sie haben durch sie
zum großen Teil eine ganz neue Klasse von Patienten zugeführt erhalten, die
der Unfallverletzten. Diese schleppten sich früher oft ihr Leben lang mit Gebrechen
herum, die bei geeigneter Behandlung vollständig gehoben oder doch wesent¬
lich gemildert worden wären. Sie selbst verfügten eben nicht über die Mittel
und waren auch zu gleichgiltig, sich eiuer langwierigen und meist anch Willens¬
kraft und Ausdauer erfordernden Kur zu unterwerfen. Und bei den sonst
uoch beteiligten, den Fabrikbesitzern, in deren Betrieb sich der Unfall ereignet
hatte, und den Gemeinden, die die Erwerbsunfähigen zu unterstützen ver¬
pflichtet waren, reichte das Interesse für die Verletzten nicht über das zunächst
gelegne hinaus. Die Fabrikbesitzer waren froh, wenn sie die verletzten Ar¬
beiter durch eine kleine Barzahlung abgefunden hatten, die Gemeinden aber be-
lasteten lieber jahrelang ihr Armenbudget, als daU sie einmal eine größere
Ausgabe für eine zweckentsprechende ärztliche Behandlung bewilligt hätten.
Anders heute. Die Verufsgenossenschaften, die jetzt die Entschädigungen
zu zahlen haben, haben ein Interesse daran, daß die Folgen der Unfälle nach
Möglichkeit gehoben oder beseitigt werden. Die Höhe der Entschädigungen
richtet sich nach dem Grade der verblichnen Erwerbsfähigkeit, und wenn diese
im Laufe der Zeit gesteigert wird, kann nach dem Gesetz auch die jährliche
Rente herabgesetzt werden. Ein verloren gegcmgnes Bein läßt sich freilich
nicht wieder erneuern, und der Arbeiter, den dieser Verlust betroffen hat, wird
Zeit seines Lebens die ihm zu Anfang bewilligte Male zu beanspruchen haben.
Aber andre geringfügigere Folgen von Unfällen, Schwäche im Arm, Steifheit
der Hemd oder einzelner Fingergelenke können durch Massage, durch Elektrizität,
durch passive und aktive Bewegungen gemildert und vielfach beseitigt werden,
eine Gelenkentzündung, wie sie sich oft nach äußern Verletzungen einstellt, kann,
wenn sie vom Arzte richtig erkannt wird, auch in schwierigen Fällen in Kürze
geheilt werden. Gute und kräftige Kost ist natürlich die Voraussetzung für
den Erfolg jeder Heilung.
So sind den Verufsgenossenschaften die Wege vorgezeichnet, auf denen
sie zum Teil auf eine Verminderung der Unfalllasten hinwirken können: ein¬
gehende ärztliche Behandlung der Verletzten, gute Pflege und Kost, und wo
diese bei den Angehörigen nicht zu haben ist, Unterbringung im Krankenhause,
für die Genesenden Schonung und bis zur Wiederaufnahme der Arbeit Ge¬
währung des notwendigen Lebensunterhalts. Die Berufsgenossenschaften haben
auch einsehen lernen, daß Freigebigkeit am richtigen Platze die größte Spar¬
samkeit für sie bedeutet, und leisten, was die Krankenbehandlung anlangt, ihr
möglichstes. Nicht nur daß man den Verletzten den Arzt zur Seite stellt, so
lange es irgend not thut, und daß man sie auf Wochen und Monate im
Krankenhause verpflegen läßt, daß mau für die Zwecke der Berufsgenossen-
schaften eigne Kranken- und Nekonvaieszenteuhäuser errichtet, es werden auch
kostspielige Kuren in Heilanstalten, Konsultationen bei medizinischen Autori¬
täten oft in entlegnen Universitätsstädten, selbst Badereisen nicht gescheut, wenn
nur irgendwelche Aussicht vorhanden ist, daß dadurch die Erwerbsfühigkeit bei
den Patienten wieder gehoben werden kann. Freuen wir uns dessen. Mag
es auch in erster Linie die Rücksicht auf spätere Ersparnisse sein, was die
Leiter der Berufsgenossenschaften zu ihrer Handlungsweise veranlaßt, immer
wird durch das Bestreben, die verletzten Arbeiter wieder zu arbeitsfähigen und
brauchbaren Mitglieder» der menschlichen Gesellschaft zu machen, den betroffnen
und der Allgemeinheit ein größerer Dienst geleistet, als wenn man durch sie
ohne Rücksicht auf die Möglichkeit einer Beseitigung oder Hebung ihrer Ge¬
brechen die Zahl der Staatspensionäre über Gebühr vermehren würde.
Freilich wird den Berufsgenossenschaften — und das ist bei Gelegenheit
der Etatsberatungeu schon im Reichstage zur Sprache gekommen — mit Recht
der Vorwurf gemacht, daß sie sich jede wenn auch noch so kleine Besserung
in dem Befinden ihrer Rentenempfänger zu nutze machten, um die Renten
herabzusetzen. In welchem Umfange solche Herabsetzungen vorgenommen worden
sind, ergiebt sich aus folgender Zusammenstellung. Es kamen bei sämt¬
lichen Berufsgenossenschaften und staatlichen und kommunalen Aufsichts¬
behörden
Berücksichtigt man nun, daß ein endgiltiger Nentenfeststellungsbescheid fast
immer erst nach Beendigung des Heilverfahrens erlassen wird, und daß nach
der Entlassung aus der ärztlichen Behandlung eine Verschlimmerung des Leidens
nur in seltnen Fällen eintritt, so folgt daraus, daß es sich in der Mehrzahl
von Abäuderuugsbcscheiden um Herabsetzungen, aber nicht um Erhöhungen der
Rente handelt. Es fielen also im Jahre 1889 auf sieben Neufeststellungen
uicht ganz vier Herabsetzungen, im Jahre 1891 auf drei Neufeststellungen
schon mehr als zwei Herabsetzungen. Die Zahl der Herabsetzungen hat also
im Verlaufe zweier Jahre bedeutend zugenommen.
Das Recht zur Herabsetzung von Renten ist den Berufsgenossenschaften
im Z 65 Absatz 1 des Unfallversichernngsgesetzes ausdrücklich zugestanden. Es
heißt hier, daß eine anderweitige Feststellung der Entschädigung von Amts
wegen erfolgen kann, wenn in den Verhältnissen, die für die erste Feststellung
maßgebend gewesen sind, eine wesentliche Veränderung eingetreten ist. Ma߬
gebend für die Höhe der ursprünglich bewilligten Rente sind nicht äußere Ver¬
hältnisse oder das Fehlen einer passenden Arbeitsgelegenheit, sondern nur der
Grad der verblichnen Erwerbsfühigkeit gewesen. Bei „wesentlicher Änderung
der Verhältnisse" wird es sich also nur um eine wesentliche Änderung der Er¬
werbsfähigkeit handeln können. Die Abschätzung der Erwerbsfähigkeit aber
kommt in erster Linie dem in der Begutachtung von Unfallverletzten geübten
Arzte als dem obersten Sachverständigen auf diesem Gebiete zu. Erklärt der
Arzt, daß vielleicht die Beweglichkeit in einem oder mehreren Gelenken eines
verletzt gewesenen Fingers zugenommen und daß sich infolge dessen auch die
Erwerbsfähigkeit des Verletzten um fünf Prozent gehoben habe, so spricht er
damit aus, daß eine wesentliche Änderung in den in Betracht kommenden
Verhältnissen eingetreten sei, und den Berufsgenossenschaften kann man es
nicht verargen, wenn sie auf Grund dieses Gutachtens die Rente entsprechend
der um fünf Prozent gesteigerten Erwerbsfähigkeit um fünf Prozent herab¬
setzen. Sie sind durch das Gutachten des Sachverständigen gedeckt. Ja man
wird es den Vorstünden der Berufsgenossenschaften, die in erster Linie deren
Interessen wahrzunehmen haben, uicht zum Vorwurfe machen können, wenn
sie nach Möglichkeit bestrebt sind, solche ärztliche Gutachten herbeizuführen, und
zu diesem Zwecke die Verletzten einer fortgesetzten Kontrolle unterwerfen. Sie
haben als treue Verwalter die Pflicht, in der Bewilligung der Renten nicht
über das Maß hinauszugehn, das gesetzlich dafür vorgeschrieben ist, und es
läßt sich auch nicht verkennen, daß sie gerade durch die Neutenherabsetzungen
große Ersparnisse sür ihre Berufsgenossenschaften herbeigeführt haben.
Es fragt sich nur, ob die Herabsetzungen, wenn sich auch vom gesetzlichen
Standpunkte gegen ihre gegenwärtige Handhabung nichts einwenden läßt, auch
immer der Billigkeit und den Interessen der Allgenieinheit entsprechen, und
ob es nicht angebracht wäre, bei einer Revision des Gesetzes auch die Bestim¬
mungen des Z 65 abzuändern.
Drei Erwägungen verdienen hier Beachtung. Erstens können auch die
Ärzte den Grad der verblichnen Erwerbsfähigkeit immer nur schätzen, aber
nicht genau wissenschaftlich abmessen. Auch die Ärzte können sich irren, und
wenn auch Fälle, wie der kürzlich in den Zeitungen veröffentlichte, wo drei
Arzte einen Verletzten einstimmig für einen Simulanten gehalten hatten, und
sich nun nach Jahren herausgestellt hat, daß er an traumatischer Neurose,
einer durch äußere Verletzung hervorgernfncn schweren Nervenerkrankung leidet,
zum Glück zu deu Ausnahmen gehören, so fallen doch die Untersuchungen
bei verschiednen Ärzten immer verschieden aus, und selbst für einen Arzt, der
i» der Abschätzung der Arbeitsfähigkeit vou Unfallverletzten große Erfahrung
hat, wird es schwer sein, zu entscheiden, ob ein Patient zu fünfzig oder sechzig,
zu zwanzig oder fünfundzwanzig Prozent erwerbsfähig sei. Der Arzt kann
vielleicht bei einer spätern Untersuchung gegen eine frühere eine kleine Besse¬
rung feststellen. Die Besserung liegt unzweifelhaft vor, und sie läßt sich auch
vielleicht an sich mit einiger Sicherheit in Prozenten der vollen Erwerbsfähig¬
st abschätzen. Aber ihr relatives Maß ist so klein, daß es noch innerhalb
der Fehlergrenze liegt, innerhalb deren bei der ersten Untersuchung eine Unter¬
scheidung nicht mehr möglich war. Vielleicht hat der Verletzte erst jetzt den
Grad von Erwerbsfähigkeit erreicht, der damals irrtümlich etwas zu hoch ge¬
griffen war. Also warte man doch lieber mit der Neufeststellung der Rente,
bis die Besserung solche Fortschritte gemacht hat, daß man, ohne auf die Er¬
gebnisse der frühern Untersuchung zurückgreife!? zu müsse», zu wesentlich andern
Ergebnissen als damals gelangt.
Schlimmer aber als die Herabsetzung der Rente selbst in den Fällen, wo
sie nach dem Urteil des Arztes vorgenommen werden kann, ist, daß man bei
dem Hernbsetzungsverfahreu nicht immer mit der nötigen Schonung zu Werke
geht, namentlich da nicht, wo die Verwaltung zeutralisirt ist und alles etwas
schablonenhaft gehandhabt wird. Man versetze sich in die Lage eines solchen
Verletzten, der aus der ärztlichen Behandlung einstweilen entlassen ist. Er be¬
zieht eine kleine Rente von der Berufsgenossenschaft, hat vielleicht noch gar
keine Arbeit, jedenfalls deckt die Rente nicht den Ausstill am Arbeitsverdienst.
Die Einnahmen sind geschmälert, mit der Krankheit aber sind die Ausgaben
gewachsen. Die Ärzte haben schon vor Jahresfrist wenig Aussicht auf weitere
Besserung gemacht, und möglicherweise hätten Erkundigungen bei dem frühern
Arbeitsherrn, beim Vertrauensmann, beim Gemeindevorstand jetzt dasselbe er¬
geben. Aber der Kranke wird zum Arzte geschickt oder erhält dessen Besuch,
und man weiß in der Familie, welchen Grund das hat, wenn auch nicht
darauf besonders hingewiesen werden sollte. Was hilft es, wenn hernach doch
von einer Rentenherabsetzung Abstand genommen wird und werden muß? für
die Aufregung und die Angst, es möchte die geringe Rente, die ohnehin kaum
zum nötigsten ausreicht, noch geschmälert werden, giebt es keine Entschädigung.
Die Verletzten und ihre Angehörigen werden durch die fortgesetzten ärztlichen
Untersuchungen und Ncutenherabsetzungen in ewiger Unruhe und Aufregung
erhalten, sie müssen bei einer Verstümmlung der Hand ordentlich in Sorge
sein, wenn die Beweglichkeit in den verblichnen drei bisher steifen Fingern
etwas zuzunehmen beginnt. Ihr Verdienst bleibt deshalb einstweilen genau
derselbe, aber — die Rente wird herabgesetzt.
Die Verletzten müssen ein solches Vorgehen als Unbilligkeit empfinden,
und es ist nur zu natürlich, daß in den Arbeiterkreisen dadurch Unzufrieden¬
heit geweckt wird. Es fragt sich, ob das die Ersparnis an Renten wert
ist. Ich glaube kaum. Mau wollte doch durch die Arbeitcrversichernngs-
gesetzgebung Versöhnung in die Massen bringen. Also ändre man Gesetzes¬
bestimmungen, die in ihrer Dehnbarkeit eher das Gegenteil hervorzurufen ge¬
eignet sind. Man bestimme, daß Herabsetzungen von Renten immer nur um
mindestens ein Drittel ihres frühern Betrags und bei Renten von fünfzehn
Prozent und weniger immer nnr um fünf Prozent erfolgen können, und
man wird alleu billigen Anforderungen und Wünschen Rechnung getragen
haben.
Die Berufsgenossenschaften aber brauchten nicht zu befürchten, daß durch
diese kleine Beschränkung ihre Budgets allzu sehr belastet werden würden.
Um ihre Ausgaben herabznschrauben, stehn ihnen ganz andre Mittel zu Ge¬
bote, die viel kräftiger wirken und doch bisher wenig oder gar nicht aus¬
genutzt worden sind: die ihnen durch das Gesetz eingeräumten Rechte und Be¬
fugnisse auf dem Gebiete der Unfallverhütung.
Die Zusammenstellungen, die über die Rechnungsergebnisse der einzelnen
Berufsgenossenschaften und Aufsichtsbehörde,: alljährlich auf dem Reichsver¬
sicherungsamte vorgenommen werden, haben die auffällige und sonderbare Er¬
scheinung zu Tage gefördert, daß sich die Zahl der Unfälle, die in jedem
Jahre angemeldet und entschädigt werden, seit dem Bestehen der Unfallver¬
sicherung verhältnismäßig nicht vermindert, sondern sogar etwas vermehrt hat.
Bei den industriellen Berufsgenossenschaften waren versichert im Jahre:
Von diesen sind nach den eingegangnen Unfallanzeigen im Betriebe verletzt
worden:
Entschädigungen wurden festgestellt für neue entschädigungspflichtig gewordne
Unfälle:
Die Prozentsätze der gemeldeten wie der neu entschädigten Unfälle zeigen
also von Jahr zu Jahr eine Steigerung. Das ist aber ein ungünstiges Zeichen.
Es bedeutet, daß die Sicherheit in den Betrieben abgenommen hat, und daß
die Unfallgefahr größer geworden ist.
In maßgebenden Kreisen mußte diese Thatsache mit Recht Bedenken er¬
regen, man hatte alles andre für möglich gehaltet«, nur nicht, daß die Zahl
Unfälle eine Steigerung erfahren würde, und so hielt das Neichsver-
sicherungsamt im Jahre 1891 bei den ihm unterstellten Verwaltungskörpern
eme Umfrage, ob Gründe für diese Erscheinung zu ihrer Kenntnis gelangt seien.
Die Antworten lauteten, soweit solche überhaupt gegeben wurden, ver¬
schieden. Für die Zunahme der angemeldeten Unfälle wurde die verschärfte
Kontrolle über die Anmeldung als Grund angeführt, und nicht mit Unrecht.
den ersten Jahren kamen kleinere, unbedeutendere Unfälle, die voraussicht¬
lich keine längere Erwerbsunfähigkeit zur Folge haben würden, nicht regel¬
mäßig zur Kenntnis der Genossenschaftsvorstände. Die Unternehmer fürchteten
durch die Unfälle in Mißkredit zu kommen und meldeten vielfach nur da, wo
die Meldung nicht zu umgehn war. Später machte man die Erfahrung, daß
sich aus kleinen, anfangs ganz harmlos erscheinenden Verletzungen durch Ver¬
nachlässigung schwere, dauernde Erwerbsunfähigkeit bilden kann, daß es dann
nach Wochen und Monaten oft unmöglich ist, sich in der Sache Klarheit zu
Erschaffen, wenn nicht gleich zu Anfang durch eine Untersuchung an Ort und
Stelle der Hergang des Unfalls und die Art der Beschädigung festgestellt
worden ist. Wenn Arbeiter außerhalb des Betriebes einen Schaden erlitten
hatten, so war ungerechtfertigten Ansprüchen Thür und Thor geöffnet, und
das führte dazu, daß die Kontrolle der Genossenschaftsorgane verschärft wurde,
der Unternehmer in der Anmeldung gewissenhafter wurde.
Über die Gründe für die Zunahme der zu entschädigenden Unfälle gingen
die Ansichten weit aus einander. Die einen hatten auf die angespanntere
Thätigkeit des Jahres 1890 in der Industrie und die dadurch veranlaßte Ein¬
stellung ungeübterer Arbeitskräfte hingewiesen. Die andern hatten darauf auf¬
merksam gemacht, daß die immer weiter fortschreitende Verdrängung der Hand¬
arbeit durch die Maschine« eine größere Gefährlichkeit der Fabrikation mit sich
führe, während in den Bangewerben die ständig wachsende Zahl der nicht vor¬
gebildeten Unternehmer an der Vermehrung der Unfälle die Schuld tragen
sollte. Auch die Genußsucht der Arbeiter und ihre dadurch hervorgerufne
Schlaffheit wurde als Grund für einen großen Teil der Verletzungen ange¬
geben. Eine Anzahl der Genossenschaftsorgane leugnete überhaupt eine Zu¬
nahme der Unfälle. Durch die wohlwollende Rechtsprechung des Neichsver-
sicherungsamts und der Schiedsgerichte und durch die immer größer werdende
Vertrautheit der Arbeiter mit den Rechten, die sich aus dem Unfallversiche-
rnngsgesetz für sie ergeben, seien mich von Jahr zu Jahr mehr Ansprüche ans
Schadenersatz erhoben worden, und zwar für Schäden, die früher und noch in
den ersten Jahren nach Einführung der Gesetze gar nicht beachtet worden
wären. Nicht die Zahl der Unfälle an sich, nur die Zahl solcher Unfälle,
für die Entschädigung verlangt und zugestanden worden wäre, hätte eine Zu¬
nahme auszuweisen gehabt.
Ich lasse dahingestellt, ob die letzte Annahme auf Thatsachen beruht.
Ausgesprochen worden ist sie nnr als Vermutung, den Beweis ist man schuldig
geblieben. We^n man aber berücksichtigt, daß meist noch heute über die Fest¬
setzung der Renten dieselben Personen zu entscheiden haben wie in den ersten
Jahren nach Einführung der llnfallversicherung, daß auch für die unbedeu¬
tendsten Verletzungen, sie nnr eine erwiesene, wenn auch noch so kleine
Erwerbsunfähigkeit zur Folge hatten, stets Entschädigungen bewilligt worden
sind, und daß den des Gesetzes unkundigen Verletzten gleich zu Anfang die
Arbeitsherrn und Mitarbeiter als Berater zur Seite gestanden haben, so kann
diese vermehrte Erhebung von Eutschädigungsansprüchen die Zahl der ent¬
schädigten Unfälle nur unwesentlich beeinflußt haben. Die Zunahme der Un¬
fälle in den Betrieben bleibt also eine Thatsache.
Von den sonst zu ihrer Erklärung angeführten Ursachen ist nur einer
eine allgemeinere Bedeutung zuzusprechen. Es ist richtig, daß durch die stetig
zunehmende Verdrängung der Handarbeit durch die Maschinen die Gefahr für
die Arbeiter erhöht wird. Doch kann diese Umwälzung in der Industrie, da
sie doch ganz allmählich vor sich geht, keines wegsallein die Zunahme der Un¬
fälle erklären. Die Vermehrung nicht vorgebildeter Unternehmer ist nur für
das Vauhcmdwerk hervorgehoben worden, und die angespanntere Thätigkeit,
die 1890 in größerm Maße als sonst eine Einstellung ungeübter Arbeits¬
kräfte zur Folge gehabt haben soll, trifft nur sür einige Industriezweige, für
den Bergbau und die Maschinenindustrie zu, kann also für die Gesamtheit der
Unfälle auch nicht zur Erklärung herangezogen werden. In den übrigen Ge¬
werben, wie im Textilgewerbe, ist das Jahr 1890 ein sehr ungünstiges Geschäfts¬
jahr gewesen und hat im Gegenteil zu vielfachen Arbeitereutlassungen geführt.
Entlassen wird aber der schlechte Arbeiter, den geübten behält man. Der zuletzt
angeführte Grund aber, die gesteigerte Genußsucht unter den Arbeitern und als
Folge davon eine gewisse Schlaffheit bei der Arbeit, ist ganz hinfällig. Es
mag sein, daß die Zusammenhäufung von Industriearbeitern in einzelnen
Städten große Schattenseiten hat, daß die Verführung und Aufhetzung hier
groß und daß Unlust und Unaufmerksamkeit bei der Arbeit oft darauf zurück¬
zuführen sind. Aber man darf nicht nach den Ausnahmen urteilen. Wie
der heutige Arbeiter aufgeklärter und gebildeter ist als der Geselle zur Zeit
unsers Großvaters, so ist auch seine ganze Lebenshaltung eine bessere und
verständigere geworden. Er mag sich Vergnügungen hingeben, die jener ihrer
Kostspieligkeit wegen noch nicht gekannt hat, aber er wird im allgemeinen in
höherm Grade bestrebt sein als jener, solche Genüsse zu vermeiden, die einen
Nachteil für die Gesundheit mit sich führen könnten. Die allmähliche Ver¬
drängung des Branntweins durch das Bier liefert dafür den besten Beweis.
Näher liegend als alle die Gründe, die von den verschiednen Berufs¬
genossenschaften angeführt worden sind, erscheint mir doch die Untersuchung
der Frage, ob denn auch die Berufsgenossenschaften alles, was in ihren Kräften
steht, gethan haben, um den Unfällen vorzubeugen, ob sie von den Befugnissen,
die ihnen durch das Gesetz auf dem Gebiete der Unfallverhütung eingeräumt
sind, den ausgedehntesten Gebrauch gemacht haben. Und diese Frage möchte
ich verneinen.
Nach Z 78 des Uufallversicherungsgesetzes vom 6. Juli 1884 sind die
Genossenschaften befugt, für den Umfang des Genosfenschaftsbezirls oder für
bestimmte Industriezweige oder Betriebsarten oder bestimmt abzugrenzende Be¬
zirke Vorschriften zu erlassen: l. über die von den Mitgliedern zur Verhütung
von Unfällen in ihren Betrieben zu treffenden Einrichtungen und 2. über das
Ul den Betrieben von den Versicherten zur Verhütung von Unfällen zu be¬
obachtende Verhalten. Sie haben das Recht, die Nichtbeobachtung dieser Vor-
schriften bei den Unternehmern durch Einschätzung ihres Betriebes in eine
höhere Gefahrenklasse, ja durch Zuschlage bis zum doppelten Betrage ihres
Jahresbeitrags, bei den versicherten Arbeitern zum Besten der Krankenkassen
durch Geldstrafen bis zu sechs Mark zu ahnden. Die Überwachung der Be¬
triebe mit Bezug auf die Beobachtung dieser Vorschriften aber können sie nach
d 82 des Gesetzes durch Beauftragte vornehmen lassen, am besten Techniker
von Beruf, die eigens für die Revision der Betriebe angestellt und bezahlt
werden.
Daß im allgemeinen die Vernfsgenosfenschaftcn wohl bestrebt gewesen
sind, die Unfallverhütung mit in den Kreis ihrer Wirksamkeit zu ziehen, er¬
giebt sich aus der Thatsache, daß bis zum Jahre 1891 unter den dem Reichs¬
versicherungsamt unterstellten ältern gewerblichen Berufsgenossenschaften 51,
d. h. 86 Prozent, eigne Unfallverhütungsvorschriften erlassen hatten, während
vier weitere mit Ausarbeitung solcher Vorschriften beschäftigt waren. Auch
sind im Jahre 1891 von den gewerblichen Berufsgenossenschaften zur Re¬
vision von Betrieben 146 Beauftragte dauernd oder vorübergehend ver¬
wendet gewesen, und der Jahresabschluß der gewerblichen Berufsgenossen-
schaften für das Jahr 1890 weist für Überwachung der Betriebe, für Kosten
bei Erlaß von Unfallverhütungsvorschriften, für Prämien zur Rettung von
Verunglückten und für Abwendung von Unfällen einen Ausgabeposten von
340000 Mark auf. Aber damit ist noch nicht genug, noch lange nicht genug
geschehen.
Das erste Erfordernis für ein ersprießliches Vorgehen auf dem Gebiete
der Unfallverhütung ist die Ausarbeitung zweckmäßiger und möglichst ein¬
gehender, das ganze Arbeitsgebiet der betreffenden Berufsgenossenschaft um¬
fassender Unfallverhütungsvorschriften. Denn diese haben, wenn sie durch das
Reichsversicherungsamt genehmigt sind, die unbeschränkte Giltigkeit von Polizei-
maßrcgeln. Die Mitglieder der Genossenschaft und die versicherten Arbeiter
müssen sich ihnen unterwerfen, im andern Falle werden ihnen Zuschlage zu
den gewöhnlichen Beiträgen oder Ordnungsstrafen auferlegt. Zuschlage jedoch
bis zur doppelten Höhe des Jahresbeitrags können empfindlich genug wirken,
um die Unternehmer zu veranlassen, allen billigen Anforderungen der Berufs¬
genossenschaften Rechnung zu tragen. Je eingehender aber die Unfallverhütungs¬
vorschriften sind, je mehr sie die besondern Verhältnisse des einzelnen Betriebes
berücksichtigen, eine um so größere Macht ist durch sie den Genossenschafts-
vvrständen den Unternehmern gegenüber in die Hände gelegt, desto mehr wird
ihnen die Aufgabe erleichtert, dafür zu sorgen, daß die Betriebseinrichtungen
und Arbeitsbedingungen in den Fabriken allmählich besser werden, daß die
Zahl der Verletzungen abnimmt und die Unfalllasten für die Berufsgenossen¬
schaften sich verringern.
Gewiß sind einzelne Verufsgenossenschaften nach Kräften bestrebt gewesen,
auf diesem Gebiete tüchtiges zu leisten und Vorschriften ausarbeiten zu lassen,
die auch weitgehende Ansprüche befriedigen können. Beweis dafür ist das
Lpb, das auf dem letzten Bcrufsgenossenschaftstage in Hamburg der Präsident
des Reichsversicherungsamts der jüngsten der gewerblichen Berufsgenossen¬
schaften, der Seeberufsgenosfenschnft, gespendet hat: „sie beweise durch die von
ihr getroffnen und noch geplanten Maßregeln, wie gern sie bereit sei, selbst
über das hinauszugehen, was das Gesetz ihr vorschreibe; insbesondre habe sie
durch ihre vortrefflichen Unfallverhütnngsvorschriften einen Weg betreten, der
allen zum Heile gereiche, durch Vorschriften, die auch das Interesse des Kaisers
erregt hätten, sodaß er, der Präsident, kürzlich die Ehre gehabt habe, sie
mit einigen andern ähnlichen Vorschriften dem Kaiser zu überreichen." Auch
sonst giebt es noch Berufsgenossenschaften, die hier ersprießliches geleistet
haben, und wie die Unfallverhütung immer allgemeiner als dankbares und
die aufgewandte Mühe reichlich vergeltendes Arbeitsfeld in das Programm der
Verufsgenoffenschaften aufgenommen wird, ergiebt sich dcirans, daß der Ver¬
band der deutschen Berufsgenossenschaften eine eigne Kommission eingesetzt hat
zur Ausarbeitung von Normalunfallverhütungsvorschriften für gleichartige Ge¬
fahren in den verschiednen Berufszweigen.
Dennoch ist die Thatsache nicht hinwegzuleugnen, daß nicht gleichmäßig
gearbeitet worden ist, daß einzelne Berufsgenossenschaften noch gar nichts,
andre bisher nur herzlich wenig gethan haben. Auch unter den ältern 59
gewerblichen Berufsgenossenschaften, deren Bestehen in diesem Herbst größten¬
teils schon sieben Jahre zurückreicht, haben verschiedne noch gar keine Unfall¬
verhütungsvorschriften erlassen. Andre haben wohl Vorschriften, aber solche,
die vielleicht in wenigen Stunden am grünen Tisch, aber nicht nach einem
gründlichen Studium an Ort und Stelle, in den Fabriken und Arbeitssälen
entstanden sind. Mir sind Unfallverhütungsvorschriften bekannt, die nichts
weiter enthalten als ganz allgemeine Bestimmungen, des Inhalts, daß die
Arbeitsräume, Treppen und Flure erleuchtet sein müssen, daß die Fußboden
in einem guten Zustande zu erhalten, die Treppen mit einem Geländer zu
versehen, Kanäle und Wasserläufe zu verdecken sind, Kraftmaschinen in be-
sondern Räumen aufgestellt oder doch eingefriedigt, Triebwerke nach Möglich¬
keit umkleidet, Arbeitsmaschinen, wo es angeht, mit Schutzvorrichtungen ver¬
sehen sein müssen, daß das Reinigen der Maschinell während des Betriebes
verboten ist und dergleichen — also ganz allgemein gehaltne Vorschriften, die
nicht nur auf jede Gewerbeart der betreffenden Berufsgenossenschaften, sondern
auf die ganze Industrie in gleicher Weise Anwendung finden könnten. Und
doch umfassen diese Berufsgenossenschaften vielleicht eine ganze Anzahl grund-
verschiedner Gewerbegruppen. Hier haben wir Hand-, dort Maschinenarbeit.
An dieser Gruppe finden wir vorzugsweise Maschinen der einen, in jener
einer andern Art. Die Maschinen derselben Gruppe werden alle Ähnlichkeit
mit einander haben, die einen, neuer» Ursprungs, werden aus andern ältern
Maschinen durch allmähliche Verbesserungen entstanden sein. Hier wird durch
eine Schutzvorrichtung die Gefährlichkeit einer ältern Maschine vermindert sein,
dort wird der schnellere Gang, die Vergrößerung der Maschinenteile die Ge¬
fahr gesteigert haben.
Da giebt es auf dem Gebiete der Unfallverhütung unendlich viel zu thun.
Bald wird man zusehen müssen, die große Gefährlichkeit einer ältern Maschine
durch eine geeignete Vorrichtung zu verringern, bald wird es sich darum han¬
deln, den schneller arbeitenden, neuern Maschinen durch technische Hilfsmittel
die Sicherheit der ältern Bauart wiederzugeben. In jedem Falle aber bedarf
es des Eingehens auf die verschiednen Arbeitsgebiete, bedarf es der Vor¬
schriften nicht für Maschinen im allgemeinen, sondern sür die Maschinen der
einzelnen Betriebsarten. Nur so wird man erreichen, daß altes, unbrauch¬
bares allmählich durch neues, besseres ersetzt wird, und daß bei allen Neu¬
konstruktionen neben der Ersparnis für die Produktion auch immer die Frage
der Betriebssicherheit gleich von Anfang an berücksichtigt wird.
Es muß von allen Berufsgenossenschaften dahin gestrebt werden, die
Unfallverhütungsvorschriften den verschiednen Gewerk^weigen soweit als nur
irgend möglich anzupassen. Die Unternehmer, die ihren Verpflichtungen nach¬
kommen und sich die Betriebssicherheit in ihren Fabriken angelegen sein lassen,
brauchen nicht zu befürchten, daß sie sich dadurch einer zu weit gehenden poli¬
zeilichen Bevormundung von oben herab aussetzen. Man wird sich bei der
Auswahl der Schutzvorrichtungen und der Anordnungen, die für die Sicher¬
heit des Betriebes erforderlich scheinen, nur an das halten, was man vorsindet
und was sich bereits bewährt hat. Man wird von den Einrichtungen aus¬
gehn, die in den bessern Fabriken derselben Art allgemein gebräuchlich sind,
sich bei Vorkehrungen, die für die Sicherheit wünschenswert scheinen, aber
noch nicht allgemein eingeführt sind, ans eine Empfehlung beschränken und
wesentliche Forderungen nnr an die Unternehmer stellen, die mit ihren ver¬
alteten Fabriken oder infolge sonstiger Mängel im Betriebe fortgesetzt eine
hohe Unfallziffcr aufzuweisen haben und so die Berufsgenossenschaft über Ge¬
bühr belasten. Und selbst hier wird man mit der nötigen Schonung vorgehn.
Man wird einen Unternehmer nicht zwingen, seine alte, vielleicht verschuldete
Fabrik abzureißen und durch eine neue zu ersetzen. Man wird billigerweise
nur das von ihm verlangen, was er bei seinen Mitteln und einigem guten
Willen zu leisten imstande ist. Höchstens daß man einen kleinen Zuschlag
zum Beitrage erheben wird, um für die höher« Unfalllasten wenigstens teil¬
weise eine Entschädigung zu haben.
Natürlich wird man sich nicht damit begnügen können, die Unfall¬
verhütungsvorschriften auf dem Papier zu haben, man wird anch dafür Sorge
tragen müssen, daß sie befolgt werden, und so wird man Beauftragte anzu¬
stellen haben, die die Fabriken einer fortgesetzten Kontrolle unterziehen. Die
Kosten, die solche Ämter verursachen, dürfen die Berufsgenossenschaften nicht
abschrecken, sie machen sich bezahlt, wenn man nur bei der Anstellung der
Beamten die richtige Auswahl trifft. Tüchtige und umsichtige Techniker finden
bei den Berufsgenossenschaften ein weites und dankbares Feld für die Be¬
thätigung ihrer Fähigkeiten, ein Arbeitsfeld, das mit der bloßen Revision der
Betriebe durchaus nicht abgeschlossen zu sein braucht. Die Revisoren haben
die verschiedensten Fabriken zu besuchen gehabt, sie haben Gelegenheit gehabt,
Maschinen für dieselben Fabrikationszwecke von ganz abweichenden Bau mit
einander zu vergleichen, sie haben hier eine Schutzvorrichtung gesehen, die im
ganzen vorzüglich war und nur eine kleine Unvollkommenheit hatte, an einer
andern ähnlichen Vorrichtung, die vielleicht ganz andern Zwecken diente, haben
sie diese UnVollkommenheit beseitigt gefunden. Die Mannichfaltigkeit dessen,
was sie zu sehen bekommen, schärft ihren Blick und schützt sie andrerseits vor
Einseitigkeit und Überschätzung des einzelnen. So bilden sie sich allmählich zu
gründlichen Kennern und Sachverständigen aus, von denen die Genossenschafts¬
vorstände Anregung zu neuen Verbesserungen und bei geplanten Maßnahmen
aus dem Gebiete der Unfallverhütung Rat und Unterstützung erwarten dürfen.
Unfallverhütungsvorschriften und Aufsichtsbeamte sollten in keiner Berufs-
genossenschaft fehlen. Vorläufig aber fehlen sie noch an vielen Stellen, und
es wird wohl auch noch lange Zeit vergehen, bis sie überall zu finden sein
werden. Aber auch diese Zeit braucht bei dem nötigen Willen nicht ohne
Nutzen für die Unfallverhütung zu verstreichen. Man kann nach den bestehenden
gesetzlichen Bestimmungen vieles auch ohne Unfallverhütungsvorschriften und
Aufsichtsbeamte erreichen.
Die Handhabe dazu bietet der H 28 des Gesetzes. Es heißt da im letzten
Abschnitte: „Die Genossenschaftsversammlnng kann den Unternehmern nach
Maßgabe der in ihren Betrieben vorgekommenen Unfälle für die nächste
Periode Zuschlage auflegen oder Nachlasse bewilligen." Also man verzeichne
die einzelnen Unfälle und die durch sie verursachten Kosten für die einzelnen
Betriebe und vergleiche sie mit den gezählten Beiträgen. In den Beiträgen
stecken noch Berwaltungskosten und Zuschlage zum Reservefonds, die Ent¬
schädigungen aber werden im Durchschnitt einen ganz bestimmten Prozentsatz
der Beitrüge ausmachen. Wird dieser Prozentsatz im Einzelfalle überschritten,
so sind mehr Unfallkosten zu zahlen gewesen, als im Durchschnitt auf die
übrigen Unternehmer fallen. Handelt es sich dazu um einen größern Betrieb
mit mehreren hundert Arbeitern, und ist das Mißverhältnis zwischen den wirk¬
lichen und den mittlern Unfallkosten groß, so wird man mit Sicherheit an¬
nehmen können, daß die Betriebssicherheit hier geringer ist als in den andern
Betrieben der gleichen Art. Geht man auf die Zahl der Unfälle zurück, so
wird man dies bestätigt finden, und man wird auf Grund dieser Thatsache
berechtigt sein, eine Erhöhung des Beitrags eintreten zu lassen, mich ohne
die Ursache der höhern Betriebsunsicherheit zu kennen. Bei guten sonstigen
Einrichtungen der Fabrik werden dann sicherlich entweder zu viel jugendliche,
ungeübte Arbeiter eingestellt sein, oder es wird eine zu lange Ausdehnung der
Arbeitszeit, Mangel an dem genügenden Aufsichtspersonal oder ähnliches vor¬
liegen. Eine Ursache wird die hohe Betriebsgefahr schon haben. Es kann
wohl einmal Zufall sein, wenn in kleinern Betrieben vielleicht im Zeitraum
eines Jahres zwei oder drei Unfälle vorkommen, in einem größern Betriebe
von tausend oder mehr Arbeitern aber werden die Unfälle schon mit einer
gewissen Regelmäßigkeit erfolgen, vom Zufall wird man vielleicht noch in
dieser oder jener Abteilung, nicht aber im ganzen Betriebe sprechen können.
Schwieriger ist es natürlich, sich über die Sicherheit kleinerer Betriebe
nach kürzerer Beobnchtungszeit ein Urteil zu verschaffen. Doch wird man sich
auch hier in einer großen Zahl von Fällen helfen können, wenn man neben
den entschädigten Unfällen alle gemeldeten Unfälle ins Auge faßt, also auch
die, die in drei, vier Tagen, jedesfalls aber innerhalb der dreizehnwöchentlichen
Karenzzeit geheilt worden sind. Da es sich hier um eine weit größere Zahl von
Beobachtungen handelt, wird man bald auch für kleinere Fabriken mit Sicher¬
heit herausfinden, wo Zuschlage zu den gewöhnlichen Beiträgen am Platze sind.
Die Zuschlage sollen nicht nur die Berufsgenossenschaften zu einem Teil
sür die höhern Kosten entschädigen, die ihnen ans schlecht eingerichteten und
geleiteten Betrieben erwachsen, sie haben anch einen erzieherischen Zweck, und
dieser wird in den meisten Fällen erreicht werden. Das eigne Interesse wird die
Unternehmer nach solchen Zuschlagszahlungen schon dahin bringen, in der Über¬
wachung ihrer Betriebe die peinlichste Sorgfalt eintreten zu lassen und alles zu
vermeiden, was eine Erhöhung der Unsallgefahr herbeiführen könnte. Vielleicht
bedürfte es hie und da auch nur eines Anstoßes, um gewisse Mängel in den
Vetriebseinrichtungen zu beseitigen, die als solche schon vorher bekannt waren.
Auf einen Übelstand, dem sicher abzuhelfen ist, und der zahllose Unfälle
zur Folge hat, möchte ich noch besonders aufmerksam machen: ans das Putzen
und Neinigen der Maschinen während des Ganges. Man sehe nur einmal
die Unfallanzeigen durch, die tagtäglich bei eiuer Berufsgenossenschaft einlaufen,
und man wird sich überzeugen, wie viel hier gesündigt wird, wie viele und
schwere Unfälle diese nicht auszurottende Unsitte verursacht. Es ist immer die
alte Geschichte. Hier war Staub und Schmutz zwischen die Maschine ge¬
kommen, man versuchte ihn mit einem Lappen während des Ganges zu ent¬
fernen, der Lappen wurde vom Räderwerk erfaßt, die Hand mit hineingezogen.
Dort war ein Flocken Wolle in die Räder geraten, man wollte ihn mit den
Fingern wieder erfassen, hatte sie nicht schnell genug weggezogen, und die
Finger wurden gequetscht. Das Reinigen der Maschinen während des Ganges
ist nach der Fabrikordnung untersagt, hie und da wird auch eine Arbeiterin
bei einem gelindem Unfall mit einer Geldstrafe belegt. Aber es hilft nichts,
es wird weiter geputzt, und die Unfälle nehmen ihren Fortgang.
Es verleiten auch zu viele Umstände dazu, die Maschine nicht jeder Kleinigkeit
wegen auszurücken! Hier ist die Maschine schwer abzustellen, mau ist vielleicht
noch nicht recht darauf eingeübt und möchte sich auch nicht erst zu diesem Zweck
an eine Mitarbeiterin wenden. In jedem Falle erfordert das Abstellen und das
Wiedereinrücken der Maschine Zeit, und Zeit bedeutet Geld. Bis die Maschine
wieder in Gang gesetzt ist, kann das Webeschiffchen schon so und so oft hin
und her geflogen, könne» schon so und so viele Stempelabdrücke gefertigt sein,
und man arbeitet ans Mord. Der Lohn richtet sich nach der Länge des ab¬
gelieferten Gewebes, nach der Anzahl der gestempelten Bogen, und der Unter¬
nehmer billigt wohl gar entgegen der Fabrikordnung dieses unvorschriftsmäßige
Neinigen der Maschinen. Die Mitarbeiter putzen stündig während des Ganges,
die Arbeiterin hat das täglich vor Augen, ohne daß ihres Wissens ein Unfall
geschehen ist. hundertmal ist es ihr selbst geglückt. Sie greift nach der Wolle,
die gerade jetzt wieder von unten herauf an ihr vorüberkommt, und das Un¬
glück ist geschehen, sie hat die Unvorsichtigkeit mit dem Verluste von zwei
Fingergliedern zu büßen, wenn sie nicht noch härter gestraft wird.
Hier gehe man von feiten der Genosfenschaftsvorstände entschieden vor.
Das Putzen der Maschinen während des Ganges hat zu viele Unfälle zur
Folge, als daß man nicht mit allen Mitteln dahin streben müßte, es auszu¬
rotten. Man lege eben auch den Unternehmern, nicht nur den Arbeitern, im
Wiederholungsfalle Strafen auf. Die stündige Gefahr stumpft freilich ab und
führt zur Sorglosigkeit. Man sorge aber für handliche und wenig zeitraubende
Vorrichtungen zum Ausrücken und Einrücken der Maschinen, dann werden sich
die Arbeiter schon daran gewöhnen, von ihnen Gebrauch zu machen, ebenso
wie sie dahin gebracht werden müssen, beim Auflegen der Transmissionen sich
geeigneter Anflegestangen zu bedienen. Würde bei allen Verrichtungen immer
mit der nötigen Vorsicht und Umsicht verfahren, so würde die Zahl der Un¬
fälle weit geringer sein, und die dafür zu zahlenden Entschädignngskosten würden
nicht mehr die unverhältnismäßig!.' Zunahme aufzuweisen haben wie in den
letzten Jahren.
Die Genosfenschaftsvorstände müssen der Unfallverhütung ihre ganze Auf¬
merksamkeit zuwenden und am richtigen Platze anch Strenge walten lassen.
Wenn sich sämtliche Berufsgenossenschaften dazu verstehen könnten, eingehende
Unfallverhiitnngsvorschriftcn zu erlassen und zur Beaufsichtigung der Betriebe
die erforderliche Zahl von Revisoren anzustellen, ihre Mühen und Kosten
würden reichlich belohnt werden. Der pekuniäre Erfolg wäre weit größer
als der bei den Rentenherabsetzungen. Der moralische Erfolg aber wäre noch
höher anzuschlagen.
Bisher ist das Hauptbestreben der Berufsgenossenschaften darauf gerichtet
gewesen, die Arbeiter," die in ihrem Berufe verunglückt waren, durch geeignete
ärztliche Behandlung nach Möglichkeit wieder gesund und erwerbsfähig zu
machen. Eine der Kultur und Gesittung aber noch würdigere Aufgabe wäre
es, dafür zu sorgen, daß es gar nicht erst zur Verletzung käme, die Einrich¬
tungen in den Fabriken so zu verbessern, daß Unglückssülle nicht, wie heute
leider noch, die Regel, sondern die Ausnahme bildeten.
es gebe zu — und ich setze mich damit gern den Angriffen der
erklärten Antisemiten aus —, daß sich unter ihnen viele dunkle
Ehrenmänner befinden, die die Sache bloß als Geschäft betreiben,
und die selbst ebenso wenig wert sind, wie die schlechten Juden,
die sie angreifen. Aber das beweist noch nicht, daß sie Unrecht
hätten. Der italienische Abgeordnete Jmbriani hat einmal die denkwürdigen
Worte gesprochen: „Ich bin gar nichts, was ich sage, ist alles." Die Juden
ändern an der Sache nichts, wenn sie ihren Gegnern ni xsrsormm alles mög¬
liche Böse nachweisen, wie sie anch nichts daran ändern, wenn sie noch so
viele Namen berühmter Männer anführen, die sie der deutschen Wissenschaft
und Litteratur geliefert haben. Ich halte Heine auch für ein großes dichte¬
risches Talent, wenn er mir auch als Mensch nicht sympathisch ist, ich erkenne
auch die Bedeutung eines Spinoza, eines Mendelssohn, eines Lassalle und
Marx an^) ^ aber das alles beweist nicht, daß das jüdische Spekulanten-
und Wucherertum ruhig weiter fvrtbestehn dürfe!
Schließlich wird in der Diskussion gesagt, der Anteil der Juden an Mord
und andern gewaltthütigen Verbrechen sei bei weitem geringer als der der
Christen, und dies wiege ihren größern Anteil an Verbrechen aus Gewinn¬
sucht auf; wer anders denke, halte den Mord wohl für ein geringeres Ver¬
brechen als den Betrug, und das sei eben Geschmackssache. Für mich bedeutet
eine solche Antwort ein Herumgehn um Thatsachen, denen man doch mit Mut
und Wahrheitsliebe ins Gesicht sehn sollte. Anstatt die ganze Strenge des
Gesetzes gegen den Verbrecher anzurufen — schon um mit ihm nicht in einen
Topf geworfen zu werden —, weist man auf einen andern hin und sagt, der
andre sei noch schlechter. Gesetzt, es wäre wirklich so, so bewiese dies doch
wieder nicht das geringste. Wenn man übrigens nicht mit relativen, sondern
mit absoluten Zahlen operirte, so würde man sich leicht überzeugen, daß die
Zahl der Mörder im Verhältnis zur Zahl der Betrüger und Schwindler aller
Art verschwindend klein ist und infolge dessen auch die erstern für das Ge¬
meinwesen viel weniger gefährlich sind als die letztern. Jeder von uns, die
anständigen Juden wieder nicht ausgenommen, kann bezeugen, daß er schon
oft übervorteilt und beschwindelt worden ist beim Warenkauf, beim Geldwechsel,
bei Börsengeschäften u. s. w.; ermordet aber wird wohl erst ein Mensch auf
Hunderttausende. Die Ausbeutung in allen Formen ist daher eine allgemeine
Gefahr, der Kampf dagegen eine Bedingung der Selbsterhaltung. Gegen die
Mörder reichen unsre Gesetze aus, die Betrüger und Schwindler vermögen sie
noch lange nicht alle zu fassen.
Wenn die Antisemiten den Atheismus und das Weltbürgertum des modernen
Judentums sehen, wenn sie die Kampfesweise betrachten, die nicht nur ihren
rohen Wutausbrüchen, was ja verzeihlich wäre, sondern auch ihren öffentlich
vorgebrachten Argumenten gilt, dann ist es doch kein Wunder, daß sie von
einer „goldnen Internationale" reden, daß sie die Guten und die Schlechte»
zusammenwerfen, weil die Guten durch ihre Schwäche und ihre Veschönigungs-
versuche den Schlechten in die Hand arbeiten, ja wenn sie schließlich darauf
verfallen, eine Austreibung aller Juden aus dem Lande zu fordern.
So stark ich auch im Einklang mit dem christlichen Sittengesetz jedes
Ausnahmegesetz gegen eine Klasse von Menschen verurteile und verabscheue,
s» muß ich doch bekennen, daß ich gleich stark jede Beschönigung und Ver¬
teidigung des Lasters mißbillige und verachte. Wenn die Juden nicht von den jüdi¬
schen Schwindlern lassen wollten, weil diese desselben Glaubens mit ihnen sind
und derselben Rasse angehören, dann bliebe wahrlich nichts weiter übrig, als die
Schlechten und Schwachen unter ihnen samt und sonders ans dem Lande zu
jagen. Aber so liegen die Dinge doch glücklicherweise nicht. Außer den her¬
vorragenden Talenten haben die Juden, was mehr wiegt, doch auch eine große
Zahl solcher hervorgebracht, die zwar nur Durchschnittsmenschen, aber doch
tüchtige Charaktere waren, und die z.B. in den Kämpfen von 1348 für die
Nationen, denen sie sich angeschlossen hatten, Gut und Leben wagten; außer¬
dem eine große Zahl der edelsten Menschenfreunde und der ehrlichsten Leute in
jedem Berufe. Diese Juden, die die öffentliche Schule, die Gleichberechtigung,
die Teilnahme am politischen Leben der Gegenwart zu verdienstvollen Bürgern
gemacht hat, weil sie Gottesglauben und Nationalitätsgefühl besaßen, bieten
doch Gewähr für eine beßre Zukunft, sie lassen hoffen, daß die Juden ihre
Rasfeneigentümlichkeiten niederkämpfen und sich der modernen Gesittung an¬
bequemen werden, ohne daß es zu Ausnahmegesetzen und Austreibungen zu
Gren
kommen braucht. Nur muß dieser Prozeß rascher als bisher vor sich gehn,
wenn dem Antisemitismus mit Erfolg begegnet werden soll.
Die jüdische Empfindlichkeit, die sich überall sofort zeigt, wenn irgendwo
über jüdische Schwindler geschimpft wird, muß unbedingt aufhören, mau muß
die Ansicht aufgeben, daß es Ehrenpflicht jedes Juden sei, seine Glaubens¬
genossen den Christen gegenüber zu verteidigen, auch wenn sie Schurken sind.
Während dem Juden gestattet wird, über christliche Mörder oder Diebe zu
schimpfen, wird in der jüdischen Presse sofort Lurn geschlagen, wenn einem
jüdischen Bankier oder Gewehrfabrikanten Schwindel vorgeworfen wird. Zeigt
sich dann, daß der Mann wirklich schuldig war, so wenden die Juden wohl
ein, daß man nicht verallgemeinern dürfe, daß jeder Schluß aus dem Einzel¬
fall auf das allgemeine unlogisch und übereilt sei, und darin haben sie ja
natürlich Recht. Aber sie stören selbst diesen Jdeengang, indem sie von vorn¬
herein für den Glaubensgenossen eintreten, anstatt den Beschuldigten einfach den
Gerichten zu überlassen, mit andern Worten, indem sie jede Privatsache zu
eiuer öffentlichen Angelegenheit aufbauschen, sowie einer der Beteiligten ein
Jude war. Wenn ein Christ beleidigt wird, so ist das natürlich seine Sache;
wird aber einem Juden ein Haar gekrümmt, so stößt die gesamte jüdische
Presse einen Schrei der Entrüstung aus. Diese Empfindlichkeit verhindert zu¬
gleich jede sachliche Erörterung und macht jede Verständigung unmöglich.
Einen krassen Beweis von dieser Empfindlichkeit liefert die Wucherfrage. Als
im Jahre 1887 der Verein für Sozialpolitik, der die hervorragendsten und
tüchtigsten Nationalökonomen der Gegenwart zu seinen Mitgliedern zählt und
über den Vorwurf des Antisemitismus gewiß erhaben ist, auf Grund eines im
Jahre 1886 ausgesandten Fragebogens einen Sammelband über den Wucher
auf dem Lande veröffentlichte, worin eine Reihe der haarsträubendsten Einzel¬
heiten mitgeteilt wurde, hatte die jüdische Presse nichts eiligeres zu thun, als
die Ergebnisse dieser Forschungen anzuzweifeln, ja geradezu zu leugnen, daß
es überhaupt Wucher auf dem Lande gebe. Es hätte nur noch die Behaup¬
tung gefehlt, daß die Dvrfjuden in Wahrheit die Wohlthäter und Freunde der
Bauern seien, und daß sich die Bauern gar keine Änderung ihrer Lage wünschten.
Ja selbst diese Behauptung wurde von einem jungen Adepten der Staats¬
wissenschaften, wenn auch in verblümter Form, vorgebracht. Dieses beharrliche
Leugnen muß unbedingt endlich aufgegeben werden.
Doch damit wäre erst eine Verständigung angebahnt, aber die Judenfrage
noch lange nicht gelöst. Die ehrliche jüdische wie die ehrliche antisemitische
Presse muß es als ihre Aufgabe betrachten, das gemeinschädliche Treiben der
Börsenspekulant^,, der Wucherer und des käuflichen Preßbengeltums rück¬
sichtslos ans Licht zu ziehn und, wenn auch mit Ausschluß persönlicher
Denunziationen, an den Pranger zu stellen.
Wenn die Juden so den Kampf gegen die Korruption und Ausbeutung
nicht nur nicht verwerfen und verleumden, sondern sich selbst daran beteiligen,
so wird darin der beste Beweis ihres Patriotismus liegen, sie werden durch
die That beweisen, daß sie keine Kosmopoliten sind, keine geheime Inter¬
nationale bilden, sondern daß ihnen an dem Wohle des Staats und an ihren
christlichen Mitbürgern mehr liegt, als an ihren unehrlichen Glaubensgenossen.
Aber dies ist nur möglich, wenn die Juden ihren flachen, selbstsüchtigen Ma¬
terialismus aufgeben und sich nicht durch hohle Worte oder Phrasen, sondern
durch Handlungen zur Religion bekennen, wenn nicht zur jüdischen Religion,
die sie selbst am stärksten im geheimen bespötteln, so doch mindestens zum
Deismus. Ist dies einmal geschehn, dann wird Erziehung und thatsächliche
Gleichberechtigung die sittlichen Grundlagen der als wahr erkannten Religion
befestigen, und List und Schlauheit werden der Hingebung und Treue Platz
machen.
Doch man wird einwenden: das ist ein weiter Weg, nud bis Religion
und Erziehung Rasseneigentümlichkeiten und geschichtliche Überlieferungen zu¬
rückgedrängt und überwunden haben, kann es noch lange währen, und die
Börsenwirtschaft und das Wucherwesen wird inzwischen immer weitere Kreise
Mhn, wenn sich die Gesellschaft nicht mit aller Macht dagegen zur Wehr setzt.
Deshalb erachte ich eine Revision des bürgerlichen, des Handels- und
des Strafgesetzbuchs für notwendig, dergestalt, daß Ausbeutung möglichst ver¬
ändert, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit von Leistung und Gegenleistung
un Verkehr möglichst verwirklicht, jede Übervorteilung strenger als bisher ge¬
ahndet werde.
Ich halte es z. B. für notwendig, jede Übervorteilung beim Viehkauf, bei
der Viehleihe, beim Grund- und Bodenwucher, beim Viktualien- und Getreide¬
handel, im Pfandleih- und Nückkanfsgeschüfte, desgleichen die alle Tage vor¬
kommenden Steuerhinterziehungen unter das allgemeine Strafgesetz zu stellen.
Eine nähere Ausführung dieses Gedankens werde ich an andrer Stelle zu geben
Ersuchen. Aber damit halte ich die notwendigen Reformen noch lange nicht
sur erschöpft. So erscheint mir noch die Beschränkung der allgemeinen Wechsel-
Fähigkeit, die Einführung eines den thatsächlichen Verhältnissen Rechnung
tragenden Anerbenrechtes und obligater, nicht fakultativer Heimstätten, eine
Organisation des landwirtschaftlichen Kredits im großen Stile mit Stcmts-
h>lfe ersprießlich, ja für die Gesundung der ländlichen Verhältnisse geradezu
notwendig. Schon jetzt ist ja, während die Harte der Strafen in den modernen
Gesetzbüchern im allgemeinen abnimmt, die Richtung unverkennbar, in allen
Formen der Übervorteilung, vor allen aber des Wuchers, die Strafe zu ver¬
schärfen. Man vergleiche nur die betreffenden Bestimmungen des preußischen
Lnndrechts mit 8 263 des Strafgesetzbuchs vom 14. April 1851, für Frankreich
das Gesetz von 1807 mit der Novelle von 1850, für Österreich das Theresianische
und Josephinische Gesetz mit dem Wucherpatent von 1803 und alle diese Gesetze
mit den Wuchergesetzen der Neuzeit: für Deutschland vom 24. Mai 1880, für Öster¬
reichs zwei Kronländer vom 19. Juli 1877, und für ganz Österreich vom 28. Mai
1881. Es gilt nur, diese Richtung noch allgemeiner als bisher zu verfolgen, die
Strafen für Wucher wie die für Betrug, betrügerischen Bankrott, Veruntreuung^
Verkauf gefälschter Nahrungsmittel u. f. w. noch zu verschärfen und in der
Praxis nicht eine ungeziemende Milde walten zu lassen, die gerade bei diesen
Verbrechen häusig unter das Strafminimum herabgeht, sondern die Sicherheit
des Verkehrs, dessen Schutz doch sonst das Ziel aller bürgerlichen Gesetzgebung
ist, energisch zu verteidigen. Mit jeder Verurteilung müssen hohe Vermögens-
strafen und Ehrverlust verbunden werden.
Aber auch zur Deportation verurteilter Verbrecher müßte man endlich
greifen.
Der berühmte italienische Rechtslehrer Garofalo verlangt mit Recht
Reinigung der Gesellschaft von gemeinschädlichem Menschen, die „Selektion,"
und er geht mit Rücksicht auf die Erblichkeit so weit, zu verlangen, daß man
die Verbrecher der Fortpflanzungsfähigkeit beraube, damit ihre Nachkommen
ihre niedrigen Antriebe nicht erben und so ihre Zahl in der Gesellschaft nicht
wachse. Es füllt mir nicht ein, die Annahme dieses Grundsatzes zu empfehle»,
ich beschränke mich darauf, zu behaupten, daß es nur recht und billig sei, wenn
der Verbrecher, namentlich der, von dem die Wiederholung seines Verbrechens
zu befürchten ist — und dies ist z. B. bei Wucher, Betrug und betrügerischen
Bankrott immer der Fall —, seinem „Wirkungskreis" unbedingt entzogen
werde. Der verurteilte Dorfwucherer dürfte nicht mehr in dem Dorfe, der
verurteilte Börsenspekulant nicht mehr in der Stadt bleiben, wo er seine
Opfer gefunden hat. Das österreichische Wuchergesetz von 1881 hat bereits
einen Anlauf zu dieser Maßregel genommen, indem es mit der Verurteilung
die „Ortsabschaffuug" — wenn auch nur fakultativ — verbunden hat.
Aber der Wucherer darf überhaupt nicht mehr im Lande bleiben, weil sonst
zu befürchten steht, daß ihm die bloße Ortsausweisung mehr Nutzen als
Schaden bringen werde, indem er einfach ein andres Dorf oder eine andre
Stadt aufsucht und sein nichtswürdiges Treiben dort von vorn beginnt.
Jüdische wie christliche Wucherer, Betrüger, Schwindler aller Art sollten über
deu Ozean geschafft werden und zur Bevölkerung des schwarzen Erdteils bei¬
tragen. Das wird ihrem Vaterlande und auch denen unter ihnen, die dem
Klima zu trotzen vermögen, oder doch ihren Nachkommen gewiß zum Segen
gereichen. Sie werden den Wert der Arbeit und deren sittlichen Einfluß an
sich selbst erproben, und der Glaube an Gott, die Liebe für ihre Nation wird
in ihre öde Herzen wieder einziehn. Australien war lange Zeit nichts andres
als eine Verbrecherkolonie Englands, und die Nachkommen dieser Verbrecher
sind heute mindestens ebenso ehrlich, wie die Leute in andern Erdteilen. Wer
an deu Grundvesten des Staates rüttelt, darf keinen Anteil an den Wohl-
thaten beanspruchen, die allein für die Staatsangehörigen bestimmt sind. Er
hört auf, Bürger zu sein und darf expatriirt werden, mit größerm Rechte,
als dies durch das deutsche Gesetz vom 4. Mai 1874 gegenüber den katho¬
lischen Geistlichen gestattet und 1888 gegenüber den Sozialisten durch den
Bundesrat wenigstens beabsichtigt worden war. Hier ist ja aber nicht einmal
von Expatriiruug, sondern nur von Deportation verurteilter Verbrecher
die Rede.
Hand in Hand mit diesen einschneidenden Reformen aber muß noch etwas
andres gehn: es muß verhütet werden, daß die kleinen Vermögen durch das
große Bvrseukapital „mittels organisirter Spielkuppelci," wie Schaffte sagt,
vernichtet werden. Dem Aktienschwindel und dem faulen Gründungswesen
muß endlich einmal das Handwerk gelegt werden. Wenn es im Interesse der
Gesamtheit ist, daß die Börsengeschäfte, die in kurzen Zeiträumen die gewal¬
tigsten Eigentumsverschiebungen hervorrufen können, auf die Börfenmänner
und protokvllirten Kaufleute beschränkt bleiben, wenn anerkannt wird, daß es
gemeinschüdlich ist, wenn kleine Beamte, Handwerker, Köchinnen, Pensionäre,
Diener u. s. w. ihre sauer ersparten paar Groschen zum Bankier oder Börseu¬
ngenten tragen und diesem gestatten, damit zu spekuliren, so wage man ja
nicht, jene Spitzbuben, die dem leichtgläubigen Publikum das Geld aus den
Taschen locken, mit Phrasen wie „Popularisirung der Spekulation," „Demo-
krntisirung der Börse" u. a. in. zu verteidigen. Im Gegenteil, man bestehe
darauf, daß Makler und Agenten nur im Namen von protokollirten Kauf¬
leuten, die allenfalls von der Sache etwas verstehen, Börsenaufträge annehmen
und ausführen; alle von andern Personen herrührenden Aufträge müssen als
null und nichtig angesehn, Geschäfte, die für solche Personen abgeschlossen
worden sind, aufgehoben und der Kontrahent, der in gutem Glauben gehandelt
hat, vom Makler entschädigt werden. Es müßte einfach — sit veuig, verbo —
eine Einschränkung der Börsenfähigkeit beschlossen werden, wie eine Einschrän¬
kung der Wechselfähigkeit schon seit geraumer Zeit infolge der von den Dorf¬
wucherern angerichteten Verheerungen von wohlunterrichteter Seite befür¬
wortet wird.
Soll aber ein solches Gesetz auch wirksam sein, so muß der Börsenoli¬
garchie ihr feiler Bundesgenosse, die Presse, entzogen werden. Die politische
Tagespresse dürfte entweder gar keine ausführlichen Börsenberichte und Annoncen
von Speknlationsbanken bringen — dies wäre den Fachzeitungen zu über¬
lassen —, oder sie müßte auch für ihre Berichte und den dadurch hervor-
gernfnen Schaden verantwortlich gemacht werden. Es giebt kein natürliches
Interesse der Gesamtbevölkerung für die Börse, das künstliche Interesse wird
durch spaltenlange Reklamen und Annoncen, die mit „Beteiligungen" und
Aktien splendid bezahlt werden, wachgerufen und erhalten. Die Gesamtbevölke-
rung versteht nichts von den Hunderten vou Werten, die an der Börse ge-
handelt werden, sie stürzt sich blind in die Spekulation in dem Vertrauen auf
die Versicherungen der Zeitung oder auf die Beteuerungen der Bauernfänger
im Inseratenteile. An der See erscheint es uns notwendig, Räume für Nicht¬
schwimmer abzugrenzen, in denen sie ruhig baden können; im wirtschaftlichen
Leben hält man keine Veranstaltung von nöten, den großen Heringszug zurück-
zustauen, der, mit den Worten Schäffles zu sprechen, geradeswegs in den auf¬
gesperrten Walsischrachen der Geldoligarchie hineinrennt.
Natürlich wird jener Teil der liberalen Presse, der sein Hauptcinkvmmen
seiner „Fühlung" mit den Vvrsenkreisen verdankt, meinen Standpunkt mit der
„wirtschaftlichen Freiheit" und andern aus der manchesterlichen Rumpelkammer
hervorgeholter Phrasen bekämpfen. Gegen einen zweiten Vorschlag aber wird
er beim besten Willen auch nicht eine Phrase einwenden können.
„Wer sich zu einem Amt, zu eiuer Kunst, zu einem Gewerbe oder Hand¬
werke öffentlich bekennt, oder wer ohne Not freiwillig ein Geschäft übernimmt,
dessen Ausführung einige Kunstkenntnisse oder einen nicht gewöhnlichen Fleiß
erfordert, giebt dadurch zu erkennen, daß er sich den notwendigen Fleiß und
die erforderlichen, nicht gewöhnlichen Kenntnisse zutraue; er muß daher den
Mangel derselben vertreten." So sagt das österreichische allgemeine bürger¬
liche Gesetzbuch in 1299, und ähnliche Grundsätze finden sich in den deutschen
Gesetzen und im Ooäs ^apolvon. Nun haben sich ja die Zeitungen öffent¬
lich zu der Kunst bekannt, die wirtschaftlichen Verhältnisse zu enträtseln, und
das Amt übernommen, dem Publikum darüber Aufschluß zu geben, und für¬
wahr ohne Not, freiwillig das Geschäft auf sich geladen, die Gesamtbevölke¬
rung über die Vorgänge an der Börse zu unterrichten. Wenn also dieselben
Zeitungen, die die hierzu erforderlichen, nicht gewöhnlichen Kenntnisse besitzen
müssen, durch Empfehlung von Schwindelwerten oder Unterlassung der nötigen
Kritik thatsächlichen Schaden anrichten, so müssen sie diesen Schaden vertreten,
und zwar ohne Rücksicht darauf, ob ihnen nachgewiesen werden kann, daß sie
für ihre Reklame oder ihr beredtes Schweigen bezahlt worden sind oder nicht.
Man lasse nur nach einer wirtschaftlichen .Krisis, wie sie in Wien im Jahre
1873 stattgefunden hat, die großen Zeitungen die ruinirten kleinen Leute ent¬
schädigen, man untersuche nach Zusammenbruch jedes Bankinstituts oder einer
sonstigen Unternehmung, welche Zeitungen dafür Reklame gemacht haben, und
lasse sie als Teilhaber des Unternehmers für den unbedeckten Schaden auf¬
kommen, und man wird sehn, daß das Neklmnewesen von selbst aufhören wird,
die Zeitungen nur das als gut und solid erprobte loben und mit ihrer Re¬
klame zurückhaltender sein werden, da sie sonst Gefahr laufen würden, in den
Verdacht der Käuflichkeit zu kommen und selbst ruinirt zu werden.
Schließlich wende ich mich noch zu einer verwaltungsrechtlichen Frage.
Fast allgemein wird anerkannt, daß sich die Verhältnisse des Dorfes von
denen der Stadt grundsätzlich unterscheiden und daher eines besondern Bauern-
rechts bedürfen. Einer der bedeutendsten Agrarpolitiker Deutschlands, Geheimrat
von Miaskowski, hat sich, von diesem Standpunkt ausgehend, für das An¬
erbenrecht erklärt, die Enquete des Vereins für Sozialpolitik hat angedeutet,
daß für Wucherverhältnifse auf dem Lande auch besondre Gesetze geschaffen
werden müssen, und eine Reihe der tüchtigsten Agrarier tritt für ein besondres
Schuldrecht für den kleinen Grundbesitz ein. Es muß aber noch um einen
Schritt weiter gegangen und der Grundsatz anerkannt werden, daß das Dorf
dein Bauer gehört, und daß sich im Dorfe nur die ansiedeln oder darin ver¬
bleiben dürfen, die sich selbst mit Ackerbau beschäftigen, oder die, die zwar
Handwerker, Krämer u. s. w. sind, denen aber die Verwaltungsbehörde auf
Grund ihres unbescholtnen Lebenswandels und der Kenntnis der Landessprache,
allenfalls nach Anhörung des Gutachtens der betreffenden Dorfgemeinde, das
Ansiedlungsrecht erteilt hat. Dann würde die Behörde, die sich nirgends in
gesitteten Ländern und besonders in Deutschland oder Österreich uicht von
Antisemitismus oder von Willkürlichkeit leiten läßt, das Recht haben, die
Blutegel von den Bauern fern zu halten, dem wahren Bedürfnisse der Land¬
bevölkerung aber nach ehrlichen Handelsleuten, Gastwirten und Handwerkern
jederzeit zu entsprechen. Auch dies würde eine Säuberung sein im Sinne
Garofalos, und wenn sie auch in unsre bisherigen öffentlich rechtlichen Be¬
griffe eine Bresche legte, so folgt daraus weder ihre Unrichtigkeit uoch ihre Un-
»usführbarkeit.
Man wird mich auf Grund dieses und andrer Vorschläge einen Nück-
schrittler nennen; darauf habe ich nnr die in diesen Blättern schon oft gegebne
Antwort, daß heute, wo es sich in erster Reihe um wirtschaftliche Fragen han¬
delt, die Schuleinteilung: liberal und konservativ gründlich veraltet ist. Jeden¬
falls ist mir der Liberalismus, der auf den unwahren Grundlagen der Frei¬
heit und Gleichheit steht, und der die materielle Unterjochung des Schwächern
durch deu Stürkeru zum Ziele hat. eigentlich der Rückschritt, wogegen der
Konservatismus, der sich gegen jene thatsächliche Wiedereinführung der Leib¬
eigenschaft und Hörigkeit mit allen ihm zu Gebote stehenden Kräften auflehnt,
für mich den Fortschritt bedeutet.
Doch ich will mich bei dieser Unterscheidung nicht aufhalten, sondern kurz
die Folgen nennen, die ich von der Einschränkung der Freizügigkeit in dem
angedeuteten Sinne erwarte. Ich will zunächst bemerken, daß sich diese Ma߬
regel, wie alle übrigen von mir vvrgeschlagnen, gegen gemeinschädliche Ver¬
hältnisse, aber nicht gegen eine gewisse Menschenklasse wendet, und hier ist die
weite, unüberbrückbare Kluft, die mich vom Antisemitismus trennt. That¬
sächlich werden ja meistens Juden von diesem Gesetz getroffen werden, aber
les wird im Nahmen der Gleichberechtigung geschehen, und so werden es ihre
Glaubensgenossen nicht wagen dürfen, sie von grundsätzlichen Standpunkten
aus zu verteidigen. Wird auf die von mir empfohlene Weise die Ansiedlung
und das Verbleiben des Geschäftsmannes im Dorfe erschwert, so bleibt ihm
nichts übrig, als entweder nach der Stadt zu ziehen, die Ansiedlnngserlaubnis
einzuholen oder schließlich selbst das Feld zu bebauen. Da nur wirklich an¬
stündige Leute die Ansiedlungskonzession erhalten sollen und die wenigsten Lust
haben werden, sich persönlich mit Ackerbau zu befassen, so wird die ganze
große Masse nach der Stadt ziehen. Dort aber werden die eignen Glaubens¬
genossen sie so schnell als möglich los zu werden suchen. Für die ehrlichen
jüdischen Kaufleute wird es sozusagen eine Existenzfrage werden, sich von der
schmutzigen Konkurrenz ihrer häufig vollkommen unterhaltslosen „Mitbrüder"
zu befreien, und so wird schließlich eine Aktion im großen Stile unternommen
werden müssen, um sie zum Ackerbau und zum Handwerk zu bewegen.
Dazu ist es freilich notwendig, daß jüdische Philanthropen nach dem
Muster des Baron Hirsch, der eine ähnliche Stiftung für Galizien und die
Bukowina ins Leben gerufen hat, Ackerbau- und Handwerkerschulen gründen,
daß sie versuchen, nach dem Beispiel einiger Dörfer in Rußland, Russisch-
Polen, der Schweiz ganze Dörfer mit Juden zu bevölkern, daß sie schließlich
bestrebt sind, diese für alles außer dem Gelderwerbe gleichgültigen Massen mit
Vertrauen zu ihrem Rabbiner,*) mit Liebe zu ihrer Religion, mit Achtung für
die Arbeit an sich zu erfüllen. Heute ist der Handwerkerstand bei den Juden
thatsächlich verachtet. Die Würdenträger in ihren autonom eingerichteten Ge¬
meinden sind alles andre, nur nicht Handwerker. Wenn dies anders wäre,
so ließe sich auch bei dem einfachen Handelsjuden durch deu Hinweis darauf
ein größerer Erfolg erzielen, als durch bloße Worte, denen die That widerspricht.
Die Handelsjuden, die heute allerorten auf Märkten herumlungern, Vieh
und Waren, Getreide, Grund und Boden, kurz alles kaufen und verkaufen
und dabei den armen, unwissenden Bauer übers Ohr hauen, müssen Hand¬
werker oder Ackerbauer werden, da nicht alle reiche Kaufleute und Börsianer
werden können. Dies fordert das Wohl der Gesamtbevölkerung, die sich durch
den Zudrang der Juden zum Handel und durch ihr unredliches Geschüfts-
gebahren bedroht sieht, aber dies fordert auch die Zukunft des jüdischen
Stammes selbst, der durch seine aufreibende ausschließlich geistige Thätigkeit
schon heute derart degenerirt ist, daß er meist Neurastheniker, Blutarme und
Schwächlinge hervorbringt, und dessen Regeneration nur durch deu Schweiß
produktiver Arbeit erfolgen kann.
Damit schließe ich diese Darlegung, in der Überzeugung, meinen Glaubens-
genossen nur die Wahrheit und nichts als die Wahrheit gesagt zu haben. Ich
weiß zwar, daß die Juden jedes Wort der Rüge und des Tadels als Haß
auffassen und gern nach niedrigen Beweggründen suchen. Sei es; an der
guten Sache willen mache ich mich nicht nur auf eine sachliche Polemik, son¬
dern auch auf persönliche Anfeindungen gefaßt. Aber die Macht der Wahr¬
heit ist so groß, daß sie siegen wird, wenn auch ihren Triumphwagen käuf¬
liche Zeitungsjungen mit Kot bespritzen. Sollte sie nicht siegen, sollten die
Juden nicht einsehen, daß ein „neuer Kurs" von nöten ist, um so schlimmer
für sie. Heute schützt sie noch der Grundsatz der Gleichberechtigung, die von
manchesterlichen Anschauungen durchtränkte und im sittlichen Sinne revisions¬
bedürftige Verfassung. Morgen könnte die sozialistische Bewegung derart an¬
schwellen, daß die Regierungen gezwungen wären, die ableitende Methode an¬
zuwenden und das Judentum preiszugebe», nur um ihre eiguen Lebensinteressen
zu retten. Und es wäre nicht undenkbar, daß sich die Massen, trotz der heutigen
Freundschaft zwischen der Sozialdemokratie und den Juden, mit diesem
schönen Bissen ans geraume Zeit zufrieden gäben.
Wer also nicht will, daß der Antisemitismus mit Haß und Greuel, Aus¬
nahmegesetzen und Jndennustreibungen ans Ruder komme — und dafür sind,
man täusche sich nicht! so manche Zeichen vorhanden —, der lege mit Hand
an. die Pestbeulen aus der Welt zu schaffen, die sich am Körper des Juden¬
tums festgesetzt haben, und werfe weit von sich weg falsche Solidarität und
Empfindlichkeit, wenn er Jude, und wenn er Christ ist, unchristlichen Haß und
Vrrfolgnngssucht, und mögen beide vereint das große Werk der Regeneration
der Gesellschaft ans ethischen Prinzipien beginnen und die Bösen und Ner-
worfnen, welcher Religion und Rasse sie auch angehören mögen, unschädlich
machen!
mer der frühesten sozialistischen Schriftsteller, in Deutschland der
erste, der die theoretische Behandlung der sozialen Frage in die
Hand genommen hat, ist I. G. Fichte. Ob und wie weit ihm
ihre Lösung gelungen ist, werden wir sehen. Aber auch wenn
sie ihm nicht gelungen sein sollte, und der Aufbau seines Systems
"ur ein Labhriuth von Irrungen wäre, würden wir ihm doch dankbar sein
müssen schon für die Aufstellung der Frage selbst. Auch ist es so, wie Ed.
Zeller einmal sagt: der geistreiche Mensch unterscheidet sich von den andern
dadurch, daß wir auch aus seinen Irrtümern mehr lernen können, als von
dem andern aus seinen Wahrheiten; denn seine Irrtümer entstehen aus der
Wahrnehmung wirklicher Aufgaben, die ihrer Lösung harren, und auch der
verfehlte Lösungsversnch eines denkenden Kopfes deckt Schwierigkeiten auf, an
denen der gewöhnliche Mensch vorbeigeht, ohne auch nur eine Ahnung so¬
wohl von ihrem Vorhandensein als auch von der Notwendigkeit ihrer Lösung
zu haben.
Wenn sich bei irgend einem dieses Privilegium des geistreichen Menschen
geltend macht, so ist es bei Fichte der Fall, diesem auch darin merkwürdigsten
unter deu deutschen Philosophen, daß sich bei ihm der Mensch stets mit dem
Schriftsteller deckt und jede große Einsicht sofort anch zum großen Entschluß
wird. Seine politischen Theorien sind wie seine philosophischen einseitig und
darum meist unausführbar; aber da er ein Mensch von größter Folgerichtigkeit
im Denken wie im Handeln war, ein Mensch von der höchsten sittlichen Kraft,
der sich rücksichtslos dem Guten, das er als solches erkannte, hingab, und der
im Dienste der Idee nie Furcht noch Zaudern kannte, so ist es für uns von
hohem Interesse, seine Gedanken auf einem Gebiete kennen zu lernen, das
heutzutage die ganze Kulturwelt so beschäftigt, wie die soziale Frage. Diese
nämlich ist es, die Fichte in seiner Schrift vom „geschlossenen Handelsstaat"
in Angriff nimmt, die im Jahre 1800 erschien. Sehen wir zu, auf welche
Weise Fichte in dieser Schrift die soziale Frage behandelt.
Da sich alle sozialpolitischen Behauptungen Fichtes nach seiner eignen
Aussage auf seine Theorie vom Eigentum gründen, so ist zuerst hier festzu¬
halten, daß für Fichte Eigentum lediglich aus einem Vertrage entsteht. Vor
diesem Bertrage haben alle ans alles dasselbe Recht. Erst die Verzichtleistung
aller auf etwas, das ich für mich zu behalten begehre, ist mein Rechtsgrund.
Die, die den Vertrag schließen, bilden die Allheit, das geschlossene Ganze, das
wir Staat nennen. Er allein kann also Eigentumsrecht begründen.
Die nähere Art dieses Vertrages und zugleich die Antwort auf die Frage,
wie die Einsetzung in Eigentum vor sich gehen müsse, lautet: durch Teilung.
Damit meint Fichte aber nicht etwa Gleichteilung, woran wir immer zuerst
deuten, wenn vom sozialistischen Staat die Rede ist, sondern bei der weitern
Frage, wie diese Teilung gemacht werden müsse, kommt er zu folgender Be¬
trachtung. Der Zweck aller menschlichen Thätigkeit ist der, leben zu können.
Auf die Möglichkeit dazu haben alle deu gleichen Rechtsanspruch; also muß
die Teilung so gemacht werden, daß alle dabei bestehen können. Weiter sagt
er: „Jeder will so angenehm leben, als möglich; und da jeder das als Mensch
fordert, und keiner mehr oder weniger Mensch ist, als der andre, so haben in
dieser Forderung alle gleich Recht. Nach dieser Gleichheit ihres Rechts muß
die Teilung gemacht werden, so, daß alle und jeder so angenehm leben könne,
als es möglich ist, wenn so viele Menschen, als ihrer vorhanden sind, in der
vorhandnen Wirkungssphäre nebeneinanderbestehen sollen; also, daß alle un¬
gefähr gleich angenehm leben sollen."
Auf diesen Grundbegriffe» baut sich dann der sozialistische Staat Fichtes
auf. Ehe wir aber diesen Ausbau weiter kennen lernen, in dem auch die
weitere Ausführung über die Art der Teilung des Eigentums selbst gegeben
wird, wollen wir zunächst zusehen, ob die Grundbegriffe selbst standhalten.
Das thun sie nicht. Eigentum soll nur durch den Vertrag begründet werden,
der durch den sozialistischen Staat, durch den Vernunftstaat, wie ihn Fichte
nennt, eingeführt wird. Aber anstatt Eigentum erst zu begründen. d. h. den
Besitz einer Sache mit dem ausschließenden Rechte zum Gebrauch derselben zu
gewähren, setzt der Vertrag vielmehr den Begriff des Eigentums bereits voraus;
ich kann mich nicht über den Gebrauch von etwas vertragen, was nicht schon
mein oder des andern Eigentum ist. Und wie es unrichtig ist, daß das Eigen¬
tum und das Eigentumsrecht auf einem Vertrag beruhe — alles Eigentum
beruht vielmehr unmittelbar oder in abgeleiteter Weise auf Arbeit, selbst das
Ergreifen einer herrenlosen Sache, einer rss multos —, so ist es auch unrichtig,
daß es erst im Staate entstehe. Der Nomade, der nicht im Staate lebt, hat
gleichwohl Eigentum und Eigentumsrecht. Der Staat findet es vor; die Per¬
sonen, aus denen der Staat erwächst, sind bereits Eigentümer; sie sind das
kraft des natürlichen, nicht kraft des staatlichen Rechts; zu schaffen hat also
der Staat dieses Recht nicht, er hat es nur zu schützen.
Diese mangelhafte Fassung des Eigentumsbegriffs häugt um bei unserm
Philosophen zusammen mit der mangelhaften Fassung von Wesen und Aufgabe
des Staates. Wenn alle rechtlichen Einrichtungen im Staat darnach und nur
darnach gemacht werden müssen, daß jeder so angenehm als möglich lebt, wenn
die Aufgabe des Staates in der gleichmäßigen Teilnahme eines jeden an den
Genüssen des Lebens besteht, die Glückseligkeit des einzelnen also das ist,
worauf alles berechnet werden muß, kurz, wie die Lust der höchste Zweck aller,
auch aller staatlichen Thätigkeit ist. so ist die Regelung dieser Thätigkeit so
vorzunehmen, daß sie möglichst gleichmüßige Genüsse bewirken kann. Wer aber
Gleichheit der Genüsse will — und die muß der wollen, der möglichst gleiche
Annehmlichkeit des Lebens für jeden als eine rechtliche Forderung hinstellt —,
der muß das Eigentum fallen lassen, da mit dem Eigentumsbegriff die Un¬
gleichheit und Verschiedenheit gegeben ist; denn der Erwerb des Eigentums
hängt ab von der Kraft, der Anlage, der Neigung, der Geschicklichkeit, dem
Fleiß, dem Sparsinn und dem Glück der verschiednen Eroberer. Möglichst
gleichmäßiger Genuß also und ausschließlicher Besitz von Scicheu, d. h. Eigen¬
tum, vertragen sich nicht mit einander. Sondern soll die Gleichheit des Genusses
festgehalten werden, so muß, da doch die Genüsse nicht von selber kommen,
vielmehr geschafft werden müssen, eine solche Organisation des Staates ein¬
treten, die die gleiche Befriedigung verbürgt. An die Stelle des Eigentums
mit freier Arbeit tritt und muß treten die organisirte Arbeit ohne Eigentum,
eine Organisation, die nach dem Grundsatz zu bewerkstelligen ist: Gleiche Lust
für gleiche Arbeit! Wir werden sehen, wie Fichte auch darauf hinaussteuert.
Seine sozialistische Theorie kennen zu lernen ist deshalb so interessant, weil
es wenige und scheinbar recht unverfängliche Sätze sind, aus denen sie her¬
vorgeht, sodaß wegen der Folgerichtigkeit dieser Theorie die falsche Grundlage
deutlicher hervortritt, als in den theoretischen Gedankengängen der spätern
sozialpolitischen Schriftsteller. Die Sätze: Keiner ist mehr !oder weniger Mensch
als der andre, und darum hat jeder gleiches Recht darauf, so angenehm zu
leben als möglich; die Teilung muß nach dieser Gleichheit des Rechts gemacht
werden, also, daß alle ungefähr gleich augenehm leben können; die Bestimmung
des Staates ist, jedem das Seine zu geben, in dem Sinne, daß jedem von
Staats wegen dazu verholfen werden soll, gleich angenehm zu leben — diese
Sätze geben die Grundlage zu allen sozialen Forderungen Fichtes. Sie sind
aber ebenso unhaltbar, wie die einseitige Begründung des Eigentums auf den
Vertrag. Denn aus der natürlichen Rechtsgleichheit aller Menschen folgt nur
das Recht, sich erwerben zu können, was ohne Rechtsverletzung der andern
erworben werden kann, nicht aber das Recht auf gleichen Besitz und gleiches
Eigentum. Das Eigentum ist kein nngebornes Menschenrecht, sondern es ent¬
steht erst durch Zueignung mittels der Arbeit, wie wir schon bemerkten, und
wie auch Fichte selbst an andern Stellen, z. B. in seiner Schrift über die
französische Revolution, anerkennt. Weiter ist auch der Zweck des Staates
nicht in der Annehmlichkeit des Lebens für den einzelnen zu suchen. Der
Staat hat die Verwirklichung der Sittlichkeit zu seinem letzten Zweck, dem sich
alle andern Zwecke unterordnen müssen; er ist die das ganze Leben seiner
Mitglieder umfassende große Erziehungsanstalt. Freilich fällt in diese seine
Aufgabe die Sorge für möglichst große Annehmlichkeit des Lebens der ein¬
zelnen mit hinein; sie ist die Sorge für das materielle Wohl der Staats¬
angehörigen; aber sie ist nicht die einzige und nicht die höchste Aufgabe des
Staates, ebensowenig wie der Rechtsschutz des einzelnen der einzige Zweck des
Staates ist, wie von vielen Rechtslehrern angenommen wurde. Vielmehr
kommt zu den beiden Aufgaben des Staates, der des Rechtsschutzes und der
der Sorge für das materielle Wohl, als dritte und letzte die Pflege der Sitt¬
lichkeit hinzu, im weitesten Sinne dieses Wortes, worin Sittlichkeit eins ist
mit freier menschlicher Bildung. Diese dreifache Aufgabe des Staates, Rechts¬
schutz, möglichste Sorge für materielles Wohl und Pflege der Sittlichkeit, um¬
faßt den aristotelischen Begriff des Fichte hat im Verlaufe seiner
wissenschaftlichen Entwicklung jede der drei Seiten nach einander ausgebaut.
Denn wenn er im letzten Abschnitt seines Lebens nach dem Zusammensturz
des preußischen Staates als die wichtigste Bestimmung des Staates die Volks¬
bildung, die Heranziehung eines neuen Geschlechts zu freier Sittlichkeit, zur
Erfassung der Wahrheit und Tugend hinstellt, und wenn er im Zusammen¬
hang mit dieser Bestimmung das nationale Element in seiner Bedeutung sür
die Ausbildung zur Sittlichkeit mit der ganzen Kraft seiner großen Seele er¬
faßt, so ist er über den Grundsatz von der Annehmlichkeit des Lebens als
Endzweck des einzelnen wie des Staates gewiß weit hinaus. Aber auf der
Stufe, auf der er bei Abfassung seiner Schrift vom „geschlossenen Handels¬
staat" steht, ist ihm die Forderung, das Leben so angenehm als möglich zu
gestalten, allerdings noch die höchste, die er an den Staat zu stellen hat. daß
er aber in dieser Schrift dazu kommt, aus dem, berechtigten Wunsche eines
jeden, möglichst angenehm zu leben, ein Recht zu machen und vom Staat zu
verlangen, daß er dieses vermeintliche Recht befriedigen, also auch, wie dies
im Begriffe des Rechts liegt, erzwingen solle, das hängt damit zusammen,
daß Fichte bei Abfassung seines „geschlossenen Handelsstaats" von der Stufe
seiner philosophischen Entwicklung herkam, auf der ihm der Staat weiter
nichts als eine Vereinigung zum Rechtsschutz war. Damit hatte er die Neigung,
auch die berechtigten Wünsche der einzelnen, ihre Interessen zu Rechten zu
machen. Werden die Interessen zu Rechten, so ist der Staat auch befugt, sie
zu erzwingen. Die Folge davon ist der soziale Staat.
Damit sind wir an die Ausführung der sozialpolitischen Theorie ge¬
kommen, wie sie Fichte nur auf Grund der angegebnen Sätze weiter entwickelt
hat. Sie ist im wesentlichen folgende.
Die beiden Hauptzweige der Thätigkeit, durch die der Mensch sein Leben
erhält und angenehm macht, sind: die Gewinnung der Naturprodukte und
deren weitere Bearbeitung für irgend einen Zweck. Darnach würden zwei
Stände zu bilden sein, einer mit dem ausschließendem Recht, Produkte zu ge¬
winnen, ein andrer, diese Produkte zu bearbeiten. Der eine ist der Stand
der Produzenten, der andre der der Künstler. Beide stehen auf dein Vertrage,
keinen Eingriff in das Gebiet des andern vorzunehmen. Diesem lediglich
negativen Vertrage, der mir Vermeidung jeder Störung verspricht, ist ein
Positiver hinzuzufügen, durch den sich die Produzenten verpflichten, so viele
Produkte zu erzeugen, daß sie selbst und die Künstler sich davon ernähren und
den letztern noch Stoffe zur Verarbeitung geben können, auch daß sie ihre
Produkte den Künstlern gegen die von diesen gefertigten Fabrikate ablassen
wollen; die Künstler dagegen verpflichten sich, so viele Fabrikate den Pro¬
duzenten zu liefern, als diese zu haben gewohnt sind; sie verpflichten sich
beiderseits uach dem Maßstabe, daß jeder von beiden gleich angenehm leben
könne. Dieser Maßstab bildet den Preis. Das Geschäft ist Tauschgeschäft;
doch kommt auch eine Geldart mit in Anwendung, von der noch geredet
werden soll.
Aus Gründen der Zweckmäßigkeit tritt, um diesen Tauschhandel zu be¬
sorgen, als dritter Stand zwischen beide der der Kaufleute, die ebenfalls mit
den andern einen Vertrag einzugehen haben, negativ, indem sie Verzicht leisten
auf die Thätigkeit der Produzenten und der Künstler, wogegen sich diese beiden
verpflichten, die für sie überflüssigen Produkte und Fabrikate an den Kaufmann
zu bringen und das von ihm anzunehmen, dessen sie selbst bedürfen; und po¬
sitiv, indem der Kaufmann verspricht, daß jene jedes bei diesem Volke gewöhn¬
liche Bedürfnis sollen haben können, und daß er selbst jeden Tauschartikel
annehmen werde, dies wiederum nach dem oben erwähnten Maßstabe eines
für alle gleich angenehmen Lebens.
Diese drei Stände bilden die Nation in ihren Grundbestandteilen. Nur
um ihretwillen sind noch eine Regierung sowie ein Lehr- und Wehrstand da.
Wie es mit diesen zu halten ist, werden wir gleich sehen. Von den Grnnd-
ständen aber zerfällt der der Produzenten wieder in mehrere Unterstände,
Ackerbauer, Obst-und Kunstgärtner, Viehzüchter, Fischer u.s.w., jeder Unterstand
mit ausschließendem Rechte gegen alle andern, das sich auch wieder uns Ver¬
trüge gründet, die den Rechtsgrund bilden zu dem, was ihr Eigentum heißt.
In Wahrheit besteht dieses Eigentum lediglich aus dem Rechte, der Gerecht-
smnkeit, ungestört von irgend einem andern nach eignem Ermessen auf diesem
Stück Boden Früchte zu gewinnen. Ebenso teilt sich der Grundstand der
Künstler in mehrere Unterstünde, jedes Gewerbe mit ausschließendem Recht
auf Betreibung eines besondern Kunstzweiges gegen die andern Unterstände.
Den Tausch der Fabrikate gegen Fabrikate aber besorgt der Kaufmann. Auch
der Kaufmannsstand hat seine Unterabteilungen, seine Gilden, die nur mit
bestimmten Artikeln Handel treiben dürfen. Auf Beobachtung dieser Vertrags¬
rechte hält die Regierung.
Um das zu können, müssen zuvörderst nur so viele Nichtproduzeuten im
Staate angestellt werden, als dnrch seine Produkte ernährt werden können.
Alles richtet sich nach der Produktengewinuung, und alles steht auf Berechnung.
So muß zuerst die Zahl der Künstler bestimmt sein und bleiben, so lange die
Umstände dieselben bleiben. Dann dürfen die Hände, die dem Ackerbau ent¬
zogen und den Künstlern zugewiesen werdeu, zunächst nur ans die unentbehr¬
lichen Bearbeitungen gerichtet werden, ans entbehrliche, d. h. auf Luxus, nur,
was vou jenen übrig bleibt. Also auch jeder Unterstand der Künstler ist
in seiner Zahl zu bestimmen. Es kann also keiner so wohnen, überhaupt so
leben, wie er will, indem er etwa denkt und sagt: Ich kanns bezahlen! Es
ist eben unrecht, sagt Fichte, daß einer das entbehrliche bezahlen könne, indes
irgend einer seiner Mitbürger das notdürftige nicht vorhanden findet oder nicht
bezahlen kann. Da jeder Stand nur seine bestimmte Anzahl von Mitgliedern
haben darf, so ist damit gegeben, daß die Regierung die ausschließende Be¬
rechtigung für einen bestimmten Arbeitszweig erteilen muß. Es muß sich also
jeder bei der Regierung melden, um für irgend eine Beschäftigung, der er sich
widmen will, angestellt zu werde». Im Vernunftstaat hat jeder Bürger seine
Anstellung. Ist die Zahl der Bearbeiter in irgend einem Kunstzweige voll, so
wird die Berechtigung nicht erteilt, es werden vielmehr dem, der sich meldet,
andre Kunstzweige zugewiesen, wo man seiner Kraft bedarf. Was mit ihm
werden soll, wenn er sich weigert, in diese andern Zweige zu treten, das sagt
Fichte nicht ausdrücklich. Da er sich aber anderwärts, z. B. in seiner schon
erwähnten Schrift, dahin ausspricht, daß alle Zueignung auf Arbeit beruhe,
und daß der, der nicht arbeitet, rechtlich gar nichts besitze, so würde er ohne
Zweifel die Folgerung eintretenden Falls gezogen haben, daß, wer die ange¬
wiesene Arbeit nicht thun wolle, auch keinen Anspruch auf den Preis der Arbeit
habe. Der Hunger würde sich hier als Regulator erweisen müsse» und am
Ende auch erweisen. Aber Fichte selbst spricht das nicht aus. Er glaubt
Vielmehr, daß diesem Zustande durch mildere Mittel zuvorgekommen werden
könne. Nämlich wie die Zahl der Künstler nicht vermehrt werden darf, so
darf sie auch uicht vermindert werden. Findet das nun aber doch einmal in
irgend einem Fache statt, so glaubt Fichte damit auszukommen, daß Prämien
aus der Staatskasse so lange gegeben werden sollen, bis sich die erforderliche
Anzahl wieder ans diesen Arbeitszweig gelegt hat. Wo dann freilich die Gleich¬
heit in der Annehmlichkeit des Lebens bleibt, das ist schwer zu sagen. Und
doch könnte es leicht kommen, wenigstens bei Arbeitszweigen unangenehmer Art.
daß die Prämien immer fortgezahlt werden müßten, um die erforderliche An¬
zahl Arbeiter zu bekommen. Also Hunger oder Prämien. Mag aber das eine
oder das andre den Antrieb in einem Kunstzweige bilden müssen, mit dein Mach¬
werk, das so entsteht, wird es oft nicht gerade allzuweit her sein. Die Prü¬
fung durch Kunstverständige, der jeder Arbeiter unterworfen werden soll, der
einen Arbeitszweig treibe» will, nötigenfalls auch eine zweite Prüfung, die
Fichte, wenn die erste mißglückt, deshalb verlangt, damit die im Lande mög¬
lichste Vollkommenheit des Fabrikats erreicht werde, wird doch wohl nur bei
denen diesen Zweck fördern helfen, die einen Arbeitszweig freiwillig treiben
wollen. Die gezwungen oder durch Prämien bestimmt werden müssen, haben
kein oder nur wenig Interesse daran, in der Prüfung zu bestehen. Also
auch auf die Güte der Waren wird nicht zu rechnen sein, selbst vorausgesetzt,
daß jeder mit der im Lande möglichen Vollkommenheit zufrieden sein wollte,
wie ers nach Fichte muß. Deal eine Ware haben wollen in der Vollkommen¬
heit, wie sie sich etwa in einem andern Lande findet, sei ein Widersinn; zu
fragen: warum soll ich nicht die Ware in der Vollkommenheit jenes Landes
haben, sei gerade so viel, als wenn der Eichbaum fragen wollte: warum den
ich nicht ein Palmenbaum? Jeder muß zufrieden sein mit der Sphäre, in die
ihn die Natur gesetzt hat. Übrigens hat Fichte auch in diesem Punkte einen
sehr hoffnungsreichen Glauben; er meint, daß. wie der Wohlstand der Nation,
so die Vollkommenheit der Waren in seinem Staate außerordentlich zunehme»
werde, u»d zwar durch Verteilung der Arbeitszweige. Denn dadurch, daß
jeder sein ganzes Leben einem Geschäft widmet und sein Nachdenken auf dieses
eine richtet, müsse eine Kunstfertigkeit entstehen, durch die die kleinste Kraft
einer tausendfachen Kraft gleich werde.
Auch die Kaufleute sind in ihrer Anzahl bestimmt. Diese hängt ab von
der Anzahl der beiden andern Stände, oder, wie man auch sagen kann, sie
bestimmt sich nach der Menge der in der Nation im Umlauf befindlichen
Waren, die auszutauschen sind. Diesen Tausch hat die Negierung zu berechnen
und ebenso die Menge der Hände, die ihn vermitteln. Dadurch, daß kein
andrer diesen Tausch vornehmen darf, hängt der Kaufmann nicht von dem
guten Willen der übrigen Stände ab, hat vielmehr ein sicher zu berechnendes
Eigentum oder, genauer gesagt, Eigentumsrecht, da ja alles Eigentum nnr
ein Recht ist auf den Genuß der Sachen, die die im Volke gewohnte An¬
nehmlichkeit des Lebens bewirken. Der Kaufmann ist aber verpflichtet, von
jedem zu jeder Stunde zu kaufen oder ihm zu verkaufen, sodaß jeder sür
seine Waren das von andern abgetretnc Produkt erhalten kann. Über die Er¬
füllung aller dieser Verbindlichkeiten hat die Regierung zu wachen. Damit sie
das kann, muß jeder Kaufmann ihr Rechenschaft ablegen, woher er seine
Waren zu beziehen gedenkt; er muß wissen, wie viel Warenertrag an ihn ab¬
geliefert werden kann, um diesen sogar mit obrigkeitlicher Hilfe in Anspruch
zu nehmen. Der Kaufmann also ist es, der den Produzenten und den Künstler,
auf deren Ertrag er in gewissem Zeitpunkt rechnen muß, auch beobachtet; die
Regierung kann diese Beobachtung nicht unmittelbar vornehmen, sie thut es
durch den Kaufmann. Und wie ans die Einlieferung, so muß der Kaufmann
auch ans den Absatz rechnen können; er kann es auch, denn die ganze Grund¬
lage des sozial organisirten Staates ist so, daß Produktion und Fabrikation
nach dem Bedürfnisse geschieht. Ja wie der Kaufmann bestimmte Verkäufer
verlangen kann, so kann er auch bestimmte Käufer verlangen, deren Bedürfnisse
er kennt. Jedes Handelshaus kann also seinen Absatz erzwingen. So ist
der Ab- und Zufluß, der durch die Hände des Kaufmanns geht, bestimmt zu
berechnen.
Der Maßstab für den Wert der Dinge, den sie gegen einander haben, ist
die Zeit, binnen der man von ihnen leben kann; denn der wahre innre Wert
jeder freien Thätigkeit ist in der Möglichkeit, davon zu leben, ausgedrückt.
Ein Ding ist also um so viel mehr wert, als das andre, je länger man davon
leben kann. (So richtig das ist, wenn auch nur die Fichtische Organisation des
Staates bestehen soll, so sehr läuft es doch wider den von Fichte angenommnen
Zweck aller freien Thätigkeit, die nicht nur auf die Möglichkeit, sondern auch
auf die Annehmlichkeit des Lebens für jeden hinauslaufen sollte. Bei dieser
wichtigsten Seite aller freien Thätigkeit, bei ihrer Wertbestimmung, darf aber
gleichwohl Fichte nur die Möglichkeit, zu leben, ins Auge fassen, nicht
aber die Annehmlichkeit des Lebens. So tritt also hier die UnHaltbarkeit von
der Forderung gleichen Rechts auf möglichste Annehmlichkeit des Lebens in
greller Deutlichkeit hervor und damit die UnHaltbarkeit der staatlichen Aufgabe,
solches Recht zu begründen.)
(Schluß folgt)
it dem dritten Bande, der die Schriftsteller der römischen Kaiser¬
herrschaft bis zu den „Spätlingen" Ausonius, Claudianus und
Namatianus behandelt, hat Otto Ribbeck seine Geschichte der
römischen Dichtung") abgeschlossen. Zwar wird noch ein Nach¬
trag die in Aussicht gestellten „gelehrten Zugaben" bringen:
Belege, Beweise und Widerlegungen, die, um die Eigenart des Werkes nicht
zu stören, in einem besondern Bändchen vereinigt werden sollen; und dem
litterarischen Feinschmecker wird dieser Nachtisch gewiß noch manchen Lecker¬
bissen, dem Gelehrten auch noch anregende und nahrhafte Kost darbieten. Doch
das Hauptgericht ist nun aufgetragen, und für alle Gebildeten gilt das Wort,
das Menelaos bei Homer feinen beiden Gästen zuruft: <7/r»v ^«Tr?/««^^
x«), ^«t^Lro^.
, Es ist ein hoher Genuß, mit Ribbeck die Entwicklung der römischen Dicht-
kunst zu verfolgen, eine besondre Freude in unsrer Zeit, wo die deutsche Bil¬
dung ihren innigen Zusammenhang mit dem Altertum mehr und mehr zu
lösen droht. Mit unheimlicher Schnelligkeit ist in den letzten Jahrzehnten
die Hochachtung vor den Schöpfungen der Alten gesunken und geschwunden,
und jetzt sind wir so weit gekommen, daß der unreife sekundärer den Bergil
einfach langweilig findet, und der gereifte Primaner in Horaz nur noch den
nachahmenden Versifex sieht. Unsre Jugend lächelt schon fast mitleidig über
den alten Großvater, der noch zu seiner Freude und Erholung die griechischen
und lateinischen Schmöker aufschlüge.
Diese Mißachtung des klassischen Altertums beruht gewiß nicht darauf,
daß wir etwa seit einem Menschenalter in der dichtenden und bildenden Kunst
so gewaltige Fortschritte gemacht hätten, daß wir die einst Bewunderten jetzt
Plötzlich weit hinter uns erblicken müßten. Sie entspringt auch kaum einem
tiefer eindringenden Verständnis für die alten Schriftsteller, das den früher
Überschätzten den Lorbeer zu entreißen vermöchte. Nur für eine kleine Anzahl
von Schriftstellern könnte dies vielleicht gelten, für die gesamte klassische Lit¬
teratur sicherlich nicht. Eher dürfte das Gegenteil der Fall sein: nicht deshalb,
weil wir die Alten besser kennen als früher, mißachten wir sie, sondern weil
wir sie überhaupt nicht mehr ordentlich kennen lernen, verlieren wir auch mehr
und mehr die Liebe zum Altertum und die Achtung davor. Früher hieß es:
„Lese Homer und Sophokles, Vergil und Horaz, so viel und so oft ihr könnt,
sie sind es wert." Und wir lasen und lasen, und die Alten wurden uns
wirklich lieb und wert. Jetzt hören schon die Schüler — nicht in der Schule,
aber sonst überall — fast nur noch geringschätzige oder gar spöttische Urteile
über die Alten und denken: „Wozu denn noch außer der Schule lesen, womit
wir schon in der Klasse geplagt werden?" Und sie lesen nicht mehr, als was
sie lesen müssen, und auch dies nur mit einer gewissen Herablassung und einer
am nachschwatzen moderner Schlagworte genährten Selbstüberhebung.
Ob die Schule mit ihren Bemühungen, unsre Jugend wieder mehr in
den Geist der alten Schriftsteller einzuführen, künftig größere Erfolge haben
wird? Jedenfalls muß sich zuvor eine geistige Umwandlung der Erwachsenen
vollziehen. Man muß sich des wahren Wertes dessen, was man leichtes
Herzens aufgiebt, erst wirklich bewußt werden, man muß wieder Sehnsucht
nach dem schon eingebüßten empfinden. Das wird aber leider wohl erst dann ein¬
treten, wenn sich unsre neue Bildung am Ende der Sackgasse, in die sie sich
zu verrennen droht, auf ihre Herkunft besinnt. Eine Aufgabe der Altertums-
wissenschaft aber ist es, diese Umkehr vorzubereiten, indem sie den Vorurteilen,
die mehr als je das xrolRnuin volZus beherrschen, entgegentritt und die Er¬
gebnisse der gelehrten Forschung in Büchern, die zum mindesten lesbar, wo¬
möglich aber gut geschrieben sind, dem weitern Kreise der Gebildeten wieder
nahe bringt.
Unter den im edelsten Sinne populären Werken steht jetzt Ribbecks Ge¬
schichte der römischen Dichtung an erster Stelle. Man darf von ihr auch eine
besondre Wirkung erhoffen. Die römischen Dichter sind ja von dem mi߬
günstigen und oft gehässigen Urteil unsrer Zeit am härtesten getroffen worden,
weil das Gebiet der römischen Dichtung jedem Gegner zahlreiche Angriffs¬
punkte und weite Breschen bietet. Wer hätte nicht schon über die Abhängig¬
keit und Unselbständigkeit der bedeutendsten Dichter Roms und über ihre
eigentlich doch recht prosaische Natur spotten, über die scheinbar Sprunghafte
und unorganische Entwicklung der römischen Litteratur sich wundern und über
die trümmerhafte Überlieferung klagen hören? Es war ja immer nur eine
verhältnismäßig kleine Zahl von Schriftstellern, mit denen man auf der Schule
bekannt wurde, und wenige anßer den Fachgelehrten fanden in spätern Jahren
die Muße, das Versäumte nachzuholen, wozu auch meistens jede Anregung
fehlte. Die Handbücher, die dem Gelehrten zu Gebote standen, konnten den
Laien nicht fesseln, und eine Geschichte der römischen Dichtung, eine wirkliche
Geschichte, die das Verlorne, so weit es möglich ist, mit Scharfsinn ergänzt,
den Entwicklungsgang der römischen Dichtkunst mit klaren Umrissen gezeichnet
und das Verhältnis der römischen Dichter zu ihren Vorgängern wie zu ihren
Nachfolgern weder über- noch unterschätzend in gerechter Weise dargelegt hätte,
und die dies alles in anziehender und anregender Weise gethan hätte, gab es
bisher nicht. Sie wird uns erst von Ribbeck gegeben: „lang vorbereitet, oft
aufgeschoben und endlich schnell hingeworfen." Die Schwierigkeiten, die dabei
zu überwinden waren, sind schon angedeutet worden. Da galt es zunächst
die Lücken in der Überlieferung zu schließen und den scheinbar unbildsamen
und starren Stoff, so weit es gehen wollte, zu beleben. „So weit es gehen
will," sagt Ribbeck selbst. „Denn streckenweise liegt ja nichts weiter als ein
weites Trümmerfeld vor uns, übersät mit Bruchstücken, Splittern und Brocken,
die in ihrer Verwüstung oft kaum erkennbar und verstündlich sind. Gerade
die eigenartigsten Schöpfungen der republikanischen Zeit sind in solche Ruinen
zerfallei?. Wie soll aus so kümmerlichen und zufälligen Resten ohne Willkür
eine genügende Anschauung und Schützung Verlorner Kunstwerke, ein zusammen¬
hängender Überblick des Entwicklungsganges gewonnen werden, welchen die
Dichtung bei deu Römern genommen hat? Und doch: worauf zielte alle
Mühe des Sammelns und aller Scharfsinn, der ans Reinigung und Deutung
des Einzelnen verwendet wird, wenn man auf das Vergnügen verzichten wollte
oder müßte, diese bunten Steine ordnend an einander zu fügen?"
Die Kunst, dem Mosaizisten gleich aus einzelnen Steinchen ein Bild zu¬
sammenzustellen, dessen Umrisse um so deutlicher werden, je größer der Umfang
dieser Steinchen ist, und dessen Farben um so leuchtender hervortreten, je
größer die Zahl der winzigen Steinchen ist, diese Kunst Ribbecks offenbart
sich besonders glänzend im ersten Bande, wo ganze Abschnitte nur durch die
geschickteste Benutzung, Verbindung und Ergänzung aller Nachrichten und
Bruchstücke geschaffen werden konnten. So sind uns von deu Männern, die
zuerst in lateinischer Sprache nach griechischen Vorbildern gedichtet haben, von
Livius Andronicus, Cil. naevius und Q. Ennius nur noch bei spätern Schrift¬
stellern hie und da eine kurze Angabe über ihr Leben und ihr Werk oder
einige wenige Verse aus ihren Dichtungen erhalten; von dem großen Gelehrten
M. Terentius Varro sind zwar zwei prosaische Schriften auf uns gekommen,
aber aus der Zersplitterung seines poetischen Hauptwerth, der hundertund¬
funfzig Bücher menippeischer Satiren, sind nur gegen sechshundert „oft rätsel¬
hafte, kümmerliche und elend überlieferte Bruchstücke" gerettet worden, und
während wir noch zwanzig plautinische Stücke besitzen, haben wir über das
Leben des Plautus nur sehr spärliche und verstreute Nachrichten, aus denen
erst Ritschl den wirklichen Namen und die Lebenszeit des Dichters nachgewiesen
hat. Darnach entwirft Ribbeck folgende Lebensbeschreibung des Plautus:
»Zu Anfang des sechsten Jahrhunderts der Stadt kam aus dem kürzlich unter-
worfnen umbrischen Landstädtchen Sarsina ein Knabe nach Rom, der aus
seiner Heimat die Namen Maccius Plotus (Plattfuß) mitbrachte. Seit früher
Jugend uuter den Handlangern und Arbeitern des Theaters beschäftigt, erwarb
er sich einiges Geld, womit er Handelsgeschäfte unternahm und sich auf Reisen
begab. Aber es glückte ihm nicht, sodaß er gänzlich mittellos und verschuldet
uach Rom heimkehrte und genötigt war, sich als Knecht bei einem Müller
zum Drehen der Handmühle zu verdingen. Dieser beschwerliche Dienst ließ
doch dem jungen Manne noch Muße und Munterkeit genug übrig, sich in
Erinnerung seiner frühern Beziehungen zur Bühne auf das Komödienschreiben
zu verlegen. Wirklich brachte er in seiner öden Werkstatt drei Stücke zustande,
deren zwei die Titel Ls-Wrio (ein Parasitenname) und ^.Äcliows (der Hörige)
trugen. Der letztere erinnert an die eigne Lage des Verfassers. Es gelang
ihm, diese Arbeiten an einen Schanspielunternehmer zu verkaufen und sich mit
dem Erlös wieder auf eigne Füße zu stellen. Der glückliche Erfolg dieser
ersten Versuche gab ihm Vertrauen zu seiner Begabung, sodaß er, nunmehr
etwa ein Dreißiger, sich der Thätigkeit eines Komödiendichters, und zwar dieser
ausschließlich, widmete. Vierzig Jahre lang, bis zu seinem Tode (570/184),
hat T. Maceius Plautus, wie sich der zu Ansehn gelangte Bürger nannte,
seine Kunst mit nicht versiegender Schöpferkraft und Frische des Geistes gepflegt."
(I. Seite 57 f.)
Mit gleicher Klarheit und Anschaulichkeit wird ans den Trümmern der
Überlieferung der Inhalt einer Tragödie des naevius in großen Umrissen
und in feinerer Ausführung der Plan der Ennianischen Annalen wiederher¬
gestellt und der Gedankengang in Varros Satiren verfolgt. Eine von diesen,
die LöXÄAvLis (d. i. der Mann von sechzig Jahren), deren Held, der gute
Marcus, als zehnjähriger Knabe wie ein zweiter Epimenides in einen Zauber¬
schlaf verfallen ist, wird uns in folgender Weise vorgeführt: „Als er nun nach
einem halben Jahrhundert wieder erwacht und sich umschaut, findet er alles
verändert, zunächst sich selbst, denn aus einem glätten Bürschlein ist ein Igel
mit weißen Borsten und einem Rüssel von Nase geworden. Dann aber Rom!
An Stelle der frühern, jetzt verbannten Tugenden sind als Einwohnerinnen
eingezogen Ruchlosigkeit, Treulosigkeit, Schamlosigkeit. Wo ist z. B. die Pietät
des Äneas hin, der seinen Vater auf den Schultern ans Trojas Flammen
trug? Freilich jeder zehnjährige Knabe ist jetzt fähig, den seinigen nicht davon
zu tragen, sondern aus dem Wege zu rciumeu, aber mit Gift. Wo man ehe¬
mals ernste, ehrliche Wahlversammlungen hielt, da wird jetzt Markt gehalten
mit Stimmen. Die Richter thun nicht, was die Gesetze vorschreiben, sondern
»gieb und nimm« ist das Gesetz, welches durchschlägt. Der alte Marcus
bricht in elegische Klage über diesen Umsturz der Dinge aus; aber er wird
über seinen Irrtum, in Erinnerungen an das Altertum zu wühlen und die
Lebenden anzuklagen, zurecht gesetzt; ja die schamlose Jugend vollzieht an ihm,
und andern Leidensgenossen den volkstümlichen Spruch: »die Sechziger hin¬
unter von der Brücke!« und wirft ihn nach dem löblichen Brauch der Väter,
den er ja so warm empfohlen hat, in den Tiber." (I. Seite 236.)
Wahre Meisterwerke von geschickter Zusammenstellung und scharfsinniger
Deutung sind die mit dem feinsten Verständnis und in glänzender Schilderung
ausgeführten Charakteristiken der großen, mehr oder weniger unversehrt er-
haltnen Dichtungen, im ersten Bande namentlich der plautinischeu Lustspiele
und der Gedichte Catulls. Plautus, ein Liebling Ribbecks, ist zwar nicht der
Schöpfer der römischen kiMrlg, iM1me.ii. Schon vor ihm haben der Tarentiner
Livius Andronims und der Kcunpcmer naevius Lustspiele ihrer Heimat in
lateinischer Übertragung aus die Bühne gebracht. Aber Plautus ist der Meister
dieser aus Athen entlehnten und in den griechischen Städten Unteritaliens
schon längst eingebürgerten kecken und leichtsinnigen Sittenbilder, an deren
Frivolität man sich auch in Rom ergötzte, obwohl der Dichter noch nicht
wagen durfte, den Schauplatz dieser lustigen Geschichten nach Rom selbst zu
verlegen und römische Väter und Sohne in solchen Situationen vorzuführen.
Deshalb wurde dieses Spiel später lÄdulÄ xg-lUatÄ, das Drama im Griecheu-
kostüm, genannt. Das alte ehrbare Rom mit seiner einfachen Lebensführung
und strengen Sitte muß schon zu den Zeiten des Plautus nur noch eine
schöne Sage gewesen sein. Wie hätten sonst diese Abenteuer, in denen lockre
Söhne und reizende Buhlerinnen, Kuppler und Wucherer, betrogne Väter und
verschmitzte Sklaven die Helden sind, lebhaften Beifall finden können? In der
Ausprägung und Umprügung dieser Rollen und in immer neuen Wendungen
und Verschlingungen der Handlung war die attische Komödie unermüdlich ge¬
wesen. Ihren witzigen und geistreichen Schöpfungen hat Plautus seine Stücke
nachgebildet, freilich gröber und ungefüger in der Anlage wie in der Ausfüh¬
rung. Wie die plumpem Werke des römischem Meißels niemals die Anmut
und das Leben eines praxitelischen Hermes atmen, so haben anch Plautus und
Terenz nicht die Schönheit und Wahrheit des Menander und Philemon er¬
reicht. Während aber die Schöpfungen der attischen Komödie uuwiederbriug-
uch verloren gegangen sind, hat ein günstigeres Geschick die besten Werke des
Plautus und Terenz verschont, und durch die lateinischen Nachahmungen hin¬
durch können wir uns dem griechischen Vorbilde wieder nähern, durch die
Stücke des Plautus und seiner Nachfolger hat die attische Komödie auch auf
das Lustspiel der neuern Völker einen großen Einfluß ausgeübt.
In der Abhängigkeit und Unselbständigkeit, die der römischen Dichtung
oft zum Vorwurf gemacht worden ist, liegt gerade das wesentliche ihrer Be¬
deutung und ihres Einflusses auf die gebildete Welt. Mit Recht nennt Rib¬
beck die römische Muse eine Tochter der griechischen, und zwar die einzige,
dieser freilich an Genie und Schönheit weit nachstehend, ganz abhängig von
den schöpferischen Eingebungen der Mutter, in Rede, Zügen und Bewegungen
an sie erinnernd, aber doch nicht ohne eigentümlichen Charakter und besondern
Reiz. Manches sonst Verlorne Kleinod hat sie aus dem Schatze der Mutter
geerbt. Und auch in Rom haben echte Pvetenncituren gelebt und gelitten, wie
Catull, aus dessen Liedern Liebe und Haß und jubelnde Freude und inniger
Schmerz in ergreifenden Klängen zu uns sprechen.
Mit Catull schließt der erste Band des Werkes ab. Mit raschen Schritten
ist die römische Dichtung an der Hand ihrer griechischen Führerin vorgeschritten,
von den wuchtigen Saturniern, in denen noch Livius Andronicus seine Oä^sin
dichtete, zu den klangvollen Versen des Lucrez und den melodischen Strophen
Catulls. Die Zeit, die dazwischen liegt, wird vom Drama beherrscht. Es hat
auf römischem Boden in fünf Gattungen geblüht. Zu dem attisch-römischen
Lustspiel (lÄduIa. Mliats,) des Plautus und des Terenz trat das ernstere und
einfachere nationale Lustspiel M>ni» Die Tragödie, dnrch Livius An-
dronicus nach Rom verpflanzt, wurde schon von naevius durch das geschicht¬
liche Schauspiel (tabula xrg.se,sxlAt>g,) ergänzt. Später schuf die Neigung zum
Witzigen und Unanständigen, die in der t'g-dula xallmta, ihr Genügen nicht fand,
noch die Kampanische Posse (tabula, ^tollg-rin). Neben dem Drama standen
an zweiter Stelle das Epos und die Satire. Die epische Dichtgattung, eben¬
falls schon durch Livius Andronicus in Rom eingeführt, brachte in den An¬
nalen des Ennius und dem Lehrgedicht des Lucrez mächtige und wirkungs¬
volle Werke hervor, sollte aber erst im augusteischen Zeitalter ihren Meister
finden. Auch die Eigenheiten der Satire weisen auf eine weitre Entwicklung
hin. Der Anbruch der Blütezeit wird durch Catull verkündet, der im An¬
schluß an die griechischen Lyriker die lateinische Sprache zum erstenmale in
formvollendete Strophen bindet. Welcher Fortschritt in Form und Inhalt
von dem iZitur clöinuin Illixi vor trixit xr^s x^vors des Livius Andronicus
bis zu Catulls ills ini xar cssse äeo vicletur!
Das augusteische Zeitalter entfaltete die Knospen, die die römische Dich¬
tung der Republik angesetzt hatte, zur schönsten Blüte. Augustus erkannte
seinen Beruf, die abgerißnen Fäden, die das Volk an seine Vergangenheit
knüpften, zu erneuern und den Sinn für die Majestät des Reichs zu wecken.
Unterstützt von Männern wie dem feinsinnigen und lebenslustigen Maecenas,
zog er die fähigsten Dichter in seine Nähe und verfolgte ihre Arbeiten mit er¬
munternder Teilnahme. Es begann die Herrschaft des Epos und der Lyrik.
Die durch Ennius in die römische Dichtung eingeführte und von Lucilius und
Varro weiter ausgebildete Satire behielt auch unter Augustus im wesentlichen
den Charakter liebenswürdiger Plaudereien über öffentliche Zustände; zur
furchtbaren Geißel der sittlichen und politischen Verwahrlosung des römischen
Volks wurde sie erst durch die Greuel der Kaiserherrschaft. Das Drama, das
den Höhepunkt seiner Entwicklung bereits überschritten hatte, wurde nur noch
auf dem Gebiete der Tragödie von namhaften Künstlern gepflegt.
In Vergil gipfelt die epische Dichtkunst der Römer. Er ist der Meister
des Heldengedichts, des Lehrgedichts und des Idylls. Unermeßlich ist der
Einfluß gewesen, der von ihm ausgegangen ist. Wie Aristoteles dem Mittel¬
alter als Ursprung aller Wissenschaft gegolten hat, so ist Vergil als der In¬
begriff aller Weisheit und Kunst verehrt worden. Doch hat es ihm nicht an
Widersachern gefehlt. Schon Zeitgenossen, Anhänger der alten Schule und
unfähige Nebenbuhler haben seine Gedichte zum Tummelplatz spitzfindiger und
alberner Kritik gemacht, und die Angriffe der neuern Zeit haben sich mit einer
Art von Haß vorzüglich gegen ihn und Horaz gerichtet und nicht ohne schein¬
baren Erfolg, denn die Geringschätzung der Werke Vergils ist in Laienkreisen
von Jahrzehnt zu Jahrzehnt gewachsen. Um so mehr Gewicht muß auf das
Urteil eines so feinsinnigen Kenners wie Ribbeck gelegt werden. Bei der Be¬
sprechung der bukolischen Gedichte Vergils giebt auch Ribbeck zu, daß das Ver¬
dienst der Erfindung in den meisten dieser ländlichen Gedichte gering ist.
»Szenerie und Personal, Stimmung und Kolorit, Gedanken und Bilder, Stil
und Vers, alles ist geliehen oder wenigstens nachgebildet." Doch wird schon
hier das feine Verständnis des Dichters hervorgehoben: „sein offnes Auge für
die Landschaft, sein Sinn für die einfache Sprache der Natur zeigt sich, wenn
er mit wenigen sichern Strichen den hereinbrechenden Abend, die wechselnden
Schatten der Berge, die rauchenden Giebel der Villen, die heimziehenden Rinder
mit der Pflugschar schildert, oder die brütende Mittagsglut, wo selbst das
Vieh den Schatten aufsucht, und die Eidechsen sich in der Dornenhecke bergen"
(II. S. 32). Noch höher stellt Ribbeck die Georgica Vergils, die er ein liebens¬
würdiges, gemut- und geistvolles Werk, eins der edelsten Kleinode der römi¬
schen Dichtung nennt: „Aus einem Guß, von uuübertroffnem Zauber sind
Sprache und Vers. Letztrer ist von edelm Wohllaut, voll und männlich, von
mannigfaltiger, ausdrucksvoller Schattirung; in wohlgemeßnem Wechsel von
Daktylen und Spondeen bei fein berechnetem Gegenspiel der Cäsuren und
Wvrtgruppen strömt er kraftvoll und erfrischend wie ein Gebirgsquell dahin.
Nicht weniger fein abgestuft ist die Sprache: nur wenig altertümlich angehaucht,
markig und klar, reich und anschaulich, von heitrer Majestät übergössen, atmet
sie römischen Geist, der mit griechischer Anmut glücklich vermählt ist." (II. S. 53.)
Am höchsten steht dem Verfasser trotz aller Angriffe die Äneis. Auch bei
diesem Meisterwerke verdankt Vergil seinem Vorbilde fast alles äußerliche, die
ganze Anlage, den künstlerischen Apparat, die Methode des Heldengedichts und
eine Fülle von Einzelheiten. „Und doch ist sein Werk kein Erzeugnis lahmer
Nachahmung. Trotz aller Abhängigkeit atmet es seinen eignen Geist: die
Brust hebt sich höher, der Blick ist weiter, der Gesichtkreis großartiger. Der
Dichter erzählt nicht nur mit unbeteiligter Ruhe, was sich vor Zeiten zuge¬
tragen; er hat nicht nur die persönlichen Schicksale oder Leidenschaften eines
einzelnen Helden zum Vorwurf, nicht den sich vorbereitenden Untergang eines
mächtigen Reichs vor Augen, sondern er ist mit seinen heiligsten Gefühlen
versenkt in den Aufbau einer neuen großen Zukunft, die sich aus den Ruinen
erheben soll, es weht ein aufstrebender Geist durch sein Gedicht. Einem Dichter
solcher Zeit und solcher Absicht thut man Unrecht, wenn man die Schlichtheit
und Unschuld des homerischen Stils an ihm vermißt." (II. S. 58.) Und nach
einer liebevollen Schilderung des Epos faßt Ribbeck sein Urteil in die Worte
zusammen: „Dieser kostbare Inhalt war in das edelste Gefäß gegossen; wie
Gold erklingen die Saiten des Sängers. Die Hexameter der Äneis bringen
die männliche Kraft, den heldenhaften Schritt und den erhabnen Wohllaut der
römischen Sprache zur vollkommensten Geltung. Ein gemäßigtes Pathos,
vornehme Pracht, ausdrucksvolle Mannigfaltigkeit und natürliche Anmut ist
gedämpft durch einen Hauch altertümlicher Strenge, bisweilen auch gewürzt
durch erlesenere Mittel griechischer Kunst. Ein breiter voller Strom des
Rhythmus, bald brausend, bald sanft, nie eintönig, stets in harmonischen Grenzen
gehalten." (II. S. 99.) „Trotz aller Spuren der UnVollendung ist die Äneis
Vergils unter allen Gedichten der Römer das populärste geworden, das Muster
aller spätern Epiker, das unentbehrliche und nie (auch in den Klosterschulen
des Mittelalters nicht) vergeßne, unermüdlich abgeschriebue, erklärte, von
Grammatikern und Rhetoriken: ausgemünzte Schulbuch, ein Schatz geistiger
Erhebung und Offenbarung, ja ein Abgrund für abergläubische und wirrsinnige
Grübelei, eine Leuchte der großen Dichter, welche in Italien den Genius natio¬
naler Poesie wieder erstehen ließen." (II. S. 102.)
Nicht so günstig wie über Vergil urteilt Ribbeck über Horaz, wenigstens
nicht über den Lyriker Horaz. „Es ist hauptsächlich die künstlerische Form,
Gesetzmäßigkeit und Wohllaut des Verses und der Strophe, vollendete Durch¬
bildung des sprachlichen Ausdrucks nach allen Seiten, auch der poetischen
Bilder und rhetorischen Figuren, kurz die Einführung griechischer Schönheit,
Anmut und Glätte in die Schöpfungen latinischcr Muse, worin Horaz sein
Verdienst erkannte, und woraus er stolz war. Ein Feind dilettantischer, kunst¬
loser Pocterei war er selbst ein scharfer Kritiker seiner eignen Arbeiten, feilte
viel und konnte sich schwer genug thun." (II. Seite 143.) Man kaun auf
Horaz die Worte anwenden, mit denen Lessing über seine eigne dichterische
Begabung urteilt. Auch Horaz fühlt die lebendige Quelle uicht in sich, die
durch eigne Kraft sich emporarbeitet, durch eigne Kraft in so reichen, so frischen,
so reinen Strahlen aufschießt; auch er mußte alles durch Druckwerk und
Röhren aus sich herauspresseu, und er würde so arm, so kalt, so kurzsichtig
sein, wenn er uicht einigermaßen gelernt hätte, fremde Schätze bescheiden zu
borgen, an fremdem Feuer sich zu Wärmen und durch die Gläser der Kunst
sein Auge zu stärken. Ja zuweilen ist er trotzdem wirklich arm, kalt und
kurzsichtig. Seine Liebesgedichte klingen nicht selten wie Übungsstücke nach
fremden Mustern und sind es ja auch zum Teil, und selbst unter den vor-
trefflichen geselligen Liedern sind einige, in denen der Gedankengang gestört
und der reine Fluß der Empfindungen gehemmt und getrübt wird. Bewun-
dernswert ist der Dichter da, wo er den reichen Inhalt seiner Lebensan¬
schauung in wenige gesättigte Worte zusammendrängt; liebenswürdig, wenn
er sich als muntern Gesellschafter oder gemütlichen und anhänglichen Freund
zeigt. Diese goldne Ader des echt horazischen Geistes tritt weit mächtiger,
als in den lyrischen Gedichten, in jenen gehaltvollen, launigen Plaudereien
der Satiren hervor, denen der Dichter selbst den Rang eigentlich dichterischer
Schöpfungen bescheiden abspricht. Auch die geistvollen Episteln lassen uns
den Dichter lieb gewinnen. Aber ein Dichter von Gottes Gnaden ist Horaz
nicht. Auch Ribbeck nennt ihn nnr den „menschlichsten aller Römer" und
„den feinfühligster Geist im Kreise der augusteischen Dichtergenosfen, dem gleich¬
gestimmte Freunde und teilnehmende Leser nicht fehlen werden, so lange die
Nacht der Barbarei nicht alle edlere Bildung begraben hat" (II. Seite 175).
Vergil, Horaz und Ovid sind bis auf unsre Zeit herab die beliebtesten
und gelesensten Dichter geblieben. Auch von Ovid ist ein mächtiger Einfluß
ausgegangen: er ist der Dichter der bildenden Kunst geworden. Wie Dante
den Vergil zum Führer wählt, so haben die Maler der Renaissance bei Ovid
herrliche Anregung und brauchbare Stoffe und Vorlagen gefunden. Neben
dem innigen Tibull und dem heißblütigen Properz ist er der Meister der
römischen Liebeselegie, vollendet in Form und Inhalt, ein verschwenderisch
begabter Erbe der nunmehr ausgereiften Kunst. „Es ist ein Zeitraum von
sechzig Jahren, der von Julius Cäsars bis zu Ovids Tode verstrichen ist.
Was von dichterischer Kraft und Schönheitssinn der italischen Nation gegeben
war, gelangte während dieser Periode, von günstigen Umständen gepflegt und
getrieben, zu seiner höchsten Entwicklung. Die griechische Muse ist ganz hei¬
misch in Rom geworden, von ihrem Geist ist alles geschaffne getränkt und
führt doch ein selbständiges Leben. Das klangvolle Organ der Weltbeherr¬
scherin tönt über den Erdkreis; gedankenreiche Dichter sind von der welt¬
geschichtlichen Aufgabe ihrer Nation erfüllt und prägen einen unvergänglichen
Schatz echter Lebensweisheit aus. Während jener glücklichen Zeit bürger¬
lichen Friedens und Behagens, als politische Leidenschaft und Zwietracht
schlief, erblühte auch die Anmut urbaner und geistreicher Unterhaltung in
künstlerischer Form, der Sinn für gemütvolles Kleinleben und dessen Dar¬
stellung, der Zauber des geselligen wie des feierlichen Liedes in bisher noch
uicht vernommnen Weisen, und Amor feierte seine Triumphe. Leider ver¬
drängte derselbe ernstere Richtungen, als die Frivolität des großstädtischen
Lebens die unbeschäftigte, daher genußsüchtige Jugend vergiftete, sodaß ein
hoffnungsvoller Nachwuchs eigenartig schöpferischer Dichter in Rom fehlte, als
Ovid die Angen schloß." (II. S. 369f.)
Unter der Herrschaft der Kaiser hat sich nur die satirische Dichtung in
fruchtbarer und anregender Weise weiter entwickelt, und zwar nach drei Rich¬
tungen hin, als Satire, als Sittenroman und als Epigramm. Die Satire,
bei Persius noch ohne Kraft und Saft, ist durch Juvenal zur Geißel der
Laster geworden, die sich unter Nero und Domitian frech hervorgewagt hatten.
Die Entrüstung über die sittliche Verwahrlosung seines Volks hat dem Dichter
die Feder in die Hand gezwungen. inclig-nMo vvrsuiri, heißt es in der
ersten Satire, in der Juvenal sein Auftreten begründet und gleichsam sein
Programm ausspricht. Nicht die Entrüstung, sondern das spöttische Behagen
an dem zuchtlosen Leben und geschmacklosen Gebahren der Emporkömmlinge,
die unter Claudius und Nero in die vornehme Gesellschaft eingedrungen waren,
spricht aus den Satiren Petrons zu uns, einem geistvollen und eigenartigen
Werke, das die menippeische Satire zu einem umfangreichen Sittenroman er¬
weitert hat. Noch deutlicher ist die Freude an einem oft schmutzigen Stoff
in den Epigrammen Martials, die doch in ihrer Art unübertroffne Leistungen
einer geistreichen und pikanten Kleinkunst sind, „Gemmen in Versen." Die
einzige Gabe volkstümlicher Poesie unter der Kaiserherrschaft sind die Fabeln
des Phaedrus, von den Zeitgenossen, wie es scheint, wenig beachtet, um so
wichtiger als Vorbild für spätere Jahrhunderte. Die kunstmäßige, an grie¬
chische Muster angelehnte Poesie sank rasch immer tiefer von der Höhe der
Kunst, in den Tragödien des Seneca ebenso wie in den Lehrgedichten des
Manilius und Columella oder in den Epen des Lucan, Valerius Flaccus,
Silius Italiens und Statius. Zwar die Ziele, nach denen diese Dichter streben,
sind die höchsten. Lucan gedachte den Ruhm Vergils in Schatten zu stellen,
Manilius vergleicht sich dem Lucrez, der bescheidnere Statius erfleht am Schluß
seiner Thebais für sie die Unsterblichkeit, wenn sie der göttlichen Äneis auch
nur von fern zu folgen vermöchte, und in der Schar von Dichtern, die der
jüngere Plinius lobt, giebt es einen zweiten Properz und einen andern Horaz.
Und allen steht der göttliche Beruf der weltbeherrschenden Roma ebenso leuch¬
tend vor der Seele wie einst dem Vergil. „Diesem stolzen Glauben sind alle
treu geblieben, welche in lateinischer Zunge gedichtet haben. Es ist der Geist
männlicher Gesinnung und Kraft, welcher der römischen Muse wie der Nation
selber und ihren Schöpfungen seinen Stempel aufgedrückt hat. In der Energie
dieses Charakterzuges liegt ihre Größe und ihr Maugel. Das auf der Höhe
ihrer Macht gesteigerte Bestreben nach eindrucksvoller Darstellung, gewichtigen
Ausdruck, metallnen Klang hat zu Unnatur und Schwulst geführt. Töne
des Herzens werden immer seltner. In der Schule ist die Manier groß ge¬
worden. Aber ihrer Zucht ist es doch zu verdanken, daß die Ideale der Kunst,
wenn auch einer konventionellen, nicht so leicht verworfen wurden und das
Gepräge klassischer Form auch Arbeiten von untergeordnetem Werte adelt."
Noch einmal erhebt sich die römische Dichtung gleichsam zu ihrem Schwanen¬
gesang, in jenen Spätlingen Ausonius, Claudianus und Nainatianus, deren
Dichten und Denken bereits von den gewaltigen Ereignissen beeinflußt wird,
die das römische Reich, den Stolz der Dichter, stürzen und den Grund zu
einer neuen Welt legen sollten: der Sieg des christlichen Glaubens und der
Einbruch der germanischen Stämme.
Ribbeck hat das Buch seinem Freunde Paul Heyse gewidmet. Es ist
das Ergebnis der Forschungen des Gelehrten und zugleich das Werk einer
innigen dichterischen Nachempfindung. Die Sprache zeigt alle Vorzüge der
Nibbeckschen Vortragsweise ohne deren Mängel. Sie ist gewählt, klar und
geistvoll, selten gesucht oder fehlerhaft. Der Schönheit des Ausdrucks ent¬
spricht die Anschaulichkeit der Schilderung. Unverändert gleich bleibt sich die
liebevolle Wärme, mit der Ribbeck für die jüngern und schwächern Dichter
kaum geringere Teilnahme zu wecken versteht als für die großen Meister, und
in allen Bänden seines Werkes ist die Geschicklichkeit bewnndernswert, womit
er den Gegenstand seiner Darstellung trotz aller Klarheit und Anschaulichkeit
nie völlig erschöpft, sondern dem Leser gleichsam in der Ferne immer noch
neues zeigt, ihn nicht übersättigt, sondern ihn anregt, von dieser Geschichte
der römischen Dichtung zu den Dichtern selbst zurückzukehren und gegenüber
den herrschenden Schlagworten wieder mehr zu lesen und selbst zu prüfen,
werden zwar mit
äußerster Verschlagenheit und Heimlichkeit geführt, aber zum Heile Deutschlands
giebt es nicht nur in Berlin feine Nasen, die jeden bösen Anschlag wittern, noch
ehe er geboren ist, und sich durch keine Winkelzüge irreführen lassen. Zum Bei¬
spiel: Herr von Poschinger hat bekanntlich unter dem Titel „Ein Achtundvierziger.
L. Buchers Leben und Werke" ein Buch herausgegeben, dessen Leser wohl meistens
geurteilt haben werden, daß darin ein ergiebiger Stoff, der Entwicklungsgang vom
revolutionären Idealismus zum staatsmnnnischen Wirken, ziemlich oberflächlich be¬
handelt sei. Wie sehr sie geirrt haben, können sie aus einer sozialdemokratischen
Wochenschrift erfahren. Da thut ein Herr Ferdinand Wolf unwiderleglich dar,
daß die Arbeit Poschingers ein diplomatisches Meisterstück ist und leinen geringern
Zweck hat als den, durch eine revolutionäre Bewegung den Fürsten Bismarck
wieder um die Spitze der Geschäfte zu bringen. Man sieht, es ist nichts so fein
gesponnen, die tcilmudistifche Dialektik bringt es an die Sonne! Nebenher läuft
die Entdeckung, daß Bücher bereits als Flüchtling in London (in den fünfziger
Jahren) die künftige Laufbahn seines frühern Kollegen und Gegners im preußischen
Landtage vorausgesehn und sich ihm durch seiue Berichte an die Nationalzeitung
zu nähern gesucht habe. Wessen Scharfblick sollen wir nnn mehr bewundern?
Auf jeden Fall ist es aber von Herrn Ferdinand Wolf undankbar, den Namen des
ehrwürdigen Rabbi zu verschweigen, dem er seine ausgezeichnete Methode der
Untersuchung verdankt.
Die Berliner Politischen Nachrichten nennen
es eine „eigentümliche Erscheinung," daß im ersten Drittel des laufenden Etats¬
jahrs die Erträge aller Verbrauchssteuern zurückgegangen seien, mit alleiniger Aus¬
nahme der Bransteuer, die eine verschwindende (also Wohl der Bevölkerungszunahme
nicht entsprechende) Besserung zeige. Und alle Zeitungen drucken die „eigentümliche
Erscheinung" uach und wissen nichts darüber zu sagen, als daß sie eigentümlich,
höchst eigentümlich sei. So geschehen, etwa dreißig Jahre nachdem Rodbertus be¬
wiesen hat, daß und warum diese und ähnliche Erscheinungen allerdings unsrer
heutigen Produktionsweise eigentümlich, innerlich anhaftend, notwendig und, so lange
sie dauert, unabwendbar sind, sodaß, wenn die Gesellschaft sich nicht zu einer
Änderung der Produktionsweise entschließt, die Produktion über kurz oder laug
ganz aufhören muß! Und so geschehen, nachdem tüchtige Geister aller Nationen
in Menge den ungemein einfachen von Rodbertus aufgedeckten Sachverhalt in Hun¬
derten von Broschüren, Zeitungs- und Zeitschriftenartikeln dem lieben Publikum
erklärt und mundgerecht gemacht haben! Und die Konservativen fahren fort zu
predigen, daß all Ding gut werden werde, wenn man nur das Gezücht der Sozinl-
dcmokraten ausrotte, dein Gesinde die Freizügigkeit entziehe und dafür reichliche
Prügel verabreiche, vor allem aber durch hohe Einfuhrzölle die Getreide- und Vieh¬
preise recht hoch hinaustreibe. Und die Liberalen fahren fort zu trösten: Nur
Geduld! wenn mau uur alles laufen läßt, wie es selber laufen will, und namentlich
der Spekulation keine Fesseln anlegt, dann wird ,,es" schon von selbst wieder
besser werden; denn so eine „Krise" geht eben, wie sie gekommen ist, von selber
wieder. Denn natürlich kommt solches vorübergehende Elend nur vou einer „De¬
pression," wie ja auch uach der Versicherung unsrer heutigen Wettergelehrteil das
gute oder schlechte Wetter von einem barometrischen Maximum oder Minimum
kommt, während wir Laien uns früher immer eingebildet hatte», das Barometer
stehe hoch oder niedrig, weil die Luft trocken oder naß sei.
Ein andres Bild! Das selbstverständlich konservative Flöhaer Amtsblatt
beschreibt die Lage der mit der Anfertigung von Spielwaren beschäftigten Haus-
indnstriellcn in einigen Gegenden des Erzgebirges. Es heißt da u. a.: „Nur
die Grenzzollerleichterungen auf Brot und Mehl ermöglichen es den Familien,
Sonntags wenigstens Brot zu essen.... Ja früher, vor zwanzig und dreißig
Jahren, da war es anders; dn atmete alles Wohlstand, Freude und Fröhlichkeit;
dn standen die Spielwaren über noch einmal so hoch im Werte jsoll heißen, im
Preises und die Holzpreise waren noch einmal so billig. Damals konnten fleißige
Familien bis zu fünfzig Thalern Wert in Waren fabriziren, an denen sie bis dreißig
Thaler Verdienst hatten, und jetzt verdient eine ganze Familie in der Woche oft
nur vier bis sechs Mark, höchstens einmal fünfzehn bis siebzehn Mark." Also das
ist das Ergebnis des Kulturfortschritts im Zeitalter der sieghaften Technik, des
christlichen Staates und der amtlichen Sozialpolitik, und zwar in dem deutschen
Staate, der sich der „blühendsten" Industrie, des größten Reichtums und des voll¬
kommensten Schulwesens erfreut, daß fleißige Familien in Masse dem Elend ver¬
fallen, und daß ihr Arbeitsverdienst binnen dreißig Jahren von durchschnittlich —
sagen wir vierzig Mark auf zehn Mark zurückgeht! Und wenn jemand die Frage
aufwirft: Ist das wirklich Fortschritt? Ist das vernünftig? Kann es so weiter gehn?
Darf man es so weiter gehn lassen? Beweisen solche Vorgänge nicht, daß in der
Gütererzeugung und Güterverteilung ein Fehler steckt, der beseitigt werden kann
und muß? — dann schreien alle staatserhaltenden: Schlagt ihn tot! Er ist ein
Revolutionär, er ist ein Sozialdemokrat!
Sogar die Kreuzzeitung sieht sich in einer Polemik gegen den Scharnhorstschen
Gedanken gezwungen, ans die leibliche Verkümmerung des Volks hinzuweisen:
„Man sehe die Linienbataillvne mit Ersatz aus armen und namentlich Jndustrie-
gegendcn an, man beobachte den schwerbepackten, wenig entwickelten Jnfanteristen
aus solchem Ersatzbezirke in seinem ersten Dienstjahre, und man wird bemerken,
daß die Anforderungen an Körpergröße und Körperstärke erheblich heruntergegangen
sind." Das also wissen die militärischen Mitarbeiter der Kreuzzeitung und sind
sich immer noch nicht klar darüber, wie unwichtig alle militärischen Streitfragen
zusammengenommen sind im Vergleich mit der einen Hauptfrage: Werden wir nach
fünfzig Jahren überhaupt noch 500 000 kriegstüchtige Männer im Reiche haben?
Von einer Dame, die Feuilletons schreibt, wird niemand volkswirtschaftliche
Kenntnisse verlangen. Wir finden es daher ganz natürlich, daß Luise Rebentisch,
die in deutschen Zeitungen das englische Irig'it-Ms schildert, sich immer und immer
wieder wundert über die „Armutsklagen, die das Land durchziehen," während doch
der Luxus täglich toller werde. Sie kann es ja nicht wissen, daß die lawinen¬
artig anschwellenden großen Vermögen ihren Zuwachs ans vernichteten kleinen
ziehen, daß der moderne „Natioualreichtnm" das Volkselend zur Voraussetzung
hat, daß auch dieser „Nativnalreichtum" allmählich zusammenschmilzt, und daß eben,
weil beim Stocken des Masseukousums und infolge der Verwandlung aller Agrnr-
staaten in Industriestaaten die Kapitalanlage täglich schwieriger wird, die Reichen
sich mehr und mehr veranlaßt sehn, ihr ganzes Einkommen zu verprassen, von dein
sie früher einen Teil rentabel anzulegen pflegten. Das alles kann die Dame nicht
wissen; aber die Redaktionen könnten, sollten es wissen und eine Anmerkung dazu
machen. Sie werden sich hüten, es zu thun! Der Herr Verleger würde solche
Redakteure schön auf die Finger klopfen, die ihm seine besten Kunden verjagten.
Denn der zeituuglesende Philister will unterhalten, aber nicht belehrt und vor
allem nicht erschreckt werden. Taucht einmal in einer Stunde des Nachdenkens
das unerfreuliche Bild der volkswirtschaftlichen Wahrheit vor seinen Augen auf,
dann verscheucht er es mit seinem lieben Sprüchlein: Lxrvs nous 1o cküluAs, Daß
sich auch seine Kinder unter denen befinden werden, über die die große Flut oder
der große Krach hereinbricht, verursacht dein in den Gewohnheiten seines kom¬
fortabel» Lebens stumpfsinnig gewordnen Weltmanne von heute keinen Kummer mehr.
Das nationale Unglück, das uns in Gestalt der
Cholerasenche heimgesucht hat, beschäftigt in diesem Augenblick Hand und Geist vou
Beamten und Nichtbenmten in den bereits zahlreich betroffnen oder bedrohten Orten
des Reichs. Für diesesmal werden die bestehenden Einrichtungen und Gesetze die
Form der Abwehr bestimmen müssen — nach Ausbruch des Krieges schafft man
keine neue Wehrordnung; uur wenn sich die bestehenden Dämme der Seuche gegen¬
über völlig unzureichend erweisen sollten, könnte der folgende Gedanke vielleicht
schon diesmal zur Grundlage einzelner Maßregeln werden.
Die Schätzung aller Verluste, die das Auftreten der Cholera in Hamburg
^ durch die Geschäftsstockung, die Abweisung der Hamburger Schiffe und so vieles
andre — bis jetzt schon angerichtet hat, ist eine unübersehbare Aufgabe; die An¬
nahme eines Verlustes vou mehreren Millionen wird gewiß eine sehr bescheidne
Schätzung sein. Die Rechnung: Wenn eine von diesen Millionen gleich im An¬
fang zur Abwehr verwendet worden wäre, würden die übrigen erspart worden
sein, ist sicherlich richtig. Hieraus eiuen Vorwurf gegen die Hamburger Behörden
abzuleiten, wäre ebenso verkehrt wie ungerecht — der Richter über eine That darf
von ihren Folgen durchaus nicht mehr wissen, als der Vorgeladne davon hat wissen
können, wohl aber liegt in jenem Schluß eine Lehre für die Zukunft. Die Ver¬
luste, die Verwirrung, die nachhaltigen Schäden, die die Ansteckung mit einer
Seuche über eine große Stadt verhängt, find bei der gegenwärtigen internationalen
Achtung so ungeheuer, daß die zur Verhütung oder Abkürzung dieses Zustandes
bisher aufgewendete» Mittel viel zu gering erscheinen. Was soll in Zukunft ge¬
schehen? Das ist eine weite Frage, bei der die verschiedensten Zweige des Staats¬
dienstes mit der Wissenschaft beratend werden zusammenwirken müssen. Aber ein
die ganze Weise der Abwehr bestimmender Gedanke ist mit einem einzigen Worte
gegeben, mit dem Worte: Seucheumobilmachung, Ist eine Volksseuche ein weniger
entschloßner Feind, als ein ländergieriger Nachbar? Oder sind die Verluste, die
von dem menschlichen Feinde drohen, so viel schwerer, daß gegen eine Seuche die
Mobilmachung einer einzelnen Stadt, eines Viertels einer Stadt als übermäßiger
Aufwand erschiene? Wenn man einig darüber ist, daß gegen eine allgemeine Ge¬
fahr Alle für Einen und Einer für Alle stehn müssen, so würde ein Widerspruch
darin liegen, den allgemeinen Widerstand nicht durch Organisation verzehnfachen
zu wollen. Eine bereit gehaltne Rolle würde etwa für jeden heranzuziehenden an¬
sässigen Bürger seinen Dienst im Fall des Ausrufs feststellen; ein Kennzeichen
würde ihn zum Staatsbeamte» machen, dem in seinem Dienst Gehorsam zu leisten
ist. Die gesundheitlich richtige Haltung der Wohnungen, die Essensbereituug, die
schleunige Ermittlung der Erkrankungen, die Feststellung der zukommenden Fremden
— sind einige von den Aufgaben, die nur auf diesem Wege völlig zu lösen sind
und denen die gewöhnliche Beamtenschaft selbst bei äußerster Anstrengung ihrer
Kräfte lange nicht gewachsen ist. Die Zuteilung einer wohl erläuterte» Dienst¬
anweisung an jeden Dienstpflichtigen, die Einberufung zu einer Übung — eine
Übnngsmobilmachung in der Zeit der Gefahr eines Seucheneinbruchs — und vieles
andre würde sich in der Entwicklung des Gedankens, der hier nur mit wenigen
Worten angeboten werden soll, von selber ergeben. Die Stärkung des Gemein¬
gefühls, die vom Staat ausgehende Erweckung der Einsicht, daß das Gemeinwesen
jeden Bürger jederzeit als Beamten heranziehen kann, die Entwindung dieser Wahr¬
heit aus den Händen der Sozinlistenpropheten durch den bestehenden Staat — das
sind Betrachtungen, zu denen der Gegenstand fernerhin anregt, die aber in die
Geschlossenheit dieses Vorschlages nicht mehr hinein gehören.
Wenn wir eine Choleramobilmachuug besessen hätten, so würden am An¬
steckungsherd in den schlimmsten Tagen nicht so viel Kräfte der Nation, wie gegen¬
wärtig in einem weiten Gebiete Wochen hindurch durch diesen Feind abgezogen,
und ungeheure wirtschaftliche Werte und viele Menschenleben würden erhalten
worden sein.
Als geplagter Städter mit „sitzender" Be¬
schäftigung hatte ich mich zur Auffrischung meiner Nerven auf einige Wochen in
ein wegen seiner Luft und seiner Wellen vielbesuchtes Seebad begeben. Die
Mehrzahl der Badegäste bestand, wie man bald bemerken konnte, aus Großstädtern;
unsre deutschen Steinkolosse Hamburg und Berlin schienen zu dem Zuzug stadt¬
müder Leute das meiste beigetragen zu haben. Am Mittagstisch — oder, wie
man dort so schön sagte, an der ?g,d1o et'kutes — fanden sich aber anch andre,
anscheinend wenig erholungsbedürftige Personen ein, von denen man anzunehmen
geneigt war, daß sie sich des Vergnügens wegen in den Badetrubel gestürzt hätten.
Ich machte die Bekanntschaft einiger urkräftiger Landleute mit frischer brauner
Gesichtsfarbe, wahrer Urbilder der Gesundheit, und wir tauschten die üblichen Fragen
über das Woher und Wohin und das Warum aus. Wie erstaunte ich nun da, als
einer von ihnen, der mit Familie gekommen war, ein Gutsbesitzer, der so gesund
wie die andern aussah, auf meine Erkundigung, ob er bade, antwortete, daß ihm
das Baden nicht bekäme, daß es ihm — seine Nerven nicht gestatteten. Was,
Sie sind nervös? Nicht möglich! Wir Städter, die wir uns von dem einfachen
Naturleben abgekehrt haben, wir sind natürlich nervös, aber ihr Herren vom
Lande! — Ich bin, erwiderte er, so nervenschwach, wie einer nur sein kann. Meine
Aufregung ist oft so groß, daß ich mich mit keinem Menschen unterhalten mag,
und am liebsten sitze ich hier in einem abgelegnen Winkel auf der Düne und sehe
still und selbstvergessen ans das herrliche, weite, wogende Meer. Mit meiner
Nervosität habe ich sogar Frau und Kinder angesteckt, wir sind alle zusammen
nervös. — Aber wodurch können Sie das nur geworden sein? — Ja sehen Sie,
ich hatte ein ziemlich großes Gut, und obwohl ich einen Teil verkauft habe, tun
mir die Arbeit zu erleichtern, so sind doch heutzutage die Leute so anspruchsvoll,
daß mit ihnen gar nicht auszukommen ist; hat man keine Arbeiter, so weiß man
nicht, wo ein und aus, und hat man welche, so möchte man sie am liebsten wieder
los sein. Ja wenn man die Arbeit allein machen könnte! Ich habe die Scherereien
und den ewigen Ärger satt. Das macht mich krank, und wir haben uns ent¬
schlösse:,, obwohl ich sonst ganz rüstig bin, in die Stadt zu ziehn. — Haben Sie
denn soviel zurückgelegt, daß Sie von Ihren Renten leben können? — Zum Glück
habe ich den einen Teil meines Besitzes gut verkauft, und ich hoffe, wenn alles
gut geht, Vermögen genug zu habe«, existiren zu können; übrigens werden wir
uns einschränken, und wir haben ja nur zwei Kinder. Solange sich meine Nerven
nicht wieder erholt haben, solange ich nicht wieder besser schlafen kann, sind wir,
ich und meine von Kopfschmerzen geplagte Frau, nur halbe Menschen.
Ich verabschiedete mich und setzte meinen Weg allein fort, in Gedanken über
diesen neuen Beitrag zur sozialen Frage unsrer Zeit, über die ländliche Arbeiternot,
über das Anwachsen der großen Städte, über die Zunahme der Luftkurorte,
Sommerfrischen und Seebadeörter. Der nervöse Gutsbesitzer! — sollte es der¬
gleichen jemals in irgend einer frühern Zeit gegeben haben? Der nervöse Guts¬
besitzer — das ist die neueste, „hoch"moderne Errungenschaft.
Spitta vereinigt wie vielleicht heute kein andrer auf musikalischen Gebiete
die verschiednen Seiten der Kunstwissenschaft, die philosophische, die physikalisch¬
mathematische, die geschichtliche und die philologische. Die hier gesammelten Sees-
zehn Aufsätze aber — sie sind bis auf einen schon zerstreut gedruckt — sind in
der Hauptsache philosophischen nud ästhetisch-kritischen Inhalts, und von historischem
ist nur aufgenommen worden, was auf Teilnahme in weiter gebildeten Kreisen
rechnen kann; denn diese denkt sich der Verfasser als Leser der Sammlung. Wir
wünschen sie nicht so sehr dem Buche seinetwegen — es ist zu bedeutend, als daß
man ihm mit diesem mitleidigen Wunsche nahen möchte — als das Buch ihnen
ihretwegen, damit sie ihren Genuß an seinem selbständigen Gehalte haben. Die
einzelnen Aufsätze sind überschrieben: Kunstwissenschaft und Kunst; Vom Mittler¬
amte der Poesie; Die Wiederbelebung Protestantischer Kirchenmusik auf geschichtlicher
Grundlage; Händel, Bach und Schutz (1385); Mariane von Ziegler und Joh.
Sebastian Bach; „Paris und Helena"; Joseph Hahdn in der Darstellung C. F. Pohls;
„Beethoveniana"; Die älteste Faust-Oper und Goethes Stellung zur Musik;
Jessvnda; Karl Maria von Weber (1886); Spontini in Berlin; Ricks W. Gabe;
Johannes Brahms; Musikalische Seelenmessen; Oskar von Riesemann (Ein Gedenk¬
blatt). Davon ist der Aufsatz über Brahms bisher noch nicht gedruckt gewesen.
Ihm liest man die Lust und deu Herzensdrang des Verfassers zwischen den Zeilen
an: Spitta hat seine Arbeiten dem Publikum nicht bieten können, ohne seine Ge¬
danken auch über den Mann auszusprechen, der wie ein Riese alle Komponisten
der Gegenwart überragt. Über Brahms ist bis jetzt nur wenig und darunter
wunderlich unverständiges geschrieben worden: wir wissen also dem Verfasser dop¬
pelten Dank für seine klare und gerechte Würdigung der Brahmsschen Musik.
Zum Schlüsse die Bitte, daß die Sammlung der philologisch-historischen Ar¬
beiten Spittäh auch nicht mehr lange auf sich warten lassen möge. Die kleinere
Lesergemeinde wird nicht die weniger dankbare sein.
Fast alle diese vierundzwanzig Briefe sind bedeutend; ihr Inhalt ist zum
größte» Teile philosophischer Natur, dazu kommen interessante Charakteristiken und
litterargcschichtlich wertvolle Urteile. Der Herausgeber hat in den Anmerkungen
mit großem Fleiße aus der verwandten Litteratur, besonders wieder aus Briefen,
zusammengetragen, was zum Verständnis und was zur Bestätigung der Mitteilungen
Humboldts an Fritz Jacobi dienen kann. Auch die Auskunft über weniger be¬
kannte Personen ist dankenswert; war es aber nötig, für die, die voraussichtlich
diese Briefe lesen werden, Anmerkungen zu machen wie die: Johann Kaspar Lnvater,
geboren 1741 in Zürich, 1769 Diakonus, 1775 Pfarrer, gestorben 1801?
Von den sieben Briefen Humboldts an den Grafen Schlabrendorf in Paris,
die als Anhang beigegeben sind, ist der einzige von größerm Interesse leider stark
verstümmelt. Humboldt teilt darin aus Valencia dem Freunde seine Beobachtungen
über spanische Bildung und Kultur mit, philosophisch rnsonnirend, wie immer, und
spanische Eigentümlichkeit mit französischer und deutscher vergleichend.
le begeisterten Huldigungen, deren Gegenstand Fürst Bismarck
diesen Sommer in München und Jena ebenso wie in Kissingen
von Seiten der Süddeutschen gewesen ist, die zu ihrem Pro¬
pheten reisten, weil ihr Prophet nicht zu ihnen kam, haben von
neuem den Beweis geliefert, daß in Süddeutschlnnd und in den
mitteldeutschen Kleinstaaten die Hinneigung zu dem Altkanzler weit leiden¬
schaftlicher ist als in Preußen, wenn es eines solchen Beweises überhaupt noch
bedurft Hütte. Es wäre ein Irrtum, diese Thatsache lediglich auf die größere
Kühle des norddeutschen Temperaments zurückführen zu wollen, sie stützt sich
vielmehr auf besondre politische und psychologische Erklärungsgründe. Gewiß
hat man auch in Preußen die Errichtung des deutschen Reichs mit jubelnder
Befriedigung begrüßt, fanden doch dabei der allgemeine deutsche Patriotismus
und der preußische Partikularstolz zugleich ihre Rechnung. Aber schwerlich hat
man dort der Einigung mit so sehnsuchtsbaugem Hoffen entgegeugeharrt wie
in Süddeutschland, schwerlich dort mit so tief innerm Entzücken die Erfüllung
des Herzenswunsches aufgenommen wie hier. Natürlich: Preußen war ja
schon vorher ein Großstaat, dessen Stimme im Rate der europäischen Mächte
Geltung hatte, der Preuße hatte ja ein engeres Vaterland mit einer so glän¬
zenden geschichtlichen Vergangenheit, daß diese — ganz abgesehen von der
Bürgschaft, die darin für die Zukunft lag — auch in der Gegenwart schon
zu frohem Nationalstolz hinlängliche Berechtigung gab, Preußen wußte sich
endlich allein stark genug, dem Angriff selbst des mächtigsten Gegners in be¬
gründeter Erwartung des Sieges mit Ruhe entgegenzusehen. Wie ganz anders
die süddeutsche» Kleinstaaten! Jeder von ihnen war in der äußern Politik
stets der Anlehnung an einen stärkern bedürftig, sah sich bei kriegerischen Ver¬
wicklungen in der Wahl seiner Partei mehr von den Forderungen der Klug¬
heit als denen der Ehre abhängig, mußte eine erbettelte Neutralität noch als
besondern Glücksfall betrachten. Wie mußte das Gefühl solcher Schmach dem
süddeutschen Patrioten auf der Seele brennen, in ihm den Wunsch einer Ände¬
rung seiner kläglichen Lage zur lodernden Begierde anfachen! Und da sah er
aus einmal in unglaublich rascher Entwicklung der Dinge das Ziel seines
jahrzehntelangen Sehnen^ erreicht, sah sein engeres Vaterland als Glied
eines machtvollen Ganzen, auf dessen Schutz es Anspruch, an dessen Ehren es
Anteil hatte, weil es ja eben in Gemeinschaft mit vielen andern dieses Ganze
bildete. Und sah sich zu dieser stolzen Höhe emporgehoben durch das Genie
eines gewaltigen Mannes, dessen Vundesgenossenschaft er um so besser zu
würdigen wußte, als er lange Zeit unter seiner Feindschaft gelitten, ihn als
Feind ehrlich gehaßt, wenn auch vielleicht schon im stillen bewundert hatte.
In je tieferes politisches Elend Süddeutschland versunken war, um so größer
mußte seine Dankbarkeit gegen den sein, der es daraus befreit hatte. So
wurde Fürst Bismarck für tausende und abertausende die Verkörperung des
deutschen Einheitsgedankens, wurde — mau ist fast zu sagen versucht — nicht
sowohl als Mensch wie als eine in die Erscheinung getretene Idee verehrt,
wodurch nicht ausgeschlossen ist, daß überdies noch auf viele seine kraft- und
temperamentvolle Persönlichkeit anziehend, in unsrer an Individualitäten nicht
eben reichen Zeit doppelt anziehend wirkte. Und nun, da Fürst Bismarck
nicht mehr der allmächtige Lenker der Geschicke des deutschen Reichs ist, sollten
wir von ihm lassen? Hat er etwa das Reich darum weniger begründet?
sind wir ihm etwa darum weniger Dank schuldig? Nein, jetzt gerade ist es
Zeit, die ganze Fülle unsrer Bewundrung, Verehrung, Liebe auf ihn auszu¬
schütten, jetzt gerade, da ihm schwere Kränkungen täglich, stündlich zugefügt
werden, da ihm jedes einzelne Zeichen von Anhänglichkeit wohl thun muß.
Der Charakter der Süddeutschen und von uns Schwaben im besondern hat
sich noch niemals durch Beweglichkeit und Geschmeidigkeit ausgezeichnet. Wir
Pflegen unsre Neigung nicht rasch, dafür aber ohne Widerruf zu verschenken.
Man mag es, je nach dem Standpunkte, als deutsche Treue rühmen, man
mag es schwäbische Starrköpfigkeit und Eigensinn schelten, was kommt darauf
an? Es soll nicht einmal geleugnet werden, daß ein Stück Widerspruchsgeist
dabei im Spiele ist: das Übermaß der Verfolgungen auf der einen Seite reizt
zum Fanatismus der Bewundrung auf der andern. Man glaube auch nur
nicht, daß alle Schwaben, die sich jetzt als unbedingte Verehrer Bismcircks
bekennen, zu Zeiten seines unumschränkten Regiments mit seiner innern Politik
durchweg einverstanden gewesen seien, aber sie sagten sich: Er ist nun einmal
nur ganz zu haben. Der kleine Schade, den er auf jenem Gebiete anrichten
mag, wird reichlich aufgewogen durch die unermeßlichen Vorteile, die uns
seine Führung der auswärtigen Politik verschafft. Sind wir auch in einzelnen
Punkten nicht mit ihm einverstanden, so wissen wir doch, daß der Mann, der
das deutsche Reich gegründet hat, an seiner Spitze bleiben muß, so lange es
die Natur erlaubt, wissen auch, daß niemand mit so starken Armen das Schiff
durch die Wogen führen kann, wie er; also bleibt er am Ruder. So dachten
wir damals. Und ebenso wenig verkennen wir heute die Schwächen und Fehler
Vismarcks, billigen ebenso wenig sein Verhalten in allen Stücke». Aber wir
sagen: Thut nichts, er ist und bleibt unser Bismarck. Nie vergessen wir es,
daß wir unsre politische, unsre geschichtliche Größe ihm verdanken. Er thue,
was er nicht lassen kann: wir halten an ihm fest. So ist in Schwaben
— ohne Übertreibung kann man es behaupten — die überwiegende Mehrzahl
der Urteilsfähigen gesinnt, vor allem der Anhang der sonst sehr verschiedne
Politische Meinungen umfassenden deutschen Partei. Aber doch nicht er allein;
so denkt auch mancher, der mit der Volkspartei zu stimmen Pflegt. Die offi¬
zielle Volkspartei natürlich haßt Bismarck nach wie vor, und sie weiß, warum.
Manchen liberalen Politiker in Württemberg hat es tief geschmerzt, daß Fürst
Bismarck als Reichskanzler jede Brücke zwischen sich und der deutschfreisiunigcn
Partei abgebrochen, daß er jede Möglichkeit einer Verständigung für alle Zeiten
abgeschnitten und dadurch sich selbst in die Zwangslage versetzt hat, sich die
Hilfe des begehrlichen Zentrums allzu teuer zu erkaufen. Mancher Verehrer
Vismarcks in Württemberg und wohl auch im übrigen Süddeutschland hat
der leidenschaftlichen Gegnerschaft der Deutschfreisinnigen gegen Bismarck Ver¬
ständnis entgegengebracht, wenn er auch ihre Ausschreitungen streng ver¬
urteilen mußte. Die in wirtschaftlicher Beziehung ihm überdies nicht so fern¬
stehenden süddeutschen Demokraten hat Bismarck niemals der gleichen heraus¬
fordernden Feindschaft gewürdigt, wie die norddeutschen Linksliberalen. Woher
trotzdem ihr maßloser Zorn, der sich seit des Kanzlers Sturz in Zeitungs¬
artikeln entladet, die die Ergüsse der preußischen Fortschrittspresse an Roheit
entschieden überbieten? Die Erklärung ist einfach genug. Auch für den
schwäbischen Demokraten ist Bismarck die Verkörperung des deutschen Einheits¬
gedankens, und darum eben verfolgt er ihn mit seinem unversöhnlichen Haß.
Aber die süddeutsche Volkspartei hat sich ja, wie sie bei Neichstagswahlen und
ähnlichen Gelegenheiten zu versichern nicht müde wird, völlig auf den Boden
der gegebnen Thatsachen gestellt. Gewiß hat sie das gethan, aber sie that
es, weil sie mußte, wenn sie ihre Existenz retten wollte, denn die ausschlag¬
gebenden Massen, die den Führern und der Presse im Kampf gegen die Idee
der Einigung Deutschlands unter preußischer Führung gefolgt waren, hätten
sie bei Befehdung der zur Wirklichkeit gewordnen Idee schmählich im Stich
gelassen. Selbst zugestanden, daß die Partei ohne Rückhalt und ohne Hinter¬
gedanken die durch die Thatsachen geschaffne Lage anerkannt hat, so hat sie
das doch nur gezwungen gethan und verfolgt darum den Mann, der ihr diesen
Zwang auferlegt hat, mit einem Haß, dessen instinktive Gewalt das unwider-
leglichste Zeugnis dafür ist, daß es Fürst Bismarck gewesen ist, der das neue
deutsche Reich gegründet hat. Es ist freilich schlimm genug, daß man sich
erst noch nach Beweisen für diese nackte geschichtliche Wahrheit umsehen muß.
Aber der blinde Haß der Gegner bringt es ja in der That zu stände, dem
großen Staatsmann sein eigentümlichstes Verdienst zu verkleinern, ja zu be¬
streikn. Daß Bismarck unsre jetzige günstige Lage nicht allein geschaffen hat,
wissen seine Freunde so genau wie seine Feinde. Auch der geschickteste Werk¬
meister kann ohne Werkleute kein Haus zimmern, auch der genialste Feldherr
ohne Offiziere und Soldaten keine Schlacht gewinnen. Aber umgekehrt haben
auch die tapfersten Truppen noch nie ohne General gesiegt, ist noch nie ein
Gebäude von Arbeitern allein ohne einen Baumeister aufgeführt worden.
Vollends ein solcher Prachtbau nicht wie das neue deutsche Reich. Darum
lassen wir, die wir zu den Bewohnern des Hauses gehören, uns das Recht
oder vielmehr die Pflicht nicht verkümmern, des Baumeisters stets ein¬
gedenk zu sein. Wir warten nicht sein zeitliches Ende ab, um ihm dann
Ehren zu erweisen, mit denen höchstens uns, nicht mehr ihm selbst gedient
sein kann, wir statten ihm vielmehr noch bei seinen Lebzeiten den schuldigen
Dank ab, wir halten an ihm fest und bekennen uns offen zu ihm, ohne Furcht,
was auch kommen mag.
s sind bemerkenswerte Vorgänge, die sich gegenwärtig in Ham¬
burg aus Anlaß der dort herrschenden Choleraepidemie abspielen,
Vorgänge, die die ernsteste Aufmerksamkeit aller Politiker ver¬
dienen, und auf die hinzuweisen wir umsomehr für unsre Pflicht
halten, als die gesamte Tagespresse sie, soweit wir wissen, noch
nicht in die richtige Beleuchtung gebracht hat.
Seit dem Beginn der Epidemie hat die sozialdemokratische Partei Ham¬
burgs und ihr offizielles Organ, das „Hamburger Echo," eine geradezu muster¬
hafte Haltung eingenommen. Sie hat die Sensationsnachrichten unkundiger
Reporter, wie sie so vielfach in die Hamburgische und deutsche Presse übergegan¬
gen find, mit Entrüstung von sich gewiesen und dnrch das „Echo" nur die
Daten in Bezug aus die Seuche veröffentlichen lassen, die ihm von der Polizei
und der Medizinalbehörde übermittelt worden sind. Im übrigen hat sich das
„Echo" darauf beschränkt, hie und da besondre Mißstände im einzelnen zu
rügen und deren Abstellung von den Behörden, teilweise durch unmittelbare
Verwendung an der zuständigen Stelle, zu verlangen. Von einem allgemeinen
Angriff auf die Behörden und die ganze Staatsverwaltung hat man aber, und
zwar absichtlich, mit der Begründung Abstand genommen, daß es in Zeiten
der Gefahr die erste Pflicht der Bevölkerung sei, mit den Behörden in der
Bekämpfung des Übels Hand in Hand zu gehn, uicht aber deren Autorität
durch Anklagen und Angriffe zu schwächen. Die Folge dieser verständigen
Haltung ist denn auch die gewesen, daß man von der andern Seite wieder der
Sozialdemokratie entgegenkam und ihre Parteiorganisation, die sich ausdrück¬
lich dazu bereit erklärt hatte, mit zur Bekämpfung der Seuche heranzog. Nicht
nur die Handelskammer, das offizielle Organ zur Vertretung der Interessen
des Handelsstandes, beschloß, sich zur Bekämpfung des durch die Seuche her¬
beigeführten Notstandes mit der sozialdemokratischen Parteileitung^ die die
augenblicklichen Bedürfnisse der ärmern Bevölkerungsklasfen besser kenne, in
Verbindung zu setzen, sondern der Staat selbst nahm die Hilfe der straff-
orgcmisirten Parteien Anspruch, und diese Hilfe wurde bereitwilligst gewährt.
Die Sozialdemokratie wurde ersucht, vierhundert vom Staate zu besoldende
Männer zur Verstärkung der Sanitätskolonnen zu stellen, und sie stellte sie,
und sie wurde weiter ersucht, mittels ihrer bis in die einzelnen Bezirke durch¬
geführten Parteiorganisation zwei Flugblätter durch die ganze Stadt zu ver¬
breiten, die die Verhaltungsmaßregeln gegenüber der Cholera angaben. Die
beiden Flugblätter sind mit derselben Genauigkeit und Schnelligkeit verteilt
worden, wie nur je ein sozialdemokratischer Wahlaufruf verteilt worden ist.
Sie liegen vor uns, und beredter, als es sonst Worte zu sagen vermöchten,
spricht ihr Schlußsatz zu uus: „Verbreitet auf Veranlassung der Polizeibehörde.
Hamburger Buchdruckerei und Verlagsanstalt Alter K Co. in Hamburg."
Es ist nicht anders: nachdem wir in unsinniger Verblendung am Ende
des vorigen und am Anfang dieses Jahrhunderts die früheren korporativen
Verbände, in denen die Menschen zusammengeschlossen waren, vernichtet haben,
statt sie auf eine der neuen Zeit entsprechende Weise zu reformiren, und nach¬
dem wir so die großen Massen des Volks in dein wilden Meere der ent¬
fesselten Selbstsucht der Vereinsamung preisgegeben und sie sittlich und wirt¬
schaftlich bis an den Rand des Abgrundes gebracht haben, hat sich aus diesen
Massen selbst eine organisatorische Bewegung entwickelt, die, zunächst scheinbar
und auch nach ihrem eignen Willen gegen den Bestand des Staats gerichtet.
dem Maße, wie sie anwächst, sich mit staatserhaltenden Grundsätzen erfüllt
und selbst ein lebendiges Glied wird innerhalb des Organismus des Staats.
Doch das mögen Zukunftsphantasien sein, die der Grundlage der Wirklichkeit
noch entbehren. Eins aber erscheint doch als gewiß, und diese Gewißheit ver¬
schafft uns gerade die traurige, über unsre größte Handelsstadt hereingebrochne
Katastrophe: wie gegen jenen dort drohenden innern Feind, so wird auch im
Augenblicke der Gefahr gegenüber einem äußern Feinde die Sozialdemokratie
nicht zögern, sich auf die Seite des Vaterlandes, der Ordnung und der Ge¬
setzlichkeit zu stellen. Daran vermögen weder die gelegentlich in der Erbitte¬
rung des Kampfes ausgestoßner vaterlandsfeindlichen Drohungen einzelner
Führer, noch die thörichten Redereien derer etwas zu ändern, die sich noch
immer nicht an den Gedanken gewöhnen können, daß die Sozialdemokratie eine
Macht im deutschen Leben geworden ist, und daß wir mit ihr verhandeln, mit
ihr arbeiten, ja uns mit ihr zu verstündigen versuchen müssen, weil wir mit
ihr leben müssen. Wenn wir dies nur einmal erst ernstlich wollen möchten,
so würde es schon gehn; das beweist der Hamburger Fall für jeden, der sehen
will, mit besondrer Deutlichkeit. Daher hinweg mit dem wüsten Geschimpfe
von Vaterlandsverrat, Umsturzpartei, Meineidigkeit und wie die Schlagwörter
alle heißen mögen, mit denen man keinen Hund vom Ofen locken kann! Möge
man sich an dem vorurteilsfreien Verhalten der Hamburger Behörden und der
Hamburger bürgerlichen Kreise ein Beispiel dort wie anderswo auch für Zeiten
nehmen, in denen nicht die Not zur Abschüttelung des ganzen leeren Phrasen-
schwulstes und zur nüchternen Anerkennung der thatsächlichen Lage zwingt!
Es steht nicht nur unsre eigne Würde, sondern die Sicherheit und Zukunft
unsers ganzen Staatswesens auf dem Spiele. Noch ist es Zeit, durch An¬
erkennung der Gleichberechtigung der Sozialdemokratie sie einzufügen in unser
ganzes staatliches System. Unterlassen wir dies aber weiter und fahren wir
fort, sie im Geiste des Sozinlistengesetzes zu behandeln, so wird sie uns dazu
zwingen, nicht nur ihre Gleichberechtigung, sondern ihre Herrschaft anzuerkennen.
Immer und immer wieder müssen wir es betonen: wenn es etwas giebt, was
uns mit Beziehung auf die Sozialdemokratie Sorge macht, so ist es das Ver¬
halten derer, die zwischen der Sozialdemokratie und den übrigen politischen
Parteien eine chinesische Mauer errichten und uns davon abhalten wollen, uus
mit anderthalb Millionen deutscher Mitbürger über die sozialen, politischen
und religiösen Lebensfragen der deutschen Nation zu verstündigen.
in einen „schlechthinigen" Wert zum Maßstab für alles andre
zu bekommen, muß man etwas nehmen, was nach allgemeiner
Annahme jeder zum Leben haben muß. Dies ist das Brot
oder das Produkt, woraus es gefertigt wird, Roggen, Weizen
u. s. w. Nach dem Brote wird aller andre Wert geschätzt.
Eine Menge Fleisch z. V., womit sich einer einen Tag ernährt (nach dem
Durchschnitt), ist so viel Korn wert, als derselbe denselben Tag zu seiner
Ernährung würde gebraucht haben; er hat darum diese Menge Korn für
jene Menge Fleisch zu entrichten. Und so mit allen andern Produkten;
sie sind so viel Korn wert, als sie Mühe verlangten, und als auf dem Acker,
wo sie erbaut wurden, Korn hätte erbaut werden können. Das Fabrikat
aus diesem Produkt aber erhält erstens denselben Wert und sodann das Plus
des Arbeitslohns. Wenn sich aber so ein Maßstab gewinnen läßt sür die
Berechnung der Nahrungsmittel, die zur Notdurft des Lebeus gehören, giebt
es dann für die, die sich auf die Annehmlichkeit beziehen, keinen solchen? Wäre
dem so, wäre die Schätzung des Wertes dieser Dinge in dem so organisirten
Staate nicht möglich, so müßten wir auf deu Anbau des Angenehmen über¬
haupt verzichten. Fichte ist aber der Meinung, es gäbe ein gemeingeltendes
Schätzuugsmittel der Dinge, die auf die Annehmlichkeit des Lebens zielen. Er
stellt folgende Betrachtungen um. Fragen wir: wodurch ist Brot zu dem Range
des Nahrungsmittels von absolutem Wert gekommen, so ist die Antwort: da¬
durch, daß es am leichtesten und sichersten gewonnen wird. Andre Nahrungs¬
mittel mit dem gleichen innern Wert zur Ernährung werden mehr Aufwand
verlangen an Zeit oder an Kraft oder an Kunstfertigkeit oder für Bearbeitung
des Bodens u. s. w. Dennoch macht die Nation diesen größern Aufwand. Diesen
selben größern Aufwand ist um auch dieses angenehmere Nahrungsmittel wert,
mit andern Worten: es ist über seinen gleichen innern Wert, den es mit dem
Korn zur Ernährung hat. noch die Menge Korn wert, die durch Aufwendung
derselben Kraft und Zeit und desselben Bodens noch von dem Korn hätte
erbaut werden können, wenn die Gewinnung des Angenehmen unterblieben wäre.
Der Maßstab also sür die Schätzung des Angenehmen wäre nach Fichte
da. Leider hilft er uns aber nichts. Denn das Angenehme beruht auf per¬
sönlichem Geschmack, und darum wird eine von diesem persönlichen Geschmack
und der Neigung des Einzelnen unabhängige allgemein geltende Schätzung
für den einzelnen auch keinen Wert haben, wenn er das, was ihm angenehm
ist, gewinnen will. Er wird es dann mich nach seiner Schätzung gewinnen
wollen, vorausgesetzt, daß er das darf. Das sieht Fichte auch selber em,
weshalb er nun in dem „dürfen" den einzelnen beschränken will, womit frei¬
lich das gleiche Anrecht eines jeden auf die Annehmlichkeit des Lebens selbst
wieder gar sehr in die Brüche geht. Fichte sagt nämlich, der Anbau des
Angenehmen dürfe nicht weiter gehen, als es die Notdurft aller erlaube;
werde es angebaut, so geschehe das. weil von dem Aubau der notwendigen
Nahrung Kräfte erspart worden seien. Diese Ersparnis müsse allen zu gute
kommen, sodaß alle gleich angenehm leben könnten: die Ersparnis müsse
unter alle gleich verteilt werden. Aber das müsse verhältnismäßig geschehen,
damit die Art von Wohlsein erhalten werde, deren jeder für sein Geschäft be¬
dürfe. Der Denker, der Dichter, der Erfinder brauche eine andre Nahrung
als der Ackerbauer mit seiner mechanischen Beschäftigung. Nur an seinein
Ruhetage, wo er in eine durchaus menschliche Existenz eintrete, gebühre es
auch diesem, daß er „das Bessere, das der Boden seines Landes gewährt,
mit genieße und eine des freien Menschen würdige Kleidung trage."
Es ist aber wohl zehn gegen eins zu wetten, daß dieser Ackerbauer gar
bald den Appetit bekommen wird, in dieselbe „durchaus menschliche Existenz"
einzutreten, in die z. V. der Maun der höhern Kunst und Wissenschaft ein¬
getreten ist, und worin er tagtäglich das Bessere genießt. Soll aber der
sozialistisch eingerichtete Staat nicht sofort in Trümmer gehen, so darf der
Handarbeiter das nicht. Mit der gleichen Verteilung des Angenehmen ist es
also wiederum nicht weit her. Die notdürftigen Nahrungsmittel mögen sich
am Ende vielleicht in die Berechnung einstellen lassen, sodaß jeder zu leben
hat. Die Annehmlichkeit aber, die auf Geschmack und Neigung steht, läßt sich
nicht mit in diese Rechnung bringen, wie sie die Regierung aufzustellen haben
soll. Richtig ist, daß alle in diesem Staat Diener des Ganzen sind, keiner
sich sonderlich bereichern, auch keiner verarmen kaun, daß allen einzelnen die
Fortdauer ihres Zustandes und dadurch dem Ganzen seine ruhige und gleich¬
müßige Fortdauer verbürgt ist; aber daß der einzelne in diesem Zustande zu
irgend welcher Annehmlichkeit des Lebens komme, dafür kann keine Aussicht,
geschweige denn eine Bürgschaft gegeben werden. Die ganze Kunst der Re¬
gierung läuft darauf hinaus, den Staat zu einem Staate der Notdurft zu
macheu und in der Gewähr des Notdürftigen zu erhalte», und das alles
durch Gesetz und Zwang.
Davor schrickt Fichtes Theorie auch gar nicht zurück. Er sagt aus¬
drücklich, daß dieser aus dem Gleichgewichte des Verkehrs erfolgende Zustand
allen seinen Bürgern „durch Gesetz und Zwang zuzusichern" sei. Und ebenso
wenig schrickt er vor der Folge dieses Satzes zurück. Denn die Folge ist, daß
jeder Einfluß abgeschnitten werden muß, der dieses Gleichgewicht stören könnte.
Alle Personen dieses Staates müssen also nnter der Botmäßigkeit der Regie¬
rung stehn. Da nun das bei Ausländern nicht der Fall sein mürbe, so muß
jeder Verkehr mit den Ausländern den Unterthanen unmöglich gemacht werden-
Der Staat mit seinem aufgestellten Verkehrs- und Handelssystem muß ein
geschlossener sein; daher sein Name: der Vernunftstaat ist der „geschlossene
Handelsstaat." Er ist ein geschlossenes Reich des Verkehrs, wie er ein ge¬
schlossenes Reich der Gesetze und der Menschen ist. Nur in der möglichsten
Unabhängigkeit des geschlossenen Handelsstaates und in der selbständigen Er¬
zeugung seiner Bedürfnisse aus sich selbst ist es möglich, jeden Streit gegen¬
seitig sich überbietender und alle Schwankungen des Nationalvermögens mög¬
lichst auszuschließen.
Bedarf der Staat eines Tauschhandels mit andern Nationen, so hat ihn
lediglich die Negierung zu führen, wie diese allein Krieg zu beschließen und
Frieden und Bündnisse zu schließen hat. Sie kann monarchisch sein, ohne es
sein zu müssen, aber ihrer ganzen Beschaffenheit nach, als das Haupt, von
dem alle Regelung und Ordnung ausgeht, muß sie aristokratisch sein, wenn
das auch Fichte uicht ausdrücklich sagt. Sie deckt sich ihrem Begriffe nach
nicht mit den Personen, die als „öffentliche Beamte" zu bezeichnen sind, aber
sie gehört zu ihnen. Wie viel solcher Beamten sein sollen, für welche Thütig-
keitszweige sie anzustellen sind, hat die Regierung ebenso zu berechnen, als sie
zu berechnen hat, wie jeder Bürger von Rechts wegen leben soll und darf.
Sie stellt alle Beamten an, die sich mit Handhabung der Gesetze und der
öffentlichen Ordnung beschäftigen, und bildet selbst deren Spitze; sie stellt andre
ein. die sich mit dem öffentlichen Unterricht beschäftigen, und wieder andre,
die sich in den Waffen üben und jederzeit fertig stehen zum Schutze der
Nation gegen innre und äußre Feinde. Für alle diese Beamten müssen die
übrigen Stände mit arbeiten. Hierin liegt der Grundbegriff der Abgabe.
Diese Abgaben erfolgen von Rechts wegen; denn die, die alle andern bei
ihrem Rechte schützen, dürfen uicht die sein, die etwa selber daran gekränkt
werden. Die Einstihrnng der Abgaben ist wohl ein Abbruch am Wohlstande
aller, aber keine Störung des Gleichgewichts; denn der Abbruch trifft alle
gleichmäßig. Eher könnte dieses Gleichgewicht gestört werden durch die Un¬
sicherheit des Feldbaus, der keinen gleichen Ertrag liefert. Auch die Fabri¬
kation wird durch Unregelmäßigkeit in der Produktengewinnung gestört. Da¬
gegen giebt es ein Mittel: man decke den Mißwachs des einen Jahres durch
die Fruchtbarkeit eines andern. Zu dem Zwecke muß man die für den Staat
notwendige Produkteugewiuuung uicht auf ein Jahr berechnen, sondern auf
eine Reihe von Jahren, etwa fünf; davon kommt auf ein Jahr so und so viel,
u»d nnr diese Menge kommt in deu Verkehr; so tritt ein Jahr gegen das
andre ins Gleichgewicht. Damit das Korn nicht durch Alter verderbe, darf
der Kaufmann von den Früchten der zukünftigen Ernte nicht eher etwas ab¬
geben, als bis der alte Vorrat untergebracht ist. Zu wirklichem Mangel kann es
bei diesen Maßregeln nicht kommen. Auch durch Einführung des Geldes wird
das Gleichgewicht uicht gestört. Diese Einführung will Fichte allerdings.
Aber es fragt sich, in welcher Art. Wir stehen hier vor dem für die Ein¬
führung des geschlossenen Handelsstaats entscheidenden Mittel. Ist der eigent¬
liche Vorschlag für die soziale Politik Fichtes der, den Hcmdelsstaat gegen das
Ausland zu schließen, so ist das entscheidende Mittel dazu, das Weltgeld abzu¬
schaffen und dafür ein Landesgeld einzuführen. Und gerade darauf läuft die
Ausführung der ganzen Fichtischen Theorie, die ganze Aufstellung der Grund-
Verhältnisse von Waren und Wert, von Produktion und Umsatz dnrch Gewerbe
und Handel hinaus, daß der absolute Wert des Metallgeldes als eine Fiktion
hingestellt und seine Abschaffung verlangt wird. Daß aber Geld auch im
Vernunftstaat eingeführt sei, ist notwendig. Das eigentliche Grundmaß alles
Wertes, das Korn, kann doch unmöglich für jede Ware wirklich zugemessen
werden. Welche ungeheuern Mengen von Korn müßte man dann, abgesehen
von allem Verbrauch, haben? Man wird also wie jetzt in den zivilisirten
Staaten ein besondres Tauschmittel alles Wertes brauchen, und zwar muß
dessen Wert, da ja aller Handel im Vernunftstaat unter Gesetzen steht und
berechnet werden soll, unwandelbar sein; wandelbarer Wert, wie ihn unser
jetziges Metallgeld hat, der sich nach der Meinung richtet, die man von ihm
hat, kann nicht sicher berechnet werden. Das Geld im geschlossenen Handels¬
staat soll ein bloßes Zeichen, aber ein Zeichen eines unveränderlichen Wertes
sein. Zum bloßen Zeichen ist die unbrauchbarste Sache, die den wenigsten
innern Wert hat, am schicklichsten; brauchbarer Stoff soll für andre Zwecke
verwendet werden. Das Geld wird also aus dem wenigst brauchbaren Ma¬
terial verfertigt werden. Es braucht der ausschließliche Wert desselben nur
deklarirt zu werden, um Landesgeld zu erhalten, das der Bürger des ge¬
schlossenen Handelsstaates, der keinen Verkehr mit dem Auslande hat, allein
brauchen kann. Man muß das Geld, um der öffentlichen Sicherheit willen,
aus einer dauerhaften Materie bereiten, die einer beträchtlichen Abnutzung
nicht ausgesetzt ist. Auch muß es aus einem Stoff bestehen, der nicht nach¬
gemacht werden kaun; irgend ein wesentlicher Bestandteil der Zusammensetzung
muß Staatsgeheimnis sein, im monarchischen Staat nur der regierenden Familie
bekannt. Ob sich die Unterthanen dieses neue Landesgeld auf der Stelle an-
schaffen und ihr Gold und Silber dagegen umtauschen wollen oder nicht, das
soll gar nicht von ihrem guten Willen abhängen, sondern sie sollen zum
Tausche genötigt sein.
Man sieht, mit der Freiheit in diesem sozial eingerichteten Vernunftstaat
sieht es etwas wunderlich aus. Die Regierung ist mit der souveränsten Macht
ausgestattet. Wenn man fragen wollte, welche Bürgschaft gegen ihren Mi߬
brauch gegeben sei, so findet man zwar in der Schrift über den geschlos¬
senen Handelsstaat selbst nicht die Antwort Fichtes, aber wohl in seinem
Naturrecht. Dasselbe Ephorat, das er hier als eine höchstbeaufsichtigende
Staatsbehörde über die Konstitutionalität und Gerechtigkeit der souveränen
Macht fordert, wird er auch über die souveräne Macht seines geschlossenen
Handelsstaats fordern. Fragt man dann weiter, welche Bürgschaft es gebe,
daß sich die Ephoren nicht selbst mit der exekutiven Macht zur Unterdrückung
des Volkes verbinden, so hilft sich Fichte damit, daß er sagt: das Volk habe
darüber zu wache»; mit andern Worten, er wendet sich an die Revolution.
Freilich soll auch das Ephorat wieder da sein, um diese Revolution unmög¬
lich zu machen. Aber Fichte hat ein Gefühl davon, daß sich die Einrichtung
des Evhorats doch als unzureichende Bürgschaft erweisen möchte, und in diesem
Gefühle von dessen Unzulänglichkeit meint er, daß eine Nation, die so durch¬
aus verderbt sei, daß selbst ihre Ausgezeichnetsten, die Ephoren, von solchen
Versuchen der Unterdrückung nicht frei wären, es verdiene, unterdrückt zu
werden.
Soll also die neue staatliche Ordnung eingeführt werden, so geht das
nicht ohne gleichzeitige Einführung des neuen Geldes und Einziehung des
alten. Wenn nun auch Fichte der Meinung ist, daß dieser Akt durch einige
künstliche Vorkehrungen erleichert werden könne, wie unsre heutigen Sozial-
demokraten neben den eigentlichen Programmzielen auch Verbesserungen des
staatlichen Zustandes innerhalb der bestehenden Gesellschaftsform haben, so ist
er doch der Ansicht, daß der Akt der Einführung selbst entscheidendere Schritte
verlange, und deshalb will er, daß vor der Ausführung mit dem Volke gar
nicht vorher beratschlagt und sie nicht angekündigt werden soll. Es würden
dadurch nur Zweifel, Bedenken und Mißtrauen erregt, die am schicklichsten
durch die sichtbar guten Erfolge gehoben würden. Die eigentliche Einführung
sei ein Schlag. Es bedürfe hierbei keiner Strenge, keines Verbotes, keines
Strafgesetzes, sondern nnr einer sehr leichten Vorkehrung, „durch welche in
einem Augenblick alles Silber und Gold dem Publikum zu jedem andern
Zwecke außer zum Einwechseln des neuen Landesgeldes durchaus unbrauchbar,
das neue Landesgeld dagegen ihm zum Leben durchaus unentbehrlich werde."
Es gehört freilich zu der Möglichkeit solcher „leichten Vorkehrung" derselbe
Glaube, den die heutigen sozialdemokratischen Führer haben, wenn sie uns die
Versicherung geben, daß die neue Organisation der Gesellschaft ganz friedlich
von statten gehen könne; es komme nur auf deu guten Willen der verstockten
Bourgeois an, ob der Vorgang friedlich geschehen solle oder mit Gewalt.
Auch was mit dem bisherigen Metallgelde werden soll, weiß Fichte ganz
genau. Die Negierung bedarf es für die Zwecke außerhalb des Landes. Mit
Hilfe dieses Geldes treibt sie den ganzen Aktiv- und Passivhandel mit dem
Auslande, wenigstens für den Anfang ihres Bestehens und des neuen Staates.
Nach und nach wird ja dieser Staat so vollkommen, daß er alles Gute und
Schöne aus sich selbst produzirt; je länger je mehr nimmt darum auch der
Handel mit dem Ausland überhaupt ab. Aber im Anfange des Vernuuft-
staates »ruß der Nation noch ihr Anteil an allem Guten und Schönen aus
dem Auslande zugeeignet werden. Dazu dient jetzt noch das Weltgeld. Sind
einmal auch die andern Staaten geschlossene Handelsstaaten geworden, dann
ist der Handel überhaupt uur noch Warentausch. Aber so lange sie das noch
nicht sind, zahlt oder zieht die Negierung im Verkehr mit dem Ausländer
Weltgeld. So ist sie gegen das Ausland eine bedeutende Geldmacht, wenig¬
stens so lange, als andre Staaten noch mit Gold und Silber wirtschaften;
sie muß die Gelegenheit benutzen, um vom Auslande nicht nur so viel zu
kaufen, als sie nur immer brauchen kann, sondern auch um große Köpfe in
praktischen Wissenschaften, Chemiker, Physiker, Mechaniker, Künstler und
Fabrikanten herbeizuziehen, die die Inländer unterrichten. Diese werden mit
Metallgeld bezahlt, und es steht ihnen frei, daß sie, reich geworden, wieder in
ihre Heimat zurückkehren. Auch zu Reisen ins Ausland bedarf es des Welt¬
geldes. Reisen soll aber nur der Gelehrte und höhere Künstler. Diese reisen
zum Beste» der Menschheit und des Staates. Die Regierung selbst schickt sie
ans Reisen; andre Glieder der Gesellschaft reisen nicht. „Der müßigen Neu¬
gier und Zerstreuungssucht soll es nicht länger erlaubt werden, ihre Lange¬
weile durch andre Länder herumzutragen." Daß Fichte damit für so manchen
das erste, was ihm im sozialen Staate werden soll, die Annehmlichkeit des
Lebens nimmt, daran denkt er nicht, und so wird der Zweck dieses neuen
Staates, „daß jeder und alle so angenehm leben können, als es möglich ist,"
anch nach dieser Seite hin vereitelt. Am besten würde nach Fichtes Bestim¬
mung in diesem Staate nicht für „alle und jeden," sondern für die höhern
Künstler und Pfleger der Wissenschaft gesorgt sein, eine Sorge, die ja schlie߬
lich einem philosophischen Kopf wie Fichte am meisten konform ist, dem echten
Sozialdemokraten am wenigsten zusagt, der darin immer seinem anarchistischen
Genossen Most Recht geben wird, wenn dieser es für Blödsinn erklärt, daß
die angenehmste Arbeit (die des Kopfarbeiters) am besten bezahlt werde.
Auch den Zusammenhang der Völker, den Fichte so gründlich mit der
Schließung seines Handelsstaats zerstört, will er durch die Wissenschaft wieder¬
herstellen, die allein dem Menschen als solchen, nicht aber dem Bürger ange¬
höre. Für alles übrige sollen die Menschen in Volker abgesondert werden,
durch die Wissenschaft sollen sie fortdauernd zusammenhängen. Diesen Zu¬
sammenhang wird kein geschlossener Staat aufheben; er wird ihn vielmehr
begünstigen, da durch die Bereicherung der Wissenschaft sogar die irdischen
Zwecke jedes abgesonderten Staates befördert werden. Ist das System des
geschlossenen Staates nur erst einmal eingeführt, so hat kein Staat ein In¬
teresse, seine Entdeckungen ans künstlerischem oder wissenschaftlichem Gebiete
irgendwie vorzubehalten. Der ewige Friede ist dann zwischen den Völkern
begründet.
Das sind die Hauptergebnisse der Fichtischen Sozialpolitik. Über die
Möglichkeit eines solchen Staates uns noch weiter auszulassen, als geschehen
ist, brauchen wir um so weniger, als Fichte selbst in dem Zueignungsschreibcn
seiner Schrift an den damaligen preußischen Finanzminister Struensee so be¬
sonnen ist, auf jede Ausführung zu verzichten. Zur Aufgabe des Philosophen
gehört zu oberst die, daß er an die menschlichen Dinge den Maßstab einer ver¬
nunftgemäßen Darstellung anlege. Einen solchen hat hier Fichte an den Staat
angelegt. Für einen gegebnen wirklichen Zustand, so schreibt er an Struen-
see, müsse eine solche Darstellung weiter bestinunt werden, d.h. die durch ver¬
nünftige Betrachtung gewonnenen allgemeinen Sätze, die Ideen, müßten in
ihrer praktischen Anwendung dem wirklichen Leben angepaßt werden. In die
Anpassung des staatlichen Ideals an die wirklichen Zustände und in die all-
mähliche Hinführung der wirklichen Zustände zum Vernunftgemäßen, zur Idee,
setzt Fichte die Aufgabe der Politik. Sie ist ihm die Kunst, die den gegebnen
Staat dem Veruuuftstaate immer mehr annähert. Wenn nun im Vernunft¬
staate nach Fichte jeder sein Teil erhalten soll, um möglichst angenehm leben
zu können, so ist es also Aufgabe der Politik, jedem, wie Fichte sich ausdrückt,
„allmählich zu dem Seinigen zu verhelfen." Zeller hat darum ein gutes Recht,
in seiner Abhandlung über „I. G. Fichte als Politiker" die Besonnenheit an
Fichtes Sozialismus zu rühmen, die er trotz aller seiner Mängel habe. Auch
der preußische Finanzminister erkannte diese Besonnenheit an, als er Fichte auf
die Zusendung seiner Schrift schrieb, er finde in ihr das Ideal des Staates
aufgestellt, nach dein zu streben jedem Staatsdiener, der an der Administration
teil habe, Pflicht sein sollte. „Ob dieses Ideal jemals erreicht werden kann,
daran zweifeln Sie selbst, allein das schadet auch nicht der Vollkommenheit
des Werkes." Diese Worte zeigen, daß sich Fichte, dem durch Drängen der
kursächsischen Regierung seine Stellung in Jena unmöglich gemacht worden
war, nicht geirrt hatte, wenn er die Schrift, die er für seine beste hielt, dem
Preußischen Finanzminister widmete „als einem der ersten Staatsbeamten der
Monarchie, in welcher ich einen Zufluchtsort fand, als ich in den übrigen
Teilen meines deutschen Vaterlandes mir keinen versprechen durfte."
em Begriffsvermögen des Philisters am nächsten und bequemsten
liegt heutzutage das Korps. Das Publikum begeht zwar all¬
gemein den Irrtum, auch die übrigen Verbindungsarten einfach
als Korps anzurechnen; dutzeudfältig erlebt so ein armer Korps¬
fuchs, der zum erstenmale hochgeschwellt in die Ferien zurück¬
kehrt, die trostlose Enttäuschung, daß die Tante oder Cousine meint, der und
der sei ja auch in einem Korps, während der Beklagenswerte thatsächlich bloß
"Büchsier" (Burschenschafter) oder gar nur „schlagender 0. Q.-Mann" ist, und,
was noch das schlimmste ist, die Bekehrungsversuche unsers Füchsleins finden,
statt sofort mit Dank und Neue begriffen zu werden, meistens nicht einmal
einen günstigen Boden — was freilich in der Hauptsache durch die mehr
ungeduldig-hochnäsige als geschickte Art der Belehrung verschuldet wird. Um¬
gekehrt wird ein prinzipientreuer Vurscheuschafter immer und immer wieder
durch die unausrottbare Frage, in welchem Korps er dein? eigentlich sei, auf¬
gebracht, bis er endlich im sechsten oder siebenten Semester abgehärtet genug
geworden ist, ohne viel Sperenzen fühllos zu antworten: Bei den Ger¬
manen in A oder den Teutonen in ?), und das Schicksal über diese zum
Himmel schreiende Unaufrichtigkeit seinen Gang gehen läßt. Wir glauben
auch nicht allzu boshaft zu sein, wenn wir noch nebenbei bemerken, daß manchen
Mitgliedern farbentragender Verbindungen, auch von Landsmannschaften und
selbst einigen Burschenschafter, diese ungezierte Antwort auf die Frage nach
ihrem „Korps" gar nicht einmal so sehr schwer fällt. Kurz und gut, für
das breitere Publikum besteht um einmal die Gleichung von Korps und
Verbindung, und darin liegt manche ganz richtige Erkenntnis, erstens, daß die
Korps das Verbindungswesen am entschiedensten und logischsten darstellen,
theoretisch wie praktisch, zweitens, daß alle andern Verbindungsarten, von
ihren ganz besondern Eigentlimlichkeiteu und Zielen abgesehen, in ihren äußer¬
lichen Eigenschaften doch eben nur Nachahmer und Schüler der Korps oder
wenigstens von deren direkten Vorgängern, den alten Landsmannschaften, sind,
und drittens, daß auch die Burschenschaft, wie wir schou betont haben, seit
lange in erster Linie Verbindung ist.
Im übrigen hat das Publikum auch über die Korps manche abenteuer¬
liche oder wenigstens stark übertriebne Vorstellung. Für die Harmlosen füllt
sich das Bild der Korps mit Fechten, Trinken oder vielmehr Saufen, Geckerei,
Geldverschlcnderu und mehr oder minder nutzlosen nächtlichem und täglichem
Unfug aus. Manche strebsamen Väter sind freilich wiederum der Meinung,
daß trotz alledem der Eintritt in ein Korps immer noch die beste Zukunsts-
versorgung für das Söhnchen sei, eine Erwägung, die, so viel Flachheit
und Kümmerlichkeit das auch voraussetzt, unbedingt weiter um sich ge¬
griffen hat seit dem berühmten Besuche des Kaisers bei den Vouuer Preußen,
einem unpolitischen Ereignis, das wir vom Standpunkte des Kaisers als
„alten Herrn" aus, der gerade sich und sich allein ein einmaliges schönes und
glänzendes Znrücktauchen in die studentische Herrlichkeit nicht versagen mochte,
vollkommen verstehen und mitbegreifen, das aber als eine ganz beispiellose
Auszeichnung eines bestimmten kleinen Kreises von ganz jungen und völlig
verdienstlosen jungen Leuten sehr verschiedenartige oder, um aufrichtig zu sein,
einhellig abfällige Erörterung bei den Studirten und nicht zum leisesten bei
zahlreichen, auf Bescheidenheit der Füchse haltenden alten Herren von Korps
gefunden habe,! soll. Jedenfalls aber fand sich — wie er sonst das Leben
ansah, ist ja nachgerade bei ihm gleichgiltig — ein Vater, der sein Söhnchen,
wie damals durch einen Teil der Presse ging, bei einer Bonner Burschenschaft
austreten ließ und ihm sagte: Mein Sohn, ich rate dir gut, werde hinfort
Korpsstudent; und also geschah es. Das konnte ja eine besondre Art Lega¬
lität gewesen sein — wenn man nur nicht just den hier zu Grunde liegenden
Gedankengang neuerdings so leidig oft vernähme, wo von dem „Znkunfts-
abrichten" des Sohnes, der ans die Universität zieht, die Rede ist. Wir unsrer¬
seits sind weit entfernt davon, zu behaupten, daß das Verhalten der alten in
Amt und Einfluß befindlichen Korpsiers diesen hoffnungsvollen Vätern oder
Söhnen ohne weiteres Recht gebe. Sicherlich wird man ja bei sonst gleicher
Sachlage dasselbe lieber einen: Korpsbrüder als einem. Gleichgiltigen gönnen;
und da immer noch in manchen Behörden die alten Korpsstudenten eine be¬
sondre Rolle spielen, ist diese Erscheinung durchaus nicht ohne Bedeutung
und manchmal auch ein wenig sehr augenfällig, aber es hindert doch sehr
vieles, sie als bedrohlich oder vielversprechend, je nachdem, aufzufassen. Erstens
kommt sie fast nur für Juristen in Frage und spielt für die sehr zahlreichen
Mediziner u. s. w. in den Korps keine oder nur eine sehr geringe Rolle; dann
giebt doch heutzutage glücklicherweise mehr und mehr, und erst recht, wenn es
sich um irgendwie wichtigere Posten handelt, die Befähigung den Ausschlag,
und im übrigen muß man doch eben bemerken, daß infolge hier nicht zu er¬
örternder Gründe das Korpsstudcutentum in deutlich bemerkbarer Weise aus
der Besetzung der höhern und wichtigern Stellen zurücktritt und andre, ins¬
besondre die aus der Burschenschaft, aber auch ans andern Korporationen,
aus Vereinen und aus dem Finkentume hervorgegangne Kräfte Boden ge¬
winnen läßt. Wenn man also weiß, daß weit über zweihundert Dozenten der
Hochschulen alte Burschenschafter, oder daß außerordentlich viele württember¬
gische Staatsbeamte alte Herren der blühenden Tübinger Burschenschaft sind,
oder daß eine nicht farbentragende Heidelberger Verbindung seit einiger Zeit
aufs engste mit dem badischen Beamtentum verwachsen ist (wenn auch hier
mehr durch die Generation der Söhne gleichgestimmter Bäter), oder wie viel
gegenseitige Hilfe bei Pfarrwahlen u. f. w. in dem NaMeu Wiugolf liegt, so
könnte auch hier, obwohl sich die Dinge beträchtlich mehr von selber ergeben,
der Vorwurf des Nepotismus erhoben werden. Und wenn man damit kommen
Will, daß es überall ein wenig „menschelt," und wir darauf eingehen sollen,
so gestehen wir, daß uns ein derartiger Zusammenhalt von Studienfreunden
und Gliedern eines Bundes immer noch sympathischer wäre, als die besonders
in manchen deutschen Kleinstaaten geübte Familienvetterei, dn bei jenem doch
immerhin noch ein persönliches Urteil mitspricht.
Auf die beiden wichtigsten und innersten Absichten des Korpswesens:
Pflege einer für das Leben geschloßnen brüderlichen Freundschaft und straffe
Erziehung der zum Eintritt angemeldeten sür das Korps lind für das äußere
Leben, wird im Publikum verhältnismäßig wenig geachtet. Mehr fällt ihm
oder fallt vielmehr den Mannesseelen freisinniger Skribenten gelegentlich die
unbedingte Loyalität der Korps ins Auge. Und doch ist diese eigentlich kein
bestimmtes Prinzip der Korps, wie diesen überhaupt politische Programm¬
tendenzen völlig fehlen. Sie hat sich zwar befestigt dnrch den bewußten Gegen-
sah zu der Burschenschaft der dreißiger und vierziger Jahre und ist seitdem
für die Korps etwas selbstverständliches geworden (was wiederum nicht ge¬
hindert hat, daß Demokraten und Sozialdemokraten aus ihnen hervorgegangen
sind), sie ist aber doch gar nicht eigentlich als etwas politisches, als der Aus¬
fluß einer bestimmten monarchischen Überzeugung, auch nicht durchaus als
eine freiwillige Hingebung selbstloser Treue aufzufassen, sondern in sehr
hohem Grade für die Korps als solche — den Gefühle» und Traditionen
der einzelnen Mitglieder und ihrer Familien Unrecht zu thun, liegt uns gänz¬
lich fern — eine Art Anstandssache, eine Rücksicht, die die Korps sich selber
schulden, schon damit nie übersehen wird, wie nahe sie den Thronen stehen.
Nur den Wert einer Modesache und Standesrücksicht hat es daher auch, wenn
die alten Korpsiers in der Kreuzzeitung inseriren.
Damit sind wir nun schon bei dem Punkte angelangt, der gerade heut¬
zutage fast zu allem im Korpswesen den Schlüssel giebt: bei dem Eindruck
mich außen. Mehr denn je kommt hierauf ängstlich alles an, sucht mau gerade
auf diesem Gebiete die alte Prätension der Korps, die Führer der Studenten¬
schaft, ja eigentlich mit dieser herrschend identisch zu sein, zu verwirklichen.
Auf dem Gebiete des Studirens und überhaupt der Dinge, weswegen einen
der Vater auf die Hochschule schickt, haben sie diese Führung ja nie beansprucht.
Aber sonst haben sie sie früher doch in einigen nicht völlig wertlosen Dingen,
bei Standesangelegenheiten der ganzen Studentenschaft dieses oder jenes Ortes,
in Sachen des ernsten oder heitern studentischen Komments, auf dem feucht¬
fröhlichen Felde akademischen Humors u. s. w. unzweifelhaft gehabt. Das alles
ist vorbei. Ohne ihnen je für sich ihre Tüchtigkeit irgendwie verkleinern zu
wollen, beschränkt sich ihr Voransein gegenüber der Studentenschaft heutzutage
auf das alleräußerlichste, auf die Modesachen, und hierin folgt man ihnen
denn auch in der That nach. Irgend eine ästhetische Aufbesserung hat diese
Führung nicht aufzuweisen; sie huldigt ihrerseits kritiklos der äervivro nou-
vimt<z der Schaufenster und der Gigerl und beschränkt sich ganz darauf, hie
und da eine gewisse Anpassung für das farbentragende Studententum vor¬
zunehmen. Sobald die übrigen Verbindungen die neueste Korpsmvde begriffen
und eifrigst erlernt haben, ist es Zeit, damit zu wechseln. Wenn erst die Mit¬
glieder einer einfachen schlagenden Verbindung Armbänder tragen, sind sie
bei den Korps verschwunden. Wenn die übrigen alle gelernt haben, beim
Grüßen die seitwärts erfaßte Mütze mit einer Kurvenbewegung des Arms von
großem Radius zu schwenken, faßt sie der Korpsstudent wieder am Schirm,
dreht sie lediglich aus dem Handgelenk vor der Nase kurz nach unten und läßt
sie rasch wieder zurückfedern. Wenn die übrigen Verbindungen (und auch die
abgelegneren Korps) endlich glücklich eingesehen haben, daß der Gipfel der „Fein¬
heit" darin besteht, aller drei bis acht Tage eine neue Mütze aufzusetzen, stülpt
eiues schönen Tags der Heidelberger Vandale die Mütze, in der er als Korps-
bursch rezipirt worden ist, mit dem Gelübde aufs kurzgeschorne Haupt, sie
trotz Regen und Sonnenschein mit keiner andern mehr zu vertauschen.
Mehr aber als die Sucht nach Neuem und Verblüffendem in der Mode
darf man leider in dieser plötzlichen Aufwallung a lit Holteis Mantellied nicht
suchen. Für die Korps — und damit für ihre zahlreichen bedingungslosen
Nachahmer — wird z. V. der alte studentische Wichs auch fernerhin ver¬
schwunden bleiben, ihr Chargirten- und Paradezeug wird auch in Zukunft erst
recht aus dem öden Frack und langen Hosen bestehn (was freilich immer noch
erträglicher ist, als der aus Frack, weißen beuteligen Hosen und imitirten
Wachslederkanonen bestehende Wichs mancher Vereine, akademischen Ausschüsse
u. s. w.), und andrerseits ist wegen der verregneten und verschoßnen Mütze
einiger angesehnen Korps noch lange keine Rückkehr zu vernünftiger Einfachheit
und sparsamerem Auftreten zu hoffen. Denn wie das Kriegführen, kostet die
„führende" Rolle in der Studentenschaft, wie sie die Korps durch Kleidung,
Droschkenfahren, Reisen in der ersten, mindestens zweiten Eisenbahnklasse,
Hotelwahl, Mittagstisch, Zeittotschlagen im Cass, sogenannte Dedikationen,
Behängung des Leibes mit teuern Schnurrpfeifereien und die gewaltigen Korps-
ausgabeu für Stiftungsfeste, Mensuren und viele andre Dinge aufrecht zu er¬
halten suchen, Geld, Geld und abermals Geld. Manchmal haben schon die
alten Herren hier Halt gebieten wollen; aber was bleibt für die Korps und
ihre Stellung in der Studentenschaft nach heutiger Sachlage übrig, wenn sie
aufhören, die „patentesten" zu sein? So einPfahl ein Alterherrentag vor
Jahren einmal, weil die gestickten Cerevismützen recht teuer sind (je nach Aus¬
führung zwanzig bis fünfunddreißig Mark), die Wiedereinführung der alten
sogenannten Tonnencerevise, die aus einfachen Tuch- oder Sammetstreifen in
den betreffenden Farben bestehn. Die Aktiven schafften sich denn auch brav
alle die biedern Tonnenreifen an, machten eines Tags damit, um sie mehr
humoristisch zu Präsentiren, eine solenne Auffahrt und leisteten sich im übrigen
daneben erst recht gestickte Cerevise. So waren sie wieder einmal „forsch nach
außen" aufgetreten.
Hie und da mag ja das eine oder das andre wirklich unter dem Druck
der alten Herren, auch in weniger unwesentlichen Dingen, vernünftiger
geworden sein; auch sind ja natürlich die Korps unter einander, je nach Rich¬
tung oder Universität, äußerst verschieden. Wir wollen hierauf nicht näher
migehn, schon weil die Namen einzelner Korps genannt werden müßten, sondern
mir erwähnen, daß sich, wenigstens vor einer Anzahl von Jahren noch, die
Korps einiger einfacheren Universitäten über die Pntentmeierei gewisser Bonner
und Heidelberger weidlich lustig zu macheu pflegten. Im allgemeinen läßt sich
die rollende Lawine eben doch nicht aufhalten und greift stets weiter um sich.
Mit einem Worte, das Korpsleben ist im Durchschnitt heute ungesund teuer,
zum Schaden nicht nur der einzelnen Mitglieder, sondern auch der Korps
selber, die dadurch allmählich tiefgreifend innerlich umgestaltet werden. Die
norddeutschen Beamten und adlichen Landwirte, die zu ihrer Zeit stramme
und vergnügte Korpsburschen gewesen siud, müssen sich unter den heutigen
Verhältnissen sehr ernsthaft die Frage vorlegen, ob sie überhaupt imstande
seien, ihre Söhne in ihr liebes altes Korps zu schicken. Damit verlieren manche
und gerade alte und tüchtige Korps allmählich ihren bewährten festen Wurzel¬
boden und gelangen mit der Zeit zu völlig veränderten Nekrntirnngsbezirken,
die Plutvkratie verdrängt auch auf diesem Felde die Aristokratie. Die gegen
den Keim dieser Übel ergriffnen Mittel bewirken eher das Gegenteil, wir
meinen die, „Alteherrenkassen" und sonstigen Zuwendungen der Korpsphilister
an die Aktiven. Ganz abgesehn davon, daß es an sich nicht gut ist, wenn
die studirenden Jünglinge in einzelnen Dingen die Pfründner andrer sind, so
wird der Rückhalt, den das Korps an den Alten hat, sowohl zuweilen über¬
schätzt als auch leicht dahin verstanden: uns kanns gar nicht fehlen, wozu
siud denn die alten Herren da? sodaß das, was infolge der Freigebigkeit der
alten Herren hätte erspart oder gut angewandt werden können, oft doppelt
und dreifach anderweitig verjubelt wird. Ein Freund erzählte dem Schreiber
dieser Zeilen: Wir haben unserm Korps auch ein Haus gebaut. Zuerst
nahmen wir von den Aktiven eine verhältnismäßig geringe Miete, die durch
die Alteherrenkasse natürlich wieder zu Gunsten des Korps verwendet wurde.
Zur gleichen Zeit waren die Kassenverhältnisse bei dem aktiven Korps vor¬
trefflich. Dann erließen wir ihnen, quasi zur Belohnung, die Miete; und von
da an wollte es nicht mehr recht gehn.
Überhaupt ist es mit der direkten Einwirkung der alten Herren auf ihre
Aktiven, nicht bloß bei den Korps, sondern bei allen Verbindungen, ein zwie¬
faches Ding. Im ganzen und allgemeinen ist diese enge Beziehung zwischen
ältern, erfahrnen und bewährten Leuten und frischen Studenten eine sehr
hübsche und ersprießliche Errungenschaft für beide Teile, besonders aber
sür die Jungen. Dagegen erweckt das Auftreten einzelner alten Herren ge¬
legentlich unrichtige, ja verderbliche Vorstellungen. Die sitzen das ganze
übrige Jahr mehr oder minder behaglich, jedenfalls aber solid und ohne
Extravaganz daheim, bis der Urlaub kommt und sie sich entschließen, die ersten
Tage davon und den ersten gehäuften Löffel ihres Reisebudgets auf die alte
Musenstadt und ihre Erinnerungen zu verwenden. Da ziehen sie denn fröhlich
mit einem Schwarm von Füchsen umher, „schmeißen" Sektfrühschoppen und
Nachmittagsbowle, gelangen von Erinnerungsdusel und Getrunkenem schwer in
spätester Abendstunde in ihr seudales Hotel, verbrauchen in der nächtlichen
Stille einer gewissen Einzelzelle nach langem vergeblichem Tasten und apathischein
Herumsuchen in der Rocktasche etwa noch ihr Nundreiseheft, machen sich andern¬
tags beim opulenten Katerfrühstück selber darüber lustig und sind dann eines
Tags etwas moralisch verkatzenjammert verschwunden und abgereist, hinterlassen
aber den Aktiven den Eindruck eines ungeheuer nobeln und wohlsituirten alten
Herrn, sodaß aus der Addition dieser Eindrücke die Überzeugung entsteht,
daß die betreffende Verbindung eine Finanzmacht ersten Ranges sei, dem gegen¬
über der schlechte Kassenabschluß des laufende!? Semesters nicht das geringste
zu bedeuten habe.
In dem zunehmenden Geldverthun sehn wir die innere Hauptgefahr sür
den Fortbestand dessen, was gut und tüchtig im Korpswesen ist. Die For¬
derung eines hohen „Wechsels" für die Eintretenden (bei manchen Korps
werden 3000 Mark jährlich und noch weit mehr von den Mitgliedern ver¬
braucht) vermag da nichts zu helfen; durch sie werden die Korps nur eben
mehr und mehr, wie gesagt, ans die modernen Geldkreise angewiesen, und die
gedankenarmen Sprößlinge der Parvenus, unter denen die zahlreichen Bier-
brnnersöhne bei weitem noch nicht die übelsten sind, suchen dann, was ihnen
an Herkunft, Sicherheit und unabsichtlicher Vornehmheit fehlt, bei der zum
Glück immer noch großen Wertschätzung dieser Dinge in den Korps desto
eifriger durch die Verdeutlichung ihrer Finanzkraft wett zu machen. So ent¬
wickelt sich ein leidiger oiroulus vitiosus, dessen Ergebnis eine stets wachsende
Verteuerung des Lebens in dein betreffenden Korps und die weitere Betonung
und Hinaufschraubung der finanziellen Gesichtspunkte bei der Aufnahme neuer
Mitglieder ist.
Für ungerechtfertigt halten wir aber den häufig zu findenden Vorwurf,
die Einrichtung und Disziplin der Korps wirke verdünnend und schädige die
Individualität. Die Kvrpserziehuug soll ja doch uur für die spätere Be¬
fähigung, verantwortungsvolle Stellen einzunehmen, vorbilden. Denn so sonder¬
bar es auch manchen klingen mag, kaum werden irgendwo an die Verantwort¬
lichkeit, das Pflichtgefühl, die Selbständigkeit, die augenblickliche Entschlossen¬
heit und den Takt eines Beamten so strenge Anforderungen erhoben, wie
gegenüber den mit der Leitung und Vertretung einer studentischen Verbindung
betrauten Chargirten, und wiederum nirgends deckt ihn der studentische Parla¬
mentarismus und die kollegiale Sachbehandlung weniger, als bei den Korps.
Dasselbe trifft in nicht viel geringerm Grade auch für die übrigen Mitglieder zu,
denn die Disziplin der studentischen Korporationen ist uirgeuds, gerade auch
den Füchsen gegenüber nicht, eine blinde und mechanische, wie etwa in einer
Anstalt, sondern legt absichtlich überall Verantwortlichkeit auf, und nur darnach,
wie diese bewahrt wird, erfolgen die Beförderungen innerhalb der Verbindung.
Gerechtfertigter ist es wieder, wenn mau besorgt darauf hingewiesen hat,
daß die aktiven Korps heutzutage in höhern geistigen Dingen versimpeln und
insbesondre mit der Hochschule als univsrsitas littsiArurn so gut wie gar nichts
uuchr zu thun haben. In der That ist fast gar kein Grund mehr, weshalb sie
gerade in Bonn, Heidelberg, Straßburg oder Freiburg bestehen; man könnte
sie ohne Schaden, wenn mau ihnen nur einen Paukboden sicherte, ebensogut
etwa nach Baden-Baden oder Helgoland verlegen, besondre Feinschmeckerkartells
könnten ihr Heim in Hamburg aufschlagen u. s. w., und nach drei Semestern
würden dann die Inaktiven auf die Universitäten oder auch direkt zu Qua-
ritsch entlasten werden. Nun, ganz soweit ist es ja noch nicht, und die Medi¬
ziner studiren auch in den Korps noch vielfach schon vom ersten Semester an,
aber die Zeiten, von denen wir noch wissen, sind doch wohl unwiederbring¬
lich dahin, wo sich ein paar Korpsbnrschen während ihrer Aktivität zusammen¬
thaten, um in einer freien Nachmittagsstunde — der freien Stunden giebt es
ja leider trotz alles Nichtstudirens im heutigen Verbindnngsleben so spär¬
liche! — mit einander ein wenig Homer und Sophokles zu lesen.
Nicht ausschließlich, aber zum guten Teil hängt mit dieser völligen Ent¬
fremdung zwischen der Universität und ihren Kreisen einesteils und den jungen
Korpsstudenten andernteils auch das zusammen, daß die Korps ihren Boden
in dem gesellschaftlichen Leben der Universitätsstädte mehr und mehr verlieren.
Wie gesagt, nicht ausschließlich; Gründe, die sonst mitspielen, sind ihr an
vielen Orten noch gestelltes Ansinnen, daß bei den Veranstaltungen der So¬
zietäten, Harmonien, Kasinos, Museums oder wie sonst die erste Bürgergesell-
schast des Orts sich nennt, ja daß selbst in Privatgesellschaften nur die Farben
der Korps gezeigt werden dürfen — womit sie schon seit einer Reihe
von Jahren überall schnöde Ablehnung erfahren haben; ferner — wir scheuen
uns uicht, das einmal zum wirklichen Besten der jungen Korpsiers offen aus¬
zusprechen — ihr persönliches Benehmen, das von einer „führenden" Stellung
in der Studentenschaft gar nichts, dagegen von Naseweisheit und Ungezogen¬
heit sehr viel spüren läßt. Ungezogenheit ist eigentlich nicht das richtige
Wort, als Primaner wußten sich dieselben Leute sehr nett zu benehmen; es
ist absichtliche Hvchmutsflegelei, in die sie als Füchse eines über alle sonstigen
Sterblichen himmelhoch erhabnen Korps verfallen sind. Dies vor allem ist
es, was überall und gerade auch auf solchen Hochschulen, wo ursprünglich die
Korps wirklich dominirten, in Bonn und Heidelberg, es den Burschenschaftern
und hie und da auch Mitgliedern andrer Verbindungen ohne oder mit Farben
leichter gemacht hat, im Verkehr mit den Professoren- und Einwohnerkreisen
die beliebtesten und durchaus vorgezognen Studenten zu sein. Wir wissen
Wohl, daß auf diese Dinge von vielen Korps gar kein Wert gelegt wird, wir
wünschen auch selber für alle Klassen der Studenten, daß sie nie in die
flaue Familiensimpelei verfallen mögen, brauchen aber doch wohl die Gründe
hier uicht zu erörtern, die nicht nur für den einzelnen Studenten und für die
Zwecke, wegen deren er auf der Hochschule ist, sondern auch für die Verbin¬
dungen an sich einen netten Umgang mit der guten Gesellschaft durchaus
wünschenswert machen — bis zu dem Grunde herab, daß die Abiturienten
aus der Universitätsstadt selber am ehesten in die Verbindung eintreten werden,
die in ihrem Elternhause am meisten gekannt und geachtet ist.
Bei den übrigen Verbindungen können wir uns sehr kurz fassen und
brauchen uns auch nicht mit Differenzen, die für diese selbst wichtiger er¬
scheinen, aufzuhalten. Da sind zunächst eine Reihe „Landsmannschaften,"
teils im, teils nicht im „Koburger 1^. L!." Wirkliche Landsmannschaften sind
auch sie längst nicht mehr oder nie gewesen; sonst würden z. B. die Nor-
mannia oder gar die Ghibellinia auf einen sehr schwachen Mitgliederbestand
angewiesen sein. In ihrer Absicht, um nicht zu sagen ihren Zielen, und in dem
Hauptsächlichen ihrer Organisation stehn sie den Korps früherer Jahrzehnte sehr
nahe, wollten aber eben bei ihrem Entstehen den Namen Korps und manche
damit gegebne lästige und ihnen nicht ohne weiteres erfüllbare Folgerung ver¬
meiden; heute stehn sie eigentlich, was das Auftreten und Verhalten in rein
studentischen Dingen betrifft, den Burschenschafter viel näher. Bei dem
Heere der sonstigen farbentragenden, sogenannten schlagenden Verbindungen
könnten dann wiederum sehr viele kleine Unterschiede gemacht werden, die aber
alle nicht besonders interessiren. Gerade hier ist es noch vielfach die echte
Landsmannschaft der Begründer, nämlich deren Zugehörigkeit zu demselben
deutscheu Kleinstaat, derselben Provinz, demselben Gymnasium, die zur Ent¬
stehung der Verbindung geführt hat. Vielleicht zunächst als einer lvseru
„Blase," die allmählich bunte Abzeichen annimmt und „schlagend" wird,
d. h. nur aus eigne Waffen ficht und bestimmte Paukvcrhältnisfe eingeht. Zum
Teil hat sich diese Entwicklnngsfühigkeit denn auch weiter dahin fortgesetzt, daß
diese Verbindungen sich schließlich als Korps oder Burschenschaft angemeldet
und nach der üblichen Bevbachtnngsfrist Aufnahme in einen der beiden großen
Verbände gefunden haben. Seit einer Reihe von Jahren wird dieser Ver-
Puppuugsprozeß immerhin dadurch etwas gehemmt, daß eine größere Anzahl
dieser — übrigens fast nur auf den großen Universitäten (Berlin, Leipzig)
reichlicher gedeihenden — Verbindungen einen eignen „<ü. L.-Verband"
geschlossen hat. dem aber doch eine beträchtliche Anzahl nicht beige-
tretner, darunter gerade angesehner, gegenübersteht. Die Finken üstimiren
diese Verbindungsgattung nicht immer allzuhoch, und bezeichnenderweise — so
ist der Finke einmal — die am wenigsten, die sich ohne allzuviel Geld¬
ausgeben und übertriebnes Pauken redlich mit durchschlagen. Ziemlich
ein Verbreitung und Ansehn zugenommen haben in der jüngern Zeit die
farbentragenden Turnvereine, die es mit dem Fechten wie die übrigen schla¬
genden Verbindungen halten und daneben stramm ihre einfach gute Kunst
üben.
Damit können wir ohne allzuviele Gewissensbisse wegen Unterlassungs¬
sünden zu den nichtschlagenden, d. h. sogleich zu den dem Fechten grundsätzlich
abgeneigten Farbenverbinduugeu kommen. Denn hier heißt es: tertium non
cliMr, Farbenverbinduugeu, wo nur hie und da einmal auf Mensur geht, wer
gerade Lust hat oder gefordert ist, duldet die studentische Auffassung — auf
eine scheinbare Ausnahme kommen wir später — nicht. Von diesen nicht¬
schlagenden kommen in Betracht der weitverbreitete Wingolf, dann eine kleine
ganz ähnliche Gruppe, wenn wir nicht irren Schwarzburgverband genannt,
und die spärlichen Überreste einer vor Alters abgezweigten burschenschaftlichen
Richtung, die sogenannten christlichen Germanen. Pauken wollen sie nnn ein¬
mal alle nicht und wissen ihr Prinzip auch wirklich zu begründen, sonst
ist gegen sie eigentlich nichts einzuwenden, höchstens könnte jemand fragen,
warum sie eigentlich Farben tragen. Aber die Verwunderung in dieser
Frage setzt doch schon aprioristische studentische Begriffe voraus, und dazu
läßt sich bemerken, daß diese bescheidne Anfrage sehr leicht verallgemeinert
werden könnte und die Antwort und AuMruug, die man dann daraufhin zu¬
treffend geben könnte, auch wiederum für die Wingvlfiten gelten würde. Die
Mitglieder dieser Verbindungen, meist Theologen oder Pastorensöhne, halten
unter sich und innerhalb ihrer Verbände sehr eng und treu zusammen, sind in
aller Ehrsamkeit und bei vielfach großem Studieneifer und Fleiß gewöhnlich
ganz fröhliche und frische Studenten und bewahren sich ein gutes Teil davon
auch noch in die mehr oder minder stille Amtszeit hinüber. Davor, daß sie
das Achselzucken und den Spott, ja man dürfte wirklich fast sagen die her¬
kömmliche Verachtung der ganzen übrigen Studentenschaft drückend empfinden,
bewahrt sie schon das Bewußtsein, eben auf einem ganz andern Boden zu
stehn, der ihnen als der in sich gerechtfertigtere erscheint und von den übrigen
nur nicht begriffen wird. (Viel Stimmungsmacherei gegen sie hat übrigens
auch nur darin seinen Ursprung, daß sie durchaus christlich sind.) Immerhin
macht es hie und da einen Wingvlfiten äußerst glücklich, etwa von der Schul¬
bank her uoch eine verstohlene Bekanntschaft mit einem wirklichen „Couleur¬
studenten" ein wenig aufrecht erhalten zu dürfen. Zuweilen soll auch schou
ein forscher Maun des heiligen Wingolf plötzlich und unbegreiflich seinen Aus¬
tritt erklärt haben, dann mit einem gar zu unverschämten Spötter auf Mensur
gegangen und schließlich seiner Verbindung wieder beigetreten sein; doch mag
das auch nnr auf eine hübsche studentische Legende zurückgehn.
Während die bisher genannten mensurfeindlichen Verbindungen ausge¬
sprochen protestantisch und dabei gewissermaßen theologisch sind, bestehen an
einer nicht unbedeutenden Anzahl von Universitäten auch katholische Verbin¬
dungen mit oder ohne öffentlich getragne Farben. Studenten der Theologie
bilden in diesen nur einen sehr kleinen Prozentsatz, infolge des Umstandes, daß
die katholische Geistlichkeit — leider! — fast ausschließlich aus dem dürftigsten
Teil der Bevölkerung hervorgeht oder doch aus solchen jungen Leuten heran¬
wächst, sür die, wie z.B. für überzählige Bauernsöhne, kein irgendwie un¬
nötiger Aufwand zu beschaffen ist; die allermeisten leben ohnedies als Studenten
in den sehr streng überwachten Konvikten. Dagegen umfassen diese katholischen
Verbindungen mit ihren meist landsmannschaftlichen Namen die Söhne der
„gut katholischen" Bürgerkreise, also Juristen, Philologen u. s. w,, die so davor
bewahrt werden sollen, durch die akademische Freiheit und persönliche Selb¬
ständigkeit, auch durch den Einfluß von Professoren und zufälligen Bekannten
in Bahnen zu gleiten, die ihrer bisherigen Erziehung und den Anschauungen
ihrer Eltern nicht entsprechen, und die in diesen von der Kirche wohlwollend
gehegten, von der Zentrumspresse und von den Seelsorgern empfohlnen Ver¬
bindungen vielfach die Ausbildung erfahren, die sie im spätern Leben als An¬
wälte n. s, w. zu Borkämpfern der Zentrumspolitik werden läßt. Was von
der Vergnüglichkeit n> s. w. der Wingolfiten gesagt wurde, gilt auch von ihnen;
besonders stark ausgebildet ist bei ihnen, wiederum aus den Zwecken dieser
katholischen Verbindungen heraus, ihr Zusammenhang von der einen zur andern
hinüber, sodaß wer einmal als Fuchs bei ihnen eingetreten ist, niemals, wenn
er die Hochschule wechselt, die verhältnismäßig große Freiheit des „auswär¬
tigen Inaktiven" bei den andern Verbindungsarten erlangt, sondern ohne
weiteres der Kartellverbindung zugewiesen ist und unter der gleichen Kon¬
trolle bleibt.
Zahllos und unendlich mannigfach sind die nicht farbentragenden Verbin¬
dungen und sicherlich — trotz der ebenfalls immer noch starken Zunahme der
Farbenverbindungen — die neuerdings am üppigsten wuchernde Gattung. Wir
werden später — in einem Schlußanfsatz — auf die Gefahr für die Farben-
verbiudungeit, von dieser jüngern Gattung erstickt zu werden, und ihre sehr be¬
greiflichen Gründe zurückkommen. Ganz alte derartige „schwarze" Verbin¬
dungen giebt es nicht, in älterer Zeit hätten sie eben Farben angenommen,
immerhin weisen einige doch schon Jahrzehnte des Bestehens auf. Diese sind
dann auch gewöhnlich recht fest und bis auf das Fehlen von Band und Mütze
ganz als Verbindung organisirt, zum Teil haben sie sogar eigne Waffen und
fordern deren Anerkennung, bei deren Mangel sie die Satisfaktion verweigern.
Das wird von einzelnen, um uus ganz in die studentische Anschauung hinein¬
zustellen, sehr „forsch" gehandhabt, während es wieder für andre ein Weg
ist, wegen der leicht herbeizuführenden Nichtanerkennung ihrer Waffen durch
die übrigen niemals zum Ausfechten einer Forderung zu gelangen. So sind
vielfach solche schwarze Verbindungen „forscher," die nicht mit eignen Waffen
hervortreten, deren Mitglieder aber bei gelegentlichen Forderungen auf die
Waffen einer selbstgewählten andern oder der durch die Zugehörigkeit des
Gegners von selbst gegebnen Verbindungsgattung losgehn. So geht es nun
mit allerhand Unterschieden bis zu den ganz losen „Blasen" herunter, deren
Mitglieder eben nur an bestimmten Tagen mit einander kneipen und sich im
spätern Leben in der Regel aus den Augen verlieren.
Von den studentischen Vereinen sind die der „deutschen Studenten" rasch
die bedeutendste und einflußreichste, aber auch wiederum meistverknnute Gruppe
geworden. Denn die ganze Verkleinerung?'-, Verhöhnnngs- und Verleumdungs-
arbeit derselben Judenpresse, die den Antisemitismus fortwährend totsagt, und
alles dessen, was ihr in bewußter oder uicbtgeahnter Abhängigkeit kritiklos
nachschreibt und nachredet, hat sich mit dem ganzen fanatischen Haß ihrer
Leiter auf jegliche» und jegliches, was nur irgendwie ein wenig nach Ab¬
neigung gegen das Volk der Zukunft schmeckt, auch auf diese Vereine gestürzt.
Das Publikum weiß von ihnen gewöhnlich nichts weiter, als daß sie anti¬
semitisch, kulturfeindlich, mittelalterlich, orthodox, reaktionär und durch eine
geheimnisvolle Verschwörung Stöckers und Bismarcks gegründet sind. Das¬
selbe weiß aus der Presse und aus deu Gesprächen der Väter auch ein großer
Teil der Studentenschaft, und da geht es denn ganz ähnlich, wie es beim
Publikum, bei uns allen geht: die Juden mögen wir alle nicht und halten sie
für einen Krebsschaden in unserm Volke, für das „Ferment der Dekompo-
sition," um das Deutsch des wunderbaren Philosemiten Mommsen beizubehalten,
aber — immer noch hundertmal lieber der Jude, als der Antisemit! Soweit
hat die tägliche Presse unser ganzes Meinen und Sagen unter ihre Herrschaft
gebracht. So ist denn auch gerade der Student, soweit er nicht unmittelbare
Gründe für das Gegenteil hat, überall klar oder unklar antisemitisch, aber von
dem Kori'M' vor den Vereinen deutscher Studenten vermag er sich zunächst noch
nicht zu befreien, als unbewußter Gäugelbändliug seiner Lektüre klopft und
schimpft er auf diese vou alleu Seiten los. Nun, wir können dem Kyffhäuser-
verbcmde an dieser Stelle verraten, daß schon mancher tüchtige Gegner, mit
dem sich die Redner der Vereine deutscher Studenten, die Akademischen Blätter
oder die alte Kyffhäuserzeitung vor Jahren herumgeschlagen haben, seit seinen
ersten Semestern und seiner Studienzeit beinahe antisemitischer geworden ist,
als die Vereine deutscher Studenten selber.
Publikum und übrige Studentenschaft wissen davon nichts, daß gerade
die Parole gegen die Juden in diesen Vereinen in frühern Zeiten Mcinungs-
kämpfe hervorgerufen hat, daß die Vereine sehr unangenehme Auseinander¬
setzungen mit Bernhard Förster und andern ordentlichen öffentliche!? Antisemiten
hinter sich haben, und daß der meistverleumdete, Stöcker, dem sich hie und
da Führer der Vereine näherten und den sie zu Borträgen veranlaßten, erst
seines persönlichen Auftretens und der damit unausbleiblichen Überzeugungskraft
seiner ganzen Redlichkeit und Liebe zu unserm Volke bedürfte, um bei der
Masse der Vereinsmitglieder das Vorurteil zu zerstreuen und sich die Herzen
zu gewinnen. Am besten konnte man diese Vereine als die studentische Partei
der nationalen Gesundung bezeichnen; so kamen sie auf nach dem innern Nieder-
gange alles öffentlichen deutschen Lebens und der ungehemmten Zersetznugs-
arbeit an den sozialen und geistigen deutscheu Zuständen, die die siebziger
Jahre bezeichnen, kamen auf aus der Sehnsucht nach Erhaltung und Wieder¬
erweckung der nationalen und idealen Güter. Das ist ihre Grundlage und
ihre Tendenz, darüber haben sie niemals Streit unter einander gehabt. Sie
sind vor allen Dingen national. Wenn sie daneben antisemitisch sind, so ist das,
offen heraus gesagt, nur eine Folgerung davon, eine Reaktion gegen die
internationale Arbeit des Judentums an der Zersetzung alles nationalen und
seinen Ervberungsfeldzng gegen Wohlstand und eigne Meinung der abend¬
ländischen Völker; wenn sie zum guten Teile positiv-christlich siud, so liegt
das in der mitgebrachten treuen Überzeugung einer großen Anzahl der Mit¬
glieder, wird aber noch in den Vordergrund gestellt durch die erkannte Not¬
wendigkeit, den Mitteln entgegenzuwirken, mit denen das Judentum und das
von ihnen geleitete und abhängige politische Fortschrittlertum bei den so¬
genannten Gebildeten am lebhaftesten für sich arbeitet und am meisten Erfolge
erzielt. Die Hauptheroen der Vereine find doch immer Bismarck und Moltke
gewesen und geblieben, in inniger Beziehung zu der unverbrüchlichen Hohen-
zvllerntreue dieser Studenten. So war und ist gerade auch Treitschke — an
dessen Größe ebenfalls fieberhafte Maulwurfsarbeit nagt, deu Herumstehenden
die ausgeworfne Erde in die Augen streuend — ihr begeistert umjubelter
eigentlicher Lehrer.
Mächtig wuchs die deutsche Studentenbewegung seit 1880 und 1881 und
wurde ein glänzendes Zeugnis für deu noch nnangefreßnen idealen Kern des
jungen Geschlechts; das Kyffhäuserfest vom August 1881 war ein Ereignis,
das, bei aller Verschiedenheit, an reinem Wollen und begeisterter Hingebung
dem Wartburgfeste der alten Burschenschaft nicht nachstand und vielfach damit
verglichen werden konnte. Die jüngere Burschenschaft selber verharrte, während
zu den Korps hinüber gerade am Anfange eine gewisse, durch das Wesen der
Korps allerdings sehr eingeschränkte Beziehung stattfand, als Ganzes völlig
regungslos. Es war nicht ungerecht, wenn man bei den deutschen Studenten
darauf hinwies, daß sich die Burschenschaft in den siebziger Jahren zum Schlafe
auf ihren Lorbeern niedergestreckt habe und in rechte Gedanken- und Plan¬
losigkeit versunken sei; ein Teil der angesehensten Burschenschafter gerade war,
seit das deutsche Reich bestand, zum Köseuer 8. <ü. der Korps übergegangen,
was wie eine Folge der Erfüllung des burschenschaftlichen Hauptgedankens
erscheinen konnte. Dagegen jubelten einzelne alte, treue und bekanntere Bur¬
schenschafter offen den deutschen Vereinen zu. Auf völliger Berkeunung aller
Möglichkeiten beruhte es uur, wenn sich vereinzelte Heißsporne von beiden
Seiten mit Ideen einer Verschmelzung oder eines Aufgehens der Burschen¬
schaft in die Vereine trugen.
Aber diese vereinzelten Stimmen, denen das Stillleben der Burschenschaft
derartige schnellfertige und überdrnßvolle Worte eingab, waren eben zugleich
die ersten Anzeichen einer Ausrüstung anch in ihren Kreisen. 1881 begann
auch dort der Aufschwung, zuerst ein äußerlicher, der sich noch ängstlich von
allen innern Fragen fernhielt, dem aber dann die Aufstellung der in unserm
vorigen Aufsatze besprochnen Programmsätze des ^. v. L!. und außerdem ein
zunehmendes stillschweigendes Einverständnis der meisten Burschenschafter über
schwer fvrmulirbare Punkte folgte, beides Anzeichen einer wenn auch mit
Schwierigkeiten kämpfenden Erhebung und engern Aneinandcrschließung in einem
neuern burschenschnftlich-nationalen Sinne, denen in allerjüugster Zeit weitere
gefolgt sind, die teilweise eine mittelbare Bestätigung unsrer Auseinander-
setzungen über die Burschenschaft bilden. So hat sich denn seit 1881 eine
gewisse Parallelbewegung in der Burschenschaft zu der der Vereine deutscher
Studenten ausgebildet. Nun sollte man meinen, beide Gruppen würden sich
darauf hin die Hand entgegenstrecken; aber weit gefehlt: das ist einmal stu¬
dentische Art, daß sie nnn desto grimmiger gegen einander losziehen. Und
nicht einmal ans gegenseitiger Rivalität. Ihre Ziele fordern ja solche gar
nicht, sondern im Gegenteil gemeinsames Vorgehen in den Hauptsachen. Auch
eine Eifersucht praktischen Beigeschmacks hätte keinen Grund und Boden und
besteht thatsächlich nicht. Die Nekrutirnngsgefilde der Burschenschaft sind
nicht die jener Vereine, sie jagt sich vielmehr mit den andern Verbindungen
um die Füchse herum, und wer andrerseits von diesen nun einmal „aktiv"
werden will, läßt sich schwer dein Verein zuführen. Die eine ist festgeschloßne
Verbindung, die andre Propagandaverein, das läßt beiden den breitesten Raum
neben einander, auch zu einer ungeschriebnen Bundesgenossenschaft in echt na¬
tionalen Angelegenheiten.
Den wirklichen Anlaß zu solchen Fehden haben denn auch jedesmal ganz
andre Dinge gegeben. Meistens der Umstand, daß einzelne eifrigere Burschen¬
schafter, ihnen selber unbewußt, zum größten Teile eben auch mit von den
Verleumdungsbaeillen, die die Presse gegen die Vereine cmsfaucht, ergriffen
sind und daher schlechthin verwerfende Urteile über die Tendenz der Vereine
und ihrer Mitglieder hegen und aussprechen; teils — und das war gerade
bei der jüngsten besonders scharfen Fehde der „Burschenschaftlichen Blätter"
mit den „Akademischen Blättern" der Fall — ärgert man sich auf der einen
Seite über ein paar Redensarten, mit denen auf der andern der Mund ein
wenig zu voll genommen wird. Dem entsprechend spielten sich die Zeitnngs-
fehden beider Gruppen denn anch gar nicht in wirklichen Meinungstümpfen
ab, sondern in der Weise, daß die beiden federgewaffueten Vorkämpfer je ein
Paar ungeschickte oder allzu gutmütige Sätze in den gegnerischen Auslassungen
auszubeuten oder lächerlich zu machen suchten. Auch unsern vorigen Aufsatz
in den Grenzboten hat ein Wellchen dieses jüngsten Streites erfaßt; die
„Akademischen Blätter" bedauern, daß der Verfasser, offenbar ein alter Bur¬
schenschafter, durch einen gleichzeitigen Aufsatz der „Burschenschnftlichen Blätter"
indirekt Lügen gestraft werde. Aber deren Herausgeber ist keineswegs ein
Offiziosus des ^, v. d, seine Leitartikel enthalten seine Privatmeinung und
können höchstens vom ^. I). d nachträglich gebilligt oder mißbilligt werden,
und gerade dieser etwaigen Censur wegen, die der tüchtige und schneidige alte
Burschenschafter und talentvolle junge Dichter, der die „Burschenschaftlichen
Blätter" herausgiebt, doch immer allen möglichen Opportunitätsströmungen im
^. v. d und Einwürfen einzelner Abonnenten gegenüber zu besorgen hat, glauben
wir hier viel eher in der Lage zu sein, die Dinge, so weit wir etwas davon
verstehen, beim rechten Namen zu nennen.
Wunderbar ist es übrigens, für was wir auf den ersten Aufsatz hin
alles gehalten worden sind. Gefreut hat es uns, daß uns auch der burschen¬
schaftliche Kreis sofort als den Seinigen in Beschlag hat nehmen wollen. Den
alten Korpsburschen in uns hat nur eine Tageszeitung aus der schwarzlockigen
Pvlnckei gewittert, die aus dem Zusammenhang gerissene und zurecht gemachte
Citate aus unsern Ausführungen auftischte, um uns der Brandmarkung als
„Antisemit" durch ihre Leser zu überlassen. Man sei doch von gewisser Seite
mit dieser Aichung im eignen Interesse etwas zurückhaltender, sonst bleiben bald
außer Juden und einigen Dummen nicht mehr viel andre übrig, als gestempelte
Antisemiten. Nach dem vorliegenden Aufsatz wird man wohl erkennen, daß
wir weder Korpsbursche noch Burschenschafter, sondern ein verkappter Wolf
aus den deutschen Studentenvereinen sind.
Um noch einmal auf die beideu letztbesprochnen feindlichen Brüder zurück¬
zukommen: wir meinen, unmittelbarer Nachfolger der alten Burschenschaft ist
weder die jüngere Gruppe dieses Namens, noch das deutsche studentium. In
der Burschenschaft von 1815 und 1817 war sehr viel Unvereinbares; jene
beiden heutigen Gruppen sind nun am ehesten jede für sich, bei gleichem Wert
sür den Nationalgedanken, die klarere Ausprägung je einer der in der alten
Burschenschaft gegen einander gührenden Auffassungen über die studentische
Form. Sie hätten sich vertragen sollen.
Dann giebt es eine „freie wissenschaftliche Vereinigung." Sie ist die von
Nichtstudenten angeregte Organisation, die den Widerstand der jüdischen Stu¬
denten und ihrer christlichen Freunde, junger Allerweltsnaturwissenschaftler und
Kosmopoliten gegen die deutschen Studenten zusammenhalten soll und in Berlin
und Leipzig auch Leute findet, aber trotz alles Geschreis erstaunlich geringe
Erfolge aufweist. Unsre Freundin, die Posener Zeitung, weiß zwar, daß sich
die „befähigten Studirenden" immer mehr „den wissenschaftlichen Vereinigungen
zuwenden, die auch durch die Mitwirkung der Dozenten gefördert werden."
Aber diese mundfertigen studentischen Helden verkrümeln sich später in dem ernst¬
haften Beruf des Lebens meist recht sang- und klanglos, und was die Dozenten
betrifft, so haben z. V. Burschenschafter und Vereine deutscher Studenten jede
sür sich weit mehr Gönner und ständige Gäste aus deren Kreisen aufzuweisen,
als jene Vereinigungen; es wird nur nicht so viel Tamtam damit geschlagen,
und daher merkt man das in Posen nicht so.
Etwas ganz andres ist die Teilnahme und geistige Leitung der jeweiligen
Fachprofessoren bei den akademischen philologischen, archäologischen, juristischen
und sonstigen Fachvereinen. Die Besprechung dieser würde jedoch völlig aus
dem Rahmen dieser Aufsätze herausfallen; sie haben weder Tendenzen noch
ausgeprägt gesellige Zwecke, sondern trotz aller Kartelle, aller Lebensmit¬
gliedschaft und andrer von den Verbindungen gelernter und auch bei ihnen be¬
währter Dinge in erster Linie doch eben Studienzwecke im Auge.
Nun noch etwas ganz sonderbares. Wir erwähnten schon den frischern
und tüchtigem Zug, der seit der Begründung des ^. v. L!. wieder durch die
Burschenschafter zu wehen begonnen hat. Da war es nun im Januar des
Jahres 1883 der Berliner Arzt Dr. Konrad Küster, der sich das unzweifel¬
hafte Verdienst um die Burschenschafter, zu deren einer er gehörte, erwarb,
ein wenig davon in kritische Worte zu fassen und dadurch die Erörterung in
Fluß zu bringen. Diese geschah von da an überall bei alten Herren und
Aktiven, in Versammlungen und eifrig gelesenen Flugschriften, und zwar all¬
gemein mit Ruhe und Besonnenheit, ohne Einseitigkeit und Prinzipienreiterei,
und auch ohne jedes Hervordrängen und Gewährenlassen persönlicher Eitelkeit.
Nur dem Dr. Küster gefiel das alles nicht, er wurde ungeduldig und siel,
während bei den Burschenschafter die Bewegung ruhig weiter ging und ihre
Ergebnisse zeitigte, ans ein paar Elemente hinein, die sich aus den Kreisen
der völlig abgelebten sogenannten Reformvereine an ihn hinandrängten und
mit der burschenschaftlichen Bewegung und Dr, Küster nichts gemein hatten,
als daß dieser Mißbräuche der Mensur abgestellt gewünscht hatte, die diese
Reformer überhaupt verabscheuten. Deren Prophet ward von da ab Küster,
ihr Gedankenquell und geistiger Leiter, und unter seiner Vaterschaft entstanden
nun die sonderbaren Zwittergebilde der „Reformburschenschaften," deren Ehren¬
bänder Dr. Küster eines nach dem andern über seine Weste zog. Um so mehr,
als Küsters Hauptadjutanten — es thut uns leid, wieder das: on sse 1s
Mi? berühren zu müssen, also aus deutsch: wo ist er nicht? — junge
Juden waren, begann man sofort eine lebhafte und rücksichtslose Preßagitativn,
insbesondre durch eine „Allgemeine deutsche Studentenzeitung," die aber nichts
andres als das Organ dieser neuen Gruppe war; und die Lockungen der
großen Worte, der tönenden Versprechungen und des bis zum äußersten ge¬
mißbrauchten Namens Burschenschaft, ferner die schwarzrotgoldnen und sonstigen
Farben dieser Verbindungen (bei fast absolutem Schutz gegen Mensuren auf
Grund der „Satzungen"), selbst das hinreißende Motto:
führten den „Reformern," wie die ganze übrige Studentenschaft sie alsbald
nur nannte, eine gewisse Anzahl kleinenteils ehrgeiziger, meist ehrlich begeisterter,
von der Unklarheit der Phrase verwirrter Leutchen zu, die sich dann in un-
Verhältnismäßig viele Refvrmburschenschaften einlenken, in Farben sehr sonderbar
aussahen, einen v. L, gründeten und auch in andern Dingen so piepsten,
wie die alten sungen. Wer übrigens etwas genaueres über ihre unerme߬
lichen Programme erfahren möchte, wolle sich aus der studentischen Litteratur
der Jahre 1883 ff. zu unterrichten suchen; an dieser Stelle genügt wirklich
der Hinweis, daß es fast keinen unklaren oder verfehlten Punkt in der damals
siebzigjährigen Geschichte der Burschenschaft giebt, den sich diese Parodisteu
nicht mehr oder minder prinzipienbegeistert angeeignet hätten, und daß die ver¬
nünftigen Gegenerörterungen, zumal der am nächsten beteiligten Burschenschaft,
gar nichts gefruchtet haben. Auch auf einige kleinere Universitäten haben die
Reformer alsbald Streifzüge unternommen, wir wissen aber uicht aus eigner
Beobachtung, mit welchem Glück; bei gelegentlichen Besuchen merkt man jeden¬
falls nichts von ihnen. Dr. Küster ist unterdessen ein bekannter Mann ge¬
worden und hat vieles gegründet; und wir freuen uns stets, wenn wir bei
Ausrufen für vernünftige oder sonstige, christliche oder nichtchristliche Zwecke
auch seinem klangvollen Namen begegnen. Sein Organ heißt jetzt: „Allge¬
meine deutsche Universitäts-Zeitung. Zeitschrift für geistige Bestrebungen.
Organ der deutschen akademischen Vereinigung. Organ der Frauengrnppe der
deutschen akademischen Vereinigung. Organ für Mitteilungen aus dem Allge¬
meinen Deutschen Vurschenbunde." Dazu können wir nur sagen, daß das
Blatt so ziemlich allen und jeglichen Bestrebungen, die möglichst „jetztzeitlich"
sind, als wohlwollendes Organ zur Verfügung steht, daß nirgends derartige
Orgien des Wortes „voll und ganz" begangen werden, wie dort, und daß
Dr. Wustmann mit seinen „Sprachdummheiten" niemals zu Ende gekommen
wäre, wenn er sich in diese Senkgrube vertieft hätte. Wir nehmen die erste
beste Nummer auf, vom 15. Juni 1892. Wieder einmal darin ein Aufsatz:
„Waswirwollen." Man höre. Das Prinzip der Schöpfung ist laut Darwin Ent¬
wicklung, Fortschritt. „Eine Burschenschaft ist, wie wir schon des öftern ent¬
wickelt haben, eine Reformpartei, eine Prvgreß- d. h. Fortschrittspartei, oder
sie ist keine Burschenschaft." „Eine in Wirklichkeit »konservative« Partei oder
gar eine »reaktionäre« Partei handelt gegen das Gebot der Schöpfung, han¬
delt somit gegen göttliches Gebot! Eine Burschenschaft muß also bemüht sein,
an der Spitze des Kulturfortschritts zu stehn." Die alten Burschenschafter
sind unfähig für alle die herrlichen Aufgaben, die damit gestellt sind, sie
müssen darauf verzichten; „die Ursache liegt auf der Hand: weil sie in erster
Linie Farbenverbindungen sind und keine Burschenschafter. Hier liegt (liegt!)
des Pudels Kern." Die Sache ist aber die, daß die wirklichen Vurscheuscha'sten
heutzutage in der That Farbenverbindungen von bestimmter Art sein wollen,
also an ganz andern Absichten fremder Leute gar nicht gemessen werden sollten,
während diese Neo-Germanias und wie sich die Reformburschenschaften sonst
nennen, oft genug das Ziel aussprechen, alle Studenten — ohne jede Prü-
fung der Person! — in sich zu vereinigen und zu diesem Zweck sogar schon
gelegentlich Einzeichnungslisten ausgelegt haben, allerdings erfolglos. Dann
sollten sie also doch ihren Farbenpopanz lassen und Propagandavereine werden.
Aber damit würde die Frage brennend werden, was sie denn eigentlich wirk¬
lich bestimmt „wollen." Wir fürchten, der Kulturfortschritt allein genügt nicht,
und dafür ist außerdem schon die „freie wissenschaftliche Vereinigung" da.
Es steckt trotz alledem und auch bei aller wirklichen oder anempfnndnen
Mensurangst in vielen dieser jungen „Reformer" etwas tüchtiges und gutes,
sogar neben allein auch immer noch der unverwüstlich gute nationale Zug
unsers heutigen Studentengeschlechts. Aber wir fürchten, wenn es so weiter
geht, werden sie nie aus der Unklarheit und der blinden Heeresfolge hinter
dem Schellengeläute der Redensart erlöst werden.
Wir wären noch lange nicht zu Ende; vortreffliche und tüchtige akade¬
mische Korporationen, wie die Leipziger und sonstige Gesangvereine, und manche
andre sind noch nicht genannt. Aber es ist nun doch an der Zeit, in einem
letzten Aufsatze wieder von der aufzählenden zu einer zusammenfassenden Be-
trachtung zu gelangen.
llvrgen reisen wir ins Kloster! sagte Vater eines Sommermorgens
zu Jürgen und mir. Wir waren überrascht, aber wir sagten
kein Wort, schon aus Furcht, daß wir uns, wenn wir dunnne
Fragen stellten, das Glück der Reise verscherzen könnten.
!. Wo liegt denn das Kloster? fragte ich nachher meinen Bruder.
Er lächelte überlegen: Weißt du das nicht? In Holstein liegt es, und
lauter alte Damen sind drin — furchtbar alt sind sie, kann ich dir sagen.
Heinrich ist schon mal mit Papa dort gewesen, und er sagte, er hätte nur
lauter steinalte Damen gesehen, nur eiuen einzigen Mann und gar keine Kinder.
Gar keine Kiuder? wiederholte ich erschrocken. Aber was sollen wir
denn da?
Wir sind eingeladen. Mama hat es mir eben erzählt, daß uns Fräulein
von Moldenwitt und Tante Emma eingeladen haben, etwas bei ihnen zum
Besuch zu sein. Wir müssen uns aber gut betragen, sonst werden wir wieder
fortgeschickt!
Bleibt denn Papa auch im Kloster? fragte ich.
Jürgen schüttelte den Kopf. Papa bringt uns hin und holt uns wieder ab!
Es entstand eine nachdenkliche Pause, und dann lachten wir vergnügt.
Papa war nicht immer gerade ein sehr bequemer Vater, man mußte ihm aufs
Wort gehorchen. Im Damenllostcr zu sein ohne ihn — diese Aussicht erschien
uns also nicht gerade unangenehm.
Auch schon der Gedanke an die Reise stimmte uns freudig, und alle Welt
nahm an unserm Vergnügen teil. Die ältern Brüder lachten zwar etwas be¬
leidigend, als ich von Line, unserm Mädchen, verlangte, daß sie meine gesamte
irdische Habe, meinen Winterhut und meinen Nadmantel einpacken sollte. Sie
sagten, es wäre Juni, und da brauche man keine Wintersachen. Ich meinte
gekränkt, die Klosterdamen sollten doch meinen neuen Hut sehn, der so wunder¬
hübsch wäre. Aber Line hielt es mit den Brüdern, betrachtete auch mi߬
trauisch eine halbgefüllte Flasche mit Tinte, die ich ihr ebenfalls hingestellt
hatte.
Ich muß doch an Mama schreiben! rief ich eifrig, während Jürgen vier
dicke alte Bücher in den Koffer warf.
Gott in hohen Himmel, was bringt der Jung mich da! murrte Line.
Meint das Kind, in so'n Koffer gehe allens?
Ich will Blumen pflücken und pressen! bedeutete sie Jürgen, aber auch
seine Bücher wurden verachtet. Blumens kannst auch hier pflücken; dazu geht
man nich auf Reisen, um so'n Unsinn zu macheu. Nun bringt mich man was
Vernünftiges her, sonst werdet ihr nie und nimmer fertig, und dann fährt
Papa ohne euch!
Diese Drohung verfehlte nicht ihre Wirkung, und wir kamen allmählich
zu der kummervollen Überzeugung, daß nicht alles, was wir so leidenschaftlich
liebten, uns auf die Reise begleiten könne. Der Koffer war wirklich schreck¬
lich klein — wie konnte nur der Sattler so kleine Koffer machen! Aber es
half nichts, wir mußten nus in diesen Umstand fügen. Selbst der lebendige
Laubfrosch, den mir Heinrich in einem Anfall von Rührung zum „Spielen"
auf der Reise geschenkt hatte, mußte zu Hause bleiben, weil sein grünes Glas
nicht mehr in den Koffer ging. Heinrich nahm sein Geschenk wieder, gab mir
aber nun statt dessen vier weiße Mäuse, die ich in einem Pappkasten auf dem
Schoße halten könnte. Eigentlich konnte ich Mänse nicht leiden, aber da ich
wußte, daß Heinrich Wert auf seinen Besitz legte, so wollte ich sie doch nicht
zurückweisen. Jürgen nahm dann noch als Handgepäck eine Schachtel voll
Grashüpfer mit, während uns Hans zur Reise einen Pferdezttgel schenkte.
Am andern Morgen hielt Hinrich früh vor der Thür, und wir waren
sehr verschlafen. Ich war den letzten Abend spät ins Bett gekommen, weil
ich bei mehreren Freunden lange Abschiedsbesuche gemacht hatte. Auch hatte
ich noch etliche Thränen vergossen über eine der vielen Enttäuschungen, die
selbst ein Kinderleben nicht verschonen. Eine alte Freundin hatte mir als
Reisegefährten einen zerbrochnen Käsig mit einem lebendigen Kanarienweibchen
geschenkt. Es war ein liebes Tier, das nicht nur fortwährend piepste, es
sollte auch in seinen Mußestunden mit großer UnVerdrossenheit Eier legen.
Man wird also begreifen, wie ich mich freute, einen solchen Schatz mein eigen
zu nennen, und wie die verschiedensten Pläne mein Hirn durchkreuzten. Noch
war ich nicht ganz entschieden, ob ich den Kanarienvogel für mich selbst zähmen
oder ob ich ihn der Taute im Kloster mitbringen oder ob ich eine Hecke an¬
legen sollte; da kam das Schicksal in Gestalt zahlreicher Angehörigen und verbot
mir die Annahme des Geschenks. Die Leute sagten nicht bloß, daß wir schon
genug solch dummes Getier hätten, sie behaupteten auch, daß dieses alte Weibchen
ein wertloser Besitz sei, mit dem man keine Hecke anlegen könne. Kurz,
Heinrich mußte deu Vogel seiner Besitzerin wiederbringen, und ich weinte sehr.
Zugleich beschlichen mein Herz in Betreff der weißen Mänse so schlimme
Ahnungen, daß ich beschloß, keinem Menschen etwas von ihnen zu sagen. Sie
wurden mit einer Semmel in meine kleine Umhängetasche gepackt, und ich
bohrte ein paar Löcher ins Leder, damit sie Luft bekommen könnten. Unter
diesen Vorbereitungen war es sehr spät geworden, und so konnte man mich
kaum erwecken, als die Reise nun vor sich gehn sollte. Der Abschied von
den Meinen aber wurde Jürgen und mir sehr leicht; wir dachten mir an das
bevorstehende Neue und fuhren, nachdem alle Müdigkeit abgeschüttelt war,
seelenvergnügt davon. Seid nur recht artig! vermahnte uns Mutter noch,
und wir lächelten mit großer Selbstgerechtigkeit. Wenn wir wollten, konnten
wir unheimlich artig fein — die alten Damen sollten sich wundern! Gro߬
vater schenkte uns sogar noch Reisegeld, eine Gabe, die uns in Entzücken ver¬
setzte und die kühnsten Pläne in uns aufsteigen ließ.
Ehe wir uns aber noch darüber geeinigt hatten, was wir uns alles
kaufen wollten, und ob mau wohl an einem Tage für zwei Bankthaler Bon¬
bons essen könnte, ohne krank zu werden, waren wir schon am Sünde; Ricks
setzte uus über, und nun befanden wir uns in Holstein.
Dies war schon an und für sich ein so großes Ereignis, daß wir gegen
unsre Gewohnheit ganz still wurden und unserm Vater folgten, der dem Führ¬
hause zuschritt. Denn auch auf der holsteinischen Seite befand sich ein Fähr¬
haus, das von einem Manne bewohnt war, der in dem Rufe unglaublicher
Grobheit stand. Alle Reisenden, die unsre Insel besuchen wollten, empfing
er mit den entsetzlichsten Borwürfen über die Bermesfenheit ihres Unternehmens.
Auch sollte er sich mit Vorliebe den reisenden Damen in einem sehr wenig
vorschriftsmüßigen Anzüge zeigen, besonders wenn sich die Post verspätete und
sie in der Nacht ankamen. Wir hatten in dieser Beziehung schon die inter¬
essantesten Geschichten von ihm gehört und hegten schon lange den leidenschaft¬
lichen Wunsch, ihn kennen zu lernen. Da war es denn eine rechte Enttäuschung
für uns, den Fährpächter in ganz anständiger Kleidung aus seinem Hanse
kommen und sogar den Hut vor unserm Vater abnehmen zu sehen. Und
dieser Enttäuschung folgte sofort eine zweite: unser Vater hatte wohl Extra-
Post bestellt, sie war aber nicht da, und wir mußten warten. So etwas kam
zu damaliger Zeit öfter vor, und die großen Leute hatten sich schon längst
eine gewisse Resignation deshalb zugelegt. Vater zog also ein Buch aus seiner
Reisetasche und setzte sich auf einen großen Stein am Wasser. Wir aber blickten
sehnsüchtig hinüber nach unsrer Heimatinsel. Auf dem blauen Wasser fuhr
Ricks mit einem großen Segelboote und „blinkerte" Dorsch; wir aber saßen
auf dein Festlande und fühlten uns verlassen. Wir hatten zuerst das Fähr¬
haus durchstreift, aber außer Tausenden von Fliegen nichts sehenswertes
gefunden, dann waren wir im Pferdestall gewesen, ohne auch da etwas besondres
zu entdecken, und nun saßen wir am Wasser.
Jürgen sagte, er Hütte schon immer gesagt, daß er nicht mitreisen möchte:
er wolle nicht ins Kloster, da sei es so langweilig; er wolle sein Taschentuch
an die Flaggenstange binden, dann käme Ricks und holte ihn. Ich erwiderte,
dann wollte ich auch mit. In diesem Augenblicke rief uns unser Vater. Er
hatte einen großen Teller mit Butterbrot vor sich stehen, auch etliche Gläser
voll Milch; dieser Anblick verbesserte unsre Stimmung, und als der Teller
leer war, hatten wir schon wieder so viel Reisemut, daß wir in lautes Freuden¬
geschrei ausbrachen, als sich die Extrapost endlich einstellte.
Sehr langsam ging es nun vorwärts, die Wege waren sandig, und der
Wagen schaukelte beständig. Gottlob, daß es eine offne Halbchaise war, und
so ging die Reise wenigstens ohne betrübende Zwischenfälle von statten. Nur
daß wir heute nicht mehr ins Kloster kommen konnten, sondern unterwegs
übernachten mußten, eine Nachricht, die uns sehr überaschend kam und uns
mit mannichfachen Befürchtungen erfüllte.
Giebt es wohl in Holstein Räuber? fragten wir unsern Vater, der beim
Beantworten unsrer Fragen eine rührende Geduld an den Tag zu legen
pflegte. Er verneinte entschieden; aber wir wurden doch sehr nachdenklich.
Unser Großvater hatte als Student einmal ein Abenteuer mit Räubern in
einem Wirtshause gehabt, und wenn er diese Geschichte erzählte, setzte er stets
hinzu, man dürfe nie in einem fremden Wirtshause übernachten. Und nun
sollten wir das heute thun! Jürgen und ich flüsterten viel mit einander, während
sich Vater allerlei vom Kutscher erzählen ließ. Es gab eine Geschichte — wer
hatte sie uns doch erzählt? — von einem Himmelbett, worin man, nachdem
man eingeschlafen war, vom Betthimmel wie ein Pfannkuchen plattgedrückt
wurde. Also für Himmelbetten dankten wir. Oder es kamen Diebe in das
Schlafzimmer und nahmen einem alles weg, vielleicht sogar das Leben, wenn
man aufwachte. Also man durfte nicht aufwachen; man mußte laut und tief
atmen, am liebsten schnarchen, um die Menschen sicher zu machen. Wir übten
uns also im Schnarchen, und dabei schliefen wir wirklich ein.
Als wir erwachten, hielten wir vor einem großen Hause. Die Sonne
war im Untergehen, und wie uns der Hausknecht aus dem Wagen hob, sahen
wir, noch schlaftrunken, auf die Straßen einer kleinen Stadt. Dann saßen
wir plötzlich in einer kühlen, dunkeln Gaststube, sollten essen und mochten nicht,
sondern blinzelten halb besinnungslos um uns.
Vater sand nicht viel Zeit, sich um uns zu bekümmern; er hatte zufällig
einen Universitätsfreund getroffen, und beide Herren unterhielten sich lebhaft.
Das Hausmädchen brachte mich zu Bette, während sich Jürgen energisch jede
weibliche Hilfe verbat. Wir hatten zwei aneinanderstoßende Zimmer und
glücklicherweise keine Himmelbetten. Als ich aber in den Kissen lag, wurde
ich wieder vollständig wach. War es die ungewohnte Umgebung, das fremde
Lager — kurz, alle Müdigkeit war von mir gewichen. Ich setzte mich im Bett
aufrecht und suchte meine Gedanken zu sammeln. War ich wirklich fern von
den andern Brüdern, von der Insel, von zu Hause? Und als mir immer
klarer wurde, daß ich mich in der Fremde befand, kam das bitterste Heimweh
über mich, und das Gefühl eines solchen Leids, daß ich es noch heute
empfinde.
Wie lange ich in die Kissen geschluchzt habe, weiß ich nicht; plötzlich aber
öffnete sich die Thür, und Jürgen huschte herein. Komm schnell! rief er,
draußen vor der Thür spielen junge Katzen mit deinen Sonntagsstiefeln!
In einer Sekunde war ich aus dem Bett und aus dem Vorplatz. Dort
zerrten drei junge, halberwachsene Katzen seelenvergnügt an meinen Stiefeln,
und die Kcitzenmntter saß auf der Bodentreppe und sah dem Treiben ihrer
Kinder zu. Es war reizend — aber es waren doch meine Sonntagsstiesel,
und ich stand ratlos vor der Notwendigkeit, mein bestes Eigentum möglichst
zu schützen. Ich gönnte ja den Katzen ihr Vergnügen von Herzen, aber ich
dachte auch an Mutter. Jürgen warf ihnen ein paar fürchterlich alte Pan¬
toffel hin, die er unter seinem Bett hervorgegraben hatte, aber die ließen sie
liegen und bewiesen damit allerdings einen achtungswerten Geschmack — aber
was sollte ich um ansaugen? Da durchzuckte mich ein rettender Gedanke:
ich wollte ihnen eine weiße Maus opfern — nur eine, drei waren genug für
die Taute. Sie lebten noch alle vier, vorhin erst hatte ich mich davon über¬
zeugt, denn sie hatten nicht bloß die Semmel, sondern auch ein Stück Seife
aufgefressen, das ich in die Tasche gesteckt hatte, Veilchenseife. Sie schienen
ordentlich dick geworden zu sein, wie ich mich durch vorsichtiges Öffnen der
Tasche überzeugt hatte. Die magerste von den vier sollte also den Kätzchen
überliefert werden. Zum Spielen natürlich; wenn sie dann schließlich verspeist
wurde, schadete es auch nicht allzuviel.
Jürgen ging mit sehr viel Begeisterung auf meinen Plan ein, und weil
er sich von mir an Großmut nicht übertreffen lassen wollte, holte er sein
Grashüpferkästchen, um auch sein Teil zum Katzenvergnügen beizutragen. Aber
Grashüpfer sind sehr unzuverlässig, sie waren alle verschwunden. Auf welche
Weise sie ihre Flucht bewerkstelligt hatten, war uns ein Rätsel. Jürgen aber
bemerkte ganz richtig, was verloren sei, daß sei verloren, ich solle nur die
Tasche mit den Mäusen holen. Dies geschah denn auch, Jürgen und ich
knieten beide auf dem matt erleuchteten Flur, die Katzen sprangen um uns
herum, und wir versuchten, eine Maus aus der Tasche herauszuholen. Aber
wir mochten sie nicht recht anfassen, denn plötzlich geschah es, daß alle vier
Weißen Mäuse zwischen den Katzen herumliefen, daß die Katzenmutter beinahe
einen Purzelbaum von der Bodentreppe schoß, um möglichst schnell zu ihnen
zu kommen, und daß es eine große, interessante Jagd gab. Wir waren plötzlich
mit unsern Stiefeln allein, und Jürgen meinte, wir sollten nur wieder zu
Bette gehen.
Ich wußte nicht recht, wie ich meinen Verlust auffassen sollte, ob es
besser wäre, zu weinen oder zu lachen. Da kamen Schritte die Treppe herauf,
und wir huschten in unsre Schlafzimmer, und als ich wieder im Bette war,
schlief ich auch bald wieder und fuhr unwirsch in die Höhe, als Jürgen mich
abermals rief. Steh doch auf und sieh aus dem Fenster! sie werfen einen
Vetrunknen aus der Thür, und er schimpft! Höre nur! aber der kann fluchen!
So lagen wir denn aus dem weitgeöffneten Fenster hinaus und horchten
mit Spannung auf den Monolog eines Arbeiters, dem die Thür gewiesen
worden war. Spät konnte es noch nicht sein, denn es gingen noch Leute
auf der Straße; wir meinten aber, es sei mindestens mitten in der Nacht,
und kamen uns dabei ungemein interessant vor. Und alles, was der Arbeiter
sagte, schien wunderhübsch zu sein, nur konnten wir leider den größten Teil
seiner Rede nicht verstehn. —
Am andern Morgen bestiegen wir wieder unsern Wagen, nachdem wir
unsäglich viel Kaffee getrunken und Butterbrot dazu gegessen hatten. Ich war
selig: der Wirt hatte mir eine junge Katze geschenkt.
Das is ein kleinen Kater und ein feines Tier, sagte er; da wirst noch
Spaß an haben! Und ein Mäusefresser! Was sein Mutter is, die is auch
hinter die Mausens her, wie nichts gutes. Heut ganz früh zog sie mit so'n
weißen Diert herum, ich wußt gar nich, daß wir auch Weiße Mäusens hatten!
Na, das is denn ja auch einerlei: willst ihm haben, kannst ihm kriegen!
Na, ob ich „ihm" haben wollte! Eilig nahm ich den kleinen, rot und
schwarz getigerten Wollball an mich und erklärte, zeitlebens für ihn sorgen
und ihn lieben zu wollen. Vater sah zwar etwas bedenklich aus, am liebsten
hätte er wohl den Kater dankend abgelehnt; aber mein Jammer über das ver¬
sagte Kanarienweibchen stand ihm vielleicht noch zu lebhaft vor der Seele.
So durfte ich unbehelligt davonfahren, mein Geschenk auf dem Schoße.
Unterwegs entspann sich ein lebhafter Meinungsaustausch zwischen meinem
Bruder und mir wegen eines Katernamens. Wir hatten eine Hauskatze, die
auf den Namen „Miesch" hörte: so schlecht durfte dieses Tier nicht behandelt
werden, die ganze biblische Geschichte, die großen und die kleinen Propheten
boten ja reiches Namenmaterial für den Täufling. So beschloß ich denn, ihn
Zephanja zu nennen, worüber Jürgen höhnisch lachte. Er war überhaupt
etwas beleidigt, weil er keine Katze geschenkt bekommen hatte, und ich hatte
uun unter seiner Übeln Laune zu leiden. Er sagte, der Kater solle Garibaldi
heißen; das wäre der hübscheste Name, den es gäbe. Zephanja wäre ein
Jude gewesen, ein Jude aber dürfe nicht bei einem christlichen Kater Gevatter
stehn. Da ich aber nie etwas von Garibaldi gehört hatte, und Jürgen auf
meine Fragen nach ihm nur antwortete, Großvater habe manchmal von ihm
vorgelesen, so widerstrebte ich diesem Namen heftig und äußerte mich über
Garibaldi in einer Weise, die Jürgen in hohem Grade mißfiel. Ich schlag
ihn, und er schlug mich wieder, dann weinten wir beide, und als sich Bater,
der sich ans den Bock neben den Kutscher gesetzt hatte, ernsthaft uach uns
umsah, trockneten wir unsre Thränen und zankten uns leise weiter. Ich warf
Jürgen den Verlust meiner weißen Mäuse vor, und er sagte, ich wäre Schuld,
daß die Grashüpfer Reißaus genommen hätten, dann rief er plötzlich mit
lauter Stimme nach Garibaldi, und ich nach Zephanja; denn der Kater war
mein, und er sollte Zephanja heißen.
Aber Garibaldi »lis-s Zephanja war nicht zu errufen. Er hatte unser
kleines Handgemenge benutzt, auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Wann
er vom Wagen gesprungen und wohin er gelaufen war, ist stets ein unauf¬
geklärtes Geheimnis geblieben. Jedenfalls war die ganze Streiterei gänzlich
überflüssig gewesen, weil Vater nicht umkehren und Zephanja suchen lassen
wollte; denn Zephanja sollte er in meiner Erinnerung heißen, das nahm ich
mir vor, und nun hatte auch Jürgen nichts mehr gegen diesen Namen.
Die unerwartete Flucht des Katers gab dem Rest unsrer Reise etwas
abenteuerliches. Jeden Baum, an dem wir vorüberfuhren, sahen wir darauf
an, ob etwa der Flüchtling darin säße — denn er konnte ja eben so gut vor¬
wärts wie rückwärts geflohen sein, und Jürgen erzählte viele Geschichten von
Flüchtlingen, die sich durch tausend Gefahren durchgeschlagen hatten. Auf
diese Weise verging die Zeit sehr schnell, und als wir am Kloster an¬
kamen, wunderten wir uns, daß es schon Mittag war.
(Schluß folgt)
Zu den radikalen Mitgliedern des Frank¬
furter Vorparlaments gehörte auch der im Jahre 1814 zu Huckeswagen geborne
Rittinghcmsen. Als die Versammlung beschloß, die Losung der brennenden Fragen
einem erst noch zu wählenden Parlament zuzuschicken, erachtete er die Sache Deutsch¬
lands und der Demokratie für verloren. Er hatte den Grundsatz aufgestellt: recht¬
mäßige Regierungen giebt es nicht mehr in Deutschland; indem die Fürsten nach
der Befreiung des Landes im Jahre 1815 die Pflicht, eine Zentralgewalt zu
schaffen und dem Volke eine Verfassung zu geben, nicht erfüllten, haben sie ihre
Rechte verwirkt und dürfen sich nicht beschweren, wenn jetzt das Volk thut, was
gethan werden muß. Er schöpfte aus solchen Erfahrungen eine tiefe Abneigung
gegen gewählte Volksvertreter und bildete die Meinung aus, wie das Königtum
der Herrschaft des Adels und des Klerus, so entspreche der Parlamentarismus der
Herrschaft der Bourgeoisie; in Zukunft aber solle nicht mehr eine Klasse herrschen,
sondern das Volk sich selbst regieren, daher müsse das Volk selbst auch die Gesetze
geben. „Die Gesetzgebung unmittelbar durch das Volk" wurde fortan die fixe
Idee, deren Verwirklichung er seine Lebensarbeit widmete. Zunächst wandte er
sich den Sozinlisten zu, trat für die Verstaatlichung der Eisenbahnen und Zettel-
bcinken ein, gründete mit Marx und Engels die „Neue Rheinische Zeitung" und
mit Becker, dem roten, die „Westdeutsche Zeitung," und zog sich denn vorüber¬
gehend uach Frankreich zurück, wo er Considsrant für seine Ansicht gewann, wäh¬
rend andre Sozialisten, wie Louis Blaue, die Möglichkeit der Gesetzgebung un¬
mittelbar durch das Volk bestritten. Nachdem der Staatsstreich allen Repnblikaner-
Plänen ein Ende gemacht hatte, widmete er seine Thätigkeit eine Zeit lang der
Schweiz; der Kanton Zürich soll ihm seine ultrademokratische Verfassung zu ver¬
daute» haben; das später für die ganze Schweiz eingeführte Referendum aber be¬
zeichnete er als einen sehr unbefriedigender Kompromiß zwischen seiner Idee und
dem Parlamentarismus. Jene fuhr er fort in Broschüren und Zeitungsartikeln
zu verfechten. Er wurde einigemal in den deutschen Reichstag gewählt, und leistete
der Stadt Köln in ihrem Streit mit dem Militärfiskus über das Eigentum des
Festungsterrains durch Rechtsgutachten gute Dienste. Gestorben ist er am 29. De¬
zember 1890 zu Orth in Belgien. Nach seinem Tode haben Verehrer sein Buch
über die Gesetzgebung unmittelbar durch das Volk, oder vielmehr eine Sammlung
von Aufsätzen und Streitschriften darüber, aufs neue herausgegeben nnter dem
-^nel: I^a, I^s^ist^t-ion Lirssts xa,r 1s psnsils se öff aclvor8airss, pa,r Al. Ritting-
lumson. Umrvslls säition, miA'msntss et uns notios biog'raxliü>no. IZrnxslIss.
l^ehe^us se (Ah. Die „biographische Notiz," der wir die obigen Angaben ent¬
nommen haben, ist so schludrig abgefaßt, daß man daraus weder die chronologische
Reihenfolge der Begebenheiten, noch den bürgerlichen Beruf Rittinghausens, noch
den Wahlkreis, den er im deutschen Reichstage vertreten hat, seinen Vornamen
Moritz aber uur zufällig aus einem eingestochenen Briefe erfährt. Dafür wird
uns die Genealogie der Grafen von Blois aufgetischt, weil eine Großmutter
Nittinghansens diesem mittelalterlichen Rittcrgeschlecht entsprossen war. Ans diese
erlauchte Abstammung wird — komisch genug in dem Nekrologe auf einen radikalen
Achtundvierziger — seine Neigung für die Politik zurückgeführt. Mit dem Hin-
weis auf das Schweizer Referendum, um dessen Einführung sich der Verstorbne
Verdienste erworben habe, wurde uns das Büchlein übersandt. Wir erwarteten
daher nähere Aufschlüsse über diese Einrichtung zu finden, die sich als durchführbar
und uicht unnützlich erwiesen hat, und Ratschläge, wie sie auch anderwärts, etwa
bei uns in Deutschland, als Vorbeugungsmittel gegen parlamentarische Mißgriffe
verwendet werden könnten. In dieser Erwartung sehen wir uns jedoch getäuscht,
und das, was das Buch hauptsächlich enthält, die breiten Auseinandersetzungen
zwischen Riltinghausen und den französischen Schwarmgeistern von 1850, hat kein
Interesse für den praktischen Politiker von heute. Die Untersuchung darüber, wie
zu verfahren wäre, wenn das in Tausendschaften abgeteilte Volk — nicht etwa
vorgeschlagne Gesetze annehmen oder ablehnen, sondern jedes Gesetz wirklich
Satz für Satz machen sollte, kommt entweder vierzig Jahre zu spät oder vierzig
Jahrhunderte zu früh. Das Buch hat also uur für spekulirende Theoretiker Wert
und als Beitrag zur Geschichte der französischen Demokratie vor dem Staatsstreich.
An hübschen und glücklichen Gedanken kann es ja natürlich in dem Buche eiues
geistig bedeutenden Mannes nicht fehlen, und etwaige konservative Leser werden
sich freun, zu finden, das alles Uhle, was sie dem Parlamentarismus nachzusagen
pflege», ihm schon vor vierzig Jahren von einem radikalen Sozialisten nachgesagt
worden ist.
Unter dieser Überschrift haben wir in Heft l
des Jahrgangs 1891 ein Buch des Deutschamerikaners Dr. Paul Carus: VmrÄa-
mcmral I'roblsnrs besprochen. Der Verfasser bedauert in einem freundlichen
Schreiben an dieser Besprechung „nnr zweierlei." Erstens, daß wir ihn in einigen
Punkten mißverstanden hätten. Aus der Aufzählung dieser Punkte sehn wir jedoch
zu unserm Vergnügen, daß wir ihn in der Hauptsache richtig verstanden haben
müssen. Er führt nämlich nnr drei solche Punkte an. In zweien von unter¬
geordneter Bedeutung, mit deren Angabe wir die Leser nicht belästigen wollen,
„scheint es ihm" nur so, als hätten wir ihn mißverstanden, und in dem dritten,
der von größerer Bedeutung ist, hat er selbst offenbar uns mißverstanden; er
wehrt sich nämlich gegen den Vorwurf des Materialismus, den gegen ihn zu er¬
hebe» uus gar uicht eingefallen ist. Zum andern bedauert er, daß wir „eine philo¬
sophische Schrift vom theologischen Standpunkte beurteilen." Das ist sehr heiter.
Haben wir doch keine andern als logische, naturwissenschaftliche und der Erfahrung
entnommene Gründe gegen ihn ins Treffen geführt und uns weder auf die Bibel
noch auf die Kirche berufen. Aber freilich, wir haben uns zum Glanben an den
persönlichen Gott und an die Unsterblichkeit bekannt, und wer das thut, mag er
auch auf streng philosophischem Wege dazu gelangen, der ist ein „Theologe," heiße
er mich Plato oder Aristoteles, Newton oder Leibniz, Voltaire oder Kant. „Was
übrigens — schreibt der Herr an die Redaktion — die persönliche Unsterblichkeit
und die Idee eines persönlichen Gottes angeht, so werde ich dieselben gern an¬
nehmen, falls mir Ihr Referent die bloße Möglichkeit derselben nachweisen kann."
Der „Referent" ist aber nicht im mindesten bekehrnngssüchtig; und außerdem wäre
es eine Unverschämtheit, wenn er die Möglichkeit nachweisen wollte, nachdem Ari¬
stoteles und Kant die Notwendigkeit nachgewiesen haben. Ein Glück ist es noch,
daß Dr. Cnrus das deutsche Vaterland nicht will entgelten lassen, was die Grenz-
boten an ihm verbrochen haben. Ein Postskrivtum lautet: „Daß Deutschland nicht
gar so rückschrittlich ist, ersehe ich ans der neuen Auflage Von Meyers Konver¬
sationslexikon, welches sub voos »Theologische Litteratur« meiner Schrift sehr an-
erkennend gedenkt und sie nicht als materialistisch auffaßt." Da hätten wir also
ein recht bequemes Mittel, uus vor dem nicht ganz ungefährlichen Rufe reaktionärer
Gesinnung zu schützen, wir brauchten nur Herrn Dr, Carus ohne Einschränkung
zu loben. Aber sieht er nicht eine Beleidigung darin, daß ihn Meyer unter die
Theologen versetzt hat? Mittlerweile ist uus ein andres Buch von ihm zugegangen:
Lovl ok Nun, an invsstigÄtioa ok dirs laves c>t pd^sioloxi«^ a,nel SxxsrinroQt-U
xs^oUvIog^, dz^ Dr. ?an1 (Zarus, vnd. 152 illnstratioQS »va äisg-ranis. (ZKivaAv,
I'ils Oxsn dünn-t I'udliÄiing' Oourxmiv 1891. In formeller Beziehung können
wir diesem Werke dasselbe Lob erteilen wie den Fuudamentalvrobleme»: daß es
anziehend, klar und verständlich geschrieben ist; die Illustrationen sind höchst sauber.
Was aber den Inhalt anlangt, so bietet diese Psycho-Physiologie kaum etwas, was
mau nicht auch bei Lotze, Wunde und andern deutschen Gelehrten fände, deren
Werke außerdem uoch ausführlicher und gründlicher sind, sodaß sich deutsche Stu¬
denten kaum veranlaßt sehen dürften, zu jenem amerikanischen Erzeugnis zu greifen.
Besonders interessirt hat uns die Abhandlung: l^los-fürs s,nÄ ?ain, über die Be¬
deutung von Lust und Schmerz für das Leben des Organismus, weil nur denselben
Gegenstand ein Paarmal in deu Grenzboten gestreift haben. Carus geht zwar
etwas tiefer darauf ein, aber sein Versuch ist doch uoch weit entfernt davon, die
Sache zu erschöpfen und die in Betracht kommenden widersprechenden Erscheinungen
befriedigend zu erklären.
Außerdem sind uns drei Hefte der Vierteljnhrsschrift lluz Monist- zugegangen,
die ebenfalls von der Oxsn Oourt-Verlagsgesellschaft und unter Leitung des 1>r. Carus
herausgegeben wird. Wir ersehen aus den Aufsätzen, die sie enthält, daß die
amerikanische Naturphilosophie auf der Höhe der englischen, d. h. nicht ganz aus
der Höhe der deutsche» steht, müssen aber bekennen, daß uus der Titel mit den
Philosophischen Grundsätzen des Dr, Carus in Widerspruch zu stehen scheint. Er
will Positivist sein und von jenseitigen Ursachen nichts wissen. Wie kommt er da
überhaupt dazu, die ganz metaphysische Frage: Monismus oder Dualismus? auf¬
zuwerfen und sogar die Verbreitung der monistische» Ansicht zur Hauptaufgabe
seiner philosophische» Lebensarbeit zu machen? Wir unsrerseits sind weit echtere
Positivisten als er, denn wir werfen jene Frage gar nicht auf. Und da er wahr¬
scheinlich die Greuzboteuaufsätze, in denen wir den Gegenstand wiederholt behandelt
haben, nicht gelesen hat, so wollen wir ihm unsre Stellung zur Sache wenigstens
andeute». Im Oktoberheft 1830 seiner Zeitschrift schreibt er über den Ursprung
des Geistes. Da heißt es auf S. 84: ,,Der Dualismus nimmt zwischen den
beiden Reichen, dem der fühlenden und denkenden Wesen einerseits und dem der
empfindungslosen andrerseits, eine unübersteigliche Kluft an; der Monismus hingegen
behauptet, es sei gar keine Kluft vorhanden; die beiden Gebiete seien gar keine
verschiednen Provinzen, »ut el»e Grenze, wo eins in das andre übergehe, sei gar
nicht anzugeben. Die Sauerstvffatome sind, während wir sie einatmen, in keiner
von Empfindungen begleiteten Thätigkeit begriffen, aber bald werden einige von
ihnen zur Erzeugung unsrer besten Gedanken beitragen und vom intensivsten Be¬
wußtsein begleitet sein. Hierauf »'erden sie in der Form von Kohlensäure wieder
ausgeschieden werden." Diese Sätze beweisen, dnß Herr Carus die von Lotze ein
für allemal klar gemachte Ker»-- und Grundwahrheit der Philosophie noch gar nicht
begriffe» hat. Diese Wahrheit ist nicht etwa die Antwort auf die Frage, ob das Ding,
das da den Raum erfüllt und dessen Teile durch ihre fortwährende Bewegung und
Umgruppiruug unsre Sinneswahrnehmungen erzeugen, und das Ding, das in uus wahr¬
nimmt, empfindet und denkt, ein und dasselbe Ding seien, ob unsre Seele ein Sauer-
Stoff- oder ein Kvhlenstoffatvm, oder eine Atomgruppe sei, und ob Körperatome Seele
werden können. Möglich, daß dem so ist, möglich auch, daß Seelen- und Körpercitome
verschiedne Wesenheiten sind; wir wissen es nicht, wir werden es mit den Hilfsmitteln
irdischen Wissenschaft niemals herausbekommen, und was wir schlechterdings nicht der
unssen können, das ist uns gleichgiltig; die Frage nach Monismus und Dualismus
überlassen wir den MetaPhysikern alten Stils und den Theologen. Sondern dieses
ist die durch unsre heutige Naturerkenntnis klar gewordne Wahrheit, daß die Vor¬
gänge der Körperwelt und die Sceleuerlebnisse grundverschieden von einander und
unvergleichbar mit einander sind. Mag Seele und Sauerstoffatom stofflich ein und
dasselbe Ding sein, aber als Seele ist es nicht Sauerstoff, und als Sauerstoff ist
es nicht Seele; Kohlensäure bilden und Blutkörper rot färben auf der einen, Kohlen¬
saure riechen und rote Farbe sehen auf der andern Seite sind Vorgänge, die
schlechterdings keine Ähnlichkeit, keine Verwandtschaft mit einander haben. Alle Vor¬
gänge der Körperwelt sind bis in unser Gehirn hinein weiter nichts als Schwin¬
gungen, Annäherungen, Abstoßnngen, Umgrnppirnngen. Zwischen dem ganzen Ver¬
lauf und der ganzen Verkettung dieser ewig sich gleichbleibenden äußern Anstöße
einerseits und den Farben, Tönen, Gerüchen, die wir auf diese Anstöße hin mahr¬
nehmen, den Lust- und Schmerzempfindungen, die sie uns verursache», andrerseits
besteht nicht die geringste Ähnlichkeit. Von abgestufter Entwicklung, von allmählichen
Übergängen ans einem Gebiet ins andre kann gar keine Rede sein. Nicht bloß
mit den erhabnen Gedanken Platos, sondern schon mit den Lustgefühlen eines
Bauerlümmels oder mit der Schmerzempfindung des getretner Wurms haben die
organischen Vorgänge im Gehirn keinerlei Ähnlichkeit oder Verwandtschaft; sie haben
damit, bloß ihre Dascinsform angesehen, rein gar nichts zu schaffen. Die Gruppen
der Körperatome haben unter sich eine Stufenleiter vom einfachen zum zusammen¬
gesetzten, und die Seelen unter sich eine andre von der stumpfen zur scharfen, von
der groben zur seinen, von der einfältigen zur vielfältigen Empfindung. Die zweite
Stufenleiter läuft der ersten parallel, und die Wesen dieser dienen den Wesen jener
als Werkzeuge; in den lebenden Wesen sind Beweguugsanstöße und Empfindungen
mit einander verkettet. Aber von einem Übergange des körperlichen Daseins zum
geistigen zu sprechen hat keinen Sinn. Niemals geht eine bloß organische Zelle
in eine empfindende über, sondern bei einer bestimmten Gruppirung organischer
Zellen tritt allemal Empfindung als etwas völlig neues hinzu, das mit dem orga¬
ttischen Prozeß weiter nichts zu schaffen hat, als daß es ohne ihn nicht thätig sein,
nicht wirklich werden kann, wie der Violinvirtuos nicht thätig sein, nicht wirklich
werden kann ohne eine Violine, deren Holzteile, Saiten und Saitenschwinguugen
ja ebenfalls etwas völlig andres sind und in alle Ewigkeit etwas völlig andres
bleiben als die musikalischen Gedanken, Empfindungen und Willensnnstöße des
Spielenden. Und wenn wir auch Herrn Dubois-Rehmvnd nicht Recht geben, wenn
er Goethen belehrt, sein Faust habe als ordentlicher Professor das arme Gretchen
nicht sitzen lassen dürfen, so bleibt doch sein andres Wort unumstößlich wahr, daß
wir niemals begreifen werden, wie ein Körperatom jemals dazu kommen konnte,
zu empfinden und um sich selbst zu wissen. Und um auch noch einen „reaktionären"
Franzosen anzuführen, der freilich einen deutschen Namen trägt, so sagt der Phy¬
siker G. H. Hirn in seiner Schrift !,!>> vio tuturo se 1a. soionvs inoüsrns: (Zow-
msnt uns xsirsss <ze surtout soinmsnt 1a. sonssisnos c^is nous a.von.8 Ah nons-
msmss xouvcmt sortir An olroo als t-urd Ah millions qri'mi vmiclra. Ah dillss
61oMqn<Z8 trof xstitss, v'sse so qns ,js laisss Z. Ä'autrss 1s soin Ä'sxxllquse se
surtout Ah LoinxrsirÄrv sux-intzmos; ,js mo rßvuss loi l'urd lrnindlsmsnt. (Wir
entnehmen dieses Zitcit der kleinen aber guten gegen L. Büchner gerichteten Schrift:
„Was wissen wir über die Unsterblichkeit der Seele?" Von I^lo. Dr. Riemann.
Magdeburg, Heinrichshofen, 1891.)
Geehrter Herr Reinhold Steig! Seit ich im
Augustheft der Deutschen Rundschau Ihren Aufsatz über Bettina gelesen habe, ver¬
läßt mich die Angst nicht mehr, ich könnte mit der Zeit berühmt und Sie könnten
nach meinem Tode mit der Herausgabe meiner Briefe betraut werden. Befreien
Sie mich barmherzig vou dieser Sorge, mein Herr, indem Sie mir versprechen,
wenn schon das Schicksal das erste mit mir vorhaben sollte, doch zum zweiten
Ihre Hand nicht zu bieten. Es kann ja auch für Sie nur von Vorteil sein, wenn
Sie dem Publikum selbständig und unumwunden sagen, was es von Ihnen zu
halten hat, anstatt es darauf ankommen zu lassen, ob sich dieses oft so begriffs-
stützige Publikum die Mühe macht, Ihre Lorbeeren aus meinen Briefen herauszu¬
finden. Denn so müßte es geschehn, wenn Sie in der an Bettinen als „die
höchste und vornehmste" von Ihnen erkannte Art, vorhandne Briefe zu verwenden,
mit den meinigen verführen. Sie sagen: „Wer es übernimmt, die intimsten Ge¬
danken andrer Menschen der Öffentlichkeit zu übergeben, hat nicht nur das Recht,
sondern die Pflicht, nicht geeignetes auszuscheiden." Einverstanden. Sie fügen
aber hinzu, es hätte Bettinens „Arbeitsgrundsätzen" besser entsprochen, Ansichten,
die ihr nicht paßten, „zu verallgemeinern" oder „ans ein richtiges Maß zurückzu¬
führen." Wenn nun Frau Bettinas „richtiges Maß" auch das Ihrige wäre, dann
dreimal Wehe! über die Glaubwürdigkeit alles dessen, was das Fegefeuer Ihrer
Bearbeitung durchschritten hat.
Bisher war ich der Meinung, daß man durch die Veröffentlichung von Briefen
Aufklärung über den Charakter des Briefschreibers und nicht über den des Heraus¬
gebers zu verbreiten beabsichtige; daß man Erläuterungen, die den Schreibenden,
seine Umgebung oder die Zeit, in der er lebte, besonders charcckterisiren. als Noten
oder als Anhang beifügen könne; daß jedoch Briefe Urkunden und den amtlichen
Urkunden darin gleich seien, daß jede unbefugte Änderung durch fremde Hand mit
dem Namen Fälschung belegt wird. Sie aber belehren mich, daß die „höchste und
vornehmste Art, vorhandne Briefe zu verwenden," die ist, das, was in den
Briefen für den Herausgeber ungünstig lautet, entweder wegzulassen oder durch
günstig klingende Bemerkungen, die der Betreffende „hätte fo geschrieben haben
können," zu ersetzen. Man schöpft nach Ihrer Meinung „das Gold der Wahr¬
heit" nicht aus den unter dem lebendigen Eindruck entstandnen schriftlichen Mit-
teilungen, sondern nach Jahren „aus der Fülle wiederbelebter Erinnerung." Ich
bezweifle sehr, daß „man" das thut, aber uoch mehr, daß Bettina es gethan hat;
scheut sie sich doch nicht, die Aufzeichnungen bedeutender Menschen „ihren Zwecken"
(die sich mit dem Begriff Wahrheit nicht immer decke») entsprechend zu verändern,
ja selbst Thatsachen, die dem Schreibenden damals noch nicht bekannt sein konnten,
einzuflechten, denn, sagen Sie, sollte sie nach einer Reihe von Jahren ,.diese falsche
Meinung ins Publikum bringen?" Würden Sie wohl, wenn Sie in die Lage
kämen, einen etwa aus dem vierzehnten Jahrhundert stammenden Brief zu ver¬
öffentlichen, in demi von den drei Weltteilen die Rede wäre, mit kühner Hand diese
drei in fünf verwandeln, um nicht nach Jahrhunderten eine falsche Ansicht ins
Publikum zu bringen?
,.Nebensächliches" läßt Bettina weg; weiß sie aber so genau, ob nicht manche
rein äußerliche Nebensächlichkeit aus der Feder ihres Bruders der lesende» Nach-
Welt interessanter sein wird, als mancher Beitrag zur Verherrlichung ihres Geistes
aus ihrer eignen? Wie kann man sich unterstehn, an einem so prächtigen, von
Humor und gesundem Menschenverstand sprudelnden Brief, wie dem von Ihnen im
Original wiedergegebnen von Clemens Brentano, anch nur ein Wort zu andern?
Wie kann man nun gar eine so läppische Stelle eigner Fabrikation einfügen, wie
die vom Singen, Springen, Kuchenbäcker u. s. w., von der nur wenige Menschen
gleich Ihnen glauben werden, daß Clemens „so hatte geschrieben haben können."
Nur in einem Punkte bin ich mit diesem Bruder uicht einverstanden; darin näm¬
lich, daß er es ,,überraschend und ohne Verstand" nennt, wenn Karoline von Günde-
rode seiner Schwester „kurz" die Freundschaft aussagt. Schon die Art, wie diese
den kurzen Brief der Freundin behandelt, scheint dies Verfahren nachträglich zu
rechtfertigen. Die Bitte um die französischen Übersetzungen, die Savigny der
Mindernde versprochen hatte, ist — auch in Ihren Augen — so „äußerlich," daß
es Bettina „unharmonisch" erscheinen muß, sie ruhig stehn zu lassen; dagegen wird
ein Plan der letztern selbst für die Nachwelt so wichtig und interessant befunden,
daß sie die ihn nur andeutende Stelle hier wegläßt und dafür in einigen vorher
eingefügten Briefen diesen aus überschwänglichem Backfischtum entsprnngnen Plan
auseinandersetzt. Sie beabsichtigt nämlich, sich durch mathematische und andre
Studien einen eignen Weg zur Erkenntnis der Göttlichkeit zu bahnen. Und wenn
ihr zum Schluß die Freundin empfiehlt, sie möge nicht ermüden, „fleißig zu sein,"
so macht sie aus diesem „Zerrbild" die „Wahrheit"! „ermüde doch nicht, uns zu
schreiben." Sollte es ein ganz zufälliges Zusammentreffen sein, daß auch Clemens
ihr rät, „ohne Übereilung oder Faulheit ein halb Dutzend leinene Stiefelstrümpfe
zu stricken," und daß er es einen „Beweis von Faulheit und Langeweile" nennt,
wenn Frauenzimmer annehmen, die Leute seien nur auf der Welt, sie mit häufigen
Briefen zu unterhalten?
Aus allen begangnen Ver—änderuugen geht für mich, die ich nicht mit dem
von Ihnen gewünschten warmen, nachfühlenden Herzen an Bettinas Schöpfungen
herantreten kaun, deutlich hervor, daß es ihr dabei weniger, wie Sie glauben,
um die Schaffung eines litterarischen Kunstwerkes, als um ihre Selbstverherrlichung
zu thun war. Ihr, dem begabten, verzognen Kinde einer Zeit und eines Kreises,
denen Schöngeisterei den Stempel aufdrückte, kann man solche Mißhandlungen allen¬
falls verzeihen; auch ist es begreiflich, wenn sich der begeisterte Verehrer bemüht,
Bettinens Verfahren aus ihrer Natur zu erklären, durch ihr Wesen gewissermaßen
zu entschuldigen. Dem Kritiker aber steht es nicht an, als Gesetz aufzustellen, was
Ju den Dail^ Rsvs hatte dieser
Tage eine Dame die auch in England zeitgemäße Frage aufgeworfen, warum unsre
jungen Männer nicht mehr heirateten? Dies hat der Zeitung in dem klassischen
Lande der Clerks, Blaustrümpfe und ältern Mädchen eine Flut von Antworten ein¬
getragen, mit denen sie eine Woche lang täglich mehrere ihrer riesigen Spalten
angefüllt hat. Den ungefähren Inhalt mag man aus den Unterschriften erraten:
oncz iivinA in Iiozxz, ars viro is loolcin"' rouncl, denn: cküsillnsionü, doive) ma,r-
risÄ, dirs ÄruÄAs, .2 sMsrsr, aber auch: eilf wisdanä ok s, äoniostioateü vonuur,
silvsr veMing', ^ oontsntsci sxinstsr ok ovsr tllirtF, weiter: snrg.11 movens, siiort
ok vasli, tlrrvs xoor girls viro vlriglr to murr^ 011, mnaU msmrs, endlich:
iZ. LLlloolg'ii'l. Die vint^ Nsvs widmen nun der „Tagesfrage" einen besondern
Artikel. Sie schicken voraus, daß sie nur den allergeringsten Teil der ihnen zu-
gegcmgnen Zuschriften hätten veröffentlichen können, und daß ihnen die eine Woche
mehr Material für die wichtigsten sozialen Fragen eingebracht habe, als eine könig¬
liche Kommission in einem ganzen Jahre hätte sammeln können. Das Ergebnis
sassen sie dahin zusammen, daß bei beiden Geschlechtern der Sinn für verfeinerten
Lebensgenuß und die Ansprüche ans Leben außerordentlich gewachsen seien, aber
die Vermehrung des Einkommens nicht gleichen Schritt damit gehalten habe. Der
Mann mit hundert Pfund, sowie das Mädchen mit Null Pfund Einkommen ver¬
lange von dem künftigen Gatten svsr^tninA. Der Clerk wolle nicht mehr den Kinder¬
wagen schieben, und wenn seine Iran noch die Thürabtreter reinige, so thue sie es
gleich dem Nikodemus, der nnr bei Nacht zum Herrn kam. Die Ehe leide, wie das
ganze Leben, unter dem Überhandnehmen falscher Ideale. Die jungen Männer müßten
wieder lernen, Handwerker zu werden, da sie doch die handgreifliche Unmöglichkeit
vor Augen sahen, sich nnter dem Hansen der Jünger gelehrter Berufe anch nur das
trockne Brot zu verdienen. Für die Ehe müsse der eine wie der andre Teil einen
ehrlichen Stolz darein setzen lernen, recht bescheiden anzufangen. Es ist ein Trost für
uns vom Militarismus ausgesogne und vom Absolutismus geknechtete Deutsche, daß
es unsern reichen Vettern jenseits des Kanals auch nicht bessergeht als uns. Die
Verhältnisse des englische» Mittelstandes scheinen in der That knapper und den unsern
ähnlicher geworden zu sein, als man bisher glauben wollte.
Interessant ist aber auch folgendes Urteil der van^ Ug^8 über die Qualität
der ihnen zugegangnen Zuschriften: „Sie liefern einen schlagenden Beweis von der
Breite und Tiefe unsrer heutige» Volksbildung. Noch vor einem Vierteljahrhundert
wäre es unmöglich gewesen, selbst unter den bestgestellten Klassen des Königreichs
eine so reiche Sammlung vortrefflicher Korrespondenzen aufzubringen. Die Kunst,
gut zu schreiben, ehemals das Geheimnis weniger, scheint jetzt das Gemeingut
vieler zu sein. Früher stand ans dem Titelblatt einer Grammatik, daß sie (unter
andern) auch für den Gebrauch der Ackerknechte und der Parlamentsmitglieder be¬
stimmt sei. Die Verbreitung der Schulbildung, die größere Wohlfeilheit der Bücher,
ihre leichtere Zugänglichkeit und — wenn wir es, ohne eitel zu sein, hinzusetzen
dürfen — die Anstrengungen der modernen Tagespresse scheinen alle diese Ände¬
rungen hervorgebracht zu haben. Unsre minder begünstigten Klassen haben sich auf
die Höhe der bessern gehoben nicht nnr in Lebensart und Anzug, sondern auch in
Geist und Bildung." Mit tiefer Trauer setzen wir neben dieses schmeichelhafte
Zeugnis des englischen Blattes das leider begründete Urteil Wustmnnns in der
Einleitung zu seinen „Sprnchdummheiten": „Seit etwa fünfzig Jahren sind wir in
die Fesseln der Papiersprache wieder tiefer hineingeraten als je, und dazu greift
eme Unsicherheit und Unwissenheit in grammatischen Dingen um sich, die immer
beschämender wird. .. . Unsre Sprache hat sich in den letzten Jahrzehnten immer
schneller umgebildet, und dabei ist sie verwildert und verroht." Die Engländer
rennen keinen Gymuasialdrill in unserm Sinne, keine Schulüberbürduugsfrnge, ihre
^ngend beider Geschlechter darf mindestens die Hälfte ihrer Zeit auch der körper¬
lichen Ausbildung widmen, und dennoch — oder vielleicht gerade deshalb? —
diese Sprach- und Stilvollkommenheit, die von den Nsvs, gewiß mit gutem
Grunde, den gebildeten englischen Mittelklassen nachgerühmt wird! Wenn freilich
die vsilz?- Novg auch darin Recht haben sollten, daß sie gerade die Veredlung des
Sprachgefühls, die Verallgemeinerung einer feinern Bildung mit der Heiratsschen
der jungen Männer in einen gewissen Zusammenhang bringen, dann müßten unsre
Sprachvereine wohl darauf gefaßt sein, von unsern höhern Töchter» in Acht und
^inn gethan zu werden.
Kennst du den Leipziger Angnstnsplatz, lieber Leser?
Wie solltest du nicht, ist er doch am Kopfe jeder Nummer der Leipziger Jllustrirten
Zeitung abgebildet: im Hintergrunde das zur Universität gehörige Augusteum, da¬
neben die Paulinerkirche mit ihrem spitzen Dachreiterchen und das Cass frauyais,
zur Linken das Museum mit dem großen Springbrunnen davor, zur Rechten das
Theater; hinter dem Beschauer liegt dann die Post und eine Reihe schöner Privnt-
bauteu. Das Ganze bildet wohl einen der herrlichsten Stadtplätze Deutschlands,
und ich freue mich, so oft ich nach Leipzig komme und aus der Grimmische»
Straße auf diesen Platz hinaustrete.
Was ist nun kürzlich geschehen? Komme ich da Ende August zum deutschen
Architetteutnge nach Leipzig und freue mich natürlich wieder auf meinen Augustus-
platz. Ich gehe vou der Universitätsstraße durch den Panlincrhof, sehe im Borbei-
gehn zu meinem großen Bedauern den Abbruch der alten Universitätsbibliothek,
des letzten gothischen Profanbaus, den Leipzig noch aufzuweisen hatte, und trete
nun aus dem Augusteum hinaus auf den Angnstnsplatz. Aber was ist das? ich
sehe die Post nicht mehr, ich sehe das Theater nicht mehr, ich sehe das Museum
nicht mehr, ich sehe nur noch mir schrägüber in riesengroßer Schrift die Worte:
„Danker <K Kote. Knöpfe u. Pvsmnenteu!"
Drüben an: Eingange der Johanuisgasse ragt hinter einem Garten ein hoher
kahler Giebel auf. Er bildete nicht gerade eine Zierde des Platzes, aber man
sah ihn kaum; schmutziggrau wie er war, glitt das Auge über ihn hinweg, in
der ganzen architektonischen Erscheinung des Platzes war er so gut wie nicht vor¬
handen. Diesen Giebel hat nun ein in dem Hause befindliches Geschäft blendend
weiß anstreichen und mit mannshohen Buchstaben ihre Firma dranfschreiben
lassen — die einzigen Schriftzeichen, die auf dem ganzen großen Platze hier zu sehen
sind. Denn die kaufmännischen Geschäfte in den Privatbauten an der Ostseite sind
sämtlich so taktvoll gewesen, keine aufdringlichen Firmenschilder über ihren Läden
anzubringen. Diese eine Firma schlägt die ganze Architektur des Augustnsplatzes
tot, mau sieht eben nichts weiter als „Danker & Kote." Wer überhaupt Augen
hat, zu sehen, wer nicht ganz stumpfsinnig durch die Welt trottet, dem ist der
ganze schöne Platz dadurch verleidet.
Die guten Leute, die ihre Firma da oben haben anpinseln lassen, haben
natürlich keine Ahnung davon, was für eine Barbarei sie begangen haben. Aber
ich frage: war keine Möglichkeit, diese Barbarei zu verhüten? ist keine Möglichkeit,
sie rückgängig zu machen? Die Sache ist nicht ganz so schlimm, wie wenn eine
Burgruine durch eine angebaute Bierkneipe verhunzt, ein Bergrücken durch eine
Zahnradbahn verunstaltet, an einer Felswand im Gebirge Reklame für ein Hotel
oder für irgend eine kaufmännische Lumperei gemacht wird; aber viel besser ist es auch
uicht. Schlimm genug, daß in den Straßen unsrer alten Städte oft die ganze
Architektur schöner Rennissanee- oder Barockbauten durch eingebrochne Schaufenster
mit Rolllädeu ruinirt wird, daß ihre ganze Ornamentik oft durch breitspurige,
schreiend bunte Aushängeschilder zugedeckt wird. Aber ein Platz, wie der Leipziger
Angnstnsplatz, bei dem bisher nichts der Art die rein künstlerische Wirkung be¬
einträchtigte, sollte doch vor Amerikanisiruug geschützt sein.
I^rinizixiiiZ adsta. Wir haben so vielerlei Polizei, aber an eiuer fehlt es,
und sie thäte doch manchmal recht not: an Schönheitspvlizei.
In Paris ist ein Gesetz gegeben worden, demzufolge
im kommenden Winter die Damenkleider eine Weite zu erhalten haben, die eine
ungewöhnliche Breite des Stoffes „bedingt"; solche Stoffe müssen eigens angefertigt
werden, und da das Amtsgeheimnis streng gewahrt worden ist, haben sich, wie
Figaro versichert, die deutschen Fabriken nicht rechtzeitig darauf einrichten tonnen.
Also werden, ruft das Blatt triumphirend aus, die Deutschen diese Mode nicht
mitmachen können. Das wäre entsetzlich, aber wie schlecht kennt es unsre Mode¬
damen! Die auf voller Höhe stehenden beziehen ja ihre Anzüge überhaupt nur
aus Paris, und den andern wird kein Opfer zu hoch scheinen, um nicht zurück¬
zubleiben. So oder so; fehlt es nu hinlänglich breiten Stoffen, so kann man ja
anflicken, und sollten dabei Karrikaturen herauskommen, wie zur Zeit der Krino-
lineuherrschaft: lieber gehen unsre Patriotin««» wie Vogelscheuchen umher, als daß
sie ihrem Baterlande nachsagen lassen, es kenne eine Narrheit noch nicht, die leicht¬
fertige Frauenzimmer in Paris in ihrem Übermute ersonnen haben. Einzelne
Sonderlinge werden vielleicht sagen: Gut, thun wir den Franzosen ihren Willen,
lassen wir Lyon seine breiten Stoffe und tragen wir, was die deutsche Industrie
liefern kann, unbekümmert um die Gefahr, von Gigerln als „unmodern" bespöttelt zu
werden. Aber das wäre verwerflicher Chauvinismus, und alles dürfen wir uns
vorwerfen lassen, uur das nicht!
Unter dem Namen Antisemitismus werden zwei verfehle-due Dinge verstanden,
einerseits Kampf gegen die Juden überhaupt, andrerseits Abwehr der zunehmenden
Verjudung Deutschlands. Die Judeuanhänger werden natürlich diese Unterscheidung
uicht gelten lassen wollen, für sie ist die ganze Bewegung gleichbedeutend mit dem
„Geschäftsantisemitismns," dem der Verfasser dieser Schrift noch „ärgere Ausbeu¬
tung des einfältigen guten Volks" vorwirft, als die durch das Judentum verübte.
Aber sie selbst, die Verjndeten und viele Weichmütige und Schwachköpfige außer¬
halb jener Gemeinschaft, weisen ans die Größe der Gefahr und die Notwendigkeit
des Widerstandes hin, wenn sie uns andern die Annahme jüdischer Grundsätze und
Gewohnheiten als einfachste Lösung der Wirren anempfehlen. Den Antisemitismus
in diesem Sinne versieht die vorliegende Schrift, die nicht weniger lesenswert und
vielleicht wirksamer sein würde, wenn sie nicht in gleichsam atemlosem Stil — immer
fünf bis acht Druckseiten ohne Ruhepunkt — geschrieben und mancher unnötige
Kraftausdruck getilgt wäre. Der Verfasser teilt die Ansicht, daß die vollständige
Gleichberechtigung nicht aufrechterhalten werden könne: „da der Jude die Regel,
die für uns gilt, nicht anerkennt, unsre Gesetze nicht respektirt, so sind für ihn
Ausnahmegesetze erforderlich." Die Frage wird in sieben Abschnitten behandelt:
Judeuwitz und Judeugeist, Judenphilosvphie und Judeninoral, die Juden wider
Kaiser und Reich und das jüdische Lumpcnkommando in Berlin, Kunst und Litte¬
ratur in der Verjudung, die Juden als Schänder der deutschen Sprache, das
Übergewicht des weibischen Moments in der Zeit der Verjudung, wie verwahrt
man sich vor der Verjudung?
Einige gute Worte hier zur Charakteristik. „Die jüdischen Ulkmacher oder
Geistesverkäufer gleichen auch dnrin den kleinen Hunden, daß sie vom Manne immer
nur die etwas bestaubten Hvsenkanten und beschädigten Stiefelabsätze im Auge be¬
halten, darnach ihn abschätzen und sich darein festbeißen." — ,,Die jubelnden Zei¬
tungen sind Winkeladvokaten des Pöbels, geheime Detektivs jüdischer reicher Spe¬
kulanten, die das Gebäude des einen Herrn im Lande unterminiren wollen, damit
es stürze, und sie daraus viele Prnntpalästchen für sich errichten können." — „Das
Bekenntnis aller Leute in der Verjudung lautet: Wir fürchten den Juden, sonst
nichts auf der Welt."
In der Beurteilung Goethes stellt sich Dnkmeyer leider auf den Standpunkt
der Ultramontanen, spricht ihnen auch gläubig die Lästerungen gegen Christiane nach.
Auch die Alten haben den Reim als Schmuck der gebnndnen Rede verwendet,
aber ganz anders als wir, in viel geringerem Umfange; der Verfasser geht nach
unsrer Ansicht in dem Aufspüren von Reimen in der antiken Dichtung zu weit.
Abgesehn davon, daß — mit diesem Maße gemessen — auch die ganze antike
Prosa von Reimen wimmelte, obwohl wir wissen, daß besonders die lateinischen
Prosaiker derartige Glcichklängc gemieden haben, so wird es niemand einfallen,
gerade bei Aufzählungen von Namen, wie es der Verfasser mit Vorliebe thut,
die Absicht zu reimen z. B. dem Homer oder Hesiod unterzuschieben. Die Sprache
bringt hier die Aufeinanderfolge gleicher oder ähnlicher Endungen mit sich, nicht
das Neimbedürfnis des Dichters.
In der ersten Szene des Tel! stehen die Verse:
Frisch, Fährmann — Schafs den Biedermann sunder.
Der Föhn ist los, ihr seht, wie hoch der See geht.
Unsre Leser würden sich wahrscheinlich höchlichst verwundern, wenn wir ihnen
verraten wollten, daß Schiller hier gereimt habe: Herr Dingeldein wird konse¬
quenterweise nichts dagegen haben.
Ganz verfehlt erscheint uns der Vergleich mit Otfried, der im neunten Jahr¬
hundert sein christliches Epos in Endreimen dichtete, zu einer Zeit, wo der Helden¬
gesang des Volkes in Stabreimen gefügt wurde. Daß Otfried, ein ungeschickter
Anfänger, Worte wie mal.-n-s und lrimilo mit einander reimt, kann nicht zum
Beweise dafür dienen, daß auch im Lateinischen oder Griechischen zwei gleiche
Endsilben einen befriedigenden Reim, überhaupt einen Reim ergeben hätten: bei
Otfried liegt das Prinzip vor, gleichviel ob gut oder schlecht ausgeführt, bei den
Alten ist das Gefühl für den Reim nie über kindliche Anfänge hinaus entwickelt
worden, ein Kunstprinzip in unserm Sinne fehlt. Und vielleicht ist nicht schwer
zu sagen, warum. Der Verfasser traut es den feinfühligen, kunstverwöhnten Ohren
des Griechen nicht zu, daß er Gleichklänge im Bersinnern und an den Enden
zweier Nachbarverse überhört hätte. Umgekehrt: das künstlerische Gefühl war zu
stark entwickelt, als daß es in dem auch in Prosa ganz gewöhnlichen Gleichklang
wenigbedeutender, wenn anch betonter Nebensilben ein wertvolles Mittel hätte sehen
können, die gebundne Rede kunstvoll zu zieren.
Das Gefühl für den Reim haben die Griechen und die Römer natürlich so
gut wie alle andern Kulturvölker gehabt. In der Lyrik, besonders der volks¬
tümlichen, aber anch im Drama kommt es in bewußten Reimen zum Ausdruck.
Das wird auch der zugestehn, der nicht alle die von Dingeldein beobachteten zu¬
fälligen Gleichllänge als Reime einsehn mag. Ja wenn sie noch, wie wir Neuern
es von Shakespeare und Schiller gewöhnt sind, um nachdrucksvolleu Enden von
Versreihen stünden; aber sie fallen zum größten Teil mitten in die Rede an eine
Stelle, die gar keine Hervorhebung verträgt. Der Verfasser hat zu viel gefunden,
weil er hat finden wollen.
Der Verfasser ist ein gründlicher Kenner der altern Freiberger Geschichte.
Das hat er, abgesehn von mehreren Aufsätzen, bei Gelegenheit der Wettinfeier in
der hauptsächlich von ihm verfaßten Festschrift der Stadt Freiberg gezeigt, einer
der wenigen „Festschriften" jener Tage, die durch Inhalt und Form darauf An¬
spruch erheben durften, nicht mit dem Verklingen des Festjubels wieder zu ver¬
schwinden. Er hat darin in großen Umrissen die Geschichte des sächsischen Berg¬
baues mit besondrer Beziehung ans das Haus Wettin und die Stadt Freiberg dar¬
gestellt und dann näher die Beziehungen dieses Hauses zur Stadt Freiberg wah¬
rend des Mittelalters in persönlicher, rechtlicher und politischer Hinsicht behandelt.
Die vorliegende zusammenfassende Geschichte des Freiberger Berg- und Hüttenwesens
enthält nnn natürlich vieles von dem damals gesagten wieder, zum Teil berichtigt,
dazu bringt sie aber eine Menge neues. So ist vor allem jetzt auch die berg¬
technische Seite der Entwicklung ziemlich genau und klar geschildert, gleich zu An¬
fang die Frage nach der Herkunft der Freiberger Bergkolvnie ausführlich besprochen
mit als Anhang des historischen Teils das berühmteste der lateinischen Loblieder
c>uf Freiberg ans der Hnmnnistenzeit im Auszuge übersetzt mitgeteilt worden, ein
warmer poetischer Erguß Johann Boeers auf die Stadt, deu Bergbau und die
Bergleute. Die Rechtsverhältnisse zwischen der Stadtgemeinde und der Gemein¬
schaft der Häuer und ihren Leitern und die rechtlichen Beziehungen beider zum
Landesherrn hätten sich vielleicht uach den von Ermisch herausgegebnen Urkunden
»och klarer abgrenzen lassen, ohne daß das Buch durch die strenge Untersuchung
um Allgemeinverständlichkeit hätte zu verlieren brauchen.
Den Übergang zur Poesie der Freiberger Bergleute bilden die Sagen, die in
den Köpfen tief unten in der Erde in der gefahrvollen Einsamkeit natürlich in
Menge spuken, sich aber auch ganz gut mit den gläubigen christlichen Gemütern zu
vertragen scheinen, die in frommen geistlichen Liedern zu uns sprechen. Hchden-
reich giebt dem Leser eine charakteristische Auswahl aus diesen „Bergreihen," den
Volksliedern des Bergmanns, die ihren besondern Namen haben wie die „Reuter-
liedlein" des Landsknechts; auch sie siud an dem schönen, gewaltigen Baume der
deutscheu Volksdichtung ein Zweig, der einmal ans seine Eigentümlichkeiten näher
angesehen zu werden verdiente.
An diesen begeisterten Vorlesungen wird jeder seine herzliche Freude haben.
Sie beginnen mit einer wahren und warmen Verteidigung des Gedichtes gegen
Schillers Tadel wegen des nntragischen Stoffes in tragischer Form und gegen
Vischers Worte von dem schweren Konflikt, den Lessing zwischen dem Fanatismus
des Christentums und der reinen Humanität angelegt und dann vergessen habe,
und von dem „schlechten" Schlüsse des Stücks im Sinne eines bürgerlichen Familien¬
stücks. Wer sich so wie Werber in das Drama eingelebt hat, muß zu der Über¬
zeugung kommen, daß es nicht mit dem herkömmlichen „tragischen" Maße, das
Schiller anlegt, gemessen werden, daß es als eine Gattung für sich betrachtet werden
dürfe. Und der von Bischer behauptete und von andern ihm nachgesprochne Kon¬
flikt ist in der That gar nicht vorhanden; zum Glück ist Wischers Ansicht nicht so
verbreitet, wie der Verfasser zu glauben scheint, weil man nicht offen gegen sie
aufgetreten ist.
Mit welcher Feinheit und Sicherheit Werber die beiden schwerer verständ¬
lichen Gestalten des Dramas, den Tempelherrn und Reesa, charakterisirt, mit welcher
Bewunderung und Überzeugung er die Technik und den sittlichen Gehalt des Nathan
rühmt, das sieht man nicht bloß, man hört es beim Lesen dieses Buches, und um
so unmittelbarer wirkt es.
Wer einmal den Schauplatz froher Jugenderinnerungen wieder aufgesucht und
die Bäume noch eben so grün und den Bach noch eben so klar und munter wie
einst angetroffen, wenn er auch dabei gefunden hat, daß manches andre in Wahr¬
heit kleinlicher aussehe als in der Erinnerung, der kann sich eilte ungefähre Vor¬
stellung von dem Eindruck machen, den wir von diesen Episteln erhalten haben.
Vor vierzig Jahren kam uns eine Abschrift von Briefen eines jungen Mannes in
die Hände, der nur in engerm Kreise als Verfasser launiger Gedichte in den
Fliegenden Blättern bekannt war und damals als Rechtspraktikant in Säkkingen
saß. Einige Jahre später erregte er die Aufmerksamkeit intimerer Freunde der Poesie,
und als dann eine Sammlung seiner Trinklieder und komischen Balladen erschienen
war, wurde er rasch berühmt, während wir uns oft jener Briefe erinnerten, die
wegen mancher Privatbeziehungen nicht für die Öffentlichkeit geeignet schienen. Nun
liegen sie hier gedruckt vor, das erste Drittel eines Bändchens füllend, das mit
dem Bildnis des Dichters ans einer Zeit geschmückt ist, als er noch nicht so be¬
häbig war, sondern mit muntern Angen in die Welt schaute, in der Tracht eines
Wanderburschen — wie an dem etwas übereilten Denkmal in Heidelberg. Und
wir erfreuen uus jeuer humorvollen Säkkinger Briefe heute uoch mehr als beim
ersten Lesen, wo wir noch nicht ahnen konnten, daß dem jungen Schreiberknecht
zwischen Polizeiakten und Studien über landesübliche Getränke der Stoff zu dem
— leider zur Oper verhunzten — Trompeter und zum Etkehcird zuwachsen würde.
Jetzt mutet uus manche Stelle wie eine kvmmentireude Anmerkung zu den Dich¬
tungen an, und die übermäßige Verherrlichung des Trinkens ohne Durst lassen wir
bei einem kaum der Universität entronnenen gern gelten. Weniger befriedigend im
ganzen sind die weitern Berichte, die Scheffel, zum Hofsekretär in Bruchsal vor¬
gerückt, später der Juristerei (und, wie er meint, auch der Poesie) abtrünnig und
mit dem „Malerspieß" bewaffnet, über italienische Wanderungen an den „Engeren"
in Heidelberg gesandt hat. Er befleißigt sich darin eines Chronikenstils, aus dem
er doch immer wieder herausfällt, und der, auch abgesehn hiervon, dem Vortrage
etwas gesuchtes und gezwungnes giebt. Schade drum. sind seine Erlebnisse auf
der Fahrt uach Rom, dort und im Albanergebirge u. f. w. nnr selten außer¬
gewöhnlicher Art, und spielt auch da die „Trinknng" eine etwas zu große Rolle,
so giebt ihnen doch die Zeit (während der Besetzung durch die Franzosen und vor
deu Eisenbahnen) ihre besondre Färbung, und die Briefe würden einen eben so
frischen und natürlichen Eindruck wie die Säkkinger machen, wenn sie in demselben
natürlichen Stil geschrieben wären.
er für andre arbeitet, gilt als der Dienende; der Herrschende ist
der, der andre für sich arbeiten läßt. So ist es in den gesell¬
schaftlichen Beziehungen der Menschen zu einander. Ganz an¬
ders steht es aber um die Beziehungen der Nationen. Die
Herrschaft über andre wird die Nation erlangen, die die Arbeit
an sich zieht, und zwar deshalb, weil der Arbeit der Reichtum folgt, und
Reichtum zunächst das wirtschaftliche Übergewicht, auf die Dauer auch poli¬
tische Überlegenheit verleiht.
Nicht durch den Besitz unerschöpflich reicher Kolonien allein ist England
zu seinem Reichtum gelangt. Macaulay fragt, wo die gerühmten Reichtümer
Ostindiens zu finden seien, und antwortet darauf: an den Ufern der Themse.
Nicht nur die Kolonien dienten als Abnehmer für die Industrieartikel Eng¬
lands — und um sie stets als Abnehmer zu behalten, wurde die Entwicklung
der Industrie in den Kolonien auf jede Weise verhindert —, sondern auch poli¬
tisch unabhängige Staaten wurden durch Handelsverträge in die Lage versetzt,
auf die eigne Erzeugung ihrer Bedürfnisse verzichten zu müssen. Sie gerieten
dadurch in wirtschaftliche Abhängigkeit von England. Eine Nation, die be¬
ständig von einer andern kauft, ohne das Kaufgeld in Gestalt selbsterzeugter
Waren aufzubringen, wird allmählich verarmen. So lange sie noch Kredit
verdient, wird die verlaufende Nation zu Vorschüssen und Anleihen bereit sein,
aber dieses Schnldverhültnis führt schließlich zu einer Abhängigkeit, die sich
auch auf politischem Gebiete offenbart. Als England seine Industrie zu so
hoher Vollendung gebracht hatte, daß sich kaum irgend ein Land noch mit ihm
zu messen vermochte, wurde der Freihandel als wirtschaftliches Prinzip verkündet,
und es fanden sich Leute genug, die in die Falle gingen und nicht einsahen, daß
dieses Prinzip nach Lage der Dinge nur England zu gute kommen konnte.
Allmählich ist man, gewitzigt durch üble Erfahrungen, zu beßrer Einsicht
gelangt. Überall hat man begriffen, daß man besser thut, möglichst viel Ar¬
beit selbst zu verrichten, anstatt stets da zu kaufen, wo die Gegenstände am
billigsten zu haben sind. Man überzeugte sich von der so einfachen Wahrheit,
daß auch zu dem billigsten Einkauf Geld gehört, und daß es früher oder später
an dem Geld zur Gegenleistung fehlen werde, wenn man nicht Waren pro-
duzirt, die man in Tausch geben oder verlausen kann, um das auswärts ge¬
kaufte zu bezahlen.
Glücklicherweise hat sich denn auch Deutschland dem Schutzzoll zugewandt,
um sich von England in wirtschaftlicher Beziehung frei zu machen. Hätten
auch alle übrigen Staaten ihre Grenzen offen gehalten, so hätte Deutschland
den Kampf gegen England noch aufnehmen können. Aber je mehr Staaten
sich abschlossen, desto notwendiger wurde es, ihrem Beispiel zu folgen. Denn
wenn unsre Märkte mit Eisen- und Textilwaren, mit Korn und Vieh über¬
schwemmt wurden und unsre Erzeugnisse im Auslande nicht mehr abgesetzt
werden konnten, so war der Ruin unabwendbar. Die Fabriken mußten still¬
stehn, die Arbeiter entlassen werden, die niedrigen Preise aller Erzeugnisse
konnten den Massen nichts nützen, weil der Verdienst aufhörte. Es würde
sich in erschreckender Weise gezeigt haben, daß die größte Wohlfeilheit der Be¬
dürfnisse nicht vor Verarmung und Massenelend schützen kann, wenn die Ar¬
beiter nicht mehr beschäftigt werden können, weil es an Absatz sehlt.
Der Schutz der nationalen Arbeit ist kein leeres Schlagwort, wie häufig
von gewissen Leuten behauptet wird; er ist gerade das, worauf es ankommt. Es
wäre gewiß nicht zu rechtfertigen, wenn man den Preis der Gebrauchsartikel
durch Schutzzölle steigern wollte, wie es in der That bisweilen geschieht, nur
um den Grundbesitzern und den Fabrikanten, also den Arbeitgebern und Unter¬
nehmern, höhere Renten und höhern Gewinn zu sichern. In erster Linie ist
das Wohl der Massen, der Arbeiter, ins Auge zu fassen und zu fördern;
denn wenn es denen gut geht, so befinden sich auch die Arbeitgeber in günstiger
Lage; schon infolge des gesteigerten Verbrauchs, der die Preise in die Höhe
treibt. Daß auch das Wohl der Arbeitgeber Berücksichtigung verdient, ver¬
steht sich von selbst, denn sie sind im wirtschaftlichen Leben ebenso wichtig
wie die Arbeiter; die einen können ohne die andern nicht vorwärtskommen. Aber
die Zeit ist vorüber, wo die Arbeiter in dem Maße von den Arbeitgebern ab¬
hängig waren, daß sie sich jegliche, auch die erbärmlichste Abfindung gefallen
lassen mußten. Ist auch leider die Formel noch nicht gefunden, nach der der
Ertrag der von den Unternehmern aufgewandten Mittel und der von den Ar¬
beitern geleisteten Arbeit unter beide zu verteilen ist, so ist man doch über
die Auffassung hinweg, daß die Arbeit eine Ware sei, deren Preis sich ledig¬
lich durch Angebot und Nachfrage bestimme.
Wenn man aber min, nachdem über ein Jahrzehnt die Schutzzollgesetz-
gebung in Wirksamkeit gewesen ist, die Frage auswirft, wie weit die nationale
Arbeit und das wirtschaftliche Gedeihen durch sie gefördert worden sei, so
lautet die Antwort dahin, daß noch viel zu wünschen übrig geblieben ist. Es
hat in den letzten Jcchreu viel Arbeitslosigkeit geherrscht, die Löhne sind eher
gefallen als gestiegen, der Absatz der Erzeugnisse ist unbefriedigend, und wenn
auch einige Plätze, insbesondre die größern Städte, von einem gewissen Ge¬
deihen Zeugnis ablegen, so ist doch an andern Orten Stillstand und Rückgang
unverkennbar. Der Gründe für diese Erscheinung sind mancherlei. Daß eine
so mangelhafte Ernte, wie die des vorigen Jahres, neben den hohen Preisen
für die notwendigsten Lebensmittel einer günstigen wirtschaftlichen Entwicklung
im Wege stehn muß, liegt auf der Hand. Es mußte ferner vom schlimmsten
Einfluß sein, daß uns durch ungewöhnlich hohe Schutzzölle in deu Vereinigten
Staaten von Nordamerika, die zum Teil die Ausfuhr ganz verhindern, der
Absatz vieler Waren erschwert, ja unmöglich gemacht wurde. Das Zusammen¬
wirken zweier derartigen Erscheinungen mußte notwendig die übelsten Folgen
haben; schwerlich könnten wir die Unterbindung des Absatzes und die Veraus-
gabung so großer Summen für Vrvtstoffe lange ertragen. Eine Unterbilauz
im internationalen Verkehr von neunhundert Millionen Mark in einem Jahre
ist beunruhigend genug!
Es ist aber noch ein andrer Umstand, der es verhindert, daß die natio¬
nale Arbeit wirklich den Schutz genieße, den man ihr durch die Schutzzölle
hat angedeihen lassen wollen. Dieser Umstand ist von so großer politischer
und sozialer Bedeutung, daß wir uns für verpflichtet halten, mit allem Ernst
auf ihn hinzuweisen, ihn zum Gegenstande der öffentlichen Besprechung zu
machen und seine Erörterung auch den gesetzgebenden Gewalten zu empfehlen.
Es handelt sich darum, daß die Segnungen des Schutzzolls der Arbeiterwelt
verkümmert und entzogen werden durch deu Zuzug ausländischer Arbeiter.
Wie schon bemerkt, ist der Hauptbeweggrnno zur Einführung und Bei¬
behaltung der Schutzzölle der Wunsch und das Bestreben, den Arbeitern aus¬
reichende Beschäftigung und entsprechenden Lohn zu gewähren. Wenn die
Überschwemmung mit ausländischen Fabrikaten unsre Fabrikation nötigt, stille
M stehn oder ihre Produktion einzustellen, so werden die Arbeiter entlassen,
oder ihr Tcigelvhn wird heruntergedrückt. Wenn der Marktpreis des Getreides
unter die Produktionskosten sinkt, so wenden sich die Landwirte der Wirt¬
schaftsweise zu, bei der am meisten Arbeit gespart wird. Die Arbeitslosen
können sich auf dem platten Lande um wenigsten ernähren und drängen sich
deshalb in den größern Städten zusammen, wo sie gelegentlich zu einer Ge¬
fahr für die Ruhe und Sicherheit des Gemeinwesens werden.
Nun muß aber doch zugegeben werden, daß die Arbeitslosigkeit ebenso
Wohl durch unangemeßne Vermehrung der Arbeitskräfte als durch Mangel
an Arbeitsgelegenheit entstehen kann. Wenn man daher ohne Beschränkung
ausländische Arbeiter zuläßt, so tritt ein Mißverhältnis zwischen der Zahl der
Hände und der vorhandnen Arbeitsgelegenheit ein. Der günstige Erfolg, den
man durch die Schutzzölle hat erreichen wollen und auch zunächst und für die
erste Zeit erreicht hat, geht verloren, wenn durch anhaltenden Zuzug auslän¬
discher Arbeiter die Zahl derer, die Arbeit suchen, vermehrt wird. Was man
durch Schutzzölle bezweckt hat, hebt man durch die Zulassung fremder Arbeiter
wieder auf. Das ist der bedenkliche und peinliche Widerspruch, in dem man
sich zur Zeit befindet.
Die Sache wird noch schlimmer dadurch, daß die Lage der Arbeitgeber
durch die Zulassung fremder Arbeiter nicht verschlechtert, nein im Gegenteil
wesentlich verbessert wird. Sie genießen die Vorteile, die der Schutzzoll ge¬
währt, in Gestalt höherer Preise für die Fabrikate. Gleichzeitig aber kommt
es ihnen zu gute, daß durch die übergroße Anzahl der sich ihnen darbietende»
Arbeitskräfte der Tagelohn ermäßigt wird. Man kommt ans diese Weise in
der That dahin, daß die Behauptung nicht unbegründet ist, daß der Schutzzoll
nur den Arbeitgebern zum Vorteil gereiche. Dieser Zustand muß sich auf die
Läuge als unhaltbar erweisen. Es liegt hier eine Benachteiligung der Ar¬
beiter vor, der abgeholfen werden muß. Der Prozeß der Ausgleichung zwischen
Arbeitgebern und Arbeitern findet nicht mehr in normaler Weise statt; es
wird den Arbeitern erschwert, ja unmöglich gemacht, den ihnen gebührenden
Anteil an der Produktion zu erlangen, der soziale Kampf wird verschärft, und
die Erbitterung findet neue Nahrung.
Hunderttausende von Russen und Polen, Schweden und Italienern suchen
gegenwärtig im deutschen Reiche Arbeit, jährlich mehrt sich der Strom der
Einwanderer. In den Städten, in den Fabrikorten, ans dem Lande sind zahl¬
reiche Ausländer beschäftigt. Sie machen den eingebornen Arbeitern Kon¬
kurrenz und drücken die Löhne herunter. Und doch sollte unser Streben darauf
gerichtet sein, die Lage der Arbeiter nach Möglichkeit zu verbessern. Für unsre
nationale Arbeit, für unsre inländischen Arbeiter sind die Schutzzölle eingeführt,
nicht um Russen, Polen u. s. w. zu ernähren.
Wir verkennen keineswegs, welche Einwendungen uns gemacht werde»
können. Zunächst wird man sagen, daß die Zulassung fremder Arbeiter auf
Vertrügen oder auf Gegenseitigkeit beruhe. Und es ist ja richtig, daß auch
viele Deutsche im Ausland ihr Brot suchen und finden. Selbstverständlich
geht die Bewegung aus solchen Ländern, wo eine niedrigere Lebensführung
herrscht, nach solchen, wo infolge höherer Bildung oder höhern Wohlstandes
mehr verdient wird und mehr verzehrt werden kann. So kommen die Polen,
die geringere Ansprüche machen, über die östliche Grenze zu uns. Deutsche
Arbeiter gehen nach England oder nach den Vereinigten Staaten. Gewiß ist
es für uns auch von Nutzen, daß wir manche Leute auf diese Art los werden,
und daß manchen energischen Naturen auswärts Gelegenheit geboten wird, eine
Existenz zu finden. Im ganzen aber werden wir annehmen können, daß die
Zahl der Einwanderer die der Auswanderer übersteigt, und daß wir in der
Hauptsache nur aus der untersten Klasse der Bevölkerung Zuzügler erhalten,
während viele unsrer Auswandrer dieser Klasse nicht angehören. Manche
Länder befinden sich noch in der Lage, daß ihnen Einwandrer aller Art will¬
kommen sind. Wie lange sich andre noch herbeilassen werden, fremde Ein¬
wandrer bei sich aufzunehmen und zu dulden, steht dahin. In England ist
es schon wiederholt zu einer starken Bewegung gegen die eingewanderten
Deutschen gekommen, die den Inländern die Löhne Herabdrücken, und es könnte
Wohl einmal die Zeit kommen, wo man es dort cmgemeßner finden wird,
wenigstens Arbeiter der untern Schichten uicht mehr zuzulassen. Sollte es
aber dahin kommen, daß sich die Nationen noch mehr als bisher gegen ein¬
ander abschließen, daß also der Zuzug aus benachbarten Ländern aufhören
müßte, so würde die Kolonisation eine um so größere Bedeutung gewinnen.
Das würde mit dem Vorteil verbunden sein, daß die Ausgewanderten dem
Vaterlande mehr erhalten blieben, als es jetzt der Fall ist, wo eine so große
Anzahl Deutscher jährlich in den Vereinigten Staaten unter der dortigen
Völker- und Rassenmischung verloren geht. Im Heimatlande aber würde die
strengere Abschließung gegen außen den Vorteil mit sich führen, daß die
deutsche Rasse reiner erhalten bliebe, als dazu bei dem jetzigen Staude der
Dinge Aussicht ist. Denn die Polen, Russen, Italiener u. s. w. bleiben häufig
im Lande, kehren nicht in ihre Heimat zurück und tragen so zu einer Rassen-
Vermischung bei, die uns nicht wünschenswert sein kann. Ob die sehr ver¬
breitete Vermischung der Deutschen mit den Juden unsrer Nation zum Vor¬
teil gereiche, mag hier unerörtert bleiben. Im allgemeinen nimmt man ein,
daß in den Mischungen zweier Rassen die übeln Eigenschaften beider vertreten
zu sein pflegen. Man denke sich schließlich, daß auch der mehrfach besprochue
Plau, Kukis einzuführen, zur Ausführung käme, und stelle sich vor, wie die
Mischung mit dieser Rasse ans unsre deutsche Bevölkerung einwirke» würde!
Wichtiger als das Bedenken, daß uns die Auswaudrung erschwert werden
könnte, wenn wir die Einwcindrung verbieten oder beschränken, ist der Ein¬
wand, daß ohne den Zuzug ausländischer Arbeiter Landwirtschaft und In¬
dustrie uicht würden bestehen können. Die Konkurrenz der Ausländer erleichtert
es den produzirenden Unternehmern, in dem Wettbewerb gegen andre Länder
zu bestehen.
Neben sonstigen Lasten, die die Arbeitgeber zu tragen haben, sind auch
die Tagelohne im Lauf der Jahrzehnte bedeutend gestiegen. Und was noch
außerdem ins Gewicht fällt, ist der Umstand, daß die Arbeiter nicht die
Empfindung haben, daß ihr Interesse mit dem der Arbeitgeber vielfach eins
sei, und daß sie deshalb sehr geneigt sind, erhöhte Forderungen in Betreff des
Lohnes zu stelle», mich wenn die Verhältnisse die Einwilligung der Arbeit-
geber nicht möglich machen. Man hört es oft aussprechen, daß, wie es den
Arbeitern freistehe, ihre Forderungen zu stellen, zu gehn oder zu bleiben, so
auch die Arbeitgeber in der Annahme von Arbeitern unbeschränkt sein müßten.
Man muß zugeben, daß, solange ein solcher Kriegszustand vorhanden ist, bei
dem jeder Teil einseitig nur das eigne Interesse verfolgt, die wohlthätigen
Maßregeln, die wir im Auge haben, kaum ausführbar sein würden. So lange
keine Sicherheit vorhanden ist, daß nicht Streiks ausbrechen, die die Produktion
lahmlegen, so lange nicht Organe geschaffen sind, die im Fall von Streitig¬
keiten den Frieden herzustellen geeignet sind, kann den Unternehmern nicht ver¬
boten werden, Hilfskräfte heranzuziehen, gleichviel woher sie kommen mögen.
Wir wollen aber einmal annehmen, daß dieser äußerst niedrige Standpunkt
des Klassenkampfes, der sich in gegenseitiger Chikane, in Streiks und Aus¬
sperrungen äußert, überwunden wäre, und wollen von der Voraussetzung aus¬
gehen, daß Mittel gefunden seien, Streitigkeiten in friedlicher Weise zu schlichten.
Dann bleibt immer die Thatsache bestehen, daß es der Arbeiterwelt dnrch die
Zulassung ausländischer Arbeitskräfte erschwert wird, einen gerechten und
billigen Anteil an dem Ertrage von Landwirtschaft und Industrie zu erlangen.
Die Wertschätzung der Arbeit sinkt im Verhältnis zum Kapital, so lauge Ar¬
beitskräfte in unbeschränkter Zahl verfügbar sind.
Die Unternehmer behaupten, sie könnten keine höhern Löhne gewähren,
ohne ihre Unternehmungen und ihre eigne Existenz gefährdet zu sehn. Die
Wahrheit dieser Behauptung ist im Einzelfall schwer festzustellen. Das ist
außer Zweifel, daß, je mehr vom Ertrage der Arbeit dem Arbeiter zufällt,
um so weniger dem Unternehmer bleibt. In vielen Fällen wären aber die
Unternehmer sehr wohl imstande, dem Arbeiter einen höhern Betrag der Arbeit
zuzuwenden. Die hohen Dividenden mancher Aktienunternehmungen, das Ge¬
deihen zahlreicher Privatunternehmungen, die sich dem Lichte der Öffentlichkeit
zu entziehen verstehn, liefern den Beweis. Wenn aber in der That viele
Unternehmer nicht in so günstiger Lage sind, wenn sowohl Fabriken wie land¬
wirtschaftliche Betriebe nicht so hohe Erträge abwerfen, daß die Löhne erhöht
werden können, woran liegt das in der Mehrzahl der Fälle? Es liegt daran,
daß die Erträge sofort im Kapital ihren Ausdruck finden. Sobald die Erträge
eines Grundstücks, einer Fabrik steigen, werden Grundstück und Fabrik zu
einem Wert geschätzt, der dein Reinertrage entspricht. Wird ein Grundstück
verkauft, so bemißt sich der Kaufpreis nach dein wahrscheinlichen Ertrage,
ebenso der Kaufpreis einer Fabrik. Der letzte Käufer (oder der Erbe, dem
das Grundstück oder die Fabrik zugefallen ist) befindet sich demnach stets in
der Lage, gesteigerte Ausgaben vermeiden zu müssen, weil sonst der berechnete
Reinertrag nicht mehr gewonnen werden kann. Ebenso steigen die Aktien bei
zunehmendem Ertrage eines Unternehmens bis zu der Höhe, wo wenig mehr
als landesüblicher Zins übrig bleibt. Der gestiegne Wert der Grundstücke
und der industriellen Unternehmungen kommt denen zu gute, die sich von dein
Besitz durch Verknus losgemacht haben. Der Käufer ist in der Regel in der
Lage, daß er nur die Zinsen seines Kapitals und einen mäßigen Gewinn
machen kann, bis eine weitere günstig verlaufende Konjunktur den Unternehmer¬
gewinn steigert. So sehen wir, daß täglich ertragreiche Unternehmungen in
andre Hände übergehn, häufig auch aus dem Privatbesitz in Aktienunter-
»ehmungen verwandelt werden. Bei den letztern prägt sich der Ertrag des
Unternehmens sofort im Kurse aus, und die verantwortlichen Leiter sind stets
darauf angewiesen, auf alle nur möglichen Ersparnisse Bedacht zu nehmen,
um eine dem Kurse entsprechende Dividende gewähren zu können. Die Kon¬
junktur kommt auf diese Weise stets dem Kapital zu gute.
Wir haben anch gesehen und erlebt, daß der Preis der Landgüter seit
dem Ende der dreißiger Jahre beständig gestiegen ist, weil sich seit jener Zeit
die Grundrente, der Pacht hob. Man hat in den seltensten Fällen daran
gedacht, einen Teil der höhern Grundrente der Arbeit zuzuwenden; man hat
es als ganz selbstverständlich ungesehn, daß die Grundrente allein dem Grund¬
besitzer zufallen müsse, obwohl das Steigen wesentlich der günstigen Konjunktur,
also nicht dem Verdienst des Eigentümers zuzuschreiben war. Viele Güter
haben seit fünfzig Jahren den zwei- bis dreifachen Wert erreicht; zum Teil
allerdings dnrch Meliorationen, namentlich aber durch die Konjunktur. Auch
hier hat nun jeder Käufer den gestiegnen Wert bezahlen, jeder Erbe sich ihn
anrechnen lassen müssen. Die Folge ist, daß dem jedesmaligen Besitzer die
günstige Konjunktur der vergangnen Zeit nicht mehr zum Nutzen gereicht:
denn der hohe Kaufpreis nötigt wieder, auf alle möglichen Ersparnisse Bedacht
zu nehmen. Den Vorteil der günstigen Konjunktur hat der frühere Besitzer
beim Verkauf eingeheimst. Ebenso steht es mit dem Pächter. Der Pacht be¬
stimmt sich durch die Konkurrenz der Pachtliebhaber, und jeder bietet so hoch,
als er es verantworten zu können glaubt, so lange noch Aussicht vorhanden
ist, Zins und Unternehmergewinn und ein Äquivalent für die eigne Arbeit
herauszuschlagen. Bei dieser Sachlage sind die am besten daran, die schon
vor vielen Jahren auf lange Zeit gepachtet haben oder lange Zeit im Besitz
gewesen sind. Alle übrigen haben schwer zu kämpfen, wenn sich die mit dem
Geschäft verbundnen Ausgaben: Kommnnalsteuern, Löhne u. s. w. mehren.
Dies ist im allgemeinen die Lage der Landwirtschaft und des ländlichen
Grundbesitzes. Die, die in der Gegenwart den Beruf des Landwirth ausüben,
haben von den günstigen Konjunkturen keinen Vorteil, weil dieser bereits früher
zu Kapital gemacht und vorweggenommen ist. So können die verfloßnen
Jahrzehnte im ganzen genommen dem Steigen der Grundrente, dem Ertrage
der Pächter günstig gewesen sein, und doch haben die Grundbesitzer und Pächter
der Mehrzahl nach mit Schwierigkeiten zu kämpfen.
Um nicht unterliegen zu müssen, verlangen sie Schutzzölle. Aber wenn
reiche Ernten geborgen sind, wie in diesem Jahre, wo Weizen und Roggen
soweit im Preise gefallen sind, daß die Produktionskosten nicht mehr gedeckt
werden, genügen die Schutzzölle nicht, um Grundbesitz und Landwirte aufrecht
zu erhalten. Der zu zahlende Lohn ist die wesentlichste Ausgabe, die den
Reinertrag der Wirtschaften herunterdrücke, und es ist daher selbstverständlich,
daß das Bestreben darauf gerichtet wird, billige Arbeitskräfte zu erlangen.
Die Klage über unerträglich hohe Lohne ist allgemein, selbst da, wo diese so
niedrig sind, daß die ganze Lebensführung der Arbeiter eine äußerst beschränkte
ist. Die sogenannten Sachsengünger verlassen ihre Heimat, die östlichen Pro¬
vinzen, und bringen den Sommer in den Rübengegenden zu, weil sie in der
Heimat nicht so viel verdienen können, .um sich den Winter über durchzu¬
schlagen. Und obwohl etwa 75000 Arbeiter und Arbeiterinnen alljährlich
gen Westen ziehen, um anderswo ihre Hände zu beschäftigen, klagen die Guts¬
besitzer im Osten über Mangel an Arbeitskräften und wissen die Staats¬
regierung zu bestimmen, russische und polnische Arbeiter wieder über die Grenze
zu lassen, die man ihnen aus nationale» Rücksichten verschlossen hatte. Die
Jndnstriegegendeu sind auch bereits angefüllt mit ausländischen Arbeitern, und
die Unternehmer freuen sich der Konkurrenz, die die Eingewanderten den Ein¬
heimischen machen.
Es muß aber doch jedermann einleuchten, daß die Hilfe, die der Land¬
wirtschaft und der Industrie durch Zulassung der Fremden gewährt wird, nur
auf Kosten der Arbeiter des Inlandes gewährt werden kann. Ihre Lage
kann sich nicht nennenswert verbessern, so lange ihnen eine unbeschränkte Ein¬
wanderung immer neue Konkurrenz schafft. Die Vorteile, die ihnen die
Schutzzölle in Aussicht gestellt haben, gehn auf diese Weise wieder verloren;
die nationale Arbeit, die man heben wollte, genießt, soweit es sich um die
Arbeiter handelt, keinen Schutz mehr. Die Unternehmer dagegen genießen die
höhern Preise des Schutzzolls und die niedrigen Löhne, die Folge einer völlig
freien Konkurrenz der Arbeitskräfte Europas. Hier wird nicht mit gleichem
Maße gemessen; die Gesetzgebung begünstigt die Unternehmer ans Kosten der
Arbeiter, ein Verfahren, das höchst bedenklich erscheinen muß und auf die
Länge nicht aufrecht erhalten werden kann.
, Die Sachsengänger würden hübsch in der Heimat bleiben, wenn sie ihr
Brot dort finden könnten. Aus Übermut gehn sie uicht fort, um anderswo
schwer zu arbeite» und mit immerhin spärlichem Gewinn im Herbst zurück¬
zukehren. Bei den Klagen der Landwirte über Arbcitermangel darf man eins
nicht übersehn. Die Natur des landwirtschaftlichen Betriebs bringt es mit sich,
daß im Sommer viele Arbeitskräfte erfordert werden, während man im Winter
die große Zahl nicht beschäftigen kann. Die Arbeiter wollen aber das ganze
Zahr hindurch leben, und wenn sie nicht in der Lage sind, während des
Winters anderweitige lohnende Arbeit zu finden, etwa beim Holzschlägen oder
in Fabriken, so muß ihr Lohn im Sommer so hoch sein, daß sie ihren Lebens¬
unterhalt für den Winter erübrigen können. Das ist eine Thatsache, die sich
uicht wegleugnen und auch uicht ändern läßt, und deshalb müssen sich ihr
die Verhältnisse fügen. Es giebt auch noch andre Betriebe, die in dieser Lage
sind, die auch die Hände nur den wärmern Teil des Jahres beschäftigen
können, und die deshalb im Sommer so hohe Löhne gewähren müssen, daß
die Leute dann im Winter zu leben haben: die Bauhandwerker. Wenn die
Landwirte über Arbeitermangel klagen, so muß man sie darauf hinweisen, daß
der Mensch nun einmal so beschaffen ist, daß seine Bedürfnisse auch im Winter
nicht aufhören; man muß ihnen zu Gemüte führen, daß sie die Leute auch
im Winter ernähren müssen, wenn es ihnen im Sommer nicht an Arbeits¬
kräften fehlen soll.
Wenn mau nun freilich glauben sollte, daß es den Grundbesitzern und
den Landwirten sehr gut ergehen müßte, da ihnen die Gesetzgebung so große
Bordelle einräumt, ihnen einerseits die Preise der Produkte durch Schutzzoll
steigert, andrerseits durch Zulassung fremder Arbeiter die Löhne drückt, so
würde man sich doch einer Täuschung hingeben. Denn nach Lage der Sache
können sich die gebvtnen Vorteile immer nur auf kurze Zeit geltend machen.
Hohe Produktenpreise und niedrige Löhne führen hohe Pachter und hohe
Preise der Grundstücke herbei, und so sind die letzten Besitzer und die neuesten
Pächter stets wieder genötigt, auf alle Ersparnisse Bedacht zu nehmen, weil
die günstigen Maßregeln, die ihnen hätten zu gute kommen können, bereits
von andern in Gestalt von Kapital oder Grundrente eingeheimst sind.
Diese Sachlage sollte doch Bedenken erregen, wenn es sich um agrarische
Klagen und um die Mittel, agrarischen Notständen abzuhelfen, handelt. Ist
unsre Auffassung der Sache richtig, so wird man einsehen müssen, daß die
Klagen niemals aufhören werden, weil sich die Ursachen, denen sie entspringen,
stets erneuern werden. Der Staat kann es uicht verhindern, daß ländliche
Grundstücke zu höchsten Preisen von Hand zu Hand gehn, und daß Pachtlieb-
haber äußerste Pachtpreise bieten. Was im Interesse der Landwirtschaft ge¬
schieht, kommt auf die Läuge immer nur dem Verkäufer und dem Verpachten
zu gute.
Andrerseits versteht es sich von selbst, daß nicht wirtschaftspolitische
Maßregeln getroffen werden dürfen, die zum Ruin der Landwirtschaft bei¬
tragen. Ohne einen mäßigen Schutzzoll auf Vieh und Getreide würde sich die
Landwirtschaft nicht aufrecht erhalten können. Die Rückkehr zum Freihandel
würde sich in gegenwärtiger Zeit verhängnisvoll erweisen. Beim Schutzzoll
findet die nationale Arbeit, finden Arbeitgeber wie Arbeiter ihre Rechnung.
Anders aber steht es mit Maßregeln, die die einen auf Kosten der audern
begünstigen, wie es entschieden bei der Zulassung fremder Arbeiter der Fall ist.
Hier übernimmt die Staatsregierung eine Verantwortung, die sie auf die Länge
nicht tragen kann. Die Maßregel ist um so bedenklicher, wenn sich, wie gar
nicht zu bezweifeln ist, herausstellen sollte, daß sie auf die Dauer ihre Wir¬
kung verliert. Der Stand der Arbeiter wird durch die Konkurrenz der
Ausländer heruntergedrückt, die billigen Löhne aber kommen auf die Dauer
nicht den Landwirten, sondern dem Grundbesitz und dem Kapital zu gute.
Daß die Grundbesitzer keinen Anspruch auf stetige Steigerung der Grundrente
haben, wird man zugeben. Wenn das allgemeine nationale Gedeihen zu einer
Steigerung der Grundrente führt, so wird jedermann den Grundbesitzern diesen
Vorteil gönnen. Aber es fragt sich doch, ob der Staat Mittel anwenden darf,
die Grundrente zu erhöhen oder deren Fallen abzuwenden. Solche Eingriffe
zum Vorteil der bessergestellten im Staate sind nicht ohne Bedenken.
In Großbritannien hat der Grundbesitz durch den freien Import land¬
wirtschaftlicher Erzeugnisse kolossale Einbuße erlitten. Er war reich genug,
den Schaden zu tragen, und der Staat hat sich uicht veranlaßt gesehn, den
Schlag abzuwehren oder die Folgen zu mildern. In Deutschland war der
Grundbesitz nicht reich genug, ähnliche Einbuße zu ertragen, nud die Notlage
der Grundbesitzer hätte auf das Wohl des gauzeu Landes in verderblichster
Weise zurückgewirkt. Das war der Grund, warum landwirtschaftliche Zölle
eingeführt wurden und werden durften. Anders aber ist es mit Maßregel»,
die dem Grundbesitz zuliebe getroffen werden, zugleich aber die Interessen
des ausgedehntesten Standes, des Arbeiterstandes, empfindlich verletzen. Sie
entsprechen nicht der Gerechtigkeit und können nicht verfehlen, die Erbitterung
und den .Klassenhaß zu verschärfe»?.
Es ist auffallend, daß von den deutschen Sozinldemokraten die Zulassung
ausländischer Arbeiter nicht stärker als mit den Interessen der Arbeiterwelt
im Widerspruch stehend hervorgehoben wird. Die Parteiprogramme berühren
diesen Punkt gar nicht. Es entspricht das aber dem kosmopolitischen Sinne
der deutschen Sozialdemokratie, die ihre Theorien für die Arbeiterschaft der
ganzen Welt zu verwirklichen strebt. In andern Ländern, wo man mehr die
naheliegenden Interessen ins Ange saßt und praktische Nrbeiterpolitik treibt,
tritt der Widerspruch gegen die Aufnahme fremder Arbeiter schon häufig genng
hervor. Die englischen Arbeiter beschweren sich lebhaft über die Konkurrenz
der deutschen. Die französischen Arbeiter haben häufig Streitigkeiten mit den
italienischen im südlichen Frankreich und dringen neuerdings darauf, daß die
belgischen Arbeiter ans Frankreich entfernt werden. Es leidet wohl keinen
Zweifel, daß bei deu zur Zeit bestehenden ungünstigen Absatzverhältnissen die
Arbeitslosigkeit der Massen, die durch die jetzige Produktionsweise ohnehin
gefördert wird, wiederholt in gefahrdrohender Weise zur Erscheinung kommen
wird. Dann wird sich immer die Frage aufdrängen, welche Mittel zu er¬
greifen sind, die Zahl der Unbeschäftigten und Arbeitsuchenden zu vermindern,
und das Mittel wird vor allem darin zu suchen sein, daß die im Reiche vor-
saubren Arbeitsstelleu von Deutschen eingenommen werden, und daß man es
verhindert, daß Ausländer davon Besitz nehmen. Zunächst können die, die
man nicht auf Grund von Verträgen zuzulassen braucht, zurückgewiesen werden,
und im übrigen würde man bei gutem Willen viele Mittel in Hunden haben,
die Einheimischen vor den Einwanderern zu bevorzugen. Heißt es jetzt: „Amerika
für die Amerikaner" und „Nußland für die Russen," so können wir nicht umhin,
diesem Rufe zu folgen und zu hageln „Deutschland für die Deutschen!"
n zwei herrlichen Abhandlunge» hat Ranke die wichtigsten der
Theorie», auf denen der moderne Konstitutionalismus beruht
— die von der Volkssouveränität und die von den drei Ge¬
walten - , ans ihre Herkunft geprüft und durch all ihre Wand¬
lungen begleitet. Dabei ist er zu dein Ergebnis gekommen, daß
die erstere in dem Widerstreit zwischen geistlicher und weltlicher Macht am
Ausgange des sechzehnten Jahrhunderts entstanden und zuerst von gelehrten
Jesuiten behauptet worden ist, die andre dagegen ihren Ursprung teils in den
Politischen Bewegungen hat, die England von den Zeiten der Reformation
bis auf die Restauration durch Wilhelm den Dritten erfuhr, teils in der
Opposition, in der in Frankreich während der Regierung Ludwigs des Fünf¬
zehnten die Parlamente so oft zum Königtum gestanden haben.
Nun ist wohl allgemein bekannt, daß sich schon am Ende des vorigen
Jahrhunderts der revolutionären Staatslehre eine andre Doktrin entgegensetzte,
die dann in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts ihre weitere Ausbildung
gefunden hat. Zum Teil ist diese vou derselben theoretischen Grundlage aus¬
gegangen, wie jene: die ersten Gegner der Revolution haben die Lehre von
der Teilung der Gewalten und nicht selten auch den Satz vom Gesellschafts¬
vertrag und von der Souveränität des Volks angenommen und sich so gut
wie die Verteidiger der Revolution auf Montesquieu und auf Rousseau berufen.
Mu» durchblättere einmal die Schriften der Rivarvl, Rehberg, Brandes n. a.,
und man wird finden, daß sie sich nur in der Auslegung und Anwendung
jener Theorien von ihren Gegnern unterscheiden. Wohl gab es daneben noch
eine kleine Schar von Antagonisten der Revolution, die von dem alten Stand-
Punkte des Königtums von Gottes Gnaden ausgingen und denen Filmer und
Bossuet noch Autoritäten waren; aber diese bedeuteten nichts, und aus den
Fortgang der politischen Theorie in unserm Zeitalter haben sie gar keinen
Einfluß ausgeübt. Es entsteht nun die Frage, woher die Elemente in unsre
heutige Stantsansicht gekommen sind, die der gesamten ältern Theorie durchaus
fremd sind, also zum Beispiel unsre Ausfassung des Königtums. Denn es
wird doch niemand behaupte», daß, wer heute die Berechtigung dieser In¬
stitution überhaupt noch zugiebt, sie auf den <üontra,t> sooig.1 oder die Lehre
von der Teilung der Gewalten gründe. Andrerseits sind es auch nur wenige
extreme Stimmen, die noch von einem Königtum von Gottes Gnaden im Sinne
Jakobs des Ersten und Ludwigs des Vierzehnte» sprechen; in dem Geräusch
unsrer politischen Diskussionen machen sie sich kaum bemerkbar.
Die Geschichte der Staatswissenschaften hat diese Frage längst beant¬
wortet: der geistige Urheber der neuen konservativen Doktrin unsers Jahr¬
hunderts ist der Schweizer Karl Ludwig von Haller. Dadurch, daß er den
Unterschied zwischen natürlicher und bürgerlicher Gesellschaft nicht wollte gelten
lassen, erschütterte er das ganze Gebäude der politischen Theorie, wie es die
letzten zwei Jahrhunderte aufgeführt hatten; nicht nur den Anwälten des kon¬
stitutionellen Schemas nach französischem Muster, auch dessen Bestreitern
entzog er den Boden, auf dem sie Stellung genommen hatten.
Eben in jenen Abhandlungen Rankes, von denen wir ausgegangen sind,
findet sich die Bemerkung: wenngleich die Doktrin ihr eignes Leben habe und
sich durch Spekulation fortentwickle, so übe doch die reale Welt allemal einen
bedeutenden Einfluß auf sie aus: die großen Krisen der Gesellschaft gäben
Impulse zu neuen Auffassungen, Idealen, Systemen. Das Zusammenwirken
jener innern und dieser äußern Motive bildet den eigentlichen Gegenstand von
Ranles Untersuchungen.
Bon der Lehre Hallers könnte man sagen, sie sei trotz aller ihrer
scheinbaren Ursprünglichkeit aus eiuer längst verbreiteten Ansicht entsprungen,
die auf den von ihm oft und mit Geringschätzung bestrittenen Montesquieu
zurückgeht: daß nämlich die natürlichen Verhältnisse eines Landes — Klima,
Lage, Sinnesart der Bewohner, ihre Vergangenheit, ihre ökonomischen und
gesellschaftlichen Zustände — den Charakter der Verfassung bestimmten, die
ihm allein angemessen sei, und daß es kein Schema eines besten Staates gebe,
das sich überall und unter allen Umständen anwenden lasse. Andrerseits
meinen wir aber, daß die Ausbildung der Hallerschen Doktrin zu ihrer eigen¬
tümlichen Gestalt äußern Veranlassungen zuzuschreiben sei. Wir finden diese
in deu Umwälzungen, die das Vaterland Hallers, die Schweiz, in der Zeit,
wo er auf der Höhe des Lebens stand, zwischen 1798 und 1830, erfahren
hat. Hierauf ist bis jetzt nur wenig Rücksicht genommen worden.
Haller war 1768 geboren und hat von seinem sechzehnten Jahre an in
seiner Vaterstadt Bern, zu deren politisch berechtigten Geschlechtern seine Familie
gehörte, in öffentlichen Dienste» gestanden. Als sogenannter Kommissions-
schreiber lernte er die administrativen wie die Jnstizgeschüfte seines Kantons,
als Sekretär zweier Tagsatzungen, in Baden und in Frauenfeld, die gemein¬
samen Angelegenheiten der Eidgenossenschaft aus eigner Anschauung kennen.
Diplomatische Sendungen führten ihn schon in jungen Jahren nach Frankreich,
»ach Deutschland und Italien. Er war in Paris, als die Nationalversamm¬
lung mitten in ihrem Zerstörungswerke begriffen war, in Rastatt, als die
Abgesandten der deutschen Stände über die Umgestaltungen berieten, die durch
den Sieg des revolutionären Frankreichs über Kaiser und Reich in diesem
Reiche notwendig geworden waren. In die Heimat zurückgekehrt, fand er die
alte Schweiz zusammengebrochen. Und nun sah er, wie dem Lande eine „dem
bisherigen Verhältnisse fremde und bis ins einzelne hinein der damaligen
Verfassung der französischen Republik genau nachgebildete, ans gehaltloser
Theorie und nicht aus dem Leben hervorgcgangne Verfassung" aufgedrängt
wurde. Bern, das im Laufe der Zeit teils durch Verträge, teils durch Krieg
weite Landgebiete erworben hatte, die es dnrch Vögte regierte, verlor die
Herrschaft über diese, da vor dem Staatsrecht der Revolution Vertrüge und
Krieg keine Rechtsgründe auf Besitztümer waren: das flache Land wurde zu
einem ebenso berechtigten Gliede des Kantons wie die Stadt. In den Räten,
die durch Entziehung der richterlichen Befugnisse beschränkt wurden, hatten
fortan nicht mehr die Patrizier allein zu walten, auch hier wurde das demo¬
kratische Prinzip der Gleichberechtigung aller eingeführt. Wohl ergaben sich
aus dieser Veränderung einige Vorteile. Größer aber waren unstreitig die
Nachteile. „Das behagliche, genügsame Leben, die heitre Ruhe, der Friede, der
sich in diesem glücklichen Lande niedergelassen hatte, mußte — so sagt ein
Darsteller dieser Zustände — einem wüsten Treiben der Stürmer und Wühler,
wie man dort die niedrigen Beweger passend nennt, dem Hasse und der Leiden¬
schaft der Parteien weichen. Durch die aufgedrungnen französischen Theorien
wurde der Staat auf eine höchst künstliche unorganische Weise eingerichtet und
eine Menge von einzelnen Institutionen, die weder dem Lande zusagten, noch
wohlthätig für das Land wirken konnten, eingeführt. Das traurigste aber
— so heißt es weiter — ist die gänzliche Zerstörung aller Sicherheit für die
Zukunft. Der innere Haltpunkt, den die Geschichte des Volks und Staats
gewährte, geht verloren, der untergrabne Boden schwankt, Veränderung folgt
auf Veränderung, Revolution auf Revolution."
Haller, der nur einen Augenblick von den damaligen Mvdetheorien er¬
griffen worden war, wandte sich alsbald gegen das neue Wesen: in den „Hel¬
vetischen Annalen" bekämpfte er es teils mit den Waffen der Satire, teils mit
ernster Beredsamkeit. Aber die „Annalen" wurden verboten, und er mußte
das Vaterland verlassen. Nun begab er sich in österreichische Dienste: den
Feldzug von 1799 und 1800 hat er als Kriegsratssekretär zum Teil in Wien,
zum Teil im Lager des Erzherzogs Karl erlebt. Die Geschichte der Wirkungen
und Folgen dieses Feldzugs, „ein historisches Gemälde der Schweiz," ver¬
öffentlichte er 1802 in Weimar; er bemühte sich darin zu zeigen, daß die
kurze Herrschaft revolutionärer Prinzipien in der Schweiz überall allgemeine
Unzufriedenheit erzeugt habe und der Sieg der österreichisch-russischen Waffen
selbst dort mit Sehnsucht herbeigewünscht werde, wo, wie im bernischen Ober¬
lande, die sogenannte Aufklärung allgemein verbreitet sei. „Woher — fragt
er — ist diese Erscheinung anders zu erklären, als aus dem natürlichen Ge¬
fühl, dem gesunden Volksverstaud, der alle Afterphilosophen zu Schande»
macht, daß Zernichtuug alles Standvermögens, Umstürzung aller vater¬
ländischen Einrichtungen, Gewohnheiten und eignen innern Landesgesetze, an
deren Platz nur willkürliche Beamten, snchleeres, unverständliches Gewäsche,
Auflagen und fremde Truppen kommen, weder Freiheit noch Glück zu bewirken
fähig sind, sondern geradezu das Grab aller Freiheit und alles Glückes aus¬
machen müssen," Wo er dann die Frage erörtert, was nach dem Siege der
Verbündeten und dem Zusammenbruch der neuen Ordnung in der Schweiz hätte
geschehen sollen und können, entwickelt er schon den Gedanken, der hernach der
Grundpfeiler seines ganzen Systems geworden ist. „Selbst das ganze Volk
sagt er — ist nicht berechtigt, irgend jemand seine Privatrechte abzusprechen."
Die Herrschaft der Hauptstädte in den sogenannten aristokratischen Kantonen
über das Land beruhe aber eben auf Privatrechten. Es wäre leicht zu be¬
weisen, meint er an einer andern Stelle, daß eine Anordnung, wobei jedes
ursprüngliche Glied des Staates seine Rechte behält, niemand etwas wesent¬
lichen aufopfert und der Souverän nur gewisse, zur gemeinsamen Einigkeit
unentbehrliche Befugnisse hat, d. i. eine durch Verträge bestimmte Ober¬
herrschaft, wie sie in der Schweiz (vor 1798) rein geblieben war, im Grunde
weit billiger und der individuellen Freiheit angemeßner sei, als die neuen
sogenannten repräsentativen Regierungen, die zwar — das wie? will er gar
nicht berühren — aus dem Volke hervorgingen, allein, einmal gesetzt, ihrem
wesentlichen Charakter nach völlig unumschränkt, an nichts gebunden seien,
kein Gesetz als ihren Willen kennten, kein Interesse zur Erhaltung fremder
Rechte hätten und bei dem, was sie als öffentliches Bedürfnis aufgaben, uicht
ihr eignes Gut, sondern das der übrigen verzehrten. Diese einfache Einrich¬
tung lasse jeden: das Seine und weiche den Kollisionen durch Festsetzung be¬
stimmter Verhältnisse aus. Sie gründe sich auf Vertrage, von Bedürfnissen
herbeigeführt, und sei eben deswegen teils frei, teils dem Zwecke angemessen;
sie gehe ans allen menschlichen Verbindungen, „gleichsam aus der Natur der
Dinge" hervor und schließe sich dabei wieder schwesterlich ihr an, während
die neuen Verfassungen, die man philosophisch nenne, einem jeden das Seine,
d. h. die eignen gesellschaftlichen Rechte nähmen und alle Privatzweckc zer¬
störten, sich auf keinen Vertrag gründeten, sondern einer metaphysischen Idee
zuliebe, aber allen Wünschen, Verhältnissen und Bedürfnissen zum Trotz, nur
durch den grausamsten Zwang, durch zahllose Ungerechtigkeiten eingeführt
werden könnten und aller künstlichen Kombinationen ungeachtet immer un¬
zweckmäßig blieben.
Johannes von Müller hat dieses Buch Hallers gleich nach dessen Er¬
scheinen mit der „Empfindung heftiger Trauer, des Unwillens und Mißmuth"
gelesen; in einem Briefe, worin er davon spricht, führt er den Spruch an:
altri c1ni)aru traxit Wirtöntia, mentsiri, vuraront Kuxsri körr!i8?
1306 kehrte Haller in die Heimat zurück. Zwar die Verfassungsände¬
rung von 1798 war auch durch die Mediationsakte Napoleons von 1803
uicht rückgängig gemacht worden, aber wenigstens waren die Radikalen zur
Ruhe verwiesen und die föderative Gestaltung der Schweiz, die jene ange¬
fochten hatten, verbürgt wordeu. In Bern war der Rat trotz seiner demo¬
kratische!? Zusammensetzung unbefangen genug. Haltern mit der Professur des
Staatsrechts an der dortigen Universität zu betrauen. In der Antrittsvorlesung
„Über die Notwendigkeit einer andern obersten Begründung des Staatsrechts"
hat er jene flüchtigen Gedanken des Buches von 1799 über die Grundlage
der schweizerischen Kantonalrechte zum Gegenstand einer ausführlichen Erörte¬
rung gemacht, die ihm sogleich manche — litterarische und andre — Gegner-
schaften zuzog. Aber erst 1808 erschien eine systematische Zusammenfassung
und Entwicklung dieser Gedanken unter dem Titel „Handbuch der allgemeinen
Staatsklugheit nach den Gesetzen der Natur." Sowohl aus jener Rede wie
aus dieser Schrift geht hervor, daß er sich mit der Lage der Dinge in seinem
Vaterlnude keineswegs ausgesöhnt hatte. Endlich, nach dem Ausgang der napo¬
leonischen Herrschaft, war Hoffnung, daß die frühern Zustände wieder hergestellt
werden würden. Am 22. Dezember 1813 erklärte der große Rat von Bern die
Mediationsverfassung von 1802 für aufgehoben; andre Kantone folgten mit der¬
selben Erklärung. Aber obgleich Bern hierauf an der Spitze von acht alten Kan¬
tonen zu Luzern die Erklärung abgab, daß nunmehr wieder der Zustand zu Recht
eingetreten sei, der vor dem Eingreifen der französischen Revolutivnsregierung
jahrhundertelang bestanden habe, wurden trotzdem die alten Verfassungen
uicht wieder ins Leben gerufen; so wenig wie in Deutschland trat in der
Schweiz eine vollständige Restauration ein, insbesondre blieben alle Uuter-
thanenverhältnisse abgeschafft. Hierdurch waren die Altkonservativen, denen sich
Hnller selbstverständlich anschloß, keineswegs befriedigt. In dein großen Rat,
>u den er durch seine Partei gelangte, trat er mit Leidenschaft und Hart¬
näckigkeit gegen jede Weiterbildung der heimischen Institutionen auf der ver¬
haßten revolutionären Grundlage auf. 1816 gab er den ersten Band seines
Hauptwerkes, der „Restauration der Staatswissenschaften oder Theorie des
natürlich geselligen Zustandes" heraus, der das Motto aus Juvenal trägt:
biuwyuam Muck vswiÄ kling WMntm, äsest. Gleich in der Vorrede wird
die konstitutionelle Theorie mit einer Art von Fluch belegt: „Wer stets
von bürgerlichen Vereinigungen, künstlichen Garantien, Konstitutionen und
Organisationen spricht, von dem weichet, haltet ihn für einen Jakobiner oder
sür derselben Knecht, und wenn er auch seine Stimme holdselig macht, von
Milde und Mäßigung, von Liberalität und Humanität, von Kultur, von Ver¬
vollkommnung u. s. w. spricht, so glaubet ihm nicht, denn es sind sieben
Greuel in seinem Herzen!" Mohl sagt, dies Werk sei nicht bloß ein Buch,
sondern eine gewaltige politische That gewesen und habe das unleugbare Ver¬
dienst, die dogmatischen Staatswissenschaften durch Aufnahme einer Reihe von
Staatsarten, die bis dahin keine Berücksichtigung gefunden hatten, in den
Kreis der Beobachtung erweitert zu haben. Was uns betrifft, so finden wir
ein weitres Verdienst auch darin, daß es die alte Auffassung von dem natur¬
rechtlichen Ursprung der Gesellschaft endgiltig beseitigte; die Natur hat nie
Gesetze gegeben, nie Rechte geschaffen, sondern Bedürfnis und Macht des
Menschen thaten dies. Dieser Satz, den heute auch radikale Theoretiker gelten
lassen,") geht zuletzt auf Haller zurück.
Die folgenden fünf Bünde der „Restauration," in denen er seine Ansicht
an den verschiedne» Staatsarten dargelegt, erschienen von 1812 bis 1834.
Inzwischen war es allenthalben in Europa und selbst jenseits des Ozeans zu
Revolutionen gekommen, und in vielen Ländern hatten die von ihm so sehr
verschenken Theorien Leben gewonnen. Weit entfernt aber, sich deshalb mit
ihnen auseinanderzusetzen oder abzufinden, wie es z. B. Gentz und in einer
spätern Periode Ranke gethan hat, wurde Haller dadurch immer verbitterter.
Am bekanntesten ist die grimmige Schrift, zu der ihn die Konstitution der
spanischen Cortes von 1820 veranlaßt hat; sie besteht ans einem ältern, schon
1814 geschriebnen Teil, worin die Verfassung von 1812 einer ausführlichen
Kritik unterzogen wird, und aus spätern Bemerkungen, die hinzugefügt wurden,
als durch die Revolution von 1820 jener Entwurf aufs neue Gesetzeskraft ge¬
winnen sollte. Niemand wird heute dieses Machwerk, das nichts als eine
oberflächliche Nachahmung der französischen Konstitution von 17i)1 ist, in
Schutz nehmen »vollen, aber Haller wendet sich darin mit fanatischem Un¬
gestüm gegen jeden Versuch, ans Grund der revolutionären Theorien die mon¬
archische Gewalt zu beschränken. „Fliehet das Wort Konstitution," ruft er
im Nachwort, „es ist Gift in Monarchien, darum weil es eine demokratische
Grundlage voraussetzt, deu innern Krieg organisirt und zwei auf Leben und
Tod gegen einander dampfende Elemente schafft." Ein „Leichenwort" nennt
er an einer andern Stelle das Wort Konstitution, „welches Verderben mit
sich führt und eiuen Totengeruch verbreitet." Er wagt deu Satz: „Die Volker
bedürfen weit mehr ihre rechtmäßigen Könige als die Könige ihre Völker," er
bricht unwillig den Stab über den modernen Staat überhaupt, der mit dem
Unterricht „unsre Seele," mit der Wehrpflicht „unsern Körper," mit der all¬
gemeinen Besteuerung „unser Eigentum" raube. In dieser unversöhnlichen
Härte verblieb er; die Anfechtungen, die er infolge seiner Ansichten erfuhr, be¬
stärkten ihn nur darin. So wie einst seine „Annalen," so wurde nun seine
Schrift über die spanische Konstitution in Bern verboten, und als er bald
darauf katholisch wurde, stieß ihn der große Rat aus seiner Mitte aus. Zum
drittenmale verließ er sein Vaterland, um diesmal der Sache, die ihn ganz
erfüllte,, in Paris zu dienen: in der Zeitschrift 1^6 vraxo^in bleu trat er für
die royalistischen Ultras mit Feuereifer ein. Die Julirevolution trieb ihn wieder
von dannen, aber den Kampf gab er nicht auf: seine Freunde und Anhänger
waren es, die 1831 das Berliner politische Wochenblatt gründeten, und er
selbst hat noch am Vorabend der Februarrevolution den preußischen König
zur „Behauptung seiner Rechte" aufgerufen und ermahnt. Länger als ein
Menschenalter ist er der geistige Führer des extremsten Flügels der Konser-
vativen aller Länder gewesen, und nach seinem Tode gab ihm ein Gegner das
Zeugnis, er stehe in dem Jahrhundert als ein Mann „von gewaltiger Kraft
des Geistes, von großer Folgerichtigkeit des Denkens, von Unerschrockenheit
und Fähigkeit des Charakters, von nicht verächtlichem Wissen und Scharfsinn,"
er habe ein Werk geliefert, das seinen Namen auf die spätere Nachwelt
bringen werde.
Man wird vielleicht sagen, daß in der Periode der napoleonischen Herr¬
schaft nicht bloß die Schweiz die Bedingungen geboten habe, unter denen sich
eine Individualität wie Haller entwickeln konnte: auch in Frankreich und
Deutschland waren die ursprünglichen von Natur und Geschichte gegebnen Ver¬
bände gelöst und durch Bildungen einer abstrakten Staatslehre ersetzt worden.
Hierauf könnte man antworten, daß auch wirklich hier wie dort Mciuner
aufgetreten seien, die eine der Hallerschen ähnliche Doktrin verkündet haben:
De Maistre'^) sowie Adam Müller ist zu seinein System unabhängig von dem
Berner Staatsphilosophen gelangt. Zuletzt aber tritt überall da, wo eine
große Persönlichkeit erscheint, ein irrationales Element in die Geschichte ein:
niemand kann ergründen, warum sie gerade an dieser Stelle, gerade in dieser
Form erschienen ist.
Auf den ersten Anschein möchte man nun wohl glauben, daß diese Hallersche
Lehre, von allem Anfang aufs heftigste bekämpft und wenig verteidigt, längst
überwunden sei, und gerade die entgegengesetzte Meinung den Sieg davonge¬
tragen habe. Aber es ist hier derselbe Irrtum, den man gewöhnlich in Bezug
aus die thatsächliche Gestaltung unsers Staatslebens hegt, wenn man es als
ganz und gar auf den Grundlagen der Revolution erwachsen ansieht. Aller-
dings, die Revolution hat sehr viel dazu beigetragen, unsre Staaten so zu
machen, wie sie heute siud, aber ausschließlich von ihr haben sie doch keines¬
wegs ihre Gestalt empfangen; Kräfte, die gerade im Gegensatz zu ihr ent¬
standen und emporgekommen sind, haben an dem politischen Bilduugsprvzeß
unsers Jahrhunderts gleichfalls ihren Anteil gehabt. Und so ist es nun auch
in der Theorie. Die Konstitutionen, die sich allenthalben neu gebildet haben,
sind so gut wie unbestritten, selbst die Konservativen der äußersten Rechten
lassen sie wohl gelten und haben sich mit ihr abgefunden. Aber nicht als
die allein berechtigte, gleichsam allein seligmachende Form des Staatslebens
sieht man sie an, sondern als Einrichtungen, die zum Teil bloßen Wünschen,
zum Teil wirklichen Bedürfnissen entsprungen, nun durch jahrzehntelangen
Bestand eine Art historischen Rechts gewonnen haben. Diese Auffassung steht
aber im Grunde der Hallerschen sehr nahe: er ist nun auch ein natürliches
Verhältnis geworden, dieser Konstitutionalismus, in dem Fortgang der Dinge
hat er sich allmählich neu gebildet. Aber daß unter Umständen ans andre
Weise besser regiert werden kann, wird heute niemand leugnen: Bosnien u. a.
legt Zeugnis davon ab.
Und so sehn wir denn den Grundgedanken der Hallerschen „Restauration"
nicht nur als leitende Idee des modernen Konservatismus angenommen, er
hat auch auf die politische Anschauung des Jahrhunderts überhaupt Einfluß
gehabt. Beinahe gänzlich aufgegeben ist dagegen alles, was Haller gegen das
System der neuern Staatsverwaltung vorgebracht hat; insbesondre empfinden
wir die Verquickung seiner Theorie — mau kann nicht sagen mit katholischen,
aber mit hierarchisch-priesterlichen Tendenzen als einen Anachronismus. Aber
schon zu Hallers Lebzeiten hat man darauf nicht so großen Wert gelegt, die
meisten Mitarbeiter der Berliner politischen Wochenschrift waren doch eifrige
Protestanten. Seine eigne Abwendung vom Protestantismus erschien zwar
ihm selber als eine notwendige Folge seines politischen Glaubensbekenntnisses,
und von den sechs Bänden seines Hauptwerkes beschäftigen sich zwei mit
den Priesterstaaten; aber diesen Zusammenhang vermögen wir heute, wo sich
die katholische Kirche nicht scheut, durchaus demokratische Staatsformen an¬
zuerkennen und innerhalb dieser doch eine große Herrschaft über die Gemüter
auszuüben fortfährt, nicht mehr einzusehen.
on meiner diesjährigen Rundreise habe ich mir eine interessante
Reliquie mitgebracht: den Umschlag meines Rundreisebillets.
Ich habe ihn oft studirt auf langweiligen Strecken, wo es draußen
nichts zu sehen gab, und habe mich redlich bemüht, mich mit
dem „Auszug aus den Beförderungsbedingungen," der drei
Seiten davon umfaßt, vertraut zu machen. Aber ganz ist es mir doch nicht
gelungen; deshalb habe ich ihn mit nach Hause genommen, um hier gelegentlich
das Studium fortzusetzen, damit ich übers Jahr noch besser gerüstet bin
als Heuer.
Die Schwierigkeiten beginnen gleich auf der Titelseite: Nundreisebillette
giebt es ja eigentlich gar nicht mehr, sondern nnr noch „zusammengestellte Fahr¬
scheinhefte." Vor wenigen Jahren sprach man noch allgemein von „kom-
binirbaren Rundreisen" und „kombinirbaren Rundreisebillets." Das stand in
meinem diesjährigen Büchelchen nnr noch ans zwei Billetten, aus einem von
der Main-Neckarbahn und auf einem von der tgi. bairischen Staatseisen¬
bahn; es waren das wohl noch ältere Billette von seltner befahrenen Strecken.
Auf alleu übrigen, auf denen der tgi. preußischen und der grvßhzgl. badischen
Staatseisenbahnen, der hessischen Ludwigseisenbahn und auch auf den meisten
der tgi. bairischen Staatseisenbahnen war nnr noch von „zusammenstellbareu
Fahrscheinen" die Rede. In kurzem wird es also jedesfalls in ganz Deutsch¬
land nur noch „zusammenstellbare Fahrscheine" geben. Und da, wenn zwölf
solche „Fahrscheine" mit Drahtklammern verbunden werden, natürlich ein
„Heft" entsteht, die Zusammenstellbarkeit der „Fahrscheine" aber durch deu
Heftdraht aus dem Bereich der bloßen Möglichkeit in den der Wirklichkeit,
der Thatsnchlichkeit gerückt wird, so kann kein Zweisel darüber sein: das
Büchelchen, das mir am Schalter verabreicht wird, damit ich eine Rundreise
machen kann, ist ein „zusammengestelltes Fahrscheinheft." Das ist logisch
unanfechtbar und über jeden Zweifel erhaben.
Aber ist es denn noch deutsch? Ist es überhaupt noch Sprache? Soll
das deutsche Volk wirklich diese Büchelchen in Zukunft „zusammengestellte
Fahrscheinhefte" nennen? Nennen — darauf kommts doch an! Dinge brauchen
Namen! Soll ich wirklich in Zukunft am Schalter um ein „zusammengestelltes
Fahrscheinheft" bitten? Soll ich meinen Freund, der eine Reise vorhat,
fragen: Hast du dir schon dein „zusammengestelltes Fahrscheinheft" besorgt?
Ein Fehler, der bei unsern jetzigen Bestrebungen, die deutsche Sprache
von Fremdwörtern zu reinigen, fort und fort gemacht wird, ist der, daß man
für den fremdländischen Namen, den ein Ding hat, nicht einen deutschen Namen
setzt, sondern den Begriff umständlich definirt. Kommt, wie im vorliegenden
Falle, noch das büreaukratische Bestreben hinzu, derartige Definitionen auch
juristisch unanfechtbar zu machen, so entstehen dann solche ungeheuerliche
Sachbenennungen wie „zusammengestelltes Fahrscheinheft." Unsre Amtssprache
wird, seitdem die Sprachreinigung im Gange ist, immer mehr mit solchen Un¬
getümen überschwemmt, die keine Namen mehr sind, sondern nur noch Um¬
schreibungen, ängstlich logisch und juristisch abgegrenzte Umschreibungen der
Dinge. Gott schütze unsre Sprache vor weiter» solchen Reinigungserfolgen!
Ich hasse die Fremdwörterei im Deutschen auch vou Grund meiner Seele,
es kann sie niemand mehr hassen als ich. Aber die Reinigung ist ganz am
falschen Ende angefaßt worden, man hat sich auf die technischen Ausdrücke ge¬
stürzt; und da fiel denn auch Billet mit zum Opfer. Das Wort Billet
war aber gar kein Fremdwort mehr, es war schon fast zum Lehnwort
geworden. Es lebt in unsrer Sprache seit Jahrhunderten, gehört zu den
zahlreichen Wörtern, die durch den kaufmännischen Verkehr hereingekommen
sind,") man brauchte es nnr deutsch auszusprechen, wie es das Volk aus¬
sprach und noch heute ausspricht (ohne das auch etymologisch ganz unberech¬
tigte 1 incmillö), so konnte es ruhig beibehalten werden. Jetzt heißt es nun
dafür bald „Fahrkarte," bald „Fahrschein," je nachdem das Ding ans Pappe
gezogen ist oder aus einem bloßen Stück Papier besteht. Diese Unterscheidung
ist aber gar nicht richtig. Denn Karte bedeutet ursprünglich keineswegs bloß
das gesteifte oder uns Pappe gezogne Papier <wie in Spielkarte, Visitenkarte),
sondern das Papier überhaupt (wie in Landkarte). Mit dem Worte „Schein"
wiederum verbinden wir unwillkürlich die Vorstellung einer gewissen Größe,
die bei den „Fahrscheinen" der Eisenbahn allenfalls noch eingehalten ist, denn
hier ist sie ungefähr dieselbe wie bei den ehemaligen „Kassenscheinen." Aber
die Pferdebahn — die hat natürlich nun auch keine Billette mehr, sondern
redet auch von „Fahrkarten," obwohl ihre Billette nicht auf Pappe gezogen
sind. „Scheine" — das hat mau gefühlt — kann man diese erbärmlichen
Wischcl doch nicht nennen, höchstens „Fahrblättchen" oder „Fahrschnitzel."
Aber selbst zugegeben, Billet sei ein unwürdiges Fremdwort, glaubt man
denn vielleicht, Karte sei ein deutsches Wort? Karte ist nicht um ein Haar
deutscher als Villet. Wenn der „Verein deutscher Eisenbahnverwaltungen"
dem zusammengestellten Fahrscheinheft — jetzt schreibe ichs einmal ohne Gänse¬
füßchen, denn jetzt meine ich die Sache, nicht den Namen — hätte einen
Namen geben wollen, so hätte ers z. B. „Rundbuch" oder, da ja die „zu¬
sammengestellte" Reise jetzt keine Rundreise mehr zu sein braucht, „Fahrbuch"
nennen können — das wäre allenfalls ein Name; aber „zusammengestelltes
Fahrscheinheft" ist kein Name, es ist eine mühselige, umständliche Begriffs¬
bestimmung. Tisch und Stuhl, Rock und Hemd, Fleisch und Brot — das
sind Namen. Wenn ich aber sür Stuhl sagte: „vierbeiniges, mit einer Lehne
verfehltes Sitzbrete," so würde diese Bezeichnung mit dem „zusammengesetzten
Fahrscheinheft" ungefähr auf einer Stufe stehn.
Aber der Titel ist ja schließlich eine Äußerlichkeit. Viel schlimmer steht
es mit den „Beförderungsbedingungen," die auf den folgenden drei Seiten des
Umschlags abgedruckt sind. Diese elf Paragraphen bilden ein so abschreckendes
Beispiel von Amtsdeutsch, daß es der Mühe lohnt, sie sich einmal näher ein-
zusehn. Es ist in der letzten Zeit schon viel geklagt worden über Kanzleistil,
Juristendeutsch, Amtssprache u. tgi. Aber es ist vielleicht gut und lehrreicher,
als alle allgemeinen Deklamationen, einmal an einem kleinen, engbegrenzten
und dabei allbekannten Beispiel zu zeigen, wie geschrieben wird und doch nicht
geschrieben werden sollte.
Die beiden Haupteigenschaften des Kanzleistils sind bekanntlich Gespreizt¬
heit und Aufgeblasenheit auf der einen, Breite und Weitschweifigkeit auf der
andern Seite. Die eine ist die Folge davon, daß sich der Bureaumcnsch, anch
der subalternste — der erst recht! —, stets für hoch erhaben über das Publikum
hält und dieser Erhabenheit, wo der Inhalt seiner Borschriften nicht dazu an¬
gethan ist, wenigstens in der Form, in der Sprache Ausdruck zu geben sucht;
die andre ist die Folge davon, daß der Gesetzmacher stets alle seine Mit¬
menschen entweder für Dummköpfe oder für Schurken hält und deshalb be¬
müht ist, bei den einen, den Dummköpfen, ein nnabsichtliches, bei den andern,
den Schurken, ein absichtliches Mißverständnis seiner Vorschriften zu verhüten.")
Kommt noch dazu, wie so oft, natürliches Ungeschick, so entsteht dann jene
Ausdrucksweise, in der der größte Teil unsrer heutigen Gesetze, Verordnungen,
Bekanntmachungen, Statuten u. s. w- abgefaßt ist. Auch an den nachfolgenden
elf Paragraphen lassen sich die drei Ursachen unsers Kanzleistils — der Kanz¬
leistil selbst würde sagen „Faktoren"! —: Ungeschick, Wichtigthuerei und
Angst vor Mißverständnis deutlich nachweisen. Wir wollen sie einzeln be¬
trachten.
1. Das Heft ist persönlich und unübertragbar, kann daher nur von derjenigen
Person benutzt werden, welche mit demselben (!) die Reise angetreten hat. Die
nufsichtführenden Beamten der Eisenbahn- oder Dampfschiff-Berlvaltuugen sind be¬
rechtigt, behufs (!) Feststellung der Persönlichkeit des Reisenden von dem letzteren (!)
die Wiederholung seiner, vor Antritt der Reise auf der Außenseite des Umschlages
mit Dinte (D!) gegebenen Namensunterschrift zu fordern. Ergiebt sich, das; der
Reisende nicht der rechtmäßige Inhaber des Heftes ist, so wird ihm das letztere (!)
abgenommen und er als Solcher (S!) behandelt, der ohne giltige Fahrkarte be¬
troffen wird.
In dem ersten Satze dieses Paragraphen ist nicht weniger als dreimal
dasselbe gesagt. Denn unübertragbar heißt doch nichts anders, als was
schon — übrigens in etwas zweifelhaftem Deutsch — mit persönlich gesagt
sein soll, und was dann folgt, ist wieder eine unnötige Erklärung des Wortes
unübertragbar. Soll aber damit gesagt sein, daß ich das Heft, solange
ich die Reise noch nicht begonnen habe, an jede andre Person abtreten könne,
so ist doch das Heft in diesem Falle thatsächlich übertragbar, die erste,
allgemeine Vehanptnng also falsch. Der zweite Satz enthält einen starken
logischen Verstoß, weil die Hauptsache ganz beiläufig in Form eines abhängigen
Genetivs ausgedrückt ist. Es ist, als ob dem Verfasser diese Hauptsache erst
nachträglich eingefallen wäre, er aber keine Lust gehabt hätte, deshalb den
Satz noch einmal neu von vorn anzufangen. Jeder Reisende soll vor dem
Antritt der Reise mit Tinte seineu Namen auf den Umschlag schreiben — das
ist die Hauptsache, deun es wird in jedem Falle gefordert, in tausend Fällen
also tausendmal. Daß die Person eines Reisenden Zweifel erregt und er des¬
halb aufgefordert wird, auf der nächsten Station seinen Namen zum Vergleich
— „behufs" des Vergleichs würde die Eisenbahnverwaltung sagen — auf
ein beliebiges Stück Papier zu schreiben, das wird in tausend Fällen kaum
einmal vorkommen. Der Satz müßte also vernünftigerweise so lauten: „Der
Reisende hat vor dem Antritt der Reise auf den Umschlag ^natürlich auf die
»Außenseite«! denn dort steht ja »Unterschrift des Inhabers« vorgedruckts
seinen Namen zu schreiben; die Bahn- oder Schisfsbeamten sind berechtigt
^natürlich die »aufsichtführenden«! der Heizer oder der Weichensteller nichtlj,
in Zweifelsfällen von ihm die Wiederholung dieser Unterschrift zu fordern."
Der letzte Satz endlich, worin zum zweitenmale innerhalb von drei Zeilen das
thörichte letztere vorkommt, obwohl nirgends von einem „erstern" die Rede ist,
würde in gutem Deutsch etwa so heißen: „Ergiebt sich dabei, daß der Reisende
nicht der rechtmäßige Inhaber ist, so wird ihm das Heft abgenommen und er
wie einer behandelt, der ohne giltige Fahrkarte betroffen worden ist."
2. Kinder unter 4 Jahren, die ihre Stelle (!) auf den Plätzen ihrer An¬
gehörigen mitfinden (!), werden frei befördert.
Das soll heißen: „Kinder unter vier Jahren, die ihren Platz mit auf
den Plätzen ihrer Augehörigen finden," u. f. w. Das mit ist falsch gestellt.
Und weshalb die „Angehörigen" einen „Platz," die Kinder eine „Stelle" haben
sollen, ist nicht einzusehn. Wahrscheinlich ist der Verfasser in dem Schul-
mcisteraberglauben befangen gewesen, daß man nicht kurz hinter einander zwei¬
mal dasselbe Wart brauchen dürfe. Jeder solche gesuchte Wechsel im Aus¬
druck aber ist vom Übel und stört bloß, wenn dieselbe Sache gemeint ist.
3. Abfertigung (!) des Reisegepäckes kann nnr nach solchen Stationen ver¬
langt werden, für welche Gepäckfrachtsätze (!) bestehen. Gepäck-Abfertigung über
Berlin hinaus chinans?^ findet indessen (!) nur in dem Falle (!) statt, daß (!) die
Überführung (!) des Gepäckes durch Berlin vermittelst (!) der Stadtbahn bewirkt (!)
werden kann. Insoweit (!) dies nicht der Fall Mj, hat der Reisende für die
Überführung (!) seines Gepäckes von dem einen nach dem andern Bahnhofe in
Berlin selbst zu sorgen. Für die Beförderung des Gepäckes auf Strecke», für
welche das Heft bezahlte Scheine nicht (!) enthält, hat der Reisende unter allen
Umständen, für die Überführung von und nach dem Schiffe bezw. (!) von und nach
dein Fuhrwerke dann selbst zu sorgen, wenn in dem Fahrschein-Verzeichnisse >des?j
betreffenden Orts etwas anderes nicht (!) angegeben ist. Bei der zollamtlichen
Untersuchung des Reisegepäckes an den Zollgrenzen hat der Reisende anwesend zu
sein. Die Bahnverwaltuugeu übernehmen keine Verantwortlichkeit (!) für die Folgen
der Nichtbeachtung dieser Vorschriften.
Diesen Paragraphen verstehe ich nnr zum Teil; einzelne Sätze sind
nur trotz alles Nachdenkens dunkel geblieben. Mit dem garstigen Worte Ab¬
fertigung, nehme ich an, ist gemeint, was der gewöhnliche Mensch Be¬
sorgung nennt. Was Gepächt — zum Teufel! ich kann das Wort nicht
aussprechen, ich sage jedesmal Gepächtfracksätze — also Gepäckfrachtsätze
sind, weiß ich nicht, ich kann mir auch nichts drunter denken. „Über Berlin
hinaus" wird wohl dasselbe heißen sollen wie „durch Berlin." Was es mit
dem „Fahrscheinverzeichnis" sür ein Bewandtnis hat, weiß ich wieder nicht.
Auch „betreffenden Orts" verstehe ich nicht; vielleicht soll es heißen: „beiden:
betreffenden Orte." Es wäre aber anch möglich, daß das ,.Fahrscheinverzeichnis
des betreffenden Orts" gemeint wäre. Wenn man gar keine Ahnung hat, um
was sichs handelt, läßt sich so etwas nicht erraten. Die Worte „an den Zoll¬
grenzen" sind ganz überflüssig, deun anderswo als an den Zollgrenzen findet
überhaupt leine Untersuchung des Gepäcks statt. Ebenso überflüssig ist der
ganze Schlußsatz, denn daß der Gesetzgeber nicht die nachteiligen Folgen trügt,
die entstehen, wenn jemand seine Gesetze nicht beobachtet, braucht doch wahr¬
haftig nicht besonders gesagt zu werden, es könnte schließlich hinter jedem
Paragraphen stehn. Aber gesetzt, es empföhle sich hier aus gewissen
Gründen, es ausdrücklich zu bemerken, dann müßte es wenigstens Verant¬
wortung statt Verantwortlichkeit heißen, denn zwischen beiden Wörtern
ist ein großer Unterschied. Übernehmen oder ablehnen kann ich nnr die Ver¬
antwortung; halle ich sie übernommen, dann bin ich verantwortlich. Aber
die Verantwortlichkeit kann ich nicht „übernehmen," sondern die habe ich
entweder, oder ich habe sie nicht. In menschlichem Deutsch also würde der
Paragraph, so weit ich ihn verstehe, etwa so lautem „Durch Berlin wird dem
Reisenden sein Gepäck nnr dann besorgt, wenn es mit der Stadtbahn geschehen
kann. Ist das nicht der Fall, so hat es der Reisende selbst zu besorgen. Das¬
selbe gilt für alle Strecken, für die das Heft überhaupt keine Scheine enthält
^warum bezahlte? giebts auch solche, die nichts kosten?^, ebenso für die Ver¬
bindung mit dem Schiff oder dem Fuhrwerk, wenn im Fahrscheinverzeichnis
bei dem betreffenden Orte nichts andres bemerkt ist."
4. Die Reise kann innerhalb der Giltigkeitsdcmer des Heftes zu jeder Zeit
angetreten werden. Die Fahrscheine müssen in der Reihenfolge, in welcher (!) sie
in das Heft eingefügt sind, benutzt werden. Sind jedoch in einem Hefte Fahr¬
scheine für eine oder mehrere (!) Rundfahrten enthalten, so können diese Fahrscheine
auch in umgekehrter Reihenfolge benutzt werden, u, z. jund zwnrj in dem Falle (!),
wenn (!) schon die Strecke, auf welche der erste Fahrschein lautet, in eine Rund¬
fahrt fällt, ohne weitere Förmlichkeit, in Ansehung (!) der Fahrscheine für die
etwa (!) ferner (!) in dem Hefte enthaltenen Rundfahrten aber nur gegen (!) Be¬
stätigungsvermerk (!) des Stationsvvrstandes der betr. Abzweigstation (!).
Dieser Paragraph läßt sich anfangs ganz leidlich an; die ersten Sätze sind
verständlich, wiewohl ich statt „innerhalb der Giltigkeitsdcmer des Heftes" einfach
schreiben würde: „solange das Heft gilt." Statt „in der Reihenfolge, in welcher"
zu schreiben „in der Reihenfolge, wie" — kann man von einem am grünen
Tische nicht gut verlangen. Um so fürchterlicher sind dann die Sätze über die
Rundfahrten. Der langen Rede kurzer Sinn ist der: „Fahrscheine für eine
Rundfahrt können auch in umgekehrter Reihenfolge benutzt werden; doch bedarf
es dazu, wenn die Rundfahrt nicht am Anfange, sondern erst ans irgend einer
Station der Reise beginnt, der Bestätigung des Stationsvorstandes."
5. Wenn in das Heft Scheine einbezogen (!) worden sind, welche auch zur
Befnhruug einer gleichlaufenden (!) Dampfschiffstrecke berechtigen, so muß die ganze
Strecke, auf welche ein solcher Schein lautet (!), entweder ausschließlich mit der
Eisenbahn oder ausschließlich mit dem Dampfschiff zurückgelegt werden.
Sinn: „Läßt ein Fahrschein die Wahl zwischen Eisenbahn und Dampf¬
schiff, so darf der Reisende für die ganze Strecke nur eins von beiden be¬
nutzen." Köstlich ist beim Dampfschiff der Zusatz „gleichlaufend." Als ob
es einem Reisenden, der von Dresden nach Schautau will, einfallen könnte,
sich auf das Dampfschiff zu setzen, das nach Riesa fährt!*)
6. Wenn der Inhaber des Heftes auf einzelnen Strecken eine höhere als die
auf den betreffenden Fahrscheinen bezeichnete Klasse zu benutzen wünscht, so hat er
für diese Strecken die nach den bestehenden bezüglichen (!) Vorschriften nötigen Zusatz¬
karten zu lösen.
^ Etwa die Hälfte dieses Paragraphen ist bloßer Ballast. Überflüssig, weil
selbstverständlich sind erstens die Worte: ,,als die auf den betreffenden Fahr¬
scheinen bezeichnete," zweitens: „für diese Strecken," drittens: ,,die nach den
bestehenden Vorschriften nötigen," und dreimal überflüssig das Wort „bezüg¬
lichen." Können denn auch andre Borschriften in Frage kommen, als die, die
sich auf.die Zusatzkarten beziehen? Dieses „bezüglich" ist eins der thörichtsten
Flickwörter des Amtsstils. Aber der richtige Bureaumeusch schreibt es
hundertmal des Tags und denkt sich gar nichts mehr dabei. Es paßt ja
überallhin, denn „bezüglich" ist schließlich alles in der Welt, und man muß
immer noch froh sei», wenns bloß „bezüglich" und nicht gar „diesbezüg¬
lich" ist.
7. Der Reisende hat das Recht, bei Befahruug vou Eiseubahnstreckeu auf
jeder beliebigen statio» die Fahrt zu unterbrechen, u. z. ^und zwars auf der An¬
fangs- und Endstation eines Fahrscheines sonne ans den in letzterem (!) etwa (!)
besonders namhaft gemachten (!) Aufenthaltsstativnen ohne weitere Förmlichkeit.
Bei Fahrtuuterbrechuug auf andern Stationen ist dagegen das Heft sofort nach
dem Verlasse» des Zuges dem dienstthuenden Stationsbeaiuteu zur Vormerkung (?)
vorzuweisen. Ohne diese (?) Bescheinigung verliert der Fahrschein bis zur nächsten
vorgedruckten (?) Aufenthaltsstation, bezw. (!) wenn eine solche zwischen der Unter-
brechungs- und der Endstation des betr. Fahrscheines nicht vorgedruckt ist, bis zur
Endstation desselben (!) seine Galligkeit. Bei Benutzung der Dampfschiffe ist eine
Fahrtunterbrechung innerhalb der Fahrscheinstrecke nicht gestattet. Der Aufenthalt
bei jeder Unterbrechung der Reise ist innerhalb der Giltigleitsdauer des Heftes
unbeschränkt.
Dieser Paragraph läßt sich wieder ganz leidlich an; statt der Worte:
,>auf den in letzterm etwa besonders namhaft gemachten" würde es natürlich
genügen, zu schreiben: „auf den besonders genannten." Aber bald beginnen
wieder die Qualen. Zunächst, was ist eine Vormerkung? Unter vor¬
merken versteht mau gewöhnlich: „vorher bemerken"; wenn ich meinen Namen
zu einem Konzertabonnement „vormerken" lasse, so lasse ich ihn vorher, d.h.
noch ehe das Abonnement eröffnet ist, in die Liste einzeichnen. So etwas
kann hier nicht gemeint sein. Es ergiebt sich aus dem folgenden, daß „Vor-
merkuug" dasselbe bedeuten soll, wie „Bescheinigung," denn im nächsten Satze
heißt es: „ohne diese (!) Bescheinigung." Da haben wir also wieder denselben
störenden und irreführender Wechsel, wie zwischen „Platz" und „Stelle" in
^ 2. Ganz entsetzlich aber ist die Umständlichkeit des folgenden Satzes;
es würde vollständig genügen, wenn es hieße: „Ohne diese Bescheinigung ver¬
liert der Fahrschein bis zur nächste» angegebnen Station seine Giltigkeit."
die nächste angegebne Station eine bloße Aufenthaltsstation, so hört eben
schon bei dieser die Ungiltigkeit wieder auf; ist es eine Endstation, so erstreckt
sie sich bis zu dieser - das ist doch sonnenklar, ganz abgesehn von dem selt¬
samen Gebrauch des Wortes vorgedruckt. Vorgedruckt nennt man etwas,
was abgeschrieben oder nachgeschrieben werden soll. Neuerdings hat man auch
Formular mit Vordruck übersetzt; dann bezeichnet man als vorgedruckt
die feststehenden, formelhaften Worte im Gegensatz zu dem, was schriftlich
ausgefüllt werden soll. In keiner von beiden Bedeutungen ist das Wort hier
gebraucht; es soll einfach heißen: angegeben. Wo angegeben? Natürlich im
Heft! Geradezu lächerlich ist der Schlußsatz, er ist ein richtiges Gesetzmachcr-
stückchen. Gefallen läßt man sich noch die Bemerkung: „Der Aufenthalt ist
bei feder Unterbrechung unbeschränkt"; sie soll vielleicht unnötige Anfragen
verhüten. Aber der Zusatz „innerhalb der Giltigkeitsdauer des Heftes" ist
doch zu toll. Meint der Verfasser wirklich, es könnte jemand so dumm sein,
zu glauben oder vorzugehen, daß er geglaubt habe, er könne bis zum 15. Ok¬
tober in Eisenach bleiben, wenn sein Heft am 12. Oktober in Leipzig abläuft?
8. Der Reisende ist verpflichtet, auf Verlangen der aufsichtsührendeu Beamten
das ganze für die noch nicht zurückgelegte Strecke giltige Heft vorzuzeigen und
die auf dem Umschlage etwa fehlende Namensunterschrift auf der nächsten sich
hierzu eignenden (!) Station nachzuholen. Außer der Reihenfolge befindliche Fahr¬
scheine, zu welcher («lo) der Reisende (!) den Umschlag nicht vorzuzeigen vermag,
werden als ungiltig betrachtet und dem Reisenden (!) abgenommen.
Hier sind im ersten Satze die Worte überflüssig: „für die uoch nicht zurück¬
gelegte Strecke giltige." Die Bestimmung über die „etwa fehlende Namens¬
unterschrift" gehört gar nicht in diesen Paragraphen, sondern in Hi, sie ge¬
hört dort zwischen die beiden Bestimmungen 1. daß jeder Reisende seinen
Namen ans das Heft zu schreiben hat, 2. daß er in Zweifelfällen seinen
Namen zu wiederholen hat. Für jeden, der logisch denken kauu, ist das der
einzig richtige Platz. Was sind ferner „außer der Reihenfolge befindliche"
Fahrscheine? Nach dem gewöhnlichen Sprachgebrauch tonnen es nur solche sein,
die sich nicht in der richtigen Reihenfolge befinden. Wie soll das aber möglich
sein? Sie sind mir doch in der richtigen Reihenfolge eingeheftet worden. Außer
der Reihenfolge könnten sie doch nur geraten, wenn der Schaffner einmal
aus Versehen statt eiues Scheines mehrere herausgerissen hätte. Solche aus
Versehen herausgerißue Scheine sind aber, wie aus Z9 hervorgeht, nicht uu-
giltig, können also hier uicht gemeint sein, wie auch das nachfolgende „über¬
haupt" zeigt, das dann ganz unlogisch wäre. Was ist also gemeint? Ein¬
geschmuggelte Scheine aus andern Heften? An solche ist auch nicht zu denken,
denn die wären doch sofort daran zu erkennen, daß sie ein andres Datum
und eine andre Ausgabestelle trügen, als die andern Scheine und der Um¬
schlag. Und sollte doch jemand die Frechheit haben, mit solchen Scheinen sein
Heil zu versuchen, so wären das eben „nicht ins Heft gehörige" oder einfach
„falsche" Scheine, aber doch nicht „außer der Reihenfolge befindliche." Das
„Überhaupt" wäre freilich auch dann wieder unlogisch, denn die Fahrscheine,
«zu welchen der Reisende den Umschlag nicht vorzuzeigen vermag," können ja
echt sein.
9. Es wird ersucht, gennil darauf zu achten, das; Seitens (!) der Bediensteten (!)
aus dem Hefte nur die auf bereits zurückgelegte Strecken lautenden Scheine ent¬
nommen jaus ent-!j werden. Falls dennoch aus Versehen Scheine für noch nicht
durchfahrene Strecken abgetrennt werden sollten, ist die Rückgabe dieser Scheine
sogleich zu beanspruchen und bei dem dienstthuenden Stationsbeamten der nächsten
Fahrschein-End- bezw. (!) Aufenthaltsstation hierüber Anzeige zu erstatten. Der
Umschlag wird Seitens (!) der Bediensteten (!) durchkocht (!), verbleibt aber in den
Händen des Reisenden.
Hier nimmt sich der erste Satz — ein höfliches „Ersuchen" an das
Publikum — mitten unter den schneidigen „Beförderungsbedingungen" höchst
seltsam aus. Im übrigen ist in diesem Paragraphen fast jedes Wort Schwulst
und Breite. Jedermann würde es verstehen, und niemand könnte es absichtlich
mißverstehen, wenn der Paragraph einfach lautete: „Jeder erledigte Fahrschein
wird vom Schaffner aus dein Hefte genommen. Sollte dabei aus Versehen
ein noch unerledigter mit abgetrennt werden, so hat das der Reisende ans der
nächsten im Hefte angegebnen Station anzuzeigen. Der Umschlag wird vom
Schaffner jwann? doch wohl beim Antritt der Reises gezeichnet, bleibt aber
in den Händen des Reisenden." Ich sage „gezeichnet," denn das überall,
auch bei der Pferdebahn, neuerdings eingeführte Wort lochen oder durch¬
kochen finde ich greulich. Es ist doch wieder nur eine geschmacklose Über¬
setzung eines früher üblichen Fremdwortes: kupiren. Warum nicht zeichnen?
Das Loch ist doch ein Zeichen, das der Schaffner macht, weiter nichts.
1V. Eine Verlängerung der Giltigkeit über den auf der Vorderseite (!) be¬
zeichneten Zeitpunkt (!) findet nicht statt, anch ist die nachträgliche Einfügung neuer
Scheine in Hefte, mit denen die Reise bereits zum Teil ausgeführt worden jlstj,
oder der Umtausch von in (von in!) diesen Heften enthaltenen Scheinen gegen
andere (!) ausgeschlossen. Etwaigen bezüglichen (!) Anträgen der Reisenden wird
in keinem Falle stattgegeben (!).
11. Für in (für in!) Verlust geratene (!) Hefte wird kein Ersatz geleistet,
ebensowenig kann im Falle der Nichtnnsführnng (!) eiues Teils der Fahrt aus
Anlässen (!), für welche die Eisenbahn- oder Dampfschiff-Verwnltnngen nicht ver-
cintwvrtlich sind, eine Rückvergütung (!) von Fahrgeld für solche nicht ausgenutzte
Hefte verlangt werden.
Von allem Ballast befreit und in menschliches Deutsch übersetzt, heißt das:
,,Die Giltigkeit des Heftes wird nie verlängert; auch werden keine Fahrscheine
umgetauscht, nachdem die Reise angetreten ist. Für verlorene Hefte wird kein
Ersatz geleistet. Ebensowenig wird das Fahrgeld zurückgezahlt, wenn es dem
Reisenden beliebt, einen Teil des Heftes nicht zu benutzen." Die „Nichtaus-
führung aus Anlässen" ist fürchterlich. Rückvergüten ist pleonastisch zu¬
sammengeschweißt aus zurückzahlen und vergüten; beides bedeutet dasselbe.
Ich Wünschte, ich könnte einmal in dieser Weise den Entwurf unsers
bürgerlichen Gesetzbuches durchackern. Es wäre das freilich eine Arbeit, die
Jahre in Anspruch nehmen würde, aber es lohnte der Mühe. Vor Gericht
gilt bekanntlich der Satz: Unkenntnis des Gesetzes schützt nicht vor Strafe.
Aber wie ist es denn, wenn jemand das Gesetz zwar kennt, aber nicht versteht?
Ich bin fest überzeugt, daß von der Ausrede: „Ich habe die und die Vorschrift
nicht verstanden" nur deshalb so wenig Gebrauch gemacht wird, weil die
Menschen viel lieber lasterhaft als lächerlich erscheinen; mit dem Bekenntnis,
etwas nicht verstanden zu haben, würden sie sich ja lächerlich machen. Ich
frage mich täglich, wenn ich Bekanntmachungen von Behörden, polizeiliche Ver¬
ordnungen u. tgi. lese: Wie soll das das arme Volk nur verstehen? Unser
einer hat ja schon zu kauen, um hinter den Sinn zu kommen! Alle Vor¬
schriften insbesondre, die sich auf unsre Verkehrsanstalten beziehen, müßten
sich schon um der Ausländer willen, die in Deutschland reisen, der einfachsten
und klarsten Ausdrucksweise befleißen und sich von allem Amtsstil losmachen.
Was soll sich ein Franzose unter einem „Bestätignngsvermerk" denken?
Es sind übrigens nicht bloß die „Besörderungsbediuguugen," die in diesem
schwülstigen und weitschweifigen Kanzleistil abgefaßt sind, auch die bahnpoli¬
zeilichen Vorschriften, die auf den Bahnhöfen und in deu Bahnwagen ange¬
schlagen sind, leiden daran. Da lautet z. B. ein Paragraph:
„Hunde und andre Tiere dürfen in den Personenwagen nicht mitgeführt
werden. Ausgenommen hiervon sind jedoch kleine Hunde, welche auf dem Schoße
getragen (!) werden, sofern (!) gegen deren Mitnahme von > warum nicht lieber
Seitens?! den Mitreisenden derselben (!) Wagenabteilnng (!) Einspruch nicht (!) er¬
hoben wird."
Auch hier dasselbe stelzfüßige Uudeutsch, dieselbe Belastung mit überflüs¬
sigen, selbstverständlichen Zusätzen. Oder sollte etwa die dritte „Wageu-
abteilung" etwas dagegen einzuwenden haben, wenn in der zweiten eine Dame
einen Pinscher auf dein Schoße „trägt"?
Diese polizeilichen Bestimmungen sind aber auch noch in anderm Sinne
in schlechtem Deutsch abgefaßt. Sie enthalten nämlich Borschriften, über deren
Durchführung zu wachen offenbar gar niemand die Absicht hat. Das ist aber
das schlechteste Deutsch, das man sich denken kann. In demselben Wagen
dritter Klasse, wo ich mir soeben den schönen Huudeparagraphen abgeschrieben!
hatte — es war auf dem Bahnhof in E"" —, erschienen zwei Minuten
später acht Nimrods mit fünf, sage und schreibe fünf großen Jagdhunden, die
sich alle dreizehn gemütlich darin einrichteten, so gemütlich, daß ich daraus
sehn konnte: sie waren hier alle wie zu Hause. Das war mir denn doch
äußeren Spaß, ich stieg aus und suchte mir eine kleine,,Wagenabteilung," in
der an beiden Thüren inwendig angeschlagen stand: Rauchen verboten. Als
ich aber drin war, sah ich zu meinem Erstaunen zwei Herren sitzen, die un-
genirt rauchte». Ich rief den Schaffner her und machte ihn auf das an¬
geschlagne Verbot aufmerksam. Und was erwiderte er? Ja, das gilt nicht,
das ist heute Rauchkupee. Spruchs, und „kochte" mir meinen letzten „Fahr¬
schein." Solche willkürliche, lüderliche Wirtschaft — auch das ist schlechtes
Deutsch, des Deutschen unwürdig.
le Studenten nannten ihn Vardvlph, den Ritter von der bren¬
nenden Lampe, und in der That hatte Pedell Papendick ein
Gesicht, daß Falstaff auch zu ihm hätte sagen können: Ich sehe
dein Gesicht niemals, ohne an das höllische Feuer zu denken
und an den reichen Mann, der in Purpurkleidern lebte; denn
da sitzt er in seiner Pracht, und brennt und brennt. Du liegst ganz im Argen,
und wenns nicht das Licht in deinem Gesicht thäte, wärst du gänzlich ein
Kind der Finsternis. O, du bist ein beständiger Fackelzug, ein unauslösch¬
liches Freudenfeuer.
Edeldenkende Musensöhne, deren es in der kleinen Universitätsstadt freilich
nicht viele gab, meinten, man müsse über Papendick nichts böses reden, sein auf¬
gedunsenes, rotes Gesicht rühre sicher von einem unbekannten Leiden her, von
einer stehengebliebnen Gesichtsrose oder irgend einer im anatomischen Saal ent-
standnen Blutvergiftung. Papendick selbst schob die Schuld ans den Barbier
Zwetschke, der ihm einst ein Mittel gegen Mitesser geraten habe. Das sei so
scharf gewesen, daß die Backen und die Stirn schon nach dem ersten Gebrauch so
rot wie ein Edamer Käse geworden seien, und die Nase die Form und Farbe
einer reifen Himbeere bekommen habe. Barbier Zwetschke dagegen behauptete,
Papeudicks Angaben stimmten nicht, er habe sich das Verschönerungsmittel
nicht wegen der Mitesser bei ihm geholt, sondern wegen der Mittrinker; das
Mittel sei gegen Sommersprossen und Flechten vorzüglich, aber gegen Künunel-
movs und Nordhäuserpilze sei es machtlos. Papendick habe sich die rote Nase
schon vorher beim Militär als Bombenschmeißer geholt, und sein Gesicht sei
schon ganz waschecht gewesen, als er aus dem französischen Kriege zurück¬
gekommen und Pedell geworden sei; was er dem Professor Weller zu ver¬
danken habe, der im Feldzuge sein Hauptmann gewesen sei.
Papendick hatte denn auch die Versuche, höhere Mächte für seine Nase
verantwortlich zu macheu, allmählich aufgegeben. Allen Erkundigungen, die
von Studenten deshalb in wenig zarter Weise an ihn gerichtet wurden, beugte
er vor; sobald er merkte, daß jemand den forschenden Blick auf seine Nase
gerichtet hatte, hob er den Zeigefinger, sah den Neugierigen mit zu-
sammengezvgnen Augenbrauen scharf an und sagte vorwurfsvoll: Das kommt
vom saufe»! Und dann war selbst der Wißbegierigste sofort befriedigt.
Fragte nun gar noch einer: Aber Papendick, weshalb trinken Sie so viel?
dann sagte er achselzuckend: Mein lieber Herr, das versteh» Sie nicht. Liegen
Sie erst einmal drei Monate vor Paris in der verfluchten Haubitzenbatterie,
im Schnee und Dreck, und dann reden Sie klug. Im übrigen haben die
alten Griechen und Römer auch schon gesoffen, und die alten Germanen erst
recht. Dabei wußte er unmerkbar mit einer geschickten Fingerbewegung das
eiserne Kreuz aus seinem Rock hervorzuschnellen, und dann stand der Neu¬
gierige in seiner ganzen Beschämung da.
Die Studenten hatten Papendick alle gern. Die Trinkgelder flössen ihm
so reichlich zu, daß er allein davon Hütte leben können. Wenn er eine Be¬
stellung machte, oder man ihm einen Auftrag gab, fo hielt er gewöhnlich die
rechte Hand mit der Außenfläche gegen die Hüfte, etwas gewölbt, sodaß sie
einer Sammelbüchse glich, zu der die etwas zuckenden oder winkenden Finger
gleichsam den Deckel bildeten. Genaue Kenner behaupteten, seine Hand sähe aus
wie die der alten Leipziger Küster, von denen in Deutschland die Sage geht,
daß sich ihre Handfläche vom vielen Trinkgeldnehmen allmählich mit einer
nur gegen Gold empfindlichen Hornhaut bedecke.
Bei den Professoren freilich genoß Papendick weniger Liebe; namentlich
konnten die sehr feudal und vornehm thuenden jüngern Dozenten nie begreifen,
wie man solch ein „Scheusal," das kaum schreiben und lesen könne, mit einer
polizeiwidrigen Nase behaftet wäre und fortwährend nach Fusel röche, in einer
so verantwortungsvollen Stellung an der Universität behalten könne. Aber Pa¬
pendick hatte am Professor Wetter einen gewichtigen Gönner, und da dieser da¬
mals Rektor geworden war, so ließ der Pedell alle mißfälligen Äußerungen
und alle schlechte Behandlung mit einer gewissen Geringschätzung über sich
ergehen. Kamen Unregelmäßigkeiten in seinem Dienste vor, so wußte Pro¬
fessor Weller die Dinge bald wieder in Ordnung zu bringe». Nur einmal
konnte er ihm de» Verweis nicht erspare», als sich der Professor der Gynäko¬
logie, der Papendick nicht ausstehen konnte, über ihn beschwert hatte. Papen¬
dick hatte nämlich bei deu Prüfungen die zugereiste» Kandidaten, die mit den
Verhältnissen der Universität nicht bekannt waren, zu den prüfenden Professoren
zu führen. So brachte er einmal einen salbungsvolle» Theologe», der ihm
das Trinkgeld schuldig geblieben war, zu dem Professor der Gynäkologie. Da
soll es zwischen dem Theologen und dem Mediziner zu einer sehr unerquick¬
lichen Verwirrung gekommen sein. Das gab viel Verstimmungen und viel
Schreibereien, und der Pedell wurde natürlich zur Verantwortung gezogen.
Sem ganzes Sündenregister wurde ihm dabei vorgehalten: daß er noch nie¬
mals eine Mensur oder ein Duell angezeigt habe, obwohl er verschiedne ge¬
sehen und von verschiednen gehört haben müsse, daß er Aktenstücke des Uni¬
versitätsrichters verschleppt, mit den Studenten im Carcer Zechgelage abge¬
halten und an Königs Geburtstage vor dem in die Aula tretenden Zuge
der Professoren stark geschwankt habe. Das letztere hatte besonders bei den
ältern Univcrsitätsdamen Abscheu hervorgerufen.
Von allen diesen gegen Papendick gerichteten Borwürfen war ich unfrei¬
williger Zeuge, als ich eines Tages Professor Weller einen Besuch macheu
wollte und im Vorzimmer eine Weile warten mußte.
Papendick, sagte der Professor, da sehen Sie die Folgen! Ich habe es
Ihnen immer gesagt, aber Sie haben auf meine Mahnungen nicht gehört.
Das Donnerwetter zieht jetzt über Ihrem Kopfe zusammen, und so leid es
mir thut, ich werde Sie kaum noch halten können.
Eine Weile schwiegen beide, dann sagte Papendick etwas gedrückt: Die
jungen Herren Gelehrten können einen alten Soldaten nicht leiden. Sehen
der Herr Hauptmann —
Ach was, nennen Sie mich nicht immer Herr Hauptmann. Das hat
auch schon Anlaß zur Klage gegeben.
Daß dich die Schwercnot! rief Papendick mit zitternder Stimme, wenn
ich das nicht mehr darf, dann Schmeiße ich den Herren das ganze Amt noch
heute vor die Füße. Ich Habs schon immer thun wollen. Die ewigen
Sticheleien, das Naserümpfen, das Husten der Frauenzimmer hinter meinem
Rucke», das Anranzeu der jungen Herren kriegt man auf die Dauer satt.
Aber ich dachte: wirst wegen Lieschen noch dabei bleiben und den Gehalt be¬
ziehen, damit das Mädel sich mal ne Aussteuer kaufen kaun. Sie ist jetzt
sechzehn Jahre, da wirds bald mit dem Heiraten losgehn. Herr Gott, sie
ist ja mein einziges Kind, Herr Hauptmann, und nach dein Tode meiner Fron
meine einzige Freude auf der Welt. Und Großvater möchte ich doch noch
werdeu, Herr Hauptmann, Großvater! Dann mag meinetwegen der Satan
mit mir abfahren.
Aber Mensch, erwiderte Weller, leben Sie doch vernünftig, dann braucht
Sie der Teufel nicht zu hole», und Sie können mit Ihrer Tochter behaglich
Ihr Alter genießen; vor allen Dingen saufen Sie nicht so viel, Papendick,
das hab ich Ihnen schon im Feldzuge gesagt.
Ja, im Feldzuge, rief der Pedell wie vou einem Drucke befreit. Donner¬
wetter, unsre Haubitzcubatterie, Herr Hauptmann, unsre verfluchte Haubitzen¬
batterie! Da hab ich mirs geholt, wahrhaftigen Gott! Jetzt kann ich trinken,
was ich will, ich kriegs nicht mehr raus aus den Knochen — die verfluchte
Kälte vor Paris!
Die Feldzugseriuneruug wirkte auf Professor Weller besänftigend; der
Angriff auf Papendick wurde wieder einmal abgeschlagen, er blieb Pedell, ohne
seine Art auch nur im geringsten zu ändern.
Papendick besaß in der Wiesengasse ein kleines, einstöckiges Haus mit einem
Garten, der durch ein niedriges stated von der Gasse getrennt war. Als ich
nach Wohnungen suchte, sah ich auch hier einen Zettel am Fenster der Giebel¬
stube. Beim Pedell zu wohnen, schien mir aber aus verschiednen Gründen
nicht ratsam, und so mietete ich mich in dein Nachbarhause ein, von wo ich
einen freien Blick auf Papendicks Garten hatte. Schon am nächsten Tage
war aber auch an seinem Hause der Mietzettel verschwunden, und ich bemerkte
in dem Fenster der Giebelstube einen Patent gekleideten Studenten. Es war,
wie ich später erfuhr, ein Mediziner mit Namen Nnbinskh. Auch Lieschen
Papendick bekam ich bald zu sehn. Sie war ein etwas bleiches Kind mit
hübschen, blauen Augen »ut langen blonden Zöpfen. Sie saß gewöhnlich
naschend hinter den Stachel- und Johannisbeersträuchern, die am Zaun standen.
Wenn aber ein Student vorbeiging und sie ansah, wurde sie rot und versteckte
ihren Kopf verlegen hinter die Büsche.
Mit der Zeit wurde ich auch mit Papendick näher bekannt. Ich fand
ihn oft in seiner selbstgezimmerten Laube sitzen. Dort trieb er, wie er sagte,
seine Übungen am Phantom. Er stellte nämlich aus alten Kriegserinnerungen,
Schrapnel- und Granatzündern, Sprengstücken und Kartätschentngeln alle mög¬
lichen Gegenstände zusammen: Leuchter, Aschenbecher, Cigarrenständer, Brief¬
beschwerer und ähnliche Dinge. Und da war er dann immer sehr glücklich,
wenn ich ihm Gelegenheit gab, seine artilleristischen Kenntnisse auszukramen
und seine oft wunderbar klingenden militärischen Erinnerungen an den Mann
zu bringen.
Er, gehörte noch zu dem alten Stamm von Unteroffizieren, denen die viel¬
gepriesene, den meisten Menschen aber verderbliche moderne Volksschulbildung
fremd geblieben war, und die trotzdem oder vielmehr gerade deshalb anspruchs¬
lose, kriegstüchtige Front- und Feldsoldaten abgaben. Heutzutage, sagte er,
streben die Kapitulanten alle darnach, so schnell wie möglich aus dem Front¬
dienst zu kommen und Drehschemelreiter und Tintenwischer zu werden. Wir
haben zu meiner Zeit ans diese militärischen Stubenhocker und hartleibigen Kalk¬
fratzen immer mit Verachtung gesehn. Aber heutzutage, wo beim Militär mehr
geschrieben als gesprochen wird, spielen diese lendenlahmen Kerls die Haupt¬
rolle. Die Armee wird mir zu gebildet! Sie wird bald eine Gesellschaft von
Skribefaxeu und Aktenwürmern fein. Dann grad uus Gott, mit über-
studirten Kerls ist nichts anzufangen. Ich kenne das — Schwefelbande!
Dabei schlug er mit der Faust auf den Tisch, daß seine Kriegserinne-
rnngen darauf wie Hollnnderkügelchen umhersprangen. Die leere Kümmel¬
flasche fiel um, und die beide» Schnapsgläser, das große und das kleine,
wären anf die Erde gerollt, wenn ich nicht schnell zugegriffen hätte. Er ge-
brauchte beim Trinken immer zwei Gläser, ein weites und ein enges, um sich,
wie er sagte, genau einzuschießen. Mit zwei großen schnapsen bildete er die
„weite Gabel," mit zwei kleinen die „enge," und dann konzentrirte er das Feuer,
indem er sich dabei, wie er sagte, nur von „Gesühlskonspizienten" leiten ließ.
Jedes andre Korrekturverfahren hielt er für pedantisch und unkriegsmäßig.
Papendick hob die leere Flasche gegen die Sonne und guckte mit be¬
dauerndem Kopsschütteln durch. Dann rief er Lieschen zu, die mit einem
Vnche am offnen Küchenfenster saß, sie möchte ihm doch die „Blattlaus"
bringen. Lieschen kam bald herbei gesprungen und legte auf den Tisch eine
glatte, runde, blattlausförmige Flasche, die ganz mit Nordhäuser gefüllt war.
Scheu Sie, sagte er mit wäßrigen Munde, als er die beiden Schnapsgläser
füllte, von dem ganzen aufgeblasenen Gelehrtenklüugel hier ist doch nur der
Hauptmann Weller ein brauchbarer Mensch. Der hat was geleistet, vor dem
hab ich höllischen Respekt. Den hätten Sie in der Haubitzenbatterie vor Paris
sehn sollen — na, jetzt ist er zu dick geworden, jetzt könnt ers auch nicht
mehr; aber der hat was fürs Vaterland gethan! Wissen Sie, ein richtiger
Kanonenschuß zur richtigen Zeit wirkt mehr, als wenn hundert gelehrte Lungen¬
pfeifer Tag und Nacht Bücher schreiben.
Da haben Sie Recht, sagte ich. Ist denn der richtige Kanonenschuß dem
Professor Weller gelungen?
Dem gerade nicht, aber mir — und doch gewissermaßen mir auch nicht,
sondern hier, dieser Blattlaus, fügte er schmunzelnd hinzu, indem er mit dem
Pfropfen an der Flasche quietschte.
Ich sah ihn etwas verwundert an.
Sie glaubens nicht recht? Ja, die Pulte hat was durchgemacht, und
wenn der Hauptmann Weller und ich das eiserne Kreuz tragen, so weiß die
Flasche genau, wer das bewirkt hat.
Er trank den großen Nordhäuser aus, schauderte dann wie fröstelnd zu¬
sammen und drängte mir den kleinen auf. Dann griff er nach seinem Schnupf¬
tabakshorn, zog den Holzstöpsel heraus und füllte mit der braunen Masse ein
Grübchen an der linken Hand, das er geschickt zwischen Daumensehne und
Daumenmuskel zu bilden verstand. Dann sog er bald mit dem einen bald
mit dem andern Nasenloch den Schnupftabak langsam ein, während ein feuchter
Schimmer der Verklärung über seine Augen ging.
Das war, fuhr er mit etwas heiserer Stimme fort, in der zweiten Han-
bitzenbatterie vor Paris, die Weller uuter sich hatte. Wochenlang lagen wir da,
ohne einen Schuß zu thun, bis die Kerls an Moltke schrieben:
Und richtig, uach ein paar Tagen —
Hier wurde er in seiner Erzählung unterbrochen. Der Briefträger tum
und brachte ein Paket. Pcipendick legte es auf die Gartenbank, und ich be¬
merkte, beiß es aus der Schweiz kam und an ihn gerichtet war. Wohl Uni¬
versitätsschriften? fragte ich.
Gott bewahre! Das ist für Herrn Rubinsky, alles medizinische Bücher
und Schriften. Der arbeitet wie ein Pferd. Er meint, es käme schneller
und sichrer, Wenns an meine Adresse ginge.
Er rief Lieschen, die mußte das Paket hinauftragen; dann nahm er noch
eine Prise und fuhr in seiner Geschichte fort: Hols der Teufel! Wir bekamen
eines Abends höllisches Feuer, und die Bedienungsmannschaft des vierten
Geschützes war mit einemmal wie weggefegt. Hauptmann Weller rief mich
aus dem Unterstand herbei, wo ich die Munition zu verteilen hatte. Pcipendick,
sagte er, Sie sind ein verfluchter Kerl, wenn Sie nnr nicht so saufen wollten!
Übernehmen Sie das vierte Geschütz! Zu Befehl, Herr Hauptmann, sagte ich
und nahm eine stramme Haltung an. Er musterte mich etwas unentschlossen
von oben bis unten, dann sagte er: Ist gut. Wir haben strikten Befehl, das
Feuer erst morgen früh wieder zu eröffnen. Die Geschütze werden geladen,
die Leute treten in den Unterstand und können sich hinlegen. Aber die größte
Stille, Papendick, die größte Stille! Zu Befehl, Herr Hauptmann, sagte ich.
Na, ich ließ die alte Haubitze denn auch feste laden, hauche meine Kerls dabei
ordentlich an, sodaß sie eklig wurden, und lege mich dann in den Unterstand
auf den Rücken, meine Buttel in beiden Händen auf dem Bauch, und dusele
so sachte ein.
Es soll damals eine barbarische Kälte gewesen sein, warf ich ein.
Na, und ob! Es war so kalt, daß einem die Knopflöcher zufroren. Ich
mußte eins auf die Lampe gießen. Also ich nehme die Flasche und leiste mir
einen ordentlichen Rachenputzer. Nach einer Weile, es war so um zwölf oder
eins in der Nacht, da pank ich so im Halbdusel von ungefähr wieder nach
meiner Würmflasche. Der Racker sitzt fest. Na nu, denk ich, was ist denn
mit dir los? Ich richte mich ein bischen auf und zieh und zieh, die Flasche
sitzt fest. Na nu, denk ich, hat sich da was rumgewickelt? und reiße denn so
mit aller Gewalt dran. Mit einemmale, ich denke, mich rührt der Schlag,
da giebts einen Donner durch die Totenstille, und meine Haubitze geht los
und tobt wie verrückt herum in der Batterie, mitten in der Nacht. Na, Sie
können sich den Skandal denken, der nun in der Batterie losging. Donner¬
wetter, ich sag Ihnen, ich war mehr tot als lebendig. Hatten die Kerls
meine Flasche mit einem Bindfaden an die Abzugsschnur gebunden und eine
Schlagröhre ins Geschütz gesetzt, daß ich es beim ersten kräftigen Ruck ab¬
feuern mußte.
Das war ein schöner Reinfall! rief ich aus. Unter vierzehn Tagen
strammen Arrest ist es da wohl nicht abgegangen?
Kein Gedanke! Das eiserne Kreuz haben sie mir gegeben, und dem
Hauptmann Weller auch. Die Franzosen hatten nämlich, wie später herauskam,
in derselben Nacht einen Ausfall vor. Als aber meine Haubitze losging, da
donnerte es gleich auf allen Seiten ganz mörderisch, und die Halunken mußten
zurück. Scheu Sie, das war der richtige Schuß zur richtigen Zeit!
Nach dieser langen Erzählung goß er schnell einen Nordhäuser hinunter
und streichelte mit der linken Hand das eiserne Kreuz.
Also daher, sagte ich, Wetters Liebe für Sie.
Ja, ich habe ihm viel zu verdanken. Nach dem Kriege ging mirs nämlich
schlecht, verteufelt schlecht. Ich war schon vorher verheiratet, schon 1866. Die
Liese ist ein Abschiedsmädel. Damals kam ich aber mit meinem Regiment
nicht ins Feuer, und uach 70 und 71 ging ja bei der Artillerie alles
drunter und drüber. Die alten Feldsoldaten wollten keinen rechten Gamaschen¬
dienst mehr thun, da habe ich denn meinen Abschied bekommen. Ich schrieb
dann an meinen alten Landwehrhauptmauu aus dein Feldzuge. Der hat mich,
wie Sie sehen, hier als Pedell untergebracht. Ist ja eigentlich keine Be¬
schäftigung für Männer, die Pulver gerochen haben, aber wegen Lieschen muß
ich schon aushalten.
Seitdem der Mediziner in der Giebelstube wohnte, sah ich Lieschen gar
nicht mehr im Garten umherhüpfen und an den Stachelbeersträuchern naschen.
Sie saß, so oft ich vorbeiging, den Kopf aufgestützt, in der Laube und las
und las. Zuerst sah ich einen Roman von Spielhagen in ihren Händen,
dann einen von Sander-Masons, dann Übersetzungen französischer Romane von
Eugen Sue und Paul de Kock. Und das steigerte sich, als ob die Lektüre
von einem Feinschmecker planmäßig geordnet worden wäre, bis ich sie eines
Tages mit feuerroten Backen über Zolas Roman Nana fand. Ich wollte ihr
das Buch wegnehmen, aber si. hielt es fest und fing an zu weinen, wahr¬
scheinlich aus Wut über die unangenehme Überraschung, und sagte, Herr
Rubiusky hätte ihr die Bücher gegeben, sie verbäte sich meine Einmischung.
So ließ ich denn die Dinge gehen.
Eines Tages war Papendick in großer Aufregung. Von oben herab war
dem Rektor mitgeteilt worden, daß uuter deu Studenten der Universität so¬
zialdemokratische und anarchistische Bestrebungen herrschten, und daß staats-
c;efährliche Schriften von hier aus nach Rußland geschickt würden.
Eine niederträchtige Bande! sagte Papendick pflichteifrig, jetzt passen Sie
mal auf, wie ich die Gesellschaft einfangen werde. Jetzt werde ich den Herren
zeigen, wer auf dem Posten ist. Er war in der That jetzt Tag und Nacht
nuf den Beinen, besuchte unter irgend einem Vorwande die Wohnungen ver¬
dächtiger Studenten, schritt in dienstlicher Haltung, mit znsammengekniffnen
Lippen und aufgeblähten Nasenlöchern durch die alkoholduftenden Vereins-
lvkale und wankte aus einer Kneipe in die andre, bis er seinen gehörigen
Pegelstand erreicht hatte und von seinem alten Freunde, dein Nachtwächter
Poltrvck, nach Hause geschleppt wurde.
Endlich glaubte er die Übelthäter entdeckt zu haben. Nubinsky hatte ihn
nämlich auf einen Verein aufmerksam gemacht, der auf dem Universitätsgericht
nicht angemeldet war. Das Vereinslokal hatte Papendick bald ausspionirt.
Es versammelten sich an bestimmten Tagen der Woche dort schwärmerische,
poetisch angehauchte Jünglinge, die sich nach Art der Hainbündler ihre Ge¬
dichte vorlasen und dazu Thee tranken. Papendick platzte wie eine Bombe
unter diese lyrisch empfindende Gesellschaft, notirte die Namen der Zitternden,
versiegelte rücksichtslos die Schränke, nahm, trotz der flehentlichen Bitten, alle
Bücher, Schriften und Briefe an sich und ging triumphirend damit nach Hause.
Kaum aber war er in seinen Garten gekommen, als ein Gerichtsdiener, der
Polizeisergeant und ein Postbote auf ihn zutraten und ihn verhafteten, weil
ein an ihn gerichtetes Paket aus der Schweiz, das auf der Post schadhaft
geworden war, anarchistische Schriften enthalten hatte. Die Sache klärte sich
bald auf: Nubinsky war plötzlich verschwunden, und Lieschen war mit ihm
gegangen.
Am nächsten Morgen fand ich Papendick in seiner Laube. Er hatte den
Kopf auf den Tisch gelegt, und eine zuckende Bewegung ging durch seinen
Körper. Mir that der arme Kerl herzlich leid, ich setzte mich zu ihm und ver¬
suchte ihn zu trösten. Aber er sagte schluchzend: Das; ich fortgejagt werde,
sehen Sie, das ist uun einmal mein Soldatenglück, aber daß Lieschen fort ist
und mir, ihrem Vater, hier auf dem Wisch schreibt, sie könnte es nicht mehr
bei mir aushalten das kann ich nicht ertragen, das reißt mir das Herz
aus dem Leibe! —
Zehn Jahre mochten etwa über dieser Geschichte vergangen sein, da
hielt ich mich vorübergehend in Berlin auf. Es war am ersten April, und
ein freundlicher Abend. Ich schlenderte die Markgrafeustraße hinunter und
sah ein Bierlokal besonders hell erleuchtet. Es war die allen Akademikern
wohlbekannte Kneipe von Schindler. Als Student hatte ich dort mit meinen
Freunden manche vergnügte Stunde verlebt, mit dem originellen Wirt, den
„Pascha von Rhododendron" und andre wunderliche Lieder gesungen und
manches heitre Fest mitgefeiert. Es verkehrten damals in dem Lokal nicht
etwa Radaubrüder oder subalterne Geister, sondern man konnte die ganze
gebildete Gesellschaft des Stadtviertels abends dort antreffen: Räte vom
Kammergericht und Professoren, Ärzte und Oberlehrer, Offiziere in Zivil und
Studenten. Es war eine große Zahl von Stammtischen da, die jeden Abend
dicht besetzt waren, und an denen die alten Herren so regelmäßig erschienen,
daß man seine Uhr darnach hätte stellen können.
Das Lokal zog sich wie ein langer schmaler Darm durch das Vorder¬
haus und durch el» Hofgebäude, und der Cigarrenqualm darin war abends
so stark, daß man kaum fünf Schritt weit sehen konnte. Geradezu voll¬
gepfropft waren die Räume an vaterländischen Gedenktagen, die beim alten
Schindler immer mit großem Nachdruck und lärmender Begeistrung begangen
wurden. Das ganze Lokal war denn mit Fahnen und Kränzen geschmückt,
und die Kellnerinnen erschienen in Weiß mit Blumen im Haar und schwarz-
weiß-roten Schleifen und Schärpen- Die Dankesschreiben, die dem Wirte
von hohen und höchsten Herrschaften für seine patriotische Gesinnung
übersandt worden waren, hingen schön eingerahmt und geschmückt an den
Wänden.
Der erste April, dieser Lärm und diese Beleuchtung ^- das konnte nur
die Feier vou Bismarcks Geburtstag sein. Ich trat also ein und fand an
einem Tische neben der Thür noch ein bescheidnes Plätzchen. Mit einemmale
wurde es still. Aller Augen waren nach der Mitte des Lokals gerichtet, wo
sich der alte Schindler, ein kleiner, dicker Manu in Frack und weißer
Halsbinde, auf einen Tisch geschwungen und Silentium für die Festrede ver¬
langt hatte. Ich kannte diese Art von Reden schon. Schindler trug alles
mit gewaltigem Pathos und leidenschaftlichen Arm- und Beinbewegungen vor,
verstand aber nicht das geringste von dem, was er sagte, denn die Reden
waren ihm von Studenten zusammengesetzt worden, und er hatte alles wört¬
lich auswendig gelernt. Das war immerhin eine Leistung, wenn man bedenkt,
daß derartige Reden absichtlich aus verwickelten cieervnianischen Perioden ge¬
baut waren, mit unendlich langen Sntzungeheuern, denen der Schwanz und
der .Kopf fehlte. Mit unfreiwilliger Komik donnerte der vor Eifer schwitzende
Redner diese Flut hochklingender, sinnlos aneinandergereihter Redewendungen
heraus und erntete dafür bei den Gästen ein jubelndes Bravo uach dem andern.
Oft waren lateinische, dem Redner natürlich ganz fremde Citate eingestreut,
die weder zu Kaisers Geburtstag, noch zum Sedaufeste, noch zu irgend einem
Gedenktage in irgend welcher Beziehung standen, denn sie stammten gewöhnlich
aus Horazens Liebesoden oder enthielten irgend eine Zweideutigkeit. Denn
jauchzte die ganze Gesellschaft vom ältesten Kanuuergerichtsrat bis zum jüngsten
Semester vor Vergnügen.
So war es denn anch heute. Ich gab aber auf die tolle Rede wenig
acht, denn mich fesselte das Gesicht einer Kellnerin, das mir bekannt vorkam.
Wo in aller Welt hatte ich das Mädchen schon gesehn? Ich sann und sann
und konnte sie nicht unterbringen. Da huschte sie an mir vorbei und sagte
zu einem ihrer Bekannten: Der Otte hat sich heute wieder ordentlich ein¬
geschossen. Ich sag Ihnen, er ist geladen wie 'ne Haubitze.
Mit einem Schlage tauchte in mir die kleine Universitätsstadt und Pedell
Papeudick auf. Ich sah die Kellnerin genauer an, und richtig! es konnte
niemand anders sein, als das Lieschen ans der Wiesengasse. Ich rief ihren
Namen. Sie drehte sich auf ihrem Absatz herum, daß die weißen Röcke und
die bunte Schärpe nur so flogen, und sagte: Gleich! gleich! Dann kam sie
mit einem gefüllten Glase zurück und trank die Blume ab.
Kennen Sie mich noch, Fräulein Lieschen? fragte ich. Sie sah mich eine
Weile fragend an und guckte dann nach der Decke, als wollte sie in Gedanken
die unendliche Reihe von Männern vorbeifliegen lassen, deren Bekanntschaft
sie sich zu erfreuen hatte. Ich mußte wohl ganz hinten stecken, denn es dauerte
lange, bis sie sagte: Ah, Sie sind wohl der Student, der einmal neben uus
gewohnt hat und so oft zu meinem Vater kam?
Ganz recht, Fräulein Lieschen! Wie geht es denn Ihrem Vater?
Na Gott hab ihn selig! rief sie mit einer abwehrenden Handbewegung.
Tot gesoffen hat er sich. Haus und Garten hat er durch die Kehle gejagt.
Das thut mir leid. Freilich, er liebte das Trinken, aber er war doch
sonst ein braver Kerl. Er hatte Sie auch sehr lieb, Fräulein Lieschen.
Pah, die Liebe! Was ich mir dafür kaufe!
Er hats mir aber oft gesagt und hats Ihnen doch auch gezeigt!
Ja, bis die Geschichte mit dem Polacken kam. Wissen Sie, der ist an
allem schuld. Na, Schwamm drüber!
Sie wurde von einem Gaste gerufen und plauderte dann lachend und
scherzend mit dem eine Weile.
Der Redner hatte geendigt, und ein Klavierspieler — es war wohl noch
immer der alte Blinde aus meiner Studentenzeit — sing an im Hintergrunde
zu arbeiten. Es klang, als ob er nicht mit den Händen, sondern mit dem
Gesäß auf den Tasten hin- und hersprängc. Meine Gedanken flogen zehn
Jahre zurück und schweiften in das Gürtchen des alten Pedells. Ich sah das
Mädchen wieder hinter den Stachelbeersträuchern sitzen und ihren Kopf ver¬
schämt verstecken, wenn ein Student vorbeiging. Und nun stand sie da, auf¬
gedonnert, mit unechtem Schmuck überladen, das Gesicht gepudert und ge¬
schminkt, in einer verräucherten Bierkneipe, und schritt dnrch die Reihen der
Männer und der lüsternen jungen Burschen mit einladenden Blicken und heraus¬
fordernden Bewegungen. (1 qcms lnutg,die> rvrum!
Was ist deun aus dein polnischen Studenten geworden? fragte ich
sie, als sie wieder neben meinem Stuhl stand und ihre Hand auf meine
Schulter legte.
Der Halunke! stieß sie hervor, indem sie die Faust ballte. Jetzt ist er
Arzt in Schlesien oder Posen, ich weiß uicht wo. Im vorigen Jahre war er
auf seiner Hochzeitsreise hier in Berlin; und denken Sie sich, der Kerl hatte
die Unverschämtheit, mich aufzusuchen. Aber ich habe Rache genommen, grim¬
mige Rache! Der wird an mich denken. Sie kennen doch den Roman Nana?
Sehn Sie, so habe ichs gemacht.
Sie lachte, griff nach meinem Glase und trank die Hälfte aus.
Gefällt Ihnen denn Ihr jetziges Lebe»? fragte ich etwas abwehrend.
Warum nicht? Was kanns denn beßres für mich geben?
Aber wenn Sie an Ihre Kinderzeit denken, muß Ihnen doch manchmal
bang ums Herz werden.
Sie fuhr mir mit der flachen Hand über den Kopf und sagte höhnisch:
Hören Sie mal, mein Verehrter, Sie gehören wohl gar zur innern Mission?
Geben Sie sich keine Mühe! Mit der ewigen Seligkeit ists doch nichts. Über
den Unsinn sind wir naus. Ich sage wie der Otte: ich kriegs nicht mehr
raus aus den Knochen! Und: man muß das Feuer konzentriren! Erinnern
Sie sich, wenn er in der Laube saß, und ich ihm die frischgefüllte Blattlaus
bringen mußte? Zwei oder drei Jahre, denk ich, gehts noch, und gehts dann
nicht mehr, na, dann ists auch gut. Aber andächtig auf dem Gendarmen¬
markt sitzen und für sechs Dreier Äppel verkaufen, mit einem Wärmofen
unterm Stuhl — nee, mein Bester! Denn lieber rin in den Landwehrkanal,
wos am tiefsten ist. Sitzen Sie doch nicht so trauerklößig da!
Dabei schlug sie mir mit der Hand aufs Knie, daß ich aufsprang.
Ich bin Ihnen wohl nicht mehr hübsch genug? wie? Sie alter, schwer¬
fälliger Prvvinziale! Darf ich mir noch ein Glas holen?
Meinetwegen! sagte ich wie abwesend.
Die Gäste am Nebentisch mußten wohl auf unser Gespräch gehört haben,
denn sie steckten die Köpfe zusammen, sahen auf mich und auf die lachend ab-
tünzelnde Kellnerin und brachen in ein lautes Gelächter aus. Ich griff nach
meinem Hute, warf eine Mark auf den Tisch und verließ das Lokal. Aus dem
Hinterraum ertönte wieder das Pauken des Klavierspielers, und die Gäste der
Bismarckfeier sangen oder brüllten den zweiten Vers von Deutschland, Deutsch¬
land über alles!
Ich schlich verstimmt, wie einer, der eine kolossale Dummheit begangen
hat, die Markgrafenstraße hinunter bis zur Leipziger. Da drehte ich mich
noch einmal um und sah die rote Laterne der wunderliche» Kneipe. Sie er¬
schien mir wie eine große rote Nase. Ich mußte an den alten Pedell und
Bvmbenschmeißer denken, und mir wars, als horte ich durch das nächtliche
Sausen und Rollen seine heisere Stimme brummen: Ich kriegs nicht mehr
raus aus den Knochen — die verfluchte Kälte vor Paris!
in Kloster wartete unser wieder eine Enttäuschung! Wir hatten
natürlich angenommen, daß das „Kloster" ein Hans mit dicken
Mauern und vielen kleinen Gängen sei. Nun befanden wir uns
plötzlich in einem großen, schönen Garten. Überall blühten die
Rosen und andre Blumen; zwischen Rasenflächen lagen alte und
neue Häuser, und das Ganze sah aus wie ein Bild des Friedens
und der Behaglichkeit.
Das Haus, vor dem unser Wagen hielt, war eins der ältesten des
Klosters, sodaß seine Bewohnerinnen vortrefflich hineinpaßten. Beide standen
vor der Thür, als wir ausstiegen. Fräulein von Moldenwitt ziemlich mager
und freundlich, Tante Emma ziemlich dick und sehr ernst. Mit einigen er¬
mahnenden Worten nahmen sie uns in Empfang.
"
Ihr dürft bei Tante Emma nur immer „ja sagen und sonst nichts ant¬
worten; dann hört sie am ersten auf! Mit diesem Rate hatten uns die ältern
Brüder entlassen. Wir befolgten ihn andächtig und standen uns ganz gut
dabei, denn da wir nur eine Autwort hatten, brauchten wir ihr ja auch nicht
immer zuzuhören.
Es war ein über zweihundert Jahre altes Haus, das die beiden Damen
bewohnten, und es hatte die sonderbarsten kleinen Stuben, winklige Treppen
und Treppchen, einen weiten Bodenraum und einen köstlichen, halb zugewach¬
senen Garten, an dem ein breiter Graben vorüberfloß. Hier fingen wir gleich
in der ersten Stunde nach unsrer Ankunft so viele Grashüpfer, daß wir Sophie,
die Köchin, um ein Gefäß ersuchen mußten, damit wir unsre Schätze unter¬
bringen konnten.
Sophie war ein gutes Mädchen. Gleich zu Anfang unsrer Bekanntschaft
fragten wir sie natürlich nach ihrem Alter, und als sie uns lachend Aufklärung
gegeben hatte, gingen wir in die beste Stube, wo Fräulein von Moldenwitt
mit Tante Emma, Vater und einem Besuch saß, und erkundigten uns teil¬
nehmend auch hier, wie alt die Damen wären. Fräulein von Moldenwitt er¬
schrak sichtlich, lachte aber und sagte nichts, während Tante sehr rot wurde
und einige ernährende Worte an uns richtete, des Inhalts, daß man nach
solchen Dingen nie fragen dürfe. Wir sagten „ja!" und flohen schleunigst
wieder zu Sophien, die uns im ganzen freundlicher schien, als die Damen im
Wohnzimmer. Sie erzählte uns auch gleich, was wir heute essen würden, und
wie viel Geschwister sie habe. Zweimal verlobt war sie auch schon gewesen,
und letzte Weihnachten hatte sie ein schwarzes Kleid bekommen — alles Nach¬
richten, für die wir eine rege Teilnahme bekundeten. Denn auch unsre Mädchen
waren sehr viel verlobt, und dann kam da doch nie was nach, wie sie sagten.
Damit trösteten wir denn auch Sophien, die darauf erwiderte,,, daß eben jeder
Mensch seine Drangsale habe, eine Bemerkung, der wir mit Überzeugung bei¬
stimmten.
Denn wenn wirs recht bedachten, wir hatten auch unsre Drangsale.
Was sollten wir eigentlich im Kloster, da wir es doch so gut zu Hause hatten,
wo die Kleinen so lustig krähten und die Großen uns wohl manchmal pufften,
uns aber niemals Reden hielten. Als Taute Emma nach einer Weile in die
Küche kam, fand sie dann auch Jürgen und mich auf dem Holzkasten sitzend
und weinend. Sophie aber hantirte am Herde herum und schluchzte mit
uns um die Wette. Sie könnte keinen Menschen weinen sehen, erklärte sie;
und die kleinen ündlicher Dingers auf'n Holzkasten, die haben so grüßliches
Heimweh!
Tante Emma hatte den Mund wieder voller Ermahnungen, aber diesmal
behielt sie sie doch für sich. Sie nahm die „kleinen Dingers," wischte ihnen
die Thränen ab und erzählte, daß es bald was gutes zu essen geben würde.
Und bald saßen wir auch am reichgedeckten Tische, aßen alle möglichen Herr¬
lichkeiten, tranken Bischof, und als die Abschiedsstunde für Bater schlug, ließen
wir ihn gefaßten Mutes ziehen, obgleich wir ihm noch einmal zuflüsterten, er
solle uns ja nicht zu lange hier lassen.
Wirklich hatten wir mit unsern Thränen den Heimwehtribut bezahlt.
Wohl kamen hin und wieder noch Augenblicke, wo wir uns nach Hause sehnten;
aber wir hatten doch zu viel neue Eindrücke in uns aufzunehmen, als daß
wir nicht immer vollauf beschäftigt gewesen wären.
Fräulein von Moldenwitt war sehr gut gegen uns. Sie hatte einen
Hund, der Kule hieß, und an den sie den größten Teil des Tages dachte,
mit dem sie spazieren ging, und dessen Wohlbefinden sie beseligte. Wenn Knie
schlief, dann saß sie allein in der besten Stube und las sich selbst die Zeitung
vor, mit zitternder, etwas lachender Stimme und ohne jede Interpunktion.
Abends suchte sie dann manchmal für uns das aus, was sie für unsre Ge¬
müter sür das unschädlichste hielt, nämlich das Vermischte. Auch unser Gro߬
vater pflegte uns, fo lange wir denken konnten, etwas aus der Zeitung vor¬
zulesen, meistens von Engländern und Franzosen; wir waren also an stilles
Zuhören gewöhnt. Das „Vermischte" Fräulein von Moldenwitts gefiel uns
aber bei weitem bester — besonders die Unglücksfälle. Ob dabei Feuer oder
Wasser die Hauptrolle spielte, war uns ganz gleichgiltig, wenn nur recht viele
Menschen dabei ums Leben kamen. An den Bortrag der alten Klosterdame
hatten wir uns bald gewöhnt, und sie fühlte sich geschmeichelt, daß wir ihr
so andächtig zuhörten. Auf diese Weise bereicherte sich unser Wissen nach
einer Richtung hin sehr, und wenn wir die Geschichten nachher wieder Sophien
erzählten, so rief sie ein Oherrjeh! über das andre. Aber auch Kule gewährte
uns Zeitvertreib. Er durfte, uach Fräulein von Moldenwitts Behauptung,
nie gebadet, sondern nur gebürstet werden. Wir mußten nun täglich mit ihm
spazieren gehn, und da warfen wir ihn jedesmal in den Bach, der das Kloster
an einer Stelle durchschnitt. Seine Wasserangst, sein nnchheriges Herumjagen
und Fräulein von Moldenwitts Erstaunen/daß Kule wieder so geschwitzt
habe, was er sonst nie thue, gewährten uns viel Vergnügen.
Sophie wußte um unser Geheimnis, über sie verriet uns nicht, denn ihr
war der Hund ein Greuel. So'n altes Tier wird so gehöscht*) und is doch
mau ein alten Dorfteckel! sagte sie. Weiß nich mal ein Unterschied zu machen!
Neulich hat er an ein Tag Komteß Anna ihr Kleid zerrissen und den Post¬
boten ins Bein gebissen, und das will ein feinen Hund sein. Was mein ersten
Bräntgam sein Swiegervater von die zweite Frau her war, der hat 'neu
richtigen, seinen, echten Teckelhund gehabt! Oh was ein Tier! Der is jetzt
bei die Baroneß Schilu,°"') und der beißt bloß die Postbotens und die Schostein-
fegers, der weiß, was sich gehört: Kule abers is zu gemein zu so was! hat
neulich ein richtigen Baron die Hose zerrissen, wo man doch bei solchen Herr¬
schaften nich mal sehen muß, daß sie ein Hose anhaben! Und nachher is
grä Fräulein bloß besorgt gewesen, ob Kule auch nich ein Stück Hosenzeug
versluckt hätte. Das is zu doll! Geht ihr man hin und laßt ihm ein büschen
solennen, das is gut für ihm!
Auch sonst fanden wir Gelegenheit, allerhand zu thun, was uns unter¬
hielt. Es hatte etwas sehr Gemütliches, in dem großen Klostergarten umher-
zustreifen und eigentlich alles thun zu können, was man wollte. Jedes Hans
lag für sich und hatte wieder seinen eignen, abgeschloßnen Garten. Wir be¬
suchten auch diese Privatgärten mit großer Unbefangenheit, ohne jemand um
Erlaubnis zu fragen. Hin und wieder stießen wir dabei auf eine alte Dame,
die uns erstaunt betrachtete, nach unserm Namen fragte, uns wohl auch etwas
schenkte. Das war denn eine der vielen Klvsterdamen gewesen, die wir nie¬
mals unterscheiden lernten. Einige waren Komtessen, andre Baronessen; noch
andre grä Frünleins. Einige trugen branne, andre grane Strohhüte, sonst
aber waren sie einander alle sehr ähnlich, und wir wußten nie, ob gestern
Komteß Julie mit uns gesprochen hatte oder Baroneß Adeline.
Tante Emma tadelte uns sehr ob dieser Gedächtnisschwäche und hielt
uns öfter eine längere Rede, in der sie uus auseinandersetzte, es sei eine große
Ehre für uns, von diesen vornehmen Damen überhaupt freundlich behandelt
zu werden. Wir sagten natürlich „ja" zu diesen Ermahnungen, Sophie aber
stand auch hier wieder auf unsrer Seite. Mensch bleibt Mensch! sagte sie,
während sie kunstvoll ein Hähnchen spickte; und Klosterdame bleibt Kloster¬
dame. Bloß daß die einen ein Badleuten haben und die andern keinen, das
is der ganze Unterschied. Unser grä Fräulein hat keinen Badleuten, was den
Dienst hier for mir sehr swer macht. Besonders im Winter. Denn es is
nich gut, daß der Mensch allein sei; das hat unse Pastor auch gesagt, als
vergangen Jahr in unsre Klosterkirche 'ne Trauung war. Gott, wo war das
schön! Christine, die Frau Prijöriu ihr Kammerjumfer, mit'u Fremden aus
Kiel! Ein feine Partie: ein Leichdoruenvperatör und Zahuausreißer mit'u
offnes Geschäft, und hatte noch gar kein einzige Frau vorher gehabt! Und
Christine is doch gewiß in die Vierziger gewesen. Aber wers Glück haben
soll, der kriegts auch. Frau Prijöriu hat die Braut sehr viel schöne Sachen
geschenkt und nachher auch die Hochzeit ausgerichtet, und das ganze Kloster
hat mit einmal von Christine gesprochen, was doch 'ne große Ehre war. Und
der Vräntgam is auch dankbar gewesen und hat zu Frau Prijöriu gesagt, wenn
sie mal was an die Zahnens oder die Füßens hätt', so sollt sie man getrost
zu ihn kommen. Er wollt allens gern besorgen und zum halben Preis; abers
ich glaub nich, daß sie das annimmt. Sie ist ordentlich stolz, und ihr Ba-
dieuter auch, was ich grasig von ihn finde, wo er doch nich mehr is als ich.
Eines Tages rief mich Tante Emma, als ich gar keine Zeit hatte, ihrem
Rufe Folge zu leisten. Ich baute nämlich gerade ein Kartenschloß für fünf¬
undzwanzig frisch eingefangne Grashüpfer und konnte doch diese wichtige Bci-
schäftigung nicht unterbrechen. Aber sie rief mich noch einmal, und als ich
wieder bemerkte, sie müsse sich noch etwas gedulden, wurde Sophie geschickt,
die mich bei der Hand nahm und sagte: Komm man flink, die Ohlsch is bös!
Meine Grashüpfer laufen ja davon! jammerte ich.
Ah, steck die man in Tasche und denn dein Taschentuch über! So
lui komm man flink!
In der besten Stube saß eine der Klvsterdameu, und neben ihr Tante
Emma. Die sah sehr böse aus, und meine Seele schrie nach Jürgen, der ge¬
rade im Nachbargarten die Kirschbäume untersuchte. Doch bewahrte ich äußerlich
die nötige Unbefangenheit, den» mein Gewissen war in jeder Beziehung rein.
Nun räusperte sich Taute Emma und begann in strengem Tone: Bist dn
gestern in Barvneß Friedas Garten hineingeklettert?
Nein! sagte ich.
Hat Jürgen dort dem Gärtner einen Frosch an den Kopf geworfen?
Ich schüttelte den Kopf.
Und habt ihr beide Kirschen vom Spalier gestohlen?
Tante Emma, ergriff ich nun das Wort, die Geschichte ist nicht wahr.
Ich bin nicht in den Garten hineingeklettert; neben der Thür ist ein Loch,
da bin ich dnrchgekrocheu, und Jürgen auch. Und es war kein Frosch, den
Jürgen dem alten Mann um den Kopf geworfen hat, es war eine Kröte.
Ganz gewiß, es war bloß eine Kröte mit gelben Flecken! Und die Kirschen —
die Kirschen waren furchtbar sauer, wir mochten sie gar nicht, es mußte eine
sehr schlechte Sorte sein!
Obgleich also meine Unschuld sonnenklar vor Augen lag, kam doch
eine gewisse Bangigkeit über mich. Es ist auch zu schwer, es allen Leuten
recht zu machen. So zog ich denn mein Taschentuch heraus und wischte mir
die Augen, ein Umstand, den die Grashüpfer schon lange erwartet haben
mußten, denn sie sprangen alle hinter meinem Taschentuche her: auf die
Tischplatte, auf den Fußboden, auf das Sofa, sodaß sich die Klosterdame mit
großer Eilfertigkeit empfahl. Sie war mit einemmale gar uicht mehr neu¬
gierig, ob es ein Frosch oder eine Kröte gewesen wäre, die als Wurfgeschoß
gedient hatte, und selbst Taute Emma überließ mir den Alleinbesitz der besten
Stube und versparte ihre weitern Bemerkungen ans später.
Bei dem Wiedereinfang der Grashüpfer half mir keine Menschenseele, ich
bekam sie auch nicht alle wieder. Zwölf ganze und fünf halbe — mehr konnte
ich trotz angestrengten Kuchens nicht finden, und die fünf halben paßten nicht
einmal zusammen. Fräulein von Moldenwitt aber wollte von nun an die
Zeitung nicht mehr in der besten Stube lesen, und auch Kule ward der Zutritt
verweigert; sein teures Leben hätte ja durch die Grashüpfer gefährdet werden
können! So sagte Fräulein von Moldenwitt, die in ihrer Unschuld uicht ahnte,
daß Kule die Bekanntschaft der Grashüpfer durch unsre Vermittlung schon in
ausgiebigster Weise gemacht hatte.
Ich glaube, daß für den Besuch des fremden Gartens und auch für die
Grashüpfer unser eine Strafe harrte; wenigstens redeten die beiden Damen
viel zusammen und schüttelten dabei die Köpfe, während sie von 'Kindererziehung
sprachen. Auch las uns Früulein von Moldeuwitt eine Reihe von Unglücks-
fülleu vor, in denen unartige Kinder regelmäßig starben. Ans welcher Quelle
sie diese Geschichten schöpfte, weiß ich nicht, wir fanden sie aber sehr nett und
baten sie dringend, uns noch mehr der Art mitzuteilen, ein Verlangen, das
sie mit Verlegenheit zu erfüllen schien.
Aber sie und Tante Emma konnten sich nicht über die Art unsrer Be¬
strafung einigen, und so unterblieb sie denn, wie uns Sophie dann mitteilte.
Sie but gerade einen Pudding, und wir „schmeckten" mit großer Beharrlich¬
keit, während sie nach ihrer Gewohnheit redselig sagte: Was wahr is, muß
wahr bleiben: ein paar Drivers*) seid ihr; abers Jugend hat keine Tugend.
Das hab ich auch zu grä Fräulein gesagt, als sie mir um Rat fragte, was
sie mit euch machen sollt. Gila Früulein, sag ich, lassen Sie die beidens
man, wie sie sind, für armer Leute Kinner is man nich verantwortlich. Wenn
man sie nun zum Beispiel hungern läßt und sie denn krank werden, was denn?
Oder einsperren? Du liebe Zeit — die stoßen mit'n Kopp an die Wunders.
Nee, gnü Fräulein, lassen Sie die Kinners man gewähren. Dabei rührte sie
triumphirend an der Fruchtsauce für den Pudding, während wir dieser inter¬
essanten Handlung mit Spannung zusahen.
Wir hatten die kleine Garten- und Grashüpfergeschichte bald wieder
vergessen, und als Vater kam, uns abzuholen, that uns der Abschied doch
leid. Besonders Sophie verließen wir ungern, denn sie war sehr gut gegen
uns gewesen und hatte uns mit allerhand Leckerbissen verwöhnt. Auch vom
Klostergarten mit seinen Bäumen und Blumen, seiner Freiheit, seinem plät¬
schernden Bach trennten wir uns schwer. Aber es mußte geschieden sein,
und wir hielten es für unsre Pflicht, jeder Klosterdame, der wir am letzten
Tage noch einmal begegneten, Lebewohl zu sagen. Auch sonst hatten wir
einige Freunde erworben und wurden überall mit freundlichen Worten ent¬
lassen. Selbst die Barvneß, die uns verklagt hatte, schickte uns zum Abschiede
noch ein Körbchen mit Kirschen, und als wir fortfuhren, stand Sophie weinend
an der Hausthür, Taute Emma hielt uns eine Rede, und Fräulein von
Moldenwitt schenkte uns die letzte Zeitung mit einem prachtvollen Unglücks¬
fall. Sie meinte, Papa solle uns die Geschichte unterwegs vorlesen, was er
aber nicht that. Wir hatten ja so viel zu erzählen, daß wir keine Zeit dazu
fanden.
Da wir nicht denselben Weg nach dem Sunde zurückführen, kehrten wir
auch nicht wieder in dem Wirtshause ein, wo wir übernachtet hatten, was
wir sehr bedauerten, da uns Zephanjas Schicksal wieder einfiel und plötzlich
wieder sehr am Herzen lag. Als uns jedoch versichert wurde, Zephanja sei
entweder tot oder lebe noch, fanden wir uns mit Fassung in die Unbestimmt¬
heit seines Schicksals.
Zu Hause angekommen, hatten wir sehr viel zu berichten, so viel, daß
uns manchmal Schweigen geboten wurde. Später sollten wir in der Privat-
stunde einen kleinen Aufsatz über unsre Reise ins Kloster machen. Da erklärte»
wir wie aus einem Munde, daß wir gar nichts mehr von dieser Reise müßten,
und daß wir auch gar nichts erlebt hätten, weder Feuer, noch Räuber, noch
sonst eine» Unglücksfall. Herr Sörensen sah auch endlich ein, daß wir von
dieser Reise nichts erzählen konnten. Seit der Zeit sprachen wir nur mit
Vorsicht von der Klosterreise; sie wurde für uns selbst immer geheimnisvoller,
aber je mehr sie in die Vergangenheit rückte, desto schöner wurde sie. Nur
in der Dämmerung sprachen wir zwei noch oft vom Kloster, von den Gärten
und ihren Blumen, von Sophien und ihrer Küche, von Kule und den Gras¬
hüpfern, und wenn dann Jürgen und ich in ein nicht zu bannendes Gelächter
ausbrachen, sagten die großen Brüder: Nun hört nur die dummen Kleinen,
die lachen wieder über gar nichts! Aber wir wußten wohl, worüber wir
lachten; wir sagten es nnr nicht.
Ein gmiz wertvolles Geständnis hat der Berliner
Korrespondent der Breslauer Zeitung abgelegt, angeblich der Abgeordnete Meyer,
der in seinen Reden den Herren Stettenheim und Genossen Konkurrenz zu machen
sucht. Wir meinen damit nicht die Versicherung, daß der „freisinnigen" Partei
die gegenwärtige Regierung trotz allem „immer noch lieber sei als eine Rückkehr
des Fürsten Bismarck"; das wird ihm jedermann muss Wort glauben, und die
norddeutsche Allgemeine wäre wohl imstande, auch diese Erklärung als Vertraneus-
kundgebung für die Negierung zu hundelt. Der geistreiche Herr belehrt seine Leser
dahin, daß „die politische Unzufriedenheit am größten sei in den Reihen derjenigen,
die sich nur an Sonntagen mit Politik beschäftigen, und man einer starken Mi߬
stimmung bei Leuten begegne, die für gewöhnlich sich um Politik nicht kümmern,"
oder, wie es vorher heißt, „die ihre Politische Speise aus den »parteilosen« Zei-
tungen entnehmen." Es ist sehr begreiflich, daß im Freisinn mehr Freude ist über
einen, der tagtäglich sein Lciborgcm „in den Kaffee stippt" (wie man in Berlin
sagt) und bei den verschiednen Schoppen, die den Tag angenehm ausfüllen, den
Inhalt des Blattes als seine Überzeugung wiederkäut, als über den Bürger, der
sich vor allem um das kümmert, was seines Amts ist, und sich seine Meinung
über den Gang der Tagesgeschichte nach den Thatsachen selbst bildet, nicht nach
Vorschrift dieses oder jenes Winkeldoktors. Unbefangne werden es sehr bedeutsam
finden, wenn sich gerade solcher dem Korrespondenten so unsympathischen Sonntags¬
politiker eine starke Mißstimmung bemächtigt hat, und die Regierung kann fiir
diesen Fingerzeig von — befreundeter Seite nur dankbar sein.
Bei der Stadtschuldeputation einer ost¬
preußischen Stadt lief vor kurzem eine Anfrage der Regierung ein, ob es sich
nicht empfehlen würde, daß an der Volksschule vou nächsten Ostern an ein katho¬
lischer Lehrer angestellt würde. Die etwas über 10000 Einwohner zählende,
durchaus evangelische Stadt hat aber unter den Volksschülern nur zwei Kinder
katholischen Glaubens auszuweisen! Diese Sorge des preußischen Staates um seine
lieben katholischen Unterthanen ist zwar sehr erfreulich, aber es wäre doch inter¬
essant, zu erfahren, ob auch in rein katholische» Gegenden ähnliche Anfragen wegen
Anstellung evangelischer Lehrer von der Negierung um die städtischen BeHürden
gelangen. Sonst wäre es ja rein zum Katholischwerden!
Unter dieser Überschrift war in Heft 29 Seite
142 bis 144 über einen Vortrag des Herrn Dr. K. Fricke in Bremen berichtet
und unter der Voraussetzung, daß mit der dort empfohlenen „biologischen" Be¬
handlung des naturgeschichtlichen Unterrichts seine Behandlung im Sinne der
Darwinischen Hypothese gemeint sei, dagegen polemisirt worden. Herr Dr. Fricke
sendet uns nun eine längere „Berichtigung," von der wir hier nur das sachlich
gehaltene Mittelstück abdrucken können. Dies lautet:
„Welche Stelle meines Vortrags, der doch zunächst in Frage steht, berechtigt
den Herrn Verfasser, dem Worte »biologisch« diese Bedeutuug unterzulegen? Wo
habe ich über Abstammung , über Entstehung von Tier- und Pflnuzenformen ge¬
sprochen? Es ist mir nicht im entferntesten eingefallen, in diesen: Sinne zu reden.
Wie ich es in den siebzehn Jahren meiner Amtsthätigkeit vermieden habe, diese
Hypothesen zum Gegenstande des Unterrichts zu macheu, so habe ich natürlich noch
viel weniger an andre ein solches Verlangen gestellt. Im Gegenteil kann ich
darnnf hinweisen, daß ich wiederholt jedem Versuche, dnrwiuistische Lehren oder
gar Häckelsche Phantasien in den Unterricht zu bringen, aufs nachdrücklichste in
der Öffentlichkeit entgegengetreten bin.") Was ich in dem Vortrage befürwortet
habe, betrifft etwas ganz andres. Ich wünsche, daß sich der naturgeschichtliche
Unterricht nicht auf beziehungslose Formbeschreibungen beschränkt, die darauf hinaus¬
laufe», Staubfndeu und Griffel abzuzählen, Zahnformeln u. dergl. auswendig zu
lernen, womit von Seiten der Schule die wissenschaftliche Betrachtung der lebenden
nennr so vielen Leuten bis in ihr spätestes Alter verleidet wird, sondern daß bei
der Beschreibung die Bedeutung jeder Gestaltung in ihrer Eigenart hervortritt.
So will ich uicht uur die Blattform und Anordnung des Laubes um sich beschrieben
haben, sondern ich wünsche die Schüler zum Nachdenken darüber angeregt zu sehen,
welche Vorteile die ihnen gerade zur Beobachtung vorliegende Einrichtung für das
Leben des betreffenden Baumes bietet. Sie sollen ferner uicht nur das Leben der
einzelnen Pflanze, sondern auch seiue Abhängigkeit von der Umgebung kennen lernen,
wie sich z. B. der Nadelwald und Bucheuwnld vom Eichenwalde oder gemischten
Bestände in Bezug auf Unterholz und Bodendecke unterscheidet. Bei der Beschrei¬
bung einer Lippen- oder Schmetterliugsblüte wünsche ich eine Anleitung zu geben
zu der Erkenntnis, wie diese eigentümlichen Blütenformen dnrch Anpassung an die
Körperformen und Lebensgewohnheiten gewisser Insekten die Übertragung des
Blütenstaubes begünstigen. Ich wünsche die Schüler in den Stand zu setzen, aus
der Gestalt und Färbung eiues Tieres einen Schluß auf feine Lebensweise und
feinen Aufenthalt zu machen. Diese und ähnliche Gesichtspunkte habe ich für den
Unterricht empfohlen und weiß, daß ich mich bei diesen Bestrebungen im Einver¬
ständnis befinde uicht uur mit zahlreichen Fachgenossen, sondern auch mit andern
Pädagogen, die über den Verdacht erhaben sind, darwinistische Anschauungen in
die Schule tragen zu wollen. Ich erwähne nur den für die pädagogische Wissen¬
schaft zu früh verstorbnen O. Frick, der mir schriftlich wie mündlich wiederholt
sein Einverständnis mit dieser Auffassung ausgedrückt und bekanntlich ebenso wie
O. Wittmann den aus dem biologischen Unterrichte hervvrgegangncn Begriff der
Lebensgemeinschaft für weitere Unterrichtsgebiete fruchtbar gemacht hat. Beziehungen
der oben geschilderten Art find der Gegenstand biologischer Untersuchungen. Diese
beziehen sich auf beobachtbare Thatsachen und haben an sich mit den von dem
Verfasser heransgezogneu Hypothesen gar nichts zu schaffen."
Weiterhin wird daun noch hervorgehoben, daß „Fragen der vergleichenden
Anatomie und der Systematik ebenso leicht wie biologische im darwinistischen Sinne
wie im entgegengesetzten, ideologischen ausgedeutet und ausgebeutet werden können."
Der Verfasser unsers ersten Artikels, dem wir diese Berichtigung vorgelegt
haben, schreibt uus dazu:
Die Welt ist Herrn öl', Fricke für seine epochemachende Erklärung zu großem
Danke verpflichtet, und ein wenig auch mir, der ich sie hervorgerufen habe. Ich
nenne sie epochemachend, weil das Laieupublikum daraus zum erstenmale amtlich
erfährt, wenn auch noch nicht, Was die Biologie ist, so doch wenigstens, was sie
nicht ist. Den angeführten Beispielen nach zu urteile« wäre die Biologie die
Lehre von der zweckmäßigen Einrichtung der Tiere und Pflanzen, und zwar vor¬
zugsweise mit Rücksicht auf ihre lebendige Umgebung. Das ist nun ungefähr das¬
selbe, was man ehedem Teleologie genannt, und wenn auch nicht ausdrücklich unter
diesem Namen, sowohl im naturgeschichtlichen wie im Religionsunterrichte betrieben
hat. Herr Dr. Fricke wird zwar gegen diese Auffassung protestiren, da ja seiner
Ansicht nach der Lehrer die Schüler nur mit den Thatsachen bekannt machen, jede
Ausdeutung aber, sei es im Darwinschen, sei es im teleologischen Sinne, ver¬
meiden soll. Aber ich behaupte, daß das Deuten unmöglich vermieden werden
kann. Es ist ganz undenkbar, daß ein Schüler, der nicht geradezu dumm ist, bei
der Einsicht in die tausenderlei wunderbar zweckmäßigen Einrichtungen der Natur
uicht in Erstaunen geraten und sich oder den Lehrer fragen sollte: Woher kommt
»un diese weise Einrichtung? Und weigert ihm der Lehrer die Antwort, so wird
er sie sich selbst geben, und zwar, wenn er die Darwinische Hypothese nicht kennt,
im teleologischen Sinne.
Das Wort Biologie hat das Unglück gehabt, zu gleicher Zeit mit dem Dar¬
winismus in Aufnahme zu kommen, in jener Zeit, wo das Wort Teleologie ans
dem Sprachgebrauch der Naturkundigen verbannt war und jeder, der es anders
als spöttisch in den Mund nahm, für einen Dummkopf oder Finsterling angesehen
wurde. Unter diesen Umständen war es dem Laien zu verzeihen, wenn er unter
der biologischen Behandlung der Naturgeschichte die Behandlung im Darwinischen
Sinne verstand, um so mehr, als die verschiednen Definitionen des Ausdrucks
Biologie in den Sachwörterbüchern beweisen, daß der Gebrauch des Wortes noch
schwankt und sein Sinn keineswegs feststeht. Wenn nun jetzt angesehene Lehrer
der Naturgeschichte öffentlich die Lehren Häckels als Phantasien bezeichnen und er¬
klären, daß sie nicht daran dächten, die sogenannten biologischen Thatsachen den
Schülern im Darwinischen Sinne zu deuten, so ist damit die Häckelsche Periode
der deutschen Naturwissenschaft abgeschlossen, und so haben wir selbstverständlich
gegen die „biologische" Behandlung des naturgeschichtlichen Unterrichts nichts ein¬
zuwenden.
Ich bin nicht Mitglied des Tierschutz-
Vereins, kann also für dessen Vorgehen nicht eintreten. Aber ich bin ein alter
Offizier, der lange Jahre mit seinen Pferden sehr intim verkehrt hat, und der auch
heute noch ein warmer Pferdefrcund ist. Aber gerade als solcher bekenne ich mich
zu der Ansicht, daß die Verbreitung des Pferdefleischgcnusses ein Schutz für das
Pferd sei. Die in Heft 34 der Grenzboten entwickelte Theorie, daß man sein
Pferd ebensowenig verspeisen dürfe wie seinen Kanarienvogel oder seinen Hund,
und daß das nur der erste Schritt zum Verspeisen seines Onkels oder seiner Tante
sei, klingt zwar sehr schön, aber es geht ihr, wie so mancher andern schönen
Theorie, sie hält vor den Forderungen des Praktischen Lebens nicht Stich. Seinen
Hund oder seinen Kanarienvogel Pflegt man, wenn man eben kein roher Mensch
ist, bis zu seinem Tode. Wer kann das aber mit seinem Pferde thun? Wie
wenige Pferdefreunde sind in der Lage, ihren Pferden das Gnadenbrod geben zu
können. Und wie gestaltet sich dann das Leben des armen Tieres? Mit dem
Alter avaneirt es rückwärts, sein Dasein wird immer trauriger. Wie manches in
der Jugend gepflegte und mit Leckerbissen versorgte Pferd endet unter Peitschen¬
hieben am Sandkarren! Man gehe doch auf die Straße und sehe sich die Jammer¬
gestalten an! Ist es denn da nicht besser, wenn es der Roßschlächter kauft und
ihm noch ein Paar Tage, bevor er es schlachtet, gutes und reichliches Futter giebt?
Und je mehr das Pferdefleischessen aufkommt, desto mehr wird der Noßschlächter
darauf sehen, durch Mast noch etwas Fett zu schaffen.
Wenn doch die Pferde reden könnten! Wenn man dann einem durch Alter,
Hunger und Prügel heruntergekommnen Tiere die schöne, sentimentale Theorie ent¬
wickelte, was würde es Wohl antworten? Wenn es ein Berliner Pferd wäre, wahr¬
scheinlich: Was ich mir davor koofe!
In der Unterhaltungsbeilage einer Berliner Zeitung
finden wir einen so gewählten Unsinn, daß wir uns nicht versagen können, dem
Nachdrucksverbote zum Trotz uusern Lesern eine Freude damit zu bereiten.
„Der Bursche macht einen ganz brauchbaren Eindruck."
„Das ist er auch."
So erfahren wir also, was ein „brauchbarer Eindruck" ist, nämlich ein Bursche
und zwar ein Neger. Wenn das ein Quintaner schriebe, müßte er befürchten,
von der Hand des Lehrers einen Eindruck zu erhalten, den er schwerlich brauchbar
finden würde. Aber der „Dichter" ist vielleicht selbst in Afrika gewesen und hat
dort seine Muttersprache verlernt.
I
Zur Beachtung
Mit den: nächsten Hefte beginnt diese Zeitschrift das
4. Vierteljahr ihres 31. Jahrganges. Sir ist durch alle Buch-
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Leipzig, im September 1692Die Verlagstzandlung