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]]>Zeitschrift
für
Politik, Litteratur und Kunst
50. Jahrgang
Drittes Vierteljahr
Leipzig
Verlag von Fr. Wilh. Grunow
IM!
n den Völkern, denen es vergönnt gewesen ist, fern vom Geräusch
der Welt ihr Leben in idyllischer Ruhe zuzubringen, gehören
mich die Finnländer, von denen bisher nur selten Nachrichten
in die weitere Öffentlichkeit gedrungen sind; ein anspruchsloses
und zufriedenes Volk, sind sie nur darcinf bedacht gewesen, an
ihrer innern Entwicklung und Vervollkommnung zu arbeiten, froh, wenn sie
sich diesem Streben in ungestörter Weise hingeben konnten. Im Laufe der
neuern Zeit sind aber Nachrichten in die Welt gedrungen, die darauf schließen
lassen, daß es mit den schönen Tagen von Finnland vorüber sein dürfte, denn
wie die Ostseeprovinzen, gedenkt Rußland um auch dieses ehedem schwedische
Land in energischer Weise zu „russifiziren," wofür der bereits erfolgte Wechsel
in dem Posten des Staatssekretärs für Finnland, die beabsichtigte Einführung
der russischen Sprache als Amtssprache n. s. w. unzweideutige Anzeichen sind.
Alle diese Maßregeln werden nicht verfehlen, das Mitgefühl der ganzen ge¬
bildeten Welt zu erwecken.
Um die gegenwärtige Lage Finnlands besser zu würdigen, muß man
etwas in der Geschichte zurückgehen, bis in die Zeit Kaiser Alexanders I. von
Rußland, nnter dessen Negierung Finnland dem russischen Koloß einverleibt
wurde. Die Finnländer hatten damals kaum Ursache, mit dieser Veränderung
unzufrieden zu sein, denn dnrch die Eiuverleibungsalte wurden ihnen so be¬
deutende Vorzugsrechte eingeräumt, daß das Land fast einen besondern Staat
für sich bildete, gleichsam nnr dnrch Personalunion mit Rußland verbunden
war. Auf dem 180!) nach Borgn einberufenen finnischen Landtage versprach
der Kaiser, Konstitution und Grundgesetze unverändert zu erhalten, und außer¬
dem erließ er ein Manifest, worin er „des Landes Religion und Grundgesetze,
sowie die Privilegien und Gerechtsame, die jeder Stand in dein genannten Groß-
sürsteutum besonders und alle Einwohner desselben im allgemeinen, so höhere
wie niedere, bis jetzt der Konstitution gemäß genossen" hätten, bestätigte und
„alle diese Vorrechte und Verfassungen sest und unverrückt in ihrer vollen
Kraft beizubehalten" gelobte.
Die Finnländer waren damals ein im höchsten Grade ausgesvgeues Volk.
Jahrhunderte lang hatte ihr Land Schweden und Rußland als Wahlplatz
blutiger Kriege gedient, und sie waren uun unter dem neuen Regiment froh,
daß sie sich ihrer wirtschaftlichen und geistige» Entwicklung widmen konnten,
ein Streben, dem die russische Herrschaft keine Hindernisse in den Weg legte,
denn sowohl Kaiser Alexander I. wie auch seine Nachfolger hielten die gegebenen
Versprechungen. Wohl wirkte die äußerst despotische Regierung des Kaisers
Nikolaus lähmend aus die Entwicklung des Landes, doch wurde ihm Nikolaus
Nachfolger, Alexander II., ein neuer Förderer, indem er wieder 1863 den
Landtag zusammenberief, der zunächst jedes fünfte und dann jedes dritte
Jahr tagte.
Das Laud entwickelte sich nun aufs günstigste, und einen nicht unwesentlichen
Anteil daran hatte der Umstand, daß man die finnische Sprache mehr zur Gel¬
tung zu bringen suchte. Bisher waren nämlich sieben Achtel der Bevölkerung
der filmisch sprechenden Einwohner ohne finnische Schulen gewesen, und als
Amtssprache hatte ausschließlich das Schwedische gedient. Um hierin Wandel
zu schaffen, entstand um die Mitte dieses Jahrhunderts eine Bewegung, die
darauf ausging, die finnisch sprechende Einwohnerschaft des Landes in den
Besitz ihrer natürlichen Rechte zu bringe». Die Anhänger dieser Bewegung
— die Fennvmanni — arbeiteten mit aller Kraft daran, finnische Schulen,
Zeitungen, eine eigne Litteratur u. a. in. ins Leben zu rufen und mit deren
Hilfe ihrem Volke den Boden für Westländische Kultur zu ebnen. Die Be¬
wegung ging wie ein belebender Frühlingshauch durchs Land, und bald sollten
sich auch ihre Früchte zeigen; das Volk begann sich freier zu fühlen, ein ge¬
ordnetes Schulwesen und die kommunale Selbstverwaltung erstand, Handel
und Industrie, Litteratur und Kunst kamen zur Blüte.
Dieser allgemeine Aufschwung war es aber gerade, der die Aufmerksam¬
keit weiter Kreise in Rußland auf Finnland zu lenken begann. Man wird
wohl nicht fehlgehen in der Annahme, daß es die Wohlfahrt des Landes, die
Ordnung, die darin herrschte, die Volksbildung und die Achtung, die man den
Gesetzen zollte, waren, die den Neid des Stvckrnssentnms erregten, nicht un¬
wahrscheinlich ist es aber auch, daß ihm das persönliche Wohlwollen der Zaren
gegeir Finnland ein Dorn im Ange war. Doch hatte Rußland zunächst noch
so viel mit seinen eignen Angelegenheiten zu thun, daß es keine Zeit fand,
sich mit Finnland näher zu befassen. Erst von dem Zeitpunkt ab, wo der
erste offizielle Bestich des Zaren stattgefunden hatte, begannen sich Angriffe
gegen Finnland zu erhebe». Schon der Umstand, daß sich das Land in Be¬
ziehung auf die Kultur den „Westen" zum Vorbild genommen und sich gleich¬
zeitig in nationaler Richtung entwickelt hatte, daß die Finnländer sich serner
der russischen Kultur abhold gezeigt hatten, überhaupt keine Russen geworden,
sondern für das Zarenreich Fremdlinge geblieben waren, war natürlich in den
Augen der Stockrussen ein Verbrechen.
Nun begann die Sache ernster zu werden, und es dauerte nicht lange,
daß zwei häufig genannte Zeitungen, die „Moskowskija Wedomosti" und die
„Nowoje Wremja," die Pfeile ihrer gehässigen Angriffe auf den eigentlichen
Kernpunkt, die Konstitution, zu richten begannen. Diese Blätter erklärten
geradezu, daß die ganze finnische Staatsordnung jeder rechtlichen Grundlage
entbehre, Finnland seine eine Provinz, kein Staat, die sogenannten Grund¬
gesetze brauche der Monarch nicht zu respektiren, ein selbständiges Finnland
sei mit der Würde des russischen Reiches unvereinbar u. s. w.
Auf diese in den verschiedensten Formen auftretenden Angriffe näher ein¬
zugehen, würde zu weit führen; wir erwähnen nur ein Buch, worin das von
allen Seiten laut werdende Verlangen nach Unterdrückung der Freiheit in
Finnland besonders unzweideutig zum Ausdruck gelangt: „Die Unterwerfung
Finnlands," von Ordin. Es polemisirt gegen die von dem finnischen Senator
L. Mechelin herausgegebene Arbeit ?rsois ein Aron pudlio an AiAuä-äuolio
as I'inlg.mets und beschuldigt die finnischen Staatsrechtlehrer der systematischen
Verdrehung des Rechtsverhältnisses zwischen Rußland und Finnland.
Bei der Art dieser Angriffe wäre es geradezu zu verwundern, wie sie
Boden gewinnen konnten, wenn man nicht eben berücksichtigen müßte, wie
wenig Kenntnis man im allgemeinen in Rußland von den Verhältnissen in
Finnland hatte. Wenn die Zeitungen täglich schrieben, daß die Autonomie
Finnlands auf Betrug und Fälschung beruhe, so ist es freilich zu verstehen,
wenn ihnen schließlich selbst die Ungläubigsten Glauben schenkten. Den
finnischen Zeitungen wurde es verboten, sich mit dieser Materie zu befassen,
und wenn es auch hiu und wieder einmal gelang, zu Gunsten Finnlands in
russischen Blättern zu Worte zu kommen, so wurden doch solche Auslassungen
sofort zum Zielpunkte der gehässigsten Angriffe gemacht.
Man ist nnn freilich in Finnland durchaus nicht geneigt, alle diese An¬
griffe gänzlich unerwidert zu lassen, ja es darf wohl ein zäher Widerstand
erwartet werden. Als ein Anzeichen davon ist ein von dem finnischen Professor
Danielson erschienenes Buch: „Die Vereinigung Finnlands mit dem russischen
Reiche" zu bezeichnen. Es ist in russischer Sprache geschrieben »ut enthält
eine vernichtende Kritik der Arbeit Ordins. Der Verfasser hat jedenfalls nicht
wenig Mühe aufwenden müssen, um russischen Lesern ein klares Bild der
finnischen Verhältnisse zu geben, wenn man bedenkt, daß Wörter wie Landtag,
Grundgesetz u. s. w. im Russischen schwer wiederzugeben sind.
Natürlich ist das Buch Dcmielsons nicht ohne Erwiderung geblieben,
wenn man auch die auf Thatsachen gegründete Beweisführung nicht umstoßen
konnte. Seinem Schicksale wird Finnland auch durch noch so tapfre Abwehr
kaum entgehen. Langsam aber sicher wird es in der Umarmung des russischen
Kolosses seine Selbständigkeit erstarren sehen, wie es mit den deutschen Ostsee¬
provinzen bereits der Fall ist.
Einige Beruhigung gewährte es, als verlautete, daß der Zar geäußert
habe, es sei nun genug mit deu Verfolgungen, und als der Genernlgouverneur
für Finnland Graf Heiden, der einem russischen Geschlecht entstammt, endlich
in russischen Blättern — wie man annimmt, mit Billigung des Zaren —
eine Antwort auf diese Angriffe erteilte, die gleichsam als eine Art Bestütignng
der finnischen Gerechtsame zu betrachten war. Die Freude der Finnländer
sollte aber nicht lange währen, denn Anfang des Jahres 1890 wurden un¬
vermutet drei Kommissionen ernannt, um, wie es hieß, „das finnische Zoll-,
Post- und Münzwesen in nähere Verbindung mit den russischen Institutionen
zu bringen." Gleichzeitig verlautete, daß das neue Strafgesetz ohne weiteres
suspendirt werden solle — dasselbe Gesetz, das den beiden letzte» Landtagen
vorgelegen hatte, dort angenommen und von allerhöchster Seite bestätigt
worden war, sodaß es Anfang 1891 hätte in Kraft trete» können.
Diese Wolke», die den politischen Himmel Finnlands drohend überzogen,
gaben Veranlassung zu einem ungewöhnlichen Schritte. Die Wortführer der
vier Stände des finnischen Landtags^) nämlich begaben sich nach Petersburg
und suchten dort um eine Audienz beim Zaren nach, aber sie wurde ihnen
rundweg abgeschlagen. Nur der Wortführer des Priesterstandes, der Erz-
bischof, wurde vorgelassen. Er kam aber nicht dazu, sich über die Verhältnisse
seines Vaterlandes zu verbreite», denn der Kaiser soll seine Erklärungen mit
der Vemerknug abgebrochen haben, daß er n» der Treue der finnischen
Nation nicht zweifle, aber der Senat habe ihn betrogen. Diese Mitteilung
erhielt dadurch eine Art von Bestätigung, daß nicht lange hiernach dein
schon genannten Senator Mechelin, dem Verfasser mehrerer staatsrechtlicher
Arbeiten über das Verhältnis zu Nußland, nahe gelegt wurde, sein Abschieds¬
gesuch einzureichen.
Ehe wir uns etwas näher mit den genannten drei Kommissionen befassen,
mochten wir zunächst angeben, aus welchen Bestandteilen sich das Staatswesen
Finnlands zusammensetzt. Es sind dies 1. der Senat in Helsingfors, dessen
Mitglieder aller drei Jahre vom Kaiser »e» ernannt werden; 2. der Landtag,
der jedes Jahr zusammentritt und dessen drei nicht adliche Stände vom Volke
gewählt werden; das Staatssekretariat in Petersburg, dessen Chef, der Minister-
ftaatssekretär, die finnischen Angelegenheiten dem Kaiser vorzutragen hat;
4. das sogenannte Komitee sür die finnischen Angelegenheiten in Petersburgs)
Eine äußerst wichtige Stelle hat also, wie man sieht, der Staatssekretär, in
dessen Hand es liegt, wie er die betreffende Angelegenheit beim Kaiser im
Vortrag darstellt; er ist gewissermaßen die letzte Instanz, das letzte Glied in
der Kette, die den Kaiser mit dem Großfürstentum Finnland verbindet. Daher
hat denn auch Finnland das größte Interesse daran, diesen Posten mit einem
Mann besetzt zu sehen, dem das Wohl und Wehe des Landes am Herzen liegt,
wie dies bei den frühern Inhabern dieser Stellung, den Grafen Rehbinder
und Armfelt der Fall war, denn diese wachten mit großer Sorgfalt über die
Rechte des Landes. Das gleiche läßt sich nicht sagen von den beiden letzten
Staatssekretären Frhrn. Brunn und General Ehrnrvoth, die zwar Finnländer
von Geburt waren, aber ihr ganzes Leben in Rußland zugebracht hatten und
ihrem Vaterlande und dessen wirklichen Bedürfnissen entfremdet worden waren;
namentlich traf dies bei dem General Ehrnrovth zu, der seine staatsmännische
Laufbahn in Bulgarien begonnen hatte, einem Lande, dessen Verhältnisse von
den finnischen so verschieden wie möglich sind. Daß Ehrnrovth dnrch den
General Dudu ersetzt worden ist, ist seiner Zeit durch die Tagesblätter ge¬
meldet werden. Die Finnlnnder sind von dessen Ernennung nichts weniger
als erbaut, denn der jetzige Staatssekretär ist in noch höherm Grade als
sein Vorgänger von russischen Sympathien durchdrungen.
Wir wenden uns nun wieder den drei Kommissionen zu, deren Arbeiten
das finnische Volk natürlich mit größter Spannung zu verfolgen alle Ursache
hatte, den» es würde eine ganz außerordentliche Umwälzung bedeuten, wenn
Während wir dies schreibe», bringt das offizielle Organ in Finnland die Nachricht,
daß die letztgenannte Institution aufgehoben werden soll. Dus Manifest lautet:
„Wir Alexander der Dritte u. s. w. thun zu wissen: In Rücksicht ans die Änderung in
der Handhabung der Geschäfte des StantssekretariatS für das Grvßsnrsteutum Finnland haben
wir für gut befunden, um nächsten 1. Oktober u. Se. die dem genannten StaatSsekrctarint
beigegebene, durch gnädiges Manifest vom (27. März) L. April 1857 errichtete Abteilung für
die finnischen Angelegenheiten einzuziehen. Eigenhändig unterschrieben:
Alezander
Koutrasignirt: von Daehn"
Gegründet wurde diese Abteilung schon 1811, aber bei Beginn der Regierung des Kaisers
Nikolaus 1826 wurde sie wieder eingezogen. Alexander 11. hielt es aber unes seiner Thron^
bcsteigung 18S7 „nötig, außer dem Staatssekretär für Finnland auch ständig einige andre mit
der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltung betraute Mttuucr in der Nähe des Thrones
zu haben, um mit völliger Sachkenntnis die verschiednen das Grvßfürsteutum betreffenden
Angelegenheiten, die der Entscheidung des Monarchen unterliegen, zu prüfen."
Eigentliche und einzige Aufgabe der Abteilung war Vorbereitung und Vortrag, aber
nicht Kritik der ihr übergelmeu Suchen. Der Senat hatte das Recht, zwei Mitglieder zur
Abteilung zu ernennen,
das finnische Zoll-, Münz- und PostWesen ohne weiteres in das russische
eingegliedert würde.
Als Finnland mit Rußland vereinigt wurde, waren beide Länder in
Bezug auf Zölle gleichgestellt, sodaß die Waren von dem einen Lande ins
andre frei eingeführt werden konnten. Dieser Zustand dauerte bis 1822. Da
belegte man einen Teil der finnischen Waren mit Zoll, während die russischen
Privilegien unverändert bestehen blieben. Allmählich wurden aber diese Zölle
so verschärft, daß die Industrie Finnlands, namentlich die Eisenindustrie, da¬
durch fast erdrückt wurde. Als aber die Industriellen ihre ganze Energie auf¬
boten, um neue Märkte zu gewinnen, rief dies wieder den Zorn der russischen
Zeitungen hervor, sie beschuldigten die Finnländer, ungerechtfertigte Vorteile
vor Rußland zu besitzen, und verlangten, daß das finnische Zollwesen dem
russische» einverleibt würde, ohne zu bedenken, daß Rußland doch weit weniger
von der Konkurrenz der immerhin nur geringfügigen Industrie Finnlands,
als von einer Aufhebung der finnischen Zollgrenze zu leiden haben würde.
Die klippenbesäten finnischen Küsten sind nämlich zum Schmuggel wie ge¬
schaffen, und einen solchen würden die gegenwärtigen hohen Zollsätze sicher
von Westen her hervorrufen.
Was das PostWesen betrifft, so würde die lähmende Rückwirkung auf
das finnische Staatswesen nicht ausbleiben, wenn ihm dies wichtige Glied
entrissen würde, denn es ist leicht zu erkennen, daß in dem PostWesen Finn¬
lands ein frischeres Leben pulsirt als in den: Rußlands, wo beispielsweise die
im finnischen eingeführten Postsparbaukeu unbekannt sind. Daß die Finnländer
endlich auch ihr Münzwesen nicht missen wollen, ist begreiflich, denn mit Ein¬
führung des russischen würde das Land allen jenen Krisen ausgesetzt sein, die
ein wechselnder Geldwert und der Zwangskurs des Papiergeldes stets im Ge-
folge hat.
Es ist begreiflich, daß man das Ergebnis der Arbeiten dieser drei Kom¬
missionen im Lande mit größter Ungeduld erwartete. Zum Glück ist das,
was man befürchtete, nicht eingetreten. Zuerst wurde die Postkommisfivn mit
ihrer Aufgabe fertig und das Ergebnis war, daß das finnische PostWesen
keine völlig russische Einrichtung, souderu eine Art Mittelding geworden ist.
Die Leitung unterliegt hinfort dein russischen Ministerium des Innern, und
die Taxen der russischen Post sollen auch für Finnland maßgebend sein. In
den Städten soll von den Postbeamten die Kenntnis der russischen Sprache
verlangt werden, der Generaldirektor wird ans Vorschlag des Generalgouver¬
neurs und des russischen Ministers des Äußern ernannt. Im Lande ist die
Verwendung von finnischen Freimarken gestattet, für das Anstand werden
aber russische gefordert. Dem finnischen Volk ist diese Neuordnung seines
PostWesens durch ein kaiserliches Manifest vom 12. Januar vorigen Jahres
bekannt gemacht worden.
War Finnland somit hinsichtlich seines Postwcsens glimpflich wegge¬
kommen, so war dies noch mehr beim Münzwesen der Fall, denn hier
wurden keine andern Veränderungen vorgenommen, als daß in Zukunft bei
den finnischen Staatskassen russisches Geld angenommen werden muß, und
zwar zu einem Kurse, der vom Senat zweimal monatlich festgesetzt wird.
Hier hatte wohl selbst russische Gehässigkeit einsehen müssen, daß es un¬
verantwortlich wäre, Finnland der Vorteile seines festen Mnuzshstems zu
berauben.
Die Zollfrnge endlich ist ganz zu Finnlands Gunsten erledigt worden.
Die Ratgeber des Kaisers selbst sollen davon abgeraten haben, das finnische
und russische Zollwesen mit einander zu verschmelzen. Dies war die erfreu¬
lichste Nachricht, die von Petersburg mich Finnland gelangte, aber anch
die letzte erfreuliche.
Inzwischen war der finnische Landtag zur üblichen Zeit zusammenberufen
worden und begann am 20. Januar seine Arbeiten. Bei der Eröffnung
sprachen die Wortführer in freimütiger und mannhafter Weise ans, daß durch
die fortwährenden Angriffe der russischen Presse und die Suspeudirung des
finnischen Strafgesetzes eine allgemeine Unruhe im Lande erregt worden sei.
Diese Worte mußten natürlich auch dem Kaiser zu Ohren kommen; es ver¬
breitete sich denn auch in der That bald darauf wie ein Lauffeuer die Nach¬
richt, daß der Kaiser von deu Wortführern des Landtags nähere Aufklärungen
über die Veranlassung zur Beunruhigung des finnischen Volkes eingefordert
habe. Natürlich wurde diese unverzüglich nach Petersburg gesandt, und als
Antwort erschien das durch die Tageszeitungen bekannt gewordene kaiserliche
Reskript, worin der Zar erklärte, daß das finnische Volk keine Ursache habe,
sich beunruhigt zu fühlen, „da es nicht seine Absicht sei, die Prinzipien für
die Handhabung der innern Verwaltung des Landes zu ändern," sondern „die
Rechte und Privilegien, womit es von den russischen Monarchen belehnt
worden sei, aufrechterhalten wolle."
Es ist nun zwar ein schöner Trost für die Finnländer, daß in dem
Reskript auf die von Alexander I. auf dem Landtage zu Bvrgä abgegebene
Versicherung, Konstitution und Grundgesetz Finnlands sollten erhalten bleiben,
Bezug genommen war, und es ist auch gewiß nicht an dem guten Willen des
Monarchen zu zweifeln, die Autonomie Finnlands zu wahren. Eine untre Sache
aber ist es, ob er sich nicht dazu drängen lassen wird, Maßregeln zu treffen,
die in die garantirte Staatsform Bresche legen. Grund zu solcher Annnahme
liefert jn die Suspeudirung des Strafgesetzes. Im übrigen ist das Reskript
so zweideutig abgefaßt, daß es jede beliebige Auslegung zuläßt, wie es denn
auch bezeichnend ist, daß es den Beifall der russischen Zeitungen findet, die
versichern, daß die darin ausgesprochenen Prinzipien mit ihren Anschauungen
über die finnische Frage vollkommen übereinstimmten.
Im Landtage hatte inzwischen der Gesetzansschuß über die Frage, die den
Hauptanlaß zu der finnisch-russischen Spannung gegeben hatte, die Suspen-
dirung des finnischen Strafgesetzes, ein Gutachten abgegeben, worin er em¬
pfiehlt, auf die vorgeschlagenen Huderuugeu einzugehen, sich aber entschieden
gegen ein Hinausschieben der Einführung des Gesetzes ausspricht. Der Aus¬
schuß hob auch die mißliche Lage hervor, in die die Richter dadurch gerate»
seien, daß ihnen verboten worden sei, nach einem grundgesetzmäßig zu stunde
gekommenen Gesetz Recht zu sprechen. Alle vier Stunde habe» sich mit diesem
Gutachten ihres Ausschusses einverstanden erklärt.
Der Landtag selbst ist Ende Mai geschlossen worden, wobei folgende von
Gatschina, den (11.) Mai datirte Thronrede zur Verlesung kam: „Reprä¬
sentanten des finnischen Volkes! Da die für Ihre Arbeiten bestimmte Zeit
nun zu Ende gegangen ist, danke ich Ihnen für Ihre Mühe, die Sie dem
Wohl des Landes zugewendet haben, ebenso für die von Ihnen zu wieder¬
holten malen im Namen des finnischen Volkes misgesprochenen Gefühle mtter-
thäuiger Treue und Ergebenheit für Mich und Meine Kaiserliche Familie.
Zudem ich Sie und Mein ganzes finnisches Volk der Gnade des Höchsten
anbefehle, erkläre ich den Landtag für geschlossen und bleibe Ihnen unver¬
änderlich wohlgewogen. Alexander." Farblos wie diese Thronrede waren
mich die vor Auseinandergehen des Landtages von den Wortführern der ver-
schiednen Stände gehaltenen Ansprachen. Sie enthielten außer dem Versichern
der Treue und dem Ausdruck der Hoffnung, daß sich das Land fort und fort
des Schutzes des Regenten erfreuen möge, eigentlich nur den Wunsch, daß
der Monarch die Darlegungen, die der Landtag feiner Pflicht gemäß aus¬
zusprechen für nötig gehalten habe, huldvoll aufnehmen möge. Ju dieser Be¬
ziehung äußerte der Landmarschall in seiner Rede: „Was die Stände hier¬
über ausgesprochen haben, kann unter den gegenwärtigen Verhältnissen als
der zuverlässigste und richtigste Ausdruck der Ansichten und Wünsche des Landes
angesehen werden, von denen Ritterschaft und Adel ebenfalls hofft, daß sie
mit den Absichten Seiner Majestät für das Wohl des Landes übereinstimmen
mögen." Der Erzbischof kleidete denselben Gedanken in die Worte: „Wie
Pflicht und Gewissen erforderten, haben die Repräsentanten in aufrichtiger
Wahrheitsliebe vor dem Throne dargelegt, was sie für das Wohl des Volkes,
das sie hier vertreten, förderlich hielten. Sie sind davon überzeugt gewesen,
daß sie auf diese Art den landesväterlichen Absichten ihres edelgesinnten Kaisers
am besten entsprochen haben und das unschätzbare Vertrauen Seiner Majestät
behalten werden." Der Wortführer des Bauernstandes äußerte sich in folgender
Weise: „Finnlands Bauernstand hat an den Arbeiten der Stände mit auf¬
richtigem Herzen und der zuversichtlichen Hoffnung teilgenommen, daß Seine
Majestät der Kaiser, Finnlands allergnädigster Großfürst, einen offenen Blick
dafür habe» wird, was seinem stets treuen finnischen Volke el» Bedürfnis ist.
Diese seine Hoffnung stützt der Bauernstand mit voller Zuversicht auf die von
Seiner Majestät im Laufe des Landtages ausgesprochenen gnädigen und wohl¬
wollenden Absichten, und der Bauernstand wagt zu hoffen, daß Seine Majestät
den von den Repräsentanten des Volkes nach reiflicher Überlegung vorgebrachten,
die Lebensbedingungen des finnischen Volkes betreffenden uuterthünigeu Dar¬
legungen in Gnaden ein williges Ohr leihen werde."
So stehen gegenwärtig die Sachen in Finnland. Für uns Deutsche
bietet der Verlauf der Dinge im Hinblick ans die deutscheu Ostseeprovinzen
ein besondres Interesse. Wie diese mit Zähigkeit sür die Erhaltung des
Deutschtums haben kämpfen müssen, so sind auch die Finnländer, im Palast wie
in der Hütte, sich der ihnen drohende» Gefahren vollkommen bewußt. Aber
darin, daß alle diese Gefahr einsehen, liegt ihre Stärke. Der russische Koloß
hat die Deutschen der Ostseeprovinzen nicht zu Russe» macheu können,
ebensowenig wird ihm das gelingen mit den Bewohnern im „Lande der
tausend Seen."
or wenigen Monaten hat die preußische Eisenbahnverwaltnng
de» Entwurf eines neuen Personentarifs veröffentlicht und
damit der allgemeinem Begutachtung unterbreitet. Die Fest¬
stellung der Eisenbahufahrpreise ist eine Frage, die fast für alle
wichtig ist, denn heutzutage reist fast jedermann, und nur für
sehr wenige ist es gleichgiltig, ob eine Reise einige Mark mehr oder weniger
kostet; bei den meisten entscheidet der Fahrpreis darüber, ob ein Geschäft die
Reise überhaupt wert ist, wohin er seine Erholungsreise im Sommer unter¬
nehmen, ob er fernwohnende Freunde und Verwandte besuche» kaun. Trotzdem
ist der genannte Entwurf verhältnismüßig wenig beachtet und erörtert worden.
Anfangs haben die Zeitungen einige Bemerkungen darüber gemacht, einige
Handelskammern und ähnliche Körperschaften haben ihr Gutachten abgegeben,
aber weitere Kreise haben sich nur wenig darum gekümmert oder haben
die Frage mit einigen raschen Bemerkungen abgethan. Wer sich aber nicht
meldet, dessen Wünsche finden heutzutage keine Berücksichtigung, und darum
soll in diesen Zeilen die Meinung eines Eisenbahnreisenden zum Ausdruck
gebracht werden, der sich seit langem für Eisenbahnaugelegenheiten wteressirt
und auch auf größer» Reisen die Eisenbahneinrichtuugen sehr verschiedener
Länder kennen gelernt hat.
Die heutigen Persvneutnrife der verschiedenen deutschen Eisenbahnverwal-
tungen sind so bunt und verwickelt, daß sie Ednnrd Engel n>it Recht als
einen wahren Rattenkönig bezeichnen konnte. In Süddeutschland giebt es
drei, in Norddelltschland meist vier Wagenklassen, und dazu kommen ans Hanpt-
bahnen noch die Salon- und Schlafwagen, die teils nnr den Reisenden erster,
teils auch denen zweiter Klasse gegen Znsatzkarten zugänglich sind. Wagen
vierter Klasse werden aber gewöhnlich nur in einigen Zügen geführt, und auch
die dritte Klasse erobert sich erst allmählich die Zulassung zu den Schnell¬
zügen; es ist kein Zweifel, daß sich die preußische Staatsbahnverlvaltniig ein
großes Verdienst in dieser Richtung erworben hat.
Für jede Klasse mit Ausnahme der vierten Klasse, für die es nnr ein¬
fache Fahrkarten giebt, ist nun aber eine große Zahl verschiedener Fahrkarten
vorhanden. Neben den einfachen Fahrkarten giebt es, wenn wir von den
Abonnementbillets ganz absehen, zunächst, als Erbstück aus der Zeit des
Wettbewerbes verschiedener Eisenbahnverwaltungen, Rückfahrkarte,,, die bald
nnr eine», bald zwei, bald drei und mehr Tage gelten, bald ohne weiteres,
bald nur bei Lösung von Zusatzkarteu und manchmal überhaupt nicht zur
Benutzung von Schnellzügen berechtigen. Dazu kommen die sogenannten
Sommer- oder Saisonkarten, d. h. Rückfahrkarten mit fttnfuudvierzigtägiger
Giltigkeit, von einigen Hanptstntivnen nach bekannten Badeorten und Sommer¬
frischen und die auf kleiner» Stationen ausgegebenen Anschlnßlarten. Den
Wünschen der Vergnügnngsreisenden kam man zunächst dnrch N»ndreisekarte»
entgegen, die für bestimmte, besonders beliebte Reisewege ermäßigte Preise ge¬
währten. Als dann die Zahl der Sommerfrischen und Reiseziele immer größer
wurde und die festen Rundreisen dem Bedürfnisse nicht mehr entspräche»,
führte man die „tombinirbaren Rnndreisebillets" oder „zusanunenstellbaren
Fahrscheinhefte" ein, bei denen aber die zurückzulegende Strecke wenigstens
600 Kilometer betragen mußte und nur el» kleiner Teil davo» doppelt zurück¬
gelegt werden durfte. Später hat mau diese Beschränkung aufgehoben und
Hin- und Rückreise auf demselben Wege gestattet, auch sonst einige Verein¬
fachungen eingeführt, aber das Ausklügeln eines solchen znsammenstellbaren
Fahrscheinheftes ist auch heute noch eine umständliche und für viele Leute
eine gar schwere Sache geblieben, und niemand ist davor sicher, daß ihm
Krankheit oder irgend ein andrer Zufall das ganze Billet unbrauchbar macht.
Mit so großer Freude die zusammenstellbaren Fahrscheinhefte anfangs begrüßt
wurden, und so viel sie auch heute noch wegen der großen Preisermäßigung,
die sie gewähren, benutzt werden, so können sie doch wegen jener Nachteile
nur noch als ein Notbehelf gelten.
Die Buntheit der bestehenden Tarife wird noch durch die verschiedene
Behandlung des Gepäcks vermehrt. Auf den norddeutschen Bahnen wird im
allgemeinen Freigepäck gewährt, auf den süddeutschen Bahnen nicht oder
wenigstens nur im Durchgangsverkehr. Die Rückfahrkarte entbehrte früher
überall und alles heilte noch ans einzelnen Bahnen des Freigepäcks, ans denen
es bei einfachen Fahrkarten gewährt wird. Sommerkarten geben Anrecht,
Rnndreiseyefte dagegen geben kein Anrecht ans Freigepäck.
Der neue preußische Entwurf hat nun in erster Linie die Absicht, Einheit
zwischen allen Eisenbahnverwaltungen des deutschen Reiches herbeizuführen.
Einheit in Bezug anf Klassen, Fahrpreise und Behandlung des Gepäcks. Und
wenn man die großen Schwierigkeiten bedenkt, die es macht, so viele Ver¬
waltungen unter einen Hut zu bringen, so wird man von vornherein nicht
etwas unbedingt vollkommenes verlangen, sondern nebensächliche Wünsche zu
opfern bereit sein.
Der vvrgeschlngne Tarif ist ein einfacher Kilometertarif; unter Aufhebung
der gewöhnlichen Rückfahrkarten, der Sommcrkarten, der festen und der
znsammenstellbarcn Nundreisehefte, aber unter Beibehaltung der Schüler- und
Arbeiterlarten und andrer Zeitkarten für den Ortsverkehr sollen für den Kilo¬
meter in 1. Klasse 6 Pfennige, in 2. Klasse 4 Pfennige und in 3. Klasse
2 Pfennige und bei Schnellzügen außerdem in allen Klassen gleichmäßig ein
Zuschlag von 1 Pfennig erhoben werden. Die vierte Klasse soll aufgehoben
oder mit der dritten Klasse verschmölze» werden. Das Freigepäck soll weg¬
fallen, aber es sollen für das Reisegepäck weniger hohe Frachtsätze als gegen¬
wärtig in Anwendung kommen.
Der Entwurf ist von ganz verschiednen Standpunkten aus getadelt und
für uubrnuchbar erklärt worden. Es giebt Leute, die am Gewohnten festhalten
und sich nicht dnvvu trennen mögen. Es giebt auch immer Leute, die bei
jeder Reform nnr ihren eignen Vorteil oder Nachteil im Ange haben, und in
einzelnen Fällen wird sich das Reisen bei dem neuen Tarif in der That etwas
teurer als bisher gestalten. Ich kenne einen Herrn, der die Eisenbahn ge¬
wöhnlich nnr benutzt, um von seinem Wohnort aus auf zwei oder drei Tage
nach Berlin zu fahren und dabei immer Schnellzug 2. Klasse fährt. Ihn
wird diese Reise künftig etwas mehr kosten als gegenwärtig mit einer Rück¬
fahrkarte, folglich hält er den ganzen Tarif für verfehlt. Der Ausschuß des
Zentralverbnndes deutscher Industriellen hat noch kürzlich erklärt, daß ihm
eine Verbilligung des Personentariss überhaupt nicht wünschenswert erscheine,
der neue Tarif werde einen Einnahmeausfall im Gefolge haben und dadurch
die wirtschaftlich viel notwendigere Ermäßigung der Frachttarife verzögern.
Auch die Aufhebung der vierten Klasse wird von ihm getadelt; der ungeheuern
Vereinfachung des FahrkarteuUieseus, die dem reisenden Publikum ebenso wie
dem Betriebe zu gute kommt, wird nicht mit einem Worte gedacht.
Andern geht der Entwurf nicht weit genug. Besonders seit der lebhaften
Agitation Eduard Engels hat die Idee des Zonentarifs die Geister gefangen,
und jeder Tarif, der sich nicht Zonentarif nennt, wird als veraltet betrachtet.
Sicher ist der Gedanke des Zonentarifs schön. Wer möchte nicht für den
Preis von 1 Mark in 3., von 2 Mark in 2. Klasse oder sür den Preis von
6 Mark, also kaum mehr als den Zimmerpreis eines guten Hotels, in ele¬
gantem Salon- und Schlafwagen das ganze deutsche Reich durchfahren können?
Aber es ist kein Gedanke, der sich von heute auf morgen verwirklichen ließe,
sondern eine Phantasie, ein Zuknnflsideal, ähnlich wie das Ideal des sozia¬
listischen Staates, das der Amerikaner Bellnmy in seinem Rückblicke aus dem
Jahre 2000 vor kurzen: entworfen hat. Die eifrigen Verfechter des Zonen¬
tarifs pflegen auf das einheitliche Briefporto hinzuweisen, dem man anch ein
vollständiges Fiasko vorausgesagt, und das doch einen so glänzenden Erfolg
gehabt habe. Daß ein Unterschied zwischen einem Brief und einem Menschen
besteht, wollen sie nicht zugeben, und doch sollte sie schon der Umstand darauf
hinführen, daß auch die Post für alle größern Packete, sobald sie mehr als
5 Kilogramm wiegen, den Preis mit der Entfernung beträchtlich steigen läßt.
Die Eisenbahnen seien jetzt nie voll, sagen sie, im Durchschnitt werde nnr
etwa ein Viertel der vorhandenen Plätze ausgenützt, und eine Vermehrung
des Verkehrs würde daher keine Mehrkosten verursachen. Bei dieser Statistik
sind in der 1. Klasse 6, in der 2. Klasse 8 und in der 3. Klasse 10 Plätze
in der Abteilung zu Grunde gelegt, die Eisenbahnverwaltnng hat aber in
gerechter Rücksicht ans die Gesundheit und die Bequemlichkeit der Reisenden
ihre Beamten angewiesen, besonders im Sommer nicht mehr als sechs Plätze
in der zweiten und acht Plätze in der dritten Klasse zu besetzen, und eS ist
nicht zu wünschen, daß diese Anordnung aufgehoben werde. Ferner muß doch
jeder Eisenbahnzug mehr Plätze führen, als im Mittel besetzt werden, denn
der Andrang ist den einen Tag größer, den andern kleiner, und anch bei
größerm Andrange darf kein Platzmangel eintreten. Aus diesen beiden Gründen
wird die Ausnutzung nie mehr als etwa 50 bis t!0 Prozent der Plätze be¬
tragen können. Auf vielen Nebenlinien könnte allerdings ein stärkerer Verkehr
auch ohne Vermehrung der Züge und Wagen bewältigt werden, aber auf den
Hauptlinien wurde stärkerer Verkehr auch größere Betriebsmittel erfordern und
darum beträchtliche Mehrkosten verursachen. Es ist mehr als fraglich, ob
diese bei den niedrigen Sätzen des Engelschen Zonentarifs gedeckt werden
würden. Seine Einführung würde aber nicht nur ans diesem finanziellen
Grunde unmöglich sein, sondern würde auch großen sozialpolitischen Bedenken
begegnen, denn er ist seinem Wesen nach eine Begünstigung des Fernverkehrs
gegenüber dem Nahverkehr, dessen Entwicklung hente gerade eine Hauptaufgabe
bildet, und wie man anch über die Freizügigkeit an sich denken mag, so würde
doch die plötzliche Entfesselung einer so schrankenlosen Freizügigkeit, wie sie
die Einführung eines Eisenbahnfahrpreises von einer Mark hervorrufen würde,
zweifellos eine sehr große Gefahr für unser ganzes wirtschaftliches und soziales
Leben sein.
Aber, wird man mir einwenden, die ungarischen und die österreichischen
Staatsbahnen haben doch den Zonentarif eingeführt, ohne daß von jenen
nachteiligen Folgen etwas zu spüren gewesen wäre. Es ist immer von neuem
wunderbar, wie leicht sich doch große Kreise durch ein Wort täuschen lassen!
Der ungarische und der österreichische Zonentarif find von dem Engelschen
Zonentarif, für den man sich erhitzt, himmelweit verschieden; sie sind Zonen¬
tarife, insofern sie den Fahrpreis nicht genau nach Kilometern berechnen, son¬
dern staffelweise ansteigen lassen, aber dieses Ansteigen erfolgt ganz gleichmäßig,
d, h. ohne Verbilliguug für die größern Entfernungen, sodaß z, B. 180 Kilo¬
meter genau sechsmal so viel kosten wie 30 Kilometer; nur in der Be¬
stimmung des ungarischen Tarifes, daß bei Fahrten von mehr als 225 Kilo¬
metern keine weitere Preissteigerung eintreten soll, ist eine Annäherung an
den Engelschen Gedanken vorhanden, aber auch diese Bestimmung verliert
dnrch den Zusatz, daß beim Pnssircn von Pest oder von Agram neue Fahr¬
karten gelöst werden müssen, einen großen Teil ihres praktischen Wertes.
Der ungarische und der österreichische Zonentarif bedeuten gewiß einen
großen Fortschritt, denu sie beseitigen jene furchtbare, bei uns heute noch vor¬
handene Mannichfaltigkeit und Verzwicktheit der Tarife, die die umstäudlichsteu
Einrichtungen verursacht, und aus der kein Mensch mehr, weder der Reisende
noch der Beamte, ganz klug werden kann, und sie sind zugleich eine wesentliche
Verbillignng gegenüber den bis dahin herrschenden Tarifen. Man kann sich daher
lebhaft freuen, daß sie einen glänzenden Erfolg gehabt haben, aber man soll
nicht behaupten, es sei damit ein dem Briefporto nachgebildeter Tarif ein¬
geführt worden.
Der Kilometertarif, den die preußische EisenbahuverN'altnng jetzt vor¬
schlägt, ist vom ungarischen und österreichischen Zonentarif eigentlich nnr in
einem nebensächlichen Punkte verschieden. Beim Kilometertarif wird der Preis
von 10 zu 10 Pfennigen, also in der dritten Klasse von 5 zu 5 Kilometern
sieigen, in Ungarn und Österreich steigt er dagegen immer gleich um 10, 15,
20, 25, bei größern Entfernungen sogar um 50 Kilometer. Für den Reisenden
ist das ebensooft ein Nachteil wie ein Vorteil, im ganzen aber gleichgiltig,
lind ob für die Bahnverwnltnng, die Schalter- und Kontrvllbeamteu eine größere
Bequemlichkeit mit den Zonenbillets erzielt wird, ist auch noch fraglich. Hat
man doch in Österreich gerade wegen dieser Abrundung nach Zonen bereits
wieder Strafverfolgung auf Betrug androhen müssen, um zu vermeiden, daß
der Reisende dnrch die Lösung zweier Karten, z. B. einer von 200 und einer
von 10 Kilometern den ans 250 Kilometer abgerundeten Preis umgehe, der
für 210 Kilometer eigentlich zu zahlen ist!
Die wesentlichen Vorzüge des ungarischen und des österreichischen Zonen¬
tarifs kehren auch in dein preußischen Entwürfe wieder, ja dieser verspricht,
wie die folgende Tabelle zeigt,
sogar i»l ganze» noch etwas niedrigere Fahrpreise als der ungarische Tarif.
Der österreichische Tarif scheint zwar billiger zu sein, es ist aber z» bedeuten,
daß die Preise nach oben abgerundet werden, also für 5'.l Kilometer schon der
Preis von 40 Kilometern, für 201 Kilometer schon der Preis von 25>0 Kilo¬
metern zu zahle» ist.
Mau hat dem preußischen Entwürfe besonders auch die A»fhebnng der
vierte« Klasse zum Vorwurf gemacht, diese Klasse sei i» viele» Landesteilen
eine liebe Gewohnheit geworden, von der man sich nicht trennen möchte. Aber
die dritte Klasse soll doch künftig genau denselben Preis haben wie gegen¬
wärtig die vierte, und es soll mich einer ausdrückliche» Erklärung der Eisen-
bahnverwaltnng de» Reisenden dritter Klasse, besonders in Lokalzügen, die
Möglichkeit gewährt werden, ihre Körbe und sonstiges Gepäck mit in den Wagen
zu nehmen oder doch kostenfrei abznstelle»; den Leuten, die heute die vierte Klasse
benutzen »ud künftig die dritte Klasse benutzen sollen, wird also nur ein Verzicht
auf die süße Gewohnheit zugemutet, in der Eisenbahn wie das liebe Vieh zu stehen.
Mau mag ja im einzelnen andre Wünsche haben, und eben darum hat
die Eisenbahnverwaltnng ihren Entwurf bekannt gemacht, um solche Wünsche
zu hören. Man »eng »reinen, daß der Schnellzugszuschlag von einem Pfennig
zu hoch sei und ans einen halben Pfennig herabgesetzt oder lieber noch ganz
aufgehoben oder wenigstens auf die wirklichen Schnellzuge beschränkt werden
sollte; man mag auch meinen, daß der Fahrpreis zweiter und erster Klasse
verhältnismäßig hoch gegriffen sei und daß diese beide» Klasse» darum künftig
ebenso leer wie bisher bleiben werden, man mag vorschlage», die erste Klasse
auf de» Hnuptliuien mit de» Schlaf- und Salonwagen zu verbinden und auf
den Nebenlinien, ebenso wie bisher schon auf den Seknndärbahue», wegfallen
zu lasse»; aber in der Hauptsache muß man (»meer der Voraussetzung, daß
die Gepäcksätze, die noch nicht veröffentlicht worden sind, gegen die heutigen
wenigstens um die Hälfte herabgesetzt werde») anerkennen, daß der neue Ent¬
wurf das Nichtige getroffen hat, »ut muß ihm wünschen, daß er trotz der
Hindernisse, die kleinliches Festhalten am Alten aus der einen und »»gestüme
Neuerungssucht auf der ander» Seite auftürme», eingeführt werden möge.
Der gleiche Tarif in ganz Deutschland, eine Vereinfachung der Klassen, die
Beseitigung des jetzigen Rattenkönigs von Tarifen und dafür die Einführung
eines einfachen »ut dabei beträchtlich verbilligten Tarifes »ut infolge davon
eine große Vereinfachung und Verbilligung des Betriebes — das wären Er¬
rungenschaften, deren wir uns wohl freuen könnten. Eine spätere Zeit wird
dann hoffentlich an eine weitere Vereinfachung und Verbillignng denke» könne».
er die deutsche Universität, wer das Wesen des deutsche» Studenten,
sein Leben und Treiben recht verstehen will, der muß zunächst
griechisch denken, muß sich ans den Standpunkt stellen können,
von wo ans der Begriff der Tugend, «^s^, verständlich wird,
wie ihn die alten unsterblichen Lehrmeister Europas aufgefaßt
nud damit die der Menschenbrust innewohnende Sehnsucht nach dein Schönen
und Guten in einleuchtender Form dargestellt haben. Denn wer mit dem
Auge des Amerikaners, als man «f buÄuv«», die deutschen Universitätsstädte
durchwandert und die Schnarren, schmisse und Narben in den Gesichtern
junger, der Wissenschaft ergebner Leute, sowie ihr oft ersiannliches Trinken
braunen Gerstensaftes beobachtet, der möchte wohl verwundert und befremdet
fragen: Ist das der Weg der Vorbereitung für Jünglinge der obern Stände,
die es in ihrem Berufe zu etwas bringen wollen?
Aber die Erziehung ging nach griechischer Idee nicht sowohl darauf aus,
daß die Jünglinge es zu etwas bringen, als vielmehr darauf, daß sie etwas
werden sollten. Jene alten Lehrer waren davon überzeugt, daß, wer etwas
wäre, nämlich tugendhaft, es auch schon zu etwas bringen würde, nämlich zu
einem guten Staatsbürger. Die Tugend aber erschien ihnen als Weisheit,
Gerechtigkeit, Frömmigkeit, Besonnenheit, Tapferkeit, und zwar uicht so, als
wären diese Eigenschaften etwas verschiednes, die zusammen das Ganze der
Tugend ausmachten, wie etwa die verschiednen Teile des Gesichts auch ein
Ganzes ausmachen, sondern nur als verschiedne Namen für einunddasselbe,
für die Beschaffenheit eines Menschen, der eine gesunde Seele in einem ge¬
sunden Leibe trägt und dies am deutlichsten in der Tapferkeit zeigt.
Platon stimmt den Worten des Dichters zu: „Nur der Tugendhafte ver¬
mag gelassen bluttriefenden Mord zu erblicken und aus der Nähe zielend den
Feind ius Auge zu fasse»"; er schreibt auch im Eingänge seines Werkes vom
Staate, die Auswahl der Bürger für wichtige Staatsämter geschehe in vor¬
trefflicher Weise bei Trinkgelagen, wo nüchterne Richter den Vorsitz führten.
In der Trunkenheit nämlich zeige sich der Charakter des Mannes unverhüllt,
und wer auch trunken noch achtungswert bleibe, der erst sei für einen ganz
tüchtigen Mann zu halten. Deshalb erscheine ihm die bloß auf kriegerische
Tüchtigkeit berechnete Verfassung gewisser Staaten, die das Trinken verpöntem,
unvollkommen und eines freien Volkes unwürdig.
Die Germanen, die schon zu Marius und Cäsars Zeiten durch stürmische»,
jubelnden Nudrang in der Schlacht und bei», Gelage ausgezeichnet waren,
begriffen leicht und schnell, u»d als Platons Akademie bei uns wiedererstand
lind sich zur Universität ausbildete, da blieb der griechische Gedanke lebendig
und führte dazu, daß die deutsche Hochschule als hervorstechendsten Zug das
Strebe» nach einer Tugend im klassischen Sinne tragt. Doch verfeinerte sich
die rauhe germanische Tapferkeit nicht nur durch griechische Weisheit, sondern
auch durch gallische Sitte. Die uvrmn»»ische, die französische, die burgundische
Ritterschaft war im Mittelalter das Vorbild ritterlicher Tugenden, und vom
dreißigjährigen Kriege an herrschte bei unser» vornehmen Stände» die Nach¬
ahmung des französischen Hofes und Adels auf dem ganze» Gebiete der
Augenlust, der Fleischeslust und des hoffärtigen Wesens. Die französische»
Edelleute aber besaßen schon lange einen sorgfältig nnsgearbeiteten Kodex der
Ehre, und er ward das Muster für die Statute» der ehrgeizige» Jünglinge
auch an unsern Universitäten. Woher es deu» auch kommt, daß so viele
Ausdrücke bei den Korps, Conleurs, Korporation»'!! unsrer Zeit noch franzö¬
sisch sind, daß auch der Stoßdegen lange Zeit die gebräuchliche Waffe war,
in Jena noch bis in die vierziger Jahre geführt wurde und erst neuerdings
ganz allgemein der nationalen langen, geraden Hiebwaffe, dem Schläger,
gewiche» ist.
Im Gründe bietet sie einen wunderlichen Anblick dar, die deutsche Uni¬
versität, die n,ima nmtor, die Hellas ihre Heimat nennt, inmitten einer Zeit,
die neue Formen angenommen hat. Sie steht da. nicht unähnlich den: Par-
theuo», der mit verwittertem Marmor, doch golden leuchtend, auf das Neue
herabschaut. Wie die Kugeln der modernen Kanonen, die sammelnden Hände
der Engländer und atmosphärische Einflüsse den Parthenon augegriffen haben,
so greifen die Naturwissenschaften die Universität an, um so sicherer, als sie
an der Universität selbst gelehrt werden. Denn die Naturwissenschaften geben
das mit den Sinnen wahrgenommene für die Wahrheit aus, die Universität
aber ruht auf den Schultern der Alte», die die Wahrheit mit den: Geiste ge¬
sucht haben. Die neuen Völker Europas haben vom nllwaltenden Schicksal
den Auftrag erhalten, den Verkehr des Weltkreises zu belebe» und seine Be¬
wohner mit einander bekannt zu macheu. So umspannen sie den Erdball mit
einem Netze von metallenen Schienen und Drähten, haben aber keine Zeit mehr,
den Kultus des Schönen zu treiben. Auch sind sie zu zahlreich geworden,
um uoch das ideale Ziel der Staatskunst, sittliche Erziehung der Bürger,
praktisch verfolgen zu können; ihr Ziel ist Mnchterweiterung, Stärke zu Lande
und zur See, nur den nationalen Besitz behaupten und vermehren, Reichtümer,
um die Kosten der Kriegsrüstuug tragen zu können. So steht denn für den
eigentlich modernen Menschen, den Amerikaner, und so steht für den ameri¬
kanisch denkenden Europäer die deutsche Universität, als ans die nktgriechische
Idee von der Tugend gegründet, wie eine Ruine da, die man uupraktischer-
weise immer wieder neu ausi'ant, anstatt sie abzureißen und ein zehnstöckiges
Haus aus Stein und Eisen an ihre Stelle zu setzen. Der moderne Mensch
lacht über die philosophische Fakultät, die gleich einem Karawanserai alle
möglichen Disziplinen unter einem Dache beherbergt, möchte am liebsten das
Wort Philosophie selbst verbannen und erklärt, daß es gut sein würde, die
Studenten tüchtig für ihren Beruf auszubilden und ihnen deshalb vor allem
die alten Sprachen, das Trinken und das Fechte» abzugewöhnen. Denn die
Universität als eine Hochschule zum Erlernen von allerhand nützlichen Kennt¬
nissen begreift der moderne Mensch recht wohl, er schüttelt den Kopf nnr über
das, was er Auswüchse nennt. Der moderne Mensch will eben von dem
T«!^.6vivo nichts mehr wissen, das zwischen den Göttern und den Menschen
vermittelt, sondern ruft nach handwerksmäßigen Männern; an ihn dürfte wohl
der Kaiser gedacht haben, als er zu den Bonner .Korpsstudenten sagte: „ Unsre
Mensuren werden im Publikum vielfach nicht verstanden. Das soll uns aber
nicht irre machen. Wir, die wir Korpsstudenten gewesen sind, wie ich, wir
wissen das besser." Platons «pe^, die Gründerin der deutschen Universität,
war dämonischer Art; das Dämonische aber zu erkennen ist der Vorzug des
Genies.
Das Augenfälligste am deutschen Stndentenwesen ist dus Pauken oder
Dllelliren, sind die Mensuren. Wie bei so vielen großen Einrichtungen von
allgemeiner und tiefer Bedeutung irgend eine einzelne eigentümliche Erschei¬
nung dem Volke als Merkmal für das große Ganze gilt, wobei dann aber
das Volk mit richtigem Instinkt das Charakteristische herausgefunden hat, so
ist das Pauke» der deutschen Studenten die Eigentümlichkeit, wonach die Welt
zunächst blickt, wenn von der Universität die Rede ist. Die Schnarren auf
den Gesichtern der Studirten und Studenten lenken die Blicke auf sich und
geben zu denselben Betrachtungen Anlaß, wie einst die zerschlagenen Ohren
der Pankmtiasten. Der Bürger spottet über solche Wunden, das Gesetz und
die christliche Religion verbieten das Duell, die katholische Kirche belegt die
Duellanten mit dem Bann, und bei alledem fühlt fast jedermann den tugend¬
haften Kern der Sache heraus und kann sich heimlich des Respekts vor den
Leuten nicht erwehren, die der Waffe trotzen. Diese Seite der Tugend hat
much der Kaiser im Auge gehabt, als er die Korps ermunterte und den bei
ahnen herrschenden Geist für die beste Erziehung eines jungeu Mannes erklärte,
da sie zu Kraft, Mut und Gehorsam führe. Eine Aufforderung zum und
Ungehorsam gegen das Gesetz, „das Gesetz, das König ist aller, der Menschen
Götter zugleich," sollte das nicht sein.
Erstaunliche Widersprüche ergebe» sich in den Erscheinungen unsers Staats-
lebens aus dein Kampfe von Machten, die vereint werden sollen, aber dnrch
keine Harmonie einer herrschenden Staatsidee versöhnt werden. Dem Namen
nach sind die europäischen Nationen christlich, bekennen sich also zu einer
Religion der Liebe und des Friedens, ihre Gesetze und Verfassungen aber sind
wesentlich altrömisch, und ihrer Natur nach sind sie die eigentlich kriegerischen
nnter den Völkern der Erde, starren in Waffen, suchen alle fremden Länder
zu erobern und befolgen den Grundsatz, daß eine Nation ihr Alles an die
Ehre zu setzen habe. Krieg und Duell aber reichen sich die Hand: bölluiA
und äueUuin sind ursprünglich einunddasselbe Wort. Inzwischen bemächtigen
sich die Naturwissenschaften der Seelen immer mehr, ergänzen den Materia¬
lismus und schaffen eine gewaltige Partei, die in allen Ländern Europas
thätig ist und dahin treibt, nicht nur die Grenzen der Staaten, sondern anch
die Religion wie überhaupt alles Metaphysische und damit auch den Begriff
der Ehre selbst aufzuheben und abzuschaffen.
So sehen wir im deutschen Reiche geschriebene Gesetze, die das Duell
verbieten, ungeschriebne Gesetze, die dem Mann von Stande, namentlich dem
Offizier, das Duell als Ehrenpflicht vorschreiben, eine heranreifende Jugend,
die, wenn sie Ehrgeiz und die Mittel besitzt, ihrem Ehrgeiz zu folgen, in die
Waffenverbindungen an der Universität eintritt, sehen die katholische Kirche
wiederum, stark genug, der christlichen Idee Geltung zu verschaffen, ihren
Mitgliedern mit Erfolg jede Art von Duell verbieten, die Waffenverbindungen
aber wohl gar sich mit christlichen Grundsätzen brüsten und hören eine sehr
starke öffentliche Meinung über alle diese Einrichtungen und Verhältnisse
spotten. Der gereifte Mann und Denker getröstet sich um zwar bei diesem
Wirrwarr der Überzeugung, daß die Gottheit die Lenkung des Ganzen und
auch der einzelnen Seele in der eigenen allmächtigen Hand behält und in das
Herz ein Gesetz geschrieben hat, das ganz unvertilgbar dasteht und mit Not¬
wendigkeit befolgt wird; aber für den Jüngling, der studiren will, ist bei
seinem Eintritt in die Universität der rechte Weg schwer zu finden, wenn ihm
überhaupt eine Wahl gelassen wird.
Für sehr viele ist ja der Weg genau vorgeschrieben. Die Standarte der
Partei steht hoch aufgepflanzt vor ihrem Blicke, die Richtung ist bezeichnet,
der Kampfplatz eingezäunt und rings umhegt durch Geburt, Vermögen und
Überlieferung. Aber selbst bei diesen macht sich wohl oft ein innerer Zwie¬
spalt geltend und kämpft das Gemüt tief in der Brust ähnlich wie der ganze
große Staat. Wer die Söhne der großen Familien Westfalens, die Sprö߬
linge der alten Sachsen, des wahrhaftesten germanischen Stammes, in Tübingen,
Würzburg und München in Verbindungen sieht, die sich grundsätzlich nicht
schlagen, wer die Hünengestalten dieser Jünglinge beobachtet, denen ihr Beicht¬
vater das Fechten verleidet hat, während ihre breite Brust, ihre langen
sehnigen Arme und trotzigen blauen Angen so ga»z anders ausschauen, der
kann sich der Vermutung nicht entschlagen, daß es hier manchmal in den
Fäusten mele und in den Herzen die Begierde brenne, zwischen dein Beten
einmal mit der geschliffnen Klinge über die feindlichen Stämme herzufallen
und die höhnischen Gesichter der Korpsstudenten mit blutigen Linien zu
korrigiren. Und ans der andern Seite ist Wahl mancher dunkeläugige Jüng¬
ling vou behendem Witz, der dem Blute oder dein Mute nach von den
Mnklabäern stammen könnte, voll heißen Ingrimms darüber, daß ihm bei
seinem Nnivcrsitütsstndium der Eintritt in ein Korps versagt bleibt, wie ihm
in der Armee die Offizierstelleu unzugänglich find.
Stammt aber der Jüngling aus üblicher oder sonst angesehener, begüterter,
christlicher, doch nicht katholischer Familie, und strebt er nach hoher Stellung
im Staate, so tritt er natürlich in ein Korps ein. Er erinnert sich des be¬
rühmten Namens des Fürsten Bismarck, der Namen der preußischen Minister
Graf Herbert Bismarck, Graf Eulenburg, von Puttkamer, von Goszler,
von Lucius, von Scholz, von Bvetticher, von Falk und so vieler andern, die
Korpsstudenten waren. Er weiß, daß so ziemlich alle hohen Beamten in
Preußen den Korps, alle, anch die Landräte mit einbegriffen, den Waffen-
Verbindungen angehört haben, „aktiv" gewesen sind. Aktiv sein nämlich heißt
sich schlagen. Er weiß, daß es ebenso mit den meisten Männern in den
übrigen hohen Stellungen des Hofes, des Staates und auf den Lehrstühlen
der Universität ist, und daß eine ganze große Partei im Landtage und Reichs¬
tage fast mir aus alten Korpsstudenten besteht. Er weiß jetzt auch, daß
Kaiser Wilhelm II. selbst bei der Bonner Borussia war und die Hoffnung
ausgesprochen hat, der Kronprinz werde ebenfalls bei einem Bonner Korps
eintreten. Sein Vater, seine Oheime, fast alle seine ältern Verwandten, sämt¬
lich Gutsbesitzer oder Beamte, sind Korpsstudenten, jedenfalls „aktiv" gewesen
oder sind Offiziere. Er weiß auch, daß der Verband zwischen den alten und
den jungen Korpsstudenten nicht aufgehört hat. sondern in beständiger Wechsel¬
wirkung fortbesteht, daß das Bciud gemeinsamer Neigungen, Anschauungen,
Rücksichten und Ziele die „alten Herren" mit den aktiven Korpsstudenten eng
verknüpft, ähnlich wie die Familienbeziehungen die Mitglieder in seinem engern
verwandtschaftlichen Kreise verknüpfen. Er weiß, daß auch in der Armee der
Hauptmann und der Rittmeister ihn fragen werden, wo er sich „seine schmisse
geholt" habe, und daß von den Offizieren nur der Korpsstudent für ebenbürtig
gehalten, für voll angesehen wird. Er weiß, daß er etwas Tüchtiges leisten
muß, um zu hohen verantwortlichen Stellungen befördert zu werden, daß er
aber, wenn er sich wirklich als tüchtig bewährt, bei den Vorgesetzten, die zu
den alten Herren der Korps gehören, die wohlgeneigte Gesinnung des Vaters
oder Oheims finden wird. Er weiß, daß in den Kreisen, zu denen ihn seine
Laufbahn führen soll, die Anschauung gilt, es könne zwar auch das Wissen
allein einen Mann nutzbringend für den Staat machen, für verantwortliche
Stellungen jedoch, die außer dem Wissen noch Geistesgegenwart, Charakter¬
festigkeit und Gesinnungstüchtigkeit erforderten, sei nur ein Mann befähigt,
der ans der Universität die Hiebwaffe geführt, dem Feinde nah zielend ins
Auge geblickt und so seine Tugend unter dem Bilde der Tapferkeit sichtbar
gemacht habe.
Und so wird die Pflicht ihm freudiger Genuß. Er atmet auf, wenn er
nach dem Druck des Gymnasiums und der Quälerei der Reifeprüfung in die
Schar der Farbengeschmückten eintritt, richtet den gebeugten Nacken auf, reibt
die trübe gewordnen Augen, dehnt die vom Sitzen eingesunkne Brust, reckt
die Arme, um den Schläger festzufassen, lind sieht voll Andacht zu den
„Chargirten" auf, die ihn nun belehren.
Mir steht der belebende, glänzende Eindruck noch deutlich vor Augen,
den das Korpswesen, auf einen jungen Menschen macht, der dazu gehört.
Die Truppe, bei der ich als junger Leutnant stand, wurde in eine Universitäts¬
stadt versetzt, und ich fand Freunde vom Ghmnnsinm als Korpsstudenten wieder.
Sie waren voller Begeisterung und gaben ihr Gefühl in Ausdrücken kund,
die, wenn sie auch übertrieben, ja lächerlich und unpassend sein mochten, doch
als charakteristisch in meiner Erinnerung geblieben sind. Der eine versicherte
mir, daß das große Band des hohen Ordens vom Schwarzen Adler in seinen
Augen nicht so viel Ehre mit sich bringe wie das Band, das er als Mitglied
seines Korps zu tragen das Glück habe; der andre sagte, daß das heilige
Abendmahl selbst nicht die Weihe habe, nicht so tief erschütternd und so hoch
erhebend, nicht so heilig sein könne wie der „Landesvater." Wenn ich an
jene Eindrücke zurückdenke, wird mir klar, wie tief im Menschen das Bedürfnis
wurzelt, etwas zu verehren, während der Gegenstand der Verehrung selbst
von beliebigem Werte sein kann, und wie tief im Deutschen gerade der Ge¬
horsam wurzelt. Nur deutsche Jünglinge können ein richtiges Korps bilden.
Glücklich der Mensch, der intelligent genug ist, das wirklich verehrungswürdige
zu verehren, glücklich der Deutsche, dem der rechte Manu befiehlt!
Unter deu Festen, die damals zu unserm Empfange gegeben wurde», war
auch ein Ball, den das angesehenste und reichste Korps, bei dem zwei Prinzen
und ein erlauchter Graf sich befanden, uns zu Ehren veranstaltete. Es war
wunderhübsch, ich sehe die Schleifen von damals noch hente mit Rührung an.
Wir gaben dem Korps ein Diner zur Vergeltung, und unser Kommandeur
sagte uns vorher vertraulich, seines Wissens glaube ein Student, der nüchtern
heimgehe, nicht, daß man ihn recht gefeiert habe; hiernach möchten wir uns
richte». Diesem Winke gemäß verlief das Mittagessen, und die unter den
Tisch fielen, wurden in die „Totenkammer" getragen. Mit Hilfe zweier Sol¬
daten hatte ich soeben meinen Nachbarn, einen Grafen N., auf ein Sofa ge¬
legt, und er schien fest zu schlafen, als er plötzlich wie el» Besessener aufsprang,
zur Thür hinaus und auf die Straße lief. Ich sah die Ursache: ein Pro-
gressist, d. h. ein Mitglied der auf Änderung der akademischen Freiheit be¬
dachten Verbindungen, war vorübergegangen, ihn hatten die Sinne des Korps¬
studenten trotz der schweren Trunkenheit und mit geschlossnen Augen, wie es
schien, wahrgenommen und sich darüber empört. Er stürzte dem unglücklichen
Progressisten nach und stieß ihn in den Straßengraben; dann kehrte er zurück
und schlief mit beruhigten Gewissen ein.
Damals wohnte ich auch einigen Paukereien bei, und es traf sich, daß ich
die eine in Gesellschaft eines englischen und eines französischen Offiziers be¬
suchte. Beide waren ältere Männer, die in der Krim, in Italien und Algier
gefochten hatten, aber beide sahen der Mensur mit blitzenden Augen zu. Ein
schlanker Kurländer, Freiherr v. F., der zu dem erwähnten Korps gehörte,
ging mit einem mehr untersetzten Mitgliede eines feindlichen Korps los, und
beide waren ausgezeichnete Schläger. Der Knrlüuder führte seine Waffe höchst
elegant, aber mit zäher Ausdauer widerstand ihm der Gegner, ein Herr v. G.,
bis ihm zuletzt die Klinge des langen Fechters gerade herunter über den Kopf
fuhr und Haar und Haut vom Wirbel bis zur Stirn durchschnitt. Der eng¬
lische Offizier war entzückt und versicherte eifrig, wenn er Söhne hätte und in
Deutschland lebte, sollten seine Söhne nirgends anders als in einem Korps
erzogen werden. Der französische kratzte sich, vielleicht im ahnungsvollen Vor¬
gefühl der Jahre 1870 und 1871, hinter dem Ohre, als er sah, welche Hiebe
hier in Deutschland schon im Spiel ausgetauscht wurden.
Auch getrunken wurde, obwohl das Bier damals bei weitem noch nicht
so gut war wie heutzutage, wenigstens nicht außerhalb Baierns, bei den
Korps so tüchtig, daß es die Verwunderung der Uneingeweihten erregen mußte.
Das Biertrinken ist bei den Studenten bekanntlich Sache der Ehre und der
Pflicht nud dient sonderbarerweise auch als Strafe. Daß im allgemeinen
schon die Erfüllung der Anforderungen von Pflicht und Ehre für die meisten
Menschen eine Strafe ist, die sie gezwungen entrichten, während sie nur bei
sehr wenigen als wonniger Ausfluß ihrer Herzensbedürfnisse gelten kann, liegt
in der allgemeinen Schwäche der menschlichen Natur begründet, die nach dem
Angenehmen trachtet und mir mit Mühe die Tugend als das allem wahre
und dauerhafte Angenehme erkennt. Aber daß im besondern anch das Bier-
trinken durch das Zeremoniell studentischen Daseins zu einer Sache geworden
ist, die zugleich Pflicht und Strafe bedeutet, bleibt immerhin wunderlich.
Das hierbei beobachtete Zeremoniell, Bierkomment genannt, ist so künstlich,
daß der Laie, zur Teilnahme an einem Kommers eingeladen, wie man die
Trinkgelage an der Universität nennt, sich in keiner geringern Schwierigkeit
huisichtlich seines angemessenen Benehmens befindet, als wäre er zu einem
Gnstmahl am kaiserlichen Hofe zu Peking geladen. Prachtvoll sitzt der alte
Bursche da, ein schönes Vorbild für den „bierehrlichen" jungen Nachwuchs,
für die Füchse, stolz, »»erschüttert durch die Reihe der Schoppen, Seidel,
Maßkrüge, die ihre» Inhalt i» ihn ergösse» habe», »»d schaudernd zwar zu
Anfang, allmählich aber sicher werdend, gleich ihm, dem Alte», folgen die
Junge» »ach. Seltsam, wie der Begriff der Zeit sich im Menscheiikvpfe ver¬
ändert, ein wahrer Proteus: als Greise und Weise, vollkomne», schöne
Musterbilder im Bereiche des Seienden und erst nach unendlicher Zeit müh¬
sam in ihrer Vollendung zu erreiche», so stehe» die alten Bursche, die Char-
girten, die Seniore» vor de» Auge» der Füchse da u»d siud doch selbst in
der a»sgewachs»e» Reife ihrer Tugenden erst im Anfang der Zwanziger.
Es kostet manchem Neuling Überwindung, das „saufe»" mitzumachc», auf
Kommando, nicht dem Durste nach, den Magen und die Gedärme zu über¬
flute», u»d beso»ders unter den Medizinern ist wohl mancher, der schon ge¬
hört hat, das; in der Universitätszeit der Grund zu den Herzleiden und andern
Krankheiten gelegt wird, die in den vierziger und fünfziger Jahre» so oft den
Mann der gebildeten Stände zu de» Invalide» werfen, daß auch, wie die
Paukärzte festgestellt haben, zu Aufang des Semesters zwar die schmisse noch
leicht und glatt heilen, später aber eitern, weil dann alle Säfte des Körpers
mit Alkohol durchtränkt sind. Doch „Leibeswohlfahrt schlägt in Wind, wem
der Geist gewogen," hier der Geist der Bnrschenherrlichkeit.
Es kann nicht ausbleiben, daß diese beiden Mittel der Disziplin, die das
Korps zur Erreichung der ihm vorschwebenden Ideale ausübt, das Fechten
und das Trinken, vielfach die altgermanische Roheit durch die klassische Bil¬
dung und den Schliff moderner Gesellschaft hervorbrechen läßt, aber auf diesen
Schliff wird bei den Korps doch viel gehalten, und neben den: bis in das
Kleinste ausgebildeten und in allen möglichen Schattirungen sorgsam abge¬
stuften Zeremoniell eigentlich korpsmä'ßigen Verhaltens gelten die Gesetze des
Salons. Mit einer Koketterie, die an die Charakteristik des Arcimis in dem
berühmten Romane des alten Dumas „Die drei Musketiere" arin»ert, liebt
der Korpsstudent zugleich den Gladiator und den „Gigerl" herauszukehren.
Er folgt in seinem Anzüge und seinem Benehmen auf der Straße und in
Damengesellschaft der neuesten Mode und reizt die Gegner durch ein insolentes
Benehmen unter der Maske des Zärtlings. Als wäre er ein verkleidetes
Mädchen, so geht er zierlich und schmachtend, schön frisirt und parfumirt
einher und sucht de» „Büchsier" mit hochmütigem Lächeln an sein Nichts zu
erinnern. Vor Jahren ging er mit dem Fächer, als fürchtete er, ein Sonnen¬
strahl könnte den feinen Schmelz seiner Hautfarbe beschädigen, jetzt geht er
mit einem Prügel, einem Ziegenhainer, wie ihn die Handwerksbursche» tragen,
steckt jedoch den Griff in die Rocktasche oder hält ihn wie der Ulan die Lanze
bei der Attacke hoch. Er geht in hellen, zarten Sommerkleidern und trägt
einen leuchtenden Schlips, oder er geht in langem Rocke, wie die polnischen
Juden, bald mit ganz engen Hosen, die wie Trikots sitzen, bald mit Hosen
von englischem Schnitt, die wie zwei Säcke gerade herunterhängen, je nachdem
die Mode ist. Er grüßt mit der Kopfbedeckung, sei es bunte Mütze oder
Melvnenhut, immer nach der Mode, entweder wie Ludwig XIV. grüßte, de»
Hut einen Augenblick neben dem Ohre gehalten, oder, wie es gegenwärtig schick
ist, mit einem Schwunge des hoch gehaltene,: Armes nach hinten, als sollte
der Hut unter der Achsel weggeschleudert, der Gruß selbst abgeschüttelt werden.
Er drückt die Hand gegenwärtig so, wie es die ungarischen nud österreichischen
Kavaliere aufgebracht haben, die von oben greisen, als faßten sie in einen
tiefen Topf, und dann die Hand des Freundes dreimal hin und her ziehen
wie einen Pnmpenschwengel. Er ziert sich in der Sprache, hat Ausdrücke,
die nnr der Eingeweihte versteht, bildet neue Wörter, die seinen besondern
Gefühlen gemäß sind, und verändert wenigstens die Wörter, die so plebejisch
sind, daß niemand sie missen kann. Gegenwärtig sagt er nicht „hübsch,"
sondern „hüschbsch." Es ist eine Art von Freimaurerei.
Dabei kann es aber auch nicht ausbleiben, daß der Korpsstudent viel
Geld braucht. Der Schick ist kostspielig und vermehrt das Budget der korps¬
mäßigen Ausgaben. Daraus folgt aber ganz natürlich, daß nur die Söhne
wohlhabender Eltern in ein Korps eintreten können, und daß, wo der Ehr¬
geiz und die Spekulation auf einflußreiche Verbindungen bei den „alten Herren"
Ministern und Präsidenten einen weniger bemittelten Jüngling hineingelockt
haben, Schulden und die Sorgen des Vaters wie die Thränen der Mutter
im Hintergrunde der glänzenden Front stehen. Während also im Grunde
ideale Ziele dem Wesen und Streben der Korps voranleuchten, macht sich die
allem Irdischen anhaftende Unvollkommenheit auch hier geltend, indem sich
die Frage des Eintritts in ein Korps und in welches Korps nur zu oft zu
einer Frage an den Geldbeutel wandelt. Wie denn überhaupt das Geld neuer¬
dings eine Rolle an der Universität spielt, die ganz dem Überwiegen der
materiellen Fragen in allen Angelegenheiten des öffentlichen Lebens entspricht,
sodaß bei der Berufung von Professoren und ihrem geselligen Leben, wie bei
dem Eintreten der Studenten in die verschieden Verbindungen und ihrem Auf¬
treten der Götze Mammon ebensowohl das Szepter schwingt, wie in den vom
Hauche der Börse durchwehten Kreisen andrer obern Zehntausend.
Gleichwohl ist der flügge gewordene Jüngling mit solchem innern Reichtum
ausgestattet, siud in der jugendfrischem Brust Gefühle von solcher Scharfe,
daß sich das Studentenleben mit poetischem Dufte umzieht. Es kommt nicht
auf die Dinge selbst an, erst das Auge, das sie sieht, verleiht ihnen Farbe.
So vieles, was im Alter langweilt oder anekelt, erscheint in der Jugend höchst
anziehend, aufregend, begeisternd. Namentlich in der kleinern Stadt, in Heidel¬
berg, Göttingen, Jena, Tübingen, wo alte Gebände in ihren dunkeln Wöl¬
bungen viele Geschlechter von trinkenden, singenden, fechtenden Brüdern gesehen
haben, wo Mauern und Dielen der Kneipe mit dem Dufte von Bier, Tabak
und Schweiß durchtränkt und vollgesogen sind, sodciß sich der jugendreine
Bursch in solcher Spelunke wie eine Rosenknospe im Keller nusnimmt, wo
der Epheu sich um graue Mauern schlingt, enge krumme Straßen im Mond¬
schein malerische Umrisse und den Zauber des Geheimnisvoller zeigen, alte
Überlieferungen viele Stätten heiligen, der Bürgersmann den Studenten achtet
und liebt und die Mädchen in ihm einen jungen Gott sehen, da erhebt sich
das Selbstgefühl des Jünglings und verklärt ihm die Welt mit wunderbarem
Lichte. Er wohnt nicht mehr bei den Eltern, er ist nicht mehr unter Auf¬
sicht bei einem Lehrer, er wird nicht mehr gezwungen, z» arbeiten, sondern
als ein Herr steht er da, und er hat Freunde, die gleich ihm für alles Hohe
und Edle schwärmen und willens sind, die Welt zu erneuern und zu verbessern.
In den Jahren, die hinter ihm liegen, ist er zwar vielfach unterdrückt und
gepeinigt worden, aber er hat doch nicht Ladentische abgewischt, und er weiß
nichts von den Preisen der Heringe, des Käses, der Baumwolle und der Seide,
sondern er ist mit Cicero und Cäsar, mit Plutarch, Thukydides, Horaz, Virgil
und Platon umgegangen. So ist seine Seele gewissermaßen in einem Stahl¬
bade gewesen, und er sieht die Welt mit den Augen eines jungen Helden an.
Er weiß noch nicht, ob er in der Rolle, die er zu spielen berufen ist, mehr
einem Demosthenes als einem Scipio, einem Augustinus oder einem Luther
ähnlich sehen wird, aber er weiß, daß er zu Großem berufen ist, und daß das
Geschick ihn bereit finden wird, für die Idee, für die Wahrheit, für das Gute
in den Tod zu gehen.
Am klarsten ist wohl diese aus schwärmerischem Jugeudmnt emporblühende
Begeisterung bei der Gründling und ersten Entwicklung der deutschen Burschen¬
schaft zu Tage getreten. Am 12. Juni 1815 wurde im Gasthaus zur Tanne
in Camsdorf bei Jena die erste, wahre und ganze Burschenschaft verkündet,
von Jena aus wurde das vielberufene Wartburgfest am 18. Oktober 1817
ins Werk gesetzt, und um 18. Oktober 1818 wurde die „allgemeine deutsche
Burschenschaft" geschaffen, deren Vorort und Vorstand Jena, der Gründnngs-
ort, wurde.
Damals gab es bereits Korps. Aus dem akademischen Leben früherer
Jahrhunderte waren hervorgegangen: die älteste aller Kvrpsverbindnngen,
die Onoldin in Erlangen, gegründet 1798, dann die Barnthia in Erlangen
und die Suevia in München, beide gegründet 1803, die Frnneonia in Würz-
burg, 1805, die Lusatia in Leipzig, 1807, die Suevia in Heidelberg, 1810,
die Saxonia in Leipzig, 1812, die Palatin in München, 1813, die Moenvnia
in Würzburg, 1814, die Rhenmna in Freiburg und die Bavaria in Würz¬
burg, beide 1815, und die Bavaria in München, 1816 gegründet. Die
nüchstdem ältesten Korps, die Gnestphalin in Bonn, die Saxo-Vornssia in
Heidelberg, die Thnringia und die Saxonia in Jena, entstanden erst im
Jahre 1820.
Aber der Burschenschaft schwebte eine Tugend ganz besondrer, durchaus
deutscher Art vor, und in ihr kam besonders die Unzufriedenheit mit den be¬
stehende» staatlichen Verhältnissen zum Allsdruck. Bei dem Wnrtburgfeste
waren Kämpfer aus deu Freiheitskriegen die Führer lind sprachen in feurigen
Worten von den Idealen des deutsche» Volkes, die «ach Besiegung des Korsen
keineswegs mehr das Panier der Regenten wären, dem Volke aber vorschwebten
und von der thatkräftigen Jugend zur Geltung gebracht werden müßten.
Es war dabei von eitlem einigen Deutschland, aber anch vo» Tyrannen die
Rede, und ein Klang durchzitterte die Gemüter, der von Pindars Harfe zu
stammen schien und an das Lied erinnerte: In Myrte» verhüllt trage ich
mein Schwert, wie Harmodios und Aristogeiton.
Damals aber galt Metternich als das Orakel für die deutschen Regierungen,
und vielen der Begeisterten bekamen ihre Reden , und Beschlüsse bekanntlich
sehr schlecht. Es entstand ein Mißtrauen gegen die Burschenschaft bei den
Regiernnge», das zur Auflösung der Burschenschaft führte, bis auf den heutigen
Tag nachwirkt und sich thatsächlich jetzt noch in der Feindschaft zwischen den
Korps und den neugebildeten Burschenschafter ausspricht, obwohl seit langer
Zeit schon von politischen Bestrebungen oder sonstigen wirklichen Gründen
einer Entzweiung nicht mehr die Rede sein kann. Es ist eben Überlieferung.
Die Korps stellen in ihren „alten Herren" die hohen Staatsbeamten und
halten die angeblich demokratisch gesinnten und dcutschtümelnden Burschen¬
schafter in Verruf, das heißt, erklären ihre Mitglieder der Ehre, mit ihnen
die Waffen zu kreuzen, für unwürdig. Es giebt Gerüche, die unvertilgbar
zu sein scheinen. Ein Atom einer solchen stark riechenden Essenz ist auf einen
Gegenstand gefallen, und kein Mittel vertreibt wieder den nachbleibenden Duft,
wird wohl schwächer, aber bleibt immer noch bemerklich. So ist der Tyrannen¬
mord auf die Burschenschaft gefallen, obwohl kein Tyrann von ihr ermordet
worden ist.
Aber wenn das auch im Kern die Ursache der Abneigung zwischen
Korps und Burschenschaft ist, so wird der bestehende Verruf doch uoch von
vielfältigen Nebenumständen begleitet. Der Laie begreift zunächst nicht:
Beide Parteien leben und Handel« ganz in derselben Weise. Beide gehen in
Farben, trinken viel und schlagen sich. Beide sind Waffenverbinduugen und
blicken verächtlich auf die Blasen hinab, das heißt auf die Verbindungen, die
sich nicht schlagen. Auch die Burschenschaft hat unter ihren alten Herren be¬
rühmte Namen: Uhland, Hauff, Holtet, Laube, Gutzkow, Reute/, Scheffel
waren Burschenschafter. Und doch hegen beide Parteien°Gefühle gegeneinander,
als wären sie nicht von demselben Blut, auf denselben Gymnasien erzogen
und zu demselben Studium vereinigt, sondern als wären sie feindliche Nassen.
Wenn sie sich sehen, so schaudert thuen die Haut. Sie erklären einander der
^egel nach für unanständig, teilweise und zeitweise auch uoch für feige und
gemein, sie dürfe» lind müssen einander schimpfen, prügeln, mit dem. Messer
stechen, aber ans keinen Fall zusammen „losgehen," das heißt sich mit den ge¬
bräuchlichen Dnellwaffen bekämpfen. Kommt es vor, daß zwei Gegner in
solcher Weise zusammengeraten sind, daß sie trotzdem das Duell nicht ver¬
meiden möchten, so treten sie aus ihren Verbindungen aus und schlagen sich
als Privatleute. Dann aber wird es ein richtiges Duell, mit schweren Waffen,
leine gewöhnliche Mensur, nud mir zu oft ist der Ausgang tötlich. Mir ist
ein solcher Fall bekannt, der bezeichnend für das Verhältnis und die gegen¬
seitige Empörung ist. Ein Burschenschafter, der den rechten Arm in der Binde
trägt, weil ihm von der letzten Mensur her die Muskeln gelähmt sind, kommt
in Zwist mit einem „alten Herrn" eines Korps. Beide sind stolz angelegte
Naturen, die den Streit in anständiger Weise auftragen wollen. Sie wählen
krumme Säbel, und der Burschenschafter schlägt links. Er bekommt einen
Hieb in die Lunge und stirbt binnen drei Tagen, der „alte Herr," der bereits
einen Getöteten ans dem Kerbholz hat, entflieht nach Amerika. Wären beide
von den .Korps oder beide Burschenschafter gewesen, so würden doch ver¬
ständige Kommilitonen den Kampf gemildert und so lange hinausgeschoben
haben, bis der Verwundete wieder den Gebrauch seines rechten Arms gehabt
hätte. Auch nach eiuer andern Seite hin ist das Beispiel lehrreich. Der
Sieger war bereits „alter Herr." Über die Universitütszeit hinaus greift der
Antagonismus beider Parteien, ja er währt, kann man wohl sagen, bis zum
Ende des Lebens. Auch die Geheimräte, die Minister können nicht vergessen,
welche Farben sie einst getragen haben und noch jetzt bei Stiftungsfesten und
sonstigen Kommersen tragen. Sie haben als Studenten einen Trank getrunken,
der in der Faustischen Hexenküche gebraut zu sein scheint, und sehen um für
immer, die Korpsstudenten in den Burschenschafter, diese in den Korpsstndenten,
Wesen einer andern, ihnen feindlichen Art. Zeitweise ist zwar, namentlich an
den süddeutschen Universitäten, der grundsätzliche Verruf nicht aufrechterhalten
worden, sondern sind Korpsbnrschcn und Burschenschafter in Farben miteinander
losgegangen, aber die gereizte Stimmung, das gespannte Verhältnis haben
bestanden und bestehen noch. Deshalb wird ein Jüngling von weltklugen
Blick, der es als späterer Beamter zu etwas bringen möchte, freiwillig nicht
in eine Burschenschaft eintreten, auch uicht in eine Landsmannschaft, sondern
mir in ein Korps.
Die Landsmannschaften sind die dritte Art von Waffenverbindnngen, aber
an Zahl die geringste. Durchschnittlich nur 350 Studenten zählen neuerdings
zu ihnen, während die Zahl der Burschenschafter durchschnittlich 1000, die
der Korpsstudenten 1600 im ganzen beträgt. Alle drei Arten blicken ver¬
ächtlich auf die an Zahl zehnfach überwiegende Menge derer hinab, die zur
Universität nur in der Absicht gehen, etwas zu lernen. An alten Herren,
die nunmehr in Amt und Würden sind, mögen die Burschenschafter etwa
12 000, die Korps etwa 20 000 haben, und diese alten Herren sehen einander
als Beamte, Richter, Lehrer und Reserveoffiziere mit ebensowenig freundlichen
Augen an, wie ehedem als aktive Studenten.
Die treibende Kraft, die die Korps auch gegenwärtig im deutschen Reiche
noch, das doch ganz neue politische Begriffe und Verhältnisse geschaffen hat
und wahrlich unter seinem breiten Dache die verschiedenartigsten Studenten-
verbindungen friedlich neben einander wohnen lassen könnte, eine so feindliche
Haltung den Burschenschafter gegenüber bewahren läßt — nur die kleine
Universität Kiel macht hiervon eine Ausnahme , ist wohl ihr stolzes Macht¬
bewußtsein. Wer sich im Besitze der Macht und der Borrechte befindet, räumt
nicht freiwillig einem andern den Thronsitz neben sich ein. In Jena steht
ein Standbild, das die Burschenschaft personifizirt. Ein schwärmerisch blickender
Jüngling, das Barett auf den langen Locken, mit der Schärpe umgürtet, hält
in der Rechten eine Fahne empor und druckt mit der Linken ein Schwert an
seine Brust. Die Farben der Fahne und der Schärpe sind schwarzrotgolden
zu denken. Im Programm dieses Jünglings, das natürlich eine Umschreibung
der Tugend, aber im deutschen Sinne ist, steht anch die Keuschheit, in einer
Reihe von Paragraphen ausgeführt. Wenn nun anch die Keuschheit, diese
herrliche Eigenschaft, gewiß im Leben bei den Korps ebensosehr zur Geltung
kommt wie bei allen übrigen Berbindnngen und den zahlreichen Studenten,
die lediglich des Studiums wegen die Universität besuchen, so mißfällt sie
doch im Programm dem Korpsstudenten ebenso, wie sie dem Musketier Aramis
mißfallen haben würde. Dieser pflegte zu den Stunden, wo er nicht Theo¬
logie studirte, am Toilettentisch saß oder im Gefechte stand, Zusammenkünfte
mit verschleierten vornehmen Damen zu haben. Die Nachwirkulla, jeues alten
Programms ist heutzutage bei dem ganzen großen Publikum, das ja nicht
eingeweiht, nicht in die Tiefen der Sache eingedrungen ist und wesentlich von
der Meinung der edeln Frauen beherrscht wird, die allgemeine auf der Ober¬
flüche schwimmende Auschauung, die Burschenschafter seien nicht so fein wie
die Korps. Die leichthin urteilende große Menge faßt das Verhältnis über¬
haupt so auf, als seien die Korps an der Universität das, was die Garde in
der Armee ist. Das kommt dem Selbstgefühl der Korps zu statten.
Eine Partei, gleich einem Individuum, bedeutet etwas, nicht allein im
positiven, sondern auch im negativen Sinne. Ja man könnte vielleicht Per¬
sonen und Parteien finden, die überhaupt nur dadurch etwas bedeute,,, daß
sie diese und jene Eigenschaften andrer nicht haben, die jedoch in sich zu¬
sammensinken und sich völlig auflöse,, und verflüchtigen würden, wenn man
ihre Gegenfüßler entfernte. So verleiht jedem Korpsstudenten schon zu dem
Zeitpunkt, wo er noch gar leine eignen Lorbeeren errungen hat, der Umstand
eine gewisse Bedeutung, ein Gewicht und ein dem Selbstgefühl schmeichelndes
Prestige, daß er kein Burschenschafter ist. Indem sie dies empfinden, möchten
die Korps ungern ihre Feindschaft, ihre Abneigung, ihre Verachtung, ihren
Hohn zu Gunsten eines nie»c1u8 vivoncki mit den Burschenschafter opfern. Sie
wünschen nicht, ein flottes Paukverhältnis mit diesen herzustellen, und die
Burschenschaft schwört Stein und Bein, daß sie es auch nicht wünsche.
Ein flottes Paukverhältnis ist nämlich ein solcher Zustand zwischen zwei
gleichartigen Verbindungen, der es mit sich bringt, daß sie sich in aller
Freundschaft und Hochachtung bekämpfen und gegenseitig unterzukriegen
trachten. Die Duelle zwischen ihnen sind nicht Duelle im eigentlichen, sondern
im studentischen Sinne, „Mensuren," und werden gewöhnlich mit dem Schläger
ausgefochten, der zwar vom Reichsgericht für eine rötliche Waffe erklärt worden
ist, weil er in der That rötlich treffen kann, aber doch in der Regel mit seiner
biegsamen Klinge, die leicht flach schlägt, nur die sogenannten „schmisse" erzeugt,
die sich so zahlreich auf den Wangen der Höhergebildeten zeigen. Ein solches
Paukverhältnis gleicht der Stellung zweier Nachbarstaaten, etwa Frankreich
und Deutschland, zu einander, bringt auch Allianzen, Kartelle genannt, mit
sich und erfordert einen ebensolchen Aufwand von Diplomatie. Sagen wir
zum Beispiel, die Korps Vrcmensia in Göttingen und Vandalia in Heidel¬
berg stünden im Kartell mit einander und ebenso die Saxouia in Göttingen
und die Saxo-Bvrussia in Heidelberg, beide Kartelle aber stünden gegeneinander
im Pankverhältnis, so werden Bremensia und Vandalin die Snxonia und
Saxo-Bornssia, diese beiden aber jene beiden gemeinsam bekriegen. Sie schicken
einander wohl gruppenweise ihre Kämpen zu, wie die Horatier und die Curiatier
gegen eiunuder kämpften, oder die Musketiere des Königs gegen die des Kar¬
dinals Richelieu, nur daß die Studenten nach einander paarweise fechten.
Es ist keine persönliche Feindschaft, wenn sie einander mit geschliffenen Klingen
zusetzen, sondern es sind Bestimmuugsmeusureu. Dabei spielt die Diplomatie
der Senioren und sonstigen Chargirten dieselbe Rolle, wie die der Minister
bei den Staaten. Es gilt den richtigen Augenblick und richtigen Fechter aus¬
zuwählen. Namentlich ist es ein Triumph der Kunst, wenn es ein Korps
verstanden hat, verborgene Talente auszubilden. Wo nämlich ein Korps
zahlreich ist, kann es Füchse, die besondre Anlage» haben, zu ausgezeichneten
Fechtern ausbilden, ohne daß davon etwas in die Außenwelt dringt. Kommt
dann der Feind mit seiner Liste von Kämpfern für die nächste Schlacht, so
nennt der Chargirte mit gleichgültiger Miene diese Füchse als Gegner für be¬
rühmte Schläger des Feindes. Verwundert fragt dann wohl der Heraus¬
fordernde, wie denn ganz unbekannte Namen gegenüber seinen Matadoren er¬
scheinen könnten, aber mit höflichem Lächeln bestätigt der Geforderte seine Liste.
Siege alsdann der berühmte Schläger der Vandalen über den Fuchs der Saxv-
Borussen, so ist die Niederlage für dieses Korps nicht schlimm, der Triumph
für jenes nicht groß. Siege aber der Fuchs, so wirft sich das Korps der
Saxo-Borussen in die Brust: Ha, unsre Füchse schon sind ihnen über! Eine
ganze Reihe von Fechterpaaren tritt oft an bestimmten Tagen zum Kampfe
ans dem Paukboden an, und zum Schluß wird dann abgerechnet, wobei unes
„Blutigen" gezählt wird. Die Vandalen, die Sachsen, die Fraukonen habe»
zehn Blutige xlus, die Bremenser haben fünfzehn Blutige Minus, heißt es,
und zwar sind „Blutige" die blutenden schmisse, von denen natürlich mehrere
aus einen Fechter kommen können. Der Sieg gehört dem Korps, das die
meisten Blutigeu ausgeteilt hat. Verwundet werden heißt in der Studenten¬
sprache „einen Schmiß besehen," kampfunfähig heißt „abgeführt" werden.
Wie es bei den Paukereien zugeht, davon giebt unter anderen eine Schrift
des Dr. Jmmisch, Pankarztes des Heidelberger L. L., 1885 erschienen, Zeugnis.
Unter seinen Vorschlägen heißt es im H 2: „Die Mensur muß beendigt sein,
wenn eine Verwundung herauskommt, die es wünschenswert oder nötig macht,
den Verwundeten abzuführen. Dies wird auf manchen andern Hochschulen
oft unterlassen und mancher Poukant gräßlich zugerichtet und gefährlich ver¬
wundet, wenn dem Sekundanten, der zu bestimmen hat, ob der Gehauene ab¬
geführt werden soll, das Pankbnch höher steht als das Wohl seines Pankanten
und der ärztliche Hilfe leistende Mediziner nicht das Recht hat, den Betreffenden
abzuführen. Es ist vor einigen Jahren ans einer nichtbadischen Universität
vorgekommen, daß ein forscher und gewandter Rechtsschläger von einem ge¬
fährlichen Linksschläger, dein er nicht gewachsen war, viele Kvpfschmisse bekam,
die so stark bluteten, daß das Blut in großer Menge an ihm herunterlief und
er schließlich in einer Blutlache dastand. Er wurde nicht abgeführt. Als die
Mensur zu Ende war, fiel er ohnmächtig zusammen. Bei seiner Untersuchung
fand man, daß er elf Kopfschmisse hatte, darunter vier mit Knochensplittern,
und daß fünf größere Arterien unterbunden werden mußten." or. Jmmisch
hat als Pauknrzt von 184« bis 1849 in Jena und dann bis 1885 in Heidel¬
berg bei 12000 Mensuren auf Hiebwaffen mit Binden und Bandagen ärzt¬
lichen Beistand geleistet, ungerechnet die schwereren Mensuren.
Aber sind denn solche Schlachten, solche Paukereien nicht verboten? Gewiß
sind sie verboten. Dein Reiz des Fechtens selbst hat die akademische Rechts¬
pflege noch den Reiz der verbotenen Genusse hinzugefügt. Das Pauken ist
nicht in solcher Weise verboten, daß es unterbliebe, aber doch so, daß ein
Kampf der List zwischen den Wächtern der Ordnung und deu Panklnstigen
stattfindet, wodurch sich die Studenten ihrer akademischen Freiheit bewußt
werden. Die Pedelle sind beauftragt, die Duelle zu verhindern und die
Duellanten anzuzeigen und zur Bestrafung zu bringen. Dieses Auftrages
entledigen sie sich je uach Lust und Geschick in der Weise, daß allerdings
manches Mitglied der Wasfenverbindungeu in den Kärzer oder, gar ans die
Festung wandert, und daß der Vater manches flotten Burschen sehr oft das
gepfändete Paukzeug mit schweren Kosten wieder einlösen muß, daß aber doch
immer wieder neue „Blutige" Zeit und Reinen finden, in die Erscheinung zu treten.
Aber sind denn Wafsenverbiudnugeu überhaupt notwendig und gut? Es
ist hier so viel von Tugend und Tapferkeit und Pauken und Trinke« die
Rede — wird denn auf der Universität nicht auch studirt? Gewiß wird auch
studirt, die Universität ist ja im Grunde des Studirens wegen gestiftet.
Aber---
Wer sich ein wenig im Leben umgesehen hat, wird schon entdeckt haben,
daß es in vielen Lebensstellungen auf das Wissen weniger ankommt, als auf
den Charakter. Beim Theologen ist es die Hauptsache, daß er ein guter
Seelsorger wird. Es giebt auch Männer, die wissenschaftlich am Lehrgebäude
weiterzuarbeiten berufen sind, aber die meisten Theologen werden doch
Pfarrer, Pastoren, Hirten der Gemeinde. Und da zeigt sich, daß, um die
Seelen zu leiten und zu behüten, eine Persönlichkeit, die Liebe und Vertrauen
erweckt, viel wichtiger ist, als ein gelehrter Theologe. Auch bei deu Ärzte»
siudeu wir, daß, um wirklich Krankheiten zu heilen, der gesunde Menschen¬
verstand, ein gewisser Scharfblick auf dem Gebiete der Gesundheit und Krank¬
heit und das moralische Gewicht der Person viel wichtiger sind als Kenntnisse.
Oder woher kommt es, daß unter hundert Ärzten, die doch so ziemlich den
gleichen Bildungsgang durchgemacht habe», immer nur etwa si'ins oder sechs
sind, die für ausgezeichnet gelten und großen Zulauf haben? Ebenso finden
wir bei den Richtern und Berwaltungsbeamteu nur einzelne aus der Meuge
hervorragen, und zwar die, denen das Urbild der Gerechtigkeit ins Herz ge¬
schrieben ist. An der Akademie zwar werden die Männer vom reichsten Wissen
den Ausschlag geben, im Leben jedoch die reichsten Charaktere am schwersten
in die Wagschale fallen. Ja selbst in der Philosophie werden zwar viele vieles
wissen, einzelne jedoch nur, und zwar die von Gott begnadigten, wahre und
fruchtbare Gedanken erzeugen.
Das weiß das Volk, das wissen die Regierungen, und daher kommt es,
daß im Universitätswesen so vieles zugelassen wird, was dem eigentlichen
Sinne der Universität zuwider zu sein scheint. Gerade durch diese Zulassung
ragt die deutsche Universität unter den ähnlichen Anstalten der Nachbarstaaten
hervor. In England und Frankreich fehlt die akademische Freiheit, da ist die
Universität uur Schule und Prüfungsanstalt.
Das ist ja wahr: käme es nur ans das Wissen an, so könnte man vieles
sparen. Ein junger Mensch von gutem Kopf wird in sechs bis acht Monaten,
wenn er bei den Eltern wohnt und Wasser anstatt Bier trinkt, ebenso viel
Wissen einheimsen können, wie in sechs bis acht Semestern akademischer Frei¬
heit. Weil mau aber tiefer gesehen und mehr gewollt hat, deshalb ist die
deutsche Universität mit ihren Absonderlichkeiten immer erhalten worden. Ist
doch auch kein Zwang zum Eintreten in die Waffenverbiudungen vorhanden,
giebt es doch zehnmal mehr Studenten, als Waffeustudeuten.
In Berlin allein studirt fast die doppelte Zahl aller Mitglieder von
Couleuren im ganzen Reiche. Etwa 30000 immatrikulirte Studenten sind
im ganzen an den deutschen Universitäten, etwa 3000 stehen in den Waffen¬
verbindungen. Die Mehrzahl hat keine Lust »der kein Geld, in Uniform zu
gehen und zu gewisse» Grundsätzen zu schwöre», sondern studirt nur und
findet sich, wo sie das Bedttrfuis der Freundschaft treibt, in freien stndeiitische»
Vereinigtingen, wissenschaftliche» Gesellschafte», Tnruvereiueu, akademischen
Ortsgruppen nud sonstigen Verbindungen zusammen, die der Kvulenrstudeut
von oben herab „Blasen" nennt. Diese Verhältnisse haben sich dem allge¬
meinen Entwicklungsgange des Volkes gemäß entwickelt nud werden sich ferner
dem Zuge der Zeit nach entwickeln. Der Zeitgeist prägt allem, auch der
Universität, seinen Stempel ans.
Die deutsche Universität wurde nach dem Vorbild älterer Kulturvölker,
insbesondre nach dem Muster der Pariser Universität, gegründet und
ging ans dem Kerne geistlicher Schulen hervor, die, was sie an Wissen¬
schaft besaßen, den Alten verdankten. Die theologische Fakultät war die
herrschende, wie sie es in gewissem Sinne noch jetzt ist, obwohl dem Wesen
nach der Mediziner an die Stelle des Theologen getreten ist. Die von den
Naturwissenschaften erfüllte Neuzeit sorgt viel lieber für den Körper als für
das Unsichtbare, der Staat giebt Geld her für Laboratorien, Kliniken, Obser¬
vatorien, bakteriologische Institute, wie er es ehedem für kirchliche Anstalten
hergab, und idealgesinnte alte Damen testiren nicht mehr zu Gunsten von Kirchen
und Klöstern, sondern vermachen ihr Vermögen der medizinischen Fakultät.
Die Reformation konnte den theologischen Charakter der Universität nur
befestigen und erhöhen. Theologische Fragen waren im sechzehnten und sieb¬
zehnten Jahrhundert höchst wichtig, und die von protestantischen Fürsten neu
gegründeten Universitäten waren konfessionell wie die von ihnen befehdeten
alten Hochschulen. Der dreißigjährige Krieg trug den Klang der Waffen in
die Hörsüle, und Landsknechte drückten den Studenten den Nanfdegen in die
Hand. So entstanden zuerst im siebzehnten Jahrhundert, im Anschluß an die
alten nlckiones, die fechtenden Landsmannschaften. Sie bildeten Verbindungen
mit eigner Verfassung und eignen Kassen, wählten ihre Senioren und schlossen
sich im Senioreukonvent zusammen gegenüber den andern Studenten, die sie
Finken, Kamele, Wilde, Obskuranten, und gegenüber dem Bürger, den sie
Philister nannten. Sie haben daS Muster der heutigen Waffenverbiudungen
geschaffen und im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundeit die Universität
beherrscht. Aber im achtzehnten Jahrhundert entstand schon eine starke Oppo¬
sition gegen die theologische Streitsucht und Pedanterie der Gelehrten, wie
gegen die Zügellosigkeit und Roheit der Studirenden. Aus dem reinen Quell
der griechischen Philosophie, die schon die geistliche» Schulen des frühesten
Mittelalters lebensfähig gemacht und immer wieder erfrischt hatte, strömte
neues Leben zu, aber auch aus dem politischen Druck, aus der Despoten-
Wirtschaft jener Zeit erzeugte sich eine Reaktion. Die Erneuerung des auf
der Universität herrschenden Geistes zeigte sich in der Entstehung von Orden,
die das Glück der Menschheit, die Befreiung von den Fesseln der Vorurteile
und der schlechte» Regierungen anstrebten und sich wie die Freimaurer in
Geheimnis hüllten. Diese Orden untergruben und zerstörten die Herrschaft
der Landsmannschaften, indem sie sich allmählich mit ihnen verschmolzen. Aber
der Sturm der napoleonischen Kriege fegte mit der alten staatlichen Ordnung
auch diese Zustände der deutschen Universität hinweg, und als es wieder
Friede war, keimten aus dem neu bestellten Boden einerseits die Verbindungen
hervor, die noch jetzt innerhalb der einzelnen kleinern und größern Monarchien
von den sogenannten staatserhaltenden Prinzipien gestützt werden und sich
ihrer Erscheinung nach mit den alten Landsmannschaften vergleichen lassen,
anderseits die, die sich auf die Ideale der alten Orden besannen und damals
ein einiges Deutschland forderten. Die erster», die Korps, blühten unter der
Begünstigung der Regierungen immer mehr empor, die andern, ursprünglich
als allgemeine einige deutsche Burschenschaft gegründet und als solche 1819
aufgelöst, hatten viele innere und äußere Kämpfe durchzumachen, siud gewisser¬
maßen ohne Programm, seitdem das einige Deutschland da ist, und sind
gegenwärtig eigentlich nur noch dem Namen nach von den Korps verschieden.
Denn mit den Idealen werden jetzt ja nur noch offene Thüren eingestoßen.
Die Neuzeit stimmt der lauten Verkündigung der herrlichsten Ideale nicht nur
der Burschenschaft, sondern ganz allgemein freudig zu, ohne auch nur zu
lächeln. Die auf die Naturwissenschaften gegründete Weltanschauung ist so
allgemein verbreitet und steht so fest, daß die Ideale nicht mehr gefürchtet
werden, sondern ihren Applaus finden, wie gute Heldenspieler auf der Bühne.
Man weiß ja doch, daß alles nur ein Spiel ist.
Das heißt, Ideale hat auch unsre Zeit, immer führen die Ideen die
Herrschaft und bewegen die Völker, nur ist es erst der rückschauenden Geschichte
möglich, zu bezeichnen, welche Ideen zum Ausdruck gekommen sind. Die
Gegenwart zeigt zwar die Fülle ihrer Erscheinungen, aber verhüllt ihre Ideale.
Erst in der Entfernung gewinnt der Blick die richtige Perspektive. Vielleicht
gehen das allgemeine Bauen von Eisenbahnen und Telegraphen, die Bewaff¬
nung der Völker lind das Erwerben von Kolonien auf eine allgemeine Ver¬
brüderung der Bewohner unsers Planeten Hinalls. Schon Thomas Buckle
meinte, die Eisenbahnen hätten mehr zur Verbreitung von Liebe und Frieden
gethan als sämtliche Religionen. Das wollen wir dahingestellt sein lassen.
Jedenfalls hat die Behauptung, daß die Feindschaft zwischen den Menschen
wesentlich aus der Unwissenheit, aus der Unkenntnis gemeinsamer Interessen
entspringe, viel Wahres. Und jedenfalls macht der lebhafte Verkehr der
Neuzeit die Völker mit einander bekannt, schleift die Besonderheiten ab und
macht die Völker einander ähnlicher. Grundzüge des Nationalcharakters
Werden sich so leicht allerdings nicht verwischen lassen, aber Sitten und
Lebensgewohnheiten werden ebenso ausgetauscht wie Erkenntnisse,
Ein auffälliges Beispiel dafür bieten die Spiele, die Unterhaltungen, der
Sport. Wie sich die Rennen und Regatten von England ans über Frankreich
und Deutschland verbreitet und in diesen Ländern eingebürgert haben, so sind
auch die für die Jugenderziehung so wichtigen gymnastischen Spiele der Eng¬
länder bei uns heimisch geworden. Croquet, Criqnet, Lawn Tennis, Football
und andre Übungen körperlicher Kraft und Gewandtheit werden von unsrer
Jugend ueben dem Turnen betrieben. Der Sport des Paukens dagegen,
wenn wir hier von Sport reden dürfen, ist nicht über die deutsche Grenze
hinausgegangen, am wenigsten nach England, wo das Duell überhaupt für
barbarisch und lächerlich gilt. Mau mochte daraus schließe», daß die Men¬
suren zu den absterbenden Sitten gehörten, um so mehr, als sie im eiguen
Heimatsboden durchaus nicht allgemeine Zustimmung finden, im Gegenteil
von der weit überwiegenden Mehrzahl des Volkes mißbilligt und verurteilt
werden. Der Kreis, innerhalb dessen das Studeuteuduell noch gebilligt wird,
verkleinert sich immer mehr, je weitere Verbreitung solche Anschauungen finden,
die allen gebildeten Völkern unsrer Zeit gemeinsam sei» können.
Aber noch von einer andern Seite her, wenn auch aus derselbe» Quelle,
wird die Erziehung des Studenten beeinflußt, sodaß schon zu sehen ist, wohin
sich der Strom der Entwicklung wendet. Eine Universität ist dem Namen
und Sinne nach eine solche Hochschule, wo die Wissenschaften als Wissenschaft,
das heißt in systematischer Ordnung als harmonisches Lehrgebäude auftreten.
Das war die Universität mich, solange die Theologie unumschränkt herrschte.
Wer aber jetzt noch behaupten wollte, auf den deutschen Universitäten stünden
die vorgetragene» Wissenschaften als eine systematisch gegliederte und harmo¬
nisch aufgebaute Wissenschaft da, der würde große Kühnheit bekunden. Uni¬
versalität ist nicht mehr die Standarte des Gelehrten, nicht einmal für die
größten Geister, sondern der Fachmann ist der Stolz der Zeit. Die Menge
des aufgehäuften und sich täglich vermehrenden Wissens ist so groß, daß eine
Teilung der Arbeit notwendig geworden ist, und nicht ganz mit Unrecht könnte
man heutzutage sagen, daß der Gelehrte um so größer dasteht, je kleiner seine
Spezialität ist. Zwischen dem Wichtigen und dem Unwichtigen zu unterscheiden,
unternimmt kaum noch jemand, und die Grenzen der Fächer sind für heilig
erklärt. Das haben die Naturwissenschaften zuwege gebracht, die wie der
gespaltene Besen des Goethischen Zauberlehrlings Material herbeischleppen
und das Haus der philosophische» Fakultät überschwemme».
Mehr und mehr kommt es bei solchem Reichtum und solcher Zersplitte¬
rung des Wissens dahin, daß die Universität lediglich als eine Hochschule be¬
trachtet wird, die den Zweck hat, junge Leute für ihren Beruf auszubilden,
wie es den Anforderungen der Neuzeit entspricht, nämlich in der Weise, daß
jeder in seinein Fache etwas Tüchtiges lernt. Dazu ist aber die akademische
Freiheit im alten Sinne nicht notwendig, dazu braucht es keiner Universität
im deutschen Sinne des Wortes, im Sinne der Haller und Leibniz, sondern
nur solcher Anstalten, wie sie Frankreich und England auch besitzen. Wie die
Naturwissenschaften dem Geiste mich der Metaphysik, mag sie theologischer
oder philosophischer Natur sein, entgegengesetzt sind und ihre Gegnerin im
Zeitgeiste überwunden haben, so sind sie auch den praktischen Ergebnissen ihrer
Entdeckungen nach der Institution der Universität feindlich und gehen dem
Siege entgegen. Schon jetzt haben in den Großstädten, wie Berlin und Leipzig,
die Universitäten den Charakter weltstädtischer Hochschule» angenommen, wo
mittelalterliche Romantik der Verbindungen nicht mehr recht gedeihen will. Dem
Namen nach wird es immer noch Universitäten geben, aber dem Wesen nach werden
diese Universitäten Hochschulen von mehr europäischem als deutschem Charakter
sein. Die Naturwissenschaften sind international. So wird auch der deutsche
Student zwar immer noch die Grundzüge des deutschen Nationalcharakters
bewahren, aber auch immer mehr die Eigentümlichkeiten abschleifen und ver¬
lieren, die ihn ohne zwingende Notwendigkeit von andern jungen Männern
höherer Vildnng und Lebensstellung unterscheiden. Die an den europäischen
Gentleman gestellten Anforderungen werden alsdann für seine Bildung so viel
bedeuten, daß die der heutigen Mode angehörende „Schneidigkeit" darüber ver¬
gessen werden wird. Die von der Erziehung des Jünglings angestrebte Tugend,
die ideale deutsche Universitätsbildung, wird dann ein solches Antlitz zeigen,
daß sie auch in andern Ländern als Tugend erkannt werden wird. Dann
wird sie aber voraussichtlich leine schmisse mehr auf den Wangen haben.
meer der Mehrzahl der gebildeten Deutschen herrscht Wohl die
Überzeugung, daß gegenwärtig unsre sogenannte schöne Litteratur
die pgrlio lwiitouso der deutscheu .Kultur sei. Der Naturalismus
scheint an der Spitze der Entwicklung zu marschiren, wenigstens
wenn man nach dem Getöse urteilen will, das er verursacht.
Aber so gewiß mancher gerade von denen, denen das Blühen und Gedeihen
unsrer Dichtung Herzenssache ist, damals, als die neue Richtung aufkam,
zunächst erfreut aufgeblickt haben mag, in der Meinung, es käme ein frischer
Luftzug, so gewiß ist augenblicklich die überwiegende Stimmung die, daß man
sehnlichst nach einem Herkules zur Reinigung des Augiasstalles verlangt.
Dieser Wunsch ist nun in ganz unerwarteter Weise erfüllt worden durch
ein Buch, das unter dem Titel: Die Kunst. Ihr Wesen und ihre Gesetze
kürzlich in Berlin (bei Jßleib) erschienen ist. Die halbausgewachsenen Litte¬
raten der „Freien Bühne" haben zwar schon zwei Winter lang redlich das
Ihrige gethan, um dein deutschen Publikum den Geschmack an jenem wider¬
lichen Brei von Kot und Fusel, den sie als „Natur" vorsetzten, zu verderben.
Nun aber hat dieses Vues jede Illusion, mis steckte hinter dem Geschrei wenigstens
guter Wille und geistige Kraft, zerstört und deu unumstößlichen Beweis ge¬
liefert, daß es sich bei der ganzen Bewegung um nichts als litterarischen Humbug
handelt. Darin liegt ein großes Verdienst, das dadurch nicht gemindert wird,
daß es ein unfreiwilliges ist. Denn geschrieben hat das Buch Herr Arno
Holz, der eine Verfasser der „Familie Selickc," und gewidmet ist es Herrn
Johannes Schlaf, dem andern Verfasser der „Familie Selicke."
Als schriftstellerische Leistung ist das Buch freilich so ungenügend, daß es an
sich kaum Beachtung verdient. Aber es tritt mit den höchsten Ansprüchen auf.
Herr Holz unternimmt es, auf die Frage nach dem Wesen der Kunst eine
völlig neue Autwort zu geben, und zwar „auf Grund der zeitweilig trium-
Phirenden Weltanschauung." Er hofft damit eine Arbeit zu leisten, die er
als eine „Wohlthat für die gesamte Entwicklung" bezeichnet, als „eine
Brückenbanerin und Wegweiserin, ohne die es langsamer gehen würde."
Demgemäß ist das Werk auch von der jungdeutschen Partcipresse als eine
That der Erlösung gefeiert worden. Und den einen Vorzug hat es wirklich,
den Stand der Dinge in einer Nacktheit und Klarheit zur Anschauung zu
bringen, daß fortan jeder Zweifel ausgeschlossen sein muß. Gerade weil dem
Versasser die Fähigkeit, zu gestalten, jede eigentlich darstellerische Begabung
abgeht, treten die Gedanken und damit das innerste Wesen des Naturalismus
um so schärfer hervor, und dies auf einem Gebiete, wo jeder deu Geguer
zwingen kann, auf dem Gebiete der Kunstphilosophie. Denn gegen die natu¬
ralistischen Theaterstücke ließ sich ja kaum etwas ausrichten, weder durch
Schelten noch durch Schweigen: as guLtibus non ost ÄisxutMÄuur. Aber
sobald sich die Herren an die wissenschaftliche Theorie wagen, kann man ihnen
doch zu Leibe gehen: Gedanken lassen sich bekämpfen nud beseitigen. Insofern
hat das Buch in der That eine Bedeutung, die eine Besprechung wünschens¬
wert macht.
Herr Holz verzichtet allerdings darauf, seine Entdeckungen systematisch
vorzutragen — notgedrungen oder doch aus guten Gründen; er zieht es vor,
zu erzählen, wie ihm allmählich die Offenbarung der neuen Heilsbotschaft ge¬
kommen ist. Da er überdies der zweifellos richtigen, wenn auch nicht über¬
raschend neuen Ansicht ist, daß „der Wert eines wissenschaftlichen Werkes nicht
darin bestehe, daß es in einem möglichst schwerfälligen Kauderwelsch geschrieben
ist," so hat er sein Buch so eingerichtet, daß man es „lesen kann, mit der
Zigarre auf dem Sofa, meinetwegen anch mit einer Tasse Kaffee daneben,
ohne darnach Kopfschmerzen zu bekommen." Anstrengend oder gar aufregend
ist denn auch die Lektüre nicht. Den Gedanken, die Menschheit von dem
zweitausendjährigen Irrtume der bisherigen Knnstanschauungen befreien und
sie innerlich sozusagen umkrempeln zu wollen, wahrend sie im Schlafrock auf
dem Kanapee liegt und verdaut, konnte man sich schon gefallen lassen, wenn
uicht die Ausführung (ich meine weniger den Primanerstil als die Mitteilung
so vieler recht überflüssigen Intimitäten) an ein Buch erinnerte, das für die
Naturalisten zu den heiligsten gehört, an das .Icmriuü des Goncourt.
Schon mit achtzehn Jahren hat Herr Holz das Versemachen mit Leiden¬
schaft getrieben. Er „sah, fühlte und roch nur Verse," und „die Sonne schien
ihm Lieder ins Herz, und der Regen tropfte ihm Melodien ins Ohr."
Zwanzig Jahre alt schrieb er den Liedercyklus „Phantasus," worin er „die
6« 1'g.ins eines jungen Poeten schilderte, der an der Trivialität seines
Milieu zu Grunde geht, hoch oben in Berlin ^ in irgend einer Dachstube."
Nach eignem Geständnis hat sich Herr Holz mit diesem Phantasus sein eignes
Epitaph gesetzt. Erschienen ist das Poem in dem „Buch der Zeit. Lieder
eines Modernen," Zürich, 1885. Der Verfasser hatte damals den Ehrgeiz,
in dein Morgenrot der neuen Poesie, in dem „neuen Schein des neuen Tages"
eine der ersten Lerchen zu sein. Die Zeit der Waldgnomen und der Wasser¬
nixen war für ihn vorbei: ohne das Volksgewühl der großen Städte, ohne
die Telegraphendrähte konnte er nicht mehr dichten. Aber er wollte eine
Schlacht gewinnen, freilich besondrer Art; denn sie galt
keiner Dynastie,
Auch kämpft sie nicht mit Schwert und Keule,
Galvanis Draht und Voltas Säule
Lenkt funkensprnheud das Genie.
Er wollte die Zeit des ewigen Friedens herbeiführen helfen, wo „der Frei¬
heit goldne Oriflamme leuchtend über alle Welt wehen" sollte; lind in dem
Gedanken daran war ihm oft,
als ob die Zeit,
Verlästert viel und viel bewundert,
Als ob das kommende Jahrhundert
Zu seinem Täufer mich geweiht.
Vorsichtige Leute rieten zwar dem Dichter von dieser Laufbahn ab:
Tagtäglich wispert die Kritik:
O wirf ihn fort, den Hnngerknochen,
Es hat die leidge Politik
Schon manchem hier den Hals gebrochen.
Such lieber hohe ProtcgeeS (!),
Dein Sozialismus ist uns schnuppe,
Den» schließlich wärmst du nur, gesteh's,
Die achtundvierziger Bettelstippe.
Doch kühn ruft der Dichter denen, die sein Gedicht verhöhnen, entgegen:
Rückt an; mit offenem Visir
Und harter Faust will ich euch weise»:
Ich und mein Lied, wir sind von Eisen —
Ihr oder ich, ich oder ihr.Denn nicht soll einst in später Zeit
Mit selbstgefälligen Behagen
Ein später Enkel von uns sage»,
Was rot wie Blut zum Himmel schreit:Poeten ohne Poesie,
Und keiner rief das Wörtchen: „Rette!"
Sie blökten allscnnt um die Welle
Wie eine Herde Hammelvieh!
Diese Verse müssen Herrn Holz etwas peinlich sein: er hat tels rettende
Wörtchen nicht gesprochen, dagegen ein Stück geschrieben, das ein Kritiker als
eine „Tierlautkomödie" bezeichnet hat. Eben darum hat er jetzt sür alle seine
Jngendversnche uur uoch das Lächeln des Mitleids und der Verachtung.
Nun hatte das „Buch der Zeit" nicht den gehofften Erfolg, und Herr
Holz rächte sich, indem er aus seinem Katzenjammer heraus 200 Seiten Verse
schrieb: „Unterm Heiligenschein. Ein Erbauungsbuch für meine Freunde."
Veröffentlicht worden sind diese Dichtungen nicht, aber die umfangreichen Proben,
die er auch aus ihnen giebt, lassen darauf schließen, daß es allerdings ein
erbauliches Buch gewesen sein muß. Sein erstes Werk verwirft der Dichter:
Den» der Wein, den seine Muse
Unter falschem Etikett
Ihm verführerisch kredenzt,
War ein ganz gemeiner Kratzer.
Jene nächtigen Probleme,
Die jetzt lauernd durch die Welt
Wie die Tigerkatzen schleichen,
Pfauchen auch in seine Träume,
Und wenn morgens da»» sei» Stift
Hastig über das Papier surrt,
Scheint ihn: seine Skribelei oft
Unerträglich und banal.
Liebeslieder zu skaudire»,
Wäre freilich Profitabler.
Doch die Lügen, die das Mondlicht
Ihm romantisch ins Gehirn scheint.
Sind dem Zeitgenossen Zolas
Kakerlakenideale.
In diesem Buche warnte Herr Holz seine dichtenden Genossen in einem
„Präludium," das aber diesmal am Schlüsse stand
Vor der unsolider Firma
Des Homers (sie!) und Kompanie.
Homer ist in seinen Augen
Nur ein ganz profaner Mensch
Und als solcher wiederum
Nur der erste aller blinden
Bänkelsänger Griechenlands.
Am liebsten möchte er Rothschild veranlassen, einen internationalen Anti-
museistenklub zu gründen. Denn
Poesien für Pennäler
Sind bereits genug gedrechselt;
Siehe hier das Gros der Werke
Unsrer deutschen Dioskuren —
Nomina sollte ocliosg,!
Nur Heine ragt aus der Pygmäcnsipvschaft empor:
Heinrich Heine war kein Stockfisch,
Heinrich Heine war ein Mensch!
Von demselben Heine heißt es weiter:
Spucken mögen auf sein Grab
Dreimal alle alten Jungfern:
Heilig war ihm seine Liebe,
Heilig war ihm auch sein Haß.Sein Geschlecht war ein erlauchtes.
Und die Blüten seines Stammbaums
Sind die Sterne ihrer Völker.
Man könnte bei diesen Worten auf böse Gedanken kommen. Doch Herr Holz
beugt allem vor: mit den Ahnherren Heines sind Aristophanes (notÄbsno
auch so ein griechischer Bänkelsänger), Cervantes und Rabelais gemeint.
Heutzutage nun vollends ist die Vernunft zu den Botokuden geflüchtet,
der Zeitgeist ist ein Lüstling, ein gealterter Rviw geworden; die Welt wittert
überall Unanständigkeiten, sogar bei Zola:
Großer Zeitgenosse Emile,
Dich, anch dich hat sie verlästert,
Und der Shakespeare des Romans
Ward zum Dichter der Kloake.
Zola, Ibsen, Leo Tolstoi,
Eine Welt liegt in den Worten,
Eine, die noch nicht verfault,
Eine, die noch kerngesund ist!
Diese Welt ist aber nicht mehr klassisch, nicht mehr romantisch, sie ist modern,
und über dem Sonnenaufgang schmettert das Lied des Dichters seine Triller:
Herr Holz, der sich für die genannten drei Größen mit seinen Freunden über¬
wirft, ist um wirklich die Lerche der neuen Zeit geworden.
Die Empfindung, wie schlimm diese seine eigne Dichtung war, kam Herrn
Holz ziemlich rasch. Er machte sich daran, einen modernen Roman zu schreiben:
„Goldne Zeiten." I» einem Stübchen zu Nieder-Schönhausen, in der Gesell¬
schaft eines Theekessels, begann er das erste Kapitel: „Seine Kindheit." Er
brachte einige Seiten zustande, die mit dem Satze schlössen: „In Holland
mußten die Paradiesvogel entschieden schöner pfeifen," nämlich als in Indien,
„und die Johannisbeerbäume noch viel, viel wilder wachsen." Dieser Satz
ward für die Zukunft des Dichters und für die Entwicklung der Knust-
anschauungen der gesamten Menschheit entscheidend. Zunächst gefiel er seinem
Verfasser dermaßen, daß dieser heute uoch drei Seiten lang darüber philosophirt.
Sodann aber erinnerte er ihn an Zvlas berühmte Definition der Kunst: IIr
amvrs d«z 1'iU't «se, un vom tlo I» ug.t,ur6 vu ü. trtrvoi'L un tömuvruMSnt,.
Damit kam der Stein ins Rollen. Das nächste war, daß Herr Holz begriff:
dieser Satz Zolas bedeutet genau so viel als „Wenns regnet, wirds naß"
oder „Von weitem sieht etwas entfernt aus" oder „Alle Ratten haben Schwänze."
Den Roman ließ er um liegeu und warf sich einen Winter lang ans das
Studium der Kuustphilvsvphie; er wälzte als Stammgast der königlichen
Bibliothek zu Berlin alle Folianten über Ästhetik, die dort aufzutreiben waren.
Lehren konnten sie ihn freilich nichts, und so ging er — in die weite Welt.
Auf der Nordsee bekam er nochmals einen dichterischen Rückfall, in Paris aber
las er Zolas Oeuvres vritiauks. Daß auch der ganze Theoretiker Zola nichts
war, sah Herr Holz sofort ein, und alsbald schrieb er seinen Aufsatz „Zoln
als Theoretiker," der 1890 in der „Freien Bühne" erschien, aber uns jetzt
auch nicht geschenkt, sondern in vxtöuso mitgeteilt wird, und der in der That
charakteristisch ist. An Taine wird gerühmt, daß er der erste gewesen sei, der
die Gesetze der Naturwissenschaft auf die Kunstbetrachtung übertragen habe.
Von Taines Aufstellungen aber gesteht Herr Holz nicht sonderlich erbaut zu
sein: der eine seiner Sätze sei freilich urneu: „Jedes Kunstwerk resultirt aus
seinem Milieu"; der andre, uralte dagegen: „In der exakten Reproduktion der
Natur besteht das Wesen der Kunst nicht" ist ein dummes Dogma. Zola ist
über Taine nicht wesentlich hinausgekommen; sein livumn kxxvrimlmtg,! wird
ans eine Stufe mit „Mondkälbern" gestellt. Überhaupt gehört Kuustphilvsvphie
zu den Götzen, die mit Nietzscheschcm Hammer zertrümmert werden müßten.
Wiederum ging Herr Holz in trauriger Stimmung nach Niederschönhausen,
wiederum machte er den verzweifelten Versuch, zu studiren, aber diesmal stu-
dirte er nicht „alte Herren, wie Aristoteles, Winckelmann und Lessing," son¬
dern die Koryphäen der modernen Naturwissenschaft und die sogenannten
Positivisten. Nun endlich begann für ihn die Klarheit, er hieb sich in dein
Urwald der Verworrenheit mit Äxten eine Lichtung und barg die Frucht der
Erkenntnis in einem Aufsatze, den er freilich zunächst nur zu seiner eignen
Orientirung bestimmte, aber dennoch zu Nutz und Frommen seiner Leser ab¬
drückt. Es wäre auch Sünde gewesen, beispielsweise die köstlichen Eingangs¬
sätze des ersten Kapitels der Mitwelt vorzuenthalten: „Unter all jenen Er¬
rungenschaften, deren wohlthätige Wirkung die Menschheit im Laufe ihrer
Entwicklung bereits zu verzeichnen gehabt hat, giebt es eine, deren Tragweite
so ungeheuer ist, daß man heute, wo mau jene Entwicklung zu begreifen
besser in den Stand gesetzt ist, wohl kaum noch eine» irgendwie fortgeschrittnen
Denker finden wird, der auch nur einen einzigen Augenblick zögern würde, sie
nicht etwa bloß für die unverhältnismäßig größte unsrer Zeit, sondern geradezu
für die weitaus wichtigste der Zeiten überhaupt anzuerkennen. Ja es darf
selbst bezweifelt werden, ob auch in Zukunft eine der nach dieser noch mög¬
lichen gewaltig genug sein wird, um überhaupt auch nur an sie heranzureichen.
Es ist dies die endliche Erkenntnis von der durchgängigen Gesetzmäßigkeit
alles Geschehens." Diese Erkenntnis ist zwar uralt, so alt, wie alle Philo¬
sophie überhaupt, die nur jenen Gedanken zur selbstverständlichen Grundlage
hat; aber das schadet nichts, für Herr» Holz war sie neu, und in allen Ton¬
arten wiederholt er: „Es ist ein Gesetz, daß jedes Ding ein Gesetz hat."
Das Gesetz der Kunstwissenschaft aber, die, nachdem Spencer und Taine
ihren Grund gelegt haben, leicht als Teil ans der Gesamtwisfenschaft aus¬
zusondern ist, übrigens auch nach jenen beiden Männern noch sehr der Ver¬
vollkommnung bedarf, ja bisher kaum den Namen Wissenschaft verdient, müßte
ein Gesetz sein, woraus sich alle Erscheinungen der Kunst und ihre gesamte
Entwicklung ableiten ließen.
Nach Vollendung jenes Aufsatzes ging Herr Holz daran, das besagte
Gesetz zu finden. Erforderlich schien ihm vernünftigerweise eine Analyse des
gesamten Materials, das die Geschichte aller Künste bietet. Aber diese Auf-
gabe konnte er nicht lösen. Er sagte sich also: wenn ein Gesetz allein That¬
sächlichen zu Grunde liegt, so muß es auch jeder einzelnen Erscheinung zu
Grunde liegen. Er wollte nun irgend ein Werk vornehmen, über dessen Zu¬
gehörigkeit zur „Kunst" kein Zweifel obwalten könnte. War dessen „Gesetz"
entdeckt, so war das ganze Problem erledigt. Er dachte an die sixtinische
Madonna: aber beschämt mußte er gestehen, daß sein 5!nnstverständ»is zu eiuer
Analyse dieses Bildes nicht ausreichte. Nun fiel ihm die „Idee" ein, die
unser ganzes Zeitalter beherrscht, die „Idee" von der Weseuseinheit der höhern
und der niedern Arten. Er griff zu der Schiefertafel eines kleinen Schul¬
jungen. Der hatte darauf eine „Schmierage" gezeichnet, die unklar ließ, ob
sie ein Dromedar oder ein Vexirbild: „Wo ist die Katz?" oder eine Schling¬
pflanze oder den Versuch einer Landkarte darstellen sollte. Herbeigerufen er¬
klärte der jugendliche Urheber, ein „Suldat" sei gemeint. Ju diesem Augen¬
blicke war für Herrn Holz die Frage uach dem Wesen der Kunst beantwortet,
das gesuchte Gesetz gefunden. Nämlich zwischen diesem „Suldateu" und der
sixtinischen Madonna besteht kein Artunterschied, sondern nnr ein Gradunterschied.
Das Ziel des kleinen Buben war ein Soldat, das Ergebnis die „Schmierage."
Zwischen beiden klafft eine Lücke, dieselbe Lücke, die überall zwischen Wollen und
Vollbringe» klafft. Damils ergiebt sich die Formel: „Schmierage Soldat — x,"
Folglich: „Kunstwerk Stück Natur — x." Folglich: „Kunst Natur — x."
Dieses x gilt es zu finden. Herr Holz bestimmt es sofort und hat damit den
Stein der Weisen gefunden. Das Urgesetz aller Kunst lautet: „Die Kunst
hat die Tendenz, wieder Natur zu sein. Sie wird es uach Maßgabe ihrer
jeweiligen Reprvduktiousbediuguuge» und ihrer Handhabung." Mit dieser
„rührend einfachen" Lösung des Rätsels ist die gesamte Kuustphilosophie der
letzten zwei Jahrtmiseude, von Aristoteles bis auf Taine, gestürzt und, so
nebenbei anch die Bankunst ans dem Tempel der Kunst hinausgeworfen.
Zunächst wollte nun Herr Holz ans dem neu entdeckten Gesetz alle
Kunstentwicklung herleite», und er machte sich a» die Abfassung eines großen
systematischen Werkes „Soziologie der .Kunst." Eine Widmungsepistel an
Emile Zola in französischer Sprache bekam er anch fertig, aber das Buch
hinter diesem Briefe kam nie zu stände — „Gott sei Dank!" sagt Herr Holz
selber. Statt desfe» that er sich mit seinem Freunde Johannes Schlaf zu¬
sammen, einem verunglückten klassische» Philologen, und beide zusammen
schrieben zuerst „Papn Hamlet," eine Novelle, die sie unter dem Pseudonym
P. Bjarne Hvlmsen herausgaben, später die berühmte „Familie Selicke."
Es wäre nichts verfehlter, als Herrn Holz die Ehre einer ernsthaften
Kritik oder gar eiuer Widerlegung anzuthun. Es genügt, sein Buch als
Aktenstück zu einigen thatsächlichen Folgerungen über den Charakter des
Naturalismus zu verwerten. Denn wenn Gerhart Hauptmann dem pseudo-
uhmeu P. Bjarne Holmsen, „dein konsequentesten Vertreter des Realismus,"
sein Erstlingsdrama widmet, wenn die ganze Linie von Jung-Berlin über das
neue Kunstbuch in Jubelfaufareu ausbricht, denn muß es doch wohl „sympto¬
matische" Bedeutung haben.
Herr Holz beginnt damit, festzustellen, daß ihm jede dichterische Begabung
mangle: seine Verse find, wie die Proben ergeben, nicht gehauen und uicht
gestochen. Das ist an und für sich keine Schande. Aber es gehört doch ein
bodenloser Cynismus dazu, sich seiner Unfähigkeit offen zu rühmen und nicht
allein den eignen künstlerische» Entwicklungsgang davon abzuleiten, sonder»
sie auch zum Ausgangspunkte, ja zur Grundlage eiuer das Wesen der Kunst
ergründenden Theorie zu machen.. In Wahrheit wird dadurch nur das eine
erreicht, daß der Beweis geliefert wird, wie das innerste Wesen unsers
deutschen Naturalismus zur Poesie in gar keiner Beziehung steht. Zugleich
wird der Haß erklärlich, den der Naturalismus gegen alles hegt, was „Genie"
heißt. Herr Holz erklärt den Mann, der das Wort „Genie" ersunden hat,
für einen „Esel" und verzichtet „lächelnd" darauf, „in diese imaginäre Kategorie
gestopft" zu werden. Davor ist er auch sicher; aber — es war doch ein
boshafter Mann, der die Fabel von den sauern Trauben erfand!
Sodann deckt Herr Holz schonungslos auf, wie unerhört niedrig das
geistige Niveau ist, auf dem sich der Naturalismus bewegt. Er knüpft an die
moderne Naturwissenschaft an; aber indem er ihre Methoden auf die Beur¬
teilung von Vorgängen des geistigen Lebens übertragen will, verwendet er sie
genau mit derselben Reife oder vielmehr Unreife, womit die sozialdemokratischen
Agitatoren die „moderne Weltanschauung" verwerten, aber beileibe nicht etwa,
wie die bedeutenden unter ihnen; Vebel und Genossen, denen Bismarck einst
das kräftige Wörtlein von den „kümmerlichen Epigonen" ins Gesicht ge¬
schlendert hat, stehen turmhoch über Herrn Holz. Dieser hat einige Brocken
von Spencer, Buckle, Taine aufgelesen und stellt, ohne sie recht verdaut zu
haben, auf sie das Gebäude seiner neuen Kunstphilosophie. Darin jedoch
gleichen die jungdeutschen Herren der ihnen auch sonst so sympathischen Sozial¬
demokratie, daß sie die „Wissenschaft" fortwährend im Munde führen (übrigens
genan so wie die Wirtshäuser den König im Schilde, der nie bei ihnen ein¬
kehrt, würde Schopenhauer sagen) und dabei immer ganz einseitig an die
Naturwissenschaft denken, die historischen Wissenschaften aber als Plunder
einfach ignoriren. Von den Vorgängen auf diesem Gebiete haben sie nicht
die leiseste Ahnung: längst vor Buckle hat man gewußt, daß auch in dein
Leben der Menschen „Gesetze" obwalten, nur sind es eben ganz andre als die.
nach denen sich Säuren und Basen vereinigen. Die Methoden der Natur-
wissenschaft haben in der geschichtlichen Entwicklung gar nichts zu suchen.
Buckle und Genossen sind für die historische Wissenschaft überwundene Größen;
ein Forscher, der heute noch auf deren Betrachtungsweise zurückgreifen wollte,
würde sich lächerlich macheu. Der Herold einer neuen Zeit, der Zertrümmerer
zweitausendjährigen Irrtums steht also in Wahrheit auf einem ganz veralteten
Standpunkte.
Ist es demnach bei Herrn Holz mit der Wissensunterlage schlimm bestellt,
so steht es mit seiner Denkkraft noch viel ärger. Das Buch bezeugt eine
geradezu verblüffende Unfähigkeit, von außen zugetragenes aufzunehmen und
innerlich zu verarbeiten. Die gesamte kunstwissenschaftliche Litteratur in einem
halben Jahre abzuthun, ist, wenn da nicht ein bischen Flunkerei mit unter¬
läuft, ein starkes Stück. Später fühlt Herr Holz die Empfindung in sich
aufdämmern, als könnten seine Ideen nur durch eine kritische Zergliederung
des gesamten Materials verarbeitet werden, aber nur, um vor dieser Aufgabe,
die.doch bisher jeder der von den Herren Naturalisten so stark verachteten
„Kunstphilosophen" wenigstens annähernd zu lösen versucht hat, sofort wieder
zurückzuschrecken. Nicht, einmal dazu kommt es, daß ein einzelnes Kunstwerk
auf seine Bedingungen untersucht wird. Er muß, um seine Theorie zu ge¬
winnen, zur „Schmierage" greifen. Eine beißendere Satire auf den Natu¬
ralismus ist nicht zu ersinnen. Dabei die grandiosen Fehlschlusse, aus einer
einzelnen Erscheinung das Gesetz für die Gesamtheit, aus der niedern Gattung
das Gesetz auch für die höher« herzuleiten, weils so bequemer ist! Ja wenn
nicht Logik und Methode ein paar so zudringliche Dinge wären, die man selbst
„auf dein Sofa, bei einer Schale Kaffee und bei einer Zigarre" nicht ganz
los wird! Dann aber, nachdem der große Gedanke, das erlösende Wort ge¬
funden ist, wieder die gleiche Scheu, in ernster Arbeit die Probe auf das
Exempel zu machen: Unwissenheit und Unfähigkeit, Trägheit und Maugel an
Gewissenhaftigkeit reichen einander die Hände. Was Wunder, wenn das „Gesetz,"
das so zu stände gekommen ist, nun' auch darnach ist. „Die Kunst hat die
Tendenz, wieder Natur zu sein — sagt Herr Holz — sie wird es nach Ma߬
gabe ihrer jeweiligen Reprvduktivusbediugnngeu und ihrer Handhabung."
In seinem Jargon heißt das: „Alle Ratten haben die Tendenz, einen Schwanz
zu haben. Sie haben ihn, sofern sie normal geboren sind, und ihnen der
Schwanz nicht abgeschnitten wird."
Herr Holz hat sich sein Gesetz durch eine Folge mathematischer Gleichungen
znsammeneskamvtirt: es heißt also nicht aus dem Tone fallen, wenn wir beim
Rechnen bleiben und dem Naturalismus eine Bilanz vorhalten:
Der Naturalismus wird also gut thun, schleunigst die Liquidation anzumelden.
Für jeden, der Augen hatte zu sehen und Ohren zu hören, stand dieser
Bankerott lange fest. Es war eine sehr „unsolide Firma," dieser Nnturalis-
mns, gegründet in erster Linie ans den Ehrgeiz und die Unfähigkeit einiger
Litteraten, in zweiter Linie auf ein Prinzip, dessen Fadenscheiuigkeit von An¬
beginn an leicht zu durchschauen war. Die Kunst hat gar nicht die Tendenz,
Natur zu sein, sie wird auch nicht Natur, sie ist Natur von vornherein; jede
Kunst ist ein Stück des geschichtlichen Lebens der Völker, ein Stück des ewigen
Werdeprvzesses der Menschheit, ein Ausfluß der Kräfte, die die nuuntcrbrvchne
Entwicklung des menschlichen Geistes bewirken. Eine Kunst, die das nicht
mehr ist, verliert ihre Daseinsberechtigung, sie ist ein dürres, abgestorbnes
Geäst auf dem Baume der lebendigen Geschichte. Wie jeden Zweig des Lebens,
kann man auch sie zum Gegenstande der Betrachtung machen; dann steht man
aber außer ihr, und es handelt sich dabei nicht um künstlerisches Schaffen,
sondern um Wissenschaft. Auch der Naturalist steht nicht in der Natur; um
sie zu kopiren, beobachtet er sie, und wenn er dann etwas geliefert zu haben
glaubt, was Natur ist, so hat er eben vergesse,?, daß Kunst nicht Wissenschaft,
sondern vor allen Dingen Leben ist. Der Naturalismus schafft weder Kunst
noch Wissenschaft, sondern einen Nonsens, der sein Dasein nur künstlich fristen
kann durch Spekulation auf die Gedankenlosigkeit, die Unwissenheit und die
pöbelhaftesten Geschmacksinstinkte der Menge. Diesen sow8 van^s mit nner-
bitterlicher Deutlichkeit veranschaulicht zu haben, ist das Verdienst des Buches
des Herrn Holz. In seinem „Phantasus" hat er sich, wie er selbst sagt, sein
eignes Epitaph gesetzt. „Die Kunst, ihr Wesen und ihre Gesetze" ist das
Epitaph der gesamten naturalistischen Schule. Herr Holz hofft, daß seiue
Theorie eine Wegweiserin sein werde, ohne die es sonst „langsamer gehen
würde." Gewiß; die Toten reiten schnelle. So wenig man auch Veranlassung
hat, Herrn Holz seinen nur mühsam unterdrückten Wunsch zu erfüllen und
vorzuschlagen, er möge mit seinen? Freunde Schlaf ins Irrenhaus gesperrt
werden, so kann man doch so viel sagen: Wer sein neuestes Buch liest und
hinterdrein noch etwas Ernsthaftes vom Naturalismus erwartet, den wird man
der sorgfältigsten Beobachtung feines Hausarztes empfehlen dürfen. Der
Naturalismus selber aber wird selbstverständlich noch eine Weile fortfahren,
zu lärmen, gegen Goethe und andre „Hindernisse" zu toben und die eignen
kleinen Lichter mit vollen Backen anzufachen, solange bis sie einmal alle aus-
geblasen sind und damit eine der traurigsten Episoden aus der deutschen
Litteraturgeschichte verschwunden sein wird. Nun aber wird mau das alles
rin Gemütsruhe an sich vorbeiziehen lassen. Aufregung und Ärger ist nicht
mehr von nöten. Auch Herr Holz hat uus für diesen Fall gewappnet. Wir
verdanken ihm ein paar Verse, die, so wenig geschmackvoll sie auch sind, doch
dein Treiben der jüngsten Deutschen gegenüber geradezu tröstend wirken:
Verloren bist du auf der Welt,
Wenn sich die Dummheit dir entgegenstellt.
Sie setzt Spinoza hinter Löbel Plutus
Und hat die Weisheit aller Zeiten inws.Sie lacht wie ein Cretin dir ins Gesicht
Und lästert alles, nur sich selber nicht.
Und nichts bleibt übrig dir vor diesem Viehchen,
Als sacht dich in dich selber zu verkriechen.
Die Vorgänge in Chile. Der Weisheitsspruch des alten AMm „Alles
schon ennnäl dagewesen" scheitert an den neuesten Vorgängen in Chile.
Daß eine ans den eigentlich konservativen Elementen des Landes bestehende
Partei gegen die Obrigkeit zum Schwerte greift, hat man zwar schon öfter
erlebt; daß sie es aber thut in einer Form, wie es heute in Chile geschieht,
ist zu den Neuheiten zu rechnen, mit denen man At'ihrs Weisheitsspruch
Lügen strafen könnte. Einige Ähnlichkeit, aber nnr eine sehr geringe, hatte das
Prommeiamento des spanischen Admirals Topete, als er im Jahre 1868 auf der
Rhede von Cadiz an Bord eines Geschwaders von Panzcrfregatten die Rebellen-
flaggc hißte. Die Ähnlichkeit ist gering, denn der Vorgang führte nicht zu einem
nennenswerten Kampf mit der bestehenden Macht, sondern zu einem sofortigen
Umsturz, zur Entthronung der Königin und zur Errichtung einer spanischen Republik,
der freilich kein langes Dnsein beschieden war. Ganz anders geartet ist der Her¬
gang, wie er sich in Chile entwickelt hat.
Über die tiefern Beweggründe, die den Parteien das Schwert in die Hand
gedrückt haben, sind die Anschauungen europäischer Politiker geteilt. Wer die Ver¬
hältnisse des chilenischen Staatswesens einigermaßen kennt, wundert sich, wie über
ein Land die Geißel der Revolution hereinbrechen konnte, das als die einzige der
Republiken von Südamerika jedem Besucher den Eindruck der Ordnung und der
Zufriedenheit hinterließ.
Augenblicklich sind die Anklagen der Parteien gegen einander so wirr und so
heftig, daß dem Unbefangenen und Uneingeweihten noch kein Urteil möglich ist.
Über die politische Seite des Kampfes, über Recht oder Unrecht, über die größern
oder geringern Aussichten des Erfolges, sei es der einen, sei es der andern Seite,
hat man noch immer Zweifel zu hegen. So hartnäckig der Widerstand des Prä¬
sidenten Balmaeeda ist, ebenso beharrlich scheint die Kongreßpartei noch immer im
Vorteil zu sein; die Thatsachen aber, die die Aufmerksamkeit des Zuschauers am
lebhafteste» beschäftigt haben, sind die Gefechte, die um der Küste zwischen den gegen¬
seitigen Seestreitkräften, das erstemal in Caldera, das zweitemal vor Valparaiso,
stattgefunden haben.
Auch über diese Gefechte sind genauere und ganz sachlich gehaltene Einzel¬
heiten noch nicht zu uus gelangt. Thatsache ist, daß die rebellische oder sogenannte
Kvngreßpartei vom Anfang ihres Auftretens an über den weitaus größer» Teil
der chilenischen Seestreitkräfte verfügte, mit diesen sogleich eine Art Blockade der
Küste ins Werk setzte und damit fast die ganze Botmäßigkeit über die Seever-
bindung Chiles in Anspruch «ahn. Ohne Gewaltthätigkeiten gegen die Schiffahrt,
auch selbst gegen Neutrale, ist es dabei nicht abgegangen, sodaß mehrere Seemächte,
schließlich auch die deutsche Regierung, Anlaß nähmen, Kriegsschiffe zum Schutz
ihrer bedrohten Interessen dahin zu senden.
Die Regierungspartei verfügte nur über geringe Seestreitkräfte, und das ist
wohl der Grund, weshalb die Schiffe der Gegner nicht immer mit der nötigen
Umsicht verfuhren. Nur ans diese Weise konnte es geschehen, daß das Panzer-
schiff Blanco Eneälada, das im Hafen von Caldera vor Anker lag, von den
Torpedokreuzeru Almirnnte Lynch und Almirante Cvndell unversehens angegriffeir
wurde; nach längeren Geschützknmpf wurde es durch einen Torpedo des Almirante
Lynch in den Grund gebohrt.
Mur muß sich auf die Erzählung der einfachen Thatsache beschränken, weil
fachmännische Berichte, wie gesagt, noch nicht in die Öffentlichkeit gelangt sind; es
ist aber nicht zu leugnen, daß sie als nackte Thatsache zu mancherlei ernsten Er¬
wägungen Anlaß giebt.
Trotz der Erfahrungen des ameriknuischeu Sezessiouskriegcs, der russisch-türkischen
Begegnungen auf der Donau und im Schwarzen Meer, der franko-chinesischen Gefechte
in Ostasien ist der Torpedo noch heute im Seekrieg etwas Neues. Nicht, als ob mau
über seiue Wirkung im Zweifel wäre; jedes Kind weiß nachgerade, daß ein Paket
Schießbaumwolle von einem halben Zentner und darüber, wie der Kopf eiues
solche» Torpedos es enthält, imstande ist, der Seite des stärksten Schiffes ein Loch
von solcher Größe beizubringen, daß es unmöglich ist, es wieder zu verstopfen.
Die Neuheit des Torpedos in der Seekriegführung liegt weit mehr darin, daß nur
auf einem Wendepunkt im Bau von Schiffen und in der damit verlmudeuen See¬
taktik überhaupt zu steheu glaubt.
Mir Länder wie England und Frankreich lag die Frage nicht so, wie für
das deutsche Reich. Dort war man im Besitz großer Panzerschiffe neuester Form,
hier stand man im Begriff, sie sich zu schaffe«, und zauderte. Das neue Element des
Torpedos ließ die Schulmeinnng entstehen, der Ban schwerer Schiffe für den Seekrieg sei
abgethan, und die große finanzielle Wirkung, die mit der Beschaffung solcher Schiffe
verbunden sei, lasse sich vermeiden, wenn man sich mit „ganzer Liebe" dem „neuen
Element" in die Arme werfe. Von unsern Politischen Parteien hat sich namentlich
die freisinnige diese Schulmcinuug zu eigen gemacht, und man kann es ihr nicht
verargen, zumal da sie in diesem Punkte auch dem Einverständnis so mancher
Fachmänner begegnete.
Mit besondrer Genugthuung haben denn nun auch Zeitungen derselben Farbe
die Vorgänge in Chile, namentlich das Sinken des Blaneo Enealada in Caldera
verwertet. Dennoch ist es geraten, sich in dem Urteil über die Bedeutung nicht
zu überstürze«. Das Sinken des Panzerschiffes kann nicht bestritten werden;
7 Offiziere und 150 Mann sind mit ihm zu Gründe gegangen. Es geschah aber nicht
mit dem ersten Schuß, sondern nachdem sechs Torpedoschüsse vergeblich gewesen
waren. Und fragt man, welche Eigenschaften das Panzerschiff besessen, welche
Vorkehrungen es getroffen habe, um sich gegen Torpedvnngriffe zu Schutze«, so trifft
man auf ein fast leeres Blatt. Der Blaneo Euealada war i« de« siebziger
Jahren gebaut, ein sogenantes Kasemattschiff mit Armstrvttgvvrderladern von je
zwölf Tonnen Gewicht und achtzölligem Kaliber, ferner sieben Gatlinglanonen und
vier Einpfünder-Hotchkißrevolvern. Wie von sachkundiger Seite versichert wird
— laut Berichten, wie sie dem Mnrineministerium der Vereinigten Staaten zu¬
gegangen sind —, hatte der Blanco Enealada zur Zeit des Angriffs keine Mu¬
nition für seine leichte Artillerie, was ihn gegen solche Angriffe sehr schwächte.
Seine elektrischen Scheinwerfer, wenn er solche überhaupt hatte, waren nicht in
Ordnung, ein wesentlicher Umstand, da der Angriff bei Nacht erfolgte. Was aber
für ein vor Anker — oder an eine Boje festgemacht — liegendes Schiff die
Hauptschwäche war: von einem Torpedonetz oder einer um das Schiff hernm-
gezogenen Barriere war keine Rede. Man hatte sich in vollkommener Vertrauens-
seligreit offeubnr kei«es Angriffes versehen, vermutlich auch uicht geglaubt, daß
die beiden angreifenden Fahrzeuge uoch zur gegnerischen Seite gehörten.
Ein andrer Umstand, der wohl zu jenem guten Glauben beigetragen hat, mag
der gewesen sein, daß in dein Kriege, der dort noch in aller Erinnerung war,
dem Kriege zwischen Chile und Peru, mit den Fischtorpedos verhältnismäßig wenig
geleistet worden war. Beiläufig hatte sich in jenem Kriege gerade der Blanco
Enealada durch seinen Anteil an der Wegnahme des peruanischen Monitors
Huasear ausgezeichnet. Was die Verwendung von Torpedos in jenem Kriege
betrifft, so waren mehrere Fälle, wo Schiffe den Tvrpedvangriffen auswichen;
so schoß am 27. Nngust 1879 derselbe Huasear einen sogenannten Laytorpedo
gegen den Abtcio; der Torpedo drehte sich aber auf dem halben Wege um und
bedrohte dadurch das eigne Schiff. Dieses wurde nur durch die Geistesgegenwart
eines seiner Offiziere, des Leutnants Diez Canseco gerettet, der, den herankommende«
Torpedo erblickend, über Bord sprang und ihm, untertauchend, mit dem Gewicht
des eignen Körpers eine andre Richtung gab.
Auch mit Spieren- und geschleppten Torpedos hatte man in jenem Kriege
wenig Glück gehabt. Dagegen war das chilenische Schiff Loa durch einen Fisch¬
torpedo zerstört und versenkt worden, den man niittels eines Marketenderbootes
unbemerkt liiugsseit gebracht hatte. Auf ähnliche Weise war es gelungen, das
chilenische Schiff Covadonga zu zerstören. Auf den Arno hatten drei pern-
vinnische Torpedoboote, worunter eins mit dem Namen Fresia, einen Augriff ge¬
macht, der völlig mißglückte, während es dem Arno gelang, das Torpedoboot in
den Grund zu bohren.
Dennoch ist nicht zu verkennen, daß das Sinken des Blaneo Euealada ein
Triumph des Torpedvangriffs ist, und daß die Recht behalten haben, die für die
Überlegenheit des Torpedobootes über das Panzerschiff eingetreten sind. Dem
Einwände, daß es in diesem Fall ein Schiff gewesen sei, das die Schichmaßregeln
versäumt habe, kann man entgegenhalten, daß die Nachlässigkeit ein Kapitel ist,
mit dem man in der Kriegführung immer und auf beiden Seiten rechnen muß,
und daß es an der Thatsache nichts ändert.
Neuerdings hat aber ans der Rhede von Valparaiso ein neuer interessanter
Kampf stattgefunden, der dem Zünglein der Wage wieder eine etwas andre Rich¬
tung zu geben scheint. Dort hat eine der Kongreßpnrtei angehörige Panzerkorvette
Magellnnes einen — wenn man recht unterrichtet ist — sogar mehrstündigen
Kampf mit einer Gruppe feindlicher Torpedoboote oder Torpedokreuzer siegreich
bestanden und die Kreuzer zur Flucht gezwungen. Es ist das ein Ereignis, auf
dessen genauere Einzelheiten man um so mehr gespannt sein muß, als es geeignet
ist, den Schlußfolgerungen von Caldera doch eine andre Wendung zu geben.
Die Sache ist für uns Deutsche von Wichtigkeit, denn es hat sich bei uns
seit ewiger Zeit eine Marinelitteratnr aufgethan, die die gegenwärtige Marine¬
politik der Regierung — namentlich was den Schiffbau angeht — heftig bekämpft,
und die bei einem Teil der politischen Presse kräftige Unterstützung findet. Es ist
deshalb notwendig, den Vorgängen in Chile, wie sie der dortige Seekrieg darbietet,
nicht nur mit Aufmerksamkeit, sondern auch mit nüchternem Urteil zu folgen, damit
der rechte Pfad nicht verloren gehe.
Feldbriese von Georg Heinrich Rindfleisch. 1870/71. Herausgegeben von Eduard
Ornold, Dritte Auflage. Göttingen, Vaudenhoeck und Ruprecht, 183l
Dieses vortreffliche Buch Hütten wir unsern Lesern schon längst empfehlen
sollen. Wir benutzen nun das Erscheinen einer dritten Anfluge dazu. Rindfleisch,
der im Jcchre 1883 als Uuterslaatssekretär starb, war Gerichtsrat in Celle, als der
deutsch-französische Krieg ausbrach. Er wurde als Sekondeleutnant der Landwehr
dem 56. Regiment zugeteilt und machte die Unternehmungen des zehnten Korps
mit, insbesondre die Belagerung von Metz und die Kämpfe an der Loire. Die
vorliegenden Briefe aus Frankreich Hot er an seine Frau geschrieben, sicher ohne
daran zu denken, daß sie nach seinem Tode veröffentlicht werdeu könnten. Daher
die Natürlichkeit nud Ungezwungenheit der Schilderungen, die Fülle von Persön¬
lichen Bemerkungen und interessanten Abschweifungen, die überall einen so fein¬
gebildeten Geist, einen so edeln Charakter, ein so tief angelegtes Gemüt und eine so
unerschütterliche Patriotische Gesinnung offenbaren, daß jeder Leser den Mann lieb¬
gewinnen muß. Man hat diese Briefe des preußischen Landwehrosfiziers den
Briefen von Gneisenau und Klausewitz aus deu Befreiungskriegen an die Seite
gestellt, und das mit vollem Rechte, denn in ihnen sprudelt eine ungetrübte Quelle,
aus der spätere Geschichtschreiber am deutlichsten den Geist kennen lernen werden,
der den gebildeten Deutschen in jener ruhmvollen Zeit beherrschte. Nach allen
Qualen, Entbehrungen und Strapazen des Feldzuges bricht bei ihm doch immer
der fröhliche Gedanke hindurch: Welches Glück, daß mau berufen gewesen ist, diese
Zeit mitfühlend, mitschaffend, anleitend mitzuerleben! Ein ehrlicher Haß gegen
Frankreich geht durch alle Briefe und zeigt sich um so stärker, je weiter er in das
Land eindringt und je naher er mit dem Charakter des französischen Bvlkes be¬
kannt wird. Die Verrohung des Gemüts, die der Krieg mit sich zu bringen pflegt,
hat auf ihn keine» Einfluß ausgeübt; wie einfach und rührend teilt er z. B. seiner
Frau den Tod seines sehr anhänglichen jüdischen Burschen Löwenstein mit: Ich
schrieb dir schon neulich, daß mir damals auch mein guter Löwenstein erschossen
worden ist. Er bekam erst einen Schuß in den Mund, schien aber noch Bewußt
sein zu haben, denn er streckte die Hand wie flehend nach mir aus. Ich gab ihm
die Hand und legte ihn eben still auf die Erde, weil ich sah, daß er zu Tode
getroffen war — da traf ihn ein zweiter Schuß gerade zwischen die Augen, und
nun rutschte er lautlos in sich zusammen. Meine liebe Tilla, das sind eruste und
schwere Bilder! Der arme Kerl hätte seine Pflicht so gern mit Dienstleistungen
aller Art gethan, nnr das eigentliche Fechten war gewiß seine schwächste Seite;
dennoch legte er sich so still und resignirt neben mich nieder und schoß, wie ich
ihn anwies, ruhig und pflichtgetreu, bis ihn der Tod ereilte. Als wir am andern
Tage ans der Chaussee nu der Knmpfstätte vorüber zogen und die Nußbnumkrvueii
aus dem Abendnebel so wehmütig herübersahen. hätte es mir fast das Herz ab¬
drücken mögen, so weh that mir der arme Mensch, der dort die fremde Erde mit
seinem Blute färbte.
u Nummer 5 der Grenzboten haben wir mich den im Neichs-
mizeiger veröffentlichten Berichten einen Überblick über die Arbeiter¬
bewegung am Schlüsse des vorigen Jahres gebracht. Bei dem
allgemeinen Interesse, das diese Bewegung beanspruchen darf,
wird es unserm Leserkreise willkommen sein, wenn wir in ihrer
Besprechung fortfahren.
Die Arbeiterbewegung hat in dein eben verflossene» Halbjahre eher etwas
zu- als abgenommen. Erst gegen Ende des Halbjahres trat ein bemerkbarer
Stillstand ein. der aber wohl nur die Bedeutung eines Waffenstillstandes hat.
Znnüchst ist wieder lebhafter gestreikt worden. An nicht weniger als etwa
hundert Arbeitsstelleu (Bergwerken, Fabriken u. s. w.) wurde die Arbeit nieder¬
gelegt. An diesen Aufständen waren etwa 80009 Arbeiter beteiligt. Es
würde zu weit führen, wenn wir alle Streiks namhaft machen wollten; wir
begnügen uns mit denen, die wegen besonders langer Dauer oder wegen
sonstiger Umstünde von mehr als lokaler Bedeutung gewesen sind. In
ersterer Beziehung sind zu nennen: die Streiks der Former in der Holländi¬
schen Eisengießerei zu Halle, der Tabakarbeiter zu Hamburg (16 Wochen), der
Feuerleute und Trimmer ebenda, der Kohlenzicher in Vremerhafen, der Gold¬
arbeiter in Berlin, der Glaser in Bergedorf (86 Wochen), der Kürschner in
Nötha, der Former in der Töpferei von Esch in Mannheim und der Tischler
in Mainz (21 Wochen). Der Aufstand der Tabakarbeiter in Hamburg griff
vor seinem Erlöschen noch nach den Filialen in Nehme, Rochlitz, Herford und
Minden über. Außerdem fand in diesem Industriezweige ein Streik in der
Fabrik von Jedicke in Dresden statt. .
Im Textilgcwerbe ist in den Fabriken von Zimmermann in Althabendorf
bei Reichenberg, von Kramsta in Bolkenhain, von Reichere und Thoren in
Barmer, in Thalheim in Sachsen und Buhl bei Gebweiler im Elsaß die
Arbeit niedergelegt worden. Ferner haben gestreikt die Getreideträger der
Speicher in Hamburg, Duisburg und Mannheim, die Arbeiter in den Syenit¬
brüchen der Lausitz, die Handschuhmacher in Arnstadt, Hartha und Leberau (Ober¬
elsaß), die Schneider in Lübeck und die Schuhmacher in Hannover und Köln.
In Berlin waren außer deu Goldarbeitern »och die Former in der Metallfabrik
von Löwy ausständig, die Arbeiter in der Tischlerei von Dewitz, in der elek¬
trischen Fabrik von Angerstein, in der Appretnranstalt von Nauer, in der
Lederwarenfabrik von Landes, endlich die Bildhauer der Firma Zeidler und
die Klavierarbeiter der Firma Matz und Komp. In den meisten Fällen betrug
die Zahl der Ansständigen nicht mehr als 100; bei dein Streik der Tabak¬
arbeiter in Hamburg wird sie auf 55000 angegeben.
Mit einer allgemeinen Arbeitseinstellung haben auch wieder die west¬
fälischen Bergleute gedroht. Doch kam es nur auf 42 Zechen zu Teilaus-
stäuden, an denen sich gegen 19000 Arbeiter beteiligt haben. Die Bewegung
griff zwar auch nach dem Saarrevier über, doch war dort die Beteiligung
schwächer; uur auf zwei Zechen sind gegen 1800 Arbeiter ausständig gewesen.
Außerdem haben unabhängig von dieser Bewegung gestreikt: die Belegschaften
der Zeche Trappe in Schilschede in Westfalen, des Eisenbergwerkes Driesbach
bei Siegen, des Braunkohlenbergwerkes Henriette bei Uuseburg, der Zinkhütte
in Lipine und des Schmiedeschachtes bei Gleiwitz. Endlich sind noch die
Streiks der Gärtnergehilfen in Barmer und der Mägde des Rittergutes
Bohlen bei Leipzig zu erwähnen. Sie zeigen, daß allmählich auch die länd¬
lichen Betriebe beginnen, sich an der Bewegung zu beteiligen.
Wenig Erfreuliches ist über das Verhalten der Streitenden zu berichten.
Die meisten Arbeiterschaften haben sich bei Niederlegung der Arbeit des Kontrakt¬
bruches schuldig gemacht. Anscheinend haben nur die erwähnten Gärtner¬
gehilfen die gesetzliche Kündigungsfrist eingehalten. Ans der Kramstaschen
Fabrik wurden sogar die Beamten von den Arbeitern bedroht. Auch in Leberan
und Bremerhaven ließen sich die Streitenden Ausschreitungen zu schulden
kommen. Verursacht wurde die Mehrzahl der Streiks durch Lohuzwistigkeiten,
und zwar namentlich, weil die Löhne herabgesetzt werden sollten. In einem
Falle ist gestreikt worden wegen angeblich schlechter Behandlung und zu lauger
Arbeitszeit, in einem andern, weil eine neue Fabrikordnung, die eingeführt
werden sollte, den Arbeitern unannehmbar erschien. In Nvtha und in der
Fabrik von Esch wurden höhere Löhne verlangt. Die westfälischen Bergleute
kämpften für ihre bekannten Forderungen, achtstündige Arbeitszeit und Mimmal¬
lohn. Die Tabakarbeiter in Hamburg wollten vor allem den Arbeitgebern die
Anerkennung ihrer Organisation aufdrängen. In den Fabriken in Nötha und
von Esch in Mannheim setzten die Arbeiter ihre Forderungen durch. Die
Mehrzahl der Aufstände dagegen ging verloren, namentlich die, die wie die
Streiks in Hamburg, Bergedorf, Mainz und anderwärts (im ganzen 27) von
der Sozialdemokratie zur Parteisache erklärt worden waren. Die Streiks sind
den Arbeitern teuer zu stehen gekommen. Der Lohnausfall ist auf weit über
eine Million Mark zu schätzen; soll doch fast ebensoviel an Unterstntzungs-
geldern von der sozialdemokratischen Parteileituug gezahlt wordeu sein. Allein
die Kosten des Aufstandes der Tabakarbeiter in Hamburg werden auf
400000 Mark angegeben. Eine große Zahl der Ausstäudigeu wurde auch
zeitweise oder dauernd ausgesperrt und hatte Mühe, wieder Arbeit zu be¬
kommen. Die ihnen für die Deiner der Arbeitslosigkeit von der Partei zu¬
gesagte Unterstützung konnte nur in geringem Umfange gewährt werden, da
die Kassen infolge der viele« Streiks erschöpft waren und die veranstalteten
Sammlungen nur wenig einbrachten. In der sozialdemokratischen Presse be¬
gann man daher vor jedem nutzlosen Streik zu warnen, und so faud auch am
Schlüsse des Halbjahres kein nennenswerter Aufstand mehr statt.
Der Aufstand in dein westfälischen Kohlenrevier verdient wegen der ver¬
hältnismäßig stärkern Beteiligung der Arbeiter eine etwas eingehendere Betrach¬
tung. Bekanntlich waren die Bergarbeiter von dem Ausgange des vorletzten
Streiks im Jahre 1889 nur teilweise befriedigt. Sie hatten zwar eine beträcht¬
liche Lohnerhöhung erreicht, es war ihnen aber nicht gelungen, die Einrechnung
der Ein- und Ausfahrt in die achtstündige Schicht durchzusetzen. Ihre Un¬
zufriedenheit wurde durch die ausgesperrten Führer und die Verbandspresse
rege erhalten, und namentlich die sozialdemvkratisch gesinnten drängten immer
wieder zu einem neuen Aufstande. Trotzdem hatte es zu Beginn des Jahres
noch den Anschein, daß es zu keiner neuen Bewegung kommen würde. Aber
schon im Februar begann die Streitlust uuter den Bergleuten wieder zuzu-
nehmen. Die Führer benutzten sogleich diese Stimmung, traten in Bochum
zusammen und beschlossen um ernstlich von den Zechen, und zwar bis zum
20. März, jene Einschränkung der Schicht zu verlangen. Ferner stellten sie
folgende Forderungen auf: 1. Beseitigung der durch das Gedinge hervor¬
gerufenen Ungleichheiten in den monatlichen Verdiensten; 2. Wiedereinstellung
der gemaßregelten Bergleute; 3. Wegfall der Füllkohleu und des Wageu-
nulleus. Die sodann am 15. Februar tiberall stattfindenden Vergarbeiter-
versammlungeu, an denen sich allerdings nicht mehr als ein Drittel der
Belegschaften beteiligte, traten den Beschlüsse!, der Delegirten bei.
Außerdem kämpfte das Verbnndsorgan der Bergarbeiter für die Enteig¬
nung der Zechen zu Gunsten der Arbeiter. Die meisten Zechen hätte» soviel
Ausbeute gebracht, daß das Anlagekapital mit Einrechnung des Zinsverlustes
vollständig gedeckt sei. Sämtliche Bergwerke könnten jetzt von den Bergleuten
betrieben werden. Die Privatkapitalisten seien überflüssig.
Die Zechenverwaltuugeu ließen die ihnen zugesandten Forderungen unbe¬
achtet, lehnten es überhaupt ab, mit den Delegirten als anerkannte« Vertretern
zu Verhandeln und verlangten, daß die Bergleute etwaige Beschwerden einzeln
vorbringen möchten. Sie wiesen nach, daß die Errechnung der Ein- und
Allsfahrt in die achtstündige Schicht eine Minderung der Produktion um
15 Prozent zur Folge haben würde, und behaupteten, daß das Wagennullen
im Interesse der Disziplin nicht zu entbehren sei. Der Abzug der Füllkvhlen
wurde dagegen zustimmend für eine veraltete Maßregel erklärt und deren
Beseitigung, soweit sie noch bestehen sollte, zugesagt. Da die Haltung der
Zechen den Forderungen der Bergleute gegenüber in den wesentlichsten Punkten
ablehnend war, schien ein größerer Aufstand nach Ablauf der erwähnten Frist
unvermeidlich. Doch stellte sich bald heraus, daß der Zeitpunkt für einen
Streik schlecht gewählt war. An einen Erfolg war nicht zu denken. Industrie
und Eisenbahnverwaltimg hatten sich seit langen auf einen neuen Streik vor¬
bereitet und waren reichlich mit Kohlen versehen. Die in Berlin zu dieser
Zeit versammelten Abgeordneten der westfälischen Wahlkreise und die sozial-
demokratischen Parteiführer Singer und Auer reisten daher in das Revier,
um die Arbeiter vor einem unbesonnenen Schritte zu warnen. Zuletzt rieten
auch die Delegirten selbst von einem Streik ab. Den Bergleuten wurde ge¬
sagt, sie sollten zunächst ihre Organisation besser ausbauen. So wurde denn
schließlich die Ruhe nicht gestört.
Aber eine Beruhigung der Arbeiter war damit nicht eingetreten. Das sollte
sich bald zeigen. Am 17. April legte plötzlich die Belegschaft der Zeche Ein¬
tracht-Tiefbau die Arbeit nieder. Die äußere Ursache soll der Verschluß eines
von den Arbeitern zur Ausfahrt benutzten Schachtes abgegeben haben. Dem
gegebenen Beispiele folgten viele Arbeiter der benachbarten Zechen Zentrum,
Maria-Anna, Steinbeck, Fröhliche Morgensonne, Holland III, General-Erb¬
stollen, Hannover II u. s. w. Im ganzen hatten, wie gesagt, 42 Zechen
unter diesen Teilausständen zu leiden. Die Zahl der Ausständigen nahm
bald zu, bald ab. Die höchste Ziffer von 18 895 wurde am 24. April er¬
reicht. Alle Belegschaft«» machten sich wieder des Kvntraktbrnches schuldig.
Die meisten verließen ohne Angabe irgend eines Grundes die Arbeit. Die
Zechen verlangten bis spätestens zum 27. April die Wiederaufnahme der Arbeit
und erklärten den, der bis dahin dieser Aufforderung nicht Folge leisten würde,
für entlassen. Er habe dann zugleich die von der Zeche ihm vermietete Woh¬
nung zu räumen. Außerdem bestimmte der Vorstand des Knappschaftsvereins,
daß alle Genossen dritter Klasse, die ohne Einhaltung der Kündigungsfrist
die Arbeit eingestellt hätten und sie nicht sofort wieder aufnahmen, als aus
dem Verein ausgeschieden cmzuseyeu seien. Damit verloren sie ihre sämtlichen
Einzahlungen und Ansprüche.
Es schien zum äußersten kommen zu sollen. Eine Versammlung von
274 Delegirten, die am 26. April stattfand, und auf der 106 Schächte vertreten
waren, proklamirte den allgemeinen Aufstand. Die Lage war kritisch. Doch
trat eine Spaltung ein. Die evangelischen Bergnrbeitervereine protestirten
gegen jeden Streik, und unerwarteterweise kam auch der andre Teil der
Belegschaften dem Beschlusse der Delegirten uicht nach. So blieb es
denn bei jenen Teilausständcn, sie zogen sich noch bis zum 4. Mai hin,
da erklärte auch der Vorstand des Vcrgarbeitcrverbandes den Streik für
erloschen.
Der Lohnansfall, den die in deu Streik eingetretenen erlitten haben,
ist ans mehrere hunderttausend Mark zu schätzen. Die Zahl der Aus¬
gesperrten wird auf 2000 angegeben. Die Wiedereinnähme zu vermitteln
lehnten die Behörden wegen des von den Belegschaften begangenen Kontrakt¬
bruchs ab. Doch soll die Mehrzahl inzwischen wieder Arbeit gefunden
haben.
Ob die Bewegung als überwunden anzusehen ist, muß die Zukunft lehren.
Es hat den Anschein, als ob die Agitation nachließe und die Führer an Ein¬
fluß eingebüßt hätten. In der letzten Zeit haben noch zwei Bergarbeiter-
Versammlungen stattgefunden. Auf einer zu Camen ist man den Agitatoren
krüstig entgegengetreten.
Außer diesen Aufständen fallen in das verflossene Halbjahr Demonstra¬
tionen der Arbeitslosen, die wiederkehrende Feier des „Weltfeiertages" und
ein allgemeiner Ansturm gegen die Getreidezölle.
In einigen Geschäftszweigen fehlte es seit Beginn des Jahres an Auf¬
trägen. Wenn um auch infolgedessen Arbeiterentlassnngen in größerm Um¬
fange nicht vorgekommen sind, so wurde es doch denen, denen ans irgend
einem Grunde gekündigt worden war, schwer, wieder Arbeit zu finden. Dazu
kam uoch, daß die Bauthätigkeit erst später als gewöhnlich aufgenommen
werden konnte. In den größern Städten fing daher gegen Schluß des Winters
die Zahl der Arbeitslosen merklich an zu steigen und erhielt zugleich durch
den nie versiegenden Zuzug auswärtiger Arbeitskräfte eine stete Vermehrung.
Die sozialdemokratische Parteileitung beutete diese Verhältnisse sofort in agita¬
torischer Weise aus. In Berlin, Dresden, Chemnitz, Magdeburg, Hamburg
und Köln wurden Versammlungen von Arbeitslosen einberufen, und es fanden
sich auch Tausende zusammen. Die herrschende Arbeitslosigkeit wurde als die
ausschließliche Folge der kapitalistischen Produktionsweise und des jetzt gelten¬
de» Lohnsystems hingestellt. Die Zahl der Arbeitslosen wurde in Berlin auf
62000, in Köln auf 12500 und in Dresden auf 18000 angegeben. In
Petitionen an den Reichstag und an die Behörden wurde eine allgemeine
Verkürzung der Arbeitszeit, Darlehen an die Arbeitslosen bis zu 50 Mark,
Speisung ihrer Kinder in den Schulen, auch ein Notgesetz verlangt, das den
Hausbesitzern verbieten sollte, die beschäftiguugsloseu Arbeiter, die die Miete
schuldig blieben, anszuqnartiercn. Hierauf wurden von den Regierungen in
Berlin und Dresden sorgfältige Ermittlungen über deu Umfang der Arbeits-
losigkeit angestellt. Es fand sich, daß die in jenen Versammlungen und Pe¬
titionen angegebene Zahl der Arbeitslosen übertrieben gewesen und in Berlin
höchstens auf 20 bis 25000, in Dresden auf 4 bis 5000 zu schätze» war,
wenn mau uicht die große Zahl der Arbeitsscheuen, die jede Großstadt in sich
birgt, anzahlte. Besondre Maßregeln zur Beseitigung der Arbeitslosigkeit
wurden daher nirgends für notwendig erachtet. In Köln beschlösse» die
städtischen Behörden deu um Arbeit nachsucheudeu Beschäftigung bei einem
Tagelohn von 1,50 Mk. zu gewähren, und es meldeten sich etwa 800 Personen.
In Hamburg wurden durch ein Komitee 1046610 Portionen Mittagessen,
auch Vrvte und Kohlen verteilt. Mit Eintritt der wärmern Witterung und
Wiederaufnahme der Vanthätigkeit ist die Zahl der Arbeitslosen wieder
wesentlich gesunken.
An dem „Weltfeiertage" ist es in diesem Jahre in Deutschland sehr ruhig
zugegangen. Der 1. Mai fiel auf einen Freitag, voran ging am Donnerstage
ein kirchlicher Festtag, Himmelfahrt, und Pfingsten stand vor der Thür. Die
kirchlichen Festtage verursachten einen bedeutenden Lohnausfall, und die Arbeit¬
geber zeigten sich noch weniger als vorm Jahre geneigt, sich einen be¬
sondern Arbeiterfeiertag aufdrängen zu lassen. Diesen Verhältnissen Rechnung
tragend, riet daher die sozialdemokratische Parteileitung, allerdings nicht ohne
Widerspruch der radikalen Elemente, den Genossen davon ab, in diesem Jahre
am 1. Mai die Arbeit auszusetzen. Es ist denn auch in Berlin in allen
Fabriken gearbeitet worden. Doch wurde von vielen Arbeiterschaften beschlossen,
einen Teil des Tagesverdienstes an einen zu gründenden „Maifonds" abzu¬
liefern. Im ganzen sollen dafür etwas über 10000 Mk. eingegangen sein.
Ferner ließ sich die Parteileitung angelegen sein, den Tag wenigstens durch
eine Festschrift deu Arbeiter» in Erinnerung zu bringen, und für den nächsten
Sonntag wurde eine Nachfeier veranlaßt. Es sollten Umzüge und Versamm¬
lungen stattfinden. Die Umzüge wurden in den meisten Städten untersagt.
Einer fand in Hamburg statt, an dein sich gegen ^0000 Arbeiter beteiligten-
Die Versammlungen wurden zwar größtenteils gestattet, waren aber selbst in
Berlin nicht zahlreich besucht. Überall wurde eine von der Parteileitung vor¬
geschlagene Resolution angenommen, worin die achtstiiudigc Arbeitszeit als
Grundlage für jede ernstliche Arbeiterschutzgesetzgebung gefordert wurde. Die
Mehrzahl der Veranstaltungen bewegte sich in dein Rahmen harmloser Ver-
gnügungen (Ausflüge). Eine durchbrechende Begeisterung war nirgends zu
bemerken.
Einen besondern Gegenstand der Erregung bildete noch in dem, letzten
Monate des verflossenen Halbjahres die mehr und mehr sich bemerklich machende
Steigerung der Getreide- und Brotpreise. Im Durchschnitt kosteten in
Berlin nach den Ermittelungen des statistischen Amtes der Stadt fünf Pfund
Roggenbrod
Es ist nicht zu verkennen, daß bei diesen Preisen die niedrig gelohnten Ar¬
beiter bei starker Familie Mühe haben, mit ihren: Verdienst auszukommen.
Diese Preissteigerilngen gaben der von svzialdemokratischer Seite seit Jahren
betriebenen Agitation gegen die bestehenden Kornzölle neue Nahrung. Auf
Veranlassung der Parteileitung wurden im Laufe des Juni in allen größern
Städten Volksversammlungen veranstaltet, in Berlin allein an einem Tage
acht. Diese waren von Tausenden besucht. Es wurde» Resolutionen ange¬
nommen, die verlangten, die Kornzölle zeitweise aufzuheben und zuletzt ganz zu
beseitige,?. Gleichzeitig demonstrirte auch der Freisinn lebhaft gegen die Korn¬
zölle und gab damit diesem Teile der Bewegung eine über die Kreise der
Sozialdemokratie hinausgehende Bedeutung. Auch diese Agitation hat ihr
Ziel uicht erreicht. Bekanntlich hat sich die Regierung nicht zu überzeugen
vermocht, daß eine Suspension der Kornzölle imstande sein werde, die Brot¬
preise sofort zu ermüßigen. Doch wird eine dauernde Ermäßigung von dem
demnächst abzuschließenden österreichischen Handelsvertrag erwartet.
Neben diesen Streiks und Demonstrationen hat es im verflossenen Halb¬
jahre, wie bisher, auch nicht an jener Agitation gefehlt, dnrch die für die
Sozialdemokratie die noch abseits stehenden Arbeitermassen gewonnen werden
sollen, und nicht weniger sind die Anstrengungen fortgesetzt worden, die Or¬
ganisation der Partei zu vervollständigen.
Den geringsten Anhang besitzt die Svzialdemokrntie noch immer unter
der ländlichen Bevölkerung. Um diese zu bearbeiten, sind im Rheinland, in
Westfalen, Sachsen, Hannover besondre Agitationskvmitecs eingesetzt worden.
Diese haben massenhaft unter dem ländlichen Gesinde sozialdemokratische Bro¬
schüren verbreitet. Um sich leichter Eingang zu verschaffen, wurde insbesondre
für die Aufhebung der Gesindevrduung agitirt und auch die Stellung der
ländlichen Betriebe unter staatliche Aufsicht — mit Bezug auf Gesundheit und
Leben der Arbeiter — als nächstes zu erstrebendes Ziel hingestellt. sozial¬
demokratische Versammlungen, meist zum erstenmale und gut besucht, haben
ferner stattgefunden in Bonn, Kirchdetmold (bei Kassel), Ellrich (bei Nord-
Hansen), Duderstadt, Wolfenbüttel, Alt-Götzen (bei Kalau), Prenzlau, Freien-
Walde, Grünberg in Schlesien, Volpersdvrf, Kuuzendorf und Schlegel (bei
Neurode). Die Versammlungen haben gewöhnlich zur Bildung eines allge¬
meinen Arbeitervereins in den betreffenden Ortschaften geführt, die mich als
Vvlksvereinc oder Arbeiterbildnngsvereine bezeichnet werden. Die Flagge soll
selbstverständlich die Ware decken. In Schleswig-Holstein und Württemberg
soll die Sozialdemokratie immer mehr an Terrain gewinnen. Auch auf West-
Preußen hat sich die Agitation geworfen.
Weitere Vorgänge weisen auf ein Erstarken der Organisation der Partei
hin. So sind neue Fachvereine gegründet worden in Leipzig von den Textil¬
arbeitern und Vergoldern und im graphischen Gewerbe, in Stuttgart von den
Nadelarbcitern, in Barmer von den Schmieden, in Mannheim von den Ma¬
trosen und Schiffern, in Hamburg von den Quaiarbeitern. Außerdem siud
allgemeine deutsche Verbände der Nadler, der Kürschner und der Klavier¬
arbeiter in der Bildung begriffen. Der Verband der Sattler umfaßt, obwohl
er erst ein Jahr besteht, bereits 37 Lokalvereine. Kongresse haben abgehalten
die Textilarbeiter in Pösueck, die Tischler in Hannover, die Buchbinder in
Altenburg, die Steinmetzen in Stuttgart, die Maurer in Gotha, die Zimmer-
leute in Halle. Diese Verbandstage waren gut besucht. Es brach die Über¬
zeugung durch, daß der bloß örtlichen eine zentrale Organisation vorzuziehen
sei. Nur die Berliner Maurer verhalten sich noch ablehnend. Ferner ist man
bemüht, die Arbeiter nahestehender Gewerbe durch Kartelle zu vereinige».
Eine Vereinigtlug der Berliner Bauarbeiter ist bereits zu stände gekommen,
sie umfaßt die Maurer, Zimmerer, Töpfer, Maler, Stuckateure, Steinmetzen,
Tapezierer und Bauschläger. Endlich ist der Plan gefaßt worden, alle Ge¬
werbe zu einem Kongresse zusammenzuberufen.
Die weitere Ausbildung der politischen Organisation ist gleichfalls nicht ver¬
nachlässigt worden. Der Vorstand der Partei hat sich, entsprechend den Ve-
stimmuugen des Organisationsentwurfes, neu gebildet. Dagegen scheinen die
Wahlen der Vertrauensmänner noch nicht zum Abschlüsse gekommen zu sein.
Ferner wurden Parteitage in Neumünster (für Schleswig-Holstein), Wriezen
(für Brandenburg), Chemnitz, Magdeburg, Hannover und Köln abgehalten,
die im ganzen gut besucht waren. Auch die Beteiligung deutscher, der Sozial-
demokratie angehörender Bergarbeiter an dem internationalen Bergarbeiter¬
kongresse zu Paris ist zu erwähnen.
Weiter hat die Parteileitung die Art der Beitragseinziehuug verbessert.
Bekanntlich werden von jedem Mitglied eines Fachvereins wöchentlich 10 bis
15 Pfennige an regelmäßigen Beiträgen erhoben. Visher wurden diese ein¬
gesammelt. Jetzt sind Zahlstellen errichtet worden, die Qnittnngsmarken von
10, 20, 30 und 50 Pfennigen verkaufen. Die Beiträge flössen zwar zeit¬
weise etwas spärlich; dennoch ist die Opferfreudigkeit in diesen Kreisen noch
immer als groß zu bezeichnen. So sind allein bei der Hamburger Zentralkassc
in der Zeit vom 20. November bis zum 18. Februar 174850 Mark eingegangen.
Ferner wird berichtet, daß die von den Bergarbeitern an verschiednen
Orten bereits gegründeten Produktenverteilnngsvereine gute Geschäfte macheu.
In Chemnitz und Umgebung hat jeder größere Ort seine Arbeiterhalle, wo
von Sozialisten das Schaukgeschäft schwunghaft betrieben wird. Ähnliche
Konsumvereine werden jetzt in dem westfälischen Kohlenrevier gegründet und
sind auch für das Saarrevier in Aussicht genommen. In Braunschweig beab¬
sichtigt man eine Geuosseuschaftsbäckerei, in Mainz eine Schuhfabrik, in Ham¬
burg eine Tabakfabrik zu gründen. Für diese Unternehmen werden Scheine
bis zu 100 Mark ausgegeben! verboten ist es, mehr als 30 Scheine zu nehmen.
Endlich wird von der Parteileitung auch die Gründung einer Arbeiterakadcmie
geplant.
Auf der andern Seite fehlt es aber auch nicht an Anzeichen, daß die
Bewegung hie und da stockt oder doch nur sehr langsam fortschreitet. Auf
dem Lande wird, wie die Parteipresse selbst zugesteht, der Agitation ein zäher
Widerstand entgegengesetzt. Der Mißerfolg fast aller Streiks hat manchen
Genossen stutzig gemacht. Die Kongresse und Parteitage sind zwar gut be¬
sucht gewesen, weil die Vertrauensmänner hierfür Diäten aus der Parteikasse
beziehen. Weniger ist dies von den Volks- und Arbeiterversammlungen, die
z.B. in Köln, Leipzig und Solingen stattgefunden haben, zu sagen. An
diesen haben sich, statt der frühern Tausende, stets nur wenige Hundert be¬
teiligt. In Offenburg gelang es in einer solchen Versammlung dem Land-
tagsabgeordneten Muser, mit Erfolg den sozialdemokratische» Wortführern ent¬
gegenzutreten. Wo Nachwahlen zum Reichstage stattfanden, vermochte die
Partei meist nicht mehr ihre frühere Stimmenzahl zu erreichen. Zum Teil
muß dies allerdings auch auf Wahlmüdigkeit zurückgeführt werden, denn die
Beteiligung an den Wahlen war auch bei den andern Parteien schwächer.
In vielen Gewerben halten anch die Arbeiter mit ihrem Beitritt zum
Fachvereine noch zurück. In Leipzig gehören von mehrern tausend Holz¬
arbeitern mir 400 dem Fachvereiu an. Ein Versuch, im Papiergeschäft dort
eine» Fachvereiu mit ausschließlich weiblichen Mitgliedern zu gründen, scheiterte.
Der Kongreß der Zimmerleute in Halle gesteht den Rückgang der Mitglieder¬
zahl von 13000 auf 10000 zu. In Berlin, wo im Schneidergewerbe an
40000 Arbeiter beschäftigt werden, waren die Fachversammlungen so schlecht
besucht, daß sie eingestellt werden mußten. In Chemnitz sind drei hervor¬
ragende Führer der Partei ausgeschieden. Sie solle» müde geworden sei»,
mit dem Unverstand, dem Eigennutz und dem Ehrgeize der sich vordrängenden
Genossen einen vergeblichen Kampf zu kämpfen. In dem westfälischen Kohlen¬
revier verschwanden zwei der hauptsächlichsten Agitatoren, der eine nahm die
ganze Parteikasse mit. In der Streikzentralkommission in Berlin fehlte in
den Sitzungen regelmäßig die Mehrzahl der Delegirte». Die Beschwerden
über die Parteileitung werden immer lauter. Auch wird behauptet, daß der
Einfluß Bebels und Liebknechts auf die Partei mehr und mehr dnrch deu
singers und Alters zurückgedrängt werde. Und endlich soll sich die neue
Organisation nicht bewähre», weil sie den Führern zu Gunsten der übrigen
Genossen zu viel zumute.
Die unglücklich geführten Streiks haben die Kassen so erschöpft, daß die
große Zahl der allsgesperrten Arbeiter nur mit Mühe weiter unterstützt werden
kann. Die Opferfreudigst innerhalb der Partei ist nicht bei allen Mitgliedern
gleich. So haben die Berliner Genossen, als es sich an die Unterstützung
des für die Erhaltung der Organisation so wichtigen Streiks der Hamburger
Tabakarbeiter handelte, nicht ein Zehntel der Summe aufgebracht, auf die sie
eingeschätzt waren.
Auf der andern Seite nimmt die Zahl der evangelischen Arbeiterver-
eiiiigungen zu. Neue Vereine sind in Eula bei Borna, in Potschappel bei
Dresden und in Magdeburg gegründet worden. Aus Baiern, Württemberg
und Hessen werden neue Beitrittserklärungen gemeldet. In Berlin ist der
katholische Gesellenverein wieder ausgelebt, und auch im Posischen wird mit der
Gründung von katholischen Arbeitervereinen vorgegangen.
Das Bild, das die Arbeiterbewegung des verflossenen Halbjahres bietet,
ist wenig erfreulich. Zwar ist es nirgends zu größern Ausschreitungen ge¬
kommen, aber dem sozialen Frieden sind wir nicht viel näher gerückt. Ihm
steht vor allem entgegen die geringe Reife, die die Arbeiter gewöhnlich bei
der Beurteilung der wirtschaftlichen Verhältnisse zeigen. Denn nur so läßt
sich die große Anzahl der meist in leichtsinniger Weise und angeblich sogar
oft gegen den Willen der sozialdemokratischen Parteileitnng begonnenen Auf¬
stände erklären. Besonders bedauerlich ist es, daß die Ermahnungen der
Behörden und der Presse meist nicht vermocht haben, die Ausständigen vom
Kontraktbruch abzuhalten. Dadurch haben sich die Arbeiter von vornherein
ins Unrecht gesetzt, selbst da, wo der von ihnen aufgenommene wirtschaftliche
Kampf der innern Berechtigung nicht entbehrte.
Mail konnte geneigt sein, sich über das jetzt erlangte Übergewicht der Arbeit¬
geber und die eingetretne Waffenruhe zu freuen, wenn es nicht den Anschein
hätte, als ob die Ruhe nur von kurzer Dauer sein sollte. In eiuer Reihe voll
Gewerben wird an einzelnen Orten von den Arbeitern vorgeblich wegen Lohn-
drückerei bereits wieder eine neue Bewegung angekündigt. Dies ist zu beklagen,
wenn mau sieht, welche Uusummeu diese wirtschaftlichen Kämpfe verschlingen.
Auch ist es augenscheinlich verfrüht, von einem Rückgänge der Sozial¬
demokratie zu sprechen. Der Versanunlungsmüdigkeit, die sich bei den Partei¬
genossen in letzter Zeit bemerkbar gemacht hat, sowie dem Rückgänge der
sozialdemokratischen Stimmen bei den Nachwahlen zum Reichstage ist keine
große Bedeutung beizulegen. Es ist schwer, sich vorzustellen, daß die un¬
unterbrochen fortgeführte und ausgedehnte Agitation ohne jeden Erfolg sein
sollte. Man wird vielmehr annehmen müssen, daß die Durchdringung der
untern Volkskreise mit sozialdemokratischen Ideen stetig vorschreitet und es
nur auf die übrigen politischen Verhältnisse ankommen wird, wann und in
welchem Maße sich diese geltend machen werden.
Man kaun auch nicht daran glauben, daß die Sozialdemokratie, ihre Ziele
auf dem Wege der Revolution zu erreichen, gänzlich aufgegeben haben sollte.
Der einundsiebziger Aufstand der Pariser Kommunisten ist wenigstens von der
Partei um 18. März auch in diesem Jahre wieder in Wort und Schrift ver¬
herrlicht worden. Das Möglichste hat in dieser Beziehung die Nummer 11
der „Berliner Volkstribüne" geleistet.
Zwar wird es allem Anscheine nach der Sozialdemokratie niemals ge¬
lingen, die Arbeiterschaften vollständig und straff zu organisiren. Aber die
vorhandenen Vereinigungen sind leider schon stark genug, ein befriedigendes
Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeiter zu verhindern.
Die Frage, wie sich diese wirtschaftlichen Kämpfe einschränken lassen, ist
noch immer ungelöst. Zunächst wird man abwarten müssen, welchen Einfluß
das im verflossenen Halbjahr ebenfalls zu stände gekommene Arbeiterschutzgesetz
auf die weitere Haltung der Arbeiter haben wird.
Von verschiedner Seite hat mau bekanntlich vorgeschlagen, bei der Fest¬
setzung der Löhne, da diese bei den jetzigen verwickelten wirtschaftlichen Ver¬
hältnissen besonders schwierig ist, besondre Einrichtungen, die aus Vertretern
der beteiligten Arbeiter und Arbeitgeber zusammengesetzt sein sollen, mitwirken
zu lassen, und es ist möglich, daß dadurch am ehesten den Lohnstreitigkeiten
und dadurch deu Streiks vorgebeugt werden kann. Vor allem müsse» die
Arbeiter etwas bescheidner werde». Bis dahin wird die ganze Bewegung
und die Gesetzgebung noch manche Phase durchzumachen haben.
us selbstbewußte Gefühl des Pharisäers, der bei dem Blick auf
den sündigen Zöllner stolz auf die Brust schlägt und sich rühmt,
nicht zu sein wie dieser eiuer, machte sich vor einigen Monaten
in der deutschen Presse aller Schattirungen in tönenden Worten
oder doch zwischen den Zeilen recht aufdringlich bemerkbar, als
jenseits der Vogesen wieder einmal ein „Sensationsprozeß" die Teilnahme der
gebildeten wie der ungebildeten Welt lebhafter in Anspruch nahm als die
wichtigsten Vorgänge in der Politik. Der Prozeß „Eyraud und Gabriele
Vompard" mit seinen halb grausigen, halb pikanten Einzelheiten war in der
That ein Leckerbissen für den überreizten Gaumen der Pariser, bei dessen
Anblick ihnen das Wasser im Munde zusammenlaufen und das tägliche Brot
sie anekeln mußte. Die Presse stellte sich willig in den Dienst des öffentlichen
Bedürfnisses und veröffentlichte als getreue Magd der niedrigsten Neugier
und des Wohlgefallens an unsittlicher Aufregung ganze Spalten von Berichten,
die um das Haupt der Verbrecher, wenn nicht eine Märthrerkroue, so doch
den prunkenden .Kranz einer Tagesgröße wanden. Die Zelle, die den Mörder
umfing, wurde zum Empfangsraum für Zeileuschreiber, und das verworfene
Frauenzimmer, dessen Mitwirkung an der Unthat dem Ganzen den feinsten
Reiz für den Kenner verlieh, hätte gewiß auf irgend einem Vorstadttheater
ein passendes Unterkommen gefunden, wenn nicht das Gericht dem durch die
Zeitungen so angenehm erregten wollüstigen Grausen der Menge gar so wenig
Rücksicht entgegengebracht hätte.
Die deutsche Presse hatte damals für diese Verirrungen ihrer Kollegen
an der Seine und der anfregungslustigen Menge ein einmütiges, bedauerliches
Achselzucken, das auf den Philister entschieden beruhigend und erhebend wirken
mußte. Mit dem erwähnten angenehmen Pharisäergefühl konnte er, ohne es
als solches zu erkennen, in behaglicher Ruhe am Frühstückstisch seine Zeitung
lesen und den Abschnitt „Gerichtssaal" mit besonderm Wohlgefallen zu sich
nehmen. Denn das war doch etwas ganz andres, besseres und gediegneres
als jene verdammenswerten Pariser Plaudereien aus dem Hofe der Assisen.
Da standen interessante Fälle, über die die Rechtsgelehrten und die richter¬
lichen Behörden sich selbst nicht klar oder doch wenigstens nicht einig waren,
namentlich waren die Fülle aus dem bürgerlichen Recht für den Mieter, für
den Händler, den Hausbesitzer recht lehrreich, und man konnte darüber nach¬
denken, wie schön und praktisch doch alles in unserm privaten und öffentlichen
Leben von Staats wegen eingerichtet sei, oder noch besser mit Behagen dar¬
über schimpfen, daß dein leider noch nicht so sei, und daß alles noch besser
werden müsse.
Wir wollen den biedern Philister in seinen Betrachtungen nicht stören,
müssen aber dennoch behaupten, daß unsre Presse keinerlei Anlaß hat, sich
gegenüber dem französischen Vorbild in den Mantel der Unschuld zu hüllen
und sich darin zu brüsten. In ihrer Stellung zu den Vorgängen vor Gericht,
namentlich vor den Strafkammern und Schwurgerichten nimmt die deutsche
Zeitung unstreitig einen ernstern, der Sache mehr angemessenen Standpunkt
ein, als die französische, selbst wenn wir das durch die Stammeseigenart ge¬
steigerte Sensativnsbedürfnis des Südländers als Milderungsgruud in An-
rechnung bringen; aber davon, daß alles hier so wäre, wie es sein sollte,
davon sind wir doch weit entfernt.
Vor allem gilt dies von den Berichten der Presse ans dem Bereiche des
Strafrechtes. Man darf ohne weiteres behaupten, daß die wesentlichen Be¬
stimmungen desselben dem öffentlichen Bewußtsein so tief eingeprägt sind wie
die zehn Gebote, und daß die Fälle von Vergehen oder gar Verbrechen, die
ans Unkenntnis des strafrechtlichen Teiles des Gesetzes begangen werden, zu
den großen Seltenheiten gehören. Der Zweck also, der in Fragen z. B. des
bürgerlichen Rechtes, des Handelsrechtes ohne weiteres als ein nicht nur be¬
rechtigter, sondern sogar geforderter zugestanden werden kann, zu belehren und
zu unterrichten, kann bei der überwiegenden Zahl der strafrechtlichen Fälle
nicht in Betracht kommen. Welches „öffentliche Interesse" also — denn dieser
molluskenhafte Begriff soll ja das Leidwort für alle Unternehmungen der Presse
sein — rechtfertigt die Mitteilungen aus dem „Gerichtssaal"? Man entgegnet
vielleicht, die Öffentlichkeit des strafrechtlichen Verfahrens habe auch die Ver¬
öffentlichung der Gerichtsverhandlungen durch die Zeitung zur logischen Folge.
Da nicht jedermann diesen Verhandlungen beizuwohnen Zeit und Gelegenheit
habe, thue die Zeitung, das Mädchen für alles, nichts weiter als ihre ver¬
dammte Pflicht und Schuldigkeit, wenn sie jedem Diebe und jedem Raufbold
einige Zeiten widme. Und da der Mangel an Raum den Tageszeitungen
nicht gestatte, diesem Zweige des öffentlichen Lebens genügende Pflege ange-
deihen zu lassen, sei es nicht mehr als billig und entspreche es einem „tief
gefühlten Bedürfnis," wenn besondre Gerichtszeitungen den Begriff der Öffent¬
lichkeit des strafrechtlichen Verfahrens nach Möglichkeit zu verwirklichen trach¬
teten. Gewiß, eine seltsame Auffassung von dem Zwecke des öffentlichen Ver¬
fahrens, aber doch nicht seltsam und abgeschmackt genug, als daß sie nicht
ihre Verteidiger finden sollte. Und selbst wenn sie berechtigt wäre, hatte
doch die Presse noch lange keine Veranlassung, sich ihr dienstbar zu machen,
wenigstens nicht die Presse, die von dem Begriffe des „öffentlichen Inter¬
esses" eine eigne Meinung hat und nicht jeden Wunsch des Lesers zur Richt¬
schnur nimmt. Das öffentliche Verfahren vor Gericht gehört in unsrer Zeit
zu den Thatsachen, deren Daseinsberechtigung anzuzweifeln oder auch nur ein¬
schränken zu wollen einer Majestätsbeleidigung der „öffentlichen Meinung"
gleichkäme. In Wirklichkeit steht freilich auch dieses gepriesene Ideal unsrer
Zeit nur auf dem Papier. Denn noch ist der Nichtertisch nicht unter freiem
Himmel aufgeschlagen, noch verschließen Rücksichten der Sittlichkeit, die leider
in einer beschränkten Weitherzigkeit meist nur das Gebiet des Grobsinnlichen,
des Geschlechtlichen berühren, dem Neugierigen die Thüren des Gcrichtssaales.
Hat nnn die Presse einen sachlich stichhaltigen Grund, die Schranken, die oft
die Lage der Verhältnisse giebt, zu erweitern oder dein Wißbegierigen den Weg
in den Gerichtssaal zu ersparen? Wir mochten diese Frage im allgemeinen
verneinen und eine Bejahung uur in wenigen Fällen zugeben, für deren Ein¬
treten einige Grundsätze später aufgestellt werden sollen. Die Art und Weise
der Rechtsprechung, die durch die Verhältnisse verursachte geschäftsmäßige
und nicht allenthalben dein Begriffe eines Laien von der Würde eines Gerichts¬
hofes entsprechende Erledigung der Formalitäten, der Vereidigung und der
Fällung der Urteile diene» um und für sich wenig dazu, das Ansehen des
Gerichtshofes mit jenem Nimbus des Ernstes und der Bedeutung zu umgeben,
den man für wünschenswert halten muß. Widmer nun die Zeitungen, um
der Neugier entgegenzukommen oder ans Mangel an bessern: Stoffe, den
Berichten ans der Strafkammer täglich ganze Spalten, wie dieses namentlich
in kleinen Provinzblättern der Fall ist, so dient dieses Alltägliche, Gewohn¬
heitsmäßige noch weniger dazu, das Ansehen der Strafrechtspflege zu fordern,
vielmehr dürfte dein Leser leicht der Eindruck werden, als gehörten so und so
viel Vergehen unausbleiblich zur Tagesordnung. Der abschreckende Eindruck
einer Rechtsverletzung wird ebenso geschwächt wie der Achtung heischende Ein¬
druck eiues Nechtssprnches. Erwägt man ferner, daß sich der Leserkreis solcher
täglich sich wiederholenden Berichte aus der Strafkammer zu einem nicht geringem
Teil aus solchen zusammensetzt, die mit dem Strafrichter bereits diese oder jene
unliebsame Berührung gehabt haben, so wird man sich billig fragen indessen,
ob die Presse die Aufgabe habe, diesem Kreis eine besonders fesselnde Unter¬
haltung zu bieten. Mag man auch diesen Gesichtspunkt als unwichtig be¬
trachten, so wird man sich doch der Beweiskraft der Behauptung nicht ent¬
ziehen wollen, daß der tägliche Bericht vou Verbrechen, wenn auch die Mit¬
teilung der Strafe sittlich wirken sollte, kein geeigneter Unterhaltungsstoff für
die Menge ist. Und mehr ist in der Regel der „Gerichtssaal" nicht als
Unterhaltungsstoff, der bei einer großen Zahl von Lesern unmittelbar hinter
dein spannenden Roman unter dem Striche kommt.
Dieser unleugbar vorherrschenden, schlechten Wirkung der Strnfkammer-
berichte gegenüber kommt die etwaige gute kaum in Betracht. Das Ein¬
treten einer sittlichen Beeinflussung des Lesers mochten wir als eine der
seltensten Erscheinungen betrachten und auch dem Einwürfe, daß das Gewicht
eiues richterlichen Urteils durch Bekanntmachung in der Presse für den Thäter
wesentlich erschwert werde, eine besondre rechtfertigende Kraft'nicht beimessen.
Gewiß ist es eine häufige Thatsache, daß die Veröffentlichung eines Urteils¬
spruches in den Blättern mehr noch gefürchtet wird, als die Strafe selbst.
Es läßt sich in unsrer Zeit des Verkehres so leicht vertuschen, wenn jemand
seinen üblichen Wirkungskreis auf längere Zeit mit stiller Zurückgezogenheit
von den Geschäften vertauscht, und auch die Spuren eines solchen geheimnis¬
vollen Minus in dem öffentlichen Lebenslauf lassen sich verwischen, man
mag dies sogar, je nach den Verhältnissen, für wünschenswert, immer jedoch
für ein begreifliches Bestreben halten. Diese Bemühungen aber des Ver-
tuschens werden durch die Thätigkeit der Presse, die den gebrandmarkten
Namen tausendfach vervielfältigt in die Welt hinaufruft, erschwert, wenn nicht
erfolglos gemacht.
Das juristische Recht, so in das Leben des einzelnen, wenn auch der
Schuldbeladener, einzugreifen, kann der Presse nicht bestritten werden, gewiß
aber das sittliche, und ob ein den entscheidenden Stellen das Maß sittlichen
Rechtsgesühles vorhanden ist, um die Frage, ob die Verbreitung des Urteiles
angemessen sei, zu beantworten, darüber darf mau umso mehr im Zweifel sein,
als auch uur eine ausreichende Kenntnis der maßgebenden Verhältnisse kanui
jemals vorhanden sein wird. Die Leute, denen das traurige Los beschieden
ist, ihr Brot durch Berichte über das Schicksal von Übertretern der Gesetze,
von Verbrechern zu verdienen, stehen meist auf eiuer niedrigen Bildungsstufe.
Das Bewußtsein der Erfüllung einer hohen und heiligen Pflicht, das den
Richter selbst bei den trockensten und tagtäglichsten Fällen in eine ideale Em¬
pfindung erhebt, kann sie nicht erfüllen, und unausbleiblich stellt sich bei
ihnen der Hunger nach anziehenden und darum einträglichen Fällen ein.
Was diese bedauernswerten Diener der Öffentlichkeit zusammenschreiben, nach
Wert oder Unwert zu prüfen und zu richten ist meist Aufgabe eines Mannes,
der den Thatsachen selbst so fern steht, daß er nicht beurteilen kann, wie der
sittliche Eindruck einer Veröffentlichung für den Thäter beschaffen sein wird.
Wie die richterlichen Behörden über diese gewissermaßen nachrichtcnde und ihren
Spruch beschwerende Thätigkeit der Presse denken, darüber wäre eine Be¬
lehrung von maßgebender Seite aus sehr erwünscht, da es sich hier um eine
recht bedeutsame Frage des öffentlichen Lebens handelt. Nach unsrer Meinung
und nach den beschriebenen Verhältnissen ist der sittliche Nutzen der Preßberichte
für den Betroffenen ebenso zweifelhaft, wie die sittliche Berechtigung der Presse,
in der angedeuteten Richtung zu wirken.
Allen diesen Betrachtungen liegt in erster Reihe der rein sachgemäße und
ernst gehaltene öffentliche Bericht über Verhandlungen vor der Strafkammer
und vor dem Schwurgericht zu Grunde. Nach dem Gesagten können die
Ausartungen dieses Zweiges der Preßthätigkeit mit wenigen Worten abgethan
werden. Zu thuen rechnen wir vor allem die sensationelle Ausbeutung schwerer
Und gemeiner Verbrechen, deren Zweck der Sinnenkitzel entweder nach der
Seite des Grausigen oder Geschlechtlichen ist. Leider bietet unsre Presse in
dieser Richtung schon recht Erkleckliches, und sie hat durchaus keine Veran¬
lassung, im Pharisäerstolz nach Paris zu blicken. Sie sollte lieber vor der
eignen Thüre kehren. Nicht, als ob alles Aufsehenerregende totgeschwiegen
werden sollte. Im Gegenteil. Vorgänge, wie sie jetzt der Bochnmer Prozeß
zur Sprache gebracht hat, müssen im öffentlichen Interesse enthüllt und frei
und offen behandelt werden, und auch ein Prozeß wie der Londoner Spiel-
Prozeß verdient, so unliebsames er entdeckt, bekannt zu werden. Freude an solchen
Enthüllungen hat nur die Gemeinheit und das engherzige Standes- und Partei-
interesse. Das höhnische Grinsen aber dieser Schadenfrohen darf nicht davon
abhalten, Dinge von eingreifender gesellschaftlicher Bedeutung offen und überall,
selbstverständlich mit dem der Sache entsprechenden Ernste, zu behandeln.
Daß das überall geschehen sei, kann nun aber nicht behaupten. Der Bochumer
Prozeß, so sehr er im Parteiinteresse aufgebauscht wird, bedeutet ebenso wie
der Prozeß Cumming ein ernstes Mene Tekel für die besitzenden Klassen,
die das Wort der Sozialreform so gern im Munde führen, und darum
müssen sie bekannt werden. Ein andres aber ist es mit jenen schauerlichen
Mvrdprozessen, deren Beschreibungen dnrch die Blätter wandern. Große Zei¬
tungen, die stolz unter der Flagge der Nechtsbelehrnng segeln, die Gcrichts-
zeitungen leben geradezu von diese» und andern Sensativnsprozessen; das erste
Blatt solcher Organe wird mit Vorliebe mit dem Bilde eines Mörders oder
Ehebrechers geschmückt, meist schauerlichen, elenden Holzschnitten, die nächste
Seite enthält einen genauen Situationsplan des Hauses, worin die That ge¬
schehen, und auf der dritten steht womöglich ein Aufruf zur Unterstützung für
irgend ein Individuum, das wegen Mangels an Beweise!, freigesprochen
werden mußte. Den Stoff müssen die Verbrecher der ganzen Welt bieten.
Verfaßt aber sind die Berichte mit einem Eingehen in widrige Einzelheiten
und mit einer Sachkenntnis, daß sich bisweilen der Verdacht aufdrängt, sie
seien von einem jener Individuen geschrieben, die in den Gerichtssälen größerer
Städte unter dem Namen „Kriminalstudenteu" wohlbekannt sind. Man muß
sich wundern, daß diese Gattung der treuesten lind aufmerksamsten Besucher
der Gerichtssäle sich uicht vermindert, da es ihnen doch dnrch die Presse,
nicht nnr durch die Gerichtszeitnngen, so leicht gemacht wird, sich die wünschens¬
werten Kenntnisse z» verschaffen. Es ist eine in den Kreisen der Kriminalisten
wohlbekannte Thatsache, daß des öfter» Individuen dnrch Lesen der Pre߬
berichte sowohl wie entsprechender Romane zu verbrecherischen Thaten angeregt
und über die Kniffe zu einer geschickten Ausführung belehrt worden sind.
In der That ein eigentümliches „öffentliches Interesse," dem sich die Presse
dienstbar macht! Zahlreiche und auch sogenannte „gute" Blätter entfalten in
dieser Richtung eine Wirksamkeit und Rührigkeit, die dein geriebenste» Ver¬
fasser von Hintertreppeuromaiieu alle Ehre mache» würde.
Wie soll sich nun die Presse dein Gerichtssaal gegenüber stellen? In
erster Reihe gewiß vorbeugend, das heißt i» schwierige» Frage» des Zivil¬
rechts u»d, soweit dieses in Betracht kommen kann, auch des Strafrechtes
belehrend und warnend. Dann aber, im Einvernehmen mit den Behörden,
was durchaus erforderlich ist, soll nicht mehr Schaden als Nutzen gestiftet
werden, soll sie zur Entdeckung und Erreichung des Verbrechers mitwirken,
eine Aufgabe, deren Lösung vielleicht für deu Leser weniger unterhaltend,
dafür aber um so mehr im öffentlichen Interesse ist. Bei der Rechtsprechung
aber wird sich die ernste Presse vor allein von dem Gesichtspunkte der Sitt¬
lichkeit leiten lassen müssen, sowohl in Bezug auf den Verbrecher, wie ans
den Leser. Wenn dem ersteren dnrch Bekanntmachung einer ans Grund aus¬
reichender Beweise erfolgten Freisprechung gedient werden kann, worüber bei
dein Betreffenden selbst leicht Auskunft zu erhalten sein wird, so soll die Presse
ihres Amtes walten. Verurteilungen in landläufigen, uninteressanter Fällen
bleiben am besten verschwiegen oder werden nur mit einer kurzen Erwähnung
abgethan. Schwere Fälle aber, besonders dreiste Diebstähle, Morde, Kuppel¬
prozesse sollten nur mit gebührendem Ernste und mit entsprechender Tendenz
behandelt werden, wie denn jede humoristische Behandlung gerichtlicher Vor¬
gänge, etwa nach Art der Berliner „schnoddrigen" Gcrichtsszenen als in das
Gebiet des groben Unfuges gehörend, verpönt werden sollte.*) Im allgemeinen
wird die Entscheidung der Frage, was mitzuteilen sei oder nicht, eine Frage
des leider wenig verbreiteten Taktgefühles sein und bleiben müssen, so lange
nicht die bei dieser Frage beteiligten Behörden Schritte thun, sich eingehend
mit einem Gebiete des öffentlichen Lebens zu beschäftigen, ans welchem that¬
sächlich schwere Mißstände herrschen.
me italienischen Kämpfe im Anfange des vierzehnten Jahr¬
hunderts, die wir im vorigen Abschnitt erwähnten, führten einen
sehr wichtigen Wendepunkt der Weltgeschichte herbei. Mit des
Luxemburgers Römerzuge scheiterte endgiltig die Jdealpolitik der
mittelalterlichen Kaiser, und im Widerstande dagegen erwachte
der Gedanke einer italienischen Nationalpolitik.
Es ist sonderbar, daß sich in der reichen, das große Ereignis betreffenden
Litteratur jener Tage außer dem bekannten Briefe Dantes an Heinrich kein
Zeichen eines Verkehrs zwischen beiden findet; es wäre unnatürlich, wenn zwei
hervorragende Männer, deren Gedankenkreise und Lebensziele so vollständig
übereinstimmten, drei Jahre in geringer Entfernung von einander zugebracht
hätten, ohne in lebhaften und innigen Gedankenaustausch mit einander zu
treten. Es ist hier nicht der Ort, das politische System, das sich Dante in
selbständiger Verwertung und Umgestaltung aristotelisch-scholastischer Gedanken
aufgebaut hatte, ausführlich zu entwickeln, aber den Grundriß müssen wir
wenigstens zeichnen. Man bekommt hie und da Erwägungen über die Frage
zu lesen, ob Dante der letzte mittelalterliche oder der erste moderne Mensch
gewesen sei. Ich erkläre mir diese läppische Frage daraus, daß die Männer,
die sie aufwerfen, auszer der Göttlichen Komödie kein mittelalterliches Buch
kennen und das Mittelalter für ganz unvernünftig, die Neuzeit für vernünftig
halten; da sie nur in Dante einige ganz vernünftige Ansichten finden, so
kommt er ihnen ein wenig modern vor. Der letzte mittelalterliche Mensch
war er freilich nicht, denn die Herren vom IInivor8, Edmund Jörg und Ouro
.Klopp sind ja anch noch da, von den Päpsten und den Jesuiten gar nicht
zu reden, aber ein mittelalterlicher, orthodox römisch-katholischer Mensch war
er durch und durch. Die Kaiseridee, in der er lebte und webte, ist, weil die
Ergänzung der hierarchischen, ohne diese gar uicht zu denken. Was Alfred
von Neumond in Beziehung auf Florenz sagt, daß Dante diese seine Vater¬
stadt in zürnender Liebe und liebendem Zorne gescholten habe, das trifft auch
beim Papsttum zu: nicht dem Institut gelten seine Strafreden, sondern dessen
seiner Ansicht nach unwürdigen Vertretern und dem Abfall von der Idee. Zu
diesem Abfall nun rechnet Dante auch den Kampf der Päpste gegen die Kaiser,
da ohne das Kaisertum auch die Kirche, das Reich Gottes auf Erden, uicht
bestehen könne. Denn im Gottesreiche, so führt er im ersten Buche seiner
Schrift v<z Noimrolüg, aus, soll der Mensch seine höchste Bestimmung erreichen,
die in der Entfaltung der Erkenntniskraft zur gottähnlichen Weisheit bestehe.
Diese Erkenntnisthütigkeit erfordere aber Ruhe und Sicherheit des Daseins,
daher sei der Friede das höchste Ziel aller Politik. (Dante meint also eigentlich,
alle Menschen müßten Philosophen und die Erde ein einziges großes, stilles
Studirzimmer werden; die Leser wissen, daß wir ungefähr das Gegenteil für
richtig halten.) Der Universalfriede könne aber nur durch einen Universal¬
monarchen gesichert werden. Denn so lange noch zwei gleichberechtigte Fürsten
auf Erden vorhanden sind, können sie mit einander in Streit geraten. Aber
udlouncuic! potout vsss litiAium, ibi clöbst vsss ^'uclieium; sonst würde an
dieser Stelle des Weltalls etwas Unentbehrliebes fehlen. Das ist nicht möglich,
da Gott nichts Unvollkommenes schafft. Demnach muß zwischen und über
jenen ein Höherer stehen, der keinen andern mehr weder über noch neben sich
hat. Nur dieser Höchste kann gerecht richten, also die wichtigste Herrscher¬
pflicht vollkommen erfüllen. Denn alle Ungerechtigkeit entspringt ans der
Begierde. Der Universalmouarch aber, dessen Reich keine andre Grenze kennt
als den Ozean, besitzt alles, kann also nichts mehr begehren, noch durch selbst¬
süchtiges Interesse von der Gerechtigkeit abgelenkt werden. Übrigens darf,
meint Dante, die Universalmonarchie nicht hindern, daß sich jedes Volk seine
besondern und nnr ihm zuträglichen Gesetze und Einrichtungen gebe, denn es
sei doch klar, daß die Bewohner des kalten Nordens und die Menschen im
Himmelsstrich der Tag- und Nachtgleiche, wo die Hitze kaum Kleider zu tragen
gestattet, nicht nach denselben Sitten leben können; nur das allen Menschen
gemeinsame habe der Kaiser zu leiten. Dnß dem Dichter die Universalmonarchie
nicht etwa für ein utopisches Traumbild, sür einen Philvsvpheutrost galt,
sondern daß er darin den sofort zu verwirklichenden Zweck der kaiserlichen
Politik sah, das geht deutlich aus seinem Schreiben an den Kaiser hervor,
dessen Aufschrift lautet: LancUWiino triuinplnltori se, (Zoinino 8inZnl!iri, clomino
Henrioo, clivina vrovulontia Romanvrv.ni reg'i, ssmovr MZusto, äövotissiini
sui I)g.no8 ^1U^N6rin8 ^lorvntinus et vxul iininsritns, nnivers^Ader omnv8
?u8ol, ani vliosni as8iävrant terrav, o8vnlAnt xöäö8. Darin schilt er den
Kaiser und beschuldigt ihn der Lässigkeit, daß er sich so lauge in einem Winkel
Oberitaliens aufhalte. „Du übersiehst, fürchten wir, daß die Macht der Römer
sich nicht auf die Grenzen Italiens, noch auch des dreispitzigen Europas be¬
schränkt; sondern obwohl zur Zeit durch widrige Gewalten eingeengt, läßt sie
sich doch kaum die Woge des Weltmeeres als Grenze gefallen; denn es steht
geschrieben
^Äsostnr prior.i. ^i-aiarins nri^imo Laossr,
Iiuxsrium O<!os.iio, K>>in»in qui toi'amol g-seris."
Auch in seiner Schrift vulMri «zloauio weist er jeden Partikularismus
und Nationalismus energisch ab. Er spottet darüber, daß jedes Volk und
womöglich jedes Städtlein seine Mundart sür die schönste halte und sich ein¬
bilde, diese müsse die Ursprache der Menschen gewesen sein. „Wessen Vernunft
so elend geartet ist, daß er seinen Geburtsort für den köstlichsten unter der
Sonne hält, der zieht auch seine Muttersprache allen andern Sprachen vor
und hält sie für die Sprache Adams. Wir aber, denen, wie den Fischen das
Weltmeer, so die Welt als Vaterland gilt, obwohl wir vor dem Zahnen die
Wasser des Arno getrunken haben und Florenz so sehr lieben, daß wir aus
Liebe zu ihm ein ungerechtes Exil erdulden, werfen nicht unser sinnliches
Wohlgefallen, sondern vernünftige Gründe in die Wagschale des Urteils, und
obwohl es für unser leibliches Behagen keinen angenehmem Ort ans Erden
giebt als Florenz, so schließen wir doch aus den Beschreibungen der Dichter
und andrer Schriftsteller, sowie aus der Verschiedenheit der klimatischen Be¬
dingungen, die sich auf der Erdoberfläche finden, daß es noch viele edlere und
lieblichere Gegenden geben müsse als Tuseien, und daß viele Völker schönere
und zweckmäßigere Sprachen haben müssen."
Im zweiten Buche über die Monarchie beweist er, daß niemand anders
als der Kaiser der Deutschen und „König der Römer" zum Universalmonarchen
berufen sei. Die Römer hätten ihre Weltherrschaft keineswegs dnrch Gewalt¬
thaten und ungerechte Eroberungskriege erlangt, sondern von Gott sei sie ihnen
verliehen worden zur Belohnung der Frömmigkeit ihres Stammvaters Annas,
dessen sie sich auch selbst durch edle Gesinnung und Gerechtigkeit würdig ge¬
macht hätten. Über der Sorge für das Weltall Hütten sie ihre eignen Inter¬
essen versäumt, und Cicero habe Recht, wenn er sagt, mehr eine väterliche
Vormundschaft als eine Gewaltherrschaft Hütten sie über die Völker ausgeübt.
Übrigens sei ihre göttliche Sendung sowohl durch Wunder erwiesen worden
(unter den Wundern nennt er auch die Rettung des Kapitvls durch die Gänse),
wie auch durch ihre Siege, denn wenn schon der Sieg im Zweikampf mit
Recht als Gottesurteil angesehen werde, um wie viel mehr der im Völker¬
kampf, dessen richtiger Ausgnng Gott ja noch weit mehr am Herzen liegen
müsse. Daher begründe die Eroberung ein wirkliches Besitzrecht. Höhnend
fordert er die Juristen heraus, ihm das Gegenteil zu beweisen. Der Rest
des zweiten Buches und das dritte sind der Widerlegung der übertriebenen
Ansprüche der Päpste gewidmet, die des Kaisers Unabhängigkeit und den Ur¬
sprung der Kaisergewalt unmittelbar aus Gott bestreiten.
Der Hauptsache uach war das ja die allgemeine, tief gewurzelte Meinung,
wie sie der Sachsenspiegel ausspricht, und wie sie auch in Italien bis in die den
Deutschen und ihrem Herrscher feindlichen Kreise auch damals noch ihr Ansehen be¬
hauptete. Johannes von Cermenate, ein Mailänder Notar, der auf die Deutschen
sehr schlecht zu sprechen ist, sagt in seinem Geschichtswerke, wer immer sich
zu den Menschen rechne, der müsse sich als Unterthanen des Reiches der Römer
bekennen. Durch ihre feige Lässigkeit in jener Zeit, da der Papst von den
Langobarden bedrängt ward, sei das Reich den Römern verloren gegangen
und den Deutschen übertragen worden. Wie das Wahlrecht der sieben Kur¬
fürsten entstanden sei, gesteht er ein, nicht zu wissen.
Es ist nun interessant, zu beobachten, wie sich Heinrich von der Kaiser¬
idee, der er mit aufrichtigem Glauben anhing, ganz im Sinne Dantes erfüllt
zeigt. Bis in den Sommer 1312 hinein mit dem Papste verbündet, mußte
er sich mit diesem entzweien, sobald er im Kirchenstaate die unmittelbare Re¬
gierungsgewalt ausübte und Miene machte, das Königreich Neapel zu unter-
werfen. Der Papst gebot Waffenstillstand, und nun trat der Konflikt ein,
dem überhaupt kein Kaiser und kein Papst entgehen konnte, denn, sagt Ranke,
ihre Ansprüche waren schlechthin unvereinbar: der eine, der Papst, wollte keine
Richter, der andre, der Kaiser, kein Gesetz über sich anerkennen. Heinrich ließ
von seinen Juristen eine Antwort an den Papst aufsetzen, deren Hauptgedanken
folgende sind. (Einen Teil der im folgenden benutzten Urkunden hat schon
lange vor Bonaini Dönniges herausgegeben; einiges hat auch in die Ncmu-
msntA von Pertz Aufnahme gefunden.) Er wundre sich sehr, wie der Papst
von Waffenstillstand sprechen könne, da er doch mit niemand Krieg führe; die
Züchtigung eines rebellischen Vasallen sei kein Krieg. Überdies stehe das
Recht, Krieg zu führen und Frieden zu schließen, allein dem römischen Kaiser
zu, der es vom römischen Volke geerbt habe; ohne seine Erlaubnis dürfe
niemand Waffen weder tragen noch gebrauchen. Die MöstW Aaclii, sei ein
t>6wxc>rg,Is, und alle töilixorslig, gehörten dem Kaiser. Dein Petrus habe
Christus uicht ein Schwert, sondern die Schlüssel übergeben. Das Königreich
Sizilien sei nicht, wie der Papst es nenne, der reich bewässerte Lustgarten der
Kirche, sondern gehöre dein Reiche. „Garten und Erbteil des vornehmsten
der Apostel war ein schlechter Kahn und einigen Fischernetzen, und nachdem er
dieses verlassen, um dem Rufe des Herrn zu folgen, die Wanderung durch die
Welt, die Predigt des Evangeliums und schließlich der Tod am Kreuze."
War Heinrich dem Papste gegenüber im Recht, so war er doch dem König
von Neapel gegenüber entschieden im Unrecht; einen Anspruch ans Süditalien
konnte er nur aus jener überspannten Kaiseridee herleiten, die ihn allerdings
auch berechtigt haben würde, die Beherrscher von Indien und China als Va¬
sallen zu behandeln, wenn er bis dahin gekommen wäre. Gewöhnlich begnügte
er sich freilich nicht mit diesem allgemeinen, sehr leicht zu handhabenden Kaiser¬
rechte, sondern ließ von seinen Juristen allerlei positiver klingende Rechtstitel
ausfindig macheu, für den Anspruch auf Bologna z. B. nicht weniger als vier.
Einen interessanten Grund wissen die Herren für die Bcmnnng der Städte
Bologna, Padua und Treviso anzuführen. Die Bewohner dieser Städte
hatten ihre Schätze nach Venedig in Sicherheit gebracht. Wären nun die drei
Städte gebannt, sagten die Juristen, so wäre der Kaiser berechtigt, ihre Habe
zu konsisziren, vorausgesetzt, daß die Venetianer sie herausgaben (diese gingen
natürlich auf eine so kavaliermäßige Behandlung von Geldangelegenheiten nicht
ein); der Kaiser braucht sehr nötig Geld, folglich — ist es nützlich, jene Städte
zu bannen.
Die Bannbriefe gegen den König Robert und gegen die Städte strotzen
von jenem apokalyptischen Schwulst, den die römische Kurie eingeführt hatte.
In dem Urteil gegen den König Robert heißt es nach Aufzählung der Gründe,
deren hauptsächlichster ist, daß er „gleich der tauben Natter das Gehör seiner
Ohren verstopft habe": „Daher Wir ihn denn aller feiner Würden und jeder
einzelnen, wie immer sie betitelt sein und worauf immer sie sich stützen mag,
aller Ehren, Freiheiten, Immunitäten, Privilegien, Provinzen, Landschaften,
Städte, Burgen, Landhäuser, Lehen, Vasallen, Güter, Sachen, Rechte und
Hoheitsrechte berauben, ihn für einen Verräter und Reichsfeind erklären, bannen
und, so er in Unsre Gewalt kommt, zum Tode durch Enthauptung verur¬
teilen u. s. w." Noch maßloser klingt der Spruch über Padua. Das Comunc
hat 10000 Pfund Gold zu bezahlen, die Mauern siud niederzureißen. „Alle
und die einzelnen Personen des Comune bannen wir aus dem ganzen römischen
Reich und bestimmen, daß jede Person genannter Stadtgemeinde an Leib und
Gut geschädigt und ihrer Freiheit beraubt werden darf; im letztem Falle wird
sie der Sklave dessen, der sie einfängt. Auch sind alle Bewohner der Stadt
des Todes würdig und sollen, wenn sie in unsre Gewalt kommen, an den
Galgen gehängt werden." Gehänge, zum Sklaven gemacht, aus dem Erdkreise
verbannt werden und auch uoch Strafe zahlen, das wäre etwas viel auf ein¬
mal, selbst wenn es sich nur um eine einzelne Person handelte.
Nicht genug zu bewundern ist die Glaubenskrnft, mit der die Menschen
jener Zeit allem Augenschein zum Trotz an ihren Idealen festhalten. Der
Glaube der Italiener an das römische Kaisertum deutscher Nation, das den
Frieden auf Erden herstellen sollte, in Wirklichkeit aber überall, wo es hinkam,
die Entzweiungen vervielfachte, die Parteiwnt zum Wahnsinn steigerte, Städte
und Landschaften verwüstete und auf seinem Wege keine andern Wahrzeichen
zurückließ als die rauchenden Trümmer verbrannter Städte und Leichenhaufen,
dieser Glaube ist noch wunderbarer als der Glaube an den apostolischen Cha¬
rakter der römischen Kurie, denn der Widerspruch zwischen Idee und Wirklich¬
keit war im andern Falle noch packender, weil er das materielle Interesse
jedes Einzelnen unmittelbar berührte. Heinrichs Freund Nikolaus von Vutriut
führte eines Tages Beschwerde darüber, daß die Kaiserlichen sogar Kirchen
beraubten. Unter Thränen haderte der fromme Kaiser mit seinein Marschall,
es nützte aber nichts. Ein Papst, der sich den Nachfolger der Apostel nennt
und als Haupt eines schwelgerischen Hofes im Golde erstickt, ein Kaiser, der
als Nachfolger des Augustus der Welt den Frieden geben will, aber anstatt
dessen die herrschende Verwirrung vollends grenzenlos macht und nicht einmal
an Ort und Stelle seine Unterthanen vor der Raubgier seiner eignen Truppen
zu schützen vermag, die sind einander wert.
Uns Heutigen fällt es nicht schwer, einzusehen, wo der Irrtum des Ghi-
bellinenideals steckt. Was Dante vom Imperium sagt, ist erhaben, schön und
wahr, sofern darunter die weltliche Gewalt, die bürgerliche Ordnung im all¬
gemeinen verstanden wird. Unsinn wird es dadurch, daß er es auf deu
deutschen Kaiser bezieht und diesem die unmögliche Aufgabe stellt, nicht bloß
in Deutschland, sondern auch in Italien und allerorten auf Erden Ordnung
zu schaffen. Zwar auch in diesem Unsinn steckt noch ein Sinn. Das römische
Reich bleibt für alle spätern Geschlechter das Vorbild der Staatsordnung,
erstens, weil aus seinem Schoße die mittelalterliche Staateufamilie hervor¬
gegangen ist, von der wiederum die unsrige abstammt, sodann, weil seine Ein¬
richtungen und sein Lorxus Mris eine so musterhafte Ausführung der Rechts¬
idee enthalten, daß alle Staatsmänner und Rechtslehrer zu ihm in die Schule
gehen müssen. Auch dies war richtig, daß nach Roms Untergange die
Deutschen Europa beherrschten und bei ihrer Tüchtigkeit und Volkszahl auch
dann als die Erben Roms erschienen sein würden, wenn es niemals einem
Papste oder einem deutschen Könige eingefallen wäre, das Kaisertum zu er¬
neuern. Der Unsinn lag darin, daß man auf diese großen und schönen Ideen
einen wirklichen Staat zu bauen versuchte, für den die natürlichen Grundlagen
fehlten. Der Unsinn ward zur Abgeschmacktheit, indem das Kaiserideal ju¬
ristisch als Besitzrecht behandelt wurde; die Ghibellinen glaubten in allem
Ernste, dem deutscheu Könige werde die Kaiserwürde vom damaligen „römischen
Volke" übertragen, d. h. von jenem Gesindel, das Rom bewohnte, der elendesten
aller italienischen Stadtbevölkernngen jener Zeit, die kaum den Namen einer
Bürgerschaft verdiente, die aber auch der Luxemburger suum og-rum 8sng,wen
xormlumqug LowMnin titulirt. Das Kaiserideal verführte nicht allein dazu,
die wirklichen Pflichten über eingebildeten zu vernachlässigen, sondern es brachte
auch solche Unternehmungen zum Scheitern, die, obwohl über den natürlichen
Wirkungsbereich des deutscheu Königs hinausgehend. an sich noch ausführbar
waren. Heinrich konnte einen deutschen Staat herstellen. An Talent fehlte
es ihm so wenig als an Thatkraft, und im Reiche stieß er auf keinen erheb¬
lichen Widerstand. Die Stürme der Hohenstaufenzeit hatten ausgetobt, die
Macht des Hauses Habsburg war noch nicht konsolidirt, durch die Erhebung
seines Sohnes Johann auf den böhmischen Königsthron gewann er eine feste
Stütze im Osten. Aber als gäbe es in Deutschland gar nichts mehr zu thun,
begab er sich zwei Jahre nach seinem Regierungsantritt uach Italien, blieb
dort drei Jahre und holte sich in den dortigen Feldlagern einen vorzeitigen
Tod. Immerhin hätte er ohne gar zu arge Vernachlässigung Deutschlands
Oberitalien erobern oder nach damaligem Sprachgebrauch die Königsrechte
dort wiederherstellen können, wenn er sich mit der Huldigung der wichtigsten
Städte und Stadttymnuen begnügt, ein paar Statthalter eingesetzt und Pisa
als äußersten nach Süden vorgeschobnen Posten des Reiches behandelt hätte.
Die frühere Kriegslast der Lombardenstüdte war dahin, die reich gewordnen
Bürger hatten sich an ein bequemes Leben unter kleinen Fürsten gewöhnt,
Genua und Pisa sahen im Schutze des deutschen Kaisers die einzige Rettung
vor der vor ihren Nebenbuhlerinnen, Venedig und Florenz, drohenden Ver¬
nichtung. Aber das genügte dem hochstrebenden Manne nicht. In jeder
einzelnen Stadt wollte er seine unmittelbare Regierungsgewalt durchsetzen, an
dem widerstrebenden Brescia, das ihn monatelang aufhielt, ein grausames
Exempel statuiren, in ganz Italien Münzeinheit durchführen, sich die Halbinsel
bis zur Südspitze unterwerfen. Barthold hat ihn einen Don Quixote in des
Wortes edelster Bedeutung genannt. Nicht so ganz war er das. „Sicherlich,
sagt Villani, wenn er sich mit der Belagerung von Brescia aufgehalten Hütte,
sondern gleich uach Toskana gekommen wäre, so hätte er Bologna, Lucca,
Florenz, Siena, Rom, Apulien ohne Schwertstreich gehabt, denn sie waren
weder gerüstet, noch sonstwie vorbereitet, und die Gemüter des Volkes schwankten,
weil genau»ter Kaiser für den gerechtesten und gütigste» Herrn gehalten wurde.
Es gefiel Gott, daß jener vor Brescia stehen blieb, dessen Belagerung sein
Kriegsvolk und seine Macht verzehrte." Aber selbst nach diesem Fehler konnte
er mit der Hilfe, die ihm aus Deutschland nachgezogen war, Italien noch
unterjochen, wenn er nicht auf dem Zuge nach Apulien starb; die Ansicht
spricht auch Villani an einer andern Stelle aus. Freilich, wäre er wirklicher
König von Italien geworden, so hätte er gewiß aufgehört, wirklicher deutscher
Kaiser zu sein. So ging jedes wirkliche Königtum nu der Maßlosigkeit der
Kaiseridee zu Grunde. Varthold hebt mit Recht die tiefe symbolische Bedeu¬
tung der Thatsache hervor, daß der letzte, der mit voller Überzeugung die
Kaiserrechte in ihrem weitumfassenden Umfange geltend machte, zugleich auch
der römischen Gesetzsammlung, „diesem ewigen Buche," das letzte Blatt ein¬
fügen mußte, (Seine beiden Konstitutionen: Huomoöo in lagWv M!ej08ta.t,i8
vriimno xrovoclawr und Hui sint rsdsllö«, sind als I^xtiAvagÄntv« ins L!arxu8
,M-is aufgenommen worden; sie stehen, falsch datirt, vor dem I^ibsr <1g xues
Lonstantmg).
Aus diesem Schiffbruch imperialistischer Jdealpolitik erhob sich nnn in
Italien die königliche Realpolitik mit klarem Bewußtsein. Die eignen Freunde
des Kaisers wurden irre an der Richtigkeit der Politik, die sie befolgt hatten.
Mit welchen Empfindungen er in Genua erwartet worden war, davon giebt
ein kindlich frommes Gedicht Kunde, worin er als der von Gott gesandte
Retter begrüßt wird; seine Ankunft sei ein erfrischendes Bad, das Gottes Liebe
dem vertrockneten Erdreich bereitet habe. Aber schon wenige Wochen darnach
jammern die Genueser, sich selbst anklagend: ob sie denn blind gewesen seien,
da sie ihre alte Freiheit ohne Schwertstreich hingegeben und sich freiwillig
dem Joche gebeugt hätten! Durch „diese Pest" werde ihr Handel vernichtet;
die lombardischen Städte, Tnszien, Sizilien hätten alle Verbindungen mit
ihnen abgebrochen; Geld zu erpressen sei der Hauptzweck des Königs. Wenn
Dante die Lage seines Vaterlandes vor Heinrichs Ankunft höchst elend findet
(^Ili 8srv!l Italie, 61 äolors ostollo, Mvo 8SNW ncxzom'sro in ^ran tsiiMiZtli,
Uou ckoium al xrovmois, eng. ooräöllo, ?mZ. VI, 76), so schaut er eben die
Dinge mit dem Auge des verbitterten Verbannten. Ganz andrer Meinung ist
Albertinus Mussatus, der Dichter und Geschichtschreiber Paduas, der nicht
ohne Entsetzen an die Zeiten Friedrichs II. denken kaun, die herrliche Blüte
Paduas nach Ezzelins Tode und die fünfzigjährige glückliche Friedenszeit in
glühenden Farben schildert und durch den Lauf der Ereignisse aus einem be¬
geisterten Verehrer in einen erbitterten Gegner Heinrichs verwandelt wird.
In Cane della Scala, dein Herrn von Verona, dem Heinrich das Vikariat
der Stadt Vieenza übergiebt, sehen sich die Padnaner einen zweiten Ezzelino
erstehen. Der Podestä des belagerten Brescia erwidert dem Kardinal von
Ostia auf dessen Mahnung zur Unterwerfung: der sogenannte Kaiser sei nur
ein Zerstörer; er verwüste die Städte, vergebe sie an Tyrannen und wecke „das
Schisina Friedrichs," die Parteiung der Guelfen und Ghibellinen wieder auf.
Eine grundsätzliche Widerlegung der Kaiseridee aber hat der Angiovine
Robert von Neapel geliefert, in einer Instruktion für seine Gesandten an der
Kurie, die seinen Widerstand gegen Heinrich rechtfertigen sollen, und in einer
Proklamation, die er nach seiner Achtung in Italien verbreiten ließ. Sein
Gedankengang ist folgender. Wenn wir auf deu Ursprung des Imperiums
zurückgehen, so finden wir, daß es dnrch gewaltsame Besitznahme entstanden ist.
Nur Spanien, das sich niemals vollständig unterworfen hat, war in jene
Okkupation nicht inbegriffen. Da nun nach dem Zeugnisse des Sallust jede
Herrschaft mit denselben Mitteln erhalten wird, mit denen sie erworben worden
ist, fortwährende Anwendung der Gewalt aber der Natur widerstrebt, so kaun
das römische Reich unmöglich durch alle Zeiten fortbestehen. Sein gewalt¬
thätiger Charakter offenbarte sich zuletzt auch noch in den Christenverfolgungen.
Die Kaiser wollen keine andre Gewalt neben sich dulden, daher sich die Kaiser
deutscher Nation, so tief auch vor der Wahl ihre Demut- scheinen mag, nach¬
her stets gegen den Papst erheben. Den französischen Königen sind sie feind¬
lich gesinnt, indem sie immer behaupten, Frankreich habe Rechte und Länder
des Reiches usurpirt. So liege es denn auch in der Natur des Imperiums,
daß die Kaiser Sizilien haben wollten. „Aber welcher vernünftige Mensch
sieht nicht ein, daß diese ganze Auffassung des Kaisertums falsch ist? Daß
gleich jedem weltlichen Besitz auch die Souveränitäten im langen Laufe der
Zeit dnrch die mancherlei Zufälle, von denen die Rechtsnachfolge betroffen
wird, beständige Änderungen erleiden? Wo sind denn heute die Reiche der
Perser, Ägypter, Hebräer, Trojaner? Wo ist das alte Nömerreich, wo die
Macht und Weisheit der Griechen?"
Hier haben wir, im Gegensatz zu dem mittelalterliche» Dante, zwar noch
nicht einen modernen Menschen, aber ein Stück moderner realpolitischer Auf¬
fassung.
eorg Hirth erfreut sich bei Kunstverständigen eines durch zahl¬
reiche, meist praktisch brauchbare Veröffentlichungen begründeten
guten Rufes. Das unten genannte, geistreiche und mit gutem
Humor geschriebene, dabei auf sehr soliden und umfangreichen
Studien beruhende Werk*) ist zwar wissenschaftlicher Natur, wird
jedoch ebenfalls die Praxis heilsam beeinflussen, und man braucht wahrlich
weder Künstler noch Kunstkenner zu sein, um seine Freude daran zu haben.
Den Angelpunkt von Hirths künstlerischen Überzeugungen bildet der Satz
Senecas, den er als Motto vorsetzt: Omnis Ms n-loi-is imitativ ost. Daraus
fließt ihm alle theoretische und praktische Weisheit. Für die Praxis kommt
es ihm vor allem auf die Vernichtung des Vorurteils an, „daß man die
Natur leichter begreifen und künstlerisch besser beherrschen lernen könne, wenn
mau ihr anfangs nicht direkt, sondern auf Umwegen zu Leibe ginge; oder mit
andern Worten, daß man vor dem eigentlichen Naturstudium eine Vorschule
»ach bildlichen Übersetzungen der Natur, nach Zeichenvorlagen, Gipsmodellen u.s.w.
durchmachen müsse." Diese Methode fülle den Hirnkasten (von dem er einmal
ganz richtig sagt, daß er kein Möbelwagen sei) mit falschen Bildern. Der
„kostbare Schrein unsers Bilderschatzes" solle aber rein und sauber gehalten
werden. Die Verführung liege nahe, diesen Gedanken zur Kritik unsers ganzen
Erziehungs- und Schulwesens fruchtbar zu machen. „Denn hier wird fast
ohne Rücksicht auf individuelle Begabungen der Gedächtnisakknmulatvr unsrer
Kleinen mit dem Nürnberger Trichter vollgepfropft, jeder Leitungsdraht, jede
freie Fläche der kaum schon entwickelten Gehirnwandungen wird mit krampf¬
haft zusammengerafften, meist unverstandnen Wissenskram allstapeziert und
dadurch der Entwicklung der hohem freiheitlichen Geistesfunktionen der Weg
versperrt. So wirkt auch die peinliche Vorbereitung zu jedem anspruchsvollen
Examen in gewissem Sinne verstopfend. Leider aber wird durch die glückliche
Gabe des Vergessens der Fehler nicht vollkommen ausgeglichen; der unnütze
Ballast wird zwar im besten Fall über Bord geworfen, aber die wundervolle
Gabe Gottes hat einen Teil ihrer jugendlichen Frische und Spannkraft ein¬
gebüßt. Der noch zu erfindende Jdealmensch sollte überhaupt nichts lernen
müssen, was er später wieder vergessen mich; die ganze Lehre von der »Übung«
des Gedächtnisses durch Gesangbuchverse lind des Verstandes durch mathe¬
matische Formeln ist ein beklagenswerter Auswuchs des Schuldrills." Denn,
heißt es ein paar Seiten später, „was Hänschen falsch lernt, lernt Hans
nimmer richtig." (Sollte das, was noch zu erfinden ist, nicht vielmehr die
ideale Lehrmethode sein? Jdealmenschlein, die auf das Erlernen des Falschen
mit Vergnügen verzichten würden, wenn sie nicht dazil gezwungen wären,
finden sich ja wohl jetzt schon in erfreulicher Menge.) Demnach erklärt er
auch den Einfluß, den die „Konturisten, Klassizisten und Nazarener" von
Winckelmann bis zu Cornelius geübt haben, sür verderblich und folgert aus
seinen Voraussetzungen, „daß das Kennenlernen von Kunstwerken niemals zu
einem die Naturbeobachtung überwuchernden oder gar verdrängenden »Studium«
werden, und daß es als sekundäre Quelle der Belehrung erst dann einen
breitern Raum im Leben und Streben des Kunstjüngers einnehmen darf, wenn
diesem die Natur ihren Zauber erschlossen hat."
In theoretischer Beziehung versucht er, und das ist eben die Aufgabe des
vorliegenden Werkes, „die für die bildenden Künste und ihre Kritik, für das
künstlerische Schaffen und den guten Geschmack in Betracht kommenden Regeln
— soweit thunlich — aus der Natur der menschlichen Sinne und Seeleu-
krüfte" zu erklären. Das Seelenleben beschreibt er als ein Spiel von Bildern,
in dem die Verdünnung der Snminelbilder zu Begriffe» nur eine untergeordnete
Rolle spiele. Die im Gedächtnis anfbewcchrteu Vorstellungen sind weiter nichts
als dauerhafte Nachbilder, und so kommt für das ganze Seelenleben alles
darauf an, daß der junge Mensch das Nichtige zu sehe» und zu hören be¬
komme, daß er es richtig auffassen lerne, daß er „ä guets Ginirk" habe,
und daß die verschiednen „Merkshsteme" gut ausgestaltet und in gehöriger
Ordnung fest mit einander verbunden werden.
Wir können hier nun weder auf die physiologischen Untersuchungen ein¬
gehen, in denen die Bedingungen des richtigen Sehens und guten Merkens
dargelegt werden, noch ans die daraus folgenden Anweisungen für die richtige
Wiedergabe beim Zeichnen und Malen. Seine Auffassung halten wir im
großen und gauzeu für richtig, wenn auch mit einigen kleinen Vorbehalten.
So hat er z. B. gewiß Recht, wenn er sagt: „Das automatische Eintreten
solcher Kombinationen ^Kombinationen von Sammelbildern, die sich gewohn¬
heitsmäßig einstellen, wenn wir sie z. B. für die Beurteilung eines vorher
noch nicht geschauten Kunstwerkes brauchen^, die innerhalb desselben Kultur-
kreises naturgemäß bei sehr vielen Individuen denselben Verlauf nehmen, hat
einerseits zu einem übertriebenen Kultus abstrakter Schönheitsgesetze geführt,
anderseits zur Annahme übernatürlicher Erleuchtungen Anlaß gegeben. Es liegt
aber lediglich eine höhere Organisation des Gedächtnisses für Erlebtes vor;
und diese Organisation war naturgemäß bei den alten Ägyptern eine andre
als bei den Franzosen des achtzehnten Jahrhunderts, sie ist noch heute bei
den Chinese» eine andre als bei uns. Ein jeder hält seinen Geschmack für
»gut,« er kann gar nicht anders, und kein Künstler der Welt war jemals ver¬
legen um triftige Gründe just für seine Kunst." Das sind lauter unbestreit¬
bare Thatsachen, und auch noch dieses geben wir dem Verfasser zu, daß es
thöricht und ungerecht wäre, ein Kunstwerk deswegen geringer zu schätzen als
ein andres, weil jenes z. B. im japanischen oder im Rokokvstile, dieses im
Stile der italienischen Renaissance ausgeführt ist, daß vielmehr jedes Kunst¬
werk nach der Güte seiner Ausführung geschützt werden sollte. Aber die
Folgerung, daß alle Stile für gleichwertig zu achten seien, möchten wir doch
ablehnen, falls sie jemand aus Hirths Darstellung ziehen wollte. Wie er selbst
darüber denkt, das verrät er uicht.
Auch halte» wir es für sehr nützlich, wenn Hirth die angehenden Künstler,
die sich für Genies halten, davor warnt, auf Inspirationen zu warten, und
ihnen klar macht, daß auch die sogenannte» Inspirationen weiter nichts seien
als Kombinationen von Erlebtem, zu denen ein sorgfältig ausgebildetes und
wohlgepflegtes „Ginirk" verhilft. Die MetaPhysiker unter de» Künstlern
«werden vielleicht für das Technische, für die von ihnen gern so genannte
»niedere Mache,« für das »gemeine Talent« einen gewissen Zusammenhang
mit den »Nerven« gelten lassen, aber beileibe nicht für das »Hellsehen,«
für den »göttlichen Wahnsinn,« für dus Genie. Es liegt mir aber sehr viel
daran, daß die kunstphysiologischen Gesetze und Motivirungen, welche ich in
diesem Buche dargelegt habe, nicht bloß für Werktagsschüler fsind hier viel¬
leicht Sonntagsschüler gemeint, Werkstättenschüler, Lehrlinge des Kunsthand¬
werkes ?j und mäßig begabte Akademiker, sondern auch für das höchste künstle¬
rische Schaffen als maßgebend anerkannt werden; daß man nicht zweierlei
Naturrechte für niedere und höhere Talente zulasse, und daß nicht gerade die
Begabtesten, wie es schon so oft geschehen, sich durch den phrasenhaften Weih¬
rauch metaphysischer Schönredner von den Wegen bescheidner, ehrlicher, ver¬
nünftiger Arbeit abbringen lassen." Gewiß ein vortrefflicher pädagogischer
Grundsatz! Für die Theorie aber möchten wir die Frage offen lassen, ob
nicht dennoch beim Genie etwas Metaphysisches mitwirke. An eine Aufhebung
der Naturgesetze braucht man dabei nicht zu denken; das Metaphysische kann
durch eine besondre Anordnung der Gehirnmoleküle wirken, die weder aus
Vererbung noch aus den Einflüssen der Erziehung zu erklären ist. Mit der
Vererbung beschäftigt sich der Verfasser sehr eingehend, und er stellt da uuter
andern einen Grundsatz auf, den wir sehr hübsch finden, daß nämlich die
Eltern vorzugsweise solche Anlagen vererben, die sie „geschont" haben. Darum
fallen die Kinder genialer Leute oft so wenig genial aus, weil die Väter von
der Anlage, mit der sie glänzten, selbst zuviel verbraucht haben, um ihren
Nachkommen noch etwas Ansehnliches übrig lassen zu können, während ge¬
wöhnliche Menschen umso mehr auf berühmte Söhne rechnen dürfen, je sorg¬
licher sie ihre in^ inatsr geschont und sich vor Überanstrengung im Denken
gehütet haben.
Wir möchten darauf wetten, daß sich Hirth niemals mit Herbart be¬
schäftigt hat. Bei seiner Ehrlichkeit und Offenheit, die ans jeder Seite seines
Buches spricht, würde er es uicht machen, wie manche Leute, die gerade den
Vorgänger nicht nennen, dem sie das meiste verdanken. Die Art und Weise
nämlich, wie er das ganze geistige Leben aus „Gruudgedächtnissen" und „Merk¬
systemen" aufbaut, deren jedes, nachdem es einmal vorhanden ist, gewisser¬
maßen sein selbständiges Leben führt und von seiner verborgnen Lagerstatt
aus die bewußte Thätigkeit des Menschen aus das mannichfaltigste beeinflußt
und oft in überraschender und scheinbar wunderbarer Weise leitet, hat die
größte Ähnlichkeit mit Herbarts Beschreibung des Vorstellungsverlaufes und
der Einwirkung von Vorstellungsmassen auf ihn, die sich unterhalb der Schwelle
des Bewußtseins drängen. Daß der Prozeß bei Hirth rein physiologischer,
bei Herbart rein psychologischer Natur ist, das begründet, wie wir bei näherm
Eingehen auf die Sache wohl zu zeigen vermöchten, nur scheinbar einen grund¬
sätzlichen Unterschied. Wir haben also hier wieder einmal den nicht gerade
seltenen Fall, daß zwei Denker, von ganz verschiednen Grundlagen ausgehend,
zu denselben Ergebnissen kommen.
Sehr wohlthuend berührt der frische Hauch einer kerngesunden Natur,
der durch das ganze Buch weht. Rücksichtslos eifert Hirth gegen alles Un¬
gesunde. „Vertauschen wir einmal frohgemnt den entnervenden Weihrauch und
die siuubcrückendeu Nuditnteu des Jesniteustils ebenso wie die Odeurs und die
mythologische olironi^us so-mdicksuse, der alten koketten Tante Ästhetik, dieser
wunderlich aufgeputzten Himmelbettstatt leine großartige Tante, die zugleich
ein Himmelbett zu sein imstande istlj, vertauschen wir sie mit dem kräftigen
Ruch aus deutschen Harzwaldmitten, auf daß unsre Lunge weiter, unser Herz
kräftiger, unser Geist klarer, unser Hoffen frommer werde! Hinaus mit allem,
was bresthaft ist!" Zu dein Vresthafteu rechnet er mit vollem Recht auch die
Vererbungstheorie Lombrosos und widerlegt das von diesem aufs neue mit
allerlei Scheingründen befestigte Vorurteil von der angeblichen Verwandtschaft
zwischen Genie und Wahnsinn in einer langen Abhandlung. Es wäre wohl
gut, sagt er u. a., „gerade die Reichstbegabten fsie^ über die natürlichen
Grenzen ihrer Kraftentfaltung, über die Subtilität des Schatzbehalters »Gehirn,«
über seine meist nicht beachtete, oft nicht einmal gekannte Abhängigkeit von
der normalen Funktion der niedern Organe, über die Gefährlichkeit substantieller
Gifte (Alkohol, Syphilis n. f. w.) und ungeordneten Lebenswandels u. s. w.
aufzuklären, aber ihnen schlechtweg zu sagen: »Du bist verdammt unter den
Menschen, da dn reichen Geistes bist, denn eben dein Reichtum ist Krankheit,«
das ist unmenschlich und unwissenschaftlich zugleich." Und ungeschichtlich dazu,
wie aus einer Übersicht von Meistern der bildenden Künste hervorgeht, die er
mit dem Ausruf schließt: „Auf deu Hohen des künstlerischen Schaffens ist
horniges Leben, ist Gesundheit!"
Mit derselben Entschiedenheit eifert er gegen allen Materialismus und
Pessimismus. „Neid, Menschenverachtung, Nirwana, Kismet und Weltschmerz
sind für den bildenden Künstler langsam tötende Gifte, es sei denn, daß er
sie als besiegte Drachen darstellte; und ein Band Schopenhauer oder Hart¬
mann, mit mehr Andacht als Zorn gelesen, setzt sich in seinem Hirn fest wie
ein Polyp, der früher oder später das Entfernteste unter den Bann seiner
saugenden Fangarme bringt. »Um der Wahrheit willen,« so heißt es ja wohl;
aber giebt es für den Menschen eine höhere Wahrheit, als die, daß die Er¬
haltung und Steigerung seiner Gesundheit, seiner Lebens- und Leistungskraft,
seiner Tugenden, seiner Gottähnlichkeit die sicherste Grundlage einer bessern
Zukunft auf Erden ist? In diesem Dogma konnten sich wohl die Gläubigen
aller Konfessionen und philosophischen Schulen einigen; ich meine diejenigen,
die auf das Prädikat »gesund« Anspruch machen. Eine Philosophie, deren
Witz nur darin besteht, daß sie ihren Schülern die durch tausend Generationen
leidlich gut erhaltenen Gedächtnislokale in Unordnung bringt und zum Schaden
der Nachkommen das Nervenkapital verpraßt, das die Urväter in ihrer geraden,
ehrlichen Natürlichkeit gespart hatten, eine solche »Philosophie« sollte be-
scheidnerweise nicht »Weisheit« genannt sein wollen." Vielleicht liegt es nur
an unserm geringen Mnsikverständnis, wenn wir es wundert'ur finden, das;
Hirth bei solchen Ansichten ein Verehrer Richard Wagners ist. Dagegen ge¬
hört er nicht zu den Verehrern des unglücklichen Gönners dieses Dichter-
Komponisten und weist die übertriebenen Lobsprüche Lombrosos auf den
Kunstgeschmack König Ludwigs II. sehr entschieden, wenn auch, wohl aus
leicht zu erratenden Rücksichten, in mildester Form zurück.
Ob uns die Zukunft eiuen neuen Stil bescheren wird, oder ob die bildenden
Künste fortfahren werden, für deu Mangel eines herrschenden Stils durch
bunte Mannichfaltigkeit zu entschädigen, diese Frage ist weit weniger wichtig,
als daß die Künstler gesund bleiben. Denn ist das der Fall, so werden sie
auch immer, gleichviel in welcher Stilart, was Rechtschaffenes erzeugen. Und
den Künstlern die Gesundheit zu bewahren, dazu wird Hirths Buch hoffentlich
beitragen. Zum Schlüsse wollen wir noch erwähnen, daß Hirth ein von der
Kritik totgeschwiegenes Werk des leider zu früh gestorbenen Classen: „Über den
Einfluß Kants auf die Theorien der Sinneswahrnehmung und die Sicherheit
ihrer Ergebnisse" (Leipzig, Fr. Will,. Grunvw, 1886) wiederholt mit großer
Anerkennung zitirt.
ente werden die Fremden die kleine weltvergessne Stadt wahr¬
scheinlich sehr langweilig finden, wenn sie durch irgend eiuen
Zufall dorthin verschlagen werden sollten. Wir Kinder aber
fanden an unserm Wohnorte nichts auszusetzen. Wohl waren
die Häuser krumm gebaut, mit verzogenen Giebeln und wind¬
schiefen Schornsteinen; aber wir wußten von jedem, der darin wohnte.
Wir kannten den Besitzer, seine Iran, seine Kinder, wir wußten, wo ein
Kleines geboren, wo eins gestorben war, und an allem nahmen wir teil.
Wir wußten sehr gut, wie es war, wenn man auf den Zehen in ein halb-
dunkles Zimmer trat, um in eine verhängte Wiege zu blicken. In dieser
Beziehung bildeten wir uns auf unser sachverständiges Urteil etwas ein; denn
auch bei uns kam der Storch aller zwei Jahre, und wir wußten genau, wie
viel „es" wiege» mußte. Dafür sorgte mein ältester Bruder, der jedesmal,
sobald ihm das Familienereignis bekannt geworden war, mit einer altmodischen
Wage, einem sogenannten „Besemer," in die Wochenstube huschte und zur
Verzweiflung der Wärterin nicht eher fortging, bis „de oll Lüde," so hieß
das Jüngste immer, gewogen war. Unser Ältester begründete seine Forderung
damit, daß die Jungen in der Schule doch wissen müßten, wieviel der kleine
Bruder an Gewicht mitgebracht hätte. Bei uns kamen nämlich meistens
Jungen, und als einer meiner Brüder einmal gefragt wurde, wie viele Kinder
sie wären, antwortete er: „Acht Jungens; einer davon ist ein Mädchen!"
Aber wenn wir die Freude über einen neuen Bruder gut kannten und
auch mit andern über ihre neugebornen Geschwister uns freuen konnten, so
wußten wir doch auch, wie es war, wenn ein ernsthafter Gast in ein Haus
einkehrte. Fast brannten die Lichter in dem verhängten Gemach, und der
Schläfer lag so merkwürdig still und unerweckbar vor uns. Früher hatte er
vielleicht mit uns gespielt, oder wenn es ein erwachsener Mensch war, hatte
er uns vielleicht einmal ausgescholten oder aus seinem Garten gejagt; oder
er war gut gegen uns gewesen. Und nun war er so weit von uns fort¬
gegangen, so unheimlich weit, und wir sahen ihn voller Staunen, aber
auch voller Interesse an, um nachher wieder leichtes Herzens in den hellen
Sonnenschein hinaus zu laufen und darüber zu sprechen, ob es wohl einen
Leichenschmaus oder .Kuchen geben würde. Denn es war in unserm Städtchen
wie in den umliegende«? Landgemeinden Sitte, eine Beerdigung als eine Fest¬
lichkeit anzusehen, bei der die Überlebenden das Andenken des Gestorbenen
durch eine großartige Magenüberladung feierten. Je wohlhabender das Hans
war, worin einer gestorben war, desto mehr Kuchen wurde» gebacken, und desto
mehr Mensche» mußten dann beschenkt werden. Der Arzt, der den Kranken
glücklich zu Tode kurirt hatte, bekam mehrere Torten ius Haus geschickt; aber
auch der Pastor und der Justizbeamte erhielten ihr Teil. Eine große Beerdigung
wurde also in weitern Kreisen gefeiert, und die Kuchen, die man dazu but,
wurde» vou vielen Leuten gegessen. Da war es kein Wunder, wenn manche
ehrgeizige Hausfrau noch aus dem Totenbette seufzte: „Kinners, Kinners, lat de
Rosinen doch jo nich in de Halfmahn*) vergeten warm!" und daß der sterbende
Ehemann, der nach seiner Frau schickte, um von ihr Abschied zu nehmen, die
Antwort erhielt, sie könne unmöglich kommen, sie habe zu viel mit dem Backen
zu thun. Und wie lustig sangen die Schulknaben ihren Choral, wenn sie
Paarweise vor dem Sarge hcrschritten! Sie wußten, daß es nachher Wein und
Kuchen für sie gab, oft auch noch Geld, wenn es eine besonders „große"
Leiche gewesen war! Einen Leichenwagen gab es bei uns uicht; auf einer
Bahre oder an großen Gurten wurde der Sarg getragen, und die Träger
wechselten mehreremale. Da nun der Kirchhof mitten in der Stadt lag, und
der Leichenzug, woher er auch kam, immer einige Straßen durchwandern mußte,
so war es sehr interessant, zu beobachten, vor welchen Häusern der Sarg hin¬
gesetzt wurde, um die Träger zu wechseln. Denn, so sagten alle Dienstmädchen,
in dem Hause, vor dem der Sarg ausruhte, würde die nächste Leiche sein.
Nun war aber die Straße sehr breit, und dann befände» sich an beiden Seite»
Häuser, sodaß es nicht allein sehr schwer war, genau deu Platz zu bestimmen,
wo die verhängnisvolle Last hingesetzt wurde, sonder» es blieb auch immer uoch
die Wahl zwischen zwei sich gegenüberliegenden Häusern. Da war also der
Vermutung und der Phantasie reichlicher Spielraum gegeben, und wir Kinder
benutzten das eifrig, unterstützt von dem Geschwätz der Dienstmägde.
Es herrschte überhaupt ein ungeheurer Aberglaube in den niedern Kreisen
der Bevölkerung, und selbst die Gebildeter» konnten sich dem Einfluß dieser
oder jener wahnwitzigen Behauptung nicht immer entziehen. Und doch sah
die Stadt mit ihren breiten Straßen, ihrer hochgelegenen Kirche, die der
Friedhof umgab, so ungemein prosaisch aus! Da waren keine dunkeln Winkel,
keine Häuser, denen man ihre Geschichte am Giebel Hütte ablesen können.
Dennoch täuschte auch hier das Äußere; denn obgleich es nnr häßliche Back¬
steinbauten waren, so wohnten doch viele gebildete Leute darin. Vor der
sogenannten „preußischen" Zeit gab es in der kleinen Stadt viel mehr studirte
Beamte als jetzt. Da war der Amtmann, der Justiz und Verwaltung in
einer Person vereinigte, ein Beamter mit sehr hohem Range. Dann der Aktuar,
gleichfalls ein älterer Jurist, der Amtsverwalter, der Bürgermeister, manchmal
auch noch der Stadtsekretär, alles Juristen, denen der dänische König allmählich
die Titel Justiz-, Etats- oder Kvnferenzrat verlieh, unter der Voraussetzung
allerdings, daß sie keine politischen Sünden auf dein Gewissen hatten. Dann
bliebe» sie beim Justizrat stehen. Die leidige Politik! Wie viel haben wir
Kinder von ihr hören müssen; ein wie unnötiger Haß wurde in unsern jungen
Herzen großgezogen! Reinste doch die Beschuldigung: „Dn bist ein Düne!"
manchmal hin, uns mit Verachtung von einem Spielgeführten zu wenden,
der nichts »veiter gethan, als uus in aller Harmlosigkeit berichtet hatte, daß
sein Vater den Dauebrvgvrdeu erhalten habe. Es war uns verboten, mit
ander» .Kinder» von Politik zu sprechen; wir thaten es aber doch immer,
wenn wir unter uns waren. Dann erzählte uus unser ältester Bruder von
dem Studeutenonkel, der gegen die Dünen gekämpft und in Jütland deu
Soldatentod gefunden hatte. Wir hatten ihn alle nicht mehr gekannt, aber
sein Gedächtnis lebte in uns fort wie das eines Heiligen. „Er ist für
Schleswig-Holstein gestvrbe»; er hats gut!" sagte mein ältester Bruder ge¬
heimnisvoll, und wir nickten, ehrfurchtsvoll die kleine schwarze Silhouette mit
dem bunten Cerevis betrachtend, die das einzige Bildnis des Heimgegangenen
war. Damals ahnten wir noch nicht, daß auch unser ältester Bruder auf
Frankreichs Erde uicht allein für Schleswig-Holstein, sondern für das große
deutsche Vaterland den Tod der Tapfern finden sollte.
Schleswig-Holstein — das Wort durften wir gar nicht aussprechen. In
der Schule hieß es Sleswig und Holstein; der gutmütige Jütlünder, bei dem
ich deutsche Aufsatzstunde hatte, drohte mir mit dem Finger, als ich einmal
das verpönte Wort aussprach. „Du mußt in der Ecke stehen, weim dn noch
einmal so was Verkehrtes sagst!" Ich lachte übermütig. „O, Herr Sörensen,
ich meinte man bloß! Seien Sie nur nicht gleich böse!" Herr Sörensen that
uns ja nie etwas, obgleich er ein patriotischer Düne war und ganz genau
die politischen Ansichten unsrer Familie kannte. Er war ein sehr guter, ge¬
wissenhafter Elementarlehrer, wie es denn überhaupt verkehrt ist, anzunehmen,
daß alle dünischen Beamten und Lehrer, die damals Schleswig-Holstein über¬
schwemmten, schlechte, intrigante Menschen gewesen seien. In unsrer Stadt
wenigsteus war das dänische Element nicht das schlechteste; und wenn wir
Deutschen auch wenig mit ihnen verkehrten, so würde es doch keinem Menschen
eingefallen sein, dieses von ihnen zu sagen. Schlimmer waren die gebornen
Schleswiger, die in der Hoffnung, Karriere zu machen, mit fliegenden Fahnen
zu den Dänen übergegangen waren, die von Schleswig als Südjütland sprachen,
die eine servile Bewunderung sür den volkstümlichen Kong Frederik zur Schau
trugen und von seiner morgamtischen Gemahlin wie von einer Heiligen sprachen.
Diese Renegaten waren die Schoßkinder der dänischen Regierung, sie wurden
mit Orden und Ehren überhäuft und mußten darin für sich und ihre Kinder
einen Ersatz für die Achtung finden, der sie weder bei ihren Landsleuten noch
bei den Dänen begegneten.
So war es denn nur die göttliche Gerechtigkeit, die einen großen Teil
dieser Leute 1864 Amt und Stellung verlieren und das Brot der Verbannung
in Dänemark essen ließ, während viele Dünen ihre Stellung behalte« und
unangefochten in Schleswig-Holstein weiter leben durften. Abgesehen aber
von dem Unbehagen, das die politischen Verhältnisse mit sich brachten, hatten
es die Bewohner von Schleswig-Holstein nicht schlecht. Die Beamtengehalte
waren bedeutend größer, das ganze Leben viel behaglicher und gemütlicher.
Man kannte weder preußische Sparsamkeit, «och preußisches Strebertum, ihr
Leben lang blieben die Beamten auf ihren Posten und verwuchsen dadurch
viel fester mit ihren Mitbürgern. Und wir Kinder brauchten nicht allzuviel
zu lernen, und lernten doch genug, um nachher die berüchtigte» preußischen
Examina bequem und mit leisem Erstaunen darüber, daß nicht mehr verlangt
würde, bestehen zu können.
Wie gemütlich waren die Privatstunden bei Herrn Sörensen, die nach¬
mittags nach Schluß der öffentlichen Schule in denselben Räumen stattfände»,
wo Mädchen und Knaben zusammen unterrichtet und mit leiser Hand in die
Geheimnisse des Rechnen und der Weltgeschichte eingeführt wurde». Jedes
Kind mußte ein Licht im blanken Messingleuchter mitbringen, sobald die Tage
ansingen abzunehmen. Meistens waren es selbstgegosscne Talglichter, nur ich
besaß ein Stearinlicht, das mir viel Vergnügen machte, weil die Tropfen des
Stearins, in und auf die Hand geträufelt, kleine, feste, weiße Kügelchen gaben,
die ich als Pfeffermünzbonbons anbot. Immer waren dumme Kinder da, die
auf diesen Witz hineinfielen, und des heimlichen Kicherns gab es kein Ende,
bis Herr Sörensen ein lautes „Na na!" ertönen ließ oder einen dicken Strick,
Bakel genannt, in der Luft schwenkte. Er schlug aber höchst selten in der
Privatstunde, und dann nur die Jungen, die es anch immer verdient
hatten.
Ein Hauptfesttag war sei« Geburtstag. Dann wurde in der Schule ge¬
sammelt, und aus den Ertrügnissen dieser Sammlung ein Korblehnstnhl an¬
geschafft, der ihm von einer Deputation feierlich überreicht wurde. Ich wüßte
mich nicht zu erinnern, daß er jemals etwas andres als einen Korblehnstnhl
erhalten hätte; aber er freute sich immer außerordentlich und traktirte seine
große Klasse im Schulsaal mit Glühwein und Theeknchen. Selbstverständlich
hatten an seinem Geburtstage alle Kinder frei; deshalb freuten wir uns immer,
wenn der sechzehnte März kam. Wir, die wir Privatstunde bei ihm hatten,
schenkten ihm etwas besonderes. Dann kamen wir in seine Privatwohnung,
tranken dort Schokolade, und er war immer ganz unglücklich, wenn wir nach
seiner Meinung zu wenig Kuchen gegessen hatten. Er war Junggeselle, und
seine Schwester, ein stilles älteres Mädchen, führte ihm den Hausstand. Wir
aber nannten sie immer Frau Sörensen und konnten es nicht begreifen, daß
sie keine Kinder bekam. An ihres Bruders Geburtstag mußte sie stets, wäh¬
rend sie uns mit Kuchen überfütterte, ein Kreuzfeuer vorwurfsvoller Fragen
über sich ergehen lassen, und noch heute rechne ich es ihr hoch an, daß sie
dabei stets geduldig und gutgelaunt blieb.
Ja, wir Kinder hatten es gut. Trotz der dunkeln Wolke, die über unserm
Lande hing, und unter der mein Vater besonders zu leiden hatte, genossen
wir unsre Kindheit in einer Freiheit und Ungezwungenheit, die jetzt selbst in
einer Kleinstadt nicht mehr möglich ist. Hängt doch über allen jetzt das
Damoklesschwert irgend eines Examens, von dem die Eltern schon von der
Geburt ihres Kindes an sprechen. Damals wußte man gar nicht, daß solche
unangenehme Sachen existirten. Mau lernte, weil man gern etwas lernen
wollte, weil es eine schöne Abwechslung war, und weil man eine reine Frende
einPfand, wenn unser Vater uns freundlich zunickte und sagte: „Sieh, das
weißt du schon; das ist ja schön!" Das war ein Lob, an dem wir lange
zehrten, und das uns zu neuem Fleiß anspornte.
In den klassischen Sprachen unterrichtete mein Vater seine Kinder selbst
und nahm auch wohl noch fremde dazu. Er war freudig überrascht, als sein
ältester Sohn nach der Konfirmation mit fünfzehn Jahren in die Prima des
Gymnasiums zu A. aufgenommen ward, er hatte ihn weder getrieben »och
gedrängt. Mit den andern Söhnen erging es ähnlich; der eine hatte sogar
in einem Examen einen hervorragenden Erfolg, und doch war er Nieder über¬
arbeitet nach überbürdet gewesen.
So verlief unsre Kindheit wie der Sommer unsers nordischen Landes.
An trüben und Regentagen fehlte es nicht; mit der Schule aber hatte das
schlechte Wetter ganz gewiß nichts zu thun, alle Dunkelheit kam aus den
politischen Verhältnissen, und die warme Souue des Elternhauses, die Güte
des Großvaters war doch der Grundton vou allem. Daher mag es wohl
kommen, daß selbst in reifen Jahren der Zauber nicht erloschen ist, der in
meiner Erinnerung über der kleinen Stadt liegt. Weltvergessen ist sie noch
hente, und es wird wohl noch etliche Jahre dauern, ehe das Pfeifen der
Lokomotive in ihrer Nähe gehört wird. Dann aber wird anch viel von ihrer
Absonderlichkeit verschwinden, und ich mochte sie festhalten, wie sie gewesen ist.
Daß unsre Straf¬
prozeßordnung kein Meisterwerk ist, wissen die Rechtsverständiger; daß ihre Be¬
stimmungen sehr viel mit dazu beitragen, den Schutz, den das Strafgesetzbuch dem
Beschädigtem gewahren soll, hinfällig zu machen, die Rolle, die dem Angeklagten
zufallen sollte, auf den Beschädigtem und die zu dessen Unterstützung aussagenden
Zeugen zu übertragen — diese Thatsache wird der in letzter Zeit verhandelte so¬
genannte Bochumer Stencrprozeß nunmehr den weitesten Kreisen klar gemacht habe».
Ein vielfach bestrafter Zeitnngsredakteur läßt sich ans den trübsten Quellen
— von entlassenen Arbeitern und dergleichen Leuten — Material zum Angriff
gegen unbescholtene Bürger zutragen, verarbeitet dieses Material und veröffentlicht
es mit Beschimpfungen geziert in seinem Blatte, worauf die Beleidigten Straf¬
antrag gegen ihn stellen. In der Hauptverhandlung werden eine ganze Masse
von Zeugen vernommen, die es dem Angeklagten zu nennen beliebt hat. Die
Zeugen werden über eine Reihe von Fragen verhört, die der Angeklagte im Verein
mit seinen Verteidigern zu stelle» für gut befindet, über Fragen, die nicht nur
die intimsten Familien- und Vermögensverhältnisse der vernommenen Personen vor
die Öffentlichkeit zerren, sondern auch ihre Ehrenhaftigkeit und Wahrhaftigkeit in
gänzlich unbegründeter Weise in Zweifel ziehen.
Dieses Verfahren ermöglicht die Strafprozeßordnung. 8 219 dieses Gesetzes
bestimmt, daß, auch wenn der Vorsitzende des Gerichts einen Antrag des Ange¬
klagten auf Ladung einer Person abgelehnt hat, der Angeklagte diese Person doch
zur Verhandlung laden kaun, und daß diese erscheinen muß. 244 bestimmt,
daß sich die Beweisaufuahme auf die sämtlichen geladenen Zeugen erstrecken muß,
und § 23ö, daß der Vorsitzende dem Angeklagten und seinem Verteidiger gestatten
i»uß, Fragen ein die Zeugen zu richten. Z 240 sagt allerdings, der Vorsitzende
könne ungeeignete oder nicht zur Sache gehörige Fragen zurückweisen; aber erstens
ist dies lediglich eine Befugnis, nicht auch eine Pflicht des Vorsitzenden, und zweitens
erstreckt sich diese Befugnis nicht auch darauf, „unerhebliche" Fragen zurückzuweisen,
wie dies in einem erst neuerdings ergangenen Urteile des Reichsgerichts vorn
5. Dezember 1890 ausdrücklich ausgesprochen ist.
Da nun in Z 377 der Strafprozeßordnung bestimmt ist, daß ein Urteil stets
als ans einer Verletzung des Gesetzes beruhend anzusehen ist und deshalb mit Er¬
folg durch die Revision angegriffen werden kann, wenn die Verteidigung in einem
für die Entscheidung wesentlichen Punkte durch einen Beschluß des Gerichts unzu¬
lässig beschränkt worden ist, das Gericht über nie sicher ist, welche Fragen etwa
das Nevisionsgericht als für die Verteidigung wesentlich betrachten wird, so ergiebt
sich, daß das Gericht, insbesondre aber ein unsicherer oder ängstlicher Vorsitzender,
im Zweifelsfnll alle gestellten Fragen zulassen wird, um sich nicht der Aufhebung
seines Urteils auszusetzen. Daher kommt es, daß Fragen, wie sie in dem vor¬
liegenden Prozesse von dem Angeklagten und den Verteidigern gestellt worden sind,
obgleich sie mit der eigentlichen Bewcisfrage (ob die Mitglieder der Einschätznngs-
kvmmissiou gegen bessres Wissen ihre Partei- und Konfessivnsgenossen zu niedrig
eingeschätzt haben) durchaus nichts zu thun hatten, nicht zurückgewiesen wurden.
Auf diese Bestimmungen der Strafprozeßordnung ist es zurückzuführen, wenn fri¬
vole Fragen, wie die in einem bekannten Berliner Prozeß von einem vielgenannten
freisinnigen Nechtsanwnlte an den beleidigten Kläger gestellte, ob er nicht in der
Schule seiner Zeit für einen lügenhaften Burschen erklärt worden sei, nicht die
gebührende Zurechtweisung finden.
Der Zeuge kann zwar gegen solchen Mißbrauch des Fragerechts Einwendungen
machen, über erstens ist er, besonders wenn er ein Laie ist, nicht in der Lage, zu
ermessen, ob die Frage dem Gericht ungeeignet oder nichr zur Sache gehörig er¬
scheint, und würde sich bei Beharrung auf seiner Weigerung, zu antworten, einer
Geld- oder Gefängnisstrafe aussetzen, anderseits bringt er sich schon durch die
Beanstandung der Beantwortung einer an ihn gestellten Frage in den Verdacht,
er verweigre die Antwort, weil er eine ihn belastende Thatsache zu verheim¬
lichen habe.
Nun wäre allerdings ein viel zweckentsprechenderer Erfolg zu erreiche», wenn
man sich entschließen könnte, dem mit der schrankenlosen Preßfreiheit getriebnen
Unfug ein Ende zu machen, als durch verschärfende Änderungen der Preßgesetze;
bis wir über dazu gelangen, ist es dringend nötig, die nächstliegenden Maßregeln
zu ergreifen, damit uicht jeder hergelaufne Zeitungsschreiber, nachdem er einen an¬
ständigen Mann öffentlich beschimpft hat, die Gerichtsverhandlung noch dazu benutzt
und durch seinen Verteidiger dazu benutzen läßt, den Beleidigten aufs neue
straflos zu beschimpfen, die Verhandlungen mit allen dein Beleidigten und den
Zeugen zugefügten Insulten in seinem Blatte abzudrucken und sich zum Schlüsse
noch über die uuter dem Deckmantel der Verteidigung verübten Heldenstücke hämisch
zu freuen.
In Ur. 24 der
Grenzboten findet sich ein Aufsatz über den zukünftigen Unterricht in der neuesten
Geschichte von Ottoknr Lorenz. Die Geschichtslehrer an den Gymnasien werden dem
Verfasser aufrichtig dankbar sein für die darin niedergelegten Anschauungen über
die Bedeutung ihrer Aufgabe, sie werdeu sich freuen, gerade von einem Universitäts-
lehrer zu hören, das; der „gebildete Deutsche seine historische Bildung in erster
Linie ans dem Gymnasium erwirbt." Ich möchte diesen Dank hier aussprechen,
auch die van Lorenz gezogene Folgerung unterschreiben, daß die neueste Geschichte
auf den Gymnasien einen großen, einen größern Raum als nach den preußische»
Bestimmungen einnehmen müsse, ebenso die nach dein Wesen der neuesten Geschichte
erHolme Forderung, daß ihr Lehrer volkswirtschaftliche, Staats- und völkerrechtliche,
womöglich auch kirchenrechtliche Kenntnisse haben, daß seine Ausbildung nach der
staatswissenschaftlicher Seite hin verschoben werden müsse.
Die Grundlage für die zugleich ausgesprochnen Klagen über den gegenwärtigen
Geschichtsunterricht entnimmt Lorenz den preußischen Verhältnissen. Dn mag es
denn einem sächsischen Gymnasiallehrer gestattet sein, darauf hinzuweisen, daß nach
den sächsischen Bestimmungen die von Lorenz ausgesprochnen Wünsche zum Teil
schon lange erfüllt sind. Ich hoffe damit den allgemeinen theoretischen Erörte-
^ ruugeu des Verfassers eine ihm sehr erwünschte Unterstützung aus der Erfahrung
zu bieten und fühle mich mich deshalb zu dieser Erörterung veranlaßt, weil das
große Publikum gewohnt ist, preußische Schulverhältnisse ohne weiteres auf andre
deutsche Staaten zu übertragen und Klagen, die für Preußen zutreffen, sofort zu
verallgemeinern. Gerade in der Geschichte aber hat der sächsische Lehrplan vor
dem preußischen einen sehr großen Vorzug.
Die notwendigste Voraussetzung für die oft und energisch, auch vom Kaiser,
geforderte Erweiterung und Vertiefung des Unterrichts in der neuern Geschichte
in Preußen ist die, daß dem Unterrichte mehr Zeit gegeben werde. Daß die neueste
Geschichte gelehrt werden muß, daß der Unterricht nicht stecken bleiben darf im vorigen
Jahrhundert, haben auch die preußischen Geschichtslehrer längst anerkannt, der
Mangel an Zeit trägt die Schuld, wenn sie nach dieser Erkenntnis nicht immer
haben handeln können. Eine durchgreifende Besserung wird kaum möglich sein, so
lange für die gesamte Geschichte seit der Reformation eigentlich nur die mit der
Abiturieutenprüfung stark belastete Oberprima zur Verfügung steht. Nach dem
sächsischen Lehrplan ist für diesen Stoff genau die doppelte Zeit vorgesehen, näm¬
lich die beiden Pruner. Gewiß greift man in Preußen in der Unterprima häufig
in die Reformationsgeschichte hinüber, aber das ändert nichts an der Thatsache,
daß in Sachsen die doppelte Zeit für die neuere Geschichte gegeben ist, da auch hier
für die Obersekuuda bereits der Anfang der Reformationszeit (bis 1555, ja bis
1K48) festgesetzt ist.*) Sobald der preußische Geschichtslehrer dieses Mehr um
Zeit gewinnt, werden viele Klagen von selbst verstummen. Dann wird es mög¬
lich sein, an geeigneten Stellen anch über volkswirtschaftliche, Staats- und völker¬
rechtliche Dinge eingehender zu reden, z. B. bei Turgot, Stein und Hardenberg
über Zunftwesen und Gewerbefreiheit, bei Colbert und Friedrich dem Großen über
Schutzzoll und Freihandel, bei Ludwig XIV. und der englischen Revolution über
Absolutismus und Konstitutionalismus, Ein- und Zweikammersystem, bei den
Debatten der französischen Nationalversammlung über direkte und indirekte Wahlen,
bei der Entstehung der vereinigten Niederlande über das Wesen des Bundesstaates
und die mit ihm immer erwachsenden Parteien u. s. w. So werden die auf diesem
Gebiete nötigen Kenntnisse dem Schüler nicht durch theoretische Darlegungen ver¬
mittelt werden, sondern an abgeschlossnen historischen Entwicklungen, für die sich
der Vergleich mit der Gegenwart von selbst darbietet. Aus solchen Vergleichungen
erwächst das Verständnis fiir die heutigen Fragen, und die eigentliche Tagespolitik
bleibt doch der Schule fern. Ich glaube, daß Lorenz sich den „zukünftigen"
Geschichtsunterricht ungefähr so denkt, und es wird ihn gewiß freuen, zu hören,
daß dieser zukünftige Geschichtsunterricht wenigstens an einigen Stellen des deut-
schen Reiches kein zukünftiger mehr ist und damit zugleich der Beweis der Aus¬
führbarkeit des vou ihm Gewünschten geliefert wird.
Etwas ähnliches wird sich über seine zweite Forderung, die die Ausbildung
der Geschichtslehrer betrifft, ergeben. Auf Grund der Akten preußischer Prüfungs¬
kommissionen kommt er zu dem Schlüsse, daß der Unterricht in der neuesten Ge¬
schichte in Preußen fast ausschließlich erteilt wird vou Philologe«, die „neben ihrer
ehrenwerten und hochachtbaren Wissenschaft in ihren Universitätsjahren ein bischen
in Geschichte dilettirt" haben, und zeichnet dann einen solchen zum Geschichtslehrer
gewordnen Philologe» in ergötzlicher Weise. Gewiß, wo es noch solche oder
auch uur annähernd solche Geschichtslehrer giebt, wie sie Lorenz schildert, da
muß Wandel geschafft werden, Wandel mit dem von Lorenz empfohlenen Mittel'
einer andern Ausbildung auf der Universität. Daß nun nicht alle Philologen in
dieser Weise den Geschichtsunterricht betreiben, erkennt Lorenz selbst an, er be¬
zweifelt nicht, „das; es selbstverständlich eine große Anzahl von »ältern« Lehrern
geben wird, die einen ganz vortrefflichen Unterricht in neuerer Geschichte erteile»,
auch wenn sie sich die dazu nötige Vorbereitung eben nicht auf dem Wege von
Universitätsstudien erworben haben, wie man sie für die Zukunft zu diesem Zwecke
empfehlen dürfte," er will ja auch „das Bestehende nicht tadeln oder herabsetzen,
sondern das Bessere und Planvollere einfach anbahnen." Ich hoffe ihn in diesem
Streben zu unterstützen, wenn ich nach meiner Erfahrung ausspreche, daß es gerade
uuter den jüngern Geschichtslehrcrn schon jetzt eine ganze Anzahl giebt, die nicht
in erster Linie Philologen sind, sondern ans der Universität die Studien bereits
betrieben haben, die Lorenz zukünftig fordert. Ich wenigstens scheue das Be¬
kenntnis nicht, daß ich neben den eigentlich historischen mehr volkswirtschaftliche und
staatsrechtliche Vorlesungen gehört habe als philologische, und ich glaube, daß das
auch fiir andre zutreffen wird. Auch hier möchte ich zunächst die Ausführbarkeit des
von Lorenz fiir die Zukunft Geforderten durch deu Hinweis auf schon in der
Gegenwart bestehendes erhärten; er wird es mir aber gewiß nicht verübeln, wenn
mich daneben die Besorgnis erfüllt, daß dem Leser der Grenzboten die Schilderung
des „in sein Museum gebannten und von der Wichtigkeit des römischen Staats-
rechts träumenden" philologischen Geschichtslehrers fester im Gedächtnis haften
möchte, als die anerkennenden Worte, die Lorenz für die doch nicht geringe Zahl der
übrigen Geschichtslehrer hat. Dadurch könnte aber im Publikum ein falsches Bild von
dem gegenwärtigen Geschichtsunterricht entstehe», und das muß doch verhütet werden.
Selbstverständlich soll die von Lorenz erhobene Forderung einer durchweg durch
die Bestimmungen der Prüfungsordnung zu verändernden Ausbildung der Ge-
schichtslehrer nichts von ihrer Berechtigung verliere», doch mag dabei berücksichtigt
werden, daß, wie Lorenz s^bst sagt, „nicht alles und jedes immer nur durch den
Schulmeister besorgt werden muß." Es gilt hier für den künftigen Geschichts¬
lehrer das, was für das Studium überhaupt gilt. Das Universitätsstudium soll
vorbereiten für den praktischen Beruf, unmittelbar giebt es fiir ihn verhältnismäßig
wenig. Wie der Jurist von der Universität die juristische Schulung mitzubringen
hat, um mit ihr hinauzntreten z. B. n» die Fragen des kaufmännischen und indu¬
striellen Geschäftsbetriebes, so braucht auch der künftige Geschichtslehrer beim Ab¬
gang von der Universität nicht alles zu wissen, was er dereinst an historischen,
volkswirtschaftlichen und staatsrechtlichen Kenntnissen einmal nötig haben sollte, er
muß nur die Fähigkeit haben, sich diese Dinge anzueignen, er braucht die juristische
und volkswirtschaftliche Schulung. Sticht zu unterschätzen ist dafür der Wert des
viel getriebenen Studiums der mittelalterlichen deutschen Verfnssuugsgeschichte.
Wer zum Verständnis gelangt ist über Volks- und Königsrecht, über den Ursprung
der Vasallität nud des Benefizinlwesens, über Unterthanen- und Lehnsverband,
über Landrecht, Lehnrecht, Hofrecht, Stadtrecht, über die verschiednen Rechtsgrund¬
lagen der Landeshoheit, über LandstNnde u. s. w., der wird auch wohl modernen
Verfassungsfragen nicht ganz hilflos gegenüberstehen. Doch das nur nebenbei.
Die Hauptsache bleibt, daß die von Lorenz geforderte Schulung dem künftigen
Geschichtslehrer auf der Universität werden muß, und daß es nicht mehr oder
weniger dem Zufall überlassen bleiben darf, ob sie ihm wird oder nicht. Der
Hinweis darauf, daß diese Forderung bisher nicht so ganz unerfüllt geblieben ist,
wie Lorenz annimmt, soll ihr Gewicht nur verstärke», ebenso wie die Forderung
des vermehrten Unterrichts in neuerer Geschichte für Preußen eindringlicher gemacht
werden sollte durch den Hinweis, daß Sachsen in diesem Punkte jetzt besser daran
ist als Preußen. Hoffen wir, daß diese günstige Lage der neuern Geschichte in
Sachsen bleibt, in Preußen bei der Umgestaltung des Gesaintunterrichtsplanes ge¬
wonnen werden wird; hoffen wir, daß man ein Mittel finden wird, die Aus¬
bildung der Geschichtslehrer in dem von Lorenz gewünschten Sinne zu sichern,
und daß dann zum Unterricht in neuerer Geschichte nur solche zugelassen werden,
die jene juristische und volkswirtschaftliche Schulung erfahren haben.
Viel Fleiß und Scharfsinn wird
jetzt darauf verwandt, für gewisse Fremdwörter angemessene deutsche Ausdrücke zu
bilden und in Umlauf zu setzen. Es verdient beachtet zu werdeu, daß man dabei
manche Quellen und Vorbilder mit Vorteil benutzen kann. Der deutsche Sprach¬
verein Pflegt auf das Niederländische hinzuweisen, das sich von Fremdwörtern
freier gehalten hat und für viele Kunstausdrücke, die bei uns lateinisch oder grie¬
chisch oder französisch umlaufen, gute germanische Bildungen besitzt, bei denen es
oft nur der einfachen Umformung ins Hochdeutsche bedarf, um das bei uns ge¬
wünschte zu schaffen. Neben dein Niederländischen können aber auch die skandi¬
navischen Sprachen herangezogen werden. Sie sind mit Fremdwörtern zwar mehr
durchsetzt als das Niederländische, bewahren aber noch alte Stämme, die bei uus
durch Fremdlinge verdrängt worden sind, und verfügen auch über manche gute
germanische Neubildungen. Die Dänen und Norweger sagen z. B. statt Tinte:
dia-K (Schwärze), statt Pulver (zum Schießen): Kruä (Kraut), statt t-M<z et'IrMs:
VWtÄnmsddrÄ (Wirtshaustisch), statt Qualität: Äa.g- (Schlag). Leider ist das ein¬
fache Verpflanzen ins Deutsche uicht immer möglich, da die Skandinavier ein Paar
treffliche Ableitungssilben besitzen, die uns nbgeheu, wie -olso, das etwa dem
griechischen -/^vo entspricht.
Ein weiteres sehr schätzbares Hilfsmittel bieten die mittelalterlichen lateinisch¬
deutschen Glossarien oder Vokabularien, da sie eine große Menge nicht nur von
Fremd-, sondern auch von Lehnwörtern der lateinischen (und griechischen) Sprache
durch deutsche Ausdrücke wiedergeben. Da liest man z, B.: «axilMriin ----- Pfiler-
decke, viviu-iriin ----- qneckbvrn, intsrvalluin, — mittelstunde, rsLonxtmn ----- nsschrist,
tkoatnun ------- kaffloube, xosti» ----- turstadel, xi-asstigiator ----- ougeubleuder, vsAv-
tmtio ------ gescheftuis, livpotlnzva. ----- erbpfnnt, rsKistnun ------- berichtnis. Das sind
alles kräftige, zum Teil wirklich schöne Ausdrücke, deren Neubelebung recht ver¬
dienstlich wäre. Es mag deshalb auf die beiden Bücher von Lorenz Dieffenbach
(Jto3Liu'niiQ und Uovirni g'IoWxu'mir, in denen der Inhalt vieler solcher mittel¬
alterlichen Handschriften abgedruckt ist, nachdrücklichst als auf eine reiche und bisher
kaum berücksichtigte Fundgrube hingewiesen sein.
Endlich aber können wir auch viel von deu Neugriechen lernen. Durch die
Herrschaft der Römer, der Venetianer und der Türken und dnrch die Einflüsse
der benachbarten Slawenstämme ist das Neugriechische mit Bestandteilen aus den
Sprachen der genannten Völker durchsetzt. Wenn ein vornehmer Athener zu Mittag
im Winter seinem Diener befiehlt!
ÜLjZ^^T 17^ c7on?r« A,«), ^«X'Xs x«^0UV« 1"^ c^on^0Ü
Trag auf die Suppe und leg Kohlen in das Becken,
so ist außer den Formwörtern nur das Wort ^«»s wirklich griechisch. Im täg¬
lichen Leben der Griechen sind ebeu die Fremdwörter noch immer ganz geläufig und
gangbar. Aber — und das ist ein bemerkenswerter Unterschied von den Deutschen
— je gebildeter die Kreise sind, in oder zu denen der Grieche spricht, und je
gebildeter der Sprecher selber ist oder scheinen will, um so reiner wird die Sprache
von Fremdwörtern! In der Schrift- und Litteratursprnche, in der fast alle Druck¬
werke, auch die Zeitungen, erscheinen, giebt es kaum ein Fremdwort, und obiger
Satz würde sich da etwa so ausnehmen:
Hier sind die Fremdwörter samt und sonders durch gute Ausdrücke des Alt-
griechische« ersetzt, aus dem die jetzigen Griechen überhaupt wie aus einem unver¬
siegbarer Jungbrunnen fort und fort schöpfen können. Wo es sich um moderne
Begriffe, neue Erfindungen und Kulturerscheimmgen handelt, die den alten Hellenen
unbekannt waren, haben sich die Neugriechen die Schmiegsamkeit und Bildungs¬
fähigkeit ihrer Sprache sehr geschickt durch bezeichnende und glückliche Neubildungen
zu nutze gemacht, um die sie vermöge des Reichtums an Ableitungsendungen und
bei der Leichtigkeit der Wortzusammensetzung wie der plastischen Ausdrncksfähigkeit
und Kraft ihrer Sprache kaum in Verlegenheit geraten. Sie haben sich, weniger
ängstlich als wir, selbst nicht gescheut, alte« Ausdrücken neben der früheren Be¬
deutung auch noch neue Werte beizulegen. So hat z. B. das Wort x«7rvo^ außer
seinem uralten Sinne „Rauch" ohne weitres noch die Bedeutung „Tabak" über¬
nehmen müssen. Für gewöhnlich aber dienen zur Bezeichnung neuer Begriffe die
Zusammensetzungen und die Ableitungen aus vorhandenen Stämmen. Verfügt das
Deutsche auch nicht über eine solche Fülle von Ableitungssilben, so steht es doch
an Bildungs- und Ausdrucksftthigteit dem Griechischen nahe, und es wird immer
recht lehrreich bleiben, das Verfahren der neugriechischen Sprache hier zu beobachten.
Die deutschen Sprachreiniger könnten aus solcher Betrachtung gewiß manchen Ge¬
winn ziehen. Einige Beispiele mögen das Gesagte erläutern.
So geht es ans allen Gebieten des modernen Lebens. Der Grieche hat zu seiner
Sprache das Zutrauen, daß sie fähig sei, für alle neu auftretenden Begriffe aus
eigner Kraft eine Bezeichnung zu schaffen, darum greift er herzhaft hinein in das
eigne Sprachgnt, wenn es gilt, etwas Neues zu bilden, und läßt sich nicht bei¬
kommen, Fremdwörter mechanisch zu übernehmen. Auch von diesem Selbstbewußt¬
sein der kleinen Nation konnten wir viel lernen.
gelten auf Grund einer
von Mitthvff in sein „Archiv für Niedersachsens Kunstgeschichte" aufgenommenen
Notiz des or. Kratz, weiland Stadtbiblivthekars in Hildesheini, für Arbeiten
Michael Wolgemnths, des Lehrers von Albrecht Dürer; man nahm an, daß Kratz,
ein um, die Erforschung der Geschichte seiner Heimat vielverdienter Mann, seine
Nachricht aus einer Urkunde von unzweifelhafter Echtheit geschöpft haben müsse.
Dessenungeachtet tauchten in neuester Zeit Zweifel an der Autorschaft des Nürn¬
berger Meisters ans, denen stilistische Bedenken zu Grunde lagen. Und um ist
von zwei Seiten gleichzeitig dem Ursprung jener Notiz nachgespürt und ermittelt
worden, daß Kratz erstens wahrscheinlich einen Namen falsch gelesen und sicherlich
auf diesen Namen ein ganz unhaltbares Gebäude gegründet hat. Die Geschichte
ist so lehrreich, lehrreich für die verschiednen, einander befehdenden Schulen kunst¬
geschichtlicher Forschung, daß wir es für nützlich halten, den Thatbestand nach den
beiden sich gegenseitig ergänzenden Arbeiten von Gustav Müller-Grote („Die
Malereien des Huldignngssaales im Rathause zu Goslar, Inauguraldissertation,"
Berlin, Grotesche Verlagsbuchhandlung) und Dr. N. Engelhard („Beiträge zur
Kunstgeschichte Niedersachsens, Beilage zum Osterprvgramm des königlichen Pro¬
gymnasiums zu Duderstadt") hier in Kürze darzulegen.
Kratz hatte in der „Hildesheimer Allg. Zeitung" im September 1858 kurz
mitgeteilt, es sei ihm gelungen, zu ermitteln, daß „die Gemälde der berühmte
Michael Wolgemuts (Mekel Wolgemoet), der Lehrer Albrecht Dürers, aufs bril¬
lanteste ausgeführt habe, und die Skulpturen von dem Meister Hans Schmidt
(Mester Hans Smee) und seinem Kollegen Henning Marburg (Henri Marborch) in
dem letzten Deeennio des fünfzehnten Jahrhunderts . . . kunstvoll «.arbeitet worden"
seien. Vier Jahre später brachte der Goslarer „Allgemeine Anzeiger" einen etwas
umständlicheren Bericht, der unverkennbar uns Kratzschen Mitteilungen beruhte.
Da heißt es, laut der Knmmereiregister vou Goslar vom Jahre löOI sei Michael
Wolgemuts unter die dortigen Bürger und Brauer aufgenommen worden. Offen¬
bar habe man ihn nach Goslar für die Ausschmückung des Rathauses berufen
und, um ihn zu ehren, in die vornehme Brauergilde aufgenommen. „Ist also
Wolgemuts derzeit in Goslar gewesen — heißt es weiter — so hat er auch unstreitig
die Malereien gemacht. Denn was sollte ihn anders nach Goslar geführt hoben,
als eben die Ausführung dieser Bildwerke auf dem Nathaussnale der alten Kaiser¬
stadt, und warum sollte mau ihn gerade in Goslar unter die Bürger und Brauer
aufgenommen haben?" Die Möglichkeit, daß es in Goslar einen Michael Wol¬
gemuts gegeben haben könne, wird gar nicht zugelassen, und doch ist sie ziemlich groß,
da der Familienname sich dort nachweisen läßt. Und zu allein Überfluß kann in der
von Müller-Grote in Facsimile wiedergegebenen Notiz ebenso gut Nickel wie Mekel,
Mickel oder dergl. gelesen werden, und 1503 kommt in einer Urkunde ganz deut¬
lich ein Nickel Wolgemodt bor. Damit fällt die ganze Kombination in sich zu¬
sammen. Von den Bildhauern oder Tischlern Schmidt und Marburg ist bisher
leine Spur zu entdecken gewesen. Beide Verfasser sind geneigt, die Malereien
dem Johann Naphon Anzuschreiben. Müller-Grotes Schrift ist übrigens die
bedeutendere. Sie behandelt nach einer Einleitung über deutsche und besonders
niedersächsische Rathäuser im Vierzehnten und fünfzehnten Jahrhundert unter
fleißigster Bemchung des gesamten kunstgeschichtlichen Materials den Gegenstand
von topographischen und stilkritischeu Gesichtspunkten ans, berichtigt die Angabe»
in Todes „Malerschule von Nürnberg" in wesentlichen Stücken und fügt eine
dankenswerte Arbeit ein über Sibyllendarstellungen und das Verhältnis der Dar¬
stellungen in dem Volksbuche von der Sibyllen Weissagung in Schedels Welt¬
chronik und im Goslarer Rathause zu einander.
Unter den von den Grenzboten gerügten „Sprachdummheiten"
hat bisher uoch eine sehr beliebte gefehlt, der unschöne und sinnentstellende Gebrauch
des Wortes zerfallen. Da liest man von den einheitlichsten Gebilden, den ge¬
schlossensten Kunstwerken, daß sie zerfallen: das deutsche Reichsheer zerfällt in
siebzehn Korps, die Mathematik zerfällt in Arithmetik und Geometrie, Luthers
Katechismus zerfällt in fünf Hauptstücke; der Professor behauptet in der Gymnasinl-
prima, daß diese oder jene Rede des Demosthenes in drei Teile zerfalle; ja
selbst den armen oberschlesischen Dorfschülern, die erst durch die einfachste Rede¬
weise an deu Gebrauch der deutscheu Sprache gewöhnt werden sollen, springt der
Hilfslehrer bei der ersten besten Einteilung mit dem auf dem Seminar erlernten
Tintenwort zerfallen ins Gesicht und macht ihnen weis, daß die Pflanze, die
er doch als Ganzes in der Hand hält, in Wurzel, Stengel und Blüte zerfalle.
Das Wort zerfallen ist vorzugsweise ein Schul- und Lehrwvrt, und sein
Umsichgreifen hat natürliche Gründe. Sagt man doch mit Recht: cjui, boni) 6i-
LtinAuit, liöuo cloche,, und von jeher haben die mündlich oder durch Bücher
lehrenden deu Gegenstand ihrer Darstellung dnrch Einteilung und Zerteilung be¬
greiflicher zu machen oder dem Gedächtnisse fester einzuprägen gesucht. Beginnt
nicht der große Cäsar sein jedem Tertianar unvergeßliches KoUnm, OMionm trotz dem
besten Schulmeister mit den Worten: Hallig, sse muris ÄiviL-r in xarlos trof?
Ja wohl, trotz dem besten Schulmeister! aber er sagt nichts von (lila/psa, o8t
oder al1a.l)nul', was dem Zerfallen im Munde der tintenhaft redenden Schul-
meister entsprechen würde. Von den Franzosen haben unsre Landsleute viele
Wendungen unnötigerweise und oft nnr mit halbem Verständnis herübergenommen,
aber um wirklich schöne Seiten der französischen Sprache, um den Geschmack des
?l>lsdrucks und die Abrundung des Stils bekümmerte um, sich wenig. Wie sinn¬
entsprechend z. B. und wohlthuend ist der französische Ausdruck: I^hö >'>i>'»n>no
alone um oorpZ so eonrxnss, wie unerfreulich der deutsche: die Grundstoffe, in
die ein Körper zerfällt! Zweierlei ist, wie es scheint, im Deutschen zusammen¬
gekommen, um dem geschmacklosen Gebrauche des Wortes zerfallen und gleich¬
wertigen Wendungen eine so große Ausdehnung zu geben. Erstens wirkt bei uns
auf deu Sprachgebrauch die in die weitesten Kreise gedrungene Neigung, den in
der Schule vernommenen Ausdruck als vermeintlich gewählten und treffenden auch
im spätern Leben festzuhalten und ans Verhältnisse zu übertragen, für die er nicht
geeignet ist. Dazu kommt dann die beim Deutschen so stark entwickelte Neigung
zum Zerspalten und Zertrennen und als Folge davon eine kleinliche Betrachtung
der Dinge, nicht selten sogar völlige Unfähigkeit, etwas als Ganzes zu sehen und
zu empfinden und auf dein Gebiete des Schönen sich zur Einheit und Geschlossen¬
heit der Darstellung zu erheben. Da denkt man nicht mehr an die Gestalt, die
vor das leibliche'oder geistige Auge gebracht werden soll; man versteht sich nicht
auf die oöntorinidtio, d. h. auf die Verewigung zu einem schöngegliederten
Ganzen, sondern mit fast Schächter- und schindermnßiger Roheit geht man den Dingen
und Gestalten zuleide, bis sie wirklich in kleine Stücke zerschnitten, zerfetzt und
zerfallen sind. Wir haben auch außerhalb der Sprache und Sprnchbetrachtung
des Scheidenden, Trennenden, Vereinzelnden mehr als genug; Zusnmmenschließung
zu einem Ganzen thut not auf den verschiedensten Gebieten des geistigen und wirt¬
schaftlichen Lebens; wir wollen jedem Zerfall entgegenarbeiten, und wie man nach
altem Spruche den Bösen nicht an die Wand malen soll, so wollen wir auch bei
Einteilungen nicht so leicht vom Zerfallen sprechen, als ob die Dinge erst
dann für uns verständlich oder gar erst vorhanden wären, wenn sie in ihre Teile
aufgelöst vor uns liegen, sondern, wie es vor Zeiten üblich war, vom Bestehen
reden, das doch schon Festigkeit, Zusammenhang, Körperhaftigkeit ausdrückt. Wir
meinen und sagen also, daß der Mensch aus Leib und Seele besteht, nicht aber,
daß er in sie zerfalle; wir behaupten, daß Preußen ans zwölf Provinzen be¬
steht, und weisen den Gedanken weit weg, daß es in diese Teile zerfalle; wir
haben gar nichts dagegen, daß dieses oder jenes Lehrbuch in drei Hauptabschnitte
»ud daß jeder von diesen wieder in ein Schock Paragraphen eingeteilt ist,
aber nur von einem form- und zusammenhanglosen Buche sagen wir, daß es
zerfällt.
Falls nicht etwa Berichterstatter in Rom
und Budapest aus nationaler Eitelkeit übertreiben, müssen die dortigen Parlamente
Mitglieder zählen, die noch lauter — sprechen können, als Herr Eugen Richter in
Berlin. Von einem der Hauptlärmmachcr ans Monte Citorio und unversöhnlichem
Gegner des mitteleuropäischen Bündnisses, dein „ehrenwerten Jmbriani," wird ge¬
meldet, er habe die lauten Ausbrüche des Unwillens seiner Kollegen übertönt „wie
ein Nebelhorn," und ein Herr Ugrvn in Pest soll in gleicher Lage „ein wahres
Donnergepolter" losgelassen haben. Diesem gegenüber behauptete der Minister-
Präsident Graf Szapary zwar, daß die Kraft der Stimme und der Ausdrücke nicht
für die Jnhnltlosigkeit einer Rede entschädige, aber was versteht so ein Minister
davon! Ältere Berliner werden sich wohl noch des Herrn Held erinnern, der sich
durch ein Wochenblättchen „Lokomotive" einen gewissen Namen gemacht hatte und
1848 unter den Zelten das souveräne Volk begeisterte. Was er sagte, waren die
abgedroschensten Phrasen; aber die Trompetenstimme, mit der er sie hinaufschleuderte,
Verfehlte nie ihre Wirkung. Der Mann ergab sich übrigens in seinen alten Tagen
einer ganz nützlichen Beschäftigung als „Torfkommissär," Wobei ihm sein mächtiges
Organ zu gute gekommen sein mag. Es kommt also nnr darauf an , jemand auf
den richtigen Platz zu bringen, wo er seine Talente angemessen verwerten kann.
Der Plan dieses großartigen Werkes dürfte den Lesern noch von der Anzeige
des ersten Bandes her erinnerlich und seitdem manchen von ihnen aus dem Buche
selbst klar geworden sein. Das Handwörterbuch soll „nach dem heutigen Stande
der Wissenschaft und mit vollster Berücksichtigung der Anforderungen der Praxis
die Staatswissenschaften im engern Sinne behandeln." Die Volkswirtschaftslehre,
die Gesellschaftslehre, die Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Finanzwissenschaft
und die Statistik erfahren „die gründlichste Bearbeitung mit eingehender Dar¬
stellung des historischen Entwicklungsganges und des gegenwärtigen Standes der
wirtschaftlichen Kultur." Das Verwaltungsrecht soll insoweit Aufnahme finden,
„als es die Rechtsordnung des wirtschaftlichen und sozialen Lebens enthält."
Da die Litteratur der genannten Wissenschaften so anschwillt, daß es dem Manne
der Praxis kaum möglich sein dürste, die Erscheinungen des Büchermarktes selbst
zu verfolgen und sich aus den hauptsächlichsten über den gegenwärtigen Stand der
einschlagenden Fragen genügend zu unterrichten, so ist dem Verwaltungsbeamten,
dem Parlamentarier, dem Rechtsanwalt, dem Publizisten, ja anch dem großem
Kaufmann und Landwirt ein zuverlässiges Nachschlagewerk unentbehrliches Bedürfnis.
Von einem Ersatz des vorliegenden durch ältere Staatslexikn kann keine Rede sein.
Abgesehen davon, daß gerade ans diesem in lebhaftester Gährung begriffnen Gebiete
alles Vorhandene rasch veraltet und unbrauchbar wird, tritt in jenen Werken das
Wirtschaftliche und Soziale zu sehr vor dem Juristischen zurück. Und in dem
Umfange und der vortrefflichen Gliederung der einzelnen Abhandlungen, in dem
reichen statistischen Material, in der ausführlichen Berücksichtigung der Verhältnisse
aller Kulturländer kann sich diesem neuen keines der ältern vergleichen. So z. B.
wird in dem Artikel „Bauernbefreinng" (77 Seiten) jeden: der folgenden Länder
eine besondre Abhandlung gewidmet: 1. Preußen, 2. süddeutsche Staaten, 3. Öster¬
reich-Ungarn, 4. Frankreich, 6. Belgien, 6. Dänemark, 7. Schweden, 8. Norwegen,
9. Großbritannien, 10. Rußland, 11. Rumänien, 12. Japan. Jede dieser Ab¬
handlungen ist von einem Gelehrten des betreffenden Landes verfaßt, die über
Japan von Dr. Jgnazo Otci-Nitobe in Tokio; an der über Frankreich haben zwei
Verfasser zusammengearbeitet: Paul Cauwss in Paris und Charles Gide in Mont¬
pellier. Der Artikel „Bauerngut und Bauernstand" ist folgendermaßen gegliedert:
I. „Historisch-rechtlich" von Lamprecht (fünf Perioden mit 13 Unterabteilungen).
II. „statistisch" von Conrad: 1. Wesen des Bauerngutes. 2. Der Bauernstand.
3. Der Bauer gegenüber dem Gutsbesitzer. 4. Der bäuerliche gegenüber dem land-
wirtschaftlichen Zwergbetriebe. S. Die Gefahr der Vernichtung des Bauernstandes.
K. Maßregeln zur Erhaltung des Bauernstandes. 7. Statistik der Staaten: Belgien,
Holland, England, Irland, Österreich, Italien, Dänemark, Vereinigte Staaten,
Frankreich, Deutschland. Wenn die Statistik an einzelnen Stellen noch zu wünschen
übrig läßt, so tragen nicht die Bearbeiter die Schuld, sondern die mangelhaften Ein¬
richtungen der statistischen Ämter, die ihnen das Material geliefert haben. So
würde z. B. zur klaren Einsicht in die Ackerbauverhältnisse eines Landes erfordert,
daß man wüßte, unter wie viele Eigentümer sich die landwirtschaftlichen Betriebe
der verschiednen Größenklassen verteilen, und wie sich die angebnnte Fläche zur
Gesamtfläche des Landes verhält. Namentlich für England wäre das wichtig, wo
jeder der großen Landlords viele Pachtgüter besitzt, und wo große, ehedem an¬
gebaute Flächen erst in unserm Jahrhundert der Jagd wegen wüst gelegt morden
sein sollen. Auch eine genaue Bernfsstntistik Englands wäre von der höchsten
Wichtigkeit, weil England das Vorbild ist für die moderne Umbildung der Stände
in Klassen und für die Vernichtung der kleinen selbständigen Gewerbetreibenden;
man möchte z. B. wissen, ob in England so etwas wie der deutsche Handwerks¬
meister überhaupt noch vorhanden ist. Aber gerade die englische Statistik hat den
Bearbeiter des Artikels „Beruf und Bernfsstatistik," H. von Scheel, gänzlich im
Stich gelassen. Übrigens würde es dem wissenschaftlichen Charakter dieses Artikels
keinen Abbruch gethan haben, wenn darin hervorgehoben worden wäre, daß wie
das Wort Beruf so mich sein Begriff im Neuen Testamente wurzelt. Wir sind
überzeugt, daß Kenntnis und Anerkennung dieser Abstammung, sowie die Geltung
der ursprünglichen Bedeutung, wie sie sich in manchen alten Jnnungsstatuten aus¬
spricht, von großem praktischen Werte sind. Da in Iherings Abhandlung über
„Besitz" der Entstehung des Eigentums aus der Arbeit nicht gedacht wird, so
haben wir die Erörterung dieses wichtigen Umstandes wohl in einem spätern Ar¬
tikel bei dem Worte „Eigentum" zu erwarten. Aber wenn auch Besitz und Eigentum,
wie der Verfasser klar genug auseinandersetzt, sehr verschiedne Dinge sind, so ist
es doch bei ihrer nahen Verwandtschaft mißlich, sie ganz getrennt von einander
zu behandeln. Von andern Artikeln, die über hochwichtige und brennende Fragen
der Gegenwart Aufschluß geben, nennen wir: Banken (163 Seiten, von mehreren
Verfassern), Befähigungsnachweis, Bevölkernngswesen, Bodenzersplitternng, Börse,
Branntweinbestenerung, Konsnlarrecht, Dampfersnbvention, Darlehuskassen, Deich¬
wesen, Differenzialzölle, Doppelwährung. Es versteht sich von selbst, daß alle
Artikel und namentlich die größern Abhandlungen von Fachmännern ersten Ranges
geschrieben sind; in dem stattlichen Namensverzeichnisse der Mitarbeiter finden wir
olle deutschen Lehrer der Volkswirtschaft von Bedeutung, eine Reihe hervorragender
Juristen, die Leiter der statistischen Ämter in Deutschland und Österreich, Abteilungs¬
direktoren mehrerer Ministerien, Mitglieder von Gesandtschaften u. s. w. Der Preis
eines Bandes beträgt 18 Mark, was bei diesem Inhalt und Umfange (über 1000
Seiten größten Lexikonformnts) erstaunlich billig genannt werden muß. Übrigens
ist das Werk auch in Lieferungen zu 3 Mark zu beziehe«. Der Preis des Ganzen
wird 100 Mark nicht übersteigen. Vor Ablauf des Jahres 1892 soll das Ganze
vollendet sein.
Der Verfasser klagt, daß er durch Krankheit verhindert worden sei, sein Werk
»nich seinem ursprünglichen Plan zu vollenden. Diesem Umstände hat man wohl
das Mißverhältnis zuzuschreiben, daß er erst auf S. 186 zu seinem Gegenstände
gelangt, dein er dann nur 62 Seiten widmet. Man hat aber doch anch so die >
Möglichkeit, den Gedanken des Verfassers zu verstehen. Wie es jetzt oft geht, ist
er verwundert, daß das Christentum, das nach seiner Ansicht der heutigen Kultur
als ein unsinniges System erscheint und überall preisgegeben wird, überhaupt noch
besteht. Nach seiner Meinung hat der Glaube nichts mit der Sittlichkeit zu thun;
ja die christliche Frömmigkeit geht mit der größten moralischen Verkommenheit
Hand in Hand. Er befürwortet nun nicht eine neue Religion, denn er hat soviel
erkannt, daß Religionen nicht gut gemacht werdeu können. Das nnvertilgliche
religiöse Gefühl werde sich, meint er, nach dem wechselnden Bedürfnis irgend eine
Form geben. Es wird nun der religiöse Begriff des Opfers vom Verfasser
benutzt, um die Moralität an die Stelle der Religion zu setzen; das sich opfern
zum besten andrer, das Aufgeben alles dessen, was der natürliche Mensch liebt
und schätzt, ist die Religion der Zukunft. Die Gottesdienste giebt man auf „im
Dienste der Menschheit," wobei es auch leichter wird, auf Belohnung im Jenseits
zu verzichten. Den Einzelnen und die Gesellschaft zu verbessern, das sind die
Aufgaben, die dieser Menschheitsdienst mit sich bringt. Wir könnten wohl wünschen,
daß der Verfasser womöglich bessere und kräftigere Antriebe zu solchem Dienste
fände, als wir sie im christlichen Glauben finden. Aber was er über die Pflege
der menschlichen Natur sagt, giebt leider geringe Aussicht auf »neue, von der
religionsfreien Moral dargebotene Hilfsmittel der Besserung; denn der Verfasser
schließt sein Buch mit einer oberflächlichen Wortmacherei über Gnade und Willens¬
freiheit.
Vielleicht ist uuter diesen Umständen die Vorrede noch um wertvollsten, in
der er sich über die soziale Frage ausspricht. Er sieht in der nahen Zukunft
einen Zustand voraus, in dem zuerst das Industriekapital nichts mehr verdient und
sodann der Lohn der Arbeiter aufhört. Der Staat wie die Individuen werden
ärmer. Eine Verteilung des Geldes an die Armen kann nichts nützen. Auch ist
es nicht möglich, dnrch Veranstaltung öffentlicher Arbeiten mehr als vorübergehend
zu helfen. Die Hauptschwierigkeit liegt in der Übervölkeruugsfrage, und hier ver¬
tritt der Verfasser mit großer Lebhaftigkeit die Ansicht von Mnlthus von der
Einschränkung der proletarische» Fortpflanzung. „Christliche Priester haben aus
rein religiösen Gründen frühe Heiraten angeraten und unterstützt. Anderseits
behaupten Svzialdemokrnten in ihrem Kampf gegen Kapital und seine Besitzer, daß
einzig und allein die selbstsüchtige Habgier der Reichen die Armen verhindre, sich
bis zur Grenze ihrer physischen Fähigkeiten zu vermehren." Gerade daß die
„Unfähigen" und „Wertlosen" sich vermehren, nicht die Bessern, erschreckt ihn,
Wie so viele andre Engländer. „Die Strafbarkeit, Kinder hervorzubringen, wenn
keine vernünftige Möglichkeit da ist, sie zu erhalten, muß bald in ihrem wahren
Licht als eins der gemeinschädlichsten, selbstsüchtigsten Verfahren, dessen ein Mensch
heutzutage fähig ist, erkannt werden." Er macht auf ein Beispiel vom obern
Hudson aufmerksam, wo vor mehreren Menschenaltern ein „Strnßenkiud" Margaret
die Stammmutter von mehr als zweihundert Verbrechern geworden ist, außer einer
großen Zahl von Idioten, Trunkenbolden, Blödsinnigen, Armen und Hurer, alles
dieses nach den Gerichtsakten. Wenn er freilich nichts mehr gegen das soziale
Übel zu thun weiß, als dies, so wird er den Ruin nicht vermeiden.
Die Übersetzung des Buches ins Deutsche ist ungemein schlecht, dem Übersetzer
fehlt durchaus die nötige Bildung für solch ein Buch. Selbst Bibelstellen übersetzt
er nur richtig, wenn ihm die Lutherstelle gegenwärtig ist, wo dies nicht der Fall
ist. wie S. 49 (1. Kor. Is, 19). irrt er merkwürdig: „wenn wir in diesem Leben
schon iMlzs) Hoffnung auf Christus haben, so sind wir die elendesten u. s. w."
S. 50 braucht der Übersetzer das Wort,,Anwartschaft," wo es „Gleichgiltigkeit" heißen
soll. Das Wort se?lie)1a.r für Scholastiker kennt er nicht (S. 28). S. 1.56 sagt er:
der Graf von Britannien, der „sieben Jahre lang im Kirchenbann lebend gegen
die Prälaten Klage führte zu dein Ende, daß der Papst sie alle verurteilte" statt
bis endlich der Papst u. f. w. Auch die logische Formel vowris M-idrrs und
ähnliche Formeln in andern Sprachen sind ihm unbekannt. S. 221 sagt er:
„wenn andre Dinge ebenso sind" für „unter übrigens gleichen Umständen." Ein
Satz auf derselben Seite lautet: „Die Kohäsion der psychischen Zustände wird durch
ihr häufiges Aufeinanderfolgen so etablirt, daß sie organisch wird"; das soll deutsch
sein! Eine schone Bereicherung der Schriftsprache ist auch das Wort ixbeliebig.
Mönches darf man vielleicht als Druckfehler ansehe». Es ist aber doch sonderbar,
daß der Verleger eine solche Übersetzung uicht in ihrem Wert erkannt hat.
Dieses Büchlein ist der erste Versuch, die Gesamtheit der deutschen Vornamen
auf wissenschaftlicher Grundlage zu deuten. Mit außerordentlichem Fleiße hat der
Verfasser die ältesten deutscheu Raumformen — mehr als 2000 — gesammelt,
sie im Anschluß an die Forschungen Grimms. Weinholds, Förstemauns u. ni. erklärt
und jedem einzelnen die Reihe der Geschlechtsnamen hinzugefügt, die aus ihm
hervorgegangen sind. Über 15 000 heutige Geschlechtsnamen finden so eine aller¬
dings nicht immer unanfechtbare Erklärung, doch verschwinden die zweifelhaften
Deutungen in der Fülle des Richtigen und Wahren. Und des Trefflicher und
Schönen, dürfen wir hinzufügen, das uns der Verfasser in seinem Büchlein in
reichem Muße geboten hat; deun wie tief und edel sind diese Namen durchweg
von unsern Vorfahren gedacht worden, und wie wohllautend klingen sie in ihrer
Kraft und Männlichkeit dem Ohre, beredte Zeugen deutschen Wesens und deutschen
Geistes in alter ZeitI In der kurz gefaßten Einleitung giebt der Verfasser eine
geschickt zusammengestellte Übersicht über den Inhalt der Namen, knüpft daran
einige Bemerkungen über ihre Bildung (das Gesetz der zweistämmigen Kürzung
wird dargelegt, verschiedne Ableitungsformen werden besprochen) und schließt mit
einer gedrängten Darstellung der Entstehung unsrer heutigen Geschlechtsnamen.
Ein seltsames Buch, bei dem wir lange im Zweifel geblieben sind und im
Grunde genommen noch zweifeln, ob es ein Stück ernstgemeinter Lebensdarstelluug
oder eine Satire auf das Strebertum gewisser moderner Schulmeister sein soll.
Man könnte sich etwa vorstellen, daß die gleiche Erfindung, mit schärferer, etwas
mehr karikirter Charakteristik der handelnden Personen, von einem Sozialisten ge¬
schrieben sei, der die bewußte und unbewußte „Korruption des Kapitalismus" auch
in den mittlern Schichten unsers gebildeten Bürgertums geißeln wollte. Oder man
dürfte argwöhnen, daß ein wackerer Gymnasiallehrer alten Schlages die modernen
Realisten und Schulreformer hinter der sichern Schanze eines Philologenzerrbildes
hervor, wie das des Professors Lamprecht, des Euripidesforschers, mit seiner
griechisch-lesenden altjüngferlichen Tochter Levkadia unzweifelhaft eiues ist, seiue
Pfeile gegen die Verkünder eiuer neuen Bildung abschieße. Wenn man liest, daß der
Zusammenhang der Vertreter der neuen lebendigen Bildung mit dem Leben vor
allem durch fröhliche Symposien, Berliner Ballhausstudieu, Kölner Karnevals¬
abenteuer, nächtliche Fahrten mit einer jener gefährlichen Schönen, die zwar im
entscheidenden Augenblicke sich und dem Freunde „die Reue ersparen," es aber
übelnehmen, falls dieser entscheidende Atigenblick ausbleibt, und durch ähnliche Dinge
vermittelt wirds und am Schlüsse das Pathos vernimmt, mit dem der bisherige
Oberlehrer und nunmehrige Abgeordnete Lehrende Mark auf der Rednerbühne des
preußischen Abgeordnetenhauses „Beseitigung der Schranken, welche das altklassische
Gymnasium vor die freie Entwicklung unsers deutschen Volkstums und der treibenden
Kräfte unsrer heutigen Welt aufgetürmt hat" fordert, so erwehrt man sich schwer
des Gedankens an eine satirische Absicht. Auch die Art, wie der Held von vorn¬
herein an den Drahtfaden eines schlauen Berliner Kanzleiratsehepaares gelenkt wird,
dessen hübsches Töchterlein Elly er zu Anfang der Geschichte geheiratet und nur
deshalb bekommen hat, weil Kanzleirat Dobert besser weiß, als der Oberlehrer
selbst, welchen Reichtum der westfälische Bauernsohn dereinst erben wird, wie er sich
schließlich vom Schwiegerpapa auf die große Streberbühne ziehen läßt, ist schwer
zu vereinigen mit einem Helden, den man ernsthaft nehmen soll. Und doch kann
alles in vollem Ernst gemeint sein. „Oberlehrer Mark" trägt das Bodenstedtsche
Motto:
Wie zwei sich finden, die sich lieben,
Flut ich täglich in neuen Romanen beschrieben;
Doch wie sie durchs Leben beisammen bleiben,
Scheint mir eine größere Kunst zu beschreiben.
Und so scheint denn der Roman ganz ernstlich ein Menschenschicksal darstellen zu
sollen, oder vielmehr die Schicksale eines jungen Paares, die mit der Hochzeitsreise
an den Comersee anheben und, über ein Gymnasiallehrerjahrzehnt in Nheinbach
hinweg, in einer herrschaftlichen Wohnung in der Berliner Lützowstraße enden, in
der der Abgeordnete Mark Ministerialdirektoren und andre mächtige Persönlichkeiten
mit 1868er Josephshöfer und ähnlichen guten Dingen bewirtet. Natürlicherweise
hat der künftige Volksvertreter, der im Verlauf seiner Erlebnisse sich aus einem
Altphilologen in einen überzeugten Realschulmann wandelt, inzwischen eine Menge
von Erfahrungen zu machen, davon einige oben angedeutet wurden. Und wenn
man auch versteht, daß es dem realistischen Darsteller von heute nichts verschlägt,
den Menschen, den er vorführen will, in eine Anzahl kleiner Lumpereien und be¬
denklicher Situationen zu verstricke», so begreift man doch schwer, falls das Ganze
nicht Satire sein soll, warum der biedere Lehrende von der ersten bis zur letzten
Seite der Narr und Pinsel des findigen geheimen Kanzlcirats bleibt. Man müßte
denn die Moral daraus entnehmen sollen, daß gewisse Naturen zu ihrem Glück
geleitet werden müssen, wie man im Blindekuhspiel an einen Baum oder in eine
Zimmerecke geführt wird. Jedenfalls schüttet diese Art von Lebeusdarstellung
Wasser auf die Mühle der unbarmherzigen Bekämpfer und Zerstörer der heutigen
Gesellschaft.
er von den liberalen deutschen Zeitungen Österreichs seit langem
angekündigte Umschwung in der Stellung der Regierung zu den
Parteien hat sich um wirklich vollzogen, allerdings in wesentlich
andrer Art, als von jenen geweissagt wurde. Weder ist der
Ministerpräsident Graf Tcmffe gestürzt worden, noch hat er sich
mit den Führern der Opposition umgeben; beide sind einander entgegen¬
gekommen und haben versprochen, sich zu vertragen, ruhen zu lassen, was sie
trennt, gemeinsam zu arbeiten. Politiker, die nu dem Glaubenssätze festhalten,
daß die Staatsgeschäfte nur dann gut besorgt werden können, wenn in der
Volksvertretung eine geschlossene Mehrheit besteht und ans ihrer Mitte ein
Ministerium gebildet wird, werden durch den neuen Zustand nicht befriedigt
sein. Aber dreißig Jahre praktischer Politik — ein wahrer dreißigjähriger
Krieg — scheinen endlich wenigstens die Deutsch-Österreicher zu der Einsicht
gebracht zu haben, daß das parlamentarische Regiment Englands uicht schablonen¬
mäßig auf ein Reich mit durchaus andern Verhältnissen übertragen werden
kann. Sage» wir: vorläufig nicht. Denn der Realpolitiker weiß ja, daß große
Ereignisse oder langsame, unmerkliche Wandlungen ganz neue Lagen schaffe»
tonnen, daß morgen ausführbar sein kann, was heute noch unmöglich scheint.
Genug, vor der Hand erklärt sich, soweit wir es zu übersehen vermögen, die
teutschgesinnte Presse einverstanden mit dein Satze, den sie bis vor kurzem
aufs heftigste bekämpfte, nämlich daß sich eine große Partei nichts dadurch
vergebe, wenn sie eine Regierung unterstützt, in der sie uicht vertreten ist,
daß es für sie noch etwas andres geben könne, als entweder Negierimgspartei
oder Opposition zu sein. Das ist ein Gewinn, nicht allein für Österreich.
Wir sind keine Bewunderer der bisherigen Opposition im Neichsrate, stehen
aber nicht ein, hervorzuheben, beiß sie in diesem Falle, wie bereits mehrfach
in der Behandlung sozialer Fragen, ein nachahmenswertes Beispiel gegeben
hat. Weiter ist der Umschwung von großer Bedeutung, insofern nun das
mit Recht so häufig kritische Verhältnis beseitigt ist: eine Regierung sich auf
eine parlamentarische Mehrheit stützend, die der auswärtigen Politik des Reiches
feindselig gegenüberstand.
Das Bedürfnis nach Ruhe und Frieden, das unverkennbar einen beträcht¬
lichen Anteil an der neuen Wendung hat, war seit Jahr und Tag zu bemerken.
Es braucht nur daran erinnert zu werden, mit welcher Bereitwilligkeit im
vorletzten Winter die Deutschböhmen auf den angeblich von höchster Stelle
ans angeregten Gedanken eingingen, in freien Konferenzen eine Verständigung
zwischen den beiden Volksstämmen in Böhmen zu suchen. Die böhmische Frage
ist oft treffend die österreichische Frage genannt worden; gelänge es, die Be¬
wohner dieser wichtigen Provinz wieder dahin zu bringen, daß sie friedlich
wenn nicht mit, doch neben einander leben zu können glaubten, so dürfte mit
größerer Ruhe der Zukunft entgegengesehen werden. Und diese Wahrheit wird
es gewesen sein, was die Vertreter der Deutschen bewogen hat, ernsten Opfern
zuzustimmen. Dazu gehörte, daß das Übergewicht des großen Grundbesitzes
noch verstärkt werden sollte, wofür ein Mitglied dieser .Klasse, ein „Tscheche"
mit dem Namen Schwarzenberg, seinen Dank soeben in überraschender oder
vielleicht auch nicht überraschender Weise abgestattet hat. Die „Ausgleichs¬
verhandlungen" hatten nicht den gewünschten Erfolg, die von den Konferenzen
ausgeschlossenen Juugtschechen, bewahrte Demagogen, hetzten das „verratene
Volk" gegen die Alttschechen auf, diese versuchten durch Drehen und Deuteln
an dem gegebenen Worte die verlorene Popularität wiederzugewinnen, erreichten
jedoch so wenig ihren Zweck, daß sie bei den Wahlen in diesem Frühjahre
„weggefegt" wurden (diesem Ausdrucke begegnen wir immer wieder). Das
Ministerium, das an die Wähler Berufung eingelegt hatte, um Klarheit über
deren Stimmung zu erhalten, sah sich einem völlig neuen Bilde gegenüber.
Durch das Verschwinden der alttschechischen Partei und deren Ersatz' durch
die Jungen war die Wiederherstellung der slawisch-klerikalen Regierungsmehr¬
heit ausgeschlossen; denn diese Jungen, die sich anfangs nur durch ihren
Liberalismus von den Alten unterscheide!: wollten und Miene machten, mit
den deutschen Liberalen zusammenzuwirken, waren längst zu Vertretern der
Großmannssucht und des hussitischen blinden Nationalhasses geworden, svdnß
gar keine Regierung daran denken konnte, mit ihnen in Verbindung zu trete».
Die beiden größten Parteien im jetzigen Abgeordnetenhaus« sind die „Ver¬
einigte Linke," die in den Lebensfragen des Staates uns die Unterstützung
kleinerer Gruppen zählen darf, und die Polen, die als Slawen und strenge
Katholiken ebenfalls Berührungen mit andern Fraktionen haben; für sich allein
hat aber keine Partei die Mehrheit im Hause. Bald verlautete, daß Graf
Tnaffe Besprechungen mit den Parteihäuptern halte, und um die noch nicht
abgeschlossenen Verhandlungen nicht zu stören, verzichtete man auf die Beant¬
wortung der Thronrede dnrch eine Adresse. An die Stelle der Adreßdebatte,
auf die bekanntlich der echte und gerechte Parlamentarier den höchsten Wert
legt, ist uun die Generaldebatte über den „Staatsvvranschlag" gerückt. Mittler¬
weile hatte sich die Lage geklärt, der Finanzminister Dunajewski, wie aller¬
seits anerkannt wird, ein tüchtiger Fachmann und unermüdlicher Arbeiter,
aber seiner Schroffheit wegen bei seinen eignen Landsleuten nicht beliebt und
von den Deutschen, wie es scheint, am bittersten gehaßt wegen seines Wortes,
daß in Österreich ohne sie regiert werden könne, war gegangen, und die ersten
Tage jener Generaldebatte, der 10. und 17. Juni, brachten die förmlichen Er¬
klärungen, daß Ministerium, deutsche Linke und Polen sich geeinigt hätten,
wenn anch Graf Tnaffe durch die Äußerung, er sei durch das Entgegenkommen
der erstell Redner dieser beiden Parteien nicht überrascht worden, sein Zuthun
in Abrede zu stellen schien. Andre waren sichtlich überrascht, der nun ver¬
waiste Nest der einstigen Rechten und die Jungtschcchcn. Ob die deutsche
Parteipresfe ins Geheimnis gezogen worden war oder nicht, läßt ihre Haltung
nicht erkennen; im erstern Falle hätte sie es mit ungewohnter Strenge gewahrt,
im andern ohne Murren eingeschwenkt, unter allen Umständen also eine Dis¬
ziplin bewährt, über die sie bei ander« Parteien Spott oder Entrüstung aus¬
zuschütten Pflegt. Das Hemd ist eben näher als der Nock, man kann sür die
antike Charakterfestigkeit der „Freisinnigen" schwärmen und ein entsprechendes
Verhalten im eignen Lande doch unangenehm finden.
Einen „Waffenstillstand" hatte der Minister den Parteien vorgeschlagen,
damit Reformen in der Steuerpolitik und andre dringende Arbeiten ans dem.
Gebiete der Volkswirtschaft im weitesten Sinne ungestört verrichtet werden
könnten. Daß die jetzigen Vertreter der tschechischen Böhmen auf das Gezänk,
auf das Dreschen des leeren Strohs „nationaler Beschwerden" nicht verzichten
können, versteht sich von selbst, ihre Wähler würden ihnen sofort vorwerfen,
sie wären nicht bester als die vielgeläfterteu Alttschechen. Auch die Slowenen
wollen nichts von Waffenruhe wissen. Ihre Klagen über Unterdrückung finden
ja immer noch hie und da Glauben, wie wir vor einiger Zeit in den Grenz-
boten bemerkt haben. Solchen Wohlwollenden wäre das Lesen der dies¬
maligen Reden slowenischer Abgeordneten zu empfehlen, damit sie erkennen,
daß diese interessanten Südslawen, die in Kram das Heft in Händen halten,
mich in deutschen Ländern, wie Kärnten und Steiermark, die Rolle der
Tschechen in Böhmen spielen möchten. Große Verstimmung gegen die Negie-
nuig und gegen die fahnenflüchtigen Polen verraten die Reden der böhmischen
Feudalen, und namentlich ein Prinz Schwarzenberg, wohl derselbe, der sich
vor längerer Zeit dnrch jnnkerhcifte Herausforderung der Deutschen im Land¬
tage Böhmens unangenehm bemerkbar gemacht hat, teilt nach allen Seiten
schlechte Prophezeiungen und Drohungen aus. Er fordert die Befriedigung
der nationalen Ansprüche der Tschechen, versteht hierunter jedoch etwas ganz
andres als andre Redner mit ebenso tschechischen Namen wie Schwarzenberg
(Greger, Herold, Engel u. s. w.); ihm scheint ein Königreich Böhmen mit
altständischer Verfassung vorzuschweben, das „konstitutionelle Prinzip," meint
er, habe in Österreich noch nicht die Probe bestanden. Wenn wir endlich
noch die Partei, die sich abwechselnd Sozialresormer und Antisemiten nennt,
erwähnen, so glauben wir alle Fraktionen, die sich gegen die neue Wendung
ablehnend verhalten, berücksichtigt zu haben. Als ihr Wortführer trat der
Prinz Liechtenstein auf, der einmal die Wiederherstellung der konfessionellen
Volksschule beantragt und sich dadurch deu ausdauernden Haß aller Philose-
miten zugezogen hat. Seine Widersacher erhoben sich denn auch nicht über
das bescheidne Niveau derjenigen Zeitungsschreiber, die bei der Beurteilung
politischer Parteien und politischer Personen vor allem deren Stellung zur
Judenfrage in Betracht ziehen. Was der Prinz vorbrachte, daß die Börse
aus einem Markt eine Spielhölle geworden ist, daß das einst durch eine vor¬
treffliche Organisation geschützte Handwerk sich rettungslos dem Zwischenhandel
und der Großindustrie überantwortet sieht, daß der Bauer zu Grunde geht,
alle Arbeit vou der Spekulation ausgebeutet wird, ist allerdings nicht neu,
aber wenn man darauf nichts besseres zu entgegnen weiß, als daß er die
soziale Frage durch Beseitigung der Konfektionäre und Wiederherstellung der
Zünfte lösen wolle oder daß früher auch Adliche die Arbeitenden nnsgebentet
hätten, so verrät das wenigstens einen bedenklichen Grad von Rücksicht ans
eine Vundesgenossenschaft, durch die überall immer weitere Kreise den liberalen
Parteien entfremdet werden. Viel glücklicher waren die Reden, die jung¬
tschechische Augriffe abschlugen, ausmalten, wie es den Demokraten unter der
von ihnen angeblich so heiß ersehnten alten böhmischen Verfassung ergehen
würde; und der feudal-klerikal-nationale Enkel oder Seitenverwaudte des
Mannes, der die Ehre gehabt hat, die deutschen Heere gegen den ersten Na¬
poleon zu führen, wurde vou dem steirischen Grafen Wurmbrandt und dem
bekannten konservativ und strengkatholisch gesinnten Lienbacher vollständig
abgeführt. Überhaupt bekommt man den Eindruck, daß daß Tschechentum am
schlechtesten weggekommen sei. Nicht nur lagen sich Aristokraten und Demo¬
kraten gegenseitig in den Haaren, ein Abgeordneter, dessen Name einige Ver¬
wandtschaft mit „Gewäsche" hat, plauderte gelegentlich den Herzenswunsch, die
Segnungen der russischen Freiheit zu genießen, so unbesonnen aus, daß seine
Freunde, die soeben noch den sonstigen Stolz ihrer Nation, die schimpfenden
und prügelnder Prager Studenten, ziemlich unverblümt als unnütze Buben
preisgegeben hatten, auch jenes calme torriblo abzuschütteln trachten.
Die Aufgabe, den Operationsplan der deutsch - liberalen Partei zu ent¬
wickeln, fiel ihrem anerkannten Führer von Pierer zu, und er entledigte sich
ihrer mit entschiednen Geschick. Gegen den Vorwurf des Gesinnungswechsels
verwahrte er seine Partei durch die Behauptung, daß nicht sie, sondern die
Verhältnisse sich soweit geändert hätten, daß sie der Partei eine andre Haltung
ermöglichen. Allein harte Erfahrungen bestimmten sie, sich nach keiner Seite
hin zu binden, sich die Freiheit des Entschlusses bei jeder vorkommenden Frage
vorzubehalten, und zwar ebenso mit Beziehung auf deren sachlichen Inhalt,
als auf die politische Lage des Augenblicks. Die Linke und die Polen hätten
so viele Berührungspunkte, stellten sich vor allem mit solcher Entschiedenheit
auf den Boden des Staates, dessen Wohl und Wehe über den Sonderinteresseu
stehen müsse, daß beide mit einander eine Mehrheit bilden könnten, wie das
auch schon früher geschehen sei; eben der Begriff einer Staatspartei unter¬
scheide sie von andern, vor allem der tschechischen, die die staatsrechtlichen
Verhältnisse der Monarchie nur mit Vorbehalt anerkennt und der auswärtigen
Politik eine der jetzigen entgegengesetzte Richtung geben möchte. Den um¬
ständlichen Auseinandersetzungen, wie sich die Partei zu einzelnen Fragen stelle,
brauchen wir hier nicht zu folgen. Die Seltsamkeit des Verhältnisses zwischen
den drei Faktoren, die alle nachdrücklich die „freie Hand" betonen und Vor¬
sicht als Kardinaltugend preisen, kaun niemand entgehen; ob die Deutschen
diesmal an den Polen zuverlässigere Freunde finden werden, als bisher, muß
abgewartet werden. Schon jetzt erheben zwei Elemente, die in der Geschichte
des polnischen Reiches eine so verhängnisvolle Rolle gespielt haben, Ultra-
montanismus und Disziplinlosigkeit, Einspruch gegen die opportunistische
Haltung der Führer. Auf deren Energie und politischen Takt wird es
wesentlich ankommen, ob die nun der Regierung zur Seite stehenden Parteien
einander mehr leisten sollen, als „persönliche Komplimente und Erklärungen
politischer Sympathie," wie der Abgeordnete Pierer sagte.
Von großer Bedeutung sind immerhin, zumal in dem Augenblicke der
Erneuerung des Dreibundes, das rückhaltlose Eintreten der Deutsch-Österreicher
nicht nur, sondern auch der Galizier für dieses Bündnis, die Abwendung des
Ministeriums von den Parteien, die Österreich dem reinen Föderalismus und
der Slawenherrschaft zuführe» möchte, die nur noch von winzigen Fraktionen
verweigerte Anerkennung des Deutschen als Staatssprache im Heer und in der
Verwaltung. Nicht allein jeder Deutsche, nein, jeder Europäer, der diesen
Weltteil vor neuen Erschütterungen gewahrt, ihn weder republikanisch noch
lvsakisch wissen möchte, muß der österreichisch-ungarischen Monarchie wünschen,
daß der in deren westlicher Hälfte eingeschlagene Weg mit Ruhe, Besonnenheit
und — Beharrlichkeit verfolgt werde.
ein ersten der beiden nachfolgende» Artikel haben wir die Auf¬
nahme nicht versagen wollen, obgleich er mit dem, was sonst
nnn schon seit längerer Zeit durch die Grenzbvtenanfsätze über
die soziale Frage als Grundton klingt, nicht übereinstimmt. Wir
erlauben uns aber, nnter Nummer 2 eine Kritik danebenzn-
stellen, mit dem Wunsche, daß dadurch solche Leser, die bisher noch immer
an dieser wichtigen Frage gleichartig vorübergegangen sind, veranlaßt werden
mochten, Stellung dazu zu nehmen.
Am 1. Juni hat der sozialdemokratische Abgeordnete von Bvllmar in
München in einer Versammlung der dortigen sozialdemokratischen Partei eine
Rede gehalten, die in der Partei und außerhalb großes Aussehen erregt hat.
Sie handelt über das Thema: „Die Entwicklung der Sozialdemokratie nnter
dem neuen Kurs" und führt den Satz durch, daß die politische Thätigkeit der
Sozinldemokratie heute eine andre sein müsse, als unter der Herrschaft des
Svzialisteugcsetzes. Das sei ein Ergebnis des veränderten Kurses der Negierung,
die mit Unrecht behaupte, daß der Kurs der alte geblieben sei.
Nun ist es gar keine Frage, daß Vollmars Rede von den andern sozial-
demokratischen Reden, die man sonst überall im Reiche und besonders in der
Hauptstadt zum besten giebt, in ihrem Tone sehr abweicht. Vollmar will
z. B. anerkennen, daß die sozialdemokratische Forderung ans internationale
Regelung des Arbeitsschutzes einen Ansatz von Verwirklichung in der inter¬
nationalen Arbcitcrschntzkonfcrenz in Berlin gefunden habe. Sei diese ziemlich
ergebnislos verlaufen, so sei nur das Kapital daran schuld. Auch könne man
heute einen legalen Einfluß auf den Gang der öffentlichen Angelegenheiten
nehmen. Daß das früher auch nur von dem guten Willen der sozialdeuiv-
kratischen Abgeordneten und von ein wenig Verstand und Mäßigung der Partei
abgehangen hat, davon schweigt natürlich der Redner. Man merkt es aber
seiner Rede an, daß er diese für alles wirksame politische Handeln notwendige
Eigenschaft in dem frühern Verhalten der Sozialdemokratie einigermaßen ver-
mißt; er giebt den Führern den sehr vernünftigen Rat, mehr ins einzelne zu
gehen: „das Erreichte i^doch wohl ohne die Mitwirkung der Sozialdemokratie
durch die unter Bismarcks Regiment und Initiative zu stände gekommene
soziale Gesetzgebung erreichtes betrachten wir nicht als ein Geschenk, sondern
als eine Abschlagszahlung." Was Vvllmar seinen sozialdemokratischen Genossen
zuruft, nicht immer wieder auf die Ereignisse von 1806 und 1870/71 zurück¬
kommen, was er über den Dreibund sagt, sür den er bis zu einem gewissen
Grade eintritt, wie er den nationalen Gedanken nicht durch den der Jnter-
natioualität aufgehoben haben will, was er über das ekelhafte Treiben des
„offiziellen" Frankreichs (bloß des offiziellen?) Rußland gegenüber vorbringt,
das alles läßt sich hören und wenigstens als einen Versuch zu maßvollerer
und nuständiger Betrachtung der vaterländischen Dinge gegenüber den ge¬
wohnten sozialdemokratischen Ungeheuerlichkeiten ansehen. Daß aber dieser
Versuch auch der Anfang sein werde für einen vernünftigen und besonnenen
Gang der Arbeiterbewegung, daß er ein Ausdruck dafür sei, daß man bei den
sozialdemokratischen Führern zu verständigen Forderungen und zum ernsten
Mitarbeiten mit den bürgerlichen Parteien im staatlichen Leben bereit sei, das
ist deshalb kaum anzunehmen, weil der sozialdemokratische Redner gleich im
Anfang seiner Rede den Genossen versichert, daß die Sozialdemokratie in der
Sache die alte bleibe. Und daß dieser Satz nicht etwa nur der Übereifrigen
halber gesagt, die von Anfang an beschwichtigt und besänftigt werden sollten,
daß vielmehr der Ansatz zu besonnener Haltung der Taktik wegen aufgestellt
worden ist, das geht aus einem weitern Artikel des Vollmarschen Parteiorgans,
der „Münchner Post" hervor, der als Ergänzung zu den Ausführungen vom
1. Juni gegeben worden ist und der zeigt, weshalb man jetzt mildere Saiten
aufzieht, zugleich mit der Behauptung, das Bürgertum habe stets das Wesen
der Sozialdemokratie mißverstanden, es sei geflissentlich die Meinung verbreitet
worden, daß die Sozialdemokratin gemeingefährliche Menschen seien, und diese
Anschauung sei noch ziemlich allgemein „gerade in jenen Kreisen, in welchen
unsre Ideen zu verbreiten wir jetzt an der Arbeit sind, auf dem Lande." Man
wolle nicht leugnen, daß die Sozialdemvkrntie eine revolutionäre Partei sei,
aber diese Revolution werde in den Köpfen vor sich gehen, Gewalt werde
nicht bezweckt. Auch in diesem Artikel, der „Bedenken" überschrieben und der
ganz besonders für die ländlichen Kreise, wo man jetzt „an der Arbeit" ist,
geschrieben zu sein scheint, wird darauf hingewiesen, daß die Sozialdemokratie
auch heute auf ihrem alten Boden stehe.
Es wird gut sein, auch unsre Leser von Zeit zu Zeit wieder daran zu
erinnern, wie beschaffe» dieser alte Boden ist. Und so wollen wir denn hier einen
Blick in die Anfnngsgeschichte der Sozialdemvkrntie thun, die diesen Boden
bereitet hat. Es wird das um so nützlicher sein, als für die ganze lange
Entwicklungsreiye des sozinldemokratischen Programms, von den Statuten der
internationalen Arbeiterassoziation an, die im September 1864 als Bundes-
prvgramm auf dem Londoner Meeting durch Karl Marx aufgestellt wurden,
bis herab zu der Rede, die Bebel am 5. Juni dieses Jahres gehalten hat und
worin er die Vrotverteuerung als Beweis für die Notwendigkeit anführte,
daß eine Umwandlung der Gesellschaft von Grund aus vorzunehmen, und
zwar „in erster Linie durch Umwandlung der Privatwirtschaft des Grund und
Bodens in sozialistische Gcmeinwirtschaft vorzunehmen" sei, auf dieser ganzen
Reihe immer dieselben Ziele, Gedanken und Forderungen stehen: die Abtren¬
nung der arbeitenden Klassen von der übrigen bürgerlichen Gesellschaft, also
die Auflösung der staatlichen Gemeinschaft, die Aufhebung des Eigentums und
des Erbrechts, die Jnternationalität, d. h. die Vernichtung des nationalen
Geistes. Nur Lassalle, der wenige Wochen vor dem Londoner Meeting ge¬
storben war, war ein guter Patriot gewesen und hatte eine „nationale Kultur¬
bewegung" im Auge gehabt. Hätte er länger gelebt, so ist keine Frage, seine
leidenschaftliche Liebe zu dem Boden, der ihn erzeugt und ernährt hatte, wäre
auch ihm bei seinen eignen Anhängern zur Schmach geworden. Denn anch
die Anhänger Lassalles haben nach seinem Tode gnr bald die internationale
Phrase und mit ihr jenen Haß gegen das Vaterland gepflegt, wie er sich
jetzt in dem lügenhaften Gewebe Liebknechts über die Emser Depesche in
jedem sozialistischen Winkelblatt mit böser Grimasse ausspricht. Und so ist
denn jetzt auf der ganzen Linie der sozialdemokratischen Wühlerei jene Über¬
einstimmung in den letzten Zielen, die so lange bleiben wird, so lange es der
Kampf gegen 6le bürgerliche Gemeinschaft erfordert.
Worin diese Ziele bestehen, stellt am knappsten das Gothaer Programm
vom Mai 1875 zusammen. Da werden wir belehrt, daß, woran noch kein
Mensch gezweifelt hat, die Arbeit die Quelle alles Reichtums und aller Kultur
sei, und daran wird mit Berserkerlogik die Behauptung geknüpft, daß allge¬
mein nutzbringende Arbeit nur durch die Gesellschaft möglich sei; darum gehöre
auch das gesamte Arbeitsprodukt der Gesellschaft, d. h. allen ihren Gliedern,
jedem nach seinen vernunftgemäßen Bedürfnissen. Was das für „vernunft¬
gemäße" Bedürfnisse sind, und wie ihre Produktion und Konsumtion bei dieser
ungeheuern Gemeiuschaftsmasse geregelt werden soll, der Zwang, der zu solcher
Regelung erforderlich wäre und an den kein Zwang unsrer Zuchthäuser hinan¬
reichen würde, das alles wird unter der grauen Phrase der Verteilung des
Arbeitsprodukts nach gleichem Recht, jedem nach seinen vernunftgemäßen Be¬
dürfnissen, vorläufig dem gläubigen Anhänger versteckt, thut aber bis zu der
Zeit, wo die Entfaltung der neuen Gesellschaft möglich wird, die vortreff¬
lichsten Dienste. Denn die Aufstellung des schönen Zukunftsbildes, wo alle
wünschenswerten Genüsse bei mäßiger Arbeit jedem zu teil werdeu, gewinnt
alle Urteilslvsen. In dem Gothaer Programm heißt es dann wieder: „In
der heutigen Gesellschaft sind alle Arbeitsmittel Monopol der 5Üipitalistenklnsse;
die hierdurch bedingte (?) Abhängigkeit der Arbeiterklasse ist die Ursache des
Elends und der Knechtschaft in allen Formen." Darum müßten die Arbeits¬
mittel, d. h, alles unbewegliche und bewegliche Vermögen, in Gemeingut der
Gesellschaft verwandelt und die Gesamtarbeit genossenschaftlich geregelt, der
Arbeitsertrag gemeinnützig verwendet und gerecht verteilt werden. Die Worte
„gerecht" und „vernunftgemäß" wurden bei der Beratung des Programms
von Hasenelever angegriffen, da der sozialistische Staat ganz von selbst gerecht
sei und seine Angehörigen nur vernunftgemäße Bedürfnisse haben könnten.
Sie wurden aber aus taktischen Gründen beibehalten. Es sind eben Worte,
Worte mit unschuldigem Klang, unter denen die giftige Ware des nacktesten
Kommunismus den entzückten Zuhörern aufgeschwatzt wird. Es klingt ja so
unschuldig, wenn z. B. der Raub des Vermögens eine „Verwandlung der
Arbeitsmittel in Gemeingut der Gesellschaft" genannt wird, oder, wie sich
heutzutage die sozialistische Gaunersprache ausdrückt: „Wir Sozialisten wollen
keinem nehmen, sondern alleu geben."
Wenn nun im Programm der Sozialdemokratie weiter mit der unschul¬
digsten Miene von der Welt die Zerreißung der ganzen bürgerlichen Gesell¬
schaft als Ziel der sozialdemokratischen Thätigkeit mit den Worten empfohlen
wird: „Die Befreiung der Arbeit muß das Ziel der Arbeiterklasse bleiben,
der gegenüber alle andern Klassen nur eine reaktionäre Masse sind," so fragt
man sich mit Recht, ob bei Aufstellung solcher Grundsätze für die staats¬
erhaltenden Parteien noch irgend eine Hoffnung zur Unterhandlung mit der
Sozialdemokratie möglich sei. Wenn es in der Vollmarschen Rede heißt:
„Wo wir den Anfang eines guten Willens finden, müssen wir ihn stärken,
alle schlechten (d. h. nichtsozialdemokratischen) Einflüsse energisch bekämpfen
und das arbeitende Volk zur politisch-wirtschaftlichen Macht organisiren, damit
den Parteifvrdernngen ein kräftiger Nachdruck verliehen werde," so wird es,
wie gesagt, sehr nützlich sein, eben diese Parteiforderuugen uns immer durch
Betrachtung der sozialdemokratischen Ziele vor Augen zu halten.
Sollte zuerst nach Angabe des Gothaer Programms alle politische und
soziale Ungleichheit durch Enteignung der besitzenden Klassen beseitigt werden,
so ist als zweiter Grundgedanke des Programms die Jnternationalität auf¬
gestellt. Die sozialdemokratischen Agitatoren haben bisher so viel in der Be¬
tonung dieses Punktes geleistet, daß Vollmar mit der Versicherung: „Wir
haben den Standpunkt der Jnternationalität nicht einseitig aufgefaßt" in dem
„wir" doch nnr seine Person sehen kann. Auch ist die Jnternationalität in
der That die unveräußerliche Eigenschaft des Sozialismus und hängt mit dem
ersten Grundsatz des sozialistischen Programms, mit seinen wirtschaftlichen
Zielen eng zusammen. Nur „zunächst" soll nach dem Gothaer Programm
die demokratische Arbeiterpartei Deutschlands noch im „nationalen Nahmen"
wirken; aber sie ist sich „des internationalen Charakters der Arbeiterbewegung
bewußt und entschlossen, die Pflichten, welche derselbe den Arbeitern auferlegt,
zu erfüllen, um die Verbrüderung aller Menschen zur Wahrheit zu machen."
Zu den ersten Pflichten, die so dein Arbeiter durch den internationalen Grund¬
satz auferlegt werden, gehört es natürlich, die Liebe zum Baterland und zu
den vaterländischen Einrichtungen aus dem Herzen des Arbeiters herauszu¬
reißen. Die Trennung des Arbeiters von dem Leibe seines Volkes war vor
allem das Werk von K- Marx, dem es gelang, beim Hinüberwerfen der Agi¬
tation von der Fremde des englischen Bodens in sein Heimatland gerade die
internationale Theorie in die sozialdemokratische Bewegung zu bringen. Die
Londoner Statuten der Internationalen betonen nichts mehr, als daß bisher
alle auf das große Ziel der Arbeiteremanzipation gerichtete Anstrengung an
dem „NichtVorhandensein des brüderlichen Bandes der Einheit" der Arbeiter
aller Nationalitäten gescheitert sei, und daß diese Emanzipation alle Länder
umfassen müsst, in denen moderne Gesellschaft bestehe. Es war der Agitator
mit dem kalten, fanatischen Herzen, dem es sür sich selbst nie schwer geworden
war, die Heimat mit der Fremde zu vertauschen, und der mit scharfem Auge
erkannte, daß die ökonomischen Forderungen der sozialdemokratischen Gesell¬
schaft durch nichts mehr Propaganda machen würden, als wenn der wilde
Appetit der urteilslosen Masse nach den Gütern des kommunistischen Heils in
allen Kulturländern aufgeregt würde. Es ist ihm das aber nirgends besser
geglückt als in Deutschland, wo der vaterländische Gedanke auch noch nach den
großen Ereignissen von 1866 so schwer Wurzel fassen konnte. Als K. Marx
seine revolutionären Ideen nach Deutschland warf, war gerade der erste Grund
zu einem nationalen Ganzen durch die Errichtung des Norddeutschen Vnndes
gelegt worden. Alle die unzufriednen Elemente, die damals noch in so großer
Anzahl vorhanden warm, und die jedes gegen die Nation gerichtete Bestreben
willkommen hießen, boten ein ergiebiges Feld gerade für eine Agitation im
Sinne der Jnteruationalitüt. So ward der internationale Gedanke zuerst in
die Landesversammlnug sächsischer Arbeiter geworfen, die im August 1866 zu
Chemnitz zusammentrat. Das Programm, das hier von Bebel und Liebknecht,
denen sich eine Anzahl verbissener Partiknlaristen anschlössen, aufgestellt wurde,
konnte zwar damals noch nicht die reine kommunistische Gesellschaft von Marx
offen verkündigen; bis zu Marx reichten damals weder die Gedanken der Doktri¬
näre, noch die der Partikularsten, noch die der Arbeiter. Aber der partiku-
laristisch-volksparteiliche Boden der demokratischen Versammlung, für die der
Preußenhaß das Bindemittel war, war doch immerhin geeignet, den nations¬
feindlichen Gedanken zunächst in die Masse des sächsischen Arbeiterstandes zu
werfen. Alles, was man auf der Versammlung verlangte, mußte und sollte
dazu dienen, die Liebe zum vaterländischen Staate nicht keimen zu lassen. Und
so beklagte man den beendeten Krieg, der uns aus dem kleinstaatlichen Jammer
und dem Gespötte der Fremden herausgehoben hatte, als das größte National-
Unglück, verlangte die Zusammenberufung eines konstitnirenden Parlaments,
das auch Deutsch-Österreich mit einschlösse, und stellte eine Anzahl von For¬
derungen auf, die dem Programm des äußersten politischen Radikalismus ent¬
nommen waren. Wir erwähnen das. weil diese Forderungen auch in die
späteren sozialdemokratischen Programme, wie in das Eisenacher und Gothaer,
aufgenommen worden sind und fort und fort von den Sozialdemokraten als
schon im heutigen Staate zu verwirklichende aufgestellt wurden und werde».
Diese Forderungen sind zum Teil bereits in unsre staatliche Ordnung aufge¬
nommen worden, wie z. B. das allgemeine Stimmrecht und die Koalitions¬
freiheit; sie werden aber noch immer erhoben, weil sie erst im sozialdemokra¬
tischen Staate wahrhaft erfüllt werden und zum Heile gedeihen können. Mit
diesem Verfahren fängt man eine Menge Gimpel ein, die bei den Wahlen die
Partei verstärken, weil sie des Glaubens leben, daß die Sozialdemokratie doch
auch „berechtigte Forderungen" habe, die man unterstützen müsse. Teils find
es auch Forderungen, die der fortschrittlichen Phrase entlehnt sind, scheinbar
nicht sozialistisch, aber in Wahrheit so weitgehend, daß wir, wenn sie durch¬
geführt würden, eines schönen Morgens aufwachen würden, um zu bemerken,
daß wir aus dein fortschrittlichen Lager plötzlich in die sozialistische Utopie
hineingefallen wären, die ohne alle weitere Mühe durch einfache Volksabstim-
mung hervorgezaubert wäre. Denn das ist der „gesetzliche Weg," der jetzt
nach Aufhebung des Sozialistengesetzes eingeschlagen werden soll.
Auf diese Einführung des sozialistischen Staates durch gesetzliche Abstim¬
mung weisen die verschmitzten Agitatoren der Sozialdemokratie so gern hin,
wenn sie davon reden, daß die neue Gesellschaftsform ohne Blutvergießen,
ohne jegliche Gewalt, ganz im Frieden herbeigeführt werden könne, und daß
es nur der böse Wille der niederträchtigen Bourgeoisie sei, der das verhindre.
Diese Forderungen sind also die „nächsten Ziele" der Partei. Ausdrück¬
lich wird betont, daß sie dazu dienen sollen, die Lösung der sozialen Frage
anzubahnen, als z. V. Produktivgenossenschaften mit Staatshilfe. Diese sind
allerdings heutzutage meist, wenn auch nicht allgemein aus den sozialistischen
Programmen entfernt, weil bei ihrer Verwirklichung die Gefahr besteht, daß
der eintretende Schiffbruch solcher Versuche allen jetzt noch zu Abderiteu-
streicheu geneigten Schwärmern der bürgerlichen Gesellschaft die Besinnung
sehr schnell bringen würde. Weiter werden insbesondre als Forderungen schon
sür den heutigen Staat aufgestellt: direktes Wahlrecht aller schon vom zwan¬
zigsten Lebensjahre an sür alle Wahlen und Abstimmungen in Staat und
Gemeinde; direkte Gesetzgebung durch das Volk; Entscheidung über Krieg und
Frieden durch das Volk; Volkswchr an Stelle der unproduktive» stehenden
Heere; Rechtsprechung durch das Volk; allgemeine gleiche Bolkserzichung
durch den Staat; eine einzige progressive Einkommensteuer für Staat »ut
Gemeinde u. f. w.
Das sind die Ziele der sozialdemokratischen Partei „innerhalb der heutigen
Gesellschaft." Und wenn auch Herr von Vollmar und mit ihm Wohl mancher
seiner Genossen jetzt sagt: „Über der Zukunft dürfen wir das Nächste nicht
vergessen," so bleibt diese Zukunft doch allein des Erstrebeus wert, und „das
Nächste" ist eben nur „Abschlagszahlung." Ist bei solcher Anschauung nun
irgend welche Unterhandlung mit der sozialdemokratischen Partei noch möglich?
Wir sagen nein!
Die „proletarisch-wissenschaftliche" Anschauung beruht im letzten Grnnde
darauf, daß ihr die materiellen Güter allein gelten. Dieser plumpe Gedanke,
mit voller Folgerichtigkeit zum System ausgeführt, ist es, der die Massen
ergreift; in der kärglichen, leicht übersichtlichen Einheit dieses Systems liegt
ähnlich wie bei dem System der katholischen Kirchenlehre seine Stärke bei
der Masse. Es springt konkret in die Augen und entwirft das lebende Bild
einer paradiesischen Zukunft. So hat es die Eigenschaft, zu packen. Ob nun
die sozialistischen Führer dies ihr handgreifliches und leicht zu fassendes System
grundsätzlich oder nur agitationsweise verwenden, ja ob auch in der träume¬
rischen Phantastik der sozialdemokratischen Arbeitermassen sich noch edlere
Bilder im Hintergrunde bewegen, als die des bloß sinnlichen Genusses, ob
durch die sozialdemokratische Umgestaltung der materiellen Verhältnisse auch
eine höhere, leibliche und geistige Entwicklung des Menschengeschlechts herbei¬
geführt wird, wie die proletarisch-wissenschaftlichen Weisen prophezeien, für diese
Untersuchung die kritische Sonde anzulegen hat für alle die keinen Wert, die aus
der Geschichte gelernt haben, alle utopistischen Prophezeiungen für das zu
nehmen, als was sie sich zuletzt immer ausweisen, Narrenspossen oder Schwindel.
Daß sich die sozialdemokratischen Führer Hinterthüren genug offen lassen,
wenn es gilt, ihre plumpen Gedanken nicht gar zu brutal erscheinen zu lassen,
wissen wir; aber darauf irgend welche Hoffnung auf Umkehr bauen, auch
wenn einmal in der Weise Vollmars gesprochen wird, wäre thöricht. Mit
der bürgerlichen Gesellschaft, die eine andre Werttheorie und damit eine andre
Grundlage ihres Bestandes hat, als die sozialdemokratische, läßt sich diese
gerade so wenig in irgend welche Verbindung bringe», als sich Feuer und
Wasser mischen läßt. Wenn die Sozialdemokratie irgend eine heilsame Be¬
deutung heutzutage hat, so ist es die, daß sie die verschiedenen bürgerlichen
und kirchlichen Parteien, die Liebe zum Vaterlande haben, für den Kampf
gegen die revolutionäre Partei zum Ganzen eint.
In dem vorstehenden Rückblick hat ein sonst sehr hochgeschätzter Mit¬
arbeiter der Grenzboten ans recht unwirscher Stimmung heraus eine Straf-
Predigt gegen die Sozialdemokraten und gegen ihre verkappten Freunde und
Gönner losgelassen. Daß die Ziele der Sozialdemokratie so aussehen, wie sie
hier nach den Programmen der Partei dargestellt werden, leugnet kein Mensch;
auch der dieser Tage erschienene neue Programmentwnrf ändert trotz einiger
Abschwächungen nichts wesentliches daran; und daß diese Endziele verwerflich
seien, darüber besteht wenigstens unter den Lesern der Grenzboten kein Streit.
Nur fragt mau sich eiuigermnßen verwundert, wozu solche Dinge wiederholt
werden, die jedermann weiß und niemand bestreitet. Freilich giebt der Ver¬
sasser eine Antwort auf diese Frage: er will durch den Hinweis auf das
Wesen der Sozialdemokrntie vor der optimistischen Meinung warnen, die
Münchner Rede Vollmars bedeute einen Anfang der Bekehrung seiner Partei
zur Vernunft, und er will die Leser zur Annahme seines Schlußsatzes bewegen:
„Wenn die Sozialdemokratie irgend eine heilsame Bedeutung heutzutage hat,
so ist es die, daß sie die verschiednen bürgerlichen und kirchlichen Parteien,
die Liebe zum Vaterlande haben, zum Kampf gegen die revolutionäre Partei
zum Ganzen eint." (Vor „zum Ganzen" scheint „hoffentlich" zu fehlen.)
Allein diese Zwecknngabe genügt nicht. Über den Kampf gegen die Svzinl-
demvkmtie ist nun schon eine Bibliothek von vielen tausend Bänden geschrieben
worden, und wenn ein neuer Rufer zum Streit auf den Kampfplatz tritt, so
hat er keine Aussicht, von den des ewigen Liedes müden Ohren gehört zu
werden, wenn er nicht entweder einen neuen Feldzugsplan vorschlägt oder
wenigstens sagt, uach welchem der schon vorhandnen Pläne er die aufgerufenen
Truppen zu führen gedenkt. Die vorhandnen Pläne lassen sich in zwei
Hauptgruppen scheiden. Auf der einen Seite stimmt man bei vielfältiger
Meinungsverschiedenheit im einzelnen doch der Hauptsache uach darin überein,
daß nicht sowohl die Sozialdemokraten, als die sozialen Übel zu bekämpfen
seien, und daß mit der Beseitigung der Ursachen zur Unzufriedenheit diese
selbst schwinden werde samt den revolutionären Bestrebungen, die aus ihr
hervorgehen. Den Männern dieser Seite schwebt die Mahnung des Apostels
vor, man solle das Böse durch das Gute überwinden. Und da soziale Übel
nicht zu Heilen sind, ohne daß der Arzt mit deu Menschen, die daran leiden,
in Verkehr tritt, so ergiebt sich aus diesem Programm die Notwendigkeit von
Unterhandlungen mit den Arbeitern, d. h. mit den Sozialdemokraten, denn die
meisten Arbeiter sind eben leider schon Sozialdemokraten. Indem nun aber
der Verfasser vor solchen Unterhandlungen ausdrücklich warnt, scheint er diese
Methode zu verwerfen, und wenn wir ihn recht verstehen, hat sein Aufsatz
den Zweck, die bürgerlichen und kirchlichen Parteien zu einem Kampfe nach
dein entgegengesetzten Programm zu einigen, d. h. er scheint die gewaltsame
Unterdrückung der Arbeiterbewegung empfehlen zu wollen. Denn daß er unter
dem Kampfe die Abfassung solcher Kampfartikel, wie der seinige einer ist, ver¬
stehen sollte, können wir kaum glauben; daß solche Artikel in den feindlichen
Reihen irgend welchen Schaden anzurichten imstande wären, wird er sich wohl
nicht einreden.
Sollen nun die Arbeiterscharen als Feinde angesehen und behandelt, dem¬
nach unterdrückt werden — sie auszurotten, geht nicht gut, sintemalen wir die
Maschinen noch nicht dazu gebracht haben, uns ohne Beihilfe von Menschen¬
hand alle Arbeiten zu leisten — so wird die Wiederherstellung des Sozialisten¬
gesetzes uoch nicht hinreichen. Denn erstens hat dieses, wie niemand leugnen
kaun, die beabsichtigte Wirkung nicht gehabt, und zweitens ist es unmöglich,
den fünften bis vierten Teil der Bevölkerung dauernd unter ein Ausnahme¬
gesetz zu stelle«. Man wird gründlicher verfahren müssen. Man wird sich
sagen müssen: der liberale Traum von der Gleichberechtigung aller Meuscheu
und von der Möglichkeit, alle Einwohner eines Landes zu Staatsbürgern zu
machen, war eben nur ein Traum. Freie Menschen wählen sich zu ihrem
Lebensberuf keine niedern Verrichtungen. Sollen die knechtischen Arbeiten
nicht angethan bleiben, so müssen eben Knechte da sein, die dazu gezwungen
werden können, und solche Knechte können weder Staatsbürger sein, noch eine
Partei im Staate bilden. Räumen wir also auf mit dein liberalen Aber¬
glauben und stellen wir die Knechtschaft wieder her! Knechte sind aber stets
zur Rebellion geneigt. Sollen sie nicht gefährlich werden, so muß ihnen der
Gedankenallstausch, der gegenseitige Verkehr unmöglich gemacht werden. Das
mächtigste Verkehrsmittel unsrer Zeit ist das gedruckte Wort; Knechte dürfen
daher weder lesen uoch schreiben lernen. Ans also, schließen wir die Volks¬
schule! Noch weniger darf man den Knechten im Schießen Unterricht geben
oder sie gar zur Vaterlandsverteidigung verwenden. Weg also mit der all¬
gemeinen Wehrpflicht, kehren wir zum Ritter- oder Söldnerheere zurück!
Wenn der Verfasser das gemeint hat, dann verstehe ich ihn, und dann
läßt sich mit ihm reden; denn ich weiß die Vorteile der Sklavenarbeit vor
der heutigen „freien" Arbeit zu schätzen und halte die heutige Antisklaverei-
bewegung für die dümmste aller Komödien, da doch alle Kenner von Land
Ulld Leuten darin einig sind, daß an die Bewirtschaftung unsrer neuen Be-
sitzungen in Afrika gar nicht zu denken ist, wenn wir die Neger nicht zwangs¬
weise zur Arbeit anhalte», d. h. also, wenn wir nicht irgend eine Art von
Leibeigenschaft einführen. Wie gesagt, falls der Verfasser das meint, dann
verstehe ich ihn, sonst aber nicht. Denn wenn die Arbeiter, die sozialdeinv-
lratisch wählen, persönlich frei und mit uus gleichberechtigte Staatsbürger
bleiben sollen, dann wird uns doch nichts andres übrig bleiben, als uns bald
über diesen, bald über jenen Streitpunkt mit ihnen auseinanderzusetzen. Wo
es sich um Parteien in einem Staate, um Glieder eiuunddesselben Volkes
handelt, da ist ein Kampf bis aufs Messer, ein Kampf auf Leben und Tod
ohne deu Versuch einer Verständigung ein Ding der Unmöglichkeit, jeder
Versuch aber, einen solche» heraufzubeschwören, Wahnsinn und Verbreche».
Und wenn sich die Sozialdemokraten durch die Erklärung, daß alle bürgerlichen
Parteien als eine einzige reaktionäre Masse anzusehen und zu bekämpfen seien,
dieses Wahnsinns und dieses Verbrechens bereits schuldig gemacht haben, so
folgt daraus nicht, daß wir es ihnen nachmachen müssen, sondern das Bei¬
spiel des alten Menenius Agrippa bleibt für alle Zeiten und auch für diesen
Fall giltig. Und wenn ein Führer, wie Vollmar, einen versöhnlichen Ton
anschlägt, so haben wir das auf jeden Fall als ein erfreuliches Zeichen zu
begrüßen. Spricht er uicht aufrichtig und ist seine Rede nnr ein Zugeständnis
an die unüberwindliche Macht der bürgerlichen Parteien (was in diesem Falle
zu vermuten wir übrigens gar nicht berechtigt sind), so wäre schon das sehr
erfreulich; spricht er aber aufrichtig, wie ers meint, dann wäre es um so er¬
freulicher, gleichviel, welchen Anklang seine Worte bei seinen Parteigenossen
finden; Babel und Liebknecht haben ihn ja allerdings schon „desavouirt." El»
großer Wandel der Ansichten von Millionen braucht länger Zeit als vier
Wochen, um sich Bahn zu brechen.
Soll die Sklaverei nicht wieder eingeführt werden, und follen die beiden
einander feindlich gegenüberstehenden Klassen wieder zu einem gesunden Volks¬
körper verwachsen, dessen Glieder, in heiliger Liebe zum Vaterlande verbunden,
für dessen Wohl und Größe in freudiger Arbeit zusammenwirken, dann darf
der Genesungsprozeß nicht allzuoft durch Kundgebungen wie die des Verfassers
gestört werden, deren einziger Erfolg doch nur die Wiederaufachuug des gegen¬
seitigen Hasses sein kaum. Ein Artikel wie der seinige verbaut die Verständigung
um so mehr, als er eine Menge Mißverständnisse enthält. Diese ausführlich
aufzuklären, fühlen wir uns schon darum nicht veranlaßt, weil es indirekt
längst geschehen ist, in den mancherlei sozialpolitischen Artikeln der Grenzboten.
Aber ein paar starke Ausdrücke, zu denen den Verfasser seine üble Laune
hingerissen hat, und die zugleich eine unverständliche Auffassung bekunden,
möchten wir doch kurz zurückweisen.
Ich bestreite ganz entschieden, daß unsre soziale Gesetzgebung „ohne die
Mitwirkung der Sozialdemokraten" zu stände gekommen sei, behaupte vielmehr,
daß, wenn nicht die Sozialdemokraten der Unzufriedenheit der Arbeiter zu
einem sehr kräftigen Ausdruck verholfen hätten, Weder Kaiser Wilhelm I. noch
Bismarck noch irgend ein andrer Staatsmann an eine sozialpolitische Gesetz¬
gebung gedacht hätten. „Berserkerlogik" nennt es der Verfasser, wenn an den
richtigen Satz, daß die Arbeit die Quelle alles Reichtums sei, die Behauptung
geknüpft wird, „daß allgemeine nutzbringende Arbeit nur durch die Gesellschaft
möglich sei, und daß darum auch das Arbeitsprodukt der Gesellschaft gehöre."
Dann muß ich mich ebenfalls als Verserker bekennen. Ich habe keine Vor¬
stellung davon, wie ein isolirter Wilder oder Einsiedler allgemein nutz¬
bringende Arbeit zu leisten imstande sein könnte, und ich habe immer geglaubt,
mich zu einer Zeit, wo ich noch gar nichts von Sozialdemokratie wußte,
gelehrt, daß jeder für alles, was er besitzt und leistet, der ganzen Gesell¬
schaft verpflichtet sei. Wie freilich jedem einzelnen Gliede der Gesellschaft
zu dem ihm gebührenden Anteil am Gesamtprodukt verholfen werden folle,
das ist ja von Alters her eine sehr schwierige Frage gewesen, allein aus der
Schwierigkeit der Anwendung eines Grundsatzes folgt noch nichts gegen seine
Richtigkeit. Und wenn die Ungerechtigkeit der Verteilung des Arbeitsproduktes
geradezu empörend und die Unzweckmäßigkeit gemeingefährlich wird, wie heut¬
zutage stellenweise, dann müßten die Menschen vernagelt sein, wenn sie nicht
ans eine bessere Art der Verteilung Säuren. Wir laden den Verfasser el»,
folgenden Fall zu erwägen. Im Junihcft der Preußischen Jahrbücher, einer
uicht allzurevolutiouäreu Zeitschrift, behandelt Robert Hessen die Berliner
Wohnungsfrage. Er macht da u. a. die Bemerkung, daß die Erfolge unsrer
Truppen in den Jahren 1866 und 1870 den Bodenwert der Reichshnuptstadt
um 3 Milliarden gesteigert haben, daß aber die Männer, die jene Schlachten
geschlagen haben, soweit sie Berliner sind, von dieser gewaltigen Steigerung
des hauptstädtischen Reichtums weiter nichts haben, als daß sie ein Drittel
ihres Entkommens aufwenden müssen, um wenigstens in einer erbärmlichen
Höhle wohnen zu köunen, während 10000 Personen beständig obdachlos siud,
die keineswegs sämtlich zur Klasse der arbeitsscheuen Strolche gehören. Von
den Männern, die die Rente jener 3 Milliarden beziehen, mag ja auch mancher
mit im Kriege gewesen sein, aber die bilden doch nur eine sehr geringe
Minderheit. Bringen wir nun weiter den Umstand in Anrechnung, daß jene
Erhöhung des Vodeuwerts, zu der die Siege unsrer Heere den Anstoß gegeben
haben, doch eigentlich erst durch die Handarbeit derer, die, wie gesagt, nichts
davon haben, geschaffen werden mußte, und deu weiteren Umstand, daß die
Wohnungsverhältnisse zusammen mit mangelhafter Ernährung eine körperliche
und sittliche Verschlechterung der Bevölkerung zur Folge haben, die die Kriegs¬
tauglichkeit schon des nächsten Geschlechts in Frage stellt, so vermögen wir
die Verteilung des Nationalprvdukts weder besonders vernünftig noch dem
Wohle des Vaterlandes förderlich zu finden und meinen, daß über kurz oder
laug kein Geringerer als der Herr Kriegsminister die Frage nach einer ander¬
weitigen Verteilung aufwerfen wird.
In solchen Verhältnissen wird dann der Verfasser auch für die unpatriotische
Gesinnung der Arbeitermassen ob sie sich Sozialdemokraten nennen oder
nicht, das ist dabei doch wohl gleichgiltig — die zureichende Erklärung finden,
namentlich wenn er erwägt, daß kein Patriot ohne weiteres mich schon ver¬
pflichtet ist, den Staat zu lieben. Die natürliche Vaterlandsliebe gilt nur
dem eignen Volke und Lande, der Staat ist etwas Zufälliges für deu einzelnen
und hat sich dessen Liebe erst zu verdienen. Gehorsam hat er unter allen
Umständen zu fordern, Liebe aber nur, soweit er sie sich verdient. Wie konnten
die Patrioten von 1820 bis 1859 auch uur ein Fünklein Liebe für deu Staat
empfinden, der, mochte er nun Mecklenburg, Neapel oder Preußen heißen, alle,
die Vaterlandsliebe verrieten, einkerkerte oder verbannte? Waren die Westfalen
der unglückseligen Rheinbundszeit verpflichtet, ihr von Napoleon geschaffnes
Königreich zu lieben? Wir sind weit entfernt davon, unser ehrwürdiges
deutsches Reich, den Staat Preußen und seine großen Männer mit jenen
elenden Gebilden zu vergleichen, aber dem allgemeinen Gesetze des Staatslebens,
daß der Staat sich die Liebe seiner Unterthanen erst zu verdienen habe, bleibt
anch Preußen und Deutschland unterworfen. Gerade im letzten Jahre haben
wir aus den höhern Schichten der bürgerlichen Parteien heraus so manche
Stimme vernommen, die auf merkliche Abkühlung der Liebe zum Staate
schließen ließ, weil die Betreffenden eine Abkühlung der Gegenliebe wahr¬
genommen zu haben glaubten. Und doch hat ihnen gegenüber der Staat anch
in diesem Jahre niemals die unfreundlichen Züge des schnauzenden Polizisten
getragen, während mancher Wanderbursch, Tagelöhner und Fabrikarbeiter gar
keine andre Erscheinungsform des Staates kennt als das Gesicht und die
Uniform des Polizisten.
Als den Grundfehler der „proletarisch-wissenschaftlichen Anschauung" be¬
zeichnet der Verfasser, „daß ihr die materiellen Güter allein gelten." Wir
wollen dahingestellt sein lassen, ob die wissenschaftlichen Begründer des Ma¬
terialismus in Deutschland, ein Büchner, ein Vogt, ein Häckel, ein Feuerbach,
ein David Strauß Proletarier siud oder waren, ob die bürgerlichen Parteien
nnr nach dem Himmelreich und seiner Gerechtigkeit trachten, wie Christus das
Streben nach den höchsten idealen Gütern nennt; ob alle Fabrikbesitzer, Ma¬
gnaten, Großhändler, Professoren, Landrichter u. s. w. den sinnlichen Gewissen
so abgestorben sind wie Bernhard von Clnirvcmx, der nicht wußte, ob er Öl
oder Wasser trank, ob seine Zelle ein oder zwei Fenster hätte, und der von
schonen Gegenständen nur Notiz nahm, um sie als Fallstricke des Teufels
ihren Besitzern zu verleiden. Wir wollen es für ausgemacht ansehen, daß
jedem Anhänger der bürgerlichen Parteien die Höhe seines Einkommens völlig
gleichgiltig ist, und daß, wenn ihm wider Willen eine Erhöhung aufgenötigt
wird, er gar nicht daran denkt, seiner täglichen Kartoffelmcchlzeit einen sinn¬
lichen Genuß hinzuzufügen, sondern daß er den Überschuß sofort auf dem
Altare des Vaterlandes opfert und dem Stenerfiskus zur Verfügung stellt.
Aber der Verfasser begeht den Fehler, daß er über der falschen Philosophie
der Sozialdemokratie die volkswirtschaftlichen Ansichten des Sozialismus über¬
sieht, in denen manches Nichtige steckt. Daß die Proletarier von Nehbrnten
und Burgunder, von Palästen und seidnen Pfühlen träumen, ist das Natür¬
lichste von der Welt; auf den Bau vou Luftschlössern verlegen sich immer
nur Leute, die keine Aussicht haben, es zu einem wirklichen Schlosse zu bringe»;
solche Phantasien haben auch gar nichts zu bedeuten. Aber ausgegangen ist
die sozialistische Lehre nicht von solchen Luftschlössern - diese bilden nnr die
schmückende .Krone des Systems — sondern von einer vollkommen berechtigten
Kritik der gegenwärtigen Gesellschaftseinrichtnngen und von der Frage, wie
der Not der untern Klassen abzuhelfen sei. Darum mögen immerhin die „uto¬
pistischen Prophezeiungen" eines Bellcnny als ,,Narrenspossen und Schwindel"
bezeichnet werden, aber um solche handelt es sich gar nicht bei unsrer Arbeiter¬
bewegung, sondern neben vielen andern gleichwichtigen uuter audern z. B.
um die Frage, ob die Bergleute und die Leineweber bei einer gewissen Lohn¬
höhe und einer gewissen Arbeitszeit noch imstande sind, Seiner Majestät dem
König gesunde Jungen zum Heere zu stellen. Der Verfasser wird selbst zu¬
geben, daß die Frage, ob wir nach hundert Jahren in Deutschland eine mehr
oder weniger republikanische Staatsform, mehr oder weniger sozialistische Ge¬
sellschaftseinrichtungen haben werden, eine wahre Lappalie ist im Vergleich zu
der Frage, ob wir in fünfzig Jahren überhaupt noch ein deutsches Volk oder
statt dessen nur noch ein proletarisches Gesindel haben. Wenn aber der Ver¬
fasser glaubt, daß diese Frage auch ohne die Sozialdemokratie aufgeworfen
worden sein würde, dann täuscht er sich. Der Staat soll uoch auf die Welt
kommen, dessen Beamten nicht blind gegen beginnendes Volkselend wären; der
preußische Kriegsminister dürfte so ziemlich der einzige sein, der eine Aus¬
nahme macht von der allgemeinen Regel. Nachdem einst dank dem kräftigen
Anstoß, den die Sozialdemokratie gegeben hat, dem gemeinen Manne seine
Existenz wieder sicher gestellt sein wird, werden die Arbeiter Wohl auch wegen
der Verbesserung ihrer Philosophie und Religion mit sich reden lassen, und
die Vertreter der bürgerlichen Parteien werden dann ein dankbares Feld finde»,
wenn sie den Arbeitern statt der materialistischen Philosophie eine andre bringen
wollen, wofern sie nämlich selbst — eine andre haben. Die üble Laune ist
in allen Dingen ein schlechter Ratgeber, auch im Kampfe gegen die Sozial¬
demokratie.
cum anch in dem neutestamentlichen Gleichnis vom Schalksknecht
(Matthäus 25. Vers 14-30; Lukas 19, Vers 12—2V) das
Wuchern mit dem Pfunde, nicht aber dessen Vergrabung für
das irdische Leben als das rechte hingestellt ist, so hat doch das
im Mittelalter auch für staatliche Gesetze vorbildliche kanonische
Recht jedes Zinsuehmen als Wucher durch geistliche Strafen bedroht, für
Priester mit Ausstoßung ans ihrem Stande, für Laien mit Versagung der
Sakramente lind des christlichen Begräbnisses. Die spätere weltliche Gesetz¬
gebung aber hat daran nicht festgehalten, sondern hat wie auch schon das
römische Recht strafbaren Wucher nur in dem übermäßigen Zinsenuehmen,
also in der Überschreitung eines bestimmten Zinssatzes gefunden und die
Ausbedingung vou Zinseszinsen verboten. So bestrafte die deutsche Reichs-
polizeiordnung vom 9. November 1577 (Tit. 17) die Übung solches und
ähnlichen Wuchers mit dem vierten Teil des Hauptgeldes und erklärte zugleich
das ganze Geschäft für ungiltig. Es finden sich in diesem Gesetz (Tit. 18)
auch noch Vorschriften gegen „die Nonopolm und schädliche Aufs- und Für-
känff." Solche ebenfalls schon im römischen Recht als „Dardanariat" ver¬
worfene „Ringbildungen" werde», wie folgt, bezeichnet: „seynd in kurtzem
Jahren etwa viel grosse Gesellschafft in Kaufmanns-Geschäften aufgestanden,
die allerley Waaren und Kaufmanns-Gttthcr in ihre Hand und Gewalt allein
zu bringen unterstehen. Auff- und Fürkauff damit zu treiben, und denselben
Waaren einen Werth nach ihrem Willen lind Gefallen zu setzen." Dergleichen
sollte, was anch schon frühere Reichsgesetze verordnet hatten, mit Vermögens-
einziehnng und Landesverweisung (!) geahndet werden. Daran schließen sich
(Tit. 19) Strafandrohungen für die Fälle, daß jemand erst noch zu erntende
Früchte zu einem andern Preise als dem zur Zeit des Vertragsabschlusses
oder der Ernte oder vierzehn Tage darauf üblichen Marktpreise verkaufte.
Bestimmungen wie die letzterwähnten sind in die neuern Strafgesetzbücher der
einzelnen deutschen Staaten nicht übergegangen, da man sie als mit der wirt¬
schaftlichen Freiheit unvereinbar ansah. Aber an dem Verbot der Überschrei¬
tung des gesetzlichen Zinsfußes (meist 5 Prozent, in Handelssachen anch
6 Prozent), also an dem Begriff des Zinswuchers, wurde von einzelnen Staaten,
insbesondre von Preußen, auch dann noch festgehalten, als das allgemeine
deutsche Handelsgesetzbuch für Darlehen an einen Kaufmann und für Schulden
eines Kaufmanns aus seinen Handelsgeschäften jede Zinssatzbeschränkung be¬
seitigt hatte. Völlige Wucherfreiheit, abgesehen von dem Zinseszinsverbvt,
hat für Deutschland bekanntlich das Bundesgesetz vom 14. November 1867
(I^sx Laster) sowohl für das bürgerliche Recht wie für das Strafrecht ein¬
geführt; nur das Pfandleihgewerbe ist davon ausgenommen. Daß zwischen
dem Wucher und dem Volksstamme, dem der Abgeordnete Laster angehörte,
seit alter Zeit ein gewisser Zusammenhang besteht, ergiebt sich schon aus der
oben erwähnten Reichspolizeiordnung, in der unmittelbar ans die mitgeteilten
Titel 17, 18, 19 als Titel 20 ein „Von Juden und ihrem Wucher" über-
schriebener Abschnitt folgt. So mag es sich wohl auch erklären, daß ein zweites,
kurz nach dem Laskerschen, von einem jüdischen Volksvertreter veranlaßtes
Gesetz, das Bundesgesetz vom 3. Juli 1869 betreffend die Gleichberechtigung
der Konfessionen in bürgerlicher und staatsbürgerlicher Beziehung (I^sx Kosch),
bald ganz unerträgliche Zustände herbeiführte, die schon nach einiger Zeit
einem neuen deutschen Wuchergesetz zum Dasein verhalfen. Gewisse Leute
hatten nämlich, obwohl sonst so weltklug, die nun auch außerhalb der Börse
erlangte Freiheit doch so mißbraucht, daß sich Regierungen und Volksvertreter
zur Abhilfe entschlossen. Trotz alles Geschreis des vom Judentum beherrschten
Teiles der Presse über Rückschritt ins Mittelalter gelang es, die Sache in
einer Weise zu regeln, die gegenüber der frühern äußerlichen Behandlung mit
ihrer willkürlichen Zinsfußbcmessung einen großen Fortschritt in der Gesetz¬
gebung enthielt. Die frühere Art, einen Wucher festzustellen, ist in der That
nicht mehr zu verwenden in einer Zeit, die vermöge ihrer großartigen wirt¬
schaftlichen Entwicklung eine Tarifirung des Nutzerträguisses werdender Gelder,
die das besondre Wagnis einer Unternehmung gar nicht berücksichtigt, als eine
drückende Fessel und ein verderbliches Hindernis der Vermehrung des Volks-
vermögens empfinden müßte. Andrerseits hatte man schon längst eingesehen,
daß solche Zinsbeschränkuugeu sich durch Einkleidung in besondre Formen,
z. B. vorweg erfolgende Kürzung der Wucherzinsen leicht verschleiern lassen.
Wenn aber die öffentlichen Gewalten gleichzeitig mit dem stärkern Hervor¬
treten der sozialdemokratischen Bestrebungen den Schutz des wirtschaftlich
schwachen gegen Ausbeutung zu ihrer Losung machten, so war auch der
Versuch einer Bekämpfung der durch die Wucherfreiheit entstandenen Mi߬
stände offenbar eine Maßnahme, die vollständig in den Nahmen der bald
darauf durch die allerhöchste Botschaft vom 17. November 1881 verkündeten
Regierungsgrundsätze eines praktischen Christentums hineingehörte. Das neue
Wuchergesetz vom 24. Mai 1880 legte also mit Recht das Hauptgewicht auf
die in unchristlicher Weise geschehende arglistige Ausbeutung des Mitmenschen,
nahm aber von einer zahlenmäßigen Prozentbegrenznng des dem Geldgeber
erlaubten Gewinnes Abstand und überließ die Beurteilung der Sache in dieser
Hinsicht dem gewissenhaften richterlichen Ermessen in der durch die Recht¬
sprechung auch als wohlbegründet dargethanen Erwartung, daß nur offenbare
und auffällige Maßlosigkeit habsüchtigster Mammonspriestcr von dem neuen
Staude des Rechts etwas zu befürchten hätte». Allerdings konnte man sich
nicht entschließen, andre Rechtsgeschäfte als die Darlehen oder die die Stun¬
dung von Geldforderungen betreffenden, dem neuen Wucherbcgriff zu unterstellen.
Demnach schreibt der durch das Neichsgcsetz vom 24. Mai 1880 dem Straf¬
gesetzbuch für das deutsche Reich neu eingefügte Z 302^ nur vor:
Wer unter Ausbeutung der Notlage, des Leichtsinns oder der Unerfcihrenheit
eines anderen für ein Darlehen oder im Falle der Stundung einer Gcldfordernng
sich oder einem Dritten Verinvgensvorteile versprechen oder gewahren läßt, welche
den üblichen Zinsfuß dergestalt überschreiten, daß nach den Umständen des Falles
die Vermögensvorteile in auffälligen Mißverhältnisse zu der Leistung stehen, wird
wegen Wuchers mit Gefängnis bis zu sechs Monaten und zugleich mit Geldstrafe
bis zu dreitausend Mark bestraft. Auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehren¬
rechte erkannt werden.
Hieran schließen sich in den tztz 302 d, 302 o, 302ä Sonderbestimmungen über
solchen Wucher, der verschleiert, wechselmüßig, unter Ehrenwort- oder Eides¬
abnahme u. dergl. verübt worden ist, ferner gegen dritte ErWerber von Wucher¬
forderungen und gegen gewerbs- und gewohnheitsmäßigen Wucher. Weiter
folgt im Artikel 2 des Gesetzes eine Ausdehnung der bisherigen Vorschriften
sür die Pfandleiher auf die Rückkaufhändler und endlich im Artikel 3 der
Ausspruch der bürgerlichrechtlichen Ungiltigkeit von Wucherverträgcn nebst der
nähern Regelung dieses Punktes.
Trotz zahlreicher Verurteilungen auf Grund des neuen Gesetzes, die am
besten dessen Notwendigkeit beweisen, haben doch auch manche Freisprechungen
die Unzulänglichkeit der neuen Strafbestimmung ergeben, und es haben deshalb
die auf Ergänzung des Fehlenden gerichteten Bestrebungen namentlich derer,
die den Landmann und die Landwirtschaft als die Hauptgrundlage unsrer
Ernährung vor dem drohenden Niedergang bewahren wollen, in immer höherm
Grade die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt. So ist namentlich der Begriff des
Laudwuchcrs, mit dem zuweilen der hauptsächlich am Rhein und in Hessen
auftretende Viehwucher eng zusammenhängt, in neuerer Zeit in den Vorder¬
grund getreten und bildet eine» Teil der vielgestaltigen Aufgaben unsrer
Reichsgesetzgebung. Die Lösung der Ausgabe zu befördern und Stoff für die
sachgemäße Behandlung der Sache darzubieten, ist der Zweck des vorliegenden
Aufsatzes.
Wenn man sich mit einer allgemeinern Betrachtung des Wuchers befaßt,
selbst unter Einschränkung des Begriffes auf ein Ausbedingen übermäßig hoher
Vorteile unter Ausbeutung der Notlage eines andern und unter Ausschluß
desjenigen Eigennutzes, der durch Betrügereien, z. B. durch bezüglichen Bankerott,
schnell reich zu werden sucht, so könnte man allerhand Vorkommnisse in nnserm
täglichen Leben ohne große Mühe in gewisse Verwandtschaft mit dein Wucher
bringen. Wenn z. B. in unsrer Reichshauptstadt fette Häuseronkel ihre großen
Wohngebüudc mit Vorliebe in lauter ganz kleine Wohnungen zerlegen, die
aus je einer Stube und einer Küche bestehen, und dann von Jahr zu Jahr
den als Mieter aufgenommenen Arbeiterfamilien höhere, natürlich monatlich
im voraus zählbare Mieter abnötigen — mir sind Jahresmieten von 450 Mark
bekannt geworden —, wenn manche Spezialärzte, auch solche von bedeutendem
Rufe, die Gewährung ihrer für die Erhaltung eines Menschenlebens vielleicht
entscheidenden Hilfe von der Zusicherung oder gar Vorauszahlung schier
unerschwinglichen Honorars abhängig machen, wogegen doch die ärztlichen
Standesvertretungen nachdrücklich einschreiten sollten, wenn ferner berühmte
Verteidiger in gleicher Weise einem Angeklagten gegenübertreten, dem es an
den Kragen geht, und der, wenn much vielleicht ans bloßer Einbildung, gerade
von diesem Fürsprecher sein Heil erwartet — so kann man in diesen Fällen
»des Wunderns mit dem Pfunde" gewiß einen kleinen Beigeschmack von Aus-
deutung der Notlage empfinden. Ich weiß z. B. aus genauester Kenntnis,
daß ein Rechtsanwalt einer auf Mord angeklagten Frauensperson für eine
zweitägige Verteidigung in einer keineswegs besonders schwierigen Sache eine
„Kontribution" von 3000 Mark, buchstäblich dreitausend Mark auferlegt hat.
Die Anrufung des Gerichts wegen „Überschreitung der Mäßigung" wäre hier
gewiß von Erfolg gewesen. Auf die Art und Weise, wie manche mit „phäno¬
menalen" Stimmmitteln begabte Säuger die Teuornot und Teuorwut unsrer
Opernbühnen durch immer höhere Forderungen für sich nutzbar machen, darf
hierbei wohl auch ein Seitenblick fallen. Ob denn nicht unsre Komponisten
dnrch Ausmerzung des „hohen v" dagegen Hilfe schaffen konnten? Zwar
nicht von einer Notlage, wohl aber vom Leichtsinn und von der Unerfahren-
heit konnte man reden, wenn man den Wucher im Kunsthandel betrachtet, der
in der Neuzeit einen solchen Umfang angenommen hat, daß man fragen könnte:
Wer gehört mehr ins Tollhaus? der, der von dem Kunstnarren so unver¬
schämte Preise fordert, oder der, der sie bewilligt? und ob man nicht, ebenso
wie Griechenland seine Altertümer gegen Entfremdung sichert, auch die Er¬
haltung wertvoller älterer deutscher Kunstwerke für das Vaterland durch ein
Zwangsenteignuugsverfahren (also unter Entschädigung der Besitzer durch einen
zwar uicht wahnsinnigen, aber angemessenen Preis) gegen den Verlauf an
ausländische Nabvbs sicherstellen könnte. Wenn ich bei der Erwähnung solcher
Auswüchse gleichzeitig auf bestimmte mögliche Abhilfemittel hingewiesen habe,
so ist dadurch schou angedeutet, daß hier keine Wuchergesetze im gewöhnlichen
Sinne in Frage kommen können, wie denn überhaupt der Wucher im Sinne
solcher gesetzgeberischen Maßregeln sich offenbar nur auf deu Vermögens-
verkehr im engern Sinne bezieht. Und auch innerhalb dieser Begrenzung er¬
scheint ein Vorgehen der Gesetzgebung nicht auf Grund lehrhafter Ausklügelung
bei der Studirlampe, sondern lediglich im engen Anschluß an die Feststellung
von großer» Mißständen erforderlich und zulässig, für die eine Abhilfe durch
die in der Verkehrsfreiheit zu findende Selbsthilfe nicht ausreichend erscheint.
Unter Befolgung dieses Grundsatzes möchte ich mich demnach insbesondre mit
dem sogenannten Landwucher beschäftigen.
Es ist gewiß erklärlich, daß, nachdem durch das Gesetz von 1880 der
durch Hingabe von Darlehen oder Stundung von Geldforderungen, selbst in
versteckter Form, zu begehende Wucher beträchtlich eingeschränkt worden war,
die dazu neigenden Geldleute emsig uach neuen Wegen für ihr trauriges
Treiben ausschauten. Zunächst mußte große Unklarheit darüber bestehn, welche
Ausdehnung die Gerichte dem 8 302d des Strafgesetzbuchs über den verschleierten
Wucher geben würden. Denn von dieser Ausdehnung hing das Urteil darüber
ab, welche Wege bei der straflosen VerÜbung anderweitigen Wuchers gangbar
gemacht werden könnten. Daß das Recht, wenn auch nur innerhalb gewissen
Spielraums, eine wächserne Nase ist, liegt an der UnVollkommenheit aller
menschlichen Einrichtungen, also auch der Gesetze, und an der Fehlbarkeit der
Menschen selbst, zu denen sowohl die gelehrtesten wie mich die einsichtigsten,
d. h. die dem Rechtsbedürfuis möglichst entgegenkommenden Richter gehören.
Man hat zwar hie und da den Gerichten vorgeworfen, daß sie die Vor¬
schriften des Wuchergcsetzes in einer Weise angewendet hätten, die „von einer
einseitigen Schuldefiuitiou diktirt" sei, und ich will gar nicht in Abrede stellen,
daß es auch Richter giebt, die trotz ehrlichsten Strebens, ihrem Amte gerecht
zu werden, sich an der Kenntnis des Knochengerüstes ihres Rechtssystems
allzu gern genügen lassen und dabei selbst so verknöchern, daß sie die Haupt¬
sache, nämlich das lebendige Rechtsleben und das, was zu dessen Erhaltung
nötig ist, allzu wenig berücksichtigen. Nun bedenke man aber, daß die Wucher¬
gesetzgebung in zwei große Nechtsteile eingreift, sowohl in das Strafrecht wie
in das bürgerliche Recht. Hätte man es nur mit dem bürgerlichen Recht zu
thun, nur über die privatrechtliche Giltigkeit oder Ungiltigkeit der Wucher¬
rechtsgeschäfte zu richten, deren Beurteilung in dem einen oder andern Sinne
bloß zur Zusprechung oder Aberkennung von Vermögensansprücheu führen
könnte, so würde vielleicht die Rechtsprechung in Wuchersachen ein andres
Gesicht zeigen. Aber an der Spitze der ganzen neuen rechtlichen Regelung
steht ein Strafgesetz, und die Ungiltigkeitserklärung von Wucherverträgen hat
zur Voraussetzung, daß sie gegen dieses Strafgesetz verstoßen, das den Wucher
mit Gefängnis bedroht. Da es nun aber ein uralter und richtiger Grundsatz
unsers Strafrechts ist, daß niemand bestraft werden darf, der nicht etwas
ausdrücklich Verbotenes begangen hat — denn was nicht verboten ist, gilt
als erlaubt, oder wie das lateinische Rechtssprichwort besagt: ^ullum eriinvn
sing logg xoenali —, so kann von einer ausdehnenden Auslegung des Wncher-
gesetzes nicht wohl die Rede sein, zumal da sie auch das deutsche Strafgesetz¬
buch im § 2 (ähnliches enthielt schon die Carolinci), wie folgt, untersagt:
„Eine Handlung kann nur dann mit einer Strafe belegt werden, wenn diese
Strafe gesetzlich bestimmt war, bevor die Handlung begangen wurde." Dar¬
nach hat man insbesondre einen strafbaren Wucher nicht angenommen, wenn
ein Schuldner, dem die Forderung von dem bisherigen Gläubiger gekündigt
ist, sich an einen andern Geldgeber wendet, dem der alte Gläubiger gegen
Auszahlung des Schuldbetrags, ohne daß solcher erst durch die Hände des
Schuldners geht, die Forderung abtritt. Dergleichen Geschäfte sind nament¬
lich im Grundbuchverkehr üblich, weil hier diese sofortige Übertragung und
Umschreibung der Forderung ans den neuen Berechtigten, abgesehen von einer
gewissen Kostenersparnis, die Möglichkeit bietet, diesem auch das hypothekarische
Rangrecht unter den verschiedenen nach einander, mit den Rechten nach der
Zeitfolge der Eintragung, verdunsten Ansprüche mitznüberweisen. Und ebenso
nahe liegt es, daß vermöge des höhern Wertes und der größern Sicherstellung
solcher an einem Grundstück haftenden Vermögensrechte gerade hier eine
Lockung zu wucherischer Ausbeutung gegeben ist. Wenn nun der neue Gläu¬
biger dafür, daß er den ältern befriedigt, sich Wuchervvrteile gewähren läßt,
so hat er gegen das Gesetz weder nach seinem, Wortlaut noch nach seinem
Wortsinn verstoßen; denn er hat dem Schuldner ein Darlehn (ein neues näm¬
lich) nicht gewährt, ihm auch keine (ihm, dem Wucherer, schon zustehende) Geld¬
forderung gestundet. Man muß sogar bezweifeln, ob dann, wenn der Schuldner
die Forderung zunächst selbst ausgezahlt und auf seinen eignen Namen im
Grundbuch hat umschreiben lassen, sie aber darauf in Geldnot unter Zu¬
billigung von Wuchervorteilen an einen andern abtritt, im rechtlichen Sinne
ein Darlehn vorlüge, also eine Anwendung des Wuchergesetzes möglich erschiene.
Niemand wird aber bestreiten wollen, daß in allen diesen Fällen, vom Stand¬
punkt des Laien und auch vom wirtschaftlichen Gesichtspunkt aus betrachtet,
das Rechtsgeschäft einem Darlehnsgeschäft so ähnlich sieht, wie ein El dem
andern. Darum ist wohl mit Sicherheit auf eine baldige Ausdehnung des
Wucherparagraphen zu rechnen, die diese Ähnlichkeit berücksichtigt. Aber noch
ganz andre versteckte und dunkle Wege, als die eben beleuchteten, hat der
Eigennutz ausfindig gemacht, um seine für eigentliche Darlehnsgeschäfte nicht
mehr verwendbare „Arbeit" in andrer Weise fruchtbar zu machen. Nach
wenigen Jahren schon erkannten die, die diese Angelegenheit aufmerksam ver¬
folgten, mit Schrecken, daß sich eine neue Art der Wucherblume in üppigster
Weise entfaltet hatte, nämlich der Landwucher (auch Grundstückswucher ge¬
nannt). Ich glaube nicht zu irren, wenn ich behaupte, daß der Landwucher
uoch vor wenigen Jahren in keinem Konversationslexikon oder staatswissen¬
schaftlicher Wörterbuche Aufnahme gefunden hatte, weil er eben in besonders
hervorstechenden Grade sich nicht gezeigt,, sich noch nicht breit gemacht hatte.
Im Vergleich zu dem eigentlichen „Geldwucher," womit ich nnr der Kürze
wegen den unter § 132 a ff des Strafgesetzbuchs fallenden Wucher bezeichnen
will, obwohl das Geld bei jedem Wucher sowohl Mittel als Zweck darstellt,
ist der Landwucher das verzwicktere Geschäft, das sich oft wie ein Polyp mit
seinen Fangarmen ans vielen andern Einzelgeschäften zusammensetzt. Da heißt
es nicht bloß: schreiben und schreiben lassen, seien es Wechsel oder Quittungen,
sondern zum Landwncherer „wills Grütz — auch gehört dazu ein eignes
Nationalgenie" — so möchte man dem Räuber Spiegelberg nachsprechen.
Schlauheit und Geriebenheit und die geeignete Spürnase für die Ausfindig-
mnchung des zu erlegenden Wildes, besonders aber eine große Umsicht und
eine eingehende Kenntnis der Wirksamkeit der verschiedenen von den Gesetzen
dargebotenen Nechtsbehelfe zur Fesselung eines Schuldners sind die Erforder¬
nisse. Man kann billig bezweifeln, ob der Deutsche bei einer gewissen ange-
bornen Schwerfälligkeit befähigt genug gewesen wäre, in unserm Vaterlande
jenes neue Schlinggewächs zur Entwicklung zu bringe», wenn nicht ein fremder
eingewanderter Volksstnmm, der die dazu nötigen Eigenschaften besitzt, die
Aussaat besorgt und die neue „Spielart" in den Verkehr gebracht Hütte.
Man sieht auch hieran wieder, das; die Judenfrage keine Bekeuutnisfrage, auch
nicht in erster Reihe eine Nassenfrage ist, sondern, wie sich auch auf andern
Gebieten, z, B. dem Bühnenwesen und in der jüdischen Presse mit ihren nn-
abläßlich das Heiligste, namentlich die Ehe, verspottenden Witzblättern sattsam
zeigt, ist die Judenfrage hauptsächlich eine Frage der Moral, dieses Wort
aufgefaßt etwa in dem Sinne der französischen Sprache als Inbegriff der
Sittlichkeit, der Volkssitte und des ganzen geistigen Wesens überhaupt. Man sagt
zwar: Norm san» in oorpors sano, aber es heißt auch: Es ist der Geist, der
sich den Körper schafft. Und wenn es mit unserm deutschen Volksgeist dahin
gekommen sein wird, wohin jüdischer Geist ihn treiben möchte, dann wird auch
unsre Volkswirtschaft ebenso wie die Volksseele vom Judentum vollständig
überwuchert und ausgewuchert sein.
(Schluß sollte)
Meun auch die spanische Malerei in der Wahl ihrer Stoffe ans
der Geschichte des Landes und ans dem Volksleben der Gegen¬
wart so fest in der Heimat wurzelt wie keine andre Europas,
so hat sie doch ihr künstlerisches Rüstzeug, ihre koloristischen
Ausdrucksmittel aus der Fremde geholt. Als Francisca Goya
1828 starb, schied der letzte Ausläufer der nationalen Malerei Spaniens aus
dem Leben. Seitdem Napoleon I. dnrch seine Kriegszüge das französische
Übergewicht wieder hergestellt hatte, lief auch die Kunst der kleinern romanischen
Länder — zeitweilig anch die deutsche Geschichts- und Portrntmalerei —
französischen Idealen und Mustern nach. Das dauerte für Spanien und
Italien bis zum Anfang der sechziger Jahre. Wenn die Schöpfungen italienischer
und spanischer Kunst aus der Zeit von 1820 bis 1860 (in runden Zahlen)
Plötzlich verschwänden, würde die Kunstgeschichte — mit sehr wenigen Aus¬
nahmen — keine Lücken zu beklagen haben, sondern sie wäre nnr um einen
entbehrlichen Ballast erleichtert worden. Was die Nachbeter von David und
Gcirard, von Canova, Chaudet und Pradier in die Welt gesetzt haben, füllt
einen der ödesten Abschnitte der Geschichte der neuern Kunst. Es ist wohl
mir ein Zufall, aber doch ein merkwürdiger, daß das Ansehen der französischen
.Kunst akademischer Richtung in Italien gerade nur die Zeit ins Wanken geriet,
als der dritte Napoleon seinen kriegerischen Ruhm in Oberitalien aufzufrischen
suchte. Die damalige Stimmung im lombardischen wie im venezianischen
Königreiche war überwiegend frauzvsenfrenndlich, und nur wenige italienische
Patrioten haben damals Trauer empfunden, daß ein zweideutiger Abenteurer
die Führung in dein Kampfe um die italienische Einheit übernahm. Es ist
much eine durchaus falsche Vorstellung, wenn man glaubt, daß Umwälzungen
in der Kunstanschauung, in den künstlerischen Idealen und in der künstlerischen
Technik eines Volkes durch politische Ereignisse, durch siegreiche oder unglück¬
liche Kriege, durch Stärkung oder Schwüchnng des Nativunlgefühls herbei¬
geführt würden. Die künstlerische Bewegung ist — das haben wir an uns
selbst in diesen zwei Jahrzehnten seit 1870 erfahre« — von den großen Er¬
eignissen der Zeitgeschichte völlig unabhängig. Der Einfluß der unmittelbar
vorhergegangenen oder gleichzeitigen Vorgänge der politischen und Kultur¬
geschichte ist nur insofern bemerklich, als er sich in der Wahl der Stoffe
kundgiebt und — je nachdem ein wirtschaftlicher Aufschwung oder ein wirt¬
schaftlicher Rückgang erfolgt ist — auch auf das materielle Gedeihen der Kunst
und der Künstler, auf Angebot und Nachfrage einwirkt. Wahrhafte Fort¬
schritte, Umwälzungen und Erneuerungen der Kunst sind — das lehrt uns
wenn auch nicht jedes Handbuch der Kunstgeschichte, so doch die unbefangene
Betrachtung der Kuustdeukmüler — immer nur durch die Fortschritte und die
weitere Entwicklung des künstlerischen Handwerks, nicht durch neue Gedanken,
dnrch litterarische Bemühungen, sozialpolitische Strömungen, enthusiastische
Äußerungen des Nationalgefühls herbeigeführt worden. Alle philosophischen
Erörterungen für und wider werden durch den Grundsatz der praktischen
Ästhetik widerlegt, daß Kunst von Können kommt.
Da wir hier keine Kunstgeschichte zu lehren haben, mag ein Beispiel,
vielleicht das um meisten entscheidende, genügen. Wenn wir die Geschichte
der Welt nur von oben her betrachten, ohne in die geheimen Gänge des
langsamen Keimens und Werdens einzudringen, werden wir zu der wohl
allgemein giltigen Meinung gelangen, daß keine Umwälzung in religiösen,
politischen und sozialen Anschauungen die Welt so gründlich umgestaltet habe,
wie der endliche Sieg des Christentums über den Polytheismus des römisch-
griechischen Weltreichs. Diese Umwälzung hat aber nicht den geringsten Ein¬
fluß auf eine Umgestaltung der bildenden Künste durch den Geist des Christen¬
tums geübt. Die Motive und der Inhalt der Kunstdarstellungen änderten sich;
aber die Formensprache blieb die der gleichzeitigen heidnischen Kunst, weil das
künstlerische Handwerk in dem Boden der Überlieferung wurzelt, uicht ans
neuen Gedanken und geistigen Strömungen erwächst. In dem Maße, wie das
Christentum erstarkte und sich immer weiter ausdehnte, verflachte sich und
verrohte die Kunstübung, aus Gründen, die mit dem Christentum in keinem
Zusammenhange stehen. Als dann, im zwölften, dreizehnten und vierzehnten
Jahrhundert, die Kraft der künstlerischen Ausdrucksmittel wieder zunahm, be¬
reitete sich der Verfall des kirchlichen Organismus vor, der zur Reformation
führte, und zu der Zeit, wo die alte Kirche in Luther das erste Hindernis
fand, vor dem sie sich zurückziehen mußte, erlebten alle Künste eine „Wieder¬
geburt," wie mau gewöhnlich sagt, in Wirklichkeit aber nur eine Erneuerung
oder eine Umkehr zur antiken Formen- und Gedankenwelt, auf die der Kirchcn-
streit, die Reformation und die Gegenreformation, selbst der Humanismus
keinen entscheidenden Einfluß geübt haben. Denn auch der Zusammenhang
des Humanismus mit der sogenannten Renaissance ist nur sehr lose, und wenn
wirklich mit Sicherheit eine von fühlbaren Erfolgen begleitete Einwirkung der
mit antiker Litteratur genährten und groß gezogenen Gelehrten und Schrift¬
steller des fünfzehnten und sechzehnten Jahrhunderts auf die gleichzeitige Kunst
festgestellt werden kann, so trifft das nur für Italien — und auch hier nur
in beschränktem Maße — zu, weil das Leben der Gelehrten und Litteraten in
Italien vou alters her in weit engerem Zusammenhang mit dem allgemeinen
Volksleben gestanden hat als im Norden.
Es ist also nichts mit der vermeintlichen Wechselwirkung der großen
Zeitabschnitte der politischen Geschichte und der Kunstgeschichte. Die Entwick¬
lung der Kunst wird unabhängig davon nur durch die Fortschritte des Hand¬
werks herbeigeführt, und die Gedanken, die gleichzeitig das Hirn des Menschen
erfüllten, die Bestrebungen einzelner Völker lenkten, finden nur ihrem sinnlich
wahrnehmbaren oder darstellbare» Inhalte nach einen Niederschlag in den zu
derselben Zeit entstandenen Kunstwerken. So fand auch in der Zeit, wo
Napoleon III. seine Siege in Oberitalien erfechten und durch Triumphzüge
die Obherrschnft des Fmnzvsentums in Europa feststellen ließ, ein Spanier,
Fvrtnny, die Mittel, die Kunst seines Vaterlandes und der Italiener zugleich,
nnter denen er sich die Stätte seines Schaffens gegründet hatte, von dem
theatralischen Stil der französischen Geschichts- und Jdealmalerei zu befreien
und zur Natur zurückzuführen.
Mannichfaltig siud die Eindrücke gewesen, nnter denen sich Fortnnys Stil
zu einer Individualität und scharf ausgeprägten Persönlichkeit entwickelte.
Neben Goya war in seiner Jngend der Franzose Gavarni, dessen kecke, nervöse
Zeichnung eines der Elemente seiner Kunst geworden ist, sein Vorbild gewesen.
Als er dann 1859, einnndzwnnzig Jahre alt, als Begleiter des Primschen
Hauptquartiers den Feldzug der Spanier in Marokko mitmachte, erweckte die
afrikanische Souue seinen Farbensinn. Nach Rom zurückgekehrt, beutete er
dort zunächst seine marvkkaiuschei, Studie,; aus, die er später durch eine zweite
Reise noch erweiterte. Der nordafrikanische Orient ist nach Fvrtnnys Vor-
gange anch jetzt noch ein beliebtes Studienfeld spanischer und italienischer
Genre- und Landschaftsmaler. Was Albert Pasini und Josv Villegns daraus
geschöpft haben, ist auf unsrer Ausstellung nur ungenügend durch zwei Bilder
von Villegas: eine Erklärung des Korans durch einen Schriftgelehrten vor
wißbegierigen Zuhörern und eine Gruppe betender Araber vertreten. Aber
man sieht doch aus solchen Studien, daß auch Italiener und Spanier das
Bedürfnis fühlen, die „Sonnenhaftigkeit" ihrer Augen noch durch eine heißere
und grellere Sonne aufzufrischen, als sie ihnen die heimatlichen Bergplateaus
und Kampagnen darbieten. Der künstlerische Sinn der italienischen und
spanischen Maler für die Landschaft und ihre Abarten ist überhaupt erst in
jüngster Zeit erwacht. Seit der Mitte der siebziger Jahre, von wo etwa der
Zufluß italienischer und spanischer Kunstwerke nach Deutschland begonnen hat,
haben wir beobachten können — lind diese Beobachtung haben wir, für Italien
wenigstens, auch in den dortigen Kunstausstellungen und Sammlungen be¬
stätigt gefunden —, daß eine Landschaftsmalers in unserm Sinne, d. h. mit
dein vollen Aufgebot von Stimmung, poetischer Empfindung, feiner Durch¬
bildung aller atmosphärischen Erscheinungen u. s. w., erst seit vier oder fünf
Jahren besteht. Die Gründe dafür mögen verschiedene gewesen sein. Viel¬
leicht mochten die Italiener eingesehen haben, daß sie den deutschen Land¬
schaftsmalern, die den ewig blauen Himmel Italiens zu einem künstlerischen
Dogma erhoben hatten und sich an intensiver Himmelsbläue mit rötlichen,
purpurrotem und violetten Abwandlungen überboten, doch keine Konkurrenz
zu machen vermochten. Vielleicht hatte sie ihr angeborner Farbensinn auch
von der Fruchtlosigkeit überzeugt, einem blauen, wolkenlosen Himmel ohne
romantische Schönfärbereien koloristische Wirkungen abzugewinnen, die nicht
roh auf die Sinne einstürmen. Jedenfalls lehren uns die italienischen und
spanischen Landschaften unsrer Ausstellung, daß ihre Schöpfer den typischen,
jetzt aber schon mehr sagenhaft gewordenen „Himmel Italiens" ans dem
Bereich ihrer Darstellung ausschließen und sich diesen Himmel lieber an¬
setzn, wenn er halb oder ganz bewölkt ist, wenn er Regen oder Schnee
herabsendet lind wenn die mit ihn: verbündeten Elemente und Wettererschei-
nnngen, Wind, reißendes Wasser, angeschwollene Flüsse u. s. w., seiner
Laune und seiner Physiognomie entsprechen. Der aufmerksame Zeitungsleser
wird finden, wie schön diese Landschaften mit den Unhcilspvsten übereinstimmen,
die die Agenzia Stefani, das Wolffsche Bureau und andre Sammelstellen von
Depeschen fast täglich aus der apenninischen Halbinsel den Zeitungen zur
weitern Verbreitung übermitteln. Der italienische Maler, der durch seiue große
Fruchtbarkeit in neuerer Zeit am meisten dazu beigetragen hat, deu Himmel
und die Witterungsverhältnisse Italiens in ihrer wahren Gestalt zu zeigen,
ist der Neapolitaner Carlo Braneaeeiv. Er steht in vollem Gegensatz zu den
Deutschen Oswald Acheilbach, Flaum, Leu, Lutteroth und andern, die Neapel
ganz anders gesehen haben als er. Braneaceio scheint mit Absicht jeder melo¬
dramatischen Neigung, jeder Verlockung zum Pittoresken und Romantischen
ans dem Wege zu gehen. Was die deutschen Maler in zauberischer, nicht
allzu häufig dem Auge sich darbietender Beleuchtung sehen nud darstellen,
betrachtet er und giebt er wieder als nüchterner Alltagsmensch, in dessen
Rechnung die Zahl der Wochentage die der Festtage übersteigt. Seine An¬
sichten vom Golf von Neapel, seine Blicke vom Meeresufer ans die Stadt,
seine neapolitanischen Straßenbilder sind, soviel wir gesehen haben, ohne Aus¬
nahme Tageslandschaften: kein flanunenspeiendcr Vesuv, kein Sonnenuntergang
mit allen Farben des Spektrums von Orange bis zum absterbenden Violett,
kein Mondcsglanz, kein Feuerwerk, kein elektrisches Licht und keine Gaslaternen.
Entweder ein grnublaner, von der Hitze flimmernder oder ein leichtbewölkter
Himmel, bisweilen much eine aschgraue Negenstimmung oder ein stark von
Fußgängern und Wagen belebtes Strnßenbild nach dem Regen. Ebensowenig,
wie diese Landschaften mit den poetischen Schöpfungen der deutschen Maler
etwas gemein haben, nähern sie sich den: schummerigen Stil der französischen
Stimmnngsmaler oder der skizzenhaften, mit bloßen Andentungen des Tons
sich begnügenden Manier der Impressionisten. Brcmeaecio giebt die Einzel¬
heiten, die Lokalfarben aller Steine, aus denen sich das bunte Mosaik eines
Landschaftsbildes zusammensetzt, fest und bestimmt wieder, mit der geistreichen
Spitzpinselei, die Fortnnh den Spaniern und den Italienern gleich geläufig
gemacht hat, und nicht allein diesen, sondern auch einzelnen dentschen Malern,
die sich neuerdings der Schilderung des italienischen Volkslebens auf der Straße
oder in breiter landschaftlicher Umgebung beflissen haben. Ein charakteristisches
Beispiel dafür hat unsre Ausstellung in einem Bilde von Adolf Leonhard
Müller aus Kassel auszuweisen: einer Partie vom Golf von Neapel, der Villa
Nazionale mit seinem Wagenkorso und dem Getriebe von Spaziergängern,
Händlern, Ausrufern u. f. w. an einen: sonnigen Spätnachmittage im Frühjahr.
Mitten unter den Wagen der des italienischen Königspaares, dem viele der
Begegnenden ihre Grüße darbringen, manche auch mich der Gewohnheit des
Südländers, der sich nicht so leicht aus seiner Ruhe und Bequemlichkeit auf¬
stören läßt, den Rücken lehren. Nur in der feinen Durchbildung der in ein¬
ander verschmolzenen Lufttöne und Luftschwingnugen erkennt man »och den
Deutschen, insbesondre den Düsseldorfer. Aber die Charakteristik der zahl¬
reichen Figuren, die prickelnde Lebendigkeit in der Zeichnung der hellen Um¬
risse, die entschlossene Buntfarbigkeit in allem, was an der Erde haftet, sind
die Eigentümlichkeiten der modernen italienischen Schule, die ein junger, frisch
und unbefangen blickender Mann in sich aufgenommen hat, weil sie offenbar
mit seiner eignen Wahrnehiuuug übereinstimmen.
Da der Italiener und der Spanier die ruhige Stimmungslaudschaft im
Sinne der Franzosen nicht kennt oder nicht liebt, so können die meisten italie¬
nischen und spanischen Landschaften ebenso gut auch als Genrebilder gelten,
und die Architcktnrstücke, d. h. alte und moderne Bauwerke in landschaftlicher
Umgebung, sind auch dieser Gruppe beiznzn'hier. Sie sind, wie gesagt, in der
Mehrzahl auf einen kühlen Ton gestimmt, mehr auf Frühling und Herbst als
auf das grelle, versengende Licht des Sommers, das alle Lokalfarbeu verzehrt.
Aus der italienische,? Abteilung sind das Blumenfest in Venedig, eine Prozession
über eine Schiffbrücke von der Riva nach San Giorgio Maggiore, von Vannn-
telli, der Sonnenuntergang an der Etsch von Bezzi, die Mnnöverbilder von
Sebastian» de Albertis, eine Alpenlandschaft von Bazzaro, ein herbstlicher
Wald mit weidenden Rindern von Petiti, die Wäscherinnen am Gardasee von
Ettore Tito, die Kastanicnerute von Boggiani, die Maisernte in Chivggia
von Careauo und die römischen Architekturstücke von Tcivernier und Bazzani,
ans der spanischen Abteilung der Abend im Hafen vou Abades, das große
Divisivnsmanöver von Cusachs h Cusachs, der Strand von Villaueva und die
Getreidebörse vou Palma auf Mallorca von Juan Noig y Soter, der Bach
in Catalonien von Masriera y Mauoveus und der Geflügclmarkt am Thomas-
feste in Barcelona von Rom h Furnv Zeugen der llmwandlung, die sich in
der koloristischen Auschanung der Spanier und Italiener während der letzten
Jahre vollzogen hat. In den: Grade, wie sie mehr und mehr auf die rohe
Wirkung des ungebrochenen Sonnenlichtes verzichtet haben, hat ihre Farbe um
Ernst und Tiefe gewonnen, ist ihre malerische Behandlung von der spitzen,
tnpfendcn Manier mehr in die Breite gegangen. An die Stelle des glitzernden
Flimmerns ist eine gleichsam von innen herausstrahlende Leuchtkraft getreten,
die häusig auch warme Töne, bisweilen sogar von leidenschaftlicher Glut, zu
erzengen weiß. Ein Marienfest in einer mit allem Aufwand des katholischen
Kirchenprunks geschmückten spanischen Kathedrale von dem in Rom lebenden
Jos» Benllinre y Gil und ein Blumenmarkt in Verona an einem sonnigen,
schon etwas dunstigen Frühlingsmorgen von Angelo dall' Oca Bianca sind
die beiden glänzendsten Beispiele dieser blumigen, farbenfröhlichen Malerei,
die ebenso kräftig starke, tiefe Töne anzuschlagen versteht, wie sie die Lvkal-
farben mit dem zartesten Dunst der Atmosphäre im Freien und im geschlossenen
Raum zu umschleiern weiß und doch dem Auge sichtbar läßt.
Neben diesen Vertretern der weit über Fvrtunh hinaufführenden Ent¬
wicklung der modernen italienischen und französischen Malerei giebt es noch
einige hervorragende Künstler, die der Fvrtunyscheu Richtung treuer geblieben
sind, vor allen Paolo Michetti, der sich zuerst 1878 auf der Pariser Welt¬
ausstellung dnrch einen Frühling, eine hüglige Meeresküste, auf der halb¬
nackte Mädchen mit Kindern unter blühenden Obstbäumen allerhand Kurzweil
treiben, in weiter» Kreisen bekannt gemacht hat. Ein Jahr zuvor hatte er
bereits das auf unsrer Ausstellung vorhandene Corpus - Dvmimfest in Chieti
in den Abruzzen gemalt: eine Prozession von nackten, mit Gold- und Blumen¬
schmuck bekränzten Kindern, die eben aus einer Kirche herausgetreten sind und
draußen, auf der Freitreppe, von Müttern und Schwestern jubelnd empfangen
werden. Die kleinen nackten Körper sind mit größter Sorgfalt gezeichnet »ut
zu schönster Rundung herausmvdellirt. Sie bilden die höchsten Lichtpunkte in
der Fülle von Glanz und Farben, die über das ganze, von unzähligen Figuren
belebte Bild ausgegossen ist. Wieder mehr an die skizzenhaft audeuteude, auf
Touwirkuug nnsgeheudc Manier Fvrtunys schließt sich Michettis Kirchgang an,
dessen Schauplatz ebenfalls die Freitreppe einer Kirche in Chieti oder Francnvilln
a Mure ist, einer kleinen Stadt am Adriatischen Meere, wo Michetti, fern vou dem
Treiben des Touristenlebeus und der hauptstädtischen Geselligkeit, seit Jahren seine
geistreichen, durch die Frische der malerischen Technik immer aufs neue fesselnden
Genrebilder aus dem modernen Volksleben nud seine Landschaften malt. Der
.Kirchgang, entweder der Gang eines Brautpaares zur Trauung oder der erste
Kirchenbesuch des neuvermählten, von Gevattern und Gevatterinnen begleiteten
Paares, findet uuter erschwerenden Umständen statt. Ein Regen von südlicher
Kraft ist eben niedergegangen, und noch stehen auf den Steinflächen die Lachen,
über die die Brautjungfern mit kokett aufgehobenen Rocken hinweghüpfeu.
An der Kirchenfront steht unter dein schützenden Dach eine ländliche Musik-
bande, die die Hochzeitsgesellschaft mit voller Musik empfängt. Tiefe oder
wenigstens eigenartige Gedanken sind weder in diesen noch in andern italie¬
nischen und spanischen Sitteubilderu niedergelegt. Aber sie werden, wenn wir
die geschichtliche Erfahrung als Maßstab der Beurteilung annehmen dürfen,
in Zukunft ungefähr denselben Rang behaupten wie etwa in unsrer Zeit die
niederländischen Genrebilder des siebzehnten Jahrhunderts. Sie werden in
gleichem Maß als treue, kulturgeschichtliche Urkunden ihrer Zeit gelten. Darin
liegt ein nicht geringes Verdienst. Denn wenn man die ganze Entwicklung
der Kunstübung von deu Aufüngeu unsrer Kenntnis bis auf die Gegenwart
betrachtet und einen sichern Gewinn daraus zu ziehen sucht, wird man zu dem
Schlüsse kommen, daß zweierlei der Kunst ihren Hauptinhalt gegeben und sie
vorwärts gebracht hat: die Religion, d. h. der auf die Versinnlichung der
verehrungswürdigsten Vorstellungen der Phantasie gerichtete künstlerische Trieb,
und die Darstellung des Volkslebens in seiner dem Wesen jeder Nasse ent¬
sprechenden Eigentümlichkeit. Was dazwischen liegt: Allegorien und phan¬
tastische Gebilde idealen Inhalts, politische Geschichte, Haupt- und Staats-
aktionen, das alles besteht nicht vor dem Richterstuhl des geschichtlichen Urteils
oder, wenn man den Begriff so allgemein wie möglich fassen will, vor dem
des Wechselndell Geschmackes. Auch für religiöse und Genrebilder tritt noch
zur Beurteilung sud spoeio aoterni eine EinschrKnknng hinzu: je naiver, un¬
befangener und absichtsloser sich ein Kunstwerk darbietet, nur so mehr hat es
Aussicht, in der Hochschätzung späterer Geschlechter fortzubestehen.
Alle Merkmale deuten darauf hiu, daß sich die Genrebilder Michettis
dieses Vorzuges zu erfreuen haben werden. Er hat Humor und Naivität zu¬
gleich, und seine Figuren sind keine kostümirten Modellpuppen, sondern sie
hängen eng mit dem Boden zusammen, auf dein sie einherwandeln. Wenn
Michetti die koloristische Leistungsfähigkeit seiner Palette zur höchsten Wirkung
antreibt, liebt er es, den azurblauen Spiegel des Adriatischen Meeres zum
Mittel- und Hintergründe seiner Szenen aus dem Volksleben zu wählen. So
ans der Serenade, die ein an einem Baume lehnender Mandolinenspieler einer
Schar dnnkelhariger Schönen darbringt, die, in einer Reihe aufgestellt, auf den
um Liebe werbenden Sänger spöttisch oder schelmisch lächelnd blicken. Was
der Vordergrund an harten, selbst rohen Farbeugegeusätzen bietet, wird durch
die tiefblaue Harmonie des Hintergrundes wieder zusammengebracht.
Neben Michetti war in neuerer Zeit der Venezianer Giacomo Favretto
in den Vordergrund der italienischen Genremaler getreten. Unter ungünstigen
äußern Verhältnissen — er war sehr arm und verlor in der Jugend ein
Auge — eignete er sich eine Scharfe der Beobachtung und eine Feinheit des
koloristischen Gefühls an, von der die auf unsrer Ausstellung befindlichen
Bilder: die moderne Promenade auf dem Markusplatz und ein Trödelmarkt
ans einem venezianischen Ccunpo freilich keine ausreichende Vorstellung gewähren,
weil der Künstler vor ihrer Vollendung, 1887, erst achtunddreißig Jahre alt,
gestorben ist. Die Figuren sind fast vollständig durchgeführt; aber die archi-
tektonische Umgebung ist erst flüchtig skizzirt. Aber soviel sieht mau doch,
daß auch dieser Künstler eine Neigung zu einer ernsten Tvnstimmung hatte.
Was ihn mit Fortuuh in Zusammenhang bringt, ist seine auf frühern Bildern
gezeigte Vorliebe für das achtzehnte Jahrhundert, für das venezianische Volks¬
leben in der Nokokozeit. Das ist auch ein Element, das Fortnny in die
spanische und italienische Malerei eingeführt hat, freilich kein originales. Er
war nach abermaliger Auffrischung seiner in Nordafrika gewonnenen Eindrücke
und nach einem Aufenthalt in Madrid 1865 nach Paris gegangen, wo er bis
zum folgenden Jahre blieb und Meissvuier und Gvröme kennen lernte. In
welchem Grade diese auf ihn einwirkten, sieht man aus seinen 1867 entstandene»
Hauptwerken, der Hochzeit in der Vicaria zu Madrid mit einer eleganten
Gesellschaft in der Tracht des vorigen Jahrhunderts und dein Salon mit
Knnstliebhaberu derselben Zeit, die ein als Modell ausgestelltes nacktes Mädchen
mit lüsternen Blicken betrachten. Diese Spezialität Fvrtuuyscher Kunst hat
eine Zeit lang in Italien und Spanien in hoher Blüte gestanden; aber in
neuester Zeit muß sie, wahrscheinlich weil die Massenproduktion die Nachfrage
bedentend überstieg, stark zurückgegangen sein. Wenigstens hat unsre Aus¬
stellung nur noch wenige Proben dieser fast vergessenen Kunst, die schließlich
in kokette Stvffmalerei versank, aufzuweisen. Zwei Bilder von Francesco Vinca,
eine militärische Szene aus dem französischen Kriege gegen Spanien im Jahre
1810, ein Kriegsrat im Wende von Domingo Munoz h Cuesta und ein Boudoir
mit zwei Damen und einem Herrn in der Tracht der Empirezeit von Luis
Alvarez — das ist so ziemlich alles, was Anspruch auf Beachtung machen
kann. Die übrigen Genremaler, die die Art Fortnnhs pflegen, wählen ihre
Stoffe meist ans dem Volksleben der Gegenwart, so Felipe Maso (der Park
Morceau in Paris und die Zitrvnenernte in San Nemo), Frances y Pascual
(ein humoristisches Straßenbild aus Granada: der Stier kommt!), Jvsv Gallegos
(Trauung in der Sakristei des Domes zu Sevilla und die Verehrung des
heiligen Sakraments) und Josv Arya y Peru (Inneres eines Studirziimuers).
Aber denselben Künstlern, die wir unter den Kleinmeistern in der Art Fortnnys
finden, begegnen wir auch unter den Geschichtsmnlern großen Stils, und diese
staunenswerte Wandlungsfähigkeit, die vornehmlich dnrch Francesco de Pradilla
und Luis Alvarez vertreten wird, ist eine Eigenschaft der spanischen Malerei, die
ihr eine Stellung im Vordergründe der >modernen Kunstbewegung erobert hat.
ir kannten sie alle, die ältliche Jungfrau mit der steife» Haltung
und dem großen Strickbeutel, und wen» wir ihr begegneten,
drückten wir uns scheu an ihr vorbei. Denn die meisten von
uus lernten bei ihr Schreiben und Lesen und kannten geuau
ihr Lineal, mit dem sie sehr rücksichtslos umzugehen Pflegte.
Wie eine Königin thronte sie in einer engen, heißen Stube, und um sie herum
saß auf kleinen Stühlen und Holzschemeln die Jugend beider Geschlechter im
Alter von drei bis sechs Jahre» und malte Striche uns die Tafel oder schrie
im Chor: n-b, ub; b-a, ba. Tante Fedderseu selbst strickte beim Unterricht
Strümpfe und Unterjacken und trug dabei eine Hornbrille ans der Nase, die
nur wie durch ein Wunder des Himmels nicht herunterfiel, sondern auf der
äußersten Spitze ihres sehr entwickelten Atmungsorgaus hing. Ich genoß
keine Unterweisung bei Taute Fedderseu, weil ich im Hause unterrichtet wurde;
als aber mein jüngerer Bruder in die Jahre kam, wo kinderreiche Eltern ihre
Sprößlinge gern für einige Zeit los sind, schickte man ihn in die Kleinkinder¬
schule. Nach einer Stunde kam er weinend wieder nngelaufeu. „Es stinkt
dort so!" erklärte er schluchzend, und erst durch vieles Zureden war er zur
Rückkehr in die Hallen der Wissenschaft zu bewegen. Seit diesem Tage be¬
stand sein Verhältnis zur Schule eigentlich nur darin, daß er sie schwärzte,
und Taute Feddersen erlebte nicht viele Freude an ihm. Er aber wußte
mancherlei von ihr zu berichten: daß sie immerfort Kaffee trinke und dabei
Kandiszucker lutsche, daß sie sich manchmal die Haare mache und die Haar¬
nadeln in den Mund nehme u. s. w. Bei uus in Schleswig-Holstein gab es
früher noch kein besondres Examen für die, die eine Kleinkinderschule besaßen,
und das war gut für Tante Feddersen. Sie stand nämlich mit der deutschen
Sprache auf sehr gespanntem Fuße, vor allein mit den Geschlechtswörtern.
Mein Bruder erregte unsre lebhafteste Freude, als er plötzlich die Manu, das
Apfel, das Kartoffel, die Hund sagte; daß es auch ein männliches Geschlecht
auf der Welt gab, schien Tante Feddersen nicht zu ahnen. So wurde ihr
deun die Belehrung unsers Kleinen doch entzogen, was sie sehr übel nahm,
ja sie sprach laut darüber, „wie komisch es doch sei, daß gewisse Leute ihr
Fleisch und Blut in die Wildnis aufwachsen ließen."
Ganz in unsrer Nähe wohnte der Krämer Ehlers, ein älterer Mann mit
kahlem .Kopf und lustigem, rotem Gesicht. Wir Kinder liebten ihn leiden¬
schaftlich, weil er uns immer „was zugab," wenn wir bei ihm kaufte», und
erschienen daher oft in seinem Laden. Einer meiner ältern Brüder lief sogar
zu Ehlers, wenn er wissen wollte, wieviel die Uhr sei, und rief, nachdem er
Auskunft erhalten hatte: „Nu noch een paar Plummen lau!" Auch dieser
Wunsch wurde erfüllt, und wir alle glaubten, daß unser dänischer König nicht
halb so nett sei, wie unser guter Krämer. Erwachsene Leute waren freilich
nicht dieser Ansicht; Jens Lauritzen, unsers Großvaters Polizeidiener und ein
Kopenhagens Kind, erklärte Ehlers für einen „Swindler" und behauptete,
es würde einst ein „slimmes Ende" mit ihm nehmen. Aber diese Ansicht
hinderte uus nicht, Ehlers bei allen Einkäufen zu begünstigen.
Als ich eines Tages zum Privatgebrnuch für eiuen Schilling Feigen
kaufte, stand Tante Feddersen vor Ehlers und forderte ein Pfund Zucker und
eine halbe Flasche Jamciikarnm. „Zum Einreiben!" setzte sie mit feierlichem
Ernst hinzu, und Ehlers bediente sie mit seinem freundlichsten Lächeln. Als
sie gegangen war, winkte er mir geheimnisvoll zu. „Das wird auch bloß
innerlich eingerieben!" flüsterte er. Ich war damals noch nicht weise genug,
diese Bemerkung zu verstehen, und sah ihn fragend an. Aber nach Art un¬
gebildeter Leute, die mit Kindern alles besprechen, fuhr Ehlers mit noch ge¬
heimnisvollerer Miene fort: „Früher wollte sie mir mal heiraten und hat
mich auch 'u Brief geschrieben! Liebe Zeit, hab ich damals gelacht! Ich hab
ihr garnicht geantwortet, und nun kommt sie immer und läuft was bei unes!"
„Heirate sie doch!" sagte mein älterer Bruder Jürgen, der den Feigeneinkans
gewittert hatte und mir, wie immer bei solchen Gelegenheiten, mit großer
Zärtlichkeit gefolgt war. Herrn Ehlers rotes Gesicht ward uoch röter vor
Lachen. „I du meine Güte! Zehn Jahre älter ist sie als ich! Nein, mein
Junge, solche alte Scharteke nimmt Christian Ehlers nicht!" Jürgen hörte
ihm gespannt zu, und als wir fortgingen, erzählte er mir. daß es schon früher,
in ganz alten Zeiten so gegangen sei, daß einer hätte heiraten wollen und
der andre nicht. Mein Bruder lernte nämlich schon biblische Geschichte, und
während er großmütig die Feigen mit mir „teilte," erzählte er mir von Joseph
und Potiphars Weib. Sie hatte gewollt, er nicht — gerade so wie Tante
Feddersen und Herr Ehlers. Seit der Zeit ist Potiphars Weib für mich
eine alte Scharteke, bewaffnet mit Lineal und Hornbrille geblieben.
Einige Wochen später schickte mich unser Mädchen in der frühesten
Morgenstunde zu Ehlers. Sie hatte vergessen, etwas sehr Notwendiges ein¬
zukaufen, und ich ließ mich bereit finden, vor der Morgenmilch einen Gang
zu meinem Freunde zu machen. Als ich in den Laden trat, saß der Krämer
mit rvtblanem Gesicht auf der Essigtonne. Er hatte einen Strick um den
Hals und sah mit gläsernen Augen auf Tante Feddersen, die vor ihm stand
und sich in solcher Erregung befand, daß sie mein Kommen nicht bemerkte.
„Gott in bogen Himmel!" rief sie. „Ehlers, Ehlers, was fällt dich eigent¬
lich ein? An 'nen Schinkenhaken hast dich aufgehängt, und wenn ich mich
nich gerade forn Hamborger Schilling Sweinesmalz kaufen will, hängst dn
an den heutigen Morgen schon vor deinen himmlischen Richter! Und das
allens, weil du reinemang bankerott dust, was ich dich all ümmer gesagt!
Und ich hab gerade die alte Kleiderscherc bei mich, die ich nach 'n Smidt
bringen will, weil sie leine Spitz mehr hat und--" Hier drehte sich
Tante Feddersen leider um und sah in ein über alle Maßen neugieriges
Kindergesicht. In derselben Sekunde hatte sie mich aus der Thür geworfen,
hatte mich aber bei dieser Gelegenheit so unsanft angefaßt, daß ich heulend
nach Hause lief.
Obgleich mir verboten wurde, über mein Erlebnis zu sprechen, so hatten
doch wohl auch andre Leute Tante Fedderseu in Ehlers Laden gesehen. Bald
sprach die ganze Stadt davon, daß Ehlers sich hatte aufhängen wollen, weil
er seinen Schuldnern uicht hätte gerecht werden können; der Laden ward ge¬
schlossen, und es hieß, der lustige Krämer müsse sitzen. Aber da erschien
Tante Feddersen beim Bürgermeister und hatte in ihrem großen Strickbeutel
einige Strümpfe voll harter Speziesthaler, und Ehlers brauchte nicht zu sitzen.
Eines Tages liefen wir Kinder, so schnell uns unsre Füße trugen, in
die Kirche. Dort ward Ehlers mit Taute Fedderseu getraut, und dieses
Ereignis regte unsre kleine Stadt so ans, daß Jens Lanritzen, der an der
Kirchthür in voller Uniform stand, den andrängenden Müttern, die ihre neu¬
geborenen Kinder mitgenommen hatten, immer wieder sagen mußte: „Kein
Marsk unter ßeks Jahre darf hinein in das Kjerke!" Es war aber doch ein
furchtbares Gedränge, und alle sprachen laut über das Paar, das zusammen
110 Jahre alt sein sollte. Mir gefiel Tante Feddersen sehr gut in ihrem
schwarze» Kleide und in ihrer Mütze mit langen Lilabändern. Sie sah sich
ernst ringsum, während Ehlers mit niedergeschlagenen Augen neben ihr stand.
„So hat Potiphars Weib doch ihren Willen durchgesetzt," flüsterte ich Jürgen
zu, der an meiner Seite stand. Aber er antwortete ärgerlich, ich sollte kein
dummes Zeug reden, sondern lieber zusehen, ob man an Ehlers Halse noch
einen roten Strich erblicken könnte. Und so starrten wir denn den Bräutigam
unausgesetzt während der ganzen Feierlichkeit an, was ihm gewiß sehr auge¬
nehm war.
Nun wohnte Herr Ehlers bei Tante Feddersen, ein Umstand, den wir
ebenso wenig begreifen konnten, als das Verlangen der jungen Fran, Fran
Ehlers genannt zu werden. Dieser Wunsch ward ihr durchaus nicht
erfüllt. Die kleinen Kinder konnten wohl a-b ab lernen, aber daß Tante
Feddersen jetzt anders heiße, vermochten sie nicht zu begreifen. Sie blieb
Tante Feddersen, und da Ehlers jetzt beim Unterricht verwandt wurde, so
nannten die Kleinen ihn Onkel Feddersen. Er war, wie sie sagten, „besser"
als Tante Feddersen und gab ihnen manchmal ein Stück Kandiszucker, wenn
seine Frau nicht im Zimmer war. Aber aus dem vergnügten, dicken Ehlers
wurde ein magerer, stiller Onkel Feddersen. Wenn wir, seine alten Freunde,
ihm begegneten und ihm zunickten, lächelte er zerstreut und sah zur Seite.
Zum Zeichen, daß sich meine Freundschaft stets gleichblieb, obgleich er mir
nichts mehr „zugeben" konnte, fragte ich ihn, ob das Aufhängen sehr weh
thue; aber zu meiner Überraschung kehrte er sich ab und antwortete gar uicht.
Andern Kindern erging es ähnlich, und so ward uns „Onkel Feddersen" lang¬
weilig und wurde nach Art der undankbaren Welt endlich ganz von uns vergessen.
Unsre Teilnahme für ihn erwachte erst wieder, als wir hörten, daß er
plötzlich gestorben sei. Da liefen wir alle zu Tante Feddersen, um die Leiche
noch einmal zu sehen. Wir wurden aber alle aus der Thür geworfen und
mußten uus damit begnügen, dem Begräbnis auf dein Kirchhofe beizuwohnen,
was wir denn anch thaten, obgleich es uns längst nicht so gefiel, wie die
Trauung vorm Jahre. Die erwachsenen Leute, die mit uns auf dein Kirch¬
hofe standen, sagten, Ehlers sei an der Auszehrung und an der Taute Feddersen
gestorben, und alle bedauerten ihn und meinten, das käme davon! „Wovon?"
fragte ich neugierig, und die Antwort war: „Kind, das verstehst dn nicht!"
Später habe ich einsehen lernen, daß die erwachsenen Menschen das Leben mit
seinen Rätseln auch uicht verstehen, damals aber war ich sehr beleidigt über
diese Antwort.
Tante Feddersen hat noch viele Jahre unterrichtet, und nach Ehlers Tode
war sie mit der deutschen Sprache gespannter als je zuvor. Ich sah sie später
einmal wieder, da sprach sie gerade über „die Manners." „Sie langen alle
nix!" sagte sie böse. „Kaum hat man sie, dann kneifen sie wieder aus!
Wen» ich mich bloß denke, was Ehlers mich für bar Geld gekostet hat; erst
seine Schulden, und denn das Trauung und denn das Krankheit und denn
die Begräbnis, denn kaun ich rein swindlig werden! Ja, die Müuncrs, da
ist kein Verlaß auf! Und meinen ehrlichen Namen, der mich angetraut is
und der in Kirchenbuch steht, den krieg ich erst, wenn ich tot bin, da paß
man auf!"
Tante Feddersen hat Recht gehabt. Neulich war ich auf dem Kirchhof
der kleine» Stadt und suchte ihr Grab. Ich konnte es uicht finden und
wandte mich an den Totengräber. „Tante Feddersen liegt hier!" sagte er,
indem er mir einen Stein zeigte, auf dem stand: „Hier ruhet in Gott die
christliche Ehefrau und Witwe Dorothea Ehlers geb. Feddersen." Es that
mir doch leid, daß sie es uicht selber lesen konnte. Aber so ist es immer
mit der Erfüllung unsrer Wünsche. „Da ist kein Verlaß auf!" sagte Tante
Feddersen.
„Is da was Gutes ein? Dann stell das Korb man hierhin und geh »ach
Hause!" So wurden wir von dem alten Mahlmann begrüßt, wenn wir ihm
einige Lebensmittel brachten. Er war steinalt und lag meistens im Bett, und
nur an besonders wariueu Sommertagen saß er auf der Bank vor seinem
winzigen Häuschen und ließ sich von der Sonue bescheinen. Hätte sich mich
unserm langweiligen Städtchen einmal ein Maler verirrt, so hätte er sicherlich
den scharfgeschnittenen Charakterkvpf des alten Mühlmann auf seine Leinwand
gebracht. Es war ein kluges Greisengesicht mit festgeschlossenen Lippen und
funkelnden Augen, deren Ausdruck so finster und beobachtend war, daß wir Kinder
sogar deu Eindruck gewannen, der alte Mahlmann sei anders als alle andern
Leute. Und das war er auch. Erstens bedankte er sich niemals, wenn man
ihm etwas Gutes zu essen brachte; er machte sogar noch seine Bemerkungen
über die empfangenen Wohlthaten. Wenn man ihm etwas brachte, was er
nicht mochte, so sagte er: „Geh man wieder nach Hause und sag dein Mutter,
der alte Mahlmann wäre kein Drangtvnne,") wo man alles einsmeist, was
»ich mehr zu essen ist. Brauchst auch nich wiederzukommen!"
Auf diese Weise verdarb es der alte Mahlmnun mit mancher braven
Hausfrau, sie verschwor sich hoch und heilig, dein abscheulichen alten Sünder
nichts mehr zu schicken. Aber Mahlmann machte sich nichts daraus, hier und
dort in Ungnade zu fallen. Er brauchte wenig zu seinem Leben, und was er
brauchte, wurde ihm noch immer gebracht.
Für mich hatte der alte Mann mit deu finstern Augen eine ganz besondre
'lnziehuugskraft. Ich glaube, es kam das daher, daß er mir einmal eine
wundervolle Spukgeschichte erzählt hatte. In dieser Geschichte kamen minde¬
stens ein halbes Dutzend Hexen und ein ganzes Dutzend Gespenster vor, und
ich war viele Abende nachher unter Thränen und nur unter der Bedingung
zu Bette gegangen, daß jemand bei mir süße, bis ich eingeschlafen wäre.
Aber der Reiz des Schauerlichen war doch so stark bei mir, daß ich Mahl-
mann seit der Zeit noch lieber besuchte und ihm manchmal aus den eignen
schmalen Mitteln etwas kaufte, nnr um ihn zum Erzählen zu bringen. Es
gelang das aber nicht immer, denn der Alte war Stimmungen unterworfen,
die ihn manchmal wortkarg und verdrießlich machten. Manchmal aber erzählte
er doch allerlei aus seinem Leben, dem es ehemals nicht an Abwechslung ge¬
fehlt hatte. Als Diener eines höhern dänischen Militärs war er zur Zeit der
Revolution in Paris gewesen, und seine Beschreibung, „wie die feinen Herrus
da alle in ein alten Slachterwagen mußten, damit ihnen der Kopf abgcslagen
wurde," war äußerst deutlich. „Mein Baron war da mit einemmal auch mit
mang und sollte auch zu die alte Tine oder wie das Ding hieß," erzählte
er mir eines Tages, als er zum Sprechen besonders aufgelegt war; „aber er
kam noch gut davon. Das war so einer, der konnte die Weihers bethören,
und die Weihers habe» ihn denn ja auch glücklich aus die Stadt gebracht!"
Mahlmann saß auf der Bank vor seiner Hausthür und streckte die fleisch¬
losen Hände so, daß die Sonne darauf scheinen konnte. Um die Schultern
hatte er einen zerlumpten Rock, der ehemals rot gewesen war, nun aber in
allen Farben schillerte. Es war so heiß, daß ich mich in deu Schatten der
Hausthür flüchtete; der alte Mann aber zitterte vor Frost. Ich hatte ihm
ein großes Stück Kuchen gebracht und hielt es ihm jetzt hin. Langsam griff
er darnach, und langsam aß er es auf.
,,So was hatt ich anno dunuemals in Pries auch maunichmal. Liebe
Zeit! Mein Baron war ein hübschen Mann, und für meine Jahraus, fnfzehn
oder sechzehn bin ich woll gewesen, hatte ich einen guten Verstand. Bloß,
ich konnte die alte fransche Sprache nich rend verstehen, und das war ärgerlich.
Aber die Geschichte mit die lütte Mamsell konnte ich begreifen, deu» sie wohnte
uns gegenüber, und ihr Vater hatte ein Krümergeschäft, wo sie mit in Laden
half. Zuerst kauften wir da nix; aber ein langer Engelländer erzählte an
meinen Baron, daß da bei diesen Krämer ein seinen Ungnrwein zu haben wär.
Der kam aus den König sein Weinkeller, der ja nun doch kein Wein mehr
trank, weil daß er anch zu die Gardine hatte fahren müssen. Und den Wein
hatten sich ein paar vernünftige Lenkers geteilt, was ja recht und billig war,
und er kostete ein Spottgeld. Da bin ich denn herüber gewesen und hab
was davon gekauft, und Mamsell Mnuou war im Laden und hat über meine
Sprache gelacht, bis sie weinte, lind ich bin bös gewesen, und als ich mit
dem Wein zu meinem Baron kam, hab ich gesagt, daß ich nich mehr zu die
dumme Mamsell wollte, die „ich mal deutsch verstände. Den andern Tag
hat mich mein Herr wieder schicken wollen; aber da hockte ich auf. Herr
Baron, hab ich gesagt, Sie können mich gern was mit die Peitsche gebe»,
denn ich bin man bloß der Diener, aber zu das dumme Mädchen von grad-
über gehe ich nich wieder, und wenn Sie mir dazu zwingen, dann verklag
ich Sie helf Gericht, daß Sie ein Aristokrat sind. Denn hier is ja allens
egal und frei, soviel frciusch kann ich auch uoch, und leid solls mich thun,
wenn Sie zu die Gardine müssen; aber siecht behandeln laß ich mir nich!
Mein Baron hat mich ganz sonderbar angesehen, Räsong aber nahm
er an; und zu die Mamsell brauchte ich nich mehr, denn mein Herr
nahm selbst seine Beine in die Hand. Und da hat er denn eine Freundschaft
mit Mamsell Manon angefangen, und sie ist zu uns gekommen und hat
den königlichen Wein selbst gebracht. Bei näherer Bekanntschaft war sie nich
stimm. Sie lachte ein büschen viel und sang wie ein kleinen Vogel, ümmerlvs
und ümmerlos; aber kein Mensch kann ja gegen seine Natur. Und ein an¬
ständiges Mädchen war sie anch; denn als mein Baron ihr mal umfassen und
einen Kuß geben wollte, gab sie ihm einen Ordentlichen an die Ohren. Und
ich hab gar nich gewußt, daß mein Herr ein so dummes Gesicht machen
konnte. Aber was die Vornehmen sind, die kriegen auch nich ümmer ihren
Willen."
Und Mahlman» nickte ein paarmal und aß krümchenweise seinen Kuchen
weiter, ehe er wieder zu reden begann.
(Fortsetzung folgt)
— und sie ganz allein — verschulden die gespannten
Verhältnisse in Europa, die Notwendigkeit der schweren Rüstungen, und sie werden
nicht eher ruhen, bis alle Völker vom Ural bis zu den Säulen des Herkules anf-
eiumiderschlngeu. Das haben die unschuldigen Naturvölker an den Grenzen des
deutschen Gebietes, die wir unablässig bedränge» und vergewaltigen, längst gesagt,
und jetzt siud Berliner Staatsweise zu derselben Erkenntnis gelangt. Die armen
Franzosen sehnen sich darnach, mit uns in Frieden und Freundschaft zu leben,
einer oder zwei wären sogar nicht unbedingt abgeneigt, das höchste Opfer, Elsaß,
zu bringen (natürlich mit Vorbehalt), aber hat'se uns drüben die Bruderhand ge¬
boten wird, stoßen wir sie grob und höhnisch zurück. Es ist abscheulich! Aller¬
dings könnte man einwende«, daß bisher uoch niemals die Anerkennung des
Frankfurter Friedens, ohne die doch eine wirkliche Aussöhnung undenkbar bleibt,
rückhaltlos ausgesprochen worden ist; daß, falls geschähe, was nicht geschehen kann.
die Auslieferung des mit so viel Blut z»rückgewv»neue» Lothringen mit dem nun
doppelt festen Ausfnllsthor Metz, die Franzosen dies nur als Abschlagszahlung
gelten lassen und mit vermehrter Hartnäckigkeit Elsaß fordern würden, wie sie bis
1870 nicht aufgehört haben, das linke Rheinufer auf Grund der angeblich natür¬
lichen Grenze und ihres einstmaligen Besitzes zu fordern; daß heute Kindern und
Kindeskindern die Legende von dem an Frankreich verübten Rande eingetrichtert
wird, wie vor fünfzig Jahren das Nous 1'g.vous cui vollen Kllin aUom-uni! Und
alles dies geltend zu machen, würde jedem andern Volke auch gestattet sein. Der
Deutsche muß stets dankbar sein, wenn man ihn überhaupt leben lassen will; und
wenn einigen Franzosen die Angen über den Wert der russische» Freundschaft auf¬
gehen, einige sogar wagen, dies zu bekennen, so hat die große deutsche Nation nichts
andres zu thun, als sich dem großmütige» getreuen Nachbarn an den Hals zu
werfen. Vielleicht verzeiht er uuZ dann die Siege, und — wer weiß! — viel¬
leicht beschickt er sogar die unchste Berliner Kunstausstellung.
In Ur. 2<i der „Christ¬
lichen Welt" wird die Rede des Landesökouomierats Robbe als der Höhepunkt des
jüngst abgehaltnen Evangelisch-sozialen Kongresses bezeichnet. Dieser Vortrag spricht
n. n. auch einen Gedanken aus, der in diese» Blättern schon öfter als der Angel¬
punkt der ganzen sozialen Frage bezeichnet worden ist. „Wir j Heutigen j sehen im
Grundbesitz, sagt Robbe, vielfach nur el» kapitalistisches Wertobjekt, dessen Renta¬
bilität das alleinige Ziel unsers Sirebens ist. Wo aber bleibt dann seine soziale
Bedeutung? Werden die sozialen Verhältnisse schon gesund, wenn der einzelne
eine möglichst hohe Rente zieht?" Dabei fällt nur ein, daß manche Geistliche»
als Nutznießer eiuer Pfarrwidmut zugleich Grundbesitzer sind und als solche nach
mehrere» Seiten hin Nutzen stiften und el» gutes Beispiel gebe» können. Die
eine davon ist um so interessanter, als dabei eine Schwierigkeit wenn auch nur
in kleinem Umfange — spielend gelöst wird, über deren Lösung sich die Gesetz¬
geber, die Regierungen und die Volkswirtschaftslehrer seit mehr als zeh» Jahre«
die Kopfe zerbrechen, ohne sie auch mir im nllerkleinsten Umfange lösen zu können.
Vor dreißig Jahren lernte ich eine» katholischen Pfarrer kennen, dessen Pfarre
zu den unter österreichischer Herrschaft in einem evangelischen Lande künstlich er¬
haltnen Ruine» gehörte. Von dem Dorfe, desse» zum Teil katholische Bauern den
Stamm seiner Gemeinde bildeten, bezog er kein Einkommen, aber in vier rein
evangelischen Dörfern hatte er Kirchen mit Widmnten. Die Widmuten waren ein
evangelische Häusler und Ackerhäusler verpachtet, von denen einige nebenbei noch ein
Handwerk trieben. Sie bezeigten sich dadurch dankbar, daß sie, als einzige
Kirchenbesucher, dein an jedem dieser Orte viermal im Sonnner stattsinde»de»
katholischen Gottesdienste einen Schein vo» Berechtigung verliehe», oh»e dadurch
ihre», evangelischen Bekenntnis das mindeste zu vergebe». „Was die Widmut zu
L. betrifft, sagte der Pfarrer einmal, so hat mich der dortige Rittergutsbesitzer
schon oft gedrängt, sie ihm zu verpachten; er wolle mir mehr dafür gebe», als
die jetzigen Pächter zusammeugeuomme», und ich hätte daun die Schererei mit
den viele» kleinen Leuten nicht." Warum gehen Sie nicht darauf ein? fragte ich.
Die Antwort lautete: „Ich werde mich hüten, dein reichen Herrn von K. mich
noch die Widmnt in den Nachen zu werfen und dadurch ein Dutzend Familien
an den Bettelstab zu bringen. Die vier bis zehn Morgen billigen Pachtackers
sichern dem Hiinsler oder ländlichen Handwerker eine nustäudige Existenz; ohne sie
würde er zum Proletarier herabsinken." Leider deute» bei weitem uicht alle ka-
tholischen Pfarrer so. Erst dieser Tage erfuhr ich von einem, der den ärmern
nnter seinen Kirchkinder» — das Dorf ist ganz katholisch — nicht einen Morgen
Pachtacker abläßt, und wenn sie ihn kniefällig darum bitten. Er hat die ganze
Widmut dein gnädigen Herrn verpachtet, der, nebenbei bemerkt, Protestant und
Millionär ist. Höchst wahrscheinlich ist der ketzerische Junker dein Pfarrer nicht
weniger zuwider, als dieser, ein richtiger Pfaffe der allerunangenehmsten Sorte,
dein feingebildeten stolzen protestantischen Freiherrn; aber darin sind beide einig,
basi sie den armen Bewohnern ihres Dorfes keinen Scholle des Ackers gönnen,
der nach der ursprünglichen Idee der Kirche das xatrinittinmn znuxörmn sein soll.
Der Papst hätte, anstatt sich in seiner Enehklika mit Dingen zu befassen, die andre
Leute besser verstehen und gründlicher zu besorgen vermögen, lieber solchen Geist¬
lichen den Text lesen sollen.
In mehreren Gegenden haben auch die evangelischen Pfarrer Widmnten. Die
katholischen haben keine Familie und können daher, ohne dabei sonderliche Opfer
zu bringen, über deu Pfarracker stiftungsgemäß verfügen; um so härtern Tadel
verdienen sie, wenn sie es nicht thun. Den evangelischen fällt es um so schwerer,
je reichlicher ihr Kindersegen gewöhnlich ist; Ehre ihnen, wenn sie sich dennoch
diesen Zweig sozialer Wirksamkeit nicht entgehen lassen! In manchen Kleinstaaten
freilich, wie in Baden, ist ihnen die freie Verfügung über den Pfnrracker entzogen.
Man sage nicht, die Zahl der ländlichen Familien, denen auf solche Weise ihre
Existenz gesichert werden könnte, sei zu klein, als daß sie bei der großen sozialen
Frage in Betracht kommen könnte. Erstens giebt es in sozialer Beziehung nichts
Kleines, für die Wertschätzung des Christen, dem jede einzelne Menschenseele, ge¬
schweige denn eine ganze Familie teuer ist, schon lange nicht. Sodann aber kommt
alles ans die Wiederbelebung des rechten Geistes an. Der Erfolg großartiger
Nefvrmgesetze ist stets zweifelhaft. Unzweifelhaft ist nur das, daß gesundes Leben
aus dem gefunden Geiste hervorgeht, der im ganzen Volk in tausenderlei, je nach
Umständen verschiednen Gestalten thätig sein muß, und daß das Volk einem in
sozialen Mißbildungen sich äußernden Siechtum verfällt, wo der rechte Geist fehlt.
Fehlt er aber an Stellen, wo man ihn am ehesten zu erwarten berechtigt ist, dann
fehlt er meistens überhaupt.
Die Gedanken, denen Brentano und seine Schüler Geltung zu verschaffen
suchen, sind folgende. Die Befreiung des ländlichen und gewerblichen Arbeiters
von den mancherlei Fesseln, die er im Zeitalter des Feudalismus und der Zünfte
zu tragen hatte, war der Idee nach ein Fortschritt, der aber vorläufig eine Ver¬
schlechterung seiner wirklichen Lage zur Folge hatte. Der „freie Arbeitsvertrag"
war eine Lüge, so lange der einzelne Arbeiter dem einzelnen Unternehmer gegen-
überstand, dem er seine Arbeitskraft unter jeder Bedingung zu verkaufen gezwungen
war, die diesem zu stellen beliebte. Dieser Widerspruch zwischen Idee nud Wirk¬
lichkeit, zwischen dem gesetzlichen und dem thatsächlichen Zustande hatte eine lange
Reihe von erbitterten Kämpfen zur Folge, die mit Arbeitseinstellungen und Aus¬
sperrungen geführt wurden, und bei denen sich, in England wenigstens, der gegen¬
seitige Haß in blutigen Greueln Luft machte. Nach und nach erkämpften sich die
Arbeiter ihre Organisation in Gewerkvereinen und zwangen oder veranlaßten die
Unternehmer, sich ebenfalls zu organisiren. Zwischen diesen beiden Organisationen
werden seitdem die Arbeitsbedingungen in friedlichen Unterhandlungen vereinbart,
und für individuelle Streitigkeiten, d. h. für Meinungsverschiedenheiten über die
Ausführung der vereinbarten Bedingungen, die in einzelnen Fabriken oder Gruben
entstehen, sind Schiedsgerichte und andre Einrichtungen eingeführt. Dadurch ist
ein Doppeltes erreicht worden. Erstens ist an die Stelle der erbitterte» und nie
ohne große Schädigung beider Teile verlaufenden Massenkämpfe die friedliche und
verständige Unterhandlung getreten. Sodann kann der freie Arbeitsvertrag jetzt als
einigermaßen verwirklicht gelten; die Arbeiter üben Einfluß auf die Vereinbarung
der Arbeitsbedingungen, und es ist nicht mehr der reine bittere Hohn, wenn sie
als vertragschließende Partei bezeichnet werden. Auf diese Stufe ist die Entwick¬
lung in einem großen Teile der englischen Industrie gediehen, in Deutschland
wenigstens in einem, im Buchdruckgewerbe. Für diese Grundansicht bringen die
Abhandlungen des vorliegenden fünfundvierzigsten Bandes des Vereins für Sozialpolitik
neues Beweismaterial bei. Auerbach stellt „die Ordnung des Arbeitsverhältnisses in
den Kohlengruben von Northumberland und Durham" dar und druckt unter anderm
das Protokoll einer der merkwürdigsten Schiedsgerichtsverhandlungen wörtlich ab.
>)>'. Lvtz behandelt „das Schieds- und Eiuigungsverfahren in der Walzeisen- und
Stahlindustrie Englands" und Zahn „die Organisation der Prinzipale und Ge¬
hilfen im deutschen Bnchdruckgewerbe." In der Einleitung stellt Brentano die Ergeb¬
nisse dieser Spezialfvrschungen zusammen. Er kommt dabei ans das neue deutsche
Gesetz über die Gewerbegerichte zu sprechen, die als Einiguugsnmter fungiren sollen,
wenn sie von beiden Teilen angerufen werden, und gelaugt zu einem sehr ab¬
fälligen Urteile über diese Einrichtung. Er findet, daß ein Einigungsverfahren,
das diesen Namen verdiene, ohne eine der englischen ähnliche Arbeiterorganisation
schlechthin undenkbar sei. Das Vorurteil gegen diese Organisationen wird in
Deutschland planmäßig gehegt und verbreitet. Vorm Jahre liefen dnrch die deutschen
Zeitungen eine Anzahl Berichte über Vorkommnisse und Zustände in den englischen
Gewerkvereinen, die alle von einer bestimmten Stelle ausgingen. Brentano weist
nach, daß sie sämtlich auf böswilliger Verdrehung des Wortlauts von GeWerk-
Vereinsstatuten beruhen. Auch den EinWurf, daß die Gewerkvereine sich wohl bei
den nordenglischen Arbeitern, „ernsten, kühlen, fast puritanisch finstern Männern,"
bewähren möchten, bei den angeblich leichtsinnigen, leidenschaftlichen und zuchtlosen
deutschen Arbeitern aber nicht durchzuführen seien, läßt er nicht gelten. Er erklärt
die Vorstellung von der natürlichen Vernünftigkeit des englischen Arbeiters für ein
Märchen. Aus der Geschichte der englischen Arbeiterbewegung ist bekannt, daß
die englischen Arbeiter, einschließlich der nordenglischen Grubenarbeiter, noch vor
fünfzig Jahren roh wie das liebe Vieh gelebt und sich in den Kämpfen mit den
Unternehmern wie unvernünftige Bestien benommen haben. Verminst und Disziplin
haben sie erst in ihrer Organisation gelernt, die sie sich mühsam erkämpft haben,
lind was die heutige» Grubenarbeiter Nvrdenglands angeht, so sind diese angeb¬
lichen Puritaner zu einem große» Teil Walliser »ud Iren.
Wir glauben natürlich nicht, das; die Gewerkvereine die soziale Frage zu lösen
imstande sein werden; dazu gehärt noch verschiednes andre. Aber für die Losung
dieser einzelnen Frage: die Verwirklichung des freien Arbeitsvertrages und die
friedliche Beilegung der Streitigkeiten zwischen Unternehmern und Arbeitern in der
Großindustrie halten anch wir sie für die unentbehrliche, durch nichts andres zu
ersetzende Grundlage. Das Studium des Buches ist allen Beteiligten dringend
zu empfehlen.
Es ist kein kleines Stück Elend, was der Versasser in seiner Schrift aufdeckt,
und mnrschirt auch England, wie sich das bei solchen Sachen von selbst versteht,
an der Spitze, so sieht es doch auch in den deutschen Gewürzkramläden nicht
besonders hübsch ans. Wie die meisten sozialen Reformvorschläge, laufen auch
die des Verfassers zuguderletzt auf zwei hinaus: Abkürzung der Arbeitszeit
durch Staatszwang und Abwehr des Zudrnngs durch körperschaftliche Gliederung
des Standes.
Wenn sich ein Gelehrter in unsrer Zeit die philosophische Begründung des
Christentums zur Lebensaufgabe macht, so sind natürlicherweise Hochachtung vor
dem Manne und Freude über seine Leistungen die ersten Empfindungen, die das
Erscheinen eines neuen Buches von ihm erregt. In diese frömmeru Empfindungen
hat sich aber, als wir Webers Metaphysik durchblätterten, noch eine andre, recht
gottlose gemischt: die Schadenfreude. Mau denke: Professor Weber, ein bekannter
Führer der Altkatholiken, hat in Hunderten von Versammlungen den Papst bekämpft.
In diese Versammlungen sind damals, als der Kampf gegen Rom noch für ein
Verdienst um das Vaterland galt, Professoren, Gymnasiallehrer, Richter, Gerichts¬
präsidenten, Ärzte und Verwaltungsbeamte geströmt. Alle akademisch gebildeten
Zuhörer haben ihm das Zeugnis gegeben, daß er ein klarer Kopf und daß seine
Beweisführung von zwingender Gewalt sei. Und nun beweist dieser klare Kopf
und scharfe Logiker, ausgerüstet mit dein ganzen Waffenvorrat der modernen Philo¬
sophie und der heutigen Naturwissenschaft, nicht etwa bloß das Dasein eines nebel¬
haften Gottes, sondern die Dogmen der Kirche der ersten vier Jahrhunderte. Er
begnügt sich nicht damit, Zweifel an der Möglichkeit eines Jenseits zu beseitige»,
sonder» er beweist mit Vernunftgründen, daß das Jenseits genau so aussehen
müsse, wie der Kirchenglanbe es darstellt: anders als dreipersönlich könne Gott gar
»icht gedacht werden, und die Existenz der Engel und Teufel sei wissenschaftlich so
gesichert wie die der chemische» Elemente. Den Thomas von Aquin, der da meint,
die Schöpfung aus nichts könne wohl geglaubt, aber nicht bewiesen werden, und
der ihm den Wesensunterschied von Gott und Welt, Geist und Körper. Mensch
und Tier nicht scharf genng darstellt, tadelt er als eilten Aristoteliker, schlechten
Christen und Semipanthcisten; auch Männer wie Carriere und sein persönlicher
Freund und altkathvlischer Kampfgenosse Johannes Huber finden als Semipnntheiflen
keine Gnade vor seinem strengen Gericht. Nach der Überzeugung „aller Gebildeten"
war nun nicht allein die schon im vorigen Jahrhundert abgethane christliche Dogmatik,
sondern much der Gott eines Pluto, eines Leibniz, eines Rousseau und Voltaire so voll¬
ständig ans der Welt hincmsgefegt, so sorgfältig jede Ritze verstopft, durch die dieses
„Phnutnsiegebilde" wieder Hütte hereinschlüpfen können, daß die „cutgötterte Welt" so
gut wie das Einmaleins als ein Element unsrer Bildung erschien, und daß es zum
guten Ton gehörte, zu behaupten, für einen Gott sei ja gar kein Raum mehr in der
Welt übrig, seitdem Kopernikus seinen Wohnsitz, den Himmel, zerstört habe. Und nnn
setzt sich Professor Weber auf seine Kathedra und sagt den Herren: Noch eine kurze
Frist wird euch zu eurer Bekehrung gegönnt, laßt ihr die ungenützt verstreichen, so
verfällt ihr dem ewigen Tode unheilbarer Lächerlichkeit! Er sagt es nicht geradezu,
daß er alle, die das Zwingende seiner Beweisführung nicht einsehen, für dumme
Kerle hält, aber er läßt es in jeder Zeile durchblicken. Er ist sich bewußt, „daS
Ganze der Ontologie des positiven Christentums so unter Dach und Fach gebracht
zu haben, daß es gegen alle Angriffe der in breiten Strömen sich ergießenden durch
und durch nntichristlichen Wissenschaft ein- für allemal geschützt und sicher sei."
(Vorwort S I.) Und S. 468 schreibt er: „Phantasterei ist die von uns zur
Geltung gebrachte Transcendenz der menschlichen Erkenntnis jdic Behauptung, daß
es nicht bloß ein Jenseits gebe, sondern daß wir von diesem Jenseits auch eine
zuverlässige wissenschaftliche Erkenntnis erlangen können^ eben nicht, sondern sie ist
volle und vollkommen beweisbare Wahrheit, so sehr sich much die Kurzsichtigkeit
aller derer, die in den Banden des Kantischen Kritizismus gefangen liegen, gegen
die An- und Aufnahme derselben eine Zeit lang noch sträuben mag." Und da soll
sich einer, dem die Metaphysik schon so viel Ärger bereitet hat, nicht vor Schaden¬
freude die Hände reiben! Da müßte man ja schon ein Dreiviertelheiliger sein!
Webers System und das ihm zu Grunde liegende Günthersche darzustellen, ist
hier so wenig der Ort, wie seine Ausführungen zu kritisiren. In ersterer Be¬
ziehung bemerken wir uur, daß dieses System so beachtenswert und dabei inter¬
essanter und leichter verständlich ist als manches andre, z. B. als das Hegelsche.
Was aber die Kritik anlangt, so liefert ihr Webers Buch gar reichlichen Stoff.
Einen köstlichen Bissen für die Kritiker wird die „Natursubstanz vor der Differen-
zirung in Atome" abgeben, die sich Weber als eine im unendlichen leeren Raum
schwimmende, begrenzte, kugelförmige Masse, und zwar als ein Kontinunm im streng
philosophischem Sinne des Wortes vorstellt; den meisten Philosophen werden beim
Lesen dieses Abschnitts (S. 19V ff.) die Haare zu Berge stehen. Für uns ergiebt
sich uns Webers Metaphysik vor allem eine neue Bestätigung unsrer alten Ansicht,
daß jedes philosophische System nur für seinen Urheber zwingende Bcweis-
krnft hat.
Der Verfasser weist erstens much, daß Mechanismus und Teleologie nicht un¬
vereinbar sind, womit er längst gethnne Arbeit noch einmal thut. Lohe und
E. von Hartmnnn, die so verschieden unter eirunder sind, bilden den Nnchwcis
jeder in seiner Weise geführt, und der Nachweis ist nicht schwierig; gehört es doch
zum Wesen einer Maschine, dnß sie einen Zweck hube, und wenn nur die Welt
für einen Mechanismus erklärt, so ist damit auch schon ausgesprochen, daß sie von
einem Meister gebaut und zweckmäßig eingerichtet sei. Zweitens sucht Erhardt
nnchznwcisen, dnß sich das Reich der Mechanik nicht über die Organismen erstrecke,
und dnß zu deren Erklärung außer deu chemischen „Kräften" auch die von der
modernen Naturwissenschaft beseitigte Lebenskraft zu Hilfe genommen werden müsse.
Diesen Versuch halten wir für verunglückt. Die chemischen ,,Kräfte," die,,organi-
sirenden, teleologisch wirkenden Prinzipien" find undenkbare Dinge. Vollkommen
klar ist uns nur zweierlei. Erstens die Kraft des menschlichens Willens. Diese
Kraft ist die einzige, die wir kennen, weil wir selbst diese Kraft sind. Zweitens
der Verlauf der mancherlei sich in der Welt kreuzenden körperlichen Bewegungen,
mag der Anstoß zu ihnen von einem menschlichen Willen oder von andern uus
»»bekannten Kräften ausgegangen sein. Was gewinnen wir, wenn wir dieses
Gebiet des uns Bekannten, des Bcrechen- und Übersehbaren verlassen und uns
wieder in das dunkle Reich mystischer Kräfte zurückbegeben? Wir gewinnen nichts
und verlieren die drei großen Vorteile der mechanischen Nnturerkläruug. Diese
sind, daß alle Naturereignisse in ursächlichen Zusammenhang mit einander gebracht,
daß sie vorstellbar gemacht und daß sie der Berechnung, Messung und Voraus-
sagung unterworfen werden können. Ans S. 43 sagt der Verfasser zur Verteidigung
seiner Kräfte: ,,Zugestanden, daß das Wesen der Kraft wie das der Materie viele
Rätsel in sich schließt, so muß man sich doch für die Naturerklärung nu dasjenige
halten, ums um jenen beiden Begriffen klar ist, und um jeuer Rätsel wegen nicht
auch dies wenige von Klarheit und Erkenntnis hinwegwerfen. . . . Kraft ist die
Ursache der Bewegung oder des Widerstandes, welchen ein Körper dem andern
leistet; dies Wesen der Kraft kennt jeder aus eigner Erfahrung." Um Vergebung!
Das kennt niemand aus eigner Erfahrung, wenn chemische oder organische Kräfte
gemeint sind. Die einzige Kraft, die wir aus Erfahrung kennen, ist die des
geistigen Antriebes. Wir wissen, was unsre Beine in Bewegung setzt, wenn wir
einem Freunde entgegen oder auf den städtisch zu eilen, und wir wissen, was de»
gestoßenen Billardball in Bewegung setzt. Wie unser Geist es anfängt, mit Hilfe
der Nerven die jedesmal passenden Muskelspannungen zu bewirken, das wissen°wir
zwar nicht, aber deu Geist selber, die bewegende Kraft kennen wir. Wollten wir
berechtigt sein, zu sagen, wir kennten das Wesen der chemischen und organischen
Kräfte, so müßten wir in die Molekeln Gespensterchen hinein dichten, die nicht
allein, Wie HäckelS Plastidule, mit unbewußten Gedächtnis, sondern auch mit un¬
bewußter Liebe und unbewußten Haß begabt wären, und warum dann nicht gleich
bewußtes Gedächtnis, bewußte Liebe und bewußten Haß annehmen, wenn die
Materie um einmal belebt fein soll? Wollen wir uus das Treibende, Hemmende
und Verändernde in der Materie nicht als eine Unzahl von Atomgeisterchcn denken,
so bleibt nur die Annahme eines einzigen Geistes übrig, dessen Wille die Atome
bewegt, des göttlichen Geistes, des aristotelischen xriwunn raovsns. Das ist eine
Kraft, die wir uns vorstellen können, weil wir nur unfern eignen Geist in unend¬
licher Vollkommenheit zu denken brauchen.
„Wenn freilich, sagt Erhardt in einer Anmerkung, solche Äußerungen soie
der Satz- Fechners: Kraft ist ein Hilfsausdruck zur Darstellung der Gesetze des
Gleichgewichts und der Bewegung bloß ein Ausdruck bescheidener Zurückhaltung
sein sollten, dann ist dagegen nichts einzuwenden; nur darf in diesem Falle der Physiker
nicht behaupten »vollen, daß er uns die Naturvorgänge erkläre; alles, was er uns
giebt, ist daun weiter nichts, als eine Beschreibung." So ist es in der That!
Der Physiker ermittelt, in welcher Reihenfolge die Erscheinungen einer jeden Art,
die chemischen, die elektrischen, die Wärmeerscheinungen jedesmal verlaufen, und
nachdem er diese Reihenfolge ermittelt hat, beschreibt er sie. Welche Macht die
Veriindcrnngen hervorbringt und sie gerade in dieser und in keiner andern Ordnung
um einander kettet, das weiß er nicht, und das wissen wir auch daun nicht, wenn
wir dieser geheimnisvollen und unbekannten Macht einen Namen beilegen und sie
chemische Verwandtschaft, Elektrizität, Lebenskraft u. f. w, nennen. ,,Tcleologisch
nnrkende Prinzipien," die nicht bewußte Geister sein sollen, sind, wie gesagt, un¬
denkbare Dinge. Entweder also muß man unendlich viele Elementargeister an¬
nehmen, die wunderbnrerweise so gestimmt sind, das; sie nach einem unabänderlich
festgehaltenen Plane in vollkommener Harmonie um dem Aufbau der Weltkörper
und der organischen Gebilde arbeiten, oder man muß an einen einzigen Geist
glauben, der die Elemente planvoll wirken läßt. Wer sich um Gott herumdrücken
will, der muß auf die Erklärung der Welt verzichten und sich auf ihre Beschrei-
bung beschränken.
Auf eiuen einzelnen Irrtum möchten wir noch aufmerksam machen. Die
atomistische Hypothese stützt sich u. a. dnranf, daß Farben und Töne nichts in
den Dingen Liegendes, sondern nur Wahrnehmungen unsrer Seele sind, und daß
das, was diesen Wahrnehmungen der Seele in den Dingen entspricht, nur eine
Reihenfolge von Stößen ist, die den Äther oder die Luft in rhythmisch schwingende
Bewegung versetzt. Der Verfasser meint nnn, mit den chemischen Unterschieden
zwischen den Elementen verhalte es sich anders, diese seien „objektiver Natur."
Sonderbare Vorstellung! Die chemischen Elemente unterscheiden sich unter ein¬
ander einerseits durch Farbe, Glanz, Geschmack und Geruch, was alles Wahr¬
nehmungen der Seele siud, anderseits durch Härte und Schwere, d. h. dnrch die
Festigkeit des Zusammenhanges und die Anzahl der Atome, sowie durch die Ver¬
wandtschaft, d. h. die Neigung der Atome, bei der Annäherung an ein andres
Element Ortsbewcgungen auszuführen, was alles rein mechanische Verhält¬
nisse sind.
Daß die Bewegungen der Atome, wenn sie nicht zweckmäßig geleitet würden,
leine Pflanzen und Tiere zu stände bringen konnten, das stellt der Verfasser ein-
leuchtend genng dar und bringt viel Zutreffendes zur Sache bei. Nur sollte er
uicht vergessen, daß anch in dem Gebiete, das er der Mechanik überläßt, die erste
ordnende Ursache, der Wille Gottes, nicht entbehrt werden kann; könnte die Materie
ohne ihn gedacht werden, so würde sie sich doch nicht ohne ihn zu Sonnen und
Erden zusammenballen. Und diese erste Ursache, die auch im Gebiete der im
engern Sinne verstandnen Mechanik nicht entbehrt werden kann, reicht mit der
Mechanik zusammen auch hin, die Erscheinungen der Chemie und des organischen
Lebens zu erklären.
Emil Braun, der Kunsthistoriker, der Mitbegründer der archäologischen
Forschung auf dem klassischen Boden Roms, tritt uns in diesem Briefwechsel mit
den Begründern der deutschen Philologie als liebevoller Verehrer und eifriger Er¬
forscher deutscher Sprache und Dichtung der Vorzeit entgegen, als Schüler der
Brüder Grimm und als junger, fast wie ein Sohn geliebter Freund des alten
Herrn vou Laßberg, des greise» Jägersmannes mit dem jugendlichen Herzen,
Meister Sepps von Eppishusen, wie er sich gern genannt hat. Über Brauns
Verkehr mit diesen Männern wie mit andern Germanisten (z. B. Schmeller) bringt
der Briefwechsel ausführliche Nachrichten, die für die Biographie Brauns selbst
wie für die seiner Lehrer wichtige Beiträge enthalten; so lassen sie uns in das
herzliche Verhältnis Schmellers zu Laßberg Einblick thun, geben Aufschlüsse über
die Person des jungen Engländers Cleasby, des Studienfreundes vou Braun u. a. in.,
alles Beiträge, die dem deutschen Philologen für die Geschichte seiner Wissenschaft
von Wichtigkeit sein werden. Aber auch wer nicht als Gelehrter das Buch in die
Hand nimmt, wird seine Freude daran haben. Tritt uns doch die Wissenschaft,
die sich heute in den tiefsten Geheimnissen der Sprachgeschichte zu vergraben und
über die dunkelsten Rätsel der Lautentwicklung zu grübeln liebt, hier in ihren jungen,
lebens- und arbeitsfrvhen Anfängen entgegen, wo man aus dem reichen Quell der
alten, neu entdeckten Dichtung aus dem Vollen schöpfen und für die Allgemeinheit
schaffen konnte. Jeder Leser wird von der starken und tiefen Begeisterung für
die gemeinsame Thätigkeit, die das ganze Buch durchweht, mit entzündet werden.
Borausgeschickt ist deu Briefen die eigne Lebensbeschreibung Emil Brauns
aus einem Gesuch an den Herzog Ernst 1. von Koburg-Gotha vom Jahre 183.?,
am Schlüsse hat der Herausgeber eine Reihe von Anmerkungen teils persönliche»,
teils litterargeschichtlichen Inhalts beigegeben, die kurz zusammenfassen, was zum
Bersiäudnis der Briefe notwendig ist. Zur besondern Zierde gereicht dem hübsch
ausgestatteten Bändchen ein in Heliogravüre vervielfältigtes Brustbild Emil Brauns,
das freilich nicht den Jüngling zeigt, dessen lebhaften Geist und bewegliches Gemüt
die Briefe wiederspiegeln, sondern den gereisten Forscher späterer Jahre.
Im vorigen Jahre hat Heinrich Seidel seinen braven Leberecht Hühnchen
gerührt und rührend zu Grabe getragen. Nun sührt er uns neue „sonderbare"
Gestalten vor. Seine Form hat sich nicht wesentlich verändert, wenn er auch
diesmal die sür einen Erzähler unentbehrliche Kunst der Spannung in einem bis¬
her bei ihm nicht bekannten Maße offenbart. Es ist wieder namentlich der Idyllen-
dichter, der uns mit seiner Freude am Kleinen, mit seiner sorgfältigen, behaglichen
Einzelmnlerei erfreut und sie durch sein klares Auge, seine gesunde und innige
Eiupfiuduug in die dichterische Region erhebt. Kleine Stimmungsbilder aus Wald
und Feld, zu verschiedenen Tages- und Jahreszeiten, ans dem Leben der Gro߬
städter, in- und außerhalb Berlins, Schilderungen museumnrtiger Juuggeselleu-
wvhuungen folgen einander am Faden schlichter Erfindungen und fesseln durch die
Reinheit der Sprache, durch den heitern Grundton des Erzählers, dem es auch
uicht nu Witz und bescheidner Satire mangelt. Von den sechs Stücken des
Bnudcheus ordnen sich nur die zwei ersten dem Titel „Sonderbare Gestalten"
zwanglos unter. Der „Schwarze See" aus dem Jahre 1871 ist wohl das schwächste
Stück, interessant nur, weil es die ursprünglich so einseitige Neigung des Dichters
zur Schilderung ruhender Zuständlichkeit bezeugt. Hier nehmen die Beschreibungen
im Verhältnis zu der spät einsetzenden eigentlichen Erzählung doch zu viel Raum
el«. Die Einseitigkeit des Dichters zeigt sich auch in seiner unfreien Satzfügnng,
die in eintöniger Weise Bemerkung an Bemerkung fligt und des nötigen Wechsels
entbehrt. Lebhafter ist der um siebzehn Jahre jüngere „Herr Omnia" ausgeführt;
man möchte es ein Reisefenilleton nennen. Die Sonderbarkeit des Herrn Omnia,
der bürgerlich Schermnnsel heißt und seinen lateinischen Namen daher hat, daß er
omnia. 8<z(zum xnrtat, ein wanderndes Hotel ist, in zahllosen Taschen die anspruchs¬
volle» Hilfsmittel eiues touristischen Großstädters mit sich sührt, weiß Seidel
schließlich in sehr heiterer Weise novellistisch zu verwerten. Anspruchslos und doch
recht anmutig ist das Stimmungsbild „Lorelei"; schnurrige Burlesken sind die
zwei folgende» Stücke „Etwas vom Boden" und die „Thüringischen Knrtoffeltlöse."
Das hübscheste Stück aber ist ohne Zweifel das Märchen „WaldsrNuleiu Hechta,"
das mit vielem Glück den echten Märcheuton trifft, ohne dabei wie Banmbachs
Märchen ein geistreich-syuibolisches Spiel zu treiben. Ob, der traurige Schluß des
„Waldfräuleius" nicht durch einen befriedigenderen ersetzt werden sollte, denn das
echte Märchen ist nicht grausam, sondern befriedigt seinen naiven Hörer, wäre zu
bedenken. Uns schien es, daß der arme Hirte, der der Versuchung anheimfällt,
lieber begnadigt werden sollte; etwa so, das; sich Waldfränlein und Annemarie
schließlich als eins zeigen oder dergl.
Mit der Zusammenstellung von Karikaturen auf Bismarck hat der Heraus¬
geber viel Glück gehabt. Die vorliegende Fortsetzung wird ohne Zweifel in
Frankreich und bei der unzurechnungsfähigen Gesellschaft „radikaler" Italiener
manchen: Vergnügen bereiten, darüber hinaus dürfte die Persönlichkeit kaum
gleiches Interesse erregen, geschweige die Art der Verspottung. Grand-Carteret
weiß den italienischen Karrikatnrenzcichnern viel Gutes nachzusagen, allein wir
gestehen, ihre Leistungen an Witz oft mehr als mäßig, ihren Geschmack mitunter
recht bedauerlich zu finden. Die Blätter, die am meisten berücksichtigt worden sind,
Don Chiseivtte, Fischietto und dergl., hassen den Staatsmann, der mit Garibaldi
nach Sizilien gezogen ist, aber zu verständig und patriotisch war, um dessen spätere
Irrfahrten mitzumachen, sie hassen ihn, weil er Italien nicht Frankreich ins
Schlepptau hängen wollte. Der Haß aber verfügt selten über wahren Witz.
Crispi, der Verräter an der Freiheit, Crispi, abtrünnig dem Helden Garibaldi,
Crispi als Marionette oder Affe Bismarcks, Crispi, dessen Bewerbungen von der
als Kokotte gekleideten französischen Republik schnöde zurückgewiesen werden — an
diesem ewigen Einerlei Gefallen zu finden, dazu gehört doch ein wenig Ranküne,
von der frei zu sein der Herausgeber versichert. Und nun gar so ekelhafte Bilder,
wie die nackte Flora mit Crispis, die Cirkusreiterin mit Grimnldis Kopf und dazu
der zotige Text! Über den gestürzten Gegner ergießt sich dann der Hohn recht
unedel; Crispi, der fich selbst die Treppe hinunterwirft im Kladderadatsch, ist
witziger als alle gleichzeitigen italienischen und französischen Karikaturen. Daß
sich Grand-Carteret für einen unparteiischen Geschichtschreiber hält, glauben wir
ihm gern: er ist so unparteiisch, wie er es als Franzose von heute zu sein vermag.
Er „verkennt nicht Crispis Bedeutung," obgleich dieser kein antiker Charakter ist,
„mehr auf die Erhaltung seiner Macht als ans das öffentliche Wohl bedacht."
Denn „Frankreich, was man much sagen oder thun möge, ist im ganzen das Land
der reinen Unparteilichkeit, der edeln und erhabenen Gefühle." Wenn nur uicht
jeder Vonlevardschwätzer die Macht hätte, diese edeln Gefühle zum Schweigen zu
bringen!
le Grenzboten brachten kürzlich einen Aufsatz, der sich mit dem
deutsch-österreichischen Handelsvertrage beschäftigte, insbesondre
aber mit dem in einer süddeutschen Adresse an den Fürsten
Bismarck zur Versöhnung der Absichten der Reichsregieruug mit
den Interessen der deutschen Landwirtschaft angeregten Gedanken
eines Reichsmouvpols auf die Getreideeinfuhr. Der erwähnte Aufsatz ist von
den „Berliner Neuesten Nachrichten" wiedergegeben warben und hat dort ein
Echo gefunden in eiuer mit M. N. unterzeichneten Zuschrift, die die Mouvpol-
frage aus verschiednen Gesichtspunkten beleuchtet und warm für deu Gedanken
eintritt.
Der Verfasser dieser Zuschrift befindet sich bezüglich der Erwartungen,
die er an das Monopol knüpft, in voller Übereinstimmung mit den Absendern
der Adresse an den Fürsten Bismarck. Aber seine Vorstellungen über die
Gestalt, die das Monopol anzunehmen hätte, gehen etwas über das Maß
dessen hinaus, was bei Abfassung der Adresse an den frühem Reichskanzler
gemeint war, wenn es auch nicht ausführlich dargelegt wurde.
Vielleicht ist es mir als dem Urheber jener Adresse gestattet, im Nach¬
stehenden zu zeigen, wie ich mir, von dem einseitigen Standpunkte der land¬
wirtschaftlichen Interessenvertretung nach Möglichkeit abgehend und die Er¬
fordernisse des Geineinwohles wie auch die berechtigten Ansprüche einzelner
besonders mit berührten Stände vollständig in Rechnung ziehend, das Monopol
gedacht habe. .
Der Zweck des Monopols würde sein, stets möglichst geuau die Meuge
von Getreide einzuführen, um die der inländische Verbrauch die inländische
Erzeugung (unter Berücksichtigung der Ausfuhr) übersteigt, dabei aber durch
Ab- und Zugehen in gelvissem Spielraum in solcher Weise auf die inländischen
Preise einzuwirken, daß sie mit Stetigkeit auf einer Höhe erhalten werden,
bei der der Bauer, vernünftige Wirtschaft vorausgesetzt, mindestens uns die
durchschnittlichen Erzengnngskosten seines Getreides kommt, der Konsument
aber nicht teureres Brot essen muß, als zur Erhaltung des Heimischen Getreide¬
baues unbedingt nötig ist.
Zur Durchführung des Monopols müßte in erster Linie nicht nur die
Einfuhr von Getreide, sondern auch von Mehl und Mühlenfabrikaten wie
auch vou Backwaren gesetzlich der Neichsregierung vorbehalten werden. Den
wie seither uuter Aufsicht der Zollbehörden vor sich gehenden Trnnsithandel
würde das Gesetz nicht berühren.
Sodann würde eine Mouvpolverwaltuug zu schaffe» sein, über deren
Gestattung ich hier einige Worte sagen will, weil sich der Leser in ihre Wirk¬
samkeit besser wird hineindenken können, wenn er eine Vorstellung davon hat,
wie sie beschaffen sein müßte. Die Verwaltung müßte so eingerichtet werden, daß
sie 1. Kenntnis des wahren inländischen Bedarfs und der besten Gelegenheiten
zu seiner Deckung erhielte, 2. ans Grund solcher .Kenntnis mit Schlagfertig¬
keit und doch mit Vorsicht handelte.
Die Sache hätte also eine statistische und eine kaufmännische Seite, und
demgemäß würde die Hauptverwaltung ans einer statistischen und einer kauf¬
männischen Abteilung bestehen, entweder so, daß die erste der letzten unter¬
geordnet wäre, oder so, daß nnter einem gemeinsamen Vorstande beide gleich¬
gestellt wären.
Die statistische Abteilung hätte alle Grundlagen für die Handbildung des
Geschäfts zu beschaffen, also z. V. Eruteberichte, Ernteanssichtsberichte, m-
und ausländische Börsenberichte, Berichte über die Bewegungen des Verbrauchs
und Verhältnisse und Thatsachen, die geeignet schienen, ihn in der nächsten
Zukunft mehrend oder mindernd zu beeinflussen (wie z. B. Überfluß oder
Mangel andrer Nahrungs- und Genußmittel). Kurz, die statistische Abteilung
hätte alle Auskunft zu beschaffen, deren die kaufmännische bedürfte, um nicht
nur den Umfang des Eintausch bemessen zu können, sondern auch den Preis,
der nach den augenblicklichen Verhältnissen zu erstreben wäre, um das Gleich¬
gewicht zwischen deu Interessen der Erzeuger und der Verbraucher aufrecht
zu erhalten.
Die kaufmännische Abteilung würde aber, eines wenn sie der statistischen
nicht übergeordnet, sondern uuter einem gemeinsamen Vorstände beigeordnet
wäre, bei der Würdigung und Benutzung der ihr gelieferten statistischen
Anhaltepunkte vollständig freie Hand behalten müssen, dagegen die volle Ver¬
antwortlichkeit für ihre Maßnahme,, zu tragen haben. Mit andern Worten,
die kaufmännische Abteilung der Hauptverwaltung würde der Kern der ganzen
Monopolverwaltuug sein, und damit sie in der Lage wäre, ihre Geschäfte mit
der gleichen Ausnutzung des günstigen Augenblickes zu machen, wie der Privat¬
handel, wäre sie möglichst nnnbhängig zu stellen, und es dürfte ihr weder
von unten noch von oben in ihre Thätigkeit hineingeredet werden. Natürlich
müßte sie nachträglich ihre Maßnahmen gegenüber der Reichsregierung und
durch deren Vermittlung anch gegenüber der Volksvertretung verantworten.
Der Leiter der kaufmännischen Abteilung dürfte also auch nicht allzu sehr an
den Rat seiner Mitarbeiter gebunden sein, sondern müßte im Notfalle dikta¬
torische Befugnisse haben.
Unter die kaufmännische Abteilung würden da, wo das Reich Magazine
unterhielte, Ortsbeamte zu stellen sein, und zwar dürfte in den meisten
Fällen je ein Magazinverwalter und ein Aufseher genügen. Das Geschäft
des Einspeichcrns u. s. w. könnte mit Lohnarbeitern bewerkstelligt werden.
Die Mitglieder der kaufmännischen Abteilung der Hauptverwaltung würden
unbedingt dein Kaufmannsstande zu entnehmen sein, während die Magazin-
Verwalter und die Aufseher zweckmäßigerweise dem Stande der Militärmagazin¬
beamten zu entnehmen sein würden. Agenten für den Einkauf im Auslande
wie für den Verkauf im Inlande würden nicht erforderlich sein. Dagegen
müßte die statistische Abteilung im Auslande ihre Vertrauensmänner haben
und wohl auch im Inlande, soweit die betreffenden Auskunftserteiluugen uicht
von den staatlichen Behörden zu beschaffen wären.
Als leitender Gesichtspunkt für den Einkauf Hütte zu gelten, daß für
die Deckung des Bedarfs stets so reichlich gesorgt sein müßte, daß auch dnrch
unvorhergesehene Ereignisse eine Knappheit der Vorräte oder gar ein eigentlicher
Notstand nicht leicht herbeigeführt werden könnte, daß aber auch ein Überschuß
von Vorräte», dessen Umfang Verlegenheiten hinsichtlich der Einspeicherung
bereiten könnte, vermieden würde. Dazu dürfte es sich empfehlen, einen an¬
gemessenen eisernen Bestand zu halten, auf den im Notfall zurückgegriffen
werden könnte, für gewöhnlich aber Lieferungen nur in solchem Maße heran¬
zuziehen, daß sie sofort, ohne eingespeichert zu werden, abgesetzt werden könnten.
Wie schon erwähnt, Hütte die Verwaltung im Auslande keine Agenten zu
unterhalte«. Man kann wohl überzeugt sein, daß die Konkurrenz der aus¬
ländischen Verkäufer ihr Angebote in reicher Auswahl ins Haus tragen würde,
und an der Hand der Feststellungen ihrer statistischen Abteilung, an der Hand
von Proben u. s. w. würde sie vollauf befähigt sein, diese Angebote zu be¬
urteilen. Außerdem würde» sich die Verkäufer von einer so großen und
unbedingt sichern Abnehmern: scharfe Liefernngsbedingnngen und nötigenfalls
Zurückweisung oder Preisminderung uicht ganz probemäßiger Ware willig
gefallen lassen.
Natürlich ist durchaus nicht gesagt, daß nur ausländische Erzeuger oder
Händler der Monopolverwaltuug Angebote machen könnten. Im Gegenteil,
es würden auch inländische Händler, gestützt auf Käufe, die sie im Auslande
gemacht haben oder erwarten, mit ihren Angeboten kommen, und gewiß
würde dann die Verwaltung unter sonst gleichen Umstünden ihnen den Vorzug
vor den Ausländern einräumen.
Alle Angebote an die Monopvlverwaltung wären so zu stellen, daß der
Verkäufer das Getreide frei und auf eigne Gefahr nach einem bestimmten
Platze lieferte, wo ein Magazin der Mvnopolverwaltnng bestünde. Selbst¬
verständlich ist es, daß für jeden Platz uur so große Lieferungen angenommen
werden würde», als von dort ans weiter zu verwerten wären. Mit dem
Hin- und Herschieben von Vorräten zwischen den verschiednen Magazinorten
könnte sich die Verwaltung nicht befassen. Der Verkäufer, der sich davor
schützen wollte, daß sein Angebot nur deshalb unberücksichtigt bliebe, weil es
auf Lieferung nach einem Magazinvrt lautete, dessen Bedarf vorläufig gedeckt
wäre, könnte ja der Verwaltung unter Angabe verschiedner Preise die Wahl
zwischen verschiednen Liefcrungsorteu freistellen.
Als Orte, wo Magazine zu errichten wären und wo somit auch die
Abnahme gelieferter Ware stattfinden könnte, würden vorwiegend solche aus-
zulesen sein, die schon heute im Getreideeinfuhrhandel eine Rolle spielen.
Natürlich könnte nicht jede kleine Zollstativn berücksichtigt werden, über die
heute vielleicht kleine Mengen Getreide eingehen. Dagegen würden große Ge-
trcidehandelsplätzc, wie z. B. Berlin und Mannheim, selbstverständlich ihre
Magazine erhalten, und der ausländische Lieferant würde der Monopvlver¬
waltung unmittelbar nach diese» Plätzen liefern, obwohl sie nicht an der Grenze
liege». Die Ware würde eben von der Grenze ab unter amtlicher Aufsicht
stehen, aber erst »ach ihrer Ankunft an Ort und Stelle in das Eigentum der
Monvpolverwaltnng übernommen werden. Es bedarf wohl kaum der Er¬
wähnung, daß ich, wenn ich empfehle, vorwiegend solche Orte auszuwählen,
die schon heute der Getreideeinfuhr in hervorragender Weise dienen, in erster
Linie die billige Rücksicht auf gewisse Teile der Bevölkerung im Auge habe,
die ihren Lebensunterhalt mittelbar oder unmittelbar aus dem Getreidegeschnft
ziehen. Aber auch die Monvpolverwaltnng selbst würde ihren Vorteil dabei
finde», denn sie würde in solchen Plätzen fast alle Einrichtungen, deren sie
bedürfte, vorfinden und sie ankaufen oder miete» können, je nachdem sich das
eine oder das andre als zweckmüßiger erweisen würde. Insbesondre dürften
die erforderlichen Gebäude in vielen Füllen billiger zu mieten als man zu
erbauen sei».
Was nnn den Verkauf des eingeführten Getreides anlangt, so würe der
Grundsatz maßgebend, daß sich die Thätigkeit der Mvnopolverwaltnng nicht
weiter erstrecken dürfte, als zur Erreichung ihrer Zwecke unbedingt nötig wäre.
Jede weitere Ausdehnung würde als eine nicht zu rechtfertigende Beein¬
trächtigung des Privathandels zu betrachten sein.
Ihre», Hauptzwecke würde aber die Mvnopolverwaltnng schon genügen,
wenn sie nicht mehr und nicht weniger Getreide einführte, als die Bevölkerung
des Reiches braucht, d. h. nicht mehr und nicht weniger, als nötig wäre,
damit der Bauer sein Getreide noch um annehmbaren Preis verknusen, der
Verzehrer aber sein Brot um einen annehmbaren Preis bekommen könnte,
wenn nicht Preistreibereien von Spekulanten im Spiele sind, eine Möglichkeit,
auf die ich noch zurückkommen werde.
In der Utegel würde somit der ganze Binnenhandel der Privatunter-
nehmung zu überlassen sein. Nur den Bedarf, und zwar den gesamten Be¬
darf des Ncichsheeres und der Marine würde die Verwaltung unmittelbar an
die betreffenden Proviantämter (die für ihre Bezüge ein- für allemal an be¬
stimmte Magazinorte zu verweise» sein würden) abgeben und ihnen zum
Selbstkostenpreise berechnen. Im übrigen aber würden sämtliche einlaufenden
Lieferungen sofort nach der Übernahme und ohne vorherige Einspeichcrnug
gegen Barzahlung versteigert werden. Die Entnahme der versteigerten Ware
hätten die Käufer auf eigne Kosten zu besorgen.
Die Versteigerungen würden die örtlichen Magazinbenmten vornehmen,
und zwar auf Grund einer ihnen von der Hauptverwaltung gesetzten Taxe,
die mindestens erreicht werden müßte.
Die Taxe würde gebildet werde» durch den Einfuhrpreis (einschließlich
der Verwaltungskosten) nebst dem Gewinn, den die Verwaltung machen müßte.
Dieser Gewinn würde wohl durchschnittlich etwa auf der Höhe der heutigen
Zölle stehen, aber er würde niedriger sein bei hohen Preisen ans dem Welt¬
markte, höher bei niedrigen Preisen auf dem Weltmarkte, sodaß den Inlands¬
preisen eine gewisse Stetigkeit verliehen werden würde. Niemals aber dürfte
die Taxe unter den durchschnittlichen notwendigen Erzengungskvsten des in¬
ländischen Getreides steheu. Man verstehe wohl, daß die Landwirtschaft nicht
unbedingt gegen Verluste in schlechten Jahren zu schützen wäre, sondern nur
davor, daß der Erlös aus ihren Erzeugnissen durchschnittlich und dauernd
hinter den Erzengungskosten zurückbliebe. Wenn das Ergebnis der Ver-
steigerung den Anschlag nicht erreichte, würde die Ware eingespeichert werden.
Denn es wäre darin ein Zeichen zu erblicken, daß man das Bedürfnis wenig¬
stens des Landesteiles, der von dem betr. Versteigernngsvrte zu beziehen
Pflegte, überschätzt hätte. Es wären dann zunächst keine weitern Lieferungen
nach dem Orte zu lenken, und solche, die etwa schon dahin bestimmt wären,
würden bei ihrer Ankunft einfach eingespeichert werden. Erst dann, wenn bei
der Magazinverwaltung Kaufliebhaber erschienen und erklärten, die Taxe
bieten zu Wollen, würde wieder zur Versteigerung geschritten werden. Um¬
gekehrt würden die Zufuhren uach einem bestimmten Platze zu vermehren sein,
wenn die Versteigerungsergebnisse den Anschlag allzusehr überschritten. Natür¬
lich würde der Mangel oder das Übermaß der Nachfrage nicht immer für
alle Arten und Sorten von Getreide zugleich eintreten, die Mehrung oder
Einstellung der Zufuhren hätte sich dann auf bestimmte Arten und Sorten
zu beschränken. Daß bei der Bemessung der Zufuhren nach einzelnen Plätzen
das Gesamtbedürfnis nicht außer Auge gelassen werden dürfte, ist ebenfalls
selbstverständlich. So dürfte z. V. die durch besondre Nachfrage an einem
Orte erforderte vermehrte Zufuhr nur dann eine Vermehrung der Gesamt¬
einfuhr im Gefolge haben, wenn sich nicht an andern Orten wieder eine Flau¬
sen in den Versteigerungen geltend machte, die es rechtfertigte, hier zu mindern,
was dort zu mehren wäre.
Unter gesunden Verhältnissen müßte die in dem Vorstehenden gezeichnete
Handhabung des Geschäftes der Monopolverwaltung nach Richtung und Um¬
fang genügen, um allen Erfordernissen gerecht zu werden, also auch dem Er¬
fordernis einer Beeinflussung der Inlandspreise, die die verschiednen Interessen
der verschiednen Bevölkerungsklassen gerecht gegen einander abwöge.
Wir haben aber Grund, auch an ungesunde Verhältnisse zu denken.
Den beliebten Versuchen gewisser Verbrüderungen von Spekulanten, den Preis
zur Zeit nach der Ernte künstlich zu drücken und ihn später, wenn der Bauer
nichts mehr zu verkaufen hat, um so höher zu schrauben, wird ja durch das
Monopol ohnehin schon etwas der Weg verlegt sein. Denn es läßt sich kaum
eine Ningbilduug denken, die es fertig brächte, der Mvnopolverwaltuug ihre
Kaufgelegenheiten auf dein Weltmärkte abzuschneiden. So lange das nun nicht
der Fall wäre, bliebe die Verwaltung in der Lage, gegenüber Versuchen zu
übermäßiger Erhöhung der Preise ihre Angebote zu vermehren, wäre es auch
mit vorübergehenden Opfern. Und ihre Angebote gegenüber Versuchen zur
Drückung der Preise nach der Ernte zu mindern stünde ja ohnehin stets in
ihrer Macht. Das einzige, was, so viel ich sehe, zu befürchten wäre, wäre
das, daß ein Ring den Versuch machte, die Preisbildung im Inlande dadurch
in die Hand zu bekommen, daß er längere Zeit alles eingeführte Getreide bei
den Versteigerungen aufkaufte, um es dem Verkehr zu entziehen. Wohl müßte
auch eine solche Spekulation schließlich ein Ende mit Schrecken nehmen, wenn
die Verwaltung fortführe, ihre Angebote bis ins Unbegrenzte zu mehren.
Allein wenn der Krach dann erfolgte, würde der inländische Markt in sehr
unerwünschter Weise mit Vorräten überflutet sein. Die Voraussicht eiues
solchen Ausganges würde deshalb der Mvuopolverwaltung das Bedenken nahe
legen, mit ihren Angeboten eine gewisse Grenze zu überschreiten, und die Vor¬
aussicht dieses Bedenkens der Verwaltung würde es wiederum sein, was den
Spekulanten von vornherein den Mut zu ihrem Unternehmen geben würde.
Für solche oder ähnliche Fälle dürfte der Mouopvlverwaltnug wohl als ein
Mittel, die Berechnungen der betreffenden Spekulanten auf kürzestem Wege
zu Schanden zu machen, ausnahmsweise die Bewerkstelligung vou kleineren
Handabgabeu unmittelbar an Konsumenten. Müller, Bäcker oder Konsum-
Vereine gestattet sein. Diese kleineren Abgaben — etwa im Umfang einzelner
Wagenladungen — würden stattfinden, wenn die Käufer nachwiesen, daß sie
vom Händler nur zu einem Preise kaufen könnten, der zu den Versteigeruugs-
Preiseu der Monopolverwaltnng auch unter Berücksichtigung eines billigen
Geschäftsgewinnes des Zwischenhandels außer Verhältnis stünde. Der natür¬
lich bar zu entrichtende Preis für die Haudabgnbeu würde sich unter Berück¬
sichtigung etwaiger Qualitätsunterschiede uach dem Ergebnis der letzte» Ver¬
steigerung der betreffenden Mngnzinverwaltung richten, doch würde ein kleiner
Aufschlag zu machen sein für die der Verwaltung bei solchen kleinen Verkäufen
erwachsende besondre Mühe. Im übrige» hätte der Käufer auch hier wie
bei de» großer» Verkäufe» i» der Versteigerung das Getreide selbst zu ent¬
nehme» und es »ach dem Bestimmungsorte selbst zu verfrachten. Die Ver¬
waltung würde sich damit uicht befassen. Höchstens ließen sich Verträge mit
Spediteuren abschließen, daß sie die Entnahme und die Verfrachtung für die
Käufer gegen bestimmte Gebühren besorgten, die'dann von der Verwaltung
mit dem Kaufpreise eingezogen werden müßten. Dieses Auskunftsmittel würde
sich vielleicht sogar als notwendig erweisen, da sonst die Käufer (meist kleine
Leute) hänfig ratlos der Frage gegenüberstehen würde«, was sie zu thun Hütte»,
»in i» den Besitz des gekauften Getreides zu gelangen.
Das Gesagte dürfte genügen, im allgemeinen ein Bild des Monopols zu
geben, wie es in der Adresse an den Fürsten Bismarck gemeint war. Wer den
Vorschlag vorurteilslos prüfen will, wird zugestehen müsse,?, daß er folgende
Vorteile hat: 1. Er bietet der Neichsregierung die Möglichkeit, bei der Ein¬
fuhr vou Getreide die Erzeugnisse solcher Länder zu bevorzugen, mit denen wir
handelspolitisch auf gutem Fuße stehen, in dem gegenwärtig vorliegenden Falle
also der österreichisch-ungarischen Regierung in dieser Richtung Zusicherungen zu
machen, die reichlich das aufwiegen, was ihr heute zum Nachteil der deutschen
Landwirtschaft in der geplanten Herabsetzung der Zölle durch den Handels¬
vertrag geboten werden soll. 2. Dein deutscheu Getreidebnuer bietet er Schutz
gegen Ausbeutung durch gewissenlose Spekulanten und die Gewißheit eines
ziemlich stetigen Preises seiner Erzeugnisse, der ihm wenigstens den Betrag
der durchschnittlichen notwendigen Produktionskosten ersetzt. 3. Dem deutschen
Verbraucher bietet er gleichfalls Schutz gegen Ausbeutung und zugleich gegen
solche Teueruugeu, wie sie wohl auch ohne künstliche Preistreibereien bei dem
Bestehen der Zölle zu Zeiten, wo das Getreide auf dem Weltmarkte hoch im
Preise steht, leicht herbeigeführt werden können. Was er ihn dafür in Zeiten,
wo das Getreide ans dem Weltmarkte billig ist, mehr zahlen läßt, das führt
er ihm mittelbar wieder zu, indem er es in den gemeine» Säckel fließen läßt.
Außerdem ist die verhältnismäßige Stetigkeit im Preise an sich schon ein Vor¬
teil sür den Verbrancher, weil sie ihn für absehbare Zeit in die Lage setzt,
besser als seither zu beurteilen, wie weit er mit seinem Einkommen zu reichen
vermag. 4. Den Proviantberwaltuugen des Reichsheeres und der Marine
bietet der Vorschlag eine bedeutende Erleichterung oder doch Vereinfachung der
Beschaffung ihres Bedarfes an Getreide.
All diesen Vorteilen steht nnn der Aufwand für die Monvpolverwaltnng
gegenüber und die mögliche Schädigung des Privathandels dnrch das Monopol.
Ich glaube gezeigt zu haben, daß sich die Verwaltung mit einem ziemlich
einfachen Apparat bewerkstelligen ließe; demgemäß dürfte much der Aufwand
jedenfalls uicht größer sein als der, deu heute der Privathandel zu denselben
Zwecken zu bestreiten hat. Die beim Monopol wie beim Privathandel selbst¬
verständliche Überwälzung des Aufwandes auf deu Verbrauch würde diesen also
jedenfalls nicht mehr belasten als jetzt.
Was die Interessen des Privathandels anlangt, so ist allerdings nicht zu
leugnen, daß dieser mit dem eigentlichen Einfuhrgeschäft auch den Gewinn
verliere» würde, deu er seither daraus gezogen hat. Es ist aber uicht zu
vergesse», daß das Reich uuter sonst gleichen Umständen vor allem solche An¬
gebote ausländischen Getreides berücksichtige» würde, die vo» inländische»
Händlern komme». Durch diese» ihm gewährten Vorsprung würde der
deutsche Händler Aussicht haben, eine Thätigkeit zu übernehmen, die seither
in der Regel der ausländische Handel besorgte, nämlich das Getreide unmittel¬
bar bei den ausländischen Erzeugern auszulaufen, um es nach Deutschland zu
verkaufen. Damit wäre ein gewisser Ersatz gewährt für deu Verlust der
eigentliche» Einfuhr. Der Binnenhandel aber würde ja ohnehin durch das
Monopol i» seinem berechtigte» Erwerb nicht verkürzt werden; mich nicht
durch die vereinzelten Handabgaben der Mvnopvlverwaltnng. Den» so lange
der Handel für seine Vermittlung nicht mehr verlangte, als sie thatsächlich
wert ist, würde jedermann den Kauf beim Händler dein umständlicher» Kaufe
bei der Mvuvpolverwaltuug vorziehen.
Der erwähnte Aufsatz der Grenzboten hat also in der That nicht zu viel
gesagt, wenn er die Erwartung ausgesprochen hat, daß es gelingen dürfte,
dem Monopol eine solche Gestalt z» gebe», daß dadurch der Privathandel — ab¬
gesehen von dem tollsten Spekulativusuufug — keine wesentliche Verkürzung
erfahren würde, wenn er sich anch dazu bequemen müßte, zum Teil andre
Formen anzunehmen.
Zum Schlüsse habe ich noch die Punkte zu berühren, in denen die Vor¬
schläge des Korrespondenten der „Berliner Ne»este» Nachrichten" über die
meine» hinausgehe». Es sind das zwei. Deu eine» sehe ich in dem Vor¬
schlage, daß das Reich — allerdings ohne ein Monopol dafür zu haben —
auch inländisches Getreide aufkaufen soll. Es soll damit den inländischen Er¬
zeugern geradezu eine Versicherung gegen Mißjahre gewährt werden, wie aus
der Bemerkung hervorgeht, daß das Reich — ohne deswegen seine Verkaufs¬
preise entsprechend zu erhöhen — den Landwirten nach schlechten Ernten ent¬
sprechend höhere Preise zahlen solle, was recht wohl anginge, da die hierbei
entstehenden Verluste sich teils durch Gewinne ein der Einfuhr, teils durch
Zahlung niedrigerer Preise uach guten Ernten wieder ausgleichen würden.
Vom landwirtschaftliche» Standpunkte kauu ich diesem Vorschlage nicht
geradezu ablehnend gegenüberstehen: die Landwirtschaft dürfte das Geschenk
einer solchen Versicherung mit Freuden annehmen, wenn es ihr in den Schoß
fiele. Aber ich bezweifle einigermaßen, ob es klug und recht wäre, wenn sie
eine so weitgehende Forderung selbst stellen wollte. Schließlich würde man
ihr nicht mit Unrecht entgegenhalten, daß ebenso gut jeder andre Beruf
vom Staat eine Schadloshaltung für Geschäftsausfälle, die er durch höhere
Gewalt erleidet, verlangen konnte. Die Landwirtschaft wird wohl zufrieden
sein müssen, durchschnittlich genügende Preise zu erhalten, und wird uach wie
vor versuchen müssen, den Ausgleich zwischen guten und schlechten Jahren selbst
zu treffen. Wenn es sich als unumgänglich notwendig erweist, die hiermit
verbundene Gefahr dem Einzelnen abzunehmen und sie auf breitere Schultern
zu legen, so werden sich hierzu Wege und Einrichtungen finden lassen. Wie
der Bauer heute gegen Hagel versichert, wird er vielleicht einst gegen jedes
Mißgeschick versichern können, das seine Ernte ganz oder teilweise vernichten
kann. Vorläufig ist, soweit meine Erfahrungen reichen, für derlei Dinge wenig
Stimmung vorhanden.
Der andre der erwähnten Punkte ist, daß der Artikel der „Berliner
Neuesten Nachrichten," wen» ich recht verstehe, die Preispolitik der Monopol-
Verwaltung nicht bloß darauf gerichtet wissen will, die vorübergehenden
Schwankungen der Getreidepreise auszugleichen, die aus der Verschiedenheit
der einzelnen Ernten, aus dem Börsenspiel der Spekulanten u. s. w. entstehen,
sondern auch darauf, die (inländischen) Preise überhaupt für längere Zeit¬
räume, vielleicht für Jahrzehnte*) annähernd festzulegen. Das geht aber in
dieser Allgemeinheit doch wohl zu weit. Wenn z. B. auf dem Weltmarkte
die Getreidepreise — in Geld ausgedrückt — dauernd sinken oder steigen, nicht
weil sich die Getreideproduktion unsrer Erde im Verhältnis zur Größe der
Bevölkerung vermehrt oder vermindert hat, sondern weil sich die Menge unsrer
metallenen Umlaufsmittel und damit deren Wert nicht nur gegenüber dem
Getreide, sondern gegenüber allen Gütern verändert hat, so würde es geradezu
ein verhängnisvoller Irrtum sein, im Inlande Getreidepreise aufrecht erhalten
zu wollen, die unter diesen Umständen ja nur dem Namen nach dieselben sein
Würden wie früher. Mit der Verschiebung des Geldwertes würde«? sich die
in Geld ausgedrückten Erzeugungskosten des inländischen Getreides, würde sich
das in Geld ausgedrückte Einkommen des inländischen Verbrauchers verschoben
haben, und wenn dem Getreide trotzdem auf künstlichem Wege derselbe Geld¬
preis erhalten geblieben wäre wie früher, so hätte er eben doch nicht dieselbe
Bedeutung wie früher. Der Preis, der früher billig und gerecht war, wäre
entweder zu niedrig für die Landwirtschaft oder zu hoch für den Verbrauch.
Im übrigen kann der Wiederhall, den der Vorschlag der süddeutschen
Adresse an Bismnrck in Norddeutschland gefunden hat, die Unterzeichner nur
freuen und sie in der Hoffnung bestärken, daß ihre Anregung weitere Kreise
zur Erwägung des Mvnopvlgedankens veranlassen werden.
an glaube nicht, das; der Grnndstückswucher in dem gewerbs¬
mäßigen Ankauf vou Grundstücken zu einen: dem Werte nicht
gleichkommenden Preise (durch Benutzung der schlechten Ver¬
mögenslage des Besitzers oder ungünstiger Geschäftsverhältnisse),
verbunden mit dem spätern Verkauf zu guten Bedingungen be¬
stehe. So lange man nicht den Handel mit Grundstücken vermöge einer voll¬
ständig veränderten Auffassung von der sozialen Bedeutung des liegenschaftlichen
Besitzes überhaupt untersage» und nicht das Eigentum am unbeweglichen Gut
dem Bereich des Privatrechts entziehen und dem öffentlichen Recht unterstellen
will, so lange lassen sich solche Geschäfte rechtlich nicht bemängeln. Darum
kann anch die gewohnheitsmäßige Güterschlächterei oder das Gewerbe des
Gütermaklers, der meist eine einmalige Gebühr von einem Prozent des Gruud-
stückswertes beansprucht, nicht ohne weiteres zum Landwncher gestellt werden,
obwohl dergleichen Geschäfte häufig von Wucherern betrieben werden. Ver¬
derblich für die Landwirtschaft werden aber die Beziehungen zwischen dem
Landmann und dem Geldmann, wenn sich bei vorübergehender Not der Wirt
leichtsinnig und ohne Erfahrung dem andern Teile so in die Arme wirft, daß
dieser ihn zunächst mit Kuß empfängt und dann, indem er immer neue
Wuchergeschäfte an das erste unverfängliche anreiht, ihn schließlich fest um¬
klammert und zuletzt erdrückt. So wird ein vielleicht ganz vermögender Bauer
erst Schuldknecht dessen, der ihm mit dem auf dem Lande so oft mangelnden
baren Gelde aushilft, und dann geht der Besitz auf den Wucherer über, lind
zwar neben so vielen inzwischen erlangten Vorteilen zu dem billigsten Preise.
Der Meier ist dann abgemeiert, und an seine Stelle tritt ein andrer, der
dielleicht „Mayer" heißt, aber nicht Meier ist, auch gar bald mit neuem
Gewinn den Hof losschlägt. In jedem Falle hat der Geschäftsfreund so be¬
deutenden Nutzen gezogen, daß auch hier, wo er meist selbst gar kein Risiko
übernimmt und nicht sich selbst, sondern nur andre verbindlich macht, dieser
Gewinn in auffälligsten Mißverhältnis zu deu eignen Leistungen steht. Je
schmutziger des Geldgebers Hände sind, umso mehr und umso leichter bleibt
Geld darau kleben. Die Ähnlichkeit dieses Landwuchers mit dem im Wuchcr-
gcsctz hingestellten Thatbestände springt in die Augen, und darum bedarf es
der Erweiterung des Gesetzes. Denn auch der Landwucher ist am letzten Ende
nnr Geldwncher. Die eingescharrten Schätze dienen als vermehrtes Betriebs¬
kapital dozn, dasselbe Spiel mit neuen Opfern zu beginnen. Denn — sie
werden nicht alle! — so überschrieb einmal das „Berliner Tageblatt" einen
Leitartikel, der die Ausbeutung behandelte, deren sich ein gewisser Löwinson
schuldig gemacht hatte. Mit dieser tiefsinnigen Betrachtung glaubte das
Mossische Blatt der Beurteilung des Falles vom sittlichen und stnatsmännischen
Gesichtspunkte Genüge geleistet zu haben.
Ein der Wirklichkeit entlehnter Fall möge zur Veranschaulichung dienen.
Ein Bauer E. in der preußischen Provinz Sachsen besaß ein zur Hülste mit
Hypotheken verschuldetes Gut im Werte von etwa 28000 Mark. Da er mit
seiner ans Ehefrau und neun minderjährigen Kindern bestehenden Familie
bei geringer Einsicht seine Schulden von Jahr zu Jahr wachsen sah und die
Zinsen nnr schwer vollständig aufbringen konnte, beschloß er, abermals vom
Gerichtsvollzieher bedroht, den „ganzen Krempel" so gut als möglich, sei es
im ganzen oder in Teilen, zu verkaufen, um dann nach Anlegung.des herauf¬
gezogenen Vermögens in hvchverzinslicheu Papieren, vielleicht in Argentiniern,
als „Groschenrentier" weiter zu leben. Ist doch die Handhabung der Koupon¬
schere weit einfacher und reinlicher als die Hantirung mit Pflug und Egge.
Ohne die Unterstützung eines Unterhändlers, der sich auf die Kniffe und Pfiffe
verstünde, recht hohe Preise zu erzielen, wollte er aber nicht vorgehen. Darum
wandte er sich zunächst an deu „Agenten" D. aus seiner nächsten Umgegend,
der zwar bereits wegen Meineids mit drei Jahren Zuchthaus bestraft war,
aber doch als schriftgelehrter Winkelanwalt von den Landleuten öster in An¬
spruch genommen wurde. In vielen Bauerkreisen kann man ja solche Hilfe
bei keinem wichtigen Geschäft entbehren, da sogar schon bei der Gründung des
Hausstandes der Heiratsvermittler eine große Rolle spielt; wie oft müssen
deutsche Richter darüber entscheiden, ob der Kuppelpelz auch wirklich verdient
sei oder nicht, statt daß die Gesetzgebung solchem unwürdigen Mißbrauch des
Richterstuhles durch ausdrückliche Klagloserklärung derartiger den guten Sitten
zuwiderlaufender Verträge einmal ein Ende bereitete! Nu», Herr D. machte
darauf aufmerksam, daß er allein die Sache nicht machen könne, denn zu der
zum Verkauf nötigen Beschaffung „reiner Hypothek" für die Käufer bedürfe
es beträchtlicher Geldmittel, die er selbst nicht besitze; er werde aber an Herrn
M. in R. schreiben, der sich, da er ihm bekannt sei, ans sein Zureden gewiß
zur Übernahme des Geschäfts bereit finden lasse. Nach einigen Tagen findet
sich auch Herr M. bei dem Zutreiber D. ein, aber noch in Begleitung eines
Herrn N. ans A. Beide erklären dein Bauer E., sie wären nicht abgeneigt,
ihm zu helfen, wenn sie sich mit ihm über die Bedingungen einigen könnten.
Das machte nun freilich einige Schwierigkeiten. Denn obgleich der Zntrciber
dem E. immer von einem sehr kulanten Manne gesprochen hatte, der auch in
andern Gegenden schon sehr gut eingeführt sei, erschien doch dem E. das,
was die Firma M. und N. bei dem Geschäft für sich selbst verdienen wollte,
gar zu hoch. Er hatte an die gewöhnliche Provision von 1 Prozent gedacht.
Statt dessen kam man ihm mit einer Forderung von ziemlich 1800 Mark,
was gegen 7 Prozent des Gutswertes war. Soviel hatte er noch niemals,
nicht einmal an Jahreszinsen für bar geliehenes Geld bewilligt. Und dabei
that Herr M. in seiner geldprotzigen hochfahrenden Art noch so, als ob er
ihm eine Gnade erwiese, während der andre Jude — denn daß es Juden
waren, kann ich nicht verschweigen, selbst auf die Gefahr hin, mir das Mi߬
fallen des Oberkonsistoriums zu Darmstadt und nationalliberaler Zeitungen
zuzuziehn — Mühe hatte, seinen Genossen zu besänftigen. „Fällt und grob,
grob und fällt, 's muß ein Unterschied sein." Diese Regel wird auch von den
Unterhändlern mit großem Erfolg beachtet. So gelang es denn dem einen
durch Einschüchterung, dem andern durch Zureden, E. zur Zusicherung eines
den Juden zufallenden Neingewinns von mindestens 1500 Mark zu bewegen.
Er brauchte ja auch, mehrere Monate vor der Ernte, dringend Geld, nicht
nur zur Bezahlung der Zinsen, sondern auch zur Abtragung alter „Lepper-
schuldcu" und sogar zum bloßen Leben für sich und die Seinen. M. und N.
wollten ihm nicht allein dazu Geld borgen, sondern auch die großen Summen
vorschießen, die zur Abstoßung der Hypotheken nötig waren, was ein gewöhn¬
licher Gütermäkler gar nicht leistet. Der Bauer muß also die sämtlichen
Hypotheken kündigen, und die Juden lassen sich nach Ablauf der Kündignngs-
srist gegen Auszahlung der Gläubiger von diesen die Forderungen abtreten.
Nun waren sie die einzigen Gläubiger des Gutes. An Stelle der bisherigen
dem E. wohlwollend und schonend gegenüberstehenden Leute waren andre ge¬
treten. Inzwischen hatte man ein Schriftstück aufgesetzt, das E. unterschreiben
sollte. Es führte die Überschrift „Kaufvertrag" und enthielt mich die Bestand¬
teile eines solchen. Obschon M. und N. erklärt hatten, sie wollten dem E.
das Gut nicht abkaufen, sondern nur für ihn verkaufen, lautete doch das
Schriftstück dahin: die Vermittler kauften das Gut zum Wiederverkauf, sei es
im ganzen oder in Teilen, wie es am vorteilhaftester wäre, und dnrch Abhal¬
tung eines öffentlichen Verkaufstermins oder unter der Hand, für 22500 Mark
mit der Bedingung, daß 1500 Mark von dein Wiedervcrkaufspreise ohne
weiteres den Mittelsmännern, 21000 Mark dem E. und wenn der Verknufs-
Prcis 22500 Mark übersteigen sollte, je die Hälfte dein E. und den Juden
zufallen sollten, wenn er unter 22500 Mark zurückbliebe, unter allen Um¬
ständen die 1500 Mark für die Gehilfen verbleiben sollten. Daneben bedangen
diese sich auch noch statt der sonst üblichen 1 Prozent Provision ein Aufgeld
von 2 Prozent (sogenannte Zählgrvschen) aus, das jedem Käufer eines Teil-
stückcs neben seinein Kaufgeld auferlegt werden sollte, wodurch sich natürlich
die Angebote der Kauflustigen an wirklichem, dem Besitzer gutzurechnenden
Kaufgeld entsprechend erniedrigen mußten, sodaß auch diese Abgabe eine Kür¬
zung des für E. erzielten Preises bedeutete. Erst nach beendigtem Wieder¬
verkaufe sollten M. und N. den uach Abzug der Schulden und der sonstigen
an E. gewährten Vorschüsse verbleibenden Nest, für den er gar keine Sicher¬
heit behielt, an ihn herauszahlen. Auch zur Auflassung des Gutes an die
Juden und zur Eintragung einer Vormerkung zur Erhaltung ihres Rechts
ans Auflassung machte sich in dieser zwitterhaften Urkunde E. anheischig.
In der That wollten aber M. und N. gar nicht selbst Käufer und Eigen¬
tümer werden, um auf eigne Rechnung wiederzuverkaufen, womit ja die Sache
erledigt gewesen wäre, sondern sie wollten sich nur zu Herren des Gutes ohne
jedes eigne Wagnis machen und sich nur den Gewinn sichern, an einem
Verlust aber nicht teilnehmen. Dies folgte auch daraus, daß sie, die den
von E. unterschriebenen Vertrag an sich nahmen, ohne dem E. eine zweite
Ausfertigung zu geben, ihrerseits die Urkunde gar nicht unterzeichneten, sodaß
sie selbst nicht im geringsten rechtlich gebunden waren. Es unterliegt aber
keinem Zweifel, daß die Unterhändler dabei im Sinne hatten, nötigenfalls auf
Grund des Vertrages auch das wirkliche Eigentum und die Auflassung zu
begehren, sodaß sie vollständig sreie Hand hatten. Dem E. kam zwar dies
ganze Schriftstück etwas sonderbar vor; auch er wollte gern eine Vertrags-
urknnde haben. Hatte er doch ost das Bauersprichwort gehört: „Worte sind
Winde, aber Schriften sind Gründe," und kannte er doch die in seinem Dorfe
übliche Redensart, daß solche Leute wie M. und N. „mit langen Federn und
mit dicker Tinte schreiben." Die beiden setzten ihm aber auseinander, man
konnte den hohen Kaufstempel sparen, solange die Schrift noch nicht durch
Vollziehung beider Teile zur vollendeten Urkunde geworden sei, und sie wollten
sich ja bloß wegen ihrer auf die Sache verwendeten Gelder in gewisser Weise
sichern; E. selbst, nicht sie, sollte an die neuen Erwerber verkaufen. Auch
dies entsprach durchaus dem Grundsätze der Juden: Nur Rechte, keine Pflichten,
nur Nutzen, keinen Schaden. Wurde die Abwicklung der Sache in irgend einer
Weise — so etwas läßt sich nie sicher vorhersehen — störend beeinflußt, so
sollten die Parzclleulaufer sich nicht an sie halte» können, sondern nnr «IN E.
selbst, der die Verträge mit ihnen geschlossen hatte, während M. und N.
doch noch den Vertrag in der Tasche hatten, nach dem sie selbst das ganze
Gut beanspruchen konnten. Zwei Stricke hatte man also dem Opferticr um
den Hals gelegt, den einen durch Erwerbung der Gutsschuldfvrderuugeu, den
andern durch den Vertrag. Daß bei dessen eigentümlicher Bedeutung nicht
M. und N., sondern vielmehr E. alle Kosten für die Regelung des Hypotheken-
Wesens zu tragen hatte — man kam dabei nachher ans etwa 87 Mark — war
nichts besonders Auffälliges. Aber auch für den Zutreiber D. mußte noch
1 Prozent von dem Gewinn der eigentlichen Macher, also 150 Mark, abfallen,
zu deren Gewährung sich E. much verpflichtete. D. mußte ja auch, da M.
und N. ihren Wohnsitz ziemlich weit entfernt in ihrer Großstadt hatten, als
Aufpasser darüber wachen, daß „nichts Passire."
Nachdem sich E. dnrch den „Kaufvertrag" gebunden hatte, war das
nächste: Verkauf des sämtlichen toten und lebenden Wirtschaftsbeilasses dnrch
öffentliche Versteigerung, die M. und N. selbst besorgten. Bevor also fest¬
stand, ob nicht das ganze Gut mit Inventar an einen geeigneten Landwirt
verkauft werden könnte oder ob, wenn auch in Parzellen, überhaupt das ganze
Besitztum an den Mann zu bringen wäre oder nicht, bevor also Sicherheit
darüber bestand, daß nicht E. einen Teil der Wirtschaft behalten und zunächst
doch als Landwirt noch fvrtwirtschaften müßte, beraubte man ihn, mit seiner
Zustimmung, der Möglichkeit dazu oder erschwerte es wenigstens. Die
Schiffe wurden verbrannt, indem Schiff und Geschirr vom Gut herunter¬
gebracht wurden. Auch hier ließen sich übrigens die „jüdischen Mitbürger"
schlankweg von den Käufern der Wirtschaftssachen, die etwa 1300 Mark ein¬
brachten, 3^ Prozent vom Kaufpreis als Zählgroschen (zehn Pfennige auf
drei Mark) für diese besondre Mühewaltung zulegen. Den Erlös erhielt
natürlich nicht der Besitzer, sondern er verblieb unter Vorbehalt der immer
als Zukunftsbild, vorläufig in den Wolken, sich zeigenden endgiltigen Abrech¬
nung in den Händen der Mittelsmänner, die dem Bauer nur vorschußweise
so viel auszahlten, als er und die Familie zum Leben brauchten. Denn die
Kuh, die noch genutzt werden soll, muß bis zum Schlachten gefüttert werden.
Endlich wurde auch an die Losschlagung des Landbesitzes gegangen.
Aber trotz aller Bemühungen, die angeblich von der Gegenseite angestellt
wurden, glückte es den Geschäftsmännern nur, zwei größere Teilstücke ange¬
messen zu verkaufe», während E. selbst noch für zwei kleinere zwei Käufer
fand, sodaß im ganzen etwa mir die Hälfte des Grundbesitzes ohne die Hof¬
stelle veräußert und dafür im ganzen (einschließlich der Zählgroschen von
zwei Prozent und der von den Käufern bis zur Auflassung zu zahlenden
Kaufschillingszinsen) 14170 Mark gelöst wurden. Es paßte den Mittelsmänner»
offenbar nicht in den Kram, so viel Land zu verkaufen, daß ihre sämtlichen
Hypotheken von dem Knnspreise bezahlt werden konnten. Sie wollten lieber
eine kleine Hypothek behalten, um später damit weiter zu arbeiten. Abgesehen
von einem an E. selbst gezählten Betrage von etwa 650 Mark wurden nun
alle Kaufgelder an M. und N. gezahlt. Diese ließen sich nämlich, obwohl sie
nicht Verkäufer, nur Unterhändler waren, von E. auch noch die Kaufgeld-
fvrderungen schriftlich abtreten, mit der teilweise zutreffenden Vegründnng, sie
müßten das Geld zur Abtragung der Hypothekenschulden bis zur Auslassung
an die Parzellenerwerber verwenden. Neben diesem dritten Strick wurde nun
aber noch der vierte gedreht und von E. willig angenommen, bestehend in
einer schriftlichen Vollmacht an M. und N. zur Auslassung. Nun war die
Klappe geschlossen, und der Vogel konnte wohl noch flattern oder piepsen,
aber ans dem Kasten konnte er nicht mehr heraus, da eine Vollmacht zwar
widerrufen werden kann, dies aber meist nur dann rechtlich wirksam ist. wenn
auch die Vollmachtschrift den Händen des Bevollmächtigten entwunden wird.
M. und N. waren nach allen Seiten gedeckt, auch wenn es dem deutschen
Michel noch Hütte einfallen sollen. Schwierigkeiten zu macheu. E. war tote
Puppe, ein lebloser Spielball seiner Gönner geworden, schon ehe das eintrat,
was bald daraus die Sachlage etwas änderte, nämlich der Tod des so leicht¬
gläubigen Menschen. E. starb, ehe die nur gegen Auflassung zur Entrichtung
des Kaufschillings verpflichteten Käufer die Gelder gezahlt hatten. Während
nun die Vermittler bei der Angelegenheit noch immer sehr beteiligt waren,
stand man zwar jetzt einer ebenfalls gänzlich unbeholfenen, auch in die
Sache von dem Verstorbenen wenig eingeweihten Witwe mit neun unmiindigeu
Kindern, aber auch dem Vormundschaftsgericht gegenüber, während die Voll¬
macht des E. für seiue Erben nicht verbindlich war. Daralls erwuchsen deu
Juden einige Schwierigkeiten, die denn auch dahin führten, die von ihnen
gehoffte Wucherbeute etwas zu verringern. Das Geschüft nahm folgenden
weiteren Verlauf- Die Juden wollten ausgerechnet haben, daß ihnen, da sie
in der That nicht nur die vier Parzellen von der Haft für die Hypotheken
von 14450 Mark gänzlich frei machten, sondern auch auf dem der Familie E.
verbleibenden Restgut für sich selbst nur eine Teilhypothek vou 3000 Mark
steheu ließen, ein etwa gleich hoher durch diese Hypothek zu denkender Geld¬
betrag noch zukäme. Das Vormundschaftsgericht genehmigte denn auch,
indem es zur Sicherung der Minderjährigen den sonst den Geschäftsleuten
zukommenden Hypothekenbrief über die 3000 Mark vorläufig in gerichtlicher
Verwahrung zurückbehielt, weil das Guthaben noch nicht nachgewiesen war,
die Auslassung, die dann durch die Witwe und den Gegenvormund an die vier
Parzelleukäufer nach Zahlung der Kaufgelder an die Mittelsmänner erfolgte.
Über die Abrechnung kam es aber zum Streit. Nach der zuerst eingereichten
Aufstellung der Juden hatten diese nur 14263,10 Mark eingenommen, aber
15587,93 Mark ausgegeben und beanspruchten deshalb, da sich diese Summe
milder Zurechnung ihrer Provision von 15)00 Mark auf 17087,93 Mark er¬
höhte, die ganzen 3000 Mark mit Ausnahme eines Teils von 175,17 Mark
für sich, sodns; sie mit einer gut verzinsliche» und sicheren ersten Hypothek
Gläubiger der von Geldmittel» immer noch vollständig entblößten Familie E.
blieben. Man besaß nämlich die Dreistigkeit, nicht allein die Zählgroschen
von den durch E. selbst verkauften beiden Parzellen dein andern Teil vorzu¬
enthalten, ebenso wie die 3^/g Prozent für deu Verkauf des Inventars, die E.
den Juden gar nicht zugesichert hatte, zusammen 72,30 Mark, sondern bean¬
spruchte, obwohl man nur das Gut zur Hälfte verkauft hatte, die ganzen
1500 Mark Vermittlergewinn, die doch nur für die Veräußerung des gesamten
Besitzes versprochen waren, und erklärte auch, man wolle sich mit der Sache
nicht weiter befassen. Solchen Gewinn verlangten die Makler, obwohl sie in
der Angelegenheit außer wenigen Reisen und einigen von ihnen abgehaltenen
Terminen gar nichts geleistet hatten, als die Vorschießung von Geldern, die
sie entweder gleichzeitig aus dem Gute gelöst hatten oder, soweit sie vorüber¬
gehend im Vorschuß waren, in ihrer Rechnung sich noch mit vier Prozent ver¬
zinslich machten. Angeblich sollte der verstorbene E., indem er andern Sinns
geworden wäre, erklärt haben, er wolle die Resthälfte der Wirtschaft behalten,
und M. und N. sollten trotzdem ihren vollen Gewinn von 1500 Mark be¬
kommen. Der nun eingeleitete Prozeß vor dem Landgericht fiel leider zum
größeren Teil für die Juden günstig aus, da der Inhalt eines von diese»
uoch vorgelegten Verpflichtungsscheins des E. vom Gericht so, wie diese be¬
haupteten, ausgelegt wurde. Das Landgericht erkannte ihnen die volle Pro¬
vision zu und strich nur die erwähnten 72,30 Mark Zählgroschen, was aber
doch unter Ausscheidung andrer Rechnungsposten, die M. und N. für sich
eingestellt hatten und jetzt fallen ließen, die Folge hatte, daß ihnen von den
3000 Mark Hypothek statt 175,17 Mark vielmehr 529,22 Mark abgesprochen
wurden. Die Familie E. hatte zwei Drittel, M. und N. ein Drittel der
Prozeßkosteu zu tragen. Da die E. immer noch kein Geld hatten, sogar, von
Inventar vollständig entblößt, ihre Grundstücke mit großem Kostenaufwand
zunächst durch Nachbarn bestellen und abernten lassen mußten, ließen sie sich
die 529,22 Mark bar auszahlen und blieben in der vollen Hohe von 3000 Mk.
Schuldner der Jude». Gegenwärtig ist deren Hypothek zwar auf einen andern
Gläubiger übergegangen. Es sind aber noch 500 Mark hinzugeborgt. Das
ist das Ergebnis des Beistandes der hilfbereiten Firma M. und N. gewesen.
Wahrscheinlich hatten die Herren beabsichtigt, dadurch, daß sie Gläubiger der
bedrängte» E. blieben, bei Zinsverzug neue Wuchergeschäfte anzuknüpfen.
Nun war ihnen aber der Boden wohl dnrch den Vormundschaftsrichter zu
heiß gemacht worden, und sie zogen sich lieber zurück.
Sollte es Rechtsgelehrte gebe», die darauf hinweisen, dem Rechte sei
ja hier gar kein Abbruch geschehe», warum sei E. so dumm gewesen, sich
in solche Geschäfte einzulassen, so wird man doch nicht leugnen können,
daß hier Wucher vorliegt. Einer Anwendung des Wucherparagraphen 302.1.
des Strafgesetzbuchs steht nur der Umstand entgegen, daß die unter Aus¬
beutung der Notlage, des Leichtsinns und der Unerfahrenheit des Bauern E.
den Geschäftsleuten M. und N. versprochenen Vermögensvorteile, insbesondre
die 1650 Mark Provision sür sie selbst und ihren Uuteragenten D. — neben
den nach sonstigem Geschästsgebrauche üblichen 2 Prozent und neben der
Verzinsung der baren Vorschüsse mit 4 Prozent — zwar in einem auf¬
fälligen Mißverhältnis zu den mit gar keinem eignen Risiko verbundenen
Leistungen der Wucherer stehen, aber nicht ausdrücklich für ein Darlehen oder
die Stundung einer Geldfordcrung gewährt worden sind. Trotzdem ist gerade
die dem E. nötige vorübergehende Geldbeschaffung die Ursache gewesen, wes¬
halb er geglaubt hat, seinen Verkaufsplan nicht lediglich mit Hilfe eines wohl¬
wollenden RcchtSanwalts oder des Amtsgerichts zur Ausführung bringen zu
können, obwohl diese die ihm nicht geläufigen Förmlichkeiten doch zu seiner
Zufriedenheit abgewickelt hätte». Darum hat er lieber solchen Leuten wie M.
und N. eine so bedeutende Summe in den Rachen geworfen, wodurch ihm und
seiner Familie ein beträchtlicher Teil seines Vermögens auf Nimmerwieder¬
sehen entzogen worden ist. Stünden in 302^ hinter den Worten „für ein
Darlehen oder im Falle der Stundung einer Geldforderuug" noch die Worte
„oder bei andern Geldgeschäften," so würde sicherlich jedes Gericht einen straf¬
baren Wucher annehmen. Diese Änderung des Gesetzes würde auch die Fälle
mitnmfassen, wo der Wucher bei der Abtretung von Forderungen verübt wird,
wie es auch bei unserm Gntsverkanf nebenher geschehen ist. Ich halte den
Ausdruck „bei andern Geldgeschäften" anch keineswegs für zu unbestimmt, um
die Grundlage eines Strafgesetzes zu bilden. Ob er ausreichen würde, jedem
Landwucher zu steuern, vermag ich nicht zu übersehen. Wenn man ihn aber
noch nicht für ausreichend hielte, so könnte man zunächst noch die auf die
Gütermäkelei besonders sich beziehenden Worte zusetzen: „oder bei Geschäften,
die sich auf die Vermittlung oder Besorgung von Grundstücksverkäufen be¬
ziehen." Dann wären hinter den Worten „den üblichen Zinsfuß" die Worte
zuzusetzen: „oder die übliche Vergütung." Daß ich nicht schon in dem billige»
Kaufe eines Grundstücks mit darauffolgenden teuern Verkauf einen durch das
Gesetz zu verfolgenden Wucher erblicken kann, habe ich schon dargelegt. Im
übrigen ist unserm Richterstande wohl zuzutrauen, daß er unter Berücksichtigung
der Worte „in auffälligen Mißverhältnis" und uach dein Grundsatze in äuvio
xrc» roo nur solche Vorgänge für strafwürdig erklären wird, die das Merkmal
der Ausbeutung ganz klar erkennen lassen, wobei das vom Geldgeber über¬
nommene Wagnis und seine persönlichen Bemühungen Beachtung finden müssen.
Man konnte also weder von drakonischer Strenge eines solchen erweiterten Ge¬
setzes reden, noch behaupten, daß der redliche Geschäftsverkehr und unsre ge-
sante Volkswirtschaft dadurch einer gefährlichen Unsicherheit ausgesetzt werden
würden. Ähnliches hat zwar auf dein Kongreß des Vereins sür Sozialpolitik
im Jahre 1888 zu Frankfurt der Berichterstatter Professor von Miaskowsli
aus Breslau ausgeführt. Seine Auseinandersetzungen waren aber gegen einen
viel weitergehenden Vorschlag gerichtet, nämlich den, die Strafbestimmungen
über den Wucher allgemein auf alle betastenden Verträge auszudehnen. Dein
könnte mau in der That nicht beitreten, da dem Richter nicht das Amt eines
Censors für den gesamten wirtschaftlichen Verkehr übertragen werden kann.
Neben der hier vorgeschlagenen Ergänzung des Wuchergesetzes sind aber
auch noch andre Maßregeln beachtenswert, insbesondre die von dem deutsche»
Landwirtschaftsrat angeregte Ausdehnung der für die Pfandleiher geltenden
Gewerbebeschränkungen auf die Personen, die aus der Betreibung von Geld-
und .Kreditgeschäften mit der bäuerlichen Bevölkerung ein Geschäft machen.
Daran hat Landgerichtsdirektor Ernst Barre in seiner hauptsächlich rheinische
Verhältnisse behandelnden Schrift: Der ländliche Wucher (Berlin, N. v.
Denkers Verlag, 1890) die Forderung geschlossen, allen solchen Gewerbtreibenden
und denen, die sich mit dem Ankauf und Verkauf von Grundstücken und Cessions-
prvtvkvllen beschäftigen, die Pflicht einer ordnungsmäßigen Buchführung auf¬
zuerlegen und ihnen vorzuschreiben, ihren Schuldnern halbjährlich Rechnungs¬
auszüge zuzustellen. Die von dem Landwirtschaftsrat weiter geforderte Ein-
schränkung des gewerbsmäßig betriebenen Handels mit ländlichen Grundstücken
ist ein Borschlag, dessen Erörterung hier zu weit führen würde, und der sich
wohl kaum wird durchführen lassen, so lange das Grundeigentum dem Privat¬
recht unterstellt ist. Möge man zunächst den Anfang damit machen, durch
Erlaß eines Heimstättengesetzes und durch Gründung von Rentengüteru einen
Schutz des landwirtschaftlichen Besitzes gegen die rein marktmäßige Behandlung
anzubahnen. Erwähnen möchte ich noch folgende Vorschläge des Landwirt-
schaftsrats, die ebenfalls zeigen, daß der von mir beschriebene Wucherfall
keineswegs eine einzelne Erscheinung ist, sondern ganz ähnliches auch anderwärts
vorkommt: „1. Bei nlleu Verkäufe» von Grundstücke» ist eine Übereinkunft
dahin, ü) daß der Verkäufer für eine» bestimmten Erlös aus dein Verkaufs-
vbjekt Garantie leiste, b) daß der Verkäufer eines oder mehrere Stücke zu einem
bestimmte» Preis wieder an Zahlnngsstatt zurücknehmen müsse, wenn sie nicht
verkauft werden können — unstatthaft und unverbindlich. 2. Bei allen Ver¬
läufen von Grundstücken dürfen außer deu gesetzlichen Abgaben und tarifmäßigen
Gebühren unter keinerlei Namen lind Vorwand Nebenkosten, wie z. B. Trink¬
geld, Provision, Zehrungsaufwand u. dergl. — ich füge hinzu »Zählgroschen« —
ausbedungen werden."
Die gesamten bürgerlichen Gesetze über Vertragsabschlüsse müssen so ge¬
staltet werden, daß die Ausbeutung unerfahrener Leute möglichst erschwert
wird. In dieser Beziehung scheint mir eine Vorschrift des Entwurfes eines
bürgerlichen Gesetzbuches wenig Empfehlung zu verdienen. Dein § 92 des
Entwurfes ist zu entnehmen, daß ein schriftlicher Vertrag als solcher schon
dann rechtsgiltig ist, wenn er von den vertragenden Teilen „eigenhändig unter¬
schrieben oder mittelst gerichtlich oder notariell beglaubigten Handzeichens
unterzeichnet" ist. Es macht sich also auch ein des Lesens und Schreibens
Unkundiger verbindlich, wenn er nur eine Urkunde unterkreuzt und dann dieses
Handzeichen beglaubigt wird. Es kann dabei vorkommen, daß sich ein solcher
Schriftunkundiger lediglich auf die Ehrlichkeit seines Vertragsgenossen verläßt
und dann, wenn er es mit keinem Biedermann zu thun hat, auf die schänd¬
lichste Weise betrogen wird, wenn er etwas unterkreuzt, was ganz anders
lautet, als er glaubt. Es ist doch klar, daß Schriftunkundigc, da sie die
Schriftzüge nicht zu erkennen vermögen, in dieser Hinsicht gleich den Blinden
zu erachten sind, für die besondre Formen vorgeschrieben sind. Darum hat z. B.
das preußische Allgemeine Landrecht die Bestimmung getroffen, daß der
Schriftnnkundige stets vor einer amtlichen Stelle das erklären muß, wozu er
sich verpflichten will, und den Wortlaut seiner Erklärung sicher erfährt.
Es ist mir unverständlich, weshalb der Entwurf diesen Schutz des Schwachen
beseitigen will. Was könnten Wucherer mit dem ->2 alles anstiften! Von
einem solchen Standpunkte aus wäre auch ein Wuchergesetz verwerflich. Denn
könnte es bei dem Satze bewenden: Sehe jeder, wo er bleibe (auch der Blinde),
und wer steht, daß er nicht falle! Und selbst für den Blinden sind in dem
Entwurf die besondern schützenden Formen gefallen!
Ich glaube aber, daß die Zahl derer sich stetig vermehrt, die erkennt,
daß unser aller Wohl und Wehe am letzten Ende davon abhängt, daß es
unsrer Landwirtschaft wohlergehe. Das sollten anch unsre freisinnigen
Hypothekengläubiger bedenken und nicht durch Unterstützung der Manchcster-
lcute bei den Wahlen helfen, deu Ast abzusägen, ans dem sie, was sie nur nicht
wissen, selbst ansitzen.
in Auguste von Littrow-Bischoff Erinnerungen an Grillparzer
und Gespräche mit ihm, wie Ilse Frapan Erinnerungen an
Fr. Theodcr Bischer, so hat nun auch eine hochgebildete Frnn,
Luise von Kobell (Frnn Staatsrat von Eisenbart), Erinne¬
rungen an einen dritten (freilich noch lange nicht den letzten)
großen Junggesellen unsrer Litteratur, Jgunz von Döllinger, veröffentlicht
(München, C. H. Beclschc Verlagsbuchhandlung, 1891) und sich damit ein
schönes Verdienst um die Kenntnis Döllingers als Menschen erworben. Daß
gerade Frauen solche Bücher schreiben können, ist kein Zufall, sondern scheint
uns in den Umstünden selbst begründet zu sein. Frauen dürfen mit einem
berühmten Gelehrten anders als Männer verkehren, vollends wenn diese
Männer dem nachgewachsenen Geschlecht angehören. Mit Männern ist der Ver¬
kehr ein sachlicher; die Frage eines Mannes uach dem Privatleben und nach
persönlichen Erfahrungen in der Vergangenheit empfindet der vielumschwnrmte
berühmte Manu leicht als Vorwitz, als Ausforschung und Aushvlung, als
Jagd nach biographischen Notizen. Mit Frauen verkehrt er aber nnr als
Privatmann, ihre Neugierde thut ihm wohl, mit ihnen spricht er leicht von
Mutter und Schwestern. Auch als alter Mann, und da umso mehr, ist man
Frauen gegenüber gern artig, schon um dem Vorwurfe der Greisenhaftigkeit
vorzubeugen, vollends wenn mau Junggeselle geblieben ist, wie Bischer, Grill-
parzer, Döllinger. Daher kommen Frauen leicht zu Mitteilungen und Be¬
obachtungen, die einem Manne unerreichbar geblieben wären. Frau von Kvbells
Erinnerungen an Döllinger dürfen darum auch als eine wertvolle Quelle zur
Kenntnis des Menschen in dem berühmte» Theologen betrachtet werden. Sie
hat das Glück gehabt, länger als zehn Jahre mit Döllinger in vertrautem
Verkehre zu stehen. Beide gingen seit 1881 an jedem Freitag Nachmittag,
anch bei schlechtem Wetter, im englischen Garten zu München spazieren, oft
auch in Gesellschaft des Gatten der Erzählerin. Auch sonst sahen sie sich öfter.
Döllinger war der gelehrten Dichtertochter, die eine Lebensbeschreibung Franz
von Kobells verfaßt hatte, gern mit seinen Kenntnissen und mit seiner
Bibliothek behilflich; man sah sich oft bei Tische entweder im eignen Hause oder
um einem dritten, gemeinsam befrenndeten Orte. So hatte Fran von Kobell
Gelegenheit, sehr viel von Döllinger zu erfahren, und dn sie ein gutes Ge¬
dächtnis zu haben scheint, so war sie imstande, sich alle Äußerungen des
außerordentlichen Mannes wörtlich zu merken und aufzuzeichnen. Sie hat es
mit großer Treue gethan, denn mau hört seinen Stil dentlich heraus, und
das verdient umso mehr Bewunderung, als Döllinger ein glänzender Plauderer
war, der sich gern mitteilte und sein erstaunliches Wissen stets bei den geringsten
Anlässen leicht und anmutig verriet; es kann nicht leicht gewesen sein, sich
alle seine geschichtlichen Erinnerungen und Beziehungen zu merken. Er springt
beim Plaudern durch die entferntesten Zeiträume, reiht an eine Anekdote von
Montesquieu eine Erinnerung um einen Papst, Erzählung und Betrachtung
durchflechten sich, und sehr oft sind es ganz neue wissenschaftliche Gesichts-
punkte, die er im heitern Plauderton eröffnet. Um nur folgen zu können, setzt
das schon eine nicht gewöhnliche Bildung voraus, wenigstens die Fähigkeit,
von der Höhe der Universalgeschichte Menschen und Ereignisse zu betrachten.
Die außerordentliche Klarheit seiner Gedanken und die natürliche Geradheit
seines Fühlens kommt allerdings dein Hörer zu gute. Daher kommt es, daß
die „Erinnerungen" der Frau von Kobell bei allem Bestreben, den Menschen
zu schildern, doch auch reich um wissenschaftlichen Anregungen sind, weil sie
eben nicht so sehr Beobachtungen an Döllinger mitteilen, als seine stets gehalt¬
vollen Äußerungen verzeichnen. Diese sind nach bestimmten Gruppen zwanglos
geordnet und sollen das Verhältnis Döllingers zu Religion, Staat, Litteratur,
Kunst und Politik beleuchten. Uns fesselt vor allem der Mensch Döllinger.
den wir hier auf Grund der Kobellschen Erinnerungen zu skizziren versuchen wollen.
Frau von Kobell und andre weisen gern ans die innere Verwandtschaft
Döllingers mit Dante hin, den er auch die ganze Zeit seines Lebens tief ver¬
ehrt und geliebt hat; als ein Denkmal dieser begeisterten Liebe bezeichnet Fran
von Kobell den schonen Text Döllingers zu den Umrissen, die Cornelius zu
Dantes Paradies gezeichnet und veröffentlicht hat, und von dem sie am Schluß
eine kleine Blumenlese mitteilt, weil er sehr selten geworden ist. Uns scheint
in dein Charakter Döllingers, so viel man auch über die Ähnlichkeit der
Schicksale reden mag. ein wesentlicher Zug Dantes zu fehlen: die Leidenschaft.
Döllinger war vou Haus aus eine beschaulich religiöse Natur. Seine Mutter,
die Gattin des berühmten Physiologen und Anatomen Döllinger an der
Würzburger Universität, war eine fromme Katholikin, die bei ihren fleißigen
Kirchenbesuchen den geliebten Sohn mitnahm. Die Poesie der katholischen
Kirche und ihres Kultes machte auf das Gemüt des empfänglichen Knaben
einen tiefen Eindruck. Er fragte viel über theologische Dinge, der strenge
Vater antwortete immer nnr ausweichend: „Das weiß ich nicht" oder „das
weiß man nicht," und da — sährt Döllinger fort — „dachte ich mir schon
als Knabe, wenn dn die Theologie erlernst, wirst dn vieles begreifen und
verstehen und der Mutter Auskunft geben können. . . . Ich erwählte also diesen
Stand, um zu ergründen, was möglich sei, und habe, wie Sokrates, den
Trost, durch Fleiß und Mühe bis an die Grenze des menschlichen Wissens
gedrungen zu sein, aber wie weit blieb ich hinter dem zurück, was ich zu er¬
reichen hoffte." Es war ihm weniger darum zu thun, Geistlicher als Theologe
zu werden; es war der Wissenstrieb, nicht der äußere Ehrgeiz, der ihn in
diese Bahn brachte. Und in der That: Fanatiker, ein leidenschaftlicher Ver¬
treter der eeelösig, militans ist Döllinger nie geworden. Einmal sagte er zum
Staatsrat vou Eisenbart: „Sie haben Recht, daß ich ehemals den Ruf hatte,
ein ultramontaucr Politiker zu sein; aber eigentlich wurde ich dazu doch mehr
von meinen Freunden geschoben, als daß ich es freiwillig ward. Zum Beispiel
sträubte ich mich geradezu, in die Kammer der Abgeordneten zu treten. Der
Minister Abel ließ jedoch keinen meiner Gegengründe gelten, ich mußte Knmmcr-
mitglicd werden und war wohl der einzige, der froh war, als König Ludwig I.
meiner Kammerthätigkeit ein Ende setzte." Daraus sieht man, daß Döllingers
richtige Gelehrtennatur ursprünglich uicht deu geringsten Trieb zur Politik in
sich spürte; er fühlte sich glücklich in der beschaulichen Forscherarbeit. Charak-
teristisch für diesen mehr geschobenen als schiebenden NichtPolitiker ist anch
das Erlebnis mit Professor von Schulte, das die Herausgeberin mitteilt.
Schulte hatte in seinem 1886 veröffentlichten Buche über den Altkatholizismus
einige Briefe veröffentlicht, die König Ludwig II. wegen der Erklärung Döl-
lingers gegen das Unfehlbarkeitsdogma an diesen gerichtet hatte. Das ver¬
anlaßte Döllinger, in der „Allgemeinen Zeitung" zu erklären, daß er an dem
Abdruck dieser Briefe gänzlich unschuldig sei. Wie war aber Schulte in den
Besitz der königlichen Briefe gekommen? Dies erzählt Döllinger so: „Justizrat
von Schulte wohnte damals bei mir, wir besprachen sehr fleißig alles, was
sich auf deu Altkatholizismus bezog, und ließen uns gegenseitig die darauf
bezüglichen Schreiben lesen. Schulte nahm des öftern die an mich gerichteten
Briefe in sein Zimmer und machte sich, ohne daß ich es wußte, Abschriften
von denselben. So auch von dem Schreiben des Königs Ludwig II. an mich.
Ich war deshalb ganz erstaunt, als ich diese Briefe abgedruckt sah, und erhielt
von Justizrat von Schulte die Erklärung, ich möchte doch seine Handlung
entschuldigen, er habe hin und her überlegt, ob er mich wegen der Bekannt¬
machung der Briefe um Erlaubnis bitten solle oder nicht, die Sache aber kurzweg
dahin entschieden, daß er, ohne zu fragen, nach Gutdünken handle, da ich ihm
doch nur seine Bitte abschlagen würde, und die Wichtigkeit der Briefe für den
Altkatholizismus seine Unbescheidenheit gänzlich entschuldige. Schulte ist etwas
rücksichtslos, aber ich halte viel auf ihn, denn er gehört jedenfalls zu den
vier bedeutendsten Theologen, die wir jetzt in Enropa besitzen u. s. w." Schulte
ist „etwas rücksichtslos": diese gütige Wendung ist echt döllingerisch. Er hat
nie in seinem Leben ein unruhiges Gewissen gehabt; die einzige schlaflose
Nacht, die er znbrnchte, war die, wo er den Entschluß faßte, sich nicht dem
Dogma der Unfehlbarkeit zu unterwerfen, nicht etwa bloß, weil es den An¬
sprüchen der Vernunft ins Gesicht schlug, sondern weil es allen Überlieferungen
der Kirche selbst widersprach. Da entschloß er sich zu seiner That. Aber sich
an die Spitze der Gegenbewegung des Altkatholizismus zu stellen, entsprach
nicht seinem Charakter, er wurde kein neuer Luther, obwohl Döllingers Ver¬
ehrer gern dieses Wort gebrauchen. Frau von Kobell berichtet die denkwürdige
Äußerung Döllingers: „Nun kaun ich ja auch sagen, daß ich damals stark
durch König Ludwig II. in Versuchung geführt wurde, dn der Monarch meinte,
ich könnte trotz der Exkommunikation fortfahren, die Messe zu lesen. Ich sagte
dem König, ich dürfe dieses seinethalben nicht thun und auch meinethalben
nicht, da eine derartige Auflehnung gegen Papst und Kirche zu traurigen und
ernsten Konflikten führen müßte." Wenn Döllinger mit seiner Autorität jener
„Versuchung" des Königs erlegen wäre, dann wären die Folgen seines Auf¬
tretens allerdings kaum übersehbar gewesen. Aber er war ein Mann, der
sich mehr zu den stillen Denkern Melanchthon und Erasmus, als zu dem
Thatmenschen Luther und dem Gewaltmenschen Calvin hingezogen fühlte.
Döllinger war der gütigste und gefälligste Mensch, den man sich denken
kann, er büßte niemand als die Jesuiten, die er durchschaute. Seltsamerweise
sagt Frau von Kobell, er. habe sie durch eine „schwarze Brille" gesehen; ver¬
mutlich hat sie sagen wollen, er habe sie durch seine scharfe Brille schwarz
gesehen. Selbst über den Münchner Erzbischof Scherr, der einst sein Schüler
war und ihn 1870 Rom gehorchend exkommnnizirte, ließ Döllinger nie ein
böses Wort fallen. Im Privatverkehr fand man ihn stets hilfbereit. Gelehrte
wandten sich an ihn und seine ebenso reiche als auserlesene Bibliothek nie
vergebens um Hilfe. Aus dem überquellenden Schatz seines Wissens streute
er wissenschaftliche Anregungen nach allen Seiten hin aus. Seine Gefälligkeit
ging so weit, daß er sogar Sammlern von Kuriositäten (z. B. Bücherzeichen)
behilflich war. Anfragen um Aufklärung von Einzelheiten, z. B. einer mystischen
Titelvignette, beantwortete er mit liebevollem Eingehen auf Kleinigkeiten.
Reichlicher Gebrauch von dieser steten Hilfsbereitschaft machte König Ludwig II.,
der ihn namentlich zur Osterzeit mit religiösen Fragen überhäufte. Döllingers
Herz war voll von wahrer Menschenliebe; er sprach sich u. a. für einen stärker»
gesetzlichen Schutz der Frauen gegen die Verführung der Männer aus. In
frühern Jahren hatte er Pensionäre im Hause, und als der eine erkrankte,
am Typhus, der für ansteckend gehalten wurde, ließ er ihn doch nicht aus
seiner Wohnung ins Spital bringen, sondern pflegte ihn selbst. seinen Dienst¬
boten gegenüber war er von unendlicher Nachsicht, sie blieben auch Jahrzehnte
lang bei ihm. Er konnte sich väterlich fürsorglich zu seinen jungen Nichten
verhalten und Ratschläge über das Benehmen junger Mädchen erteilen. Er
selbst war sehr nüchtern, er trank uicht und rauchte nicht, das Wirtshaus war
ihm ein Greuel; aber seine Gäste fanden eine reichbesetzte Tafel bei ihm, an
der zuweilen auch der Champagner nicht fehlte. Dabei war er von dem
Gleichmute der Philosophen erfüllt. Einmal wurde eine Augenoperation an
ihm vollzogen; bis unmittelbar vorher ließ er sich vorlesen, als stünde ihm
nichts bevor, und kaum war die Operation vollzogen, so wurde die Vorlesung
sortgesetzt. An seinen akademischen Vortrügen arbeitete er mit der größten
Ruhe bis zur letzten Minute vor der Vorlesung, und wenn er die Kanzel be¬
stieg, verriet nichts eine innere Erregung. Er war nichts weniger als ein
Rechthaber und gab seinen Kollegen in der Akademie leicht nach, wenn es
sich um die Wahl des Themas handelte. Seine einzige Leidenschaft (wenn
man das Wort brauchen darf) waren Bücher. Als achtzehnjähriger Jüngling
erhielt er einmal den Auftrag, eine Klvsterbibliothek zu ordnen; niemand war
glücklicher als er dabei, denn da konnte er doch einmal ordentlich wühlen in
den Schätzen der Wissenschaft. Aber auch zu deu Künsten stand er in ver¬
trauten Beziehungen. Dem Maler Peter Heß gab er deu Stoff zu seinen
Bildern in der Bonifazinskirche zu München; wenn ihm Gemälde gefielen, so
sog er sie dermaßen in sich ein, daß er sie nach Jahren aufs anschaulichste
schildern konnte. Kaulbachs Peter Arbuez, der so viel Aufsehen machte, als
der Papst diesen Inquisitor heilig sprach, wurde von seinem Aufsatz angeregt.
Ebenso innig waren Döllingers Beziehungen zur Musik; er fehlte bei keinem
Oratorienkonzert, Haydn, Mozart, Beethoven waren ihm wohlvertraut, obwohl
er selbst kein Instrument spielte. Und vollends die großen Dichtungen der
Weltlitteratur kannte er auswendig: Ödipus, Faust, Don Quixote, Ivanhoe.
Er hatte sich bis in seiue alten Tage die Begeisterungsfähigkeit für große
Menschen bewahrt, liorosliip, und tadelte sehr, daß sie unsrer Jugend fehle,
im Zeitungswesen fand er einen großen Übelstnnd und die Ursache jenes
Mangels, und er fügte hinzu: „Zum Beispiel Bismarck. Wie viel wird an
ihm bekrittelt und gerüttelt, die großen Züge seines Lebens, seine hervor¬
ragendsten Verstandesanlagen, seine ursprüngliche, echt deutsche, mächtige Natur
wird bald durch diesen, bald durch jenen angegriffen. Die Natur hat Bismarck
ans einem Guß gegossen, er ist ein Prachtwerk an Patriotismus, aber wie
viele der Presse angehörigen spritzen ätzende Säuren darauf und verstümmeln
es in armseliger, mißgünstiger Weise, stellen Fehler ins Licht und ehrfurcht¬
gebietende Fähigkeiten in Schatten. Die zeitunglcsende Jugend sieht das Zerr¬
bild, wägt auf der Wage der Journalisten das Gute und Schlechte ab und
betrügt sich selbst um die Begeisterung für einen begcisterungswerten Mann."
In seiner Jugend war Döllinger so ungelenk, daß er nicht tanzen konnte; ein
Ball war ihm eine Qual, die er bald,mied. Aber in seinem Alter pries er
die Erziehung der englischen Jngend, weil sie so viel Sorgfalt auf die Kräf¬
tigung des Körpers verwendet, wie er überhaupt die englische Nation hoch¬
schätzte. Seine Freundschaft mit Gladstone hat hierin ihre Wurzeln. Dabei
war er aber doch ein begeisterter Deutscher. Seine schneidige Haltung dem
Papsttum gegenüber hat nicht den geringsten Grund darin, daß er in den
Päpsten die Feinde Deutschlands erkannte. „Während in Frankreich trotz aller
innern Streitigkeiten das Zusammenhalten gegen einen üußeru Feind die Negel
war — sagte er einmal, als man von Bismarck sprach —, hielten die Dent-
schen je nach ihrem persönlichen Interesse zum Feinde des deutschen Vater¬
landes. Sie zersetzten die Kaiserwürde und Schmälerten in ihrem Interesse
des Kaisers Einkünfte in ganz unwürdiger Weise. Die Päpste aber setzten
sich die Aufgabe, Deutschland dadurch zu schädigen, daß sie die Kaiserwahl
statt der erblichen Kaisersueeessivn einführten. Es läßt sich fast das Jahr be¬
stimmen, in welchem das Verhängnis über Deutschland hereinbrach. Dasselbe
währte von 1097 oder 10W, wie ich mich entsinne, bis 1870."
Aus alledem wird man sehen, daß uns Frau von Kvbells Erinnerungen das
Bild eines wahrhaft verchruugswttrdigen Mannes vermitteln, eines Vorbildes
der modernen Menschheit. Der alte Döllinger ist uns so lieb und wert, wie
der alte Ranke, der von ihm nicht wenig bewundert wurde. Der alte Döl¬
linger gehört in die herrliche Galerie jener erhabenen Alten, denen die deutsche
Gegenwart ihr Gepräge zu verdanken hat. Nicht von Anfang verkörperte
Döllinger dieses Vorbild deutschen Menschentums; er wuchs vielmehr aus dem
Katholizismus in redlicher Selbstbildungsarbeit allmählich heraus, er mußte
lange ringen, um sich z. B. von deu Vorurteilen gegen den Protestantismus,
in denen er aufgewachsen war, zu befreien, um sich der Fessel der Autorität
zu entreiße», die jeden katholischen Priester in den edelsten Organen unter¬
bindet. Wie viel Arbeit hat es ihn gekostet, ehe er dahin gelangen konnte, zu
sagen: „Es hat sich erwiesen, wie nachteilig die Unterdrückung des protestan¬
tischen Geistes und der protestantischen Geistlichkeit für die gute Sache des
Christentums in Frankreich geworden ist"; wie hoch über die große Mehrzahl
der katholischen Geistlichen stellt ihn der Ausspruch: „Die Zeiten sind besser
geworden, und wir alle können Gott danken, im neunzehnten Jahrhundert leben
zu dürfen. Wenn man an die heillosen Zeiten zurückdenkt, wo ein Papst
Innocenz VIII.. ein Alexander VI., ein Paul IV. herrschten, foltern und töten
ließen, da schaudert man zurück vor den begangenen Grausamkeiten." Der
Katholizismus hat sich selbst die größte Wunde geschlagen, als er diesen seinen
erlauchtesten Vertreter aus seiner Gemeinschaft ausstieß.
Zum Schlüsse wollen wir noch Döllingers Mitteilung seiner Audienz
bei Pius IX. hierher setzen, die durch die Jahrhunderte leuchten wird, wie
Luthers Besuch in Rom, die aber ihr eignes Kolorit hat. „Wissen Sie,
was ich mir bei der Audienz beim Papst dachte? — Ich dachte: nie wieder.
Schon das Zeremoniell mißfiel mir. Ich hatte die Audienz mit Theiner.
Jeder Priester muß dreimal niederknieen: im Vorzimmer, inmitten des Nudienz-
zimmers, endlich vor dem Papste, der einem seinen Fuß in weiß und gold¬
gestickten Pantoffeln zum Kusse hinhält. Nach dieser Zeremonie erhoben wir
uns, und Pius IX. sprach mit uns in etwas alltäglicher Weise, die Welt hal'e
sich vor dem apostolischen Stuhl zu beugen, dann sei das Wohl der Mensch¬
heit gesichert, der Papst sei die höchste Obrigkeit, der alles Unterthan sein
müsse. Dann fragte er uns über dies und jenes und sprach weiter, ohne
auf die Antwort zu warten, in einem geläufigen, aber ungewählteu Französisch.
Er war ein schöner Mann und imponirte deu Frauen so sehr, daß sie vor
ihm wie vor Gott auf den Knieen lagen. Diesmal zeigte sich in seinem
Gesichtsausdrucke schon bei unserm Eintritt etwas wie spöttische Neugierde:
wie wird sich der deutsche Pedant mit uusern Zeremonien abfinden? Man
hatte das Gefühl, diefer Papst könne bei Gelegenheit ein treffendes Bonmot
machen, aber sich nicht zu einer selbständigen geistigen Denkart erheben. Und
doch sagte er oft, er wolle etwas unternehmen, was kein andrer könnte, er
wolle neue Dogmen in die Welt senden. Er hat die unbefleckte Empfängnis
und die Unfehlbarkeit ins Leben gerufen."
chon Goethe hat im „Wilhelm Meister" mit klassischer Objek¬
tivität geschildert, wie anders das Verhalten des Schauspielers
außerhalb des Theaters ist, als man nach seinem Auftreten auf
der Bühne erwarten sollte. Ein Uneingeweihter denkt natürlich,
daß, wer dnrch seinen Beruf in steter Berührung mit dem
Schönsten und Edelsten gehalten wird, was Talent und Genie der Menschheit
an geistigen Schätzen hinterlassen haben, auch im gewöhnlichen Leben stets
von einer höheren Stimmung erfüllt sei, die alles Gemeine und Unedle aus
seinem Benehmen fern hält. Aber es giebt kaum eine stärkere Enttäuschung
als die, die das Privatleben der Bühnen Mitglieder, namentlich ihr Verkehr
untereinander, dem bietet, der Beobachtungen über den veredelnden Einfluß
der Kunst an ihren Jüngern machen zu können glaubt. Nirgends ist die
Plattheit, die Trivialität, der Mangel an Verständnis für den geistigen Gehalt
der Kunst größer als. am Theater. Wie der Bühnenleiter an den Stücken, die
er zur Aufführung bringt, mir ein geschäftliches Interesse hat, so ist dein
Bühnenmitglied das Stück nur Mittel zu persönlichem Erfolge; die, die
noch etwas Verständnis und Genußfähigkeit für ein Werk als solches haben,
sind seltene Ausnahmen. Da nun aller innerer Anteil an dem Inhalte der
Kunst wegfüllt, so kann auch von einer erhebenden Wirkung keine Rede sein.
Desto einflußreicher erweisen sich die rein äußerlichen Umstünde. Das stete
Zusammenprobiren und Zusammenspielen in allen möglichen Beziehungen, von
den erhabensten, intimsten und zärtlichsten bis zu den frivolsten, erzeugt einen
Grad von Vertraulichkeit, der den Bühnenmitgliedern das Gefühl für ihre
Würde als Privntpersönlichkeiten gänzlich verloren gehen läßt; und wenn sie
sich ihrer infolge fremder Geringschätzung erinnern, so Pflegt man aus der
theatralischen Art der Reaktion zu sehen, daß anstatt des Gefühls für persön¬
liche Würde nur noch das Pathos gekränkter Eitelkeit vorhanden ist. Sich
selbst überlasse», ist das Benehmen der Bnhneumitglieder unter einander
— Ausnahmen natürlich immer abgerechnet — im allgemeinen jeder Würde
bar. Nun könnte man allenfalls denken, es gehe einen Unbeteiligten nichts an,
wie Mitglieder eines Berufes mit einander verkehren, wenn sie unter sich siud.
Aber in einer Zeit, wo sich die Gesetzgebung aller sozialen Fragen bemächtigt
und bestrebt ist. den Arbeiter sittlich zu heben, die Fra»e» und Mädchen vor
unberechtigter Ausbeutung im industriellen Leben zu schützen und dem Familien¬
leben des armen Mannes Achtung zu erweisen, kann ein gesellschaftlicher
Zustand, wie er im allgemeinen am Theater herrscht, nicht gleichgiltig sem.
Denn die gemeine Vertraulichkeit des Theaterlebeus ist nicht harmlos, sie be¬
schränkt sich nicht auf einen burschikosen Verkehr der Männer unter einander,
sondern sie trägt eine besondre Signatur, und diese heißt: die Herabwürdigung
des weiblichem Geschlechts. Diese Herabwürdigung besteht aber nicht etwa
darin, daß sich im Theaterleben zwischen den beiden Geschlechtern der günstigen
Gelegenheit halber leichter Liebesverhältnisse bilden und durch deu unerbitt-
lichen Wechsel der Engagements wider den Willen der Beteiligten auch häufiger
wieder lösen, als im gewöhnlichen Leben. So lange es sich um wirkliche
Neigung handelt, bleibt die Reinheit des Herzens gewahrt, und wenn uuter
schwierigen Verhältnissen die Besonnenheit gegen die Sophistik der Liebe acht
Stand zu halte» vermag, so ist das erklärlich und verzeihlich. Wenn
über das Weib die Möglichkeit, i» seiner Kunst zur Geltung zu kommeu. und
seiner Ehre bezahlen muß. wie es thatsächlich vielfach der Fall ist, so ist das
himmelschreiend.
Eine Künstlerin wird, namentlich wenn sie jung, schön und »»verheiratet
ist, alsbald von allen Seiten umworben. Kavaliere ans den Reihen des
Publikums schicken während der Vorstellung prachtvolle Blumeustrüuße in die
Garderobe. Der erste Pflegt ohne Namen zu sein; der Absender erkundigt sich
aber unter der Hand, ob und wie er aufgenommen worden ist, und wenn die
Ailsknnft befriedigend taillee, dann folgt bei der nächste» Gelegeicheit el» zweiter
mit einem Briefchen. In dem Briefchen stehen glühende Anerkennungen für die
wundervollen Leistungen der Dame und die Versicherung, daß es der Absender
für das größte Glück seines Lebens halten würde, wenn ihm gestattet wäre,
seine Huldigungen der Gefeierten persönlich zu Füße» zu legen. Dann folgt die
Bitte, die Dame mög eine Blume des übersandten Straußes bei der nächste»
Vorstellung anstecken, zum Zeichen, daß der Absender nicht ganz ohne Hoff¬
nung sei u. s. w.
Wenn nun auch diese Annäherungsversuche wegen ihrer geschickten Be¬
rechnung auf die Eitelkeit junger Damen etwas Verlockendes haben, so sind sie
doch die ungefährlichsten, weil man ihnen Einhalt zu thun vermag, weil» man
sie beharrlich unbeachtet läßt, und weil die Damen, die als unverdorbene Mädchen
aus dem Elternhause auf die Bühne kommen, wohl im allgemeinen nicht darauf
hineinfallen werden. Wenn aber eine junge Dame diesen Galanterien gegenüber
standhaft bleibt, so bekommt sie von Kolleginnen und Garderobieren sofort höhnische
Bemerkungen zu hören. Da heißes: „Wie kann man nur so dumm sein, so etwas
von der Hand zu weisen? Da sieht man, daß Sie noch nicht beim Theater Bescheid
wissen. Alls diese Art machen Sie sich nur Feinde. Da dürfen Sie sich frei¬
lich nicht wundern, wenn Sie keinen Applaus bekommen, denn der abgewiesene
Bewerber wird nun schon dafür sorgen, daß gezischt wird, wenn es wirklich
einem andern einfallen sollte, Ihren Leistungen zu applaudiren. Na warten
Sie nur, wenn Sie erst eine Zeit lang beim Theater sind, dann werden sich
schon klüger anfangen." Diese Anschauungen sind die geistige Atmosphäre, die
eine Knnstnovize am Theater täglich einzuatmen gezwungen ist, und wenn nun
wirklich einmal der erwartete Applaus an einer Stelle, wo er üblich zu sein
pflegt, ausbleibt, dann heißt es: „Sehen Sie, Sie sind selbst schuld dran; Sie
haben so schon gesungen, daß das Publikum unbedingt applaudirt haben würde,
wenn nur einer den Anfang gemacht hätte. Aber freilich, Sie wollen ja nicht,
daß sich jemand besonders für Sie interessirt; nun müssen Sie auch die Folge«
tragen."
Solche Satanslogik sollte uicht einem jungen, unerfahrenen Mädchen
sorgenvolle Augenblicke bereiten? Schließlich denkt sie, es sei am Ende doch
besser, weniger schroff zu sein, und dazu bietet sich ja bald Gelegenheit. Ein
andrer Herr aus der „Gesellschaft," der offenbar seiner eignen Schönheit viel
Wirkungskraft zutraut, begegnet schon seit einiger Zeit der Dame auffallend
oft auf der Straße, wenn sie zur Probe geht. Er weiß es so einzurichten,
daß sie ihn bemerken muß, er stellt sich, wenn sie abends ans der Bühne be¬
schäftigt ist, vorn ins Parkett, hält stets den Operngucker vor, wenn sie singt
oder spielt, und klatscht mit vorgestreckten Händen, sodaß er ihr auffallen
muß. Die Dame freut sich über einen solchen Verehrer ihrer Kunst, um so
mehr, da er uicht die Absicht zu haben scheint, sie persönlich zu belästigen.
Unwillkürlich sieht sie öfter nach ihm hiu, er fängt den Blick mit dem Opern¬
glas ans, dies Spiel wiederholt sich, der Verehrer klatscht immer wütender,
wenn die Dame irgend einen wirkungsvollen Abschluß gehabt hat, das Publi¬
kum folgt aus Gewohnheit und Gutmütigkeit dem Beispiel, wenn die Leistung
nur halbwegs erträglich war, und der „Erfolg" ist da. Die Dame muß sich
mehrere male verbeugen, und was ist natürlicher, als daß eine dieser Ver¬
beugungen in der Richtung uach der Stelle geschieht, wo der „Macher" des
große» Applauses steht und sich mit Händeklatschen und Bravorufen abarbeitet.
Die Dame oder sagen wir lieber noch das junge Mädchen fühlt sich beglückt
über den Erfolg, und wenn sie auch weiß, daß einer dawar, der das Signal
zu dem allgemeinen Beifall gegeben hat, so schreibt sie doch die Begeisterung
dieses Herrn auf Konto ihrer guten Leistung, denn der Herr wünscht ja offen¬
bar persönlich nichts von ihr. Vergnügt schreibt sie an Eltern, Verwandte
und Bekannte, welches Furore sie macht, und träumt sich schon als Prima¬
donna irgend eines großen Hoftheaters. Da erhält sie eines schönen Morgens
ein duftiges Brieflein etwa folgenden Inhalts: „Hochgeehrtes gnädiges Fräulein!
Befürchten Sie nicht, daß ich etwa beabsichtige, Sie persönlich zu belästigen.
Dafür stehen Sie mir viel zu hoch. Aber es kann Ihnen unmöglich entgangen
sein, welchen tiefen, uiiauslöschlicheu Eindruck Ihre unvergleichlichen Leistungen
uns mich gemacht haben. Traf mich doch neulich einer Ihrer Feuerblicke, als
ich, uufühig, meiner Begeisterung Schranken aufzuerlegen, meinen Beifall bei¬
nahe in unbescheidner Weise äußerte und mich Ihnen dadurch auffällig machte.
Sie nehmen nicht, was Sie mit diesem Blicke in meinem Innern angerichtet
haben. Aber fürchten Sie keine Zudringlichkeit. Ich habe nur eine.: Wunsch,
dessen Erfüllung für Sie unbedenklich, für mich der Gipfel des Glücks sein
würde: ich mochte ein Bild von Ihnen besitzen, und zwar nicht nnr eins, wie
es in der Buchhandlung oder beim Photographen käuflich ist, sondern eines,
das ich gewissermaßen als Andenken von Ihnen verehren kann. Machen Sie
mich glücklich dadurch, daß Sie auf ein Exemplar Ihrer Photographie die
Worte schreiben: »Zum Andenken« und darunter Ihren Namen, und zürnen
Sie mir nicht, daß ich mich bereits in den Besitz einer solchen Photographie
gesetzt habe, die ich mir erlaube» werde. Ihnen zu gedachtem Zweck zu über¬
senden, wenn Sie nicht etwa meine Bitte abschlagen. In größter Verehrung
Ihr ergebenster N. N." . ,
^Die Dame empfindet beim Lesen dieses Briefes zwar eme gewisse Baug.g-
keit, aber doch auch etwas wie Genugthuung; ihre Zweifel bekämpft sie da.me
daß sie sich an die wiederholte Versicherung anklammert, der Absender ve^
Briefes beabsichtige keine persönliche Annäherung. Des audern Tages bring
der Postbote die Photographie. Die Dame, die sich einen sichern Verehrer Nicht
verscherzen will, schreibt die erbetenen Worte und ihren Namen darauf und
schickt sie daun dem Absender zurück. Einige Stunden später klopft es plötzlich
an ihrer Zimmerthüre. sie ruft arglos „Herein!" "ber >°er be ehre-de ehr^n
Schrecken, als die Thüre aufgeht, und der Verehrer aus dem Parkett w ha
ihr steht! Purpurrot vor Verlegenheit tritt sie einen Schritt zurück, a r
schon im nächsten Angenblick hat der Eindringling ihre Hand ergriffen und
druckt einen ehrerbietigen Kuß darauf. Dann beginnt er etwa folgendermaßen :
"Verzeihe.. Sie. gnädiges Fräulein. daß ich scheinbar gegen mem Versprech
Sie dennoch mit meiner persönlichen Gegenwart belästige, allein es M nnr aus
einen Augenblick; ich konnte dem Drange nicht widerstehen. Ihnen Person ucy
für die liebenswürdige Erfüllung meines Wunsches zu danken. Sie habe»
""es unaussprechlich glücklich gemacht, und nun leben Sie wohl! Sie zurmn
"Ur doch hoffentlich uicht?" Ein verlegenes „O bitte!" des noch unverdorbenen
Mädchens veranlaßt den Besucher zu erneuter Danksagungen, unt denen er
sein längeres Verweilen bemäntelt, und im Handumdrehen hat er die Unter¬
haltung in ein so unverfängliches Geleise gebracht, daß das Mädchen nach
""d nach seine Fassung wieder gewinnt und dem Besucher im Stillen Mone
leistet, die Beweggründe seines Besuches einen Augenblick beargwöhnt zu daven.
Beim Abschied fragt der Beglückte uatttrlich. ob er sich wohl erlaube., dürfe.
gelegentlich seinen Besuch zu wiederholen, um sich nach dein Befinden des
„gnädigen Fräuleins" zu erkundigen. Die junge Dame sagt ebenso natürlich,
daß sie keine fremden Herrn zum Besuch empfangen dürfe, worauf sich der
Verehrer entfernt, nicht ohne vorher noch einmal um Entschuldigung für die
Freiheit seines Besuches gebeten zu haben. Das Mädchen glaubt nnn, die
Sache sei abgethan, und freut sich, einen so sichern und allem Anscheine nach
anständigen Verehrer ihrer Kunst nicht vor den Kopf gestoßen zu haben. Der
„anständige" Verehrer aber hat alles, was er braucht, nur dem armen Mädchen
nun eine Schlinge nach der andern um den Hals werfen zu können. Er hat
einen Briefumschlag, ans dem von der Hand der Dame seine Adresse geschrieben
steht; er besitzt die Photographie, auf die die Dame eigenhändig die Worte
„Zum fr. Andenken" und ihren Namen geschrieben hat; er ist persönlich von
ihr in ihrem Zimmer empfangen und freundlich entlassen worden — was
branches noch mehr? Das nächste ist ein Strauß mit beigelegter Visitenkarte.
Selbstverständlich sendet die Dame ihre eigne Visitenkarte als Zeichen des
Dankes zurück. Daun kommt eine Begegnung auf der Straße. Der Knnst-
schwärmer tritt respektvoll heran und fragt, in welcher Richtung die Dame
gehe, und bittet um die Erlaubnis, sie einige Schritte begleiten zu dürfen.
Aus deu paar Schritte» wird ein Spaziergang von eiuer halben Stunde, und
diese halbe Stunde wird weidlich ausgenutzt, durch Komplimente aller Art
dem ausersehenen Opfer den Kopf zu verdrehen. Ein solcher Spaziergang
bleibt aber nicht unbemerkt. Beiderseitige Bekannte begegnen dein Paar, und
des Abends wird die Dame in der Garderobe und der Herr nach der Vor¬
stellung beim Glase Wein oder Bier, jedes von seinen Bekannten zu der „Er¬
oberung" beglückwünscht, die es an dein andern gemacht hat. Das Mädchen
bestreitet natürlich jedes Vorhandensein einer nähern Beziehung, aber der flotte
„Kavalier" läßt seine Bekannten nicht ungern merken, daß ihm ein kleines
Techtelmechtel mit der niedlichen „Krabbe" für eine Saison einen ganz an¬
genehmen Zeitvertreib gewähren würde. „Die Kleine ist wirklich allerliebst
und noch so naiv, sie ist köstlich; habe lange kein so nettes Mädel gesehen,
habe einstweilen Beschlag drauf gelegt, daß mir kein andrer zuvorkommt.
Gefahr ist keine dabei, denn sie hat mir selbst erzählt, daß sie für nächste
Saison bereits an ein andres Theater eine» Vertrag abgeschlossen hat, also
wenn das Theater hier zu Ende ist, geht sie wieder weg, und da hat mau
doch keine Last davon." So ungefähr ist der Standpunkt der beiden Parteien,
und nun mag sich der Leser selber ausmalen, wie die Geschichte weitergeht.
Aber es find nicht allein die „Kavaliere" aus dem Publikum, die deu
Schönen vom Theater nachstellen. Es thun das auch die Kollegen, und
diese habe:? leichteres Spiel. Zunächst schlagen sie meist einen Ton gemeiner
Vertraulichkeit an, namentlich gegen Neuaukommeude. Ist erst die persönliche
Bekanntschaft gemacht, so pflegen die ältern Kollegen, d. h. die Herren, als-
bald die jungen Mädchen mit „du" anzureden, und wenn diese, namentlich
die aus anständiger Familie, dies auch anfangs peinlich empfinden, so haben
sie doch nicht den Mut, sichs zu verbitten. Die älter» Kollegen Hütten auch
kein Verständnis dafür. Verbittet sich ein Mädchen das „du," so wird sie
einfach ausgelacht, man kneift sie in die Wange und faßt sie um deu Leib,
sie wehrt sich, es entsteht eine kleine Balgerei, der Stärkere hält die Schwächere
fest, die Wehrlose wird still und weint, der „Kollege" läßt los und beschwichtigt,
um bei der nächsten Gelegenheit mit den Worten „Bist dn mir noch immer
böse?" das Spiel von vorn anzufangen. Das thut nicht einer, auch nicht
alle, denn es giebt, wie gesagt, auch am Theater ehrenvolle Ausnahmen von
Männern, aber es thnns mehrere, und dem steten Wiederholen dieser Zu¬
dringlichkeit gegenüber erlahmt mich und nach der Widerstand des Mädchens.
Es danert nicht lange, so wehrt sie sich nicht mehr, sondern läßt sich dann
mit „du" anrede», läßt sich ohne Widerstand von jedem betasten, auf die
Schulter klopfen, die Wange streicheln, bei der Hand nehmen und mit dreisten
Redensarten unterhalten. Die Unterhaltungen bewegen sich meist auf dem
Gebiete von Zweideutigkeiten, ja es dreht sich einem manchmal das Herz im
Leibe herum, wenn man sehen muß, wie schöne, talentvolle junge Damen, die
durch Darstellung einer Julia oder eiues Gretchens den Zuhörer in poetische
Ekstase versetzen, soweit heruntergekommen sind, daß sie im Verkehr mit den
Herren „Kollegen" die nichtswttrdigsten Zweideutigkeiten ohne Scham belachen.
Wie diese Art von Verkehr auf Frauen und Mädchen einwirken muß, wie sie
das Gemütsleben vergiftet, wie sie durch Untergrabung aller edlern Empfin¬
dungen die Fähigkeit eines künftigen, reinern Glücks unwiderbringlich vernichtet,
das läßt sich leichter denken als beschreiben.
Aber selbst auf die künstlerische Thätigkeit wirkt die Auflösung aller guten
Sitten im Verkehr zwischen den beiden Geschlechtern nachteilig ein. Denn was
im Leben gute Sitte ist. ist es auch auf der Bühne, und wie es im Leben
unschicklich ist, sich beim Reden fortwährend gegenseitig anzufassen, seis an der
Hand oder am Arm oder auch bloß am Rock, so ist es das auch auf der Bühne,
mit Ausnahme der Fülle, wo das Stück eine Vernachlässigung des Anstandes
geradezu erfordert, wobei eben ein andrer Gesichtspunkt in seine Rechte tritt.
Man betrachte nur die beliebigen Vorstellungen, namentlich Opernvorstelluugen,
wie alsbald bei Zwiegesprächen der Sänger die Sängerin anzufassen sucht,
entweder an der 5>and. oder um den Leib, gleichviel, ob es durch deu Inhalt
des Gesprächs erfordert wird oder nicht. Da bewegen sich denn die beiden um
einander herum, sich stets betastend und sich die Hände reichend, in der Mei¬
nung, so erfordere es ein gutes Spiel. Ein Beispiel für alle. Ich sah einmal
auf der Krollschen Bühne in Berlin die Oper „Die beiden Schutze» von
Lortzing. Einer der beiden Schütze» trifft mit seiner ihm zugedachten ^an
öusamme». die ihn aber »och »icht kennt. Er giebt sich, um unerkannt prnM
zu können, für den Freund ihres Bräutigams aus. Dann macht er der Braut
seines Freundes tüchtig den Hof und bittet sich im Verlauf des Gespräches
erst die Hand des Mädchens aus, um sie drücken zu können, und später ver¬
langt er sogar als „Freund" des Bräutigams einen Kuß. Da das Mädchen,
wie fast alle Lvrtzingschcn Soubretten, weiter nichts ist als eine etwas ideali-
sirte Schenkmamsell gewöhnlichen Schlages, so erreicht er beides, allein der
Sinn der Szene ist doch der, daß Hand und Kuß erst nach längerem Bitten
bewilligt werden. Was that aber der wackere Schütze? Noch ehe sich das
Gespräch überhaupt auf Hand- und Knßgeben wandte, tappte er bereits an
allen Siebensachen seiner Partnerin herum, faßte sie bei der Hand und legte
den Arm um ihren Leib. Endlich fing er denn auch an, um die Hand zu
bitten, die er — schon längst hatte. Und diesen Unsinn nennt man am Theater
„Spiel," womöglich gutes oder feines Spiel.
Andre gehen so weit, daß sie während der Vorstellung in den
Situationen leidenschaftlicher Umarmung die Partnerin wirklich (statt nur
scheinbar) küssen, daß sie sie wirklich fest an sich drücken und ihr in der in¬
timsten körperlichen Nähe Worte und Vorschläge ins Ohr flüstern, die man
uicht wiedergeben kaun. Uns ist ein Fall derart bekannt, über den die be¬
leidigte Dame bei ihrem Direktor Klage erhob. Sie erhielt auch Schutz. Der
beschämte Partner ließ aber dann keine Gelegenheit vorübergehen, die Dame
wegen ihres gänzlich „kalten" Spiels bei Agenten und Kritikern herabzusetzen,
und bei jeglicher Art von Tadel, auch dein verleumderischen, bleibt immer
etwas hängen, was bei Gelegenheit zum Schaden gereicht.
Bis zu einem gewissen Grade ist das An- und Abstoßen auf diesem Ge¬
biete des Theaterlebens ein planloses, ein dem Impuls und der Gewohnheit
entspringendes mehr oder minder offenes Spiel von Trieben, die der Kontrolle
dnrch die strengere Sitte des bürgerlichen Lebens entzogen sind. So war es
vermutlich schon zu Goethes Zeit, und es fragt sich, ob es überhaupt viel
anders sein kann. In neuerer Zeit aber hat sich die Spekulation auch ans
dieses Gebiet geworfen und aus der Korruption System gemacht. Und dn
sind es namentlich unsre liebenswürdigen „israelitischen Mitbürger," die Träger
des modernen Humanitätsgedankens, die mit gewohntem Raffinement geschäfts¬
mäßig betreiben, was andre ohne Raffinement und meist ohne Bewußtsein
eines Unrechts am weiblichen Geschlechte zu sündigen Pflegen. Eine ganze
Anzahl von Theateragenten und Theaterdirektoren sind bekanntlich Juden.
Ohne Agenten kommt ein Mitglied am Theater aber nicht vorwärts. Es giebt
nun unter den jüdischen Agenten und Direktoren solche, von denen jeder, der
mit den Theaterverhältnisfen vertraut ist, weiß, daß sie keiner Dame, wenigstens
keiner schönen Dame, zu einem Engagement verhelfen oder eines mit ihr ab¬
schließen, ehe die Dame nicht Bürgschaft für ihre unbegrenzte Gefälligkeit ge¬
geben hat. In einer deutschen Hauptstadt lebt ein sogar Hvftheatern nahe-
stehender jüdischer Agent, dem man die cynische Äußerung in deu Mund legt:
„Für ein schönes Mädchen geht der Weg zu einem Engagement nur durch
mein Schlafzimmer." Ein andrer, sehr bekannter jüdischer Direktor brüstete
sich damit, daß niemals eine junge Künstlerin an seiner Bühne als „Gretchen"
habe nnstreten dürfen, bei der er nicht vorher den „Faust" gespielt habe. Ge¬
wisse Bühnen sind bei alleu Künstlerinnen, denen ein gütiges Geschick gestattet
hat, ihre Ehre zu bewahren, geradezu in Verruf. Und um denke man sich
die Lage junger Mädchen, die vielleicht im ersten Jahre ihrer Theaterlaufbahn
an einer kleinen Bühne Beweise von Talent gegeben haben und um weiter
streben nach größeren Theatern! Was steht ihnen bevor? Sie sind dem neuen
Direktor als schön und talentvoll angepriesen worden, und der neue Direktor
>se vielleicht eiuer von denen, die uicht nur das Talent, sondern auch die
Schönheit seiner Theatermitglieder geschäftlich verwerten wollen. Das kann
auf zweierlei Weise geschehe«. Zunächst hat es der Direktor ganz in der Hand,
seine Mitglieder zu beschäftigen, wie er will. Gefällt ihm seine neue schöne
Schauspielerin persönlich, so kann er es ihr leicht nahelegen, daß sie nach Be¬
lieben ihre schönsten Rollen spielen kann, so viel, als sie will, wenn sie sich
seinen Gelüsten gefügig zeigt. Thut sie das nicht, so läßt er sie einfach wenig
oder in kleineren Rollen auftreten oder kündigt ihr wohl auch den Vertrag
nach Ablauf eines Monates. Die Laufbahn der Künstlerin ist dann sehr in
Frage gestellt. Oder aber, er hat für seine Person kein besondres Wohlgefallen
an der Dame, ist aber durchaus uicht damit einverstanden, daß sie überhaupt
unzugänglich sein will. Reiche Liebhaber aus dem Publikum sind für deu
Direktor' nämlich auch ein willkommener Anhang. Diese sorgen dafür, daß ihre
Lieblingskünstlerinnen Sträuße geworfen bekommen, kaufen oft eine ganze An¬
zahl Billets und verschenken sie an gewöhnliche Leute, unter der Bedingung,
daß sie tüchtig klatschen, und suchen nebenbei Einfluß auf die Kritik zu ge¬
winnen, damit die Vorstellungen im allgemeinen und die Lieblingsmitglieder
insbesondre tüchtig gelobt werden. Wie paßt nun in diese Geschaftsraisvn eine
inständige Dame, die auf ihre persönliche Ehre hält? Was bleibt ihr andres
übrig, als ihre Ehre preiszugeben, wenn sie nicht auf ihre Küustlerlaufbahu
verzichten will oder so bemittelt ist, daß sie den Spieß umkehren kann? Aber
ist es nicht ein schmählicher Gedanke, daß eine Dame, die das Publikum als
keusche Ophelia zu Thränen rührt, vielleicht nach der Vorstellung mit dem Herrn
Kommissivnsrat Jtzig oder dem Herrn Direktor Cohn unter vier Angen bei
Champagner und Austern soupiren wird? Man darf natürlich für solche Be¬
hauptungen keine Namen nennen, allein die Sache verhält sich so. Fast jede
Künstlerin muß auf ihrer Laufbahn über eine Stelle, wo ein Jude, sei es alö
Agent oder als Direktor oder als Kritiker, seinen Schlagbaum ausgeruhter lM.
ohne Zoll nicht zu passiren ist. und der Jude als Geschäftsman., reine.'-
Wegs alle Juden, uuter denen es bekanntlich ebenso reine und ehrenhafte ^ya-
raktere giebt, wie unter den Deutschen —, ich sage ausdrücklich, der Jude als
Geschäftsmann keimt keine Rücksicht, am allerwenigsten Rücksicht auf die Ehre
deutscher Frauen und Mädchen und opfert sie mit der kältesten Grausamkeit
seinen persönlichen Gelüsten und seinen Geldinteressen. Wer das bezweifelt,
der studire die Verhältnisse des Theaterlebens, und er wird mit Schaudern inne
werden, welche Menschenopfer da dem jüdischen Schachergeiste und der jüdischen
Begehrlichkeit fallen. Auch der oben geschilderte gesellschaftlich verwahrloste
Ton im Verkehr der Buhnenmitglieder untereinander hat in neuerer Zeit das
Gepräge des jüdischen Cynismus angenommen, der sich von der einfachen Ner-
dorbenheit, die wohl auch in frühern Zeiten dem fahrenden Völkchen der Thespis-
jünger nachgesagt wurde, wesentlich unterscheidet; er steht einige Grade tiefer.
Man braucht nur mit anzusehen, wie solch ein reisender jüdischer Agent, wenn
er ans der Suche nach Mitglieder» die Theater bereist, auftritt, mit welcher
Unverschämtheit und faunischem Vertraulichkeit er die Damen anredet, denen
er vorspiegelt, ein Engagement verschaffen zu wollen. Geht eine Dame nur
halbwegs auf den Ton ein, so muß sie gewärtig sein, sofort ein Loblied auf
ihre Reize zu hören und eine Einladung zu „gemütlichen Beisammensein" ans
den Abend zu erhalten, damit man sich etwas näher kennen lerne. „Besuchen
Sie mich doch heut Abend in meinem Hotel, daß wir einmal mit einander un¬
gestört reden können, man kaun uicht wissen, wozu das gut ist; ich werde morgen
Ihrem künftigen Direktor von Ihnen berichten." So ungefähr spricht solch ein
Mensch, klopft der Dame freundlich auf die Schulter, streichelt oder küßt ihr die
Hand und verbeugt sich dann mit bedeutungsvollen Blicken zum vorläufige»
Abschied. Wir haben mit angehört, wie eine geängstete Dame in einem solchen
Falle fragte: „Was soll ich nur thun? ich kann doch nicht zu dem Menschen
hingehen, und wenn ich nicht hingehe, verdirbt er mir das Engagement." Die
Dame ging nicht hin, und das durch den betreffenden Agenten bereits ab¬
geschlossene Engagement wurde später von dem Direktor wieder gelöst, und die
Annahme liegt nahe, daß der Agent, unwillig über die „Undankbarkeit" der
Dame, dein Direktor geschrieben hat: „Ich habe die Dame, die ich Ihnen
seinerzeit empfahl, nun selbst gehört; sie paßt nicht für Sie, ich rate Ihnen,
den Vertrag rückgängig zu machen."
Es ist in neuerer Zeit viel geschehen, um die materielle Lage der Bühuen-
mitglieder zu verbessern, namentlich sind die Verdienste der Genossenschaft auf
diesem Gebiete nicht hoch genug anzuschlagen. Aber man sollte denken, es
müsse sich ein allgemeiner Sturm der Entrüstung erheben, wenn man sich
vergegenwärtigt, wie die Würde des Weibes mit Füßen getreten wird in
einem Stande, dessen Berufsthätigkeit zum großen Teile darin besteht, alles,
was Dichter und Komponisten in glühenden Farben poetischer Verherrlichung
über das Weib gedichtet und gesungen habe», der Menschheit vorzuführen.
Die Erniedrigu»g des Weibes an der Bühne ist ein Schandfleck unsrer sozialen
Verhältnisse, denn es wird Handel und Schacher mit ihnen getrieben, ent¬
ehrender als der Sklavenhandel in Afrika. Wäre da nicht anch Abhilfe nötig?
Daß einzelne Weiber ihre Person freiwillig für ihre Liebe oder ihren Vorteil
in die Schanze schlagen, wird sich nicht verhindern lassen, auch giebt es unter
den freien Liebesverhältnissen am Theater solche von rührender Treue und
unerschütterlicher Dauer; aber der raffinirten Ausbeutung der Unschuld und
Hilflosigkeit sollte wenigstens vorgebeugt werden. Das erste und notwendigste
Mittel zur Besserung wäre, daß kein deutsches und christliches Vühnenmitglied
bei einem jüdischen Direktor oder durch einen jüdischen Agenten ein Engagement
abschlösse. Das wäre gar nicht, schwer zu bewerkstelligen, und es brauchte
niemand ein Wort darüber zu verlieren. Auch giebt es bereits Mitglieder,
die nach diesem Grundsatze handeln. Sodann sollten sich die Männer, wenigstens
die deutschen und christlichen Männer, darauf besinnen, daß es ihnen besser
stünde, das Weib in Ehren zu halten, statt es herabzuziehen. Sie sollten es
nicht zum Ohrenzeugen der Zweideutigkeit machen und nicht durch Verleugnung
aller Scham in der öffentlichen Unterhaltung den Schimmer der Weiblichkeit
verwischen, deren letzte Strahlen selbst das Weib noch manchmal verklären,
das aus freien Stücken auf seine gesellschaftliche Unbescholtenheit verzichtet hat.
Endlich ist allen Mädchen, die sich der Theaterlaufbahn widmen wolle»,
anzuraten, daß sie sich auf die Wahl vorbereiten, entweder ihre Ehre und
Würde opfern oder das Theater wieder verlassen zu müssen. Die Dame,
die eignes Vermögen besitzt oder vielleicht bald Gelegenheit erhält, dnrch
eine Heirat, und sei es eine solche am Theater selbst, den Gefahren der Er¬
niedrigung zu entgehen, mag es versuchen. Leistet sie Hervorragendes, so
hat sie bald gewonnenes Spiel und braucht niemand an sich herankommen
zu lassen. Aber wehe der, die Bedingungen annehmen muß, statt sie stellen
zu können!
ein, sie kriegen nich ümmer ihren Willen," fuhr Mahlmann fort.
„Mein Baron, der wollte parens noch länger in Pries bleiben,
obgleich schon viele von seine vornehmen Bekanntschaften mit
abgeslagenem Kopf in der Kalkgrube lagen. Er hatte keine
Lust, fortzugehen, und saß stundenlang bei Mamsell Manon im
Laden und sagte, was ein echter Däne wäre, der hätte keine Angst vor die
Franzosen, die thäten ihm ganz gewiß nix! Mnnchmal aber kommt allens
anders, als man denkt, und eines Abends wird mein Baron mich von so'n
paar lange Soldaten weggeholt. Das war nur delischen ungemütlich, kann
ich man bloß sagen: der Herr war wohl mnnnichmal mit die Peitsche ans
mir losgefahren, und so furchtbar viel machte ich mich nich ans ihn. Abersten
wenn man so ganz allein in so'n verdrehte Stadt is, wo kein Christenmensch
is, der ein Mund voll Snack verstehen kann, denn kriegt man doch das Grasen.
Und als am andern Morgen Mamsell Manon ankam und ans mir einredete
und furchtbar weinte und mich die Backen streichelte, konnte ich ihr günz gut
verstehen, obgleich die alte fransche Sprache einen ziemlichen Swabbelkram is.
Die Mamsell meinte, ein Käsäng (Cousin) von sie, der hätte den Baron ins
Prisong gekriegt, weil daß er schalln war. Was sie sonst noch sagte, weiß
ich nich mehr; abers was sie wollte, das konnte ich bald begreifen, und
die Haare fingen an, mich zu Berge zu stehen. Denn sie wollte meinen Kvnfir-
matschonsanzng geliehen haben, den ich erst dreimal angehabt hatte, einmal
bei die Kvnfirmatschon, dann helf heilige Abendmahl und dann, als ich mich
beim Herrn Baron meldete. Nun lag er in meinen Koffer, weil ich immer 'nen
bunten Rock trug, und nachher, als die Franschen keine Livreen mehr leiden
mochten, da gab der Baron mich einen alten grauen Anzug. Als die Mamsell
ümmerlos meinen besten Rock haben wollte, sagte ich natürlicherweise mort,
uonlc und schüttkoppte dabei, daß mich die Gedanken ordentlich vor die
Angers funkelten; Manon aber streichelte mir ümmer weiter, und sie kriegte
wahrhaftigen Gott ihren irdischen Willen, wie die Weihers das ümmer
thun. Mit einemmale hatte ich meinen Koffer offen geflossen, und sie
lief mit den Konfirmatschonsrvck fort und mit alles andre. Ich kuckte ihr
noch ganz verbaast nach, da kam sie all wieder und wie'n Mannsbild
angezogen!"
Mahlmann schwieg einen Augenblick und wickelte sich fröstelnd in seinen
roten Rock. „Liebe Zeit, was das jetzt ümmer so kalt is, früher wars in
Julimonat doch noch ümmer ein büschen warm. Aber allens wird anders, als
man denkt. Die kleine Mamsell halt^ mich auch himmelhvchens versprochen,
ich sollt mein gutes Zeug wieder haben. Ja woll — Pröhle die Mahlzeit!
Aber was wahr is, muß wahr bleiben: reinemang niedlich hat sie ausgesehen
in das gute schwarze Zeug, und nun habe ich auch verstanden, warum sie
vom Bnron keine Klecdcische angezogen hat, und auch nicht von dem Krämer,
was ihren leiblichen Vater war. Der ist kurz und dick, und der Baron is
groß nud breit gewesen: in son Kram hätt die Kleine man slecht ausgesehen.
Nun konnte jedermann glauben, daß sie einen richtigen Jungen war. Und
wie ein paar Jungens siud wir hingelaufen nach einem von die vielen Ge¬
fängnisse, wo die Aristokraten in Prisong saßen, ich mit'n Korb und sie init'n
Korb, da is Brot und Briefpapier ein gewesen, und das haben wir an eine
Iran von die Wärters gebracht, die damit Handel getrieben und viel Geld
verdient hat, Deal was die Aristvkrateus Ware», die habe» iimmerlvs Briefe
schreibe» wolle», woraus man recht sehen kann, was das für Faullenzers ge¬
wesen. Den» was ein ehrliche» Man» sei» will, der hat doch ein Mund
zum Snacken und braucht doch »ich Klexe a»fs Papier zu machen, bloß »in
die Zeit tvtzuslageu. Zwei oder drei mal sind wir bei einen: vo» die große»
Prisvngs gewesen; ich bin draußen geblieben, weil daß ich ein büschen bange
war, Mamsell Manon is aber hineingegangen und hat mit die Wärters ge¬
sprochen. Was sie sonst »och gemacht hat, weiß ich nich; ich hab da draußen
gestanden und an mein Konsirmatschvusanzug gedacht, mit dein die kleine
Mamsell gar nich schvnsam umgegangen is. Drei Tage hat sie ihn schon ge¬
habt und hat ihn mit nach Haus genommen, und ich hab gar nich gewußt,
wo er war, wenn sie im Laden stand und ihre gewöhnlichen Kleider anhatte.
Denn es mußte ümmer dunkel sei», wen» wir znsamme» ausgingen, so in
Schummern; denn kam sie bei mich a», und denn ging die Tour los.
Und was wahr is, muß wahr bleibe»: wenn sie gekommen is, hat sie mich
immer was mitgebracht, einen Stück Wem und ein Stück Kuchen oder
sowas. Und am Abend von den vierten Tag, als ich wieder auf sie warte
und vor die Thür von das große Gefängnis stehe, da faßt mich einer an die
Schulter und sagt auf deutsch: »Vorwärts!« Da war es mein Varon, der
mit einemmale vor mich stand und delischen in Eile war, fortzukommen.
»Franz! — sagt er zu mich — komm Snell, oder ich bin verloren!«
»Wo is aber die lütte Mamsell? — frag ich — und wo is mein
Konfirmatschonsanzug?« Da kriegt er mir beim Arm und steift mir
durch die Straßen, daß mir Luft und Atem vergeht. »Sie wird kommen!
— sagt er so vor sich hin — morgen schon wird der Irrtum aufgeklärt
werden, wenn ich aus der Stadt bin. Ihr Vater wird sie schon befreien.«
Aber obgleich der Baron mich noch ümmer so vor sich hin geschoben hat,
bin ich doch stehen geblieben. »Herr Baron — hab ich gesagt —, die klein
Mamsell hat mein besten swarzen Anzug an, und die Hosen sind noch aus
den Herrn Pastor seine gemacht, und das sag ich Sie, wenn ich mein Anzug
nich kriege, worin ich bin verkvnfermirt worden, dann gehe ich zu deu Herrn
von die Kvppabslaggesellschaft und verklage Sie, daß Sie aus das Kaschvtt
gebrochen sind, was doch gewiß nich sein soll. Deun von Rechtswegen
sollen alle Aristokratens zu die Gardine oder wie das Ding heißt, hin,
weil doch Egalität und Freiheit sein muß, und weil wir armen Kerls uns
nich veramüsiren könne», wenn die hohen Herrn uns all das büschen Plnsir
vorwegnehmen!« Da hat aber mein Baron Augen gemacht, wie ich ihm
das gesagt hab! War gerade so, als hätte er mir am liebsten totgestochen.
Aber das ging nun doch nich, und er gab mich gute Worte. Liebe Zeit,
was hat der Manu mich da allens versprochen! Einen Beutel voll Spezies¬
thaler und alle Jahre ein Swein und alle Jahre ein swarzeu Anzug,
wenn ich bloß ruhig mit ihm nach Haus gehe» wollte. Und ein Ring
mit ein roten Stein hat er mich ans die Stelle an den Finger gesteckt, weil
der mich ümmer so in die Augen gestochen hatte, und so bin ich denu mit
ihm still weggegangen und in seine Wohnung, wozu ich ein Slüssel hatte. Da
hat mein Varon in die Dachkammer geslafen, wo ich sonst loschirte, und ich
hab mir nnfn Sofa in sein beste Stube hinlegen müssen, daß es so aussah,
als wenn ich den großen Herrn spielen wollte. Der Baron is zweimal in ein
blauen Kittel mit'n Mütze auf'u Kopf ausgegangen, das heißt den andern Tag,
und am zweiten Morgen sind wir beide zu Fuß aus die Stadt gewandert,
und wir hatten Kleider an, die ich nich gern mit ein Feuerzange hätte an¬
fassen mögen!"
Mahlmann schwieg und rieb sein linkes Knie. „Was ich doch ümmer
füm Reißmichtismns hab! Und in Julimvnat! Aber das kommt davon, wenn
mau ein büschen in die Jahreus kommt. Neunzig sind es ja woll; was aber
mein Großvater sein Tante war, die is weit in die Hunderte gekommen und
is bloß gestorben, weil sie bein Sweineslachten zu viel gegessen hat!"
Er seufzte und nickte dabei. „Einmal müssen wir alle in die Erde; aber
komisch is es doch, daß es so verschieden is. Das Sterben nämlich. Nu
bin ich alt, und damals, als ich so am frühen Morgen durch Pries lief mit
'uem Lumpensack aufn Rücken und mein Baron gerade so aufgetakelt, so dachte ich
zu allererst in mein Leben an den Tod, was doch eigentlich kein Gedanken
füm halben Jungen is. Das kam auch man bloß davon, daß uns die Karrens
vorbeifuhren, wo die Aristvkratens einsaßen, denen der Kopp abgeslagen werden
sollte. Ich hatte die alten Karrens schon oft fahren sehen und mich natürliche-
weise gnrnix dabei gedacht, weil es ja gut war, daß die seinen Moschus und
Madams aus die Welt kamen; aber diesmal verfiehrte ich mir doch, weil die
lütte Mamsell mit auf eiuen von die alten stößigen Wagens saß. Und was
das vollste war, sie hatte meinen Konfirmatschonscmzug noch an und sah aus
wie ein kleinen ündlicher Jungen. Und sie hatte die Hände gefaltet und sah
aus, als wenn sie zum heiligen Abendmahl wollte. Da waren wenig Men¬
schen in die Straße, weil es so früh am Morgen war, und ich wollte gerade
den Mund aufthun und schreien, daß die Mamsell meinen swarzen Anzug noch
anhatte, und daß sie mich den wiedergeben sollte, da legt mein Baron mich
die Hand auf den Mund, daß ich beinah sticken muß. Gottsdvnnerwetter,
was hat er mir gedrückt; aber man bloß ein kleinen Augenblick; dann hat er
mit einemmale alle Kraft verloren und hat stockstill gestanden und angefangen
zu zittern. Und das is davon gekommen, weil er die kleine Manon angesehen
hat und sie ihn. Da is so'n Lächeln über ihr Gesicht gegangen, und sie hat
den Kopf ein büschen vornüber geneigt, und dann is der Karren rasch weiter
gefahren. Mein Herr aber hat woll 'ne Viertelstunde auf einem Fleck ge¬
standen, und die dicken Thränen sind ihm über die Backen gelaufen. »Ein
grauenhafter Irrtum!« hat er gemurmelt. »Sie sagte mir doch, daß sie nicht
in Gefahr sei, daß ihr Vater sie am nächsten Tage befreien werde. Er muß
sie nicht gefunden haben! Himmlischer Vater, hast du kein Erbarmen gehabt
mit ihrer Jugend und Schönheit?« Der Baron hat noch allerhand mehr ge¬
sprochen, und weil er gar nich weiter gegangen is, bin ich ungeduldig geworden.
»Herr Baron — sagt ich die lütte Mamsell is nur ja woll all weg,
und mein swarzen Anzug anch, denn da is kein Gedanke, daß ich den wieder¬
kriegen thu, aber wenn wir hier noch ein büschen länger stehen, dann kommen
wir much auf die Gardine, was die lütte Mamsell doch «ich gewollt hat.
Sonst hätte sie sich nich so angestellt mit meinen Anzug. Und um is sie ja
woll schon in Himmel, wo es doch sehr nett sein soll!« So hab ich den»
mit mein Baron klug gesnackt, und er is Snell und ümmer sneller gegangen,
bei die Thorwagens vorbei nud aus die Stadt hinaus, bis er sich erst uach
mich umgesehen hat, als wir an Hausers kamen, wo Engelländer einwohnten.
Das war ein Dorf ein paar Melkens von Pries fort, wo die Franschen
nich so stimm aufpaßten, wie in die Stadt selbst. Die Engellünders aber
wollten anch wieder nach ihr eigen Land, weil das allens ein büschen unge¬
mütlich wurde, und mit deu Herrschaften sind wir pvh und pöh nach die Küste
gereist und von da in ein kleines Schiff nach Engelland, wo die Leute nach
meinen Gesmcick den Rinderbraten zu rot essen. Aber sonsten is da ein ganz
gutes Leben, und ich will garnix dagegen sagen, wenn bloß mein Baron ein
büschen lustig gewesen wäre. Aber der hatte das Lachen verlernt, war still
und blaß geworden, und nachts, wenn er slafeu sollte, dann lag er und stöhnte
und murmelte frausche und deutsche Worte vor sich hin. Und im Traum
rief er ümmer nach Manon. Das war ja nun eigentlich nich nötig, denn sie
konnte doch nich kommen!"
Der Alte blickte nachdenklich in die Nachmittagssonne. „Als ich mich
die Sache nachher überlegt hab, da hat mich die lütte Mamsell auch
delischen leid gethan. Denn sie war ein klein nudliche Deern mit braunen,
kurzen Haaren, und ihre Angers lachten so lustig in die Welt, als wenn
es nie und nümmer Kummer und Sorge gäbe. Damals war ich ja noch
ein grüner Junge und verstand nix von die Weihers; nachmalen aber
is mich doch das Lächeln von die Kleine, wie sie aufn Karren saß, nachge¬
gangen. Ich hab nachher mal ein kleines Kind in'n Sarg liegen sehen: das
sah gerade so zufrieden aus, wie Mamsell Manon, als sie ihren weißen Hals
auf die Slachtbauk legen sollte. Mit den Jahre» bin ich auch vernünftiger
geworden und hab nich ümmerlos an mein swarzen Anzug gedacht, obgleich
ich mir noch lange darüber ärgerte. Der Baron is gegen mir anständig ge¬
wesen, da will ich »ich über klagen; aber nachher meinte er, wir wollten doch
lieber von einander, weil daß ich in Pries ein biischen frei in meine Manieren
geworden war. Er hat mich was Ordentliches gegeben, und wenn ich nich
Malheur gehabt hätte mit allerlei, so könnte ich jetzt ein reichen Mann sein.
Aller das is ümmer so: hierzulande is es gar nix mit die Egaligkeit, und
wenn wir nich mal 'ne ordentliche Rcvvlutschon kriege», wird es mich »ich
besser. Und dabei kann es einen auch noch steche gehen, wobei ich an den
frauscheu Krämer denke, der mit die Weins aus deu königlichen Kellers so'»
guten Handel hatte. Das war einer von die Forschens, die immer noch mehr
Aristokraten tot haben wollten. Na, und sließlich is sein eigen Fleisch und
Blut für einen von die stimme Sorte in den Tod gegangen, was der Alte
sich woll nümmer gedacht hat. Wenn einer nämlich Mallör haben soll, denn
kommt es, und zu mich is es auch gelangt, als ich Anno dazumal mit einmal
mit zu die Diebsbande gehören sollte, wo die Gerichtens so viel Wesens von
machten. Und obgleich ich mir sehr gut verteidigte und den Leuten ordentlich
Bescheid sagte, kam ich doch nach Glückstadt ins Zuchthaus und wär dn woll
'ne Ewigkeit geblieben. Aber da bringt ein ganz sonderbare» Glücksfall den
täuschen König dahin, der das Zuchthaus besehen will. Er und ein ganzen
Berg von feinen Herren, und wir Sträflinge, wir müssen in Reih und Glied
stehen, so lange wie der alte Friedrich uns besieht. Wer aber geht hinter
dem König her? Mein Baron, der weiße Haare gekriegt hat und 'neu krummen
Rücken und 'nen großen Stern auf die Brust. Der geht so ganz ge¬
mächlich zwischen uns durch; als er bei mich vorbeikommt, rnuspere ich mir,
und er kuckt sich so halb verloren um. Denn aber fährt er ordentlich ein
büschen zusammen und kommt ganz nahe nu mir heran. »Dich sollt ich
kennen!« sagt er, und ich lach ein klein wenig. »Herr Baron, wissen Sie
noch die Geschichte von mein guten swarzen Anzug?« Da macht er ein ganz
merkwürdiges Gesicht und fährt sich über die Stirn, als wenn er was weg¬
wischen wollte, und dann geht er weiter. Aber denselben Tag noch mußte
ein Wärter mir in seine Wohnung bringen, und er hat mir ausgefragt, warum
ich ins Zuchthaus gekommen wäre. Und als er allens ziemlich genau gewußt
hat, hat er geseufzt und leise vor sich hingesvrvchen und dann wieder geseufzt.
Endlich ist er aufgestanden und hat mich die Hand auf den Arm gelegt.
»Weil du sie gekannt hast, Franz; weil du —« weiter aber ist er nicht ge¬
kommen; und ich bin wieder abgeführt worden und bald begnadigt. Da hab
ich doch bemerkt, daß der Baron ein ganz anständigen Kerl war und noch an
meinen Konfirmatschvnsrvck dachte. Und zehn Jahre später hab ich den Baron
auf'» Kieler Uiuslag gesehen. Da fuhren sie ihn in'n Rollwägen, weil er nich
mehr gehe» konnte. Als ich mir da bei ihm meldete, da hat er mich zey»
Spezies schicken lassen, und was sein Diener war, der sagte, daß er viel Un¬
glück in seine Familie hätte. Sein ältesten Sohn war totgeschossen von ein
andern Barv», und sein zweiter hatte ein Mädchen geheiratet, das mit nackigen
Beinen ins Theater tanzt. Nun is mein Baron all lange tot, und das is
stimm, weil er mich mannichmal noch was geschickt hat. So geht allens vor-
über — allens, und wenn ich morgens in mein Bett liege und nich mehr
steifen kann, dann muß ich mcinnichmal an die klein Manon denken, die in
meinen swarzen Anzug gestorben is, mitten mang die Aristokraten, wo sie doch
gar nich hingehörte, und mein swarzen Anzug gehörte da auch nich hin. Aber
es kommt allens anders, als man denkt."
Zu dem Aufsatz: „Das Verleumduugsprivilcgium
des Angeklagten" in Ur. 28 der Grenzboten schreibt uns ein Leser! In seiner
Verurteilung der angeführten Bestimmungen der Strafprozeßordnung ist dem Ver¬
fasser sicherlich beizustimmen. Aber er hat sich kein glückliches Beispiel gewählt.
Herr Waare und Genossen — das sollen doch wohl die „anständigen Männer"
sein, die Fußangel, „der hergelaufene Zeitungsschreiber," öffentlich beschimpft hat —
verdienen sie noch nach dem wider sie festgestellten uneingeschränkt die Bezeichnung
anständige Leute? Diese Dinge einmal beim rechten Namen genannt zu haben,
wenn auch in ausschreitender Form und aus sittlich nicht unanfechtbaren, ja be¬
denklichen Beweggründen, das sieht doch jeder Unbefangene als ein Verdienst des
Herrn Fußangel an. Und es ist recht und gut und eine Genugthuung für das
beleidigte Rechtsbewußtsein des Volkes, daß aus den Herren „Nebenklägern" in
Bochum im Laufe der Verhandlung die eigentlichen Angeklagten geworden sind.
Sie noch unmittelbar in Schuh zu nehmen, ist ein befremdliches Beginnen, das
wohl besser unterblieben wäre.
Wir haben darauf folgendes zu erwidern: Der Aufsah „Das Verleumdungs-
privilcgium des Angeklagten" hat Herrn Waare und Genossen nicht in Schuh ge¬
nommen; die betreffenden Personen sind dem Verfasser ebenso vollständig unbekannt
wie der Redakteur Fußangel, und ein Urteil darüber, ob sie in der Steuerfrage
korrekt gehandelt haben oder nicht, lag dem Aufsahe durchaus fern. Daß das
bisher in Preußen übliche Stcnereinschätzungsverfahren mangelhaft gewesen ist,
wird allseitig anerkannt; die von der Negierung befürwortete Änderung dieses
Verfahrens ist aus dieser Erkenntnis hervorgegangen. In dein Bochnmer Prozeß
war von dem Angeklagte« den Mitglieder» der Einschähungskvmmission der
Vorwurf gemacht wordeu, sie hätten wider besseres Wisse» ans politischer und
konfessioneller Parteilichkeit ihre Partei- und Konfessionsgcnossen zu niedrig ein¬
geschäht, während die Beweisaufnahme ergeben hat, daß ebensowohl Personen der
Gegenpartei zu niedrig eingeschätzt worden sind. Auch diesen ist es nicht eiuge-
fnlleu, gegen ihre Überschätzung zu Prvtestircn, ebensowenig aber dem Herrn Fu߬
angel, dem es nicht zu seinen Angriffe» Paßt, diese Thatsache zu erwähnen. Nicht
dagegen wandte sich der Aufsatz, daß eine in allen Beziehungen gerechte Besteue¬
rung mit den richtigen Mittel» herbeizuführe» nicht ein lobenswertes Unternehmen
wäre, sondern — ganz abgesehen von den in den Bochuiner Prozeß verwickelten
Personen — dagegen, daß unsre bestehende Strafprozeßgesetzgebnng es dem An¬
geklagten ermöglicht, unter dem Deckmantel der Verteidigung den von ihm verübten
Beschimpfungen anständiger Leute — seien es Kläger oder Zeugen — uoch weitere
straflos hinzuzufügen.
Es sind jetzt sechzehn
Jahre her, daß der Anatom und Physiolog His und der Zoologe Rütimeyer in
Häckels „Natürlicher Schöpfungsgeschichte" mehrere grobe Fälschungen nachgewiesen
haben, .fiäckel hatte, um die Blutsverwandtschaft der betreffenden Wesen zu der-
anschaulichen, einmal das El des Menschen, des Affen und des Hundes, sodann
den Embryo des Hundes, des Huhns und der Schildkröte „für menschliche Sinne
vollkommen identisch" abgebildet. Diese überraschende Übereinstimmung hatte er
auf die einfachste Weise von der Welt dadurch hervorgebracht, daß er „je drei
Klischees desselben Holzschnittes" neben einander abdrucken ließ. Ferner halte er,
Wie die genannten Gelehrten bewiesen, „Kopien vom Menschen- und vom Hnnde-
cmbryo" von Ecker und Bischofs entnommen und sie dabei so umgezeichnet, daß
sie entgegen der Wahrheit möglichst ähnlich wurde». Endlich hatte er eine Anzahl
seiner Figuren einfach erfunden. Wie sich damals die übrigen Fachgelehrten mit
dieser peinlichen Thatsache auseinandergesetzt haben mögen, und wie es möglich ist,
daß Häckel nach jener Entlarvung in akademischen Kreisen bis heute immer noch
ernst genommen werden kann, ist mir nicht bekannt. Nur soviel weiß ich, daß
die Tages- und Zcitschriftenpresse den Skandal totgeschwiegen hat. Ich erfuhr ihn
ans der vierten Auslage des Buches „Bibel und Natur" von Heinrich Neusch
(1376). Daß ein Buch, worin solche Ketzereien stehen, vier Anflügen erleben
konnte, erklärt sich aus der Konfession des Verfassers. Er ist katholisch, und des¬
halb wurden die ersten drei Auflage» (von 1862 bis 1870) in den Kreisen seiner
Glaubensgenossen gekauft. Als er die vierte herausgab, war er altkatholisch, und
so werden die schönen Sachen, die darin stehen, Wohl der Welt verloren sein.
Denn römische Katholiken kaufen Bücher eines Altkatholiken überhaupt nicht, Pro¬
testanten aber nnr dann, wenn dabei gegen Rom polcmifirt wird, was hier nicht
der Fall ist. Eine der bedeutendsten Litteraturzeitungen Deutschlands sprach ihr
Bedauern darüber aus, daß so viel Wissen und Geist für eine verlorene Sache,
d. h. für das Christentum verschwendet worden sei. Und so ist es denn gekommen,
daß die gebildete Welt mit Einschluß mancher Lehrer der Naturwissenschaften an
Gymnasien bis auf den heutige» Tag noch nichts von Häckels Fälschungen weiß.
Die Presse handelt in solchen Fällen nach dem Grundsätze, daß man unwissen¬
schaftliche Gegner der unfehlbaren Wissenschaft nicht zu Worte kommen lassen dürfe.
Den Charakter strengster unfehlbarer Wissenschaft trägt aber alles, was gegen den
christlichen Glauben gerichtet ist oder sich gegen ihn verwerten läßt, und jede Ab¬
wehr solcher Angriffe, mag sie auch allen Anforderungen der exakten Forschung
genügen, ist unwissenschaftlich.
Jetzt wird die Erinnerung an Häckels Fälschungen wieder aufgefrischt in
einer Schrift, die man doch wohl nicht wird totschweigen können: Die Plankton-
expeditiou und Häckels Darwinismus. Über einige Aufgaben und Ziele
der beschreibenden Naturwissenschaften, von Viktor Hansen, Professor in Kiel
(Kiel und Leipzig, Lipsius und Tischer, 1891). Hnckek hat nämlich einen hämischen
und von Verdrehungen strotzenden Angriff gegen die Planktvnerpedition gerichtet,
die bekanntlich den Zweck verfolgte, durch eine große Zahl in verschiednen Meeres-
teilen geschöpfter Stichprvbcu die Grundlage für eine Statistik der im Meere vor¬
kommenden Organismen mich Masse, Zahl und Art zu gewinnen. Er sucht diese
Expedition schon dadurch von vornherein um allen Kredit zu bringen, daß er sie
als „deutsche" und „nationale" einer englischen, ans dem „Challenger" unter¬
nommenen gegenüberstellt; dem Berichterstatter der Challengerexpedition, Herrn
Murray, hat denn auch Häckel seine neueste Streitschrift gewidmet. Dieser An¬
griff wird nun von Hansen, dein Führer der Expedition, zurückgewiesen. Seine
Schrift ist nur für Fachmänner bestimmt und den Laien, zu denen ich gehöre,
teilweise unverständlich. Aber die Verdrehungen, die sich Hnckel auch in diesem
Falle wieder erlaubt hat, und die grundsätzliche Widerlegung der Hauptsätze von
HnckelS Hypothese versteht man ganz gut. Von den Stellen, um denen Häckels
Verfahren charakterisirt wird, wollen wir doch eine mitteilen. „Er spielt leicht¬
fertig mit Vererbung, mit Grundgesetzen der Natur, mit Stammbäumen und Eut-
wickluugsvorgängen, genau wie ein thätiger und rücksichtsloser Parteiführer. Leider
ist es ihm gelungen, in gewissen Zweigen der Wissenschaft Parteien wie in einem
Parlament zu bilden, und seine Partei ist hvchgetragen (?) worden von einem
nutvritätsgläubigen Lnicnpnblitum, um welches er warb. In der Wissenschaft ist
aber keine Parteiherrschaft zu dulde», sie macht zwar stark im Kampf, aber wen
sollen denn wir bekämpfen? Doch nicht die Natur?" Die Mitglieder der Plankion¬
expedition haben die mühevolle Arbeit der Prüfung ihres reichen Fanges noch
lange nicht beendigt. Aber schon die bisherigen Ergebnisse lassen erkennen, daß
die Untersuchung nicht in einen Triumph der Häckelschen Hypothese ausschlagen
wird, und die Forscher in Kiel denken nicht daran, aus Furcht vor diesem über
die Natur phantasirenden Theologen — denn das ist Häckel eigentlich — das
Gefundene zu unterschlagen. Das hat Häckel gemerkt, und darum ist er fuchs¬
teufelswild geworde«. Von der Wucht der Thatsachen wird aber die Hcickclei
zunächst in den akademischen Kreisen zermalmt werden, und dann wird dem ge¬
bildeten und aufgeklärten Publikum nichts andres übrig bleiben, als sich einen neue»
Papst zu suche».
Ewer der fleißigsten in der Schar der „modernen"
Dichter, Karl Henckell, hat abermals ein Bändchen veröffentlicht, betitelt Trutz¬
nachtigall (Stuttgart, Dich). Daß er begabter ist, als seine meisten Genossen,
ließen schon seine frühern Gaben erkennen, und man durfte daher hoffen, daß er
mit der Zeit den Flegeljahren entwachsen werde. Auch gesteht er diesmal manches
zu, was ihm von der Kritik vorgehalten worden ist; er thut, als wolle er sich
das hohle Nenommiren, die lächerliche Krnftmaierci abgewöhnen, »ut verheißt, den
Gegnern seine Krallen zu weisen „nicht nur mit Leidenschaft, mit Kunst dann
auch." Allein es bleibt bei den Worten. Zwischen hübsch empfundenen Strophen
immer wieder das dünkelhafte Prahlen und Drohen, die in Reime gebrachten
Phrasen aus sozinldeiuokratischen Versammlungen und der blühende Unsinn. Lvu
seinem , mit Kunst" hier nur ein Pröbchen.
Grimdeulschland sonst Ans beide Beine!
Wir drücken durch die deutsche Kunst.
Wir reiten und an unsrer Leine
Schwimmt Helios durch den Nebeldunst.
Gründeutschland hoch! Auf unsern Nacken
Reihe der Tornister unsrer Zeit —
Die Modegrippe soll euch knacken,
Daß ihr mit Luft bepnckelt seid.
Grüudeutschland Heil! Dir will ich widmen
Zum Angebind dies Segenslied,
Das mir zu hell und Hellem Rhythmen,
Vorleuchtend durch die Seele zieht.
O laß vom Wohlklang dich ergreifen!
So klingt der Wahrheit Kehle nur.
O laß von ihres Schleiers Streifen
Zitternd Umschweifen die Natur!
Glückliches Gründeutschlcmd, dem dieses Deutsch und dieser Wohllaut Heller und
hellerer Rhythmen vorleuchtet!
Der Verfasser ist durch ein Medium mit seinem Schutzgeist, einem im Jahre
1687 verstorbenen jüdischen Mädchen, in Verkehr gebracht worden u«d hat von
diesem ganz genau erfahren, wie es im Jenseits aussieht und wie es bei der
Weltschöpfung zugegangen ist oder vielmehr, da sie fortdauert, zugeht. Als Phan¬
tasie wäre diese Offenbarung nicht übel. Es wird uus darin ein wohlgefügtes
guostisches System recht anschaulich entwickelt, und es kommeu ganz hübsche Ge¬
danken darin vor. Aber da der Verfasser sein Schriftchen in allem Ernste als
göttliche Offenbarung anpreist, so wird er damit den täglich weiter um sich grei¬
fenden Spiritistenunfug nicht unwesentlich fordern und demnach Unheil anrichten.
Mehr widerlich als lächerlich wirkt ein Anhang, der überschrieben ist: „Gegen¬
wärtige uachirdische Stufenhöhe geschichtlich bekannter Personen." Die Menschen¬
seelen haben nämlich auf ihrem Reinigungswege im Jenseits sieben Stufen zurück¬
zulegen. Daß er Judas Jskarivth auf der ersten, also der untersten, verharren
läßt, könnte mau ja als Zeichen der Pietät gegen Christus deuten. Aber Christus
selbst versetzt er — die Feder sträubt sich vorm Niederschreiben — mit Tschiugiskcm,
Sulla, Goethe, Sebastian Bach und Katharina II. von Rußland (wir heben nur
einige der angeführten Namen heraus) auf die vierte, Pius IX., Lord Byron,
Attila, Schiller, Calvin und den Räuberhauptmann Gänswürgcr auf die fünfte,
Nero, Döllinger, Pontius Pilatus, Moses und Schopenhauer auf die sechste,
Paulus, Luther, Heine und Lessing ans die siebente Stufe. Frecher, gottesläster¬
licher Unfug das!
Dieses Buch ist deu Grenzboten zur Besprechung übersandt worden, aber wir
fürchten, es ist nichts für die Grenzbotenleser. Den meisten wird es Wohl so gehen
wie uus selbst. Wir gestehen offenherzig, daß wir uns bei der Definition von
Zeit auf Seite 67 (Zeit ist der „reciproke Wert des metaphysischen Seinsinhaltes")
nichts zu denken vermögen. Wir müssen ferner bekennet!, daß wir von der
Differentialrechnung nur sehr wenig verstehen, daß deshalb Professor Bilharz so
hoch über uns steht, wie der Grieche über dem Barbaren (S. 141), und daß wir
seine Metaphysik schon deswegen nicht zu bewältigen vermögen, weil sie die höhere
Mathematik zu Hilfe nimmt. Aber selbst wenn wir diese studirt hätten, würde
es uns nichts nützen. Denn die Trigonometrie wenigstens haben wir erlernt, aber
trotzdem verstehen wir die Formel ^ ^ (-M^) nicht. Denn zu physikalischen
Zwecken eine Ziffer, die die Länge eines Weges angiebt, mit der Zahl der Se¬
kunden zu dividiren, die ein fallender Stein oder eine fliegende Kugel unterwegs
ist, das sind wir zwar imstande, aber bei der Zumutung, den Raum um sich mit
der reinen Zeit dividiren zu sollen, steht uns der Verstand still. Und als echte
Barbaren empfinden wir rein nichts von dem, was Bilharz empfand, als er die
großartige Entdeckung machte, daß die Trennungslinie zwischen „Bewußt" und
„Vorbewnßt" ans der Grenzlinie zwischen dem Physischen und Metaphysischen
senkrecht stehe. „Es ist, sagt er, als hörten wir im Thürschloß der Metaphysik
den Schlüssel sich drehen, und als gälte es nur noch, das alte Thor aus den ein¬
gerosteten Angeln zu heben!"
Das wäre ja nun an sich weiter kein Unglück. Sind wir zu dumm für die
Metaphysik, so lassen wir sie eben laufen. Aber, aber — Metaphysik ist uus alle» so
notwendig, wie das tägliche Brot, erfahren wir in der Vorrede. „Rasch modern
die Brücken, die uns noch an die Vergangenheit knüpfen und die Zeichen der Zeit
wenden sich bedeutungsvoll nach vorwärts. Hätte Kant wirklich Recht mit seinein
Ausspruch, daß es im Erkennen eine Grenze gebe, wo das Wissen aufgehoben
werden muß ^aufgehoben werden? wer spricht vom aufheben?!, um dem Glaube»
Platz zit machen, so wäre es um die Menschheit wirklich schlimm bestellt. Denn
es ist wohl für jeden Unbefangenen klar, daß die Stärke des letztern nicht mehr
hinreichen würde, um die zerstörende Wucht entfesselter, von unten herauf wallender
Kräfte noch einmal einzudämmen." Also, wenn wir recht verstehen, die soziale
Frage soll durch die bilharzische Metaphysik gelöst werden. Und so viel Barbaren¬
dummheit in der Welt, bis weit über die Arbeiterkreise und hoch über das Abi-
turientenexamen hinaus! Das ist böse! Ohne Scherz gesprochen: Männern, denen
die Formeln der höhern Mathematik geläufig sind, mag das geistreiche mathema¬
tische Spiel rin Begriffen eine angenehme Unterhaltung gewähren; aber um die
Studenten thut es uns leid, die in dein ehrfnrchts- und vertrauensvollen Glauben,
es stecke etwas, es stecke das Allergrößte dahinter, sich den Kopf darüber zerbrechen
bis zum Wahnsinnigwerden.
Eines der merkwürdigsten Büchlein, die uns seit langer Zeit zu Gesichte ge¬
kommen sind! Ein Buch, geeignet dnrch seinen Tiefsinn zu entzücken, durch seine
Absonderlichkeiten zu ärgern, Bewunderung und Hohn gleichzeitig zu erregen, wenn
nicht bald klar würde, daß es dem ebenso gründlich unterrichteten als sich seiner
Vereinsamung bewußten Verfasser heiliger Ernst mit der ganzen Lehre ist, was
ihm unter allen Umständen den Respekt des Lesers sichert und jeden Spott fern¬
hält. Freilich muß man beim Lesen dieses „Kunstbüchleins" so sehr ans sich
heraustreten können, wie es etwa bei der Lektüre eines Denkers, der vor Jahr¬
hunderten gelebt hat, notwendig ist; denn Kraut ist ein Mensch, der mit seiner
universalen Bildung auf einem grundsätzlich andern Standpunkte steht, als wir alle
insgesamt heutzutage stehe». Wenn mau Sähe liest, wie z. B. diesem „Die Well
ist bekanntlich dreiteilig. Sie besteht aus Oberwelt, Zwischenweit und Unterwelt"
oder: „Wer an dein Dasein und Walten der Götter und Dämonen, der Engel
und der Teufel, der Manen und der Geister zweifelt, der zweifelt an der Poesie"
n. dergl. in. — dann greift man sich an den Kopf und fragt sich: Hat dieser
Mensch vierhundert Jahre verschlafen? ist dieser Mann bei Trost? ist so ein
Mensch wirklich noch ernst zu nehmen? Und wenn man das schlicht und ungewöhn¬
lich gut geschriebene Buch trotzdem weiterlieft und gewahr wird, daß sich neben
solchen kuriosen Überzeugungen wieder die schönsten und tiefsinnigsten Urteile und
Ideen über einzelne Meister der Dichtkunst, über ihr Wesen und ihren Beruf finden,
dann interessirt uns dieser merkwürdige Kuustphilosvph, der den Mut hat, nicht
etwa Parteien zu widersprechen, sondern zu bekennen, daß er mit der ganzen
rationalistischen Kultur der letzten zwei Jahrhunderte im Widerspruche stehe, und
schliesslich müssen wir ihm sogar eine Art vou Große zugestehe«, denn so fremd
uns auch vieles, was er sagt und was er fordert, anmutet, so erkennen wir doch
ehrlich an, daß sich in seinem Kopfe die Ideen in wahrhaft philosophischer Weise
ordnen, daß er z. B. erkenntnistheoretisch gewisse religiöse Anschauungen in sich
zu begründen versucht hat; er sagt nichts willkürlich, es hat alles in ihm einen
innern Zusammenhang, er ist nichts weniger als ein Dilettant, sondern er ist ein
Mystiker ganz eigner Art. In den metaphysischen Grundlagen seines Denkens ist
Kraut Pantheist und Platoniker. Die Begriffe vou den Dingen sind ihm die Ur¬
bilder der Dinge; die ganze Welt, jeder Baum und jeder Fels ist ihm belebt.
Wie der Mensch in der mythenbildenden Zeit, halt er an der Beseelung und
Belebung der Welt mit religiöser Überzeugung fest und glaubt wach, nüchtern an
alles das wörtlich, was die begeisterte Phantasie ans ihrem eignen, göttlichen
Reichtum geschaffen hat. Das Originale in der ganzen Weltanschauung und
Kunstlehre Richard Kräiith — eitles Wieners, der sich schon mit einigen
dichterischen Versuchen hervorgewagt und seinen Lebensberuf in der poetischen
Produktion überhaupt erkannt hat — besteht in seiner Stellung zur Sage, in der
grenzenlosen Verehrung der überlieferten Mythen aller Völker und Zeiten (mit
Ausnahme der asiatischen). Ganz wunderliche Eigenschaften legt er der Sage,
nicht etwa der sagen- und mythcnbildcnden Phantasie, nein, ihrem Erzeugnis selbst
bei, mag es um griechischen, germanischen, romanischen oder jüdisch-christlichen
Ursprungs sein. Die Sage (nicht die Phantasie) ist ihm das Urbild der Welt,
der Geschichte, der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Menschheit. „Die
Kunst ist von Haus ans im Besitze des Stoffes, den sie zu bearbeiten hat. Sie
braucht sich um keinen andern weiter zu bemühen, sie braucht nichts mehr zu er¬
finden. Dieser Stoff ist die Sage." Auf diesem Grundgedanken beruht Kräiith
gesamte Kunstlehre. Sie ist wahr und schön, so wahr und weit sein Gedanke ist.
Kraut weist nach, daß die größten Meisterwerke der Dichtkunst ihren Stoff aus
dem Reichtum der Sagenwelt geholt und sich eben damit ihre Unsterblichkeit ge¬
sichert haben. Die poetische. Größe der Shakespeareschen Historien beruht darauf,
daß sich der Dichter treu an seine Chroniken hielt, die damals noch dnrch keinen
Kritizismus entseelt waren, mir der Zusatz von Sage macht einen Stoff poetisch
wertvoll und brauchbar, und als den einzig wahren Beruf der heutigen Dicht¬
kunst erklärt Kraut, diesen Schatz an Sagen und Mythen, den die Nation besitzt,
zu wahre», zu Pflegen, künstlerisch zu veredeln, aber nichts frei zu erfinden. Eine
gewisse Größe laßt sich der Grundanschauung Kräiith von dem Berufe der Dicht¬
kunst nicht absprechen. Sie hat viel Ähnlichkeit mit den Lehren der Romantiker.
Poesie muß nach ihm auf positiv religiöser Grundlage aufgebaut werden. Seine künst¬
lerischen Grundsätze und Forderungen hat er von jenen Zeiten abstrahirt, Wo die
Poesie ein nationales Heiligtum war und religiöse Feste feiern half, wo überhaupt
die Bildung des Volkes noch in voller Einheit bestand, wie bei den alten Griechen
und den alten Deutschen. Er sagt uns nicht, wie wir, die wir seit der Renaissance
jene Einheit verloren haben, zu jenen von ihm als das künstlerische Paradies be¬
zeichneten Zustanden zurückkehren könnten, er ist mit der ganzen modernen Kultur
gar nicht einverstanden, und als richtiger Idealist paßt er die Forderungen an die
Kunst nicht der Zeit an, sondern fordert von der Zeit, sein archaistisches Ideal
anzuerkennen. So viel wahrer Geist und schöner Tiefsinn dabei entfaltet wird,
können wir solch ein Unternehmen doch nicht recht klug und fruchtbar finden, wir
können um das Ideal einer Kunst nicht glauben, das die Rückwärtsbildnng der
gesamten, doch auch nicht willkürlich so und nicht anders gewordenen Kultur zur
Voraussetzung hat. So wie die Kunst im Altertum urwüchsig aus dem Leben
der Völker emporblühte, so wird sie anch aus der neuen Zeit naiv Heranswachsen:
angepaßt ihrem Geist und ihren Sitten.
Trotz dieses grundsätzlichen Gegensatzes und trotz der uns nicht shmpathischcn
Mhstik Kräiith, die öfter zu Tage tritt, empfehlen wir sein Kunstbuchlein doch
aufs wärmste, weil es hoch über dem alltäglichen ästhetischen Geschwätze steht, eine
Fülle tiefer Einzelbemerkungen bietet und gerade durch den gründlichen Gegensatz
Bücher über Amerika verdienen immer Beachtung, namentlich wenn sie stati¬
stisches Material enthalten; liegt doch da drüben die Zukunft Europas! Ans dem
vorliegenden Buche erfahren wir u. a., daß die Vereinigten Staaten im Jahre 1889
nicht weniger als 3000 Mordthaten aufzuweisen hatten (im vorigen Jahre 4290,
Wie wir kürzlich in der „Kölnischen Zeitung" lasen), und daß die den Eisenbahn-
gesellschaften > genauer gesprochen den Eiseubahnkönigcnj geschenkten Landflächen zu¬
sammen so groß sind wie Österreich-Ungarn. Recht läppisch klingt die Bemerkung,
die der Verfasser dazu macht: „Wie groß ist doch jenes Land, daß es sich solche
Schenkungen erlauben kaun!" Statt dessen würden wir gesagt haben: „Wie dumm
oder anch wie ohnmächtig infolge mangelnder Organisation ist doch das Volk der
Vereinigten Staaten, und wie gewissenlos seine Regierung!" Daß die frevelhafte
Waldvcrwüstung schon das Klima verschlechtert hat, daß unerträgliche Sommerhitze
und Dürre mit furchtbaren Überschwemmungen wechselt, daß die herrlichen Ströme
des von der Natur so reich gesegneten Landes versiegen und versanden, daß der
Mississippi für die Schifffahrt unbrauchbar wird, dafür aber alljährlich den kostbarsten
Plantagenbodcn qnadratmeilenweise mit fortschwemmt, das alles eröffnet wenig er¬
freuliche Aussichten in die Zukunft, Während die Gegenwart widerlich erscheint.
Obwohl der Verfasser als ein dnrch und durch moderner Mensch sein möglichstes
thut, um das Großartige des amerikanischen Lebens von der imposantesten Seite
zu zeigen, die hoffnungsvollen und gefunden Erscheinungen, wie das Farmerleben
oder die Pracht und den gediegnen Wohlstand Chicagos, ins volle Licht zu rücken,
wird doch durch seine Schilderungen unsre Abneigung gegen den Amerikanismus
bedeutend verstärkt. Wenn das dortige Treiben nur die Bedeutung eines Panvrmna-
bildeL für uns hätte, dann könnte es uns ja gleichgiltig sein, wie es aussieht;
was uns nicht gefällt, das sehen wir uns eben nicht länger als nötig an. Leider
berühren uns diese Bilder sehr nahe. Wie viele Bedingungen zukünftigen Menschen¬
glückes werden dort mutwillig vernichtet! „Hätten wir einsichtige nationale Regie¬
rungen gehabt — sagt der Verfasser des Katechismus der Moral und Politik —,
die den Strom der nach Nordamerika sich wendenden Auswanderung durch Be¬
günstigung andrer Richtungen z. B. nach Südamerika oder Südafrika geleitet
hätten, anstatt die Einwanderung nach Südbrasilien kurzsichtig auf jede Weise zu
hindern, so könnten wir weite, von Deutschen kolonisirte Länder haben, die in
engem Zusammenhange mit dein Mutterlande und wirtschaftlich von demselben ab¬
hängig wären." Der Gedanke ließe sich rückwärts weiter spinnen. Was hätte auch
schon aus Nordamerika gemacht werden können, wenn die Volker des europäischen
Festlandes, anstatt ihre Kräfte im Dienste dhnastischer Interessen zu verbrauchen,
kolvnisirt hätten, gleich den alten Hellenen und gleich den Germanen deS Mittel¬
alters! Nicht mit der Kolonisationsarbeit dieser beiden edeln Volker, sondern
höchstens mit der der Phönizier ist das ans Ausbeutung berechnete Kolonisations¬
werk der Engländer auf eine Stufe zu stellen. — Sein bekanntes Erzähler- und
Darstellergeschick bewährt Hesse-Wartegg auch in diesem Buche.
Die vorliegenden Erzählungen halten, etwa wie die Erzählungen Karl Seifarts
aus vergangner Zeit und hundert ähnliche, die Mitte zwischen historischen Bildern
und eigentlichen Novellen mit ausgeprägtem poetischem Motiv, sie wollen eine
Nachlese sein, die der Geschichtenschreiber vom Felde des Geschichtschreibers hält.
Es sind fünf Geschichten: „Hans in dein Grase," „Andreas Baumkircher," „Das
Walportsmännchen vou Rvtcnscheidek," „Von stolzer Höhe," „Unehrliche Leute,"
die ganz hübsch und rin gewinnender Anspruchslosigkeit vorgetragen werden, in
denen wir aber freilich weder anziehenden Erfindungen noch besonders fesselnden
Menschengestalten begegnen. Am besten scheint uns in der letzten Erzählung
„Unehrliche Leute" der kulturgeschichtliche Hintergrund mit dem Schicksal des
wandernde» Musikanten Lambert Wille und der Schäfertochter Jvsepha verknüpft,
hier wächst das dargestellte Stück Einzellebett unmittelbar aus Zuständen und An¬
schauungen hervor, die glücklicherweise vergangen sind, uns aber immer noch eine
gewisse Teilnahme einflößen. Diese Erzählung kommt der Art, mit der der Meister
solcher Geschichten, H. W. Riehl, allgemeines und besondres in einander zu schmelzen
pflegt, am nächsten. „Andreas Banmkircher" und „Von stolzer Höhe," eine Epi¬
sode aus der Belagerung der preußischen Mnrienburg nach der Tmmenberger
Schlacht (1470), bringen es nicht zu poetischer Wirkung, es ist überall zu viel
chronikalisches darin. Je weniger die historische Novelle im Augenblick im Ansehen
steht, umso mehr sollten die, die schaffend das gute Recht dieser vortrefflichen
Gattung wahren, durch die möglichste Entwicklung ihrer eigentümlichsten Stärke
alle falschen Vorwürfe zu entkräften suchen. Die Stärke der historischen Novelle
liegt aber niemals in der Vorführung vergessener Verhältnisse, Sitten und Bräuche,
und waren sie noch so interessant, sondern immer nur in der Herausbildung er¬
greifender Menschcngeschicke und lebendiger Gestalten aus geschichtlichen Begebenheiten
und Zuständen. Dieser Forderung entsprechen die Erzählungen von Th. Justus
mir zum Teil. Die Ausstattung ist wie bei allem, was ans diesem Verlag kommt,
vortrefflich und sehr geschmackvoll.
in psychologische Unmöglichkeit eines sozialdemokratischen Staates
darzulegen, ist kein neues Unternehmen, aber sie ist doch bisher
bei allen Erörterungen dieses Gegenstandes meist im Hinter¬
gründe abgehandelt worden, während in den Vordergrund die
rein wirtschaftliche Seite trat. Auch die Zurückführung ans ihre
Psychologischen Grundelemente war bisher unzureichend. Wenn es nun auch
nicht möglich sein wird, die psychologische Unmöglichkeit eines sozialdemo¬
kratischen Staates in einer kurzen Abhandlung ihren Grundelementen nach
vollständig darzulegen, so soll hier doch der Versuch gemacht werden, einen
Beitrag dazu zu liefern.
Zunächst muß ich mich jedoch dagegen verwahren, daß ich den Sozialis-
mus im allgemeinen oder die Möglichkeit eines sozialdemokratischen Staates
im allgemeinen bekämpfen wollte. Was den ersten Punkt anlangt, so ist die
in den Verhältnissen begründete Berechtigung sozialistischer Bestrebungen heut¬
zutage zu allgemein anerkannt, als daß man vernünftigerweise gegen sie an¬
kämpfen dürfte; es kann sich hier nur um den Punkt handeln, bis zu dem die
sozialistischen Prinzipien durchgeführt werden sollen. In diesem „Punkte" liegt
allerdings die ganze Schwierigkeit, die mich aber hier nichts angeht.
Was den zweiten Punkt anlangt, so will ich, wie aus dem Folgenden zu
ersehen sein wird, nicht leugnen, daß ein sozialdemokratischer Staat auf niedriger
Kulturstufe möglich ist. Wahrscheinlich hat sich ja das Privateigentum aus dem
Gemeineigentum entwickelt, ein Prozeß, von dem bei allen Völkern Spuren
vorhanden sind; daher haben wahrscheinlich einmal sozialdemokratische Zustände
vorgeherrscht. Aber es scheint mir undenkbar, daß die heutige Gesellschaft
für Jahrhunderte oder Jahrtausende hinaus wieder auf eine Kulturstufe herab¬
sinken könnte, die einen sozialdemokratischen Staat möglich machen würde.
Daß es Staaten gegeben hat, die, wenn sie auch nicht im heutigen Sinn
sozialdemokratisch waren, doch vielfach von sozialdemokratischen Prinzipien ge¬
leitet erschienen, ist eine geschichtliche Thatsache; man braucht nnr auf Sparta
und Peru hinzuweisen. Aber sie können nicht zum Beweise dafür heran¬
gezogen werden, daß auch auf der Grundlage der heutigen Kultur ein sozial-
demokratischer Staat möglich sei. Nicht nur die Helotenwirtschaft, auch der
niedrige Stand der spartanischen Kultur verbietet einen solchen Vergleich.
Auch erwies sich gerade der spartanische Staat trotz aller Siege als unfähig,
seine Hegemonie gegenüber den andern hochgebildeten griechischen Staaten auf¬
recht zu erhalten, weil er entweder den andern Staaten seine sozialistischen
Prinzipien hätte aufdrängen müssen, wozu er nicht die Kraft hatte, oder sie
selbst aufgeben, was er nicht wollte. Schließlich verfielen aber diese Prin¬
zipien doch dem Verfall und führten zu krasser Plutokratie.
Was aber das Jnkareich in Peru betrifft, so war die große Masse des
Volkes dem Inka und dein Adel gegenüber nichts weiter als eine Heloten-
masfe, die stumpfsimng ihre Arbeit verrichtete; wie wenig innere Widerstands¬
kraft dieser Staat besaß, das zeigt seine leichte Eroberung durch die Spanier.
Ob sich aus diesen Zuständen auf sozialdemokratischer Grundlage eine ent¬
wicklungsfähige und dauerhaftere Kultur hätte bilden können, ist eine Frage,
deren geschichtliche Lösung eben durch die spanische Eroberung unterbrochen
worden ist.
Geschichtlich ist also nichts über die Möglichkeit eiues sozialdemokratischen
Staates im heutigen Sinn auszumachen; sie kann nur den Gegenstand rein
theoretischer Erörterungen bilden. Darin liegt ja die ganze Schwierigkeit und —
Leichtigkeit der Erörterungen über den Sozialismus, daß praktisch fast keine
Ergebnisse für oder wider ihn vorliegen; denn auch die kommunistischen
Gemeinden in Amerika können nicht als ein praktisches Ergebnis sozialdemo¬
kratischer Prinzipien angeführt werden, weil sie in einem nicht sozialdemokra-
tischen Staate bestehen und daher die Vorteile (natürlich auch die Nachteile)
eines nichtsozialdemvkratischen Staates in vielen Beziehungen mit genießen.
Indem ich mich gegen die Möglichkeit eines sozialdemokratischen Staates
wende, verkenne ich keineswegs die Übel des Konkurrenzstaates, die vor allem
darin liegen, daß er seinem Prinzip untreu geworden ist und untreu werdeu
mußte. Die freie Konkurrenz alles Kapitals und aller Arbeit ist zum bloßen
Schein geworden, denn das kleine Kapital kann mit dem großen nicht konkur-
riren und die Arbeit kann es nicht mit dem Kapital, vor allem nicht mit dem
Großkapital. So werden immer mehr und mehr Existenzen von aller Kon¬
kurrenz ausgeschlossen, sie müssen ihre geistige und körperliche Arbeit unter
dein Preise hingeben, sie können ihre kleinen Kapitalien immer schwieriger ver-
wenden, sie müssen sich mit desto kleinern Zinsen, mit desto kleinerm Unter¬
nehmergewinn begnügen, je kleiner ihr Kapital ist. Daher die steigende soziale
Unzufriedenheit, daher der Haß gegen das Großkapital, der Haß gegen das
Kapital überhaupt. Es ist keine Frage, daß, wenn sich diese Zustände immer
mehr verschärfen sollten, sie schließlich zu einer sozialen Revolution führen
müßten, und das ist auch die Hoffnung der Sozialdemokraten. Aber das
Ergebnis einer solchen Revolution wäre ans die Dauer sicher nicht der sozial¬
demokratische Staat. Dieser verlangt zu seinem Bestehen eine Umwälzung
aller sittlichen und zum Teil auch politischen Anschauungen, wie sie sich nicht
von heute auf morgen vollziehen kann. Die Möglichkeit des sozialdemokrati-
schen Staates vorausgesetzt, wären Jahrhunderte notwendig, damit sich ein
solcher Umschwung aller Ansichten vollziehen konnte. Auch die heutigen
Sozialisten selbst würden sich in einem Staate nicht heimisch fühlen können,
dessen Konsequenzen Beschränkung der Individualität und Zerstörung ihres
Keimbodens, der Familie wären. Es ist nicht dasselbe, sich theoretisch und
sich praktisch in den sozialdemokratischen Staat hineinzuleben.
Ist es denn aber auch wirklich notwendig, um jenen Übeln eines kapita¬
listischen Staates vorzubeugen, einen rein sozialdemokratischen Staat zu schassen?
Sollten sich diese Übel nicht heben lassen durch Einschränkung des Großkapi¬
tals zu Gunsten des Arbeitslohnes und des Kleinkapitals? Es ist das eine
wirtschaftliche Frage, die vielleicht nur durch Praktische Versuche allmählich
wird beantwortet werden können, und die nur theoretisch zu erörtern hier nicht
der Ort ist. Aber soviel scheint doch festzustehen, daß das, was notwendig ist,
um einem Menschen die materiellen Grundlagen für seiue Zufriedenheit zu
liefern, nur so viel materielle Güter sind, daß seiue geistige und leibliche Ge¬
sundheit gewahrt bleiben. Über den Umfang dieser Begriffe mag Streit herr¬
schen, aber es ist noch nicht erwiesen, daß er so sehr erweitert werden müßte,
um die sozialdemokratischen Forderungen in sich zu fassen. Dazu müßten die
Sozialdemokraten erst nachweisen, daß die leibliche und geistige Gesundheit der
Bürger nur in einem sozialdemokratischen Staate volle Berücksichtigung finden
könnte. Aber die Sozialdemokraten verwechseln die materiellen Güter mit der
Glückseligkeit, sie übersehen, daß eine gleichmäßigere Verteilung der materiellen
Güter nicht dasselbe ist wie eine gleichmüßigere Verteilung der Glückseligkeit.
Sie fordern jene gleichmäßigere Verteilung nicht bloß aus Menschenliebe, son¬
dern zum Teil aus Neid und Haß. Sie wollen nicht jedem so viel verschaffen,
als er zur materiellen Unterlage seiner Zufriedenheit nötig hat, sie wollen
jedem so viel verschaffen, daß er bei der Vergleichung mit andern keinen Neid
in sich entstehen fühlt. Einen Unterschied in dieser Verteilung soll nur die
Arbeit machen; wer nicht arbeitet, soll nicht genießen können. Es ist klar,
daß dieses Gefühl des Neides, die Vergleichung mit andern notwendig seine
Spitze gegen den sozialdemokratischen Staat selbst kehren muß.
Jedenfalls können die Sozialdemokraten die Berechtigung ihres Staates
mir dadurch darlegen, daß sie beweise:?, daß die höchste mögliche Zufriedenheit
der Menschen nur auf der Grundlage sozialdemokratischer Prinzipien möglich
sei. Aber die Sozialisten sind Materialisten, ihre Lehre ist das Ergebnis der
naturwissenschaftlichen Anschauungen unsrer Zeit, sie kennen uur ein Gluck,
das meßbar ist wie Tuch mit der Elle. Sie vernachlässigen fast vollständig
die psychologische Seite des Menschen, und wo sie sie betonen, ist sie ihnen
nur Mittel, nie Ziel.
Diese psychologische Seite des Menschen soll nun im Folgenden nach ihrer
Verträglichkeit mit dem sozialdemokratischen Staate betrachtet werden. Dabei
wird fünferlei zu beachten sein: die Vergleichungsgefühle, das Streben nach
Selbständigkeit, der Egoismus, der Begriff des Bedürfnisses und der Ehrgeiz.
Man spricht so oft von der Berechtigung dieser oder jeuer Forderung,
ohne auch nur im geringsten den Begriff der Berechtigung zu untersuchen.
Wo die Berechtigung ihre Begründung in einem positiven Gesetz findet, ist
ihr Begriff klar, aber ihr Begriff wird sofort unklar, wo dieser positive Grund
fehlt. Nimmt man ein Naturrecht an, dann allerdings scheint die Berechtigung
wieder einen Sinn zu gewinnen, aber doch nur deshalb, weil nun die Unklar¬
heit auf das Naturrecht zurückgeschoben wird. Daß das Naturrecht nicht fest¬
steht, beweisen die verschiednen Systeme des Naturrechts, die sich jetzt überlebt
haben. Was aber den Inhalt der Naturrechts meistens auszumachen pflegte,
waren jene Grundbedürfnisse der menschlichen Natur, ohne die menschliches
Glück und menschliche Zufriedenheit in der Gesellschaft nicht denkbar sind. Die
Forderungen, jene Bedürfnisse zu befriedigen, Störungen davon zu verhüten,
erschienen als Forderungen der menschlichen Natur, als Naturrecht. Man
kann aber hier nicht vou einem Recht reden, sondern nur von einer Forderung
der Natur; Recht folgt nnr ans einer Rechtsnorm, nicht aus einem Natur¬
gesetz, sonst könnte man auch von einem Rechte des Steines zu fallen reden.
Auch die Sozialdemokratie nimmt uun meist Berechtigung und Recht in An¬
spruch im Sinne einer Forderung der menschlichen Natur und ist insofern
idealistisch Verfechterin der Menschenrechte, die ihr dazu dienen, ihren Materia¬
lismus zu verklären. Ich kann hier nicht die Unklarheit und Dehnbarkeit des
Begriffes der Menschenrechte darlegen und will daher nur darauf hinweisen,
daß, wo keine positive Norm vorhanden ist, mau sich uicht damit begnügen
kann, zu behaupten, etwas sei Recht, sondern doch wenigstens angeben muß,
weswegen etwas Recht sei, welches Ziel ein solches Recht und aus welchem
Grunde es dieses Ziel verfolge. Die Sozialdemokratie kann als Ziel und als
Grund ihrer „berechtigten" Forderungen nur die allgemeine Glückseligkeit an¬
führen. Die allgemeine Glückseligkeit ist null ein Begriff, der an Unklarheit
nichts zu wünschen übrig läßt, denn sowohl über die Mittel als über den
Inhalt der allgemeinen Glückseligkeit ist die Menschheit niemals einig gewesen.
Wenn aber auch in Beziehung auf die positive Fassung des Begriffes Glück¬
seligkeit keine Einigkeit herrscht, so ist man doch im einzelnen ziemlich einig
darüber, was die Glückseligkeit nicht ausmachen kann. Das ist es aber nur,
was ich brnnche, um nachzuweisen, daß der sozialdemokratische Staat auf
Grundlage der menschlichen Natur jene allgemeine Glückseligkeit noch weniger
erreichen kann, als der heutige Staat. Und dieses will ich nachzuweisen
suchen auf Grund jener fünf Seiten des menschlichen Wesens.
Es ist schon darauf hingewiesen worden, daß die Sozialdemokratie mit
dem Prinzip der allgemeinen Menschenliebe nicht ausreicht; diese kann nur
das möglichst große Wohlbefinden des Einzelnen fordern, dies ist aber nicht
gleichbedeutend mit einer gleichmäßigen Verteilung der materiellen Güter nach
dem alleinigen Maßstabe der Arbeit. Das Wohlbefinden des Einzelnen er¬
fordert eine materielle Unterlage, aber diese macht nicht alles aus. Deswegen
bedient sich die Svzialdemokrntie eingestandenermaßen noch andrer Beweggründe,
um ihre Prinzipien anzuempfehlen: es sind das die des Neides und Hasses,
überhaupt die VergleichungSgefiihle, d. h. jene Gefühle, die auf einer Ver-
gleichung des eignen Zustandes mit dem andrer beruhen. Es giebt Leute,
und ihre Zahl ist nicht gering, die sich recht glücklich fühlen konnten, aber
das vermeintliche oder wirkliche größere Wohlbefinden andrer läßt sie nicht
ruhen, erzeugt eine Unzufriedenheit in ihnen, die ihnen ihren eignen Zustand
vergällt. Vebel sagte in seiner als Wahlaufruf in Leipzig abgedruckten
Reichstagsrede vom 20. Mai 1889: „Die Unzufriedenheit ist die Mutter alles
menschlichen Fortschrittes." Er hat Recht, aber man kann das nur von jener
Unzufriedenheit sagen, die ans thatsächlichen unleidlichen Verhältnissen beruht,
uicht aber von der, die eine Vergleichung des Guten mit dem Bessern zur
Grundlage hat und das Gute des Bessern wegen nicht aufkommen läßt. Auch
diese ließe sich noch rechtfertigen, obschon sie ein zweischneidiges Schwert ist,
wenn nur das Bessere immer zu erreichen wäre. Auch das Unglück stählt
und läutert den Menschen, soll man deswegen das Unglück künstlich erzeugen?
Es wird sich schon von selbst einfinden, und die Unzufriedenheit auch.
Aber dieses Streben, stets seinen Zustand mit dem Zustand andrer zu
vergleichen, durch Haß und Neid eine Ausgleichung des Wohlbefindens aller
zu bewirken, müßte sich im sozialdemokratischen Staate, seine Möglichkeit vor¬
ausgesetzt, gegen ihn selbst kehren. Oder glaubt man, nachdem man jene
Vergleichungsgefühle lange Zeit künstlich genährt hat, ihnen im sozialdemo¬
kratischen Staate plötzlich Halt gebieten zu können? Glaubt man von oben
herab anordnen zu können: Von nun an hat keiner sein Wohlbefinden mit
dem andrer zu vergleichen, aller Neid hat aufzuhören, und an seine Stelle muß
von nun an die Menschenliebe treten? Oder glauben die Sozialdemvkmten,
in ihre», Staate würde aller Anlaß zur Unzufriedenheit fehlen? Auch nur
die oberflächlichste Kenntnis der menschlichen Natur müßte dem widersprechen,
Nehmen wir an, die Verteilung der äußern Glücksgüter würde streng nach
dem Maßstabe der Arbeit durchgeführt; nehmen wir selbst an, was manche
Sozialdemokraten nicht wollen, es fände nicht nur die Arbeitsmenge, sondern
auch ihr Wert für die allgemeinen Ziele der Gesellschaft seine volle Berück¬
sichtigung, und diese Grundsätze der Löhnung der Arbeit würden mit der makel¬
losesten Unparteilichkeit durchgeführt: nur die vollständigste Unkenntnis der
menschlichen Natur könnte dann glauben, den Anlaß zu aller Unzufriedenheit
aus der Welt geschafft zu haben. Mag ein Mensch noch so unparteiisch in
Beziehung auf andre sein, sich selbst wird er stets parteiisch beurteilen, und
uur in den seltensten Füllen wird diese Parteilichkeit zu seinen Ungunsten aus¬
fallen. Daher ist auch jeder Mensch uur zu geneigt, in jeder noch so unpar¬
teiischen Beurteilung seiner selbst durch andre eine Beeinträchtigung seiner
Verdienste zu Gunsten andrer zu sehen. Wie der sozialdemokratische Staat
durch den Neid geschaffen wäre, würde er auch durch den Neid wieder zu
Grunde gehen. Die in ihren tiefsten Tiefen aufgeregten Vergleichungsgefühle
eines jeden würden jedes Mehr an Gütern, das der andre besitzt, als eine
Beeinträchtigung ihrer selbst fühlen, als eine Verkennung ihrer Verdienste.
Und sie Hütten von ihrem Standpunkt aus gar nicht so Unrecht. Jeder leistet
so viel, als er seiner körperlichen, geistigen und vor allem sittlichen Be¬
schaffenheit nach leisten kann. Daß der Faule faul ist, liegt in seiner geistig
sittlichen Beschaffenheit und ihrem physischen Grunde. Was kann er dafür,
daß er faul ist? Weswegen soll er dafür darben, daß er seiner ganzen Natur
nach nicht anders als faul sein kaun, wie andre ihrer Natur nach thätig sein
müssen? Hebt man also den Begriff des Verdienstes auf, dann hat der Faule
das Recht, faul zu sein; begründet man aber diesen Begriff auf irgend eine
Art, dann wird jeder finden, daß er ein größeres Verdienst habe, als ihm
zuerkannt wird, und wenn das Verdienst das Hauptprinzip der Verteilung der
Güter ist, dann wird sie niemand als unparteiisch anerkennen, und Neid und
Haß werden das Ergebnis des rein auf dem Verdienst aufgebauten Staates
sein. Es kann kein Staat bestehen, worin nicht der bei weitem überwiegende
Teil seiner Bürger gelernt hat, sich mit seinem Teil zufrieden zu geben, mag
er auch nach seiner Meinung unter seinem Verdienste sein, wenn er ihm nur
die zur leiblichen und geistigen Gesundheit notwendigen Mittel bietet. Das
Verdienst zum Maßstab der Güterverteilung zu macheu, wird immer eine
psychologische Unmöglichkeit sein.
Und nun bedenke man, daß in einem sozialdemokratischen Staate wie
in jedem andern die Abschätzung des Verdienstes eines jeden nicht unpar¬
teiisch sein würde, daß aber infolge der gegenseitigen Kontrollirung jeder
darauf angewiesen wäre, sich stets mit den andern zu vergleichen, und man
wird ermessen können, welche Unmasse von Neid- und Hnßgefühlen dadurch
erzeugt werden müßten. Dazu kommt noch, daß der sozialdemokratische Staat,
wie gesagt, zum Teil durch den Neid und Haß gegen Mehrbesitzende entstanden
gedacht werden müßte, daß also diese Gefühle von vornherein vorherrschen
würden oder wenigstens gestärkt erscheinen müßten. Unter diesen Umständen
wäre eine ruhige Entwicklung ganz undenkbar, der sozialdemokratische Staat
wäre zerrissen durch Parteien, und die Bürger, die sich in ihrem Verdienst
benachteiligt glaubten, würden auf eine Umwälzung der bestehenden Staats¬
ordnung hinarbeiten.
Also: entweder der sozialdemokratische Staat müßte die Macht haben,
jene Vergleichungsgefühle nicht bloß äußerlich, sondern auch innerlich (psychisch)
zu unterdrücken, oder er müßte jeden Anlaß hinwegräumen können, der ihnen
Nahrung bieten könnte. Weder das eine noch das andre ist denkbar.
Ein zweites, was dem sozialdemokratischen Staate entgegenarbeiten würde,
ist das Streben nach Selbständigkeit, das jeder Mensch bis zu einem gewissen
Grade besitzt. Die Selbständigkeit wurzelt darin, daß mau eigne Ziele hat
und sie verfolgen kann. Wer keine eignen Ziele hat, ist keine selbständige
Natur, wer sie nicht verfolgen kann, ist in seiner Selbständigkeit unterdrückt.
Man kann seine Selbständigkeit auch wahre», wenn man die Ziele andrer
unterstützt, aber dann muß man sie zu eignen gemacht haben, man muß ein
eignes Interesse für die Ziele andrer haben; denn wer die Ziele andrer unter¬
stützt, weil er muß oder auch nur, weil er selbst keine Ziele hat (keine selb¬
ständige Natur ist), ist unselbständig.
Aber die Selbständigkeit hat anch ihre wirtschaftliche Seite; es kann
niemand selbständig sein, der wirtschaftlich unselbständig ist. Daher setzt die
Selbständigkeit Privateigentum voraus, und zwar ein Privateigentum, das die
leibliche Existenz ans so lange Zeit hinaus sichert, als es eigne Ziele erfordern;
mit andern Worten: es setzt Kapital voraus. Die Sozialdemokratin, behaupten
zwar, daß jeder (der tüchtig arbeitet) in ihrem Staate in kurzer Zeit so viel
erwerben würde, daß er die übrige Zeit seines Lebens davon lebe« könnte.
Dies setzt aber voraus, daß jetzt eine große Anzahl von Leuten nicht arbeitet,
die dann arbeiten müßte, um zu leben, und daß dadurch eine solche Menge
von Produkten erzeugt werden würde, daß die Existenz aller auf Jahrzehnte
hinaus gesichert erschiene. Wird nun unter Arbeit auch geistige Arbeit ver¬
standen, dann ist jene Behauptung offenbar falsch; wird geistige Arbeit nur
in beschränktem Maße als Arbeit aufgefaßt, dann erschiene jede geistige Fort¬
entwicklung unterbunden. Nur dadurch ist eine geistige Fortentwicklung im
höhern Sinne möglich, daß es eine Menge von Menschen giebt, die nicht
„arbeiten" müssen. Würde gerade der Jugend vorzugsweise die Physische
Arbeit vorbehalten sein, dann würde jedem jene geistige Durchbildung fehlen,
die nur in der Jugend zu erlangen ist und die die notwendige Grundlage
des geistigen Fortschritts bildet. Mau kann nun zwar sagen, daß von vorn¬
herein ein Teil der Jugend zur physischen, ein kleinerer zur geistigen Arbeit
bestimmt werden könnte. Aber läge darin nicht eine furchtbare Beschränkung
der Selbständigkeit, nach irgend welcher Schablone zu bestimmen, welchem
Berufe sich einer zu widmen habe? Wollte man es aber jedem überlasse«,
welchem Berufe er sich zuwenden will, dann müßte dies im sozialdemokratischen
Staate zu den größte» Unzuträglichkeiten führen, zu großem Überfluß an
Ausgebildeten in dem einen, zu großem Mangel in dem andern Berufe, gerade
so wie es heutzutage der Fall ist, es würde eine Menge vou Leuten gebe»,
die arbeitslos sind.
Aber auch noch in einer andern Beziehung würde der sozialdemokratische
Staat mit dem Selbstündigkeitstrieb in Kampf geraten. Die Pflegstätte des
Individualismus ist die Familie; nur in der Familie kaun sich der Einzelne
nach seinen Anlagen und Interessen zu eiuer selbständigen Persönlichkeit ent¬
wickeln, weil allein in der Familie jene Anlagen und Interessen volle Berück¬
sichtigung und sorgsame Pflege finden können. In der Welt schleift sich der
Charakter ab, der Einzelne lernt seine Individualität so weit abstreifen, als
es zum Zusammenleben mit andern notwendig ist und die Ziele der Gesell¬
schaft es fordern. Der Einzelne wird in der Welt nicht als Individuum
berücksichtigt, seine eignen Ziele und Pläne werden nicht gefördert, außer
insofern sie eine Förderung der Ziele andrer und der Gesellschaft in sich enthalten.
Die Familie fordert nun an sich nicht gerade Kapital, sondern nnr
Privateigentum, das nicht verzinslich zu sein braucht, aber sie muß notwendig
das Streben zur Kapitalbildung haben. Denn so wie die Familie nur da¬
durch möglich ist, daß sie sich wirtschaftlich selbständig macht, so muß auch
in ihr das Bestreben der Eltern herrschen, ihre Kinder selbständig zu machen,
wie sie es selbst sind. Das ist aber sehr schwer möglich ohne Kapital; nur
wer von seinen Zinsen leben kann, ist nicht nur sür sich, sondern auch in seineu
Nachkommen selbständig, weiß seine Nachkommen wirtschaftlich gesichert, kann
seinen Kindern die Berufswahl in ausgedehnterem Maße überlassen; Eigentum
dagegen, das keine Zinsen trägt, ist bald aufgezehrt und würde den Kindern,
seine Erblichkeit vorausgesetzt, niemals jene Selbständigkeit gewahren können
wie Kapitaleigentum. Die Familie wird daher notwendig nach Kapitaleigen-
tum streben, weil sie nach möglichster Selbständigkeit strebt. Die Familie ist
nicht das Element des Staates, sie ist vielmehr die individualistisch not¬
wendige Beschränkung der Allgewalt des Staates. Deswegen sind auch die
Sozialdemokraten heimlich oder offen (in der Theorie) Feinde der Familie, sie
wissen recht gut, daß in ihr der Trieb nach Selbständigkeit großgezogen wird,
daß dieser zum Kapitaleigentum treibt und somit deu sozialdemokratischen
Grundsätzen widerspricht.
Der Trieb nach Selbständigkeit aber, d. h. der Trieb, seine eignen Ziele
verfolgen zu können, bedarf wirtschaftlicher Selbständigkeit. Dieser Trieb wird
aber vor allem aufgezogen in der Familie. Wenn nun anch die Familie zu
ihrem Bestehen nicht des Kapitaleigentums, sondern nur des Privateigentums
bedarf, so muß sie doch das Bestreben nach Gründung eines Kapitaleigentums
begünstigen. Überhaupt ist volle wirtschaftliche Selbständigkeit und daher
Selbständigkeit überhaupt erst da vorhanden, wo das Privateigentum, von
dem man lebt, in seiner Größe erhalten bleibt, indem der Verbrauch durch
den erzielten Gewinn immer wieder ersetzt wird, denn nur in dieser Form
bietet es mir die Gewähr, mich und meine Nachkommen ständig zu erhalten
und von andern so unabhängig als möglich zu machen. Wo ich aber in
meiner Arbeit nur darauf angewiesen bin, daß mich mein Arbeitgeber, und sei
es der Staat selbst, lohnt, erscheine ich immer abhängig in der ganzen Art
und Weise meines Wirkens und Lebens, muß mich nach den Zielen und Plänen
meines Arbeitgebers richten. Da aber im sozialdemokratischen Staat die
Organisation der Arbeit fest und einheitlich sein müßte, wenn nicht die boden¬
loseste Verwirrung entstehen soll, so würde der Einzelne sehr wenig Spielraum
zu seiner Individualität haben und sich in das feste Gefüge sozialer Arbeits¬
teilung unbedingt fügen müssen. Der Einzelne müßte nach jener Schablone
arbeiten und leben, die von den leitenden Persönlichkeiten aufgestellt worden
wäre, ohne im geringsten seinen eignen Ideen folgen zu dürfen; denn wollten
alle oder auch nur viele nach ihren eignen Ideen arbeiten, so wäre bald eine
gemeinschaftliche Arbeit, wo die Arbeit des einen rechtzeitig in die des andern
eingreift, unmöglich. Der sozialdemokratische Staat müßte also die Selbständig¬
keit im Arbeiten und im Leben möglichst beschränken, einmal um Arbeit nach
einem großen gemeinschaftlichen Plane zu wege zu bringen, das andremal um
den Trieb nach Kapitalbildung zu ersticken.
Über den Trieb nach Kapitalbildung möchte ich noch einiges hinzufügen.
Man könnte ja einwenden, daß es zur Erlangung der Selbständigkeit genüge,
so viel Arbeit geleistet und dadurch so viel Anweisungen (Arbeitsbons)*) auf
gemeinschaftliche Produkte erworben zu haben, daß man den Nest seines Lebens
davon leben könne, ohne arbeiten zu müssen. Abgesehen davon, daß einem
dann höchstens selbständig zu faulenzen, aber nicht zu wirken freistünde (denn
jede produktive Arbeit könnte nur durch und für die Gemeinschaft geschehen),
so müßte ein solches Privateigentum schließlich zur Kapitalisirung führen.
Denn mit diesem Privateigentum wäre die Möglichkeit des Geldleihens, der Be¬
stechung und Beeinflussung und auch der Produzirung auf eigne Kosten gegeben.
Wäre das Zinsuehmcu und Zinsgeben auch noch so streng verboten, so würden
sich doch immer Leute finden, die Geld (Arbeitsbons) brauchen und dafür
Zins zahlen oder Leistungen gewahren würden, und zwar heimlich, um sich
die Quelle nicht zu verstopfen, aus der sie schöpfen. Würde es aber mit der
Zeit eine genügende Anzahl von geheimen Zinsuehmern und Zinsgebern geben,
dann wären sie auch imstande, einen solchen Einfluß auszuüben, daß das
Zinsnehmen bald öffentlich erlaubt wäre. Wäre es also erlaubt, Privateigen¬
tum, mehr als zum unmittelbaren Gebrauche notwendig ist, anzusammeln, so
wäre die schließliche Kapitalisirung kaum zu vermeiden; ohne ein solches Privat¬
eigentum wäre aber der Einzelne nichts mehr als ein willenloses Glied im
Getriebe der Staatsmaschine.
Entweder also der sozialdemokratische Staat unterdrückt den Selbständig¬
keitstrieb bei seinen Bürgern nicht, dann werden sich die selbständigsten Köpfe
bald der Leitung des Staates bemächtigen und ihn über kurz oder lang dahin
führen, wohin sie der Selbständigkeitstrieb ziehen wird, nämlich zur Schaffung
eines Kapitals, um durch dieses andre zu beherrschen und selbst unabhängig
zu sein. Natürlich werden sich alle selbständigen, findigen Köpfe nnter einander
abfinden müssen, um stark genug zu sein, die unselbständigen zu unterdrücken
und zu kapitalisiren, d. h. für sich arbeiten zu lassen. Oder aber der sozial¬
demokratische Staat unterdrückt alles selbständige Streben, preßt alle gleich¬
mäßig in die soziale Zwangsjacke, dann wird er innerlich versumpfen und
verfaulen. Denn da die Masse des Volkes keine Selbständigkeit des Strebens
haben wird, woher soll sie ihren Leitern kommen, die aus ihr hervorgehen,
die in der Schule der Unselbständigkeit gedrillt worden sind? Der sozial¬
demokratische Staat wäre dann eine bloße Maschine ohne jede psychologische
Triebkraft, deren Bestandteile sich allmählich abnutzen und verrosten würden,
ohne daß jemand da wäre, der die Maschine verstünde, sie ausbessern oder
gar verbessern könnte.
Sollte aber die Selbständigkeit des Wirkens den Leitern des Volkes gewahrt
bleiben, ohne daß sie das Volk selbst besäße, dann wäre die Masse des Volkes
eine Masse von Sklaven gegenüber einer alles beherrschenden kasteuartig abge¬
schlossenen Büreaukratie, die allein das Privilegium Hütte, denkend zu handeln.
Diese Büreaukratie müßte kastenartig abgeschlossen sein, weil sie sich nicht
aus dem Volke ergänzen könnte, ohne im Volke ein selbständiges Denken und
Handeln erzeugt zu haben. Dann würde also die Sozialdemokratie zur
Sklaverei des Volkes, zu seiner vollständigen Unterdrückung führen; dies wäre
der wahrscheinlichste Fall, weil, wie gesagt, zu gemeinschaftlicher Arbeit eine
stramme Disziplin notwendig wäre, also eine starke Herrschaft der Verwal¬
tungsbehörden, wenn nicht heillose Verwirrung und ewiger Zank und Streit
überhaupt jedes gemeinschaftliche Wirken unmöglich machen sollte.
Es ist nun höchst unwahrscheinlich, daß in einem sozialdemokratischen
Staate der zweite der genannten Fülle eintreten würde, denn dieser wäre
gleichbedeutend mit einer Selbstvernichtung: ein Staat, der alle Selbständig¬
keit des Denkens und Handelns vernichten wollte, würde schließlich sich selbst
als Staat unmöglich machen. Es würde also wahrscheinlich der erste oder
der dritte Fall eintreten; der dritte Fall hat die größere Wahrscheinlichkeit.
Das Volk als große Masse der Bevölkerung hat nie selbständige Ansichten
gehabt, sondern hat sich stets der Leitung selbständiger Naturen überlassen,
derart, daß es ohne eine solche Leitung stets machtlos war. Es wäre mich
nicht zu erklären, warum sich die große Meuge so oft in der Geschichte die
Tyrannei eines Einzelnen hätte gefallen lassen, um gewisse Ziele zu erreichen,
die dieser Einzelne oder andre Einzelne vorgezeichnet hatten, wenn es nicht
ihr unklares Gefühl gewesen wäre, daß sie ohne eine solche Leitung überhaupt
nichts erreiche» könnte. Schon jetzt herrscht unter den Sozialdemokraten eine
stramme Parteidisziplin, die sich in einem sozialdemvkmtischen Staate noch
steigern müßte, wenn die große Masse etwas zustande bringen sollte. Es
liegt aber, sagen wir, in der Unvollkommenheit der menschlichen Natur, daß
die, die herrschen, sich auf Kosten der Beherrschten gewisse cinßere Vorteile zu
sichern und die Beherrschten in ihrer Unterthänigkeit zu erhalten streben, und
damit wäre der Entwicklungsgang des sozialdemokratischen Staates vorgezeichnet.
(Schluß folgt)
cum wir Heutigen uns nach realen Grundlagen für eine Staaten-
bildung umsehen, so denken wir gewöhnlich zunächst an die
Nationalität. Den Menschen des frühern Mittelalters lag dieser
Gedanke fern. Nur sehr langsam ging die Bildung der roma¬
nischen Nationen und ihre Abgrenzung gegen die rein deutsch
bleibenden Stämme diesseits der Alpen und Vogesen vor sich. Im Jahre 842
war es das erstemal, daß sich beim Abschluß eines Vertrages zwischen Ludwig
dem Deutschen und Karl dem Kahlen Deutsche und Franzosen als anders¬
sprachige Völker gegenübertraten. Lange noch wurde die langsam sich erhebende
Scheidewand der Sprache durch das Volapük jener Zeit, das Lateinische, dessen
sich die Gelehrten und Staatsmänner auch dann noch bedienten, als sie nicht
mehr Geistliche waren, vielfach durchbrochen. Überhaupt gab es vereinigende
Kräfte genug, die den trennenden das Gleichgewicht hielten. Neben den vielen
hin- und herlaufenden Verwandtschaftsbeziehuugen der Stamme und Fürsten
war es vor allem die alle umschließende Kirche, die alle Völker Europas
daran gewöhnte, sich als Glieder einer Familie zu betrachten. Und alle Ein¬
richtungen und Zustande waren international, wenn dieses Wort auf eine Zeit
angewendet werden darf, wo Nationen im heutigen Sinne noch gar nicht vor¬
handen, waren. Allen Ländern gemeinsam waren die Naturalwirtschaft, der
gebundene Grundbesitz, die Feudalverfassung des Staates, die Zunftverfassung
des Handwerks, die Bildung der Litteraten und das Analphabetentum des
Landvolkes. Alle geistigen, politischen und sozialen Bewegungen verbreiteten
sich mit eiuer sür die Verkehrsverhältnisse jener Zeit wunderbaren Schnellig¬
keit. Der Kampf der Handwerker gegen die Geschlechter tobte im vierzehnten
Jahrhundert gleicherweise in Bologna und Florenz wie in London und Lübeck,
in Paris wie in Wien. Die Hochschulen von Oxford bis Salerno wurden
von Studenten aller Länder besucht. In den Heeren der Kreuzfahrer strömte
die Sahne wie der Abschaum von ganz Europa zusammen. Weder im sozialen
Gebiete noch in dem der Wissenschaft oder der Politik machen sich die werdenden
Nationcilgeister zuerst bemerklich, sondern in dem der Kunst: die Volksdichtungen
waren die ersten nationalen Besitztümer. Es dauerte ziemlich lauge, ehe dieser
Unterschied auch fürs Auge bemerkbar gemacht werden konnte und sich den
Litteraten aufdrängte: hat doch erst Dante den Italienern ihr großes National¬
gedicht gegeben und die „Vulgärsprache," wie er selbst halb verächtlich das
Italienische nannte, zur Schriftsprache erhoben. Noch deutlicher trat später
der nationale Unterschied in den Werken der bildenden Künste hervor. Aber
zu Dantes Zeit fing die italienische Malerei eben erst an, sich in der Person
Giottos aus den Windeln der kirchlichen Schablone zu befreien, die die ältern
italienischen Bilder den altdeutschen so ähnlich macht. Auch das Volksleben
war in Tracht und Sitte noch einfach, daher in Italien von dem deutscheu
nicht sehr verschieden. Der Kleiderluxus in den Städten, gegen den Dante
eifert, begann eben erst zu seiner Zeit. Nur daß in Italien schon damals
das städtische Leben überwog, während in Deutschland die Ritter und die
Bauern noch immer die wichtigsten Bestandteile des Volkes ausmachten, be¬
gründete einen augenfälligen Unterschied.
Es versteht sich, daß die Italiener und die Deutschen bei ihren vielfältigen
Begegnungen einander kritisirten. Die Italiener werden von den Deutschen
im allgemeine,, für falsch, diese von jenen für roh und ungeschlacht erklärt.
Damit hatten ja beide einigermaßen Recht. List ist die Waffe des Schwächern,
und die Italiener standen den Deutschen an Waffentüchtigkeit je länger je
mehr uach, da ihr Leben immer städtischer ward. Und Wortbruch ist die
Waffe des Unterdrückten, umso mehr, als Unterworfene nie und nirgends leicht
dahin zu bringen sind, sich durch die vom Eroberer abgezwungenen Gelöbnisse
im Gewissen gebunden zu fühlen. Daß aber den Deutschen von Natur
wenig Formensinn beschert worden ist, sehen wir auch heute noch alle Tage,
nach zweitausendjähriger Entwicklung der griechisch-römischen Bildung. Der
starke Appetit und der gute Magen der Deutschen müssen den Italienern sehr
aufgefallen sein, denn die einzige Charakteristik unsers Volkes, die bei Dante
vorkommt, besteht in den Worten tra 1i löässlM lurolü (?urg'. XVII, 21),
„dort in der deutschen Fresser Land." Auf beiden Seiten ging man dabei
wohl ein wenig über das Maß der Gerechtigkeit hinaus. Wenn Otto von
Freisingen im 13. Kapitel des 2. Buches seiner Vsstg. ?riüerioi, wo er übrigens
das italienische Wesen vortrefflich charcikterisirt, den Italienern ihre Unbot-
mäßigkeit als einen unüberwundenen Nest alter Barbarei vorwirft (In Iwo
wmsu -inticzaÄö uoviliwkis immoiuorss b^rbaries-s toois rstinont vöMg'in,
ciuoä oum Isgibus «6 vivsrö Fin-iönwr, 1<zglvu8 mein oöLöcMmwr), so hat er
im Augenblick wohl nicht an die unbotmäßigen Vasallen und die ewigen
Fehden im deutschen Vaterlande gedacht. Und wenn Johann von Cermenate
in seiner Erzühlnng des Zuges Heinrichs VII. gelegentlich sagt: „Das dumme
Volk der Deutschen ist nümlich von Natur so raubgierig und undisziplinirt,
daß es auch solche Ortschaften ausplündert, die sich bereits unterworfen haben,
alles, was es nicht fortschleppen kaun, durch Feuer vernichtet und die Land¬
schaft weithin zur Einöde macht," so vergißt er, daß die italienischen Städte
in ihren Fehden gegen einander genau ebenso verfuhren. Aber weder dem
eben genannten Mailänder Notar, noch Dante fiel es ein, um solcher Wahr¬
nehmungen willen den vermeintlichen Rechtsanspruch der Deutschen auf die
Weltherrschaft anzuzweifeln. Auf die Politik hatten ungünstige Urteile über
ein Nachbarvolk keinen Einfluß. Auch Ficker kommt in seinen „Forschungen
zur Reichs- und Rechtsgeschichte Italiens" zu dem Ergebnis, daß es in der
Hohenstaufenzeit noch keine nationale Politik in Italien gab, und daß die
Herrschaft der Deutschen nicht als Fremdherrschaft empfunden wurde. Unter
Freiheit verstand man nirgends in Italien die Unabhängigkeit vom Auslande,
sondern überall nur die städtische Selbstregierung. Als Feinde galten jeder
Stadt nicht die Ausländer, sondern die „Magnaten" ihres Gebietes, solche
Bürger, die nach der Tyrannis strebten, die Mitglieder der jeweilig unter¬
drückten oder verjagten Partei, die wucW samt ihren auswärtigen „Komplicen,"
und die Nebenbuhlerinnen unter den übrigen Städten. Wer sich als Bundes¬
genossen gegen diese Feinde anbot, der war willkommen; ob er Italiener,
Deutscher, Engländer oder Franzose war, das kam nicht in Betracht. Glaubte
man zur Schlichtung innerer Wirrnisse eines mächtigen Rektors, Protektors
oder Vikars (das waren die gebräuchlichen Titel) nicht entbehren zu können,
so zog man sogar einen Ausländer vor wegen der bei ihm vorausgesetzten
größern Unparteilichkeit. Zum erstenmale bei dein Erscheinen Heinrichs VII.
fangen die Italiener an, ihren Gegensatz zu den Deutschen von der politischen
Seite her anzusehen. Seit dem Untergange der Hohenstaufen hatten sich die
italienischen Verhältnisse ungestört von ausländischen Einflüssen entwickelt.
In das Ringen der Bürgerschaften mit den Adelsgeschlechtern, der Städte
und kleinen Fürsten unter einander hatte keine übermächtige fremde Gewalt
eingegriffen, sondern überall der von Natur stärkere und tüchtigere Teil ge¬
siegt. Als nun bekannt wurde, daß Heinrich vom Papste eingeladen und von
einigen italienischen Verbannten gedrängt, mit Heeresmacht herannahe, da ward
den meisten Italienern sehr unbehaglich zu Mute. Guido della Torre, der
die Wiedereinsetzung der Visconti zu fürchten hatte, rannte im Stadtpalaste
zu Mailand, wo sich die Lvmbardenfürsten zur Beratung versammelt hatten,
wie wahnsinnig umher nud rief einmal über das andre: „Sagt mir doch,
sind wir diesem Heinrich von Luxemburg, diesem — ich weiß nicht, ist
er ein Teutone oder ein Allobroger — in irgend einer Weise verpflichtet?
Hat er uns irgend etwas gegeben, was er zurückzufordern berechtigt wäre?"
Zu vollkommener Klarheit aber über die politische Seite des nationalen Gegen¬
satzes gelangen die Florentiner. Sie sprechen es in ihrer Korrespondenz wieder¬
holt ans, daß das deutsche Königtum mit der städtischen Freiheit, auf der in
Mittel- und Oberitnlicn das gesamte öffentliche Leben, ja die Kultur beruht,
unvereinbar sei. Sie nennen Heinrich nur einmal nach seiner Krönung „König
der Römer" und niemals Kaiser, sondern den Alamannenkönig oder zur Ab¬
wechslung einmal den Tyrannen. Sie schreiben in völlig richtiger Beurteilung
der Lage um den König Robert: „Ist Heinrich einmal vernichtet, dann sind
wir sicher, daß es kein Störenfried mehr wagen wird, uus unter dem Vor-
wande des Kaisertums zu beunruhigen." Den Lncchesen melden sie am
27. August 1313, daß „jener höchst grausame Tyrann, Heinrich, vormals
Graf von Luxemburg, den die Abtrünnigen und die alten Verfolger der Kirche,
nämlich die Ghibellinen, eure und unsre treulosen Feinde, eiuen König der
Römer und Kaiser von Deutschland nannten, und der unter dem Vorwande
des Kaisertums bereits die Provinzen Lombardier! und Tuseien zu einem
großen Teile verzehrt und in Brand gesteckt hatte, vorigen Freitag den
24. August zu Buonconvento verschieden ist. Freut euch also, wir bitten,
mit uns, ihr teuersten Brüder!" Die Florentiner sprechen also den Anhängern
der Kaiseridee geradezu die bang. naifs ab, sie erniedrigen diese Idee zu einem
Vorwande gemeiner Habsucht und Raubgier. Über den Jubel, mit dem der
Tod Heinrichs als größtes Freudenfest gefeiert wurde, berichtet Mussatus.
Die Geistlichen veranstalteten Dankprvzessionen, die Städte wurden des Nachts
mit Fackeln festlich erleuchtet; das Volk feierte Kampfspiele in neuen Gewändern;
die Weiber führten ans Straßen und Plätzen ausgelassene Tänze auf, die
Gerichte hielten Ferien, die Gefängnisse wurden geöffnet, die Gefangenen frei
gelassen. Zu Ehren des heiligen Barthvlomüus, „der den durchs Kaisertum
gepeinigten Völkern schon zum zweitenmale mit apostolischer Güte zu Hilfe
gekommen" sei (die Schlacht am Tagliaeozzo war am Bartholomüustage ge¬
schlagen worden; auch die Kirche des Klosters, in dem Heinrich starb, war
dem genannten Apostel gewidmet), wurden Stiftungen errichtet. Desto größer
war natürlich die Betrübnis der Pisaner, die für Heinrich zwei Millionen
Goldfloren geopfert hatten, was dem Goldgehalte nach zwanzig, dem damaligen
Geldwerte nach etwa hundert Millionen Mark ausmachte.
So sehen wir, wie in Florenz damals jene Idee eines nationalen Gemein¬
wesens keimte, die später von Macchiavelli zum Gedanken des Nationalstaates
durchgebildet und erst in unsrer Zeit verwirklicht worden ist. Von unserm
heutigen Nationalismus mit seinem Nationalhaß und seinen Absperrungs¬
gelüsten hatte man natürlich keine Ahnung. Die litterarischen, sozialen und
Wirtschaftszustände blieben noch zwei Jahrhunderte international; der kon¬
fessionelle Gegensatz war noch nicht vorhanden. Der Gegensatz zum fremden
Volkstum erzeugte noch keine Abneigung. Die Feindschaft der Florentiner
ging nicht aus dem Widerwillen gegen deutsches Wesen hervor, sondern nur
aus dem Unmut darüber, daß ein Deutscher das Hausrecht der Italiener mit
Füßen trat; die Italiener wollten fortan Herren in ihrem Hause, in ihrem
schönen Lande bleiben. Das letzte Stück in der mehrerwähnten Sammlung
Bonainis ist ein sehr freundliches Schreiben an einen Deutschen, an den Grafen
Eberhard von Württemberg, der von dem eben verstorbenen Kaiser gebannt
worden war und von Burg zu Burg gejagt wurde. Sie melden ihm, daß
sie der Hilfe, die er ihnen angeboten habe, nicht mehr bedürfen; sollten sie
ihn in Zukunft brauchen, so würden sie ihm schreiben. Sie fragen an, ob sie
vielleicht seine Freundlichkeit mit einem Gegendienst erwidern, etwa dein Könige
von Frankreich oder dem von Neapel ein Anliegen des Grafen übermitteln
können.
Aber daß man sich Hilfe ans Feindesland gern gefallen läßt, kommt
wohl auch heute noch vor. Von größerer Bedeutung ist der Umstand, daß
die zahlreichen italienischen Chronisten jener Zeit, die so ziemlich alle der
italienischen Nationalpartei angehörten, ohne Ausnahme mit der größten Ehr¬
furcht und Anerkennung von Heinrich sprechen und übereinstimmend seinem
vortrefflichen Charakter preisen. Einen unwiderstehlichen Zauber allerdings
muß die Persönlichkeit des Luxemburgers ausgeübt haben. Schließt doch
Nikolaus von Butriat, den Clemens V. dein Kaiser als Aufpasser mitgegeben
hatte, der aber in: täglichen Unigange mit ihm sein innigster Freund geworden
war, seinen Bericht an den Papst mit den Worten: „Beim Heil meiner Seele
versichere ich euch, ich glaube nicht, daß es heute nnter den weltlichen Fürsten
einen giebt, der Gott,' die römische Kirche und jeden rechtschaffenen Mann
mehr liebte, als er es gethan hat." Und Dante hat diese großartige Er¬
scheinung allgemeiner unwidersprochener Anerkennung mit den Worten hervor-
gehoben: „Sogar seiue Feinde werden sich seines Preises nicht enthalten
können" (l^rü-also XVII, 85). Aber immerhin! Man denke sich den tadel¬
losesten und ausgezeichnetsten aller Menschen als Eroberer in einem beliebigen
von Parteien zerrissenen Lande der Gegenwart und male sich aus, wie die
Zeitungsberichte, die Aufsatze in den Zeitschriften, die Urteile der mitlebenden
Geschichtschreiber ausfallen werden! Möchten solche, die an den stetigen Fort¬
schritt der Moral glauben, die zahlreichen Berichte von Gegnern Heinrichs
lesen und diese Haltung der damaligen Italiener unsern heutigen Gewohn¬
heiten vergleichen! Die Florentiner sind die einzigen, die ihn in ihren amtlichen
Schreiben einen grausamen Tyrannen nennen; aber eine Verleumdung, eine
Auschwürznng des Privatcharakters Heinrichs in Dingen, die nicht mit dem
Feldzuge zusammenhängen, kommt doch auch in ihren Schreiben nicht vor.
Ihr Mitbürger Villani, ein aufrichtiger Guelfe, ist gleich den übrigen Chro¬
nisten der Zeit voll des Preises für Heinrich.
Freilich sind die Menschen jener Zeit ohne Unterschied der Nationalität
überhaupt noch naiv und treuherzig. In den Chroniken ist noch nichts
Nationnlitalieuisches zu spüren; ein deutscher Mönch oder Stadtschreiber würde
sie um kein Haar anders geschrieben haben. Gewisse nationale Eigentümlich¬
keiten, und zwar gerade die unaugenehmeren, scheinen sich erst entwickelt zu
haben, nachdem die Kabinettspolitik künstliche Scheidewände zwischen den
Völkern aufgerichtet und jeder Fürst die ihm nicht zusagenden Elemente aus
seinem eignen Volke gewaltsam ausgetrieben hatte. Hartpole Leckh macht die
vollkommen richtige Bemerkung, daß manche Charaktereigenschaften, die der
Deutsche als spezifisch deutsch zu preisen gewohnt ist, wie Gedankentiefe und
Sittenstrenge, bei manchen Ausländern früherer Zeit, wie bei Dante und bei
den französischen Hugenotten, deutlicher ausgeprägt vorkommen als bei der
Masse des heutigen deutschen Volkes.
Der Universalkaiscr und die Uuiversalkirche waren in ihrer nur ausnahms¬
weise friedlichen Ehe der Selbsterziehung ihrer Kinder, der europäischen Völker,
mit gutem Erfolg zu Hilfe gekommen. Die Glaubensboten brachten den nor¬
dischen Völkern mit dem Evangelium allerlei weltliche Kunstfertigkeit, Über¬
reste alter Kultur, vor allem das Buchstabenwesen, diese unerläßliche Grund¬
lage höherer Bildung. Zuerst von den Benediktinerklöstern, dann von den
italienischen Städten aus brach sich auch im Norden die Anschauung Bahn,
daß die Arbeit den freien Mann nicht Schande, und daß Krieg, Jagd und
Würfelspiel beim Trinkgelage keineswegs die einzigen seiner würdigen Be¬
schäftigungen seien. Das Imperium kam dem Sacerdotium zu Hilfe, wo dieses
des weltlichen Armes bedürfte, um den Grundsätzen des Christentums, später
freilich zuweilen auch um den unchristlichen Ansprüchen einer übermütig ge¬
wordenen Hierarchie Geltung zu verschaffen. Zweimal, im zehnten und elften
Jahrhundert, zogen fromme Kaiser die römische Klerisei ans einem Sumpfe
heidnischer Laster heraus, worin sie beinahe untergegangen wäre, reformirten
sie und verhalfen ihr wieder zu Ansehen und Macht. Die Hierarchie milderte
die Sitten, indem sie die milden Grundsätze des Evangeliums verkündigte,
wenn sie selbst ihnen auch oft genug durch barbarische Behandlung ihrer
Gegner ins Gesicht schlug, und das Kaisertum hielt mitten unter wilden
Partei- und Dhnastenknmpfen die Ideen des Rechtsstaats und der bürgerlichen
Ordnung aufrecht, wenn es anch in der Wirklichkeit oft genng nur die Un¬
ordnung beförderte. Der christliche Missionsgeist wirkte als mächtiger Sporn
zur Germanisirung des slawischen Ostens mit, leistete bei dem großartigen
Kvlonisativnswerke unsrer Väter die wichtigsten Dienste und hat zuletzt noch
im hohen Nordosten dem spätern preußischen Königtnme, also auch unserm
heutigen deutschen Reiche die Grundlage bereitet. Und hat die große Bewegung
der Kreuzzüge, in die sich die europäischen Völker von der Hierarchie hinein¬
locken ließen, den großen Zweck nicht erreicht, für den sie klar sehende Politiker,
wenn es welche gegeben hätte, verwendet haben würden, nämlich der vor¬
dringenden Türkeumacht einen Riegel vorzuschieben, so hat sie doch das euro¬
päische Leben in mannigfacher Weise befruchtet.
Eben um das Jahr 1300 aber ward es offenbar, daß die Völker dieser
Vormundschaft entwachsen waren. Ihr Gewerbe, ihre Politik, ihre Kunst,
ihre Wissenschaft begannen sich jedes auf seine eignen Füße zu stellen. Auch
die Nationnlgeister, obwohl noch unfertig, regten sich schon. Der Gegensatz
zwischen Papsttum und Kaisertum trat zurück hinter dem Gegensatze beider
idealen Gewalten gegen die aufstrebenden realen und partikularen Interessen
der mannigfachsten Art. Ihre Obergewalt vermochten jene beiden um so
weniger zu behaupten, als sie nach dem Tode des siebenten Heinrich ihrer
Idee gerade in dem wesentlichsten Stücke, in der Universalität, untreu wurden.
Der Papst ward zuerst zu einem Werkzeuge der französischen Politik und dann
zum Fürsten eines italienischen Kleinstaats erniedrigt, und das Kaisertum ver¬
schwand hinter der habsburgischen Monarchie, die in den letzten Jahrhunderten
allein noch seinem Schattendasein einen körperlichen Inhalt lieh. Nichts war
natürlicher, als daß sich von da ab Kaisertum und Papsttum im allgemeinen
besser vertrugen als vordem; sie hatten die ganze Welt zu Feinden und waren
einander gegenseitig nur wenig mehr im Wege. Es ist wahr, daß die Habs¬
burger in der Zeit der Religionskriege noch ihre besondern, ganz und gar
uicht idealen Gründe hatten, sich die Päpste als schützenswerte Bundesgenossen
zu Freunden zu erhalten; aber eben aus diesen besondern Verhältnissen, daß
der Kaiser das Haupt des spanisch-habsburgischen Hauses und der Papst ein
italienischer Fürst war, entsprangen auch die gelegentlichen Konflikte zwischen
beiden, nicht wie früher aus dem unlöslichen Widerspruche zwischen den päpst¬
lichen und kaiserlichen Ansprüchen. Als kurz vor den: Erlöschen des ehr-
Würdigen Namens des heiligen römischen Reiches deutscher Nation, unter
Joseph II., jener Widerspruch wieder auflebte, da fand er sich aus dem idealen
ins reale Gebiet versetzt. Nicht als Beherrscher der Welt, sondern als un¬
umschränkter Herr seiner Erblünder, die er in einen gleichartigen absolut re¬
gierten Staat zu verschmelzen versuchte, nahm Joseph alles Weltliche für sich
in Anspruch und verwies er den Papst ins Innere der Kirche, nicht einmal
die Sakristei und die Kanzel ihm zu ganz freier Verfügung überlassend, und
mit der deutlichen Tendenz, ihn ganz ans dem Staate auszuschließen, die
Geistlichkeit aber in die schwarze Garde des Polizeistaats, wie Schaffte es
nennt, zu verwandeln.
Ehe wir vom Mittelalter scheiden, müssen wir doch noch des großartigen
Werkes des zu früh verstorbnen Heinrich von Elater: „Geschichte und System
der mittelalterlichen Weltanschauung" wenigstens kurz gedenken. In den zwei
grundlegenden Sätzen seiner Auffassung des Mittelalters stimmen wir ihm bei.
Er weist nach, daß die Weltflucht in der That folgerichtig aus den Lehren
des Neuen Testaments hervorgeht. Sonderbarerweise führt er den Spruch
1. Joh. 2, 15 und 16 nicht an, der die vom Bruder Martin in Goethes Götz
als empörend und unnatürlich bezeichnete Verleugnung der drei Grundtrieb¬
federn alles menschlichen Wirkens und Strebens so klar, kurz und unzweideutig
ausspricht: „Wollet die Welt nicht lieben, noch was in der Welt ist. Wenn
jemand die Welt liebt, so ist die Liebe des Vaters uicht in ihm. Alles, was
in der Welt ist, ist Fleischeslust. Augenlust und Hoffart des Lebens." Aber
er bringt ein reichliches Beweismaterial dafür zusammen, daß diese und ähn¬
liche Stellen nicht etwa erst von den Mönchen des Mittelalters, sondern
schon von den Kirchenvätern des zweiten, dritten und vierten Jahrhunderts
in dem Sinne verstanden wurden, den ihr Wortlaut am nächsten legt, daß
demnach die Befriedigung des Geschlechtstriebes höchstens in der Ehe als un-
vermeidliches beklagenswertes Übel zugelassen, aller Besitz von Privateigentum
und alle Freude am schönen Schein für sündhaft erklärt wurden. Der andre
Satz ist dann, daß die Weltflucht der Kirche, mit Hegel zu reden, zufolge der
immanenten Dialektik des Weltprozesses in grobe Weltlichkeit umschlug, oder
wie Hamerliug sich ausdrücken würde, diese nach dem Gesetze der Polarität
aus sich erzeugte. „Durch die Tugend der Armut — sagt Elater — erwarb
die Kirche unermeßliche Reichtümer, durch die Tugend des Gehorsams erwuchs
sie zum größten und mächtigsten Staatswesen, das es jemals gegeben hat
jemals? das römische Reich war doch wohl noch größer und mächtiger),
durch die Tugend der Keuschheit endlich gewann sie ein unvergleichlich beweg¬
liches, jederzeit kampfbereites Beamtenheer. Indes das Mittelalter in Staat
und Familie, in Wirtschaft, Kunst und Wissenschaft sich von der Sinnenwelt
abwandte, strebte es in der Kirche mit demselben Eifer wieder zur Welt zurück;
in diesem Zirkel lag die Tragik der mittelalterlichen Geschichte."
Den mit „Indes" anfangenden Satz unterschreiben wir schon nicht mehr
vollständig. Er weist aus einen Punkt hin, in dem wir dem geistreichen, mit
gediegenen historischen Kenntnissen ausgerüsteten Geschichtsphilosophen ent¬
schieden widersprechen müssen. Elater hat sich von dem gewöhnlichen Fehler
philosophischer, d. h. in den meisten Fällen systematischer Köpfe nicht frei ge¬
halten. Wie Karl Marx alle Erscheinungen des menschlichen Lebens auf den
Wirtschaftsbetrieb zurückführt und auch sogar jede herrschende Religion für ein
Spiegelbild des gleichzeitigen wirtschaftlichen Zustandes hält, so leitet um¬
gekehrt Elater alle Veränderungen und alle Lebenserscheinungen des Mittel¬
alters einschließlich der wirtschaftlichen aus dem weltflüchtigen Katholizismus ab.
Das ist so falsch wie möglich. Es ist z. B. nicht richtig, wenn er sagt:
„Die asketisch-hierarchische Idee der Kirche hatte nach einander das alte
römische Kaiserreich, das karolingische und schließlich das deutsche Reich zu
Grunde gerichtet." Das römische Kaiserreich und das Karolingerreich hätten
an ihrem eignen übermüßigen Umfange bei mangelnder Gleichartigkeit der Teile
zu Grunde gehen müssen, auch wenn es überhaupt keine Kirche gegeben hätte,
das deutsche Reich aber ist erst von Bonaparte zerschlagen worden. Schwach
war es ja geworden, was bei seinem tausendjährigen Alter niemand groß
Wunder nehmen kann; aber wenn es ein genialer Staatsmann im vorigen
Jahrhunderte hätte verjüngen wollen, so würde nicht die hierarchische Idee,
sondern wie 1870 der französische Nachbar das zu überwindende Hindernis
gebildet haben. Es ist auch unrichtig, daß die Abneigung der Kirche gegen
weltliches Wissen an der Unbildung fast aller nichtstädtischen Kreise schuld
gewesen sei. Sie erklärt sich sehr natürlich aus der Schwierigkeit, vor Er¬
findung der Buchdruckerkunst in Gegenden mit schlechten Verkehrsverhältnissen
irgend welches Buchstabenwissen zu verbreiten. Dazu kam noch das Vorurteil
von Kreisen, die gar nicht übermäßig kirchlich gesinnt waren. Während in
den innig frommen Familien der Ottonen und Heinriche die Wissenschaften,
so weit solche vorhanden waren, die eifrigste und sorglichste Pflege fanden,
erklärte das spätere verweltlichte Rittertum, das nach französischem Muster
seine Liebeslieder und Romanzen sang, das Schreiben für ein unritterliches
Geschäft und verzichtete sogar darauf, lesen zu lernen; die Minnesänger dik-
tirten ihre Dichtungen lieber, als daß sie sie selbst aufschrieben. Sie waren
eben von jenem junkerlichen Geiste beseelt, der auch heute noch nicht ganz aus¬
gestorben ist. Es ist endlich eine ungeheuerliche Übertreibung, wenn die
Naturalwirtschaft, der gebundene Grundbesitz, die Beschränktheit des Handels¬
verkehres, die Gründung des Staates aus den Grundbesitz, die Verschmelzung
des öffentlichen mit dem Privatrecht auf die herrschenden religiösen Vor¬
stellungen zurückgeführt werden. Wahr ist daran nur, daß die Kirche die
Naturalwirtschaft begünstigt und die Entwicklung der Geldwirtschaft durch das
kanonische Zinsverbot (vergebens!) zu hemmen suchte. An sich waren alle
diese Einrichtungen in dem Zustande der Völker Europas begründet, und sie
haben sich unter denselben Verhältnissen ganz ähnlich bei andern Völkern,
z. B. bei den Indern, den alten Griechen, den Türken entwickelt. Wo immer
die Bedingungen für Zustände, die wir modern nennen, die aber auch schon
vor alten Zeiten in China und im Nömerreich dagewesen sind, eintraten, da
fanden sich auch diese Zustände ein, und die Kirche vermochte daran nichts
zu andern. Die italienischen Städte vernichteten schon im vierzehnten Jahr¬
hundert den Feudalismus, brachten die Geldwirtschaft zu hoher Vollkommen¬
heit, und die florentinischen Kaufleute hatten bis nach Peking hin Nieder¬
lassungen zum Absatz ihrer Gewebe und zum Einkauf vou Rohmaterialien,
während der Zwischenhandel Venedigs alle damals bekannten Länder der Erde
mit einander verband. Was aber die Verschmelzung des öffentlichen Rechtes
mit dem Privatrecht anlangt, so ist diese etwas Urgermanisches. Der Ger¬
mane kannte z. B. keine Kriminaljustiz, keinen öffentlichen Ankläger, sondern
bei allen Verbrechen, Mord und Rotznase eingeschlossen, nur die öffentliche
Festsetzung der Sühne für den Fall der Verzichtleistung auf die Privatrache.
Offenbar uoch unrichtiger ist es, wenn Elater es aus dem religiös-kirchlichen
System der Zeit erklären will, daß Kunsthandwerk und Industrie nur in be¬
scheidenen Anfängen vorhanden gewesen, die Wohnungen einfach, wo nicht
ärmlich eingerichtet geblieben seien. Wo sollen denn in einem Lande wie
Deutschland, das um 800 noch ein reines Bcmeruland und stellenweise mit
Urwald bewachsen war oder sonst wüst lag, und in dem es kaum ein Dutzend
Städte gab, die diesen Namen verdienten, wo sollten da, mochte die Religion
sein, welche sie wollte, geschwind reiche und schöne Hauseinrichtungen her¬
kommen? sechshundert Jahre später fehlte es daran nicht mehr, und wenn nun
ein Bürger von Augsburg schöner eingerichtet war als der König von Schott-
land, so kam auch das wieder nicht daher, daß etwa die nordischen Könige
mehr von dem Geiste der Askese beeinflußt wordeu wären, sondern von der
Schwierigkeit, den im Süden bereits vorhandenen Reichtum bis in den hohen
Norden zu verbreiten. Auch sind Kunsthandwerk und Industrie keineswegs
in bescheidenen Anfängen stecken geblieben, sondern das Kunsthandwerk hat
bekanntlich um 1500 seine höchste Blute entfaltet, und der Industrie fehlte
zur Blüte nichts als die Dampfmaschine, die glücklicherweise damals noch nicht
erfunden war. Wäre sie bereits vorhanden gewesen, so hätte sie das Kunst-
Handwerk und uoch so manches andre im Keim erstickt. Die Einfachheit der
Privatwohnungen wurde übrigens auch noch bei beginnendem Reichtnme von
jenem republikanischen Gemeinsinn eine Zeit lang gefordert, der es für unan¬
ständig hält, daß der Privatmann kostbarer eingerichtet sei als das Gemein¬
wesen in seinen Kirchen und Palästen. Diesen Gemeinsinn charakterisirt unter
andern die venetianische Sitte, daß jeder Kaufmann aus der Ferne ein Kleinod
zum Schmuck von San Marco mitbrachte, der Beschluß der Ulmer, zu ihrem
Münsterbau keinen Veitrag von außerhalb nuzuuehmeu, und die Erklärung
der Domherren von Sevilla: „Wir Wollen eine Kirche bauen, daß uns die
Nachkommen für Narren halten sollen." Sie verzichteten zu Gunsten des
Baufonds auf den größten Teil ihrer Einkünfte, und ihre Nachfolger thaten
ein paar hundert Jahre hindurch dasselbe. (Bor einigen Jahren haben so
ziemlich alle deutschen Zeitungen die unrichtige Angabe abgedruckt, daß die
jetzige Kathedrale von Sevilla ursprünglich eine maurische Moschee gewesen sei.)
Alle diese Gebiete des Lebens haben sich natürlicherweise unter dem Ein¬
flüsse der Kirche, aber keineswegs in knechtischer Abhängigkeit von ihr ent¬
wickelt, sondern jedes selbständig, und bald in freundschaftlicher Wechselwirkung,
bald im Kampfe mit ihr. Denn es kann nicht oft genug gesagt werden, das
Leben hat niemals, auch im Mittelalter nicht, auf einem einzelnen und einzigen
„Prinzip" beruht, sondern es beruht jederzeit auf einer großen Menge von
Judividual- und Gesellschaftskräfteu. Eine einzelne dieser Kräfte -kann so
mächtig werden, daß sie einem ganzen Zeitalter ihr Gepräge aufdrückt, wie
das dem Geiste der römischen Kirche einige Jahrhunderte hindurch gelungen
ist; aber die Selbständigkeit der übrigen Kräfte ist durch jenen Geist nirgends
wesentlich geschwächt, geschweige denn gebrochen worden. Weit entfernt davon,
daß wir beim Ausgange des Mittelalters Europa in byzantinisch-chinesischer
Erstarrung finden sollten, finden wir es in einer gewaltigen Gährung über¬
schäumender, zukunftsschwnngerer Geister.
ur Zeit meiner akademischen Wanderjahre unternahm ich in
meinen Mußestunden mit Vorliebe Streifzüge nach jenem stille»,
schattenspendendeu Oaseuidhll, das den Kuppelkolvß Se. Pauls
schirmend umschließt und von jener langen dunkeln Gasse, dem
Bttchhändler-Ghetto Altlondons, dem Paternoster-Now, begrenzt
wird; dann in Oxford nach einem Gäßchen, dessen epheuüberwucherte, fast
tausendjährige Grenzmauern uuter alten Riesenkastauieu die Inschrift tragen:
Oäi xroüruum ont^us ot arvöo. Die beiden heimlichen Stätten waren und
sind teilweise noch jetzt Fundgruben für Sammler von Viicherknrivsitäten, wo
dank der Unwissenheit und der Ungelenkigkeit des englischen Durchschnitts-
buchhändlers oft wahre Juwelen lange unbeachtet liegen. Jahrbücher, Kataloge
und andre Hilfsmittel sind dem einheimischen Antiquar ebenso wie dem
einheimischen Sortimentsbuchhündler unbekannt. Und so fügts sichs denn nicht
selten, daß der Pilger auf einem solchen o^rin servil beim Durchwühlen der
mit Büchern gefüllten Kasten, die bei Wind und Wetter vor dem Laden auf
der Gasse stehen, für einen Penny eine wertvolle Erwerbung macht. So trug
ich einmal außer einigen Werken über Deutschland für je einen Groschen
davon: die Rhetorik des Aristoteles in der schönen Buhlschen Ausgabe der
(Aiircmäon?re-88, durchschossen mit dem nutographischen englischen Kommentar
Hills, seinerzeit inagistor sloquöntms, Miltons OstsnÄo pro xoxulo an^lo in
der ersten Ausgabe, des Erasmus Oolloqnüt, und einen sauber illustrirten
Popischeu Homer! Als die Judenfrage in unsern Tagen durch das Vorgehen
Rußlands auch fiir England brennend zu werden begann, erinnerte ich mich
unwillkürlich des ^nxlo-IsriUil, der judenfrenndlichen Zeitschrift, von der ich
auch einst einige Nummern im Paternoster-Row zu Tage gefordert hatte, und
das mir nun gute Dienste leistet. Diese wunderliche Zeitschrift wird in Deutsch¬
land viel zu wenig beachtet. Es ist die Monatsschrift einer Gesellschaft von
Geistlichen, Schwärmern und streng bibelgläubigen Engländern der höhern
Klassen, die das eine einzige Ziel verfolgen, aus den heiligen Schriften und
aus der Weltgeschichte den Nachweis zu liefern, daß die Engländer die Nach¬
kommen der zehn verloren gegangenen Stämme Israels seien! Daß diese
Historiker in England keine geringe Propaganda gemacht haben, wird mir von
mehr als einem Geistlichen versichert, und es ist die Geschichtsanschauung,
worauf diese geradezu pathologisch zu behandelnde Erscheinung beruht, mit unter
die Ursachen zu rechnen, weshalb das Volk Israel von jeher auf dem Jnsel-
lande unbehelligt gelassen worden ist. Das hindert jedoch die Negierung nicht,
gegen die Masseneinwanderung der russischem Juden Maßregeln zu treffen.
Auch das infame Lügenwerk Henry Mayhews, des weiland viel genannten,
gegen die deutsche Nation: dsrrirg.n/ g.s I t'ounä it> erwarb ich einmal aus
demselben booKst-ÄlI. Der chauvinistische Haß gegen Deutschland, die Ver¬
höhnung aller unsrer Einrichtungen und unsers gesellschaftlichen Lebens, der
wir in diesem Machwerk auf jeder Seite, fast in jeder Zeile begegnen, sind
schwerlich jemals von einem Anhänger Derouledes übertroffen worden. Die
schmachvollsten Lügen und Verleumdungen sind gegen Land und Leute in
Sachsen und Thüringen und ganz besonders gegen Stadt und Universität
Jena gerichtet. Das Buch ist uoch immer leicht zu beziehen. Daß es übrigens
so früh schon antiquarisch zu bekommen war, spricht nicht zu Ungunsten der
Landsleute des Mr. Henry Mahhew.
Derselbe billige Buchhändler war es, der meine Aufmerksamkeit auf den
Amerikaner Hawthorne den Jüngern richtete und auf seine L^xon Lwäiö8,
worin das königliche Sachsen und Dresden vielfach nach Mayhews Rezept
behandelt werden. Ich erwähne endlich noch das weitverbreitete und jetzt noch
nicht ganz in Vergessenheit geratene «Zvrirum twins lito aus der Feder einer
ehrlichen englischen Dame, die in einer kleinen norddeutschen Garnisonstadt als
Gattin eines deutschen Offiziers gelebt hatte. Dieses wenn auch in wohl¬
meinenden Sinne und in gutem Glauben geschriebene Buch hat uns Deutschen
seiner Zeit in den Augen der Engländer vielleicht mehr geschadet, als die Bosheiten
der genannten Vorgänger. Denn da die Verfasserin eine Ladh im englischen
Sinne war, so fand sie schon um deswillen Glauben. Aber für den deut¬
schen Leser, der auch die englische Gesellschaft kennt, war es sofort klar, daß
die Unmasse irrtümlicher Auffassungen und Darstellungen aus dem deutschen
Kulturleben daraus zu erklären waren, daß die Verfasserin nie ans ihrer
Obotritenfeste herausgekommen war und die dort herrschenden Überlieferungen
einfach mit der deutschen Durchschnittskultur für einunddasselbe hielt. Unsre
Welt- und Großstädte, Residenzen und Universitäten waren ihr ein unbekanntes
Land geblieben. Obgleich sie aber vom Wellenschlage unsers geistigen Lebens
ganz unberührt geblieben war, es auch unberücksichtigt und unerwähnt ließ,
bekam doch das Kouuz IM großes Ansehen, was sich nach den rasch
auf einander folgenden Auflagen bemessen läßt.
Wenn nun auch die Tragweite der Waffen, die die genannten Verkleinerer
des Deutschtums führen, nicht bis in die höheren Kreise des geistigen Lebens,
weder in die Wissenschaft noch in die Politik hinaufreicht, so ist es doch zu
bedauern, daß sich nicht schon längst ein Engländer gefunden hat, der auf
Grund ernster Studien seinen Landsleuten ein Gesamtbild von dem Leben
des Volkes entworfen hätte, dessen Freundschaft und Bundesgenossenschaft zu
bewahren England seit 1870 als gebieterische Notwendigkeit hat erkennen
lernen. Um so lebhafter wurde der ehrliche Versuch begrüßt, den Sidney
Whitman in seinem Iinvörial Skrinau^ angestellt hat, das neu erstandne
Deutschland in möglichst objektiver Auffassung und unter den verschiedensten
Gesichtspunkten seinen Landsleuten vorzuführen. Durch die baldige Einver¬
leibung des Buches in die Tauchnitzsche Ausgabe ist es, soweit die englische
Zunge klingt, verbreitet worden.
Whitman ist einer der wenigen Ausländer nach Thomas Ccirlyle, die
sich bemüht haben, alle Erscheinungsformen des deutschen Geistes zu verstehen;
und wenn ihm das auch uicht überall gleichmäßig gelungen ist, so sind wir
ihm doch als Bundesgenossen und Pionier für das Deutschtum im Auslande
zu Dank verpflichtet. Auch ihm war die befremdende Erscheinung nicht un¬
bekannt, wie geringes Interesse und Verständnis selbst die gebildeten Eng¬
länder den Zustünden in Deutschland im allgemeinen entgegenbringen, während
sie sich mit unermüdlicher Neugier in den öffentlichen Blättern und in der
Gesellschaft allem zuwenden, was vou Frankreich her gemeldet wird, und zwar
von der Politik und Finanz bis hinab zum fadesten Boulevardklatsch. Denn
die größere Einfachheit der französischen Verhältnisse im Gegensatze zu den
schwerer verständlichen, Verwickeltern Verhältnissen des politischen und Kultur¬
lebens in den zahlreichen Staaten des großen deutscheu Reiches und den viele»
Brennpunkten, um die sich unser geistiges Schaffen gruppirt, erleichtert dem
geschichtlich gebildeten Engländer die Beobachtung und Beurteilung französischer
Dinge. Er fühlt sich dnrch den deutschen spekulativen Idealismus geradezu
abgestoßen und empfindet, daß von der rationalistischen Nützlichkeitslehre, die
im Staat und in der Schule jenseit des Kanals herrscht, keine Brücke hinüber¬
führt zu unsrer Beschaulichkeit und der von unsern Vätern überkommenen
tiefern Weltanschauung.
Dem gegenüber verdient nun die Thatsache rückhnltslvse Anerkennung, daß
der Verfasser des Impsrig.1 Ohl-in-in^ von der Überlieferung abgewichen ist
und nicht die dem Engländer so unsympathische deutsche Kleinstndterei und
Unbeholfenheit in den Mittelpunkt seiner Betrachtungen gestellt, sondern seinen
Anfenthalt dazu benutzt hat, von der Natur und Weseuseigentümlichkeit, dem
Ursprung und den Lebensbedingungen des deutschen Reiches und Volkes, von
den Beweggründe» unsrer Negiernngspolitik und schließlich unsrer Gesamt¬
kultur ein möglichst treues Bild zu entwerfen.
Die wirksamste Folie für seiue Betrachtungen bilden außer Mayhew und
Hawthvrne die Faseleien des Pseudonymen Verfassers des -tour Luli se son 11s
und das seichte Snlvngerede der bekannten Pariserin in ihrer Looivtü as Lsrlin.
Whitmau trifft meist mit richtigem Gefühl den psychologischen Kernpunkt, so
wenn er in dem. Kapitel vom deutschen Zeitungswesen sagt: „Die Deutschen denken
mehr individuell als wir Engländer" und hinzusetzt, daß der deutsche Leser
uicht durch Dick und Dünn gerade der Zeitung folge, auf die er abonnirt, was
sicherlich in England die Regel ist, auch daß er der Urheberschaft der Leit¬
artikel nachforsche und auch die gegnerischen Blätter lese, um sich vor Ein¬
seitigkeit zu bewahren, eine Selbstentäußerung, die sich kaum bei einer andern
Nation finden dürfte. Er rühmt die heilsame Dezentralisation auch auf diesem
Felde und beneidet uns um Brennpunkte wie Leipzig, Köln, München und
Frankfurt neben der nicht allzu sehr dominirenden Reichshauptstadt. Wenn
er dagegen die schwierige Kunst, gute Leitartikel zu liefern, ausschließlich den
Engländern zuzusprechen sucht, so hat er sich doch wohl geirrt, wenn wir auch
dem Dg-it^ 1'slLgrg.pli, der v-ni/ I^so« und dem LtÄiularä ihren Ruhm nicht
nehmen wollen. Mit großer Wärme wird der sittliche Ernst und das Fern¬
halten des erziehlich bedenklichen in der deutschen Presse im Gegensatz zur
französischen betont. Auch folgende Aussprüche kennzeichnen die Gesinnung
des Beobachters: „Der Chauvinismus ist kein deutsches Gebrechen. — Wäre
Boulanger ein Deutscher, so würde er schon mich deu ersten vierundzwanzig
Stunden seiue Rolle ausgespielt haben. — Die Deutschen sprechen selbst von
überwundenen Feinden mit Achtung. — Angesichts der Erfolge der deutschen
Waffen hat uns die Abwesenheit nationaler Selbstüberschätzung bei den
Deutschen von jeher mit Bewunderung erfüllt."
Gedankenreich und anziehend, vielseitig und wohlwollend sind die Be¬
merkungen über unser gesellschaftliches Treiben, unser Unterrichtswesen und
über unser Heer. Dem deutschen Idealismus zollt Whitman in dem Kapitel
IlltsIIsoWal I.ike die Anerkennung, daß er die Wissenschaft aus dem Bereiche
des materiellen Gewinnes fast völlig erdrücke, „während in England ein Ge¬
lehrter um so höher geachtet wird, je mehr Geld er verdient." Wenn er
ferner auf die Thatsache hinweist, daß wir durch den kosmopolitischen Cha¬
rakter unsrer Übersetzungslitteratur und die Verbreitung völkerverbindender Ideen
alle andren Nationen übertreffen, und uns dazu Glück wünscht, daß die
Mehrzahl unsrer Gebildeten frei sei von bissotr/ und einräumt, daß „mehr
als irgendwo in Deutschland die Schulen die Wiege und die Universitäten die
Pflanzschulen für das gesamte geistige Leben bilden," und daß „alle die er¬
staunlichen Erfolge der Deutschen ohne jeglichen Wettbewerb erzielt werden,"
so berührt er damit einige sehr wesentliche Unterschiedsmerkmale, deren der
Engländer sonst nur ungern gedenkt. Sehr empfindlich muß es namentlich
drüben berührt haben, daß er das ungeheuerliche Unwesen des Prämien¬
schwindels, der auf englischen Lehranstalten herrscht, in das richtige Licht setzt.
Sein Urteil über das Heer zieht er in dem taciteischen Spruche zusammen:
.Mutlos inortg.1iuin arrms aut naiv Me<z 6ermM08 6886.
Dagegen ließen sich manche Fragezeichen hinter die Urteile setzen, die er
über den deutschen Adel, über unser Familienleben und über die deutschen
Frauen fällt. Doch auch hier wird alles gründlich und ernsthaft erörtert;
und eine gewisse Befangenheit des Urteils auf diesem Gebiete wird ja überall
fast einer patriotischen Tugend gleichgeachtet. Eine Einigung zu erzielen, ist
hier einfach eine Sache der Unmöglichkeit, wenigstens was die Frauen betrifft.
Völlig pflichten wir Whitman in allem bei, was er mit großer Anschau¬
lichkeit und silhvuetteuartiger Schärfe über deu deutschen Bierphilister sagt.
Es ist eine meisterhafte Skizze dieser spezifisch deutschen Erscheinungsform
kleinbürgerlicher Engherzigkeit und geistiger Verkümmerung, wobei jedoch nicht
zu vergessen ist, daß England seine «o«im6^8 und Frankreich seine 6xivi6r8
hat, also wie der Volkswitz sagt, „dieselbe Couleur in Grün." Es kann
Whitman auch uicht als übertriebener Nationalstolz angerechnet werden, daß
er in den zusammenfassenden Schlußbctrachtungen daran erinnert, was wir
alle gern einräumen, daß wir durch das Studium der Dinge in England viel
gelernt haben, zumal da er gleich darauf hinzusetzt: „Nun ist es aber an der
Zeit, daß wir die Eigenart der Deutschen zu ergründen suchen."
Die ideale Weltanschauung in den höhern Geistesregiouen, der materielle
Aufschwung, unsre physische Überlegenheit über die Franzosen, die Blüte unsrer
Universitäten, unsrer technischen Hochschulen und des gesamten Unterrichts, das
gewaltige Wachstum unsrer Städte, die gewissenhafte Verwaltung, die Pflege
der Künste, die Landstraßen, Brücken und Bahnhöfe, vor allem der unüber¬
troffene Frankfurter, das Sparkasfenwesen, worin wir nach des Verfassers
Geständnis den Engländern ein beschämendes Beispiel geben, unser Musterheer
— mit einem schwermütigen Seitenblick auf das englische —, der ausgedehnte
Grundbesitz der ländlichen Bevölkerung gegenüber den Depossedirten Englands
und Irlands, das alles wird zum Schlüsse noch einmal vorbeigeführt.
Allerdings drängt sich beim Lesen des Buches die Mutmaßung auf, daß
die optimistische Darstellung mancher Verhältnisse aus der Tendenz der taei-
teischen HörmMig, und des Buches der Madame de Staöl entspringe, und
einen äußern Anhalt dafür geben die zahlreichen taciteischen Aussprüche als
Kapitelmotti. Denn daß Whitman über manche Wunde schweigt oder mit dem
ciceronianischen Diplomatenkunstgriff der xi-astsritio scheinbar weggeht, liegt auf
der Hand. Aber alles zusammengenommen, trägt jedes Kapitel das untrüg¬
liche Gepräge aufrichtigen Wohlwollens und unverhohlener Anerkennung.
Umso mehr hat uus eines gewundert, nämlich seine auffallende Verschlossen¬
heit über unsre Rechtspflege: sie wird kaum gestreift. Ist das ein absicht¬
liches Stillschweigen?
Die Annahme, daß er sich um diesen hochwichtigen Teil des Sitten- und
Geisteslebens im deutschen Rechtsstaate nicht gekümmert habe, oder daß ihm das
Verständnis und jeder Maßstab dafür fehlen sollte, ist doch wohl ausgeschlossen.
Es bleibt nur die Möglichkeit, daß er unsrer wissenschaftlichen Jurisprudenz
und unsrer Rechtspflege seine Anerkennung als etwas Selbstverständliches still¬
schweigend zollt, er als Vertreter eines Volkes, das bei all seiner konstitutio¬
nellen Freiheit sich selbst eine so fürchterliche Kette geschmiedet hat in dem
schwerfälligen und wahnsinnig kostspieligen Mechanismus seines Nechtswesens,
wo die Zivilgerichtsbarkeit fast nur für den Reichen vorhanden ist, und wo das
«zuiWö als Inschrift auf dem Giebelfelde des Themistempels wie eine
Lüge auf der Stirn schimmern würde.
In der Tnuchnitzschen Ausgabe*) hat der Verfasser irrige Angaben der
ersten Auflage nach Möglichkeit verbessert. Es bedarf aber doch noch manches
der Berichtigung; fo läßt z. B. Whitman den Württemberger Kepler aus
Ostpreußen stammen. Außerdem hat er die neuesten Ereignisse berücksichtigt
und besonders die Charakteristik der Armee um einige Züge bereichert, die er
seitdem bei seinen Studien an Ort und Stelle gesammelt hat. Einen davon,
den die erste Ausgabe, wenn wir nicht irren, noch nicht enthielt, wollen wir
doch nacherzählen. Ein großer Berliner Bankier, der geadelt worden war,
und dessen Sohn beim Militär diente, lud die Offiziere des betreffenden Re-
giments zum Diner ein. Bei Tische bemerkte der Oberst, daß einer seiner
Offiziere fehlte, und zwar gerade der einzige, dessen Name „des magischen
Vorwörtleins »von« ermangelte." Der Bankier, darüber befragt, erwiderte
lächelnd: „Ich wünschte, daß wir ganz sutrs nous wären." Der Oberst gab
ein Zeichen, und sämtliche Offiziere empfahlen sich.
Es ist nicht bloß Vorliebe für uns Deutsche, was Whitman die Feder geführt
hat, sondern der Wunsch, seinen Engländern einen Spiegel vorzuhalten. Hat er
uns an einigen Stellen geschmeichelt, so ist es nicht unsre Sache, dagegen Ver¬
wahrung einzulegen. Dafür schweigen wir auch über die Stellen, wo er unsre
wirklichen oder angeblichen Fehler übertreibt und gewisse gute Eigenschaften seiner
Landsleute herausstreicht, z. B. die, durch die Englaud, d. h. ein kleiner Bruchteil
des englischen Volkes, ungeheuer reich geworden ist. Er beruhigt in diesem Punkte
seine Landsleute und versichert, die Deutschen würden niemals imstande sein,
ihnen den Weltmarkt streitig zu machen. Wir unsrerseits verzichten gern auf
den Vorzug, es den Engländern in diesem Punkte gleich zu thun; was sie
auf dem Weltmarkte verloren haben, das ist die Lebenskraft und das Lebens-
glttck von neun Zehnteln ihres Volkes. Ein Nationalreichtum, der das Volks¬
elend zur Voraussetzung hat, ist kein Segen.
er Berliner Amel-Antisemitcnverein scheint seit seiner unglücklichen
Proklamation kein Lebenszeichen mehr von sich gegeben zu haben.
Sollte den gewiß sehr wohlmeinenden Herren, die ihre Namen
für das Schriftstück hergegeben hatten, nachträglich doch zum
Bewußtsein gekommen sein, wie sonderbar sich der Hilferuf aus¬
nahm für eine Nationalität, die überall, wo sie sich niedergelassen hat, über
die größten Reichtümer, fast über die gesamte Tagespresse, über weit und
hoch reichende Verbindungen verfügt und überall mit Ausnahme Rußlands
rechtlich den andern Staatsangehörigen völlig gleichgestellt ist? Inzwischen
wurde in Wien die Gründung eines Zweiggeschäftes angekündigt. Dort er¬
scheint unter den Führern auch der bekannte Chirurg Professor Billroth, der.
wenn uns recht ist, vor mehreren Jahren durch ein Buch gegen das Juden¬
tum in der Medizin Aufsehen erregte. Mit welchen Mitteln der Antisemitis¬
mus ausgerottet werden soll, das wird aber auch in Wien als Geschäfts¬
geheimnis behandelt. Mit Genugthuung haben wir die zahlreiche Beteiligung
von Ärzten bemerkt, die ohne Zweifel die Absicht haben, die jetzt so oft als
Krankheit bezeichnete Bewegung wissenschaftlich zu studiren, den Grund der
Krankheit zu erforsche« und uns dann zu sagen, wie der Bacillus zu be¬
seitigen sei. Denn sie können sich unmöglich damit begnügen, gleich den Quack¬
salbern in den Zeitungen, in Vereinen nud parlamentarischen Versammlungen
zu wiederholen, daß es sich für gebildete Leute nicht schicke, krank zu werden.
Bisher ist der Antisemitismus ebenso behandelt worden wie der Sozialismus
bei seinem ersten Auftreten: man glaubte ihn totschweigen, dann totschreiben
und totrcden zu können. Und die Ähnlichkeit besteht auch darin, daß die große
Mehrheit der Bevölkerung heute die vorhandenen Übelstünde und die Not¬
wendigkeit, ihnen abzuhelfen, erkennt, ohne deshalb allen Forderungen und
Äußerungen — hier der antisemitischen, dort der sozialdemokratischen Partei —
zuzustimmen. Aber wahrend sich kaum noch jemand gegen die soziale Reform
ablehnend verhält, herrscht auf dem andern Gebiete noch viel Unaufrichtigkeit,
die ja zum Teil ihren Grund in der allgemeinen Richtung auf Billigkeit und
Duldsamkeit hat. Ist eine Gesellschaft sicher, kein Element in ihrer Mitte zu
haben, das dadurch verletzt werden könnte, so wird bald ein gelinder Anti¬
semitismus zum Vorschein kommen; in der Öffentlichkeit, vor fremden Zeugen
glaubt aber jeder seinen Abscheu gegen die Bewegung zu erkennen geben zu
müssen. Und zwar wird, wenn man nicht einfach bei dem Scheit- und Schimpf¬
lexikon der jüdischen Zeitungen Anleihen macht, denen, die sich durch das Vor¬
herrschen des jüdischen Stammes beeinträchtigt und bedrückt fühlen, vorgehalten,
wie unschön und unchristlich es sei, sich seinen Mitmenschen gegenüber von
persönlichen Interessen leiten zu lassen, denen aber, die solche Gründe nicht
haben, das Recht, sich zu beklagen, abgestritten.
Eine Folge, die sich übrigens voraussehe» ließ, hat allerdings die Grün¬
dung von „Vereinen zur Abwehr" bereits gehabt: die antisemitische Bewegung
ist um vieles rühriger geworden. Fort und fort gehen uns neue Bücher über
die Frage, dicke und dünne, zu, und fehlt es der Partei an täglich erschei¬
nenden Organe,?, so mehrt sich doch die Zahl der Wochenschriften u. s. w:
recht ansehnlich. G. Höppners Buchhandlung in Berlin laßt sogar alljährlich
einen „Wegweiser durch die antisemitische Litteratur" erscheinen. Die meisten
Bücher und Flugschriften, die uns zu Gesicht gekommen sind, sind freilich nicht
bedeutender, als die philosemitischen Zeitungsartikel. Namentlich wird immer
wieder der Fehler begangen, unerwiesene oder uuerweisliche Anklagen aufs
neue vorzubringen oder sich auf unzuverlässige Gewährsmänner zu berufen.
Auch Dr. Gustav Stille, or. invä., ein Manu, der mit ernster Überzeugung
spricht, hält sich in seinem Kampf gegen das Judentum (Leipzig, Germa-
nicus-Verlag) hiervon nicht frei. Was kommt schließlich darauf an, ob gewisse
Grundsätze im Original-Talmud (!) oder in vermehrten und verbesserten Aus¬
gaben stehen, ob die rituellen Morde Thatsachen oder Märchen sind! Scheuß-
licher Aberglaube findet sich noch überall, und wenn Esther Solimosh in Tisza-
Eszlar wirklich ermordet worden ist, so darf dafür nicht das gesamte Judentum
verantwortlich gemacht werden. Sehr nützlich ist es dagegen, an Thatsachen
den verderblichen Einfluß der jüdischen Presse, der Miimvö israolite, der Ver¬
bündeten Geldmächte darzulegen. In dieser Beziehung liefert uoch viel reicheres
Material als Stilles Buch das zweibändige Werk von Carl Paasch (Leipzig,
Selbstverlag). Der Verfasser erhebt gegen eine Menge von Personen, zum Teil
hohe deutsche Staatsbeamte, so schwere Anschuldigungen, daß er aller Wahr¬
scheinlichkeit nach wird angehalten werden, sie zu beweise«, und wir Austand
nehmen, ans diesen Kernpunkt der Publikation, die sichtlich in höchster Er¬
regung verfaßt worden ist, einzugehen. Aber danken muß man ihm, daß er
Beispiele eines unverantwortlichen Preßtreibens, von denen die große Menge
der Zeitungen aus übelverstaudener Kollegialität keine Notiz nimmt, mit aller
Gründlichkeit festgenagelt hat. Dahin gehört das Verhalten verschiedner Ber¬
liner Blätter bei dem Prozeß des Malers Graf. Was da gegen den Präsi¬
denten des Schwurgerichtes und den Staatsanwalt gewagt, was in Ver¬
drehung des Thatbestandes geleistet worden ist, muß in der That eine Signatur
der Zeit genannt werden. Und wie hübsch ist es, wenn eine angesehen Zei-
tung ankündigt, das Frauenzimmer aus der Hefe des Volkes, um deretwillen
der beklagenswerte Maler sich einen Meineid hatte zu schulden kommen lasse»,
werde „unter sorgsam verschwiegenen Theaternamen el» Engagement an einer
auswärtigen Bühne antreten," und die „Künstlerin" unmittelbar darauf sich
in einem sogenannten Tingeltangel produzirte, natürlich unter ihrem wahren
Namen, der allem ihr zum Engagement verholfen hatte! Dahin gehört die
Hetze gegen Stöcker und vieles andre. Solche Dinge werden wohl vergessen.
Erscheint doch der viclgeschäftigc Feuilletonist, der sich anch in der Gräfschen
Sache hervorthat, und den die Veröffentlichung seiner Briefe an eine Schau¬
spielerin bestimmte, über das Weltmeer zu gehen, schon wieder mit seinem
vollen Namen als Mitarbeiter „großer" Blätter und wird wohl bald Berlin
wieder durch seine Gegenwart zieren! Der Redakteur der „Volkszeitung," der
gewagt hatte, den Skandal ans Licht zu ziehe», verlor deswegen seinen Posten,
und er hätte dazu schweigen müssen, wenn nicht die „Kreuzzeitung" ihm ihre
Spalten zu einem letzten Worte geöffnet hätte. Diese Thatsachen sprechen
und sind nicht abzuleugnen. Doch wozu davon viel Wesens machen? sagen
„humane" Leute; es ist nun einmal so, und wie es zu ändern sei, hat uus
uoch keiner gesagt. In allen andern Fällen finden sie es freilich ganz in der
Ordnung, daß Mißstände zur Sprache gebracht werden, damit aus allseitiger
Erörterung eine Verständigung über die mögliche Abhilfe hervorgehen könne.
Leidenschaftlicher als in Deutschland wird in Österreich der Kampf geführt,
und darüber kann sich »jemand wundern, der beobachtet, mit welcher Dreistig¬
keit dort das Judentum auftritt. Die jüngste Vergangenheit hat dafür wieder
einen solchen Beweis gebracht. Im Abgeordnetenhaus« brachte ein Redner die
heikle Frage der Vereidigung von Christen durch jüdische Richter vor. Er
that es nicht in würdiger Weise, das muß zugegeben werden. Aber seine
Gegner verbargen so wenig das Triumphgefühl, die Strafen aufzahlen zu
können, die ein Christ zu gewärtigen hat, dessen Gewissen sich dagegen sträubt,
den Eid in die Hand eines Juden abzulegen, sie fügten dem Hohn so kecke
Abkanzelungen des Justizministers hinzu, der gewagt hatte, an den Takt der
jüdischen Richter zu appelliren, und einer scheute sich nicht, mit Berufung auf
einen „berühmten Physiologen," der wahrscheinlich auch dem auserwählten
Volke angehört, alle, die das Bestehen einer Judenfrage anerkennen, für ver¬
rückt zu erklären, daß es ein Wunder wäre, wenn diese Reden nicht dem
Antisemitismus viele neue Anhänger zuführten. Das streitende Judentum
zitirt jetzt gern das Alte Testament: offenbar kennen es die Herren nicht genau,
sonst würden sie wissen, daß ihre Gegner gar nicht nötig hätten, ihre An¬
griffswaffen aus dein Talmud zu holen.
Ein interessantes Kapitel wird in der kleinen Schrift von Alexander
Berg: Judentum und Sozialdemokratie (Berlin, Dewald) abgehandelt.
Der Verfasser kritisirt die ungeheuerliche Erscheinung, daß die deutschen Ar¬
beiter, die sich durch jüdische Agitatoren haben in den blinden Haß gegen alle
Arbeitgeber hineinsetzen lassen, noch zehnmal verblendeter jüdischen Führern
folgen, die durch wirkliche Ausbeutung der Arbeiter oder durch Wucher reich
geworden sind, und bemerkt treffend, daß die Marxsche Theorie nur in
Deutschland so vollständig zum Siege gebracht werden konnte, weil „von
allen Nationen die deutsche leider das bei weitem am schwächsten entwickelte
Nationalgefühl aufzuweisen hat. Nicht ein Zeichen ihrer Intelligenz, wie die
deutschen Arbeiter sich so gern einreden und von andern vorreden lassen, ist
es, daß sie zur Hochburg des internationalen Judentums geworden sind, son¬
dern vielmehr ein Zeichen dafür, daß sie dem Eindringen einer Theorie mit
internationalem Charakter überhaupt die nötige nationale Widerstandskraft
uicht entgegenzusetzen hatten." Das ist unzweifelhaft richtig, bedarf aber einer
Ergänzung dahin, daß in unserm Volke immer uoch ein stärkerer idealistischer
Zug wirkt, auch in denen, die sich von solcher Schwäche gänzlich frei wähnen.
Wir haben es schon wiederholt ausgesprochen: der Sozialdemokrat in England,
in Frankreich, in Dünemark, in den slawischen Ländern bleibt immer Eng¬
länder, Franzose, Däne, Slawe und hat bei dem Gerede von allgemeiner
Verbrüderung stets den Vorbehalt, daß sein Land und Volk nicht in den
allgemeinen Brei mit eingerührt werden dürfen; nur in Deutschland blüht die
bornirte Ehrlichkeit, es mit den Redensarten ernst zu nehmen. Der gute
Michel stirbt nicht aus. Wie es wohl einem Pariser Schwachkopf ergehen
würde, der einen Genossen wie der große Bebel den Herrn von Vollmar
wegen eines Restes nationaler Gesinnung schulmeistern wollte!
Wenn Berg annimmt, die gesamte jüdisch-sozialdemokratische Agitation
arbeite nach gemeinschaftlichem festem Plan, so übersieht er, wie es scheint,
gewisse Eigenschaften des jüdischen Volkscharakters. Es ist gern zu glauben,
daß gewisse Personen die Beteiligung an der Arbeiterbewegung als eine Asse¬
kuranz betrachten nach dem Grundsatze: „Verschon mein Haus, zünd andre
an!" Es ist nicht zu bezweifeln, daß mancher in der allgemeinen Proletari-
sirung die Verwirklichung der Weltherrschaftsträume des Stammes erblickt.
Aber auch der gewaltige Drang, irgend eine Rolle in der Welt zu spielen,
muß mit in Rechnung gezogen werden. Damit erklärte z. B. Hehn in einem
seiner Briefe den Übertritt des Herrn Paul Singer ans dem freisinnigen in
das sozialdemokratische Lager. Unter den Freisinnigen gab es zu viele seines-
gleichen, als daß er darauf rechnen konnte, bemerkt zu werden. Und dazu
kommt der Hang, zu kritisiren, zu negiren, durch Scharfsinn zu glänzen und
das eigentümliche Gemisch von Wagehalsigkeit und Zaghaftigkeit, das im täg¬
lichen Leben dazu antreibt, alles, was neu und einigermaßen gefährlich ist,
mitzumachen, aber doch mit Beobachtung großer Vorsicht, und das so viele
Juden zu Verschwörern von Profession macht. Von Paris oder doch von
einem für sicher gehaltenen Versteck aus Bombenwerfer und Minengrüber in
Rußland zu kommandiren, das reizt Leute, die sich gewiß so wenig träumen
lassen, die Ermordung eines Zaren werde ihnen persönlich Vorteil bringen,
als ihnen an dem Lose der russischen Nation gelegen ist.
Sehr beachtenswert ist des Verfassers Darstellung der einseitigen, materia¬
listischen, wie er sagt spezifisch jüdischen Geschichtsauffassung in der Marxschen
Lehre, derzufolge „das, was auf dem wirtschaftlichen Gebiete vorgeht und sich
entwickelt, das für die Gestaltung aller zukünftigen Verhältnisse einzig be¬
stimmende, die Beherrschung der Produktionsverhältnisse gleichbedeutend mit
der absoluten politischen Allmacht sei, und also mit dem konzentrirtesten und
umfassendsten Besitze des Mittels, mit dem der größte Einfluß auf dieselben
flie Produktionsverhältnisse^ erlangt werden kann, d. h. mit dem Besitze des
mobilen Geldkapitals, unweigerlich die größte und unerschütterlichste Macht
innerhalb der Nationen verbunden sein müsse." Auf der Überzeugung, daß
endlich auch der deutsche Arbeiter einsehen müsse, das Verharren in dieser
Geschichtsauffassung könne keine andre Folge haben, als die Verewigung der
„modernen anarchistischen Produktionsweise," beruht die Hoffnung des Ver¬
fassers auf die Erlösung des wahren Sozialismus aus den Banden der
Marxschen Lehre.
Es ist zu bedauern, daß Berg durch langatmigen Satzbau und Vorliebe
für philosophische Schulausdrücke gerade dem Publikum, von dem er vor allem
gelesen werden sollte, das Verständnis erschwert hat.
cum wir nur wüßten, wo wir Geld herkriegten für nächsten
Sonntag.
Warum denn gerade für den Sonntag?
Weil da Maskenball ist, da möchte ich gerne hingehn.
Ich kann welches kriegen, wenn ich will.
Wenn wir nur einmal einen Mord begehn könnten, bei dein wir ein
paar Tausend Mark verdienten!
Ich wüßte jemand, eine alte Frau in Z.
Hat sie Geld?
Ja. Machst du mit, wenn ichs thäte?
Machst du mit?
Heute paßt mirs gerade nicht, aber —
Es war am 27. Januar 1891, als zwei Bursche im Alter von sechzehn
Jahren auf einem Spaziergange, den sie außerhalb ihres Ortes nach einem
nahen Gehölze machten, dieses Gespräch führten. Dem Gespräche folgt eine
kleine Pause, dann nahm der ältere den Faden der Unterhaltung wieder auf:
Gehst du mit?
Na ja, du holst mich ab.
Am Nachmittag nahmen beide die Richtung nach dem Dorfe, wo die alte
Frau wohnte. Das Haus, worin sie sich aufhielt, gehörte einem Tischler,
der mit seinem vierzehnjährigen Sohne das Erdgeschoß bewohnte. Er war
Witwer. Auch die Frau war verwitwet und stand allein in der Welt. Ihr
Anwesen war verkauft, sie wohnte, was sonst auf dem Lande nicht oft vor¬
kommt, zur Miete und lebte von den Zinsen des bei dem Verkauf übrig¬
gebliebenen kleinen Kapitals. Der ältere der beide« Jungen, der infolge einer
Verletzung seiner Hand, die er sich in der Fabrik zugezogen hatte, in seiner
Erwerbsfähigkeit beschränkt war und sich hauptsächlich hcmsirend vom Handel
mit Lebensmitteln nährte, hatte auf seinen Handelsgängen die Wohnung der
Frau schon öfter betreten. Er wußte, daß dort Geld zu finden war und wo es lag.
Unterwegs begegnen beide einem Handwerksburschen. Sie teilen ihm auf
seine Frage, wo sie hinwollten, unbefangen und ohne Rückhalt mit, daß sie
eine alte Frau berauben und ermorden wollen, als ob es sich dabei um eine
ganz gleichgiltige Sache handelte. Der ältere zeigt ihm einen Nickfänger, mit
dem er die That verüben will. Der Handwerksbursche meint, dazu bedürfe
es gar keines Messers. Es genüge, die Alte mit einem Stocke hinter die
Ohren zu hauen. Sie nähern sich nun zu dritt dem Hause, wo die Frau
wohnt. Es liegt gegen hundert Schritt vor dem Eingang ins Dorf an einem
wenig betretnen Wege. Die Lage ist sür einen Mord wie geschaffen. Sie
finden die Hausthür verschlossen. Der Handwerksbursche schlägt vor, es heute
zu lassen, und wendet sich weiter ins nächste Dorf. Ihm schien es mit der
Sache auch nicht ganz ernst zu sein. Anders die beiden Jungen. Sie bleiben
da, um den Mord allein auszuführen. Die Alte ist zu Hause, sie hat Licht.
Aber alle Versuche, sich ohne auffallendes Geräusch Eintritt ins Haus zu
verschaffen, schlagen fehl. Sie gehen endlich unverrichteter Sache wieder fort,
aber mit dem Vorsatze, die That am andern Tage auszuführen.
Andern Tages schlendert der ältere nach dem anderthalb Stunden von
seinem Wohnort, einem kleinen Fabrikstädtchen, liegenden großen Fabrikvrt,
um die Parade mit anzusehen, die dort am Geburtstage des Kaisers statt¬
findet. Unterwegs begegnet er dem aus seinem Orte stammenden noch schul¬
pflichtigen N., der wegen des Festtages hente keine Schule hat. Er kennt
ihn und weiß, daß er schon allerhand Schlechtigkeiten begangen hat. Er teilt
ihm den Mordplan mit, worauf sich N. ohne weiteres bereit finden läßt,
ihn mit auszuführen. Er hat Besen zum Verkauf in die Stadt zu tragen,
die will er erst in der Stadt absetzen, dann steht er zu Diensten. Beide
kommen aber in der Stadt ans einander, und K., in dem der Mord¬
gedanke am festesten sitzt, begegnet inzwischen einem andern Burschen von
gleichem Alter. Obwohl ihm der nicht einmal dem Namen nach bekannt ist,
verwickelt er ihn sofort in ein Gespräch, indem er ihn fragt, ob er Arbeit
habe. Als der andre das verneint, macht er ihm auch sofort den Vorschlag,
eine alte Frau mit totzuschlagen, die Witwe V. in Z., zieht den Nickfänger
vor und führt ihm vor Angen, wie er die altersschwache Frau mit einem in
den Hals geführten Stiche ums Leben bringen werde. Er solle mitgehen
und der Frau das Halstuch und das Kopftuch herabziehen; darunter pflegten
alte ängstliche Frauen oft ihre Wertpapiere zu verstecken. Auch dieser aus
der Hauptstadt stammende Junge läßt sich ohne langes Besinnen bereit finden,
die That mit auszuführen, und K. macht sich zum zweitenmal auf den
Weg nach Z.
Unterwegs entwirft er mit dem andern den Mordplan. G., der neu¬
gewonnene, soll zuerst das Haus betreten und den unten wohnenden Tischler
um eine milde Gabe anbetteln, dabei aber die mit einer lauten Klingel versehene
Hausthür offen lassen, damit er ihm dann ohne weiteres Geräusch folgen und
sich die Treppe hinauf schleichen kann. Den Kopf, meint K., kann es nicht
kosten, denn wir sind noch junge Leute, die noch leine zwanzig Jahre alt sind.
Da kommen wir mit ein paar Jahren Gefängnis weg, wenn sie uns erwischen.
Dann verabreden sie, daß sie mit dem gestohlenen Gelde nach der Schweiz
flüchten wollen. Die Schweiz liefere nicht aus, meint G. Er weiß das aus
einer Strafsache, die vor einigen Jahren gegen einen bankerotten Kaufmann
verhandelt worden ist. Dieser sei freilich so dumm gewesen, sich mit List
aus der Schweiz wieder herauslocken zu lassen.
G. befolgt die ihm erteilte Anweisung. Als aber K. die Treppe hinauf¬
schleichen will, tritt der Tischler aus seiner Werkstatt und nötigt ihn, wieder
herunterzusteigen. Da sich auch der Sohn des Tischlers beständig in der
Nähe des Hauses zu schaffen macht, gehen sie zunächst wieder fort in der
Richtung nach einem Nachbarorte.
Nach einiger Zeit kehren sie von neuem zurück und macheu den Versuch,
von außen ins Haus zu steigen. Ein Schuppen, der gerade unter dem Fenster
der Wohnung der Frau liegt, erleichtert den Einstieg. K. erklettert das Dach
und will den andern nachziehen. Das Geräusch, das dabei entsteht, erregt
aber wieder die Aufmerksamkeit des Tischlers. Er tritt heraus und verscheucht
die Jungen zum zweitenmal. Sie stehen auch diesmal von dem Plan ab,
K. mit dem Vorsatze, ihn andern Tages weiter zu verfolgen, sobald die Lage
günstiger sei.' Er wartet nur darauf, bis. andern Tages der kleine N. aus der
Schule kommt. , ,
Wieder machen sich beide auf den Weg, K. jetzt zum drittenmale. Vor¬
her giebt er dem N. einen Groschen, damit er zwei Schachteln Wichse kaufen
kann. Mit der einen Schachtel soll er sich in die Behausung des Tischlers
begeben Und sie diesem zum Kaufe anbieten, damit er, K., sich inzwischen durch
die offen gelassene Hausthür ins Haus einschleichen kaun. Mit dem Anbieten
der zweiten Schachtel kann er dann seinen Eintritt in die Wohnung der Frau
B. rechtfertigen. N. soll ihm dann in die obere Wohnung nachfolgen und
ihm bei der Ermordung helfen Er soll die Frau festhalten^ damit „das Blut
nichts so umherspritzt."
. Als N. bei dem Tischler eintritt, findet er, daß die Frau B. selbst an¬
wesend ist. Das Anbieten der Wichse wird abgelehnt; er kann aber unter
solchen Umständen dem K. nicht folgen, sondern will erst warten, bis die
Frau Meder' hinaufgeht. K. hat, als er die Treppe ungehindert hinaufstieg,
die Wohnung verschlossen gefunden. Frau B. ist, wie er annehmen muß,
ausgegangen. Er beschließt, ihre Rückkunft zu erwarten, und begiebt sich zu
diesem Zweck auf den Boden, wohin eine weitere Treppe führt.
. Es vergehen Stunden; die Frau kommt nicht. K. hat sich aus der obern
Treppenstufe hingekauert, bis sein Opfer in Sicht kommt; beharrlich trägt er
den Gedanken an die Vollziehung seines Werkes in der Seele. Der kleine
N. giebt indes die versprochene Hilfe auf, da er dem K. nicht unbemerkt folgen
kaun, und verläßt den Schauplatz. > ,
Die Frau B. war nicht wieder hinauf, sondern ins Dorf gegangen , Um
Bekannte zu besuchen. Nach zwei Stunden kehrt sie zurück. K. sieht nun den
Augenblick zur That gekommen und faßt das Mordinstrument, das er in der
Hand trägt, fest an. Aber da merkt er in seinem Versteck, daß die Frau nicht
allein kommt; sie hat eine Begleiterin. Ihre Schwiegertochter, die junge
Frau B., kommt mit ihr. Sie treten in die Stube ein; die alte Frau B.
setzt dem Besuche Kaffee vor, und es kommt auch noch andrer Besuch, ein
im Dorfe anwesender Landarzt, der eine Kurkostenrechnung bringt. K. über¬
steht auch die weitere einstündige Zeitdauer, ohne daß ein Gedanke von Reue
über ihn käme. Endlich, es ist an dem grauen nebligen Wintertage schon
dämmerig geworden, verläßt der Besuch die Wohnung, und mit ihm geht auch
die Frau B. fort und läßt die Stubenthür hinter sich offen. Der längst er¬
sehnte Augenblick ist gekommen, und K. begiebt sich in die Stube.
Dort nimmt er aus einem Spind — der Aufbewahrungsort ist ihm be-
kannt — das dort verwahrte dure Geld und steckt es zu sich. Es sind vier¬
zehn Mark und einige Groschen. Während er im Begriff ist, nach dem
Sparkassenbuch und sonstigen Wertpapieren zu suchen, vernimmt er, wie
jemand wieder die Treppe heraufkommt. Noch weiß er nicht, wer und wie
viele es sind. Rasch entschlossen tritt er in die neben der Stube liegende
Schlafkammer und verkriecht sich unter die Decke des dort stehenden Bettes,
nachdem er sich seines Huts und seiner Schuhe entledigt hat.
Die Eintretende ist die Frau B. Sie nimmt alsbald den Weg zur
Kammer, um das beim Kaffeetrinken benutzte Brot wieder dahin zu tragen
und wie sie gewohnt ist, unter das Kopfkissen zu verstecken. Da erhebt
sich der unter der Decke verborgne Junge, stürzt auf die mit gebeugtem Kopfe
vor ihm stehende wie ein Raubtier los und sticht sie mit dem bereit gehaltnen
'Nickfänger in den Kopf. Die Frau flieht nach der Stube, der Mörder folgt
ihr und bringt ihr eine zweite, diesmal tötliche Stichwunde am Halse bei
und versetzt ihr, während sie nach dem Vorsaale wankt, noch einen dritten
Stich, der mit solcher Kraft und Wucht geführt ist, daß die Spitze des
Messers in der Hirnschale abbricht und die Frau röchelnd am Thürpfosten
zusammensinkt. ^
Mit einemmale, wo er die Frau in ihrem Blute liegen sieht, verläßt ihn
der Gleichmut. Wie von den Furie« gepeitscht, stürzt er, seinen Hut und die
Schuhe zurücklassend, die Treppe hinunter, stößt den ihm dort begegnenden
Sohn des Tischlers zur Seite und jagt auf der Straße weiter — hinaus in
die Nacht.
Unterwegs trifft er eine Anzahl Jungen, die auf der abschüssigen Straße
in der Nähe seines Wohnortes Schlitten fahren. Sie rufen den in bloßen
Strümpfen und barhäuptig dahin eilenden an. Mit einer flüchtigen Ent¬
schuldigung läuft er an ihnen vorüber. Zu Hause angekommen, versieht er
sich mit Schuhen und einer Mütze und geht in eine Wirtschaft, wo er einen
Teil des geraubten Geldes vertrinkt.
Was wir hier erzählen, ist nicht eine Episode aus einem Kriminalrvman,
nicht das Ereignis dichtender Phantasie, es beruht Satz für Satz auf akten-
müßigen Unterlagen. Traugott K. wurde in der öffentlichen Sitzung des
Landgerichts zu Gera um 26. Mai 1891 wegen Mordes zu fünfzehn Jahren
Gefängnis verurteilt, sein Genosse N. wegen Versuchs der Mitthätcrschaft zu
einer Gefängnisstrafe von drei Jahren und G. wegen unterlassener Anzeige
eines geplanten Mordes (Z 139 des Strafgesetzbuches) zu sechs Monaten Ge¬
fängnis. K. stellte den Mord lange Zeit hartnäckig in Abrede, indem er deu
G. als Mörder bezeichnete. Die starke Belastung, die die aufgefundnen Schuhe
und der Hut boten, suchte er dadurch zu beseitigen, daß er behauptete, G.
habe Sachen von ihm geborgt, um die Entdeckung zu erschweren. G. saß
deshalb längere Zeit in Untersuchungshaft, bis einige dem K. abgenommene
Kassiber und das Geständnis des N. den K. in eine Lage brachten, wo er
mit dem Eingestündnisse der That nicht länger zurückhalten konnte.
Die Bedeutung, die der Fall in Anspruch nimmt, liegt nicht in seiner
juristischen Seite, sondern in dem Umstände, daß die in dem blutigen Drama
handelnd auftretenden Teilnehmer lauter der Schule kaum entwachsene, teilweise
sogar noch schulpflichtige Jungen sind, Jungen, die in einem solchen Alter
das schwerste aller Verbrechen, die mit Vorbedacht und Überlegung vollzogene
Ermordung eines Menschen ausgeführt und zwar in einer Weise ausgeführt
haben, als ob sichs um ein jugendliches Spiel handelte. Sie handeln dabei mit
der planmäßigen Umsicht eines in einer langen Verbrccherlanfbahn ergrauten
Verbrechers. Sie gehen an die Ausführung mit dem kalten Blute eines gegen
alles menschliche Gefühl und alle Regungen des Herzens abgestumpften pro¬
fessionsmüßigen Mörders. Sie verraten eine genane Kenntnis der straf¬
gesetzlichen Bestimmungen und der deshalb zu beobachtenden Vorsichtsma߬
regeln. Sie verfolgen das einmal beschlvssne Ziel mit einer Zähigkeit, wie
sie sonst nur der in der Schule des Lebens gestählten Willenskraft zu eigen ist.
Der rohe Cynismus des Hauptthäters K. trat auch noch weiter bei seinem
Verhalten nach der That hervor. Auf die Frage seiner Schwester, was er
denn eigentlich gethan habe, daß ihn die Polizei verfolge, erwiderte er: Was
wirds denn weiter sein, ich habe eine alte Frau ermordet! und auf die in der
Verhandlung an ihn gerichtete Frage des Vorsitzenden, ob er einräume, die
Frau B. ermordet zu haben, antwortet er mit einem fast höhnisch klingenden
frechen: Jawohl! Rechnet man weiter hinzu die Niedrigkeit des Beweggrundes,
Habsucht im Bunde mit Vergnügungssucht — man ermordet einen Menschen,
um einen Maskenball mitmachen zu können! —, so ergiebt sich hier eine Summe
menschlicher Lasterhaftigkeit, wie sie sich in solcher Häufung wohl selten zu¬
sammenfinden wird.
Da drängt sich denn unwillkürlich die Frage auf: Ist dieser Fall als
vereinzelt zu betrachten, oder erscheint er als typisch für den Charakter der
Zeit, in der wir leben? Ist er nicht das Erzeugnis der zerstörenden Be¬
strebungen, die unsre Zeit beherrschen? Ist er nicht die natürliche Folge einer
fehlerhaften Erziehung, an der Haus und Schule einzeln oder gemeinsam die
Verantwortung tragen? Der eine Thäter betritt den Weg des Verbrechens
unmittelbar von der eben verlassnen Schulbank aus, und der Vater des K.
thut, als er erfährt, die Polizei fahnde auf den Jungen, die bezeichnende Äuße¬
rung: Sags, wenn du was aufgefressen hast, schlagen dürfen sie dich nicht!
Die Familie nährt sich vom Tagelohn, der Junge selbst ist bereits zweimal
wegen Diebstahls bestraft. Die Mutter des N. ist Leichenwäscherin und lebt
im Armenhause. G. ist der Sohn eines bei der Eisenbahn angestellten Brem¬
sers und hat eine städtische Erziehung genossen. Die Mutter erscheint vor
Gericht als Entlastungszeugin in Hut und gewählter Kleidung und giebt
sich im Verein mit dem Vater die Miene, als verträte sie den gebildeten
Beamtenstand.
Die Klagen über die Verwilderung unsrer Jugend sind nicht neu. Sie
haben auch schon in diesen Blättern ihren Ausdruck gefunden. Daß ein Mensch
wie dieser K. noch vor dem Eintritt in das Alter der vollen Strafbarkeit zu
den rückfälligen Dieben gehört und mit dem achtzehnten Lebensjahre Zuchthnus-
kaudidat ist, gehört schou uicht mehr zu den Seltenheiten. Daß in einem andern
Falle junge Leute einen Verein gründen, der den Zweck hat, gemeinschaft¬
lich oder jeder für sich zu stehlen und zu betrügen, das dadurch gewonnene
Geld in einer Kasse anlegen, um, wenn die nötige Summe zusammen ist,
in die weite Welt hinauszuziehen, zu diesem Zwecke Satzungen beraten
und die Mitglieder mit besondern Feierlichkeiten aufnehmen, wobei sie das
ihren Prinzipalen aus dem Keller gestohlene Bier trinken, das hat immer
noch einen Anflug von jugendlicher Romantik. Sittlich schlimmer sind schon
die zahlreichen Vergehen in geschlechtlicher Beziehung, auf die man jetzt schon
bei Kindern stößt. Sie haben zugleich auch einen physischen Ruin im Gefolge.
Volksschullehrer machen in Bezug ans diese Dinge oft Erfahrungen und Ent¬
deckungen, bei denen einen: die Haare zu Berge stehen, und wenn man die
Straßen der kinderreichen Arbeiterviertel unsrer Groß- und Fabrikstädte durch¬
wandert, treten uns an Wand und Thor massenhaft die Zeugnisse einer vor¬
zeitigen Bekanntschaft mit geschlechtlichen Verhältnissen vor Augen. Nimmt
man dazu den besonders schweren Fall, der sich vor einiger Zeit in Berlin
ereignete, daß ein Junge ein kleines Mädchen, nachdem er sie der Ohrringe
beraubt hatte, um sich ihr Zeugnis vom Halse zu schaffen, zum Feusier hinaus¬
stürzte, nimmt man dazu, welche Rolle die halbwüchsige Jugend bei allen
Arbeiterkrawallen spielt, und so manches andre, was die Presse in Bezug auf
dieses Thema gebracht hat, so kann man nicht leugnen, daß in der Jugend-
Verwilderung ein allgemeines Zeichen der Zeit liegt. Nur auf solchen Grund¬
lagen läßt sich unser Fall erklären.
Auch über die Ursachen dieses Zustandes ist schon genug geschrieben
worden. Wir wollen hier nur darauf hinweisen, daß unsre Jugend schon
zu viel weiß, daß sie durch das Lesen der Tagcsblütter, die ihnen zu wenig
vorenthalten werden, über Dinge und Vorkommnisse unterrichtet wird, die
ihnen uoch entrückt und verborgen bleiben sollten, daß auch der frühzeitige,
an keine Schranken gebundene Verkehr mit Erwachsenen sie vieles hören und
sehen läßt, was ihrem Auge und Ohr noch ebenso verborgen bleiben sollte.
Was die Schule in ihren vier Wänden Gutes stiftet, das verderben wieder
Haus und Straße. Am schlimmsten steht es immer in den Familien, wo
beide Eltern den Tag über auf Arbeit gehen und die Kinder in der schulfreien
Zeit sich selbst überlassen sind. Hier fehlt der sittliche Einfluß der Familie
so gut wie ganz, und das macht sich besonders fühlbar in dem Mangel an
Gemütsbildung, der sich in dem hier geschilderten Falle aufs schrecklichste
offenbart.
Wenn sich die Jugend zu solchen Thaten versteigt, so sind wir in der
That berechtigt zu der beklemmenden Frage: Wo soll das hinaus?
Der Begriff der UnVerantwortlichkeit und Unverletzbarkeit der
Abgeordneten hat in verschiednen Ländern verschleime Ausdehnung. Daß ein Mit¬
glied eines Parlaments für das, was es in dieser Eigenschaft spricht, nicht gerichtlich
belangt werden kann, steht überall fest; während sich aber z. B. in Frankreich und
Ungarn kein Abgeordneter weigert, für persönliche Beleidigungen Genugthuung zu
geben (und in Ungarn solche Angelegenheiten ernster behandelt zu werden scheinen,
als in Frankreich, wo die Zweikämpfe meistens Spiegelfechterei bleiben), wehrt man
sich merkwürdigerweise in Deutschland, auf dessen Hochschulen, wie erst unlängst in
diesem Blatte geschildert wurde, das Duelliren förmlich gezüchtet wird, vielfach mit
Entschiedenheit gegen die Einführung jenes Gebrauches. Da bereitete denn die
telegraphische Nachricht große Befriedigung, daß in Budapest eine Versammlung
von Abgeordneten aller Parteien erklärt habe, ein Mitglied, das beleidigende
Äußerungen über ein in Fiume stehendes Regiment gethan hatte, brauche die Heraus¬
forderung eines vom Regiment dazu bestimmten Offiziers nicht anzunehmen. Eine
Wiener Zeitung rief in ihrer Herzensfreude aus: „Was sollte auch aus der Ab¬
geordnetenimmunität werden, wenn zwar kein Staatsanwalt und kein Gericht das
Recht hätte, den Abgeordneten wegen seiner in Ausübung des Maubads gemachten
Äußerungen zur Rechenschaft zu ziehen, wohl aber jeder Offizier ihm deswegen
seine Zeugen schicken könnte!" Zugleich plauderte das Blatt eine erbauliche Ge¬
schichte aus. Im vergangenen Jahre hatte ein österreichischer Abgeordneter einem
Offizier Pflichtvergessenheit vorgeworfen, und zwar, wie aus der Erzählung her¬
vorgeht, grundlos. Der Oberst trat für die Ehre seines Regiments ein, die Zeugen
des Abgeordneten aber erklärten, die beleidigenden Worte seien von dem Redner
nicht gebraucht, sondern ihm nur von den Zeitungen in den Mund gelegt worden,
obgleich die Zeitungen die Rede „vollkommen sinngetreu wiedergegeben hatten."
In der That höchst merkwürdig. Worüber soll man mehr staunen, über den
Abgeordneten, der, anstatt ehrlich einzugestehen, daß er schlecht unterrichtet war,
seine Worte ableugnet, über die Kollegen, die ihm dabei als Eideshelfer dienen,
oder über die Nachsicht des Offizierkorps, eine solche Ausrede gelten zu lassen?
Und zu allem Unglück kommt noch heraus, daß der Telegraph ungenau berichtet
hat. Die ungarischen Abgeordneten haben keineswegs überhaupt die Pflicht in Ab¬
rede gestellt, einem Beleidigten Rede zu stehen, sondern nur in diesem besondern
Falle, weil der Redner die Angabe eines Polizeibeamten in Fiume wiederholt hatte.
Auf diesen wird mithin die Verantwortlichkeit gewälzt, und das giebt der Sache
ein ganz andres Gesicht. In der That ist das Verhältnis ganz einfach. Kann
ein Abgeordneter das, was er gesagt hat beweisen, so wird kein vernünftiger
Mensch ihm zumuten, sich auf die Mensur zu stellen. Umgekehrt aber darf man
jene Zeitung fragen: Was sollte aus der persönlichen und der Amtsehre werden,
wenn jeder Abgeordnete das Recht hätte, ungestraft leichtfertige Anschuldigungen
zu erheben, die von Tausenden von Zeitungen durch die ganze Welt verbreitet
werden, wogegen es ganz unsicher bleibt, ob eine Berichtigung ebenso bekannt
werden würde, und das ssiiixsr lui<mia lmörst auch dann in Kraft bliebe! Wir
kennen jetzt lange genug aus eigner Erfahrung das Parlamentswesen, um endlich
mit deu kindlichen Vorstellungen davon aufzuräumen. Andern die Ehre abzu¬
schneiden, gehört nicht zur Ausübung des Maubads, wenn es auch wohl in keinem
Parlament an Leuten fehlt, die das zu ihren „Prärogativen" zählen. Und eben
solchen gegenüber kann es nur von Nutzen sein, wenn sie entweder für ihre Worte
einstehen oder sich der allgemeinen Verachtung aussetzen müssen. Das sollte jeder
einsehen, der die Würde der Volksvertretung gewahrt zu sehen wünscht.
D
er Freund des
Grimmschen Wörterbuches hat in der letzten Zeit an dem rascheren Erscheinen der
gelben Hefte seine Freude haben können. Denn in den seit dem Beginn des
Jahres 1890 verflossenen 1^ Jahren sind nicht weniger als acht Lieferungen
ausgegeben worden, und zwar drei von M. Heyne bearbeitet, drei von M. v. Lexer,
eine von R. Hildebrand und Dr. Kant und eine von E. Wülcker. Dabei ist zweierlei
besonders erfreulich, zunächst, daß wieder ein Heft ausgegeben ist, auf dem der
Name Hildebrand steht. Man hatte sich in weiteren Kreisen schon darauf gefaßt
gemacht, daß das in dem Worte genug abbrechende siebente Heft des vierten Bandes
den Abschluß von Hildebrcmds unmittelbarer Arbeit am deutschen Wörterbuche be¬
zeichnen würde; denn es war im Anfange des Jahres 1886 erschienen, und bis
zur Ausgabe des achten Heftes vergingen volle fünf Jahre. Daß Hildebrand durch
Krankheit an strenger Arbeit für das Wörterbuch gehindert war, wußten die meisten
außerhalb Leipzigs wohnenden Freunde des Wörterbuches nicht. Man sah wohl,
so oft man das letzte Hildebrandsche Heft in die Hand nahm, mit gemischter
Empfindung auf das schließende Wort genug und sagte sich: Genug fürwahr hat
Meister Hildebrand für das Wörterbuch geleistet, sodciß er mit Ehren die Hand
zurückziehen könnte; wenn man aber jene Fülle der Gelehrsamkeit ermaß, die in
der Hildebrandschen Arbeit oft überwältigend hervortritt, wenn mau der fein und
sinnvoll gliedernden Vegriffsentwickluug folgte, die fich z, B. in dem einzigen auf
54 großen Druckspalten behandelten Worte Genie zeigt, denn mußte man es tief
bedauern, daß dieses Wissen und diese Kunst ferner nicht mehr dem große» Werke
zu gute kommen sollte, und im Widerspruch zu dem Schlüsse jener Lieferung fagte
man bedauernd und verlangend: Noch lange nicht genug! Um fo lieber liest man
jetzt wieder Hildebrands Namen auf der neuen bis zu dem Worte Geriesel
reichenden Lieferung, und mau hofft, daß der jüngere Gelehrte, der zur Unter¬
stützung des bejahrten Meisters gewonnen worden ist, von diesem noch recht lange
beraten sein und überhaupt in seinem Geiste fortarbeiten wird.
Eine zweite Befriedigung und Genugthuung hat der teutschgesinnte Leser (mau
lächle nicht über diesen nach dem siebzehnten Jahrhundert schmeckenden Ausdruck!)
über die vierte vor kurzem erschienene Lieferung des zwölften Bandes (verhöhnen
bis verleihen). Während nämlich die erste und zweite Lieferung in auffälligster und
das deutsche Gefühl geradezu verletzender Weise die Schriften Heines, Gutzkows
und Bornes, bei der Auswahl der Belegstellen bevorzugten, auch ohne Not gar
viel aus Auerbach, Spielhagen und P. Heyse beibrachten, ist dieser Überschwang
des teilweise lästigen schon in der dritten Lieferung etwas eingedämmt und in der
vierten noch mehr gewichen. Es ist ja hierbei gleichgiltig, ob der Bearbeiter,
E. Wülcker, selber das Unangemessene in seiner früheren Auswahl von Belegstellen
gefühlt hat oder von andrer Seite auf diesen Übelstand in seiner Arbeit auf¬
merksam gemacht worden ist. Übergroße Berücksichtigung Heines zeigte sich übrigens
schon bei einem andern Fortsetzer des Grimmschen Wörterbuches, nämlich bei
M. Heyne, auch hat der Schreiber dieser Zeilen schon seit dem Jahre 1881 wieder¬
holt seine Stimme dagegen, erhoben, freilich zunächst nur mit dem Erfolge, daß er
wegen Anfechtung der vielen zum Teil ziemlich inhaltlosen Stellen aus Heine als
Antisemit verketzert wurde. Mit weiterem Einsprüche auch gegen E. Wülcker hat
er zurückgehalten, weil es ihm schwer wurde, an dem großen, schönen Werke Mängel
hervorzuheben, und weil er von einem weiteren Kreise von Lesern ein Mißver¬
ständnis seiner Worte befürchtete, überdies bei Wülcker erwartete, daß seine Aus¬
stellungen nicht berücksichtigt werden würden. Hätte er geahnt, daß E. Wülcker
in Bezug auf die Wahl seiner Belege so viel Belehrbarkeit besitzt, wie sich bei
Vergleichung seiner neuesten Lieferung mit den beiden ersten herausstellt, so würde
er schou vor einigen Jahren ernstlich und öffentlich seine Stimme erhoben haben,
und brauchte sich darum jetzt nicht dieser Versäumnis anzuklagen. Es versteht fich
dabei ganz von selbst, daß kein Verständiger von vornherein die Berücksichtigung
Heines im deutschen Wörterbuche tadeln wird, auch bei Hildebrand finden sich ja
in jeder Lieferung des Buchstabens G einige Belege aus Heine; auch eine grund¬
sätzliche Übergehung P. Heyses wäre nicht gutzuheißen, wenn man auch mit dem
dritten Teile der aus ihm gebrachten Belege zufrieden fein und vollends die An-
führungen Spielhagens gern auf einen noch weit geringern Bruchteil des gebotenen
beschränkt zu scheu wünschte. Doch es handelt sich zunächst nur um die augen¬
fällige Bevorzugung Heines, die dieser schon nach der sprachlichen Seite hin nicht
verdient, deren es aber vollends bei seiner vaterlandslosen Gemeinheit unwürdig ist.
Dem Unfuge, den bald schnöden, bald groben und nicht selten unflätigeu Versöhner
des Deutschtums und Preußentums durch ein öffentliches Denkmal am Erz oder
Marmor zu ehren, ist vor ein paar Jahren — leider erst durch die Staatsbe¬
hörde! — gewehrt wurden, und nun sollte in einem großen vaterländischen Werke, dos
von seinem Begründer ausdrücklich auch zur Weckung und Erhaltung deutscher Ge¬
sinnung bestimmt worden ist, Heine durch überreichliche und geflissentliche Einführung
seiner Schriften ein Denkmal erhalten, dessen Bedeutung und voraussichtliche Dauer
weit über die eines ehernen Hinausgehen würden!
Den erhobenen Tadel in eingehender Weise zu begründen, müßte man die
ersten Hefte von Wülckers Arbeit Seite für Seite durchgehen; wir begnügen uns
hier mit der Heraushebung weniger Beispiele. Auf Spalte 19 wird Vater etwas
steif und wenig treffend als „Vorsteher von nicht staatlichen Einigungen" angegeben,
während für die gemeinten Fälle doch Vater einfach die ehrende und zugleich
kindlich zutrauliche Bezeichnung älterer oder führender Männer ist, gleichviel ob
sie eine staatliche oder „nicht staatliche Einigung" leiten. Denn sprachlich stehen
Vater Blücher und Vater Jahr auf derselben Stufe, und der erste erwarb sich
das ehrende Beiwort doch Wohl an der Spitze einer ganz entschieden „staatlichen
Vereinigung," mag man dabei an ein Husarenregiment oder an die schlesische Armee
denken. Doch das ist Nebensache; entschieden verdrießen aber muß das ans Heine
zu Vater Jahr gegebene Beispiel: „der Vater Jahr führte eine Mistgabel,
womit er auf den Korsen zustand." Wozu dieses alberne und höhnende Beispiel?
Der Vater Jahr war derb und zuweilen ungeschliffen, und wer ihm den Dresch¬
flegel als Waffe beilegte, würde ihm nicht groß Unrecht thun; aber er führte keine
Mistgabel, d. h. er focht nicht mit schmutzigen Waffen, viel eher könnte man be¬
haupten, daß Heine oftmals mit schmutziger und übelriechender Mistgabel nach
seinen Gegnern gestochen habe, z. B. in den Bildern von Lucca uach Platen und
so manchesmal gegen manchen andern. Unter Vaterland finden wir Spalte 28
folgende hohle Redensart Heines verewigt: „Als ich das Vaterland ans den Augen
verloren hatte, fand ich es im Herzen wieder." Ja wer Heines innige Vater¬
landsliebe nicht besser kennte! Schon vor zwanzig Jahren hat K. Gödeke in seiner
Litteraturgeschichte darüber sein strenges und scharfes, aber durchaus gerechtes Urteil
abgegeben. Ans derselben Spalte 28 steht als weiterer Beleg für das Wort
Vaterland der Heimische Satz: „Die Franzosen lieben ihr Vaterland; alle edeln
Herzen des europäischen Vaterlandes verachten seine kleinen Henker." Wozu, fragen
wir, diese verwaschene Ausdrucksweise mit dem großspurigen und im Grunde recht
inhaltleeren Hinweis auf das „europäische Vaterland"? Und lieben etwa bloß die
Franzosen ihr Vaterland, die Deutschen nicht? Jak. Grimm war bekanntlich kein
Franzosenfresser, aber solchen Satz aus Heine hätte er schwerlich in sein Wörter¬
buch aufgenommen, viel eher Schillers bekannte Verse aus dem Wallenstein:
Der Österreicher hat ein Vaterland,
Und liebes, und hat auch Ursach es zu lieben!
Weiter mißfällt in Spalte 29 die aus Heine beigebrachte Stelle: „Jene Erklärung
der Menschenrechte stammt aus dem Himmel, dem ewigen Vaterland der Verminst."
Dieser verhimmelnde Preis der Erklärung der Menschenrechte (vom Angust 1789)
"">ß insofern für uns verletzend wirken, als in ihm doch der Gedanke liegt, daß
der Weg zum Himmel, dem „ewigen Vaterland der Vernunft," von Frankreich
"us etwas näher sei als anderswoher und insbesondre als von Deutschland. Unter
Vaterlandsliebe findet man sechs Beispiele, nämlich je eins aus Klopstock, Herder.
Miuger und Hebel, und zwei — aus Heine, und was für Beispiele! Das erste
Juillet: „Schulden ebenso wie Vaterlandsliebe, Religion, Ehre n. s. w. gehören zwar
zu den Vorzügen des Menschen!" und unmittelbar darauf das zweite: „Man hat
die Vaterlandsliebe zu ködern gewußt, und es gab einen preußischen Liberalismus."
Welch ödes geiht- und herzloses Gcwiisch, das sich dabei mit seinen Späßen den
Schein des überlegenen Witzes giebt und sich mit seinen unklare« Anspielungen be¬
sonders geistvoll und tief geberdet! Solche unerfreuliche Beispiele aus Heine, auch
aus Börne oder recht überflüssige vou Gutzkow und Spielhagen nebst manchem
wenig behagenden P. Heyses finden wir in den zwei ersten Lieferungen des zwölften
Bandes fast ans jeder Seite. Doch wir wollten ja nicht tadeln, sondern uns
freuen, daß schon mit der dritten Lieferung und mehr noch in der vierten die un¬
nützen und unerfreulichen Belege seltener werden, und daß so das vierte Heft des
Bandes entschieden an Deutschheit, Geist und damit überhaupt an Wert gewonnen
hat. Diese vierte Lieferung enthält etwa ein Viertelhundert Belege aus Heine,
auch unter diesen könnte mau noch manchen rasch durch geeignetere ersetzen, auch
Gutzkow und Auerbach würden ohne Schaden für das große Werk mehr zurück¬
gedrängt werden können; aber die Besserung in der Auswahl ist unverkennbar.
Hoffentlich hält sie an. Der Wunsch nach Verringerung Heinischer Stellen muß
übrigens auch gegenüber der in den letzten Tagen ausgegebenen, von M. v. Lexer
Die Ansicht, daß alles einen Zweck haben
müsse, will bei einem Blick auf den Zustand unsrer landläufige» Theaterkritik recht
altväterisch erscheinen, wenigstens soweit man ihren Zweck in einer belehrenden
Wirkung sucht. Die große Mehrzahl unsrer gefeierten und weniger gefeierten Kri¬
tiker steht längst auf einem ganz andern Standpunkt und hat, ausgehend von dem
Bestreben, die Besprechung eines Theaterstückes zu einem kleinen Kunstwerk an sich
zu gestalten, in selbstherrlicher Art aus der Kritik einen bequemen Tummelplatz
ihrer angenehmen Kunst zu unterhalten und zu plaudern gemacht, für die unsre
arme deutsche Sprache keinen Ausdruck hat, und die man daher mit dem schönen
Worte „feuilletouistisch" zu bezeichnen liebt. Dieses Wort hat wie so viele andre
von gleicher Herkunft, die sich bei uus eingebürgert haben, den Vorzug, alles mög¬
liche und eigentlich nichts zu bedeuten, und deshalb ist es der Denkfaulheit, die
den eigentlichen Begriff zu suchen scheut, besonders willkommen. Gerade dieses
Wort aber kennzeichnet die deutsche Eitelkeit, sich mit bunten, fremden Flicken zu
spreizen, besonders scharf, ebenso wie die Thätigkeit, die sich damit deckt. Der
Feuilletonist, so recht eine Ausgeburt der neuesten Zeit, der Plauderer unter dem
Strich, ist eigentlich alles, er ist Staatsmann, Volkswirt und Jurist, neuerdings
auch Arzt, er ist Feinschmecker, Kenner in Kunst und Wissenschaft, und besonders
alles dessen kundig, was „modern" heißt, aber er ist nichts ganz, nichts ernsthaft.
Er ist ein schillernder Schmetterling, der an allen Blüten, die übel riechenden
nicht ausgeschlossen, saugt und die Ernte feiner flatternden Reise den bewundernden
Lesern mitteilt. Vielseitig bis zur Allwissenheit, geschmeidig bis zur Rückgrat-
losigkeit, am liebsten aber kosmopolitischer Schwärmer, kurz das Vorbild des vollen¬
deten Weltmannes. Eine wesentliche Seite seines Charakters aber ist es, daß er
vor allem den Ernst wie den Tod aller Unterhaltung meidet und nie das Lächeln
um die honigtriefenden Lippen verliert. Unter der Schar dieser schriftstellernden
Salonhelden wurde es natürlich dem Theaterkritiker unbehaglich, und eingedenk des
„Heiter ist die Kunst" schlug er sich flugs auch das gallische Röcklein um die
deutschen Lenden, schürzte es anmutig und trippelte im wiegenden Tanzschritt hinter
den „Feuilletomsten" drein. Gar mancher alte, biedere Akademiker, der bisher
das kritische Szepter mit Anstand und Würde geführt hatte, blickte verwundert auf
diese Springinsfeld und lachte aus vollem Halse. Als aber ihnen, den neuen,
die Menge Beifall schenkte, besann anch er sich wohl eines bessern und versuchte
mit seinen altersschwachen Knochen, was den gelenkigen Jungen so leicht gelang.
Und so ist sie denn siegreiche Mode geworden, die Theaterkritik im Tanzschritt, die
Plauderei in der traulichen Ecke über die Unterhaltnngsaustalt, Theater genannt.
Wir haben neulich hier über Drama und Publikum gesprochen und dem Pu¬
blikum die Verantwortung für den verwahrlosten Zustand unsrer Schaubühne zu¬
geschoben, aber nicht alle Verantwortung. Denn ein großer Teil fällt auf die
Schultern der Kritik. Die vorwiegenden Merkmale der modischen Theaterkritik
haben wir gekennzeichnet. Sie ist keine steife Lehrmeisterin mehr. Lessings zopfige
Dramaturgie mit ihrem gelehrten Aussehen ist längst in die Ecke geworfen, sie ist
Selbstzweck geworden. Wenn sie auch nebenbei den Leser belehrt, so ist das doch
nur ein Anhängsel ans der alten Zeit, sie soll dem Geiste des Verfassers Gelegen¬
heit bieten, sich in bunten Farben zu spiegeln, vor allem aber soll sie uuterhnlteu.
Über die Leistungen einer Anstalt, die nur auf einem wenig höhern Boden steht
als der Ballsaal, will nun am nächsten Tage nicht gelehrte Ausführungen lesen.
Die Kritik soll nichts mehr biete», als einen dem eignen Eindruck entsprechenden,
mehr oder weniger freundlichen Nachhall, der die einmal angeregten Saiten noch
einmal nachschwingen läßt. Eine Besprechung, die andre Saiten rührt, wird leicht
unbequem und stört die augenehme Empfindung des Genossenen, die wir als eine
Art Knnstdusel bezeichnen möchten. Die Tngespresse, der eigentliche Hort der
Theaterkritik aber, die sich in dem stolzen Bewußtsein brüstet, die Mutter der öffent¬
liche» Meinung z» sei», hat sich mit einer leider nicht überraschenden Findigkeit
wieder einmal in den Dienst der öffentlichen Meinung gestellt und entspricht dem
dringende» Bedürfnis des Geschmackes mit rührender .Selbstlosigkeit." Natürlich
giebt es auch hier rühmliche A»s»us»le», und es bedarf nicht der Erwähnung, daß
wir immer nur die angeblich maßgebende Mehrheit im Auge bilden. Eine solche
Kritik beginnt, Wenn sie nicht bei dein Wetter oder bei dem neuen Kleide der
jugendliche» Liebhaber» vielversprechend einsetzt, mit Vorliebe bei dem Titel und
ergeht sich »um schillernd über die Gedanken, die dieser anregt, um dann damit z»
enden, daß das Stück leider gerade diese Fragen nicht erörtere, wobei dann der
Kritikus in dem Lichte eines tiefen Denkers, der Dichter aber als ein trauriger
Wicht erscheint. Oder es wird auch auf das Stück selbst cingegauge», ober »»r
"ußerlich, »,» auf Kosten des Dichters sein eignes Licht leuchten zu lassen. Ganz
abgesehen davon, daß diese Art der'Kritik für den Dichter völlig wertlos ist, ihn eher
schädigt als fördert — und es ist ein berechtigter VorWurf, der gegen die jetzt
übliche Weise der Beurteilung erhoben wird, daß sie auf die Gedanke» des Dichters
Zu wenig oder gar nicht eingehe —, ist sie auch für das Publikum, für die
Bildung des Geschmackes und des Verständnisses völlig wertlos. Diese Art der
Kritik in ihrer Selbstgefälligkeit trägt nicht zum wenigsten die Schuld düren, daß
°le Schätzung der Bühne in neuester Zeit immer mehr sinkt, und daß man
sie keine andern Anforderungen stellt, als die der Unterhaltung. So arbeiten
sich Unverstand und Oberflächlichkeit der Menge und Gewissenlosigkeit und Mangel
Beruf auf feiten der Kritiker mit traurigem Eifer in die Hände.
Es liegt etwas Kennzeichnendes für unsre Zeit in diesem, ma» kann es
uicht anders bezeichnen, Übergreifen des Kritikers in das Gebiet des selbständig
^hassende» Dichters, mag er nun auf seinem eignen Acker fremde Früchte baue»
gmiz abseits auf fernen Pfaden wandeln, ein Hinausstrebeu über die durch die
Sache selbst gegebenen Grenzen, das sich ans den verschiedensten Gebieten beobachten
läßt. Das Berechtigte einer formenschönen, in sich gegliederten und darum ge¬
fälligen Kritik fall deswegen nicht verkannt werden; die Kritik soll und darf an
sich fesseln und anregen, immer aber nur auf Grund des Gegenstandes, dem sie
dient. Denn eine dienende Magd wird sie immer bleiben und bleiben müssen,
wenn sie ihren Zweck ganz erreichen will. Faßt man aber die Aufgabe der
Theaterkritik als eine dienende, so ergiebt sich nach den drei Gesichtspunkten:
Dichter, Darsteller und Zuschauer ganz von selbst eine natürliche Gliederung, über
deren Grenzen der Beurteiler bei aller Anstrengung seines Scharfsinnes, anziehende
Abwechslung zu bieten, nicht hinauskommen wird, ohne sich in seiner Wirkung selbst
aufs schwerste zu schädigen. Thatsächlich bieten auch die drei genannten Gesichts¬
punkte, wenn man sie in sich wieder teilt, etwa nach den Fragen: Was wollte der
Dichter, was hat er dargestellt, war seine Darstellung berechtigt, was verlangte
der Dichter von dem Darsteller, was gab dieser n. s. w. eine solche Fülle an¬
regender Fragen, daß es des selbstgefälligen Anskrnmens fern liegender eigner
Gedanken und Gedankenstriche wahrlich nicht bedarf, um ein anziehendes Werkchen
zu liefern, das einer belehrenden und aufklärenden Wirkung sicher sein darf. Diese
Darlegungen erscheinen so naheliegend und selbstverständlich, daß man sie leicht sür
überflüssig halten möchte. Und doch würde eine eingehende Beschäftigung mit der
Masse von Kritiken, die täglich auf den Markt gebracht werden, um schnell ver¬
gessen zu werden, das Gegenteil erweisen. Wir wenigstens können einen wenn
auch nur flüchtigen Hinweis auf die eigentlichen Aufgaben der Kritik nicht für
zwecklos halten in einer Zeit, wo die durch die leidige Verwöhnung eines hei߬
hungriger Publikums zur Pflicht gewordene Schnelligkeit der Arbeit wie die Ver¬
seuchung unsrer litterarischen Thätigkeit durch den „Feuilletonismus" die einfachsten
Grundlagen der kritischen Thätigkeit oft ganz in Vergessenheit gebracht hat. Zur
Vertiefung des litterarischen Urteiles hat die Fesselung der Theaterkritik an die
Tagespresse ebenso wenig beigetragen wie zur Erhöhung ihrer Wertschätzung.
Leider ist die Mehrzahl der neuesten Bühnenerzeugnisse so beschaffe», daß sie selbst
dem schnellfertigen Urteil wenig Widerstand entgegensetzen; aber auch manches tiefer
angelegte Werk hat unter der Gewohnheit, nach einmaliger Aufführung in der Zeit
von vierundzwanzig Stunden ein Drama öffentlich abzuurteilen, empfindlich zu
leiden. Es eröffnen sich hier mancherlei Fragen, die dem Urteil des Einzelnen über¬
lassen bleiben mögen. Es muß genügen, nachdem wir die Stellung des Publikums
zum Theater besprochen haben, auch die Kritik an ihre Pflichten zu erinnern, als
deren erste neben rücksichtsloser Unbefangenheit in persönlichen Fragen aller Art
gegen das Publikum wie gegen den Dichter und den Darsteller, Achtung vor den
ernsten Aufgaben des Theaters als einer Anstalt der künstlerischen und sittlichen
Bildung zu gelten hat
An diesem sonst vortrefflichen Buche haben wir zweierlei auszusetzen. Erstens
den feuerrote» Umschlag mit Qualm, Wollen und Blitz; dergleichen sollte der
Reklamelitteratnr überlassen bleiben. Zweitens die seit Montesquieu zu sehr be¬
liebte Form, die Angelegenheiten eines Landes nnter der Maske eines Angehörigen
einer fremden, auf ganz andrer Kulturstufe stehenden Nation zu besprechen. Sie
Paßt unzweifelhaft besser für eine politische Satire, als sür eine ernsthafte Erörte¬
rung, und zudem ist China doch nnr mit großen Einschränkungen als ein Staats¬
wesen zu betrachten, das einen richtigen kritischen Maßstab für die europäischen
Zustände hergeben könnte. Im übrigen heißen wir die scharfe, wenn man will
grelle Beleuchtung der Zustände, die durch die „Hochkultur," wie der Verfasser
sagt, in Europa ins Leben gerufen worden sind, willkommen. Denkende Beobachter
sind ja längst zu denselben Urteilen gelangt und haben damit nicht zurückgehalten;
aber der großen Menge derer, die geflissentlich die Augen gegen alles schließen,
was sie in dein gedankenlosen Dahinleben stören könnte, müssen die Thatsachen, die
sie nicht leugnen können, immer aufs neue in Erinnerung gebracht werden, und es
kann nichts schaden, wenn das einmal in so rücksichtsloser Weise geschieht, wie hier.
Es ist kein freundliches Bild, das der ungenannte Verfasser aufrollt. Er findet,
daß Deutschland, solange es sich nur nach Einheit und Macht gesehnt hatte, den¬
noch unvorbereitet „durch einen politisch regen, militärisch geschlossenen Stamm
und durch einen über alles Maß hinausragenden staatsmännischen Genius aus
einem gewissen politischen Beharruugszustnude" emporgerissen und als erste, aber
junge politische Macht zwischen die Staaten mit alter Polnischer Tradition gestellt
worden sei. In der That befindet sich unser Volk in der Lage eines jungen
Mannes, der auf der Schule sehr fleißig gewesen ist und erst im praktischen Leben
lernen muß, daß das Leben sich nicht nach den von ihm aufgenommenen Lehr¬
meinungen richtet; er selbst stellt sich gewöhnlich unbeholfener an als sein Neben¬
mann, der mit weniger Wissen beladen von früh auf gewohnt ist zuzugreifen.
Aber wenn der Theoretiker eine tüchtige Natur ist, so holt er nach, was ihm noch
fehlt, und weiß auch seine Schulweisheit auszunutzen. Und das wird sich hoffent¬
lich auch an dem deutschen Volke bewähren.
Wenn das Ganze hält, was die vorliegende erste Lieferung verspricht, so wird
^ ein Werk ersten Ranges werden, und wird ein auf gründlicher Einzelforschung
beruhendes klares Bild der wirtschaftlichen Entwicklung des südwestlichen Deutsch¬
lands darbieten, in dem solche dunkle Punkte der ältern deutschen Geschichte, wie
d>e Entstehung der Städte, des Stadtrechts und der Innungen ihre Aufklärung
senden, soweit solche bei der Spärlichkeit der Quellen nur irgend möglich ist.
Aus der Ankündigung des Verlegers erfahren wir, daß der erste Teil, der die
Städte- und Gewerbegeschichte enthalt, acht Lieferungen umfassen soll, und daß die
andern beiden Teile, die Agrargeschichte und die Verwaltungsgeschichte, in den
nächsten zwei Jahren erscheinen werden. Obwohl die Hauptergebnisse des ersten
Teils in der schön und fesselnd geschriebenen sechzig Seiten langen Einleitung uns
schon vorliege», Wollen wir das ausführliche Eingehen darauf doch lieber bis nach
der Vollendung des Ganzen verschieben.
Ein klar geschriebenes Handbuch, brauchbar für Schüler und Laien, doch auch
wert, vou Fachmännern gelesen zu werde». Der Verfasser nimmt bei selbstver¬
ständlicher Benutzung der netteren Forschungsergebnisse einen vermittelnde» Stand¬
punkt ein. Über die Kernsrage der Seelenlehre sagt er im Vorwort: „Wir werden
mit Notwendigkeit bewogen, ein Ich oder Subjekt und wirkliche Objekte anzu-
nehmen. J»sofer» bin ich mit den allermeisten psychologischen Forschern darin
einig, ein einheitliches Etwas, das empfindet, fühlt und will, anzunehmen; über
dieses dürftige Resultat auf wissenschaftlichem Wege hinaus zu kommen, scheint mir
aber vorläufig ein Ding der Unmöglichkeit zu sein."
Vallauf hatte in der ersten Aufgabe dieses Lehrbuches die Herbartsche Psychologie
»ut Ausscheidung alles schwerverständlichen und Unzeitgemäßen in einer auch für
den Laien genießbare» und brauchbaren Form dargeboten und hat nun auf Ver¬
langen des Verlegers diese neue Auflage ausgearbeitet, in der er die Ergebnisse der
neuern physiologischen Forschungen gebührend berücksichtigt. Er gesteht, daß ihm
durch diese vieles zweifelhaft geworden sei, was er früher für fest begründet und
streng bewiese» gehalten habe, aber die Herbartsche Grundlage hat er festgehalten,
und daran hat er unsers Erachtens recht gethan. Der Verfasser hat vorzugsweise
an Leser gedacht, die sich uicht berufsmäßig mit Philosophie beschäftigen, namentlich
an die Lehrer einschließlich der Volksschullehrer. Diesen ist das Handbuch auch
wirklich zu empfehle»; es wird sich ihnen als zuverlässiger und dabei nicht auf¬
dringlicher Führer erweisen. In Fragen, ans die es keine unzweifelhafte Antwort
giebt, beobachtet der Verfasser bescheidne Zurückhaltung. Das Vues ist mich gut
geschrieben und für ein philosophisches Buch sehr fremdwörterrein.
In der Vorrede bemerkt die Verfasserin bescheiden, sie habe nichts Neues zu
sagen, sondern wolle nur das Altbekannte auf allgemein verständliche Weise sage»,
um es namentlich auch jenen breiten Schichten zugänglich zu machen, die sich in
vollständiger Unkenntnis über den Gegenstand befänden. Verständlichkeit ist aber
weder der einzige, noch der höchste Vorzug des vortrefflichen Büchleins. Die
Fürstin — ohne Zweifel eine geborene Deutsche — schreibt mit dem warmen
Herzen einer zärtlichen Mutter aus reicher eigner Erfahrung, sie ist Philosophin,
ohne den Sinn für das Natürliche und Einfache verloren zu haben, sie kennt nicht
allein ihre eigne Gesellschaftsschicht, sondern sie kennt auch die Armen und liebt sie.
Wenn auch vielleicht nichts völlig Neues in ihrem Buche steht, so erscheint doch
vieles neu dnrch die persönliche Färbung, die sie ihm verleiht. Der Wunsch, eine
Probe mitzuteilen, verursacht uns wegen der Fülle des Schönen, das hier geboten
wird, eine große Qual der Wahl. Heben wir den ersten besten Satz heraus:
„Wenn man in Erziehungsfragen zum Ziele kommen will, muß man jeden rein
persönlichen Wunsch, jedes Vorurteil beiseite lassen und nur das Wohl des Kindes
ohne jede Nebenbedinguug ins Auge fassen. Es ist eine kindische und selbstsüchtige
Art der Beschäftigung mit der Jugend, wenn man einem Kinde den eignen Ge¬
schmack, die eigne Beschäftigung, die eiguen Gednukeu aufdrängen will. Sie führt
bald zu Kämpfen, die sehr gefährlich für den Charakter und die Beziehungen des
Kindes zu andern werden."
Da der erste und zweite Band dieses merkwürdigen Werkes in den Grenz¬
boten ausführlich besprochen worden sind, so beschränken wir uns diesmal auf die
Bemerkung, daß auch die letzten beiden Bände eine reiche Fülle von Stoff ent¬
halten, der für die Altertumskunde und die Kenntnis des Volkslebens von hohem
Wert ist. Ein Sachregister um Schlüsse des vierten Bandes erleichtert die Be¬
nutzung.
Den meisten Lesern der Grenzboten wird dieses nach dem größern Werke von
Pertz bearbeitete vortreffliche Volksbuch bekannt sein. Ist seine erste Ausgabe doch
schon vor einunddreißig Jahren erschienen. Wenn der Rembrandt, der angeblich
jetzt Bol heißen soll, in dreißig Jahren drei und Banrs Stein in drei Jahren
dreißig Auflagen erlebt hätte, so wäre das ungefähr das richtige Verhältnis, denn
dem Charakter des Freiherrn vom Stein wohnt wirklich die Kraft zu erziehen
inne, und das in ihm verwirklichte Charakterideal gehört zu denen, die nur heute
ganz besonders nötig brauchen. Möge sich diese dritte Ausgabe in weiten Kreisen
Bahn brechen.
S. Fritz (offenbar ein Pseudonym) ist ein kluger Weltmann, der sich mit
gutmütiger Ironie das Treiben der „?hören und Thörinnen" der sogenannten
guten Gesellschaft ansieht und in anmutiger Form, die besonders geschickt im Zwie¬
gespräch ist, seiner wohlwollenden Satire Ausdruck giebt. Er hat immer gute
Einfälle, sehr glücklich ist er in der Beobachtung des Familien- und Ehelebens,
das Problem des Wertes der Ehe beschäftigt ihn am meisten, die Frauen seiner
Gesellschaft kennt er aus dem ff. Man bedauert freilich, daß es ihm zunächst nur
c>uf den Witz, aus die Zuspitzung eines Scherzes und sehr selten auf die künstlerische
Ausarbeitung des Motivs, auf die behagliche Ausführung der Charaktere oder der
Situation ankommt. Er scheint etwas kurzen Atem zu haben; wie ein plötzlich
ängstlich gewordener Springer macht er vor dem Hindernis Kehrt und bricht ab.
Aber auch so, wie es ist, unterhält das hübsch ausgestattete Buch in leichter
^else aufs munterste. Die Form der kleinen Geschichten ist die der französischen
^vues«.
Aus dem Nachlaß des schon im Herbst 1374 zu Mainz verstorbenen Mu¬
sikers und Dichters Peter Cornelius, eines Neffen des gleichnamigen großen Malers,
wird hier ein Band lyrischer Gedichte geboten, den wir nach Inhalt und Form
zu dem Besten rechnen müssen, was die deutsche Lyrik in den beiden letzten Jahr¬
zehnten hervorgebracht hat. Wer sich über den Musiker Cornelius näher unter¬
richten will, befrage die Schriftchen von Hermann Kretzschmar und Ad. Sand-
berger, wen die Schicksale und der Entwicklungsgang des Menschen interessiren,
der lese die biographische Studie, mit der Adolf Stern die Sammlung der lyrischen
Gedichte eingeleitet hat. Wer aber eine reine, prächtige Natur, eine feingestimmte
Seele, in der die Geister unverwüstlichen Lebensmntes unter schweren Erfahrungen,
die Geister lebendigen Humors und reinster Innigkeit walten, eine Natur, die ihre
Wechselnden Empfindungen mit lebendiger Anmut und glücklich bildlichein Ausdruck
festzuhalten versteht, kennen lernen mochte, der lese sich in diese Gedichte hinein. Wie
es der musikalischen Begabung des Dichters entspricht, sind es meist Lieder, echte
herzgeborene Lieder, die uns ergreifen, doch auch die poetischen Tagebuchblätter mit
dem reichen Wechsel ihrer Rhythmen und der köstlichen Mischung rasch auflodernder,
allem schönen geltender Begeisterung und leiser Selbstironie offenbaren warm
poetische Grundstimmung. Nicht ganz von Reflexion, aber völlig von jeder Rhetorik
frei, sind die „Gedichte" von Peter Cornelius eines der Bücher, die ein volles
und innerlich, reiches Menschendasein in sich schließen. Im Gegensatze zu der Mode
des Tages erscheint der Lyriker Cornelius oft elegisch, schmerzbewegt, aber nie
pessimistisch und immer von einem gläubigen Vertrauen, immer von dem reinsten
Willen erfüllt, Trost in Thränen und Versöhnung in Gott zu finden. Die Ge¬
dichte des hübsch ausgestatteten und mit einem vortrefflichen Bildnis nach einer
Handzeichnung Friedrich Prellers des Ältern gezierten Bandes enthalten einige
Perlen, die funkeln werden, so lange die gegenwärtige deutsche Sprache klingt.
Als poetisches Vorwort dient das schöne Gedicht:
Ich war ein Blatt am Blütenbaum,
Von Lüften leis umfangen,
Und bin im Wind, im Wellenschaum
Vergangen.Ich war ein Licht, gab hellen Schein
Und sprühte goldne Funken;
In Dunkel ist die Flamme mein
Versunken.Ich war ein Hauch, ich war ein Ton,
Bon Lust und Schmerz durchdrungen,
Nun ist es still, nun bin ich schon
Verklungen.
is drittes, womit die Sozialdemokratie in Widerstreit geraten
würde, ist von mir der Egoismus bezeichnet worden. Der Egois¬
mus und sein Gegenteil, die allgemeine Menschenliebe, können
vernünftig oder unvernünftig sein. Der vernünftige Egoismus
beruht auf der Einsicht, daß die Zufriedenheit der andern not¬
wendig sei zur eignen Zufriedenheit. Niemand wird sich seines Besitzes ruhig
erfreuen können, wenn er die Mißgunst und den Haß andrer durch die Art
und Weise des Gebrauches auf sich gezogen hat. Der vernünftige Egoismus
wird wenigstens dahin streben, den Vorteil andrer so weit zu berücksichtigen,
als es zum ruhigen Genusse der eignen Güter notwendig erscheint; mit einen:
solchen Egoisten wird man auskommen können, so lange man keine Aufopferung
von ihm verlangt. Es giebt aber mich einen andern Egoismus, der den eignen
Vorteil ohne Rücksicht nuf den Vorteil andrer verfolgt, und der schließlich
einen solchen Haß erregen kann, daß er sich selbst zum Nachteil wird.
Daß die allgemeine Menschenliebe das Wohl andrer mindestens dem eignen
gleich achten muß, ist an sich klar und bedarf keiner weitern Erörterung; aber
sie kann auch unvernünftig sein, indem sie dem Nebenmenschen Vorteile zu ver¬
schaffen strebt, die schließlich zu seinem eignen Nachteil ausschlagen, oder ihn
vor einem Leid zu bewahren sucht, das nur zu seinem eignen Vorteil dienen
kann. So viel mag zur Feststellung der Begriffe dienen.
Herrschte die allgemeine Menschenliebe in ihrer vernünftigen Form in der
Welt allein, dann wäre ein svzialdemokratischer Staat unnötig. Mag Besitzer
und mag Arbeiter sein, wer dn will, wenn die allgemeine Menschenliebe herrscht,
so wird der Besitzer dein Arbeiter feilte Mühe so zu lohnen suchen, daß sich
der Arbeiter so wohl befindet wie der Besitzer. Aber auch wenn der vernünftige
Egoismus allein herrschte, wäre die-Lage des Arbeiters nicht schlecht, der ver¬
nünftige Egoist müßte den Arbeiter so weit befriedigen, daß das Vergleichungs¬
gefühl des Neides keine bedrohliche Starke erlangen konnte; mit andern Worten,
er müßte ihm eine behagliche Existenz zu verschaffen suchen.
Es herrscht nun weder die vernünftige Menschenliebe, noch der vernünftige
Egoismus allein in der Welt, sondern beide sind in den Ursachen der mensch¬
lichen Handlungen unentwirrbar unter einander und mit der unvernünftigen
Menschenliebe und dem unvernünftigen Egoismus vermengt. Es scheint aber
doch der unvernünftige Egoismus vvrzuherrschen, sonst hätten sich nicht solche
Zustände bilden können, wie sie thatsächlich bestehen: die Bildung großer Ver¬
mögen durch Ausbeutung andrer. Dieser unvernünftige Egoismus treibt die
Menge der Sozialdemokratie in die Arme, und doch würde derselbe Egoismus
auch wieder aus der Sozialdemokratie herausführen. Es verhält sich hier so
wie bei dem vorigen Punkte: die Unselbständigkeit und Abhängigkeit der Ar¬
beiter von ihren Arbeitsherren treibt sie der Sozialdemokratie zu, und dieselbe
Unselbständigkeit würde sie wieder aus dem sozialdemokratischen Staate hinaus¬
treiben.
Nehmen wir an, der sozialdemokratische Staat wäre fix und fertig, dann
müßte es Verwaltungen geben, die das von Einzelnen oder Genossenschaften
abgelieferte Arbeitserzeugnis auf feine Güte zu prüfen hätten; denn nicht jede
Arbeit kann bezahlt werden, sondern nur die von gewisser Güte. Die Be¬
hörden müßten daher ein gewisses Maß von Güte der Arbeit für die Bezah¬
lung aufstellen; schlechtere Arbeit müßte als umgethan betrachtet werden. Die
Folge davon wäre, daß niemand über dieses Maß gut arbeiten würde, denn
weswegen sollte er besser als die andern arbeiten und doch nicht mehr als sie
erhalten? (Wollte man aber jede Arbeit nach ihrem Werte abschätzen, so
müßte es fast mehr Beamte als Arbeiter geben, und trotzdem wären die größten
Streitigkeiten und allgemeine Unzufriedenheit nicht zu vermeiden.) Es würde
also mit der Zeit die gesamte Arbeit auf ein niedrigstes Maß von Güte herab¬
sinken. Man könnte nun meinen, der Gedanke, daß das, was man verarbeitet,
auch wieder zur Verteilung gelange, daß also jeder sein eigner Feind sei, wenn
er schlecht arbeite, müßte zum Antriebe dienen, gut zu arbeiten. Dieser An¬
trieb würde aber durch zwei andre Umstände aufgehalten werden. Kein Ar¬
beiter bekäme nämlich sein eignes Arbeitserzeugnis zum Verbrauch (oder we¬
nigstens nur ganz ausnahmsweise), sondern das andrer Arbeiter; wenn er daher
auch selbst gut arbeitete, so nützte ihm das nichts, denn er arbeitete für die
andern, und die andern arbeiteten für ihn; wenn er noch so gut arbeitete, so
Hütte er doch gar teilte Sicherheit, daß die andern auch so gut arbeiteten, daß
er also nicht trotzdem schlechte Arbeitserzeuguisse zum Verbrauch bekäme. Der
aber kennt die menschliche Natur schlecht, der da glaubt, daß der Mensch im
allgemeinen über das Naheliegende hinaus auf das Entferntere und Ganze sehe.
Der nächstliegende Antrieb aber ist, schlechter und daher weniger arbeiten zu
können; daß man, wenn jeder so handeln wollte, schließlich selbst darunter
leiden müßte, ist ein Beweggrund so abstrakter und nachdenklicher Natur, daß
er wieder nur nachdenklichen Leuten zum Antriebe dienen kann; aber wie viel
Leute denken denn nach?
So würde schließlich das festgestellte Mindestmaß von Arbeitsgüte niemals
überschritten werden oder nur ganz ausnahmsweise, und die ganze Kultur würde
eine Nückentwickluug beginnen. Denn in der sozialen Entwicklung giebt es
keinen Stillstand; wo es kein Vorwärts giebt, giebt es bloß ein Rückwärts.
Ist einmal eine gewisse Faulheit gestattet, dann reißt die Faulheit des einen
die andern mit, und die Arbeit sinkt immer tiefer bis zu jenem Werte, mit
dem sich die nackte Existenz aller noch verträgt. Mit andern Worten: der
jeweilig faulste wird zum Muster, nachdem sich mehr oder weniger die andern
richten. Es gäbe zwar einen Weg, diesen: Übel vorzubeugen, aber man käme
dadurch nur in ein andres. Die Behörden hätten nämlich keine Interesse darau,
daß faul und schlecht gearbeitet würde, sie würden die Erzeugnisse verbrauchen,
aber sie würden sie nicht unmittelbar schaffen helfen; sie könnten daher bei
guter Arbeit immer nur gewinnen, ohne deswegen selbst mehr arbeiten zu
'Nüssen. Sie wären also die, die bis zu einem gewissen Grade das Trügheits-
maximum in ihrer Hand hätten, die unparteiisch das Maß aufstellen könnten,
wonach sich die Güte der Arbeit zu richten hätte; aber nur unter einer Be¬
dingung, daß sie nämlich in ihrer Stellung von der Volksgunst völlig unab¬
hängig wären. Hätte das Volk einen Einfluß auf die Wahl der Beamten, dann
würden nur die weiterkommen können, die dem Volke schmeichelten und es in
seiner Faulheit möglichst unterstützten, und es würden sich sogar viele finden,
die bestrebt waren, die erforderliche Güte der Arbeit herabzudrücken, nur um
in der Gunst des Volkes zu steigen. Wären aber die Beamten vollständig
unabhängig von der Volksgunst, dann vereinigten sie in ihrer Thätigkeit der
Güterbeurteilnng und Güterverteilung eine so furchtbare Macht, wären so
selbständig gegenüber den unselbständigen Arbeitern, daß sie schließlich (auch
»ach dem Gesetz, daß es nur ein Vorwärts oder Rückwärts giebt) aus Beamten
zu Herren der Arbeiter werden müßten; denn niemals ist große Macht lange
ohne Mißbrauch geblieben. Die immer unselbständiger werdenden Arbeiter
würden also schließlich zu willenlosen Werkzeugen, zu Staatssklaven in der Hand
der Beamtenaristokratie werden.
Dem gegenüber werden vielleicht die strengsten Sozialdemokraten be¬
haupten: mag die Arbeitsgüte und die Arbeitsmenge im sozialdemokratischen
Staate uoch so sehr sinken, wenn sich die Bürger mir glücklich dabei fühlen;
laßt uns leben wie die Tiere, wenn wir nur als Tiere glücklich leben!
Sie sind nicht zu widerlegen. Aber ich glaube, daß in jedem Staate,
dessen Volk nicht Physisch und geistig auf der niedrigsten Stufe der Kultur
und der Kraft steht, ehe er auf einen solchen Standpunkt sinken würde, eine
Reaktion eintreten müßte, die die Grundsätze des sozialdemokratischen Staates
verlassen und wieder zum Konkurrenzstaat zurückkehren würde, die einsehen
würde, daß der Egoismus eine notwendige Triebfeder des menschlichen
Handelns ist, eine Triebfeder, die zwar zu deu größten Übelständen sichren
kann, die aber trotzdem uicht fehlen darf, wenn nicht ebensolche Nbelstände
die Folge sein sollen. Jedes Ding hat zwei Seiten; was von der einen Seite
ein Fehler ist, ist von der andern Seite eine Tugend, und die Kunst des prak¬
tischen Lebens besteht darin, den Punkt aufzufinden, wo sich beide Seiten
möglichst das Gleichgewicht halten. Wenige Menschen werden sich sür den
abstrakten Begriff der Gemeinschaft oder Gesellschaft oder der Menschheit
praktisch begeistern oder aufopfern; die Gesellschaft und die Menschheit sind
keine Wesen, die leben oder lieben, Haß oder Liebe einflößen können, sie sind
kalte, leblose Abstraktionen des Einzelnen und erhalten Leben nnr durch die,
die mit diesem Einzelnen leben, und vor allem durch die, die dem bestimmten
Einzelnen wert und teuer sind. Kann man daher deu Einzelnen nicht durch
seinen eignen Borten oder den Vorteil derer, die ihm zunächst stehen, für etwas
interessiren, so kann man ihn dafür meist überhaupt nicht interessiren. Kann
jemand nicht für sich und die Seinen unmittelbar durch seine Mühe Vorteile
gewinnen, so wird er für die ihm unbekannten Glieder der Gesellschaft oder
der Menschheit selten anch nur einen Finger rühren. Deswegen ist es not¬
wendig, daß das egoistische Interesse des Einzelnen eine Anregung sinde, wie
sie ihm die Konkurrenz bietet; natürlich darf die Konkurrenz nicht die Kon¬
kurrenz unmöglich machen, wie das beim Großkapital der Fall ist.
Ein viertes, was der Sozialismus zu übersehen Pflegt, ist daS Be¬
dürfnis. Das Bedürfnis kann dem Genuß einer neuen Lust immer nur folgen,
nie ihm vorhergehen, durch den Genuß wird erst das Bedürfnis erzeugt; man
kann nie das Bedürfnis nach einer Lust haben, die man nicht kennt. Aller¬
dings wird eine gänzlich unbekannte Lust, außer in den Kinderjahren, nie¬
mandem entgegentreten, weil er stets imstande sein wird, sie sich nach be¬
kannten ähnlichen Luftarten wenigstens im allgemeinen vorzustellen. Das
Bedürfnis selbst aber kann psychologisch nicht weiter zerlegt werden, es ist
eine Grundthatsache des menschlichen Seelenlebens. Die Bedürfnisse eines
Menschen werden daher abhängen von den Genüssen feiner Jugend und seines
jugendlichen Mannesalters, und die Auswahl dieser Genüsse wird sich ergeben
aus seinen geistigen Anlagen und den eigentümlichen Lebensverhültnissen, in
denen er erzogen worden und thätig gewesen ist. Es ist nnn klar, daß in¬
folge dessen die Zusammensetzung der Bedürfnisse bei jedem Menschen anders
sein wird, sowohl weil die geistigen Anlagen als auch weil die äußern Ver¬
hältnisse bei jedem anders sind; daher wird auch ihre Wechselwirkung ein
verschiednes Ergebnis haben. Diese Verschiedenheit der Bedürfnisse ist sogar
eine Bedingung des menschlichen Fortschritts, sie bringt jene Gegensätze und
Übereinstimmungen uuter den Einzelnen hervor, die Leben und Bewegung in
die Gesellschaft bringen, indem sie einerseits Einigkeit, andrerseits Kampf in
ihr erzengen. Wären die Bedürfnisse aller gleich, so müßte ein Gleichgewicht
aller Bestrebungen entstehen, bei dem eine Entwicklung nicht denkbar wäre.
Nun kam? aber der sozialdemokratische Staat den Bedürfnisse!? der Ein¬
zelnen nur sehr geringen Spielraum? lassen, ist aber doch auch uicht imstande,
die geistigen und physischen Anlage?? sowie die äußern Verhältnisse der
Einzelnen auszugleichen. Daß der sozialdemokratische Staat die geistigen und
Physischen Anlagen der Einzelnen nicht ausgleichen kaun, leuchtet von selbst
ein; aber auch die außer?? Verhältnisse kann er nicht bei allen gleich gestalten,
wenn er auch in wirtschaftlicher Beziehung hier viel zu leisten vermag.
Die Verschiedenheit der äußern Natur hat ja doch zur Ausbildung der ver-
schiednen geistigen und physischen Anlage?? sehr viel beigetragen (wenn sie sie
nicht geschaffen hat), und alle drei zusammen haben die wirtschaftlichen Ver¬
hältnisse erzeugt, uicht umgekehrt, wenn auch die Wechselwirkung zwischen
diesen beiden Gruppen von Verhältnissen nicht zi? unterschätzen sein wird.
Diese Verschiedenheit der äußern Natur bleibt aber fortbestehe?? und wird in
Verbindung mit der Verschiedenheit der geistigen und physischen Anlagen auch
eigentmnliche Charaktere und Bedürfnisse erzeugen. Diese Verschiedenheit der
Bedürfnisse wird Verschiedenheit der Arbeit, sie wird die Berufswahl erfordern.
Diese Berufswahl muß der Sozialismus wegen seiner Zentmlisirung der
Arbeit, seiner einheitlichen Organisation der Arbeit außerordei?euch beschränke??.
Wo ein Rad so ins andre greifen müßte, wie im sozialdemokratischen Staate,
könnte es nicht den? Belieben des Einzelnen überlassen bleiben, wo er das
Rad sein und ob er Rad oder Kurbel oder Schleife sein will; auch wäre es
unmöglich, bei dem Einzelnen vor seiner Ausbildung zu bestimmen, wozu er
taugt; auch konnte?? Versetzungen von eine??? Beruf zum ander?? uur in ge¬
ringen? Maße stattfinden, wenn nicht wieder die Einheit der Arbeit in Frage
gestellt werden und eine Menge Arbeitskraft durch stets erneuerte Ausbildung
verloren gehen sollte.
Auch heutzutage ist zwar die Berufswahl beschränkt durch die Mittel
zur Ausbildung und durch die Aussicht auf Fortkommen; aber es ist ein
großer Unterschied, ob ich durch äußere Verhältnisse bewogen werde, meinen
Bedürfnissen diese oder jene Richtung zu geben, oder ob ich darin einem
fremden Willen gehorchen muß; das letztere ist viel unleidlicher als das erstere.
Auch hier kann man wieder sagen, dasselbe, was jetzt zur Sozialdemokratie
treibt, würde aus ihr hinaustreiben. Die unbemittelten Leute sind ii? ihrer
Berufswahl außerordentlich beschränkt, sie fühlen das als eine Ungerechtigkeit,
als eine Beschränkung durch die bemittelten. Sie würden im sozialdemo¬
kratischen Staate diese Art der, Beschränkung nur gegen eine andre eintauschen,
gegen die Beschränkung ihrer Berufswahl durch die Behörden; sie würden
das als eine ebensolche Ungerechtigkeit fühlen, nur würde diese Ungerechtigkeit
einen noch viel größern Teil des Volkes treffen als heutzutage.
Es hat aber nicht nur jeder das Bedürfnis nach einer ihm zusagenden
Arbeit, es hat auch jeder andre Bedürfnisse, um arbeiten zu können, überhaupt
andre Bedürfnisse, um zufrieden zu sein. Jemand, der an den falschen Ort
gestellt ist, wird eben wenig leisten, daher wenig erwerben, und deswegen
seine sonstigen Bedürfnisse nicht in dem Maße befriedigen können, wie er es
wünscht; seine Arbeitsleistung und die Bedürfnisse, die durch sie befriedigt
werden sollen, würden eine immer mehr sich erweiternde Kluft zeigen. Man
würde diese Unmöglichkeit, Arbeitsleistung und Befriedigung der Bedürfnisse
einerseits und Bedürfnis bestimmter Arbeitsart mit der thatsächlich zugeteilten
Arbeit in Einklang zu bringen, auf die bestehenden Einrichtungen schieben;
man würde darüber klagen, daß man Arbeiten verrichten müsse, zu denen
man nicht tätige, und daß man infolge dessen nicht soviel erwerbe, als man
brauche, so wie man sich jetzt beklagt, daß man zwar die Berufswahl bis zu
einem gewissen Grade frei habe, daß das aber nur die Freiheit sei, bei irgend
einer Berufsart zu verhungern; man würde sich vielleicht nach der Zeit zurück¬
sehnen, wo man sich frei für eine Arbeitsart entscheiden konnte, wenn man
auch dabei Mangel litt. Jeder kann die Erfahrung machen, daß das Interesse
für die Arbeit eine moralische Macht ist, die sehr schwer wiegt, oft so schwer,
daß man über den geringen Ertrag der Arbeit hinwegsieht, ja daß man sich
physisch zu Grnnde richtet. Wie heutzutage, würde also auch im sozial-
demokratischen Staate große Unzufriedenheit darüber entstehen, daß die Bedürf¬
nisse des Einzelnen zu wenig Berücksichtigung fänden, nur wären das weniger
die materiellen als vielmehr die geistigen Bedürfnisse, die der sozialdemokratische
Staat ja immer höchst stiefmütterlich- behandelt.
Wollte aber der sozialdemokratische Staat, um diese Unzufriedenheit zu
vermeiden, die Bedürfnisse der Einzelnen möglichst gleich macheu (voraus¬
gesetzt, daß er es könnte), so würde er, wie gesagt, nur das bewirken, daß er
alle Entwicklung abschneiden, daß er aus dem Staate eine bloße Maschine
machen würde, die schließlich zum Stillstand kommen müßte, weil niemand
dawäre, sie in Gang zu setzen und zu erhalten.
Das letzte, was noch zu erörtern übrig ist, ist der Ehrgeiz. So viel
Arten von Thätigkeiten und Fertigkeiten, so viel Arten von Ehrgeiz giebt es;
man kann daher im allgemeinen den Ehrgeiz Nieder loben noch tadeln: es giebt
ebensowohl einen Ehrgeiz, geliebt zu werden wie gehaßt zu werden; der Ehr¬
geizige verlangt überhaupt, eine Macht zu erlangen durch Liebe oder durch
Furcht. Dennoch wird man in Bezug ans das öffentliche Leben zweierlei
Ehrgeiz unterscheiden müssen: der Ehrgeizige der ersten Art will bloß den
allgemeinen sittlichen Anforderungen der Gesellschaft so weit entsprechen, als
dies durchschnittlich geschieht; er will seineu Platz in der Welt unter Berück¬
sichtigung seiner Fähigkeiten und der ihn eingehenden Verhältnisse so gut
ausfüllen wie jeder andre; diese Art von Ehrgeiz pflegt man meist gar nicht
Ehrgeiz zu nennen, mau Pflegt daher jemand, der ihn nicht hat, einen Menschen
von geringem Ehrgefühl zu nennen. Ich mochte ihn den negativen Ehrgeiz
nennen, weil sein Mangel, nicht sein Vorhandensein auffällt. Diese Art
Ehrgeiz ist in jedem Staate notwendig, das wird auch allgemein zugestanden
werden. Aber das Maß dieses Ehrgeizes kann in verschiedenen Staaten und
zu verschiedenen Zeiten sehr verschieden sein; es wird sich richten nach den
Anforderungen, die die Gesellschaft an den Einzelnen stellt, nach jenem Maß
der Leistung des Einzelnen, womit die meisten, die davon mittelbar und
unmittelbar betroffen werden, sich noch zufrieden geben, damit sie diesen Ein¬
zelnen weder von ihrem geschäftlichen noch von ihrem gesellschaftlichen Ver¬
kehr ausschließen.
Dieses geforderte Maß der Leistung des Einzelnen würde aber immer die
Neigung haben, zu sinken, wenn sich jeder den zum Muster nehmen wollte, der
den Anforderungen der Gesellschaft eben noch entspricht, denn die natürliche
Trägheit des Einzelnen würde dieses Maß allmählich Herabdrücken, und die
Gesellschaft würde sich allmählich daran gewöhnen. Es ist daher notwendig,
daß die Leistungen Einzelner hervorraget: über dieses Maß, daß Einzelne da¬
durch Macht und Ansehen gewinnen, Bewunderung erregen und dadurch zur
Nachahmung anreizen. Jedes Volk bedarf großer Beispiele, und wo es diese
nicht hat, da schafft es sie sich künstlich durch Verehrung und Bewunderung
von Männern, die es nicht verdienen, die kaum das Mittelmaß der Leistungen
überschritten haben, diese werden auf das Piedestal der Volksverehrung gestellt,
weil niemand anders daist, der Anspruch darauf machen könnte. Das Volk
fühlt sich in feinen großen Männern geehrt, und ihre Thaten belebe» den Ehr¬
geiz der Einzelnen, daß er nicht unter das Mittelmaß sinkt. Gäbe es nicht
Männer, die über das Volk emporragend Macht und Ansehen gewinnen, so
würde bald das notwendige Maß des Ehrgeizes verschwunden sein, oder viel¬
mehr es wäre ein Zeichen, daß es verschwunden ist.
Diese zweite Art des Ehrgeizes kann viel Schaden verursachen, großes
Unglück anrichten, aber sie ist für jeden Staat so notwendig wie die erste Art,
wenn er nicht rückwärts statt vorwärts schreiten will; auch der sozialdemo¬
kratische Staat wird ihn nicht entbehren können. Ehrgeiz ist aber nicht mög¬
lich ohne Erwerbung von Macht, der eigentliche Ehrgeiz besteht ja darin, daß
man mehr Macht haben will als andre, daß man andre beherrschen will, sei
es durch Liebe oder Furcht. Wer aber Macht hat, der will sie behalten, ja
er will sie vererben auf seine Kinder. Ständig aber wird die Macht nur auf
Grundlage des Besitzes, Grundbesitzes oder Kapitals. Die Ehrgeizigen müßten
darnach streben, etwas dem gleichwertiges zu schaffen, vielleicht Grundbesitz
und Kapital unter unteren Namen einzuführen: denn nur der hat Macht über
andre, der die Macht hat über die Mittel zur Befriedigung ihrer notwendigsten
Lebensbedürfnisse. Wer die Macht in den Händen hat, wird andre Ehr¬
geizige durch Verleihung von Grund- und Kapitalbesitz und andern materiellen
Vorteilen an sich fesseln müssen, um nicht bloß geistige und rechtliche, sondern
auch Physische Macht in seinen Händen zu haben. Wahrscheinlich war das
auch einer der Wege, die aus dem alten Gemeineigentum zum Privateigentum
geführt haben, daß die Mächtigen des Stammes (Häuptlinge, Priester) ihren
besonders willfährigen oder geschickten Anhängern, vielleicht auch hie und da
Rivnleu das Recht des ausschließlichen Gebrauches gewisser Güter verliehen
(Tabu); was vielleicht anfangs persönlich war, wurde später erblich. Jeden¬
falls ist die Macht die Grundlage des Privateigentums an Boden und Ka¬
pital und wird stets wieder dahinführen. Im sozialdemokratischen Staate
würde nur der Prozeß von neuem beginnen, der sich bisher vollzogen hat.
Überblicken wir das bisher gewonnene, so sehen wir, daß alles das, was
die Einzelnen zum sozialdemokratischen Staate hintreibt, sie nach seiner Grün¬
dung wieder hinaustreiben müßte. Wir sehen, daß sich die Vergleich ungsge-
fühle Verstürken würden, daß die Unselbständigkeit der Arbeiter zunehmen würde,
daß der unvernünftige Egoismus die Güte der Arbeit Herabdrücken würde, daß
die Bedürfnisse des Einzelnen nicht berücksichtigt werden könnten, daß der Ehr¬
geiz wieder zur Schaffung von Grundbesitz und Kapital führen würde, daß also
im sozialdemokratischen Staat jene Entwicklung nur von neuem beginnen würde,
die sich bisher aus den Urzeiten des Gemeineigentums heraus vollzogen hat.
Der Sozialismus ist überhaupt inkonsequent: er ist einerseits materia¬
listisch, andrerseits idealistisch. Er berücksichtigt nur materielle Gitter, uur die
wirtschaftliche Seite der Gesellschaft und des Staates, er hat wenig Achtung
vor rein geistiger Arbeit, er weist die Religion größtenteils zurück. Und doch
spricht er von sittlichen und menschlichen Pflichten, von den allgemeinen
Menschenrechten, vom Recht auf Arbeit. Er stellt sich also auf den Stand¬
punkt, daß es gewisse ursprüngliche und unveräußerliche Menschenrechte gebe,
d. h. auf den idealen Standpunkt des Naturrechts. Dieser ideale Standpunkt
ist materialistisch gar nicht zu begründen. Aber er ist überhaupt falsch, sobald
man von Thatsachen und nicht von metaphysischen Hirngespinsten ausgeht.
Es giebt kein Recht, bevor nicht eine gesellschaftliche Macht ein positives Recht
geschaffen hat. Vor dem positiven Recht kann es nur gesellschaftliche Be¬
dürfnisse geben und Forderungen, die in diesen Bedürfnissen begründet, aber
keine rechtlichen sind. Ebenso wird es von den sittlichen Anschauungen der
Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit abhängen, ob sie glaubt, daß solche For-
derungen im sittlichen Bedürfnis begründet seien. Es giebt allerdings sitt¬
liche Prinzipien, die, wenn sie sich mich nicht bei jedem Volke vorfinden, sich
doch bei jedem Bolle mit der Zeit entwickeln müssen, aber diese Prinzipien
sind kein Recht, sie sind nur Forderungen, die in sittlichen Bedürfnissen der
menschlichen Natur begründet sind. Nur deswegen, weil das Wesen des
Rechtes so oft übersehen wird, nimmt jede politische und soziale Partei hoch¬
fahrend das Recht für ihre Prinzipien in Anspruch, statt sie bescheiden in
einem allgemeinen Bedürfnis zu begründen.
Die Sozialdemokratie übersieht aber auch, daß alles Recht, alle soziale
Ordnung überhaupt auf Macht, ja Gewalt beruht, und zwar nicht auf der
Macht des Staates oder der Gesellschaft in Abstritt,», sondern auf Personen,
die die thatsächliche Macht innehaben; der Staat in Äbstraoto hat gar leine
Macht. Weil es aber nur durch machthabende Personen möglich ist, eine
rechtliche und soziale Ordnung in der Gesellschaft zu gründen und zu erhalten,
so bezahlen sich auch diese Personen für ihre Organisation durch Eigentum
an Grundbesitz und Kapital; ja noch mehr, Grundbesitz und Kapital sind die
Grundlagen ihrer Macht, nur durch diesen Besitz haben sie Macht, und nur
durch diese Macht ist eine soziale Ordnung möglich. Daher müssen sich in
jeder Staatsordnung solche machthabende Personen finden, mögen sie nun
dem Adel oder der Geldaristokratie angehören; im sozialdemokratischen Staate
würde an ihre Stelle die Büreaukratie treten und würde sich bald die nötige
materielle Unterlage ihrer Macht verschaffen. Grundbesitz und Kapital bilden
den Schwerpunkt der Macht, und ein zivilisirter Staat, in dein es keinen
solchen Schwerpunkt der Macht gäbe, in dem die Machtverhältnisse veränderlich
wären wie das Meer, wird nie lange bestehen können. Nodbertus-Jagetzow
hat ganz Recht, wenn er behauptet, daß erst mit der Teilung der Arbeit Grund¬
besitz und Kapital, ja das Privateigentum überhaupt seineu Anfang genommen
habe; er übersieht aber, daß das deswegen der Fall war, weil erst mit der
Teilung der Arbeit eine soziale Organisation notwendig wurde, daher auch
eine organisatorische Macht, d. h. Leute, die die Macht hatten, Ordnung zu
schaffen. Die Ordnung schafft sich nie von selbst, noch kann sie von der bloßen
Idee der Gesellschaft oder des Staates geschaffen werden, denn diese hat ihren
realen Bestand nur in den einzelnen Gliedern.
Es ist aber leider in der menschlichen Natur begründet, daß die Mäch¬
tigen mehr sür sich nehmen, als zur Aufrechthaltung der sozialen Ordnung
notwendig ist, daß sie den Untergebenen oft nur das nackte Leben übrig lassen.
Dieser unvernünftige Egoismus führt zu sozialen Revolutionen, die irgend¬
welchen neuen Zustand schaffen, der schließlich wieder in den Kapitalstaat ein¬
mündet. Dieser Egoismus wird niemals zu vernichten sein, aber er kann,
sobald er als unvernünftig erkannt ist, zu öffentlichen Einrichtungen führen,
die ihn einschränken.
Weil die Sozialdemokraten das Wesen des Rechtes und der sozialen Ord¬
nung übersehen, behaupten sie das Recht des Arbeiters ans sein Erzeugnis.
Vor allem positiven Recht, ehe noch eine Teilung der Arbeit eingetreten ist,
giebt es überhaupt kein Recht, es ist bloß natürlich, daß jeder sich das Pro¬
dukt seiner Arbeit, weil er doch nicht sür einen andern wird arbeiten wollen,
zu sichern sucht. Mit der Teilung der Arbeit gewinnt die Sache ein ganz
andres Ansehen. Wo jeder nicht mehr, was er braucht, sich selbst erarbeitet,
sondern aus dem Vorrat andrer eintauscht, ist eine organisatorische Macht
notwendig, die überhaupt diese Teilung der Arbeit erst möglich macht. Es
ist natürlich, daß diese organisatorische Macht, weil sie die Teilung der Arbeit
erst möglich macht, anfangs Arbeit und Arbeiter als Eigentum für sich in
Anspruch nimmt; denn jede neue Idee tritt nicht nur extrem auf, sondern sie
blendet auch die Mitwelt. Der, der zuerst Macht genug errungen hat, um
absichtlicherweise die Teilung der Arbeit zu organisiren, erschien gewiß seinen
Untergebenen wie ein überirdisches Wesen, daß er dnrch seine Macht eine soziale
Ordnung schuf und erhielt.
Trotz alledem kann nicht abgeleugnet werden, daß heute große soziale
Übelstände vorhanden sind. Ich will daher noch einen Blick auf ihre mögliche
Abhilfe werfen, aber diese auch nur von ihrer psychologischen Seite betrachten.
Grundbesitz und Kapital ist die Grundlage aller Macht und Selbständigkeit;
nichts ist aber dem Menschen mehr zuwider, als Abhängigkeit von dem Willen
eines andern, sobald er eine gewisse Selbständigkeit des Denkens und Fühlens
erlangt hat, die ihn darüber nachdenken läßt. Deswegen fühlt sich ein Mensch
glücklicher, der sich mit geringem Grundbesitz oder Kapital mühsam durchs
Leben arbeitet, als ein Mann von verhältnismäßig größerm Einkommen, der
in seiner ganzen Arbeit von dem Willen eines andern abhängt. Das Ein¬
kommen muß schon um vieles größer sein, wenn es den Mann für seine Un¬
selbständigkeit entschädigen soll; manchen wird kein Einkommen entschädigen
können. Man verschaffe also solchen unselbständigen Menschen die Möglichkeit,
sich Kapital zu erwerben, und die Sozialdemokratie wird vom Erdboden ver¬
schwinden. Ich weiß sehr wohl, wie wenig und zugleich wie viel damit gesagt
ist: wenig in Bezug auf die Mittel der Durchführung, viel in Bezug auf die
Tragweite der Maßregel. Was das Zuwenig anlangt, so suche ich die
Rechtfertigung darin, die übrigens nicht einmal nen ist, daß diese Idee aus¬
gesprochen werden muß, wenigstens zu dem Zweck, zum Nachdenken über die
Möglichkeit ihrer Verwirklichung aufzufordern. Ich weiß auch recht Wohl,
wie viel eine solche Maßregel bedeuten würde, sie liefe hinaus auf eine starke
Beschränkung des Großkapitals; denn dieses ist durch seine ausgedehnten
Mittel imstande, die Arbeiter mehr auszubeuten als das Kleinkapital, es
streicht jene Gewinne ein, die sonst dem Arbeitslohn und dem Kleinkapital zu
gute kämen.
Unvermeidlich wäre es auch, wenn man das Großkapital irgendwie be¬
schränke», den Arbeitslohn irgendwie heben wollte, den internationalen Weg zu
betreten; denn jede anch noch so allmähliche Beschränkung des Großkapitals
und Hebung des Arbeitslohnes in einem Staate allein würde das Kapital
dorthin treiben, wo diese Beschränkung nicht besteht und der Arbeitslohn
niedriger ist. Diesem internationalen Weg steht heute die nationale Idee ent¬
gegen, die mehr als je an Kraft gewonnen hat. Die Heilung der allgemeinen
sozialen Übel bedarf aber eines gewissen Kosmopolitismus; ich meine darunter
nicht jenen internationalen Sinn, der stets bereit ist, seine eigne Nationalität
wegzuwerfen, um eine fremde einzutauschen, sondern nur den, der es dahin
brächte, daß die einzelnen Nationen es nicht verschmähten, gemeinschaftlich
gewisse gemeinsame Güter anzustreben. Heutzutage wollen aber die meisten
Nationen gemeinsame Vorteile deshalb nicht gemeinschaftlich zu erreichen
suchen, weil diese Vorteile nicht auch andern Nationen als der eignen zu gute
kommen sollen.
Ein zweites, was zur Heilung der sozialen Übel beitragen könnte, ist die
Volkserziehung. Heute wird in der Schule überhaupt nicht erzogen, sondern
es wird dem Kinde ein bestimmter Lehrstoff beigebracht; die Charakterbildung
bleibt ausschließlich der Familie überlasse», wenigstens ist es nur guter Wille
des Lehrers, wenn er hier etwas thut. Die Familie wird auch immer der
Ort eigentlicher Charakterbildung bleiben müssen, aber die Schule kann und
soll sie darin unterstützen; sie soll das Mitgefühl möglichst nnszubilden streben,
sie soll stets auf die Gefühle andrer hinweisen, die bei irgendeiner Handlungs¬
weise entstehen, kurz, sie soll das innere Leben der Nebenmenschen ans Grund
des eignen Seelenlebens kennen lehren, damit der Uebermensch nicht als bloße
Sache der äußern Welt behandelt wird; denn nur auf Grund des eignen
Seelenlebens kann man das fremde erkennen, und die Kenntnis des fremden
Seelenlebens wird wieder dazu führen, das eigne vorurteilsloser beurteilen zu
lernen. Dazu kann aber unmöglich die bloße Kenntnis der äußern Natur
anleiten; diese gelangt in ihrem steten Bestreben, die Innerlichkeit des Men¬
schen in Äußerlichkeit zu verwandeln, schließlich dazu, die Innerlichkeit des
Menschen zu vernachlässigen, wenn nicht zu leugnen. Die, die den natur¬
wissenschaftlichen Unterricht in den Vordergrund der Erziehung stellen wollen,
würden durch Vernachlässigung des Gemütslebens schließlich nur eine Verrohung
des Kindes zu Wege bringen. Daß die Erziehung auch darauf hinarbeiten
müßte, die Nationen einander näher zu bringen (ohne die eigne Nation auf-
zugeben), auch im Fremde» den Nebenmenschen liebe» zu lehren, nicht aber
ihn als ein Objekt zu betrachten, das wenigstens politisch zu übervorteilen
höchst verdienstlich sei, versteht sich von selbst.
So viel ist sicher: man mag die soziale Frage drehen und wenden, wie man
will, immer wird sie darauf hindrängen, den internationalen Weg zu betreten.
(Mj
Mir wissen heute, daß das organische Leben auf der Zelle beruht,
und daß Gesundheit und Krankheit des Leibes von der Be¬
schaffenheit der Zellen abhängen. Schon diese naturwissenschaft¬
liche Einsicht macht es uns zur Pflicht, aufs eifrigste die wirt¬
schaftlichen Einheiten zu studiren, aus denen sich die Volkswirtschaft
zusammensetzt, und von deren Beschaffenheit die Gesundheit des Volkskörpers
abhängt. Unsre deutschen Geschichtsforscher lassen es an der Erfüllung dieser
Pflicht nicht fehlen, und soeben hat uns Dr. Karl Theodor von Jnama-
Sternegg wieder mit einem höchst wertvollen Bande beschenkt, der eine der
dunkelsten Gegenden des Mittelalters (dunkel im Sinne von unbekannt) nach
der angedeuteten Richtung hin bis zur greifbaren Anschaulichkeit aufhellt:
Deutsche Wirtschaftsgeschichte des zehnten, elften und zwölften Jahr¬
hunderts (Leipzig, Duncker und Humblot, 1891). Das Buch bildet den
zweiten Band einer deutschen Wirtschaftsgeschichte, deren erster, bis zum Schlüsse
der Karolingerzeit reichender Band schon vor zwölf Jahren erschienen ist.
Was die Fortsetzung so lauge verzögert hat, war die Berufung des Verfassers
„auf den ebenso mühevollen wie verantwortlichen Posten eines Chefs der amt¬
lichen Statistik Österreichs." Erst nachdem in jahrelanger angestrengter Arbeit
die in diesem Gebiete durchzuführenden Reformen zu einem gewissen Abschlüsse
gekommen seien, habe er, heißt es im Vorwort, daran denken können, das
angefangene Werk fortzusetzen; freilich habe er auch dann noch nur die späten
Abendstunden darauf verwenden können. Er hofft, daß wohlwollende Beur¬
teiler darin eine Entschuldigung für die Unvollkommenheiten des Werkes finden
werden. Das ist wohl nur jenen fachmännischer Rezensenten gesagt, die es
für ihre heiliastePflicht erachten, auf kleine Unrichtigkeiten und Ungenauigkeiten
Jagd zu machen; der unbefangne Leser, der sich nur über den Gegenstand
unterrichten will, findet seine Erwartung übertroffen.
Denn der Verfasser entrollt uns ein anschauliches Bild der Landwirtschaft
jener Zeiten, wie sie auf großen und kleinen Gütern in den verschiednen
Gegenden Deutschlands betrieben wurde. Wir erfahren, welche Fruchtarten
gebaut wurden, wie weit die Wein- und Obstkultur gediehen war, wie es mit
der Rinder-, Schaf-, Schweine- und Pferdezucht stand, wie die Frohnden ver¬
teilt und die Fröhner beköstigt wurden; wir sehen, wie sich die Gewerbe,
nachdem sie in der vorhergehenden Periode fast nur vou Leibeignen auf dem
Frohnhof betrieben worden waren, allmählich ablösten und in den Städten
Selbständigkeit erlangten, wie sich der Handel und der Marktverkehr entfalteten.
Und wenn auch die Gewerbe- und Handelsgeschichte jener Zeit von andern
schon ausführlicher dargestellt worden ist, so empfangen die doch bereits be¬
kannten Thatsachen erst hier, wo sie als Bestandteile der Volkswirtschaft im
Zusammenhange mit den übrigen erscheinen, die rechte Beleuchtung, abgesehen
von der Beibringung neuen urkundlichen Materials. Das gilt jedoch nur für
Handwerk und Kaufmannschaft; seine ausschließlich aus Urkunden geschöpfte
Darstellung des Bergbaues und Salinenwesens jener Zeit bietet völlig neues,
während in den Abschnitten über den Geldverkehr, das Münzwesen und die
Pfand- und Leihgeschüfte die bisherigen Darstellungen in wesentlichen Punkten
ergänzt und berichtigt werden. Alls diese Einzelheiten können wir nun nicht
eingehen; dagegen wollen wir versuchen, nach Jnamas Darstellung in einigen
Umrissen, die freilich nur sehr ungenau ausfallen können, den Verlauf zu
zeichnen, den die Veränderungen des Grundbesitzes in dem angegebenen Zeit¬
raum genommen haben.
Unter der fränkischen Herrschaft war mit der alten deutschen Gau- und
Gemeindeverfassung auch der freie Bauernstand zu Grunde gegangen. Die
Nachkommen der Geineinfreien mehrten teils die Zahl der anch in alter Zeit
schon vorhandenen leibeignen Knechte, teils wurden sie Frvhnbaneru der großen
Gntsherrschaften, der Königs-, Edel-, bischöflichen und Klosterhöfe. Der Herren-
vder Frohnhof (s^in, pill-r, ourtis, euren clowinivg.) bildet den Kopf und zugleich
das Herz des wirtschaftliche« Lebens für die ganze Umgegend. Von hier ans
wird das unmittelbar zum Hofe gehörige Snlland unter der Leitung des Herrn
oder seines Meiers (major, vilUvus) bewirtschaftet, von hier aus werden die
entfernteren Grundstücke an frohnpflichtige Bauern in einzelnen Hufen verteilt,
wird die Bewirtschaftung dieser Hufen beaufsichtigt, und an den Herrenhof
wird der Überschuß des Ertrages dieser Hufen über das zur Ernährung der
Banernfcunilie und ihres Viehs notwendige abgeliefert. In wirtschaftlicher
Beziehung war diese Konzentration des Betriebes ein Vorteil, der mit einer
vorübergehenden Minderung der Freiheit des Bauernstandes nicht zu teuer
erkauft wurde. Denn die alte deutsche Markgenossenschaft hatte den Ackerbau
halb nomadisch betrieben, so extensiv und kunstlos, daß zur Ernährung einer
'Familie ein übermäßig großes Stück Land erfordert wurde, und daß die
Wirtschaft, selbst wenn sie die ganze Arbeitskraft der Familie und ihrer Sklaven
verschlang, keinen Überschuß über deren Bedarf abwarf. Bei der Besitznahme
des römischen Galliens lernten die Franken einen kunstvolleren und inten¬
siverer Anbau keimen, den sie sich nun aneigneten (ohne eigne Mühe, wie
Felix Dahn sagt, da sie ja weiter nichts nötig hatten, als die römisch ge¬
schulten Kvlouen und Sklaven, die sie auf den eroberten Gütern vorfanden,
ruhig weiter arbeiten zu lassen) und später auch in dein unterworfenen rechts¬
rheinischen Deutschland einführten. Durch diese Konzentration und gleich¬
zeitige Vervollkommnung der Landwirtschaft ward der Ertrag so bedeutend
gesteigert, daß Arbeitskräfte genug frei wurden für die (anfangs nur auf dem
Frvhnhofe, später teilweise als Hausindustrie betriebenen) Handwerke, für
weitere Verbesserungen der Landwirtschaft und andre Knlturaufgaben, z.B.
Pflege des Kunsthaudswerks in Klosterwerkstätten.
Unter den sächsischen und fränkischen Kaisern dehnten sich zwar zunächst
die großen Grundherrschaften noch mehr aus und verdrängten vollends die
Reste der in Markgenossenschaften verbundnen Geineinfreien, die unter Karl
dein Großen noch so ansehnlich gewesen waren, daß sein Staat, wie Felix
Dahn gezeigt hat, noch auf den Unterthanenverband, nicht schon auf den
Lehnsverband gegründet gewesen war. Aber für diese Einbeziehung der letzten
Gemeinfrcien in die großen Gutsverbände waren mehr herrschaftliche als wirt¬
schaftliche Interessen maßgebend; die kleinern Besitzer wurden ans dein un¬
mittelbaren Unterthanenverbande des Königs gelöst und in den eines Grafen,
Bischofs oder Abtes eingefügt, der Wirtschaftsverband des großen Gutes
aber wurde dadurch weder vergrößert uoch stärker konzentrirt, vielmehr all¬
mählich vermindert, gelockert und aufgelöst. Von den Höfen wurde nicht mehr
der ganze nach Ernten wechselnde Überschuß gefordert, sondern eine feste
Natnralrente, die hie und da in einen Geldzins überging, sodaß aus dem
Hörigen ein Zinsbauer ward, der sich nur durch den Zins von seinem ganz
freien Ahnherrn unterschied und dabei infolge der bessern Bewirtschaftung
seines Gutes weit angenehmer lebte, als wie dieser gelebt hatte. In ähnlicher
Weise wurden die Frohnden mit Rente abgelöst, schon darum, weil sie uicht
mehr im frühern Umfange nötig waren. Denn auch die unmittelbare Bewirt-
schaftung des Sallandes ging zurück, indem immer mehr Teile als Bauerhufen
ausgethan oder zu Lehn gegeben wurden. Und nicht allein die Nachkommen
freier Bauern, sondern auch viele von alters her unfreie Leute stiegen auf
dem angegebenen Wege zu größerer Freiheit empor.
Drei Mächte wirkten zusammen, dieses Befreiungswerk zu fördern. Ein¬
mal die Kirche, die doch, obgleich die geistlichen Stifte selbst mit Leibeignen
wirtschafteten, stets den Gedanken lebendig erhielt, daß Sklaverei im strengen
Sinne des Wortes ein des Menschen unwürdiger Zustand sei. Dann die fort¬
schreitende Geldmirtschaft, die es der Gutsherrschaft möglich machte, mit dem von
den Zinspflichtigen bezogenen Gelde ihre Bedürfnisse auf dem Markte einzukaufen,
was weit bequemer für sie war, als die Versorgung dnrch die Leistungen von
Hörigen, sodaß ihr ein pünktlicher und sonst freier Zinsenzahler nützlicher schien,
als ein höriger Frohnbauer. Endlich die Kolonisation im Osten, die uicht
allein beständig die überschüssige Bevölkerung der altdeutschen Laude aufnahm,
sondern auch dazu beitrug, daß der durch die herrschaftliche Verwaltung nur
zurückgedrängte, aber noch nicht ertötete Geist der Freiheit und Selbstverwaltung
aufs neue lebendig wurde. Denn den Bauern, die sich in den Slawenlündern
niederließen, wurde von den Herren, die sie beriefen, überall die persönliche
Freiheit und das Recht der Selbstregierung zugestanden; der Grundzins war
die einzige Last, die sie übernahmen. Das scheint dann wieder auf die Bauern
in Altdeutschland zurückgewirkt zu haben. Freilich ereignete sich auch hier
immer noch ähnliches in der innern Kolonisation. Denn es gab da bis ins
zwölfte Jahrhundert noch genug Urwälder, zu deren Rodung von der Grund¬
herrschaft Kolonisten berufen oder dem eignen Gesinde entnommen wurden. Die
Ansiedler bekamen ihre Hufen „zu Waidrecht." Das war eine Art Erbpacht, die
ihnen die persönliche Freiheit ließ oder verschaffte; die Ansiedlergemeinden waren
von der Gewalt des Vogtes (Hoferichters) befreit, durften Gericht und Polizei
selbst verwalten und uuter Umständen auch ihren Schultheißen frei wählen.
„Es ist schwer zu sagen, bemerkt Juana, ob diese Entwicklung, welche die
innere Kolonisation Deutschlands genommen hat, von den Vorgängern beein¬
flußt war, welche in derselben Zeit in der Ostmark und in den Elbgebieten
sich abgespielt haben, oder ob diese die bereits bei der innern Kolonisation
angewendeten Formen übernommen haben. Das aber ist deutlich, daß es im
wesentlichen derselbe Geist ist, welcher aus den Einrichtungen und Vorgängen
dieser dreifachen Kolonisation hervorleuchtet. Das Hufeusystem derselben war
gegenüber dem im innern Deutschland weit verbreiteten Dorfsystem mit ver¬
kosten, im Gemenge liegenden Parzellen und seinem feldgemcinschaftlichen Zwange
an sich schon ein großer Vorteil, der strebsame Wirte in die Reihen der Kolo¬
nisten zu locken vermochte; im Zusammenhange mit den übrigen Zügen dieser
Kolonialverfassung, insbesondre der Gewährung persönlicher Freiheit, der ge¬
meindlichen Selbstverwaltung und Befreiung von der Vogtei stellen die koloni¬
satorischen Gründungen des zwölften Jahrhunderts die vollkommenste Form
autonomer Gemeinden dar, welche überhaupt in dieser Zeit vorkommt. Sie
haben in der That den Geist eines freien, selbstbewußten Bauernvolkes erzeugt
und sind damit für die Entwicklung freier autonomer Dorfmarkgenossenschasten
auch auf allein Kulturboden der deutschen Völkerschaften so maßgebend ge¬
worden, daß ihre Verfassung schon im dreizehnte» Jahrhundert ganz allgemein
als deutsche Sitte, ihr Recht als M touwmczum bezeichnet und sowohl den
französischen als den slawischen Einrichtungen der Gemeinde entgegengesetzt
worden ist."
Und während so die großen Grundherrschaften auf der einen Seite von
neuen Gemeinden freier Bauern durchbrochen wurden, wirkten von der andern
Seite her das Venefizienwesen und das Meieramt als auflösende Kräfte ein.
Sowohl die Lehnsleute wie die Gutsverwalter machten sich allmählich selb-
ständig, wurden erbliche Eigentümer der geliehenen und bewirtschafteten Gitter
und bildeten einen neuen niedern Adel. Besonders merkwürdig ist das Empor¬
steigen der Meier. Je mehr sich der Gutsherr ans einem Ökonomen in einen
Feldhauptmann und Landesherrn verwandelt, desto weniger kümmert er sich
um die Wirtschaft, desto selbständiger wird der Meier, der nur uoch insofern
von ihm abhängt, als er einen Teil des Ertrages an ihn abzuliefern hat.
Er rückt in die Stellung eines Pächters ein, und der Reinertrag des Gutes
spaltet sich in Bodenrenke und Unternehmergewinn. Schließlich vermag der
müßige Rentenempfänger das Eigentumsrecht an einem Besitz, der ihn sonst
weiter nichts angeht, nicht mehr zu behaupten, und der Unternehmer erwirbt
das Eigentum.
In dieser zuletzt angeführten Wandlung kommt ein allgemeines Gesetz
zum Vorschein, dessen Wirksamkeit mau auch heute uoch uicht bloß bei land¬
wirtschaftlichen, sondern überhaupt bei Unternehmen aller Art beobachten kann.
Aber anch die andern wirtschaftlichen Bildungen jener Zeit erinnern a» ähn¬
liche Borgänge in alten und neuen Zeiten und beweisen, daß auf diesem Ge¬
biete dieselben Ursachen fast regelmäßig dieselben Wirkungen erzeugen. So
findet z. V. ein Satz Bestätigung, auf den die verständige Überlegung schon
vor der Erfahrung führt: daß neben einem übermächtigen Gemeindegenossen
die Freiheit der übrigen nicht bestehen kann, ein Satz, der geeignet wäre, die
Schwärmerei der preußischen Liberalen für Einfügung der Gutsbezirke in die
Gemeinden zu dämpfen. Eine der stärksten unter den Kräften, die zur
Sprengung der alten Markgenossenschaften durch die aufkommenden großen
Herrschaften zusammengewirkt haben, war der Mitbesitz der Grundherrschaft
an der Almend, dein Gemeindelande. Da der Grundherr überschlissige Arbeiter
hatte, die den Bauern nicht zur Verfügung standen, so schickte er solche auf
die Atmend und riß von dieser an sich, so viel er bewirtschaften konnte.
Namentlich des gemeinsamen Waldes bemächtigte er sich, ließ darin Rodungen
vornehmen und legte den übrigen Teil in seinen Bann. Die Bauern, die
aus dem gebannten Teile noch die hergebrachten Nutzungen an Holz, Mast
und Weide ziehe» wollten, konnten dies nur, indem sie zum Grundherren in
ein Nntcrthanenverhältnis traten. In England hat dieser Raub am Gemcinde-
eigentnm weit später, im sechzehnten Jahrhundert, aufs neue begonnen und
ist mit jener Brutalität im Rauben, dnrch die sich die vornehmen Engländer
auszeichnen, zusammen mit der gänzlichen Vertreibung der Kleinbauern bis in
unser Jahrhundert fortgesetzt worden. In Deutschland ist bei der gesetzlichen
Ablösung ähnliches Unrecht begangen worden, in weit geringerem Umfange
freilich und zum Teil in guter Meinung; die angesessenen Tagelöhner Pom¬
merns z. B. klagen bitter darüber, daß ihnen durch die Einziehung der
Gemeindetest die Möglichkeit genommen worden sei, ein paar Stücke Vieh
zu halten.
Ferner findet schon in dem damaligen Gange der wirtschaftlichen Ent¬
wicklung jener Satz seine Rechtfertigung, dessen Übertreibung einen Angelpunkt
sowohl des manchesterlicheu wie des sozialdemokratischen Systems bildet: daß
ohne eine gewisse Konzentration des Betriebes kein wirtschaftlicher Fortschritt
möglich ist. Die Übertreibung liegt darin, daß unsre modernen Volkswirt¬
schaftslehrer der Ansicht zuneigen, die Konzentration müsse allgemein durch¬
geführt und der angeblich lebensunfähige Kleinbetrieb vom Großbetriebe voll¬
ständig verdrängt werden. Gerade in dem hier betrachteten Zeitraum findet
diese Ansicht ihre Widerlegung. Die großen Grundherrschaften lösen sich
wieder in kleinere Betriebe auf, deren Inhaber werden nach und nach frei,
und am Ende des zwölften Jahrhunderts befindet sich die Hauptmasse des be¬
bauten Landes in dem Besitz persönlich freier Bauern und kleiner Ritterguts¬
besitzer (ehemaliger Meier). Die Ergänzung jenes Satzes, daß nämlich die
Aufsaugung der vielen kleinen Betriebe durch wenige große die Knechtung der
Gemeinfreien zur unvermeidlichen Folge hat, hören die Liberalen nicht gern,
und wenn sie einmal nicht umhin können, sich damit zu befassen, so behaupten
sie, der Mann werde für den Verlust seiner wirtschaftlichen Selbständigkeit
durch die Freizügigkeit und die sogenannte politische Freiheit reichlich ent¬
schädigt, obwohl diese für den Besitzlosen nur ein Sodomscipfel ist, der des
nährenden und wohlschmeckenden Inhalts gänzlich entbehrt. Die Sozialdemo-
kraten hingegen erkennen diese andre Hälfte des Satzes nicht allein an, sondern
legen das Hauptgewicht darauf und lehren, diese Sklaverei, die als unver¬
meidlicher Durchgangspunkt des wirtschaftlichen Fortschritts eine Zeit lang
habe ertragen werden müssen, werde, nachdem sie ihren Zweck erreicht habe,
dadurch ihr natürliches Ende finden, daß die hergestellten Großbetriebe von
den mündig gewordenen Arbeitern übernommen und auf deren Rechnung ge¬
nossenschaftlich weitergeführt würden. Diese Art Lösung kaun aber vermieden
werden, wenn die Dinge jenen weit natürlicheren Verlauf nehmen, wie bei der
mittelalterlichen Landwirtschaft, wo der wiederhergestellte Bauernstand mit den
im Großbetrieb errungenen technischen Vorteilen nicht „kollektivistisch", sondern
im Einzelbetrieb fortwirtschaftete. Übrigens fehlt in der nachkarolingischen
Periode den großen Herrschaften auch der hervorstechendste Zug des modernen
Großbetriebes nicht: das Streben nach Steigerung der Rente. Neue Unter¬
nehmungen, z. B. Rodungen, haben nicht mehr die Verwendung überschüssiger
Kräfte, sondern die Erhöhung der Einkünfte zum Zweck. Und mit diesem
Streben hält die wachsende Gleichgiltigkeit gegen das Gut und die Leute
darauf, die sich in dem häufiger werdenden Absentismus äußert, gleichen
Schritt: wenn nur reichliche Zinsen abfallen! Wie sie herausgeschlagen werden,
das kümmert den Rentenempfänger nicht.
Wenn sich das deutsche Volk durch alle diese Wandlungen hindurch seine
alte Kraft und Tüchtigkeit bewahrte und noch im sechzehnten Jahrhundert,
nachdem es einen verhältnismäßig hohen Bildungsgrad erreicht hatte, von un-
gebcindigter roher Volkskraft überschauende, so war das, wie wir in der fraglichen
Periode deutlich sehen, namentlich dem Umstände zu danken, daß ihm für seine
Ausbreitung und Kraftentfaltung ein reichlicher Raum zur Verfügung stand.
Nicht allein wurde der slawische Osten besiedelt, dessen Flächenraum den des
altdeutschen Landes übertraf, sondern auch in diesem gab es, wie wir sahen,
immer noch Einöden und Wälder zu kolonisiren. Gleichzeitig nahmen auch
die aufblühenden Städte einen Teil des überschüssigen Bauernnachwuchses auf.
Und deren Bedürfnis an Arbeitskräften war damals noch lange nicht befriedigt.
Denn auch am Eude des Zeitraums noch dürfte die städtische Bevölkerung
kaum den vierten Teil der ländlichen betragen haben. Dennoch macht sich
gegen 1200 die Enge schon fühlbar. Die Erweiterung des Großgrundbesitzes,
die bis dahin durch Rodungen erzielt worden war, konnte fast nur noch auf
Kosten der Nachbarn geschehen, und während der Bauer sonst für jeden heran¬
wachsenden Sohn nur ein weiteres Stück der Almende hatte unter den Pflug
zu nehmen brauchen, mußte er nun schon seine Hufe durch Einführung des
Anerbenrechts vor Verkleinerung zu bewahren suchen; die übrigen Kinder mochten
sehen, wo sie bliebe«. Bis dahin war der Kampf ums Dasein ein Kampf
gegen die Natur gewesen, nun begann er sich in jenen Konkurrenzkampf der
Volksgenossen gegen einander zu verwandeln, der die unedeln Charaktereigen¬
schaften stärker zu entwickeln pflegt als die edeln. Die Wirkungen des Ge¬
setzes, das in diesen Verhältnissen waltet, können wohl gemildert, aber niemals
ganz vermieden, und wenn die Volksdichtigkeit eine gewisse Grenze überschreitet,
auch nicht einmal mehr gemildert werden. Wenn nicht mehr vier Bauern¬
familien eine städtische, sondern zwei Bauernfamilieu vier bis acht städtische
zu ernähren haben, dann hört nicht bloß die Gemütlichkeit auf, sondern über¬
haupt alles, was zur Hcrzenskultnr gehört.
Um nochmals auf Jncnnas Werk zurückzukommen, so wollen wir doch
noch sein Schlußurteil über Wert und Bedeutung der großen Grundherr¬
schaften mitteilen. ,,Wo dieser Prozeß >der die Bauern und die Meier selb¬
ständig machtej sich vollständig vollzog, da ging die Grundherrschaft schließlich
ihrer volkswirtschaftlichen Position vollständig verlustig; soweit sie nicht den
Herrschaftsinhalt ihrer Institution zur Lcmdesgcwalt erweitern konnte, sank sie
auf die Stelle eiuer einfachen Renteneinrichtung zurück." „Hatte die Grund¬
herrschaft ursprünglich die ganze Überschußproduktivn, die Reute des Bodeus
innerhalb ihres Besitzstandes ganz zu ihrer Verfügung, so verstand sie es doch
nicht, ebenso die wachsende Rente ganz für sich zu gewinnen. Wohl nahm sie
auch an der Steigerung derselben werkthätigen Anteil, die letzte Periode der
großen Rodungen ist wenigstens zum Teil noch ihr Werk; aber daneben hatten
doch auch die ihr untergebenen und dienenden Elemente gelernt, sich selbständig
zu regen und die Vorteile ihrer Stellung im eignen Interesse zu nutzen. In
ihrer Hand lag ja die Hauptmasse der Produktionsmittel. So entspricht denu
auch der steigenden Wichtigkeit, die die produzirende Klasse für den Erfolg
der nationalen Wirtschaft erlangt hat, ein steigender Anteil an der Rente des
Bodens und an dem Gewinne der landwirtschaftlichen Betriebe; der Gruud-
herrschaft aber bleibt eine maßgebende Rolle bei der Güterverteilung und ein
bevorzugter Anteil doch nur insoweit erhalten, als sie noch immer in hervor¬
ragender Weise an der Organisation des volkswirtschaftlichen Lebens beteiligt
ist, deu hauptsächlichsten Markt für Bvdenprodukte und Arbeitsleistungen re-
präsentirt und weithin die Funktionen der öffentlichen Gewalt versieht, von
deren gesicherter Wirksamkeit die Erfolge der nationalen Wirtschaft nicht minder
abhängen wie von dem Einsätze persönlicher Tüchtigkeit und wirksamer Pro¬
duktionsmittel/' „Welche Schicksale auch immer der große Grundbesitz in der
Folge gehabt hat, wie vieles er auch am Ende uicht geleistet hat von dem,
was die deutsche Volkswirtschaft von ihm nach den kraftvollen und frucht¬
baren Aufüngeu Gurker Karl dem Großen^ erwarten konnte: eines blieb doch
bestehen und hat sich in seinem Werte für die spätere Entwicklung der Volks¬
wirtschaft wie des Volkstums überhaupt bewährt. Die große Gruudherrschaft
hat eine wirtschaftliche Organisation des Volkes geschaffen, hat ihm damit
größere Aufgaben, höhere Ziele gesteckt und eine Art des Zusammenwirkens
zu größern wirtschaftlichen Resultaten gelehrt, die die ältere Zeit nicht ge¬
kannt hatte."
Wir dürfen also wohl sagen: An der gewaltigen Arbeit, die in der Zeit
von 800 bis 1200 Deutschland aus einer mit spärlichen Ansiedlungen durch¬
setzten Wüstenei in ein wohlangebautes und verständig bewirtschaftetes Land
verwandelt hat, gebührt den großen Grundherrschaften: Königen, Herzögen,
Grafen, Bischöfen, Adler der Anteil von Unternehmern, Lehrmeistern und
Leitern, während die ehedem gemeiufreien anfangs nur als ausführende Diener
und Werkzeuge dabei thätig sind, nach und nach aber immer selbständiger
werden, zuletzt das Werk ganz in die Hand nehmen und sich ihrer Lehrmeister
würdig zeigen. „Zu keiner Zeit ist das wirtschaftliche Leben des deutschen
Volkes so sehr sich selbst überlassen, sagt Juana, so sehr in kleinen und kleinsten
Kreisen abgeschlossen, als in der Zeit, in der die große Grundherrschaft auf¬
hörte, einen Eigenbetrieb zu führen, und anfing, ihre Verwaltung nur wie eine
Rentenanstalt zu behandeln." In der an diese Bemerkung geknüpften Schlu߬
betrachtung finden wir eine Überschätzung des durch äußern Glanz bestechenden
Erfolges der Konzentration und eine Unterschätzung des Wohlbefindens der
vielen kleinen Volksgenossen, das freilich weder durch die Pracht der Höfe, noch
durch Riesenbazarc, noch durch milliardengroße Handelsbilanzen, noch durch
riesenhafte Unternehmungen sichtbar gemacht werden kann. „Wie vieles auch in
dieser Zeit für die Verbesserung der allgemeinen Lebenslage der Bevölkerung,
für die Steigerung ihrer wirtschaftlichen Kraft und ihrer sozialen Verhältnisse
erreicht worden ist: der volkswirtschaftliche Gesamterfolg ist doch nicht zu ver¬
gleichen mit den großen Fortschritten, die das deutsche Volk unter der Füh¬
rung der großen Grundherrschaft aus den ärmlichen Zuständen markgenossen¬
schaftlicher Beschränktheit bis zu den im ganzen wohlgeordneten und blühenden
Zuständen einer ersten einheitlichen Organisation der gesamten Volkskraft ge¬
macht hatte. Die Fortschritte der folgenden Zeit sind zum großen Teile nur
die Früchte jener wirtschaftlichen Erhebung des Volkes durch die Grundherr¬
schaft, auch da, wo diese selbst schließlich von ihnen überwunden wird; wie so
oft im Leben der Völker, so sind auch hier die Erzieher des Volkes entbehr¬
lich geworden, als diese Erziehung ihr Ziel erreicht hatte. Aber die sich nun
selbst überlassene Volkswirtschaft war schließlich doch nur ein Material, aus
dein Großes für des Volkes Wohlfahrt gemacht werden konnte; erst die be¬
deutenden volkswirtschaftlichen Organisationen, wie sie in der Folge im Städte-
Wesen wie in der Wirtschaftspolitik der aufstrebenden Landesherrschaft zur Aus¬
gestaltung und Wirksamkeit gelangten, haben dem deutschen Volke seine zweite
wirtschaftliche Blütezeit gebracht."
or etwa dreißig Jahren wurde den Deutschen nicht selten der
Vorwurf gemacht, daß sie lieber etwas über ihre großen
Schriftsteller lasen, als etwas von ihnen, sich eifriger mit litte¬
rarischen Abhandlungen und kritischen Waffengängen beschäftigten,
als mit dem Studium der schöpferischen Geister, und statt an
die frischen, ungetrübten Quellen der Dichtung selbst zu gehen, gleichsam den
mühelosem, aber doch zweifelhaften Trunk aus den Kanälen und Wasserleitungen
der Kritiker und Kunstphilosophen vorzögen. Dieser Vorwurf ist heutzutage
hinfällig geworden, denn das sogenannte gebildete Publikum liest jetzt weder
die großen Schriftsteller, noch liest es die Kunstrichter; die großen Schrift¬
steller hält es mit den Schuljahren für abgethan, und über die Arbeiten
der Literarhistoriker geht es unbeteiligt und verständnislos zur Tagesordnung
über, d. h. zu dem politischen, irgend welche Gedankenthätigkeit kaum bean¬
spruchenden Tagesgewäsch.
Diese Thatsache ist so offenbar, daß wir von den Verlegern litterar-
geschichtlicher Untersuchungen Beweise hierfür gar nicht zu fordern brauchen.
Schwieriger ist es, die Gründe für diese Abneigung des Publikums und für
seinen auffallenden Mangel an ästhetischem Urteil, an kritischem Geist und
litterarischem Verständnis aufzufinden, einen Mangel, den es nicht nnr im
Theater, in den Kunstausstellungen, im Konzertsaal und selbst bei der Aus¬
wahl seiner Zeitungen und Familienjonrnale verrät, sondern auch überall da,
wo von einer lärmschlagenden Clique irgend eine aufgebauschte Tagesgröße
auf den Schild litterarischen oder künstlerischen Ruhmes gehoben wird. Man
möchte fast glauben, daß die Durchschnittsbildung der Stände, die früher die
Träger und Pfleger des geistigen Lebens waren, trotz aller Gelehrsamkeit be¬
deutend gesunken sei, und daß weder die Schulen noch die Universitäten im
Laufe der letzten Jahrzehnte dazu beigetragen haben, unter den sogenannten
Gebildeten eine dauernde Teilnahme für litterarische Dinge wachzurufen und
einen gesunden Geschmack und ein vernünftiges Urteil zu verbreiten. Einen
großen Teil der Schuld tragen freilich die Literarhistoriker selbst, denn
nirgends herrscht eine solche Uneinigkeit und Ziellosigkeit, wie auf dem Gebiete
der Litteraturgeschichte. Selbst über ihr Wesen und ihre Aufgabe ist man in
den berufenen Kreisen noch lange nicht einig. Nicht weniger als vier Rich¬
tungen laufen gegenwärtig dnrch einander und verwirren oder bekämpfen sich:
die philologisch-antiquarische, die hauptsächlich auf den Universitäten betrieben
wird und sich in Wesen, Ton und Haltung zum großen Teil an Scherer und
Eltze anschließt; die kulturgeschichtlich-analytische, die in Gervinus ihr Vor¬
bild anerkennt und neuerdings in den materialistischen Determinismus Taines
ausläuft; drittens die christlich-moralisirende Litteraturbetrachtnng, die sich an
Vilmar anlehnt; viertens die ästhetisch-dogmatische Richtung, die auf die Ästhe¬
tiker der Hegelschen Schule zurückgeht. Alle Grundrisse und Leitfäden, die
sich noch über eine bloße Berichterstattung, über trockene Inhaltsangaben und
bibliographische Anmerkungen erheben und einen innern Plan zu erkennen
geben, lassen sich nach diesen vier Richtungen gruppiren.
Der Gedanke, daß man kein wahres Kunstwerk mühelos genießen könne,
daß sich jedermann die volle Erkenntnis erst geistig erarbeiten müsse, hat in
den letzten Jahren überall auf den Gebieten der Kunst- und Litteraturwissen¬
schaft eine unabsehbare Fülle von Einzelforschungen hervorgerufen. Aber
dieses Prinzip der Arbeitsteilung und der festen Stvffbegrenzung, dem manche
Wissenschaften, z. B. die Philologie und die Chemie, eine große Zahl wert¬
voller Ergebnisse verdauten, ist für die Litteraturgesch, ste mit große» Gefahren
verknüpft; denn hier, wo es sich vor allen Dingen um die fortlaufende, un¬
unterbrochene Entwicklung dichterischer Formen und Ideen handelt, nnr den
rastlosen, bald mächtig vorwärtsstrebender, bald behaglich dahinziehenden
Strom der schöpferischen Phantasie, der aus unzähligen alten und neuen
Quellen des innern und äußern Lebens immer wieder frische Nahrung erhält,
läßt sich eine einzelne Periode oder gar eine einzelne litterarische Erscheinung
nicht als ein selbständiges, in sich abgeschlossenes Arbeitsfeld herausschneiden.
Daher kommt es, daß unsre Literarhistoriker aus der beständig wachsenden
Menge mühevoller Monographien, die jahraus jahrein aus allen Richtungen
auf sie einstürmen, so blutwenig für ihre Zwecke verwerten können, und daß
viele Litteraturgeschichten, die sich auf derartige kleingeistige Untersuchungen
aufbauen, im Grunde weiter nichts sind, als Sammlungen lose aneinander
gereihter bibliographischer und biographischer Sonderarbeiten oder Ablage¬
rungsstätten für alle möglichen philologischen Daten, und Tummelplätze für
gelehrte Turniere, über die der eigentliche Gegenstand der Arbeit oft völlig
vergessen wird.
Die Bezeichnung „Geschichte" dürften derartige Werke gar nicht führen,
denn von einer innern, in pragmatischen Zusammenhang stehenden, wirklich
geschichtlichen Entwicklung der Litteratur, d. h. der dichterische» Formen, des
Stils, der Dichtuugsnrteu, der Stoffe, der Ideen, ist oft gar keine Rede. Die
meisten Litteraturgeschichten dieser Art sind überhaupt keine „Geschichte,"
sondern lediglich Chroniken oder bloße Wörterbücher, worin man die Namen
nicht alphabetisch, sondern chronologisch geordnet hat.
So wenig man den künstlerischen Wert eines Gemäldes, seine Entstehung,
seinen Rang und seinen Einfluß in der Kunstgeschichte dadurch erkennt, daß
man die Leinwand, den Rahmen, die Farben und andre Äußerlichkeiten mikro¬
skopisch prüft und studirt, so wenig dringt man in das Wesen eines poetischen
Werkes, in seine litterargeschichtliche Bedeutung, seinen Ursprung und seine
innern Beziehungen zu dem Geistesleben seiner und der kommenden Zeiten
mit dein ganzen als „wissenschaftlich" so hoch gepriesenen Apparat von biblio¬
graphischen, textkritischen und philologischen Notizen. Gegen die Anschauung,
daß Litteraturgeschichte und Philologie unbedingt zusammengehörten, und daß
nur der Philolog in den Sinn eines Litteraturwerkes so vollkommen eindringe,
daß er ihm die gebührende Stelle unter den litterarischen Leistungen eines
Volkes, einer Zeit anweisen könne, erheben sich die Stimmen immer lauter.
So sagt der Straßburger Dozent W. Wetz in seinem lehrreichen Werke
„Shakespeare vom Standpunkte der vergleichenden Litteraturgeschichte" (Worms,
18W): „Es will uns überhaupt bedünken, als ob man bei uns geflissentlich
die Augen schließe gegen die mancherlei Nachteile, welche die große Aus¬
dehnung und Wertschätzung philologischer Studien im Gefolge haben. Und
doch kann nur die stärkste Voreingenommenheit sie, besonders auf litterarischem
Gebiete, verkennen wollen. Wie häufig ist die Scheu, an die Dinge selber
hinanzntreten, während man dafür die Ansichten über sie studirt, die Ver¬
trautheit mit der Entstehungsgeschichte des »Werther« und »Faust« statt mit
diesen Werken selber; wie unzühligemale vertritt das Studium der Litteratur¬
geschichten das der Litteratur — und welcher Litteraturgeschichten! Und damit
kein Zug in dem Bilde fehle — wie vornehm blickt man auf den herab, der
im si. in dem^ Bewußtsein, wie wertlos, ja trügerisch und irreführend diese
abgeleitete Erkenntnis ist, den Mut hat, eine glückliche Unkenntnis in vielen
Dingen der bloßen Kenntnis der Surrogate dieser Dinge vorzuziehen! Nicht
als ob wir in der philologischen Richtung unsrer Zeit die einzige Ursache dieser
Übelstände sähen: allein sie nährt und perpetuirt (?) sie immer wieder und
macht eine energische Bekämpfung so unendlich schwer."
Es ist richtig, das litterargeschichtliche Studium unsrer Philologen hat
es oft weniger mit dem lebendigen Geiste und dem Ideengehalt in den Dich¬
tungen zu thun, als mit toten Formen und leeren Äußerlichkeiten. Ihr ganzes
Streben ist häufig nur darauf gerichtet, über die den Dichter und sein Werk
behandelnden Dissertationen, Abhandlungen und Bücher möglichst genaue und
vollständige Kenntnis zu erlangen und damit gleichsam die Bibliographie zur
Grundlage ihrer Wissenschaft zu machen. Statt das Bauwerk im ganzen zu
überschauen, seine künstlerische Anlage, seinen Charakter und Zweck, seinen Stil
und seine Formen durch eine vergleichende Betrachtung zu erfassen, glaubt
man ein richtiges Bild dadurch zu gewinnen, daß man die Inschriften, Ur¬
teile und Erklärungen eifrig studirt und notirt, die frühere Ausleger und
Kritiker in die einzelnen Bausteine eingeritzt haben. Man spricht sogar schon
von einer Dantelitteratur, Shakespearelitteratur, Goetheliiteratnr n. s. w.,
meint damit aber nicht etwa die Werke dieser Dichter, sondern alle seit ihrem
Auftreten über sie verfaßten Schriften. Dadurch, daß mau die Methode der
Philologie unverändert auf die Litteraturgeschichte übertragen hat, ist ihr Be¬
griff völlig verschoben worden und aus einer Geschichte der dichterischen Ideen
eine Geschichte der Bücher, der Ausgaben und Texte geworden. Im günstigsten
Falle ist man ans diesem Wege zu einer Geschichte der Kritik gekommen, d. h.
zu einer Geschichte der richtigen und irrtümlichen Ansichten früherer und gegen¬
wärtiger Zeit über die litterarischen Werke. Der Geschichtschreiber der Litteratur
aber hat vor allen Dingen den geistigen Inhalt der poetischen Erzeugnisse
aus den Quellen zu erfassen, und dazu giebt es nur ein Mittel, nämlich das,
daß man selbst Geist genug hat, den Geist des Dichters zu erkennen und zu
verstehen. Wer keine goethische Phantasie besitzt, dem bleibt Goethe allezeit
ein dunkles Land, er mag der gediegenste „Goetheforscher" und der gelehrteste
„Faustphilologe" fein und noch so viel kleine und große Fackeln der Text¬
kritik in qualmenden Brand setzen. Die litterarische Kritik der philologischen
Schule ist durch ihr geschäftiges Zusammenschleppen und Aufspeichern wirr
durch einander gemengter, zum Teil völlig wertloser Materialien in der That
am meisten schuld daran, daß das Ansehen der Litteraturgeschichte bei den
Gebildeten immer mehr gesunken ist, daß man sie sür eine bloße Sache des
Fleißes und der Ausdauer und nicht der Begabung hält und allgemein in
La Bruheres Urteil einstimmt: 1^ oritiauiz souvsnt n'sse xas uns soisuos,
v'the un mvtior on it kaut xlus als 8g,ues «no Ä'esxrit, xlu« als er-z-van
Ah oaxavitv, xlus et'IiiMwcl« puo as Kerls.
Es ist durchaus notwendig, daß sich die Litteratur endlich von dem
Schlepptau der Philologie frei mache und wie die Kunst-, die Kultur-
und die politische Geschichte eine selbständige Stellung im Lehrkörper unsrer
Universitäten einnehme. Ihr Abhüngigkeitsverhältnis von der Philologie ist
ungesund und die Zusammeukoppeluug beider Fächer ebenso unnatürlich, als
wollte man die Philosophie und die Chemie in eine Hand legen. Die Auf¬
gaben der Sprachforscher und der Literarhistoriker sind durchaus verschieden
und bedürfen zu ihrer Losung einer völlig verschiednen Methode. Beide ar¬
beiten nach andern Grundsätzen und müssen daher auch nach andern Gesetzen
beurteilt werden.
Selbst da, wo sie auf demselben Gebiete zusammentreffen, haben sie doch
gänzlich verschiedne Interessen. Für den Philologen sind die litterarischen
Erzeugnisse eines Volkes nur Sprachdenkmäler, für den andern nur Litteratur¬
denkmäler, d. h. Urkunden des denkenden und empfindenden Menschen oder
Volkes. Ein Denkmal kann für den Philologen von großem Werte sein und
doch für den Literarhistoriker nur sehr geringe Bedeutung haben. Wie ver¬
schiedne Kreise muß z. B. die Forschung ziehen, wenn sie die Geschichte der
deutschen Sprache'oder die der deutschen Litteratur untersucht und darstellt!
Die Aufgaben der Litteraturgeschichte sind durch die Philologie allein nicht
zu lösen. Schon Goethe hat in seiner Anzeige von Tiecks dramaturgischen
Blättern darauf hingewiesen, daß sich die litterarische Kritik und die Ästhetik
auch auf Physiologie und Pathologie stützen müßten, „um die Bedingungen
zu erkennen, welchen einzelne Menschen sowohl als ganze Nationen, die all¬
gemeinsten Weltepochen sowohl als der heutige Tag unterworfen sind." Aber
zu den hauptsächlichsten Irrtümern der philologischen Litteraturschreibung ge¬
hört gerade die Ansicht, daß sie mit ihrer Methode jedem denkenden Menschen
das volle Verständnis einer Dichtung zu erschließen vermöge, während doch
in der That nur die wenigen kongenialen Geister dazu gelangen, und daß sie
der Beihilfe andrer Wissenschaften, insbesondre der Knnstphilosophie, völlig
entraten könne. Es gilt unter den philologischen Literarhistorikern noch jetzt
als ein besondres Zeichen gründlicher Wissenschaftlichkeit, auf die Ästhetik mit
Achselzucken hinabzusehen und alle kunstphilosophischen Untersuchungen als
„ästhetisirende Allotria" zu bezeichnen. Wenn man aber genauer zusieht, so
findet man, daß sich die verächtlich hinausgewiesene Ästhetik durch ein Hinter¬
pförtchen sofort wieder einzuschleichen weiß, sobald sich der Verfasser von
seiner philologischen, bibliographischen und biographischen Berichterstattung zu
erheben wagt und die Komposition eines Werkes, seine stilistischen Eigentümlich¬
keiten, seine dichterischen Ideen und künstlerischen Wirkungen darzustellen
versucht.
Dieselbe Abneigung gegen alle Ästhetik und Kunstphilosophie zeigt sich
auch ziemlich stark bei Gervinus, dem eigentlichen Begründer der kultur-
geschichtlichen Litteratnrbehandlung; und in diesem Verhalten, aber auch nur
hierin, reicht er der Philologie die Hand. „Ich habe — sagt er in seiner Ge¬
schichte der deutschen Dichtung — mit der ästhetischen Beurteilung der Sachen
nichts zu thun. Der ästhetische Beurteiler zeigt uns eines Gedichtes Ent¬
stehung aus sich selbst, sein inneres Wachstum und >seine^ Vollendung, seinen
absolute« Wert, sein Verhältnis zu seiner Gattung und etwa zu der Natur
und dem Charakter des Dichters. Der Ästhetiker thut am besten, eine Dich¬
tung so wenig als möglich mit andern und fremden zu vergleichen, dem Ge¬
schichtschreiber ist diese Vergleich ung ein Hauptmittel zum Zweck. Er zeigt
uns uicht eines Gedichtes, sondern aller dichterischen Erzeugnisse Erflehung
aus der Zeit, aus dem Kreis ihrer Ideen. Thaten und Schicksale; er weist
darin nach, was diesen entspricht oder widerspricht, er sucht unes deu Ursache»
ihres Werdens und ihren Wirkungen und beurteilt ihren Wert hauptsächlich
nach diesen; er vergleicht sie mit dem größte» der Kunstgattung gerade dieser
Zeit und dieses Volkes, in dem sie entstanden, oder je nachdem er seinen Ge¬
sichtskreis ausdehnt, mit den weitern verwandten Erscheinungen in andern
Zeiten und Völkern."
In el»e»t frühern Greuzbotenaufsatze, „Kulturgeschichte und Litteratur¬
geschichte," ist auszuführen versucht worden, daß diese hauptsächlich von Ger-
vinus, Hettner und Lotheißen vertretenen kulturgeschichtlichen Grundsätze un¬
möglich allgemeine Geltung haben können, da der Begriff der Kultur ebenso
schwankend sei wie der der Litteratur, und die Wechselbeziehungen zwischen
beiden gar nicht so selbstverständlich und notwendig seien, wie diese Literar¬
historiker annehmen. Man ist neuerdings auch über das Verhältnis der
politischen Geschichte zur Kulturgeschichte in heftige Fehde geraten.") Während
die einen, deren Vorkämpfer Gothein ist, behaupten, die politische Geschichte
habe einfach in den Dienst der Kulturgeschichte zu treten, nur in der Kultur
eines Volkes liege seine wahre Geschichte und seine ganze Weltstellung be¬
gründet, die wechselnden Staatsformen und politischen Zustände seien weiter
nichts als Folgen der jeweiligen Knlturverhältuisse, sind die andern unter
Schüfers Führung der Ansicht, daß das staatliche Leben die unbedingte Vor¬
aussetzung für jede nationale Kultur sei, daß nicht die Kultur den Staat,
sondern der Staat die Kultur schaffe, und daher nicht das wirtschaftliche, sitt¬
liche oder geistige Leben eines Volkes, sondern der Staat und die politischen
Kämpfe den Mittelpunkt historischer Forschung bilden müßten.
Nun muß man allerdings sagen, daß es Zeiten genug giebt, wo sich das
wirtschaftliche, gesellschaftliche, religiöse, sittliche, litterarische und künstlerische
Dasein ganz unabhängig von den politischen Haupt- und Staatsaktionen be-
wege und entwickelt hat, daß also Staatsgeschichte und Kulturgeschichte durch¬
aus nicht Hand in Hand zu gehen brauchen, im Gegenteil, wie es im acht¬
zehnten Jahrhundert der Fall war, geradezu feindliche Mächte sein können.
Aber ebenso wenig, wie sich Staat und Kultur decken, ebenso wenig decken sich
Kultur und Litteratur, denn beide stehen durchaus nicht in einem so not¬
wendigen Abhängigkeitsverhältnis, daß der Kulturhistoriker die Litteratur¬
geschichte — wie Gothein meint — als eine sichere Führerin gebrauchen konnte,
denn aus einer litterarischen Erscheinung von bleibendem Werte kann man nur
selten einen sichern Rückschluß auf die Kultur, d. h. auf die herrschenden Ideen
der Zeit ziehen; oft ist es geradezu unmöglich, die Ursache ihrer Entstehung
in den vorhandenen Kultur- und Zeitverhältnissen zu finden. Um nur ein
Beispiel anzuführen: wer vermöchte eine so reine und keusche Dichtung wie
?g,ni se Vii-g'mis, wenn ihre Entstehungszeit nicht bekannt wäre, in die sittlich
zerfressene französische Gesellschaft des achtzehnten Jahrhunderts zu versetzen?
Die Litteraturgeschichte kann nicht die Führerin der Kulturgeschichte sein, denn
beide gehen von andern Gesichtspunkten und andern Wertschätzungen aus.
Ein Werk, das der einen bedeutend erscheint, ist es noch lange nicht sür die
andre. Die Kulturgeschichte braucht vor alleu Dingen Typen; aber die großen
Schriftsteller sind niemals die charakteristischen Typen ihrer Zeit, sie heben
sich überall wie ganz anders geartete und von der großen Masse, die doch
das eigentliche Kulturbild liefert, oft gar uicht verstandue Menschen aus ihrer
Zeit heraus; daher sind die Genies in der That die schlechtesten Führer, wo
es sich darum handelt, den allgemeinen, das Volk beherrschenden Zeitgeist
kennen zu lernen. Welchen falschen Rückschluß würde der Kulturhistoriker z. B.
von Shakespeares Hamlet oder Goethes Faust auf den Charakter der Zeit
und der Gesellschaft oder aus Margarethe vou Mavarms Heptameron auf die
französischen Hofsitten des sechzehnten Jahrhunderts machen! Nur was aus
dem landläufigen Zeitgeschmack hervorgegangen und von ihm anerkannt worden
ist, das Vorübergehende und Gelegentliche, die Tendenzwerke und die Streit¬
schriften, die allgemeinen Satiren und die gefeierten Machwerke der Modegötzen,
das sind für den Kulturhistvriker die wertvollen Quellen aus der Litteratur.
Eine Litteraturgeschichte von rein kulturhistorischen Standpunkte schreiben
heißt also diese kleinen, künstlerisch oft wertlosen Erzeugnisse zu Bausteinen
machen; mit den mächtigen, uicht für eine bestimmte Zeit und für einen ver¬
fliegenden Geschmack gearbeiteten Säulen und Quadern der großen Meister
kann der Kulturhistoriker nichts anfangen. Ein Gassenhauer ist ihm für seine
Zwecke unter Umständen wichtiger als die herrlichste Symphonie.
Der fruchtbare Gedanke, daß jede Litteratur der Ausdruck der Gesellschaft,
I'sxxrsssiou as sooists sei, ist allmählich bis zur Unvernunft übertrieben
worden. Man leugnet den selbständig schöpferischen Geist und möchte das
Genie für ein bloßes Gefäß halten, mit unendlich vielen aus der Vergangenheit
und Gegenwart stammenden Gedankcnlösnngen, aus denen sich von selbst neue
Krystalle absetzten. Diese geistigen Verbindungen wieder in die einzelnen Be¬
standteile zu zerlegen, ähnlich wie es der Chemiker mit seinen Stoffen thut,
das soll die Aufgabe der analytischen Kritik und der wahren modernen Litteratur¬
geschichte sein. Taine, der Begründer dieser analytischen Methode, hat die von
Sainte-Beuve metaphorisch gebrauchte Bezeichnung, die Litteraturgeschichte sei
eine Histoiro naturelle ach ksprits, wörtlich genommen und die Gesetze des
physischen Lebens in vollem Umfange auf das geistige und seelische Leben
übertragen. Die Naturforscher, sagt er, haben bemerkt, daß die verschiednen
Organe eines Tieres von einander abhängig sind, daß sich z. B. die Zähne,
der Magen, die Füße, der Instinkt und viele andre Dinge immer zu gleicher
Zeit und in bestimmten Verhältnissen verändern, und zwar so, daß jede Ver¬
änderung des einen Teiles auch die übrigen entsprechend umgestaltet. Ebenso
konnten, meint Taine, die Geschichtsforscher bemerken, daß die verschiednen
Fähigkeiten und Neigungen eines Menschen, einer Rasse oder auch einer
ganzen Zeit mit einander derartig verbunden seien, daß eine einzige Verände-
rung eines wesentlichen Zuges alle Fähigkeiten und Neigungen der Menschen
beeinflusse. Die Naturforscher hätten festgestellt, daß die übermäßige Ent¬
wicklung eines Organs bei einem Tiere die Verkrüpplnng oder das völlige
Verschwinden andrer Organe zur Folge habe. Ebenso könnten die Geschichts¬
forscher bestätigen, daß die außerordentliche Entwicklung einer einzigen
Fähigkeit, z. B. die moralische Anlage bei der germanischen oder die meta¬
physische und religiöse bei der indischen Rasse, die entgegengesetzten Fähigkeiten
unverkennbar schwache oder völlig lähme. Die Naturforscher hätten bewiesen,
daß unter den Charakterzügen einer Tier- oder einer Pflanzengattung die
einen untergeordnet, veränderlich oder verkümmert seien, andre dagegen, z. B.
die konzentrischen Lagerungen in einer Pflanze oder der Aufbau um eine
Wirbelsäule beim Tiere, vorherrschten und die ganze Form des Einzelwesens
bestimmten. Ebenso könnten die Geschichtsforscher beweisen, daß unter den
Charakterzügen einer Menschengruppe oder einer einzelnen Person die einen
nebensächlich und unbedeutend seien, während andre, z. B. der vorwiegende
Reichtum an Bildern und Ideen oder die Fähigkeit, allgemeine Begriffe zu
bilden, vorherrschten und von vornherein dem betreffenden Menschen die Rich¬
tung seines Lebens und seiner 'geistigen Thätigkeit unverrückbar bestimmten.
Taine nennt diese Erscheinung der Wechselbeziehungen 1a loi Ass cksvenä-inovs
rnuwellös und bezeichnet seine litterarische Methode als eine angewandte
Botanik, die es jedoch nicht mit Pflanzen, sondern mit Werken des mensch¬
lichen Geistes zu thun habe. Nur dort könne eine Pflanze gedeihen, sich
beständig entwickeln, üppig blühen und neues Leben bergende Früchte erzengen,
wo sich alle äußern Bedingungen für ihr Wachstum: Keimgesundheit, Boden,
Klima, Umgebung, zu einer günstigen gemeinsamen Triebkraft vereinigt hätten;
ebenso könnte man nur dort Früchte des menschlichen Geistes erwarten, wo
die äußern Bedingungen der Nasse, der Umgebung, des Augenblicks günstig
seien.
Die unerhörte Sophistik dieses Vergleichs tritt sofort klar hervor, sobald
man das Gaukelspiel erkennt, das hier mit dem Ausdruck „Früchte" getrieben
wird. Denn bei der Pflanze wird das Wort im eigentlichen konkreten Sinne
gebraucht, von den Werken des menschlichen Geistes dagegen rein bildlich,
metaphorisch. Die Pflanzenblüte, aus der sich die Frucht mit dem Samen
für künftige Generationen entwickelt, entspricht doch bei tierischen Wesen nie
und nimmer dem Gehirn, sondern keinem andern Körperteile, als den Fort-
pflanzungsorganen. Was hat der Samen in einer Mohnkapsel mit den Ge¬
danken eines Gehirns, mit den Bildern der Phantasie, mit deu Empfindungen
der menschlichen Seele zu thun? Man sieht, Taines auf die Litteratur über¬
tragne Theorie einer angewandten Botanik ist nur durch eine gewaltsame Ver¬
renkung der Begriffe möglich. Die Notwendigkeit, den materiellen Determi¬
nismus, der im gauzeu Geschlechtsleben bei der Erzeugung und Fortpflanzung
herrscht, auch für die schöpferische Thätigkeit des menschlichen Geistes anzu¬
nehmen, ist eine völlige Verwirrung; denn dort schaffen die gesunden Organe
unabhängig von dem Bewußtsein und dem Willen des Individuums, wie bei
den Pflanzen, allerdings beständig neue, lebentragende Stoffe, deren Eigen¬
schaften ohne Frage von Nasse, Boden und Klima des Individuums abhängt;
aber ein folgerichtiges Schaffe« des Gehirns, ein künstlerisches Arbeiten des
Geistes ist ohne selbstbestimmeudes Bewußtsein, ohne klaren, sich selbst Gesetze
gebenden Willen undenkbar. Der Wille, den Taine ganz übersieht, ist gerade
der Dampf, der das Räderwerk in Bewegung setzt, neue Kräfte weckt und
dadurch andre Gedankenkreise und andre Lebensformen schafft. In dein freien,
durch kein Milieu bestimmten Willen eines Einzelnen liegt oft das ganze Ge¬
heimnis einer großen Kulturbewegung, in dem freien Willen, in der spielenden
Laune und ungreifbaren Stimmung des Künstlers und des Dichters oft das
ganze Geheimnis seines Werkes.
Sehr richtig sagt Brunetivre mit Rücksicht auf die unzähligen philo¬
logischen, kulturgeschichtlichen und Positivistischen Erklärungsversuche geistiger
Erzeugnisse und litterarischer Bewegungen: 1^ volont» g, 011 eilst, plus
pari pu'on, 1k vont Iller Airs a>ux Evolution« littörmrW. (Z'est M' un sow
av voloiM (zu'ontrv 1550 vt 1560 les Ronsarä ot los Du Zivil»/, rompant
»vev I» traÄitävQ Zauloisv, ont „it1u8t.rü" I» xovsio L-g>nyA8v, est 1'ont- ronckuo
o^xMe, xcmr l» xi-vwiLrö la8, as8 N'Wäv8 iM»Ap8, av« NÄiul8 mouvement«
le, als8 ^rg.na88 PSN8LL8. Einem Willensakte verdankten die Gesetze des fran-
zösischen Klassizismus ihr Dasein, auf einen Willensakt sei auch die Ausbil¬
dung der französischen Romantik zwischen den Jahren 1820 und 1840 zurück¬
zuführen. Das von Taine aufgestellte Prinzip der gegenseitigen Abhängigkeiten,
das allerdings dort anerkannt werden muß, wo es sich um rein physiologische
Borgänge handelt, verliert seine Notwendigkeit, seine Gesetzmäßigkeit und
Giltigkeit, sobald man es mit dem Seelenleben und den Erzeugnissen des
Geistes zu thun hat. Gewiß lassen sich alle künstlerischen, litterarischen,
religiösen, politischen, gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Erscheinungen
einer Zeit in irgendwelche Beziehung zu einander und zur Rasse, zum
Lande und zur Umgebung setzen; aber niemand kann behauptet?, daß diese
Beziehungen und Beeinflussungen mit der starren Notwendigkeit eines Natur¬
gesetzes eintreten müßten. Mit dem Mangel innerer Notwendigkeit stürzt aber
das ganze ans naturwissenschaftlicher Grundlage künstlich aufgebaute Karten¬
haus der Positivistischen Litteraturgeschichte zusammen. Die Positivisten be¬
gehen denselben Fehler, den sie an den Ästhetikern nicht scharf genug zu
rügen wissen: sie ziehen aus den Erscheinungen ihre Erkenntnisse und Schlüsse
a o08dorien-i und benutzen diese alsdann unter Verallgemeinerung als Gesetze
Ä xi'iori für ihre Kritik. Durch diese Verallgemeinerung, diese Voreingenommen¬
heit und den Anspruch exakter Wissenschaftlichkeit haben die Positivisten das
wieder verdorben, was von ihnen an neuen, tiefen und fruchtbaren Gedanken
in die litterargeschichtliche Betrachtung eingeführt worden ist. Die Verirrungen
des Naturalismus und die sinnlosen Faseleien unsrer „Jüngsten" werden mit
vollem Recht als Folgen der Tainischen Kritik bezeichnet; Zola nennt ihn
nicht umsonst to ollöt' as not-rv vritMiö.
Nicht einmal das Gesetz der Rassenverschiedenheit läßt sich mit Sicherheit
auf die Schöpfungen des menschlichen Geistes anwenden; denn es giebt Kunst¬
werke und Dichtungen, die allen Nationen angehören könnten. Die Neigung,
gewisse Charakterzüge geistiger Erzeugnisse auf nationale Eigentümlichkeiten
zurückzuführen, hat schon manchen Kritiker zum Straucheln gebracht. Ein
warnendes Beispiel bieten uns die zahlreichen Erklärungen zu Herders Eid, die
in dieser Dichtung überall da, wo man in den spanischen Quellen keinen Anhalt
fand, den echten deutsch-nationalen Geist von Herders selbständiger Weise
herauserkennen wollten. Gervinus, Gödeke, Ebert, Lemcke, Düntzer u. a., sie
alle glaubten die deutschen Züge mit Sicherheit herauszufühlen, bis Reinhold
Köhler endlich nachwies, daß gerade die als echt deutsch gepriesenen Stellen,
die Herder zu den spanischen Romanzen hinzugedichtet haben sollte, nichts
andres als eine ziemlich wörtlich, zuweilen sogar fehlerhafte metrische Übersetzung
aus einer französischen Prosabearbeitung der Cidromcmzen sind, daß also der
als echt deutsch gerühmte Geist, die deutsche Auffassung und die deutsche
Gemütlichkeit, das deutsche Humanitätsideal und die deutsche Liebe von einem
echten Frauzosen des achtzehnten Jahrhunderts herrühren. Ebenso vorsichtig wie
mit diesem Gesetz der nationalen Verschiedenheiten muß der Literarhistoriker mit
dem des sogenannten Milieu verfahren, denn es giebt, wie wir schon an¬
gedeutet haben, Zeiten, wo die Litteratur und die Kunst nicht den geringsten
Einfluß eines politischen oder gesellschaftlichen Milieu verraten und für sich
im Grunde ein völlig unberührtes abgeschlossenes Leben führen. Ist es nötig,
hierbei an die holländische Malerei des siebzehnten Jahrhunderts oder an die
französische Litteratur der Revolutionszeit zu erinnern?
Man muß es daher mit großem Vorbehalt aufnehmen, wenn Taine sagt:
I/g,8oenäg.ut, an milisu ainöns sur ig, 8esns as l'Iüstoire les a>rei8t.L8, los
xllilo8oxlls8, 1«8 rstoring.t,sur8 rsligieux, Is8 xolitia.u<Z8 0ÄxÄd1ö8 ä'intsrxr<ztör
on ä'g,<zoomx1ir ig. xon8of 60 lsur Ago se as lsur raos, oonrms it gmsns sur
ig 8vsns as 1» naturf le8 S8psss8 ä'aniumux et as xliwts3 is8 xlu8 oaxichlv8
as s'Ävosinsäsr ü, lsur Stimne et Z, Isnr 8ol.
Neben die Wirkungen der Nasse und des Milieu stellt Taine den Einfluß
des Zeitpunktes, l'Intlusnss an inoiusut. Wenn der Nationalcharakter und die
äußern Umstände auf den schöpferischen Geist wirken, so wirken sie nach seiner
Ansicht nicht auf eine leere, unbeschriebene Flache, sondern auf eine Fläche,
worin sich schon ganz bestimmte Züge ausgeprägt haben. Die Züge nehmen,
den verschiedenen Zeitverhültnisfen entsprechend, auch jedesmal eine andre Gestalt
an, und das genügt, das ganze Bild zu verändern. Derartige Verschieden¬
heiten erkennt man aus allen aufeinanderfolgenden Entwicklungsstufen einer
Litteratur und einer Kunst, z. B. zwischen der französischen Tragödie unter
Corneille und der unter Voltaire, zwischen dein griechischen Theater unter
Äschhlos und dem unter Euripides, zwischen der lateinischen Dichtung unter
Lucrez und der unter Claudian, zwischen der italienischen Malerei unter Lionnrdo
und der unter Guido Reni u. s. w. Es verhält sich auch hier mit einem
Volke wie mit einer Pflanze; derselbe Saft unter derselben Temperatur auf
demselben Boden erzeugt auf den verschiednen Stufen seiner allmählichen
Verarbeitung verschiedene Gebilde, Knospen, Blüten, Früchte, Samen, und zwar
in der Art, daß die folgende immer die vorhergehende zur Bedingung hat und
gleichsam aus deren Tode geboren wird.
Dieser letzte Gedanke Taines, daß die Ursache für jedes litterarische Werk
in einem vorhergehenden zu suchen sei, und die sich daraus ergebende Schlu߬
folgerung, daß also die Wirkungen der Dichterwerke auf die nachfolgenden die
eigentliche treibende Kraft der litterarischen Entwicklung sei, mit andern Worten,
daß vor allen Dingen der dichterische Geist aus deu dichterischen Geist be¬
stimmend, anregend und befruchtend wirke, ja sogar den völligen Gegensatz zur
Überlieferung erzeugen könne, diese notwendige Schlußfolgerung steht in auf¬
fallendem Widerspruch zu Taines materialistischer Schöpfungstheorie. Wenn
Taine von seiner Kritik sagt: Mio us xrsMÄit,, ni us Wräonus, sito son8we>s
se sxxlicius, so ist die Wendung verblüffend, womit Taine in das litterarische
Urteil die moralische Wertschätzung hineinträgt: das Werk, das uns einen
edeln Charakter vorführt, stehe höher als das, worin ein bösartiger Charakter
dargestellt wird; wenn in zwei Werken mit derselben dichterischen Kraft Leiden-
schaften von gleicher Größe in Bewegung gesetzt würden, so gelte das mit
einem moralischen Helden künstlerisch mehr als das mit einem Bösewicht. So
biegt also Taine nach einem langen, dornigen Umwege, der über die Abgründe
der Naturwissenschaft und der Philosophie hinwegführt, in die alte, bequeme
Fahrstraße der moralisirenden Naturbetrachtung ein und reicht gewissermaßen
dem vielgeschmühten Barbeh d'Aurevilly die Hand, der von dem Grundsatze
ausgeht: II vo.laikan pas eonosvoir 1a «zritiquö <zu clölwrs Ah 1a. morals
vliMisnns.
Damit kommen wir zur dritten Richtung der Litteraturgeschichte, der
christlich-moralisirenden. Diese hat in Frankreich in Edmond Scherer und in
Deutschland in Vilmar ihre Hauptvertreter gefunden; je nachdem der Verfasser
ein glaubensstarker Katholik oder ein überzeugungstreuer Protestant ist, spaltet
sie sich in zwei feindliche Gruppe», die die Litteraturgeschichte oft völlig in
den Dienst der konfessionell zugestutztem Kirchengeschichte und der parteimäßig
betriebenen Kirchenpolitik stellen. Die Litteratur ist nach der Anschauung dieser
Kritiker weniger der Ausdruck des geistigen als des religiösen Lebens, und
der wirkliche Wert des Schriftstellers und seiner Werke darf daher nach keinem
andern Maßstabe beurteilt werden, als nach den Grundsätzen und Vorschriften
des kirchlichen Dogmas. Jedes geschichtliche, ästhetische oder psychologische
Interesse an dem Kunstwerke verschwindet hier vor der einen unbeweglichen
Frage: Welche Stellung nimmt es zur christlichen Ethik oder doch zu einer
ihr gleichstehenden philosophischen Sittenlehre ein? Is rogaräs 1a, morale, sagt
Edmond Scherer, eomins an'it ^ a as plus vIsvL «t <Zg xlus important
dtauf 1a 80öl6t6, js rooonnais moins, ^no tout autrs intörvt est alö peu as
xoicls su oomxaraisvn as o«z1ni-1a. In dem religiösen Gefühl geht jedes andre
Empfinden auf, und wer den Lebensinhalt eines Menschen oder eines ganzen
Volkes künstlerisch gestalten will, der muß nach der Ansicht dieser Schule vor
allem in die Tiefe des religiösen Lebens eingedrungen sein und das Kunstwerk
um eine sittlich-christliche Idee aufbauen. „Unsre neue Dichterzeit — sagt z. B.
Vilmar von den Klassikern — hat sich nur gewaltsam und zu ihrem Schaden des
versöhnenden, Ziel und Nuhe gebenden Elements entschlagen, des christlichen
Elements, das sie nicht aufnehmen mochte und doch nicht ignoriren kann,
während es ihr gleich unmöglich ist, zu der plastischen Ruhe der griechischen
Heidenwelt zurückzukehren." Eine Erklärung des Kunstwerkes aus der Zeit
und den Verhältnissen wird kaum versucht. Man begnügt sich mit einer Lob¬
preisung, tadelt es, wo es über die Grenzen des Wohlanständigen und Sittlichen
hinausgeht, oder wirft es als die Verirrung eines Gottlosen völlig beiseite. Ist
die Erklärung einer künstlerisch hochstehenden Zeit nicht zu umgehen, so läßt
man sie „ans der Tiefe der göttlichen Menschenschöpfung und Menschenregieruug
entspringen, in die kein menschliches Auge reicht." Es ist nach Vilmar eine
Vermessenheit, das Wesen der größten Geister, die auf mehrere Menschenalter,
ja auf mehrere Jahrhunderte hinaus bestimmend, gebietend, bildend und schaffend
gewirkt haben, aus den geschichtlichen Bedingungen, an die ihr zeitliches Dasein
und Wirken geknüpft war, erklaren zu wollen, wie es gekommen sei und
notwendig habe kommen müssen, daß ein Geist dieser Art mit diesen Gaben,
mit diesen Richtungen, mit dieser Wirksamkeit eben in dieser Zeit erschienen sei.
Es sei Vermessenheit, die, so geistreich sie scheine, im tiefsten Grunde auf einer
mechanischen, um nicht zu sagen rohen Ansicht von den: geistigen Leben der
Menschheit, des Ganzen wie der Individuen, beruhe, als sei der menschliche
Geist nur ein Produkt der Zeitverhältnisse, mir ein Facit aus vorher gegebenen
Summanden, eine Ziffer, die eine Stufe weiter abermals zum Summanden
werde, um ein neues Facit zu ziehen, eine Formel, aller Eigentümlichkeit, aller
Selbständigkeit, alles Willens, alles Geheimnisses entkleidet; in ihr schlüge die
Wahrheit, in der wir als Christen unser Heil und unsern Trost fänden, in
den heillosesten und trostlosesten, vollkommen krassen und finstern phantastischen
Determinismus um.
Die moralisirende Kritik weist seltsamerweise in Frankreich, trotz oder viel¬
leicht gerade wegen des Naturalismus, der die Moral und die Kunst für völlig
getrennte Gebiete hält, eine große Zahl von Anhängern uns, und Zeitschriften
wie die LibliMiöauv uiüvsi'KsUiz, die Rövuo vlrrvtiönno, die ü.sono an?8 cieux
inonäss u. a. bleiben ihren sittlichen Grundsätzen auch heute uoch getreu. In
Deutschland verliert sie immer mehr an Boden, besonders unter dem Einflüsse
der realistische» Richtung, die sich in unsrer Tagespresse breit macht und über
den frommen Glaubenseifer und die altvaterische Kunstmoral herfällt, ohne
zu wissen, daß auch Lessing, ihr Muster und Abgott, die moralische Schönheit
einer Dichtung über die künstlerische setzte. Die Stelle, worin Lessing diese
Ansicht ausspricht, ist so wenig bekannt, daß ich sie hier einfügen muß.
Er sagt in seiner Abhandlung über Plautus i „Ich nenne das schönste Lustspiel
uicht dasjenige, welches am wahrscheinlichsten und regelmäßigsten ist; uicht
das, welches die sinnreichsten Gedanken, die artigsten Einfälle, die angenehmsten
Scherze, die künstlichsten Verwicklungen und die natürlichsten Auflösungen hat,
sondern das schönste Lustspiel nenne ich dasjenige, welches seiner Absicht am
nächsten kommt, zumal wenn es die angeführten Schönheiten größtenteils
auch besitzt. Was ist aber die Absicht der Komödie? Die Sitten der Zu¬
schauer zu bilden und zu besser,:. Die Mittel, die sie dazu anwendet, sind,
daß sie das Laster verhaßt und die Tugend liebenswürdig darstellt. Weil
aber diese allzu verderbt sind, als daß diese Mittel bei ihnen anschlagen sollten,
so hat sie noch ein kräftigeres, wenn sie nämlich das Laster allezeit unglücklich
und die Tugend am Ende glücklich sein läßt."
Während der philologische Literaturhistoriker es nicht für seine Aufgabe
hält, neben seinen formalen Studien auch auf den geistigen Schönheitsgehalt
der „Sprachdenkmäler" einzugehen, und der Knlturhistoriker nur deu geschieht-
lieben Werdegang beurteilt, der mit den Gesetzen und den Formeln einer
Kunstphilosophie nichts zu thun hat, ist für den moralisirenden Kritiker die
ganze Ästhetik in der Sittenlehre enthalten. Das Sittliche ist, wie schon
Plato behauptet, das Schöne; nur das Sittliche darf daher Gegenstand der
Kunst sein, nur wo diese den höchsten Zwecken der Sittlichkeit und der staat¬
lichen Gesellschaft dient, hat sie ihre Daseinsberechtigung. Die Abneigung
gegen alle spekulative Philosophie, insbesondre gegen die Metaphysik des
Schönen und die darauf fußende Ästhetik, hat in Deutschland das Aufblühen
jener drei litterargeschichtlichen Richtungen außerordentlich unterstützt und der
ästhetisch-dogmatischen, die von den Romantikern und der Hegelschen Schule
ausging, immer mehr Boden weggenommen. Man ist dahintergekommen,
daß der Ursprung und das Wesen der Kunst lediglich aus der psychologischen
Natur des Menschen zu erklären ist, und daß sich also jede Ästhetik auf eine
Psychologie und nicht auf eine Metaphysik zu gründen hat. Jene schon durch
die Herbartsche und Schopenhauersche Schule erschütterte Ästhetik und die sich
darauf gründende litterarische Kritik ist in Deutschland völlig verwässert und
fristet ihr Dasein nur noch in den unzähligen illustrirten Litteraturgeschichten,
wo es weniger auf den belehrenden Text als auf die unterhaltenden Bilder
ankommt, und in deu geistreichelnden Feuilletons unsrer Tagespresse. Dagegen
zählt in Frankreich diese ästhetisch-dogmatische Richtung noch eine Menge nam¬
hafter Schriftsteller, z. B. Brunetivre, Emile Jaquet, Blaze de Bury, Frcmcisque
Sarcey, Montvgut, Cherbuliez u. s. w. Diese schließen sich mit voller Über¬
zeugung an das überlieferte Dogma der Boileauschen Kunstgesetze an; sie ver¬
werfen das philologische, kulturgeschichtliche, psychologische und moralisirende
Verfahren und erklären die Entwicklung der Litteratur nicht aus dem Zu¬
sammenwirken aller möglichen Kräfte, sondern als ein Wachstum aus sich
heraus, uns svolution an ä«zdg,n8.
Andre Anhänger dieser ästhetischen Schule, z. B. Jules Lemaltre, Andrv
Theurief, Anatole France, Weiß, Ccitulle Mendes suchen den biographisch-
psychologischen Weg Sainte-Beuves mit den Regeln und Formeln des fran¬
zösischen Klassizismus zu vereinigen; und auch die jüngste Schule der Symboliker,
die den naturalistischen Umstürzlern scharf entgegentritt, bleibt mit ihren kritischen
Grundsätzen der alten ästhetischen Auffassung getreu: ^.voir ä'aviwos uns
tllöoris as 1'u.re, aient^hör Iss gzuvres ass artistW su / olisrolmrck 1'a.xxliog.lion
av ostto Uivoriiz: xg.r esttv orni^us on xsut solgii-vir los ozuvrss orni^uvös.
O'sse eneors ig. ssulö lÄycm, aoud uns oritiHue xuisss ßtw iinx^rtials.
Zu diesen vier Richtungen der Litteraturgeschichte hat sich neuerdings
noch eine fünfte gesellt: die vergleichende Litteraturgeschichte. Ihre Anfänge
gehen zurück bis auf den Vater der Litteraturgeschichte, Daniel Morhof, der
zuerst darauf hinwies, daß man die deutsche Litteratur im Zusammenhange
mit der fremdländischen betrachten müsse; und Geister wie Lessing, Herder,
Schiller, Friedrich Schlegel u. a. fanden in der vergleichenden Betrachtung
litterarischer Werke das beste Mittel zu ihrer gründlichen Kenntnis. Je mehr
sich die litterarischen Untersuchungen zersplitterten, und je weniger Frucht die
mühevollen Arbeiten aufwiesen, desto nachdrücklicher verlangten Männer wie
Carriere und Goedeke eine vergleichende Litteraturbetrachtung. Ihre Aufgabe
sollte es sein, alle Einzelforschungen in einem universalhistorischen Geiste zu¬
sammenzufassen, aufzudecken, wie die Dichtkunst mit allen übrigen Äußerungen
des menschlichen Geistes zusammenhänge, wie die Litteratur der verschiednen
Völker auf einander eingewirkt hätte, wie gewisse Stoffe und Ideen durch
verschiedne Nationen wanderten und sich dabei veränderten. Neben dieser
universalhistorischen und internationalen Bestimmung wird ihr noch die Auf¬
gabe zugeteilt, den Charakter der einzelnen Litteraturperiodeu durch Vergleichung
zu bestimmen, die von verschiednen Dichtern behandelten gleichen Stoffe neben
einander zu stellen und dadurch das innere Wesen, den psychologischen Grund¬
zug der Dichter aufzuweisen. Wetz schränkt in seinem erwähnten Buche über
Shakespeare den Kreis dieser Aufgaben bedeutend ein. Sache der vergleichenden
Litteraturgeschichte, sagt er, sei es, analoge Erscheinungen mit einander zu
vergleichen und dadurch in das innerste Wesen jeder einzelnen einzudringen
und die Gesetze zu entdecken, die die Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten be¬
wirkt haben. „Durch Vergleichung sucht sie zunächst die Eigentümlichkeiten
litterarischer Erscheinungen möglichst scharf und vollständig zu erkennen. Erst
dann beginnt ihr Hauptgeschäft, für diese eine kausale Erklärung zu geben.
Sie muß zu dem Behufe eine intime, wenn auch mehr in die Tiefe als in
die Breite gehende Vertrautheit mit mehreren Litteraturen besitzen, denn nur
so kann sie sich immer zahlreiche verwandte Erscheinungen gegenwärtig halten
und dem Fehler entgehen, Äußerliches mit Wesentlichen zu verwechseln, Zu¬
fälligen übertriebene Bedeutung beizulegen."
Es ist wohl keine Frage, daß die vergleichende Litteraturgeschichte eine
Zukunft hat, daß erst sie uns eine wirkliche Geschichte der dichtenden Phantasie,
des nationalen Denkens und Empfindens liefern wird, daß erst aus ihr eine
neue, auf Psychologie und Geschichte sicher gebaute Ästhetik entstehen und
dadurch der Weg zu eiuer Psychologie der Litteraturgeschichte gebahnt werden
kann. Wenn Goedeke in seinem „Grundriß zur Geschichte der deutschen
Dichtung" sagt, die ganze deutsche Litteratur seit der Reformation stehe fort¬
dauernd bald unter dem Einfluß der Niederländer, Franzosen, Spanier, bald
unter dem der Engländer, Griechen, Römer, bald unter dem Einfluß aller Welt,
so muß man zugeben, daß der erschreckend dürftige Nest an dichterischer Selb¬
ständigkeit in unsrer Litteratur auf keinem andern Wege als durch eine ver¬
gleichende Kritik ermittelt werden kann. Eine Vergleichung zweier oder mehrerer
Dinge ist aber erst möglich, wenn man jedes einzelne genau kennt. Eine
vergleichende Litteraturgeschichte kann daher nur Sinn und Wort haben, wenn ^
man mit den Charakterzügen der einzelnen Litteraturen oder der einzelnen
Perioden völlig vertraut geworden ist, d. h. wenn die beschreibende Litteratur¬
geschichte ihre Aufgabe bereits erfüllt hat. Ihr Ziel kann sie aber nur
dadurch erreichen, daß sich die vier Richtungen, die philologische, die kultur¬
geschichtliche, die Positivistische und die ästhetisch-moralische, vereinigen und
gemeinsam von einem einheitlichen Gesichtspunkt aus eine wirkliche prag¬
matische Geschichte und keine bloße Chronik der Litteratur zu stände bringen.
Diesen fruchtbaren Gedanken hat zuerst Ter Brink in seiner Straßburger
Rektoratsrede Über die Aufgabe der Litteraturgeschichte (Straßburg,
Heitz, 1891) ausgesprochen und damit gleichsam zu seiner von den Grenzboten
früher besprochenen Geschichte der englischen Litteratur, worin er jene Aufgabe
schon praktisch gelöst hat, die theoretischen Grundsätze aufgestellt. Er wendet
sich vor allem gegen die unter seinen Fachgenossen vielfach verbreitete Ansicht,
daß sich der Literarhistoriker bei der Erforschung sprachlicher Geisteswerke
auf die formell-ästhetische Seite zu beschränken habe, daß die Litteraturgeschichte
also nichts weiter als die „Wissenschaft von der Entwicklung der Kunst sprach¬
licher Darstellung" sei. Scharfsinnig führt er aus, daß, wer Litteraturgeschichte
schreibe, auch die künstlerische Gestaltung der Sprache kennen müsse; diese
Gestaltung zeige sich nach der sinnfälligen Seite in der rhythmischen Gliederung
des Vers- und Strophenbaues, in der phonetischen Syntax der Leute, der
Klangfarben und der Lautsymbolik, in den Imponderabilien der Sprache, d. h. in
in den Gefühlswerten der Worte; nach der geistigen Seite zeige sie sich in der rhe¬
torischen Syntax der Tropen, der Worte und Satzfigurcn und in der stilistischen
Syntax der Auswahl der Vorstellungen, der Abfolge und Art ihrer Verknüpfung.
Was für den Musiker die Akustik, für den Maler die Farbenlehre ist, das muß für
den Schriftsteller die Stilistik sein; es ist daher ein großer Maugel unsrer Lite¬
rarhistoriker und Kritiker, daß sie eine stilistische Charakteristik schriftstellerischer
Erzeugnisse kaum einzugehen pflegen. Aber die Hauptsache bei der Beurteilung
einer Dichtung bleibt nach Ter Brink doch einerseits die Komposition, d. h. die
Wahl der Stilgattuug, die künstlerische Anordnung und die poetische Vortrags¬
weise, andrerseits die Konzeption der Ideen, d. h. die Fähigkeit, den geistigen Inhalt
des Stoffes zu erfassen, ihn poetisch wirkungsvoll umzugestalten, den frucht¬
baren Keim darin zu erkennen, ihn abzulösen und zu einem weit verzweigten
Baume emporwachsen zu lassen. Diese Konzeption hängt aber von der ganzen
ästhetisch-moralischen Persönlichkeit des Dichters ab; sie und die in ihr lebenden
wirksamen Ideen müssen daher auch das Zentralobjekt für die litterarische
Betrachtung bilden. Von jenen drei Wurzeln der Dichtung hat jede wieder
ihre besondre Geschichte: die Geschichte der poetischen Kunstform oder der
poetischen Technik, die Geschichte der dichterischen Stoffe oder der litterarischen
Überlieferung und endlich die Geschichte der allgemein herrschenden Ideen und
des individuellen schöpferischen Geistes. Philologie, Ästhetik, Kulturgeschichte
und Psychologie müssen sich also vereinigen, um die Aufgabe der Litteratur¬
geschichte zu lösen.
Ter Vrink hat nicht am wenigsten durch sein Wirken der Litteratur¬
geschichte ihre Berechtigung im Gesamtorganismus der Geisteswissenschaften
gesichert, die ihr früher vielfach verweigert wurde; er hat ihre Aufgabe noch
über das Gebiet der rein geschichtlichen Forschung hinaus erweitert und auf
den wohlthätigen Einfluß hingewiesen, den die Litteraturgeschichte auf die
Entwicklung der Litteratur auszuüben vermag; sie leistet, sagt er, für diese
durch methodische Arbeit etwas ähnliches wie das, was die führenden Geister
der Nationen und Epochen durch ihre Genialität leisten, d. h. sie korrigirt die
Überlieferung. Sie bahnt uns durch Dickicht und Gestrüpp die Wege, die zu
versteckten Aussichtspunkten, zu verborgnen Quellen und Ruheplätzen sühren;
sie schlägt Brücken über Abgründe, die uns von den hohen Gipfeln trennen;
sie setzt das Thal, in dem unser Hüttchen liegt, mit der großen umgebenden
Welt in Verbindung und belehrt uns darüber, an welchem Punkte dieser Welt
wir eigentlich wohnen, und was das Fleckchen Erde, das wir überschauen, im
Verhältnis zum Ganzen bedeutet. Mit andern Worten: die Litteraturgeschichte
erleichtert uns den Zugang zu dem eigentlich Wichtigen und dauernd Wert¬
vollen in der Litteratur und giebt uns, indem sie uns über die Beschränkung
des Jetzt und der Hier hinaushebt, erst den Maßstab zu seiner Beurteilung.
en als Manuskript gedruckten Erinnerungen: Aus meinem Leben
(Die ersten dreißig Jahre 1819 bis 1849) von Alfred Ritter
von Arneth, dem Geschichtschreiber Maria Theresias und Vor¬
stand des österreichischen Staatsarchivs, verdanken wir die Be¬
reicherung unsrer Litteratur um eines ihrer schönsten Frauenbilder.
Arneths Mutter war niemand andres als Antonie Adamberger, die vielgefeierte
Hofburgschauspielerin und Braut Theodor Körners, die sich vier Jahre nach
dem tragischen Tode ihres Bräutigams 1817 zur Ehe mit dem damaligen
Kustos und spätern Direktor des kaiserlich-königlichen Münz- und Antiken¬
kabinetts Joseph Arneth entschloß. Von dieser prächtigen Frau, die sich beim
Eintritt in den Ehestand von der Bühne zurückzog, wußten wir bisher nur
durch die schwärmerischen Briefe Körners über seine geliebte „Toni"; nun hat
ihr der in der Zeichnung edler Frauengestalten wohlgeübte Geschichtschreiber
ein bleibendes Denkmal gesetzt, das ihn selbst nicht weniger als die Mutter ehrt.
Arneths Stil mutet uns wie die Manier eines vornehmen Hofmalers an.
Ihr erstes Kennzeichen ist die äußere Sauberkeit und Ruhe der Darstellung.
Arneth vertieft sich nicht allzusehr in die Zergliederung der Charaktere und
übergeht doch keinen für die Wahrheit des Bildes wesentlichen Zeitpunkt; aber
er vermeidet den längern Aufenthalt dort, wo er tadeln müßte, und erzählt
lieber ausführlich minder wichtige Dinge. Wenn man in seinen Büchern liest,
so überkommt einen das Gefühl, als durchwanderte man die hohen, weiten,
weißgetünchten Räume der Schlösser aus dem Ende des vorigen Jahrhunderts:
da herrscht Kühle, Ruhe, Stille, jeder Schritt hallt darin wieder. Auffallend
ist die liebevolle Ausführlichkeit in der Beschreibung von Landschaften Ober¬
österreichs und der Alpenländer und der Erzählung der von Jugend auf ge¬
pflegten Fußpartien, die Arneth mit seinem um ein Jahr ältern Bruder
jährlich zu macheu pflegte. Die Schilderung der Wiener Gesellschaft jener
Zeit dagegen ist zu kurz weggekommen, und nur soweit sie die Mutter betrifft,
etwas Würmer geworden. Diese Geschichte der Mutter ist denn auch das
schönste Stück der Arnethschen Erinnerungen.
Antonie Arneth, geboren zu Wien am 30. Dezember 1790, war eine Frau
von künstlerischem Vollblut. Beide Eltern waren hochbegabte und vielgefeierte
Schauspieler. Der Vater, Valentin Adamberger, galt als der erste Tenorist
seiner Zeit und war Mitglied des Hoftheaters am Kärntnerthor, wo die
Oper gepflegt wurde; Mozart hat manche Arie eigens für ihn komponirt, da
Adamberger einer der schon damals selten gewordenen Vertreter dW o»1 cauto,
der italienischen Sängerschule in Deutschland war. Tonis Mutter, Maria
Anna Jacquet, hatte ihrerseits schou das Talent von ihren Eltern geerbt und
war gleich diesen Mitglied des Burgtheaters oder, wie es damals hieß, des
kaiserlich-königlichen Hof- und Nationaltheaters. Sie war Meisterin im Lust¬
spiel, und Kotzebue bewunderte sie wegen des Reichtums ihrer Charaktere; er
hat viele Rollen für sie geschrieben; beherrschte er doch damals das Repertoire
der Bühnen. Toni — wie wir sie mit ihrem häuslichen Kosenamen nennen
wollen — zeigte schon in früher Jugend Talent zur Schauspielkunst, schon
mit elf Jahren, bei einer Wohlthätigkeitsvorstellilng im kleinen Schlvßtheatcr
zu Schönbrunn. Sie selbst erzählt in den Bruchstücken von Lebenserimierungen,
die sie als Fünfundsechzigjährige (1855 — 57) auf Andrängen ihrer Söhne
niedergeschrieben hat, und die den schönsten Schmuck des Arnethschen Buches
bilden: „Ich mußte die rührende Mutter (in dem Gelegenheitsstücke »Die kleine
Ährenleserin«) darstellen. Meine Mutter teilte uns die Rollen zu und ließ
sie uns ganz allein studiren, ja sie versammelte nur wenig Zuhörer zur ersten
Probe. Offenbar hatte der Name meiner Mutter ihren Kindern Kredit ver¬
schafft, denn die Vorstellung selbst war zum Erdrücken voll. Meine Angst
war so groß, daß man behauptete, es sei kein Auge trocken geblieben, so rüh¬
rend sei ich gewesen. So viel sprach man nach Beendigung der Vorstellung
von meinem großen Talent, und ich sah in den Augen meiner Mutter eine
so lebhafte Satisfaktion darüber, daß ich aus dem Erstaunen gar nicht heraus¬
kommen konnte. Ja dieses Erstaunen war noch viel größer als meine Freude,
denn ich konnte gar nicht begreifen, wo denn das Talent gesteckt habe, von
dem nun so viel gesprochen wurde, und auf welches früher niemand verfallen
war."
Solange ihre Eltern lebten (bis 1804), genoß Toni eine sorgfältige Er¬
ziehung in dem Geiste und Geschmacke jener Zeit. Sie giebt davon selbst
folgende treffliche Schilderung: „Als ich zur Welt kam, hatte» die französischen
Moden ganz Deutschland überschwemmt, aber nicht nur Moden waren es, die
in Ballen versendet wurden und zur Notwendigkeit geworden zu sein schienen,
auch Lehrer und Erzieher, Gouvernanten und Bonnen wurden überall nach
Deutschland berufen, und gar manches Mädchen verlor durch solche Erziehung
den richtigen Leitfaden für das Leben, gar manches tiefe Gemüt ging unter
und wurde störrisch, weil es der Anforderung, sprudelnden Geist zu entwickeln,
nicht zu genügen vermochte. Und im entgegengesetzten Falle gestaltete sich die
Sache nicht selten noch schlimmer, denn so manches talentvolle und lebhafte
Mädchen würde unter einer einfach häuslichen Leitung, die damals bespöttelt
wurde, ein schönes Gleichgewicht erlangt haben. Rousseau hatte seine ver¬
lockenden Schriften über die Welt verbreitet, und jedenfalls sind ihr, was man
auch über ihn sagen mag, seine Grundsätze zu gefährlichem Gifte geworden,
am meisten für uns nachahmende Deutsche. Alles sollte uur geistsprühend sein,
und jeder wollte im Schoße seiner Familie eine Gattung Emil erziehen. In
unser Haus aber mochte dies weniger als in viele andre passen. Und den¬
noch hielt sich dasselbe, so schlicht und einfach es an und für sich auch sein
mochte, von jenem Abwege nicht vollkommen fern. Um die Mädchen mutig,
kraftvoll, degagirt, wie man sich ausdrückte, zu machen, kleidete man sie als
Knaben. Auf die Bäume zu klettern, über Stock und Stein zu springen, jede
Art von körperlicher Ungezwungenheit einzuüben, war Mode geworden. Die
Schaukel mit dein eignen Beine so hoch als möglich zu schleudern, mußte er¬
lernt, zu nicht sehr hohen Fenstern aus- und einzuspringen, mußte versucht
werden, und jedes Handgemenge mit Jungen gereichte dem Mädchen zur Ehre.
Ach, und auch ich war ein in diesem Sinne wohlerzognes Kind! Außer
meinem Bruder Heinrich, der fast sechs Jahr älter war als ich, war ich das
stärkste unter uus Geschwistern. Kräftig gebaut, aber dafür auch unbändig,
wurde mir das letztere immer verziehen, und wenn ich selbst nicht begreifen
konnte, was denn Schönes an meinen Kämpfen mit meinen Brüdern sei, so
unterhielten sie mich doch sehr, besonders wenn ich dabei die Siegerin blieb.
Beklagte ich mich aber je einmal, daß sie mich allzusehr geschlagen hätten, so
meinte meine französische Bonne, die Schande für mich läge nur darin, daß
ich mich nicht kräftig genug gewehrt hätte. Jede Ungezogenheit war mir er¬
laubt, jeder Mutwille, den ich verübte, wurde als ein Zeichen von Geist bei¬
fällig belächelt, ja oft vor Fremden gepriesen. Und da gerade meine mir dein
Alter nach am nächsten stehenden Geschwister Luise und Pepi phlegmatische
und weinerliche Kinder waren, so erweckte diese Parteilichkeit für mich meinen
ganzen Mutwille». Jeden Augenblick fiel mir ein andrer Schabernack ein,
und immer wurde darüber gelacht, immer wieder alles sehr hübsch gefunden.
Jeder tolle Streich wurde, und zwar je kecker und kühner er war, um so
eifriger belobt, und jede Weichlichkeit, jede Verzagtheit wurde mir immer ver¬
haßter."
Bald aber trat eine Änderung in dieser Erziehung ein, die dazu angethan
war, den begabten Wildfang stiller zu machen. Die Mueller gebar im fünfund-
vierzigsten Lebensjahre noch einmal ein Kind, ein Mädchen, und widmete ihre
ganze Liebe diesem Benjamin der Familie, der mit seiner Schwächlichkeit alle
Mitglieder in Anspruch nahm. Dazu kam, daß die Mutter selbst kränkelte,
reizbarer wurde und sich bei der aufreibenden Thätigkeit für Familie und Bühne
nach Ruhe sehnte, sodaß die früher gehätschelte Tochter nun manchen Schlag
wegen ihrer Unbändigkeit hinnehmen mußte. Nur beim Vater hielt das lebhafte
Mädchen Ruhe, daher hielt er sie oft in seinem Studirzimmer zurück, wo sein
Gesang auf sie bezaubernd und beruhigend wirkte. Als dann rasch ein Unglück
nach dem andern die Familie traf, als in demselben Jahre 1804 Bruder
Vater und Mutter wegstarben und nur der Großvater Jacquet (geb. 1725)
als einziger Schutz der Kinder übrig blieb, da offenbarte sich die ganze sittliche
Kraft des begabten Mädchens, mit aller Macht warf sie sich auf die Studien,
und schon mit achtzehn Jahren wurde sie Mitglied des Burgtheaters.
In der Familie lebte ein guter Geist. Schon die Jacquets hatten streng
auf Zucht und Ordnung gehalten; von der gewöhnlichen Frivolität des
Schauspielervolkes fand nichts Eingang bei ihnen. Vater Jcicquet gewährte nur
verheirateten Schauspielerin Zutritt in sein Haus; die vielumworbene Tochter,
Tonis Mutter, wurde dreißig Jahre alt, ehe sie heiratete; Gespräche mit
Kollegen und Dichtern, wie sie der Beruf forderte, durfte sie nie unter vier
Augen führen. Dieser gute Familiengeist vererbte sich auf Antonien. Ein
andres Erbteil war die gut kaiserliche Gesiummg der Familie. Eine hübsche
Anekdote von einer Begegnung der Großmutter Toms mit der Kaiserin Maria
Theresia wurde in der Familie erzählt. „Ein Zufall fügte es, daß die Kaiserin
eines Tages im Garten des Laxenburger Lustschlosses „reiner j^d. h. des
Historikers Arneth^ Urgroßmutter begegnete, ehe dieselbe sich zurückgezogen hatte,
um sich für das Auftreten auf dem Theater umzukleiden. Eine Schar von
Kindern war ihr zur Seite, und ihr Aussehen verriet, daß sie bald ein neues
erwarte. »Zum wievielten male,« fragte die Kaiserin in gütigem Tone. »Zum
zwölften male, Eure Majestät, halten zu Gnaden«, war die demütige Antwort.
»Nun so soll sie«, erwiderte die Kaiserin, »weil sie eine brave Frau ist,
künftighin aus meinem Kammerbcutel zweihundert Gulden zu beziehen haben.«
Zu meiner Urgroßmutter fühlte sich die erhabene Monarchin auch durch die
Sympathie hingezogen, die sie gleichsam aus einem unbestimmten Gefühle der
Kollegialität für Frauen empfand, die gleich ihr in glücklicher Ehe sehr viele
Kinder geboren hatten." Diese Beziehungen zum Kaiserhause, das sich immer
fürs Theater lebhaft interessirte, wurden viele Jahre später, in der letzten
Regierungszeit Kaisers Franz I. in dem Verkehre der Frau Arneth mit der
Kaiserin Karoline Auguste sehr innig: Frau Arneth war einige Zeit hindurch
Vertrauensperson der wohlthätige« Monarchin, diente ihr auch zuweilen als
Vorleserin. Seine gut kaiserliche Gesinnung, der der Geschichtschreiber auch
in diesem Buche Ausdruck leiht, hat er also gleichsam mit der Muttermilch
eingesogen.
Mit achtzehn Jahren also war Antonie Adamberger schon mit lebens¬
länglichem Dekret angestelltes Mitglied des Burgtheaters. Sie war bald der
erklärte Liebling des damals sehr theaterlustigen Publikums. Beschäftigt war
sie im Fach der naiven Liebhaberin im Lustspiel, aber auch in dem der naiven
Heroine; neben den modischen Stücken Kotzevues und Ifflands spielte sie auch
die Beatrice, die Desdemonci, die Emilia Galotti, das Klärcheu. Diese letzte
Rolle gab ihr Gelegenheit, mit Beethoven zu Verkehren, als er die Aufgabe
übernommen hatte, die Musik zum „Egmont" zu schreiben. Über dieses einzige
Zusammentreffen mit dem Tondichter hat Frau Arneth 1867 so anschaulich
schon berichtet, daß wir ihren Bericht hier mitteilen wollen, obwohl er in der
Biographie Beethovens von Thaer schon enthalten ist; er wird wenigen Lesern
bekannt sein. „Ich war damals — schreibt sie — ein kindliches, heiteres, fröhlich
junges Ding, das Beethovens Wert uicht zu schützen wußte, und dem er auch
gar nicht imponirte, während ich jetzt mit sechsundsiebzig Jahren das Glück, ihn
gekannt zu haben, vollkommen fühle. Daher kam es auch, daß ich ihm ohne
alle Befangenheit entgegentrat, als meine selige Tante, meine Erzieherin und
Wohlthäterin, mich auf ihr Zimmer rief und ihn mir nannte. Seine Frage:
»Können Sie singen?« beantwortete ich mit einem unbefangenen: »Nein!«
Erstaunt betrachtete mich Beethoven und sagte lachend: »Nein? Ich soll ja
Lieder zum Egmont für sie setzen.« Ich erwiderte ganz einfach, daß ich nur
vier Monate gesungen, nach einer Heiserkeit aber aufgehört hatte, weil man
fürchtete, daß bei meinem angestrengten Studium des Nezitirens mein Organ
leiden könnte. Da sagte er lustig im scherzhaft angenommenen Wiener
Dialekt: »Nun, das wird was Sauberes werden,« und von seiner Seite wurde
es etwas Herrliches. Wir gingen an das Klavier, und meine Musikalien
— alte Erbstücke von meinem Vater, die ich alle wie ein Papagei ihm nach¬
sang und zu dieser Stunde noch auswendig weiß — umstörend, fand er
obenauf das allbekannte Rvndo mit Rezitativ aus »Romeo und Julia« von
Zingarelli. »Das singen Sie,« rief er lachend heraus, daß es ihn schüttelte,
indem er sich zweifelnd zum Akkompngniren setzte. Ebenso harmlos, als ich
mit ihm schwatzte und lachte, sang ich meine Arie herunter. Da wurde sein
Auge sehr wohlwollend, er strich mir mit der Hand über die Stirne und
sagte: »Ja so, jetzt weiß ich es,« kam nach drei Tagen wieder und sang mir
die Lieder einigemale vor. Als ich sie nach wenigen Tagen inne hatte, ging
er von mir mit den Worten: »So, jetzt ists recht. So, so ists recht, so singen
Sie, lassen Sie sich nichts einreden und machen mir nicht ein Mortere hinein.«
Er ging, ich sah ihn auf meinem Zimmer nie mehr. Nur auf der Probe,
als er dirigirte, nickte er mir öfters freundlich wohlwollend zu. Daß ich seine
Lieder so schnell zur Zufriedenheit faßte und sang, um sie nie wieder zu ver¬
gessen, ist eine Gabe, die mir vom Himmel fiel, eine Erbschaft von meinem
Vater."
Das geschah 1810. Sechzehn Jahre später, nachdem sie längst Mutter
zweier Söhne geworden war und zum Theater keine Beziehungen mehr hatte,
sang Frau Arneth vor einem andern Großen aus der Geisteswelt, nicht mehr
das naive Mädchen, sondern die gemütreiche, schöne Frau von sechsunddreißig
Jahren. Der Bericht, deu sie uns über dieses Zusammentreffen mit Grill-
parzer in Sankt Florian, einem reichen alten Augustiuerstift in Oberösterreich,
hinterlassen hat, ist nicht minder schön, als der eben mitgeteilte. Grillparzer
befand sich gerade auf der Heimkehr von seinem Besuche bei Goethe in Weimar
und machte den Eindruck eines sehr schwermütigen Mannes. „Nachmittags
wurde Musik gemacht, und ich sang mit vielem Vergnügen Schubertsche Lieder.
Da Grillparzer gründlich musikalisch ist, so wußte er diesem nach meiner
Meinung ausgezeichnetsten Liederkomponisten aufs tiefste nachzuempfinden.
Nach den Müllerliedern, nach manchem heitern Liede brachte ich Wilhelm
Meister, und — verzeiht mir die Eitelkeit — nie werde ich den Augenblick
vergessen. Nachdem ich das Lied des Harfners: »Wer sich der Einsamkeit er¬
giebt« vollendet hatte und er ganz in sich gekehrt so dasaß und vor sich hin
blickte, sagte jemand: »Das ist ein herrliches Lied!« Da sah er mich ver¬
wundert an und sagte leise: »Ja, man weiß nicht, wo man genug hinhorchen
soll, auf diese Stimme, diese Komposition oder auf diese Worte.« War das
Lob? Um keinen Preis hätte ich irgend ein Wort herausgebracht, so tief
erfreute mich seine Äußerung. Und um kam erst der Abend heran. Nach
einem kurzen Spaziergange kehrten wir bald zurück und verfügten uns in die
Kirche, die vortreffliche Orgel zu hören. Kattinger (der Organist) war eben¬
falls hocherfreut, vor einem so eminenten Musikkenuer und eifrigen Verehrer
Beethovens spielen zu dürfen. Wie ein Sturm brausten die Orgelklänge daher,
denn er verstand es wahrlich, diesen Wald von Tönen zu bemeistern. Die
Kirche war ganz dunkel geworden, tiefe Stille umgab uns, man hörte atmen.
Da präludirte Kattinger Schuberts »Ave Maria,« und in heiliger Scheu und
Ehrfurcht sang ich besser als je zuvor und inniger als jemals nachher dieses
herrliche Lied. Was sage ich Lied? Diesen Hymnus, diesen Sphürengesang,
dieses Tongebet, das später nie erreicht worden ist. Ich war so ergriffen,
daß mir Thränen über die Wangen liefen und manchen Ton verschlangen;
mein Schwager jder Bruder ihres Gatten war Prälat des Stiftes^ hatte es
von mir verlangt, sonst hätte ich es nie gewagt. Es war das erste und letzte¬
mal, daß ich ganz allein und zu solcher Zeit in der Kirche sang. Als ich
vom Chöre zurückkam, sagte mir Grillparzer, der begeisterte Dichter, der liebe,
brave, melancholische Mensch: »Das ist ein schöner Tag.« Wie beglückte mich
dieses Wort, wie tief drang es in mein Herz! Was haben doch so hoch¬
begabte Menschen für einen Reichtum in ihrer Macht. Kein Kaiser hätte mir
eine solche Freude bereiten können. Er, der seltene Dichter, dem so viele
Menschen so herrliche Stunden des Entzückens verdankten, er hatte einen
schönen Tag gehabt, und ich hatte ihm diesen Tag verschönert; fürwahr ein
Gedanke, der mich mit tiefster und reinster Freude erfüllte!"
Doch genug der wörtlichen Mitteilungen; es hätte uns Überwindung
gekostet, auf sie zu verzichten, denn diese herrliche Frau charakterisirt sich am
besten mit ihren eignen Worten. Sie war auch ein Wesen, das jeder lieb
hatte, so wie sie selbst neidlos, hilfreich, unendlich gütig, ohne weich und
sentimental zu werden, gegen jedermann war, sie hatte immer eine Schar von
Freundinnen, im Theater stand sie mit allen Kollegen auf bestem Fuße, man
schätzte ihren gesunden, frischen Sinn so sehr, daß man sie sogar in Streit¬
fällen als Schiedsrichterin benutzte. Als sie zu Anfang 1812 Körner kennen
lernte — es geschah ans einer Probe im Theater —, da stand sie in der vollen
Blüte ihres Talentes und ihrer Jugend. Der erste Blick, den sie mit dem
Dichter tauschte, entschied über das Schicksal beider; ihr späterer Gatte fühlte
sich im Anblick der Sixtinischen Madonna zu Dresden wegen der großen ver¬
wunderten Augen der Jungfrau an Toni erinnert. Näheres über ihren Ver¬
kehr mit Körner erfahren wir nicht. Frau Arueth bewahrte Zeit ihres Lebens
das strengste Schweigen über diese Episode ihres Lebens, durch die sie zu
einer untioualeu Berühmtheit geworden war; ein edles Gefühl scheint ihr dies
auferlegt zu haben, sie ließ sich durch kein Zureden und Bitten zu Mitteilungen
über Körner bewegen. Sicher ist, daß sie seine Leidenschaft nicht minder warm
erwiderte und von seinem Tode furchtbar erschüttert war. An der Trauer¬
feier für Körner, die im Burgtheater abgehalten wurde, wirkte sie, den Jammer
im Herzen, mit. Erst nach vier Jahren gelang es dem Kustos Arneth, sie zu
gewinnen. Arneth hatte auch als Freiwilliger beim deutsch - österreichische«
Korps die Freiheitskriege mitgemacht und war bis uach Südfrankreich gekommen;
dann nahm er seine ruhige Stellung im Antikenkabinet wieder ein. Toni
lernte er im Salon der Karoline Pichler kennen, die ihn denn auch bei seinen
Bewerbungen um die schöne Künstlerin eifrig unterstützte. Arneth war ein
stiller Bewerber, und darum fand er schließlich Gehör. Sein Sohn teilt die
Antwort mit, die Toni der Werbung gab — sie ist zu hübsch, als daß wir
sie uicht noch mitteilen sollen. „Verzeihen Sie, daß ich Ihnen nicht ernster
zu erwidern vermag," schrieb sie in ihrer fröhlichen Weise. „Ich bin sehr, sehr
vergnügt und heiter, es lacht alles um mich, in mir, und darum kann ich Ihnen
nichts andres sagen als dies: »Ich habe Sie von ganzem Herzen lieb, habe
keine Freude, keine Zufriedenheit als Ihr Glück und recht festen, ernsten
Willen für das Gute; daß davon Mut im Unglück unzertrennlich ist, glaube ich.«"
Das geschah am 9. Mai 1817, und schon am 17. Juni nahm sie in der
Rolle der Jertha in Houwalds „Schuld," in der sie ein Liebling des Publi¬
kums geworden war, für immer Abschied von der Bühne. Dabei bemühte sie
sich, dem Sturme des Beifalls ohne allzuviel Rührung Widerstand zu leisten,
denn sie fürchtete, die Rührung würde sie übermannen und Arneth könnte
vielleicht den Gedanken fassen, der Abschied sei ein zu großes Opfer für sie.
Zwei Tage darauf fand in aller Stille die Trauung in einem Schlosse des
mit Arneth befreundeten Fürsten Dietrichstein bei Wien statt.
Ihr Eheleben war sehr glücklich; sie nahm eine angesehene Stellung in
der Wiener Gesellschaft ein und hatte das Glück, in ihren zwei Söhnen her¬
vorragende Gelehrte — der um ein Jahr ältere Bruder des Historikers wurde
Arzt — heranwachsen zu sehen.
es bilde mir ein, noch gar nicht so sehr alt zu sein; aber wenn
ich über den Kirchhof meiner kleinen Vaterstadt gehe, so komme
ich mir steinalt vor. Habe ich doch dort fast mehr Freunde als
im Städtchen. Dicht an der großen Kirche liegt das Armc-
sünderplätzchen. Es ist kalt und düster und liegt nach Norden,
im Schatten eines andern Hauses, sodaß es uicht verwunderlich ist, wenn
kein Sonnenstrahl auf die zwei Kreuze fällt, die dort stehe». Auf dem einen
steht kein Name geschrieben, aber ich weiß doch, wer dort liegt, und würde
es auch nicht vergessen.
Während ich an dem zusammengesunkenen Hügel stehe, klingt Musik die
Straße herauf. Es ist eine Gilde, die ihr Sommerfest auf dem Schießplatze
feiert. Den Gevatter Schneidern und Handschuhmachern zieht die Musik
voran. Sie hat verstimmte Blechinstrumente wie ehemals, und der Stadt¬
musikus, eine Trompete am Munde, versucht mit den ausschreitenden Beinen
den Takt anzugeben — gerade so wie damals. Aber es ist nicht derselbe
Stadtmusikus.
Steinberg, so hieß der frühere, ging immer allein seine Straße. Er war
ein großer, magerer Mann mit blassem. Gesicht und langen, weißen Haaren.
Vor vielen Jahren, so sagten die Leute, war er in das Städtchen gekommen
mit drei Kindern und einer todkranken Frau. Die Frau war bald gestorben,
und die großen, recht alt aussehenden Tochter hielten nun ein Stickereigeschäft
und klagten viel und laut über die schlechten Zeiten und über ihren Vater,
der nichts verdiene. Viel war es gewiß nicht, was die Musik abwarf. Hier
und dort eine Sonntagstanzmusik, ein Jahrmarktsball oder eine Beerdigung —
das war alles, und das war eigentlich sehr wenig; denn nur sehr reiche
Leute ließen ihre Angehörigen unter Choralbegleitnng in die Erde senken.
So war es denn gewiß begreiflich, daß der Stadtmusikus jahraus jahrein
denselben verschossenen braunen Rock trug und nnr mühsam sein kärgliches
Dasein fristete. Seine Tochter schalten oft über ihn und seine brodlose Kunst.
Das käme davon, wenn man den ganzen Tag über den Noten säße und an
Klavier klimperte. Früher hätte ihr Vater einmal eine reiche Witwe heiraten
können; aber er Hütte nicht gewollt, weil sie lahm gewesen sei, und nnn wäre
sein Glück verscherzt. So berichteten die Mamsellen Steinberg jeden:, der bei
ihnen ein Strähnchen Wolle oder bunte Glasperlen holte, und alle kamen
darin überein, daß der Stadtmusikus eigentlich ein Rabenvater sei, der nicht
verdiene, daß seine Töchter bei ihm blieben.
Sie thaten es auch nicht: eines Tages reisten sie nach Amerika, ohne
vorher groß Abschied genommen zu haben. Sie gingen zu ihrem Bruder, der
schon vor längerer Zeit ausgewandert war, und Steinberg blieb allein. Weil
doch nun jemand für ihn sorgen mußte, so suchte er eine Haushälterin. Aber
er fand keine, sie wollten alle Geld und gutes Leben haben, und das konnte
er ihnen nicht bieten.
Wir Kinder sprachen auch über diesen Fall; denn wir kannten Steinberg
gut, und es that uns leid, daß ihm niemand sein Essen kochen wollte. Wenn
er bei uus im Hause oder bei Großvater das Klavier stimmte, dann standen
wir um ihn herum und baten ihn, daß er uns etwas Schönes vorspielte. Er
that es nicht oft; manchmal aber glitten seine Finger über die Tasten, und
dann stieg eine süße, kleine Melodie aus ihnen auf. Es war immer dieselbe
Melodie, an eine andre konnte er wahrscheinlich nicht denken; wir waren sehr
zufrieden mit ihr, und jedesmal, wenn Steinberg erschien, hieß es: „Aber nicht
wahr, du spielst uns nachher dein Stück?"
Es war an einem heißen Sommertage. Ich sollte mit Jürgen die
Ouvertüre zur ,,Martha" vierbändig spielen. Selbstverständlich war es eine
leichte Bearbeitung, aber ich stöhnte entsetzlich über der „letzten Rose," die ich
im Diskant zu üben hatte. Jürgen spielte immer den Baß, weil er da so
schön Spektakel machen konnte. Wenn wir zusammen unsre Kunstfertigkeit der
Öffentlichkeit zeigten, dann behaupteten die Zuhörer, der Baß sei stets die
Hauptsache. Dies beleidigte meine Eitelkeit, und nun übte ich den Diskant
im Fortisstmv allein, obgleich Flotow überflüssigerweise überall piano nud
8in,or2g,nao angebracht hatte, wodurch er nach meiner Ansicht der „letzten Rose"
sehr schadete. Mein einziges Publikum bildete unsre Nähten». Sie besserte
unsre Wäsche aus und kam zu diesem Zweck aller vier Wochen ins Hans.
Eine stattliche junge Witwe mit gutmütigen, aber uicht gerade klugem Gesicht,
war sie uns Kindern eine willkommne Abwechslung in dem Einerlei des Lebens.
Heute spielte ich ihr die „letzte Rose" mit dem dringenden Wunsche nach Be¬
wunderung vor, und sie that mir denn auch sofort deu Gefallen. „Ah, was
spielt das Kind hübsch!" sagte sie mit aufrichtigem Staunen. „Du liebe Zeit,
mau sollte es gar nicht für möglich halten! So'n hübschen Galopp!"
In diesem Augenblick kam der Stadtmusikus ins Zimmer. Riemen und
Jürgens vereinten Bemühungen gelang es sehr häufig, das alte Klavier aus
der Stimmung zu bringen, und er war bestellt worden, um einige Saiten,
die zu unserm großen Vergnügen abgesprungen waren, wieder aufzuziehen.
Als er Frau Harding, unsre Nühterin, erblickte, wollte er eigentlich wieder
zurückgehen; sie nickte ihm aber freundlich zu. „Kommen Sie man herein,
Herr Steinberg! Ich mag gern Musik hören! Oha, da haben Sie ja ein
Knopf verloren; den will ich Ihnen man gleich wieder annähen! Ja ja, wenn
da kein Frauensperson ins Haus ist, das merkt man gleich, und was Ihre
Tochter waren, die hätten auch bei ihrem alten Vater bleiben können!"
Steinberg stand im Zimmer und sah sich nachdenklich um. Dann fuhr er
mit der Hand über seine weißen Haare.
„So alt bin ich noch gar nicht!" sagte er. „Nächsten Monat werde ich
dreiundfünfzig!"
„Oha, erst so alt, und doch alle die großen Kinder?" Frau Harding hatte
ihre Arbeit in den Schoß sinken lassen und sah zu dem Stadtmusikus herüber.
Er saß jetzt am Klavier und spielte in seiner vorsichtigen, leisen Weise. „Als
ich mich verheiratete, war ich neunzehn Jahre alt. Meine Frau war erst
siebzehn!"
Die Nühterin schüttelte den Kopf. „O, was füm Kinderkram!" sagte sie
mißbilligend. „Denn kann man sich nicht wundern, wenn später allens ver¬
kehrt geht!"
Steinberg antwortete nichts. Er war am Klavier beschäftigt. Als ich
ihm anbot, den Diskant der „letzten Rose" auch ihm vorzutragen, schüttelte
er den Kopf. Schon wollte ich ihm diesen Mangel an gutem Geschmack übel¬
nehmen, da fing er seine kleine, zarte Melodie um zu- spielen, und seine Augen
sahen dabei weit in die Ferne. An was dachte er wohl? An die siebzehn¬
jährige Frau und den ,,Kinderkram"?
,,Herr Steinberg, wie heißt denn dein Stück?" fragte ich.
Er fuhr etwas zusammen und lächelte. ,,Es hat gar keinen Namen!"
„Aber jemand hat es sich doch gewiß ausgedacht und dem Stück einen
Namen gegeben! Mein Stück heißt doch die »letzte Rose,« und Jürgen
spielt ein Stück, das heißt »Die Schlacht von Prag.« Da schießen die Ka¬
nonen darin, und die Verwundeten schreien!"
„Meine Melodie hat keinen Namen!" murmelte er. ,,Sie ist schon lange
in mir gewesen. Einmal habe ich sie aufgeschrieben mit andern Sachen und
dem Hofkapellmeister gegeben. Und er sagte, ich sollte ihm nur mehr bringen."
Der Stadtmusikus spielte leise weiter bei diesen Worten, und ich sah unser
altes Klavier mit einiger Verwunderung an. Konnte es wirklich so hübsch
klingen? ,,Hast dn ihm denn mehr Stücke gebracht?" fragte ich, und Stein-
berg nickte. ,,Jch brachte ihm wohl mehr. Aber — als nachher die Oper
vom Herrn Hofkapellmeister aufgeführt wurde und meine Melodie» drin waren,
da meinte ich--" Hier stockte er, und das Klavier ward auch still.
„Es kam alles anders, als ich dachte!" sagte er nach einer Pause. „Es
waren auch nicht meine Melodien, die der Herr Kapellmeister genommen hatte,
ich hatte mich geirrt und — mußte fort!"
Er stand auf und drehte an den Saiten. Frau Harding nahte weiter
und nickte mit dem Kopfe. „Irren ist menschlich!" sagte sie salbungsvoll.
„Das kommt wirklich furchtbar leicht vor, denn ich meinte auch, Sie wären all
an die Siebzig, aber das war ein Irrtum. Viele Leute sagen auch, ich wäre
vierzig; das ist eine großartige Lüge, weil ich erst letzte Weihnacht achtund-
dreißig geworden bin!"
Ob der Stadtmusikus das gehört hatte, weiß ich nicht; er saß noch immer
und sah still vor sich hin, wahrend ich das Zimmer verließ. Vier Wochen
später nähte Frau Harding wieder bei uns. „Das ist aber zum letztenmal!"
sagte sie mit wichtigem Gesicht. „Lieber Gott, Herr Steinberg ist doch zu
furchtbar allein; das kauu ja jedem Christenmenschen leid thun! Er hat mir
gefragt, ob ich nicht für ihn kochen wollte. Meinen kleinen Jungen kann ich
mitbringen, und ein klein bischen Geld habe ich ja noch von meinem ver¬
storbenen Mann, so brauche ich von ihm keinen Lohn!"
Also zog Frau .Harding zu Herrn Steinberg, und die Leute meinten,
beide würden sich wohl heiraten. Der Stadtmusikus aber ging immer stiller
herum. Wenn er zu uns zum Stimmen kam, dann spielte er gar keine hübschen
Melodien mehr, sondern starrte wie geistesabwesend vor sich hin. Und eines Tages
hatte Großvaters Schreiber, Rasmus, eine Neuigkeit zu berichten: der Stadt¬
musikus hatte sich erschossen! In seinem kleinen, engen Zimmer hatten sie ihn
gefunden, deu Kopf auf die Kreidezeichnung eines schönen, jungen Weibes ge-
legt, in der Hand einige vergilbte Notenblätter. Viele Leute waren sehr böse
auf ihn. Er Hütte ja nur die Witwe Harding zu heiraten brauchen, dann wäre
alles gut gewesen, sagten sie. Eines Morgens, ganz früh, ward er begraben,
natürlich ganz in der Stille und auf den, Armesünderplätzchen. Er, der so
manchen Wanderern den letzten Choral geblasen hatte, bekam nicht einmal ein
Glockengeläute. Aber die Vögel sangen gerade so süß, als wenn ein großer
Heiliger begraben würde, und die Sonne schien noch einmal auf den Sarg,
ehe er hinabgesenkt wurde in die dunkle Erde.
Damals habe ich die ganze Geschichte nicht verstanden. Aber nach vielen
Jahren bin ich wieder einmal Frau Harding begegnet. Sie ging wieder nähen
und meinte, die Welt sei gerade nicht besser geworden mit dem Alter. „Undank
ist der Welt Lohn!" sagte sie. „Gegen Steinberg bin ich furchtbar gut ge¬
wesen, und er hat mich uicht einmal geheiratet! Jedesmal, wenn ich ihm sagte,
er sollte das Aufgebot bestellen, ging er nach dem Klimperkasten und tippte
drauf herum, oder er guckte das Bild von seiner Frau an! Lieber himm¬
lischer Vater, da war nichts dran zu sehen, ein Gesicht mit ein Paar Augen
drin, das war alles! Na, und als ich ihn mal ordentlich ins Gebet nahm
und ihm sagte, daß er mich heiraten müßte, sonst machte ich Skandal, da schoß
er sich andern Tags tot! Wenn man Verdruß haben soll, dann kommt es
immer, da ist nichts zu machen! Sonst geht es mir ja gut. Viele» Dank
für gütige Nachfrage, bei mir ist allens in Ordnung, bloß die Augen wollen
nicht mehr so recht fort, und deshalb heirate ich wohl den alten Kapitän unter
am Wasser. Er hält furchtbar viel vou mir, und ich werde es gut bei ihm
haben. Meinen Jungens geht es gut: der älteste vou meinem ersten Mann
ist schon in Amerika, und der zweite will auch hinüber. Ich kann mich man
bloß von ihm nicht recht trennen. Der Junge hat so große Augen, gerade
wie Steinberg; aber ich nenne ihn Harding, und wenn er nicht immer mit
'ner Fidel im Arm hernmliefe, würde ich ihn nicht gehen lassen. Aber die alte
Musikantenwirtschaft will ich nicht wieder in der Familie haben! Laß ihn
man Gold graben in Kalifornien, das ist gesünder!"
Noch immer stand ich an dem Armesüuderplätzcheu. Die Musik war in der
Ferne verklungen, und die langen, gelben Kirchhofgräser zitterten im Winde.
Es war ganz still um mich her, nur ein kleiner Vogel sang leise und süß,
süß, daß ich um die Melodie des Stadtmusikanten denken mußte.
1883 bis 1891. Soziale Briefe aus Berlin mit besondrer Berücksichtigung der sozial-
demokratischen Strömungen von Otto von Leixner, Drittes Tausend. Preis 4 Mark-
Berlin V., Fr. Pfeilstücker, 1891
Otto von Leixner ist nicht allein in der Litteratur aller Völker und Zeiten,
sondern auch in seinem Berlin zu Hause, und wenn es auch, wie er in der Ein¬
leitung sagt, unmöglich ist, das vielgestaltige Leben einer Weltstadt der Gegenwart
vollständig zu schildern, so kommt doch seine Schilderung der Vollständigkeit so
nahe, als es bei dem mäßigen Umfange des Buches möglich ist. Auch wird ihm
jeder Leser das Zeugnis bestätigen, das er selbst seiner Unparteilichkeit ausstellt;
er hat in der That weder nach oben noch nach unten geschmeichelt und an keiner
Stelle „der Leidenschaft das Recht des Urteils zuerkannt, auch dort nicht, wo er,
Wie der Sozialdemokratie gegenüber, unbedingt Gegner ist." Von dieser sucht er
nachzuweisen, daß sie „heute uicht mehr allein aus wirtschaftlichen Gründen zu
erklären und zu verstehen sei, sondern aus psychologischen." Unter den wirtschaft¬
lichen Gründen versteht er doch wohl volkswirtschaftliche. Da ist es nnn bei der
Gründlichkeit und dem Ernst, mit dem er die sozialdemokratischen Erscheinungen
zergliedert (obwohl seine Briefe ursprünglich in einem Feuilleton, und zwar in
dem der Kölnischen Zeitung erschienen sind) einigermaßen auffällig, daß er auf die
volkswirtschaftliche Seite der Bewegung nirgends eingeht. Anlaß dazu hätte er
genug gehabt. Z. B. in den sehr schätzenswerten Kapiteln, die Muflerhaushal-
tuugsetats aus verschiednen Volksschichten enthalten. Aus thuen geht unter ander«
hervor, daß eine Beamtenfamilie mit 4500 Mark Gehalt und eine Familie des
höhern Arbeiterstandes mit 1700 Mark Einkommen sich noch satt essen können,
wenn sie mit eiserner Festigkeit allem Luxus und allen Vergnügungen, die Geld
kosten, entsagen, wenn die Frau eine ausgezeichnete Wirtin ist, wenn sie von keinem
Unglück heimgesucht werden, und wenn — die Zahl der Kinder nicht über zwei
oder drei steigt. Würde jetzt im Reich anstatt des Finanzministeriums oder über
ihm ein Reichshaushaltsmiuisterium eingerichtet (bildet ja doch im Privnthaushalt
die Führung des Wirtschaftsbuches nur einen untergeordneten Teil der Wirtschafts-
sührung), so müßte es diese Thatsache zum Ausgangspunkte seiner Thätigkeit nehmen.
Wollten wir die Gedanken alle aufschreiben, zu denen uns das Buch angeregt hat,
so würde ein zweites Buch herauskommen; ein so anregendes Buch ist aber allemal
ein nützliches Buch. Selbstverständlich liest es sich auch sehr gut; aber wenn wir
seine Lektüre genußreich nennen wollten, würden wir ihm Unrecht thun; dazu ist
es zu ernst und an vielen Stellen zu traurig. Freilich fehlt es auch nicht an er¬
hebenden Lichtblickein Schilderungen eines gesunden Familienlebens, reizender
Idyllen, heldenmütiger Pflichterfüllung unter den schwierigsten Verhältnissen, hoff¬
nungsreicher Keime eines neuen Lebens.
ilitcirisnms und Schillerziehung stehen im Gegensatze zu einander.
Sie bezeichnen zwei Gebiete, von denen jedes seine eigentümlichen
Bedingungen, Einrichtungen und Gesetze hat, die nicht ungestraft
auf das andre übertragen werden können.
Von dem Werte des Militarismus sind alle Vaterlands-
freunde tief durchdrungen. Die erziehende Macht, die in ihm liegt, und von
der unser großer Heerführer Moltke so überzeugend gesprochen hat, ist unbe¬
stritten. Es ist eine Schule des Volkes, deren vortreffliche Wirkungen greifbar
zu Tage liegen. Diese Thatsache muß uus, abgesehen von der Notwendigkeit,
unsre Streitkraft inmitten der europäischen Staaten immer auf der Höhe zu
halten, trösten über die ungeheuer,? Summen, die alljährlich verwendet werden
ans Kosten andrer Aufgaben und Ziele der Kulturarbeit. Und doch soll der Mili¬
tarismus, unter dem Gesichtspunkte der Volkserziehung gefaßt, einen Gegensatz
zur Schulerziehung bedeuten? Erscheint er nicht vielmehr als ein Fortsetzer
und Vollender der Anfänge, die in der Schule gelegt worden sind? Die Liebe
zum Vaterlande, dort gehegt und gepflegt, wird hier gekräftigt zu der vollen
Überzeugung, daß man in Zeiten der Gefahr Gut und Blut einsetzen müsse
für Kaiser und Reich. Dazu die Stärkung des Pflichtgefühls, des Sinnes
für Ordnung und Pünktlichkeit, die Ausbildung des Körpers, daß er sich als
ein geschmeidiges und kräftiges Werkzeug erweise im Dienste höherer Zwecke.
Und das alles Ergebnisse einer humanen und doch schneidigen Behandlung!
Dies kann mau alles zugeben, und doch bleiben immer noch tiefgreifende
Unterschiede übrig, die zu verdeutlichen gewiß nicht unnütz ist, zumal da in
der Gegenwart die Gefahr nahe zu liegen scheint, daß diese Unterschiede ver¬
wischt werden und das Gepräge der militärischen Erziehung ohne weiteres auf
die Schulerziehung übertragen werde. Was aber dort eine Tugend ist, erscheint
hier als ein Laster. Wo die Heereserziehung unbedingt als ein Muster der
Schulerziehung hingestellt wird, da tritt eine ganz heillose Begriffsverwirrung
hervor, die mau im Interesse der Schulerziehung bekämpfen muß.
Denn fragen wir, was beide am letzten Ende bezwecken, so werden wir
bald sehen, daß die Einzelziele doch sehr verschieden sind. Darnach werden
sich aber auch die Wege richten müssen, die zu ihnen hinführen. Sollten auch
die Ziele auf demselben Wege liegen, und zwar so, daß das eine als das
höhere den Endpunkt des ganzen Weges bedeutete, das andre nur als das
Ziel eiuer Teilstrecke erschiene, so wäre damit doch uicht ausgeschlossen, daß
der Weg, der zum ersten Ziele hinführt, einen ander» Charakter trägt als der,
der vom ersten zum zweiten angelegt ist. Und ferner dürfte wohl zu beachten
sein: mit dem Austritt aus dem Heeresdienst ist doch die Erziehung des
jungen Mannes noch nicht vollendet. Wird nicht seine Persönlichkeit sich erst
im Verkehr in Staat, Kirche und Gemeinde recht aufwachsen und je nach
der Beschaffenheit der gesellschaftlichen Kreise, die sich ihrer bemächtigen, ihr
Gepräge erhalten? Freilich ist da kaum noch von bewußter Einwirkung auf
den Einzelnen die Rede, während Schul- und Heereserziehung nach wohl durch¬
dachten Plane ihre Aufgabe zu erfüllen suchen. Welche dies sei, soll in Kürze
gezeigt werden.
Ohne Zweifel hat die Heereserziehung bei der leiblichem und geistigen
Bearbeitung des Soldaten als letztes Ziel die Massenwirkung im Auge. Sie
will den Einzelnen vor allem befähigen, seine Stellung als ein dienendes Glied
des Ganzen wahrzunehmen und auszufüllen. Es besteht eben in dieser Ein¬
richtung die Bedeutung des Einzelnen darin, auf jeden Eigenwillen zu ver¬
zichten und sich als ein williges Glied dem Ganzen einzufügen, damit dieses
wirken könne, wie eine kunstvoll eingerichtete Maschine, deren Teile in
einander greifend auf die Herbeiführung eines Zieles hinarbeiten. Der Mili¬
tarismus betrachtet den Menschen nicht als Einzelwesen, das einen bestimmten
Wirkungskreis seinen Fähigkeiten und Neigungen entsprechend ausfüllen soll,
sondern als Material, wie etwa der Baumeister den Stein bearbeiten läßt,
bis er geeignet erscheint, sich an bestimmter Stelle dem ganzen Bau einzufügen.
Dies soll nun keineswegs ein Vorwurf sein. Die Militärerziehung kann
nicht anders, wenn sie ihr Ziel erreichen soll. Sie braucht eben dazu die
größte Beweglichkeit der Massen, die von einem Geiste geleitet sind. In der
Subjektivität der einzelnen Glieder liegen Gefahren, die, wie die Geschichte
der Kriege lehrt, verderblich genug werden können. Darum die stramme Unter¬
ordnung des Einzelnen unter die Gesamtheit, die Gleichmäßigkeit in der Aus¬
bildung, die man als Drill oder Dressur zu bezeichnen pflegt.
Ganz anders muß die Jugendbildung verfahren, wenn sie die geistige
Spannkraft der Nation heben will. Allerdings hat sie ja auch den heran-
wachsenden Menschen vielfach abzuschleifen, ihn auf seinen künftigen Platz
innerhalb der menschlichen Gesellschaft vorzubereiten. Aber mit dieser sozialen
Thätigkeit verbindet sich eine ganz individuelle. Und zwar steht diese im
Vordergrunde, insofern sie das Eigenleben des Einzelnen als vollberechtigt an¬
erkennt und darum zu bestimmen und zu einer gewissen Vollendung zu bringen
sucht; allerdings immer mit Rücksicht darauf, daß der Einzelne berufen ist,
dereinst einem größern Ganzen anzugehören. Die Schulerziehung hält dies
für eine ihrer wichtigsten und größten Aufgaben, das Sozialprinzip mit dein
Judividualvrinzip in Einklang zu bringen und im Einklang zu halten, d. h.
in jedem Kinde das Eigenartige zu achten, zu schonen, zu entwickeln, also die
größte Mannichfaltigkeit zuzulassen bei aller Betonung dessen, was sich jeder
aneignen muß, um ein brauchbares Glied der menschlichen Gesellschaft zu werden.
Die Menschen menschlicher zu machen, ist das Losungswort der Schul-
erziehung; die Menschen zum Kriege tüchtig zu machen, ist das der Militär¬
erziehung. In diesen Sätzen liegen die Gegensätze angedeutet, von denen oben
gesprochen wurde, sowie die Forderung, daß jedes der beiden Gebiete das
ihm eigentümliche und zukommende hüte und Pflege, ohne einen Eingriff in
das andre zu wage«.
Aber ist denn ein solcher Eingriff überhaupt zu befürchten? Wir meinen,
er ist bereits erfolgt, und zwar natürlich von der Seite aus, die sich der
größer» äußern Macht rühmen kann. Das ist ohne Zweifel der Militaris¬
mus. Er hat bereits die äußere und innere Entwicklung der Schule in eine
falsche Richtung hineingetrieben.
In einem Punkte ist dies allgemein anerkannt. Wir meinen die Be¬
rechtigung zum einjährigen Dienst. Im achtzehnten Heft dieses Jahrganges
der Grenzboten wurde darauf hingewiesen, daß der preußische Kultus¬
minister die srohe Hoffnung erweckt habe, das wesentlichste Hemmnis für eine
gedeihliche Entwicklung der höhern Schulen, das Freiwilligen-Berechtigungs-
wesen, werde aus der ganzen Behandlung der organisatorischen Fragen
nusscheiden. Wie steht es nun damit? Man war sehr gespannt, zu hören,
wie sich der Siebenerausschuß zu der Frage stellen, ob er den Mut haben
würde, die Interessen der Schulerziehung dem Übergriff des Militarismus
gegenüber kräftig zu vertreten, namentlich im Interesse unsers Heerwesens selbst.
Nach eiuer Mitteilung des Reichsanzeigers vom 25. Juli soll nun die „Be¬
rechtigung zum einjährig-freiwilligen Militärdienst so geordnet werden, daß
für die Schüler der neunjährigen Vollanstalten, sowie der bisher siebenjährigen
Anstalten der Vorzug aufhört, den Befähigungsschein durch bloße Versetzung
nach Obersekunda ohne Prüfung zu erwerben. Es wird künftig an allen An¬
stalten nach Abschluß eiues sechsjährigen Lehrkursus eine Prüfung unter Vorsitz
eines Kommissars der Staatsbehörde abgehalten und die Erteilung des Be-
fähigungsscheiues für den einjährigen Dienst von dem Bestehen dieser Prüfung
abhängig gemacht werden. Hiermit wird eine Ungleichheit beseitigt, welche
die Verbreitung der höhern Bürgerschulen hemmte, da deren Abiturienten bis¬
her allein, um den Befähigungsschein zu erlangen, eine volle Prüfung bestehen
mußten."
Also um den höhern Bürgerschulen aufzuhelfen, wird in die neunklassigen
Anstalten eine Prüfung nach Abschluß des sechsjährigen Kursus eingeschoben - -
ein Vorgeschmack der Abiturieutenprüfung. Wird diese neue Staatsaktion den
beabsichtigten Zweck erreichen? Wir glauben es nicht. Der Zweck könnte nur
erreicht werden, wenn der Berechtigungsschein mit dem Abgangszeugnis bei
Beendigung des ganzen neunjährigen Schulkursus eingehändigt würde. Denn
warum soll mau gerade die höhere Bürgerschule wählen, wenn der Berech¬
tigungsschein auch auf den Oberrealschuleu und den Gymnasien nach Be¬
endigung der ersten sechs Jahrgänge verabfolgt wird? Vor der Prüfung
fürchtet man sich nicht, da man in der Schule selbst ausrückt, mit den Gewohn¬
heiten der prüfenden Lehrer vertraut wird u. s. w.
Wo der Vorteil der neuen Einrichtung liegen soll, ist schlechterdings
nicht einzusehen. Aber wenn wirklich ein solcher gesunde,? werden könnte, so
müßte man doch auch die Nachteile in die Wagschale werfen, die das neue
Prüfen mit sich bringen wird, und dann unparteiisch abwägen. Wir sind
keinen Augenblick im Zweisel, wohin sich die Wagschale wenden würde.
Zunächst wieder eine neue Prüfung! Für Lehrer und Schüler eine neue
Qual, eine neue Fessel in diesem vielgeprüften Dasein! Kürzlich geberdeten sich
deutsche Zeitungen sehr entrüstet über eine Nachricht aus Peking, wonach
die mandschurischen und chinesischen Vizepräsidenten in Ministerien u. s. w.
nach so und so viel Prüfungen sich einem abermaligen Examen unterwerfen
sollen, um darin auf ihre Verwendung als Examinatoren hin untersucht zu
werden. Die Entrüstung war voreilig und pharisäisch dazu. Wir sind ja
selbst auf dem besten Wege dahin!
Sodann wird der neunjährige Kursus, der in sich abgeschlossen auf einem
einheitlich aufgebauten Lehrplan ruht, zerrissen in zwei Teile: in einen sechs¬
jährigen Unterbau, der nun für sich ein Ganzes bilden soll — ob er es kann,
ist eine andre Frage; denn wie steht es mit Deutsch, Latein, Griechisch und
Französisch nach sechsjährigem Kursus im Gymnasium? —, und in einen drei¬
jährigen Oberbau. Dazwischen die Militärprüfung. Wie kommt diese Scheide¬
wand in unsre neunjährigen Bildungsanstalten hinein? Nur eine Antwort ist
zu finden: durch ein Machtwort des Militarismus. Und welche Ungleichheit
in der Schülerzahl der beiden Kurse! Unten der Überfluß — oben die Schwind¬
sucht. Die Gymnasien seufzten bekanntlich bisher unter der Last der Schüler,
die nur die Berechtigung zum Einjährigen erhitzen wollten. Diese kamen in
die gelehrte Schule hinein, um etwas höchst Triviales zu ergattern — einen
Schein. Und dies wird künftig durch eine Staatsaktion noch sanktionirt.
Denn ohne Schulrat wird die neue Prüfung kaum abgehen. Es könnten ja
sonst Ungehörigsten vorkommen. Unsre höhern Bildungsschulen werden
also Prüfungsanstalten für Einjährige! Wirklich ein hartes Schicksal, eine
unverdiente Prüfung; nicht am letzten für die, die sich ans den höhern Schulen
zum gelehrten Studium vorbereiten wollen. Für sie waren doch ursprünglich
die Gymnasien geschaffen worden ^ oder irren wir uns hierin?
Es ist zu bedauern, daß durch die getroffene Entscheidung die leidige
Schulfrage nicht zum Abschluß gebracht, sondern erst recht angefacht worden ist.
Sie wird so lange nicht von der Tagesordnung verschwinden, solange äußere
Rücksichten das maßgebende Wort sprechen. Es stünde schlimm um unsre
Nation, wenn sie sich hierbei beruhigte, wenn sie die unnatürliche Ehe
zwischen Militarismus und Bildnngswesen deshalb gutheißen wollte, weil sie
dnrch ein Machtwort zusammengehalten wird, wenn sie schon so servil geworden
wäre, das, was der preußische Kultusminister im März dieses Jahres als
größtes Hemmnis einer gesunden Entwicklung bezeichnete, nun plötzlich für eine
durchaus naturgemäße Einrichtung zu erklären. Die aufregende Schulfrage wird
nicht eher zur Ruhe kommen, als bis unser Bildnngswesen wieder auf eigne
Füße gestellt und in seine eignen Bahnen zurückgelenkt ist.
Die öffentliche Meinung, d. h. hier wohl die Überzeugung aller, die über
die Notstände in unserm Bildungswesen ernstlicher nachgedacht haben, ist
einig darin, daß unser Schulwesen, zur Magd des Militärs degradirt, nicht
gefunden kaun, .solange man ihm nicht die ganze Examenwirtschaft abnimmt
und dahin verlegt, wohin sie gehört. Möchte doch die Heeresverwaltung bei
Zeiten zur Einsicht kommen und im Interesse des ganzen Volkes Privilegien
aufgeben, die recht gefährlich sind, da sie äußerer Vorteile halber das ge¬
samte Bildungswesen schwer geschädigt haben und noch schädigen!
Ein andrer Einfluß, der sich vom Militarismus aus nachweisen laßt,
ist nicht so greifbar. Auch ist die Militärbehörde daran nicht beteiligt. Hier
liegt die Schuld ganz auf Seiten der Schule, besonders der Lehrer, die in
falscher Schätzung der Militürerziehung diese ohne weiteres in die Schule ver¬
pflanzen wollen. Das Gepränge der Parade soll sich wiederspiegeln in dem
Glanz der Schulexamina, nur mit dem Unterschiede, daß dort Beine, hier Zungen
in tnktmäßige Bewegung versetzt werden. Nimmt man dazu den schneidigen Ton
des Exerzierplatzes, die scharfe Richtung in der Haltung der Schülerköpfe u. s. w.,
und die Schulkaserne ist nicht nur äußerlich fertig, sondern eifert auch im
Betriebe den militärischen Vorbildern nach. Daß dies eine Verirrung ist,
braucht wohl kaum nachgewiesen zu werden. Vielleicht hängt es mit der Er¬
scheinung zusammen, daß sich manche Gymnasiallehrer lieber als Reserve¬
offiziere statt als Bildner der Jugend vorzustellen lieben. Fast scheint
es, als ob wir im Erziehungswesen bei unserm Lehrpersonal von einem
Extrem ins andre gefallen wären. Während zur Zeit unsrer Väter die
sogenannten Originale unter den Lehrern nicht gerade selten waren, was schon
die reiche Zahl der Schulgeschichten beweist, die sich von Geschlecht zu Ge¬
schlecht forterbten, so herrscht heutzutage unter den Jüngern eine gewisse Uni-
formitüt im Auftreten; der ganze Schnitt ist auffallend gleich, der Durch¬
schnitt gegen früher vielleicht höher, aber doch mit gewissen Schattenseiten
verbunden. In der Zeit der Lehreroriginale war das Leben und Treiben der
Gymnasiasten ohne Zweifel freier, der selbstgewühlteu Beschäftigung günstiger,
als heute, wo die stete Aufsicht von oben ein zeitweiliges Ausruhen, ja viel¬
leicht auch Sichgehenlassen gar nicht aufkommen läßt, wo das Durchschnitts¬
wissen der Schüler zwar gestiegen, aber ihre Selbstthütigkeit zurückgegangen
ist infolge des Drills, der vielfach vom Exerzirvlatz, wo er durchaus am Platz
ist, in unsre Schulen gewandert ist, wo er nur Schaden stiften kann.
Und auch rein äußerlich genommen dürfte der üble Einfluß des Mili¬
tarismus auf die Schulerziehung zu Tage treten, nämlich in den Schulkasernen.
Auch diese sind ein Zeichen der Zeit. Die alten Gymnasien mit ihren neunzig
bis hundert Schülern dürften heutzutage sehr selten geworden sein. Und doch,
wie günstig waren sie der Erziehung, dem liebevollen Eingehen auf das
Wachsen und Erstarken der einzelnen Schüler. Und jetzt? Zu welchen Kolossen
sind viele Gymnasien, namentlich in den größern Städten, angewachsen! Wo
bleibt dn die erzieherische Einwirkung auf die Entwicklung des Einzelnen?
Muß nicht die Masse erdrückend wirken auf den Lehrer, der mit der besten
Absicht sein Erziehergeschüft beginnt? Und der Direktor? Muß er nicht im
Schreibwerk erstickend und im Berwaltnngsapparat untergehend auf alles das
verzichten, was so recht seines Amtes wäre? Einstimmig dürfte allen Ein¬
sichtigen feststehen, daß, je kleiner der Umfang der Schule ist, je mehr sie den
Familiencharakter festzuhalten vermag, umso günstiger die Bedingungen für
die erzieherische Einwirkung auf das heranwachsende Geschlecht sind. Warum
zerlegt man nicht die Schulkasernen, die der Erziehung so schwere Hindernisse
bereiten? Die Frage ist leicht gestellt und leicht — beantwortet. Weil hier
finanzielle Gründe schwer ins Gewicht fallen, so schwer, daß man voraus¬
sichtlich noch lange Zeit bei dem Kasernensystem bleiben wird, obwohl es in
der Erziehung das schlechteste ist, das es giebt.
Endlich ist noch ans eine Gefahr hinzuweisen, die darin besteht, daß Schul¬
bücher, für die Kadettenanstalten geschrieben und bestimmt, Eingang in unsre
höhern Schulen gewinnen. Hierüber ein andermal, da dieser Punkt einer
eignen Untersuchung wert erscheint.
In weiten Kreisen ist das Gefühl herrschend, als ob sich unser nationales
Leben zwar äußerlich betrachtet vervollkommnet habe, innerlich aber einer
gewissen Verflachung verfallen sei. Nach der Erreichung heiß ersehnter Ziele
ist dies vielleicht eine notwendige Stufe der Entwicklung, bis sich der Blick
der Nation auf neue Ideale richtet, wie z. B. auf den Zusammenschluß der
germanischen Elemente in Mittel- und Nordeuropa, um dein Vordringen der
Slawen einen Damm entgegenzusetzen. Aber selbst wenn eine solche Periode
des Stillstandes im Leben des Volkes notwendig wäre, so dürfte doch in
keinem Fall eine so wichtige Einrichtung, wie es unser Schulwesen ist, solcher
Verflachung Dienste leisten. Vielmehr müßte es sich dagegen stemmen mit
allen Mitteln und aus alle» Kräften. In dem generalisirenden Einfluß des
Militärwesens liegt eine große Gefahr für die Erziehung, die im Individuali-
siren ihre Stärke suchen muß, wenn sie dem wahren Wohle des Volkes dienen
will, wenn das geistige Niveau nicht herabgedrückt werden soll. Dies muß
notwendig da geschehen, wo der Schüler nur als eine Nummer unter den andern
angesehen wird, die auf Grund statistischer Tabellen, herrührend aus den be¬
rüchtigten Extemporalien, durch die Klassen und durch die Prüfungen hindurch-
geschobcn wird, bis sie sich glücklich die nötigen Berechtigungen ersessen hat.
Jedenfalls wird die Sache die Volksvertretung in Preußen beschäftigen.
Möchten sich unabhängige Leute darin finden, die mit glühender Vaterlands¬
liebe tiefe Einsicht verbinden in die Schäden, die unserm Schulwesen anhaften,
und in die rechten Mittel, sie gründlich zu beseitigen. Allerdings muß die
Sache einmal prinzipiell und mit weitem Blick gefaßt werden, nicht beeinflußt
durch kleinliche Rücksichten ans eine Macht, die an sich volle Wertschätzung
beanspruchen darf, aber bei unberechtigten Einflüssen in ihrem eignen Interesse
energisch zurückgewiesen werden muß. Auch hier gilt das Wort: Gebt dem
Kaiser, was des Kaisers ist, und Gotte, was Gottes ist.
ein Jahr geht zu Ende, ohne mit allem, was es sonst
beschert, auch einen oder zwei Bünde von Wilhelm Imsen zu
bringen, Romane nud Novellen. Sie sehen einander nicht
gerade alle vollkommen gleich, diese Jensenschen Erzählungen,
vielmehr zaubert ihr Verfasser seine stets meisterhaft be¬
handelten Szenerien und großen Hintergründe aus einem wahrhaft staunens¬
werten landschaftlichen und historischen Kennen und Wissen in einer bunten
Fülle hervor, in reicher Abwechslung geht er den mannichfnltigsten tiefgegriffenen
Problemen des Lebens und des Herzens nach, fast immer führt er neue
Charaktere, oft selbst noch wieder neue Stimmungen ein; im allgemeinen aber
stellen doch bei allem Reichtum der Ausstattung und der Gedanken alle diese
Bücher die unter einander stark familienähnlichen Kinder einer und derselben
durchaus abgeschlossenen, scharf prvfilirten und selbst in ihren kleinen Absonder-
lichkeiten anscheinend nicht verändcrungsfühigen Individualität dar. So ist
es denn natürlich, wenn bei dein Erscheinen jedes neuen Jensenschen Buches
zwar die ans Vollständigkeit ihrer litterarischen Negistrirnngen haltenden
Wochen- und MvuatSblätter dem Dichter oder vielmehr dem Verleger die
Empfangsbescheinigung mit ein paar Redewendungen sine ira. et »tuäio er¬
teilen, wenn ferner die Lesevereine und Leihgeschäfte ihre Bestellung machen,
der einzelne Litteraturfrcuud aber sich eigentlich niemals schlüssig wird, durch
welches Werk er in seiner Sammlung Imsen am besten vertreten sein lassen
könnte, und deswegen überhaupt nicht zu einer solchen Einverleibung gelangt,
und wenn infolge von dem allen dein Autor zwar Leser — besonders solche
auf dem Kanapee nach dem Mittagessen — und Leserinnen nicht mangeln,
desto seltner aber ein ernsthafterer Mensch zu eingehender Beschäftigung mit
dieser dichterischen Persönlichkeit angeregt wird. Das ist aber thatsächlich sehr
zu bedauern, denn gerade dieser Dichter verträgt, ja braucht ein prüfendes
Eingehen, er gewinnt noch ganz bedeutend, je mehr man in seine tiefere
Gedankenwelt eindringt, die in der breiten Oberfläche des Gebotenen nicht
ohne weiteres und nicht für jedermann klar zu Tage liegt, je mehr man also
wir möchten sagen Imsen hinter seiner eignen Außenseite entdeckt.
Aus dem Erze seiner Erzählungen allein ist das goldhell deutliche, richtige
Bild in der That nur sehr schwer zu gewinnen. Wo er in diesen Erzählungen
positiv schafft, wir meinen Gestalten als Vertreter seines Sinnes und seiner
eignen Empfindung schafft und formt, da erhalten diese keine andre Mitgift
als nur den schönsten, besten, tüchtigsten Inhalt, da kann ihr Verfasser nur
sympathisch, nur lichens- und bewundernswürdig sein. Wie rein und erhebend
ist in der Wirkung auf den Leser sein schöner Roman „Jahreszeiten," eine
versöhnend endende Umkehrung des Goethischen Wahlverwandtschaftenthemas,
die neben den edeln, einander nur durch Umstände anfänglich entfremdeten und
durcheinandergewirrten Hauptpersonen auch so überaus köstliche humoristische
Nebenfiguren enthält. Aber Imsen ist nicht bloß Schilderer, Erfinder, uno^v;,
er ist auch Kämpfer und will gerade dies vor allem sein. Und in dieser
Eigenschaft kehrt er freilich oft genug Schroffheiten und Übertreibungen heraus,
die einen Teil der Leser notwendig mißmutig machen müssen. Das würde
nun durchaus nichts zu bedeuten haben, wenn Imsen in diesen Fällen im
Grunde immer Recht hätte. Wir haben ganz gewiß nichts gegen einen frischen,
fröhlichen Angriff, gegen einen kräftigen, selbst verstärkten und überkräftigen
Schattenstrich, er muß nur an der richtigen Stelle sitzen. Und man mag um
ans einem religiösen, politischen oder sozialen Parteistandpunkte stehen, wie man
will: man wird bei genaueren Zusehen nicht anders können als sagen,
Imsen kämpfe — wir sehen hier ganz ab von seiner allgemeinen Gegner¬
schaft gegen die Kirche — in vielen breitspurigen Einzelheiten und mit zahlreichen
Statistenfignren gegen eine Welt, die so gar nicht besteht. Seine Lieblinge
in dieser Beziehung sind Leute mit Titeln, wie Hofgerichts-, Geheimer Kabinetts-
vder (das sind seine Sonntagsbraten) Oberkousistorialrat; gäbe es um über
Personen, die sich mir ein Drittel so albern in der Welt betrügen, wie die
Inhaber dieser Titel bei Imsen, so müßten sie sich ohne weiteres an jedem
Orte und dauernd unmöglich machen oder würden am Ende ins Narren¬
haus geleitet. Was Imsen mit unserm Professorentnm auf dem gleichen
Kerbhvlze stehen hat, die Brille, den Doktrinarismus, was er ihm sonst noch
hätte aufmutzen können, die häufige verschrobene Einseitigkeit, die schiefen Über-
schätznngen u. s. w., alles das bleibt bei ihm aus dem Spiele; seine Professoren
vertreten immer nur den auf hohlem Grunde erwachsenen bodenlosen Dünkel —
jn dafür hätten doch die allerjüngsten „modernsten" Dichter und „Physio¬
logischen" Ästhetiker viel besser in Jensens Kasperletheater gepaßt. Und so
iiberall. Gewiß giebt es thörichte Herrlein nnter den jungen Offizieren, aber
wie gesund sind diese Leute uoch gegenüber der schlaffen Blasirtheit eines
großen Teiles unsrer großstädtischen Jugend ans den „bessern" Kreisen und
leider auch der studentische,, Mine««« ein>r<^; gewiß giebt es noch immer un¬
verbesserliche Adliche, aber zur Zeichnung des Protzentums eignet sich, wie
jedem Sozialdemokraten bekannt ist, sehr viel besser der neue Bankiersadel.
Auch Zopf und gedankenlose Phrase findet man in unsern Tagen beispielsweise
weit, mehr bei der Knappschaft der freisinnigen Blätter, als bei der Beamten-
Welt, einen so guten Posten diese immerhin noch davon mit sich herumtragen
mag. Auch die Interessen und Umgangsformen der Gesellschaft und die
Gesellschaften selbst, sogar die Wvhlthätigteitssitzuugen der eidlichen Damen
sind nicht so fade, wie sie Imsen unter allen Umständen schildert. Kurz
und gut, er ereifert sich gegen etwas, was man sich vielmehr nur vor ein,
zwei Menschenaltern, in der Krantzen des Liberalismus auf feiten junger
Leute, die in jenen Kreisen keinen Zutritt hatten, so vorgestellt und zurecht-
gemalt hat. Fast macht es den Eindruck, als führe Imsen diesen Kampf
eigentlich nur darum, weil Männer, die er verehrt, ihn einst begonnen und
»unentwegt" fortgetrieben haben. Und er führt ihn schärfer, wuchtiger und ein¬
seitiger, als diese es je gethan haben, wahrscheinlich infolge davon, daß er die
stärkere und in ihrem guten Glauben aufrichtigere, rücksichtslosere Natur ist.
Es sind heftige schlüge ins Wasser. Er bildet keine Partei damit und kann
auch keiner vorhandnen Partei damit genügen; nur einzelne sind es, die ihr
Vergnügen daran haben: die paar Guten, die uoch meinen, dies seien wirklich
die Gegensätze des Lebens und der Gesellschaft, und dann die Hämischen, die
wissen, was sie für sich wollen, und schadenfroh ins Fäustchen lachen. Übrigens
gehört heutzutage kein so besondrer Mut mehr zu der Opposition, zu der
Umher zu stehen meint: er ist keineswegs der Recke, der mit offner Brust
gegen gepanzerte Reihen ficht. Im Gegenteil: Liberalismus und Atheismus
beherrschen die Presse und die öffentliche Meinung; es gehört — was freilich
sehr viele und unter ihnen unser Erzähler immer noch nicht wissen Molken —
mehr Mut dazu, sich als fromm und gläubig bespötteln und verdächtigen,
sich, wenn man Royalist der alten Art ist, zu den Feilen und Strebern werfen
zu lassen, sich, wenn man sein gutes Deutschtum bekennt, Chauvinist schimpfen
zu hören, als zu allen Augriffen jener Art, die, wie gesagt, nirgends mehr
ein eigentliches frisches, begeistertes Publikum haben, aber einer Art selbst¬
verständlicher Zustimmung überall sicher siud. Wenn übrigeus irgend jemand
über Beamtenzopf, Kanzleiseelen, Höflingswesen und alles Verwandte die Geißel
aristophanischen Witzes geschwungen, ihnen uuverwindliche Stöße versetzt hat,
so ist es in allererster Linie der „Junker" von Bismarck gewesen.
Die letzten Seitenblicke sollten sich übrigens nicht besonders auf Jeusen
beziehen; er hat sich nie zu den vaterlandslosen Gegnern des Deutschtunis
oder der Monarchie gesellt. Die Sünder, die er aufsucht, um sie niederzu¬
schmettern, wobei er dann gelegentlich als romanschreibender Don Quirvte auf
Windmühlen und nichtsahnende Schafherden einreitet, siud vielmehr vorhin
schon in den seinen Werken entnommenen Hanptthpen festgestellt und abgegrenzt
worden. Er selber paßt gar nicht zu denen, zu deuen er sich um einiger
gemeinschaftlichen Angriffsziele willen stellt. Vor allem ist er ein ganzer
prächtiger Deutscher aus dem allerbesten niederdeutschen Eichenholze und bei
Lichte besehen gar nicht einmal ein eigentlicher Liberaler. Wir wünschten, er
machte einmal ganz und gar reines Haus in sich selber, sichtete Überzeugung
von Vorurteil und Gewöhnung oder Nachahmung, durchbräche den Bann der
Unlogik, der seine Angen kurzsichtig macht und seine Arme lahmt. Wollte
sich dieser sür das Ewiggute, für wahre Schönheit und allen echten Wert
des Lebens glühende Mann entschließen, frei und klar wie in einer neuen
Umgebung in der Welt, wie sie hente ist, um sich zu schauen und dann die
wirklichen Gegensätze zu seiner eignen innern Art bestimmt und scharf ins
Auge zu fasse», so könnten von diesem Meister der packenden Schilderung
geradezu befreiende Thaten in unsrer Litteratur ausgehen, Schöpfungen voll
unbeeinträchtigter innerer Wahrheit, aus einem festen Guß, die wie Spreng¬
granaten in die klägliche Schalden und den platten phantasieloser Egoismus,
in die zur Oberfläche aufgerührte und sich dort behaglich horrende Prosa
und Geschmacklosigkeit des modernen Lebens einschlagen sollten, er könnte ein
mächtiger Rufer werden in dem großen und fröhlichen Streite um die Erhal¬
tung und die Erneuerung unsrer guten alten und tüchtigen Sitte und Art,
der Zeit, da noch die Ideale galten und bestimmten. Aber Imsen ist ein
Dithmarse. Der Friesenfürst Naddod wollte lieber mit seinen Vorfahren in
der Hölle als mit allen Freuden im Himmel wohnen. Und wir fürchten,
Imsen wird bei denen bleiben wollen, die er einst in noch ganz anders ge¬
arteter Zeit als Jüngling verehrt hat. Heinrich Heine ist auch dabei, und
nicht bloß der Heine der Harzreise und des Buches der Lieder.
Aber was giebt uns das Recht zu solchen Orakeln und zu dem Versuche,
den auf der kräftigen Höhe seines Lebens stehenden Dichter sich selber ab¬
spenstig und für die Weltanschauung der — Grenzboten, wie mens wohl am
kürzesten und besten ausdrücken kann, in Beschlag zu nehmen? Dies Recht geben
uns zahlreiche, aber minder stark betonte, dieser Anschauung entspringende
Züge in seinen eignen Werken, die umso mehr beweisen, weil sie fast unbe¬
wußt und ganz ungemacht dem ehrlichsten Ingrimm entspringen. Sie decken
ans, daß Imsen die eigentlichen, diametralen Gegensätze seiner eignen Denkart
ganz gut kennt, sie aber in der Hauptsache doch eben links liegen läßt,
um sich lieber und öfter an denjenigen Gegnern zu reiben, die ihm an sich
näher stehen, und mit denen er sich bei minder doktrinärer Stimmung wenn
auch nicht vereinigen, so doch zur gemeinsamen Abwehr gegen den eigentlichen
Feind, die Ideallvsigkeit und „verstandesmäßige" Nüchternheit, verständigen
könnte und würde. Wir sprechen so, weil wir jemand kennen gelernt haben,
in dessen Seele alle echte Schönheit der Welt und alle wahre menschliche Höhe
in ganz reinen Akkorden wiedertönen und sich zu Versen voll Klang und An¬
mut niederschlagen, zu inhaltstiefen Gedichten, die für kein Publikum gedacht
und gemacht, in der Klarheit ihrer Empfindung durch keinerlei Zuthat und
falsche Würze beeinträchtigt sind und ihren harmonischen Frieden durch keinen
Gegenstand des Mißbehagens und des Gegensatzes gestört wissen wollen, die
vielmehr nur des Dichters Eigentum und nur für den Dichter selbst entstanden
sind, und weil dieser jemand der ist, der zwar viel weniger bekannt, aber
doch noch weit tennenswerter ist als jeuer Erzähler: das ist der Lyriker
Jeusen. Hier und nur hier haben wir ihn selbst; von hierher kennen wir
ihn bis in den innersten Kern seiner Seele und durften aus dieser Bekannt¬
schaft heraus und mit gestützt auf die entsprechenden Ansätze in seinen
Romanen und Novellen mit bester Überzeugung das vorhin gesagte aussprechen.
Von hierher kennen wir ihn, nebenbei gesagt, auch als einen der Besten
unter den Deutschen. Übrigens hat er einmal ausgesprochen, er werde des¬
wegen niemals in das italienische Land der Sonne, des blauen Himmels und
der — deutschen Sehnsucht übersiedeln, weil er nicht leben könne ohne deutsche
Landschaft und deutsche Sprache um sich her. Das ist so tiefrichtig verstanden,
denn auch sein ganzes Schaffen ist so gruuddeutsch, daß ihn die Umgebung
und die Anregungen der Fremde auf die Dauer geradezu stören müßten. Wir
denken da ferner an das mannhafte Wort, das er den deutschen Studenten
von Prag zugerufen hat, und denken besonders an seine „Lieder ans Frank¬
reich," denen, wie wir mit Freuden feststellen können, die Grunowsche Verlags¬
buchhandlung in einer ihrer Anthologien, den „Vaterlandsliedern," zu deren
Zierde und Werterhöhnng einen so breiten Raum eingeräumt hat und damit
zugleich eine lebhaftere Erinnerung hat bewahren helfen, Dichtungen, die in
der Kriegslhrik des großen Jahres insofern eine jeder Vergleichung entrückte
Stellung einnehmen, als in ihnen allein der helle patriotische Klang, die
Siegesfreude und der Kaiserjubel in jeder Zeile mit der unmittelbarsten mensch¬
lichen Empfindung des Krieges zusammengeflossen sind, und nicht der bloß
von der Heimat ans in mehr allgemeinen Empfindungen den Krieg begleitende
nationale Poet spricht, sondern der selber mit dem Gewehr in Feindesland
stehende deutsche Krieger als Schlachtenkampfer und Sieger, auf dem Marsche
und auf der Wacht, in Humor und Strapazen, Soldatenfrohsinn und Heimweh,
in der jähen Trauer um den Kameraden und im persönlichsten Schauder des
Tötens und dann wieder in der Begeisterung, die alle nur das eine fühlen
läßt, zum echtesten und lebendigsten poetischen Ausdruck aller seiner einzelnen
unmittelbaren Regungen kommt. Zu einem so sieghaft wahren und reinen
Ausdruck, daß es gerade diese im tiefsten Grunde germanisch und antigallisch
empfundene poetische Abklärung des großen Franzosentreibens sertig gebracht
hat, auch voll dem Gegner ästhetisch anerkannt zu werden. So knüpft z. B.
die längere literarhistorische Abhandlung eines Professors in Toulouse über
die deutsche Lhrik des siebziger Krieges im Inclexerläant littorlürg (Paris 1885,
Nummer vom 15. Dezember) an die Namen Lsöidöl, I'reiligrMl et huölauvs audi-gs,
Hui, xourtg-ut, n'arrivöQt xoint ü, 1a tilmtsur als ^önsöu die Schlußworte an:
1/68 Mei'68 Söront, si l'on vont, as g'rauäs xostss iüIsiNÄNÄs; <Zö1ni-ol Wut
simxlömsnt um grauet xoöts. Mir uns hat dieses pointirte Urteil umso größern
Wert, als ihm eine ausführliche und vortreffliche Begründung vorhergeht, die
dem französischen Nationalstolze nicht leichten Herzens abgerungen werden konnte.
Nun bietet Imsen nach zwanzig Jahren eine Gedichtsammlung, betitelt
„Im Vorherbst" (Leipzig, Elischcrs Nachfolger, 1890), dar, die eben jene eigent¬
lichste Quelle für die Kenntnis dieses Dichters als Lyriker und als Mensch
ist, auf die wir uus vorhin beriefen. Es war ein bitteres Unrecht, wenn
dieser ans dem innersten Grunde einer schönheitserfüllten Seele und eines
tiefen und warmen Gemütes langsam hervorgegangene und herangereifte Ge-
dichtband von der Tageskritik einfach und gleichgiltig als ein „neues Buch
von Wilhelm Imsen," „dein beliebten Erzähler" und mit ähnlichen Redens¬
arten unter die lange Reihe seiner sonstigen Bände mit eingeschaltet und damit
abgethan wurde. Denn da Gedichtsammlnugen begreiflicherweise gerade heut¬
zutage noch viel schwerer ihren Weg zum Publikum finden als Erzählungen,
denen schon die tägliche Langeweile gewisser Leserkreise eine treue Stütze ist,
so hätte irgend jemand von den mit Pflichtexemplaren ausgerüsteten Berufs-
kritikeru ernsthaft ans sie hinweisen sollen, umso mehr, als diese Gedichte auch
solchen Leuten eine Freude zu machen geeignet sind, die ohne ganz besondre
Veranlassung überhaupt keine lesen. So viel wir bemerkt haben, ist das
nirgends geschehen. Eine eigentümliche Beleuchtung der Fähigkeiten in der
Kritik, aber auch Illustration zu dem stolzen Zeugnis, das sich der Dichter
vor der Öffentlichkeit ausstellen darf:
Daß nie von meiner Hand ein Kranz
Um Gunst und Gut gewunden ward
und zu der bekannten herben Unzngnnglichkeit Jensens gegenüber jeglicher
nicht in schneeweißer Reinheit auf Zuneigung beruhenden „kollegialischer"
Anknüpfung. So müssen denn also die unberufenen Leute ohne Rezensions¬
exemplar reden.
Man darf Imsen nicht etwa wegen der ebeu angeführten Worte für jemand
halten, der von sich selber irgendwie Aufhebens machen wolle; sie laufen nur
einmal als das einzige, was er von sich rühmen will, so mit unter. Nur die
Lumpe sind ja bescheiden, und die meisten litterarischen Größen taxiren sich
bekanntlich, wenn auch nur in verstohlnen Briefen, mit denen sie dann nach
ihrem Tode vor der Öffentlichkeit an den Pranger gestellt werden (vergl.
Storms Briefwechsel, herausgegeben von dem jüngern Kuh u. s. w.), min¬
destens zu dem richtigen Preise und meistens ein gut Teil darüber. Diese
Art ist Imsen fremd; er schätzt sich mit einer staunenswerten Schlichtheit ein
und zwar, was die Hauptsache ist, ohne jegliches verschämte Blinzeln. Geradezu
rührend ist als Ganzes das kurze Gedicht, aus dem obige Verse entnommen
sind, das einzige, das sein Verhältnis zur Fama und ob wohl noch einiges
von ihm in den Tagen der Nachwelt fortdauern werde, abmißt:
Ich weisz es nicht, ich glaub es kaum.
Die Welt will andre Gabe heut,
Und jene Welt, drin ich gelebt,
Man erlegt sie anch zu Grabe heut.
In der ganzen Sammlung steht kein einziges festliches oder feierndes Gedicht
an irgend einen Lebendigen. Das ist kein Neid; wir wissen es zufällig, wie
tief er den inzwischen auch gestorbenen Gottfried Keller, wie er Fontane den
Dichter und C. F. Meyer verehrt, wissen auch, daß er deu beiden ersten ge¬
reimten herzlichen Festgrnß sandte — davon ist nun in diesem Buche nichts
gedruckt, um nur ja kein Aufhebens zu machen. Aber den Toten, die es nicht
mehr lohnen, legt er das Lorbeerblatt auf das stille Grab. So insbesondre
in dem ergreifenden Gedicht am Sarge Theodor Storms: „Und nun auch du,
der letzten einer!" Und auch um Leuthvlds Bild, vor dem der zünftige
Literarhistoriker nie ohne Handschuhe vorbeigehen kann, kränzt er ein paar
Rosen der Erinnerung, so menschlich einfach und fo ohne jede Übertreibung
nach beiden Seiten gerecht gegenüber diesem so überreich begabten und so un¬
säglich bemitleidenswerten Christian Günther unsers Jahrhunderts:
Ein Leben, das sich selbst betrog,
Das glücklos durch sich selber ward,
Mit irrem Trieb ins Irre zog,
Ein armer Wandrer, zart und hart.
Vom Himmel fiel in sein Gemüt
Ein Schönheitsstrahl, ein feiger Gruß;
Ihm wollt er zu, sehnsuchtdurchglüht,
Doch Staub und Schlamm hielt seinen Fuß.Ich wollt, er käme heut herein
Und sprach: „Hier, scheints, ist gut Gelng!
Erlaubt, daß ich bei euerm Wein
Den Staub mir von den Füßen schlag!"
Mail muß dabei beachten, was diese letzte Strophe in Jensens Munde, was
diese Ladung in „des sonnigen Hauses Glück und Ruh" bedeutet. Denn das
Gedicht wendet sich persönlich an Jensens Gattin. Von diesem Hause, dem
reinen Kelche, der all das goldene Lebensglück des Dichters ganz allein in
sich saßt und schließt, erzählt dies Buch, das überall unmittelbarste Einblicke
in das innerste Leben gewährt, auch sonst genug.
So kracht ich sicherm Glücke nach und find es
In grüner Stille meines kleinen Heimes;
Der roten Frühlingswangen meines Kindes
Erfreuend mich, der Triebkraft jedes Keimes,
Und das Geflüster leisen Abendwindes
Durchgaukelnd mit dem Rankwerk leichten Reimes.
Und so offenbart der Dichter noch in vielen Strophen ein in selbstgebautein
Hause ihm beschiedenes unendlich reiches und beglücktes Menschenleben. Niemals
scheint durch die Krone seines Erdenglückes schüttelnd und zausend der ent¬
blätternde Sturm gefahren zu sein; er hatte stets ein hochgerüttelt Maß von allem
zu eigen, was er auf der Welt wünschen konnte und nach seiner Art wünschte.
Und wenn man davon ausgeht, so ist sein ganzes Innenleben zu verstehen.
Er spricht von diesen Dingen selbst, darum dürfen auch wir ihm wohl mit
annähernder Deutlichkeit folgen. So hat er niemals den Trost des Jenseits zu
suchen vermocht, nie einen persönlichen Gott geglaubt und gebraucht, in keinem
Augenblicke in des Menschen Tode den Erlöser, immer nur allein den ent¬
setzlichen Vernichter gesehen. Der Schuler vor der Vergänglichkeit ist die
„Frau Hcrzelcide," das schweigende ernste Weib, das ihm das unablässige
Geleit giebt durch sein ganzes schönes Leben hindurch und allem seinen Dichten
den eignen Ton aufprägt. „Pessimismus," „Weltschmerz" wären falsche For¬
meln und schale Redensarten gegenüber dieser tiefinnerlichsten und rein mensch¬
lichen Wehmut. Über den modernen Materialisten, über den gewöhnlichen
Atheisten hebt sich Jenseit himmelhoch empor; mit ihm in dieser Beziehung
verglichen siud Hesse u. a. nüchterne Seelen und bloße Spötter, und nur
einen einzigen wüßten wir, der annähernd so im heißen Kampfe mit den
ewigen Fragen gerungen hat, wie es Jenseit sein Leben lang hat thun
müssen, das ist in seinen Jugendjahren der „grüne Heinrich." Imsen hat zu
mehreren malen mit dem heiligen Ernst der Beichte sein Glaubensbekenntnis
formulirt und ausgesprochen; die beiden Hauptosfenbarungen darunter sind
sein großer Roman „Nirwana" und dann in jüngerer Zeit die „Runensteine."
In „Nirwana" wird dnrch den Vertreter der Jensenschen Kritik das Christen-
tum zunächst vernichtet. In weit ausgedehnten Erörterungen, deren hohe
geistige Spannung jedoch auch keine Sekunde Ermüdung aufkommen läßt,
auf breiter Grundlage philosophischer und theologischer, häufig Straußischer
Sätze, in der Hauptsache aber doch aus eignem, Jensenschen Denken, übrigens
ohne jeglichen Stachel, ohne ein Wort der Härte oder gar des Hohnes, geht
Mathieu Guvrcmd, der abtrünnig gewordene Priester, der langsam ihm ge¬
kommenen Erleuchtung nach, wie keine der Religionen je von einem Gott offenbart
worden sei, sondern das eigne Bedürfnis der menschlichen Kläglichkeit sie er¬
dacht und sie sich zu Unterkunft und Schutz ausgebaut habe, und wie auch
die Anforderung des Glaubens ohne Grübeln nur die feste tragende Mittel¬
säule dieses von Händen errichteten weltüberspannenden Hauses sei. Das
Sein oder Nichtsein der Auferstehung ist auch hier, wie für deu ganzen Jeuseu,
der Angelpunkt, das eine, das große und entsetzliche, auf das alles ankommt.
„Vernichtet brachst du unter dieser schneidendem Erkenntnis zusammen— hält
Gix'-rant seinem Schüler vor —, denn mit der Unsterblichkeit, die dir geraubt
!worden warj, schien sie jdie Erkenntniss dir auch schon das vergängliche Leben
selbst, das du uoch in dir fühltest, als ein gleichgiltiges Nichts genommen zu
haben.") Und Verzweiflung packte dich mit wahnwitzigen Entschluß, der Marter
deiner Gedanken, dem versengenden Stachel der Wahrheit ein Ende zu machen,
dich freiwillig in das Nichts zu stürzen, ehe es um einen wertlosen Augenblick
später die unablässig über dir schwebende Gigantenfaust nach dir anfreckte."
So sind in diesen letzten Worten die Momente der schrecklichsten Seelenqnal,
mit denen diese offenste Beichte eines von Zweifel, Ringen und krampfhaft
bitterm Zusammenbrechen uuter der Wucht der rastlosem Gedanken durch¬
zitterten Menschenalters in der That auf so manches von der Anfechtung bis
dahin noch verschonte junge und starke Lesergemüt eingestürmt ist, in des
Pfarrers eigne Rede mit aufgenommen. Nun aber will Mathieu Guvraud
auch geben. „Eure Vernunft hat den Himmel droben zerschlagen, euer Herz
baut ihn hier unten wieder auf in der Liebe. Der Mensch ist gut aus der
Hemd der Natur — die Liebe, das Erbarmen, die Hilfe sei der lohnende Gott
euch." Und dann entwickelt er sein großes Programm des nur auf
Natur und Liebe gestellte« kommunistischen Menschenbundes, in dessen erste
thatsächliche Gemeinde sich das Adelsgeschlecht und die Standesherrschaft der
Hautefort verwandelt. „Du bist ein Mensch, du bist gut," das ist das Wort,
womit Guvraud ihre neuen Glieder willkommen heißt. Alles dies geschieht
(mit einem gewissen Anachronismus) 1789, in dem Jahre, wo Ludwig XVI. die
Generalstände beruft.
Und welchen Erfolg, welches Schicksal bereitet Imsen dieser Gemeinde
der Natur und der menschenbrüderlichen Liebe? Ein paar Monate später nur
steht Mcithien Guvraud umtobt von der Lüge nud dem Verrat, der Mordgier nud
der Raublust, die, von ihm selber entfesselt, seine Schar der Liebe und der Mensch¬
lichkeit versprengt und erschlagen haben, und ruft in den Aufruhr des rasenden
Pöbels hinaus: „Wahn und Trug haben mich geblendet, zu glauben, die
Natur habe den Menschen gut erschaffe». Das Götterbild, das die Weisheit von
Jahrtausenden auf den Altar erhoben, habe ich zertrümmert, weil ich gewähnt,
in euch selbst lebe die Verminst eines Gottes. Doch statt ihrer fand ich in euch
nnr die Gier des Raubtiers, die Habsucht, den Blutdurst, die Wollust; und
die Liebe, deu Geist, die Menschlichkeit vor euch zu schütze», bedarf es der
Ketten, die auch anschmieden, und der Geißel, die euch zu heulenden Gehorsam
peitscht! Der Schurke, der in diesem Sarge liegt, hat Recht: der Mensch
ist böse; und für die wenigen Edeln der Menschheit ist ein Fluch der Thor,
der die Erkenntnis der Wahrheit lehrt!" Mit dieser vernichtenden Selbst¬
anklage und mit dem völligen, letzten Verderben derer, die die Wahrheit und
die Liebe zum Meuscheu gesucht und gegeben hatten, durch die, die hatten
befreit und erhoben werden solle», kommt dieser in Anlage und Schilderung
großartigste Roman Zeusens zum Schluß. Ohne daß eine andre Lösung, als
diese durch Vernichtung ausgesprochen, ein Ausweg augedeutet würde; Nirwana
ist seine Überschrift und sein Ende.
Wir glauben nicht, daß Imsen meint, daß es seit den anarchischen Tu¬
multen in der Auvergne und daß es überhaupt mit der Menschheit seit 1789
anders geworden sei, und hätten »ach dieser Selbstkritik des gewaltigen Buches
die Berechtigung gehabt, zu erwarten, ihn fortan in veränderten und wegen
dieser Erkenntnis im zweiten Teil von „Nirwana" eigentlich nicht überraschende»
Pfaden zu finden. Aber gerade darnach mußten wir dann immer Nadbods
des Friese» gedenke». Nicht daß wir uns eingebildet hätten, sanftmütige oder gar
reaktionäre Bücher von diesen: Manne zu empfangen, daß wir geglaubt hätten,
er werde seinen Unglauben, seine alte Gegnerschaft irgendwie bemänteln; aber
wir dachten doch, von da an die rastlose Menschenbefreiuugsarbeit durch reli¬
giöse „Aufklärung" eingeschränkt oder in weniger breite Bahnen gelenkt, den
Kampf gegen Priestertum und äußere Kirche gemildert, anders verstanden zu
sehen; wir waren keineswegs so sanguinisch, in nur einer einzigen der zahl¬
losen Jensenschen Nomanfiguren eine Darstellung oder Anerkennung der ethischen
oder auch nur der praktisch-humanen Leistungen des Christentums zu er¬
warten, aber wir durften doch gespannt sein, ob er nicht wenigstens nach dieser
Richtung hin dessen Vertreter in Zukunft ein wenig mehr in Ruhe lassen
iverde. Vergeblich. Mathieu Guörauds eiserne Stirn und nervige Fäuste ver¬
suchen immer noch, den gewaltigen Bau Wanken zu machen, der, wie Mathieu
gesehen hat, großartig erdacht und mächtig gefügt ist; sie thun es bloß, weil er
doch immer noch steht. Ja diese Richtung des Dichters hat eher uoch zu¬
genommen, er ist besonders gegen die geistlichen Kreise beider Konfessionen
nur noch schärfer geworden. Daß er schonungslos ist gegen pietistisches und
heuchlerisches Pharisäertum, wird ihm ja nur Zustimmung bringen; aber
er sollte doch nicht immerwährend den großen und unentbehrlichen Stand
des ehrenwerten, gottestrenen und nüchstenliebenden Pfarrers und dazu die
weite Gemeinde der einfach gläubigen und religiösen bürgerlichen Kreise mit
seinem kränkenden absoluten Zweifel daran, daß es überhaupt möglich sei,
ehrlich zu glauben und ein redlicher Christ zu sein, verfolgen; warum wendet
er seine Spitze nicht auch einmal gegen eine ebenfalls große Herde, die ihm
im Innersten doch noch weit unliebsamer als jene ist, wie geringe, aber
deutliche Spuren zeigen, nämlich gegen die, denen in ihrer trostlosen Leere
ihre Religionslosigkeit keine täglich erneuten Wunden schlägt? Und warum
stürzt er sich nicht auf die, deren Gemeinheit Mathieu Gnvrauds Gemeinde
vernichtete, warum wendet er der platten Niederträchtigkeit, der er die Mehr¬
heit zuspricht, nur verächtlich den Rücken?
Aber zu diesen im zweiten Teile von „Nirwana" betretenen Pfaden ge¬
langte er wohl deshalb nicht zurück, weil er immer und immer wieder mit
sich selber erst über die Rätsel Gottes und der Welt ins klare zu kommen
und aus dem Zweifel heraus ein unanfechtbares Höheres, Übersinnliches,
Göttliches zu formuliren weiter rang. Kein noch so eifriger Priester des
Wortes Gottes kann so unablässig über Leben und Seligkeit, Erde und Himmel,
Tod und Erlösung nachdenken, wie es Wilhelm Imsen im Suchen nach der
Wahrheit und dem erhabenen Besten thut. Er vermag in der That zu nichts
und zu niemand Stellung zu nehmen, ohne die ewigen Fragen mit einzuschließen,
ja allem voranzustellen. Vergeblich haben wir unter den Erinnerungen seines
Gedichtbuches ein Blatt mit der Überschrift: Emanuel Geibel gesucht. Er hat zu
dem großen Lübecker als Jüngerer in den engsten Beziehungen gestanden und
niemals seine dankbare Pietät verleugnet; er war auch vor zwei Jahren unter
den Gästen bei der Enthüllung des Lübecker Geibeldenkmals der, der des
Meisters Angedenken am nächsten stand. Aber eines schied ihn von Anbeginn
an von Geibel: dessen schlichter Glaube und ungetrübte Freude an der
Gotteswelt und ihrer vom Schöpfer gewollten Herrlichkeit. Und so versagt
es sich Jensens Ehrlichkeit, ihm einen rein ausklingenden dichterischen Nach¬
klang zu widmen. Daß er als der Berufenste der Allgemeinen Zeitung den
Nekrolog Geibels schrieb, war etwas andres. Nur ein Blatt haben wir im
„Vorherbst" gefunden, das wir in diesem Zusammenhange richtig zu verstehen
glauben, eine Erinnerung, die aber keinen Namen mitteilt:
Er glaubte rastlos, Wahrheit auszufinden,
Und doch in Wahrheit denkend war er nie.Er wollt es nicht; vielleicht daß ers nicht konnte.
Glanzlichte Nebel ließ er um sich schweben,
Drin schönes Trnggefnhl ihn warm durchsonnte.Von einer Welt des Blendungsscheins umgeben.
Mit weit vermeintem, engem Horizonte,
Ein edles Herz, ging er, ein Kind, durchs Leben.
Was Wir begründen wollten: über das Religiöse kommt er nirgends und bei
niemand hinweg; er bleibt in der dagegen gerichteten Kritik stecken und hat
die in „Nirwana" begonnene Antikritik und die Folgerungen daraus seitdem
völlig liegen lassen.
(Schluß folgt)
aß sich die spanische» Maler Luis Alvarez und Francesco
de Pradilla und außer ihnen noch eine stattliche Anzahl roma¬
nischer und slawischer Kunstgenossen die Fähigkeiten erworben
haben, eine weite Leinwandsläche mit derselben Fülle und Kraft
natürlichen, frisch quellenden, durch naturgroße Figuren ver¬
körperten Lebens zu bedecken, mit der sie ein Spannenlanges Angenblicksbild
aus dem Treiben der Straße auszustatten wissen, ist eine Beobachtung, die
den, der nur das Fertige sieht und nicht Gelegenheit hat, auch von dem Werden
der Dinge Kenntnis zu erhalten, aufs höchste überraschen muß. Diese Gelegen¬
heit wird aber selbst dem, der sich pflichtmüßig mit allen Erscheinungen
des modernen Kunstlebens beschäftigt, nur in sehr unzureichenden Maße
zu teil. Je häufiger sich die internationalen Kunstausstellungen wiederholen,
desto mehr kommen wir zu der Überzeugung, daß das Wissen des Einzelnen
auch in diesem scheinbar begrenzten Felde nur Stückwerk ist, und daß es in
dem Grade lückenhafter und unzuverlässiger wird, als der internationale Ver¬
kehr erleichtert wird und die Keime europäischer Kultur — der germanischen
wie der romanischen —, die in zurückgebliebenen Ländern Europas und in
der neuen Welt gepflanzt worden sind, zur Entwicklung kommen und ihre
lebenskräftig gewordenen Sprößlinge zur Veredlung wieder nach den Haupt¬
kulturstätten der alten Welt zurücksenden. Wer heute aus eigner Anschauung
und mit wissenschaftlicher Gründlichkeit über die moderne Kunstbewegung, über
ihre treibenden Kräfte, über das Werden und Gedeihen ihrer Bahnbrecher und
Führer, über ihre Absichten und wirklichen Erfolge ein erschöpfendes Urteil
abgeben will, der muß ein Nomadenleben führen. Es genügt dabei nicht, daß
er die bekannten Mittelpunkte der Kunstübung und Kunstlehre besucht und
beständig zwischen ihnen hin- und herreist, um sich „auf dem Laufenden" zu
erhalten, es genügt nicht, daß er Zutritt zu den Ateliers und zu den Privat-
gemächern der Kunsthändler erhalten hat, er muß auch den Spürsinn eines
Detektivs, den opferwilligen Langmut eines Handlungsreiseudeu und die Findig¬
keit eines Geschäftsmannes besitzen, der auf der Suche nach neuen Mustern
für seine „Branche" ist. Selbst unter den idealsten Voraussetzungen, bei denen
Zeit und Geld, also die beiden Machtmittel, an denen wir gegenwärtig den
geringsten Überfluß haben, die Hauptrolle spiele», würde sich eine solche Auf¬
gabe nur zum Schaden dessen durchführen lassen, der sie übernimmt. Auf der
internationalen Jagd würde er bald den Blick für das, was jedem Volke
eigentümlich ist, für den nationalen Grundton verlieren, er würde den Zu¬
sammenhang zwischen dem Einzelwesen und dem gesamten Volkstum übersehen,
und im günstigsten Falle würde er brauchbare Bausteine zu einer Geschichte
der Künstler in Lebensbeschreibungen, nicht zu einer Geschichte der Kunst zu¬
sammentragen.
Der Archciologe und der Erforscher der Kunst des Mittelalters und der
nachfolgenden Zeit bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts ist in einer
weit günstigern Lage, weil er eine abgeschlossene Welt von Denkmälern vor
sich hat, deren geschichtliche Entwicklung in ihren Grundzügen feststeht oder
doch festgehalten werden kann. Dem Forscher, der sich mit der Kunst des
neunzehnten Jahrhunderts beschäftigt, wächst das Material täglich unter den
Händen zu. Er hat nicht das Recht, eine Gruppe vou Denkmälern, wie etwa
der Archciologe die etruskischen Spiegel oder die römischen Sarkophage, als
abgegrenzt anzusehen, sondern er muß jeden Augenblick gewärtig sein, daß das
Urteil, das er auf Grund seiner Beobachtungen und Vergleiche in eine sichere
Formel gebracht zu haben glaubt, durch eine neue Erscheinung verändert oder
völlig umgestoßen wird.
Bei so mißlichen und schwankenden Grundlagen der forschenden Thätigkeit
sind große internationale Kunstausstellungen immer noch von hohem Wert,
einem Werte, der ihre Schattenseiten reichlich aufwiegt. Man kann sie, wenn
sie sich nicht in zu kurzen Zwischenräumen wiederholen, als Merksteine in der
Entwicklungsgeschichte der neuern Kunst, die mit einem ganz andern Zeitmaß
gemessen werden muß als die der ältern, gelten lassen, und wenn das von den
einzelnen Nationen gebotene Material von Behörden, Künstlergenossenschaften
oder einzelnen urteilsfähigen Männern mit Sorgfalt ausgewählt worden ist,
so kann man sich wenigstens der Zuversicht hingeben, daß das ans diesem
Wege erreichte Gesamtbild eine Vorstellung von dem giebt, was man zur Zeit
in dem betreffenden Lande am höchsten schätzt oder sür ein besonders charak¬
teristisches Merkmal hält. Daß unüberwindliche Hindernisse, unberechenbare
Zufalle, menschliche Eitelkeit lind gewinnsüchtige Kunsthändler dein Gesamtbilde
gewisse Züge aufprägen, die nicht mit der Wirklichkeit übereinstimmen und den
Beurteiler irre führen können, ist bei einem Werke, an dem viele Hände mit¬
arbeiten, selbstverständlich. Nachteiliger als die Einmischung hochgestellter
Kunstmäeene und kaufkräftiger Händler, mit denen man es nicht gern verderben
mag, ist die Zurückhaltung hervorragender Künstler, die freilich bei der Berliner
Ausstellung nur in sehr vereinzelten Fällen vorgekommen ist.
So fehlt z. B. in der spanischen Abteilung einer der ersten Geschichts-
uud Genremaler des Landes, der oben genannte Francesco de Pradilla, der
die Fähigkeiten, im großen und im kleinen gleich groß zu sein, in sich vereinigt.
Seit etwa einem Jahrzehnt kennen und schützen wir diesen Künstler, der die
Geschichtsmalerei großen Stils wieder zu Ehren gebracht hat, indem er die Natur
an die Stelle der akademischen Überlieferung und der schematischen Komposition
gesetzt hat, und der zugleich in der realistischen Schilderung des modernen Lebens,
in der Kunst, das flimmernde, unablässig bewegte Treiben einer mit Menschen
und Tieren erfüllten Straße mit den genau der Wirklichkeit entsprechenden
Mitteln der Malerei wiederzuspiegeln, mit jedem Klein- und Feinmaler wetteifert.
Dieses Doppelgesicht seiner Kunst bringt ihn in enge Verwandtschaft mit unserm
Menzel, der leider die Malerei großen Stils nicht so gepflegt hat, wie es den
großen Gaben, die die Natur ihm geschenkt hat, entsprochen Hütte. Als er
Lust und Kraft hatte, monumentale Aufgaben zu bewältigen, war die Zeit
noch nicht da, die solchen Unternehmungen günstig war. und als die Zeit er¬
füllt war, da hatte Menzel nicht die Kraft, wohl aber, wie es scheint, die
Lust verloren, sich mit großen Flächen abzumühen, zumal da ihm kleine Skizzen,
Studien und Federzeichnungen, Adressen und Diplome, Gouachemalereieu und
Aquarelle mit Goldstücken bedeckt wurden. Dadurch, daß Menzel seine gewaltige
Kraft fast zwei Jahrzehnte lang gleichsam in kleiner Münze ausgegeben hat,
hat er unzweifelhaft für die Erkenntnis der Kulturgeschichte unsrer Zeit viel
gethan. Er hat, falls seine bemalten Pappen, Pergamente und Papiere so
widerstandsfähig sind wie die Miniaturen und Handschriften des Mittelalters,
den spätern Jahrhunderten ein reiches Material erschlossen, von dem wir
wenigstens das eine schon jetzt mit Sicherheit behaupten können, daß es unsern
Nachkommen kein durch Schmeichelei oder Schönfärberei entstelltes Abbild der
Menschen unsers Zeitalters überliefert. Menzel hat sich aber nur begnügt,
Randverzierungen zu den Blättern zu zeichnen, auf denen die Geschichte der
Jahre 1866 bis 1890 verzeichnet ist; an den großen Ereignissen dieses Viertel¬
jahrhunderts und an vielen ihrer Träger ist er vorübergegangen, ohne sie
besonders zu bedenken, wenigstens nicht in Arbeiten, die er für die Öffentlich¬
keit bestimmt hat. Diese Vernachlässigung, die sich freilich aus der mächtigen
Subjektivität des Künstlers erklärt, den nur das sympathische, das seinem
Wesen und seiner Kunst Entsprechende zur Darstellung reizt, ist umso bedauer¬
licher, als eine Zeichnung, ein Bild Wenzels zugleich eine Kritik bedeutet, eine
Kritik freilich, deren Strenge und Schürfe an Übertreibung grenzt. Zu seiner
Sicherheit in der Charakteristik der von ihm beobachteten Menschen ist Menzel
aber nicht etwa durch bloße Inspiration oder Intuition oder sonst eine Gabe
des Himmels gelangt, sondern durch die unablässige Übung seiner Hand, durch
die stetige Schulung in der halb oder ganz naturgroßen Wiedergabe seiner
Modelle. Aus seinen Studien nach Gipser mit und ohne Beleuchtung, nach
Waffen, Trachten und Ausrüstungsgegenständen, nach Menschen und Dingen
jeglicher Art wissen wir, daß er immer zuerst seine Vorarbeiten in großem
Maßstabe machte, ob er ein Großes oder ein Kleines vorhatte, und aus dieser
Vorübung des Blickes und der Hand erklärt sich die Richtigkeit und Sicherheit
der Wiedergabe der Wirklichkeit in den kleinen Ölgemälden und Gouache¬
malereien, auf denen man in unmittelbarer Nähe nur scheinbar willkürliche
und formlose Farbenflecke sieht, bis sich in einiger Entfernung die Farbenflecke
vom Hintergrunde lösen, Gestalt gewinnen und den unmittelbaren Eindruck
des Lebens widerspiegeln.
Auch von Francesco de Pradilla wissen wir, daß er in derselben Art
sinnt und schafft. Auch für winzige, anscheinend sorglos hingestrichne Figuren
macht er Naturstudien in großem Maßstabe, die er dann für seinen Zweck
zusammenzieht, ohne daß etwas von der Ursprünglichkeit der Auffassung
verloren geht. Es ist wohl als sicher anzunehmen, daß Luis Alvarez, der
auf unsrer Ausstellung die spanische Geschichtsmalerei am wirksamsten vertritt,
in derselben Weise verfährt. Er hat drei Bilder ausgestellt, deren Figuren
von verschiedenartigem Maßstabe sind: auf einem sogenannten Kostümbilde mit
drei Figuren aus der Zeit des französischen Einfalls in Spanien, einem Offi¬
zier und zwei Damen in einem Boudoir, denen der galante Krieger den Hof
macht, etwa in Viertelnaturgröße, auf einer im Einklang mit der Stimmung
etwas dunkel getonten Versammlung von Leidtragenden zu Ehren eines Toten,
der in einem angrenzenden Raume aufgebahrt ist, etwa in Zweidrittel Lebens¬
größe, und auf einem den Felsensitz Philipps II. beim Escorial darstellenden
Geschichtsbilde in überlebensgroßen Maßstabe. In allen drei Größenverhält-
nissen hat er die gleiche Sicherheit der Hand und des Urteils darüber gezeigt,
was bei dem einen notwendig, bei dem andern zulässig und bei dem dritten
überflüssig ist, um überall dieselbe starke Wirkung zu erzielen, die in dem
Beschauer die Illusion der Natur hervorruft, mag der als Einfassung dienende
Raum eng oder weit sein. Diese fast unfehlbare Sicherheit des Seh- und
Darstellungsvermögens kann nur durch beständigen Umgang mit der Natur
erreicht werden, und das ist eine unter den vielen Lehren, die unsre deutschen,
insbesondre die in Berlin thätigen Künstler aus der internationalen Ausstel¬
lung ziehen können, wenn sie wollen. Wir verkennen dabei keineswegs die
ungleich vorteilhaftere Lage, in der sich die südromanischen Künstler gegenüber
ihren nordischen Genossen befinden: sie wachsen mitten in der Natur, mitten
im Volke auf, dessen lebhafte Geberdensprache, dessen ausdrucksvolles Mienen¬
spiel deu plastischen, nachbildenden Sinn frühzeitig erweckt, beständig rege er¬
hält, schärft und schließlich zum Wetteifer mit der Natur selbst befähigt.
Dagegen führt der Bildungsgang unsre deutschen Künstler von der Akademie
mit einer Unterbrechung durch eine meist nur kurz bemessene und flüchtige
Studienreise, die überdies mir der Minderzahl der akademisch gebildeten, auf
ihre eigne Kraft und die akademischen Preise und Stipendien angewiesenen
Kunstjünger ermöglicht wird, in die eigne Werkstatt, wo die Sorge um das
tägliche Brot für lange Zeit das Hauptziel des künstlerischen Strebens bleibt.
Die technische Vorbildung ist in den meisten Fällen unzureichend, und wenn
einmal wirklich ein energischer junger Mann die Zeit gewinnt, ein aus dem
Drange seines Herzens geschaffnes Kunstwerk zur Vollendung zu bringen, so
giebt es trotz der besten, idealsten Absichten, trotz starken Aufschwungs der
Phantasie doch an allen Ecken und Enden der technischen Mängel genug, die
an dem Künstler haften geblieben sind, obwohl er einen von weisen Männern
sehr scharfsinnig und systematisch aufgebauten, akademischen Unterrichtskursus,
vielleicht sogar sunuug. oum lanato oder mit dem großen zweijährigen Neise-
stipendium, durchgemacht hat.
Wir haben auch nach dem Ergebnis der Berliner internationalen Kunst¬
ausstellung nicht die geringste Ursache, an der Triebkraft des deutschen Kunst¬
geistes zu zweifeln oder gar über seinen Niedergang zu klagen. Wenn wir
aber sehen, wie Tüchtiges und Bedeutendes von andern Nationen mit weit
geringerm Aufwande des Staates geleistet wird, so wird uns doch der Gedanke
nahegelegt, ob der in Deutschland übliche akademische Unterricht mit seinen
Vorbereitnngs- und Gipsklassen, mit seinen Aktsälen und seinen Unterweisungen
in Nebenfächern (Ästhetik, Poesie, Kunstgeschichte, Perspektive u. s. w.) wirklich,
den Zweck erreiche, der diesem großen Aufwnnde von Lehrern und Lehrstunden
entspricht, und ob nicht durch Vereinfachung und Verkürzung des akademischen
Unterrichts Mittel erübrigt werden könnten, die' den Kunstjüngern das un¬
mittelbare Studium nach der Natur — sei es in der Heimat, sei es auf
Reisen — ermöglichten. In sehr vielen Fällen ist erst der fertige Künstler,
der bereits etwas erworben hat, imstande, seinen Anschauungskreis durch Reisen
zu erweitern, und dann sind nicht wenige schon so stumpf und steif geworden,
daß auch der fremde, frische Wind, der ihnen in die Ohren bläst, kaum noch
etwas von ihrem in fast handwerklicher Thätigkeit erworbenen Phlegma zu
ändern vermag.
Wie wenig übrigens die akademische Lehre und Auszeichnung von Künstlern
geachtet wird, die jetzt in Künstlergenossenschaften, in Ausstellnngskomitees und
Richterkollegien das große Wort führen, lehren zahlreiche Vorkommnisse aus der
neuesten Zeit. Der Senat der Berliner Knnstcckademic hat für dieses Jahr auf das
ihm zustehende Recht der Veranstaltung jährlicher Kunstausstellungen verzichtet,
und die Vereinigung freier Künstler, der „Verein Berliner Künstler" hat die
Sache in die Hand genommen, um dem Publikum zu zeigen, daß freie Männer
mehr vermögen als eine akademische Körperschaft, die in ihrer Geschäftsführung
wie in ihrem Urteil von andern Grundsätzen ausgeht. Diese Körperschaft hat
im vorigen Jahre einer Künstlerin für ein mittelmäßiges Bildnis eine kleine
goldne Medaille verliehen. Diese flößte aber der freien Künstlerschaft, die
jetzt das Heft in der Hand hat, nicht den geringsten Respekt ein. Als die
Künstlerin mit einem noch schwächern Porträt vor der diesjährigen Jury er¬
schien, wurde sie trotz des Schutzmittels der akademischen Medaille abgewiesen.
In München wird Fritz von Abbe, der radikalste aller naturalistischen
Neuerer, der neuerdings seine Schilderungen von Vorgängen aus dem Neuen
Testament, seine Porträts und seine Genrebilder aus dem modernen Leben
mit aschgrauem Dunst erfüllt, aus dem die Lokalfarbeu nur in schwer bestimm¬
baren Nuancen ans Licht treten, zum Vorsitzenden der Gesnmtjurh gewählt,
die über die Aufnahme der Kunstwerke zu entscheiden hat und dadurch oft ein
Urteil fällt, das nicht bloß dem aufstrebenden Kunstjünger, der zum ersten¬
male ausstellt, den Weg in die Zukunft verbaut, sondern auch manchem ge¬
reiften Künstler bittre Stunden bereitet. Indem man einen Mann von einer
so scharf ausgesprochenen extremen Richtung, die nichts andres neben sich
duldet und von einer grundsätzlichen Abneigung gegen alles beherrscht wird,
was mit den Akademien, der akademischen Überlieferung und dem akademischen
Unterricht zusammenhängt, zum Vorsitzenden der Gesamtjury wählt, fordert
man die Meinung heraus, daß mit einer solchen Wahl auch entsprechend Farbe
bekannt wird, und diese Meinung ist auch nicht getäuscht worden. Man
braucht nur unter den Abgewiesenen herumznfrageu, und mau wird hören,
daß nicht immer der absolute Wert, sondern allein die „Richtung" der Aus¬
steller die Abweisung erklären könne. Also auch in der freien Künstlerschaft
Münchens eine starke Abneigung gegen die Akademien und den akademischen
Unterricht, dessen Überflüssigkeit allerdings dnrch nichts drastischer bewiesen
werden kann als durch Fritz von Abtes „Kinderstube," deren charakteristisches
Merkmal eine gründliche Verachtung der Regeln der Perspektive ist, die zu
den Unterrichtsgegenständen in den Vorbereitungsklassen der Akademien gehört.
Als Anton von Werner vor siebzehn Jahren auf das Andringen der
freien Künstlerschaft Berlins zum Direktor der dortigen Hochschule für die
bildenden Künste, der mit der Akademie verbundenen Lehranstalt, ernannt
wurde, glaubten die Fürsprecher dieser Wahl damit den verzopften und ver¬
rotteten Zuständen der Akademie ein Ende zu machen. Heute, nachdem ein
anders denkendes Geschlecht herangewachsen ist, nachdem die Wortführer von
damals stille Männer geworden sind oder sich doch von den dreisten Natura¬
listen überschreien lassen, würde es kaum noch überraschen, wenn Anton von
Werner, den der souveräne Wille der Künstlerrepublik vor anderthalb Jahr¬
zehnten auf den, Schild erhoben hat, von derselben Macht wieder gestürzt und
in die Rumpelkammer verwiesen würde, die schon so viele Akademiedirektoren
und Akademiker aufgenommen hat. Die Bereitschaft und die Lust dazu scheinen
in vielen unruhigen .Köpfen schon vorhanden zu sein.
Es wäre thöricht, nach diesen und ähnlichen Beobachtungen nun den Ruf
zu erheben: Fort mit den Akademien! Das Beispiel Frankreichs belehrt uns,
daß gerade eine Akademie, die Pariser üoole ach bviiux-iU'es, die im Grunde
dasselbe ist wie unsre deutschen Kunstakademien und Kunstschulen, der Fels ist,
an dem sich alle Brandungen der Künstlerleidenschaften und der Künstler¬
revolutionen brechen. In keinem Lande ist soviel auf die Akademie, die Aka¬
demiker und die Hauptkuustschule des Staates geschimpft worden wie in Frank¬
reich, und in keinem Lande hat der akademische Unterricht so große Erfolge
erzielt wie in Frankreich, hat er in gleichem Maße die Überlieferung fest ge¬
gründeter, unverletzlicher Kunstregeln trotz aller Stürme bewahrt und behauptet.
Nach jeder naturalistischen oder irgendwie anders gearteten revolutionären
Episode ist die französische Kunst immer wieder zu dem Grundsatze zurück¬
gekehrt, daß die künstlerische Thätigkeit die Form zu achten, nicht zu zerstören
hat, und diese Erkenntnis hat die französische Malerei immer wieder auf die
Höhe gebracht, wenn sie schon einer gänzlichen Auflösung und Zerrüttung
nahe war. Was die Ueole- ach dsg.ux-g,i't>8 in Paris beginnt, setzt die fran¬
zösische Akademie in der Villa Medicis in Rom fort. Sie erleichtert ihren
Schutzbefohlenen das Leben in Rom, bietet ihnen einen Anhaltepunkt und läßt
sie im übrigen frei ihre Wege gehen, uur daß sie alljährlich einmal von ihren
künstlerischen Studien Rechenschaft abzulegen haben. Durch eine solche nicht
lästige Kontrolle, durch einen sichern Rückhalt wird mancher junge Mensch,
der sich plötzlich einer neuen, verwirrenden Welt mit einer eignen Kunst und
einem eignen Leben gegenüber sieht, vor nagenden Zweifeln, oft vor gänz¬
licher Mutlosigkeit geschützt, bisweilen auch vor dem Untergange bewahrt.
Die in Deutschland auf dem Gebiete des Kunstuntcrrichtes und der Kunst¬
pflege maßgebenden Personen haben sich gewiß schon oft mit der Frage be¬
schäftigt, ob nicht die Errichtung einer dem archäologischen Institut ähnlichen
Zentralstelle für junge Künstler dem gegenwärtig üblichen Stipendienwesen
vorzuziehen sei, und in Preußen sind auch schon vorbereitende Schritte gethan
worden, um eine solche Anstalt ins Leben zu rufen. Daß sie reich ausgestattet
werden muß, wenn sie Nutzen bringen soll, ist selbstverständlich, und es könnte
ohne stärkere Belastung des Staatshaushaltes geschehen, wenn man sich ent¬
schließen könnte, den Unterricht ans den heimischen Kunstakademien und Kunst¬
schulen zu vereinfachen und mehr auf den technischen Teil zu beschränken.
Vorlesungen über Ästhetik, Dichtkunst und sonstige Hilfswissenschaften sind heute
an Kunstschulen so gut wie überflüssig, da sich jeder Kunstjünger mit geringen
Kosten in den Besitz von Lehrbüchern setzen kann, deren er bedarf, um die
Lücken seiner Bildung auszufüllen, und wer das Ideal, dem er nachstrebt,
nicht bereits in seinem Herzen trägt, ehe er in die Vorbereitungsklassen tritt,
dem trichtert es auch kein Lehrer der Ästhetik, kein Erklärer von ausgewählte»
Stücken aus der poetischen Litteratur ein.
Viele Leser werden die hier vorgetragenen Meinungen vielleicht zu radikal
finden. Man solle das Gute, wenn auch viel Schlechtes und Verwerfliches
mit daranhängt, nicht wegwerfen, ehe man nicht vollkommen sicher ist, etwas
Besseres dafür zu erhalten. Gewiß! Aber es ist kein Sprung ins Ungewisse,
den wir vorschlagen. Das staunenswerte Auftreten der spanischen Malerei
auf der Berliner Ausstellung giebt uns die Gewähr, daß auf andern Wegen,
als den unsrigen, viel mehr zu erreichen ist, und noch mehr, als es die
Spanier vermocht haben, wenn es uns gelingt, dem deutschen Idealismus,
der Schaffenskraft deutscher Phantasie die künstlerischen Ausdrucksmittel zu
verschaffen, deren sie zur überzeugenden Verkörperung ihrer Gedanken bedürfen.
Die Spanier haben ihre Reife meist in Rom erlangt, wohin sie mit einer
Vorbildung gekommen sind, die bei dem primitiven Zustande der kürglich aus¬
gestatteten Lehranstalten in Spanien nicht über das Technische hinausgediehen ist.
Auch in Rom sind sie mehr auf eignes Fortkommen in den Werkstätten dort
ansässiger Landsleute als auf die Unterstützung des Staates angewiesen. Und
doch — welch ein lebendiger Aufschwung in der Geschichtsmalerei, die man
in Deutschland schon begraben glaubte, weil die Manier schließlich die Natur
getötet hatte!
Daß die von den spanischen Geschichtsmalern gewählten Vorwürfe sehr
viel zu der überraschenden Wirkung ihrer Gemälde beitragen, wollen wir nicht
in Abrede stellen. Der Sessel König Philipps II. von Luis Alvarez, den
wir schon erwähnt haben, ist ein teils von der Natur gebildeter, teils künstlich
zugerichteter Felsenthron in der Nähe des Escorials, wo der spanische König
die Vortrüge seiner Räte anhörte, in der sichern Hoffnung, in dieser wilden,
grauenerregender Einsamkeit von keinem Verräter belauscht zu werden. Die
Huldigung der portugiesischen Würdenträger vor der Ines de Castro, die, aus
ihrem Grabe hervorgeholt, neben dem Könige Dom Pedro I., ihrem Gemahle,
thront, von Salvador Martinez Cubells ist ein Vorgang, der kein andres
Gefühl als das des Entsetzens hervorrufen kann, und das Spoliarium von
Juan Luna y Novicio, der unterirdische Raum des römischen Amphitheaters,
in den die zerrissenen Leichname der in den Kampfspielen getöteten Gladiatoren
hinabgeschleift werden und wo sie ihrer Kleidungsstücke beraubt werden, ist die
Wiedergabe eiues so blutigen Schauspieles, daß man nur bedauern kann, daß
sich so viel Kunst zu so viel Roheit verstanden hat. Aber wenn man das
Gefühl des Ekels überwunden hat, so bleibt doch die Kunst, und diese Kunst,
die sich mit der Natur völlig in eins setzen und, wenn es not thut, sie
auch völlig überwinden kann, ist das Nachahmenswerte, nicht die Sucht nach
nervenaufregenden Stoffen. Es scheint, daß diese Lebendigkeit der malerischen
Darstellung nur im Süden erlernt werden kaun, und darum werden unsre Kunst¬
behörden wenigstens den Versuch machen müssen, unsern Kuustjüngern die
Möglichkeit zu gewähren, ihr Talent durch lungern Aufenthalt im Süden
Europas mehr zu entfalten, zu kräftigen nud zu vertiefen.
n der Juliausgabe der Westermaunschen Monatshefte teilt Herr
Dr. Otto Vrahm mit, daß die Berliner freie Bühne, deren Mit¬
begründer und deren Seele er war, keine Aufführungen mehr
veranstalten werde. Er benutzte diesen Anlaß, sich über seine
Absichten bei Errichtung der freien Bühne und das Wesen des
naturalistischen Dramas auszusprechen, wobei er zu dem Schlüsse kommt, das
deutsche Theater werde naturalistisch sein oder es werde gar nicht sein. Das
ist nicht allzu tragisch zu nehmen, da das deutsche Theater unter alleu Um¬
ständen „sein" wird, so oder so, und welche Richtung auch vorübergehend ans
ihm herrschen möge. Der Lärm, den die ganze Angelegenheit verursacht hat,
wird mit dem Schluß der Berliner Bühne nicht verschwinden, da die Eröff¬
nung andrer Bühnen derselben Art in Aussicht steht. Bei den Ansprüchen,
die für die darauf zur Darstellung gelangenden Stücke erhoben werden, daß
sie eine neue dramatische Kunst bedeuten, dürfte es von allgemeinem Interesse
sein, zu untersuchen, ob auf den Bahnen, die diese neue Kunst wandelt, die
Kunst überhaupt zu finden sei.
Herr Dr. Brahm teilt die dramatische Kunst ein in die heitre und in die
hohe, und es ist gerade die hohe Kunst, wie sie von ihm aufgefaßt wird, der
er die Wege hat ebnen wollen, da sie überall sonst verschlossene Thüren fand.
Es leitete ihn dabei ein idealer Drang, der unsre volle Anerkennung verdient,
gleichviel ob er irrte oder nicht, und ob der Erfolg ihm Recht gab oder ihn
verleugnete.
Auch die große Kunst der alten Schule klopft vergeblich an, denn je
länger je mehr ist die Bühne unfähig geworden, ihr eine Heimstätte zu bieten;
sie sucht die Natnrwcchrheit in Außen- und Nebendingen und erstarrt zur Un¬
bewegliche in dem Übermaß ihrer Dekorationsstücke, den geschlossenen Zim¬
mern, die man früher gar nicht kannte, dem zuweilen ungemein schwierige!: und
mühsamen Anfbnn in ander» Szenen, womit man das Ange des Zuschauers
zu täuschen sucht. Schon vor einigen Jahren habe ich in meinem Roman
„Marionetten" auf die Notwendigkeit einer Rückkehr hingewiesen und damals
dieselben Borschläge gemacht, wie sie seit kurzem von Herrn von Perfall in
München versucht werdeu, freilich ohne daß er einstweilen Nachfolger ge¬
funden hätte.
Shakespeare konnte sich zu jener universalen Große, die wir an ihm be¬
wundern, nur auf einer Bühne entwickeln, die ihn nirgends einengte, sondern
allen Eingebungen seiner Phantasie den breitesten Spielraum gewährte; er
wäre unter den jetzigen Verhältnissen ganz undenkbar. Nicht Aristoteles, auf
den Herr Dr. Brahm zurückkommt, und die von ihm für das Drama auf¬
gestellten Gesetze sind Schuld an der jetzigen Verknöcherung, sondern es ist die
Bühne selbst, die uns, ohne von Aristoteles etwas zu wissen, zu seinen drei
Einheiten, das heißt also zur alten französischen Tragödie zurückführen will.
Wie anders und wie groß die volle Freiheit auf der Bühne wirkt, das zeigt
uns deutlich das altindische Theater, das in den Fürstengärtcn aufgeschlagen
wurde und gar keine Dekorationen hatte, sondern es der Phantasie, nicht der
Zuschauer, sondern der Zuhörer überließ (schon der alte Laube sagte, das
Drama sei kein Schau-, sondern ein Hörspiel), sich die Szenerie selbst vorzu¬
stellen. Daher gestattete es, ganz im Gegensatz zum griechischen Theater, ob¬
gleich anscheinend durch das griechische erweckt und beeinflußt, seinen Dichter»
die freieste Bewegung in Raum und Zeit und erzeugte, durch diese Freiheit,
die reiche und zugleich ungemein realistische Entwicklung der indischen drama¬
tischen Litteratur. Einige Stücke, geschrieben im ersten und zweiten Jahr¬
hundert vor dem Beginn unsrer Zeitrechnung, vielleicht noch ältern Datums,
verraten eine auffallende Verwandtschaft mit Shakespeare.
Wo, wie es hier der Fall war, die Aufmerksamkeit nicht dnrch zudring¬
liche Dekorationen abgeleitet wird, da bleibt sie auf dem gesprochn«.',: Worte
haften, und der Dichter kommt zu seinem vollem Rechte. Jetzt tritt er in die
dritte Linie zurück; am liebsten möchte man ihn ganz verbannen. Thcater-
litteratnr und dramatische sind zu Begriffen geworden, die sich nicht mehr
decken; es giebt eine Menge von Theaterstücken, die nichts von: Drama an sich
haben, als die äußre Form; für die Dramen aber, die ans der Bühne keine
Stätte finden, hat man das unsinnige Wort „Buchdrama" in Umlauf gebracht,
das nichts bedeutet, denn jedes wirkliche Drama ist auch darstellbar und übt,
wie Versuche gezeigt haben, auch von der Bühne herab eine wesentlich größere
und tiefer gehende Wirkung aus, als die für den Tag geschriebenen Theater-
Dutzeudstücke. Über den Wert entscheidet überhaupt nicht das Theater, son¬
dern das Lesepult. Daß die dramatische Dichtung eine für sich bestehende
Kunstgattung bildet, die der Verkörperung durch die Schauspieler ebenso wenig
bedars, wie das Epos des Vortrags durch die Rhapsoden, das sagte schon
Aristoteles, und thatsächlich ist eine Menge griechischer Dramen, sowohl vou
dein großen Dreigestirn, Äschylos, Sophokles und Euripides, wie von andern,
niemals zur Aufführung gelangt, sondern sie sind eben Bnchdramcn geblieben,
wie die größere Zahl der Goethischen, wie jetzt die Theaterdirektorcu auch
wohl die größere Zahl der Schillerschen dahin rechnen. Das Drama als ein
dichterisches Kunstwerk verliert sogar auf der Bühne, weil diese in den meisten
Fällen nur einen Auszug, das Gerippe geben kaun: sie verwandelt die Kunst-
malerei des Poeten in die Dekorationsmalerei des Schauspielers. Niemand
wird behaupten wollen, daß anch die vortrefflichste Aufführung des Hamlet,
des Faust, der Iphigenie imstande sei, den Genuß zu ersetzen, den uns in ein¬
samer Kammer eine Vertiefung in die Werke selbst bereitet.
Herr Dr. Brahm sagt mit Bezug auf Aristoteles, daß die Kunst nicht
an hergebrachten Begriffen und konventionellen Gesetzen kleben bleiben könne,
daß, ,,wo alles sich wandle, alles fließe" (bekanntlich hat Goethe diesem Ge¬
danken des Heraklit in seinem Gedichte „Dauer im Wechsel" eine wundervolle
Ausführung gegeben), ästhetische Gesetze von ewiger Dauer gar uicht bestünden.
Das ist ganz richtig. Von den Tagen des Aristoteles an ist alle Ästhetik nur
abgeleitet von den Kunstwerken selbst und kann keine Gesetze für die Zukunft
aufstellen. Die Pergameuer haben alle unsre alten Kunstbegriffe über den
Haufen geworfen; in der Musik und in den bildenden Künsten, der Plastik
wie der Malerei, finden unter unsern Augen die größten Revolutionen statt;
aber auf dem Grunde alles dieses Fließenden und Wandelbaren giebt es ein
Beharrendes, Unvergängliches und Unwandelbares, was das Kunstwerk, welcher
Richtung es auch angehören möge, zum Kunstwerk macht, und dieses Etwas
darf nirgends fehlen, wo künstlerische Ansprüche erhoben werden. Es hält
allerdings sehr schwer, dafür eine erschöpfende Definition zu finden, und viel¬
fach wird uns wohl, wie in der Kunst überhaupt, das simple Gefühl darüber
Rechenschaft geben müssen, ob es vorhanden sei oder nicht. Bei der neuen
naturalistischen Richtung käme es also zunächst und wohl ausschließlich darauf
an, ob ihre Schöpfungen von diesem Grundelement durchdrungen sind oder
überhaupt durchdrungen werden können, und das führt zu der Frage: Was ist
Naturalismus?
Herr Dr. Brahm hat eine Charakteristik desselben von Anzengrnber bei¬
gefügt, die im allgemeinen darauf hinauslünft, daß unter Naturalismus die
Wahrheit zu verstehen sei. Doch die Wahrheit der Natur?, Das aber ist eine
Forderung, die solange besteht, als es eine Kunst giebt. Aber — was ist
Wahrheit? fragte schon Pilatus. Jeder glaubt sie für sich zu haben.
Es giebt so viele Natnrwahrheiten, als es Menschen giebt, denn jeder
Einzelne steht der Natur besonders gegenüber, und auf jeden Einzelnen macht
sie einen besondern Eindruck, der selbst bei diesem Einzelnen, nach seiner Ent¬
wicklung und seinen Stimmungen, von einem Tage zum andern dem Wechsel
unterworfen ist. Wie es in dem Goethischen Gedichte heißt:
Du nun selbst! Was felsenfeste
Sich vor dir hervorgethan,
Mauern siehst du, siehst Paläste
Stets mit andern Augen nu.
Dem sozialistischen Arbeiter erscheint die Natur anders als dem Fabrik¬
herrn, den: Trauernden anders als dem Fröhlichen, dem Maler anders als
dem Dichter. Jeder zeichnet sie, wie sie sich in ihm wiederspiegelt, und jedes
Bild ist naturwahr, obgleich die Bilder unter sich nicht die mindeste Ähnlich¬
keit haben. Das Auge des Lumpensammlers, der zwei Betteljungen auf der
Straße liegen sieht, sich den Mund vollkröpfend mit Trauben und Meloneu-
schnitten, bleibt auf ihren Lumpen und ihrem widerwärtigen Schmutze haften;
Murillo sah sie mit den Augen des Malers und schuf ein entzückendes Bild.
Könnte der Lumpensammler mit Farbe und Pinsel Hantiren, er würde mit
Vorliebe das malen, was er begreift: die Lumpen, den Schmutz, die Freßgier,
und Hütte in jenen Betteljungen nur den Stoff zu einem abstoßenden und
ekelerregenden Gemälde gefunden, denn für das, was Murillo in ihnen sah:
die leuchtenden Augen, die Lebensfreude, nicht Freßgier, sondern die volle
Behaglichkeit des Genusses hätte ihm der Blick gefehlt, wie umgekehrt Murillo
kein Auge hatte für das, was jenem als das einzig Charakteristische erschienen
wäre. Welches der beiden Bilder ist nun das richtige? Ich gebe zu: keines;
die absolute Wahrheit würde in der Verschmelzung liegen.
Anzengruber will diese absolute Wahrheit; er will, wie Herr Dr. Brahm
sagt, nichts von anßen hineintragen, keine Jdealisirung, keine geistreiche
Tendenz. Aber in dem Bestreben, das alles gewaltsam abzuwehren, liegt die
Gefahr, es auch in den Fällen nicht zu sehen und zu beachten, wo es wirklich
vorhanden ist, sondern die andre Seite nur um so stärker hervortreten zu lassen,
und statt der konventionellen Lügen des Idealismus erhalten wir die konven¬
tionellen Lügen des Naturalismus, statt des Bildes vou Murillo ein Bild
des Lumpensammlers. Was ist vorzuziehen? Auch Anzengrnber kann die
Welt nur so zeichnen, wie sie ihm selbst erscheint, und ich habe das Gefühl,
als ob sie ihm zuweilen recht verzerrt erschienen sei. Jeder ist eben den stets
vorhandenen Irrungen seines Auges unterworfen; der beobachtende Astronom
unterläßt nicht, für das eigne Auge die konstante Fehlergröße zu ermitteln,
und berichtigt darnach seine Beobachtungen. Wenn wir nur auch für die
lebendige Welt um uns unsre Veobachtungsfehler ermitteln und unsre Beob¬
achtungen darnach berichtigen könnten!
Unsern großen Dichtungen ist nicht der Vorwurf zu machen, daß sie nicht
naturwahr, also nicht naturalistisch seien. Der nach durchaus neuem tastende
moderne Naturalismus ist dadurch gezwungen, Stoffe und Menschen andern
Regionen zu entnehmen, an die bis jetzt keine Künstlerhand gerührt hat, äußer¬
lich und innerlich, seelisch genommen; sein Weg fuhrt ihn demnach nicht auf
die Höhen der menschlichen Gesellschaft, sondern in ihre Tiefen, in die ganz
versumpften oder in die Versumpfung hinabreichenden Kreise. Wenn es sich
da nur um eine Darstellung des Häßlichen handelte, so wäre vielleicht nichts
dagegen zu sagen, denn das Häßliche kann sehr wohl den Stoff für eine
künstlerische Gestaltung abgeben, wie denn eine Ästhetik des Häßlichen ihre
volle Berechtigung hat. Der Kunst der Malerei ist das Häßliche nicht fremd;
namentlich verdanken wir den Niederländern eine Reihe wertvoller Bilder, die
dieser Rubrik zuzuzählen sind, und auch im Drama, dem die Darstellung der
innern Häßlichkeit, der Mißbildung der menschlichen Seele zur Aufgabe fällt,
siud wir nicht arm daran; ich brauche nur an Shakespeares Richard III., an
Macbeth, Jago, Shylock, in den Schillerschen Räubern an Franz zu erinnern.
Allen diesen Charakteren ist ein Zug von Größe beigemischt, der unsern Anteil
erregt, ohne den wir sie nicht ertragen würden, der niemals fehlen darf, wenn
sie in den Vordergrund gestellt und zu Helden des Stückes erhoben werden.
Deshalb ist es nicht bloß unkttnstlerisch, sondern geradezu abstoßend, wenn
uralt, wie es von Ibsen in den Stützen der Gesellschaft geschehen ist, einen
ordinären Schurken und Betrüger, der ins Zuchthaus gehört, an dessen Thenter-
bclehrnng am Schlüsse niemand im Ernste glauben wird, in den Mittelpunkt
eines Dramas stellt und ihm die Rolle eines Helden zuweist. Was den
Widerspruch herausfordert, ist uicht die Darstellung des Häßlichen, sondern
des Schmutzes, der den der Versumpfung entnommenen Stoffen stets anklebt;
insbesondre die Art und Weise, wie die geschlechtlichen Beziehungen behandelt
werden. Hier liegen die so viel betonten Grenzen der Kunst; denn der Schmutz,
der Unflat läßt sich niemals zu einem Kunstwerk gestalten. Geschlechtliche
Fragen haben schon seit langen Jahren zum Überdruß die Bühne in Beschlag
genommen, als wenn unsre Zeit, die doch in so vielen Beziehungen groß ist,
von nichts anderen bewegt würde und auf diesem Gebiet ausschließlich die
treibenden Kräfte im Leben der Völker zu suchen wären! Jetzt sind wir sogar
auf dem besten Wege, in voller Nacktheit zu den alten griechischen lind römischen
Hetärenstücken zurückzukehren, die doch auch damals uur möglich waren,
weil den Frauen der Zutritt zum Theater verschlossen blieb. Wenn Herr
Dr. Brahm alle der Prüderie und Heuchelei beschuldigt, die sich dagegen auf¬
lehnen, dann geht er viel zu weit, und wenn er verlangt, daß mau ihm mit
der Moralität vom Halse bleiben solle, dann wäre darauf zu erwidern, daß
in dieser Frage, wenn auch uicht die Moralität, umso mehr aber die Sittlich¬
keit mitzusprechen hat. In jenem Punkte, wo das Reinmenschliche und das
Tierische so nahe zusammen liegen, wo die höchsten Empfindungen und die
niedrigsten und gemeinsten sich mit den Wnrzelenden berühren, da ist es nach
meiner Überzeugung verwerflich, das Tierische so hervor zu kehren, daß es
den Anschein gewinnen muß, als wolle der Verfasser absichtlich dem sittlichen
Gefühl der Zuschauer einen Schlag versetzen. Inzwischen hat die freie Bühne
an sämtlichen übrigen Theatern Mitschuldige bekommen. Die überall auf¬
geführte Haubenlerche geht bis zur Rotznase vor den Augen des Publikums.
Das war selbst dem goldnen Esel des Apulejus bei ähnlichem Anlaß zu starker
Tabak: er nahm Reißaus. Solche Stücke gehören nicht in die Theater, wo
junge Mütter und junge Töchter auf den Zuschauerbänken sitzen; man müßte,
wie im Altertum und im alten England, dem weiblichen Geschlechte den Zu¬
tritt gänzlich untersagen. Die Krapüle, die alsdann noch die Räume füllte,
könnte sich, wie sie wollte, an dem widerwärtigen Schauspiele belustigen.
Herr Dr. Brahm sagt beschönigend von Szenen, wie sie sich auf der freien
Bühne abspielten, daß in ihnen die Kunst der Natur um einen Schritt näher
komme. Man soll den Namen der Kunst nicht unnützlich führen; in jener
Szene findet eine so abscheuliche Verschmelzung statt, wie sie selbst in den
alten, uur von und vor Männern aufgeführten Hetürenkomödien nicht vor¬
kommt. Die Komödien des Aristophanes gehören nicht hierher; seine Größe
beruht übrigens in ganz andern Dingen als in seinen Sitteulvsigkeiten.
Mau mißverstehe mich nicht, als ob ich der Ansicht wäre, das Sinnliche
sei aus dem Drama ganz zu verbannen. Kein dramatischer Dichter kann die
sinnliche Seite der menschlichen Natur verleugnen wollen; ihre Darstellung
hat volle Berechtigung und große Bedeutung überall da, wo sie mit dem
Gange der Handlung notwendig verknüpft ist. Wenn ich von meinen eignen
Sachen reden darf, so bin ich ihm nie ans dein Wege gegangen, und ich er¬
laube mir, auch für mich als Dramatiker auf die Bezeichnung naturalistisch
Anspruch zu mache», insofern darunter nichts andres zu verstehen ist als das
naturwahre. Aber es giebt eben einen Unterschied zwischen dem Sinnlichen
und dem Gemeinen, zwischen dein feinen Witz und der groben Zote.
Die große dramatische Kunst, der auf der freien Bühne die Wege geebnet
werden sollten, liegt nicht auf dem Wege des modernen Naturalismus; sie
bedarf andrer Stoffe als der aus dem Sumpfe hervor geholten: sie bedarf
großer Menschen und großer Handlungen. Das lehrt ihre ganze Entwicklung
von ihren ersten Anfängen bis jetzt, durch einen Zeitraum von 2400 Jahren
hindurch, und darin hat sich in keiner Periode und bei keinem Bolle etwas
geändert. Es ist ein Gesetz von ewiger Giltigkeit, wie ich auch die von
Aristoteles für die Tragödie aufgestellte Forderung von der Reinigung der
Leidenschaften — eine Forderung, an der man so viel herumgedentelt hat,
und die doch so einfach zu verstehen ist, wenn man sie nicht mit Gewalt ver¬
dunkelt — für dauernd giltig halte. Ihre Erfüllung bildet sogar, nach
meiner Auffassung, eines der oben besprochene» unwandelbaren Grundelemente,
das vorhanden sein muß, um die Tragödie zur Tragödie, das heißt zu einem
tragischen Kunstwerke zu macheu. Die von Herr Dr. Brechen in Parallele
gezogenen Schillerschen Räuber thun dies vollständig; die Stücke der freien
Bühne scheinen eher eine entgegengesetzte Wirkung ausgeübt zu haben.
Nicht einmal in den bürgerlichen Kreisen, deren ganzes Denken und Thun
nicht über die bürgerlichen Schranken hinausgeht, darf man nach Stoffen für
die große dramatische Kunst suchen. Es giebt Wohl bürgerliche Trauerspiele,
aber es giebt keine bürgerliche« Tragödien. Das Schillersche Epigramm
„Shakespeares Schatten" trifft auch heute noch zu, oder vielmehr heute erst
recht, in viel ausgedehnterem und schlimmeren Maße:
Was? es dürfte kein Cäsar auf eurer Bühne sich zeigen?
Kein Achill, kein Orest, keine Andromache mehr?Nichts — man siehet bei uns nur Pfarrer, Kommerzienräte,
Fähndriche, Sekretärs oder Husarenmajors.Aber ich bitte dich, Freund, was kann denn dieser Misere
Großes begegnen, was kann Großes denn durch sie geschehn?Was? sie machen Kabale, sie leihen auf Pfänder, sie stecken
Silberne Löffel ein, wagen den Pranger und mehr.Woher nehmt ihr denn aber das große gigantische Schicksal,
Welches den Menschen erhebt, wenn es den Menschen zermalmt?Das sind Grillen. Uns selbst und unsre guten Bekannten,
Unsern Jammer und Rot suchen und finden wir hier.Aber das habt ihr ja alles bequem und besser zu Hause;
Warum fliehet ihr euch, wenn ihr euch selber nur sucht?Ninus nicht übel, mein Freund, das ist ein verschiedener Kasus,
Das Geschick, das ist blind, und der Poet ist gerecht.Also eure Natur, die erbärmliche, trifft man auf euer»
Bühnen, die große nur nicht, nicht die unendliche an?Der Poet ist der Wirt und der letzte Aktus die Zeche?
Wenn sich das Laster erbricht, setzt sich die Tugend zu Tisch.
Noch eines andern Punktes wäre zu gedenken, des Einflusses des modernen
Naturalismus auf die Sprache. Um nur recht naturgetreu zu erscheinen,
überschwemmt man die Bühne mit dem Nerliuer Jargon, dem bnirischen, dem
tiroler, dein österreichischen — wer nennt sie alle? Goethe schöpfte aus dem
Munde des Volkes, um den Sprachschatz zu bereichern; er that es in weiser
Beschränkung und wandelte die Formen um, wo es nötig schien, um sie für
den poetischen Gebrauch geschickt zu machen. Wie man uns jetzt die Platt-
selten der Dialekte in voller Breite auftischt, das wird, fürchte ich, sehr
dazu beitrage», unser geliebtes Deutsch, das sich schon seit Jahren abwärts
bewegt, nur noch rascher herunterzubringen.
Es scheint, daß die ganze Verirrung dnrch den unseligen Einfluß Ibsens
erzeugt worden ist, der zu einer Größe aufgeblasen wird, die er, nach sehr
weit verbreiteter Meinung, nicht im entferntesten besitzt. Ibsen sieht die Natur
uicht mit zwei Augen, sondern nur mit einem, und dieses Auge ist, um bei
dem vorhin gebrauchten Bilde zu bleiben, nicht das Auge Murillos. sondern
das des Lumpensammlers; es ist deshalb nicht die Wahrheit der Natur, die
er uns auftischt, sondern es sind, zuweilen in sehr schmutziger Schüssel, die
Lügen des Naturalismus. Wo er sich vor einen großen Stoff gestellt sieht,
Wie im Julian (Kaiser und Galiläer — er selbst nennt das Stück großwortig
ein welthistorisches Schauspiel) da zeigt sich sein ganzes künstlerisches Unver¬
mögen und der Mangel jeder dichterischen Phantasie. Gerade beim Julian
fließen die Quellen sehr reichlich; wir haben seine eignen Schriften, die Schriften
seiner Lehrer und die Schmähschriften seiner christlichen Gegner. Sichtlich hat
Ibsen sie alle durchstudirt und ausgeschrieben, jede kleinste Anekdote findet sich
in seinem Buche dramatisirt wieder. Damit aber schafft man kein einheitliches
Kunstwerk und flößt seinen Figuren nicht einen einzigen Tropfen warmqnellenden
Lebensblutes ein, noch genügt es, das Gepräge und die Farbe der Zeit wieder¬
zugeben. Wenn man will, ist auch der Shakespearische Julius Cäsar nichts
weiter als ein dramatisirter Plutarch; es ist auch Shakespeare nicht gelungen,
die Handlung einheitlich zu gestalten. Aber hiervon abgesehen, welchen Zu¬
sammenhang hat dennoch das ganze Werk, wie drängt sich notwendig das eine
ans dem andern, von welchem wunderbaren Leben sind die Gestalten bis auf
die Knochen erfüllt, und wie echt ist doch trotz des englischen Gewandes das
Römertum gezeichnet!
Krankheiten der Zeit sind ansteckend und ergreifen oft das ganze Volk,
auch wenn sie ursprünglich nur auf einen kleinen Kreis beschränkt waren, oder
gar, wie die Narrheit der Wolltracht, nur vou einer einzelnen Persönlichkeit
ausgingen. Soll Ibsen unser Vorbild werden, dann mag Melpomene in ein
Kloster gehen; im übrigen aber heißt es in den Sprüchen Salomonis: Jeg¬
liches Ding hat seine Zeit: behalten und wegwerfen.
er alte Klostergang der Mädchenschule lag noch lautlos still;
es war fast eine halbe Stunde vor Beginn des Unterrichts.
Aber mein schlechtes Gewissen hatte mich von zu Hause fort¬
getrieben, die leere Seite meines Rechenheftes gähnte mich überall
gespenstisch an, obgleich sie wohlverpackt in der dunkeln Schul¬
tasche steckte. Ich will doch mal sehen, wer in dieser Stunde aufgepaßt hat,
es wird sich ja an der Losung der Aufgabe zeigen. Diese Worte klangen
mir noch im Ohre, mir war, als fühlte ich noch den kurzen Seitenblick, der
mich dabei gestreift hatte. Warum eigentlich mich? Ich hatte wohl gesehen,
wie die Irma vor mir unter der Bank ihre Nägel schnitt, mit jedesmaliger
Freude, wenn ein Stückchen davon hoch in die Luft schnellte und verschwand.
Aber ich? Hatte ich nicht gerade gestern, aufmerksamer denn je, Herrn Blümle
fortwährend ansehen müssen, da mir in der Pause anvertraut worden war,
er hätte eine Perücke? Dann war die Stunde zu Ende gewesen, und mit
jenen verhängnisvollen Worten hatte Herr Blümle das Klassenzimmer ver¬
lassen, und mit jenem Seitenblick. Der war wahrhaftig überflüssig — eigentlich
unverschämt. Es war gestern sehr warm gewesen. Ob diesen Nachmittag
wohl Hitzefericn sein wurden? hatte ich bei mir gedacht, da könntest du ja
ein bischen zur Martha gehen, um die Rechenaufgabe mit ihr zusammen zu
machen. Aber es waren keine gewesen, und ich hatte mich abends allein
davor gesetzt, war aber zum Glück bald dahintergekommen, daß das Ganze
doch der reine Blödsinn sei: da müsse doch wenigstens eine Erklärung voran¬
gehen, wie man die Aufgabe anzupacken habe! Nein, Herr Blümle war doch
recht ungenügend für die Rechenschule; das zeigte sich hier wieder einmal
deutlich. Es wird' sie niemand gelöst haben, sagte ich etwas unbehaglich
zu mir selbst, als ich mich am andern Morgen, eine halbe Stunde früher als
sonst, auf den Schulweg machte.
Unter solchen Betrachtungen schritt ich den gewölbten Gang hinunter.
Wie totenstill es noch war, fast unheimlich! Nur vom andern Ende tönte
der schlürfende Schritt des alten Schuldieuers herüber. Der hat es eigentlich
gut, dachte ich bei mir, und sprang vorsichtig über die Ritzen zwischen den
großen Steinplatten.
Durch die alten Bogenfenster schien leuchtend blauer Himmel herein, und
die Sonne warf schmale Lichtstreifen hindurch. Es wurde dadurch noch stiller.
Zum erstenmale fiel mir auf, daß in mehrere der alten Steinplatten
Namen eingegraben waren. Ein leiser Schauer überlief mich. Das waren
die alten Klostergräber; jemand hatte es einmal gesagt, aber ich mußte es
damals nicht recht gehört haben, denn ich war lachend mit der Irma drauf
herumgetanzt, und wir hatten einen Lehrer nachzumachen versucht. Wie anders
war es doch allein hier! Eigentlich viel schöner — aber anch unheimlich.
Unheimlich! Hätte es mir mit der Irma hier je unheimlich werde» können?
Wie komisch! Wenn das Echo nicht so lant in deu stillen Gängen wicder-
gehallt hätte, wäre der Gedanke wahrhaftig zum Lachen gewesen!
Ich stand und betrachtete die alten Steinplatten. Darunter lagen die
stillen, weißen Klosterfrauen, die waren hier einmal gerade so gegangen wie ich.
Hatten sie wohl gewußt, daß sie einmal da unter den Steinen liegen würden?
Und hatten doch noch fröhlich sein können? Zum erstenmale fiel mir ein, daß
ich auch einmal sterben müsse. Daran hatte ich noch nie gedacht. Es überlief
mich wie ein Schauer, und die Buchstaben irrten leise vor meinen Blicken
durch einander. Ich mußte mich einen Augenblick an einen Pfeiler lehnen.
Da sah ich nur gegenüber eine weiße Gestalt stehen, die mit müden, traurigem
Blick aus großen, grauen Augen zu mir herübersah — ganz still. Ich wußte,
das war eine der gestorbenen Klosterfrauen, und plötzlich durchrieselte es mich
mit Grauen — ich schrie laut auf. Unheimlich schallte es durch die Gänge
und kam als leises Echo von drüben zurück. Nun schlürfte ein Schritt heran
mein Herz erstarrte — ich drückte die Hand auf die Augen — in einer
Sekunde siel mir aller Unsinn ein, den ich mit der Irma hier ans den Gräbern
getrieben hatte. Da fragte die Stimme des Schuldieners: Wo festes denn,
he? Wie erlöst sah ich auf und stotterte: Ach Wilhelm, ich — ich hab mir
den Fuß so umgetreten — Dös kommt von dem dummen Gespring, brummte
er; dann zog er an einer Glocke in der Nische, daß sie hell durch die Stille tönte.
Hatte ich geträumt? Schaudernd sah ich ans den Fleck hinüber, wo die
Weiße Gestalt gestanden hatte — sie war verschwunden.
Alles lag in grauem, fahlem Licht; die Sonne hatte sich hinter eine kleine
Wolke versteckt, die im Blau aufgestiegen war. Ich fuhr zusammen. Auf dem
Boden vor mir flimmerte es statt der stillen Namen plötzlich von Dezimal-
brttchen, die sich beängstigend mehrten und vergrößerten. Rasch lief ich vor¬
wärts. Da brach die Sonne wieder hervor, und von ihrem Gold überstrahlt
lag alles wieder traumhaft um mich her. Nun sah ich erst: was ich für die
Weiße Gestalt gehalten hatte, war der helle Pfeiler gewesen, auf den gerade
ein greller Lichtstreifen dnrch das Bogenfenster fiel. Wie würde mich die
Irma auslachen, wenn ich ihr das erzählte. Nein! Um keinen Preis könnte
us ihr ein Wort davon sagen.
Merkwürdig still lag auch das kleine Klostergärtchen da draußen in dem
Häuserviereck eingeschlossen! Ich hatte es noch nie recht gesehen. Wenn ich
lachend mit den andern gegangen war, war es immer selbstverständlich ge¬
wesen, daß dort der Garten lag. Was sollte da auch anders sein? Mir
siel ein, daß wir uns einmal fast totgelacht hatten, als wir die Frau Jvsepha
— es war die letzte der alten Klosterfrauen, die noch lebte — dort umher¬
hinken und Bohnenkräutchen pflücken sahen. Wahrscheinlich für die Suppe
heute Mittag, hatte eine gesagt, und der Gedanke, daß sie, die Fran Joscpha,
die uns noch soeben Stunde gegeben hatte, auch wie wir zu Mittag essen
sollte — der Gedanke war zum Totlachen.
Ich stand und sah hinaus. Die hohen Stockrosen und Sonnenblumen
standen noch wie träumend; und rosig angehaucht, als wären sie noch nicht
ganz erwacht, hoben die blassen Malven ihre Gesichter zur Sonne empor.
Dazwischen dufteten dunkler Goldlack und Rosmarin. Auf den hohen Vuchs-
baumbüschen schimmerten und funkelten tausend Perlen im Sommermorgen.
Da knisterte leise der Sand, ich trat unwillkürlich vom Fenster zurück. Es
war die Frau Jvsepha, die einen Gang durch den stillen Garten machte.
Mir stieg es rot ins Gesicht, daß sie es jetzt that, jetzt, ehe das wilde, un¬
gezogene Treiben hier angefangen hatte. Ich folgte ihr mit den Augen. Wie
hatte ich nur über sie lachen können! War es nicht eher traurig, wie sie mit
ihrem alten Gesicht hier allein in der Morgensonne ging und nur zuweilen
leise mit dein Kopfe vor sich hinnickte, als spräche sie mit sich selber? Und
plötzlich überkam minds, ich mußte zu ihr, jetzt noch, ehe auch sie für immer
unter deu Steinplatten liegen würde; ich mußte ihr sagen, daß ich es nie so böse
mit meinem Lachen gemeint hätte. Und da stand ich nun in dem Garten
zwischen den Beeten. Sie hob die Augen zu mir herüber und fragte mit
ihrer müden Stimme: Suchst du mich, Kind? Ja, Frau Jvsepha, ich — ich —
hab in der letzten Stunde etwas nicht verstanden. Dann geh nur hinauf, Kind,
ich will es heute noch einmal erklären. Ja — nein — Frau Josepha — ich
meinte — ich wollte — ich möchte gern — Sie um Verzeihung bitten, daß ich
gestern so dumm gelacht hab — es war nur wegen — weil —
Ich brachte den Satz nicht zu Ende. Ich konnte ihr doch nicht sagen,
daß die Irma die Zöpfe von zwei Schülerinnen während des Unterrichtes
aneinandergeknüpft hatte. Verwundert sah sie mich an. Dann plötzlich war
mirs, als glänzte etwas fernes, lange vergessenes in ihren Augen auf, und
ihr Mund sagte: Lach du nur, Kind — man ist nur einmal jung. Dabei
legte sie mir ihre Hand auf die Schulter und nickte mir wie träumend zu.
Ich versuchte mir vorzustellen, daß sie auch einmal jung gewesen sei, aber
immer schob sich mir ihr weiß umrahmtes Gesicht dazwischen, und plötzlich
fuhr mirs heraus: Ach, Frau Josepha, fürchten Sie sich nicht vorm Sterben?
Es ist so schrecklich! Ich glaubte, sie würde bei dem Gedanken, wie ich, zu-
sammcnschandern. Aber sie sah mich ganz ruhig an und sagte: Nein, Kind,
fürchtest du dich abends vor dem Schlafen? fürchtest du dich, wenn du müde
bist, vor der Heimkehr? Sie mußte mich nicht verstanden haben, denn das
hatte doch nichts mit dem Sterben zu thun! Ich sah sie verwundert an.
Da schlug es hell vom Kirchturme herunter. Acht Schläge. Hallend »er¬
zitterten sie in der Luft.
Wie hatte die Zeit nur so fliegen können! Eilig lief ich durch die ge¬
wölbten Steingänge dem Klassenzimmer zu. Überall war die größte Stille.
Die Stunde mußte schon angefangen haben. Etwas unbehaglich sah ich auf
die Hut- und Mantelreihen, die mir gleich stummen Anklägern zuwinkten.
Dann trat ich ein.
Ein gedämpftes goldnes Licht lag über dem Zimmer; alle Vorhänge
waren herabgelassen. Nur vorn fiel ein schmaler Sonnenstreifen hindurch, in
dem tausend Stäubchen auf- und abtanzten. Meine Augen irrten eine Sekunde
über all die braunen und blonden Zöpfe, dann blieben sie aus dem Pult
haften: dort saß er! Er, den ich glühend anschwärmte, verehrte. Seine
schwarzen Haare standen wirr um sein bleiches Antlitz, seine Augen rollten.
Doch nicht vor Empörung über mich — nein, er hatte mich noch gar nicht
bemerkt, sondern vor Begeisterung. Nun sah er auf. Feuerrot stotterte ich
etwas von „verspätet haben." Doch sein donnernder Ruf: Die Wahrheit!
schnitt nur jeden Ton vom Munde ab. Was sollte ich sagen? Alles, was ich
unten gedacht hatte? Das wäre die Wahrheit gewesen. Da atmete ich erlöst
auf, er hatte ja gar nicht mich gemeint, denn er fuhr fort: Weh dem, der
zu der Wahrheit kommt durch Schuld, sie wird ihm nimmermehr erfreulich
sein! Dann lag wieder Stille über dem Zimmer. Alles saß wie gefoltert,
nur ich stolperte befreit über den ausgestreckten Fuß der Irma auf meinen
Platz, ohne mich um ihr herausplatzendes Lachen zu bekümmern. Leise packte
ich meine Bücher aus und nickte meiner Nachbarin Martha zu, die mich mit
stillen, großen Augen begrüßt hatte.
Nun war mirs wieder, als wäre ich nie von meinem Platze fortgewesen.
Vor mir hing, steif wie immer, der gelbe, struppige Zopf des Mariele, der
nur manchmal bei einer Kopfbewegung wie ein Pendel hin- und herschlug.
Und daneben saß, ihr dann umlocktcs zierliches Köpfchen leicht vorgeneigt
haltend, die neu eingetretene Engländerin; sie hieß Blanche und wurde uoch
wie ein halbes Wunder betrachtet.
Jetzt stand Professor Knittel nach seiner Gewohnheit auf, um einen Gang
durchs Zimmer zu machen. Neben mir war ein leerer Platz. Dort pflegte
er sich anzulehnen und dabei die eine Hand auf mein Pult zu stützen. So
that er es auch heute. Voll Verehrung sah ich auf seine kurzen, dicken Finger
vor mir. Aus Übermut breitete ich die Arme weit hinter ihm aus und sah
mit schmachtenden Augen auf. Doch wie erstarrte mein Herz, als er sich in
demselben Augenblick umdrehte! Wie mit Blut übergössen saß ich da und
erwartete den Todesstoß. Die fürchterlichsten Strafen stiegen vor meiner Seele
auf. Betäubend brauste es mir vor den Ohren: Weh dem, der zu der Wahr¬
heit kommt durch Schuld! Er sah mich an und wiegte leise den Kopf hin
und her. Dann ging ein Lächeln um seinen Mund, und mit den Worten:
Sie Kindskopf! schritt er langsam aus Pult zurück.
Da fuhr ich zusammen. Ein Papierkügelchen hatte mich gerade unter
der Nase getroffen, sodaß ein kurzer Schreckenslaut meinem Munde entfuhr.
Ich räusperte mich zwar gleich darauf, als hätte es nichts zu bedeuten gehabt,
aber es streifte mich doch ein flüchtiger Blick aus Professor Knittels Augen.
Was mußte er von mir denken! Er, für den ich mein Leben hätte hinwerfen
können! Ärgerlich sah ich zu Irma, der Urheberin, hinüber. Sie saß mit dem
leidenden Gesicht einer Märtyrerin da. Alle ihre Gedanken schienen einzig in
Schiller aufzugehen. Irma, flüsterte ich, das verbitt ich mir! Verständnislos
sah sie mich an mit ihren großen, blauen, treuherzigen Augen. O, wie kannte ich
diese Augen! Und auch den Mund darunter, um den es gleich fernem Wetter¬
leuchten vor herunterprasselndem Gewitter zuckte.
Da klang eine helle Glocke, und alle Gesichter atmeten auf. Professor
Knittel erhob sich und verließ mit den Worten: Bitte, bleiben Sie sitzen,
meine Damen, das Zimmer. Ich warf noch einen scheuen Blick in sein bleiches
Antlitz, dann schloß sich die Thür hinter seiner verehrten gedrungenen Gestalt.
Und in demselben Angenblick standen auch alle Plätze der „Damen" leer. Es
entstand ein wildes Chaos, ein Lachen, Rufen, der Tafelschwamm sauste dnrch
die Luft.
Um mich von meinem Schrecken zu erholen, der mir wirklich in alle
Glieder gefahren war, ging ich auf den Flur hinaus. Da lag unter dein
Bogenfenster, wie am Morgen, der kleine Garten. Gedankenvoll sah ich hin¬
unter. Doch gleich darauf fuhr ich erschreckt in die Höhe. Es hatte mir
jemand fürchterlich ins Ohr geblasen. Ich drehte mich um und sah in der
Irma ihr ausgelassenes Gesicht. Was machst du da eigentlich? fragte sie
und schaute sich neugierig um, zog mich aber, als sie nichts entdecken konnte,
ungeduldig mit sich fort. Dn, das war köstlich heut in der Stunde, hast du
übrigens gesehen, wie er dich angeschmachtet hat? Wer? fragte ich gedankenlos.
Sie sah mich an, als zweifelte sie an meinem Verstände. Ja so, Professor
Knittel meinst du! Seit wann nennst du ihn denn nicht mehr Franz?
Wir kamen ins Klassenzimmer zurück, wo alles noch drunter und drüber
ging. Zentnerschwer fiel mir die Rechnung aufs Herz, und ich fragte die Irma:
Hast du sie? Natürlich! Das war ein Stich. Wenn die Irma sie verstanden
hatte, dann war ich die einzige in der Klasse, die sie nicht hatte lösen können.
Ich sah sie verwundert, wie ungläubig, an, sodaß sie lachend fragte: Bist du
übergeschnappt? Oder hast nnr deinen Verstand noch nicht ausgepackt? Es kam
mir schon vorhin so vor. Schau doch mal in der Schultasche nach! Jeti ging
an meinen Platz, wo mir meine Nachbarin Martha mit ihren stillen Augen zu¬
lächelte. Aber ich schämte mich, ihr zu gestehen, daß ich die Rechnung nicht
verstanden hätte. Da ist sie! rief die Irma und streckte mir ein Blatt über
die Bank. Mich wundert, daß du sie herausgebracht hast, sagte ich. Sie
schaute mich erstaunt an, dann sagte sie: Rasch, nimm, er kommt! Nein,
du brauchst sie ja jetzt! Jetzt? Meine Geistesverwirrung schien für sie den
Höhepunkt erreicht zu haben, denn sie tupfte sich nnr mit dem Zeigefinger
auf die Stirn und sah mich stumm an.
In diesem Augenblicke ging die Thür ans. Grabesstille legte sich über
das Zimmer. Heiße Wißbegierde leuchtete dem Eintretenden ans allen Ge¬
sichtern entgegen. Doch der sah wenig davon. Er ließ nur einen zerstreuten
Blick über die Köpfe gleiten, dann schritt seine magere, eingedrückte Gestalt
auf das Pult zu. Ich faltete rasch das Blatt auseinander, um mir wenigstens
die Rechnung flüchtig anzusehen.
Fast hätte ich laut ausgelacht. Nun war mir freilich alles klar. Statt
der erwarteten Ziffern schaute mich ein fürchterlich ins Knrikaturenhafte ge¬
zogenes Bild des Herrn Blümle an. Jetzt fiel mir ein, daß wir gestern davon
gesprochen hatten, wir wollten beide versuchen, ihn so komisch wie möglich zu
zeichnen. Ich kritzelte „Ausgezeichnet!" ans ein Fetzchcn Papier und schnellte
es der Irma hinüber. Aber es verfehlte seine Richtung und sprang auf den
Boden vor das Pult. Mein Herz stockte einen Augenblick, denn Herrn Vlümles
Augen sahen gerade darauf nieder. Doch dann blickten sie zerstreut zur Decke
empor, als ob es da heruntergekommen wäre, und sein Mund sagte: Wir
haben in der letzten Stunde — nicht aufgepaßt, hörte ich die Irma brummen —
eine neue Rechenart durchgenommen, fuhr er fort, ich habe Ihnen eine Auf¬
gabe zu lösen gegeben; wer sie nicht verstanden hat, mag sich erheben. Tiefe
Stille. Nur vor mir knackte etwas, und ich sah die Irma langsam ans der
Bank emporwachsen. Sonst blieb alles sitzen. Voll Scham blickte ich vor
nur nieder, dann machte ich eine Bewegung, um gleichfalls aufzustehen.
Doch da zupfte mich eine Hand um Ärmel, und eine Stimme flüsterte: Bleib
doch sitzen, du hast sie ja! Verwirre schlug ich mein Heft auf, wahrhaftig,
da stand sie, sauber und deutlich! Ich kannte die Schrift wohl und stotterte:
Martha, wie soll ich dir danken! Woher wußtest du , wann hast du es ge-
than? Sie sah mich lächelnd an und sagte: Ich dachte es mir so halb, drum
schaute ich einmal in dein Heft hinein, vorhin, als du mit der Irma warst. Ich
drückte ihr gerührt die Hand und gelobte mir, von nun an immer aufzupassen.
Da wandelte mich plötzlich ein furchtbarer Lachreiz an: noch immer ragte
die Irma einsam aus der Bank empor! Jetzt traf sie der Blick des Herrn Blümle,
und mit einem schmerzlichen Lächeln sagte er: Hesse, Sie werden es nie lernen.
Sie nickte stumm mit dein Kopfe, denn setzte sie sich.
Die Stunde ging weiter. Schwüle lag über dem Zimmer. Mit nieder¬
gebeugten Gesichtern saß alles da und schrieb. Nur vorm Fenster zirpten die
Schwalben, und hie und da tönte draußen auf dem Flur ein Schritt. Heute
konnte ich meine Gedanken aber mich gar uicht zusammennehmen. Ich schielte
über mein Heft zur Irma hinüber; sie saß in voller Thätigkeit, sie hatte den
Federhalter so tief eingetaucht, daß ihr ein großer Klex mitten aufs Papier
gefallen war, den versuchte sie nun mit ihrem dicken Taschenmesser zu
radireu. Als es dann ein Loch gab, mußte sie lachen und schaute mich
mit einem Auge durch das Loch an, sodaß ich wieder lachen mußte. Das
steigerte sich bei ihr noch mehr, sodaß sie zuletzt den Kopf unter die
Bank steckte, und ich nur uoch ihren zuckenden Zopf sehen konnte. Voll
Unruhe sah ich zum Pulte hinüber. Da saß Herr Blümle und sah mit
starren Augen in den schmalen, flimmernden Sonnenstreifen. Er dachte gar
nicht an uns — eine tiefe Falte lag um seineu Mund. Und plötzlich ging
mirs sonderbar. Ich sah ihn nicht mehr als Herrn Blümle, sondern als
armen, armen Menschen dort sitzen, der Wohl kaum je gewußt habe, Ums
Sonnenschein im Leben ist. Und es erfaßte mich ein unsagbares Mitleid mit
ihm; und hastig ergriff ich mein Heft und rechnete und rechnete mit einem
Eifer, als ob von der richtigen Lösung meiner Aufgabe sein ganzes Glück ab-
hinge. Ich hörte, wie sich die Irma laut rnusperte, schaute aber nur flüchtig
in die Höhe und sagte: Paß doch auf! Wie Hütte mich noch kurz vorher ihr
dumm erstaunter Blick zum Lachen gemacht. Jetzt war es mir nicht möglich.
Dn tönte fröhliches Stimmengewirr auf dem Flur, Lachen und Helles Rufen.
Es war die große Pause. Gleich darauf befanden wir uns mitten drunter.
Fast lauter fröhliche Gesichter mit lachenden Augen. Nur hie und da schaute
eines etwas ernster drein. Die Allsgelassenste war die Irma. Als hätte sie
den Sieg über die ganze Klasse in der Rechenstnnde davongetragen, sich über¬
stürzend, silberhell wie ein Bergquell, kam es von ihren roten Lippen, und
gleich drauf hatte sie auch mich wieder völlig angesteckt. Wir versuchten künst¬
lich zu stolpern und nahmen uns vor, es unten an der Gangecke zu thun, wo
die Lehrer mit wichtigen Mienen, die Hände auf dem Rücken, gruppenweise
beisammen standen. Nur recht natürlich! flüsterte ich ihr noch zu. Im ge¬
eigneten Augenblick, da wir vorbeigingen, that die Irma, als rutschte sie aus,
und — pardauz — schlägt sie wirklich zu meinem Todesschrecken der Länge
nach vor der bestürzten Lehrergruppe zu Boden. Ärgerlich fuhren sie alle auf,
und der Direktor sagte gereizt mit seiner hohen Stimme: Kennen Si mer nit
vor die Fieß sehn? Was sind mer das fir Geschieben! Ich hatte einen solchen
Lachkrampf bekommen, daß ich mich fast an einem Stück Brot verschluckte und
mit einem Erstickungsanfall das Unheil noch vergrößerte. Lassen Si mer doch
das dumme Lachn bleibn! Daß mer so was nimmer vorkommt! Damit hinkten
wir beide ab.
Das kommt davon, sagte ich, 's hätte nur noch gefehlt, daß der Franz
mich dabei gewesen war — ich hätte ihm nie wieder unter die Augen treten
können! Nu, auf den mehr oder weniger wär mirs jetzt nicht angekommen.
Ich muß übrigens ein Loch in der Sohle haben.
Die Pause war zu Ende. Alles drängte sich die Treppe hinauf. Vor
der Thür des Phhsikzimmers wünschten wir uns: Gute Nacht, schlaf wohl!
und traten ein. Eine sonderbare Luft wehte uns entgegen. Sie ging von
all den Gläsern, Gefäßen, Röhren und Trichtern ans, die bunt durcheinander,
meistens angefüllt, vorn auf dem Pult und an den Fenstern standen. Das
einzige, was wir je von Physik begriffen hatten, war, daß sie eine sehr schlechte
Luft verbreite, und das schien uns freilich an und für sich nichts besondres.
Guten Morgen, Herr Linsenmeier, sagten wir laut beim Eintreten; denn da
saß er schon in seine Experimente vergraben. Wie ein Sonnenstrahl! flüsterte
ich der Irma zu. Ja, aber ein dicker! Und wirklich erinnerte er daran.
Aus seinem blühenden Gesicht zwinkerten zwei hellblaue Augen lachend in die
Welt, lichtblondes Haar stand ihm, einem Strahlenkranz ähnlich, um die
glänzende, stark vorgebaute Stirn, um seinen Mund lag beständig ein zu¬
friednes Lächeln. So saß er da, ein Herrscher in seinem Reiche. Er blinkte
uns kurz mit den Augen zu und sagte: Setzt und. Heit mach ich und Schwefel¬
wasserstoff — das heißt, wenn Ihr brav sin. Auf dieses Versprechen hin
trat denn auch Grabesstille ein, und ein glänzendes Lächeln verbreitete sich
über sein ganzes Gesicht. Ich hab und in der letzten Stunde bewiesen — ich
hörte die Irma gähnen —, was der Luftdruck vermag — Hesse, was giebts?
Passe Sie mir auf! Sonscht laß ich sich nachher nachmache! Diese Mah¬
nung ging an die Irma, die unter der Bank einen Stoß Papier, Schere und
Kleister ausgepackt hatte und eben im Begriff war, sich ein Heft zu machen.
Vor Schreck fiel ihr die Kleisterflasche auf den Boden und ergoß sich als
zäher Strom unter unsre Füße. Ein Schreckenslaut entfuhr zugleich mehreren
Mündern, da wurde das Ganze von einem lauten Knall übertönt, der aus
einem der gefüllten Gläser kam. Es mußte etwas cxplodirt sein. Herr Linsen¬
meier flog mit einem Ruck in die Höhe, faßte sich aber gleich darauf, schüttete
etwas zum Fenster hinaus und sagte: 's thut nix — beruhigt und — Daun
lag wieder tiefer Friede über dem Zimmer.
Drückende Schwüle — man sah sie allen Gesichtern an. Mit Gewalt
mußte ich die Augen aufhalten. Wie aus weiter Ferne klangen mir die Fragen
und Antworten ans Ohr. Das Zimmer begann leise mit mir auf und ab zu
gehen — ich fühlte, daß mein Kopf schwer auf eine Seite sank. Wie im
Traume hörte ich noch das Wort „Elektrizität" — dann schwanden mir die
^inne. Doch nicht sür lange; denn gleich darauf hörte ich meinen Namen
rufen, mit der Frage, was ein schlechter Leiter sei? Ich flog in die Höhe
u«d stotterte: Die — die Irma — Herrn Linsenmeiers verblüffte Augen gaben
mir rasch die Besinnung wieder; mechanisch sagte ich ein paar Worte nach,
die mir meine Nachbarin einflüsterte. Sie mußten einen Schein von Wahrheit
besessen haben, denn mit einem ,,guet" durfte ich mich niederlassen.
Nun begann eine Unruhe in den hintersten Bänken, und eine halb¬
laute Stimme bat: O bitte — Herr Linsenmeier, jetzt Schwefelwasserstoff!
Damit war das Signal gegeben. Ja ja — o bitte, bitte! fiel die ganze
Klasse ein, und Herr Linsenmeier konnte nicht widerstehen. Hätte er geahnt,
was hinter der eifrigen Wißbegierde seiner Schülerinnen steckte, er hätte
mit etwas weniger verklärtem Gesicht die Bereitung des Erwünschten be¬
gonnen. Voll Erwartung sah alles aus seine Hände, lauschte seinen kurzen
Worten —
Da begannen sich die Gesichter in der ersten Vnnk zu verziehen — nun
auch die in der zweiten — und allmählich legte sich ein Schauder über die
ganze Klasse. Hu! und Ha! erstickte Rufe, unterdrücktes Lachen wurden ver¬
nehmbar. Dürfen wir lüften? O bitte lüften — lüften! Das Ziel war er¬
reicht. Thür und Fenster wurden geöffnet, und wir stürmten jubelnd ans den
Flur hinaus, Herrn Linsenmeier still verklärt zurücklassend.
Damit war die Physikstundc und mit ihr der Schulmorgen zu Ende.
Fröhliches Rufen und Lachen klang durch die alten Klostergänge. Von heißer
Sonne überzittert, lag das Gärtchen im Häuserviereck. Nichts regte sich darin;
nur ein warm durchglühter Duft drnug durch die geöffneten Fenster herein.
Ich kam mit der Irma an der Stelle vorbei, wo ich heute früh gestanden
hatte; drüben lagen, regungslos wie immer, die alten Steingräber, nur ein
Trauermantel hatte sich aus der Sonnenstille hereinverirrt und schwebte laut¬
los über sie hin. Ich fuhr mir mit der Hand über die Stirne und sagte mit
leiser Stimme: Kommt dir nicht auch manchmal alles — das ganze Leben —
wie ein Traum vor, Irma? Sie sah mich wieder verwundert an. Dann
lachte sie und sagte: Nein, zum Glück uicht! Sonst wachte ich am Ende gleich
auf und süße noch oben im Physikzimmer; prrrr! Leb wohl! guten Appetit!
Damit eilte sie hüpfend und ihre Tasche schwenkend voraus. —
Seitdem sind Jahre vergangen; das Leben ist unaufhaltsam weiter¬
geschritten, und die Kinderzeit ist wie ein schöner wolkenloser Sommertag
dahingeschwunden. Doch es kommen Stunden, wo sie wieder vor der Seele
emporsteigt, wo man sie wie an goldnen Fäden aus der Vergangenheit hervor¬
zieht und sich träumend ihrem Auf- und Niederflimmern überläßt.
So war mirs heute, als ich nach Jahren der Abwesenheit wieder über
den sonnenheißen Platz der alten Klosterschule schritt. Sie lag totenstill da;
kein Laut regte sich, nur die Schwalben schössen hoch zirpend durch die Luft.
Ich konnte nicht widerstehen, klinkte die alte Pforte auf, und da stand ich nun
wieder wie einst zwischen den alten Bogenfenstern. Aber der kleine Garten
war verschwunden. Eine gleichmäßig gelbe Sandfläche dehnte sich an seiner
Stelle aus, halb zugedeckt mit aufgeschichteten Mauersteinen und Ziegeln; statt
der hohen Georginen und Stockrosen lehnten Bretter und Latten an der Wand.
Nur ein letzter alter Aprikvsenbaum klammerte seine mit Kalk bespritzten Zweige
wie hilfesuchend an die Mauer an. Mechanisch ging ich ein paar Schritte
vorwärts, Spinnweben zogen sich silbern flimmernd vor mir hin und legten
sich mir um Gesicht und Hände, ein Zeichen, daß seit Wochen hier kein Mensch
gegangen war. Da stockte mir der Herzschlag einen Augenblick, und ich sah
regungslos vor mich nieder. Halb zwischen Schutt und Mörtel lagen die
alten Steingrübcr, und mein Auge las: „Hier ruhet in Gott die Schwester
Josepha," mehr konnte ich nicht sehen vor verdunkelnden Thränen. Ein
Schauer erfaßte mich in der kühlen Stille, in der nur meine Schritte wieder¬
hallten. Ich warf noch einen letzten Blick zurück, dann ging ich hastig zur
Pforte hinaus.
Mit einer Schultasche am Arme kam ein junges Mädchen quer über den
Platz daher. Unwillkürlich fragte ich sie: Wird denn die Schule nicht mehr
benutzt? Verwundert sah sie mich an und sagte: O nein, schon lange nicht
mehr! Wir haben ein viel schöneres, ganz neues Schulhaus mitten in der
Stadt bekommen. Das hier war doch nachgerade recht alt und schlecht!
Verschiedne Fragen wollten sich mir noch auf die Lippen drängen, doch eine
Art aufsteigender Furcht hielt sie zurück. Stumm nickte ich der Kleinen zu. dann
ging ich langsam den altvertrauten Kinderschulweg nach dem Elternhause.
Ist die „Herrschaft des Kapitalis¬
mus" wirklich eine leere Redensart? Am ersten Sonntag im August jammerten
Zwei Zeitungen ein und derselben Großstadt, eine freikonservative und eine deutsch¬
freisinnige, ganz in demselben Tone über die heillose Verwirrung, die von ge¬
wissen idealistischen und phantastischen Professoren in den Köpfen angerichtet worden
sei; anstatt, wie sichs gebühre, den Sozialismus als ein Truggebilde in Bausch
und Bogen zu verurteilen, hätten jene Herren diesem verderblichen Lehrgebäude
sehr bedenkliche Zugeständnisse gemacht. So habe mau, heißt es in dem deutsch-
freisinnigen Blatte u. a., den Klagen über die angebliche Kapitalshcrrschaft Be¬
rechtigung eingeräumt. Was sei denn das, Kapitnlsherrschaft? Wenn die Redensart
überhaupt eiuen Sinu habe, dann könne sie doch höchstens bedeuten, daß wir
Heutigen mehr Kapital besäßen als unsre Vorfahren.
Wenn so gewaltige Thatsachen wie die heutige Kapitalshcrrschaft keck geleugnet
oder mit Hilfe einer Begriffsverdrehnng wegdisputirt werden, dann bleibt eben
nichts übrig, als die angefochtuen Begriffe, mögen sie auch noch so einfach und
klar sein, immer wieder aufs neue zu erklären und die verdunkelten Thatsachen
wieder ins Licht zu rücken. Unter Kapitalsherrschaft versteht man die übertriebne
Macht, die der Besitz einem Menschen über viele andre Menschen verleiht. Man
versteht darunter einen Zustand, wo sich die Arbeitsmittel im Besitze verhältnis¬
mäßig weniger befinden, in deren Dienste und zu deren Vorteil die Mehrzahl zu
arbeiten gezwungen ist, einen Zustand, wo der Kapitalbesitzer und der, der das
Kapital durch seine Arbeit schafft, zwei verschiedne Personen sind. Dieser Zustand
ist, so oft er eintrat, von echt konservativen wie von echt liberalen Männern be¬
klagt worden, lange, bevor es eine Sozialdemokratie und Kathedersozialisten gab.
Was uns in der Beurteilung des Kapitalismus von deu Sozialisten unterscheidet,
ist folgendes. Die Sozialisten verwerfen den Kapitalismus überhaupt und unbe¬
dingt oder gestehen ihm doch nur für eine gewisse Entwicklungsstufe Berechtigung
zu, nach deren Überschreitung er dem gemeinsamen Betriebe Platz zu machen habe.
Wir dagegen glauben, daß die Kapitalsherrschaft zu allen Zeiten und auf alle»
Stufen (mit Ausnahme der alleruutersten) berechtigt und notwendig sei, weil es
stets Menschen giebt und geben wird, denen die Befähigung zu selbständigen Unter¬
nehmungen abgeht, sodaß ihre Beschäftigung im Dienste andrer nicht allein dem
Ganzen zum Vorteil gereicht, sondern auch Bedingung ihres eignen Daseins ist.
Was wir verwerflich und verderblich finden, das ist nur die Ausdehnung der
Kapitalswirtschaft bis zu einem Grade, wo auch der größere Teil derer, die zum
selbständigen Gewerbebetriebe ganz Wohl befähigt wären, gezwungen wird, für große
Kapitalbesitzer zu arbeiten. Wir unterscheiden demnach die gesunde Kapitalswirt¬
schaft von der ungesunden Kapitalsherrschaft. Mit dem wachsenden Reichtum an
Kapital fällt die ungesunde Kapitalswirtschnft so wenig zusammen, daß vielmehr
beides, die gesunde wie die verderbliche, sowohl bei reichen wie bei armen Völkern
vorkommen kann. Irland und Indien sind Beispiele für die Kapitalsherrschaft
bei armen Völkern; die wohlhabenden Bauerngemeiuden, die sich in Deutschland,
Osterreich und der Schweiz noch strichweise halten, zeigen uns die gesunde Knpitals-
wirtschaft verbunden mit ansehnlichem Kapitalbesitz. Als die Römer noch ein
Bauernvolk waren, erfreuten sie sich einer gesunden Kapitalswirtschaft. Solche war
schon damals vorhanden, denn ein Teil der Arbeitenden, die Sklavenschaft, war
vom Besitz ausgeschlossen. Aber das Verhältnis zwischen den beiden Bevölkernngs-
llassen war durchaus gesund; die Zahl der Sklaven war geringer als die Zahl
der Freien (hatte doch der Bauer meistens nur einen Sklaven), und die Freien
arbeiteten mit. Der Kapitalismus im schlechten Sinne, die Kapitalsherrschast, be¬
gann sich fühlbar zu machen, als die Patrizier die Nutzung der von den plebejischen
Soldaten eroberten Gebiete für sich allein behielten, dadurch übermäßig reich
wurden und ihren Reichtum dazu benutzten, die ärmern Grundbesitzer in Schuld¬
knechtschaft zu stürzen. Der Kapitalismus triumphirte, als in ganz Italien neben
dem Großgrundbesitz von dem frühern Bauernstande nur noch ein dürftiges Kolonat
übrig blieb. In dieser seiner letzten Zeit war nun Rom allerdings bedeutend
reicher als zur Zeit vor den punischen Kriegen; aber sein Reichtum stammte weder
von verbessertem Anbau, noch aus erhöhtem Gewerbfleiß, ja nicht einmal aus dem
Handel, sondern ans der Beraubung der Provinzen, bedeutete also keineswegs einen
Kapitalzuwachs für die Reichsbevölkerung, und er kam nur verhältnismäßig wenigen
zu gute. Die Weltherrschaft Roms und sein darauf ruhender Kapitalrcichtum
mochte für die Menschheit im ganzen notwendig sein, für das Glück des italischen
Volkes war beides von sehr zweifelhaftem Werte.
Wenn wir noch ein paar recht einfältige Beispiele aus neuerer Zeit beifügen,
so mögen uns unsre Leser verzeihen; wollen gewissen Leuten die Elemente der
Volkswirtschaft schlechterdings nicht in den Kopf gehen, so bleibt nichts übrig, als
sie immer wieder muss neue einzubläueu. Denken wir uns eine Bnuernbevölkerung,
ehe sie in Verschuldung gerät, und dann dieselbe Bevölkerung tief verschuldet.
Ihr Besitzstand an Gebäuden, angebauten Lande, Geräten und Vieh wird so
ziemlich derselbe geblieben sein. Also das Kapital hat sich nicht verändert. Kapi¬
talistisch war der Betrieb auch schon im frühern Zustande, denn die Bnnern be¬
schäftigten eine Anzahl besitzloser oder weniger besitzender Tagelöhner und Knechte;
aber die meisten Bewohner des Dorfes waren Leute, in denen der Kapitalbesitzer
und der das Kapital schaffende Arbeiter zusammenfielen. Jetzt, «ach der Ver¬
schuldung, befindet sich der größte Teil des Kapitalbesitzes in den Händen von
Leuten, die gar nicht im Dorfe wohnen, die, mögen sie vielleicht auch etwas
andres arbeiten, jedenfalls an dem Schaffen des in Rede stehenden Kapitals keinen
Anteil haben. Das ist Kapitalismus im schlechten Sinne, Kapitalsherrschaft.
Lassen wir die Verschuldung wachsen, so wird vielleicht nach fünfzig Jahren
das ganze Dorf in den Besitz eines Domininms übergegangen sein, die Nach¬
kommen der frühern Bauernschaft werden teils das industrielle Proletariat gemehrt
haben, teils als Tagelöhner und Hofknechte auf dem vergrößerten Dominium ge¬
blieben sein. Da haben wir wiederum die Kapitalsherrschaft, uur in einer andern
Form. Die Form ist nicht eben selten. Es giebt Gegenden, wo nicht allein ein
Bauerngut nach dem andern, sondern auch ein Rittergut nach dem andern von
dem sich mehr und mehr abrundenden Magnaten des Kreises verschlungen wird.
Wenn sämtliche Tischler eines Ortes von einer großen Möbelfabrik zu Grunde
gerichtet werden, so ist damit keineswegs notwendigerweise eine Kapitalsvermehrnng
Verbünde»; vielleicht waren die Vermögen der einzelnen Tischlermeister, von denen
mancher ein eignes Hans besaß, zusammengenommen größer als das Vermögen
des Fabrikanten oder der Aktiengesellschaft, durch den oder die sie verdrängt worden
sind. Nur die Verteilung des Besitzes, nicht die Größe des Kapitals hat sich
geändert, und wer jene Änderung für heilsam hält, nun, der mag fortfahren, sie
zu befördern, unter anderm durch Zeitungsartikel, die dem Volke einreden sollen,
so etwas wie Kapitalismus sei gar nicht vorhanden, sei entweder nnr ein Hirn¬
gespinst gelehrter Stubenhocker oder eine ganz harmlose und sogar höchst erfreu¬
liche Sachen nämlich die Vermehrung des Nationalreichtums. Wir andern halten
solche Versuche, die öffentliche Meinung irre zu führen, für verderblicher als selbst
die sozialdemokratische Agitation. Denn diese hätte doch nur nach dem Siege
des Kapitalismus, d. h. nach der Vernichtung des kleinen und mittlern Besitzes,
einige Aussicht auf Erfolg; die kecke Leugnung des Kapitalismus aber hat doch
wohl keinen andern Zweck, als einen Schirm vorzuziehen, hinter dem das Gro߬
kapital ruhig bei der Arbeit bleiben und seinen Siegeslauf ungestört fortsetzen,
also die Lage, in der eine Katastrophe eintreten muß und der Sozialdemokratie
Gelegenheit zu einem praktischen Versuche dargeboten wird, herbeiführen kann.
Der Meister der sogenannten „Nachtwache" kann
einem wahrlich leid thun. Nachdem er im Leben, obwohl kein Ritter, sich doch
mit Widersachern, Weibern, Schulden weidlich herumgeschlagen hat, haist man ihm
noch nach seinem Tode einen neuen Taufnamen auf, weil sein richtiger nicht als
solcher, sondern als Familienname angesehen werden soll; das andremal wird er,
kein Mensch weiß warum, feierlich zum Erzieher der Deutschen ernannt; und nun
kommt gar jemand und nimmt ihm seine berühmtesten Werke weg, NIN sie seinem
Schüler Ferdinand Bol einzuhändigen! Ähnlich ist freilich einem andern Großen
jener großen Zeit, Shakespeare, schon mehr als einmal der Prozeß gemacht worden.
Und als wir die erste Ankündigung des Buches von Max Lautner: Wer ist
Rembrandt? lasen, vermuteten wir darin eine Satire, vielleicht eine verspätete
auf die kritischen Dilettanten, die nicht zugeben wollen, daß ein Schauspieler der
größte Dramatiker der neuern Zeit sein könne, oder auf den Erfinder des neuen
I>lin)<z<zxto!' Oorm-miao, vielleicht auf gewisse Kunsthistoriker, die des Täufers und
Umtanfeus von Bildern kein Ende finden können. Bald verlautete aber, es sei
ganz ernsthaft gemeint. Zugleich erschien ein bedenkliches Zeichen: nicht das, daß
die Kunstgelehrten sich wenig anerkennend nussprachen — sie mußten ja ihre Mei¬
nung, wenn man will ihr Vorurteil verteidigen —, sondern daß sich Dilettanten
in der Kunstwissenschaft mit Begeisterung Herrn Lentner anschlössen und ans
jedem Rembrandt zugeschriebenen Gemälde Hieroglyphen ermittelten, die „unver¬
kennbar" F. Bol bedeuteten. Jede „Rettung" kann ja vor allem auf die Zu¬
stimmung von Personen rechnen, die sich bisher mit der Sache nicht befaßt haben;
noch sichrer ist in solchen Kreisen der Erfolg einem Kritiker, der eine geschichtliche
Gestalt ihres bisherigen Ruhmes zu entkleiden unternimmt; und kann sofort ein
Neuer ans den erledigten Thron gehoben werden, so ist das Vergnügen doppelt
groß. Nun braucht man jn glücklicherweise nicht jedes dicke Buch zu lesen, das
auf den Büchermarkt kommt, allein die Neugier ist doch rege gemacht. Und nach
Kenntnisnahme von dem Beweisverfahren hätten wir am liebsten geschwiegen.
Doch Verfasser und Verleger haben das Recht, ein Urteil zu verlangen, und in
noch höherm Grade der Leser einer Zeitschrift, die sich zur Aufgabe gemacht hat,
die Ereignisse in der Welt der Politik, der Litteratur und Kunst referirend und
kritisirend zu verfolgen.
Also in Kürze: M. Lautner hat entdeckt, daß das auf einem Gemälde in
Privatbesitz, Salomos Opfer, als F. N. gelesene und nicht zu deutende Monogramm
ursprünglich F Bl geheißen, daß aber jemand „aus leicht erklärlichen Gründen"
das l weggewaschen und das B in R verwandelt habe. Für Bol hatte er sich
schon interessirt, und nun kam er zu dem Schlüsse, daß von dem Meister, der
dieses Opfer Salomos und Jakobs Trumm in der Dresdner Galerie geschaffen habe,
wohl eine größere Anzahl von bedeutenden Gemälden vorhanden sein müsse, als
ihm beigemessen werden. Er suchte und fand, wie jeder, der finden will. Er
fand auf Bildern, die als Werke Bois anerkannt werden, ans solchen, die G. Funck
oder Koningk Angeschrieben werden, endlich auf eiuer Reihe der berühmteste» Rem-
brandts die Nameuszeichnung Bois, oft sogar zwei-, dreimal auf derselben Tafel.
Um auch den Leser zu überzeugen, hat er auf fünf Blättern in Heliogravüre solche
Namenszüge wiedergeben lassen von Salomos Opfer, von einem Bol oder Funck
in München, von Jakobs Traum in Dresden, von einem Kommet in Schwerin
und von folgenden Rembrandts: Proserpina in Berlin, Federschneider in Kassel,
Selbstbildnis im Palazzo Pitti, Anbetung der Könige und heiligen Magdalene im
Bnckinghampalast, heilige Familie und Bildnis einer jungen Frau in der Eremi¬
tage, Nachtwache, Staalmcester, Ganymed, Anatomie. Zu seinen Entdeckungen
kam er in den meisten Fällen — was gewiß bezeichnend ist — nicht vor Origi¬
nalen, sondern vor Photographien nach diesen; und zwar fügt er den Nachbildungen
von photographischen Aufnahmen solche bei, die nach einem von ihm selbst er¬
fundenen Verfahren „verstärkt" oder „retouchirt" (beide Ausdrücke werden neben
einander gebraucht) sind. Nach genauer und mehrmals wiederholter Betrachtung
mit freiem Auge und mit Hilfe der Lupe geben wir zu, daß in einzelnen Fällen
die gesuchten Buchstaben oder einer oder der andre von ihnen auf den Bildern
vorhanden sein können; in andern Fällen vermögen wir mit aller Mühe nichts
von Schrift zu entdecken; die „Verstärkung" aber stellt sich dem Nichteingeweihten
bald als ein Verbinden einzelner dunkler Fleckchen vermittels derber Striche dar,
bald als ein Mildern oder Vertilgen von Fleckchen, die für die Schrift nicht zu
brauche» waren. Man kann sich getrost anheischig machen, auf alten Bildern mit
rußigem Firniß in solcher Weise jeden gewünschten Namen zu entwickeln, so wie
eine lebhafte Phantasie z. B. in rissigen Kalk an der Wand ganze Bilder entstehen
läßt. Solange das vom Verfasser vorläufig geheimgehaltne Verfahren nicht einer
gänzlich unbefangnen Prüfung unterzogen worden ist, werden seine Ergebnisse von
der Kunstwissenschaft schwerlich respektirt werden.
Doch begnügt sich Lautner nicht mit dem Nachweise der Monogramme Bois
auf sogenannten Rembrandts, er versichert mich, daß Rembrandt überhaupt gnr
kein großer Maler gewesen sei, daß er es nicht habe sein können, weil auf seinem
Leben in sittlicher Hinsicht viele Flecken haften. Wie aber ist er denn zu seinem
Ruhm gekommen? Ganz einfach. Bekanntlich war er zu seinem Unheil ein großer
Sammler, kaufte Antiquitäten, aber auch Gemälde von ausgezeichneten Meistern
zusammen, und viele Leute, die in seine Behausung kamen, „glaubten in ihrer
Naivität sicher, daß Rembrandt diese Bilder alle selbst gemalt habe," während die
Besteller, die er warten ließ, glaubten, „er sei mit künstlerischen Arbeiten über¬
bürdet." So wörtlich zu lesen Seite 390 und 389! Auf diese Art läßt sich
allerdings alles erklären.
Und nicht zufrieden damit, auf der Nachtwache Bois Schrift entdeckt zu haben,
versucht er auch das Hindernis hinwegzuräumen, daß Rembrandts Bild von der
Cloveniers doelen in Amsterdam 1715 in das dortige Stadthaus und 1817 in
das Trippenhuis geschafft worden ist, von wo es bekanntlich in neuester Zeit in
das Gebäude des Rijksmuseum überging. Ja, sagt er, bei den Cloveniers hing
allerdings ein Schützenstück von Rembrandt, aber wo das ein Ende genommen hat,
weiß man nicht, das im Nijksmusenm ist ein ganz andres, natürlich von Bol gemaltes.
Denn es fehle jeder Beweis dafür, daß beide Schützenflücke ein nud dasselbe seien.
Darauf hat Direktor A. Bredius ini Haag, ein Mann, dessen Autorität noch nie
angefochten worden ist, in den „Münchner Neuesten Nachrichten" vom 4. Juni aus¬
reichend geantwortet. Der Amsterdamer Bürgermeister Gerard Schaap bescheinigt,
im Februar 1663 auf der Cloveniers doelen im großen Saale des Oberstockes
neben andern Bildern vorgefunden zu haben Nummer 4: Frnuc Bauuiug Cock,
Kapitän, und Willem van Nuyteuburg, Leutnant, gemalt von Rembrandt Anno
1642, und unter dem 23. Mai 1715 wird angeordnet, eben diesem Gemälde
eben dieses Rembrandt einen Platz in der „Kreygsraatskmncr" des Stadthauses
einen Platz anzuweisen. So steht es um die „Grundlagen zu einem Neubau der
holländischen Kunstgeschichte," welchen Nebentitel Lantner seinem Buche gegeben hat.
Naka, Käss, die ihm verschiedentlich vorgeworfen worden ist, trauen wir ihm
nicht zu. Vielmehr gemahnt er uns an einen übereifriger jungen Untersuchungsrichter,
der von der Schuld des ,,Jnknlpaten" fest überzeugt, in jedem Wort, jeder Miene,
jeder Handbewegung des Unglücklichen einen Schuldbeweis oder wenigstens den
Beweis entdeckt, daß ihm eine böse That zuzutrauen sei. Wie ein Detektiv hat
Lautuer dem armen Rembrandt nachgespürt, mit Bienenfleiß Zeugnisse über dessen
Leumund zusammengetragen, nud mit Triumph verkündet er alles, was ungünstig
für ihn lautet oder doch so ausgelegt werden kann. Weil Rembrandts Bedeutung
von vielen Zeitgenossen nicht gewürdigt wurde, sind die Nachtwache u, s. w. ihm
abzusprechen, denn „indem wir Rembrandt fernerhin als den Meister jener Kunst¬
werke betrachten, machen wir die hervorragenden Männer Amsterdams in jener
Zeit zu Gimpeln, welche die Grundideen ihrer Zeit nicht erkannten (nach denen
sie doch handelten), oder — zu schlechten Charakteren, welche (!) das große Genie,
welches (!) diese Ideen zu künstlerischem Ausdruck brachte, aus Neid herabzudrücken
versuchten." Das ist nicht die Sprache eines Fälschers, sondern eines Menschen,
der rin einer fixen Idee behaftet ist. Wird ihm doch sogar Joachim Sandrart
zu einem ,,vortrefflichen Maler und Schriftsteller," weil diesem der Künstler wider¬
wärtig war, der nicht, wie andre Holländer, nach Italien ging, um ein falscher
Italiener zu werden, und „sich nicht scheute, wider die unsrer Profession höchst-
nötigcn Akademien zu streiten." Sandrart und Rembrandt — es ist zum Lachen!
Wenn der Verfasser im Vorworte soge: „Meine Ausführungen, welche — von
Vorurteilen unbeirrt — die wichtigste Kultur- und Kunstepoche Hollands in völlig
neuem Lichte erscheinen lassen, werden manchem verwunderlich und selbst schmerzlich
sein," so kann man ihm beipflichten, freilich in anderm Sinne, als er meint.
Bedauerlich ist unter anderm, daß er richtige Bemerkungen gegen manche über das
Ziel hinausschießende Verherrlichung Rembrandts durch seine noch größern Über¬
treibungen und seine unglückliche Methode um ihre gute Wirkung bringt.
Joseph und Arvid. Gedichte von Friedrich Dukmeyer. Köthen, Paul Schettlers Erben
Für den Umfang der Verwüstung, die gewisse bedenkliche Vorbilder von
Heinrich Heine und Baudelaire bis zu Tolstoi und Ibsen in jungen Gemütern und
Geistern angerichtet haben, geben die Gedichte von Dukmeyer einen bezeichnenden,
wenn auch nicht erfreulichen Beweis. Das Hanptgedicht „Joseph und Arvid"
verherrlicht zwei moderne Titanen, von denen Arvid im Meere ertrunken ist,
während sich Joseph im Bade die Adern aufgeschnitten hat. Er fühlt sich einsam
„in der Welt des Scheins, der Hohlheit," er hat eine Vision von kommenden
Zeiten, in denen die Arbeitsknechte die Herren vernichten werden, Pest und Cholera
die Schrecken verdoppeln, die Kultur dahinsinkt, die Städte brennen, die Erde
wüster Schauplatz entmenschter Banden ist, die Künste verachtet sind, die Tugend
dem Laster gleichgilt:
Und in dieser Welt der Roheit,
Ohne Sinn für edles Streben,
Ist das Lebe» wert des Lebens?
Leicht möglich, daß die Dinge ein Ende nehmen, wie es der vortreffliche Joseph
in seiner Vision schaut. Aber dem pessimistischen Idealismus, der in diesen Ge¬
dichten so wunderlich nach Ausdruck ringt, darf dann ein guter Teil dieses Endes
aufs Kerbholz gesetzt werden.
er den Vorgängen des Parteilebens auch nur einige Aufmerksam¬
keit schenkt, wird leicht erkennen, daß sich die deutsch-soziale oder
antisemitische Partei schon seit geraumer Zeit in aufstrebender
Richtung bewegt. Schon die letzten Reichstagswahlen ergaben
für sie einen nicht unbedeutenden Stimmenzuwachs, und seitdem
ist sie um den verschiedensten Orten mit unzweifelhaftem Erfolg in den Partei¬
kampf getreten. Während sich in den Lagern der übrigen Parteien, die Svzicil-
demokratie nicht ausgeschlossen, eine gewisse Ermattung zeigte, schössen aller¬
orten antisemitische oder deutsch-soziale Wahlvereine wie Pilze ans dem Boden,
hielten Versammlung auf Versammlung ab und begannen unter beständig zu¬
nehmender Beteiligung namentlich des Handwerkerstandes und der untern
Beamten den Kampf nach zwei Richtungen, gegen die „goldne" und gegen die
„rote Internationale," wie sie ihre Feinde bezeichneten. Selbst da, wo man
den Antisemitismus bisher nur dem Namen nach gekannt hatte, wie in Ham¬
burg, trat er urplötzlich auf, und auch hier schien — nach dem über alles
Erwarten zahlreichen Besuche der antisemitischen Volksversammlungen zu
schließen — in weiten Kreisen des bürgerlichen Mittelstandes der Boden für
ihn bereitet gewesen zu sein.
Das Verhalten der übrigen bürgerlichen Parteien war gegenüber der
neuen Bewegung fast überall dasselbe. Zunächst wurde behauptet, daß gerade
hier, wegen der und der Verhältnisse, wegen des Verhaltens der Judenschaft
gerade dieses Ortes, das zu irgend welchen Beschwerden keinen Anlaß gebe,
für den Antisemitismus sich keinerlei Aussicht auf Erfolg biete, dann, wenn
die Erfolge der Partei sichtbar wurden, begann die Methode des Totschweigens
in der Presse, und schließlich mußte mau sich beschämt eingestehen, daß man sich
geirrt, und daß auch hier die „schmachvolle" Bewegung Eingang gefunden habe.
Wir haben nie zu denen gehört, die dem Antisemitismus oder, wie wir
ihn lieber nennen, der deutsch-sozialen Bewegung jede Bedeutung und jede
Berechtigung abgesprochen haben; wir haben es immer für eine der beklagens¬
wertesten Thatsachen gehalten, daß der weitaus größte Teil der deutschen Presse,
statt die Ursachen dieser Bewegung aufzusuchen, sie verstehen zu lernen
und dadurch ein objektives Urteil über sie zu gewinnen, sie von vornherein
bedingungslos verdammt und von ihr nichts weiteres zu sagen gewußt hat,
als daß sie eine Schmach für Deutschland sei.
Noch immer hat es sich sowohl im Leben des Einzelnen wie im Leben
der Völker aufs schwerste gerächt, wenn man die Thatsachen, statt sie zu be¬
greifen, nur beklagte, und wenn man den alten Weisheitsspruch aller Geschichte
und aller Politik außer acht ließ: rsruin eoMOsosrö eMW. Nicht darum
handelt es sich in der Politik, zu sagen, ob eine Bewegung, die die Volks-
massen ergreift, revolutionär, verwerflich, kulturfeindlich, schmachvoll sei, oder
wie sonst die Beiwörter heißen mögen, mit denen man die antisemitische Be¬
wegung bezeichnet hat, sondern nur das steht in Frage, ob die Bewegung
eine innere Berechtigung habe, ob Mißstände bestehen, denen sie ihren Ursprung
verdankt, und die beseitigt werden müssen, wenn die Bewegung nicht eine Ge¬
fahr für die Gesamtheit werden soll. Nur eine derartige Betrachtungsweise
führt zu fruchtbringenden Ergebnissen, macht uns zu Herren der Bewegung
und verhindert, daß sie sich in das uferlose Meer eines gefährlichen und plan¬
losen Radikalismus verliert.
Was für die Sozialdemokratie gilt, das gilt auch in Bezug auf die Be¬
handlung ihres feindlichen Bruders, des auf demselben Nährboden der Unzu¬
friedenheit entstandenen Antisemitismus; es wäre nichts gefährlicher ihnen
gegenüber als eine Politik des Zornes und der Übeln Laune. Während man
hoch über der Bewegung zu stehen meinte und sie durch ein strenges Straf¬
gericht moralisch vernichtet zu haben wähnte, hatte man in Wahrheit ihrer
Einseitigkeit die eigne, ihren Vorurteilen die eignen entgegengestellt, den Zorn
und die üble Laune auf der andern Seite vermehrt, die trennenden Schranken
erhöht, die Möglichkeit einer Verständigung in die Ferne gerückt und so das
Seine dazu gethan, daß der unheilvolle Ausgang auch wirklich einträte, den
man als unvermeidlich darzustellen bestrebt ist.
Es ist die höchste Zeit, daß diese Politik des wüsten und planlosen Drein-
schlagcns endlich verlassen werde, und namentlich ist es die Aufgabe der wahr¬
haft kouservcitivcu und staatserhaltenden Partei, sie zu verlassen.
Fürst Vismarck hat kürzlich in einer inhaltreichen Ansprache, die er vor
einer Deputation des Kieler konservativen Vereins hielt, darauf hingewiesen,
daß der Konservativismus keineswegs gleichbedeutend sei mit einer ruheseligen
Erhaltung alles Bestehenden. Der Konservativismus wolle nur das wahrhaft
Lebendige und Lebensfähige erhalten, und um dies zu erhalten, könne er auch
unter Umstünden radikal fein. So sei die Gründung des deutschen Reiches,
trotz der radikalen Beseitigung vieles Bestehenden, eine wahrhaft konservative
That gewesen, die angeknüpft habe an lebendig fortwirkende Kräfte der Ver¬
gangenheit.
Wir fürchten, daß die heutige konservative Partei, angekränkelt von jener
unseligen Idee des Zusammenschlusses aller staatserhaltenden Elemente, wie
sie es ist, dieser Bedeutung des Konservativismus allzu wenig Rechnung trägt,
und daß sie deshalb den richtigen Standpunkt gegenüber der deutsch-sozialen
Bewegung noch immer nicht hat gewinnen können.
Welcher Quelle entspringt denn diese jugendlich ungestüme Bewegung?
Ist sie eine Ausgeburt religiöser Unduldsamkeit, wilden Rassenhasses oder
verwerflichen Neides? Wir leugnen nicht, daß alle diese Dinge einwirken,
und wir verkennen es nicht, daß eine wilde, aus der Tiefe hervorbrechende
Bewegung wie diese des Abstoßende,, gar manches enthält, daß viel Schmutz
vou ihr aufgewühlt wird, daß sie unklar in ihren Zielen, demagogisch in
ihren Mitteln ist, und daß sie mit ihrem tobenden Gebahren in dem denkbar
schärfsten Gegensatze zu der vornehmen Ruhe des heutigen Konservativismus
steht. Aber das alles darf uns doch nicht hindern, anzuerkennen, daß sie in
Wirklichkeit nichts andres als eine jugendliche Abart des Konservativismus ist,
die, wenn man ihr innerstes Wesen richtig erkennte, wohl geeignet wäre, dem
alternden Körper der konservativen Partei neues Blut und neue Kraft zuzu¬
führen, während diese, sich selbst überlassen, an ihrer Einseitigkeit und Plan¬
losigkeit zu Grunde gehen muß, nachdem sie, wie wir fürchten, dem konserva¬
tiven Gedanken und der Gesamtheit großen Schaden zugefügt hat.
Vou diesem Standpunkte aus halten wir es geradezu für verhängnisvoll,
daß die leitenden Kreise der konservativen Partei gegenüber der deutsch-sozialen
Bewegung noch immer mürrisch abseits stehen und in der wohlwollenden Teil¬
nahme, die die Blätter der äußersten Rechten der Bewegung schenken, nichts
weiter sehen, als eine Gefährdung der konservativen Partei. „Es ist uns
ein Rätsel gewesen," schreibt das Konservative Wochenblatt über die Kasseler
Wahl und den dortigen Erfolg des Antisemitismus, „wie man von der Arbeit,
die publizistische Hauptorgane der konservativen Partei in den letzten Jahren
leisteten, eine andre Frucht hat erwarten können als die, die jetzt in ihren
Anfängen vorliegt, wie man sie als eine Arbeit zur Befestigung, Vertiefung
und gesunden Weiterentwicklung unsrer alten konservativen Grundgedanken hat
auffassen können und nicht vielmehr als eine Arbeit zu ihrer Zerrüttung, zur
Veränderung des Wesens der konservativen Partei und zur Hinnberspielnng
ihrer Leitung in die Hände neuer und ungeeigneter Elemente, die ihr Lehren
und Methoden einimpfen, an denen die konservative Eigenart stirbt, und die,
um es kurz, wenn auch schroff zu sagen, sie proletarisiren." Sehr richtig!
Das wird die unausbleibliche Folge sein; aber sie wird es nur dann sein,
wenn man fortfährt, die Warnung zu mißachten, die in dem Anwachsen der
deutsch-sozialen Bestrebungen liegt, wenn man sich darauf beschränkt, sie zu
verdammen, und es unterläßt, ihren Ursachen nachzuspüren und sich zu fragen,
ob man nicht selbst die Mißstände zum guten Teil verschuldet habe, die man
so bitter beklagt.
Wenn man sich diese Fragen vorlegte und, statt in sittliche Entrüstung
zu geraten, Einkehr bei sich selbst hielte, so würde es auch nicht so schwer
sein, die richtige Antwort zu finden. Man bedenke: die Kerntruppen der
konservativen Partei, der Bauernstand, die Handwerker und die kleinen Beamten
verlassen das Lager und wenden sich in Massen der extremen Bewegung zu,
von der niemand weiß, wohin sie geht. Ist plötzlich in diesen nüchternen
und ruhigen Bevölkerungsklassen, ans denen wesentlich die physische und sitt¬
liche Stärke unsers Volkes beruht, eine völlige und unbegreifliche Sinnes¬
änderung eingetreten? Haben einige publizistische Hauptorgane der konservativen
Partei durch gute Dienste, die sie der deutsch-sozialen Bewegung geleistet haben,
diese wunderbare Sinnesänderung in Bevölkerungsschichten, die sonst neuen
und fremden Einflüssen so unzugänglich sind, innerhalb weniger Jahre herbei¬
führen können? Diese Fragen brauchen nur gestellt zu werden, um sie zu
.verneinen. Der deutsche Bauer, der Handwerker und der Beamte ist noch
genau so konservativ, wie er es von jeher gewesen ist. Er hängt treu an
seinem Glauben, seinem Vaterlande und der Monarchie, und er ist keineswegs
ein neueruugssüchtiger Proletarier geworden. Aber er ist nicht mehr konser¬
vativ in dem Sinne der „konservativen Eigenart," die ihr letztes und einziges
Ziel in der ruheseligen Erhaltung alles Bestehenden erkennt, im Sinne jenes
Konservativismus, der mit dem Kartell anfängt, mit dem Zusammenschluß
aller nichtsozialdemokratischen Elemente fortfährt und mit der Vernichtung
der konservativen Bestrebungen endet.
Die soziale Not pocht lauter und lauter an die Thüren des bürgerlichen
Mittelstandes, und von Jahr zu Jahr mehrt sich die Gefahr, daß die besten
Kräfte unsers Volkes proletarisirt, daß die Bevölkerungsklassen, die in der
Mitte stehen zwischen dem Großkapital und der kapitallosen Arbeiterbevölkerung,
erdrückt werden, und der versöhnende Übergang zwischen den reichern und
ürmern Teilen des Volkes einem unvermittelter Gegensatze zwischen Arm und
Reich mit all seinen Gefahren und all seiner Ungerechtigkeit Platz mache.
Dies zu verhindern, den bürgerlichen Mittelstand vor Überflutung zu
schützen und mit ihm die wahrhaft lebendigen Kräfte unsers Volkes — sei es
auch durch radikale Maßregeln — zu erhalten, das ist die Aufgabe einer
wahrhaft staatserhaltenden, das ist konservativen Partei, und dieser Aufgabe
gegenüber sollte alles andre zurücktreten.
Daß dies von der Parteileitung genügend berücksichtigt werde, muß be¬
zweifelt werden. Geschähe es, und beachtete man die Klagen des Mittelstandes
etwas mehr, nähme mau sich ihrer auch mir in demselben Maße um, wie
man die Interessen des Großgrundbesitzes versieht, und löste man vor allem
das unnatürliche und gänzlich unfruchtbare Bündnis mit den weiter links
stehenden Parteien, das jede Initiative lahmt und die Partei aus der schwäch¬
lichen Verteidigungsstellung gar nicht herauskommen läßt, dann wäre der
Unterwühluug der konservativen Partei ein Ziel gesetzt und dem Antisemitismus
der Boden abgegrabeu. Mit fliegenden Fahnen würden dann die Kerntruppen
des Konservativismus, ohne die er hoffnungslos dahinschwinden muß, in die
verjüngte Partei zurückkehren, die sie mir verlassen haben, weil man ihren
lauter und lauter werdende,: Klagen nicht Rechnung trägt, und der Anti¬
semitismus, der grimme Aufschrei ihrer Unzufriedenheit würde von selbst
verstummen.
Nur an der konservativen Partei liegt es, ob dieser Ausgang eintreten
soll oder nicht. Bon ihren Thaten und Unterlassungen wird es abhängen,
ob die wilde deutsch-soziale Bewegung mit ihrer urwüchsigen Kraft, in geordnete
Bahnen geleitet, Segen stiften, oder ob sie nichts andres bringen wird, als
die Zerstörung. Die konservative Partei wird sich zu entschließen haben, ob
sie die breiten Schichten des Mittelstandes der drohenden Vernichtung entziehen
will, ob sie seine Klagen mehr als bisher zu den ihren machen will oder nicht.
Sie wird damit zugleich über ihr eignes Schicksal entscheiden. Denn sie wird
dann sozialreformatorisch, ja bis zu einem gewissen Grade sozial-radikal sein
müssen, oder — sie wird überhaupt zu sein aufhören.
cum der Staat unter die zu schützenden Ncchtsgüter auch die
Ehre aufgenommen hat, so meint er nicht Ehre im Sinne von
innerm Wert der Persönlichkeit oder Bewußtsein dieses innern
Wertes. Dieses Bewußtsein, nächst dem Frieden mit Gott viel¬
leicht das köstlichste aller Güter, bedarf keines Schutzes. Es ist,
außer durch den Trüger der Ehre selbst, schlechthin unverletzlich. Gemeine ist
vielmehr der Anspruch auf Anerkennung des eignen Wertes durch Dritte im
Verkehr der Staatsbürger uuter einander. Beleidigung im weitesten Sinne
ist Verletzung dieses Anspruches. Er gebührt jedem Gliede der menschlichen
Gesellschaft eben kraft seiner Zugehörigkeit zu den Ebenbildern Gottes. Selbst
der Unwürdigste besitzt und behält einen Nest dieses allgemeinen Menschen¬
wertes und deshalb ein gewisses niedrigstes Maß von Achtnngswürdigkeit.
„Ganz Bestie kann er nicht werden, wenigstens will es das Recht nicht glauben."
Selbst den nichtswürdigsten Schurken, sowie deu Blödsinnigen zu bespeien wäre
Beleidigung. Aber auch nach oben ist eine Grenze gezogen, über die hinaus
niemand, und hätte er selbst die höchste mögliche Stufe menschlicher Voll¬
kommenheit erreicht, geachtet, geehrt zu werden beanspruchen darf. So billigt
unser heute „ganz demokratisch gewordnes Ehrenrecht" dem Kriegshelden und
dem Staatsmann, der das Vaterland gerettet, dem Weisen, der die Mensch¬
heit geadelt hat, dem Künstler von Gottes Gnaden keinen höhern Anspruch
auf äußere Ehren zu, als dem dunkeln Ehrenmann. Erst innerhalb dieser
untern und dieser obern Grenzlinie beeinflußt das Maß des innern Wertes
der einzelnen Persönlichkeit das Maß der ihr zukommenden äußern Anerkennung.
Der persönliche Ehrenanspruch geht also dahin, „im Verkehr nicht als schlechter
behandelt zu werden, als man sich bewährt hat, nicht eigentlich nach dem Maß
seiner Ehre, sondern nach dem seiner Freiheit von Unehre behandelt zu werden."
Es giebt mithin „kein Recht auf Dissimulation der Unehre; wer dem Be¬
lasteten wahrheitsgetreu seine Unehrenhaftigkeit vorrückt, behandelt ihn genau
nach Wert, und mehr kann niemand heischen." Nur eins verlangt nicht un¬
billig das Gesetz: der formell beleidigende soll sein Recht auf Mißachtung
des Gegners, d. h. einen entsprechenden Mangel an dessen innerm Werte be¬
weisen. Um etwas andres als den Wert der freien sittlichen Persönlichkeit
aber kann es sich beim Ehrbegriff und folglich auch bei der Frage der Be¬
leidigung überhaupt nicht handeln. Äußere Vorzüge und natürliche Gaben,
wie Schönheit, Verstand, Genie, haben mit dem sittlichen Werte nichts zu
schaffen. Das Absprechen dieser Vorzüge und Gaben kann niemals Beleidigung
sein, wie ihr Mangel niemals Unehre ist. Das sicherste Maß, das an den
sittlichen Wert des Vermehrter gelegt werden kann, ist die Prüfung, wie er
sich zur Erfüllung der ihm obliegenden Pflichten gestellt habe. Den Umfang
dieser Pflichten bestimmt für jedermann ohne Unterschied das Sittengesetz.
Insoweit daneben gewissen Ständen und Berufsarten gewisse besondre Pflichten
auferlegt sind, verunehrt sich der Angehörige solchen Standes oder Berufes
auch durch Nichterfüllung dieser besondern Pflichten. Nur in diesem Sinne
kann wie von Standespflichten, so auch von Standesehre und Verletzung der
Standesehre durch ihre Träger selbst oder durch Dritte gesprochen werden.
Umgekehrt kann die Erfüllung, sei es allgemeiner Pflichten, sei es besondrer
Berufspflichten, niemals Unrecht erzeugen, somit auch, wenn sie sich zur Mi߬
achtung Dritter genötigt sieht oder genötigt glaubt, niemals zur Beleidigung
werden.
Es ist das Verdienst Vindings, *) dem wir in vorstehendem, wenn auch
bei weitem nicht erschöpfend gefolgt sind, diese grundlegenden Begriffe neuer¬
dings geklärt und festgestellt zu haben. Seinen geistvollen Ausführungen wäre
überall, wo Sinn für Ehre herrscht, namentlich aber in den zur Mitwirkung
an der Strafrechtspflege berufenen Kreisen die weiteste Verbreitung zu wünschen.
Denn es ist nur zu wahr, wenn Binding über „die hochbedauerliche Straf¬
sucht des modernen Staates" und darüber klagt, daß „leider auch unsre Recht¬
sprechung in hohem Maße unter der ungesunden Verfälschung der Begriffe
von Ehre und Beleidigung krankt."
Eine der wertvollsten Errungenschaften des heutigen Strafrechts ist die
strenge Unterscheidung zwischen dem sogenannten objektiven und dem subjek¬
tiven Thatbestande des Verbrechens. Das heißt: ehe ein Angeklagter schuldig
gesprochen werden darf, muß zweierlei gegen ihn bewiesen sein. Erstens, daß
er die That, die das Gesetz als eine strafbare Handlung bezeichnet, mit allen
im Gesetz angegebenen Merkmalen dieser Strafbarkeit begangen habe. Zweitens,
daß auch sein Wille auf Begehung der That in dem ganzen Umfange ihrer
Strafbarkeit gerichtet gewesen sei. Das ist regelmäßig der Fall, wenn er die
einzelnen Merkmale der That erkannt und doch die That gewollt hat. Fehlt
diese Erkenntnis, so ist der Wille, strafbar zu handeln und damit die strafbare
Verschuldung ausgeschlossen. So gehört zum Vergehen der Sachbeschädigung,
daß jemand vorsätzlich und rechtswidrig eine fremde Sache beschädigt oder zer¬
stört. Das Gewehr, das er auf den Hund des Nachbars abdrückt, muß ge¬
laden sein, wenn das Vergehen soll vollendet werden können. Es ist nur
Versuch der Sachbeschädigung, wenn das nicht der Fall ist. Hat er den Hund
wirklich erschossen, wird aber bewiesen, daß er sich zur Tötung für berechtigt
gehalten hatte, weil er ihn, wenn auch irrig, auf seinem Jagdgebiet revierend
glaubte, so ist er freizusprechen, weil ihm das (subjektive) Bewußtsein vou der
(objektiven) Rechtswidrigkeit seiner That fehlte.
Wenden wir diese Sätze auf das vom Gesetz freilich uicht näher definirte
Vergehen der Beleidigung an. Darnach muß, ehe auch uur von der Möglich¬
keit einer Beleidigung gesprochen werden kann, vor allen Dingen feststehen,
daß der gegen die Ehre des Nächsten gerichtete Angriff auch wirklich geeignet
gewesen sei, dessen Ehre zu treffen. Um bei unserm Bilde zu bleiben: das
auf die fremde Ehre abgedrückte Gewehr muß auch wirklich mit Unehre geladen
gewesen fein. Sonst handelt es sich nur um den Versuch der Beleidigung, und
dieser ist nach dem Gesetze straflos. Dieser Mangel kann auch durch die ge¬
hässigste Feindseligkeit des Beleidigungswillens nicht ersetzt werden, selbst wenn
dieser Wille auf der Gegenseite erkannt und empfunden wird. Ebenso wenig,
wie Sachbeschädigung vorliegt, wenn die Dogge des Nachbars im Feuer des
blinden Schusses zusammenbräche, weil sie sich getroffen glaubte.
Es scheint daher mindestens irreführend, wenn nicht geradezu ein Rück¬
schritt, wenn der oberste Gerichtshofs) die Sätze aufstellt: „Innerhalb des
Begriffes der Beleidigung hat die Unterscheidung zwischen objektivem und sub¬
jektivem Thatbestände überhaupt nur eine bedingte Berechtigung und beschränkten
Raum. Der Regel nach entscheidet in erster Reihe Sinn und Absicht (!) des
Sprechenden, ob gewisse Worte den Thatbestand einer Beleidigung objektiv (!)
einschließen oder nicht." Dies würde, auf unser Beispiel der Sachbeschädigung
angewendet, auf dasselbe hinauslaufen, als wenn in erster Reihe das Zielen
auf den fremden Hund entschiede, darauf aber, ob das Gewehr auch geladen
gewesen sei, nur bedingt oder beschränkt etwas ankäme. Eine ähnliche Auf¬
fassung hat, wie Vinding mit Recht hervorhebt, schon im Leben zu einer ma߬
losen Ausdehnung des Beleidigungsbegriffes geführt. „Kann die Beleidigung
Kränkung sein, so dreht die reizbare subjektive Empfindlichkeit den Satz um
und stempelt alles, was ihr weh thut, und noch übertreibender alles, was ihr
nach dem Vorurteil der Genoffen weh thun sollte, zur Beleidigung." Es hieße
„ein besondres Heilverfahren für verletzte Gefühle, eine Art Gefühlsklinik"
einführen, wenn die Rechtsprechung dem nachgeben wollte. Die Heilung würde
überdies unvollständig sein. Es müßten denn auch Gefühlskrünkungen und
Pietätsverletzungcn schwerster Art, die aber mit der Ehre des Angegriffenen
schlechterdings nichts zu thun haben, für Beleidigungen erklärt werden. Wer
würde aber z. B. den Patriotenkaspar, weil er dem Hofschnlzen das Schwert
Caroli Magni versteckt und ihn damit bis ins innerste Herz verwundet, wegen
Beleidigung strafen wollen?
Nein, auch bei den Thaten der Zunge und der Feder, vor allen bei der
Beleidigung muß erst einmal feststehen, daß durch das Geschehene der An¬
spruch des Dritten auf Anerkennung seines persönlichen Wertes nach dem
Maße dieses Wertes auch wirklich beeiutrüchtigt werden konnte und beein¬
trächtigt worden ist, ehe weiter untersucht wird, ob solche Beeinträchtigung
auch im Willen des Angeklagten gelegen hat.
Nichtbeleidigungen, blinde Schliffe, find die gegen natürliche Gaben und
Vorzüge oder Mängel des Nächsten gerichteten Angriffe, da sie seinen sittlichen
Wert und seine hiernach allein sich bemessende Ehre ganz außer dem Spiel
lassen. Zu jemand ins Gesicht zu sagen: „Gnädiges Fräulein schielen und
haben einen Buckel!" oder: „Sie beschränkter Herr!" oder: „Sie unbedeu¬
tender Maler, Dichter, Sänger!" würde zwar, auch wenn alles wahr wäre, sehr
unhöflich, des Mannes von Ehre sehr unwürdig sein, beleidigend wäre es nicht.
Auch die meisten politischen, konfessionellen und ähnliche Kollektivbezeichnungcn
wird man hierher zu zählen haben. Zwar will es der zunehmenden Verbitte¬
rung unsers öffentlichen Lebens fast gelingen, schon in den Namen der Gegen¬
partei den Inbegriff des Verabscheuuugswttrdigen hineinzulegen. Man beob¬
achte die spitzfindigen Beweisführungen in den Leitartikeln der Pnrteipresse,
die Danaidenarbeit, in das löchrige Faß der gegnerischen Programme immer
neue Schändlichkeiten hineinzugießen, die Beflissenheit, sittliche Verschlungen
einzelner Privaten auf das Schuldkouto der Partei oder Gemeinschaft zu
schreiben, der sie angehören. Der unbefangne Leser wird aus alledem doch
nur das widerwillige Eingeständnis Heranslesen, daß die Art der wirtschaft¬
lichen, politischen, religiösen Gesinnung, die Zugehörigkeit selbst zur extremsten
Richtung, so lange diese nicht bloß den Deckmantel für sittlich verwerfliche
Bestrebungen bildet, den sittlichen Wert der einzelnen Persönlichkeit ganz un¬
berührt läßt. Es sollte daher nicht ernstlich in Frage kommen dürfen, ob im
Verkehr der gewöhnlichen, d. h. der nicht in einem besondern Pflichteilkreise
stehenden Staatsbürger Äußerungen wie: „Der X ist Sozialdemokrat," „der
Z ist Atheist" oder Postkartenaufschriften wie: „An den Juden Cohn, Mühlen¬
damm 2" überhaupt Beleidigungen sein können. Die Gerechtigkeit würde denn
doch wohl erfordern, auch den „Genossen" A mit Strafe zu belegen, der den
Genossen B, um ihn recht tief in seiner Sozialistenehre zu treffen, einen
„Bourgeois" genannt hat. Denn darüber ist, denk unsrer gegenseitigen poli¬
tischen Gehässigkeit, kein Zweifel, daß dieses Epitheton dem waschechter Sozial¬
demokraten mindestens ebenso entwürdigend vorkommt, wie dem „Ordnungs-
scmatiker" die Bezeichnung als Sozialdemokrat. So verlangt auch das Gesetz
selbst bei der durch Behaupten oder Verbreiter von Thatsachen begangenen
Beleidigung, der sogenannten leichtfertig Übeln Nachrede oder der eigentlichen
Verleumdung, daß die Thatsachen „geeignet sein müssen, den andern verächtlich
zu machen oder in der öffentlichen Meinung herabzuwürdigen." Selbstver¬
ständlich ist hiermit nicht die öffentliche Meinung gemeint, die heute Hosianna!
und morgen Kreuzige ihn! ruft, sondern eine feststehendere Größe, eine öffent¬
liche Meinung in tkssi, die wiederum nichts andres zur Richtschnur nehmen
kann, als das ewige, wenn auch nach Zeit, Raum oder Nation (ländlich,
sittlich) einem gewissen Wandel unterworfene Sittengesetz. Zu den Priestern
dieses Gesetzes bestellt, gilt auch von den Gerichten: Der Menschheit Würde
ist in eure Hand gegeben — bewahret sie! Hebt doch das Recht selbst den
Richter damit über das Recht, wo es im Konflikt mit der Sitte steht. Wer
Kor X fälschlich behauptet, er habe wegen einer erlittenen schweren Beleidigung
an seinen Gegner eine Herausforderung zum Zweikampf erlassen, somit nach
dem Gesetz eine strafbare Handlung begangen (§ 201). wird kaum ein Schuldig
M befürchten haben. Noch weniger kann daher der Richter zum Hüter oder
Diener von Standesanschauuugen und Vorurteilen werden, die er mit dem
Sittengesetz nicht im Einklang findet. Die falsche Behauptung, der Börsen¬
baron von Jtzig oder der Korpsstudent von Prudelwitz sei von Berlin nach
Breslau dritter Klasse gefahren, mag beide in ihren Kreisen aufs äußerste
verächtlich machen, den Richter wird sie kalt lassen. Umgekehrt wird er den
Verleumder, der im Kreise neidisch aufhorchender Wüstlinge von A erzählt,
ihm sei es gelungen, die keusche Primadonna N zu verführen, nicht mit der
noch so glaubwürdigen Verteidigung hören, er habe dem A damit nur ein
Kompliment sagen wollen.
Gerade die Prüfung des objektiven Thatbestandes der Beleidigung hat
von jeher als eine der interessantesten, aber auch schwierigsten juristischen Auf¬
gaben gegolten. Gehört doch zu ihrer Lösung nicht bloß Sinn für wahre
Ehre, sondern auch Vertrautheit mit den Gesetzen der Sprachwissenschaft, ja
selbst mit der dialektischen Entwicklung und ein feines Ohr für alle Eigen¬
tümlichkeiten, gewissermaßen für die Dynamik der Sprache. Denn in der
großen Masse der Fälle wird es sich allerdings, wie auch das Reichsgericht
hervorhebt, „um zweideutige oder vieldeutige Ausdrücke und gewisse Rede¬
wendungen handeln, die je nach Interpunktion oder Betonung oder syntak¬
tischer Verbindung entweder einen vollkommen unverfänglichen oder einen
ehrenrühriger Charakter zunehmen können." Nur ist es ein Widerspruch,
wenn es unmittelbar darauf mit einer Lieblingswendung des neuern oberst¬
richterlichen Kurialstils als „verfehlt" bezeichnet wird, „den an sich gar nicht
vorhandenen objektiven Wert solcher Sprachformen aufsuchen zu Wollen und
sodann erst den subjektiven Thatbestand zu erörtern." Denn einer Vorprüfung,
ob denn das zur Anklage gestellte Wort überhaupt zu jenen zwei- oder viel¬
deutigen Ausdrücken gehöre, oder ob es nur eine einzige und zwar schlechter¬
dings nicht beleidigende Bedeutung habe, soll sich der Richter doch wohl nicht
entziehen dürfen. Man müßte denn leugnen, daß die Sprache überhaupt
ehrende oder auch nur neutrale Ausdrücke besitze und den Satz aufstellen
wollen, daß jedes gesprochene oder geschriebene Wort beleidigen könne.
Sache des Kulturhistorikers und Sprachsorschers ist es, zu verfolgen,
wie viele heute als schlechthin beleidigend geltende Wörter erst allmählich
diesen Sinn gewonnen haben (schlecht, niederträchtig), wie andre noch heute
mitten in dieser Entwicklung stehen (Kerl, gemein im Sinne von unsittlich
oder gewöhnlich), welch feine Übergänge bis zur Beleidigung hinüber in den
Negativverbindungen enthalten sind (nicht günstig, ungünstig, abgünstig, mi߬
günstig gesinnt sein), welch merkwürdige Rolle endlich das Fremdwort in der
Beleidigung spielt. Ist es ein Zeichen zunehmender Verfeinerung des Ver¬
kehrs oder ein Beweis wachsender Raffinirtheit in der Kunst, andern wehe zu
thun, daß die alten hagebüchenen Kraftausdrücke unsrer ehrlichen Mutter¬
sprache französischen „Medisancen" mehr und mehr Platz machen? Wer denkt
nicht an die Klage Aureliens in Wilhelm Meister: „Was er in seiner Mutter-
spräche zu sagen errötete, konnte er nun mit gutem Gewissen hinschreiben.
Zu Reservationen, Halbheiten und Lügen ist es eine treffliche Sprache: sie ist
eine perfide Sprache! ich finde, Gott sei Dank! kein deutsches Wort, um
perfid in seinem ganzen Umfange auszudrücken." Dann wieder die sonder¬
baren Wandlungen, die ein echt beleidigendes Fremdwort zu einer Lobes¬
erhebung umgestaltet haben. Der „famose Kerl" ist aus dem Iioirio tamosus,
dem berüchtigten Abenteurer, ein reizender, liebenswürdiger Gesellschafter ge¬
worden. Wie komisch endlich, wenn das Fremdwort vom Sprechenden gar
nicht oder mißverstanden wird, sei es, daß er mit der fremdländischen Be¬
schimpfung eine Artigkeit zu sagen glaubt („Oui bon^i-k! schreit der Bauers¬
mann, wie gut, wenn man Französisch kann"), sei es, daß er, um dem Gegner
recht gründlich seine Verachtung zu bezeigen, zu einem echten sxitustvQ orimus
seine Zuflucht nimmt, etwa ihn einen „Gentleman" nennt, weil ihm dabei
etwas von Schande vorschwebt.
Die größten Schwierigkeiten für die juristische Beurteilung Pflegen die
witzigen, spottenden, namentlich die ironischen Redewendungen zu bieten. Daß
sie an und für sich betrachtet keine Beleidigungen sind, gehört ja gerade zum
Wesen der Ironie, die durch den Gegensatz zwischen dem gesprochenen oder
geschriebenen lobenden Wort und dem damit verbundenen tadelnden Sinn
(oder umgekehrt) zu wirken sucht. Und doch vermag auch hier die beleidigende
Absicht allein nicht, die Beleidigung zu stände zu bringen. So kann
der Spötter zu vorsichtig gewesen und deshalb überhaupt uicht verstanden
worden sein. Es muß deshalb ein zweites hinzukommen, wodurch dem Hörer
oder Leser die ironische Bedeutung erkennbar gemacht wird. Bei dem ge¬
sprochenen Wort bietet die unendliche Mannigfaltigkeit des Mienenspiels, der
Augen- und Geberdensprache, des Tonfalles hierzu das geeignete Mittel. Der
schreibende Ironiker wird stärker auftragen oder durch den sonstigen Inhalt,
den Zusammenhang zu wirken suchen müssen. Seine feinsten Karten kann er
erst ausspielen, wenn er des Einverständnisses mit dem Leser bereits sicher ist.
Dieser geistige Rapport kann zwar von Anfang an gegeben sein, so z. B.
zwischen dem Kladderadatsch und seineu Lesern. Findet sich doch der ernste
Dichter des Titelblattes gewöhnlich veranlaßt, ein ?g,v6w UnZms, oarming,
non priu8 auclitg. canto vorauszuschicken. Aber meist besteht gerade darin die
Kunst des Redners oder Schriftstellers, sein Publikum erst allmählich zum
Verständnis seiner Ironie hinüberzuleiten. Für immer unerreichbar bleibt,
wie Antonius den Bürgern an Cäsars Leiche fein: „Denn Brutus ist ein
ehrenwerter Mann, das sind sie alle, alle ehrenwert" in kunstvollster Steige¬
rung deutlich zu machen weiß. Es ist gewiß, daß die Ironie in der Hand
des Meisters, je feiner gebildet, je reizbarer der Gegner ist, die wirksamste
und schärfste Waffe bildet. Ist sie erkennbar gegen seinen sittlichen Wert ge¬
richtet, so ist sie Beleidigung, deren Schwere freilich erst gewogen werden kann,
wenn an Stelle des ironischen Wortes oder Satzes aus dem Zusammenhange
oder den Umständen der eigentliche, aber nur versteckt angedeutete Sinn er¬
mittelt worden ist. Dabei geschieht jedoch dem ironischen Beleidiger nicht
selten dadurch Unrecht, daß der scheinbar ehrende Ausdruck durch die ganze
Stufenleiter der denkbaren gegensätzlichen Bezeichnungen hinunter gleich in den
Ausdruck äußerster Unehre verkehrt wird. Im ironischen Sinne ist nicht not¬
wendig Held Memme, Ehrenmann Schurke, „dies Kind, kein Engel ist
so rein" — „du bist nun einmal eine Hur." Um gerecht zu sein, wird man
sich meist genügen lassen dürfen, nur die Verneinung als den wahren Sinn fest¬
zustellen, also Held ----- nicht mutig, nicht tapfer, Ehrenmann ----- nicht ehren¬
haft, rein ------ nicht rein, nicht keusch zu setzen. Immerhin bewegt sich auch
diese Prüfung noch streng auf dem Gebiete des objektiven Thatbestandes, wie
auch die als Ausleguugsmittel besonders wichtigen, vom Gesetz selbst erwähnten
„Umstände" durchaus zu den äußern Begriffsmerkmalen der Beleidigung
gehören.
Sind diese richtig erkannt, so bietet die Prüfung der subjektiven Seite,
des Beleidiguugswillens, des äolus (die Seeschlange der Jurisprudenz genannt)
wissenschaftlich keine, thatsächlich um so größere Schwierigkeiten. Die Auf¬
gabe des modernen Richters, in der Seele des Angeklagten und zwar nach
ihrer Verfassung zur Zeit der That zu lesen, ist um so verantwortlicher, als
das Gesetz heute alle die formalistischen Beweisregeln des alten Prozesses be¬
seitigt und den Richter einfach angewiesen hat, über das Ergebnis der Beweis¬
aufnahme nach seiner freien, aus dem Inbegriffe der Verhandlung geschöpften
Überzeugung zu entscheiden.
Zwar wenn es sich um die zoologischen oder die der leblosen Natur ent¬
lehnten Kraftausdrücke der Gasse handelt, wird die Frage, ob der Sprechende
deren ehrenrühriger Sinn erkannt habe, meist leicht zu bejahen sein. Auch
geschieht ihm regelmäßig mit der Annahme nicht Unrecht, daß er das Schimpf¬
wort in der Bedeutung, die jedermann damit verbindet, also mit dem Vorsatz,
seinen Widerpart dadurch zu verunehren, gebraucht habe. Und doch dienen
auch solche Kraftcmsdrücke in der Sprache des gewöhnlichen Lebens oft nur
zur Würze der Rede, ja geradezu, namentlich im Diminutiv, der „Koseform,"
als Liebkosungen. Der Sprechende darf häufig überzeugt sein, daß sie auch
vom Hörer gar uicht anders verstanden werden. Dies geht, gleich den Mode¬
flüchen und Modebeteueruugen, manchmal bis ziemlich hoch in die gebildeten
Kreise hinauf, wie ja etwas Stallgeruch auch zum vornehmsten Modeparfüm
gehört. Dann liegen vielleicht sehr ungebührliche Vertraulichkeiten, aber keine
Beleidigungen vor. In dem weiten Bereiche der doppelsinnigen und mehr¬
deutigen Ausdrücke oder auf dem Grenzgebiete zwischen den ehrenrühriger und
den bloß unangenehmen, nicht gern gehörten Thatsachen wird der verständige
Richter die alten und doch niemals veraltenden Beweisregeln: quilibet
xrav8Uinitur bcinus, clon<z<z xrodswr evntrÄriuin und: in cludio pro rso nicht
vergessen. 5!ostet es doch manchmal im kühlen Beratnngszimmer lange Über¬
legung und Versöhnung vieler Meinungsverschiedenheiten, ehe man sich über
die objektiv beleidigende Beschaffenheit jener Ausdrücke und Thatsachen ge¬
einigt hat. Der Veleidiguugsbeklagte wird dagegen fast immer in der Leiden¬
schaft des Zornes, des Hasses und andrer das klare Urteil verwirrender Em¬
pfindungen geredet oder geschrieben haben. Wie gern wird ihm oft geglaubt
werden dürfen, wenn er sich verteidigt: er habe den Gegner zwar kränken wollen,
ihm aber nicht an die Ehre gewollt. Liest man die Sammlung der Ent-
scheidungen des Reichsgerichts, so kann man sich des Eindrucks uicht erwehren,
als seien die Beweisgründe der Untergeriehte für Bejahung der sogenannten
Dolnsfrage nicht immer stichhaltig. Es hat zuweilen einen bedauernden Bei¬
klang, wenn sich der oberste Gerichtshof an diese „einen Rechtsirrtum nicht
erkennen lassenden, mit der Revision nicht angreifbaren" Feststellungen über
alles das für gebunden erklärt, was sich der Angeklagte bei der That gedacht
oder eventuell gedacht oder nicht gedacht habe. Es ist ein alter weiser Rat,
der eignen Entscheidung immer dann zu mißtrauen, wenn man sie nicht besser
als mit den Worten: „offenbar" oder „zweifellos" wollte der Angeklagte u.s. w.
begründen kann. Denn darüber besteht Einverständnis, daß der deutsche
Richter, Schöffe und Geschworene sich nicht an der sogenannten eonvieUon
instmvtivo der französischen Jury genügen lassen, sondern nur der eonviotion
lÄsonnvö, der Überzeugung, die sich auch über ihre Gründe Rechenschaft zu
gebe» weiß, solgen darf. Für diese Rechenschaftslegung bleibt freilich wenig
Zeit, wenn ein „schneidiger" Vorsitzender an einem Sitzungstage zehn Straf¬
sachen mit fünfzehn Angeklagten und dreißig Zeugen herunterarbeitet. Denkt
man daran, was für diese Angeklagten auf dem Spiele steht, so will uns
das heute verspottete Bild des alten Kreisrichters in Frack und Vater¬
mördern, der vor lauter Bedenklichkeiten kaum das Urteil zu finden vermochte,
doch sehr viel ehrwürdiger und sympathischer erscheinen. Die Verantwortung
fällt zugleich auf die Justizverwaltungen und die Landesvertretungen zurück,
wenn durch allzu kärgliche Besetzung die Gerichte, um nicht in den
Geschäften zu ersticken, zu diesem beschleunigten Tempo gezwungen werden.
Es ist behauptet worden, auch das Sozialistengesetz und die daraus ent¬
sprungenen zahlreichen politischen Prozesse des letzten Jahrzehntes hätten die
deutschen Richter unmerklich geneigter gemacht, die strafbare Willensbeschaffen¬
heit gewisser Angeklagten als bewiesen anzunehmen. Für die erste Zeit nach
den Attentaten, wo heißer Schmerz und heiliger Zorn das ganze deutsche
Volk, die deutschen Richter nicht ausgeschlossen, durchzitterten, mag dies zu¬
getroffen haben. Immerhin blieben die politischen Bestrebungen eines stets
wachsenden Teiles unsers Volkes offiziell, durch das Gesetz selbst, als „den
Umsturz der bestehenden Staats- oder Gesellschaftsordnung bezweckend" ge-
kennzeichnet. Wie viele gebildete, wohlmeinende und sonst gerecht denkende
Männer setzen aber nicht auch heute uoch diesen Zweck bei jedem voraus, der
auch nur einen sozialdemokratischen Stimmzettel zur Urne getragen hat?
Binding macht darauf aufmerksam, wie verkehrt es sei, wenn das Straf¬
gesetz die Majestüts- und die sogenannte Amtsbeleidigung unter den dürftigen
Gesichtspunkt des Privatverbrechens stellt und zugleich den Begriff der echten
Beleidigung tief erschüttert. Ganz abgesehen von dem Ehrbesitz, der sich nach
der Art der Herrschafts- und der Amtsführung (Dienstehre) bestimmt, komme
dem Herrscher und seinen Beamten ein Anspruch auf Nespcktserweisung zu,
der allein in der Herrscherstelluug des Königs und in der Thatsache, daß
Beamte und Offiziere seine Statthalter sind, wurzelt. Ju der That kann es
theoretisch als ein Mangel des deutschen Strafrechts bezeichnet werden, daß
die eigentliche Amtsehre der Behörden, von den Befugnissen der sogenannten
Sitzungspolizei abgesehen, schutzlos gelassen und nur der Angriff gegen die
Dienstehre mit Strafe bedroht ist. Gleichwohl ist ein praktisches Bedürfnis,
auch die bloßen zu eigentlichen Beleidigungen uoch nicht vorgeschrittenen
Nespektswidrigkeiten gegen Behörden und Beamte ganz allgemein für kriminell
strafbar zu erklären, kaum anzuerkennen. Erführt doch der Begriff der Beamten¬
beleidigung schon von selbst dadurch eine wesentliche Ausdehnung, daß den
Beamten eben kraft des Amtes eine Reihe besondrer Pflichten auferlegt ist,
und daß, wie schon besprochen wurde, der ungerechte Vorwurf der Vernach¬
lässigung einer dieser Pflichten sie verunehrt, beleidigt. Das Ansehen der
deutschen Behörden und Beamten, erworben durch treue Pflichterfüllung, ge¬
festigt durch die auch als Sittengebot empfundene Achtung vor der Obrigkeit,
„die Gewalt über euch hat," steht in der weit überwiegenden Mehrheit unsers
Volkes gottlob noch fest genug, um des Schutzes uoch schärferer Straf¬
bestimmungen entbehren zu können. Ja es fragt sich, ob es auch nur politisch
klug sei, jeder mit genauer Not unter die HZ 185 ff. des Strafgesetzbuches unter¬
zubringenden Beleidigung mit amtlichen Strafanträgen entgegenzutreten. Eine
juristisch allenfalls gerechtfertigte, dem allgemeinen Rechtsgefühl aber nicht
verständliche Verurteilung mag zehn Schlechtgesinnte schrecken und zwanzig
Gegnern behagen, dafür wird sie, vollends wenn sie einen politischen Hinter¬
grund hat, leicht in hundert Gutgesinnten den Unwillen erregen, den der
Verdacht der Gesinnungsverfolgung wachruft. Solange ein Staatswesen noch
im Kerne gesund ist, will uns von den beiden berühmten Methoden: auto-
graphirte Strafanträge vorrätig zu halten oder die Schmähschriften tiefer hängen
zu lassen, die letztere als die bessere erscheinen. Binding zitirt nach Vincenzo
Monti: „Die Injurien machen es wie die Kirchenprozessionen, die stets dahin zurück¬
kehren, von wo sie ausgegangen sind." So läßt sich z. V. gerade in unsern Tagen
beobachten, wie sich die antisemitische Bewegung durch maßlose Ehrverletzungen
die Sympathien ihrer wohlwollendsten Freunde zu verscherzen im Begriff steht.
Auch Binding klagt: „Unser ganzes Ehrenleben ist durchwühlt von dem
großen Gegensatze der Anschauungen in Sitte und Recht darüber, was Ehre
ist und Ehre fordert. Glücklich die Zeiten, worin diese Mächte über die Ehre
eines Sinnes sind." Worin besteht wohl der Zwiespalt? Die Gruud-
nnschauuugen, wie sie diesen Betrachtungen vorangestellt wurden, sind, indem
man die Denkweise ruhiger gereifter Männer von Ehre Hort, nicht wesentlich
andre. Namentlich sind Urteile über rein äußerliche Mängel oder UnVoll¬
kommenheiten oder reine Gefühlskrünkungen auch uach dem strengen Ehrenkodex
an sich keine Beleidigungen. Die Wege beginnen sich erst zu scheiden, indem
an Stelle des für das Recht allein maßgebenden sittlichen Wertes der Persönlich¬
keit ihr gesellschaftlicher Wert gesetzt wird. Diesen nimmt die Sitte — darin
weit unehrlicher, heuchlerischer als das Recht — selbst dann noch als vor¬
handen an, wenn der sittliche Wert längst zerstört und nur noch die Zugehörig¬
keit zur guten Gesellschaft, die „Satisfaktionsfähigkeit" übrig geblieben ist.
So gebietet mir die Sitte, dem notorischen Ehebrecher, dem gewohnheitsmäßigen,
aber allezeit pistolenbereiten Ehrabschneider, dem noch nicht entlarvten Falsch¬
spieler in der Gesellschaft mit einem gewissen Grade von Achtung zu begegnen.
Ich muß seiue Verbeugung erwidern, seinen Hnndedrnck mir gefallen lassen,
seine Anrede, wenn ich mir nicht den Anschein geben kann, sie überhört zu
haben, beantworten. Das Recht läßt mich zum Wahrheitsbeweise, die Sitte
nicht, indem sie — die Sitte! — über so unbedeutende Unsittlichkeiten wie
einen Ehebruch leicht hinweggeht, oder sie verweigert mir doch, wo sie nicht
organisirte Ehrengerichte besitzt, das Forum, vor dem ich deu Beweis auch der
gesellschaftlichen UnWürdigkeit meines Gegners führen könnte, und zwingt mich
dadurch, mich der Pistole des Abenteurers, des Hochstaplers zu stellen. Man
sieht, daß auf diesem, vielleicht dem düstersten Gebiete des gesellschaftlichen
Lebens, nnr von einer Läuterung und Veredlung der Sitte selbst Wandel
erwartet werden kann. Ihre schönste und eigentlichste Kulturaufgabe erfüllt
die Sitte in der Hochhaltung dessen, „was sich ziemt." Dem Recht sind bloße
Unziemlichkeiten, UnHöflichkeiten, Verstöße gegen die gute Lebensart gleichgiltig.
Die Sitte ist häufig geneigt, sie zu Beleidigungen zu stempeln, namentlich
wenn sie gegen edle Frauen, die bestellten Hüterinnen eben dieser Sitte, be¬
gangen sind. Sie einfach hinzunehmen wäre in jedem Falle tadelnswert.
Dennoch läßt sich auch die Sitte meist an einer Zurückweisung genügen, die
sich je nach der Schwere des Verstoßes von dem leichten Tone des Scherzes
bis zum beredten Schweigen und zur scharfen Rüge steigern kann. Ernsterer
Sühne, und deshalb auch des Rechtsschutzes, wird sie meist entbehren können.
Pflegt doch erst die zu weitgehende Form der Zurückweisung oder die schroffe
Gegenrede auf das Gebiet der eigentlichen Beleidigungen hinüberzuführen.
Wenn freilich die feindselige und zugleich gegen den sittlichen Wert des Gegners
gerichtete Absicht klar zu Tage liegt, ohne daß sie doch zum objektiv ehren-
rührigen Ausdruck gekommen ist, wird die Sitte ihre eignen Wege gehen und
sich auf die juristischen Feinheiten des Versuches mit dem untauglichen Mittel
nicht einlassen. Man denke an geflissentlich fortgesetzte, vielleicht schon einmal
verbetene Unhöflichkeitc», ja selbst unterlassene Höflichkeitsliezeiguugeu. Darauf,
daß, wie schon der Begriff der Beleidigung, so auch der der UnHöflichkeit
bis zur Frivolität übertrieben werden kann, etwa von händelsüchtigen, der
feinen Lebensart meist sehr fern stehenden Raufbolden, gehen wir nicht
näher ein.
Immerhin wird die große Masse der eigentlichen Beleidigungen von
Recht und Sitte übereinstimmend beurteilt und verurteilt. Woher trotzdem die
Sehen, den Richter um Sühne einzugehen, sodaß es unter deu Gliedern der
sogenannten guten Gesellschaft fast für anstößig gilt, Klage zu erheben, statt
sich selbst Genugthuung zu verschaffen? Ich mag, so sagen die einen, dem
Richter die Entscheidung über mein Hab und Gut, meine Freiheit und
selbst mein Leben, nicht aber über meine Ehre anvertrauen. Ich mag nicht
Gefahr laufen, vor einen Richter zu kommen, der mit seinem ganzen Sittlich-
keits- und deshalb auch mit seinem''Ehrbegriff ans ganz anderm, vielleicht
uicht einmal auf nationalem Boden steht. Dieser Einwand hat schon längst
zu der Forderung geführt, daß im christlich-deutscheu Staate mir Christen
und Deutsche Trüger der obrigkeitlichen Gewalt sein sollen. Andre schrecken
vor dem Strafantrag zurück, weil sie nicht Denunzianten heißen wollen. Sie
haben zwar das Bedürfnis, ihre Ehre, ihren gute» Namen vor dem Richter
wieder hergestellt zu sehen, würden sich aber daran mich genügen lassen. Sei
es, daß sie ihren Beleidiger noch zu hoch achten, oder daß sie ihn zu tief
verachten, um über die Auferlegung einer Freiheits- oder Vermögensstrafe eine
besondre Befriedigung zu empfinden, oder auch, daß sie zur Erhabenheit des
christlichen Standpunktes: Bittet für die, so euch beleidigen und verfolgen,
hindurchgedrungen sind. Diesem oft gehörten edelmütigen Bedenken wäre ab¬
zuhelfen, wenn unser Strafverfahren, dessen Reform ohnedies gefordert wird,
für die Beleidigung eine Art Ehrenerklärung durch den Richter, ein gewisser¬
maßen nur aus Gründen bestehendes Urteil, je nach dem Antrage des Klägers
und an Stelle der öffentlichen Strafe zulassen wollte. Noch andre endlich
scheuen die Weitläufigkeiten des gerichtlichen Verfahrens und die Erörterungen
über die eigne Achtungswürdigkeit, der sich der Richter ja nicht entziehen darf,
wenn er den Angeklagten nicht in der Verteidigung beschränken soll. Um
keinen Preis aber wollen sie in öffentlicher Verhandlung und demnächst in
der Skandalpresfe Dinge breit getreten sehen, die nach dem strengen Gebote
der Sitte die allerdiskreteste Behandlung erheischen. Und in der That ist es
eine Ausartung des Grundsatzes von der Öffentlichkeit des Strafverfahrens,
wenn man die Parteien des Jnjurienprozesses, nußer denen kein Mensch, auch
der Staat nicht am Verfahren interessirt ist, zur öffentlichen Erörterung ihrer
Privatzwistigkeit zwingen will. Warum soll nicht auf Antrag des Privat¬
klägers und mit Zustimmung des Angeklagten, der meist sehr gern einverstanden
sein wird, die Öffentlichkeit ausgeschlossen und den sonst anwesenden Personell
Geheimhaltung zur Pflicht gemacht werden dürfen? Im übrigen ist dem
Beleidigten, der nur den Splitter in des Bruders Auge sieht, des Balkens
im eignen Auge aber uicht gewahr wird, nur dringend zu raten, still in seinein
Glashause wohnen zu bleiben.
Ob unser Volksleben, wie manche meinen, einer neuen genossenschaftlichen
Gliederung entgegengeht, und ob sich an diese auch eine besondre Ehrengerichts-
barkeit anschließen lassen wird, muß die künftige Entwicklung lehren. Die
ausgezeichneten Erfahrungen, die mit den Ehrengerichten des Offizierskorps
gegenüber eigner und fremder Verunehrung gemacht worden sind, sollten dazu
ermutigen, diese Einrichtung möglichst zu verallgemeinern. Inzwischen wäre
schon viel gewonnen, wenn bei der Wahl der staatlich bestellten Schiedsmänner
oder Friedensrichter das Augenmerk nicht bloß ans tüchtige und ehrenwerte»
sondern zugleich auch auf gesellschaftlich möglichst hochstehende Männer gerichtet
würde. Auch den Angehörigen der höhern Gesellschaftsklassen wäre damit ein
Vertrauensmann bezeichnet, dem sie sich gewöhnen könnten ihre Ehrenhändel
zur Entscheidung vorzulegen. Und so demokratisch, daß der um seine Ehre
bekümmerte Bürger sich nicht gern der Autorität eines alten erfahrnen Edel¬
mannes anvertraute, sind wir noch lange nicht.
Über den Zweikampf als Mittel zur Wiederherstellung der geschädigten Ehre
mag man denken, wie man will, und wir sind die letzten, die darüber spotten
wollten, er ist doch das Überbleibsel eines recht- und friedlosen Zeitalters,
das in unsern Tagen eigentlich überwunden sein sollte. Könnte die Sitte nur
erst erreiche», daß die Genugthuung mit der Waffe für gleichwertig erachtet
würde dem Spruch des staatlich oder ständisch bestellten Ehrenrichters, so wäre
schon dies ein gewaltiger Fortschritt. Denn mittelbar leistet gerade die Mei¬
nung, nur der Zweikampf biete das Mittel zur Erlangung standesgemäßer
Genugthuung, der vielbeklagteu Überspannung des Ehrbegriffes Vorschub.
Habe ich den schimpflichsten aller Vorwürfe, den der Feigheit, auch unausge¬
sprochen von achtungswerten Standesgenossen zu besorge», wenn ich zu einer
Unbill, einer Kränkung schweige, die gar keine Ehrenkränkung ist, oder eine
Herausforderung anzunehmen zögere, die auf eine schändliche Frivolität hinaus¬
läuft, wer will den Stab über mich brechen, wenn ich lieber mein Leben in
die Schanze schlage? Füllt jene Besorgnis weg, so ist von vornherein schon
einer ruhigern Prüfung der Boden geebnet. Es ist bezeichnend, daß in den
auf Satisfaktionsfühigkeit gar nicht Anspruch erhebenden Kreisen unsers ehren¬
fester Bürgerstandes bis herab zum sogenannten gemeinen Mann oft ein über¬
raschend sichres und gesundes Urteil in Ehrenangelegenheiten anzutreffen ist.
Ein Urteil, das mit dem der höchsten Gesellschaftsklassen, innerhalb deren der
Ehrbegriff seit Geschlechtern am reinsten überliefert und zugleich von Übertrei¬
bungen am freiesten gehalten worden ist, meist merkwürdig übereinstimmt.
Überwiegend sind es die breiten, dazwischen liegenden Schichten, auf die die auch
von Binding erhobene Klage zutrifft über „jene hysterische Reizbarkeit unsers
Ehrgefühls, die so leicht auch unsern Verstand bethört, des Deutschen ewige
Angst, seine Ehre könne ihm jeden Augenblick von jedem frivolen Gesellen ge¬
raubt werden, seine bebende Sorge, sie sei vielleicht schon durch das Nase¬
rümpfen oder das spöttische Wort eines Lassen in die Brüche gegangen."
Gelänge es nicht, den Zweikampf ganz zu beseitigen — wir denken dabei nicht
an die Kampfspiele der akademischen Jugend —, so würde er sich doch und
zwar als Kreuzen der blanken Waffe zwischen ernsten waffenfähigen Männern,
wie es allein alter deutscher Art entspricht, auf die schwersten Fälle beschränken
lassen.
Von wo soll der Sitte diese Hilfe kommeu? Die Augen des monarchi¬
schen deutschen Volkes sind auf seine Fürsten, vor allen auf seinen jungen
Kaiser gerichtet.
n jüngster Zeit ist von einem „Staatsmanne" in einem viel
beachteten Artikel des „Figaro" der Gedanke ausgeführt worden,
daß Frankreich von Rußland nichts zu erwarten habe und eine
Aussöhnung mit Deutschland anstreben sollte; diesem wird zu¬
gemutet, um diesen Preis Lothringen, das doch in einem von
Frankreich uns aufgedrungenen Kriege wiedererobert worden ist, reumütig
zurückzuerstatten. Der Gedanke ist nicht neu; ähnlichen Vorschlügen sind wir
in der französischen Presse seit Jahren begegnet, und in Lothringen giebt es
Politiker, die so fest davon überzeugt sind, daß auf solcher Grundlage irgend
einmal eine Verständigung zwischen Deutschland und Frankreich erzielt werden
könne, daß sie meinen, Lothringen müsse schon heute bei Wahlen u. s. w. seine
Haltung darnach einrichten und die Verschiedenheit vom Elsaß bei jeder Ge¬
legenheit darthun. Vielleicht liegt diesen Vorschlügen der Versuch zu Grunde,
der öffentlichen Meinung in Frankreich den Gedanken einer Abfindung mit
dem Gelübde der ,,Revanche" vertraut zu machen. Bemerkenswert ist dabei
besonders, daß dieser Vermittlungsvorschlag das „deutsche Elsaß" seinem Ge¬
schick überläßt, das „französische Lothringen" dagegen von dem unverdienten
Schicksale der Vereinigung mit Deutschland retten will; man greift also wieder
auf das Nationalitätsprinzip zurück.
Wir wollen von dem Werte oder Unwerte des Nationalitätsprinzips
hier ganz absehen; wir Deutschen haben ja das deutsche Elsaß nicht wegen der
Sprache und der Abstammung der Bevölkerung und das französische Lothringen
trotz der verschiednen Sprache der Einwohner mit dem deutschen Reiche zu
dem Zwecke wieder geeinigt, um unsre Grenze gegen Frankreich zu sichern.
Wenn aber auch Deutschland sich nicht durch Rücksichten auf das Nationalitäts¬
prinzip hat leiten lassen, so muß doch daraus hingewiesen werden, daß auch
Frankreich nicht in der Lage ist, unter Berufung auf das Nationalitätsprinzip
den Wunsch auszusprechen, Lothringen wieder zu erhalten. Die Sprache ist
ja überhaupt als Merkmal der Abstammung und der nationalen Zugehörigkeit
nicht schlechtweg anzuerkennen. Wo z. B. in Lothringen Patois gesprochen
wird, da haben wir es ohne Zweifel mit eingesessener oder eingewanderten
Galliern oder Romanen zu thun, keineswegs aber da, wo durch die Schule
französische Schriftsprache Verbreitung gefunden hat. Davon aber ganz ab¬
gesehen, erweckt in Frankreich das Wort „Lorraine" zunächst die Vorstellung
von einem ganz französischen, von Deutschland vergewaltigten Lande und da¬
neben die geschichtliche Erinnerung an das Sprachverwandte Herzogtum Loth¬
ringen, dessen Geschicke mit denen Frankreichs bald in freundlicher, bald in
feindlicher Weise unzertrennlich verknüpft waren. Was zunächst die Sprache,
wenn wir sie als Merkmal der Nationalität gelten lassen wollen, anlangt, so
gehören von den 754 Gemeinden von Lothringen 51 Prozent dem deutschen,
44 Prozent dem französischen und 5 Prozent dem gemischten Sprachgebiete
an, und wir können für das deutsche Sprachgebiet 56 Prozent der Fläche und
63 Prozent der Zivilbevölkerung in Anspruch nehmen. Mit den geschicht¬
lichen Erinnerungen an das Herzogtum Lothringen ist es aber noch kümmer¬
licher bestellt. Deutschland selbst war es, das die in Frankreich heute schon
zum Schlagworte gewordenen falschen Vorstellungen dadurch verschuldet hat,
daß es den Namen Lothringen einem Gebiete verliehen hat, das zu einem
bis 1648 zum Bistum Metz und zum deutschen Reiche, zum andern Teile
bis 1659 oder 1769 zum Herzogtum Luxemburg, bruchstückweise bis zum
Friedensschlüsse von Luneville (1801) zum oberrheinischen Kreise des deutschen
Reiches gehört hat. Diese Gebiete, zwei Drittel des jetzigen Bezirkes Lothringen
umfassend, haben niemals zum Herzogtum Lothringen gehört. Von dem hier¬
nach sich ergebenden Gebietsrest haben aber die alten Herzoge selbst das meiste
niemals zum eigentlichen Herzogtum gerechnet, sondern als Pays d'Allemagne
bezeichnet und gesondert verwaltet, weil es ehemals reichsunmittelbare, im
Laufe der Jahrhunderte von Lothringen erworbene Herrschaften oder After¬
lehen des Bistums Metz waren. Wenn also Frankreich eine Revision des
Frankfurter Friedens bezüglich Lothringens anregen wollte, so wäre Deutsch-
land in der unangenehmen Lage, zugestehen zu müssen, daß es bei der Wahl
dieses Namens für die angeeigneten Bruchstücke der Departements Meurthe
und Moselle ebenso oberflächlich verfahren sei, als Frankreich urteilen würde,
wenn es auf Grund dieser Namenswahl uns zumutete , uns die Sache noch
einmal zu überlegen. Diese irrigen Vorstellungen in Frankreich unterstützen
wir auch heute noch fortwährend durch die unverbesserliche sprachliche Nach¬
lässigkeit, mit der man besonders im Norden von „den Neichslanden," von
„Elsaß und Lothringen" spricht, gerade als ob zwei sprachlich und national
getrennte Gebiete in Frage stünden.
So müßig nun auch die Vorschläge des „Staatsmannes" des „Figaro"
sind, so ist doch die Ermäßigung der französischen Forderungen Deutschland
gegenüber eine bemerkenswerte Thatsache, der wir einen andern Vorgang an¬
reihen können, zum Beweise, daß auch auf wissenschaftlichem Gebiete die
Grundlagen für die französischen Überforderungen ernsthafter geprüft werden.
Dabei ist insbesondre zu beachten, daß die seit 1870 von deutscher Seite fest¬
gestellten Thatsachen bezüglich der Sprach Verhältnisse in Lothringen allmählich
auch in Frankreich Anerkennung finden. Wenn wir von den Leistungen poli¬
tischer Schriftsteller, die die Verhetzung zwischen den beiden Völkern Pflegen,
ganz absehen und uns nur daran erinnern, wie Männer der Wissenschaft,
Elys6e de Reclus, Sedillot, Legont, Gaidoz u. f. w., der letztgenannte z. B.
in den Abhandlungen: I-Sö Apo^raxuos Möinaiuls sei I'^IZkios oder Des tra-
vaux M«ZMWä8 sur 1s. Aev^raxdis ne8 lanZuos en ^Isaee ot W IlorraivL
(likvus xolititzuö, März 1872 und liövue ass ane8ti<)ii8 ni8tori<zu68, Juli
1874) über Nationalität und Sprache der Einwohner von Elsaß-Lothringen
ihre Landsleute belehrt haben, so können wir jetzt mit Genugthuung eine
Schrift erwähnen, die mit diesen unhaltbaren französischen Fabeln, wenn auch
mit anderweitigen Vorbehalten, aufräumt. Es konnte ja anch nicht anders
kommen. Seit Einführung der deutschen Amtssprache im Reichslande war
unausgesetzt vorhergesagt worden, daß sich mit unabweislicher Notwendigkeit
unerträgliche Zustände ausbilden würden, während heute im Landesausschusse
ohne Schwierigkeit deutsch verhandelt wird. Die Looiöts as AsoKraMe. 6s
>'L3t in Nancy hat sich den unleugbaren Thatsachen gegenüber zu Zugeständ¬
nissen bequemt. Im Jahrgange 1890 dieser Zeitschrift erschien eine Studie
von Ch. Pfister, die dann auch gesondert veröffentlicht worden ist: umido
av 1^ liMAUL üiinemss se as 1-i iWAue Ä.1l6iniMäv su ^iMLe-lM-rains. Der
Verfasser zählt zunächst die vor und nach 1870 erschienenen deutschen Arbeiten
über diesen Gegenstand auf. In Frankreich war vor 1870 mir eine Abhand¬
lung erschienen, die nichts weiter ist, als die fehlerhafte Übersetzung einer
deutscheu Arbeit, deren Verfasser zu nennen der französische Bearbeiter ver¬
gessen hatte. Einige nicht zu rechtfertigende Ungenauigkeiten in frühern deutschen
Arbeiten werden von H. Pfister etwas über Gebühr gerügt; doch erkannte er
gu, daß die an Ort und Stelle von H. or. Constant This in Straßburg er¬
mittelte Sprachscheide die richtige ist.*) Indem nun H. Pfister — nach eigner
Meinung oder Beobachtung ^ die trennende Linie feststellt, ist er da, wo er
das Richtige trifft, immer in Übereinstimmung mit Constant This, wo er
aber von This abweicht, bewegt er sich in begreiflichen Irrtümern; von
nennenswerter Bedeutung sind übrigens die Abweichungen überhaupt nicht.
Ein Umstand ist H. Pfister völlig entgangen, die Thatsache nämlich, daß die
Ermittlungen^ von This fast durchweg übereinstimmen mit den schon früher
veröffentlichten amtlichen Erhebungen und deren Nichtigkeit bestätigen; wo sich
aber Verschiedenheiten ergeben, da kommen die Feststellungen von This dem
deutschen Sprachgebiete zu gute. Bedeutend sind aber auch diese Abweichungen
nicht, die von This ermittelte Sprachgrenze wird mit unbedeutenden Aus¬
nahmen also von beiden Seiten anerkannt. Auf deu hinter den Ermittlungen
von This noch zurückstehender amtlichen dentschen Erhebungen beruht aber
das ganze bisherige Verhalten der deutschen Verwaltung bei Einführung der
deutschen Geschäftssprache; auf den von Pfister als richtig anerkannten Er¬
hebungen beruhen also die Maßnahmen, die von Frankreich als eine Ver¬
gewaltigung der frühern Landsleute, als eine Versündigung am Nationalitäts-
prinzip so oft verlästert worden sind.
Dem „Staatsmanne" des Figaro können wir daher, wenn er Franzose
sein sollte, das Zeugnis seines Landsmannes Pfister entgegenhalten, wonach
nur ein kleinerer Teil von Lothringen dem französischen Sprachgebiet ange¬
hört. Wie haben doch die Franzosen ihre Ansprüche auf deutsches Land vor
und nach 1370 so verschieden begründet! Napoleon III., der der Erfinder des
Nationalitätsprinzips war, durch das die Schöpfungen des Wiener Kongresses
zerstört werden sollten, hat Deutschland gegenüber von „natürlichen Grenzen"
und vom „richtigen Niveau der französischen Nationalität" gesprochen; denn
der Besitz von Elsaß und Deutsch-Lothringen, für welche Gebiete er 1869
Schonung der deutscheu Sprache in Schule und Kirche empfohlen hatte, wider¬
sprach ja dem Nationalitätsprinzip ebenso sehr, als die weitern Ansprüche
auf die Rheingrenze; die französische Republik beansprucht aber die Rückgabe
des eroberten Gebietes — auf Grund des Nationalitätsprinzips! Pfister muß
nun allerdings die Berufung auf die Sprache aufgeben — dafür leitet er
aber die französischen Ansprüche mit desto größerer Zähigkeit aus der Ab¬
stammung des Volkes zwischen Rhein und Mosel von keltischen Ureinwohnern
und von gallischem und romanischem Nachschübe ab. Die Einwanderung der
deutschen Franken und Alemannen wird zwar nicht geleugnet, aber es wird ihr
geringe Bedeutung beigemessen. Da Pfister die unhaltbaren Fabeln über die
Sprachverhältnisse in Lothringen nicht retten kann, so entschädigt er sich durch
Nachweise über den keltischen oder doch römischen Ursprung einer Reihe von
Ortsnamen, wobei er zu folgendem Schlüsse kommt: I,s Substratum, as 1a
Population iüsasisnnv si l'on ins psrinst oetto sxnression, S8t selticius; u, es
visnx hora so sont ajoutss ass I/illius et ciss 6srinains. II su ^ ses <Zs
lusus xour 1'onoing.8ticius; Iss moins kI1em»mal8 Sö sont suxsrvvsks aux moins
eslticinss; rü^is ils us Iss ont v^s IM sntisrsinsnt äisxara!ers. Was soll
nun aus solchen Ableitungen von Ortsnamen bewiesen werden? Wie oft werden
Namen im Mönchslatein des siebenten oder achten Jahrhunderts für volkstüm¬
liche Bezeichnungen gehalten, während doch die Mühsal und meist auch das
Mißgeschick bei dem Versuche, die Namen schriftgerecht für fremde Laute zu
machen, für jeden Unbefangenen unverkennbar sind. Wie weit dabei der Über¬
eifer irre leiten kann, das mag aus folgendem Beispiel abgenommen werden,
durch das H. Pfister beweisen will, daß Namen lateinischen Ursprungs sich
auch im deutschen Lothringen Sünden. In der Nähe von Se. Avold (Se. Nähert)
liegt ein Dorf, das man an Ort und Stelle Porselt, amtlich Porcelette nennt.
O'sse un äiininutik as xsroils, uns stMs ö, poivs. Pfister hat keine Ahnung
davon, daß dieses Dorf im Jahre 1621 nach Christi Geburt auf einer Wald¬
rodung durch Monseigneur Andro des Poreelets de Maillanne, Bischof von
Toul und Abt von Se. Avold, gegründet worden ist, und daß der Name des
Dorfes an diesen Wohlthäter erinnern sollte. Da kann es uns freilich nicht
mehr wundern, daß Straßburg als urrömischer Name für Frankreich in An¬
spruch genommen wird.
Pfister sagt, Deutschland sei seit 1870 bemüht, die französische Sprache
im Elsaß und in Deutschlothriugen auszurotten, und rühmt als Gegenstück zu
solchen Bestrebungen das großmütige Verhalten Frankreichs; Frankreich habe
zwei Jahrhunderte lang die deutsche Sprache sich selbst überlassen. Daß aber
Deutschland den etwa seit 1852 eingeleiteten und 1867 etwas ermäßigten
Versuchen, eine volkstümliche Sprache zu zerstören, ein Ende bereitet hat, und
daß Frankreich dem Volke eine fremde Sprache aufzwingen wollte, hat Pfister
vergessen. Die Schwäche oder Nachlässigkeit Frankreichs bestand nur darin,
daß zwar die französische Sprache als alleinige Amtssprache und schließlich
auch als Schulsprache eingeführt wurde, daß sich aber Frankreich aus andern
Gründen nie entschließen konnte, den Schulzwang einzuführen. Pfister tröstet
sich und seine Landsleute durch die Zuversicht, daß Elsaß und das deutsche
Lothringen den Meinungen von Ethnographen über die Bildung von Nationa¬
litäten entgegen den Beweis liefern werde, daß die Gemeinschaftlichkeit der
Sprache noch nicht eine Gemeinschaftlichkeit der Gefühle einschließe, und daß
alle Sympathien dieses Landes deutscher Sprache dem alten französischen
Vaterlande gälten. Jedermann wird diesen Wunsch des französischen Patrioten
deutschen Namens begreiflich finden. Wenn es aber den Franzosen gelungen
ist, die deutschsprechenden Elsässer und Lothringer zu deutschen Franzosen zu
machen, so dürfte das Unternehmen Deutschlands, die deutschredende Bevölke¬
rung wieder an das Reich heranzuziehen, weil aus günstigern sprachlichen
Bedingungen beruhend, noch leichter auszuführen sein. Warum soll es uns
aber nicht auch gelingen, die französisch sprechenden Lothringer, wenn wir ihre
häusliche Sprache sich selbst überlassen, zu französischen Deutschen zu machen?
Es hat eine Zeit gegeben, wo französische Deutsche dem Reiche eine Treue
und Anhänglichkeit bewahrten, die wir auch heute noch manchen Parteien im
Reiche als ein belehrendes Beispiel vorführen möchten.
Als 1344 König Karl VII. von Frankreich vor Metz zog und die Stadt
aufforderte, sich ihm als dem Nachfolger Gottfrieds von Bouillon zu unter¬
werfen, und als die nach Rauch beschiedner Gesandten der Stadt, die Ritter
Nikolas Loupe und Geoffroy Dex, am 27. September mit Messire Raboteau,
dem Präsidenten des Parlaments von Paris verhandelten, der den Metzern
uno souinission xurs et simxls arriel, da sprang Herr Nikolas Loupe zornig
auf und erklärte: U0U8 vous taigons g> sog-voir, pour se an noir av 1a vno,
<zu<z nous aimerion8 misux tour morir, «zu'it nous tust röproeniöZi, <zuo
N0U8 6U88irn.68 An6 lois rsno^ö 1a MMt KiKlb. So berichtet die Metzer
Chronik. Der deutsche Reichsadler war und blieb für die französischen Deut¬
schen in dem von Deutschland bald preisgegebenen Westreich ein Sinnbild der
Zusammengehörigkeit. Als 1626 der König von Frankreich, dessen Vorfahren
seit 1552 als Neichsvikare über die drei Bistümer herrschten, in Verdun eine
Citadelle zu bauen begann, um seine landesherrlichen Ansprüche offenkundig
darzustellen, da hatte der Bischof von Verdun, Herzog Franz von Lothringen,
den Mut, am 3. Januar 1627 den Kirchenbann gegen alle auszusprechen, die
an diesem Baue mitwirken würden. Die königlichen Beamten ließen darauf
den Reichsadler von den Stadtthoren abschlagen und aus dem Stadtsiegel
entfernen. Die Bürger von Verdun aber ließen es sich nicht nehmen, den
Reichsadler in feierlicher Prozession zu entfalten und durch die Straßen der
Stadt zu tragen. Als darauf die königlichen Beamten den Bürgern diese
Kundgebung wehren wollten, da ließ die Stadt durch den kaiserlichen Gesandten
am französischen Hofe Beschwerde erheben, und der König von Frankreich beeilte
sich, die Mißgriffe seiner Leute abzustellen.
Doch wir möchten Herrn Pfister nicht weiter ans dem Gebiete politischer
Erinnerungen oder Wünsche folgen; es kommt dabei doch nichts Rechtes heraus.
Lehrreicher dürfte ein geschichtlicher Rückblick auf die Wandlungen sein,
die die Sprach Verhältnisse in Lothringen im Mittelalter und in neuerer Zeit
erfahren haben, weil wir daraus eine Vorstellung über den wahrscheinlichen
Gang der Dinge in der Zukunft gewinnen können. So können wir uns auch
eher darüber unterrichten, ob Deutschland durch Festhaltung des französischen
Teiles von Lothringen wirklich in dem Zustande uubußfertiger Sündhaftigkeit
verharrt, als wenn wir, wie Herr Pfister, nach Gutdünken abwechselnd das
untere und dann wieder das obere Ende des Fernglases ans Ange setzen, um
die Vergangenheit zu erkunden.
In lateinischen Urkunden des elften Jahrhunderts aus Metz oder Lothringen,
und zwar aus dem heute französischen Sprachgebiete, begegnen wir unter den
nrknndenden Personen, Zeugen u. s. w., ebenso wie in Listen von Bischöfen
oder Adler, Mönchen oder Nonnen fast ausschließlich deutscheu Vornamen,
die der fränkischen Einwanderung angehören, wie ohne Zweifel auch die weiter
westlich in Frankreich vorkommenden deutschen Namen, die wir aber nicht
weiter in Betracht ziehen wollen, da wir uns auf das heutige Lothringen be¬
schränken. Man könnte geneigt sein, aus dieser Thatsache den Schluß zu
ziehen, daß das deutsche Sprachgebiet damals nicht nur Metz eingeschlossen,
sondern weit über die Mosel gereicht habe. Eine solche Annahme wird in
der That auch durch andre Umstände unterstützt. So war beim Konzil von
Moussou 995 von allen Bischöfen von Ober- und Niederlothringen nur der
von Verdun der französischen Sprache mächtig, und dieser mußte für seine
Amtsbruder bei deu Verhandlungen mit den französischen Bischöfe« das Wort
führen. So heißt es auch in der Chronik des Klosters Saint-Mihiel, Herzog
Dietrich von Oberlothringen (f 1024) habe zu seinen Verhandlungen mit
König Robert von Frankreich gewöhnlich den Abt Nantere wegen seiner
Kenntnis der französischen Sprache verwendet (cjucmiain novsrat sum in
rssxonsiZ g-outissiilium, et linAuae (^Ule-lo Kenncim xgritissimum). Jedenfalls
scheint damals die Auswahl unter den der französischen Sprache mächtigen
Großen sehr gering gewesen zu sein.
Wenn wir aber erfahre», daß um 1200 die bischöflichen Notare (Aeneas)
in Metz angewiesen wurden, von Deutschen, die des Romanischen unkundig
waren, urkundliche Erklärungen nur dann aufzunehmen, wenn sie des Deutschen
selbst mächtig waren, andernfalls aber einen der deutschen Sprache kundigen
zweiten Amen beizuziehen, und wenn wir ferner sehen, daß seit Anfang des
dreizehnten Jahrhunderts nicht etwa deutsche, sondern französische Urkunden
die lateinischen Urkunden zu verdrängen beginnen, so lassen sich solche That¬
sachen mit der vorerwähnten Annahme über Verbreitung des deutschen Sprach¬
gebietes umsoweniger in Einklang bringen, als aus der Zeit des zwölften
Jahrhunderts keinerlei Nachricht über eine Wanderbewegung von Westen nach
Osten, über einen Vorstoß französischen Volkes gegen den Rhein bekannt ist,
im Gegenteile gerade in jenem Zeitraume deutsche Herrengeschlechter, wie die
Salm, die Saarbrücken, Zweibrllcken, die Spanheim, die elsüssischen Landgrafen
von Werd im Mosellande festen Fuß gefaßt oder ältern Besitz ausgedehnt
haben. Die Verordnungen, die die Herzoge von Lothringen für ihre im fran¬
zösischen Sprachgebiete liegenden Stammlande über die Einsetzung von Herzog-
lichen Tabellionen neben den kaiserlichen oder geistlichen Notaren erlassen haben,
so Matthäus II. 1232, Ferry III. 1276, Ferry IV. 1316, Raoul 1342 u. s. w.
sind in französischer Sprache abgefaßt und enthalten keinerlei Bestimmung
darüber, wie mit Deutschen zu Urkunden sei. Wir können uns diese zum
Teil sich widersprechenden Erscheinungen nur so erklären, daß zur Zeit der
Erstarkung der deutschen Reichsgewalt nnter den sächsischen Kaisern die
deutschen Herrengeschlechter aus der Zeit der fränkischen Einwanderung noch
die Oberhand hatten oder wiedergewonnen hatten und daß die deutsche Sprache
neben der amtlichen lateinischen Urkuudensprache die herrschende, in Metz z.V.
durch eine ansehnliche deutsche Einwanderung vertretene Sprache der Großen
war, aber keineswegs die überwiegende Volkssprache. Die von der deutschen
Einwanderung bereits vorgefundene und weder damals ausgerottete noch etwa
erst später eingeführte romanische Volkssprache scheint sich aber um die Wende
des dreizehnten Jahrhunderts in dem Maße wieder Achtung und Geltung
verschafft zu haben, wie das Ansehen der eingewanderten großen Geschlechter
zurückging, und dieser Rückgang stand wohl in Zusammenhang mit dem Schwinden
der Macht des deutschen Reiches. Es wird heute nicht mehr möglich sein,
festzustellen, worauf dieser Umschwung zurückzuführen ist, ob auf Umwälzungen
im städtischen Regiments in Metz, auf den Einfluß welscher Bischöfe in Metz,
Toul und Verdun, auf den Einfluß der Klosterschulen, auf die nähern Be¬
ziehungen der Herzoge von Lothringen zu Frankreich oder überhaupt auf die
wachsende Bedeutung Frankreichs, die damals durch Landesangehörige in
Neapel und Sizilien, in Byzanz, in Morea und Achaja, in Cypern, Antiochien
und Jerusalem dem Volke und seinen Königen Ansehen verschaffte und so den
ersten Ansatz zur politischen Führung in Europa gewann, während die deutscheu
Könige, um die Weihe und die kirchliche Anerkennung als Nachfolger der
römischen Kaiser als erste Herren der Welt zu erhalten, sich mit den Gegnern
in Italien herumschlugen. So hat z. B. Deutschland für die Kreuzzüge sicher
nicht geringere Opfer gebracht als Frankreich, aber es hat keine Gründungen
im oströmischen Kaiserreiche hinterlassen. Es macht einen kläglichen Eindruck,
wenn man liest, daß im Peloponnes nur ein Deutscher unter Gottfried von
Villehardouin ein kleines Lehen erhielt; es war ein Graf Berchtold von Katzen-
ellenbogen. Von Dauer waren nun allerdings die französischen Gründungen
in Spanien, in Italien, in Byzanz u. s. w. auch nicht, aber in der Erinnerung
der Nachwelt blieben die (zi68w veä xsr ^r-meos haften, und wenn die Herzoge
von Achaja oder die Megaskyren von Athen in Streitfragen verwickelt waren,
so holten sie die Entscheidung am französischen Hofe in Paris ein. Die fran¬
zösischen Erfolge in den Kreuzzügen, der Aufenthalt der Päpste in Avignon u. s. w.
sind sicher nicht ohne Einfluß auf die katholische Geistlichkeit der Bistümer
an der Maas und an der Mosel geblieben. Damals wie heute war die
katholische Geistlichkeit die Trägerin internationaler Gedanken, und wie es in
früheren Jahrhunderten unter den Völkern als eine Auszeichnung galt, nach
fränkischem Rechte zu leben (nmAiüüvuin turn naditum mein- Muts«, ^rMvoruin
M löAidus), so verschaffte sich an der Sprachgrenze auch die französische
Sprache die Geltung, die der führenden Rolle des französischen Volkes und
seiner Könige entsprach. Dabei ist auch an das Monopol der Hochschule in
Paris und an deren Einfluß auf die Bildung der Geistlichkeit des Bistums
Metz zu denken, an den reichen Besitz im Lande, der französischen Klöstern,
wie der Abtei Se. Denis u. s. w. gehörte. Etwa um das Jahr 1050 klagte
der Abt Siegfried von Gorze bei Metz über das Überhandnehmen der leicht¬
fertigen französischen Trachten, und er ereifert sich über den Verfall vater¬
ländischen Wesens, über die Neuerungen, deren Einführung zur Zeit der
Ottonen und der Heinriche nicht würden geduldet worden sein. Um 1200
aber mochte das Volk an der Mosel die Erinnerung an jene Zeiten wohl
schon verloren haben und sich den geistigen Einflüssen des Nachbarvolkes, das
seine Sprache sprach, um so widerstandsloser hingeben.
Wir können kaum daran zweifeln, daß in Metz und Umgegend niemals
die deutsche Sprache die Volkssprache gewesen ist, und daß die deutsche Sprache
durch die immer mehr sich lockernden Beziehungen zum Reiche in Verfall ge-
rieth und nur dnrch eine lebhafte deutsche Einwanderung sich nebenbei erhalten
hat. Wenn z. V. Metz, wo schon am Beginn des dreizehnten Jahrhunderts
die französische Sprache die vorherrschende und die Amtssprache war, ursprüng¬
lich deutsch gewesen sein sollte, so müßten wir geradezu annehmen, daß eine
rein deutsche Bevölkerung unter deutscher Herrschaft aus Ehrfurcht für eine
benachbarte fremde Macht dessen Sprache angenommen habe, und warum sollte
damals diese Bewegung an der Nied und an der senke Halt gemacht haben,
da doch die Grenzen des Bistums Metz viel weiter nach Osten reichten? Die
Stadt Metz lag um 1200, wie von altersher, im französischen Sprachgebiete,
aber nahe der Sprachgrenze, und das Bistum umfaßte damals wie heute
romanisches und deutsches Volk.
sprachlich geschieden war das Volk, das den Bischöfen von Metz und
den Herzogen von Lothringen unterthänig war, von alten Zeiten her, aber
es war nicht doppelsprachig. Stadt und Bistum Metz hielten ihre Gerichts¬
tage in weltlichen oder geistlichen Händeln zwischen den Leuten des x^ys
rourng-w und des xg^s wclosciuö an der Sprachgrenze, auf der Brücke
in Luttingen, wenn Luxemburger, in Solgne, wenn Lothringer, auf der
Niedbrücke bei Kürzel, wenn die deutschen Westlicher beteiligt waren. So
müssen wir uns auch die Worte des Dichters Gulielmus erklären, der in
seiner „Philippide," worin er die Schlacht zwischen König Philipp August
von Frankreich und Kaiser Otto IV. bei Bouvines in Flandern (1214) besang,
die Lothringer dilinZugs nennt <Moitg,t ox iüig. I^MmrinAos xarts MinKuvs
Oux . . . (juos inter (ZMos ot I'outonieos sxvoioNi, M tooounäg, nmZis totius
udsi'ö xlödÄ). Eine gewisse Doppelsprachigkeit an der Sprachgrenze
entsteht wohl durch die Bedürfnisse des Verkehrs und des staatlichen Lebens,
und wenn die fremde Sprache Staatssprache ist, werden sich wohl auch die
gebildeteren Kreise aus dem Gebiete der Volkssprache die weitere Kenntnis
aneignen; auf weitere Kreise aber wird sich die Doppelsprachigkeit, besonders
in der seßhaften ackerbautreibenden Bevölkerung nie ausdehnen, wenn nicht
durch die Schule nachgeholfen wird. In dem gleichberechtigten, ohne Bevor¬
zugung sich abspielenden Wettstreite zwischen zwei Sprachen wird die leichter
zu erlernende Sprache den meisten Anhang werben, und die vereinzelten Ein¬
wanderer werden sich, wo uicht die Schule nachhilft, der Verwischung der
zweiten Geschlechtsfolge niemals entziehen können. Das sind die Erfahrungen,
die wir Deutschen seit 1870 im Lande gemacht haben; wir können daraus
Rückschlüsse auf die Vergangenheit ziehen.
Wenn wir die geschichtlichen und die aus dem Erlebten gewonnenen Er¬
fahrungen zusammenhalten, so werden wir uns bei Betrachtung des heutigen
Laufes der Sprachgrenze zwei Thatsachen erklären können: die trotz der für
die deutsche Sache ungünstig gelegenen Verhältnisse geringe Zurückschiebung
der deutschen Sprachgrenze und die scheinbare Launenhaftigkeit des Laufes der
scheidenden Linie. Bei solcher Betrachtung gewinnen wir auch den Trost, daß
wir thatsächlich weit geringere Verluste am deutschen Sprachgebiete erlitten
haben, als nach der Meinung jeuer Eiferer zugestanden und bedauert werden
müßten, die es für eine nationale Ehrensache halten, den Nachweis zu führen,
daß das von Deutschland 1870 eroberte Gebiet ursprünglich deutscher Zunge
gewesen sei.
Wo einheitliche Bevölkerung von alter Zeit her seßhaft war, wie am
Westabhange der Vogesen, von der Freigrafschaft Burgund herauf bis zum
Donon, da ist die französische Sprache die herrschende geblieben bis auf unsre
Tage; in einigen Thälern siedelte sich zwar deutsches Volk im fünfzehnten
und sechzehnten Jahrhundert auch in den westlichen Hängen und Thälern an,
aber es verwelschte gar bald, und nur noch einige unverkennbar mit Unge¬
schick mundgerecht gemachte Orts- und Flurbenennungen, einige Bezeichnungen
für die Wirtschaft in Haus, Stall und Feld erinnern an die Eindringlinge.
Am Ostabhange der Vogesen ließen sich ebenfalls etwa im siebzehnten Jahr¬
hundert französische Nachbarn, von den weltlichen und geistlichen Gebietsherrn
geworben und gelockt, als Holzhauer, Hüttenarbeiter, Meiler und Käser, als
Bergleute und Glasbläser nieder, deren Nachkommen heute noch französisch
sprechen. Teilweise war der Vermischung mit den deutschen Nachbarn wie im
Steinthale und im Leberthale die Verschiedenheit der religiösen Bekenntnisse
hinderlich; teilweise lagen andre für die Erhaltung der französischen Sprache
günstige herrschaftliche Verhältnisse vor. Von diesen Ausnahmen abgesehen,
ist die alte Sprachgrenze, der First der Vogesen, die Schneeschmelze, fast un-
Verändert geblieben. Nördlich vom Donon aber überfluteten Franken und
Chadem die Ausläufer der Vogesen, die keine natürliche Grenze mehr bildeten,
und drangen weiter nach Westen vor. Vom Donon bis gegen Mörchingen zu
ist aber eine auffallende Einbuchtung der Sprachgrenze gegen Osten, während
im weitern Zuge gegen Deutsch-Oth zu die Sprachscheide ohne Störungen
verläuft. Ju diesem Winkel, der nachweislich noch im siebzehnten Jahrhundert
von Deutschen bewohnt war, hatten die unausgesetzten Kriege, insbesondre
aber die durch die Truppen von Gallas eingeschleppte Pest eine völlige Ent¬
völkerung zur Folge gehabt. In einem Berichte aus jener Gegend von 1637
heißt es, die Leute seien im tollen Schrecken, Haus und Hof im Stiche lassend,
geflohen; ganze Dorffluren seien seit Jahren nicht mehr bestellt; Dörfer, die
sonst für kleine Städte galten, seien menschenleer. Ähnlich lauten aus spätern
Jahren die Berichte aus weit über hundert Dörfern. Wir erfahren darüber
Näheres aus einer 1660 zu Nancy erschienenen Schrift: DvxlorMäi I^ot-in,.-
rinAms swws ad iiliuuot, gnnis NöA'in. Aus dem Departementalarchive in
Nancy ist in neuerer Zeit über diese Verwüstung des Landes reichlicher Stoff
gesammelt worden durch den Archivar Henry Lepage in der Schrift: 1)6 ig.
ävpopnliMm as 1a Ix>rriüno.
Schon 1683 hatte Herzog Karl IV. von Lothringen versucht, Kolouen
aus dem lothringischen Vogesengebiete in die Umgegend von Dieuze zu bringen;
er wurde aber bald darauf durch Frankreich aus seinem Lande verjagt.
Ludwig XIV setzte diese Unternehmungen in nachdrücklicher und umfassender
Weise fort; 1680 wurden unter günstigen Bedingungen Ansiedler aus der
Picardie und dem Normandois besonders in der Umgegend von Dieuze, Albes¬
dorf und Lörchingen in die verlassenen Bauernhöfe eingewiesen. Wer zu
bestimmter Frist (31. Dezember 1682) einen Hof bestellt hatte, wurde als
Eigentümer anerkannt und hatte dem Vorgänger nur einen kleinen Bodenzins
zu zahlen (Beschluß des Staatsrates vom 25. Juli 1680). Um die Wende
des achtzehnten Jahrhunderts sind durch Herzog Leopold von Lothringen
Bauern aus dem Barois, der Champagne u. s. w. zur Wiederbevölkerung ge¬
worben worden. Von den Ausgewanderten kamen wenige zurück; für deren
Unterbringung in Frankreich war der heilige Vinzenz von Paula ungefähr in
ähnlicher Weise bemüht, wie heutzutage die Looiötö ä'^lLg,ve-I>0rrÄnc! mit
ihren zahlreichen Neben- und Untervereinen für die Optanten und Auswanderer
aus dem Reichslande thätig ist.*) Auch später oder aus andern Anlässen,
z. B. durch die fortgesetzten Rodungen besonders der bischöflichen Waldungen
zur Gewinnung von Holz für die Salinen oder infolge der Waldverwüstungen
durch die Domanialpüchter entstanden Neuansiedlungen in jener Gegend, so z. B.
die Dörfer Givrhcourt, Montdidier, Harpolin, Hazc des Allemands, und der
französische Sprachwinkel zwischen den Abhängen des Dvnon und Mörchiugen
ist also nicht durch eine allmähliche Einwirkung des Staatswesens oder von
Handel und Verkehr, sondern durch gewaltsame Vorgänge entstanden.
Es ist durchaus nötig, auf diese geschichtlichen Vorgänge hinzuweisen,
denn ein Blick auf die Sprachgrenze müßte znnüchst die Meinung hervorrufen,
als ob die Herzoge von Lothringen weit mehr und mit größerm Erfolge als
die Bischöfe, von Metz bemüht gewesen wären, die französische Sprache zu
verbreiten. Das Gegenteil war der Fall. Den Herzogen von Lothringen
hatte von jeher die Sprachverschiedenheit in ihren zerstückten und uuzusammeu-
hüngenden Gebieten geringen Kummer bereitet. In einer 1365 ausgestellten
Urkunde, worin Herzog Johann von Lothringen seine Muhme Margarethe
von Rappoltstein auszusteuern verspricht, heißt es zwar von einer früher ge-
trvffnen Vereinbarung: in littsra, in ^äioirmte, änoatus nostri, soiliest 6a.11ioo
WNMrixtA, und man könnte daraus schließen, daß damals schon im ganzen
Herzogtume Lothringen französisch gesprochen worden sei, während doch heute
noch der größte Teil des jetzt zum Reichslnudc gehörige» ehemals lothringi¬
schen Landes deutsch spricht. Auch dieser Fall, wie die vorerwähnten alten
Tabellionenordnungen, beweist, daß die Herzoge zwischen dem eigentlichen
Ouvbv as Ilvi'1'g.in« und ihrem Besitze im deutschen Westrich stets scharf
unterschieden. Letzterer war zwar teilweise altes Hausgut dieser aus dein
Elsaß stammenden Herrscher, so insbesondre der Besitz im Trierischen, bei
Busendorf, die Herrschaft Bieses u. s. w.; ihre zusammenhänge Hauptmacht war
aber das südlich und westlich gelegne Vaudemout, das Chaumontois, das
Saulnois und das später erworbene Herzogtum Bnr, den Besitz im Westrich
nannte man das xa^s ä'^IIeiNÄgne, die xrovinos8 iilleinlinäes, KaAuss us ig,
oonronno, und dieser Besitz wurde unter dem Namen LiülligM ä'^IIönniANö
selbst dann noch gesondert verwaltet, als für das ganze Herzogtum durch den
Nürnberger Vertrag (1542) eine vom Reichskammergericht unabhängige, mit
dem Kreise nur lose verbundne Stellung ähnlich der des Burgundischen Kreises
nach langen Verhandlungen auf deu Reichstage» erstritten worden war. Die
herzoglichen Statthalter in diesen Gebieten, die ballt^s ä'^llginsMö oder, wie
sie das Volk nannte, die „Dutschbelisfen" waren fast immer deutsche Edelleute;
so ernannten auch die Bischöfe von Metz zu Statthaltern ihres xg-^s tnclssaM
meist deutsche Lehensträger, und die Kenntnis beider Sprachen wird öfters
als Beweggrund hierzu bezeichnet. Im siebzehnten Jahrhundert wurde sogar
der Versuch gemacht, aus den deutschen Gebietsteilen des Herzogtums Lothringen
ein dem Reiche unmittelbar untergeordnes „Herzogtum Saarland" zu bilden,
das unter dem unmittelbaren Schutze des deutschen Reiches stehen sollte, wie
man auch in gleicher Absicht die Reichsfürstentümer Pfalzburg und Lixheim
schon früher gegründet hatte. Die Herzoge von Lothringen haben z. B. in
Saarburg, das sie doch schon 1472 erworben hatten, und wo man heute noch
deutsch spricht, oder in Dieuze, das sie seit 1291 besaßen, niemals die fran¬
zösische Sprache eingeführt; das geschah erst unter König Stanislaus. Beim
Bauernaufstände von 1525 stand dieses ganze Gebiet auf feiten des elscissischen
Bundes, und Dieuze, das mit der ganzen Umgebung infolge der schon er¬
wähnten Einwanderung heute ganz französisch ist, verwahrte sich im Jahre 1593
gegen Ernennung eines Pfarrers, der nicht deutsch sprach; Ende des siebzehnten
Jahrhunderts wurden amtliche Erlasse in Dieuze in beiden Sprachen ver¬
öffentlicht. Als Herzog Franz II. 1630 in Bockenheim (Saarunion) ein
Jesuitenkollegium gründete, hielt er es für nötig, das Mißtrauen der Bevölke¬
rung dadurch zu beschwichtigen, daß er die Absicht aussprach, es solle durch
diese Anstalt die deutsche Sprache gepflegt und verbreitet werden en tiivour
als lips snjst.8 allolliAuäs gui tont snviron 1e tiers ass daditantZ av Iivrrgäno.
Erst unter König Stanislaus Lesczinski wurde durch Verordnung vom
27. September 1748 sür ganz Lothringen einheitlich die französische Amts¬
sprache für die Verhandlungen und Urteile der Gerichte und für notarielle
Verbriefungen eingeführt; während noch durch Verordnung vom 10. Mai 1703
ein vereidigter Übersetzer für deutsche Schriftstücke an der <üour Louvsriüne und
der t>ng.imo-6 nes oonixtss in Nancy bestellt worden war. Noch zur Zeit der
Revolution wurde im ganzen deutschen Sprachgebiete deutsch oder in beiden
Sprachen verhandelt, und als die Nationalversammlung die Änderung der
alten Dorfimmen angeordnet hatte, die an die Feudalität oder den Aberglauben
erinnerten, da wurden urplötzlich aus uralten französischen Benennungen in
einer Reihe von Gemeinden wieder alte deutsche Ortsnamen hervorgeholt.
(Schluß folgt)
uf der grünen Ane deutscher Volksfeste ragen einzelne Blumen
durch Farbe, Gestalt und Größe merklich über die andern
empor. Das sind die Feste, deren Anmut, Eigenart und
Sinnigkeit die Aufmerksamkeit des Beobachters in besondern:
Maße fesselt, und deren Ruf deshalb auch über die Grenzen
der nächsten Umgebung hinausgeht. F. A. Neimann hat in seinem Buche über
„Deutsche Volksfeste im neunzehnten Jahrhundert" (Weimar, 1839) eine Reihe
solcher Feste beschrieben und sich damit um die Kenntnis der deutschen Volks¬
seele,ein Verdienst erworben. Er handelt darin auch von dem „Kirschfeste zu
Naumburg a. d. Saale," wohl dem berühmtesten aller deutschen Volksfeste.
Nicht nur im deutschen Sprachgebiete haben Zeitschriften wie Lohmeyers
„Deutsche Jugend" (1875), Kleinsteubers „Europa" (1881) und das „Daheim"
(1886) neuerdings durch besondre Aufsätze die Kunde von diesem Feste aufs
neue in den weitesten Kreisen des Volkes aufgefrischt, auch bis ins Ausland
ist sein Ruhm gedrungen, sodciß z. B. eines der größten Londoner Tages¬
blätter — es waren wohl die vsiil^ Asvs — im Sommer 1886 eine mehr¬
spaltige Abhandlung über IKs MuinvurZ' ovIsdriMon brachte, nachdem schon
elf Jahre früher die Pariser Zeitung I>e temps ihren Lesern von dem Kirsch¬
feste berichtet hatte, dessen Schauplatz sie freilich statt nach Naumburg irrtümlich
in das bekanntere Hamburg verlegte.
Nicht von Urbeginn an hat das Naumburger Kirschfest in diesem Ansehen
gestanden, lange Zeit ist es ein Fest gewesen wie viele andre auch, das ohne
weitergehende Ansprüche und ohne besonders charakteristische Eigenheiten nur
in dem engen Kreise der Stadt bekannt war und gefeiert wurde. Ja es war
früher nicht einmal ein allgemeines Volksfest, sondern nur ein Schulfest, und
zwar ausschließlich für die Schulen der innern Stadt, während die Volks¬
schüler der jetzt ganz mit der Stadt zusammengewachsenen Domfreiheit und
der Vorstädte erst seit 1816 zur Beteiligung zugelassen worden sind. Als
Festplatz dient gegenwärtig die „Vogelwiese,"*) die südöstlich unmittelbar an die
innere Stadt grenzt; vor Zeiten aber beging man die Feier auf dem südlich
etwas weiter vor der Stadt gelegenen bewaldeten Höhenzuge „Wetthoye,"
d. h. Naßhügel, den jetzt die Anlagen des Bürgergartens und weiter hinauf
das Buchholz bedecken. Die Erinnerung an diesen ursprünglichen Festplatz
hat sich darin erhalten, daß bis auf den heutigen Tag vor der Feier Laub
und grüne Zweige im Buchholze gebrochen und in der Stadt an die Knaben
verteilt werden, die damit geschmückt unter Trommelklang und dem Rufe
„Freiheit, beißa, Viktoria!" während der Festtage umherziehen. Auch spiele»
sich noch einzelne Teile des Festes auf dem Bürgergarden ab. In Bezug auf die
Zeit des Kirschfestes sind im Laufe der Jahrhunderte nur geringe Schwankungen
wahrnehmbar geworden. Ende Juli und Anfang August umschließen die
regelmäßige Kirschfestzcit, in vereinzelten Ausnahmefällen ist die Feier bis
frühestens Anfang Juli und spätestens Ende August verschoben worden. Die
Dauer des Festes beträgt vier Tage, von denen zwei den Knaben und zwei
den Mädchen gewidmet sind; dazwischen liegt ein Ruhetag. Am Montag
früh ziehen die mit Laub, Schärpen und Lanzenfühuchen geschmückten Knaben
pfeifend und trommelnd durch die Stadt, bald uach der Mittagsstunde aber mit
Musik in Begleitung der Lehrer nach der Stadtkirche (Se. Weuzelskirche).
Dort findet ein Festgottesdienst statt, und nach dessen Beendigung geht der
Zug weiter auf die Vogelwiese, die zur Feier des Festes schönstens hergerichtet
ist. In der Mitte des Platzes befindet sich ein Pavillon sür die Stadtkapelle,
deren Musik während der ganzen Festtage selten ruhen darf. Die beiden
Langseiten der Vogelwiese sind mit Zelten und Buden besetzt. Sie gehören
teils den behäbigen Bürgern und werden von diesen während der Festtage
zu Gastereien und Geselligkeiten benutzt, teils siud sie Eigentum von Konditoren
und Wirten und dienen zur Unterkunft und Erfrischung der Fremden und
auch der Stadtbewohner, die kein eignes Zelt haben. Die Referendare der
Naumburger Gerichte besitzen seit 1816 ihr besondres „Referendarienzelt." Ein
paar Karusselle und ein kleiner Naschmarkt schließen die Reihe. In der Mitte
des Platzes neben der Musik sind Räume für die Jugendspiele umhegt. Be¬
wirtet werden die Knaben mit Kirschen, sonstigem Obst und Gebäck meistens
schon des Morgens auf dem Vürgergarten. Auf der Vogelwiese schießen sie
mit Armbrüsten nach Adlern, Sternen u. s. w., wobei die besten Treffer mit
Preisen belohnt werden. Turuspiele, Gesang u. dergl. schließen sich an, abends
ist der Platz festlich erleuchtet, die Jugend zieht mit Papierlaternen umher,
und die Erwachsenen lustwandeln unter den Jungen oder vergnügen sich in
den Zelten oder dem angrenzenden Schützenhause. Der zweite Tag, Dienstag,
verläuft ähnlich wie der erste, doch ohne Gottesdienst und Auszug, und erhält
abends seinen Abschluß durch den Gesang eines Kirchenliedes. Am Mittwoch
ist Ruhetag, der Donnerstag und Freitag aber bringt das „Mädchenkirschfest,"
in dem mit geziemender Rücksicht auf das schöne Geschlecht der Höhepunkt
der Feier erblickt wird. Der Verlauf entspricht ganz den Festlichkeiten
der Knaben, nur daß der Morgenumzug wegfällt, statt der Armbrust der
Stechvogel eingesetzt wird, infolge der größern Kleiderpracht der Mädchen
der Festplatz ein farbenglänzenderes Bild darbietet und der Andrang von
Einheimischen und Fremden am stärksten ist. Es gewährt aber auch wirklich
einen lieblichen Anblick, die kleinen Mädchen in hellen, buntbeschleiften Klei¬
dern und mit farbigen Kränzchen auf den Köpfen dahinziehen oder sich fröh¬
lich tummeln zu sehen! Selbst die ärmsten Leute betrachten es als Ehrensache,
ihre Kinder bei diesem Feste aufs schönste herauszuputzen, und lieber wird das
letzte Bett ins Leihhaus getragen und acht Tage lang daheim gehungert, als
daß man sich beim Kirschfeste lumpen ließe.
Wesentliche Punkte der Feier dürften in der gegebenen Beschreibung kaum
fehlen. Zieht man den größern Glanz und Luxus*) unsrer Zeit davon ab,
denkt mein sich ferner die Beteiligung der Erwachsenen hinweg, die das frühere
Schulfest in ein Volksfest verwandelt hat, und berücksichtigt man endlich die
schon erwähnte Veränderung des Festplatzes, so kommt die einfache Gestalt
wieder zum Vorschein, in der sich in frühern Jahrhunderten das Fest abspielte.
Der Name „Kirschfest," der im Jahre 15'26 zum erstenmale mit dem
Feste verknüpft erscheint, siudet feine Erklärung in der Jahreszeit und in den
verteilten Obstspenden. Die alten, aber nicht lückenlos erhaltnen Ratskämmerei¬
rechnungen von Naumburg erwähnen das Fest unter verschiednen Namen bei
Negistriruug des jedesmaligen Zuschusses aus dem Stadtsäckel und bezeugen,
daß es viele Jahrhunderte hindurch von der Schuljugend gefeiert worden
ist. Manchmal heißt es in den Rechnungen schlechthin donvivwin oder mit
slawischer Bezeichnung „Quas" der Schüler, wiederholt auch ?ontansnm, d. h.
Brunnenfest. Dieser letzte Name in Verbindung mit dem Umstände, daß die
Feier vormals ans der Höhe des „Wetthvye" begangen wurde, dessen Quellen
bis zur Errichtung der neuen Wasserleitung im Jahre 1890 die ganze Stadt
mit Trinkwasser versorgt haben, dentet darauf hin, daß sich hier wohl ein
sehr altes religiöses Fest erhalten hat, wie denn auch jetzt noch Gottesdienst
und Kirchengesang zu Anfang und Ende der Feier nicht fehlen.
Bei den Völkern des Altertums sowohl wie des Mittelalters und der
Neuzeit begegnen wir Brunnen- und Quellenfesten zur Verehrung von Natur-
gottheiten oder Heiligen. Im germanischen Heidentum war Freia oder Hulda
(Holle) die Göttin der Quellen, Brunnen und Seen, an ihre Stelle trat mit
dem Christentum die Jungfrau Maria, deren Bild oder Namen viele Brunnen
tragen. Auch die Sorben, die vom sechsten bis zum neunten Jahrhundert im
Osterlande herrschten, scheinen ähnliche Feste gehabt zu haben. Es ist aber
nicht wahrscheinlich, daß das Naumburger Kirschfest in seinen Anfängen so¬
weit zurückreiche; ansprechender ist die Vermutung, es sei zum Andenken an
die erste Versorgung der im elften Jahrhundert entstandnen Stadt mit Quell¬
wasser gestiftet worden. Dann dürfte der Ursprung des Festes spätestens ans
Ende des dreizehnten Jahrhunderts zu setzen sein, denn schon im vierzehnten
waren Naumburgs Vorstädte entwickelt und standen mit der eigentlichen Stadt
in so vielfacher Beziehung, daß ihre Ausschließung von der Teilnahme am
Feste kaum noch anzunehmen wäre.
So ist das Fest lange Zeit in aller Bescheidenheit gefeiert worden, ohne
daß die Stadt selbst oder jemand außer ihr etwas besonders merkwürdiges
darin erblickt Hütte. Das Kirschfest gehörte eben zu den .Kinder-, Schul- und
Naturfehler, die man in vielen Gegenden Deutschlands feierlich beging und
begeht. Es hat namentlich manche gemeinschaftliche Züge mit einem sehr
alten deutschen Schulfeste, das den Namen „Virgatumgehen" (d. h. Zweig¬
schneidengehen) trug. Die Schuljugend begab sich im Beginn der schönen
Jahreszeit unter Führung des Lehrers ins Grüne, brach Ästchen von den
Gesträuchen und ergötzte sich dann mit Gesang, Tanz und allerhand Spielen
im Freien.
Mit dieser ältern Bedeutung des Naumburger Kirschfestes vermischte sich
aber nun im Laufe der Zeit die Erinnerung an ein Ereignis aus der Kriegs¬
geschichte der Stadt und drängte allmählich den ursprünglichen Sinn des
Festes ganz in den Hintergrund und in Vergessenheit. Die erste Nachricht
dieser Art findet sich 1671 in einem lateinischen Programm des Rektors der
Naumburger Stadtschule, Johann Töpfer. Dieser erzählt (unter allem Vor¬
behalt), es solle einmal ein Feind, der sich vor die Stadt gelegt habe, durch
Fürbitte der hinausgesandten Kinder zum Wegzug bewogen worden sein und
dabei die Kinder sogar mit Kirschen beschenkt haben. Etwa fünfzehn Jahre
später schreibt der Naumburger Stiftssyndikus Ehlenberger in einer hand¬
schriftlich erhaltenen Chronik bei Erzählung des sächsischen Bruderkrieges zum
Jahre 1450, Herzog Wilhelm habe das Stift Naumburg heimgesucht und sich
vor die Stadt Naumburg gelegt, um sie mit Sturm zu erobern. „Die Naum¬
burger schickten ihm aber ihre Kinder mit Zweigen und Früchten entgegen,
die thäten ihm eiuen Fußfall und erlangten Gnade, zumal da er gleich
wider den Herrn zu Gen auch erbittert war, daß er dahin von Naumburg
abzöge." Eylenberger unterläßt es hier wie anderwärts, die Quellen zu nennen,
aus denen er geschöpft hat, aber er zeigt sich in allen seinen Arbeiten als
gründlicher und gewissenhafter Mann, und gerade für den von ihm erwähnten
Plünderungszug des Herzogs Wilhelm haben wir noch mehrere andre Zeug-
nisse. Der Statthalter der Deutschvrdensballei Thüringen, Eberhard Holtz,
schreibt am 15. September 1450 aus Zwäzen nach Marienburg an den Hoch¬
meister des Ordens Ludwig I. von Erlichshausen über Beschädigung von Ordens¬
gütern und erzählt dabei, Herzog Wilhelm habe im verflossenen Sommer das
Bistum Naumburg heimgesucht. In der fast gleichzeitigen Chronik des Erfurter
Vikars Konrad Stolle werden diese Vorgänge gleichfalls erwähnt und auf
Ende Juni wie Anfang Juli gelegt. Da uus hierin zwei zeitgenössische glaub¬
würdige Berichte vorliegen, die Ehlenbergers Angabe von der Heimsuchung
des Stifts Naumburg bestätigen, so haben wir keinen Grund, seine ganz an¬
spruchslos daran geknüpfte besondre Meldung über eine Belagerung Naum-
burgs und die Abwendung des Sturmes durch Fürbitten der Kinder zu
bezweifeln. Herzog Wilhelm der Tapfre war ja ein rauher und gegen seine
Gemahlin Anna selbst ein roher Mann, aber sein Herz war auch sanftem
Regungen nicht unzugänglich. Als einmal im Bruderkriege sich einer der
herzoglichen Schützen erbot, den auf feindlicher Seite gerade gegenüberstehenden
Kurfürsten Friedrich den sanftmütigen mit sicherm Schusse niederzustrecken
und so dem ganzen Kriege ein Ende zu bereiten, zeigte sich bei Wilhelm die
brüderliche Liebe doch als stärker, er wies das Ansinnen ohne weitres von
der Hand. Solch einer mildern Regung mag er auch nachgegeben haben,
als die Naumburger Kinder mit Zweigen und Früchten vor ihm niederfielen
und um Schonung der Stadt flehten. Weiß doch die Geschichte von mehreren
ähnlichen Fällen zu erzählen, wo es hartbedrängte Städte vorgezogen haben,
statt eines aussichtslosen Sturmes auf die feindlichen Truppen einen Sturm
auf das Herz des feindlichen Anführers zu unternehmen, und zwar durch
Entsendung hilfloser Personen (Kinder, Frauen, Greise), die in feierlichem
Aufzuge durch die rührende Gewalt ihrer Fürsprache das drohende Unheil
abwenden mußten. Hilfloser Unschuld hat die Natur einen großen Zauber
verliehen.
Coriolan wurde 491 v. Chr. durch das Flehen der vor ihm erscheinenden
römischen Edelfrauen mit Veturia und Volumnia an der Spitze zur Auf¬
hebung der Belagerung Roms und zum Abzüge bestimmt. Kurfürst Friedrich
der sanftmütige von Sachsen ließ sich während des Bruderkrieges von einer
harten Maßregel gegen die Stadt Freiberg im Erzgebirge abbringen, als die
ehrwürdigen Ratsherren unter Führung ihres hochbetagten Bürgermeisters mit
Sterbegewändern auf den Annen vor ihm Fürsprache einlegten. Die Stadt
Schleusingen entging 1634 einer Einäscherung durch Jsolani und seine Kroaten
dadurch, daß die Schüler des dortigen Gymnasiums unter Führung des Rek¬
tors dem feindlichen Anführer feierlich geschmückt entgegenzogen, sangen und
um Gnade flehten. Ähnlich rettete der Superintendent Lange um die Wende
der Jahre 1644 und 1645 das Städtchen Pegau in Sachsen vor einer Zer¬
störung durch die Schweden unter Torstenson, indem er mit zwölf wei߬
gekleideten Knaben ins Lager des Feindes zog und feine Fürbitte durch Gesang
der Kinder verstärken ließ.
Beim Herzog Wilhelm hat vermutlich vor Naumburg auch noch etwas
andres angesprochen als die augenblickliche Rührung. Er hatte nämlich
erst kurze Zeit vor der Stadt gelegen, da erhielt er höhnische Briefe von
dem auf der andern Seite stehenden jungen Heinrich Reuß von Gen und
zugleich die Botschaft, daß dieser sengend und plündernd in das herzogliche
Gebiet bei Roda eingefallen sei. Wichtiger als die aufhültliche Belagerung
Naumburgs schien es dem Herzoge wohl zu sein, sich auf der Stelle an
dem jungen Heinrich von Gera zu rächen, aber er war eben erst von
einer vergeblichen Belagerung Pegaus ruhmlos abgezogen und mußte für
seinen Ruf fürchten, wenn er nun auch vor Naumburg wiche, ohne etwas
erreicht zu haben. Da mag ihm der rührende Eindruck der Kindergesandt¬
schaft aus der Stadt ganz erwünscht gewesen sein, um aus dem Dilemma
herauszukommen. Er konnte sich durch Erhören der kindlichen Fürsprache mit
dem Glorienschein großmütiger Gesinnung umgeben, die Belagerung unbe¬
schadet seines Feldherrenansehens abbrechen und alsbald gegen den verhaßten
Geraer vorrücken. Diesem gegenüber ließ Herzog Wilhelm seiner Erbitterung
voll Rachsucht und Ingrimm die Zügel schießen. Nach längerer Belagerung
erstürmten am 15. Oktober 1450 die böhmischen Hilfstruppen (Zebraken), die
der Herzog schon 1447 durch Apel Vitzthum bei Georg Podiebrad hatte werben
lassen, die Stadt Gera und richteten darin ein mörderisches Blutbad an, von
dessen Greueln die Chroniken der Stadt nicht genug zu sagen wissen.
Das Andenken an die Errettung vor dem Schicksal Geras durch Kinder¬
bitten ist in Naumburg niemals erloschen. Mag man nun anfänglich ein
eignes Erinnerungsfest dafür gestiftet haben oder nicht, im Geiste der Bürger¬
schaft hat sich jedenfalls das Kirschfest allmählich mit dem Gedächtnis jener
glücklich abgewandten Eroberungsgefahr verquickt und verschmolzen. Der erste
litterarische Niederschlag dieser Vermengung zeigt sich in der kurzen und ganz
allgemein gehaltenen Nachricht Töpfers in seinem Programm von 1671.
Handschriftliche Naumburger Nachrichten von Franke und Zader aus den beiden
folgenden Jahrzehnten sprechen schon etwas ausführlicher von dieser Über¬
lieferung und berichten, es seien „Hussiten" gewesen, deren Ansturm durch die
Kinderbitten abgewandt worden sei. Sie haben mit dieser Beziehung auf
„Hussiten" in bestimmtem Sinne Recht. Während man seit dem Aufblühen
der Geschichtswissenschaft im vorigen Jahrhundert die bekannte religiöse Partei
Böhmens nur noch in ihrer kirchlichen und kriegerischen Thätigkeit bis zur
letzten Niederlage der Taboriten als „Hussiten" bezeichnet, galt dieser Name
in Deutschland über 1435 hinaus noch lange Zeit für ganz gleichbedeutend
mit „Tschechen" (Böhmen), und insbesondre die böhmischen Hilfstruppen des
Herzogs Wilhelm im Bruderkriege werden von den Chroniken noch im sech¬
zehnten Jahrhundert unter dem Namen „Hussiten" angeführt. Gerade diese
Zebraken waren es, die 1450 vor Naumburg lagen und dann in Gera kanni¬
balisch hausten. Wenn also die Überlieferung in Naumburg von „Hussiten"
meldete, so hatte sie eben deu Sprachgebrauch der Vorzeit festgehalten und
meinte damit nichts andres als Wilhelms böhmische Hilfstruppen.
Durch Töpfer, Franke und Zader angeregt, wandte sich nun das Interesse
der Naumburger jener kirschfestlichen Hussitenüberlieferung zu. Weil man aber
die alte Bedeutung des Namens „Hussiten" nicht mehr kannte, verlegte man die
Errettung der Stadt irrtümlich weiter zurück in die wirklichen Hussitenkriege.
Die «üuriosg, L^xoniog. von Marcus (1743) thun dies, indem sie den Vorgang
ins Jahr 1429 oder 1430 setzen. Richtig ist daran nur, daß die Hussiten
bloß zweimal Einfülle ins Meißnische und Osterländische unternommen haben,
nämlich im Herbst 1429 und dann sogleich noch einmal um die Jahreswende
von 1429 und 1430. Beidemale aber sind sie nicht bis in die Naumburger
Gegend gekommen, und wäre es geschehen, so würde es in der Herbst- und
Winterszeit des Feldzuges beim besten Willen nicht möglich gewesen sein,
Zweige und Kirschen herbeizuschaffen. Das gesteigerte Verlangen der Naum¬
burger, über die wirksame Fürsprache der Stadtkinder bei einem harten Be¬
lagerer und über die Entstehung des Kirschfestes etwas genaueres zu erfahre«,
schien dauernd unbefriedigt bleiben zu sollen, weder gleichzeitige Chroniken
noch Urkunden hatten es für wichtig genug erachtet, sich über das Ereignis
auch nur in ihrer bekannten lakonischer Kürze auszusprechen.
Da trat ein falscher Prophet auf in Israel, der faud viel Lügeuschreibens
kein Ende. Und alles Volk fiel ihm zu, darum daß er klüglich handelte und
seiue Worte süßer machte denn Honig und Honigseim. Dieser Betrüger und
dreiste Geschichtsfälscher war ein heruntergekommener Schulmeister namens
Raub, der vor etwa einem Jahrhundert nach einem bewegten Leben die Sol¬
datenkinder des damals in Naumburg stehenden ersten Bataillons vom kur-
snchsischen Infanterieregiment „Prinz Xaver" unterrichtete. Raub machte sich
das Verlangen der Naumburger zu nutze. Er gab vor, durch einen glück¬
lichen Zufall in den Besitz einer alten Chronik gelangt zu sein, die der Bene¬
diktinermönch Taube im vormaligen Se. Georgenkloster vor Naumburg im
sechzehnten Jahrhundert verfaßt oder doch fortgesetzt und zu Ende geführt
habe, und diese Klosterchronik enthalte auch genaue Nachrichten über die An¬
wesenheit der Hussiten vor Naumburg und den Ursprung des Kirschfestes.
Im Jahre 1782 ließ dieser würdige Garnisonkinderlehrer ein Schriftchen drucken,
das dein Kommandanten der Garnison gewidmet war und den Titel führte:
„Die Schwachheit über die Stärke, oder gründliche Nachricht von dem 1432
vor Naumburg sich gelagerten Heere der Hussiten unter ihrem Heerführer
Proeopio, und dem daher entstandenen Naumburgischeu Schul- oder Kirschfeste,
alles aus sehr raren und seltenen Urkunden zusammen getragen von Johann
George'Rauben." Das war es, was gefehlt hatte, die Entstehungsgeschichte
des Festes nach sehr raren und seltenen Urkunden! Neuss Schriftchen fand
in Naumburg schnellen Absatz, ward gierig verschlungen und von der Bürger¬
schaft anstandslos geglaubt. Sachverständige vermochte der Betrüger freilich
uicht zu hintergehen, aber deren Zahl war verschwindend klein im Verhältnis
zu der Menge der Gläubigen. Der angebliche Mönch und Chronist Taube,
von dem weder vorher noch nachher jemand etwas erfahren hat, was nicht
aus Neuss Feder geflossen wäre, ist eine Erfindung des fabelnden Garnison¬
kinderlehrers. Gegen die Kürze und Dürftigkeit der mittelalterlichen Chroniken
sticht die umständliche Kleinmalerei der Firma Taube-Raub wunderlich ab.
Die Sprache ist weder die des Reformationszeitalters, wo Taube gelebt haben
soll, noch die des vorigen Jahrhunderts, sondern eine gekünstelt altertümliche,
die es niemals gegeben hat. In vielen groben Unrichtigkeiten sachlicher Art,
deren Widerlegung bloße Zeitverschwendung sein würde, guckt der Pferdefuß
unter dem mit gewissem Geschick umgelegten Lügenmantel hervor. Raub besaß
eine blühende Phantasie, durch die es ihm leicht wurde, allerhand Geschichtchen
auszusinnen und jeden wenn auch noch so nebensächlichen Umstand zu einem
lebhaften und anschaulichen Bildchen zu gestalten. Zugleich war er schlau
genug, aus der Geschichte Naumburgs, mit der er sich beschäftigt hatte, und
aus der allgemeinen deutschen Geschichte manche bekannten und gut beglaubigten
Thatsachen einzuflechten. Die freche Stirn, womit er dies von Wahrheitströpschen
benetzte Lügengewebe eigner Erfindung für das Bruchstück einer alten Mönchs¬
chronik ausgab, hat selbst gebildete Leute stutzig gemacht. Das anscheinend
naive und einfache in Verbindung mit der ausführlichsten Kleinmalerei ver¬
anlaßte einen Leser des Schriftchens zu der Äußerung, „eine solche lebendige
Schilderung, eine solche bis in die kleinsten Details gehende treffliche Dar¬
stellung müsse entweder buchstäblich wahr oder von einem der größten Dichter
seines Zeitalters erfunden sein." Wenn der Beurteiler statt Dichter Schwindler
gesagt Hütte, würde er den Nagel auf den Kopf getroffen haben.
In Naumburg war Helles Entzücken über den vermeintlichen Geschichts¬
fund. Die Herren Taube-Raub brachten aber auch alles, was das Herz nur
wünschen konnte. Die Hussiten unter Andreas Prokop dem Großen — erst
hier säugt dieser an, seine Rolle im Naumburger Kirschfeste zu spielen — seien
6000 Mann stark am 27. Juli 1432 vor Naumburg gerückt, um Vergeltung
dafür zu üben, daß der Naumburger Bischof Gerhard von Goes (geht. 1422)
auf dem Konstanzer Konzil (angeblich!) an Hussens Verurteilung mitgewirkt
habe. Der Aufmarsch der Feinde auf der Anhöhe südlich vor der Stadt
dauert — zwölf Stunden, von früh fünfeinhalb Uhr bis abends um dieselbe
Stunde. Eigenhändige Schreiben Prokops, alle unterzeichnet L.unir6As?roooxii (!),
kommen in die Stadt und künden ihr an, daß sie mit Feuer und Schwert
ausgerottet und vom Erdboden vertilgt werden solle. In der Bedrängnis
macht der Schlosser Wilhelm Wolf, der damals gerade Viertelsmeifter war,
den Vorschlag, Frauen und Jungfrauen sollten mit fliegenden Haaren ins
feindliche Lager ziehen, einen Fußfall vor Prokop thun und um Gnade flehen.
Der Rat kann sich hierzu nicht verstehen, dagegen wird beschlossen, alle Kinder
zwischen sieben und vierzehn Jahren in feierlichem Zuge hinaufzusenden und
um Schonung flehen zu lasten. Trotz des verzweifelten Widerspruchs der
Mütter dringt dieser Vorschlag durch, der Viertelsmeister Wolf, selbst Vater
von acht Kindern, zieht am 28. Juli Halbzwei Uhr mittags mit 238 Knäblein
und 321 Mägdlein, alle weißgekleidet, hinauf in das Hussitenlager, und vor
Prokops Zelt fällt die ganze Schar auf die Kniee und ruft „Gnade, Gnade!"
Der grimme Feldherr wird gerührt, läßt Kirschen, Birnen und Wein zur
Bewirtung der Kinder herbeibringen und durch seine böhmischen Spielleute
den Kleinen zum Tanz aufspielen. Endlich gegen sieben Uhr abends entläßt
Prokop alle in Frieden, befiehlt den Knaben „Victoria Hussiata" (!) zu rufen,
wenn sie wieder an die Stadtthore kämen, und den Bürgern zu sagen, er wolle
Gnade ergehen lassen, morgen früh werde kein Mann von den Hussiten mehr
zu sehen sein. Und so geschah es. Rat und Bürgerschaft aber beschlossen,
das Andenken an diese wunderbare Errettung jährlich am 28. Juli durch ein
besondres Fest zu feiern.
Dies in Kürze der Inhalt von Rauhs Phantasiedarstellung.
Li xarva lioet ooinponsro in»Mi8, so ging es hier etwa wie später in
Böhmen bei der Fälschung der Königinhofer Handschrift. Hanka wußte mit
seinem geschickten Fabrikat sogar Gelehrte zu täuschen, und trotz Kopito.!-,
Feifalik, Wattenbach u. a. in. giebt es noch heute viele, die an die Echtheit
der Königinhofer Handschrist glauben. Wie Hcmkas Fälschung deu Anstoß
gegeben hat zu eingehender Beschäftigung mit der alttschechischen Poesie, so
erweckte der Naumburger Garnisonkinderlehrer mit seiner Fabelschrift zuerst in
weiteren Kreisen ein Interesse für das Kirschfest.
Der poetische Gehalt der Rauhschen Erzählung wurde bald erkannt und
verschiedentlich in Dichtungen ausgeprägt. Schon 1792 veröffentlichte der
Schauspieler Großmann ein Drama „Das Kirschfest." Es war von geringem
Werte. Andre Poeten folgten mit Romanzen, Novellen und Erzählungen*)
nach. Von litterarischer Wichtigkeit ward das Jahr 1801. August von Kotzebue,
der damals zu Besuch in Naumburg war, nahm am Kirschfeste teil und fand
solchen Gefallen daran, daß er beschloß, den Stoff zu einem Drama zu ver¬
arbeiten. Seine schreibselige Feder schuf schnell im engen Anschluß an Rauhs
Fälschung ein fünfccktiges „vaterländisches Schauspiel mit Chören" unter dem
Titel „Die Hussiten vor Naumburg im Jahre 1432." Als Kotzebue 1802
zum Kirschfeste wieder nach Naumburg kam, war sein Stück schon bekannt —
aufgeführt ward es in der Stadt zum erstenmale 1803 —, und man bereitete
dem Dichter eine Huldigung. Ein bekränzter Altar mit Prokops Bildnis war
auf der Vogelwiese errichtet, dort schlössen die Kinder um Kotzebue einen
Kreis, und ein Mädchen überreichte unter Deklamation eines Gedichtes dem
Helden des Tages einen Lorbeerkranz, den er wahrlich nicht verdiente, dem?
es fehlt dein Kotzebueschen Stücke, das nur aus szenisch aneinandergereihten
losen Bildern besteht, an jeder Kraft, seine Haupteigenschaft ist die Rührselig¬
keit, die das Ganze durchzieht, und in dem Konflikt zwischen Wolf und dessen
Frau über das Hergehen der eignen acht Kinder den thränenreichsten Höhe-
Punkt erreicht. So oft das Stück in Naumburg aufgeführt wird — ander¬
wärts, wo das örtliche Interesse nicht mitspricht, dürfte ihm diese Ehre kaum
widerfahren —, tropft noch jetzt die Rührung in rieselnden Thränen auf die
fleißig benutzten Sacktüchlein der zuschauenden Kinder und Frauen hernieder.
Gedruckt wurden die „Hussiten" zuerst 1803 in Leipzig; später sind sie in den
Gesamtausgaben von Kotzebues Werken wiederholt worden. Die Schwäche
des Stückes forderte übrigens den litterarischen Spott heraus. Noch im
Jahre 1803 erschien als „Pendant zu den vielbeweinten Hussiten vor Naum-
bürg" ein „Schall-, Trauer- und Thräuenspiel" von Mahlmann unter dem
Titel „Herodes vor Bethlehem oder der triumphierende Viertelsineister." Wie
es oft zu geschehen Pflegt, tourbe die Parodie fast noch mehr gelesen als das ver¬
spottete Urbild, der „Herodes" brachte es bis zu einer fünften Auflage (1837)
und ist natürlich auch in Mahlmauns sämtlichen Schriften (1859) wieder
abgedruckt worden.
Durch Kotzebue war die Geschichte von Prokop und den Hussiten vor
Naumburg erfolgreich in die schöne Litteratur eingeführt worden. Hatte
Ranhs angeblicher Chrouikenbericht die Kunde davon zunächst in den Nachbar¬
gebieten ausgebreitet, so wurde bei dem litterarische» Ansehen, das Kotzebue
genoß, durch sein Drama die Bekanntschaft mit der Erzählung in raschem
Fluge durch alle deutschen Lande getragen. Ja die wunderbare Mär von der
Milde des grimmen Hussitenführers sickerte allmählich hindurch bis in Prokops
Heimatsland, wo man die unbekannte Großthat eines nationalen Helden mit
Wohlgefallen in die vaterländischen Erinnerungen einreihte. Seitdem der
tschechische Nativnalitätsdünkel ins Schwellen geraten ist, scheint in den
tschechischen Schulen auch auf jene vermeintliche Großmut Prokops häufiger
hingewiesen worden zu sein. So konnte es geschehen, daß der tschechische
Historienmaler Jarvslav Cement (f 1878), ein jüngerer Bruder des in Leipzig
noch wohl bekannten Physiologen I. N. Cerm-ik (f 1873), auf den Gedanken
kam, jene nationale Edelthat durch ein großes Gemälde zu verherrlichen. Um
sich über die geschichtliche Glaubwürdigkeit der Erzählung zu vergewissern,
ließ er in Prag bei dem tschechischen Nationalhistoriker Palaeky anfragen, da
dieser als Verfasser einer mehrbändigen Geschichte Böhmens und Herausgeber
urkundlicher Beiträge zur Geschichte des Hussitenkrieges am sichersten Bescheid
über die Sache wissen mußte. Aber trotz seiner Spezialstudien konnte Palacky
kein einziges Zeugnis für die Erzählung beibringen, er mußte sich auf die
Antwort beschränken, Beweise seien nicht vorhanden, doch ließe sich kaum an¬
nehmen, daß die Deutschen eine so zu Gunsten der Hussiten sprechende Be¬
gebenheit erfunden hätten (!). Daraufhin machte sich Cermü-k 1874 an die
Ausführung seines Planes und vollendete das Gemälde gegen Ende 1875.
Es hat die Unterschrift ?rolcox Vslil^ xrvä XWmdarlcvin (Prokop der
Große vor Naumburg) oder Lxisoäo av I-i siösss av ^Minbour^ und be¬
findet sich jetzt in Paris in Privatbesitz. Als Kunstwerk steht das Gemälde
auf einer hohen Stufe, sowohl was die Konzeption, als was die Technik
betrifft; bei seiner Ausstellung in Paris 1876 trug es dem Künstler die
Ernennung zum Ritter der Ehrenlegion ein.
Wie vergnügt würde sich der treffliche Raub die Hände reiben, wenn er
diese Wirkung seiner Fülscherthätigkeit hätte erleben können! Ließen doch schon
die Lorbeeren, die er bei Lebzeiten sammelte, einem andern Biedermann keine
Ruhe. August Braun — so hieß der würdige Herr, der 1805 in einer be-
sondern Schrift „Die Hussiten vor Naumburg" unter heftiger Polemik gegen
den „unglaubwürdigen" Taube die Begebenheit abweichend, nur mit viel ge¬
ringerm Fälschergeschick, darstellte unter Berufung auf die Chronik eines von
ihm l>.ä l)0(? erfundenen Mönches Lüdiger Tuto von Gosceneck. Auf dieses
Machwerk weiter einzugehn ist überflüssig, es vermochte nicht einmal seiner
Zeit Rauhs Autorität in der Stadt Naumburg zu erschüttern. Der Herr
Garnisonkinderlehrer aber war durch das unerwartete Glück seiner „Schwach¬
heit über die Stärke," die ihm nicht nur einen Namen gemacht, sondern auch
den Beutel gefüllt hatte, kühner und kühner geworden. Er verfertigte all¬
mählich weitere Bruchstücke aus dem Lllronivon Ucmrbm'Zieren des Frater
Taube, gab sie aber nicht in den Druck, sondern ließ sich Abschriften davon
mit schwerem Gelde bezahlen und fand unter der wohlhabenden Bürgerschaft
Naumburgs immer gläubige Abnehmer für seine Fabrikate. Schon 1785 war
das ganze Werk fertig, und der Handel mit Abschriften davon blühte nicht weniger
als der vorher mit einzelnen Teilen. In vielen Naumburger Familien werden
noch heute Exemplare dieser Lügenchrvnik aufbewahrt, und selbst in wissen¬
schaftliche Bibliotheken siud Handschriften von Rauhs Fälschungen eingedrungen.
Diese dickleibigen Bände voll Ausgeburten der zügellosesten Phantasie, illu-
strirt mit Abbildungen und Plänen angeblich uralter Denkmäler, gehören zu
dem unglaublichsten, was jemals in der Geschichtsfälschung geleistet worden
ist. Die Figuren eines Sanchnniathon und Manetho müssen sich vor dem
Bruder Taube förmlich verkriechen. Wenn Herrmann Hagen sein Schriftchen
„Über litterarische Fälschungen" auch auf die Geschichtslitteratnr der Neuzeit
ausgedehnt hätte, so würde er hinsichtlich der Dreistigkeit und des Umfangs
der Mischungen dem Neuenburger Garnisonlinderlehrer einen der vordersten
Plätze haben anweisen müssen.
In der Naumbnrgischeu Geschichtschreibung hat der gewissenlose Fabnlist
mit seinen Lügengeweben eine klägliche Verwirrung angerichtet. Nicht allein,
daß die Bürgerschaft unter seinem Banne stand und ihm alle Märchen glaubte,
auch verschiedene litterarische Zeitschriften druckten um Ende des vorigen Jahr¬
hunderts unbesehen und ohne Kritik größere oder kleinere Stücke ans der ver¬
meintlichen Mönchschronik ab und verschafften dadurch den Nnnhschen Hirn¬
gespinsten weitere Verbreitung. Namentlich die „Beiträge zur sächsischen
Geschichte, besonders des sächsischen Adels," die vor etwa hundert Jahren in
Altenburg erschienen, waren ein beliebter Ablagerungsplatz dafür.
Der Rückschlag gegen den Schwindel konnte nicht ausbleiben. Von der
Stelle, wo all die Ungeheuerlichkeiten ihren Ausgang nahmen, ging auch das
Gericht über den Fälscher und seine Erfindungen aus. Der damalige Naum¬
burger Stadtrichter und spätere Landrat K. P. Lepsius, der Vater des be¬
kannten Äghptolvgen, veröffentlichte 1811 als Frucht sorgfältiger und gewissen¬
hafter Quellenstudien eine Abhandlung über „Die Sage von den Hussiten von
Naumburg und den Ursprung des Naumburgischen Kirschfestes," worin er
mit wuchtigen Keulenschlägen die ganze erlogne Herrlichkeit des litterarischen
Taschenspielers zertrümmerte. Er that ihm nicht die unverdiente Ehre an,
alle abenteuerlichen Erfindungen im einzelnen zurückzuweisen, sondern begnügte
sich damit, die Verlogenheit seiner Schrift an einigen Stichproben zu zeigen,
um dann statt der abgeschmackten Fabeleien das mitzuteilen, was sich aus
sicherm und zuverlässigen Quellen über das Kirschfest ergründen ließ. Er war
der erste, der eine solche Arbeit unternahm, und ihm verdanken wir auch den
Hinweis auf die ungedruckte Eylenbergersche Chronik, nach der eine Rettung
der Stadt Naumburg durch Kinderfürbitten im sächsischen Bruderkriege statt¬
gefunden hat. Die Ergebnisse der Lepsiusschen Forschungen stehen noch heilte
unerschüttert, sie sind durch die wenigen neuern Untersuchungen über den
Gegenstand in allen Hauptpunkten nur bestätigt worden.
Nachdem Lepsius Schrift bekannt geworden war, spaltete sich Naumburg
in zwei Parteien, Hie Wels, hie Waldung hieß es. Große Erregung be¬
mächtigte sich der Gemüter, als die schönen Irrtümer, denen man fast drei
Jahrzehnte lang gehuldigt hatte, so erbarmungslos in ihrer Nichtigkeit auf¬
gedeckt wurden. Der gebildetere und urteilsfähige Teil der Bürgerschaft über¬
zeugte sich, wenn anch mit schwerem Herzen, von der UnHaltbarkeit der
Prokopsage und trat auf Lepsius Seite. Der Kleinbürger und das Volk aber
war entrüstet über den Angriff auf das geheiligte Kirschfest und hielt nun
erst recht zu Rand und seinen Märchen. Kaum dreißig Jahre hatten genügt,
die Prokopsage den Naumburgern in suvonrn. et, smiguinem zu führen, und
die achtzig Jahre seit Lepsius Auftreten sind noch nicht imstande gewesen, der
geschichtlichen Wahrheit volle Geltung zu verschaffen. Ein Einwohner Naum-
burgs gab 1818 die Ncmhsche .Schwachheit über die Stärke" aufs neue heraus,
und ein einfacher Straßenfeger ließ 1885 in unverändertem Abklatsch aber¬
mals 500 Exemplare davon drucken, die schon wieder bis aufs letzte Stück
vergriffen sind. So hat der Trug leider abermals frische Nahrung bekommen,
und wenn auch die Abhandlung von Lepsius zweimal neu aufgelegt worden ist
(1851 und 1854), so giebt es doch immer noch Bürger in Naumburg, die
sich lieber ein Loch ins Knie bohren ließen, als daß sie auch nnr ein i-Tüpfchen
von Ranhs Lügengespinst preisgaben. Besonders heftig tobte der Kampf
zwischen beiden Parteien bei dem Kirschfest 1832, als die vermeintliche vier¬
hundertjährige Jubelfeier des Ereignisses begangen werden sollte. Die Refe¬
rendare, die von Anfang an mit Lepsius gegangen waren, hatten damals über
ihrem Zelt eine Karikatur anbringen lassen: Prokop in preußischer Leutnants¬
uniform teilt auf der Vogelwiese Kirschen an ein paar Kinder aus. Gleich¬
zeitig wurde von ihnen ein Bilderbogen mit ähnlichen Karikaturen ausgegeben,
auf dem sich zum erstenmale das Spottlied ,,Die Hussiten zogen vor Naum¬
burg" befand. Der Verfasser war der damalige Referendar Karl Seyffert
aus Langensalza, der in den fünfziger Jahren als Regierungsrat in Posen
gestorben ist. Als dieses Bänkelsängerlied nun gar nach eigner Melodie von
den Referendaren gesungen wurde, stieg die Erbitterung der Bürger muss
höchste, es kam zu einem förmlichen Krawall mit Prügeleien und allem, was
dazu gehört. Lange Zeit blieb das Sehffertsche Hussitenlied, in dem Ranhs
und Brauns Erzählung frei variirt wird, ein Schiboleth der Lepsianer und
war bei der ander» Partei in Acht und Bann gethan. Aber die alles aus¬
gleichende Zeit hat auch hier versöhnend gewirkt, zumal als Seyfferts Lied
sich allmählich eine durch ganz Deutschland gehende Popularität errang,*) auf
deren Flügeln der Ruhm des Naumburger Kirschfestes abermals bis in die
fernsten Gegenden des deutschen Vaterlandes getragen wurde. Und auch drüber
hinaus ist es gedrungen, verrät doch der als „Lehrer von der Schul" und
nicht als Schlosser oder Viertelsmeister dargestellte Kinderführer auf Cermäks
Gemälde, daß der Künstler auch bei Sehffert in die Schule gegangen ist.
Eine litterarische Fälschung lenkte zuerst die Aufmerksamkeit auf das
Naumburger Kirschfest; ein auf dieser Fälschung ruhendes weinerliches Rühr¬
stück machte es zu einer Berühmtheit Naumburgs; ein Vänkelsängerlied, das
die Fälschung verspottet, prägte es dauernd in das Gedächtnis des deutschen
Volkes ein. Raub ist vor dem Richterstuhle der Wissenschaft als Schwindler
entlarvt, aber seine Fabulisterei hat sowohl die Feder der Dramatiker, Lyriker,
Epiker und Novellisten, wie den Pinsel des Malers in Bewegung gesetzt und
der Stadt Naumburg ein weit und breit bekanntes Volksfest geschaffen, das
mit unverwüstlicher Anziehungskraft Jahr für Jahr Schaulustige von nah
und fern herbeilockt. Wie wunderbar! Auch die Parteien sind verschwunden.
Friedlich wandelt jetzt der unbelehrbare kleine Mann, der von Prokop nicht
lassen will, zum Kirschfest auf der Vogelwiese neben dem andern einher, der
seinen Lepsius studirt hat und über die Nauhschen Ungeheuerlichkeiten lacht.
Friedlich betrachten Referendare wie Bürger, Erwachsene wie Kinder die Kari¬
katur über dem Neferendarienzelte und singen gemeinschaftlich das vormalige
Spottlied, das unter den vielen schlechten und wenigen guten Kirschfestliedern
das Lied x«?/ cZo/^ geworden ist:
Und zu Ehren des Mirakel
Ist nun jährlich ein Spektakel;
Kennt ihr nicht das Kirschenfest,
Wo mans Geld in Zelten läßt?
Freiheit und Viktoria!
aß eine Zeitschrift wie die Grenzboten inmitten des aufgeregten
Treibens unsrer politischen Zeitungskannegicßerei einmal über
Politik schweigt und die Aufmerksamkeit ihrer Leser den sittlichen,
sozialen, wissenschaftlichen und künstlerischen Problemen der
Gegenwart zuzuwenden bemüht ist, gehört zu den journalistischen
Erscheinungen, über die sich gewiß jeder ernste Beobachter freut. Das alte
Wort „Politik macht schlecht" hat seinen tiefen Sinn und trifft nicht nur die,
die Politik machen, sondern noch weit mehr die, die Politik schwatzen. Denn
in der That, giebt es etwas leichtfertigeres als die Art und Weise, wie das große
Weltdrama kommeutirt und zurechtgestutzt wird nach den Bedürfnissen des
Tages und nach dem Kitzel der Stunde, nach dem Schlagwort der Parteien
und nach den Leidenschaften und Instinkten aufgeregter Völker? Uns ist kaum
erinnerlich, daß politisch je so viel gelogen worden würe wie in den letzten
Wochen, und wenn sich sonst die hö-isou mores bescheiden damit begnügte, die
altbekannten Sommerenten wieder auffliegen zu lassen, hat diesmal die nichts
weniger als tote Zeit, die hinter uns liegt, eine Summe politischer Erfindungen
und Entstellungen in Umlauf gesetzt, von denen jede einzelne eine Haupt- und
Staatsaktion in sich zu schließen schien.
Da ist es vielleicht nützlich, einmal zurückzublicken und zusammenzufassen,
was wirklich Thatsache geworden ist. Wir beginnen mit der Erneuerung des
Dreibundes. Wer sich erinnert, mit welcher Sicherheit von russischer und
von französischer Seite der Zerfall des großen Friedensbundes angekündigt
wurde, wie eifrig man bestrebt war, hier Osterreich, dort Italien von Deutsch¬
land zu trennen, wird die Bedeutung dieses Zusammenschlusses würdigen. Er
bürgt uns dafür, daß Herr von Caprivi bemüht ist, die bewährten Bahnen
weiter zu verfolgen, die Fürst Vismarck gewiesen hat, und ist zugleich ein
Zeichen, daß die äußere Gefahr, die diesen Bund ins Leben rief, fortdauert.
Denn undenkbar wäre es, daß die verbündeten Nationen die ungeheure Last
ihrer militärischen Ausrüstung willig weiter trügen, wenn es nicht darauf
ankäme, einem größern Übel zu entgehen. Nicht gegen ein Schemen, sondern
gegen eine wirklich vorhandene, die politische Selbständigkeit, die Freiheit und
die Kultur bedrohende Gefahr hat sich Mitteleuropa zusammengeschlossen, und
wenn heute die politische Arbeit dahin zielt, eine wirtschaftliche Einigung damit
zu verbinden, so gilt es auch hier, einer Zukunftsgefahr rechtzeitig vorzubauen.
Ob es freilich klug war, die Thatsache jeuer Bundeserueuerung sofort
zu verkündigen, ist eine andre Frage; Fürst Bismarck hat den Abschluß des
Dreibundes fast ein Jahrzehnt lang geheim gehalten, und als er mit der Ver¬
kündigung hervortrat, damit einen großen politischen Effekt erreicht. Bekannt¬
lich geschah die erste Mitteilung von der vollzogenen Thatsache dnrch Rudini
in der italienischen Kammer, darnach bestätigte Kaiser Wilhelm die Nachricht
kurz vor seiner englischen Reise. Es kann kaum zweifelhaft sein, daß die
nächste Folge jene russisch-französische Annäherung war, unter deren Eindruck
wir heute stehen, aber niemand wird beweisen können, daß die Dinge ohne
diese Voraussetzung einen audern Verlauf genommen hätten. Wir betonen
das, weil russischerseits die angebliche Herausforderung benutzt worden ist, um
die Kronstädter Tage zu rechtfertigen, wie denn in Petersburg und Paris
geflissentlich darauf hingearbeitet wird, in der öffentlichen Meinung dieser
Länder die Vorstellung lebendig zu erhalten, daß es gelte, einen nahe bevor¬
stehenden Ansturm der drei abzuwehren.
Diese Behauptung ist eine jener großen Lügen, mit denen wir zu kämpfen
haben. Jedermann weiß bei uns, daß Deutschland, Österreich und Italien
das Schwert nur zur Verteidigung ziehen werden, und Kaiser Wilhelm hat
noch jüngst den Beweis geliefert, wie sehr ihm die Erhaltung des Friedens
am Herzen liegt. Als in der französischen Kammer die Verhandlungen wegen
der Paßfrage schwebten, hat es nur die entschieden friedliche Haltung Deutsch¬
lands verhindert, daß dieses Nichts wie vor einundzwanzig Jahren zu einem
bslli aufgebauscht wurde.
Der Kaiser hatte damals eben England verlassen — auch der englische
Besuch ist ihm von Nußland und Frankreich als Herausforderung ausgelegt
worden. Eine wahrhaft thörichte Behauptung, die sich schon durch die Zeit¬
folge der Ereignisse widerlegt, da die Reise des französischen Geschwaders
nach Kronstäbe bereits vereinbart war, ehe das Programm der Fahrt nach
England feststand, wahrscheinlich sogar ehe irgend etwas von der Absicht des
Kaisers, England zu besuchen, verlautet hatte. Doch das ist schließlich gleich-
giltig; es folgt nur aus alledem, daß es eine Stufe nationaler Erregung giebt,
wo jeder Vorwand gut ist.
Die russisch-französische Verbrüderung, wie sie sich in Kronstäbe, Peters¬
burg und Moskau vollzogen hat, ist jedenfalls eine höchst bedrohliche politische
Thatsache, und wir müssen uns darüber klar sein>, daß fortan der Weltfriede
abhängt von den unberechenbaren Erregungen des französischen Temperaments
und des russischen Hasses. So eifrig jetzt auch von offizieller russischer wie
französischer Seite versucht wird, die von beiden Seiten sich übertrumpfenden
Freundschaftsbezeugungen in eine möglichst harmlose Beleuchtung zu rücken, es
bleibt doch die wichtige Thatsache, daß für gewisse Fälle eine feste Verstän¬
digung zwischen beiden Mächten erzielt worden ist, und es ist eigentlich ein müßiger
Streit, ob darüber ein formelles Vertragsinstrnmeut aufgesetzt worden ist, oder
ob man sich mit einem Protokoll begnügt hat. Der Schwerpunkt fällt auf
die Thatsache, daß Zar Alexander III. ans seiner Reserve hervorgetreten ist,
daß er sein Haupt gebeugt hat vor den französischen Idolen, und daß nun¬
mehr vor aller Welt kundig ist, daß die orthodoxe Autokratie und die radi¬
kale, religionslose Republik einander die Hand zum Bunde gereicht habe».
Jedenfalls entspricht diese Verbindung nicht dem, was man eine Vernunftehe
nennt, auch nicht einer Heirat aus Liebe. Sie haben sich gefunden im Haß
gegen eine» dritten, und aus den stürmischen Erklärungen gegenseitiger Zu¬
neigung hört das schärfere Ohr die Drohungen durch, die vor allem gegen
Deutschland gerichtet sind. Die merkwürdige Thatsache, daß das Sturmlied
der Revolution gegen die Throne und gegen das Selbstbestimmungsrecht der
andern Völker, daß die Marseillaise in Nußland hoffähig geworden ist, wird
sich in ihren Folgen freilich nicht über Nacht mit Händen greifen lassen. Aber
überaus denkwürdig ist es doch, daß jenes Lied, das bisher in Rußland als
der Inbegriff politischer Verruchtheit galt, plötzlich harmlos erscheint, weil
man es in einem Sinne auslegt, daß die Drohungen sich nur gegen uns
richten, fast gleich bedeutsam wie die andre Thatsache, daß sich Katholizismus
und russisches Kirchentum bei diesem Anlasse den Bruderkuß gaben.
Wir stehen damit einer Erscheinung gegenüber, die noch einer besondern
Erläuterung bedarf. Seit etwa einem Jahre hat sich im Vatikan eine poli¬
tische Schwenkung vollzogen, die je länger je mehr zu einer politischen Ge¬
fahr anzuwachsen droht. Die vom Kardinal Nampolla geführte Politik des
päpstlichen Stuhles hat eine so entschieden franzosenfreundliche Richtung ein¬
geschlagen, daß man hente ohne Übertreibung sagen kann, sie vertrete unter
allen Umständen die französischen Interessen. Das erste Anzeichen dieser Ge¬
sinnung war der von der Kurie Rußland gegenüber angetretene Rückzug. In Rom
hat man für die Klagen der von der russisch-griechischen Kirche mißhandelten
Litauer, Polen, Nuthenen und Kleinrussen heute kein Ohr mehr, obgleich
gerade in den letzten Monaten in empörendster Weise gewaltsame Bekehrungen
erzwungen worden sind. Die Leidensgeschichte der unirten Griechen schreit
hente gen Himmel, aber der Notrnf prallt ab von den Mauern des Vatikans,
und man findet es kaum noch notwendig, hin und wieder den Bedrängten und
Verzweifelnden ein beschwichtigendes Wort zuzurufen. Hand in Hand damit
ging die Verleugnung der monarchischen Elemente in Frankreich und die dnrch
den Kardinal Lavigerie mit so viel Lärm in Szene gesetzte Aussöhnung mit
der französischen Republik. Die Rückberufung der italienischen Kapuziner aus
Tunis war ein weiterer Schachzug in diesem Spiele, und dem Ganzen wurde
die Krone aufgesetzt durch das Verhalten der Kurie in der Bethlehemfrage,
die das Ansehen des Katholizismus in der Levante der russisch-französischen
Freundschaft rückhaltlos opferte. Das Possenspiel französischer Proteste, wo¬
durch man den Rückzug zu verdecken bemüht war, ist längst als solches er¬
kannt, und neuerdings ist Kardinal Nampolla sogar soweit gegangen, durch den
0«8vrvat.or<z Uoirmno dem Dreibünde eine offne Kriegserklärung zugehen zu lassen.
Nun ist man allerdings in den Kreisen der Katholiken Deutschlands stutzig
geworden. Mau fragt sich mit Recht, ob denn die deutschen Katholiken die
Stiefkinder der Kurie seien, und ob es sich mit der Weltstellung des Papstes
vereinbaren lasse, daß er Bestrebungen befördert, die rwäe et cruels als letztes
Ziel die Zertrümmerung Deutschlands und Italiens und die Herrschaft des
Kvsakentums vou der einen und der kommunistischen Republik von der andern
Seite ins Auge fasse», deren Verwirklichung gleichbedeutend wäre mit dem
Umsturz aller geltenden Ordnungen. Die Absage des Freiherrn von Schor-
leiuer an den <)88örva.loro Romano ist eine erste Warnung nach Rom hin.
Wir zweifeln uicht daran, daß die deutscheu Katholiken im Augenblick der
Entscheidung wissen werden, wohin sie gehören.
In engem Zusammenhang mit diesen politischen Wetterzeichcn stehen die
orientalischen Dinge. Es fehlt nicht an Anzeichen, daß auch hier die Vor¬
bereitungen zu einer künftigen Aktion getroffen werden. Rußland arbeitet
gleichzeitig daran, in Rumänien und Serbien jede Befestigung der Verhältnisse
zu verhindern, und steht in beiden Staaten in engster Beziehung zu den radi¬
kalen Elementen. Dazu läßt es die Dardanellenfrage nicht ruhen, sondern
sucht bald unter diesem, bald unter jenem Vorwande die Pforte daran zu
gewöhnen, daß militärisch bemannte russische Schiffe die Meerenge Passiren.
Unter französischem und russischem Druck ist die ägyptische Frage wieder
aufgerollt worden, und nicht zu übersehende Anzeichen weisen darauf hin, daß
sich Montenegro zu regen gedenkt. Die jüngste Reise des jungen Serben¬
königs nach Rußland ist nichts als eine Maske gewesen, man hat in Peters¬
burg kaum ein Hehl daraus gemacht, daß man in ihm nicht mehr als eine
Puppe sieht, die im geeigneten Augenblick beiseite geschoben werden kann.
Zu alledem kommen die panslawistischen Wühlereien auf österreichischem,
insbesondre auf böhmischen Boden. Der Erfolg dieser kaum noch verhüllte»
Thätigkeit scheint in Moskau bereits so günstig zu liegen, daß neuerdings ein
Moskaner Blatt triumphirend ausruft, es sei kein Zweifel mehr, Österreich
werde, dnrch seine innern nationalen Gegensätze gelähmt, im Fall eines Krieges
weit härtere schlüge erleiden als einst bei Sadowa!
Man hat es in Deutschland nicht genügend beachtet, daß sich Rußland
und Frankreich mit ähnlichen Hoffnungen in Bezug auf partikularistische
Strömungen bei uns tragen. Und allerdings, wenn man Blätter wie das
Bairische Vaterland als Quelle benutzt, muß man meinen, daß der Zerfall des
Reiches unmittelbar bevorstehe. Wir halten es für einen Schimpf und eine
Schmales, daß derartige Stimmen in Deutschland laut werden dürfen, und
können dem Freiherr» von Crailsheim den Vorwurf nicht ersparen, daß die
von ihm offenkundig behauptete Partikularistische Tendenz jene Bestrebungen
wesentlich fördre.
Trotz cilledem legen wir diesen Erscheinungen noch nicht die Bedeutung
einer wirklichen Gefahr bei, wohl aber halten wir, namentlich in: Hinblick auf
die bevorstehenden Kaisermanöver, ein Huo» SM! für schlechterdings notwendig.
Es wäre noch mancherlei zu berichten. Die Art und Weise, wie der
wirtschaftliche Notstand von gewissen Parteien ausgebeutet wird, zeugt von
wahrhaft verhängnisvoller Verblendung. Statt geschlossen die Regierungen
in ihren Maßnahmen zu unterstützen, geht eine wühlende und hetzende Agi¬
tation zU Parteizwecken darauf aus, die Besorgnis zu steigern. Der Fluch
des Parteiwesens, vor dem Fürst Bismcirck in seiner Ansprache an die Stu¬
denten in Kissingen so ernst gewarnt hat, drückt auf unser politisches Leben
und lahmt die besten Maßnahmen.
Es ist wahrlich nicht an der Zeit, zu kritteln und zu nörgeln. Wenn
je, so gilt es heute, fest zusammenhalten; die Zukunft droht mit schweren
Wolken, einen Gewittersturm zu bringen, so gewaltig, wie ihn die Welt uoch
nicht gesehen hat. Nur das starke, das in sich einige Deutschland wird ihm
gewachsen sein.
Da eine Geschichte der technischen Hochschulen bisher noch nicht vorhanden
war, so kommt der Verfasser einem Bedürfnis entgegen, das zu befriedigen ihn
seine Begeisterung für den Gegenstand und gründliche Erforschung des Stoffs
befähigt haben. Im letzten Abschnitt macht er beachtenswerte Vorschläge für den
Ausbau der technischen Hochschulen und stellt einen durchgreifenden Reorganisativns-
plan für dus gesamte Hochschulwesen auf.
Die gemütliche, im Humoristenstil erzählte kleine Geschichte wird nicht wenigen
anssnuchslvsen Lesern ein Stündlein angenehmen Zeitvertreibes bereiten. Der Humor
darin ist gesund und deutsch. Ist der Gedankeninhalt nicht so tief und der Aufputz
nicht so bunt wie in den größer« Werken berühmter Humoristen, so ist dafür auch
die Sprache nicht so verzwickt nud verrückt.
MZ^Ä
MUß?n der Zeit, wo das Prinzip des 1tU88M' tairö herrschte, erreichte
in den Fabrikdistrikten infolge des Umstandes, daß die ver¬
heirateten Arbeiterinnen unter einer übermäßig langen Arbeits¬
zeit zu leiden hatten und die Wöchnerinnen ohne besondern
Schutz waren, die Sterblichkeit der Kinder im ersten Lebens¬
jahre eine erschreckende Höhe. Sie stieg in manchen Industrieorten bis auf
fünfzig Prozent. Eine Besserung trat da ein, wo humane Arbeitgeber aus
freien Stücken die Arbeitszeit der Arbeiterinnen beschränkten, und eine kleine
Besserung zeigte sich auch, als man anfing, den Wöchnerinnen gesetzlichen
Schutz angedeihen zu lassen. Dieser Schutz ist im deutschen Reiche neuer¬
dings wesentlich erhöht worden; denn die Gewerbeordnungsnovelle vom
1. Juni dieses Jahres bestimmt, daß Wöchnerinnen vier Wochen lang nach
ihrer Niederkunft überhaupt nicht und in den folgenden zwei Wochen nur
beschäftigt werden dürfen, wenn es das Zeugnis eines approbirten Arztes
für zulässig erklärt. Dagegen hat man sich nicht entschließen können, die
Maximalarbeitszeit wenigstens für die verheirateten Frauen oder die Frauen,
die einen Haushalt zu besorgen haben, von elf auf zehn Stunden herabzu¬
setzen. Der preußische Minister für Handel und Gewerbe, Freiherr von Ber-
lepsch, bedauerte in der Neichstagssitzung vom 18. April dieses Jahres, einem
darauf bezügliche» Antrage widersprechen zu müssen. „Dies Bedauern — sagte
er — ist um so lebhafter, weil ich namens der verbündeten Regierungen an¬
erkennen muß, daß es in der That eine der Hauptaufgaben unsrer Gesetz¬
gebung sein muß, das Schicksal der Frau so zu gestalten, daß sie ihren
Pflichten als Hausfrau, als Mutter, als Gattin, als Erzieherin ihrer Kinder
nachkommen kann; und das ist in der That nur dann möglich, wenn die
Arbeitszeit auf ein Maximum beschränkt wird, das ihr die Erfüllung ihrer
übrigen Pflichten ermöglicht, wenn angängig, auf ein so geringes Maß, daß
ihr die Mehrzahl der Tagesstunden für ihren Hallshalt, für ihren Gatten und
für ihre Kinder zur Verfügung steht." Trotz dieser Erwägungen glaubten
der Bundesrat wie die Mehrheit des Reichstages einem zehnstündiger Maximal¬
arbeitstage für Frauen nicht zustimmen zu dürfen, weil sie unter den gegen¬
wärtigen Verhältnissen eine Gefährdung der Sicherheit und Existenzfühigkeit
der beteiligten Industrien und eine zu große Schmälerung der Arbeiterbudgets
befürchteten. Ob diese Befürchtungen in der That als ausschlaggebend zu
betrachten waren, oder ob es vielleicht möglich gewesen wäre, den erstern Er¬
wägungen doch Raum zu geben und dem gegenwärtigen Zustande nur durch
eine längere Übergangszeit und interimistische Bestimmungen Rechnung zu
tragen, soll an dieser Stelle nicht untersucht werden. An dem Zustande, den
die Gewerbeordnungsnovelle geschaffen hat, dürfen wir jedenfalls vor der
Hand nicht rütteln, obschon diese Novelle in ihren wesentlichsten Punkten
erst am 1. April 1892, zum Teil sogar uoch später in Kraft tritt. Wohl
aber müssen wir versuchen, wenigstens den größten Mißständen, die sich
infolge einer übermäßigen Beschäftigung verheirateter Frauen auch nach
der Einführung des Arbeiterschutzgesetzes ergeben werden, nach Möglichkeit
zu steuern.
Die günstigen Wirkungen eines Schutzes der verheirateten Frauen kommen
in erster Linie den Kindern im Säuglingsalter zu gute. Da aber zu be¬
fürchte« ist, daß die Wöchnerinnen der ärmern Volksschichten in vielen Füllen
selbst ohne genügende Pflege sind und deshalb trotz ihrer vorübergehenden
Befreiung von der Arbeit den Säuglingen nicht die erforderliche Sorgfalt zu teil
werden lassen können, so empfiehlt sichs, daß insbesondre Frauenvereine diesen
Dingen ihre Aufmerksamkeit zuwenden. Man hat vielfach die Gründung von
Wöchnerinnenasylen empfohlen. Diese bergen aber die Gefahr, daß die Wöch¬
nerinnen mehr und öfter, als es nötig ist, ihrer Familie entzogen und, wie
es in den meisten Entbindungsanstalten der Fall ist, mit sittlich zweifelhaften
Elementen in Berührung gebracht werden. Die Furcht, längere Zeit von der
Familie getrennt zu fein und in den Stunden der Not unter Fremden zu
weilen, hält auch die Frauen zurück, Entbindungsanstalten aufzusuchen, und
so kommt es denn, daß viele dieser Anstalten, selbst größere nur vegetiren.
Asyle in kleinern Städten und auf dem Lande versprechen überhaupt keinen
Erfolg. Bedenkt man übrigens, daß sich die Kosten besondrer Wöchnerinuen-
asyle überaus hoch stellen, so muß man sich doch sagen, daß durch die Ver¬
wendung so hoher Beträge für die Wöchnerinnen in deren eigner Familie
weit mehr erreicht werden konnte. Wir wollen ja nicht leugnen, daß in ge¬
wissen Notfällen die Anstaltspflege erforderlich wird; dann dürfte es aber
meist genügen, wenn die Krankenhäuser einige Zimmer zur Aufnahme von
Wöchnerinnen bereit hielten.
Treten die Kinder aus dem Säuglingsalter heraus, so droht ihnen zwar
weniger der physische, dagegen desto mehr der psychische Untergang; denn von
elterlicher Obhut und Fürsorge wird kaum die Rede sein können, wenn außer
dem Vater auch die Mutter gezwungen ist, um des Broterwerbes willen den
Tag über vom Hause sern zu sein.
Mitte August 189V betrug im deutschen Reiche die Gesamtzahl aller in
Fabriken einschließlich der Spinnereien und Ziegeleien beschäftigten verheirateten
Frauen 130 079. Rechnet man dazu die große, durch die Gesetzgebung nicht
geschützte Menge der gleichfalls außer dem Hause beschäftigten, in wechselnder
Lohnarbeit, Landwirtschaft u. s. w. thätigen Arbeiterinnen,*) so läßt sich an¬
nehmen, daß die auf Arbeit gehenden Frauen für weit mehr als eine Million
von Kindern Fürsorge zu treffen haben, daß aber diese Fürsorge nur äußerst
mangelhaft sein kann, daß die Kinder in den meisten Fällen sich selbst über¬
lassen bleiben. Wenn daher vor allem in den Großstädten immer und immer
wieder Fälle zu Tage treten, die von der zunehmenden sittlichen Gefährdung
und Verwilderung der heranwachsenden Arbeiterjugend Zeugnis ablegen, so
kann das nicht Wunder nehmen. Die Thatsache selbst aber beweist nur aufs
neue das eine, daß noch lange nicht ausreichende Vorkehrungen für die Er¬
ziehung der Kinder unsrer arbeitenden Bevölkerung getroffen sind. In dieser
Richtung die helfende und besfernde Hand anzulegen, ist eine Hauptpflicht der
Gesellschaft.
Man könnte, um den bestehenden Mißständen zu steuern, daran denken,
die Frauen von der Fabrikarbeit ganz auszuschließen und als natürliche Er¬
zieherinnen ihrer Kinder der Familie zurückzugeben. Man darf aber nicht
außer acht lassen, daß eine Entlassung aus der Fabrikbeschäftigung unter den
gegenwärtigen Verhältnissen vielfach gar nicht im Interesse der Frauen liegen
würde, da ihre Familien ohne den Verdienst der Frauen nicht auskommen
könnten. Vielleicht könnte auch der Fall eintreten, daß die Frauen aus den
Fabriken in die Hausindustrie gedrängt würden; damit wäre aber nichts ge¬
bessert, denn die Beschäftigungszeit ist in der Hausindustrie bekanntlich
sehr lang und die Beschäftigungsart oft für Körper und Geist sehr nach¬
teilig. Infolgedessen würde sich auch die Erziehung und Pflege der Kinder
keineswegs günstiger gestalten. Aber es lassen sich auch noch andre Gründe
gegen die Entfernung der Frauen aus den Fabriken geltend machen. Jndustrie-
kreise insbesondre wenden sich gegen den Ausschluß verheirateter Arbeiterinnen,
weil diese sich meist durch Seßhaftigkeit und Zuverlässigkeit vor den übrigen
Arbeiterinnen auszeichnen, sich vielfach durch längere Übung eine größere
Geschicklichkeit erworben haben als diese und daher oft als Vorarbeiterinnen
verwendet und mit der Aufsicht über die andern Arbeiterinnen betraut werden.
In den Gutachten zu dem Gesetzentwürfe über die Abänderung der Gewerbe¬
ordnung wurde auch von verschiednen Seiten die Befürchtung ausgesprochen, daß
im Falle einer weitern Beschränkung der Beschäftigung von Frauen Arbeiter¬
innen vielfach Bedenken tragen würden, sich zu verheiraten, und daß sich hieraus
eine Zunahme der Konknbinate und eine Vermehrung der unehelichen Kinder
ergeben würde. Jedenfalls wird die Beschäftigung verheirateter Arbeiterinnen in
absehbarer Zeit nicht aufhören können, und deshalb gilt es, den Übeln Folgen
vorzubeugen, die die Fabrikarbeit der Frauen für die Kinder mit sich bringt.
Fragt man, welche Vorkehrungen zu treffen seien, um die bestehenden
Mißstände zu beseitigen, so wird das Augenmerk vor allen Dingen auf Be¬
gründung von Krippen, Kindergärten, Spielplätzen und Kinderhorten zu richten
sein. Der Staat sorgt durch seine Schulen im wesentlichen nur für den
Unterricht, aber nicht für die Erziehung der Kinder. Da diese aber doch
mindestens ebenso wichtig, ja sogar wichtiger ist, so ist es Sache der Gemeinden
und der besitzenden Klassen, hier helfend einzugreifen.
Man hat zweierlei Anstalten zu unterscheiden: solche, die Kindern im
vorschulpflichtigen Alter, und solche, die den schulpflichtigen Kindern Aufnahme
und Pflege gewähren. Zu den erster« gehören die Krippen und Kindergärten,
zu den letztern namentlich Kinderhorte und Spielplätze. Die Zahl dieser An¬
stalten ist heute noch viel zu gering und unzulänglich, und dabei kranken diese
Anstalten selbst an mancherlei Übeln. Ein Übelstand ist es namentlich, daß
der Besuch der Krippen und Kindergärten in der Regel nur gegen Bezahlung
gestattet ist, und daß sie meist nur eine beschränkte Zeit des Tages zur Benutzung
offen stehen. Nach beiden Richtungen hin müßte anders vorgesorgt werden.
Was die schulpflichtigen Kinder betrifft, so wird vor allen Dingen für
ihre Unterbringung in Kinderhorten Sorge getragen werden müssen. Diese
Anstalten verfolgen den Zweck, schulpflichtige Kinder, die ans Mangel an
häuslicher Obhut und Pflege in Gefahr sind, zu verwahrlosen, während der
schulfreien Stunden in bestimmten Räumlichkeiten, natürlich gesondert nach Ge¬
schlechtern, zu versammeln und bei nützlicher Beschäftigung und passender
Unterhaltung leiblich und geistig zu fördern. Heute findet das aus der Schule
heimkehrende Arbeiterkind die Wohnung meist von den Eltern verlassen und
unbehaglich, es ist ohne Aufsicht und sucht dann in der Regel die Straße
auf, wo doch wenig Gutes zu lernen ist. Solchen Übelständen wollen die
Kinderhorte begegnen. Die Thätigkeit der Kinder dort soll sich vor allem
auf die Anfertigung der Schularbeiten erstrecken. In der Abteilung für Knaben
(Knabenhorte) wird dann dem Handfertigkeitsuntcrrichte besondre Aufmerksam¬
keit zu schenken sein, auch verdient u. a. die Anleitung zum Gartenbau als
Geist und Gemüt bildendes Erziehungsmittel Beachtung. Die Mädchen werden
am geeignetsten mit Stricken und Flicken beschäftigt.
In den meisten Orten, wo Kinderhorte bestehen, hat man die Einrichtung
getroffen, daß die Kinder in diesen Anstalten ein einfaches Abendbrot erhalten.
Um jedoch die Eltern fühlen zu lassen, daß die Fürsorge sür ihre Kinder doch
immer noch ihre Sache sei, wird es sich empfehlen, da, wo Beköstigung ge¬
währt wird, von den Pfleglingen einen kleinen Beitrag zu erheben und nur
den Ärmsten Freistellen zu bewilligen.
Die Bewegung zu Gunsten der Kinderhorte, die Ende der siebziger Jahre
von Erlangen ausgegangen ist, hat schon erfreuliche Fortschritte gemacht.
Aber es bleibt noch viel zu thun; alles, was bis jetzt hinsichtlich des Kinder¬
schutzes geschehen ist, gleicht ja in der That einem Tropfen auf einen heißen
Stein. Die Gesellschaft darf nicht länger lässig bleiben; gilt es doch ein
wichtiges Stück der sozialen Frage zu losen, wenn man eine zweckentsprechende
Fürsorge für die sich selbst überlassenen Kinder der arbeitenden Bevölkerung
trifft. Ein Erfolg wird nicht ausbleiben, namentlich dann uicht, wenn auch
die Gemeinden an dem großen Werke der Gemeinnützigkeit thatkräftiger mit¬
arbeiten helfen.
übers gestalteten sich die Verhältnisse in Metz und im Pciys
Messin, einem aus städtischem und klösterlichem Besitze gebildeten
zusammenhängenden Gebiete. Daß dort bereits zu Beginn des
dreizehnten Jahrhunderts französisch geurkuudet wurde, haben
wir schon erfahren. Der weltliche Besitz des Bistums selbst
(Jto ?6mxoröl as l'^vZoliv) dagegen lag fast ganz, soweit die heutigen Grenzen
des Bezirks Lothringen in Frage kommen, im deutschen Sprachgebiete. Gleich¬
wohl haben die Bischöfe — und z. B. im Seillethale (xs^s Lanlnois) mit
Erfolg — den Versuch unternommen, der französischen Sprache Eingang zu
verschaffen. Was ihnen aber in unmittelbarer Nähe der Sprachgrenze gelang,
das gelang weit weniger im Hinterkante, wo bischöfliches, lothringisches,
luxemburgisches oder reichsunmittelbares deutsches Land ein geschlossenes
deutsches Sprachgebiet bildeten. Eine interessante und gründliche Studie über
den Verlauf dieser Dinge finden wir im „Jahrbuch der Gesellschaft für
Lothringische Geschichte und Altertumskunde" (2. Jahrgang, 1890) in einer
Abhandlung von Dr. Hans Witte in Straßburg: ,,Zur Geschichte des Deutsch¬
tums in Lothringen." Diesen Forschungen, die sich auf die Urkunden und
Kartnlarien der bischöflichen Kanzlei stützen, kommt der Umstand zu statten,
daß der lothringische Teil des untersuchten Gebietes in geistlichen Dingen zum
bischöflichen Sprengel von Metz gehörte. So konnte schon ans diesen Quellen
und ohne Heranziehung weiterer Beweise aus Urkunden der Herzoge von
Lothringen oder andrer deutscher Herren im Westrich über die Sprach¬
verhältnisse des ganze«: Landes ein Überblick gewonnen werden. Die Bischöfe
mußten der Verschiedenheit der Sprachverhältnisse in ihrem weltlichen Gebiete
noch im sechzehnten Jahrhundert Rechnung tragen. Als am 26. Juli 1564
der Kardinal von Lothringen und Bischof von Metz, nachdem er die während
seiner Abwesenheit beim Konzil zu Trient eingerissenen Unordnungen abgestellt
und Adel und Geistlichkeit des Bistums in Vic versammelt hatte, um deu
Stand der Dinge zu befestigen, da hielt er znuüchst eine lateinische und dann
eine französische Ansprache, worauf des Kardinals Neffe, der junge Herzog
von Guise, den deutschen Herren die Sache verdeutschte.
Um die Ausdehnung, die das französische Sprachgebiet etwa im Zeit¬
räume von 1350 bis 1600 gewonnen hat, zu ermitteln, hat Dr. Witte die
Kartnlarien der bischöflichen Kanzlei durchforscht. Die erste deutsche Urkunde
findet sich vereinzelt im Jahre 1343. Erst Bischof Konrad Bayer von Bop-
pard (1417 bis 1457) ordnete den ziemlich willkürlichen Gebrauch beider
Sprachen durch die aus deu Urkunden zu entnehmende, wenn auch nicht mehr
nachweisbare Bestimmung, daß für die Wahl der einen oder andern Sprache
nicht die zufällige Sprachkenutnis des Empfängers des Briefes, sondern die
Sprache des Aufenthaltsortes maßgebend sein solle. So läßt sich aus der
Übung der Kanzlei räumlich wie zeitlich mit ziemlicher Sicherheit auf die Sprach¬
verhältnisse schließen, wobei der Verfasser aus der Fülle des Stoffes reichliche
Bestätigung für deu richtig wahrgenommenen Grundsatz bietet; Schwankungen
und Unregelmäßigkeiten sind dabei freilich nicht zu verkeimen. Unter Bischof
Georg von Baden (1457 bis 1484) blieben im großen und ganzen die gleichen
Grundsätze für die bischöfliche Kanzlei bestimmend, während unter seinem
Nachfolger, Heinrich von Lothringen (1484 bis 1505), die Abweichungen von
der hergebrachten Regel deutlich die Neigung verraten, der französischen
Sprache Zugeständnisse zu machen. Unverkennbar wird dieser Zug unter
Kardinal Johann von Lothringen (1505 bis 1550). In einer aus Se. Germain
en Laye datirten Urkunde vom 28. Februar 1548 wird auf Vorstellung der
bischöflichen Prokuratoren von Marsal, die berichten, daß nur noch ein kleiner
Teil der Bevölkerung deutsch verstehe, verordnet, daß die französische Gerichts¬
sprache fortan dort ausschließlich Geltung haben soll, nouolastMt l'-iuoisn «eng se
oksörvimvö. Die deutsche Gerichtssprache war also die herkömmliche in Stadt
und Herrschaft Marsal, und die Verordnung schafft eine Neuerung, Im Lnnfe
des vorhergehenden Jahrhunderts lassen sich Spuren starker Einwanderung
aus Deutschland für Marsal und Umgegend nachweisen; wir werden daher,
da eine darauffolgende Einwanderung aus dem französischen Sprachgebiete
nicht nachweisbar ist, auf die naheliegende und durch Erfahrungen ans alter
und neuer Zeit bestätigte Thatsache hingewiesen, daß die deutsche Einwanderung,
wenn sie nicht in der Schule oder im Staatswesen einen Rückhalt findet, der
Verwelschung in der ersten oder zweiten Geschlechtsfolge sicher verfällt.
Zur Erhaltung der Sprache an der Sprachgrenze hüben oder drüben
bedarf es vor allem eines ununterbrochen Zusammenhanges mit einer gleich¬
sprachigen Nachbarschaft, einer Rückendeckung. Dem vorerwähnten Beispiel
aus Dieuze, wo die Bürgerschaft noch 1593 einen deutschen Pfarrer verlangte,
können wir einen Vorgang aus dem nahe bei Dienze gelegenen Dorfe Meizieres
entgegenhalten, das 1549 noch den Namen Machern führte und doch damals
von den Gebietsherren, den Grafen von Leiningen-Dagsburg, die Ernennung
eines französischen Vikars verlangte. In diesem Falle wurde sozusagen vom
deutschen Sprachgebiete eine vorspriRgende Landzunge abgespült und zu einer
Sprachinsel gemacht, die dem Nachbargebiete zuwuchs, während Dieuze erst
ganz verwelschte, nachdem das Hinterland dnrch Kolonisirung französisch ge¬
worden war.
Aus Wildes Mitteilungen gewinnt man den Eindruck, daß in der bischöf¬
lichen Kanzlei zu Metz die der deutschen Sprache kundigen Beamten allmählich
ausstarben und nicht wieder ersetzt wurden; jedenfalls geschah dies nicht mehr
nach der Übernahme des Protektorates durch Frankreich 1552, wenngleich
damals der weltliche Besitz des Bistums nach wie vor und bis 1648 der
Gerichtsbarkeit des Reichskammergerichtes unterworfen blieb. Die französischen
Beamten in Metz hatten sicher keinen Sinn für die deutsche Geschäftssprache,
und die von Frankreich bestimmten Bischöfe von Metz haben sich wohl nicht
mit den Maßgebenden in Widerspruch gesetzt. Im Juni 1625 berichteten die
vom König von Frankreich verordneten Kommissare, die beauftragt waren,
die Beeinträchtigung der königlichen Rechte in den drei Bistümern abzustellen,
daß die Unterthanen des weltlichen Besitzes des Bistums immer noch ge¬
zwungen seien, vom bischöflichen Gerichte in Vic an das Reichskammergericht
in Speier zu gehen: IIs 80ut voutr^mes av rsncmesr ü, löurs etroit« piu8to8t
ä'iüls^ reousrousr 1a ^ustivk g, six Znmäes ^ouru0L8 Ah Isurs domivüös,
et Ävz<z taut as 1ongnkur8 qu'it Ig-ut 1s, vis et'um lioiums xour su voir 1a um;
Mut 1e8 tendres invoinuioäitW a> cause as ig. cUvM8it<z ac 1s. Ilm^us, c^ni
tour 68t inoonnnö, S8t>g.ut, Z. Lktts ooenÄon oontraint^ 6ö tairs trg,n8latör 1sur8
xrovöiü vn tun^utZ Oorumniaus et'avoir ton8Mu-8 »vge oux rin truvliomsnt,
(Dolmetsch) xour x^rlsr ü Ieur8 ^n^ö8, ?>0vuröur8, ^ävo(zal8 ot Ortjü1<zr8
outrv los AiAnäo8 surprises as kiZ,us8«ze<Z2 cilli s'/ xouvoiont vominottrs. Diese
K'lagen hatten wohl mir für einen kleinen Teil des bischöflichen Gebietes
Berechtigung. Die königlichen Kommissare verschweigen auch wohlweislich,
daß die Unterthanen des Bischofs aus dem weit überwiegenden deutscheu
Sprachgebiete jedesmal vorsorglich beider Sprachen kundige Vertreter aus
Hagenau oder Zcibern bestellten, wenn sie bei Gericht in Vie etwas zu ver¬
fechten hatten. Der König von Frankreich unterwarf aber gleichwohl 1633
das ganze bischöfliche Gebiet der Gerichtsbarkeit des neu errichteten Parlaments
zu Metz, und dieser Gewaltakt wurde im Westfälischen Frieden bestätigt.
Aus einer Reihe von Beispielen über die Amtssprache, ferner, mit wvhl-
augebrachter Vorsicht, aus Orts- und Flurnamen und aus Namen der Ein¬
wohner selbst in den Dörfern an der Sprachscheide zieht Witte den Schluß,
daß vor 1600 nur ein kleines (ehemalig luxemburgisches Gebiet) nördlich von
Metz und, wie schou erwähnt, Marsal dem deutschen Sprachgebiete verloren
gegangen seien, daß aber von 1600 bis 1870 die Sprachgrenze auf der Strecke
von Deutsch-Oth an der luxemburgischen Grenze bis zum Forste von Remilly
durchschnittlich um etwa fünf Kilometer gegen Osten zurückgedrängt worden
sei. Längs der Ostgrenze dieses Forstes verläuft heute noch die Sprachgrenze
wie um 1600; von da ab beginnt die starke Einbuchtung gegen Osten, die
sich ungefähr von Mörchingen bis zum Donon zieht. Auf dieser südlichen
Strecke ist die Sprachgrenze seit 1600 stellenweise um 20 bis 25 Kilometer
zurückgewichen. Es sind dies die durch Krieg und Pest entvölkerten Gegenden,
wo, wie schon gesagt, zwischen 1680 und 1720 Kvlonen aus dem Westen
eingeführt worden sind. Witte glaubt, daß sich bis 1600 die Sprachgrenze
seit der Einwanderung der Franken nicht wesentlich verschoben habe.
Das also war das ganze Ergebnis der Zusammengehörigkeit mit Frank¬
reich oder doch der völligen Abhängigkeit dieser Gebiete von dem großen
Nachbarstaate im Verlaufe von 270 Jahren! Wo die Siedelung keine andern
Störungen erlitten hat, als die durch Handel und Verkehr und durch die
Zugehörigkeit zu einem mächtigen zentmlisirten Staatswesen verursachten
Wanderungen, da waren die großen Machtmittel des Staates und da war
der Zauber Frankreichs nicht ausreichend, die deutsche Volkssprache in nennens¬
werter Weise zu verdrängen. Bei diesem Vergleiche mit dem Zustande um
die Wende des sechzehnten auf das siebzehnte Jahrhundert haben wir — wor¬
auf wir noch besonders hinweisen müssen — die von dem Franzosen Pfister
als richtig gezogen anerkannte Sprachgrenze nach den Ermittlungen von This
benutzt. Und auf solche Errungenschaften gestützt, will Frankreich unter Be¬
rufung auf das Nationalitätsprinzip ganz Elsaß-Lothringen oder doch das
Land in Anspruch nehmen, das wir heute Lothringen nennen?
Bei Betrachtung solcher sprachlichen Endergebnisse aus vielhundertjährigen
Bemühungen um die staatliche Ausdehnung drängen sich dem unbefangnen
Beobachter zwei Fragen auf: Wie kommt es, daß Frankreich trotz der staat¬
lichen Machtmittel nicht mehr erreicht hat, und welche Lehre haben wir
daraus für die Gegenwart zu ziehen?
Auf die erste Frage müssen wir zunächst antworten, daß die Politik der
vergangnen Jahrhunderte keinen Wert auf die Sprachfragen legte. Man
dachte darüber etwa so, wie die Theologen des Mittelalters, die die Streit¬
frage, ob der echte Rock Christi aus einem Stück und ob er bunt oder ein¬
farbig gewesen sei, dahin entschieden: „Bunt mag der Rock gewesen sein, aber er
war ohne Naht." Der große Politiker Baco von Verulam hat sich in gleicher
Weise über die Frage geäußert, welcher Wert auf die Gleichmacherei bei der
Vereinigung von Schottland mit England zu legen sei: In vo8w varietas sit>
8el8so.rü, non 8it! Zur Zeit der mächtigen sächsischen Kaiser haben die deutscheu
Herrengeschlechtcr im Lande, die doch alle weltliche und geistliche Macht in
Händen hatten, im Gefühl ihrer Kraft diese Frage nachlässig behandelt. Was
lag auch daran, ob der Leibeigne, der unweigerlich ziuste oder frohndete und
dem Heerbanne folgte, deutsch oder welsch sprach? Die Herrengeschlechter selbst
aber sind allerdings dringend verdächtig, der sprachlichen Verwelschung ver¬
fallen zu sein, obgleich sie treu zum deutschen Reiche hielten. So müssen wir
uns die Thatsache erklären, daß sich durch die Beziehungen der Stadt Metz
zum Reiche zwar eine ansehnliche deutsche Einwanderung in Metz erhalten
hat, daß aber die alten herrschenden Familien schon im dreizehnten Jahrhundert
verwelscht waren, wie dies das Schicksal der Minderheiten ist. Wenn wir
daher durch unverdächtige Zeugen erfahren, daß in der Stadt Metz im sieb¬
zehnten Jahrhundert sust ebenso viel deutsch als französisch gesprochen wurde,
so dürfen wir dies nicht so auffassen, als ob dort seit Jahrhunderten ein von
welschen Fluten umbrcmdeter urwüchsiger Fels jedem Ansturm getrotzt Hütte,
sondern wir müssen uns dies durch eine unausgesetzte Einwanderung aus
Deutschland erklären, die in der That stattfand. Heutzutage ist ja ungefähr
ein ähnlicher Zustand erreicht; aber es fällt uns doch nicht ein, die „Metzer,"
die auf deutschen Schützen- oder Sängerfesten erscheinen, für Sprößlinge der
alten „Paraiges" zu halten. Wollte man annehmen, daß in Metz ursprünglich
deutsches Volk seßhaft gewesen sei, wie soll man sich dann die Thatsache
zurechtlegen, daß dieses deutsche Volk unter deutscher Herrschaft schon zu Be¬
ginn des dreizehnten Jahrhunderts größtenteils verwelscht war? Wie soll
sich auch gerade in Metz ein Rest deutscher Ureinwohner widerstandsfähiger
erwiesen haben, während doch in der nächste» Umgegend von Metz um 1200
die Volkssprache unzweifelhaft die französische war? Sonst lehrt doch die Er¬
fahrung, daß die Städte rascher verwelschen als das Land. Man findet zwar
im l^lois NöLLin unverkennbare Einwirkungen der deutschen Sprache (vergl.
H. Graf, Die germanischen Bestandteile des ?awi8 N688M im Jahrbuch der
Gesellschaft ster Lothringens Geschichte 1890); das sind aber nicht Reste einer
ursprünglichen Volkssprache, sondern Anleihen und Anklänge, die sich durch
die deutsche Nachbarschaft und durch Einwanderung erklären.
Es ist überhaupt nicht recht begreiflich, warum deutsche Chauvinisten
durchaus noch Beweise für die Annahme suchen, daß die Hauptstadt von
Austrasien jemals urdeutsch gewesen sei. Soll damit eine ethnographische oder
nationale Rechtfertigung des Frankfurter Friedens angestrebt werden? Wir
möchten diesen Eiferern die Erwägung entgegenhalten, daß aus solchen An¬
nahmen sicher keine Genugthuung für Deutschland abzuleiten ist; es müßte ja
dann das Zugeständnis gemacht werden, daß die französische Sprache im Laufe
der Jahrhunderte weit größere Fortschritte gemacht habe, als selbst französische
Forscher beanspruchen. Wenn Frankreich im dreizehnten Jahrhundert mit dem
Kirchenbanne belegt war, so fand der Bannfluch seinen Abschluß in den Ar-
gonnen an dem Flüßchen Bienne oder Vienne, denn da lagen, wie 1289 die
kaiserlichen Bevollmächtigten, Anselm von Parroye, Erhard von Lcmdsperg
und Hartmann von Ratsamhausen an Ort und Stelle durch Vernehmung von
Zeugen nachgewiesen haben, die Grenzen zwischen Frankreich und dem deutschen
Reiche; in Vaucouleurs bei Toul, an der Reichsgrenze, verhandelten 1224
und 1299 Kaiser und König über zweifelhafte Fälle, die die Grenze der Mach t-
befugnisfe betrafen. Zu Beginn des dreizehnten Jahrhunderts gehörte nun
Metz mit Umgegend unzweifelhaft nicht mehr dem deutschen Sprachgebiete an.
Wer die Grenzen der deutschen Sprache an den Grenzen des deutschen Reiches
sucht, müßte also nachweisen, daß die ganze Grafschaft Bar auch dem deutschen
Sprachgebiete angehört habe. So vermessen war aber noch keiner. Begnügen
wir uns also mit dem Thatsächlichen. Das alte deutsche Reich hat über
Franzosen geherrscht, und heute ist dies, in weit geringerm Maße allerdings,
wieder der Fall; was soll dabei bedenklich sein? Mußten doch vor wenigen
Jahren die Flugschriften für Boulanger in Hunderttausenden von Exemplaren
ins Mimische übersetzt und verbreitet werdeu, um Stimmung zu machen; kein
französischer Patriot hat darüber ein Wort verloren.
Die Fortschritte der französischen Sprache gegen Osten waren seit den
Zeiten der Völkerwanderung sehr gering. Selbst während der letzten drei
Jahrhunderte, wo Frankreich rechtlich oder thatsächlich im Bistum Metz und
im Herzogtum Lothringen die Herrschaft geführt hat, ist die Sprachgrenze,
mit Einschluß des Gebietes, wo die deutsche Bevölkerung verschwunden und
durch Franzosen ersetzt worden war, nur um etwa 180 Gemeindefluren
zurückgeschoben worden. Das ist — in sprachlicher Beziehung — das End¬
ergebnis des mehr als tausendjährigen politischen Wettstreites zwischen Frank¬
reich und Deutschland!
Zur Erhaltung der deutschen Sprache im Metzer Lande und in Lothringen
hat wohl neben der französischen Zollpolitik, die Lothringen und die Bistümer
gleich dem Auslande behandelte, auch die fortgesetzte Einwanderung aus dem
Reiche viel beigetragen. In der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts hat
Lothringen gegenseitige Befreiung vom circle ä'^udg-ins vereinbart mit Öster¬
reich-Ungarn, mit Baiern, Kurpfalz. Hessen-Kassel und Hessen-Darmstadt, mit
Kurköln und Kurtrier, mit den Bistümern Speier und Straßbnrg, mit den
Reichsstädten Hamburg, Frankfurt am Main, Nürnberg, Regensburg, Nörd-
lingen, Memmingen, Lindau, Dinkelsbühl, schwäbisch-Hall, Rottweil, Über¬
langen, mit Gengenbach u. s. w.; das deutet doch auf regen Verkehr hin. Man
hat auch in Lothringen stets die Vorteile erkannt, die die Kenntnis beider
Sprachen gewährte, so z. B. Verwendung in herzoglichen Diensten im d^Ma^g
ä'^IIsnTAMv. So war schon im sechzehnten Jahrhundert die Sitte des Kinder¬
tausches in Lothringen sehr verbreitet. In der Stündeversammlnng zu Nancy
1614 beschwerte sich die Geistlichkeit darüber, daß die Lothringer ihre Kinder,
damit sie deutsch lernten, auch in ketzerische Familien des Nachbarlandes
schickten. Wie kräftig übrigens das deutsche Bewußtsein an der Sprachscheide
noch im siebzehnten Jahrhundert war, beweist der Umstand, daß die Huge¬
notten, die aus Frankreich in die Reichsfürstentümer Pfalzburg und Lixheim,
in die Grafschaft Saarwerden und in die Freiherrschaft Finstingen gezogen
Ware», selbst da, wo sie Dorfschaften bildeten, alsbald die deutsche Sprache
annahmen und selbst ihre Namen verdeutschten. So wurde aus Vollion Voll-
juug, aus Vvron Wehrung, aus Achard Hascher, aus Benjamin Beschameng,
aus Claude Klvdt, aus Girard Schirra u. s. w. Im vorigen Jahrhundert,
als die Protestanten von Lixheim hart bedrängt wurden, wandten sie sich an
den König von Preußen als ihren natürlichen Schutzherrn. Ein großes Ver¬
dienst um Erhaltung der deutschen Sprache in Kirche und Schule hat sich
auch die katholische Geistlichkeit erworben. Frankreich hatte den Schulzwang
nie eingeführt; seit 1850 war zwar mit Nachdruck die Verbreitung des fran¬
zösischen Sprachunterrichts betrieben worden, aber in der Zeit von 1867 bis
1869 trat die katholische Geistlichkeit mit solcher Entschlossenheit gegen diese
Versuche zur Ausrottung der deutscheu Sprache auf, daß die Regierung, die
das Plebiscit vorbereitete, nachgab. Den Vorteil aus diesem Sachverhalte
haben wir 1870 vorgefunden, haben aber seitdem die Erfahrung gemacht, daß
man gegenüber dem deutschen Reiche mit seinem protestantischen Kaiser aus
nationalen und politischen Gründen auf dem Gebiete der Kirchensprache im
deutschen Sprachgebiete genau das Gegenteil dessen vertritt, was man aus
Gründen der Seelsorge gegenüber dem katholischen Napoleon vertrat, der doch
kein legitimer xismior üls as l'cMss war. Wer die Gründe der Erhaltung
der deutschen Sprache im Elsaß und in Lothringen eingehend darstellen will,
dem bieten die Flugschriften und Zeitungsartikel, die kurz vor dem Kriege er¬
schienen, eine Fülle lehrreicher Aufschlüsse. Die französische Sprache blieb die
herrschende; aber wie wurde französisch gesprochen? Daß mau sich in Frank¬
reich stets über die Elsüsser belustigte, ist ja bekannt, und es entstanden sogar
Lehrschriften zur Vermeidung der gebräuchlichsten Sprachfehler. Weniger be¬
kannt dürfte — wenigstens in Deutschland — sein, daß man auch die loth¬
ringische Sprache im Wortgebranch und Satzbau, von der Aussprache ganz
abgesehen, in Frankreich stets bemängelt hat. Graf Boulainvilliers sagt in
seinem Mg,t as ig. I'ranoe: I/hö l^rrains sont trss ^rossisrs, se oft ssprit
qui, so kön vonnvitrs xg.r un 1anZll»Ao trof ÄssgAröMs, est repMÄu für 1s.
noblssss, soinins v^rini 1s siinxls psnxls. Die Lothringer sprachen eben ihr
eignes Französisch, das den durch Sorbonne und Akademie gebildeten Fran¬
zosen gründlich mißfiel. Im Jahre 1785 gab ein Abbs Dubois, um solchem
Ärgernis abzuhelfen, eine Schrift heraus, betitelt: l^hö loeutions vieisusss,
usitsss su I^rraws, und auf Anregung der Akademie in Metz veröffentlichte
ein Schulmann, I. F. Michel, 1807 eine erweiterte und dringende Mahnung
an seine Landsleute unter dein Titel: vistisnimiro ass sxxrs88jhn.8 visiousss,
usitsos notÄMnient 6^N8 1a si-äsvWt vrovines as Il0rrg.ins.
Welche Nutzanwendung haben wir nun aus solche» Erfahrungen zu ziehe»,
wenn wir diese verwerten wollen zur Erkenntnis der deutschen nationalen Auf¬
gaben im Lande bezüglich der Sprache? Vor allem müssen wir den Gleich¬
mut bewundern, womit Frankreich die Sprachenfrage in älterer und neuerer
Zeit behandelt hat. Ludwig XIV. und seine Nachfolger überließen Elsaß,
Lothringen und die Bistümer ganz und gar dem Handelsverkehr mit dem
Reiche, mit den Niederlanden und der Schweiz, und zwar mit der bestimmten
Absicht, die fremden Nachbarstaaten zunächst mit diesem Vorlande in geschäft¬
liche Verbindung zu bringen und auf diese Weise den Einfluß der französischen
Oberhoheit zu erweitern. Wie richtig sie dabei gerechnet hatten, beweist die
Leichtigkeit, womit sich das ganze linke Rheinufer in sein Schicksal fand, als
es unter französische Herrschaft geriet. Nachdem Frankreich die Zollgrenze
mit der Staatsgrenze abgeschlossen hatte, ging es wieder nicht daran, die
deutsche Sprache im Elsaß und im Westrich auszurotten. Reichlicher Ersatz
für das durch staatlichen Zwang erreichbare bot die Zentralisirung. Durch
die großen Prinzipien" von 1789, die man in Deutschland verkehrterweise so
gern für hohle Phrasen erklärt, war den deutschsprechenden und den prote¬
stantischen Elsüssern die Gleichberechtigung mit allen Vollblutfranzosen gesichert;
Frankreich überließ aber keineswegs Elsaß und Lothringen sich selbst. Wer
eine Laufbahn im Staatsdienste, in Handel, in Kunst und Wissenschaft u. s. w.
anstrebte, der war auf Paris angewiesen. Diese Anziehungskraft Frankreichs,
die sich noch heute geltend macht, überhob den Staat der Sorge um die Ver¬
breitung der französischen Sprache. Die völlige geistige und materielle Ab¬
hängigkeit der Provinz war schon durch die Zentralisation gesichert; und heute,
nach der politischen Abtrennung des Landes von Frankreich, ist dieser unge¬
schwächt fortbestehende Wanderzug nach Frankreich völlig ausreichend, uns
den noch auf lange Zeit gesicherten Einfluß Frankreichs auf das Reichsland
zu erklären. Die Sicherung dieses Einflusses hat Deutschland selbst besorgt,
indem es durch Einführung des norddeutschen Bundesgesetzes vom 1. Juni 1870
über Erwerbung und Verlust der Bundes- und Staatsangehörigkeit der Be¬
völkerung den Weg wies, wie man die Jugend dem Lande entfremden und
dein kinderarmer Frankreich erwünschten Zuzug zuwenden kann. Nicht auf
dem Aufenthalte von Franzosen im Reichslande, nicht auf deu Hetzereien
französischer Blätter, nicht auf der Schaustellung französischer Gesinnung und
französischen Wesens durch französische Aufschriften und geflissentlicher Gebrauch
der französischem Sprache in der Öffentlichkeit beruht der französische Einfluß
im Lande; das sind nur Notbehelfe und feindselige Kundgebungen, das sind
uur Erscheinungsformen einer tiefer liegendem Ursache, das ist die Wirkung,
aber nicht die Ursache selbst. Die Ursache liegt darin, daß infolge der fort¬
gesetzten Auswanderung die Hälfte der Gedanken, der Hoffnungen, der Herzens¬
wünsche und der Strebereien der Bevölkerung über der Grenze liegt; und zwar
sind es uicht eitle, thörichte Vorspiegelungen, es ist auch nicht nur die Folge alter
Gewöhnungen, die diesen Hammelsprung über die Grenze bewirkt; es sind wohl
erprobte Erfahrungen, regelmüßig bestätigte Hoffnungen, denen dieser Zauber
zuzuschreiben ist, der keineswegs eine Wahnvorstellung ist; Frankreich bietet
in jeder Hinsicht gute Gelegenheit zum Fortkommen für Ehrgeizige oder
Erwerbsüchtige aller Art.
Die Anstrengungen, die seit 1870 von Einheimischen gemacht werden,
den französischen Sprachunterricht auch im deutschen Sprachgebiete zu erhalten,
beruhen auf dem Wunsche, daß die Jugend auf öffentliche Kosten die Befähigung
zu irgend einer Laufbahn in Frankreich erhalten möge, wie die Väter und
Großväter. Es ist keineswegs nur eine unüberwindliche Abneigung gegen die
neuen Zustände, gegen den Dienst im deutscheu Heere, die die Eltern bestimmt,
ihre Kinder für Frankreich auszubilden; man weiß es eben nicht anders.
Wäre Deutschland heute schon in der Lage, die Wünsche der jungen Leute,
die ihr Fortkommen suchen, auf sich zu ziehen, dann würde die ganze Sprach¬
frage eine andre Färbung gewinnen, dann würde der Abfall von den alten
Überlieferungen rasch erfolgen. Aber das übervölkerte Deutschland, ,,wo nichts
zu holen ist," wie man immer hört, ist in dieser Beziehung dem der Einwan¬
derung bedürftigen Frankreich nicht gewachsen. Aus diesen Verhältnissen muß
man sich anch die auffällige Thatsache erklären, daß der junge Nachwuchs in
Elsaß-Lothringen weit mehr nach Frankreich strebt, als wie wir, von der Schule
und vom Heeresdienste rasche Erfolge erwartend, uns hatten träumen lassen. Wir
können nicht verkennen, daß in der Sprachenfrage die Kanalisirung der Mosel
und des Rheins, Zölle und Tarife, Kohle und Eisen eine weit bedeutendere
Rolle zu spielen berufen sind, als das Verbot französischer Inschriften, als
die Verdeutschung von Orts- und Straßennamen, ja sogar als Schule, Kirche
und Heer. Je mehr es gelingen wird, Handel und Verkehr in die Richtung
Mich Osten zu bringen, desto gleichmütiger und hochherziger kann Deutschland
die ganze Sprnchfrage behandeln. Deshalb ist aber auch die ganze nationale
Aufgabe Deutschlands weit weniger eine Leistung einer energischen Verwaltung
oder einer klugen Polizei, als die Aufgabe einer weitschauendeu Handels- und
Verkehrspolitik, nicht eine Aufgabe der Landesverwaltung, sondern eine Auf¬
gabe der Neichsleitung.
Was soll nun aber inzwischen die Landesverwaltung beginnen, bis die
Reichsverwaltung den Zug mich Osten vorbereitet haben wird? Über die
Aufgaben der Landesverwaltung im deutschen Sprachgebiete des Elsaß und
in Lothringen kann man nicht in Zweifel sein; hier gilt es, den Zerstörungs¬
kampf, den Frankreich unternommen hatte, einzustellen, wie dies auch schon
geschehen ist. Im französischen Sprachgebiete die französische Sprache mit
Stumpf und Stiel auszurotten, dazu besitzt das deutsche Staatswesen ebenso
wenig die Fähigkeit, wie Frankreich imstande gewesen ist, die deutsche
Sprache zu vertilge». Der deutschen Sprache kann und soll nur die Rolle
der herrschenden, der Ehrensprache gesichert werden, deren Kenntnis unerlä߬
liche Vorbedingung für die Teilnahme am öffentlichen Leben ist. Auf diesen:
Wege wird die Doppelsprachigkeit der obern Schichten erreicht werden, die die
Leitung der öffentlichen Angelegenheiten, die Vertretung in den Körperschaften
des Landes erstrebt; in den Dörfern wird das?atois NöZLiu und das l^atois
liorrain auf unabsehbare Zeit die Umgangssprache bleiben. Daneben wird die
französische Sprache immer die Sprache der Wanderlustigen sein. Die deutsche
Verwaltung wird sich nach den bisherigen Erfahrungen wohl durch zwei Er¬
wägungen leiten lassen; sie hat sich der Zumutung nicht gefügt, im deutschen
Sprachgebiete Lothringens die französische Sprache in den Schulen zu Pflegen,
da doch auch Frankreich nie daran gedacht hat, in den Departements Vosges
und Meurthe et Moselle wegen der neuen deutscheu Nachbarschaft deutschen
Sprachunterricht in den untern oder höhern Schulen einzuführen. Die deutsche
Verwaltung mußte aber auch in den Schulen des französischen Sprachgebietes
die deutsche Sprache einführen, weil sonst die deutsche Einwanderung in Stadt
und Land alsbald der Verwischung verfallen würde, ebenso wie die Kinder
französischer Beamten im deutschredeuden Teile von Lothringen, wie 1869
öffentlich geklagt wurde, ihre Muttersprache verlernten.
Anhänger des Nationalitätsprinzips werden nun der Meinung sein, daß
im deutscheu Elsaß und im deutschen Lothringen die Anstrengungen der deut¬
schen Verwaltung, der deutschen Sprache zu der ihr gebührenden Ehrenstellung
zu verhelfen, im Lande selbst Anerkennung und Teilnahme begegnen, daß da¬
gegen im französischen Lothringen die nationalen Verhältnisse Schwierigkeiten
bereiten werden. Aus solcher Annahme könnte man geneigt sein zu folgern,
daß im französischen Sprachgebiete von Lothringen mit besondrer Rücksicht und
Schonung vorzugehen sei. In der That liegen aber die Bedingungen für das
Verhalten Deutschlands beinahe umgekehrt. Der deutsche Elsnsser verarge es
eben wegen seiner amphibischen Neigungen der deutschen Regierung, daß sie
den französischen Sprachunterricht aus der Schule entfernt hat, weil er den
Kindern keinen Ersatz dafür im Hause bieten kann, und weil so die Möglich¬
keit der sprachlichen Erziehung ,,fürs Frankreich" benommen wird. Der fran¬
zösische Lothringer dagegen ist für Einführung des deutschen Sprachunterrichts
dankbar, der dem. Nachwüchse die nützliche und allenthalben verwertbare
Kenntnis beider Sprachen sichert. Dabei wird überdies der deutschen Aufgabe,
die Kenntnis der deutschen Sprache im französischen Lothringen zu verbreiten
und dort ein sprachlich gemischtes Gebiet zu schaffen, einerseits der unleugbare
Zug nach dem Westen, die fortwährend deutsche Einwanderung und zwar
weit mehr nach Lothringen als ins Elsaß führt, andrerseits die Neigung der
Lothringer zur Auswanderung zu statten kommen. Das sind günstige Be¬
dingungen, die man ruhig mit der Zuversicht weiter wirken lassen kann, daß
das Ergebnis für Deutschland vorteilhaft sein werde. Die deutschen Eiferer, die
aus der wohlbegründeten Entrüstung über sprachliche Kundgebungen im Reichs¬
lande den Schluß ziehen, daß man Kraftanstrengungen machen müsse, um die
französische Sprache und sei es dnrch die Mittel auszurotten, die unter ganz
andern Verhältnissen Ludwig XIV. anzuwenden in der Lage war, die mag
man mit ihren grnndumkehreuden Vorschlägen sich ruhig austoben lassen.
Es ist ja eine alte Erfahrung, daß die Höhenlage der Bildung oder der
Stellung nicht immer der Weite des politischen Gesichtskreises entspricht.
Zur deutschen Verwaltung können wir das volle Vertrauen haben, daß sie sich
durch untergeordnete leidenschaftliche Beweggründe nie wird bestimmen lassen.
Wenn man aber fragte, bis wann etwa ein den deutschen Erwartungen ent¬
sprechender Zustand eintreten wird, so läßt sich darauf nur antworten, daß
der Gang der Dinge weder dnrch die Schule, noch durch das Heer, auch nicht
durch Zwangsmaßregeln und durch deutsche Einwanderung wesentlich be¬
schleunigt werden wird. Ein rascher Umschwung wird aber von dem Zeit-
Punkte ab eintreten, wo es der deutschen Handels- und Verkehrspolitik gelingen
wird, den Wandertrieb nach Westen, wenn auch nicht in eine rückläufige Be¬
wegung zu bringen, so doch aufzuhalten und Vorteile aus den Beziehungen
zum Osten in Aussicht zu stellen. Dann werden die Erinnerungen an die
Vergangenheit verblassen, und wir werden die in den Berichten aus vergangne»
Jahrhunderten bestätigte Erfahrung machen, daß die Volkssprache keine ma߬
gebende Bedingung für die Neigungen im Staatsleben ist. Wir können daher
zur Zeit nur die Hoffnung aussprechen, daß das deutsche Reich die sich
bietenden Gelegenheiten, wie die Kcmalisirung der Mosel, als Anlässe zur
Erfüllung nationaler Aufgaben benutzen werde. Aber auch dünn darf man
nicht gleich mit ungestümen Hoffnungen vorgehen; je sichrer die sachliche
Grundlage ist, mit desto größrer Gelassenheit mag das weitre abgewartet werden.
Die geschichtlichen Erinnerungen, die uns bei Betrachtung der Sprachgrenze
in Lothringen beschäftigt haben, erwecken auch das Andenken an die uralte
Formel, womit der adliche Assisenhvf in Nnncy Sache», die uoch nicht spruch¬
reif schienen, zu spätrer Erledigung vertagte: (1v c>ni in; «0 l'u,it, tora.
s fehlt in unsrer Zeit des nationalen Aufschwunges nicht an
Patrioten, die das Christentum oder wenigstens die römische
Kirche beschuldigen, den Charakter des edeln dentschen Volkes
verschlechtert zu haben. Die eine der drei Grundeigenschaften
der alten Germanen, die Tapferkeit, hat nnn in den ersten sech¬
zehn Jahrhunderten der christlichen Zeit entschieden keine Einbuße erlitten, und
was die andern beiden: die Keuschheit und die Wahrhaftigkeit anlangt, so hat
selbst Felix Dcihn, dieser begeisterte Anwalt des unverfälschten Deutschtums,
nicht umhin gekonnt, die heute gehegten ein wenig sentimentalen Idealvor¬
stellungen vom urgermanischen Wesen als falsch zu bezeichnen. Wir wollen
nnr eine Stelle aus der zweiten Hälfte des ersten Teiles seiner deutschen
Geschichte anführen. „Gerade das ist das Große an dem politischen und
kriegerischen Auftreten Chlodovechs, daß er deu tief strömenden Zug der Zeit,
das Bedürfnis, die Reife zur Zentralisirung wenigstens seiner Franken und
der Germanen in Gallien erkannte, und daß er, getragen von diesem Strome
der Zeit, mit aller Leidenschaft, mit Heldenmut und mit altheidnischer Kampfes¬
freude jenes Ziel verfolgte: freilich auch mit List und mit zahlreichen großen,
brutalen, man möchte sagen naiven Frevelthaten, in denen noch die Naivität
des zugleich tückischen und derb gewaltthätigen Barbaren spürbar ist. Ans
römischen Einfluß ist dieses brutale Todschlagen und arglistige Morden nicht
zurückzuführen; römisches Blut in Chlodovech ist rein durch gar nichts bezeugt;
als Wiedervergeltung gegen römische Frevel darf man jene Thaten auch nicht
entschuldige», denu nicht gegen Römer — gegen seine germanischen Vettern
und Mitkönige hat er jene Frevel geübt; und endlich wollen wir uns doch
hüten vor der sehr Widergeschichtlichen, sentimentalen, durch und durch un¬
wahren Schwärmerei für die ausnahmslose Treue und Redlichkeit der alten
Germanen: im Eingang unsrer Geschichte steht jene Teutoburger That, deren
Von Wotan eingehauchte Arglist nur dnrch ihre furchtbare Großartigkeit ge¬
adelt und als äußerste.Notwehr eines auf den Tod bedrohten Volkstums ent¬
schuldbar wird. Um Verrat und Gewalt zu mischen, brauchten diese mit der
ganzen Arglist und zugleich mit der maßlosen wilden Kraft des Barbaren
ausgerüsteten Söhne des Urwaldes nicht erst bei den Römern in die Schule
zu gehe». Es ist daher wohl auch allzu patriotisch, wenn man Chlodovech
um seiner Ruchlosigkeiten willen einen „französischen," nicht einen deutschen
(soll heißen: germanischen) .König nennen will; es fehlt wahrlich auch nicht
an germanischen Fürsten mit solchen Thaten und Eigenschaften (z. B. Genserich)."
Dann ist nicht zu vergessen, daß die genannten beiden Eigenschaften zu
den Tugenden einfacher Kulturzustände gehören, und daß sie selbst bei einem
Volke, in dem sie die Natur so tief gegründet hat wie in dem unsern, den
Versuchungen nicht Stand zu halten Pflegen, die ans einer höhern Kultur, aus
verwickelten Verhältnissen und aus dem Zusammenwohnen vieler auf einem
kleinen Raume entspringen. Jene Stämme, die sich auf die Wanderschaft be¬
gaben, mußten notwendigerweise schon in dem jahrelangen Lagerleben noch vor
aller Berührung mit den Römern die Reinheit des Familienlebens einbüßen,
die in dem einsamen Frieden eines abgeschlossnen Gehöftes zu bewahren nicht
eben schwierig gewesen war. Die Langobarden zeichneten sich wahrlich weder
dnrch besondre Neigung zum Christentum noch durch Freundschaft für die
römische Kirche aus; aber ihre Gesetze bezeugen deutlich einen hohen Grad
jener Roheit, die, wie wir annehmen wollen, ihnen nicht ursprünglich eigen,
sondern eine Folge der auf ihrer Wanderschaft eiugerisfnen Verwilderung war.
Endlich war der Begriff der Sklaverei, den wir Heutigen für ganz un¬
verträglich mit höherer, ja mit wahrer Gesittung ansehen, bei den Germanen
nicht weniger scharf ausgebildet als bei den Griechen und Römern, und der¬
selbe Bahn, der den Einfluß des heiligen Augustin auf die Gestaltung der
Politischen Verhältnisse des Abendlandes als höchst verderblich aufs tiefste be¬
sagt, gesteht doch andrerseits zu, daß jenes Hemmnis echter Menschlichkeit
allein durch die Kirche überwunden worden sei. „Ursprünglich — sagt er — sind
die Unfreien gar nicht zum Volke gehörig; sie sind Sachen, wie die Haustiere,
des Volksrechts nicht fähig — eben weil nicht zum Volke gehörig, und andres
Recht giebt es, wenigstens im Anfang dieses Zeitraumes, noch nicht. All¬
mühlich bildet sich für sie ein besondres Standesrecht, das Hoferecht; vorher
schützt sie nur etwa das Kirchenverbot mit geistlichen Strafen wider gewisse
äußerste Folgerungen des Grundsatzes, daß sie nur Sachen, nicht Personen
sind. Sehr langsam werden im Eherechte zuerst die Rechte, dann im Straf¬
rechte die Pflichten der Unfreien als berechtigter und verantwortlicher Rechts-
subjekte, als Personen gewürdigt: die Ehe auch des Unfreien ist der Kirche
ein Sakrament, nicht durch die Willkür des Herrn ohne weiteres zu zerreißen;
andrerseits wird der christliche Knecht, der ein Verbrechen, eine Sünde begeht,
nicht mehr wie ein unbeseeltes, verantwortungsloses Werkzeug durch den Be¬
fehl seines Herrn von jeder geistlichen und weltlichen Strafe entschuldigt."
Also von einer Verschlechterung des deutschen Charakters durch die rö¬
mische Kirche kann ebensowenig die Rede sein, wie der segensreiche Einfluß
des Christentums auf alle, auch die germanischen' Völker geleugnet werden darf.
Nur dieses ist an dem Vorwurfe wahr, daß bei der Sittenverderbnis, die
zuerst im Gefolge der Völkerwanderung und wüster Kämpfe, dann als Wir¬
kung wachsenden Reichtums und höherer Kultur eintritt, die Geistlichkeit eine
hervorragende, sehr unrühmliche Rolle spielt. Aber auch hierbei ist wiederum
zu bedenken, daß die Geistlichen doch Kinder ihres Volkes waren, wie denn
überhaupt die mittelalterliche Kirche stofflich nichts andres war als die Christen¬
heit, d. h. als die Gesamtheit der europäischen Völker. Gerade durch den
Cölibat wurde die Geistlichkeit verhindert, sich als abgeschlossne Kaste gegen
den geistigen und leiblichen Vlutumlauf im Volkskörper abzusperren. Jede
Geschlechtsfolge der Welt-- und Ordensgeistlichkeit kam frisch aus dem Schoße
des Volkes, und die Deukuugs- und Lebensart, die sie von ihrem Ursprünge
mitbrachte, wird sich im allgemeinen stärker erwiesen haben als das Gepräge,
das sie von ihrer Körperschaft empfing, sodaß das Volk für die Sünden seines
Klerus mindestens in demselben Grade verantwortlich war, wie dieser für die
Sitten und Unsitten der Laien.
Was die kirchlichen Zustände am Ausgange des Mittelalters vielen un¬
erträglich machte, war nur ein besondrer Fall des tragischen Konflikts zwischen
Ideal und Wirklichkeit, dem sich kein Genosse einer höhern Kultur zu entziehen
vermag. Die eine Seite des Widerspruches, um den es sich in diesem Falle
handelte, haben wir bereits bei andrer Gelegenheit beleuchtet; daß nämlich
die Kirche nicht von dieser Welt ist, aber um in der Welt wirken und sie
überwinden oder wenigstens einigermaßen veredeln zu können, sich in welt¬
lichen Formen verkörpern, weltliche Macht und irdischen Reichtum erwerben
und benutzen muß. Die Hierarchie ist es, an der diese Seite des Wider¬
spruches in die Erscheinung tritt. Aber nicht minder abstoßend wirkt er,
wenn wir den Blick auf die Volksmassen werfen. Ein geläuterter christlicher
Glaube und eine reine christliche Gesinnung finden sich immer nur bei wenigen
Auserwählten. Noch niemals und nirgends ist es gelungen, ein nach Mil¬
lionen zählendes Volk in den Zustand einer großen Gemeinde der Heiligen
zu erheben. Das ganz einzige um den Zuständen des fünfzehnten Jahrhunderts
war nun weniger die damalige ungeheure Größe des Widerspruches, als der
Übelstand, daß sich der Widerspruch jedem Einzelnen auf Schritt und Tritt
aufdrängte. Indem die Kirche darauf ausgegangen war, das ganze Leben zu
heiligen und mit religiösem Inhalt zu erfüllen, indem sie jeder Ortschaft in
einem stattlichen Gotteshause einen weithin sichtbaren, ans Jenseits mahnenden
Mittelpunkt gegeben, alle Plätze, Wege und Stege mit Kreuzen und Heiligen-
bittern geschmückt, jeder Handlung des privaten und des öffentlichen Lebens eine
sakramentale oder halbsakramentnle Weihe verliehen, die Jahre, Wochen und
Tage in ein Netz von Gebeten und Andachtsübungen eingesponnen hatte, war
sie schließlich zu keinem andern Ergebnisse gelangt, als daß der nachdenkende
durch jeden Glockenschlag vom Kirchturm, bei jedem Gange über die Straße,
bei jeder Geschüftsverrichtung, bei jeder Mahlzeit daran erinnert wurde, wie
er selbst und seine Umgebung den religiösen und sittlichen Anforderungen der
Kirche fast mit jeder Lebensregung ins Gesicht schlugen. Dem wenigstens,
der seinen Blick auf die Schattenseiten des Volkslebens gerichtet hielt, schien dieses
das einzige Ergebnis der Wirksamkeit der Kirche zu sein. Den Deutschen ward
durch ihre Ehrlichkeit und Gründlichkeit dieser Zustand ganz unerträglich gemacht,
während es die Romanen bis auf den heutigen Tag leichter fertig bringen,
sich entweder mit cynischen Spott darüber hinwegzusetzen, wohl auch trotz
ausgesprochnen Unglauben und frecher Lasterhaftigkeit die kirchliche Heilscmstnlt
als Versicherungsanstalt gegen etwaigen jenseitigen Brandschäden vorsorglich
weiter zu benutzen oder sich vor dem Widerspruch ins Kloster zu flüchten,
und falls er sie auch dort noch peinigt, ihn mit dem kindlichen oder kindischen
Glauben an die lösende Kraft von Weihwasser, Amuletten und Ablässen zu
beschwichtigen.
Was demnach die Völker und namentlich die Völker germanischer Ab¬
stammung brauchten und herbeisehnten, das war weniger eine Erneuerung des
Urchristentums, als vielmehr eine gründliche Verweltlichung des Lebens.
Man wollte endlich einmal die ewigen Mahnungen an ein Jenseits los werden,
dessen Anforderungen zu genügen unmöglich schien. Nicht allein jene un¬
würdigen lebendigen Mahner haßte man, die als ein verkörperter frecher Hohn
auf den von ihnen gepredigten Glauben herumwandelten, die feisten und fau¬
nischem Mönchsgesichter mit ihren schmierigen Kutten, sondern auch solche
stumme und doch deutlich sprechende Erinnerungszeichen wie die Kruzifixe.
Unverwirrt und frohgemut wollte man seinen Geschäften, Unternehmungen
und Genüssen nachgehen, nicht aller Augenblicke durch Mahn- und Strafreden,
durch Warnungen, Verheißungen und Drohungen gestört werden, die aus dem
Munde schlechter Priester kommend, jede edle Empfindung verletzten, aufrichtig
gemeint aber und von gläubigen Asketen gesprochen den ganzen natürlichen
Menschen empörten, der sich gerade damals im Anblick lockender Reichtümer
und Genüsse und im Lichte des wiedererstandnen klassischen Heidentums seiner
Vollkraft und seiner Ansprüche bewußt wurde. Renaissance und Humanismus
ohne die Zugabe von Mönchskutten, Andachtsübungen und Kirchengesetzen,
das ungefähr war das Ideal eines Hütten, und was die Massen begehrten,
das war, wenn auch gröberer Art, doch nicht wesentlich davon verschieden.
Luther freilich würde sich in tiefster Seele gekränkt gefühlt haben, wenn
ihm jemand gesagt hätte, daß er von Gott berufen sei, die Religion in den
Hintergrund zu drängen, damit sich das weltliche Leben freier und widerspruchs¬
loser als bisher entfalten könne. Ihm war es heiliger Ernst mit der Er¬
neuerung des wahren Christentums, das auch seiner Meinung nach dieses
irdische Leben beherrschen sollte. Die Schwierigkeit, ja die Unmöglichkeit der
Aufgabe, die Massen zu einer vollkommen reinen Auffassung und würdige»
Behandlung des Heiligen zu erheben, verkannte oder übersah er allerdings
nur in den ersten Zeiten seines begeisterten Kampfes gegen die verrottete
Hierarchie. Schon im Jahre 1526 bekannte er in der Einleitung zu der
deutschen Messe, die er für die kursächsischen Gemeinden verfaßt hatte, daß
diese neue Gottesdienstordnung ihn selber nicht befriedige. „Die rechte Weise,
meint er, müßte nicht so öffentlich auf dem Platze geschehen unter allerlei
Volk, sondern die, so mit Ernst Christen wollten sein und das Evangelium
mit Hand und Mund bekennen, müßten mit Namen sich einzeichnen und etwa
in einem Hause allein sich versammeln zum Gebet, zu lesen, zu taufen, das
Sakrament zu empfahen und andre christliche Werke zu üben. In dieser
Ordnung könnte man die, so sich nicht christlich hielten, kennen, strafen, bessern,
ausstoßen oder in den Bann thun. Hie könnte man auch ein gemein Almosen
den Christen auslegen, das man williglich gäbe und austeilte unter die Armen.
Hie dürfts nicht viel und groß Gesanges. Hie könnte man auch eine feine
kurze Weise mit der Taufe und dem Sakrament halten und alles aufs Wort
und Gebet und die Liebe richten." Und je länger je härter rügt er in seiner
derben Weise das Verhalten des großen Haufens, der die dem deutschen Volke
aufs neue geschenkten Kleinode, das Evangelium, den reinen Glauben und die
christliche Freiheit weder zu würdigen, noch zu gebrauchen verstehe, sondern
nach Art gewisser unsaubrer Tiere nur besudle. Es gereicht ihm zum höchsten
Ruhme, daß er das scheinbar unmögliche dennoch unternahm und für diesen
unverbesserlichen und unbelehrbarer großen Haufen eine feste, für alle brauch¬
bare und wirksame Gottesdienstordnung einsetzte. Gerade damit liefert er den
Beweis für die Echtheit seines Christentums; denn der gläubige Christ weiß,
daß alles menschliche Wirken nur Stückwerk ist, daß es nicht auf den Erfolg,
sondern auf den guten Willen und die Treue des Wirkender ankommt. Er
spricht daher niemals: Entweder alles oder nichts, sondern thut, was im
Augenblick möglich ist, indem er den Erfolg und die Lösung der Frage, ob
solchem kümmerlichen Stückwerk vor der göttlichen Idee irgend welche Daseins¬
berechtigung zukomme, Gott anheimstellt. Auch durch die Liebe zum Volke,
das er nicht im Stich läßt, um sich hochmütig auf ein kleines Konventikel
auserwühlter Seelen zurückzuziehen, bewährt sich Luther als echten Christe».
Daß alle Menschen Ebenbilder Gottes seien, meint Lotze, sei ein erhabner
Gedanke; aber es falle schwer, daran festzuhalten, wenn man den Ebenbildern
Gottes auf der Straße begegne. Eben in der Überwindung dieses Wider¬
strebet bewährt sich das praktische Christentum. Und endlich darf nicht über-
sehen werden, daß sich solchergestalt seine praktische Thätigkeit ganz und gar
auf den innerhalb des heutigen Protestantismus so heftig angefochtenen
Glaubenssatz von der Kirche als einer Heils- und Erziehungsanstalt stellt.
Weit entfernt davon, die Belehrung und Erbauung dem freien Belieben jedes
einzelnen Gemeindemitgliedes zu überlassen, mag er beides nicht einmal den
Predigern zu unbeaufsichtigter Übung anvertrauen. „Mich dünkt, sagt er an
derselben Stelle, wo man die Postillen gar hätte durchs Jahr, es wäre das
beste, daß man verordnete, die Postillen des Tages, ganz oder ein Stück, aus
dein Buche dein Volke vorzulesen, nicht allein um der Prediger willen, die es
nicht besser könnten, sondern auch um der Schwärmer und Sekten Treiben zu
verhüten; wie man siehet und spüret an den Homilien in den Melken pu
Priesterlichen Stuudengebet, das zwar jetzt nur noch als eine Privatobliegeu-
heit der katholische« Priester fortbesteht, ursprünglich aber öffentliches Chor¬
gebet war und an den Domkirchen noch heute ist; wenn es anch wegen der
dabei angewandten lateinischen Sprache dem Volke unverständlich bleibt^.
Sonst, wo nicht geistlicher Verstand und der Geist selbst redet durch die
Prediger (welchen ich nicht will hiemit Ziel setzen; der Geist lehret wohl besser
reden denn alle Homilien und Postillen), so kömmts doch endlich dahin, daß
ein jeglicher predigen wird, was er will, und anstatt des Evangelii und seiner
Auslegung wiederum von blauen Enten gepredigt wird."
(Fortsetzung folgt)
n jüngerer Zeit hat Imsen, diesmal rein für seine eigne
Person und ohne politisch-soziale Ausblicke daran zu knüpfen,
sodaß ihn hier die begonnene Antikritik nicht beirren kann, ein
neues Glaubensbekenntnis veröffentlicht, und diesmal nun auch
mit einer Lösung, die eben auch nur ganz von seiner Person
genommen und ausschließlich auf diese zugeschnitten ist, nur für sie über¬
haupt eine darstellt. Diese zweite Beichte ist sein schon erwähnter Roman
„Runensteine"*). Da sind in der Einleitung die drei Weltanschauungen,
die sich nicht vereinbaren lassen, zu überirdischen Frauenbildern verkörpert, die
auf deutungsvollen Steinen der Vorzeit an einsamen Strande des ewig gleichen
Meeres bei einander ruhen. Die eine „trug dunkles, fast nächtig schwarzes
Haar zu ernster Tracht um das Haupt gefesselt. Ihre Züge waren unbeweg¬
lich ruhevoll, wie die sterngleicheu Augen, die sich über die unabsehbare Weite
des Meeres fortrichteten. Sie gewahrten nichts um sich her; ihr Blick ward
von einer Leuchtkraft aus dem eignen Innern erhellt; doch auch ein fremdes
Licht, das mir nicht sichtbar von unendlicher Ferne kommen mußte, spiegelte
sich zwischen ihren weit offenen Lidern. Ein schwärmerischer Glanz ging aus
ihnen hervor, doch ohne Wärme, wie Stcrngefnnkel einer Winternacht, streng
und kalt." So also sind der Glaube und die abstrakte Theologie in Jensens
Auffassung beschaffen. Die Gestalt giebt auf die Frage nach ihrem Wesen
den Bescheid „mit metallener Stimme gleich dem Anschlag einer Erzglocke:
Ich schaue die Ewigkeit des Lebens." Dem zweiten symbolischen Frauenbilde
streift das blonde Haar ins Aschenfarbene und wirft im Meerwinde flatternd
Schatten wie Faltenstriche des Alters über das Antlitz. „Ihre Augen nahmen
auf, was um sie lag, doch sie waren glanzlos, stumpf, leer und gleichgiltig.
Auf den Lippen kauerte eine Regung des Gemütes, aber wenn sie zum Laut
wurde, konnte sie sich nur in ein Wort bitteren Hohnes umsetzen." Ihre
Antwort, mit dem Klang der gesprungenen, zerrissenen Glocke: „Ich schaue die
Nichtigkeit des Lebens." Die dritte, in wunderbarer Schönheit geschildert,
am meisten wie ein irdisches Weib, sie allein unter diesen dreien ihre Hoheit
als eine unbewußte Mitgift tragend, im Antlitz Glück und Trauer wundersam
gemischt und auf den lebenswcmnen blühenden Lippen eine zuckende Regung
zwischen Lachen und Weinen. „Was bleibt dir noch andres zu thun übrig?"
fragt sie der Blick, nachdem der Mund jene beiden ersten Antworten erhalten
hat. „Da wandten (Imsen schreibt wendeten) sich ihre Augen mir entgegen,
warm wie Sonne des Frühlings und blau gleich seinen Veilchen. Mein Herz
erzitterte seltsam unter dem Blick, süß und bang, denn es ward aus ihm von
allem durchflossen, was es je in sich empfunden. Und eine weiche Menschen¬
stimme sprach — und wieder klang es mir bis ins Herz, wundersam von
seliger Wonne und tiefem Weh zugleich durchbebt: »Ich schaue die Flüchtigkeit
des Lebens.« Mir aber flog von den Lippen, aus tief aufatmender Brust:
»O du Liebreiche, Hohe, du Göttlich-Menschliche, laß mich dir noch in das
schöne, beglückende, trauernde Auge sehen!«"
In dieser übrigens für Jensens Stil und Wortgebrauch charakteristi¬
schen Stelle der „Runensteine" ist der goldene Schlüssel zu Jensens hoher,
wehmütiger Schönheitsreligivn gegeben. Freilich die „Runensteine" selber
halten nicht völlig, was sie versprechen; die erzählende Durchführung wird
der monumentalen Größe des in der Einleitung gegebenen Programms doch
nicht vollkommen gerecht. Desto näher aber begegnen wir der dritten, der
göttlich-menschlichen jener drei Nornen des Dichters im „Vorherbst" wieder,
desto häufiger blicken dort ihre blauen Augen aus den wohllautenden Versen
heraus, sind dort Glück und Sonnenschein, Ahnung und Wehmut, wie sie von
Imsen empfunden werden, in schönster und, was man bei ihm doch stets be¬
sonders anmerken muß, durch keine Weiterungen gestörter Abklärung nieder¬
gelegt. Freilich, wem das Miusnto mori mitten in diesen in Schönheit sich
wiegenden Versen unerträglich ist, der muß Imsen gänzlich fallen lassen; das
einfache Goethische „Am Sein erhalte dich beglückt," das eben auch nur eine
Resignation darstellt, verträgt sich nicht mit der Art dieses Dichters. Jensens
niederdeutsche Natur ist zu schwerblütig oder doch richtiger viel zu ernsthaft
und zu lebenskräftig, um auch nur auf eine Reihe von Augenblicken der
Ahnung blasses Gesicht zu vergessen; immer und immer wieder bäumt sich die
Seele, wenn sie sich soeben noch in weltverlorener Sommerschönheit träumend
geöffnet hat, in unmittelbarem Erschrecken auf gegen den plötzlichen leisen ge¬
spenstischen Wink. Und da ist es nun ergreifend, zu sehen, wie dieser Dichter,
der alles Positive im Denken überwunden und abgethan zu haben vermeint
und andern so vieles oder alles genommen hat, schließlich verstohlen, einsam
und allein, doch wieder genau denselben Pfad wandelt, den er als die Not¬
brücke der Angst erkannt hat, denselben, den das erste und nächste übersinn¬
liche Bedürfnis aller Menschheit aller Orten gegangen ist, wie er dazu gelangt,
die Fortdauer nach dem Tode nun für sich selber, wir sagen gewiß nicht zu
hoffen, aber ihrer doch auch zu bedürfen, sie nicht ein für allemal aufgeben,
entbehren zu können, sie selber wieder zu postuliren und sich auf einfachste
und eigenste Art in sie hinein zu träumen. So in dem Gedichte „Heimlicher
Besuch," der wehmütigen Rückkehr aus dem „seltsamen Liegen" unter dem
grauen Friedhofsstein zum Lichte der Sonne und zu seiner liebsten, besten Welt:
Wenn mir in Frühlingszweigen
Zu Häupten die Knospe springt —
Und in mein nächtig Schweigen
Das Jauchzen der Amsel klingt —Wenn goldene Schmetterlinge
Hintaumeln über den Stein,
Und flimmernd goldene Ringe
Drauf spielt der Sonnenschein,Da wirds nicht schlafen mich lassen
Im dunkeln, engen Gemach,
Allmächtig wird es mich fassen,
Mein Herz wird allzuwach,Es wird aus der Brust mir drängen
Ein göttlicher Sehnsuchtstrieb
Und meine Kammer zersprengen —
Ich hatte die Sonne zu lieb.
Und dann die lautlose Einkehr bei seinen Lieben im wohlbekannten Hause, im
Garten zwischen dein Blütengesträuch:
Ihr seht mich nicht, und ihr hört mich nicht;
Zu nebelbleich wird ein Menschengesicht
Vom langen Schlafen im dunklen Grund . . .Und still nun sitz ich euch zur Seit'
Und teil euer Glück, euer Hoffen und Leid;
Ich höre, wies allen erging und ergeht,
Mich grüßt manch altvertrautes Gerät.So bleib ich bei euch bis zur dämmernden Nacht;
Auf Büschen und Bäumen dann glimmert es sacht.
Und der Mond steigt herauf, und im Schweigen sitzt ihr —
Da spricht eine Lippe gedenkend von mir.Und es schwellet die Brust mir mit seligem Schmerz,
Und ich muß und umfang dich und schließ dich ans Herz,
Nicht fühlst du den Kuß, den ich dankend dir gab,
Nur ein Schauer laust kühl dir vom Nacken herab.
Ein Gedicht ist in der Sammlung, „Zuletzt," die Schilderung sanfter, Ver¬
gangenheit und Gegenwart, Täglichkeit und Ewigkeit traumhaft in einander
wehender Phantasten des Sterbenden. So etwas wie diese reimlosen Strophen
ist kaum je gedichtet worden. Aber ein Gefühl sagt, dies Gedicht Hütte aus
der Sammlung wegbleiben sollen. Denn es ist zu innerlich wahr; so groß
und alles beiseite schiebend ist selbst das Recht der Wahrheit nicht. Selbst in
seinem Frieden, gerade in diesem Frieden ist das Gedicht zu ergreifend, zu
sehr bis zum Schluchzen erschütternd.
Nahe verwandt dieser niemals ganz verstummten Scheidewehmut ist das
verlangende Gedenken des Dichters an die Frühzeit des eignen Lebens. Diesem
gehört uuter anderm ein kleines bezeichnendes Gedicht „Gelbe Blätter" an.
Gedanken, wie sie über vergilbten, halb sehnenden, halb thörichten Papieren
der Knabenzeit aufsteigen, zuerst ironisch-belustigt, bis sich allmählich das
Auge feuchtet und seltsam weit hinüber durch Lebensfernen starrt; und dann
das große Erinnerungsbild an die verlassene, meerumschlungene Heimat, und
mehr als das, die Jugend und das Leben selbst umfassend:
Noch einmal möcht ich über grünen Feldern,
Drauf braun und buntgescheckt die Rinder stehn,
Umrahmt von Haselzaun und Buchenwäldern
Die blaue See in Sonnenweite sehn;
Das Sehnen nochmals fühlen, das den Knaben
Aus ihrem Anblick schauernd überlief,
Noch einmal wachend möcht ich wieder haben,
Was lauge mir geheim im Herzen schlief.
Es legt die Heimen sich mit goldnen Banden
Um unsre Willensfreiheit ernst und weich;
Die Scholle, drauf das Kind zuerst gestanden,
Ist heilger Boden, dem kein andrer gleich.
Dort scheint die Sonne, dort nun sprießt am Raine
Der ersten Frühlingsblüten Heller Kranz,
Dort taucht aus ahnungsvollem Diimmerscheiiie
Der Nachtgestirne tramnesstiller Glanz.Und wo wir alles gleichend wiederfinden,
Ein Rückglanz ists nnr, der aus allem strahlt,
Nur des verschlungnen Tones nachempfinden,
Ein Bild mir, das Erinnerung uns malt.
Wo sich die See noch dehnt zu blauen Weiten,
Wo, still wie einst, noch blieben Busch und Vanen,
Noch einmal möcht ich mit mir selber schreiten,
Mein Leben vor und hinter mir ein Traum.
Etwas ähnliches übrigens, wie es hier alldort, klingt auch in den Worten, worin
Imsen das Facit seiner Auswanderung in den deutschen Süden zieht, wieder:
Es ist die Fremde. Ob sie reizumflossen
Und unter einem Himmel licht und lind,
Doch enges Eiland nur mit Weib und Kind.
Die „schöne Fremde," in die er zog, sie ist ein kühler Begriff geblieben. Ihr
fehlt der Naturlaut der Heimat, „der alt vertraute Wind, der Kindheitsträume
um die Seele spinnt," Bekannte und Genossen sind da, aber die mangeln, die
aus dem gleichen Boden entsprungen sind, es fehlt der alte traute Winter¬
abend inmitten nordischer Sturmwelt, und mit ihm auch
Des Freundes Einkehr, der zur späten Stunde
Mit Schnee bedeckt noch an der Hausthür schellt.
Jensens Größe in seinen Schilderungen der umgebenden Natur ist
bekannt und auch gefeiert genug, es wäre überflüssig, aus dem überreichen
Liederschatz des „Vorherbstes" besonders beweisen und belegen zu Wollen,
wie überall seine innerste Seele mit unsichtbaren Fäden an die unmittelbarsten
Regungen und Stimmungen der Landschaft und der Jahreszeiten angeschlossen
lind festgekettet ist. Aber noch weit über alle Szenerien und alle Malerei
seiner Erzählungen geht hinaus, wie innig er in diesen Gedichten das tiefste,
geheimste Wesen der Natur belauscht und widerklingen läßt. Wir heben nur
die Blätter „Frühlingswind," „Föhn" und „Im Vorfrühling" hervor, das letzte
mit dem Schluß:
Mir aber ist süß und sonnig
Von Träumen die Seele bewegt,
Wie selig vor seinem Geburtstag
El» Kind zum Schlafen sich legt,
dann „Svnnenmndigkeit," und das prächtige:
Und wieder ists des Sommers Geisterstunde,
Da stumm das Haus im heißen Mittag schweigt,
Geschloszne Luder full'n die Saalesrnnde
Mit goldnem Dämmern; nur, von Laub umzweigt,
Trägt fernher von des Nebenraumes Dunkel
Ein Fenster blitzend sonnengrünes Licht, . .
alles, um echte Gedichte zu sein, keine bloßen Momentzeichnnngen oder Farben¬
skizzen, sondern mit der erzeugten eignen Stimmung und dem nachhallenden
persönlichen Empfinden eng verknüpft, ferner (in eigenartiger Neuformung
des uralten und faustischeu Verschmachtens nach Begierde im Genuß) das
Angcnblicksbild, wie mitten heraus aus leuchtend herrlichem Sonnentag urplötzlich
das Verlangen auftaucht, am kalten Wintertage hinter den geschlossenen Scheiben
zu sitzen, an die das Schneegestöber prickelt, um sich — nach des Sommers
Sonne zu sehnen. Und so eins nach dem andern, und zuletzt die schwermütig
schönen Gedichte, die das wechselreiche Ausklingen der schönen Jahreszeit und
dann das müde Scheiden der gealterten Natur begleiten.
Dazu, welcher einfache Wohllaut überall! Kann man einen Dichter nennen,
der Zeusens Bestes darin überträfe? Und einen, der ihm an Mannichfaltigkeit,
an beherrschender Sicherheit gleichkäme? Wir möchten sie alle, alle aufführen,
diese Lieder der Natur und des Empfindens in und mit ihr. Hier nur eines
davon; laufen diese Zeilen nicht, als sähe man in Sommertagsglut die heiße Luft
über den wiegenden, duftenden Feldern zittern? Es ist „Glocken" überschrieben:
Über die Felder zieht eS so weit,
HochzeitSgelünt oder Traucrgeleit:
summender Glocken singender Klang
Wiegt sichs im Winde den Wegzcmu entlang,
Wallt ans des Frühlings flimmernder Saat,
streift um den heimlichen Eichcnbuschpfad —
Sacht nun verschwebend, wie zitternd entflohn,
Neu sich belebend mit schwellendem Ton,
schwingend und klingend um graues Gestein,
schwirrend wie Bieuen am sonnigen Rain,
Schattendurchirrend, allüberall —
Tief nun im Wald ein verhallender Schall
Zwischen den Stämmen im grünen Geäst,
Leis wie im Laubdach ein zwitscherndes Nest —
Gleitend auf Wellen und lispelnd im Rohr,
Nieder vom Himmel, vom Boden empor
steigend und fallend wie Lerchen im März,
Spinnend im Ohr und dnrchrinnend das Herz!
Über die Felder unendlich weit
Hochzeitsgeläut oder Trauergeleit.
Und nirgends ist die reine Stimmung dnrch des Gedankens Blässe gestört
oder eingeengt. Beginnt doch das wundervolle Gedicht „An die Nacht"
Die Nacht ist weich — wie deine Wangen,
Wie deine Stimme der Windeshall,
Es flimmern die Sterne wie deine Blicke —
Ich wollt entrinnen meinem Geschicke,
Und bin von dir gegangen
Und bin von dir gefangen
Allüberall
mit einem pantheistischen Eingeständnis des auf alle vermeintliche Omnipotenz
seiner Naturwissenschaft gestützten Grublers:
nächtige Stille
Hoch über der Welt;
Ein mächtiger Wille
Lenkt und halt
Das Sterngewühle.
Das kein Denken ermißt.
Steh schweigend und fühle,
Wie nichtig du bist!
Auch in dem Gedichte, das wie eine Fortsetzung des eben angeführten erscheinen
könnte, da es nach den letzten Rätseln der Schöpfung und des Weltenregimentes
fragt: ,
Wer bist du,
Der den Schwalbenflug
Durch die Lüfte leitet,
Der im Wolkenzug,
Der im Winde schreitet?
ist alles Empfindung und Gemälde, und nichts von Philosophie Hinzugethau.
Und „Wahrheit" —
Warum willst du zu ihr streben?
Wahrheit ist nicht Glück, nicht Leid,
Ist nur Todeseinsamkeit,
Ohne Liebe, ohne Leben,
Über allem Zeitgebilde
Reglos thronend gleich der Zeit,
Abglanz uur der Ewigkeit,
Ohne Zorn und ohne Milde.
Staunend haben wir unter den etwa 150 Gedichten des „Vorherbstes"
keine bestimmtere Wendung gegen das Christentum und nur einen einzigen
Ausfall gegen den Glauben gefunden, der aber so flau ist, daß er gar nicht
in das Buch hineingehört. In dem „Kleinen Gerank," dem Anhange, wird
dann noch ein wenig und nicht etwa nur mit Unrecht räsonnirt, wobei freilich
das eine oder das andre unterläuft, was man boshaft auch einmal Imsen
uuter die Augen halten könnte. Und einen Jmmediatstreifzug vor den
Hohenzollernthron für den „Geist" wollen wir auch lieber mit dem Mantel
der christlichen Liebe verhänge»; Imsen scheint, wo er für die Menschheit fordert,
ein Optimist des 1/vtg.t, v'sse, luoi zu sein. Das nebenbei. Im ganzen fallen
in diesem Buche, das den Dichter nur natürlich, menschlich und persönlich
giebt, alle die Nebensächlichkeiten weg, die man von ihm sonst bei jedem
neuen Buche sicher zu erwarten gewöhnt war, und damit gerade auch die,
die man viel weniger gut vertrüge, als ein wenig Poltern. Diese Gedichte
sind durch das, was sie haben, wie durch das, was sie ausschließen, geradezu
der Erkenntuisspiegel dnsür, was zu Imsen gehört und was ihm nur an¬
geflogen, was Manier ist. Zu dieser Manier gehörig erweisen sich, als im
„Vorherbst" ganz fehlend, anch die fast in allen seineu Erzählungen ange¬
brachten ein- bis zweimaligen Pikanterien. Um hierin richtig verstanden zu
werden, ist wieder noch eine kleine Auseinandersetzung nötig, denn auch in
dieser Beziehung läßt sich durchaus nicht alles bei ihm unter einen Hut
bringen; die Stellen, wo Imsen überhaupt an das Sinnliche rührt, begegnen
vielmehr in ganz verschiedener Art, lassen sich in Gruppen oft von ganz ent¬
gegengesetztem Gepräge ordnen. Zunächst handelt es sich, wie wir feststelle»,
nie um eigentlich sexuelle Szenen, auch nie um laxe Moral oder unsittliche
Tendenz. Das gemeinsame Thema ist vielmehr der ästhetische Kultus der
weiblichen Leibesschönheit. In der einen Gruppe, zu der z. V. „Eddhstoue"
und „Nirwana" gehören, wird die Schilderung ausgereifter, kraftgeschwellter
Weiblichkeit uuter die farbcnsatten Bilder, die die Erzählung vor dem Ange
des Lesers Heraufziehen läßt, voll offener, herzhafter Sinnlichkeit aufgenommen.
Gegen diese Szenen liegt es uus fern uns an dieser Stelle zu ereifern, zumal
da sie der Handlung — gewöhnlich werden sie, da die Helden viel zu gut dazu
sind, von Nebenpersonen herbeigeführt — mit ausreichender Motivirung an¬
gehören, frischweg der Kraftempfindung entsprungen und vou einem Kolorit
und Schönheitszauber umflossen sind, die sie rein künstlerisch wirken lassen,
wir möchte» sagen, wen» wir an Clcimenee Guvraud denken, wie Tizianische
irdische Liebe. Solche Szenen und Figuren gehören ja schon seit einigen
Jahrzehnten anscheinend zu den unentbehrlichen Requisiten unsrer Litteratur;
uur daß Julius Wolff und andre, die so weit oder weiter gehen als Imsen,
auch oftmals Hesse selbst, der darin der eigentliche Lehrmeister unsers Er¬
zählers gewesen zu sein scheint, von diesem an Schilderungsvermögen und an
ruhiger Unbefangenheit übertroffen werden. Mit den deutschen Zolnisten und
ihren nndelikaten Orgien ist natürlich jeder Vergleich unangebracht. Ein
ganz andrer, eigentlich das gerade Gegenteil zu dem Bildner jener üppigen
Figuren ist Imsen, wenn er versucht, das hohe Lied der weiblichen Unschuld
zu gestalten, die in ihrer lilienhaften Reinheit nnr desto sichrer und unbefangner
ist, weil sie niemals durch hinweisende Vorschriften und Warnungen gehütet
und aufgeschreckt worden ist und — die er dann allerdings ein paarmal
doch naiv gemeinte Thorheiten und Unvorsichtigkeiten, ja Zudringlichkeiten
begehen läßt, die, wie wir wenigstens meinen, über das Ziel hinausschießen,
und von denen wohl selbst die unschuldigste zwölfjährige Kindlichkeit durch
ein unbewußtes Gefühl abgehalten wird. Das Reinste und Schönste in diesem
Typus hat Jensei? in dem fast vergessenen epischen Gedichte „Die Insel" ge¬
schaffen, vielleicht dem poetischsten seiner Werke, das z. V., wie wir uns er¬
innern, Theodor Fontane unter den wenigen Büchern aufführte, die er nannte,
als vor ein paar Jahren die unnützen Fragebogen nach den „hundert besten
Büchern" umliefen. Was der Dichter in der „Insel" erzählt, ist, stofflich
verwandt, doch hundertmal schöner als die Paradiesesgeschichte des alten
Testaments und mit der ganzen Feinheit seiner psychologischen Meisterschaft
und mit aller nur denkbaren Keuschheit und Reinheit durchgeführt. Und auch
sonst noch manchmal — wenn man auch die Figuren, die zu viel beweisen
wollen, abzieht — sind ihm verwandte, wir möchten sagen Psychegestalten
wohlgelungen. Was wir nun aber gar nicht lieben, was störend und
Peinlich berührt, das ist das dritte, das sich bei ihm findet: die hie und da
gerade in jüngern Werken vorkommenden, gar nicht oder aufs notdürftigste
motivirten Episödchen, die durchaus nicht sinnlich gemeint sind, aber anch nicht
unschuldig wirken, diese überflüssigen Blicke wie durch die Thürspalte in das
Ankleidezimmer junger Mädchen („Doppelleben"), diese öffentlichen Foltern
sittsamer junger Weiber vor grinsenden Richtern („Minatkn") oder höchst ver¬
wunderlichen Anforderungen jugendlicher Stürmer und Dränger an junge
Damen, deren SeelcUgröße und gesellschaftliche Vorurteilslosigkeit damit angeb¬
lich gemessen werden soll („Über die Wolken"). Hier steht der Leser zuweilen in
Gefahr, mit dem zuthulichem Onkel, dem dreisten Studenten oder dem lüsternen
Ketzerrichter den Verfassers selber zu verwechseln; diese Szenen haben etwas
Claurensches oder, um anch sie schließlich mit Gestaltungen der bildenden Kunst
in Parallele zu stellen, etwas von dem abgelebten Behagen, das den jungen
und alten Greisen des heutige:? Frankreichs die vierzehnjährigen Mädchen
Henners und andrer so hoch im Preise steigert. Man würde aber den? Dichter
großes Unrecht thun und ihn nur ganz oberflächlich kennen, wenn man dabei
an irgendwelche bewußte Absichtlichkeit von ihm dächte. Es ist alles nur all¬
mählich gewordene Manier, an der er.selbst keinen innern Anteil hat, lahme
Abfälle und Schnitzel des ersten, des sinnlichen oder Wucherungen des zweiten,
des Unschuldstypus, die er nicht streng kontrollirt, und denen gegenüber er
aus langsamer Gewöhnung nicht mehr mit so scharfer Grenze empfindet, wie
der ihn sonst verehrende Leser, der diese Gewöhnung eben nicht in allen ihren
Stadien und leichten Übergängen mitgemacht hat, und dem diese Dinge jedes¬
mal um der Dichtung selber willen leid thun. Vor allem kultivirt Imsen
diese Szenen nicht des Publikums wegen; im Gegenteil, er brauchte nur
zu erfahren, dergleichen sei inzwischen Modegeschmack geworden, so ließe
er es sofort, ja er zöge dagegen zu Felde. Vielleicht hat sich einmal ein
Kritiker gegen diese Geschmacksverirrung, als sie zuerst auftauchte, gewandt;
wie unser Friese einmal ist, wäre er dann im Stande, sie nun erst recht
der „Prüderie" zum Trotz und immer wieder bis zur Schablone zu
bringen. Das erscheint sogar als die wahrscheinlichste Erklärung, denn im
„Vorherbst," wo nur wirkliche eigenste Art ist, findet sich, wie gesagt, derlei
überhaupt nicht.
Imsen wird nun aber nicht bestreikn können, daß er durch einzelne
Eigentümlichkeiten oder Äußerlichkeiten seines langen Schaffens für ein paar
Haupttendenzen, mit denen sich das „jüngste Deutschland" oder die „Moderne"
breit macht, mit am meisten Bresche gelegt hat. Natürlich ohne die
Absicht solchen Erfolges. Er steht zur „Moderne" ungefähr in dem Ver¬
hältnis wie der Liberalismus der Bourgeoisie zur Sozialdemokratie; die
Parallele erstreckt sich auch uoch weiter: auf den bittern Gegensatz zwischen
dem „vorurteilsfreien" Vater und dem Töchterlein, das gelehrig der freien
Erziehung gelauscht hat, dann aber eines schönen Tages sagt: „So, nun finde
ich mich allem weiter" und dem händeringenden Erzeuger höhnisch mit einigen
von seinen eignen Doktrinen Autwort giebt. In München lief vor kurzem ein
böses, böses, aber sehr gutes Epigramm um, das die „Dichter von gestern"
und die „von heute" als Erwiderung aus einen in der „Moderne" gehaltenen
Vortrng in Vergleich stellte; das wurde wohl nicht mit Unrecht allgemein ans
Imsen zurückgeführt. Auch in seinem „Vorherbst," der an sich so gar nicht
polemisch ist, steht eine Distichenreihe „Kunst und Naturalismus," und auch
sonst runzelt er verächtlich die Stirn über unsre Zeit, ihre am meisten zu
Tage liegenden litterarischen Bewegungen und Neigungen und das dazu ge¬
hörige Publikum:
Ein letztes, armes Stück begrabner Zeit
Steht heut die Dichtung unter fremder Menge,
Die um sie her zu neuen Göttern schreit.
Es achtet keiner ihrer im Gedränge,
Wie sie im alten, modelosen Kleid
Dahingeht, auf den Lippen leise Klänge,
Die einst an ihrer Wiege noch geklungen;
Nur lachen da und dort die Gassenjungen —
Diese Gedichtsammlung ist, wie gesagt, eine Gabe aus dem innersten
Herzen, ein geheim geführtes Tagebuch, das zum erstenmale den Dichter ganz
erschließt und uns damit vielfach überrascht. Hier zum erstenmale erführe es
der Leser auch deutlicher, wie viele rührende Weichheit und Milde hinter
all der Schroffheit steht, die sich Imsen vor dem Publikum und für dieses
angewöhnt hat, welches tiefe, sast anachoretische Verlangen nach einer trans¬
zendentalen Wel't hinter dem unablässigen Gottesleugner«, welche Romantik,
welches Lobpreisen der Vergangenheit, welche Sehnsucht nach den still beschau-
liehen Zeiten etwa eines Matthisson oder Hölderlin, lauter reaktionäre Stim¬
mung hinter seinen vielfachen und lauten Beteuerungen und Bethätigungen
für den einem spezifisch jüdischen Liberalismus entsprungenen Zersetzungsgeist,
in dessen Truppe er als ein unwissend angeworbener und — nnbelohnter unter
den vielen Arbeitern, die mau bei der Abräumuug der abendländisch-christlichen
Kultur angestellt hat, so treulich mitgeholfen hat. Erst in diesen Gedichten
befreit sich seine Dichtererscheinung von einer Anzahl der bisher in ihr befind¬
lichen unbegreiflichen Widersprüche. Nehmen wir hinzu, was wir in den
Erzählungen als die eigentlicher»! Gegenstände seines Widerwillens finden,
Stumpfheit und Pietätlosigkeit, gemeine Nützlichkeit und hartherzige Profitlich-
keit in der heutigen Gesellschaft, allgemeines Stimmrecht in Geschmacks- und
Verschonernngssachen und all das vorhin schon erwähnte, und fassen wir
dann das ins Auge, was wir dort, wo er selber formt und erfindet, als
die leitenden Sterne seines rastlosen Schaffens erkennen, so ergiebt sich ein
ganz geschlossenes und in seiner Eigenart einheitliches Charakterbild, um das zu
jeder Zeit die hohen Worte geschrieben standen: Schönheit, Wahrheit und
Menschenliebe. Diese hätten wir freilich auch lesen können, ohne erst noch auf
der Oberfläche des Bildes ein wenig hernmzukratzen. Aber auch dieses Privat¬
unternehmens freuen wir uns außerordentlich. Imsen wird freilich, das ver¬
hehlen wir uns nicht, von dieser unsrer Frende keine empfangen.
Sein „Vvrherbst" wendet sich an die alten Freunde — denn in der
That nur für nahe Freunde konnte dies Geheimtagebuch enthüllt und als ein
verehrungswürdiges Geschenk gegeben werden —, an alle die, die der Viel-
gelcsene doch nur ahnend und tastend sucht und zu finden hofft:
Euch alle grüß ich, die wir gute Freundschaft
Auf unserm Wandergang gehalten hatten,
Wenn zu Gefährten uns der Weg gesellt > . .Dieselben Sterne sahn wir über uns;
Der Sonne Licht- und Wärmestrahl durchfloß
Mit süßem Schauern uns, und alle Schönheit
Empfanden wir mit einer Seele Kraft. . .Eins gebrach uns nur:
Weithin zerstreut von Anbeginne, sahen
Und hörten, kannten wir uns nicht. Wir schritten
Vielleicht einmal uns fremd und kalt vorüber,
Und keiner wußte, daß vom selben Blut
Des Geistes und Gemüts umsonst ein Tropfen
Im großen Lebensstrom den andern suche . . .
Wir meinen, wenn irgend etwas, so sollte und wird der „Vorherbst" die
Zahl der Freunde vermehren, und zwar so, daß der Dichter gerade die
neuen Freunde reichlich so wie die alten zu schätzen Grund haben wird.
Denn wenn er niemanden recht fand, der ihn noch ans Menschentum glauben
ließ, wenn er sich immer wieder wie die unzart berührte Schnecke einzog, so
war es doch wohl in der Hauptsache deswegen, weil er, um die „Menschen"
zu finden, in der falschen Richtung auszog und entgegenkam, übrigens dort doch
nicht annähernd genug entgegenkommen konnte. Er muß sie doch wohl auch
in den Kreisen gesucht haben, die, ihm ünßerlich näher stehend, doch nie die
seinen gewesen sind, und denen er mit genügend deutlicher Bezeichnung zu¬
letzt zuruft:
Mein Schritt ist fremd im Drängen eurer Gassen,
Mein Kopf verwirrt in euerm Wirbellreiben,
Mich blenden hinter euern Spiegelscheiben
Die glitzernd cinsgcstcllten Warcnmasscn,Und fremd klingt auch cur Wort mir; wir verstehen
Nicht unsre Sprachen. Laßt mich still beiseite.
Nicht null ich eure Rennbahnkränze schmähen,Doch was sich höchstens jeder auch erstreite,
Gern laß ichs ihm für eines Baumes Wehen
In abendlich beglänzter Feldesweite.
Schade, daß Viktor Hehn und er sich nicht gekannt haben.
le Gesellschaft für modernes Leben in München, die nnter der
Leitung des bekannten Realisten M. G. Conrad steht, hat um
1. Juni dieses Jahres bei dem Magistrat der Stadt München
eine Eingabe eingereicht, begleitet von einer Denkschrift, die der
Beachtung der weitesten Kreise würdig ist. Man braucht mit
den Zielen dieser Gesellschaft, die sich in der Betonung des etwas schwankenden
und unklaren Begriffes der „Moderne" mit der Freien Bühne in Berlin be¬
gegnet, uicht allenthalben einverstanden zu sein und kann dennoch nach dem
Grundsatze, das Gute zu nehmen, woher es kommt, das Anerkennenswerte aus
ihren Bestrebungen unparteiisch und vorurteilslos herausgreifen und zum
Nutzen der Gesamtheit verwerten.
In der erwähnten Eingabe handelt sichs um nichts geringeres, als um
die Gründung einer Volksbühne auf der Theresienwiese während des alljähr¬
lich stattfindenden Oktoberfestes. Der Rat der Stadt München trägt sich
nämlich mit der Absicht, die noch vorhandnen freien Gründe der Theresienwiese,
die sich bekanntlich vor den Fußen der Bavaria ausdehnt, auszuteilen und die
für das alljährliche Okwberfest bestimmte Fläche mit Dauerbauten, die dem
Festzwecke entsprechen, zu versehen. Die Gesellschaft für modernes Leben hat
nun bei diesem Anlaß ,,im Interesse der Förderung des künstlerische», mora¬
lischen und vaterländischen Geistes der Münchner Kunststndtbevölkerung (!)
und deren si. ihrerj Festgäste" beantragt, der Magistrat von München ,,wolle
bei diesem Anlasse nicht versäumen, auch für edelkünstlerischc Festesmöglich¬
keiten (!) einen geeigneten Raum der Wiese zu bestimmen und die Errichtung
einer freien TageSbühne auf der Thcrcsienwicse behufs (!) Aufführung volks¬
tümlicher Stücke aus der bairischen und deutschen Geschichte während des
Oktoberfestes in die Hand nehmen." So wenig modernes Stilgefühl diese im
besten Amtszopfe gehaltne Eingabe der Münchener „Modernen" verrät, so
gesund und so tiefgreifend ist der ihr zu Grunde liegende Gedanke. Die
nähere Erwägung desselben rückt uns unwillkürlich das Bild unsrer Volks¬
feste, wie sie sind, und ein Bild dessen, was sie sein könnten, vor Augen.
Volksfeste aller Art werden immer für den liebevollen und interessirten
Beobachter unsers Volkslebens eine reiche Fundgrube der Anregung bieten.
Wer sich jemals den kulturgeschichtlichen Wert einer zeitlich genauen Aufzeich¬
nung der jeweilig im Schwange befindlichen Gassenhauer vergegenwärtigt hat
und die Bedeutung des faden Schunkelwalzers in diesem Sinne ebenso zu
würdigen weiß, als die der neuesten von jeder höhern Tochter abgemarterten
Melodie aus der „Baucrnehre," der wird bei einem Besuch eines Volksfestes
deu Schlag der kräftigsten Adern unsers Volkslebens laut und deutlich ver¬
nehmen. Leider sind die Wahrnehmungen, die bei einem solchen Ausfluge
gemacht werdeu können, fast ausschließlich der unerfreulichsten Art. Wenn
auch zwischen deu alljährlich wiederkehrenden Volksfesten und denen aus be¬
sondern örtlichen oder vaterländischen Anlaß ein Unterschied zu Gunsten der
letztern anerkannt werden muß, der sich vor allem in der durch einen besondern
Gedanken gehobnen allgemeinen Stimmung ausspricht, so wird man doch keiner
Schwarzseyerei geziehen werden können, wenn man den sittlichen Wert aller
derartigen Veranstaltungen sehr gering, ja noch unter Null anschlägt. Was
feiern wir denn noch für große Volksfeste? Mit den Namen: Schützen¬
feste, Krieger-, Sängerfeste ist die Reihe so gut wie erschöpft. Von einer
Politischen oder künstlerischen Bedeutung, von einer sittlich stärkenden Wirkung
über kann bei ihnen allen kaum die Rede sein. Es mag sein Gutes und sein
Berechtigtes haben, der überschießenden Lust an heitrer Unterhaltung und an
Geselligkeit, dem harmlosen, nach Äußerung drängenden Humor der Massen
einmal die Bahn frei zu geben und, abgesehen von deu groben Ausschreitungen,
einmal hier und dort ein Auge zuzudrücken, damit man die Zügel sonst um so
strenger und straffer handhaben könne, man mag die Volksfeste als eine Art
Sicherheitsventil betrachten; immer jedoch wird man sich hüten müssen, gegen
das kleinere Übel, das man auf diesem Wege los wird, ein größeres einzu¬
tauschen. Und das ist der Fall bei der Art und Weise der Volksfeste, wie
sie jetzt im allgemeinen gefeiert werden. Von einer Ausgleichung der gesell¬
schaftlichen Gegensätze, wie sie zu den guten Zeiten der alten Fastnacht und
vielleicht heute noch hie und da in südlichen Gegenden bei derartigen Anlässen
eintreten mag, ist heute nichts oder nur wenig mehr zu verspüren. Seitdem
die Aufgabe der allgemeinen Belustigung aus den Händen des Volkes selbst,
in denen sie sich z. B. in der Blütezeit des alten Volkslustspieles im fünf¬
zehnten und sechzehnten Jahrhundert befand, in die Hände geschäftsmäßiger
Spekulanten übergegangen ist, unterhält sich auch auf den Volksfesten die
Menge mehr oder weniger nach ihren Mitteln verschieden. Wo sich aber die
verschiedensten Elemente des Volkes, die sogenannten Gebildeten und die Un¬
gebildeten in den Bedürfnissen der Unterhaltung gemeinsam begegnen, da ist
es gewiß auf dein Gebiete niedriger und gemeiner Instinkte, die ja auf Volks¬
festen mit einer Erfindungsgabe ausgebeutet werden, die eines bessern Zieles
würdig wäre. Das Ergebnis aber dieser traulichen Gemeinsamkeit ist nicht
die Aussöhnung der gesellschaftlichen Gegensätze, sondern ihre Vertiefung, und
zwar in der Richtung der Minderung des Ansehens und der Würde der so¬
genannten Gebildeten. Auf diesem Wege arbeitet man der Untergrabung der
bestehenden Verhältnisse, wie sie die Sozialdemokratie betreibt, aufs wirksamste
in die Hände. Selbst die gut gemeinte Gepflogenheit der höchsten und aller¬
höchsten Kreise, eine gewisse Teilnahme an solchen Festen durch ein kurzes
Erscheinen zu bethätigen, dürfte bisweilen den entgegengesetzten Erfolg haben
und den in sittlicher Beziehung mehr oder weniger zweifelhaften Vergnügungen
eine Art obrigkeitlicher Zustimmung aufdrücken, die nur geeignet ist, das im
Grunde noch schlummernde eigne gesunde Urteil mancher Kreise zu beirren.
Alle diese Schäden sind so bekannt und so oft — leider fast immer vergeb¬
lich — beklagt worden, daß sie nur eben gestreift zu werden brauchen.
Die Hauptart der Vergnügungen aber, die auf solchen Volksfesten üblich
ist, muß doch noch näher beleuchtet werden, weil sie eine Frage berührt, die
weit über diesen Kreis hinaus von Interesse ist. Die Thatsache, daß unser
Volksgeschmack von Jahr zu Jahr mehr verroht ist und einer weitern Ver¬
wilderung mit eilenden Schritten entgegengeht, ist nicht aus der Welt zu
schaffen. Die Entfremdung unsrer Bühnen von den Bedürfnissen des Volkes
trügt daran eine Hauptschuld, nicht minder die Presse, die dieser Erscheinung
mit verbundnen Augen, wenn nicht geradezu fördernd gegenübersteht. Die
Blätter, die in dieser Beziehung ihrer Pflicht nachkommen, sind wie Weiße
Schwalben, und so zeitgemäße Betrachtungen, wie sie vor kurzem z. B. die
ultramontane „Kölnische Volkszeitung" an den neuesten Enthusiasmus der
Berliner über die Leistungen des Ringkämpfers Abs auf dem Spandauer Bock
knüpfte, finden vor den Scheren der meisten Redakteure keine Gnade. Und
doch wären derartige Betrachtungen im Interesse der Allgemeinheit oft weit
mehr angebracht, als spaltenlanges Hin- und Herreden über Vermutungen
z. B. auf dem Gebiete der auswärtigen Politik. Die Verrohung aber des
Volksgeschmackes wird auf den Volksfesten, um einen groben, aber treffenden
Vergleich Gottfried Kellers zu gebrauchen, groß gezogen, wie die Rübe im
Mistbeet. Das A und O der „künstlerischen" Unterhaltung aus Volksfesten
ist der Tingeltangel, d. h. eine Ausstellung von unverhüllten oder indezent
verhüllten Nacktheiten, eine Absingung von zweideutigen Liedern, die die Klippe
der polizeilichen Zensur hart umschiffen, und von albernen, jedes gesunden
Humors entbehrenden Gassenhauern. Das Ausländische spielt auch hier eine
lächerliche Rolle; denn der Gesang französischer und besonders englischer Lieder
bildet schon lange eines der feinsten Anziehuugsmittel derartiger Unternehmungen,
wobei dann das abenteuerliche Kostüm und eine entsprechende Gestikulation
dem Hörer das mangelnde Verständnis ersetzen muß. Zur Abwechslung aber
im Programm sorgen die unvermeidlichen Kraft- und Schlangenmenschen
beider Geschlechter, wenn nicht ein dressirter Ochse oder Esel dem Menschen
Konkurrenz macht. Es ist dies eines der traurigsten und widerlichsten Kapitel
in der Geschichte unsers neuesten Volkslebens. Wenn man bedenkt, daß sich
die Zahl dieser „Künstler" auf Tausende beläuft, daß sie in einer internatio¬
nalen Vereinigung organisirt sind und über ein Fachblatt verfügen, in denen
neben der in Paris ausgebildeten Kostümsoubrette mit zweiunddreißig nagel-
neuen Garderoben der Athlet, der ein Pferd hebt, „Engagement" sucht, und daß
diese „Künstler" Honorare beziehen, um die sie mancher gefeierte Schauspieler
beneiden muß, dann darf man wahrlich sagen, daß wir es in unserm neun¬
zehnten Jahrhundert herrlich weit gebracht haben. Der Abbruch, den die Ver¬
anstaltungen dieser künstlerischen „Crome" dem Theater machen, wird noch lange
nicht hoch genug angeschlagen, und Kenner der Verhältnisse werden den Über¬
mut dieser „Artisten" wenigstens begreiflich finden, wenn sie sich, wie es ge¬
schehen ist, dem Schauspieler und Opernsänger ebenbürtig zur Seite stellen.
Der Volksgunst sind sie mindestens ebenso gewiß wie diese; der Kreis ihrer
Bewundrer ist sogar noch größer und dankbarer. Es ist schwer zu verstehen,
wie es unser:« Behörden möglich gewesen ist, .die Gefahr für den Bestand der
geistigen und sittlichen Bildung zu verkennen, die aus dem raschen Anwachsen
des Artisten- und Spezialitätentums drohte und nun da ist, in vollster zer¬
störender Wirksamkeit, und es kann der Wunsch nicht laut genug ausgesprochen
werden, hier die dringend notwendige Abhilfe eintreten zu lasten, und zwar
zunächst durch rücksichtslose Einschränkung der Konzessionen. Hier gebieten
höhere Rücksichten. Auf unsern Volksfesten wird in dieser Richtung am meisten
gesündigt.
In diese schreienden Mißstände fällt nun der Vorschlag der Münchner
Gesellschaft für modernes Leben wie ein Sonnenstrahl aus bewölktem, düsterm
Himmel. Der in neuerer Zeit an manchen Orten eindringlich erHolme Ruf
mich einer Volkskunst findet hier eine schöne, heimische Stätte. Wahrlich hier
heißt es: Hio lUioclus, dio «iMi.!
In alten Zeiten, im Mittelalter bis zum Eindringen der berufsmäßigen
Schauspieler und in bevorzugten, wenigen Landstrichen noch heute bildet das
Schauspiel bei Volksfesten die vornehmste Art der Unterhaltung, oder eine
solche theatralische Aufführung gestaltete sich zu einem Volksfest. Es hat in
neuerer Zeit nicht an den mannichfaltigsten Versuchen gefehlt, ähnliche Ein¬
richtungen wie diese Besitztümer vergangner Zeiten zu schaffen oder noch
bestehende neu zu beleben. Der Gedanke aber, den alljährlich wiederkehrenden
Volksfesten durch Vorführung geeigneter Schauspiele einen geistigen Inhalt
und eine höhere Weihe zu verleihen, ist unsers Wissens noch nicht in der
Form einer thatsächlichen Anregung, wie in München, ausgesprochen worden.
Es hat immer sein Mißliches, zu besondern theatralischen Aufführungen eine
dem Aufwand an Mühen und Kosten entsprechende Zuschauermenge an einem
Orte zu vereinigen, und selbst in dem Falle des Gelingens dieser Aufgabe
wird es sich immer nur um einen in der langen Reihe der Jahre vereinzelt
dastehenden Fall handeln. Viel glücklicher und aussichtsreicher erscheint der
Gedanke, das Volk da aufzusuchen, wohin es einer alten Gewohnheit und der
täglich neuen Schaulust folgend von selbst zusammenströmt, d. h. auf den
Volksfesten, deren wohl jede Stadt im Laufe des Jahres mindestens eines
feiert, und deren Gäste sich aus der nähern und fernern Umgebung des
jeweiligen Festvrtes bunt und mannichfaltig zusammensetzen. Während die
Lutherspiele, die noch bestehenden Bauernspiele in Vaiern und Österreich oder
vollends die Bahreuther Festspiele die Schaulustigen zu sich entbieten und
daher der Zugkraft entweder einer lauten Reklame oder eines altbewährten
Ansehens bedürfen, würden Volksbühnen, die auf den Plätzen der Volksfeste
ihre Stätte suchen, den schwersten Teil der Aufgabe, das Publikum zu finden,
spielend und leicht lösen. Unter den Tausenden, die auf solchen Plätzen Ver¬
gnügen und Unterhaltung suchen, befinden sich Hunderte, denen die Pforten
eines stehenden Theaters fast durchweg verschlossen bleiben, und die mit Lust
die Gelegenheit ergreifen würden, für ein billiges Geld einmal etwas Gutes
und Erhebendes zu scheu. Soviel gesunden und tüchtigen Sinn aber darf
mau unsrer Bevölkerung aus Stadt und Land noch zutrauen, daß nicht zu
befürchten ist, die Schaustellungen niederer und niederster Gattung, die sich
jetzt auf unsern Festwiesen breit machen, würden die Lebenskraft ernsterer
Unterredungen schwächen oder gar unterdrücken. Im Gegenteil ist zu hoffen,
daß der freie Wettbewerb die Veranstalter zwingen würde, besseres und ernsteres
auch ihrerseits zu leisten.
Die Grundbedingungen volkstümlicher Bühnen wären aber billige Preise
und gute Leistungen. Selbstverständlich könnte zunächst ans die Mitwirkung
Wirklich hervorragender Schauspiclerkräfte an solchen Bühnen nicht gerechnet
werden, sie müßten sich denn, aus Interesse um der guten Sache, der Bil¬
dung des Volksgeschmackes und der Veredlung unsers Volkslebens über¬
haupt bereit finden lassen, ihren gewohnten weitgehenden Ansprüchen in
materieller Beziehung zu entsagen. Vielleicht würden sich aber später,
wenn erst entsprechende Einrichtungen getroffen wären, Künstler genug von
idealer Gesinnung finden, die bereit wären, ihre Kunst in den Dienst des
Volkes zu stellen. Freiwilligkeit im Dienste der Allgemeinheit wäre über¬
haupt die schönste und am meisten erfolgversprechende Losung, mit der ein
derartiges zukunftsreiches Unternehmen begonnen werden könnte. Was ließe
sich da nicht alles schaffen! In jeder, selbst in einer kleinen Stadt giebt es
Maler, die die nötigen Dekorationen schaffen könnten, die, natürlich in ein¬
fachem Stil und Geschmack gehalten, sich grundsätzlich von dem modischen
Prunk fernhalten müßten. Ebenso leicht wäre es, durch freiwillige Gaben
und Arbeitsleistungen die Kosten des Aufbaues eiues bretternen Hauses zu
bestreiten. Bei dem regen Zuspruch aber, der für Aufführungen einer Fest¬
bühne sicher zu erwarten steht, wäre dieser Weg durchaus nicht der allein
mögliche. Der Ertrag der Eintrittsgelder, die womöglich sür alle Plätze des
nach dem Muster des Bahreuther Hauses zu erbauenden Raumes dieselben
sein müßten, würde diese Kosten leicht und rasch decken, auch wenn man in
zweckmäßiger Weise einen für die Dauer gebauten Raum errichtete. Die Naum-
frage wäre gewiß überhaupt die am leichtesten zu lösende Frage. Schwieriger
gestaltet sich die nach dem Leiter des ganzen Unternehmens. Und da möchten
wir als obersten Grundsatz einen verneinenden aufstellen: Keinen Schauspieler
von Beruf oder Gewerbe! Das Unternehmen der Privatspekulativn ausliefern,
hieße es von vornherein in seiner geistigen und sittlichen Bedeutung gefährden.
Gewiß wird man den Rat dieser Kreise nicht entbehren wollen und können,
aber die oberste Leitung des ganzen Unternehmens muß in andern Händen
ruhen, und zwar in den Händen eines aus künstlerisch und litterarisch gebil¬
deten Müunern sich zusammensetzenden Ausschusses. Für den Anfang der
geplanten jungen Volksbühnen will uns kein andrer Weg empfehlenswert er¬
scheinen. Dieser Ausschuß würde, wie das z. B. bei den Aufführungen des
Herrigschen Lutherspieles an den meisten Orten geschehen ist, einen Fachmann
mit beratender Stimme zuziehen. Die etwaigen Überschüsse der Aufführungen
aber würden entweder zum weitern Ausbau der alljährlich in Wirksamkeit
tretenden Unternehmungen oder zu wohlthätigen Zwecken Verwendung finden.
Sollten sich in den Gesellschaften, die Volksfeste veranstalten, bei uns wohl
vorwiegend den Schützengilden, die geeigneten Männer für ein solches Be¬
ginnen finden, so wäre das nur mit Freuden zu begrüßen; sonst ist nicht
abzusehen, ans welchen Gründen sie einem Ausschuß, der so edle Ziele ver¬
folgte, nicht noch bereitwilliger entgegenkommen sollten, als jedem andern
Unternehmer. Die Frage nach den Darstellern kann in doppeltem Sinne be¬
antwortet werden: entweder Verufsschauspieler, und das wäre das bessere,
oder freiwillige Bürger. Daß solche bei energischer und planvoller Leitung
angemessenen Ansprüchen auf Kunst der Darstellung genügen können, hat die
jüngste Zeit an den verschiedensten Orten gelehrt. Da jedoch die Gefahr nur
zu nahe liegt, bei der alljährlichen Wiederkehr solcher Aufführungen ein uner¬
freuliches Dilettantentum und in Zukunft gar ein neues Kontingent zu dem
großen Bühnenproletariat heranzuziehen, so erscheint der Gedanke wenig sym¬
pathisch, zumal da zu befürchten ist, daß gerade die alljährliche Wiederkehr
der Aufführungen die bessern Elemente von der Beteiligung zurückhalten wird,
die jetzt an manchen Orten in ähnlichen volkstümlichen Darstellungen erfolg¬
reich mitgewirkt haben. Deshalb und auch aus künstlerischen Gründen würden
Berufsschauspieler den Vorzug verdienen, wenn auch eine streng sichtende Aus¬
wahl dringend geboten wäre. Vor einem nämlich müßten sich die Vvlksfest-
bühnen vor allem hüten, vor dem Fluche der Lächerlichkeit. Also keine Komödianten
aus Schmieren und Meerschweinchen! Der Sommer, die Zeit der künstlerischen
Volksfeste, ist für einen großen Teil mittelmäßiger Schauspieler eine Zeit der
Bräche und der äußern Entbehrungen; gewiß würde daher mancher, der jetzt
an einer zweifelhaften Svmmerbühue mint oder gar verdrießlich an den Lor¬
beeren des vergangnen Winters zehrt, mit Freuden an einem so ideal geplanten
Unternehmen wirken und gern die Rollen aus haben Berliner Possen, die ja
den Kern der Sommerunterhaltung in kleinern Theatern bilden, mit Rollen
aus guten Volksschauspielen vertauschen. Die Schwierigkeiten, die sich in
dieser Richtung dem Plan entgegenstellen, sind nicht zu unterschätzen, aber
unüberwindlich erscheinen sie nicht.
Am fühlbarsten wird es, daß es sich bei dem ganzen Gedanken um ein
schwieriges und für die Unternehmer dornenvolles Werk handelt, wenn man
sich nach den Werken umsieht, die den Spiclplan der Volksfestbühnen zieren
sollen. Die Zahl der vorhandnen, zu diesem Zwecke geeigneten Stücke ist sehr
gering; aber nicht die Masse, sondern die Beschaffenheit hat zu entscheiden.
Für jedes einzelne Fest dürften nur ein, höchstens zwei Stücke in Betracht
kommen, auf deren Aufführung aber müßte sich die ganze Spannkraft ver¬
einigen. Die Stücke selbst aber müßten, wenn auch das heitere Element in
den Äußerungen eines gesunden, kernigen, aber reinen Humors zur Geltung
kommen dürfte, Stücke von erhebender, tiefgreifender sittlicher Wirkung seil?.
Und was bietet sich da dem suchenden Auge besseres, geeigneteres als Schiller,
Goethe und Shakespeare, die auf diesem Wege so recht Eigentum des Volkes
werden könnten! Freilich auch diese nur mit Auswahl, vor allem bei Goethe
und Shakespeare! Gewiß würden auch die Epigonen noch eine Zahl passender
Dichtungen von kräftigem, volkstümlichen Schlage bieten, und auch, so ist zu
hoffen, die zeitgenössische Dichtung würde nicht säumen, deu neuerschlossenen
Pfad zu betreten und in enger Berührung mit dem Volke die nachhaltigste
Anregung zu neuen Werken gewinnen.
Zukunftsmusik — das ist das Schlagwort, unter dem diese Vorschlage, die
in Fluß gebracht zu haben ein uuleugbares Verdienst der genannten Münchner
Gesellschaft für modernes Leben ist, werden klassifizirt, aber damit, so hoffen
wir, nicht abgethan werden. Das Bedürfnis der geistigen und sittliche»
Hebung unsrer Volksfeste ist so offen erkannt und wird in weiten Kreisen so
schmerzlich empfunden, daß wir dem Gedanken einer Volksfestbuhne eine sieg¬
reiche Kraft zutrauen dürfen, an der schließlich auch der mit Bestimmtheit
vorauszusagende Widerstand der Bühnenleiter und Agenten scheitern muß,
wenn eine Verwirklichung des Planes nur erst ernstlich in Angriff ge¬
nommen wird.
Es liegt im Interesse der Sache, noch ans gewisse Einzelheiten der Denk¬
schrift,*) womit die Münchner Gesellschaft ihre Eingabe an den Magistrat be¬
gleitet hat, einzugehen und einige derselben zu widerlegen, die geeignet er¬
scheinen, das Gelingen des Unternehmens in Frage zu stellen. Vor allem
muß die Verschiedenheit des Standpunktes, der den obigen Ausführungen und
denen der Denkschrift zu Gründe liegt, betont werden. Wahrend es uns in
erster Reihe darauf ankommt, die sittliche Stufe unsrer Volksfeste zu heben,
sind die Beweggründe der Münchner vor allem künstlerischer Natur. Gewiß
verschließen sich auch die Verfasser der Denkschrift nicht der großen Bedeutung
der sittlichen Seite, aber der Ausgangspunkt wie das Ziel ihrer Wünsche ist
ausgesprochen in dein Bestreben, eine „Wiedergeburt der mittelalterlichen
Bühne" und damit eine völlige Umwälzung aus dem Gebiete des dramatische!?
Schaffens überhaupt heraufzuführen. Sie betonen daher auch besonders die
Bedingung, daß die zu schaffende Bühne eine offne Tagesbühne sein müsse,
die gegen die Zufälle der Witterung höchstens durch ein Zeltdach geschützt
werden soll. Die enge, geschlossene Bühne unsrer modernen Schauspiel¬
häuser, deren Entstehung in der Denkschrift im wesentlichen dem Ein¬
dringen der italienisch-französischen Oper zugeschrieben wird, eine Behaup¬
tung, die geschichtlich nicht völlig zutrifft, ist ihnen zu eng, zu dumpf
und zu unnatürlich. Sie verkennen zwar die Vorteile des modernen Bühnen¬
hauses „für die Verfeinerung des Dialoges, die größere Wirksamkeit der
menschlichen Stimme, eine reichere Verwendung ihrer Register, kurz für
die Entwicklung des Kabinetsftückes mit allem seinen Raffinement" nicht,
aber sie werfen doch die Frage auf, ob nicht eine Rückkehr zu dem
Natürlichen nnter Umstünden möglich oder ratsam, ja mit Rücksicht ans
bestimmte volkstümliche Zwecke unmittelbar geboten sei. Ohne Zweifel hat
die freie Tagesbühne vor der geschlossenen, künstlich beleuchteten große un-
verkcnnbare Vorzüge, aber dein stehen ebenso gewiß ebenso gewichtige Nach¬
teile gegenüber, schon vom rein künstlerische» Standpunkte ans, ganz abgesehen
von den klimatischen und von der Beschaffenheit der Örtlichkeiten sich er¬
gebenden Schwierigkeiten, die in der überwiegenden Zahl der Fälle dem
Wunsche ein unüberwindliches Nein entgegensetzen würden. Außerdem hieße
die Einführung der freien Tngesbühne dem erstrebenswerten Unternehmen einer
Vvlksfestbühne den Kreis der zur Aufführung geeigneten Werke unnötig be¬
schränken und überhaupt die an sich schon beträchtliche Zahl der Hindernisse
unnötigerweise vermehren. Endlich halten wir es für verfehlt, das vorwärts¬
rollende Rad der Entwicklung unsrer Bühnenkunst und Bühnendichtung rückwärts
bewegen zu wollen und von der Wiedereinführung der mittelalterlichen Mhsterien-
bühne das Heil zu erwarten. Jede Vereinfachung des überfeinerten und aus¬
geklügelten Bühnenapparates, der bisher fast uur dazu gedient hat, die
Jllusionsfühigkeit wie überhaupt die feinere Empfänglichkeit des Publikums
abzustumpfen, empfiehlt sich von selbst, aber allzu reaktionäre Bestrebungen
werden der Sache schwerlich dienen.
Mag aber nun das Münchner Unternehmen in der einen oder der andern
Weise zur Ausführung gelangen, jedenfalls verdient es die Beachtung aller
Kreise, denen die Hebung unsers Volkslebens am Herzen liegt. Visher ist
freilich über das Schicksal des Antrages der Münchner nichts bekannt geworden.
Der Gedanke aber selbst ist so lebenskräftig und so beachtenswert, daß wir
nur dem Wunsche Ausdruck geben können, er möchte sich auch in andern
Städten Bahn brechen und hier oder dort eine freundliche Aufnahme finden.
Wie der Gebirgswanderer, der nicht
ausschließlich dem Naturgenusse nachgeht, gern dem Laufe eiues Flusses vou seinem
Ursprung an folgt, um sein allmähliches Wachsen durch Zuflüsse, sein Überwinden
oder Umgehen von Hindernissen, seine Beziehungen zum Erdreich, zur Flora n. s. w.
zu beobachten, so führt, wer die Geschichte eines Volkes erzählt, gewöhnlich den
Hörer von den, ersten Auftreten des Volkes auf der Weltbühne, vou dunkeln An¬
fängen bis zur Gegenwart. Oder er beabsichtigt wenigstens dies Ziel zu erreichen.
Aber leicht können die Thaten und Schicksale in vergangenen Tagen mehr Zeit in
Anspruch nehmen, als ihnen eigentlich zugemessen sein sollte, und dann kommt die
Gegenwart zu kurz. Das ist unzweifelhaft ein Übelstand, und um ihm abzuhelfen,
hat der Kaiser bekanntlich angeregt, beim Geschichtsunterricht den umgekehrten Weg
einzuschlagen, wie in der Geographie von der Heimatskunde, so dort von der
Geschichte der neuesten Zeit auszugehen. Wie diese Methode auf ein neues Gebiet
zu übertragen sei, das will reiflich überlegt sein. Zu unsrer Überraschung haben
sich drei Lehrer am königlichen Kadettenkorps sofort aus Werk gemacht und mit
bemerkenswerter Geschwindigkeit die beiden ersten Abteilungen eines Lehr- und
Lesebuches der Geschichte vou der Gegenwart bis aus Kaiser Karl
den Großen (Lehrstoff für Sexta: Der Hohenzollern Thaten und Leben in den
letzten fünfhundert Jahren, Lehrstoff für Quinta: Lebensbilder aus der deutscheu
Geschichte von 1415 bis auf die Karolinger) zustande gebracht, das bei Mittler
und Sohn in Berlin erschienen ist. Die Darstellung beginnt mit der Thron¬
besteigung Kaiser Wilhelms II. Einer übersichtlichen Erzählung seines Wirkens
als Regent folgt seine Biographie bis zum Jahre 1888, dann eine Schilderung
seiner Persönlichkeit und seiner Lebensweise. In der gleichen Anordnung wird
das Leben Kaiser Friedrichs behandelt; da erfährt man auch, daß er „in blutigen
Kämpfen seines Vaters Krieger von Sieg zu Sieg geführt," auf dem Schlachtfelde
von Königgrätz den Orden xcmr 1s anrief und vor Paris die Feldmarschallswürde
erhalten hat; da jedoch diese Kämpfe und Siege nicht zur Zeit seiner Regierung
stattgefunden haben, so wird von ihnen erst im nächsten Abschnitt gehandelt.
Diesem sind unter der Überschrift: „Wilhelm I., 1861 (1871) bis 1883" folgende
Daten vorausgeschickt: „Deutscher Kaiser seit dem 18. Januar 1871. König von
Preußen seit dem 2. Januar 1861. Feierliche Krönung zu Königsberg am
18. Oktober 1861 (Kronenorden). Prinzregent seit 1858." Zunächst wird von dem
,,schwachen deutschen Bunde" berichtet, dessen einzelne Staaten, „an deren Spitze
Österreich stand, eifersüchtig einander zu schaden suchten." Was soll sich wohl
der Sextaner dabei denken? Die „zeitgemäße Verstärkung und Verbesserung des
preußischen Heeres wurde trotz alles Widerstandes vonseiten der Volksvertretung
durchgeführt"; warum das Heer verstärkt werden mußte, inwiefern es verbesserungs¬
bedürftig war, was es mit der Volksvertretung und deren Widerstande zu besagen
hatte, darüber wird nichts gesagt und konnte allerdings schwer etwas gesagt werden,
ohne zurück- oder hier vorzugreifen; dagegen erfahren wir, daß „am 18. Januar
1861 die den neu errichteten Truppenteilen verliehenen Fahnen zu Berlin um
Denkmal Friedrichs des Großen geweiht" wurden. Friedrich der Große? Ja fo,
von dem wird später die Rede sein! Unmittelbar an die Notiz über die Fahnen¬
weihe schließt sich nachstehender Satz: „Hierbei und auch später erwarben sich
drei Männer als thatkräftige Helfer in Sturm und Drang unsterbliches Verdienst";
der dritte dieser Männer ist „der soeben (!) sanft entschlafene Feldmarschall Graf
Helmuth von Moltke," Die Erzählung des deutsch-dänischen Krieges beginnt
folgendermaßen: „Bei der Ohnmacht des deutsche» Bundes traten die beiden ihm
angehörenden Großmächte Preußen und Österreich als selbständige Vorkämpfer für
Deutschlands Ehre ein." Nach dem Wiener Frieden wurde die Frage, was mit
den eroberten Ländern geschehen solle, „immer brennender; sie hing aufs innigste
zusammen mit der andern: Wird Preußen endlich die seiner Macht gebührende
Stellung im deutschen Bunde erhalten? Und sie wurde Anlaß zum Kampfe zwischen
Preußen und Österreich, die soeben noch ritterlich neben einander gefochten hatten.
Aber(!) unerträglich war die Art, wie man Preußens gesunde Kraft im deutschen
Bunde niederhalten wollte" u. s. w. Herwarth von Bitterfeld wird als Veteran
aus den Befreiungskriegen bezeichnet, von denen der Schüler natürlich noch nichts
weiß. Der Waffenstillstand wird erzwungen, „ehe noch Napoleon sich viel in die
Verhandlungen einmischen konnte." Glücklicherweise wird der Sextaner schon so
viel von der vaterländischen Geschichte im Elternhause gehört haben, daß er diesen
Napoleon nicht mit seinem Oheim verwechseln kann. Seite 14 ist zu lesen: „Paris
war für ihn ^Kaiser Wilhelm 1-1 nicht zum erstenmal das Ziel einer Kriegesfahrt."
Wieso? Nur Geduld, das wird uach seinem Tode auf Seite 20 berichtet werden!
Elsaß-Lothringen mußte zurückerlaugt werden. Das „Zurück" dürfte den wi߬
begierigen Zehnjährigen zu einer Frage veranlassen, auf die er vorläufig keine
Antwort erhält. „Einmütig erhoben Deutschlands Fürsten, freie Städte und
Völker ihren Heldenführer auf Barbarossas Thron." Wer nur der Barbarossa
sein mag? „Noch nicht zehn Jahre alt flüchtete Prinz Wilhelm mit der königlichen
Familie vor Napoleon nach Königsberg, ja nach Memel. Unauslöschlich blieb für
ihn der Eindruck dieses Krieges." „Dieser" Krieg kommt fünf Seiten später um
die Reihe. „Während der Unruhen im Jahre 1848" — welcher Unruhen?
Diese Proben genügen wohl zur Charakteristik. Erwähnt werden mag nur
noch, daß der Lehrstoff für Quinta folgendermaßen angeordnet ist: 1. Rudolf von
Habsburg bis Sigismund, 2. Konrad III. bis Konradin, 3. Konrad II. bis
Heinrich IV., 4. Heinrich I., Otto der Große, 5. Bonifatius, Karl der Große,
6. Mönchswesen, Rittertum, Städtewesen. Die Erzählung bewegt sich also vom
dreizehnten bis ins fünfzehnte, vom zwölften bis gegen Ende des dreizehnte«, vom
elften bis ins zwölfte, im zehnten, im achten Jahrhundert. Sie giebt hier die
strenge Umkehr der Zeitfolge für ganze Gruppen auf, ohne doch das System zu
verlassen, demzufolge in den meisten Fällen die Wirkung vor der Ursache, das B
vor dem A erscheinen muß.
Wie es besser zu machen sei, darauf müssen wir freilich die Autwort schuldig
bleiben. Nur das steht fest, daß sich die Aufgabe nicht so einfach lösen läßt, wie
sichs die Verfasser vorgestellt haben. Sonst bedürfte man dafür überhaupt keiner
Männer der Wissenschaft, der Buchbinder wäre nur zu beauftragen, einen vor¬
handenen Leitfaden der Geschichte nach den verschiednen Negierungsperioden aus¬
einanderzunehmen und in umgekehrter Ordnung zu heften.
Bei Karl Winter in Heidelberg erscheint jetzt lieferungsweise
eine Geschichte des deutschen Volkes vom Gymnasialdirektor G. Dittmar.
Nach den uus vorliegenden fünf Lieferungen zu urteilen wird das auf fünfzehn
Lieferungen berechnete Werk ein sehr brauchbares und empfehlenswertes Volksbuch
werden. Die neuesten Forschungen auf dem Gebiete des deutschen Wirtschaftslebens
sind darin benutzt, die wissenschaftlichen, Kunst- und sonstigen Kulturzustände finden
gebührende Berücksichtigung, die Darstellung ist lebendig, anschaulich und von warmem
Patriotismus beseelt. Freilich stimmen wir nicht mit allen Auffassungen und Ur¬
teilen des Verfassers überein, allein diese Meinungsverschiedenheiten sind nicht
wichtig genug, die Leser damit zu behelligen. Wenn wir einen einzelnen Fehler,
der unsers Erachtens den Wert des sonst trefflichen Werkes beeinträchtigt, hervor¬
heben, so geschieht es, weil er auch anderwärts häufig vorkommt. Wir meinen,
daß in populären Geschichtswerken immer noch gewisse Vorurteile gegen das Mittel¬
alter spuken, die von unsern großen Geschichtschreibern längst überwunden worden
sind. Nicht etwa daraus machen wir Dittmar einen Vorwurf, daß er die Schlechtig¬
keit der Päpste und der päpstlichen Politik als Folie für die hehren Gestalten der
deutschen Kaiser verwendet. Die schwarze Farbe dieses Hintergrundes ist echt, sie
ist von den Päpsten geliefert worden, und da sie einmal vorhanden ist, warum
sollte sie nicht zu dem angegebenen Zwecke benutzt werden? Sondern darin liegt
der Fehler, daß er noch der Ansicht zu huldigen scheint, die Päpste hätten das
Leben der abendländischen Christenheit bis ins Kleinste hinein beherrscht, und
dadurch sei der Kulturfortschritt gehemmt, wo nicht zurückgeschraubt worden.
Dittmar kennt so gut wie ein andrer die vielerlei Kräfte, die damals außer den
Päpsten wirksam waren, aber hie und da bricht das alte Vorurteil durch die bessere
Erkenntnis hindurch und erzeugt falsche Gruppirungen und schiefe Beleuchtungen;
solche Stellen leiten dann den Leser aus dem Volke irre, sie versperren ihm das
Verständnis der geschichtlichen Entwicklung. Wir wollen das an ein Paar Stellen
zeigen.
Im Rückblick auf die Hohenstaufenzeit sagt Dittmar: „Vor dem Lichte, das
aus den Stätten der Wissenschaft im Orient nach dem Abendlande herüberleuchtete,
wich allmählich das Dunkel, welches noch auf der deutschen Wissenschaft lag."
Das klingt so, als wenn die deutsche Wissenschaft vor Eintritt des Mittelalters
schon vorhanden gewesen und dann von einer Wolke verdunkelt worden wäre, die
durch die Mohammedaner hätte zerstreut werden müssen. In Wirklichkeit waren
aber die Deutschen vor Karl dem Großen sämtlich Analphabeten, und ihre Geist¬
lichen, Adlichen und Stadtbürger befanden sich 400 Jahre später etwa auf dem
heutigen Quartanerstnndpunkte; in wissenschaftlicher Beziehung nämlich, denn was
Charakter, Verstand, Lebensweisheit und praktische Tüchtigkeit anlangt, so nahmen
sie es mit jedem tüchtigen Manne unsrer heutige» Zeit auf. Übertragen wir
Dittmars Satz ins Vorurteilslose, so wird er etwa lauten: „In ihrem Streben
nach wissenschaftlicher Erkenntnis wurden die westeuropäischen Christen jener Zeit
durch die Zufuhr von Hilfsmitteln aus dem Orient und dem mohammedanischem
Spanien nicht wenig gefordert." Von Albertus Magnus wird dann gesagt: „Die
Ergänzungen, Erlnuterungeu, Berichtigungen, welche er ^zur Physik des Aristoteles^
nach seinen eignen Forschungen hinzufügt, bekunden eine Freiheit des Geistes,
welche in einer Zeit, wo die Geister meist noch fest in den Fesseln des Aber¬
glaubens und Vorurteils gefangen lagen, wahrhaft staunenswert ist." Übersetzen
wir auch diesen Satz, so lautet er: „Es war sehr viel, daß sich Albertus in einer
an Vorarbeiten und Hilfsmitteln so armen Zeit und Umgebung zu eiuer ziemlich
richtigem Ansicht von den Ursachen der Naturerscheinungen emporarbeitete."
Die ebenso mythische als mystische Vorstellung von einem die Christenheit
einhüllenden Dunkel findet ihre Ergänzung in der Überschätzung der arabischen
Kultur. Die ausführliche Darstellung der Geschichte der mohammedanischen Staaten
in Dittmars Buche ist ja eine dankenswerte Zugabe, aber daß ohne sie „die Über¬
windung der kirchlichen Kultur des Mittelalters nicht verstanden werden" könne,
halten wir für eine große Übertreibung. Obwohl Rezensent bisher in arabischen
Dingen nicht sonderlich unterrichtet war, ist ihm doch im Übergange der mittel¬
alterlichen in die moderne Kultur nichts unklar geblieben. Die Stadtbürgerschaften
hegten vom zwölften Jahrhundert ab soviel weltliche, von der Geistlichkeit unab¬
hängige Bildungselemente, daß zur Begründung einer ganz weltlichen Kultur
mohammedanischer Einfluß wirklich nicht notwendig war. Ein wenig rascher ist es
ja ohne Zweifel dank jenem Einflüsse gegangen. Daß die Orientalen als unmittel¬
bare Erben einer Jahrtausende alten Kultur — ein Umstand, den ja auch Dittmar
hervorhebt —, in Polizei- und Steuersachen sehr viel weiter waren als die
Deutschen, ist um so weniger zu verwundern, als sie sich der despotischen Regie¬
rungsform erfreuten, wenn man das als einen Grund zur Freude gelten lassen will.
ES ist auch möglich, daß der Cid nicht der Jdealheld gewesen ist, den wir als
Knaben mit Entzücken aus Herders Gedicht keimen gelernt haben, sondern „eine
Art Landsknechtsführer, der meineidig, treulos, grausam beiden Parteien ^ den mus¬
limischen Fürsten wie dem König Alfons^ empfindlichen Schaden zugefügt hat, ohne
je etwas andres zu erstreben als ein eignes Fürstentum für sich, gleichgiltig, auf
welche Weise es gewonnen wurde." Aber wir halten es nicht für wahrscheinlich,
daß alle mohammedanischen Krieger lauter Saladins gewesen und ohne alles Ver¬
langen nach Beute nur aus Nächstenliebe gekämpft haben sollen. Es ist gewiß
heilsam für die Christenheit, wenn sie zuweilen einen Blick auf die vielen tugend¬
haften Juden, Heiden und Türken wirft, die ihr freilich öfter in erbaulichen Welt¬
geschichten und Jugendschriften als im Leben begegnen, und voll Scham und Reue
an ihre sündige Brust schlägt; allem in einer Weltgeschichte fürs Volk die Moham¬
medaner und die Christen einander gegenüberstellen wie Licht und Finsternis, das
darf man eigentlich doch nur denn, wenn man den Mut hat, daraus die Folge¬
rung zu ziehen, daß Mohammeds Lehre besser sei als die christliche, wenigstens
als die christliche in ihrer mittelalterlichen Gestalt.
Die wörtlichen Entlehnungen mittelalterlicher Geschichtschreiber aus altrömischen
Vorlagen, die sie als Muster der Darstellung studirten, nimmt Dittmar ungemein
tragisch, indem er seinen Bericht darüber mit den Worten schließt: „So trägt die
mittelalterliche Litteratur, soweit sie in den Händen der Geistlichkeit lag, in vielen
Beziehungen das Gepräge der innern Unwahrheit und wissentlichen Täuschung.
Von diesem Banne römisch-kirchlicher Bevormundung und Scheinbildung haben sich
die Völker in der Zeit der Kreuzzüge ^eben mit Hilfe der arabischen Bildung^ be¬
freit." Pertz hat in der Einleitung zum Leben Karls des Großen von Einhard
jene Schülerunsitte ebenfalls erwähnt, trotzdem aber Einhard und seine Leistungen
sehr hoch gestellt. Denn eine bloße Schülerunsitte war es, wenn die altdeutschen
Geschichtschreiber ihren unbeholfenen Aufsatzversucheu, um ein Stück glatt vorwärts
zu kommen, einige tönende Phrasen aus Sueton oder Sallust wörtlich einverleibte«.
Heutige Schriftsteller thun ähnliches manchmal aus andern weniger unschuldigen
Grlluden. Von „römisch-kirchlicher Bevormundung" aber bei dieser Sache (oder
auch bei dem, was vorher über die Hochschulen gesagt worden ist) zu sprechen, ist
geradezu komisch. Schwerlich hat auch nur ein einziger Papst Zeit gehabt, sich
um die Bücher zu kümmern, die in Deutschland geschrieben wurden; wahrscheinlich
hat in Rom niemand etwas von ihnen gewußt. Die damalige Bildung aber ist
nicht an den Aufsatzübungen der Mönche zu messen, sondern an der Zahl der
Morgen Acker, die alljährlich urbar gemacht, um den Häusern, die gebaut, an den
gesetzlichen Ordnungen, die von Bürger- und Bauerschaften hergestellt, an den ge¬
werblichen Erfindungen, die gemacht wurden. Auch der große Döllinger hat sich,
nachdem er sein Vorurteil gegen Luther mit dem Vorurteil gegen den Papst ver¬
tauscht hatte, einmal hinreißen lassen, den abendländischen Christen einen Vorwurf
daraus zu machen, daß sie das Studium des Griechischen vernachlässigt hätten.
Es ist das ungefähr fo, wie wenn man heute gegen einen Bauer diesen Vorwurf
erhöbe; denn Bauer- und Handwerkerarbeit war die Hauptaufgabe des mittelalter¬
lichen Christen. Sobald die wilde Erde einigermaßen gebändigt und das Gewerbe
aus dem Gröbsten heraus war, stellte sich ja auch die wissenschaftliche Thätigkeit
ein. Und schließlich sind es nicht die Orientalen mit ihren größern Hilfsmitteln
und ununterbrochenen Überlieferungen gewesen, die am Ende des fünfzehnten Jahr¬
hunderts Amerika entdeckt, die Buchdruckerkunst erfunden, die Astronomie vom Kopf
auf die Füße gestellt und einen Brennende, Michel Angelo und Tizian hervor¬
gebracht haben, sondern die abendländischen Christen. Indem so deren Kultur,
obwohl jünger als die arabische und daher dieser für geleistete Hilfe zu Danke
verpflichtet, weit rascher fortschritt und sich zu ganz andern Höhen erhob, lieferte
sie damit den Beweis für die Kraft und Gesundheit ihrer Wurzeln. Will man
von Scheinbildung im Mittelalter sprechen, so kann diese Bezeichnung mit weit
größerm Recht auf die Klügeleien der spätern Scholastik und aus die Schönrednerei
der Humanisten angewendet werden, als auf die ersten unbeholfenen, aber ehrlichen,
ernsthaften und grundlegenden wissenschaftlichen und litterarischen Versuche der
karolingischen, sächsischen,' fränkischen und hohenstaufischen Zeit.
Es ist eine recht triviale Wahrheit, daß der zweite Schritt nicht vor dem
ersten gethan werden kann, aber sie muß doch solchen Darstellungen gegenüber
ausgesprochen werden, aus denen das Bedauern darüber herausklingt, daß die
Ereignisse und Zustände von 1517 und 1870 nicht tausend Jahre früher einge¬
treten sind. Und, nebenbei bemerkt, was hätten wir Heutigen denn zu thun, wenn
alles schon vor langer Zeit gethan worden wäre? Auch ist es eine falsche Vor¬
stellung vom Bildungsfortschritt der abendländischen Völker, daß sie zuerst uuter
der Leitung Roms zurückgeschritten oder irre gegangen und erst nach einigen Jahr¬
hunderten durch die Araber auf den rechten Weg gebracht worden seien, sondern
sie sind rin ihrer Bildung, räumlich wie geistig, ungemein stetig, immer ein Bein
vors andre setzend fortgeschritten.
Als charakteristisch für die Überschätzung des mohammedanischen Wesens führen
wir noch die Kleinigkeit an, daß der im Verkehr zwischen Morgen- und Abend-
lande damals gebräuchlichen Goldmünze, dem sarazenischen Byzantier, beinahe eine
halbe Seite gewidmet ist, des Goldflorens aber, der damals dieselbe Rolle in
Europa zu spielen anfing, wie in der heutigen Kulturwelt die Reichsmart, der
Rubel und der Dollar, gar nicht gedacht wird. Den Satz: „In der Zeit der
Staufer erreichte die Kultur des Mittelalters ihre höchste Entfaltung" bekennen
wir uicht zu verstehen. Hat der Verfasser bei dem Worte Kultur vielleicht uur
an die deutsche Poesie gedacht, oder rechnet er die Divina Commedia, die Hoch-
gothik, die Machtentfaltung der Hanse und der Zünfte, die Blüte der Universitäten
nicht mehr zum Mittelalter? Der Satz verrät, daß auch ein zweites Vorurteil
noch uicht überwunden ist. Weil die beiden Friedriche welterschütternde Kriege
geführt und viel Stoff für dramatische Darstellungen geliefert, und weil sich die
Ideen jener Zeit in klassischen deutschen Dichterwerken krystallisirt haben, darum
ist es üblich geworden, das Jahrhundert der Hohenstaufen als die Blütezeit der
mittelalterlichen Kultur zu preisen. Die folgenden beiden Jahrhunderte haben weit
mehr Blüten getragen und Früchte gezeitigt. Aber eben weil ihrer mehr und weil
sie mannichfaltiger find, lassen sie sich nicht so leicht darstellen, zumal da es bei
dem Reichtum der Gestaltungen an einem Mittelpunkte fehlt, um den sie sich grup-
Piren ließen, an Helden, die als ihre Träger zu preisen wären. Die Kompendien-
schreiber verzichten gewöhnlich ans die Bewältigung der schwierigen Aufgabe und
fertige» das spätere Mittelalter mit Redensarten ab, wie daß es eine Zeit des
Verfalls und der Auflösung gewesen sei oder etwa eine Übergangszeit, als ob nicht
jeder Zeitpunkt deu Übergang der Vergangenheit in die Zukunft bildete!
In einem von Alfred Dove
herausgegebnen stattlichen Doppelbande: Zur eignen Lebensgeschichte. Von
Leopold von Ranke (Leipzig, Verlag von Duncker und Humblot) werden den
zahlreichen Bewundrern des großen Historikers einige Diktate von ihm zu seiner
Lebensgeschichte und eine Folge von ausgewählten Briefen, Tagebuchblättern, Ent¬
würfen, Denkschriften und Eingaben, die als Beiträge zu seiner Biographie gelten
können, dargeboten. Es ist als» keine vollständige, ausgeführte Lebensgeschichte,
weder aus seiner eignen noch aus fremder Feder, sondern eine der gehaltreichen
Materialiensammlungen, die man gegenwärtig gern an die Stelle von Autobio¬
graphien und Biographien setzt. Die wertvollsten Teile des Buches nach der
Seite der Darstellung bilden die eignen Jugenderinnerungen Leopold Rankes, die
in den beiden Diktaten aus deu Jahren 1863 und 18K9 seine Knabenjahre, die
Schul- und Universitätszeit und die Gymnasiallehrerjahre in Frankfurt a. d. O.,
soweit sie ausgeführt siud, in höchster Anschaulichkeit und sonst in Umrissen schil¬
dern, die Auseinandersetzungen über seine wissenschaftliche Entwicklung (in dem Diktat
vom November 1885) und natürlich einige der Briefe, die, charakteristisch genug
für vergangne Zustände, mit einem Briefe vom 4. August 1819 an einen (unbekannten)
preußischen Regierungspräsidenten beginnen, worin Ranke Jahr, Arndt und die
preußische Jugend gegen den Verdacht blutiger Geheimbündelei verteidigen muß.
Die Jugenderinnerungen führen uns in die goldne Ane, eine jener Landschaften,
die seit dem großen Reisefieber, das die Menschen ergriffen hat, wenig mehr be¬
sucht werden. Wie aus der Vergangenheit taucht in den Aufzeichnungen Rankes
das (damals) kursächsische Ackerstädtchen Wiese mit seinen einfachen Verhältnissen
empor, in denen sich doch für den empfänglichen Sinn eine Fülle mannichfaltigen
Lebens barg. Der Geschichtschreiber sah auf eine Reihe von Vorfahren zurück,
die als Juristen und Geistliche Lebenskreisen von bescheidnen Mitteln, aber hoher
Bildung angehört hatten, eben den Lebenskreisen, denen unsre Sozialdemokratie
noch ingrimmiger den Tod geschworen hat, als selbst den Kapitalisten, und deren
Wohl und Wehe die neueste Staatsweisheit als das gleichgiltigste und untergeord¬
netste Von der Welt ansieht. In den Jahrzehnten, in denen Ranke emporwuchs,
die alte Schulpforte besuchte und auf der Leipziger Universität seine Studien be¬
gann, lagen die Dinge anders und glücklicher; auch durch seine Erinnerungen aus
Frankfurt a. d. O., wo er „ziemlich jung und noch jugendlicher aussehend" ein
Gymnasiallehreramt antrat und zwischen 1818 und 1825 bekleidete, weht der
Hauch einer Zeit, die der ernsten und Ernstes wollenden Individualität Raum
zum Streben ließ, ohne sie zum Streber zu machen. In Frankfurt, wo er sein
erstes Buch, die „Geschichten romanischer und germanischer Völker" schrieb, entschied
sich Rankes Zukunft. In der dem Frankfurter Gymnasium hinterlassnen Wester-
mannschen Bibliothek fand er „die trefflichsten Werke vor, die die Aussicht auf
künftige. Studien gaben, wie er sie zu machen wünschte. Denn darauf — schreibt
er — war meine Seele hauptsächlich gerichtet, obwohl ich mein Amt, zu dem ich in
Leipzig in dem philologisch-pädagogischen Seminar schon einigermaßen vorbereitet
worden, zugleich wirklich als meinen vornehmsten Beruf ansah." Und nach seiner
Berufung an die Berliner Universität im Jahre 1825 trat für den Historiker die
eigne Geschichtsforschung und eigne Geschichtsdarstellung in den Vordergrund, auch
wenn er seine Professur als seinen Hauptberuf angesehen hätte. Mit guter Selbst¬
erkenntnis schrieb er seinem Bruder Heinrich im Februar und Mai 1827: „Den
größten Reiz, wie du wohl weißt, und wie ich dir oft wiederhole, hat es für mich,
deu Gang der menschlichen Entwicklung, die Idee der Weltgeschichte aufzusuchen;
dies ist freilich die schönste und merkwürdigste Geschichte, welche je geschah. Was
hat mehr Wahrheit, was führt uns näher zur Erkenntnis des wesentlichen Seins:
das Verfolgen spekulativer Gedanken oder das Ergreifen der Zustände der Mensch¬
heit, aus denen doch immer die uns eingeborne Sinnesweise lebendig heraustritt?
Ich bin nun für das letzte, weil es dem Irrtum minder unterworfen ist. Freilich ist
zu beklagen, daß unsre Historie so lauter Bruchstück — oft dunkel, oft ganz unde-
kannt — ist. Indessen vieles wissen wir doch; andres läßt sich herstellen. Das Ganze
läßt sich vielleicht in voller Wahrheit fassen." Und: „Oft dünkt mich, daß die Ent¬
rätselung gewisser Geheimnisse, das Anslichtbringen einer Sache, die verdunkelt ist,
das einzige sei, worauf ich in diesem Leben zu hoffen habe." In dieser Zeit, zu
Ausgang 'der zwanziger Jahre, empfand Ranke die vorzugsweise kritische Richtung
seiner Forschung, den aristokratischen Grundzug seiner Darstellung, die beziehnngs-
reiche und gelegentlich manierirte Knappheit seines Stils als eine Schranke, die er
noch niederzureißen oder zu überwinden hoffte. „Eigentlich leiden — fchrieb er in
dem schon erwähnten Briefe an seinen Bruder Heinrich (vom 5. Mai 1827) —
meine Sachen sehr an der Gelehrsamkeit. Sie sind unfähig, eine allgemeine und
verbreitete Lektüre zu werden, und wer weiß, ob sie den lohnen, der sie genauer
studirt. Ich hoffe noch einmal ein Werk zu schreiben, welches jedermann lesen
kann, und welches doch die Fülle des geistigen Lebens der Geschichte enthält."
Indes lernte der scharfsinnige und vornehme Historiker bald begreifen, daß keiner
über seinen Schatten springt, und entschlug sich nun ebensowohl des Vorsatzes, ein
volkstümliches Geschichtswerk zu schreiben, als auch der Besorgnis, daß seine großen
Leistungen den nicht lohnen würden, der sie genauer studirte. Soviel wir aus
den Briefen der spätern Jahre entnehmen können, stand er später, rastlos lernend,
immer bereit, in sich aufzunehmen, aber mit festem und klarem Selbstgefühl in¬
mitten der großen Studien und Schöpfungen, die von dem Buche über „Die
römischen Päpste" bis zu feiner „Weltgeschichte" reichen. Er wußte, daß nur die
historisch gebildeten, die mit den allgemeinen historischen Überlieferungen wohl¬
vertraut, für die Kunst der Charakteristik, für den geistvollen Beziehuugsreichtum,
für die kühle Objektivität seines Urteils empfänglich waren, vollen Genuß und volle
Belehrung aus seinen Werken schöpften, und beschied sich dabei.
Auch das, was als seine Lebensgeschichte hervortritt, hat eine merkwürdige
Verwandtschaft mit dem Wesen und der Wirkung der Schriften Leopold von Rankes.
Für den Wissenden, der in der Geschichte der Zeit, der Wissenschaft, in den weiten
und großen Lebensverhältnissen bewandert ist, in die Ranke in spätern Jahren
ganz natürlich hineinwuchs, ist die Sammlung der Briefe (329), der einzelnen
Tagebuchsblätter von geradezu unschätzbarem Werte. Mit Hilfe von tausend Dingen,
die nicht in diesen Blättern stehen, läßt sich ein farbenleuchtendes Bild eines
deutschen Gelehrtenlebens unsers Jahrhunderts im größten Stil und von der mäch¬
tigsten Wirksamkeit gewinnen. Aber ohne solche stille Ergänzung kann das Ganze
doch nur einen zerstückten und unzureichenden Eindruck hinterlassen, und in diesem
Sinne beklagen wir es, daß die von Ranke beabsichtigten Denkwürdigkeiten des
eignen Lebens, „in denen sich zugleich der allgemeine Gang der Begebenheiten des
neunzehnten Jahrhunderts als ein mitempfundenes Stück der universalhistorischen
Bewegung wiederspiegeln sollte," nicht ausgeführt worden sind. Die pietätvolle
und in ihrer Art vorzügliche Auswahl und Ordmmg der vorliegenden Aufzeich¬
nungen, Briefe und Tagebuchblätter, für die dem Herausgeber der aufrichtigste
Dank gebührt, kann wohl den Mangel einer vollständigen Lebensgeschichte minder
fühlbar machen, aber nicht vollständig ausgleichen.
Robert Heinrich Hiecke. Züge zu einem Lebensbilde; zugleich Beiträge zur Lösung
gegenwärtiger Streitfragen. Von Dr. A, Kolbe, Direktor des Gymnnsinms Treptow n. R.
Leipzig und B-estan, Hirts Verlag. 1890
Der Verfasser will kurze Lebensbilder solcher Männer zeichnen, denen er selber
für seine Bildung viel verdankt, und entledigt sich in dem ersten Stück, das von
Robert Heinrich Hiecke handelt, der selbstgestellten Aufgabe mit Geschick und Anmut.
Ein einfaches Lehrer- und Gelehrtenleben wird uns vorgeführt, nicht mit beschwer¬
licher Genauigkeit in Nebensachen, sondern unter Hervorhebung des Eigenartigen
eines hochbegabten und vielseitig gebildeten Mannes, eines gebornen Lehrers und
Erziehers, eines gründlichen und feinsinnigen Gelehrten, dessen Wirksamkeit, ins¬
besondre für die Gestaltung des deutschen Unterrichts, noch nicht erloschen ist,
sondern aller Wahrscheinlichkeit nach in der nächsten Zeit zunehmen wird.
Hiecke lebte von 1305 bis 1861 und starb als Direktor des Greifswalder
Gymnasiums, nachdem er zuvor in Merseburg und Zeih als Gymnasiallehrer
thätig gewesen war, von Anfang um mit bedeutendem Erfolge und gehoben und
gestärkt durch das ihm — abgesehen vou einer vorübergehenden Trübung im
Jahre 1842 — stets sichere Vertrauen seiner Vorgesetzten und Behörden. Sein
im Jahre 1842 erschienenes Hauptwerk! „Der deutsche Unterricht auf deutsche»
Gymnasien" wurde bahnbrechend sür diesen Zweig des Gymnasialunterrichts; aber
Hieckes Wirksamkeit erstreckte sich auf alle Lehrgegenstände, und alle pflegte er mit
der ihm eignen Verbindung von strenger Gewissenhaftigkeit, wahrhaft freisinniger
Geisteshelle und gedankenreicher und darum gedankenweckender Lebendigkeit.
Dem Verfasser gebührt sür die von großer Verehrung für den ehemaligen
Lehrer angenehm durchwehte und dabei entschieden auf selbständiger Überzeugung
ruhende kleine Schrift umso mehr Dank, als Hiecke in der großen Sebaldschen
Encyklopädie des Erziehungs- und Unterrichtswesens nur in dem Abschnitt über
den deutschen Unterricht kurz erwähnt wird, also manchen wenigstens nicht wichtigern
und doch besonders vorgeführten Schulmännern gegenüber nicht zu seinem Rechte
kommt.
Kothes Mitteilungen, die zuerst in der Evangelischen Monatsschrift für
deutsche Erziehung erschienen siud, wenden sich übrigens keineswegs bloß an Lehrer,
sondern an alle gebildeten und denkenden Freunde der deutschen Jugend und der
deutschen Erziehung und mögen darum auch dem Leserkreise der Grenzboten bestens
empfohlen sein.
urch die letzte Rede, die unser greiser Feldherr Graf Moltke
noch kurz vor seinem Tode mit fast jugendlicher Frische im
Reichstage gehalten hat, ist dem deutschen Volke ein Gegenstand
näher geführt worden, der zwar schon lange die Fachkreise leb¬
haft beschäftigt, in weitern Kreisen aber doch bisher wenig Ver¬
ständnis gefunden hat. Es handelt sich um Schaffung einer einheitlichen Zeit,
wie sie für unser Verkehrswesen, namentlich für den Eiseubahudienst, ein un-
abweisliches Bedürfnis ist. Durch diesen Aufsatz soll versucht werden, das
allgemeine Interesse für diesen Gegenstand anzuregen.
Grundlage unsrer Zeitberechnung bildet die regelmäßige Bewegung der
Erde um die Sonne und um sich selbst. Nach jener berechnen wir das Jahr,
nach dieser den Tag. Wir nennen „Tag" im Gegensatz zur Nacht die Zeit,
wo es hell ist, wo also die Sonne über dem Horizonte verweilt. Wir be¬
zeichnen als die Mitte des Tages den Zeitpunkt, wo die Sonne am höchsten
steht, wo sie die Mittagslinie (den Meridian) durchläuft. Neben diesem na¬
türlichen Tage aber haben wir noch einen bürgerlichen Tag, der sich dadurch
bildet, daß wir die Stunden der Nacht, und zwar in gleichen Abständen von
der Mitte des Tages an morgens und abends, dem natürlichen Tage zu¬
rechnen. So entsteht der Begriff der Mitternacht, von der an wir den
Anfang des Tages rechnen. Wir teilen den bürgerlichen Tag in zweimal
zwölf Stunden, die wir von Mitternacht bis Mittag und dann nochmals von
Mittag bis Mitternacht zählen. Nun aber hat die Sonne, indem sie die Erde
umkreist, innerhalb der 24 Stunden des Tages 360 Längengrade zu durch¬
laufen. Daraus ergiebt sich, daß in der Richtung von Osten nach Westen
jeder Ort, je nach dem Zeitpunkt, wo die Sonne in seinen Meridian tritt,
seinen besondern Tag hat, und daß diese Verschiedenheit des Tages für jeden
Längengrad, um den ein Ort von dem andern westlich oder östlich entfernt
liegt, vier Minuten beträgt. Diese dnrch den Stand der Sonne über jedem Orte,
also durch deu Längengrad des Ortes bestimmte Zeit nennen wir die Ortszeit.
Die Verschiedenheit der Ortszeit hat unter anderm die Folge, daß ein
einheitlicher Tag, wie er durch das dem Tage beigelegte Datum zum Aus¬
druck kommt, auf der Erde gar nicht besteht. Nehmen wir als Ausgangspunkt
sür die Zählung der Längengrade, wie dies jetzt fast allgemein üblich ist, die
Sternwarte zu Greenwich an, und denken wir uns, daß an: heutigen Tag,
sagen wir am 3. August, die Sonne gerade im Meridian von Greenwich steht,
so ist in demselben Augenblicke unterm 180. Längengrad Mitternacht, mit der
ein Tag endet und ein neuer Tag beginnt. Dabei ist aber der Unterschied,
daß östlich vom 180. Längengrad der 2. August endet und der 3. August be¬
ginnt, dagegen westlich vom 180. Längengrad der 3. August zu Ende geht
und der 4. August seineu Anfang nimmt. Dieser neu begonnene 4. August
setzt dann seine Reise um die Erde fort, bis er nach zwölf Stunden Green¬
wich und nach 24 Stunden wieder deu 180. Längengrad erreicht. In keinem
Augenblicke ist also auf der ganzen Erde dasselbe Datum.
Eine so mannichfache Bezeichnung desselben irdischen Zeitpunktes konnte
einer Wissenschaft nicht genügen, die in ihren Berechnungen vielfach die Erde
nur als einen einheitlichen Punkt des gauzen Weltgebäudes in Betracht zu
ziehen hat. Das ist die Astronomie. Sie bedurfte also einer andern Art der
Zeitbestimmung. Da ihre praktische Thätigkeit mehr in der Nacht als am
Tage liegt, so verlegte sie den Anfang ihres Tages von Mitternacht auf den
Mittag des Nulllängengrades (Greenwich) und zählte von da an ohne Rück¬
sicht auf den Stand der Sonne 24 Stunden weiter. So schuf sich die Astro¬
nomie eine Bezeichnung der Zeit, die für die ganze Erde in jedem Augenblicke
dieselbe ist. Man hat diese Zeit die „Weltzeit" genannt, obgleich vielleicht
der Name „Erdzeit" richtiger wäre. Soweit dagegen die Astronomie mit den
Entfernungen auf der Erde zu rechnen hat, kommt natürlich für ihre Berech¬
nungen nur die Ortszeit in Betracht.
Für die Ordnung der bürgerlichen Thätigkeit war bis vor kurzem überall
die Ortszeit maßgebend; und man kann zugeben, daß dies auch zunächst ganz
naturgemäß ist. Die Verschiedenheit der Ortszeit für die einzelnen Orte in
ihrer Richtung von Osten nach Westen hatte solange nichts Störendes, als
die räumliche Entfernung der Orte diese zugleich zeitlich in größerer Trennung
von einander erhielt. Solange man, um von Berlin nach Köln zu reisen,
drei oder vier Tage im Postwagen sitzen mußte, war es von geringer Bedeu¬
tung, daß man bei der Ankunft in Köln die dortige Uhr sast um eine halbe
Stunde gegen die Berliner Uhr vorgehend fand. Auch die Post fand darin
bei der Einrichtung ihrer Kurse nichts Störendes,
Dieses Verhältnis änderte sich aber, als die neuen Verkehrsmittel durch die
Schnelligkeit ihrer Bewegung die räumlichen Entfernungen fast verschwinden
ließen. Seitdem der Dampfwagen mit rasender Eile weite Lünderstrecken durch¬
fliegt, kam es sehr in Betracht, daß der Eisenbahnzug in seiner Bewegung von
Osten nach Westen oder von Westen nach Osten schon nach wenigen Stunden
auf eine Ortszeit trifft, die zu der Zeit seiner Abfahrt nicht mehr paßt, daß
also z. B. ein Zug, der um 12 Uhr von Berlin nach Hannover abgegangen
ist und vier Stunden gefahren hat, in Hannover nicht um 4 Uhr, sondern
um 3Uhr dortiger Zeit ankommt. Es ist klar, daß es für den Eisenbahn¬
dienst, der für die Abfahrt und Ankunft seiner Züge und für das Ineinander¬
greifen des ganzen Betriebes stets nach Minuten zu rechnen hat, ganz unmög¬
lich war, für diese Rechnung die so verschiedne Ortszeit beizubehalten. Er
mußte sich eine einheitliche Zeitrechnung schaffen, die dem ganzen Betriebe
ohne Unterschied des Ortes zur Grundlage diente. Dies geschah dadurch, daß
man die Zeit eines bestimmten Ortes, von wo der Betrieb ausging, zur
Normalzeit erhob. Für die Länder, wo der Eisenbahnbetrieb vorzugsweise in
den Händen des Staates ist, war dieser Ort in der Regel die Hauptstadt des
Landes. So entstand die sogenannte Eisenbahnzeit, die von der Ortszeit um
so mehr abweicht, als der Ort, um den es sich handelt, von dem Orte, nach
dem die Normalzeit sich bestimmt, westlich oder östlich entfernt liegt.
Nun aber entstand die Frage: soll die Normalzeit, nach der die Eiseu-
bahnverwaltung ihren innern Dienst regelt, auch für den sogenannten äußern
Dienst gelten? Mit andern Worten: sollen in den veröffentlichten Fahrplünen
die Zeiten der Abfahrt und der Ankunft der Züge nach der Normalzeit des
Eisenbahndienstes oder sollen sie für jeden Ort nach dessen Ortszeit angegeben
werden? Es ist klar, daß, wenn die Eisenbnhnverwaltung sür den innern und
den äußern Dienst stets mit zwei verschiednen Zahlenreihen zu rechnen hat, dies
den Betrieb in hohem Maße erschwert, daß daraus leicht Irrungen und aus
diesen Irrungen auch Gefahren für das Publikum entstehen können. Stellt
dagegen die Eisenbahn ihre Fahrpläne nach der Normalzeit aus, so ist sie
zwar vor Irrungen bewahrt; aber durch die Abweichung der angegebenen
Fahrzeiten von der Ortszeit kann das Publikum leicht in Irrungen verfallen.
Gleichwohl trug man fast in alle« europäischen Ländern kein Bedenken,
die Normalzeit der Eisenbahn sowohl für den innern, als für den äußern
Dienst maßgebend zu machen. Ein Versuch, den man im Jahre 1874 in
Österreich-Ungarn machte, für den äußern Dienst die Ortszeit anzuwenden,
mißglückte so, daß man bald wieder auf die Normalzeit zurückkam. Auch in
den drei süddeutschen Staaten, die je die Ortszeit ihrer Hauptstadt zur Nor¬
malzeit sür die Eisenbahnen erhoben haben, wurde diese Normalzeit dem innern
und dein äußern Dienste zu Grunde gelegt. Nur in Preußen und den mit ihm
vereinigten norddeutschen Staaten verfuhr man anders. Hier wurde zwar die
Berliner Zeit zur Normalzeit erhoben, aber nur für den innern Dienst, wäh¬
rend man in den Fahrplänen die Ortszeit beibehielt. Die hierdurch herbei¬
geführte Nötigung, stets mit zwei Zahlenreihen zu rechnen, bildet ein wahres
Kreuz für den norddeutschen Eisenbahndienst, und man verlangt dringend nach
Erlösung von dieser Not.
Die Schwierigkeit für den Eisenbahndienst liegt aber nicht bloß in der
Verschiedenheit der Ortszeiten von der Normalzeit der Eisenbahn, sondern auch
darin, daß nun jedes Land wieder seine besondre Normalzeit hat, sodaß man
bei dem Übergange der Züge aus dem einen Gebiet in das andre stets mit
einer neuen Normalzeit rechnen muß. Diese Schwierigkeit wird natürlich um
so größer, je schneller die Gebiete wechseln. In Süddeutschland z. V. kann
man innerhalb weniger Stunden in die Lage kommen, mit dreierlei Zeit rechnen
zu müssen. Daß dies auch für die Reifenden stets die Gefahr von Irrungen
zur Folge hat, liegt auf der Hand.
Bei dieser Sachlage ergab sich die naheliegende Frage: wäre nicht der
ganze Zwiespalt zwischen Eisenbahnzeit und Ortszeit dadurch zu lösen, daß
sich die Ortszeit der Eisenbahnzeit anschlösse, daß man also für das gesamte
bürgerliche Leben nach einer von einem bestimmten Orte aus gegebnen Nor¬
malzeit rechnete? und ließen sich nicht Einrichtungen treffen, die den Über¬
gang von einer Eisenbahnzeit in die andre mindestens erleichterten? Bereits
im Jahre 1848 wurde in England die Zeit des Meridians von Greenwich
zur Normalzeit für das gesamte bürgerliche Leben erhoben. Auch in Schweden,
bei dessen nördlicher Lage durch das nahe Aneinanderrücken der Längengrade
die Verschiedenheit der Ortszeiten noch mehr als anderwärts fühlbar wird,
entschloß man sich eine einheitliche Normalzeit für das ganze bürgerliche Leben
vom 1. Januar 1879 um einzuführen. Man nahm als Grundlage dafür den
fünfzehnten Längengrad, der ziemlich die Mitte des Landes durchschneidet.
In Nordamerika, wo infolge der Ausdehnung des Landes und der Selb¬
ständigkeit der zahlreichen Eisenbahnverwaltungen eine große Anzahl verschiedner
Eisenbahnzeiten in Übung war, wurde hierdurch ein schwer zu ertragender
Zustand herbeigeführt. Da wurde im Jahre 1883 folgender Vorschlag ge¬
macht. Es sollte je der fünfzehnte Längengrad, von Greenwich aus berechnet,
die Grundlage für eine Normalzeit abgeben, die die ihm zunächst liegenden
Landgebiete umfasse. Die Zahl von fünfzehn Längengraden wurde als ma߬
gebend gewählt, weil auf diese Weise herbeigeführt wurde, daß die Normalzeit
eines jeden Bezirks von der des nächstgelegnen genau um eine Stunde ab-
weicht, dadurch aber der Übergang von dem einen in den andern sehr verein¬
facht und erleichtert wird. Dieser Plan kam bereits vom 18. November 1883
an sowohl in den Vereinigten Staaten als in Kanada zur Ausführung. Bei
der ungeheuern Ausdehnung der nordamerikanischen Länder von Osten nach
Westen werden die Vereinigten Staaten von vier, Kanada sogar von fünf
Längengraden, deren Zahl durch fünfzehn teilbar ist, durchlaufen. Es sind
das der 60., 75., 90., 105. und 120. Längengrad. Darnach teilte man also
die Vereinigten Staaten in vier, Kanada in fünf Bezirke (Zonen), die je einen
dieser Längengrade umschlossen und für die dieser Längengrad die Normalzeit
abgab. So entstand der Begriff der Zonenzeit, bei der jede Zone von der
angrenzenden Zone sich um eine Stunde unterscheidet. Von dem bürgerlichen
Leben im übrigen wurde nicht verlangt, daß es sich der Zonenzeit unter¬
werfe. Aber die große Mehrzahl der amerikanischen Städte that dies sehr
bald freiwillig. Obwohl nun dadurch bei dem unmittelbaren Aneincinder-
schließen der Zonen, und da diese sich nicht durchweg nach geraden Linien
begrenzen ließen, vielfach Abweichungen von der Ortszeit um dreißig und
mehr Minuten herbeigeführt wurden, so sühlt man sich doch in Amerika nach
allem, was von dort verlautet, bei dieser Neuerung außerordentlich Wohl.
Im Oktober 1884 berief die amerikanische Regierung zur Ordnung der
Zeitberechnung einen Weltkongreß nach Washington, in dem 26 Staaten ver¬
treten waren. Angesichts der damals schon fast seit einem Jahr bestehenden
amerikanischen Einrichtung nahm dieser Kongreß keinen Anstand, diese die
Zeitberechnung überaus vereinfachende Einrichtung für die ganze Welt zu
empfehlen.
Für Europa würde die Durchführung dieser Einrichtung folgendes be¬
deuten. England, Holland, Belgien, Frankreich, Spanien und Portugal würden
unter die Herrschaft des (Null-) Meridians von Greenwich fallen. Schweden,
Norwegen, Dänemark, Deutschland, Österreich-Ungarn, die Schweiz, Italien
und Serbien würden ihre Normalzeit nach dem fünfzehnten Längengrad zu
bestimmen haben. Man hätte damit eine gemeinsame „mitteleuropäische Zeit,"
die sich von der westeuropäischen um eine Stunde unterschiede.
Durch Deutschland läuft der fünfzehnte Längengrad ungefähr 108 Kilo¬
meter östlich von Berlin bei der pommerschen Stadt Stargard durch. Die
Erhebung dieses Meridians zum maßgebenden ist allerdings für Deutsch¬
land insofern nicht ganz günstig, als er nicht genau in der Mitte Deutsch¬
lands durchgeht, auch die westliche Grenze Deutschlands, an der die größere
Ländermasse liegt, weiter davon entfernt ist als die östliche. Indessen kann
nur durch die Wahl dieses Meridians die Gemeinsamkeit mit Österreich-Ungarn
erreicht werden, dessen geographische Gestaltung gerade das umgekehrte Ver¬
hältnis aufweist. Die Abweichung der Ortszeit von der durch den fünfzehnten
Längengrad bestimmten Normalzeit betrügt im Osten Deutschlands (also in der
Gegend von Gumbinnen) bis zu 30 Minuten, im Westen (in der Gegend
von Aachen und Metz) bis zu 37 Minuten.
Der amerikanische Vorschlag hat zunächst im äußersten Osten unsrer Welt
Anklang gefunden- Seit dem 1. Januar 1888 hat Japan die Zonenzeit bei
sich eingeführt und dieser den 135. Längengrad, der das Inselreich ziemlich
in der Mitte durchschneidet, zu Grunde gelegt.
In jüngster Zeit ist die Angelegenheit von dem Verein deutscher Eisen¬
bahnverwaltungen, in dem auch die österreichischen, ungarischen, niederländi¬
schen und belgischen Bahnverwaltungen vertreten sind, in die Hand genommen
worden. Ein zur Vorbereitung der Frage berufner Ausschuß, der im Januar
1890 in Berlin tagte, stellte folgende Anträge: 1. die Einführung einer durch
den fünfzehnten Längengrad bestimmten Zonenzeit als im höchsten Grade zweck¬
mäßig anzuerkennen; 2. diese Zonenzeit sowohl im innern, als im äußern
Dienst der Eisenbahnen einzuführen; 3. auch die allgemeine Einführung dieser
Zonenzeit im bürgerlichen Leben als empfehlenswert zu bezeichnen.
Bei der Ende Juli zu Dresden abgehaltnen Generalversammlung des
Vereins wurden aber diese Anträge nicht unverändert angenommen. Man
beschloß: 1. daß die vorgeschlagne Zonenzeit für den innern Dienst der Eisen¬
bahnen vom Sommer 1891 an einzuführen sei; 2. daß auch die Einführung
dieser Zonenzeit in das gesamte bürgerliche Leben empfehlenswert sei; 3. daß
aber, bis diese Einführung geschehen, die Aufstellung der für das Publikum
bestimmten Fahrpläne nach der Zonenzeit auszusetzen sei. Der letzte Beschluß
wurde auf Antrag der linksrheinischen Eisenbahn mit 159 gegen 136 Stimmen
gefaßt.
Die Beschlüsse des Vereins unterlagen natürlich der Genehmigung der
einzelnen Eisenbahnverwaltungen. Sehen wir nun, welchen Erfolg sie ge¬
habt haben.
In den Niederlanden hat man es vorgezogen, mit einer Änderung zu
warten, bis sich auch die angrenzenden Länder, namentlich Deutschland, zu
einer solchen entschlossen haben würden. Dagegen steht in Belgien nach der
Erklärung des Eisenbahnministers vom 10. April 1891 die Einführung einer
einheitlichen Zeit nach dem Meridian von Greenwich (mit der sich sämtliche
Vorstände der 2600 Gemeinden des Landes, bis auf einen, einverstanden er¬
klärt hatten) in naher Aussicht, obwohl man von Frankreich aus zu erkenne»
gegeben hatte, daß man die Einführung der „englischen Stunde" nicht
gern sehe.
Hier mag gleich einfließen, daß man auch in Frankreich jüngst eine ein¬
heitliche Zeit für das ganze bürgerliche Leben eingeführt hat, aber nicht die
des Meridians von Greenwich (der zwei Längengrade westlich von Paris in
der Gegend von Havre Frankreich durchläuft), sondern — echt französisch —
die des Meridians von Paris. Ein Gesetz vom 14. März 1891 bestimmt:
„Die gesetzliche Stunde in Frankreich und Algerien ist die Stunde der mittlern
Zeit von Paris."
In Österreich, wo bis jetzt die Zeit von Prag und von Budapest als
Normalzeit gelten, hat der Handelsminister angeordnet, daß vom 1. Oktober
1891 an der fünfzehnte Längengrad die Normalzeit für den innern und den
äußern Dienst der Eisenbahnen bestimmen soll.
Was endlich Deutschland betrifft, so ist in Norddeutschland seit dem
1. Juni dieses Jahres sür den innern Dienst der Eisenbahnen die Zeit des
fünfzehnten Längengrades als Normalzeit an die Stelle der Zeit von Berlin
getreten. Dagegen ist für den äußern Dienst die Ortszeit beibehalten, und
immer noch haben die Eisenbahnen mit zweierlei Zeit zu rechnen. Die süd¬
deutschen Staaten haben infolge des zu Dresden gefaßten Beschlusses zunächst
erklärt, daß, solange die Zeit des fünfzehnten Längengrades nicht allgemein
für den innern und den äußern Dienst der Eisenbahnen eingeführt werde, sie
es vorzögen, an ihrer bisherigen Normalzeit (der Städte München, Stuttgart
und Karlsruhe) festzuhalten. Ob inzwischen dort andre Beschlüsse gefaßt
worden sind, ist nicht bekannt geworden. Jedoch verlautet, daß für die
bairischen und württembergischen Staatsbahnen die Einführung der Normalzeit
des fünfzehnten Längengrades am 1. April 1892 erfolgen solle. Bis zur Stande
bestehen also die verschiednen Normalzeiten in Deutschland fort. Und ein
Reisender, der z. B. die Ufer des Bodenseces bereist, wird in Konstanz,
Friedrichshafen, Lindau, Bregenz und Rorschach jedesmal eine verschiedne Zeit
finden und feine Uhr, wenn sie richtig gehen soll, anders stellen müssen.
Wiederholt ist die Angelegenheit in unsern parlamentarischen Versamm¬
lungen zur Sprache gekommen. Im Reichstage trat am 5. Dezember 1889
der Abgeordnete Henneberg (Ingenieur und Fabrikbesitzer in Berlin) entschieden
sür Einführung der Zonenzeit und zwar in Anwendung auf das gesamte
bürgerliche Leben ein, und fand dabei lebhafte Unterstützung von dem Grafen
Udo zu Stolberg. Graf Stolberg brachte die Sache auch in der Sitzung des
preußischen Herrenhauses vom 6. Mai 1890 und dann von neuem in der
Neichstagssitzung vom 5. Mürz 1891 zur Erörterung. Allerdings blieb die
Einführung der Zonenzeit im Reichstage nicht ohne Widerspruch. Der bekannte
rheinische Großindustrielle Freiherr von Stumm erklärte sich, ohne Zweifel
vom Standpunkte seiner Heimatsprovinz, als ein entschiedner Gegner des Aus¬
gebens der Ortszeit. Inzwischen war auch ein wissenschaftlicher Vekümpfer
der Zonenzeit aufgetreten. Der hochverdiente Leiter der Berliner Sternwarte,
Professor Förster, vertritt in einer Schrift „Weltzeit und Ortszeit im Bunde
gegen die Vielheit der sogenannten Einheits- oder Zonenzeit" mit Lebhaftigkeit
die Ansicht, daß nur die Weltzeit und die Ortszeit Anspruch auf Geltung
hätten. Allerdings müsse sür alle Zweige des Präzisionsverkehrs — Tele-
graphie, Eisenbahn, Nautik — und zwar bei der Eisenbahn nicht allein für
den innern, sondern auch für den nußern Dienst eine einheitliche Zeit ein¬
geführt werden. Dies könne aber nur die Weltzeit sein. Für das ganze übrige
Leben müsse dagegen, um nicht die durch den Anschluß an die natürliche»
Lichtzeiten begründeten Lebensgewohnheiten und Arbeitseintciluugeu der Menschen
zu stören, die Ortszeit beibehalten werden. Er glaube voraussagen zu können,
daß, wenn man die Zonenzeit einführen wolle, doch sehr bald „die Ortszeit
zweifellos mit Pauken und Trompeten ihren Wiedereinzug in alle ihre alten
Rechte im gewöhnlichen Arbeitsleben, gleichzeitig aber die absolute Eiuheits-
oder Weltzeit ihren ebenso fröhlichen Einzug in alle ihre neuen und ebenso
natürlichen Rechte innerhalb des gesamten Ortsverbindnngsdienstes" feiern würde.
Bei dieser Sachlage war es von der größten Bedeutung, daß am 16. Mürz
dieses Jahres Graf Moltke im Reichstage das Wort ergriff und die Her¬
stellung einer Einheitszeit für das gesamte bürgerliche Leben in Deutschland
auf Grundlage der Zonenzeit befürwortete. Er erklärte die Herstellung dieser
Einheitszeit im Interesse der Sicherheit des gesamten Eisenbahndienstes, die
namentlich bei einer Mobilmachung von höchster Wichtigkeit sei, für eine
Notwendigkeit; wobei er zugleich, nicht ohne Humor, die Befürchtungen wider¬
legte, die manche an die dadurch herbeigeführte geringe Verschiebung der Zeit
für das übrige bürgerliche Leben knüpfen.
Indem wir uns ganz auf die Seite des Grafen Moltke stellen, wollen
wir in unsrer Betrachtung zunächst den vom Standpunkt der astronomischen
Wissenschaft erhobnen Widerspruch berühren. Die Astronomie und einige ihr
nahverwandte Wissenschaften können für ihre Berechnungen nur die Weltzeit
und die Ortszeit gebrauchen. Die Zonenzeit würde für sie ohne Wert sein.
Dies ist ohne Zweifel der tiefste Grund, weshalb Professor Förster nur die
Weltzeit und die Ortszeit gelten lassen und diesen auch das ganze übrige
Leben unterworfen wissen will.
So hoch wir nun auch die Astronomie als Wissenschaft schützen, so kommen
doch für das Leben noch andre praktische Rücksichten in Betracht. Mögen
immerhin die Astronomen für ihre Beobachtung der Sterndurchgange der Orts¬
zeit bedürfen. Aber man kann doch wahrlich eher von ihnen verlangen, daß
sie die Zonenzeit in die Ortszeit umrechnen, als daß man ständig den ge¬
samten Eisenbahndienst oder das gesamte Publikum mit einer umgekehrten
Anrechnung belastet. Auch ist es ganz undenkbar, daß jemals sämtliche Eisen¬
bahnen der Erde sich vereinigen könnten, eine einheitliche Weltzeit als Grund¬
lage ihres innern und äußern Dienstes anzunehmen. Für die in unmittel¬
barer Nähe des normgebenden Meridians liegenden Länder würde ja diese
Weltzeit von der Ortszeit nicht sehr verschieden und dadurch vielleicht erträglich
sein. Für die weiter abliegenden Länder würde aber die Weltzeit Zahlen¬
reihen aufweisen, die von der Ortszeit weithin abwichen. Und wenn dann
diese Zahlenreihen auch auf den Fahrplünen stünden, so würde daraus eine
Verwirrung ohnegleichen entstehen. Die praktischen Amerikaner würden uns
auslachen, wenn wir ihnen mundeten, sie sollten zu Ehren der Weltzeit in
ihren Fahrplnnen Zeitangaben machen, die von der üblichen Tageszeit um so
und so viel Stunden und Minuten abwichen. Der erste dringendste Grund
gegen den Plan Försters liegt also darin, daß an eine wirkliche Durch¬
führung gar nicht zu denken ist. Vielmehr kann es sich nur darum handeln,
ob die von Förster für die Beibehaltung der Ortszeit angegebnen Gründe
wirklich so dringend sind, daß diese Ortszeit neben der Eisenbahnzeit, ans
welche Grundlage man diese auch stellen möge, beibehalten werden müßte.
In dieser Beziehung machen nun die Gegner der Zonenzeit geltend, daß
die dadurch herbeigeführte Verschiebung der von unsern Uhren angegebnen
Zeit — wir können sie die Uhrenzeit nennen — in Vergleich mit der durch
die Sonne bestimmten Zeit einen unerträglichen Eingriff in die Lebensgewohn¬
heiten vieler Menschen üben würde. Sie weisen darauf hin, daß die weite
Ausdehnung Deutschlands von Osten nach Westen eine weitgehende Abweichung
der Zonenzeit von der wirklichen Zeit (im Westen bis zu 37 Minuten) herbei¬
führen, und daß diese weite Abweichung nicht, wie in andern Ländern, nur
geringe Landesteile, sondern umfangreiche Gebiete, namentlich im Westen
Deutschland in seiner ganzen Ausdehnung von Norden nach Süden treffen
würde. Sie berechnen, daß von der Zeitverschiebung im Umfange von 10 bis
20 Minuten 29 Prozent, im Umfange von 20 bis 30 Minuten und weiter
sogar 30 Prozent der Bevölkerung Deutschlands berührt werden würden.
Diese Berechnungen mögen ja richtig sein, und man würde sicherlich
Rücksicht darauf zu nehme» haben, wenn wirklich durch die gedachte Ver¬
schiebung der Uhrenzeit der Bevölkerung ein wesentliches dauerndes Opfer in
ihren Lebensgewohnheiten auferlegt würde. Dies gerade aber muß auf das
entschiedenste bestritten werden.
Es ist schon mehrfach darauf hingewiesen worden, daß wir schon jetzt
unsrer Zeitberechnung nicht die wirkliche Sonnenzeit zu Grunde legen. Zufolge
der mathematischen Gesetze, unter denen die Bewegung der Erde stattfindet,
ist der Umschwung derselben, mithin auch der Sonnentag, nicht in allen Teilen
des Jahres völlig gleich. Damit hangt auch zusammen, daß die im Laufe
des Jahres stattfindende Zu- und Abnahme der Tage am Morgen und am
Abend nicht immer in gleichem Verhältnisse fortschreitet. Berechneten wir nun
unsre Zeit nach der wirklichen Sonnenzeit, so würden wir ungleiche Tage
haben. Man hat daher zur Ausgleichung der erwähnten Ungleichheiten eine
mittlere Zeit berechnet, die fast durchweg von der Sonnenzeit um eine mehr
oder minder große Anzahl von Minuten, an einigen Tagen des Jahres sogar
bis zu einer Viertelstunde, abweicht. Seit Anfang dieses Jahrhunderts hat
man diese mittlere Zeit überall statt der wirklichen Sonnenzeit, eingeführt.
Diese Abweichung von der Sonnenzeit ist aber im bürgerlichen Leben so wenig
störend empfunden worden, daß bis auf den heutigen Tag die allerwenigsten
Menschen nur eine Ahnung davon haben. Nun sagt freilich Förster, diese
Zeitverschiebung sei eine wohlbedachte Maßregel gewesen, die in der allgemeinen
Geltung für die ganze Erde ihre gerechtfertigte Grundlage gehabt habe;
während diese Grundlage „den Plänen der neuesten Menschenweisheit" gänzlich
fehle. Wir bestreikn die Berechtigung jener Maßregel nicht im geringsten.
Wir dürfen aber aus den augeführten Thatsachen allein schon folgern, daß
eine Verschiebung der Uhrenzeit im Verhältnis zur Sonnenzeit jedenfalls im
Umfange einer Viertelstunde im bürgerlichen Leben gar nicht empfunden wird.
Und danach würde auch eine solche Verschiebung, wenn sie durch Einführung
der Zonenzeit herbeigeführt würde, jedenfalls da, wo die Verschiebung eine
Viertelstunde nicht übersteigt, also innerhalb eines Bereichs, das sich östlich
durch die Städte Danzig und Thorn, westlich durch die Städte Schwerin,
Halberstadt, Erfurt, Nürnberg und München begrenzte, gar nicht empfunden
werden.
Wenn überhaupt eine Beschwerung stattfände, so würde sie vornehmlich
den Westen von Deutschland, sagen wir kurz die Rheinlande treffen, indem
für diese die Uhreuzeit durchschnittlich um eine halbe Stunde und für manche
Orte noch um einige Minuten darüber hinaus vorgerückt werden würde. Aber
auch daraus würde kein unerträglicher Zustand erwachsen.
Unser ganzes bürgerliches Leben richtet sich schon längst nicht mehr nach
der Sonnenzeit. Wollten wir nach der Sonne leben, so müßten wir, wenn
wir für unsern Schlaf 8 Stunden rechnen, um 8 Uhr abends zu Bette gehen
und um 4 Uhr morgens aufstehen. Wer thut das noch? Es geschieht nicht
einmal mehr auf dem Lande, wo man doch noch am meisten naturgemäß lebt.
Unser bürgerliches Leben spielt sich durchschnittlich innerhalb der Stunden von
6 Uhr morgens bis 10 Uhr abends ab. Es ist also um zwei ganze Stunden
nach der Abendseite hin vorgerückt, und die Neigung, am Schlüsse des Tages
in die Nacht hineinzuleben, hat sich im Laufe der Jahre immer noch gesteigert.
Gesetzt nun auch, die Vorschiebung des Uhrzeigers hätte wirklich die Folge,
daß unser Leben wieder um eine halbe Stunde nach dem Morgen hin zurück¬
geschoben würde: wäre denn das ein Unglück? Wir würden dadurch nur dem
Naturstande wieder näher treten.
Fragen wir, worin die Mißempfindung liegen soll, die sich an die Vor-
schiebung der Uhreuzeit knüpfen würde, so würde sie sicherlich nicht in der
Veränderung des Mittags liegen. Denn für den Mittag als solchen, d. h.
für den höchsten Stand der Sonne haben wir gar keine natürliche Empfin¬
dung. Unmittelbar unsern Sinnen macht sich nur das Hell- und Dunkel¬
werden am Morgen und Abend, also der Auf- und Untergang der Sonne
fühlbar. Niemand würde es aber wohl mißempfinden, daß es am Abend
(scheinbar) eine halbe Stunde länger hell bliebe. Als Gegenstand einer Miß-
empfinduug würde also nur in Betracht kommen, daß es (scheinbar) eine halbe
Stunde spater Tag würde. Nun sind wir aber bei unsrer durch die Breiten¬
grade bestimmten Lage längst gewöhnt, mit den verschiedensten Zeiten des
Sonnenaufganges zu rechnen. Im hohen Sommer geht die Sonne schon vor
4 Uhr, im tiefen Winter erst nach 8 Uhr auf, und dazwischen liegen die ver¬
schiedensten Zeiten des Sonnenaufganges. Alle diese verschiednen Sonnen¬
aufgange machen wir ohne Beschwerde durch. Wir ertragen es, daß in den
Monaten August, September, Oktober, November und Dezember die Sonne
je um etwa drei Viertelstunden später aufgeht, als in dem vorausgegangnen
Monat. Sollte es nun nicht zu ertragen sein, wenn dieser verspätete Auf¬
gang schon in den Monaten Juli, August, September, Oktober und November
stattfände? Die einzige Zeit, wo der verspätete Sonnenaufgang etwas noch
nicht dagewesenes brächte, wäre die Zeit von etwa vier Wochen vor und
nach dem kürzesten Tage. Während dieser Wochen würde die Sonne (immer
nur scheinbar) zu einer Zeit aufgehen, die mau bisher noch uicht erlebt hätte.
Wer also des Sonnenlichts zu seiner Arbeit bedarf, müßte seine Arbeit eine
halbe Stunde später ansaugen, könnte dann aber abends auch eine halbe Stunde
länger arbeite». Sollte denn das uicht zu ertragen sein?
Nun haben wir ja allerdings im bürgerlichen Leben viele Einrichtungen,
die sich an eine bestimmte von der Uhr angegebne Zeit knüpfen; manche
Menschen haben auch Lebensgewohnheiten an die Uhr geknüpft; an denen sie
Hunger. In allen solchen Verhältnissen giebt es aber — und das schlüge dem
Fasse den Boden aus — ein sehr einfaches Mittel, der in der Veränderung
der Uhrenzeit liegenden Beschwernis sich zu entziehen. Man verlegt die an
die Uhr gcbundne Handlung oder Einrichtung um so viel Zeit, als die Zonen¬
zeit des Ortes von der Ortszeit abweicht- Was hindert es, daß in den
Fabriken, wo bisher von 6 Uhr morgens bis 6 Uhr abends gearbeitet und
von 12 bis 1 Uhr Mittagspause gemacht wurde, die Arbeit erst um 6^ Uhr
beginnen und um Uhr enden zu lassen, auch die Mittagspause auf die
Zeit von 12^/2 bis 1^ Uhr zu verlegen? Was hindert es, wenn bisher die
Schulen um 8 Uhr morgens begannen, den Beginn des Unterrichts auf
8 V2 Uhr zu setzen? Und sollte der, der sich gewöhnt hat, um 5 Uhr morgens
aufzustehen, sich nicht gewöhnen können, künftig aufzustehen, wenn seine Uhr
5'/- zeigt?
Es kommt hierbei noch folgendes in Betracht. Wir sind von alters her
gewohnt, die Zeitpunkte für Handlungen des bürgerlichen Lebens fast immer auf
den Anfang einer vollen Stunde zu setzen. Das war früher eine gewisse
Notwendigkeit, da viele öffentliche Uhren nur die volle Stunde schlugen und
der Besitz von Taschenuhren nicht sehr verbreitet war. Es herrschte daher
für die Zwischenzeiten der vollen Stunden immer eine gewisse Unsicherheit.
Heute, wo jede öffentliche Uhr auch die halben und die Viertelstunden schlägt,
und wo fast jeder Tagelöhner eine leidlich gehende Uhr in der Tasche hat. ist
es gar kein Bedürfnis mehr, immer nur die vollen Stunden anzusetzen. Ein
großer Teil unsers Volkes ist auch bereits durch die Eisenbahnen daran gewöhnt,
mit Minuten zu rechnen. Es wird daher auch nicht störend empfunden werden,
wenn Zeitbestimmungen, die bisher auf die vollen Stunden lauteten, auf be¬
liebige dazwischen liegende Zeitpunkte verlegt werden. Durch eine geringe
Abrundung würde man solche Zeitpunkte noch annehmbarer machen können.
Die Lebensverhültuisse, für deren Bestimmung es gerade auf eine Minute an¬
kommt, sind doch in der That äußerst selten.
Damit erledigt sich auch ein Einwand, der aus einige» gesetzlichen Be¬
stimmungen entnommen worden ist. In der neuen Gewerbeordnungsnvvelle
ist für gewisse Beschäftigungen die Zeit von 5^ Uhr morgens und 8^ Uhr
abends als äußerste Grenze bestimmt. Es ist kein Zweifel, daß damit die
Ortszeit gemeint ist. Würde also die Zonenzeit eingeführt, so müßte jede
Fabrik, auf welche die gedachten Vorschriften Anwendung fänden, nach Ma߬
gabe ihrer Ortslage berechnen, welche Zonenzeit der im Gesetz gemeinten
Ortszeit entspräche, und darnach für die Beschäftigung ihrer Arbeiter die
Grenze ziehen. Auch das würde keine unlösbaren Schwierigkeiten bereiten.
Förster stellt die Sache so dar, als ob durch eine solche Anrechnung die
Welt ständig mit einer sehr schwierigen Aufgabe belastet würde. Wir glauben
das nicht. Die Rechnung ist außerordentlich einfach. Auf jeder Spezialkarte
von Deutschland finden sich die Längengrade eingezeichnet. Nun braucht der,
der die Abweichung der Ortszeit von der Zonenzeit berechnen will, nur die
zwischen dem fünfzehnten Längengrad und seinem Orte liegenden Grade zu
zählen und diese Zahl mit vier zu multipliziren; dann hat er die Minuten¬
zahl, um die die Zonenzeit von der bisherigen Ortszeit abweicht. Sicherlich
wird aber nicht einmal von jedem Einzelnen diese Berechnung verlangt werden.
Ohne Zweifel würden nach Einführung der Zonenzeit Schriften erscheine»,
die für jeden größern Ort Deutschlands die Abweichung der Zonenzeit von
der Ortszeit angaben. Vielleicht würden auch die Ortsvorstände diese Abweichung
öffentlich bekannt machen. Kurz, es würde sehr bald für jeden Ort die Ab¬
weichung notorisch werden. Und dann würde jeder die neue Zonenzeit in
die entsprechende frühere Ortszeit mit Leichtigkeit umsetzen können, voraus¬
gesetzt, daß er nur addiren und subtrahiren gelernt hat.
Darnach würde es auch — ein Fall, den Förster besonders hervorhebt —
für den, der nach einem mehr östlich oder mehr westlich gelegnen Orte um¬
zöge, uicht allzu schwer werden, sich in die Zeit seines neuen Wohnortes zu
finden. Es müßte ein Pedant sondergleichen sein, wenn er das nicht ver¬
möchte. Muß doch auch der, der in Deutschland von Süden nach Norden
zieht, sich hineinfinden, daß im Norden die Wintertage schon merklich kürzer,
die Sommertage merklich länger sind als im Süden.
Die Überschätzung der Schwierigkeit einer solchen Anrechnung führt Förster
mich zu der Annahme, daß die Kalender, die jetzt schon den Auf- und Unter¬
gang der Sonne nach den verschiednen Breitengraden Deutschlands in fünfzehn
verschiednen Stufen anzugeben hätten, in Zukunft auch, um den Bedürfnissen
des Publikums zu genügen, die Verschiedenheit der Zonenzeit berücksichtigen
müßten, und daß dadurch für Deutschland die ungeheuerliche Erscheinung von
nahezu zweihundert verschiednen Kalendern zu Tage treten würde. Auch dies
halten wir für ein ganz unbegründetes Schreckbild. Wir glauben, daß es
auch in Zukunft vollkommen genügen würde, wenn jeder Kalender die (nach
dem Breitengrade verschiedne) Zeit des Sonnenauf- und Unterganges, lediglich
nach dem fünfzehnten Längengrade bemessen, angäbe. Darnach würde jeder
mit Leichtigkeit auch den Auf- und Untergang nach der Zonenzeit seines Ortes
berechnen können. Jedenfalls würden es die können, die sich überhaupt mit
der Zeit des Auf- und Untergangs, diese Zeit nach Minuten bemessen, befassen.
Die Zahl solcher wird stets änßerst gering sein.
Für die Umgestaltung, zu der die Einführung der Zonenzeit Veranlassung
geben kann, kommt noch folgendes in Betracht. Sicherlich würde die Zonen¬
zeit, wenn sie eingeführt würde, dem deutschen Volke nicht über Nacht ins
Haus wachse«. Es würde einige Zeit vorher der Zeitpunkt ihres Eintritts
angekündigt werden. Es hätte also jeder, der mit Zeitbestimmungen zu thun
hat, Muße, sich zu überlege«, ob und welche Änderungen er in seinen Zeit¬
bestimmungen treffen will. Wenn dann der Tag des Eintritts herankäme,
so würden die entsprechenden Änderungen ohne alles Stocken vor sich gehen.
Man thut immer, als ob unser ganzes bürgerliches Leben an den Minutenzeiger
unsrer Uhr festgenagelt sei. Das ist durchaus nicht der Fall. Macht man sich
klar, daß unsre ganze Stundeurechnung doch eigentlich nur willkürlich in den
Tag hineingelegt ist, so kann man es unmöglich sür ein erschütterndes Ereignis
halten, wenn eines Tages sämtliche Uhren um eine halbe Stunde vorgestellt werden.
Vielleicht würde sich Förster eher mit der Zonenzeit versöhnen, wenn er
sich überzeugen wollte, daß ihr in gewissem Sinne nur seine eignen Gedanken
zu Grunde liegen. Die Zonenzeit verbindet in sich die Weltzeit und die Orts¬
zeit, indem sie beide praktisch vermittelt. Für die Stundenzahl schließt sie
sich der Ortszeit an, für die Minutenzahl ist sie Weltzeit. Denn innerhalb der
24 Stunden, die rings um die Erde herrschen, würde überall die Minuten¬
zahl dieselbe sein. Darin gerade liegt das Wohlthätige dieser Einrichtung,
daß man beim Übergange von einer Zone in die andre nicht mehr mit Minuten,
sondern nur mit Stunden zu rechnen hat. Die Fortzählung der Stunden
macht keine Schwierigkeit. Nur die abweichende Minutenrechnung ist für den
Eisenbahndienst das Peinliche und Verwirrende. In dieser ihrer Eigenschaft
als relative Weltzeit würde die Zonenzeit mich der Telegraphie zu statten
kommen, deren Dienst gleichfalls unter der Verschiedenheit der Ortszeiten leidet.
Daß dus Nebeneinander von Weltzeit und Ortszeit unter Umständen
seine großen Bedenken habe, erkennt mich Förster an. Er sagt, sobald ein
Anlaß zur Zusammenfassung aller nationalen Kräfte und Einrichtungen in
höchster Dringlichkeit vorliege, z. B. bei Mobilmachungen, könnte man ja da¬
durch helfen, daß alle Uhren des Landes ans ein und dieselbe Minute einer
gewissen mittlern Einheitszeit, auf die besondre Fahrpläne sür diesen Fall ein¬
gerichtet wären, sofort eingestellt würden. Es wird keiner Ausführung be¬
dürfen, welche unsägliche Verwirrung ans einem Versuche dieser Art hervor¬
gehen würde. Gerade daraus, daß Förster einen so wenig praktischen Gedanken
fassen konnte, erwächst für uns einige Zuversicht, daß sich auch seine oben
gedachte Voraussage von der bei Einführung der Zonenzeit zu erwartenden
baldigen Wiederkehr der Ortszeit nicht erfüllen würde.
Noch läßt sich fragen, wer denn über die Einführung der Einheitszeit in
das bürgerliche Leben auf Grundlage der Zonenzeit zu bestimme» haben würde?
Ohne Zweifel würde die Einführung nur dadurch erfolgen können, daß die
öffentlichen Uhren nach dieser Zeit gestellt würden; und insofern läge die
Entscheidung in der Hand derer, die die öffentlichen Uhren verwalten. Wenn
aber der Staat die öffentlichen Uhren, die unter seiner Verwaltung stehen,
nach dieser Zeit regelte und zugleich seine Behörden anwiese, ihre Zeitbestim¬
mungen uach diesen Uhren zu bemessen, so würden ohne Zweifel alle übrigen
öffentlichen Uhren sehr bald nachfolgen. Natürlich würde es niemand ver¬
wehrt sein, seine Uhr immer noch nach der alten Ortszeit zu stellen. Es
würde dus aber nichts andres zu bedeuten haben, als daß seine Uhr um so
und so viel Minuten nach oder vor ginge.
Es ist von manchen Seiten auch noch angeregt worden, daß man die
Tagesstunden nicht mehr in doppelter Reihe von 1 bis 12, sondern in ein¬
facher Reihe von 1 bis 24 zählen solle. Ohne Zweifel wäre dieses Fortzählen
weit vernünftiger, indem dadurch die lästige Bezeichnung mit „vormittags"
und „nachmittags" erspart würde. Indessen darf man, namentlich wenn mau
eine Neuerung anstrebt, in die Gewöhnungen der Menschen nicht allzu tief
eingreifen. Wir könnten gar manches besser machen, wenn wir es neu zu
machen hätten, müssen aber dem Hergebrachten gegenüber darauf verzichten.
Es würde daher auch verkehrt sein, wollten wir bei Einführung der Zonenzeit
zugleich versuchen, die Fortzahlung der Stunden ins Leben zu rufen. Darciu
könnte fürwahr jeder Versuch einer Änderung in der Zeitbestimmung scheitern.
Würde die Zonenzeit bei uns eingeführt, so würde damit nur ein ähn¬
licher Schritt gethan werden, wie er seinerzeit mit Schaffung der Einheit
von Münze, Maß und Gewicht gethan worden ist. Es würde dadurch
dem deutscheu Volke kein andres Opfer auferlegt werden, als daß man
in einigen Gegenden Deutschlands für die Verhältnisse, für die man die nach
der bisherigen Ortszeit bestimmte Tagesstunde beibehalten wollte, eine kleine
Anrechnung vornehmen müßte. Wäre dieser nicht gerade schwierige Akt ge¬
schehen, so würde alles übrige sehr einfach und glatt ablaufen. Unserm ge¬
samten Verkehrsleben aber würde die größte Wohlthat erwiesen sein. Und
nach einigen Jahren würde man kaum noch begreifen, daß angesehene Männer
einer so verstciudigeu Einrichtung solche Schwierigkeiten bereiten konnten.
er zuletzt angeführte Satz Luthers legt uns die Frage nahe,
ob und inwiefern die Reformation eine Befreiung der Geister
genannt werden dürfe. Dem eifrigen Protestanten gilt es als
selbstverständlich, daß die Reformation nach der Erlösung das
größte und wohlthätigste Ereignis der Weltgeschichte, für die
nachfolgenden Geschlechter die Quelle aller materiellen, geistigen und sitt¬
lichen Güter und vor allem der Freiheit sei. Wem es vergönnt ist, in
einem Kreise gläubiger Protestanten, unberührt und unerschüttert von den
Widersprüchen und Kämpfen der Zeit und — von den Ergebnissen der histo¬
rischen Forschung, sein Leben zu verbringen, dem möchten wir seinen be¬
glückenden Glauben, von dem jener Satz ein Teil ist, nicht verkümmern.
Aber die Zahl derer, die sich solcher Abgeschiedenheit erfreuen dürfen, wird
namentlich in unserm von allen Zeitströmungeu ergriffenen Deutschland von
Jahr zu Jahr geringer, und den übrigen frommt es nicht, sich in eine An¬
sicht einzuleben, die sich einer erdrückenden Fülle widersprechender Thatsachen
gegenüber nicht aufrecht erhalten läßt.
Buckle stellt den Satz auf: Nicht die Reformatoren haben dnrch eine
reinere Religion die Menschheit auf eine höhere Kulturstufe erhoben, sondern
weil die Menschheit eine höhere Kulturstufe erklommen hatte, darum schuf sie
sich mit Hilfe der Reformatoren eine dieser neuen Kulturstufe entsprechende
reinere Religion. Berichtiger wir diesen Satz dahin, daß die Reformation
gleich jedem andern Ereignis Wirkung und Ursache zugleich ist, daher nur
bei geistig hoch entwickelten Völker« eintreten, aber auch nicht ohne wohlthätige
Rückwirkung auf die weitere Erhebung der Geister bleiben konnte. Was aber
die Freiheit anlangt, so war sie weit weniger Folge als vielmehr eine uner¬
läßliche Vorbedingung der großen Umwälzung.
Als sich Trümpelmann in einem seiner vielen Prozesse einmal auf Luther
berief, da ward ihm — wir erinnern uns nicht mehr genau ob vom Vor¬
sitzenden Richter oder vom Staatsanwalt — die Antwort: Lebte Luther heute,
und erkühnte er sich die Sprache zu führen, die er geführt hat, so würde er
eben auch eingesperrt werden. So ist es. Weder Luthers Wort noch Luthers
Werk Ware möglich gewesen in einem großen Polizeistaate von der Art unsrer
modernen Staaten. Wir wollen nicht von seinen Kraftausdrücken sprechen,
für die sich heute kein Setzer fände. Wir wollen nur an eine Stelle seiner
Leichenrede auf den Kurfürsten Johann erinnern: „Mit Herzog Friedrich ist
die Weisheit, mit Herzog Johannsen die Frömmigkeit gestorben, und nun
hinfort wird der Adel regieren, so Weisheit und Frömmigkeit hinweg ist.
Sie wissen, daß mein junger Herr, Herzog Johann Friedrich, einen eignen
Sinn hat und nicht viel auf die Schreibfedern giebt, das gefüllt ihnen wohl;
er hat Klugheit genug, fo hat er auch eignes Sinnes genug, fo wird ihm
der Adel Muts genug predigen. Wenn er seines Vetters Weisheit und seines
Vaters Frömmigkeit halb hätte, so wollte ich ihm seinen Sinn auch halb
gönnen und viel Glücks dazu wünschen." Man denke sich diesen Satz mit
den entsprechenden Änderungen in der Leichenrede des betreffenden Hofpredigers
auf den Kaiser Friedrich! Ganz Berlin wäre in Ohnmacht gefallen. Der Satz
erinnert an eine Predigt, die der schon vor Luthers Auftreten verstorbene
Gener von Kaisersberg bei der Inthronisation eines Straßburger Bischofs
hielt, der doch auch sein Landesherr war. Du kannst dirs bequem machen,
so ungefähr redete er den Fürsten an, denn du hast einen viog-ruf in sxiri-
Wll1ihn8 und einen vivarius in wmporgMus; aber was wirst du für einen
vieÄi'Ws in interng.lito.8 haben? Und dann denke man an Luthers köstlichen
Strauß mit dem Kurfürsten Albrecht von Mainz, einem der mächtigsten, wo
nicht dem mächtigsten Reichsfürsten, denn er war zugleich Erzbischof von
Magdeburg und ein brandenburgischer Prinz! Als dieser Mann, der für seine
üppige Hofhaltung viel Geld brauchte, im Herbst 1521 zu Halle den Abla߬
handel wieder in Gang zu bringen suchte, da richtete Luther aus seiner
„Wüstung," d. i. von der Wartburg, ein eindringliches Abmahnungsschreiben
an den großmächtigen Kirchen- und Reichsfürsten. Da das nicht half, ver¬
faßte er die Schrift „Vom neuen Abgott zu Halle." Der Druck wurde zwar
in Wittenberg vom Hofe verhindert, aber Luther, noch mehr gereizt durch die
von der erzbischöflichen Behörde gegen einen verheirateten Geistlichen ein¬
geleitete Untersuchung, richtete nun ein zweites Schreiben an Albrecht, in dem
er die Sprache eines Gewaltigen redet. Er habe, heißt es im Eingang, des
Erzbischofs und des Hauses Brandenburg zeither verschont, weil er gedacht,
jener handle aus Unverstand so. Nachdem er aber auf seine erste treue Ver-
mahnung Spott und Undank geerntet, auf seine zweite eine harte, unartige,
unchristliche und nnbischöfliche Antwort erhalten, wolle er nunmehr dem
Evangelio nach die dritte Warnung auf Deutsch thun (die ersten beiden Briefe
waren lateinisch geschrieben), obs helfen wolle. „Es denkt vielleicht Ew., ich
sei nun von dem Plan, will nu für mir sicher sein und durch die Kaiserliche
Majestät den Meeres wohl dämpfen. Aber noch soll Ew. wissen, daß ich
will thun, was die christliche Liebe fordert, nicht angesehen auch der Hölle
Pforten, schweige denn Ungelehrte, Päpste, Kardinäle und Bischöfe. Ich wills
weder leiden noch schweigen, daß der Bischof von Mainz solle vorgeben, er
wisse nicht ^wie es mit dein Ablaß steht. Mit Gottes Hilfe sei offenbar ge¬
worden, daß der Ablaß lauter Büberei und Trügerei sei^. Derselbige Gott
lebet noch, da zweifle nur niemand an, kann anch die Kunst, daß er einem
Kardinal von Mainz widerstehe, wenn gleich viele Kaiser ob ihm hielten.
Er hat auch sonder Lust, die hohen Cedern zu brechen und die hochmütigen,
verstockten Pharaones zu demütigen. Ew. denken nur nicht, daß der Luther
tot sei. Er wird auf den Gott, der den Papst demütiget hat, so frei und
fröhlich pochen und ein Spiel mit dem Kardinal von Mainz ansahen, des
sich nicht viel versehen. Darum sei Ew. angesagt, wo nicht der Abgott wird
abgethan, muß ich mir das lassen eine nötige, dringende und unvermeidliche
Ursach sein, Ew. wie den Papst öffentlich anzutasten, solchem Fürnehmen
fröhlich einzureden, allen vorigen Greuel des Tezels auf den Bischof von
Mainz zu treiben ^dieser war bekanntlich in der That der eigentlich schuldige,
was Luther bisher noch nicht öffentlich gesagt hatte; darin bestand die Scho¬
nung, von der er im Eingange spricht^ und aller Welt anzuzeigen den Unter¬
schied zwischen einem Bischof und einem Wolf. Ich habe Ew. genug ermahnt.
Es ist hinfort Zeit, nach Se. Paulus Lehre die öffentlichen Übelthäter vor
aller Welt öffentlich zu berüchtigen, zu verlachen und zu bestrafen, daß die
Ärgernis werde von dem Reich Gottes getrieben. Zum andern bitte ich,
Ew. wollen sich enthalten und die Priester mit Frieden lassen, die sich, um
Unkeuschheit zu meiden, in den ehelichen Stand begeben haben oder wollen,
nicht sie berauben, das ihnen Gott gegeben hat, sintemal Ew. des kein Fug,
Grund und Recht mag anzeigen, und mutwilliger Frevel einem Bischof nicht
geziemet. Was hilft es doch euch Bischöfen, daß ihr so frech mit Gewalt
fahret? Was lasset ihr euch dünken? Seid ihr eitel Giganten und Nimroten
von Vabylonien worden? Wisset ihr nicht, ihr armen Leute, daß Frevel und
Tyrannei nicht mag lange bestehen? Wird solches nicht abgestellt, wird ein
Geschrei sich aus dem Evangelio erheben und sagen, wie sein es den Bischöfen
anstünde, daß sie ihre Balken zuvor aus ihren Augen rissen, und billig wäre,
daß die Bischöfe zuvor ihre Hurer von sich trieben, ehe sie fromme Eheweiber
von ihren Ehemännern schieden. Hierauf bitte und warte ich Ew. richtige, schleunige
Antwort, inwendig vierzehn Tagen. Denn nach bestimmten vierzehn Tagen
wird jwofern die Antwort ausbleibt^ mein Büchlein wider den Abgott zu Halle
ausgehen. Und ob diese Schrift würde dnrch eure Räte unternommen ^unter-
schlagen^ daß sie nicht zu Händen käme, will ich mich das nicht lassen auf¬
halten. Natleute sollen treu sein, so soll ein Bischof seinein Hof ordnen, daß
für ihn komme, was kommen soll. Gott gebe Ew. seine Gnade zu rechtem
Sinn lind Willen. Gegeben in meiner Wüstung. Sonntag nach dem Tage
Se. Katharina Anno 1521."
Und der Kardinal-Kurfürst schickte dem gebannten Mönche nicht etwa den
kurfürstlich sächsischen Staatsanwalt oder den Neichsanwalt auf den Hals, sondern
er übersandte eine de- und wehmütige Abbitte, die mit den Worten beginnt:
„Lieber Herr Doktor. Ich habe euren Brief empfangen und verlesen und zu
Gnaden und allem Guten angenommen, versehe mich aber gänzlich, die Urhund
sei längst abgestellt, so euch zu solchem Schreiben bewegt hat. Und will mich,
ob Gott will, dergestalt halten und erzeugen, als einem frommen geistlichen
und christlichen Fürsten zustehet." Wenn das nicht höchste Freiheit ist, dann
hat das Wort keinen Sinn! Es solls nur heutzutage einer versuchen, mit
dem Bischof von Trier wegen des „heiligen Rockes" ein solches Spiel an¬
zufallen oder mit einem andern Mächtigen in deutschen oder welschen Landen,
in einer Monarchie oder Republik ob irgend eines Übelstandes, für den dieser
verantwortlich gemacht werden kann! Es ist ja wahr, Luther war mit dem
Kirchen- und Neichsbann belegt worden. Aber welcher Mann, der heutiges-
tags die kirchliche und bürgerliche Ordnung so heftig und mit so unmittelbar
praktischem Erfolg angreifen wollte, dürfte in Deutschland frei und ungestraft
umhergehen? Man muß sich doch vergegenwärtigen, daß das Kirchenwesen
mit der Reichsverfassung schier unlöslich verflochten war, und daß der kirchliche
Besitz auf breitester privatrechtlicher Grundlage ruhte. Und was die Haupt¬
sache ist, der Bann war unwirksam und unvollstreckbar, und der Gebannte
verfuhr mit den vornehmsten Reichsfürsten wie ein Schulmeister mit unartigen
Büblein. Es fand sich in ganz Deutschland keine Behörde, die gewagt hätte,
das Urteil zu vollziehen. Nur die Anhänger Luthers wurden an einigen
wenigen Orten verfolgt.
Im Gegenteil nahm die Änderung des Kirchenwesens ihren ruhigen oder
vielmehr sehr unruhigen Verlauf. Man lese nur folgenden Abschnitt aus
Raukes Geschichte des Neformationszeitalters, und frage sich, ob dergleichen
heutzutage in irgend einer Stadt Deutschlands möglich wäre. „Auf den Ort
der Predigt sah man noch nicht. Für die Bewegung der kirchlichen Opposition
ist es fast symbolisch, daß in Bremen eine unter dem Interdikt stehende Kirche
es sein muß, in der ein paar aus Antwerpen dem Tode entflohene Augustiner
zuerst eine Gemeinde um sich sammeln. In Goslar wird die Lehre zuerst in
einer Kirche der Vorstadt, und als diese verschlossen worden, von einem Ein-
gebornen, der in Wittenberg studirt hat, ans dem Lindenplan verkündigt; ihre
Anhänger bekommen den Namen Lindenbrnder. In Worms stellt man eine
tragbare Kanzel außerhalb der Kircheumauern auf. Zu Arnstadt hält der
Augustiner Kaspar Gürtel von Eisleben, aufgefordert von den Einwohnern,
nach alter Sitte auf dem Marktplatze sieben Predigten. Bei Danzig war es
sogar eine Anhöhe vor der Stadt, wo man sich um einen von drinnen ver¬
jagten Prediger sammelte. Und hätten sich ja keine Geistlichen gefunden, so
hätten Laien das Wort genommen. Unter den Angen des Doktor Eck zu
Ingolstadt las ein begeisterter Webergesell die Schriften Luthers dein ver¬
sammelten Haufen vor." Und bei solchen Versammlungen im Freien blieb es
ja nicht. Überall, wo die Bewegung die Oberhand gewann, kam es zu einer
durchgreifenden Neuordnung des Gottesdienstes, zur Absetzung oder Verjagung
solcher Priester, die das Evangelium nicht annehmen wollten, zur Einziehung
von Kirchengütern. Wo sich Fürsten und Magistrate an die Spitze stellten,
da konnte die Änderung immerhin eine landrechtliche, wenn auch weder die
reichsrcchtliche noch die privatrechtliche Gesetzlichkeit für sich in Anspruch nehmen;
aber wie stand es an Orten, wo sie dem Magistrate von der niedern Bürger¬
schaft aufgezwungen wurde?
Ganz dasselbe gilt von der Einführung des Christentums. Sie war nur
möglich in einer Zeit großer Freiheit. Ohne polizeilich nachweisbare Unter¬
haltsmittel jahrelang in der Welt herumreisen, Versammlungen nnter freiem
Himmel abhalten, Gemeinden gründen, die nach staatlicher Anerkennung nichts
fragten, die sehr bald zu großem Vermögen gelangten, dieses selbständig ver¬
walteten und ihre Mitglieder einer strengen Kirchenzucht unterwarfen, deren
Wirkungen tief ins bürgerliche Leben einschnitten, das alles wäre heute, wenig¬
stens in dem Maße, wie es damals geschah, nicht mehr möglich. Es ist wahr,
über die ersten Christen brachen blutige Verfolgungen herein, wie über die
Protestanten des sechzehnten Jahrhunderts in einigen Ländern; allein wie
wenig vermögen die brutalen Gewaltthaten einer blind dreiufahreuden Leiden¬
schaft im Vergleich zu deu planvollen Maßregeln einer wohlgeordneten bürger¬
lichen Gewalt, die mit dem gleichmäßigen unwiderstehlichen Druck einer hydrau¬
lischen Presse alle ihr mißliebigen Bewegungen meist schon im Keime ersticken!
Man wird wahrscheinlich einwenden, daß eine Freiheit, die wie im
römischen Reiche auf der Gleichgiltigkeit gegen alle religiösen Meinungen, oder
wie im Deutschland des sechzehnten Jahrhunderts auf der Schwäche des Neichs-
vberhauptes und auf der Teilung der Staatsgewalt in unzählige in einander
eingreifende und einander gegenseitig behindernde Zuständigkeiten beruht, gar
nicht den Namen Freiheit verdiene. Der Zustand des damaligen deutschen
Reiches namentlich müsse als eine dnrch kleine Willkürherrscher nnr sehr un¬
genügend gezügelte Anarchie bezeichnet werden. Die wahre Freiheit sei erst
durch den Protestantismus möglich geworden, der die sittliche Freiheit auf
den Thron gesetzt habe. Darauf erwidern wir, daß es doch auch so manche
Protestantische Throne und Thrönchen gegeben hat und vielleicht noch giebt,
anf denen etwas andres als die sittliche Freiheit sitzt, daß aber auch dort,
wo die Sittlichkeit wirklich in der Staatsgewalt ihre Verkörperung gefunden
hat, der größere Teil der Unterthanen nur durch Zwang in der Staats¬
ordnung festgehalten wird. Man kann nun zwar der Ansicht sein, und wir
selbst teilen sie mit einem kleinen Vorbehalt, daß die erzwungene Ordnung sür
gewöhnlich der Anarchie vorzuziehen sei, aber es ist nicht erlaubt, den Zwang
Freiheit zu nennen. Man mag also die Zustünde des achtzehnten und neun¬
zehnten Jahrhunderts denen des sechzehnten vorziehen, aber es wäre ein un¬
würdiges Spiel mit Worten, wenn man behaupten wollte, es sei die größere
Freiheit, was unsre Zeit vor der frühern auszeichne; es ist dies vielmehr
der besser geordnete Zwang. Freiheit ist eben Freiheit; und wo neben den
guten Kräften nicht auch die zweifelhaften und die offenbar bösen Spielraum
haben zu wirken, da ist sie nicht vorhanden. Und da es kein unfehlbares
Urteil giebt, das die guten von den bösen reinlich zu scheiden vermöchte, so
läßt es sich nicht vermeiden, daß dort, wo die bösen kräftig gezügelt und
unterdrückt werden, auch so manche gute verkümmern muß. Ebendeshalb sind
große wohlthätige Umwälzungen nur bei einem hohen Maße von Freiheit
möglich, das notwendigerweise nicht allein der Wahrheit und der Tugend, son¬
dern auch der Thorheit und dem Laster zu statten kommt.
Aber auch in wissenschaftlicher und litterarischer Beziehung war der An¬
fang des sechzehnten Jahrhunderts freier und vorurteilsloser als sein Ende.
Es mag deu frommen Christen mit Schmerz und Zorn erfüllen, daß der Hof
der Renaissancepäpste heidnisch geworden war und daß sich Gotteslästerung
und Gottesleugnung ungescheut hervorwagen durften, aber das hohe Maß
geistiger Freiheit, das sich darin kund giebt, kann jenem Geschlecht nicht be¬
stritten werden. Zwar war Luther schon hervorgetreten, als Hütten in seinem
Briefe an Pirkheimer den berühmten Satz schrieb: „O Jahrhundert, die Wissen¬
schaften blühen, die Geister erwachen, es ist eine Lust, zu leben!" aber an
Luthers Thesen hatte der ritterliche Humanist dabei nicht gedacht. Gerade
damals trat er in den Dienst des Kurfürsten Albrecht von Mainz, des großen
Ablaßschacherers. Auch wolle mau bedenken, daß Kopernikus, der sein dem
Papste Paul III. gewidmetes Werk über die Umwälzungen der Himmelskörper
freilich erst kurz vor seinem Tode (1543) herausgab, dessen Ansichten aber
doch im Kreise seiner Freunde bekannt waren, unbehelligt blieb, während fünfzig
Jahre später Johannes Kepler vor dem orthodoxen Eifer der württembergischen
Pastoren in den Schutz des Kaisers flüchten mußte, noch ehe in Rom Galilei
verdammt wurde. Und wie wunderlich nimmt sich der Widerstand der Pro¬
testanten gegen die gregorianische Kalenderverbesserung aus! Vielleicht darf
man Rabelais als den Mann bezeichnen, mit dem 1553 die im Hnmanisten-
zeitalter herrschende Freiheit des Wortes zu Grabe getragen wurde. Nicht
darin sehen wir die Freiheit, daß er Zoten veröffentlichen durfte, sondern darin,
daß ganz Frankreich auf den König, der in diesen Zoten verspottet wurde,
mit Fingern zeigte, und daß ihn seine derben Satiren auf die Geistlichkeit
weder die Gunst seines Bischofs, noch die Liebe seiner Gemeinde kosteten, noch
überhaupt irgend welche Belästigung zuzogen.
Und gar die Glaubensfreiheit! Wie elend stand es um die am Eude des
großen Jahrhunderts! Die Inquisition, die sich im Lichte des Humanismus
kaum hervorgewagt hatte, war zu neuem Leben erwacht und wütete in dein
Gebiete jeder der drei Konfessionen gegen die beiden andern. Um 1500 durfte
man jede Meinung ungestraft aussprechen, wofern man nur nichts that, Ums
den materiellen Bestand der Hierarchie zu gefährden geeignet schien. Um 1578
wurden in lutherischen Landen fromme gläubige Prediger von Amt und Brot
gejagt, wenn sie sich weigerten, die ihnen vorgelegte Zwangsformel zu unter¬
schreiben, und die Pfarrersfrauen lagen dem Ehegemahl mit dem Sprüchlein
im Ohr: Schreibt, lieber Herre, schreibt, daß ihr bei der Pfarre bleibt. „Mit
byzantinischem Fanatismus und byzantinischer Gedankenarmut — schreibt
H. von Treitschke in seinem prachtvollen Essay über die Republik der vereinigten
Niederlande — hadern die Theologen über die wie zum Hohne sogenannten
Konkordienfvrmeln der Albertiner, über die dogmatischen Schrullen der erne-
stinischen »Betefürsten,« die Pfaffen der neuen Kirche fluchen einander hinab
in die Tiefen der Hölle um der Frage willen, ob die Erbsünde auch in den
Leibern der selig Verstorbnen fest hafte bis zum jüngsten Tage." Leider wahr!
Wenn er aber im Eingange der genannten Abhandlung sagt: „Reiner, herr¬
licher hat nie eine Umwälzung begonnen, als unsre Kirchenreformation begann.
Alles Eigenste und Höchste unsers Wesens war im Aufruhr, der Ernst deut¬
schen Forschermutes und die Wahrhaftigkeit des deutschen Gewissens. Und
wie Luthers Werk aus den Tiefen der deutschen Volksseele entsprang, so war
es auch die letzte große That, welche die Söhne aller unsrer Stämme zu ge¬
meinsamem Schaffen vereinigte. Deutschland war protestantisch"; und wenn
er gleich darauf beklagt, daß die schöpferische Kraft des Luthertums schon in
der Mitte des Jahrhunderts versiegt gewesen sei, daß sich die Nation unfähig
erwiesen habe, einem Geguer von sehr mäßiger Stärke gegenüber die Selbst-
ständigkeit ihres Glaubens und ihres Staates zu beweisen; wenn er über den
Teil, der nicht unter das Joch des Katholizismus zurückgeführt wurde, mit
schmerzlicher Entrüstung das harte Urteil fällt: ,,Es ist nicht anders, das
Luthertum jener Tage stand nicht nur politisch, sondern auch sittlich tief unter
dem verjüngten Katholizismus" — so giebt das zwar ein Bild von packender
Tragik ab, aber eben die Größe des Gegensatzes zwingt doch zu der kritischen
Frage, ob ein so plötzlicher Verfall einer ganzen großen Nation wohl denkbar
sei? Was Treitschke von der Reinheit und Herrlichkeit des Anfangs sagt, das
gilt ganz gewiß von Luther und einigen ihm verwandten Seelen, aber es gilt
nicht von der „deutschen Volksseele," wenn damit die Gesamtheit der Seelen
der Deutschen gemeint ist. Denn die Deutschen waren zum größten Teile
Bauer», Schuster, Schneider, Weber und dergleichen Leute, und die Bauern,
Schuster, Schneider, Weber haben, einzeln betrachtet, damals nicht anders
ausgesehen wie ihre Standesgenossen von heut, höchstens derber und unge¬
schlachter, aber gewiß nicht idealer. Nicht jeder Schuster war ein Haus Sachs.
Wenn daher auch zu glauben ist, daß jene idealen Anschauungen und Ziele,
die Luther,: bewegten, auch dem gemeinen Manne uicht ganz fremd blieben,
daß auch er einen klaren Verstand, ein sittliches Urteil und ein Gewissen hatte,
und daß der Weckruf der Wittenbergischen Nachtigall die edlern Saiten seines
Gemütes erklingen ließ, so herrschte doch natürlicherweise bei ihm vor, ,,was
uns alle bändigt, das Gemeine," und weniger die christliche Freiheit in Luthers
Sinne war es, was ihn begeisterte, als die Freiheit in jenem gröbern Sinne,
der im Bauernkriege und bei den Wiedertäufern zu Tage trat. Es ist daher
auch gar nicht zu verwundern, daß nach dem Rausche der ersten Begeisterung
die Lust der Volksmassen, für ihren Glauben Opfer zu bringen und Helden¬
thaten zu vollbringen, für gewöhnlich nicht übermüßig groß war — in Zeiten
der Verfolgung haben ja nicht bloß einzelne, sondern ganze Gemeinden die
Probe des Martyriums bestanden — und daß sie zu ihren bürgerlichen Ge¬
schäften zurückkehrend, die Ausgestaltung ihres neuen Glaubens mit demselben
Gleichmut ihren Predigern überließen, wie die Väter alles Theologische der
Hierarchie überlassen hatten, sodaß sich auch in der neuen Kirche das Volk
von da ab passiv verhält. Den Theologen aber lag die Gefahr, den christ¬
lichen Glauben als ein Übungsobjekt für ihre fachmännische Virtuosität zu
behandeln, um so näher, als ihnen das weltliche Regieren, die Vermögens-
verwaltung, das Bewirtschaften großer Landgüter, das kirchliche Zercmonieu-
wesen und die damit verbundne Kunstpflege abgenommen worden und ihre
Thätigkeit auf das Wort, auf Christenlehre und Predigt eingeschränkt wor¬
den war.
Auch genügen die bis jetzt vorhandnen Quelleunachweisungen noch nicht,
um für den Satz, daß um 1525 ganz Deutschland protestantisch gewesen sei,
den unumstößlichen Beweis zu liefern. Zwar die Behauptung der katholischen
Historiker, daß nur die Fürsten und Landstände ans freien Stücken protestan¬
tisch geworden, der gemeine Mann aber von jenen zum Abfall vom alten
Glauben gezwungen worden sei, ist entschieden falsch; die lebhaften Sympathien
des Volkes für die Reformation und sein Haß gegen die Hierarchie sind zu
vielfach bezeugt. Aber man darf uicht vergessen, daß das, was wir heute Pro¬
testantismus nennen, um 1525 so wenig vorhanden war wie eine evangelische
Landeskirche mit geordneter Verfassung und vorgeschriebnen Gottesdienste.
Wahrscheinlich haben die Bauern der Alpenlündcr zwar die Kraftworte Luthers
mit Entzücken gelesen und die Gelegenheit sehr gern ergriffen, ihren faulen
und liederlichen Pfaffen eins zu versetzen; auch das reichlichere Schriftwvrt,
die Predigt vom Glauben, der da selig mache ohne die Werke, nud das deutsche
Kirchenlied werden ihnen gar wohl gefallen haben, aber damit war noch nicht
gesagt, daß sie gesonnen gewesen seien, das alte Kirchenwesen in Bausch und
Bogen zu verurteilen und sich mit einem Gottesdienste zufrieden zu geben, wie er
bald darauf in Wittenberg eingerichtet wurde, oder gar mit dem spätern Heidel¬
berger. Die Innigkeit, mit der die süddeutschen Bauern heute noch an ihren
Kirchengebräuchen hängen, läßt sich doch nicht ausschließlich aus dem von den
Hnbsbnrgern und Wittelsbachern geübten Zwange erklären. Ist es um nicht
richtig, daß 1525 ganz Deutschland protestantisch gewesen sei, so erscheint die
Thatsache, daß bald »ach 1550 in Deutschland so wenig echt protestantischer
Geist zu spüren ist, nicht mehr so unnatürlich wie in der wirkungsvollen
Gegenüberstellung bei Treitschke.
Wenn sich auch jene flammenden geschriebnen Reden, mit denen Luther
binnen drei Jahren die alte Kirche in Deutschland über deu Haufen warf
(die Thesen, der Aufruf um deu Kaiser und an den christlichen Adel der
deutscheu Nation, die Büchlein über die Messe, über die babylonische Ge¬
fangenschaft der Kirche und über die Freiheit des Christenmenschen), durch
ihren echt biblischen Geist inhaltlich durchaus von den Erzeugnissen des Hu¬
manismus unterscheiden, so sind sie doch formell, in Ansehung der darin zu
Tage tretende,? freien und rücksichtslos kühnen Kritik, als die höchsten Blüte»
des freien Geistes der Renaissance anzusehen. Indem nun aber diese Thaten
Luthers vollends die letzten Fesseln sprengten, die ein von Kraft und Übermut
strotzendes Geschlecht vom äußersten bisher noch zurückgehalten hatten, ward
nach einem Gesetze, dem alle, auch die edelsten und berechtigtsten Revolutionen
unterliegen, eine neue Viuduug in andern Formen nötig. Das Große und
Einzige an Luther ist nur, daß er, der die alten Fesseln gesprengt hatte, selbst
die neuen schmiedete, daß er nach dein Abbruch des alten Gebäudes mit eigner
Hand den Neubau ausführte, Sivyes und Ncipoleou in einer Person war.
Und da fortan nicht allein in den protestantischen, sondern anch in den katho¬
lischen Ländern die geistliche und die weltliche Regierungsgewalt in einer Hand
vereinigt ward — denu zu ihrer Selbsterhaltung sahen sich die Päpste ge¬
zwungen, den katholischen Fürsten ein weitgehendes Aufsichtsrecht über die
Landeskirchen einzuräumen —, so hat er die Entstehung des modernen Polizei-
stnates, der die Wiederkehr der frühern gemütlichen Anarchie fast unmöglich
macht, gewaltig gefördert.
Wenn wir demnach den Satz von deu befreienden Wirkuttgen der Refor¬
mation in jeuer gewöhnlichen Fassung, die deu katholischen Polemikern ihre
Arbeit so ungemein leicht macht, als ungeschichtlich zurückweisen, wollen wir
damit keineswegs geleugnet haben, daß diese große Umwälzung wie der mensch¬
lichen Kultur im allgemeinen, so auch der Freiheit schließlich doch noch zum
Heile gereicht hat. Zunächst war es schon ein großartiges Werk der Be¬
freiung, daß wenigstens die kleinere Hälfte der Christenheit von dein Zwange
zu Zeremonien und Leistungen erlöst wurde, die dem männlichen Geiste — wir
kommen auf diesen Punkt zurück ^- durchaus widerstreben, und die zur Folge
haben, daß bei den romanischen Völkern die Männer der Mehrzahl nach offne
Atheisten sind, während die kirchlich gebliebene Minderzahl alle Thatkraft ein¬
gebüßt hat. Gfrörer beantwortet in einem vor seiner Konversion geschriebnen
Werke die Frage, wie die Kraftlosigkeit der Habsburger zu erklären sei, mit
den Worten: Die jesuitische Erziehung hat dem Adler die Krallen ausgebrochen.
Ju den protestantischen Ländern darf und kann der Mann Christ sein ohne
die Ohrenbeichte abzulegen und ohne vor Menschen, Symbolen und Reliquien
auf den Knieen zu rutschen; das ist eine ungeheure Wohlthat, eine wirkliche
Befreiung.
Sodann hat sich, nicht zwar aus dem Luthertum und aus dem Calvi¬
nismus, aber aus der Spaltung doch schließlich die Glaubensfreiheit ergeben.
Nachdem die Ketzerverfvlgung mit vordem nie gesehenem Fanatismus zwei
Jahrhunderte lang in allen Ländern des alten wie des neuen Glaubens ge¬
wütet hatte, mußte jede der drei Konfessionen erschöpft von dem wahnsinnigen
Versuche der Ausrottung aller Andersdenkenden Abstand nehmen und sich zur
Duldung nicht allein der beiden andern, sondern auch der Spaltungen im
eignen Schoß bequemen. Die heutige Glaubensfreiheit steht und füllt, wie
jede Freiheit, mit der Vielheit der sie bedrohenden, aber einander gegenseitig
in Schach haltenden Mächte; gelänge die Wiedervereinigung der Kirchen,
gleichviel auf welcher Grundlage, so wäre es um die Glaubensfreiheit ge¬
schehen. Wie die Dinge jetzt liegen, macht in der ganzen zivilisirten Welt
— Rußland rechnen wir nicht dazu — die religiöse Spaltung die Wiederkehr
von Ketzerverfolgungen im großen Stile unmöglich.
Und in dieser Glaubensfreiheit finden die edlern und stärkern Seelen doch
auch leichter den Zugang zu jener höchsten und reinsten Freiheit, die Luther
eigentlich meinte. Diese Freiheit eines Christenmenschen, der kein Gesetz an¬
erkennt außer dem in seinem Herzen, und der so kühn sein darf, weil er
wirklich die Gottheit aufgenommen hat in seinen Willen, diese erhabne sitt¬
liche Freiheit, von der bei den lutherischen Pastoren nach Luthers Tode so
gar nichts zu spüren ist, war freilich nicht erst durch Luther in die Welt ge¬
kommen; hatte sie doch so mancher Klosterbruder in stiller Zelle so gut ge¬
kannt wie der große Dante. Aber erst nach der Herstellung jener Glaubens¬
freiheit, die, wie gesagt, die Spaltung der Kirche in Konfessionen zur Voraus¬
setzung hat, kann sich ihrer der protestantische Privatmann — der Geistliche
freilich nicht — erfreuen ohne die Furcht vor Verfolgungen und gehässigen
Streitigkeiten.
(Schluß folgt)
as Jahr 1732 brachte den hochweisen Vätern der guten Reichs¬
stadt Augsburg eine Menge von Scherereien mit Handwcrker-
angelegeuheiten. Es war im Jahre vorher ein Neichsgesetz zu¬
stande gekommen (sanktionirt vom Kaiser den 22. Juni 1731),
das sich die Aufgabe stellte, die zahllosen Mißbräuche und Miß-
stände, die im Laufe der Zeit nnter den Handwerkern eingerissen waren, zu be¬
kämpfen. Dies war kein leichtes Unternehmen, denn viele von den Mißbräuchen
und Mißständen, die nun abgeschafft werden sollten, waren den Handwerkern
selber durch lange Gewohnheit lieb und teuer geworden. Versuche, sie abzu¬
stellen, stießen oft auf hartnäckigen aktiven und passiven Widerstand; und bei
dem geringen Zusammenhange der verschiedenen dentschen Länder und Herr¬
schaften und bei der großen Ungleichmäßigkeit, womit dergleichen Dinge an
verschiednen Orten behandelt wurden, befanden sich vor allem die kleinen
Reichsstände solchem Widerstande gegenüber in schwierigster Lage.' Namentlich
widerspenstige Gesellen waren schwer zum Gehorsam zu zwingen, und es kostete
die Behörden gar manchmal viel Kopfzerbrechen, um meuigstens den Schein
ihrer Autorität zu wahren.
In Augsburg wurde jenes Gesetz durch ein Ratsdekret vom 29. De¬
zember 1731 veröffentlicht und im Laufe der nächsten Monate jeder einzelnen
Innung noch einmal besonders bekannt gemacht. Doch dachte wohl keiner
von den regierenden Herren daran, ernstlich darüber zu wachen, ernstlich sich
darum zu kümmern, daß es nun auch im Einzelnen ausgeführt würde. Sie
standen mit ihren Sympathien durchaus auf demselben Boden, sie hatten die
lebhaftesten Wünsche für eine durchgreifende Reform des verknöcherten Haud-
werkerwesens, aber sie waren sich zugleich ihrer eignen Schwäche und llnzu-
länglichkeit nur zu gut bewußt, um von der altbewährten Übung abzugehen:
in schwierigen Fällen, solange sich etwas noch ertragen ließ, lieber ein Auge
oder auch beide Augen zuzudrücken und die Dinge laufen zu lassen, wie sie
wollten. Wäre es allein auf die städtische Obrigkeit angekommen, so wäre
das Reichspatent vom 22, Juni 1731 in Augsburg ein bloßes Stück Papier
geblieben; allein fast in allen Gewerken fanden sich Meister oder Gesellen, die
aus persönlichen Interessen oder sonstigen Gründen Ursache hatten, mit diesen
oder jenen Übelständen unzufrieden zu sein. Bei einzelnen wirkte sogar schon
ein gewisser Aufkläruugseifer als treibendes Motiv; und es wurden dann auch
wohl vielleicht uicht gerade übermäßig vernünftige, aber doch harmlose Ge¬
wohnheiten mit den schreiendsten Mißbräuchen in einen Topf geworfen. So¬
wie aber unter Beziehung auf das neue Gesetz bestimmte Klagen einliefen,
waren die Behörden gezwungen, sich in Bewegung zu setzen, und sie ließen
sich daun oft von ihren Sympathien für Reform und für den Augenblick hin¬
reißen, entschiedner auf die Seite der Beschwerdeführer zu treten, als ihnen
nachher angenehm war, denn der Weg zurück war nicht immer gleich wieder
zu finden. Er wurde aber doch in der Regel gefunden. Wenn wir am Ende
zusehen, so waren sie selten weiter gegangen, als unumgänglich notwendig war.
Im folgenden soll an einem besondern Falle gezeigt werden, wie diese
Dinge gewöhnlich behandelt wurden. Unter hundert ähnlichen Fällen könnte,
was die sachliche Behandlung anlangt, gerade so gut ein andrer herausgegriffen
werden; der vorliegende hat aber den Vorzug, daß wir darin zugleich von
Mozarts Großvater, dem Buchbinder Joh. Georg Mozart, von dem außer
ein paar Daten bis jetzt nichts bekannt ist, eine Lebensäußerung erhalten.
Bei den Augsburger Buchbindern war es Brauch, unter gewisse« Um¬
ständen, die übrigens ziemlich regelmäßig eintraten, den Abschied eines Gesellen
mit einem eigentümlichen Zeremoniell zu feiern. Aller sechs Wochen fand eine
sogenannte Auflage statt, d. h. die Buchbindergesellen versammelten sich jeden
sechsten Sonntag auf ihrer Herberge, und jeder mußte hier für jede Woche,
die er in Arbeit gestanden hatte, einen Kreuzer in die Gesellenkasse oder, wie
der Ausdruck lautete, in die Lade zahlen. Das Geld, das ans diese Weise
zusammenkam, war nebst andern Jnnnngsgeldern bestimmt, zur Unterstützung
von Buchbindergeselleu, die durch Krankheit oder ans andern Ursachen in
Bedrängnis geraten waren, verwendet zu werden, wurde aber diesem Zweck
mitunter entfremdet.
Wenn nnn ein Geselle zufällig an einem Auflagetag feinen Abschied nahm
oder, wie man sagte, „fremd ward" — und die meisten richteten es so ein,
daß dies an einem solchen Tage geschah —, so war es herkömmlich, daß ihm
die zurückbleibenden ein solennes Trinkgelage spendeten. Man nannte dies
das Ausgeschcnk; und je nachdem es ein, zwei oder drei Abreisende waren,
mußte, mit Ausnahme dieser, jeder in Augsburg befindliche Vuchbindergeselle,
gleichviel ob er an der Feier teilnahm oder nicht, zur Bestreitung der Kosten
zehn, zwölf oder fünfzehn Kreuzer entrichten.
Nachdem dies geschehen war, wurde die Herberge, die während des vo¬
rigen Jahrhunderts trüge Zeit in der Bierbrauerei zur Sackpfeife, Bäcker-
gaffe ^. 15, war, festlich hergerichtet, das Trinkgeschirr der Innung aus der
Lade geholt, sauber geputzt und ausgebreitet. Für jeden Abreisenden aber
ward ein Maß Wein auf deu Tisch gesetzt, wovon drei Viertel in ein größeres
Geschirr, der Kredenzer genannt, geschüttet wurden; den Nest verteilte man
in mehrere kleine Gefäße, die Kollationskändel. Hierauf hatte der Vorsteher,
der Altgeselle oder, wie mal, ihn gewöhnlich nannte, der Gesellenvater folgende
Ansprache zu halten: „Es ist in dieser, des heiligen römischen Reichs Stadt
Augsburg der löbliche Gebrauch, daß einem Gesellen, so vierzehn Tage oder
länger allhie gearbeitet, wenn er an einem Auflagetag fremd wird, das Aus¬
geschenk gehalten wird: also will ich Ihm dieses im Namen der ganzen Ge¬
sellschaft zugebracht haben. Daraus hat Er drei Trunke zu verschenken, einen
an den Herbergsvater, einen an die Herbergsmutter und einen an sonst einen
guten Freund. Sollte es sonst noch an etwas ermangeln, so wird der Jung¬
geselle nicht weit sein."
Bei diesen letzten Worten mußte der Junggeselle mit dem Deckel seiner
Kanne klappern. Der sogenannte „Fremde" aber nahm zuerst die Kollations¬
kändel, goß den darin befindlichen Wein in eins zusammen und trank ihn
auf aller Gesellen Gesundheit in einem Zuge aus. Sodann ergriff er den
Kredenzer und trank dem Herbergsvater mit den Worten zu: „Vivat, es lebe
der Herr Vatter, wie auch eine ganze kunstliebende Gesellschaft, die Stifter
des Kredenzers nicht zu vergessen!
Sind sie noch am Leben,
Woll ihnen Gott alles Gute geben;
Sind sie aber tot,
So begrabe sie der liebe Gott!"
Während nun der Herbergsvater mit dem Kredenzer Bescheid that, mußten
sämtliche Gesellen antworten: „Vivat, es lebe der Reisende!"
Die beiden andern Trunke vollzogen sich unter gleichen Formalitüten.
Hervorzuheben ist »och, daß die drei Personen, denen der scheidende Geselle
zuzutrinken hatte, nnr kleine Schlucke nehmen durften; dieser selbst aber war,
wenn er sich auch die Zeit nach Belieben einteilen konnte, verpflichtet, den
Kredenzer in drei Absätzen zu leeren. Brachte er dies nicht zuwege, so mußte
er sich aufstellen und so lange stehen bleiben, bis die übrigen den Rest aus¬
getrunken hatten.
Inzwischen kreiste unter den Gesellen eine große, mit Bier angefüllte
Kanne, die die Meisterkanne genannt worden war, weil sie die Meister gestiftet
hatten. Jeder mußte daraus der Reihe uach trinken und dazu die Worte
sprechen: „Vivat, es lebe die ganze kunstliebende Meisterschaft! Die Stifter
dieser Kanne nicht zu vergesse»! sind sie noch am Leben" u. s. w. wie oben.
Die übrigen antworteten: „Vivat, sollen leben!" Neben der Meisterkanne ging
noch ein kleineres Geschirr um, das das Glückskündel hieß. Dieses mußte
jeder ganz ausleeren und vorher die Worte sprechen: „Prosit, wers Glück
trifft!" Die andern antworteten: „Prosit, daß es mich trifft!"
Wenn aber einer die vorgeschriebnen Worte nicht mitsprach oder etwas
davon ausließ oder ein verkehrtes Wort herausbrachte, so wurde ihm alsbald
die sogenannte Armen- oder Strafbüchse hingehalten, er mußte eiuen Kreuzer
hineinwerfen, worauf die andern zu sagen hatten: „Großen Dank von wegen
der Armen!" Und wer diese letzten Worte nicht mitsprach, hatte gleichfalls
eiuen Kreuzer zu erlegen. Solange die eigentliche Feier dauerte, war es ver¬
boten, aufzustehen und hinauszugehen, die Hand auf den Tisch zu legen, ein
Messer sehen zu lassen, den Namen eines Vogels oder sonst eines Tieres aus¬
zusprechen, zu fluchen oder andre ärgerliche Reden zu führen. Wer gegen eine
von diesen Regeln verstieß, mußte ebenfalls Strafe zahlen; ebenso wenn einer
Bier auf dem Tisch verschüttete, und es mehr war, als er mit der Hand
bedecken konnte. Außer dem scheidenden Gesellen durfte niemand während der
Feier essen, und trinken nur, wenn eine von den Kannen in der Reihe an
ihn gelangte.
Sobald der Kredenzer geleert war, erhob sich der „Fremde" und bedankte
sich bei der Gesellschaft für das empfangn« Geschenk; der Altgeselle aber ver¬
kündete, daß das Ausgeschenk ein Ende habe. Damit war die eigentliche Feier
beschlossen.
Niemand wird behaupten wollen, daß die beschriebne Prozedur etwas be¬
sonders Tiefsinniges gewesen sei, es war aber am Ende doch ein ganz hübscher
Brauch. Selbst die vielen kleinen Gebote und Verbote, die uns allerdings
etwas seltsam anmuten, hatten eine gewisse Bedeutung. Sie sollte» helfen,
die Feier in schicklichen Formen zu halten und vor allem Ausbrüche vou
Roheit unmöglich machen. Man darf auch nicht vergessen, daß die Teil¬
nehmer nieist junge Leute waren, denen die Fähigkeit, sich über Kindereien zu
freuen, uoch uicht verloren gegangen war. Noch hentigestags treibt ja sogar
unsre akademische Jugend mit Eifer und Behagen gar manches, was dem
nüchternen Beobachter auch nicht viel gescheiter aussieht. Man kann sich leicht
das geschäftige Ergötzen vorstellen, womit die ehrbaren Mitglieder einer kunst¬
liebenden Gesellschaft auf einander aufpaßten und Verstöße gegen jene Regeln
zur Strafe brachte».
Andrerseits war freilich gerade hiermit auch vielfach Anlaß zu ärger¬
lichem Gezänk gegeben, und noch bedenklicher war der Umstand, daß, wie der
Gesellenvater am Schlüsse seiner ersten Ansprache bemerkte, der Junggeselle,
d. i. der, dem die Sorge für Herbeischaffung der Getränke oblag, nicht weit
war. Die richtige Zecherei scheint stets erst, nachdem die eigentliche Feier
vorüber war, begonnen zu haben. Die kunstliebende Gesellschaft setzte einen
besondern Stolz darein, daß der abziehende Kollege an fremden Orten rühmen
konnte, wie stattlich er bei seinem Scheiden von Augsburg traktirt worden sei.
Je größer der Rausch, um so größer die Ehre. Und wenn dann am Schlüsse
des Gelages die bekannte Viertelstunde Rabelais kam und Abrechnung gehalten
wurde, so reichte das Geld, das beim Beginne zusammengeschossen worden
war, niemals aus. Es mußte unter erklärlicher Erregung der Gemüter von
neuem gesammelt werden, und da fehlte es denn selten an gegenseitigen Vor¬
würfen und Beleidigungen; mitunter kam es sogar zu Schlägereien, und es
wurde dann auch wohl manchmal, um den Streit zu schlichten, der Fehlbetrag
der Innungslade entnommen. Es geschah, daß auf diese Weise vierzig und
mehr Gulden, die zur Unterstützung notleidender Gesellen aufgebracht worden
waren, auf einem Sitze verpraßt wurden.
Dies alles war um ohne Zweifel höchst tadelnswert und verdiente
Besserung. Gleichwohl hätten die städtischen Behörden aus eignem Antrieb
schwerlich Anlaß genommen, sich mit der Sache näher zu befassen; aber unter
den Buchbindergeselleu selbst gab es einige fortschrittlich gesinnte Geister, die
jenes Zeremoniell für albern und das viele Trinken für lasterhaft und schädlich
erklärten. Als ihnen daher das Neichsgesetz von 1731 bekannt gemacht wurde,
behaupteten sie, es passe auf den vorliegende» Fall, stießen hiermit jedoch in
ihrer Innung selbst, sogar bei den Meistern auf entschiednen Widerspruch.
Darauf wandten sie sich an das Handwerksgericht, einen Ausschuß vou mehrern
Ratsherren, der die Beschwerden der Handwerker zu hören und in erster In¬
stanz darüber zu entscheiden hatte.
Daß in dem Gesetz Gebräuche wie das Ausgescheuk der Buchbinder ge¬
troste» wurden, ist keine Frage, heißt es doch ausdrücklich darin: „Ingleichen
so halten sie, nämlich die Handwerker, auf ihre Haudwerksgrüße, läppische
Redensarten und dergleichen ungereimte Dinge so scharpf, daß derjenige, welcher
in Ablegung oder Erzählung dererselbigen nur ein Wort oder Jota fehlet,
sich alsobald einer gewissen Geldstrafe unterziehen muß." Das Handwerks-
gericht entschied denn auch ohne langes Besinnen am 16. April 1732, daß
das Ausgeschenk als ein sinnloser und schädlicher Brauch abzuschaffen sei.
Darob gewaltige Aufregung in der ganzen Innung. Es fanden Protest-
Versammlungen statt, wobei es sehr lebhaft herging. Die Fortschrittler wurden
überschrien und Meuterer und Rebellen titulirt und suchten um Schutz und
Hilfe bei dem Haudwerksgericht, unter dessen Vermittlung längere mündliche
und schriftliche Verhandlungen zwischen beiden Teilen geführt wurden. Dabei
zeigte sich jedoch schnell, daß die Aufgeklärten in hoffnungsloser Minderheit
waren. Eine Eingabe vom 6. Mai 1732, worin sie das Zeremoniell des
Ausgcschenks vom Anfang bis zum Ende umständlich beschreiben, ist nur von
vier Gesellen unterzeichnet, je einem aus Pommern, aus Kopenhagen, aus
Altdorf und aus Augsburg selbst. Die Replik ihrer konservativen Wider¬
sacher dagegen, die am 23. Juni einlief, zeigt die Namen von fünfundzwanzig,
d. i. wahrscheinlich von allen Meistern, mit Ausnahme der Witwen, und von
zweinndzwanzig Gesellen. An erster Stelle unterschrieben ist als einer der
geschwornen Meister oder Borgeher der Innung Johann Georg Mozart, der
Großvater des großen Tondichters.
Die Minderheit behauptete, das Ausgeschenk mit seiner lächerlichen
Prozedur führe zu nichts als viele» Räuschen, verdorbnen Montagen, ärger¬
lichen Streitereien und unnützer Geldverschwendung. Ihre Gegner umgekehrt
schilderten die Beschwerdeführer als unruhige, neueruugssüchtige Köpfe, die
nur Verwirrung stiften wollten. Wenn das Ansgeschenk abgeschafft werde,
so stehe zu befürchten, daß die Gesellen von Augsburg wegzogen und das
Augsburger Buchbindergewerbe überall im Reiche ins Geschrei brächten;
übrigens habe die Innung nun einmal das schöne Trinkgeschirr, was könne
mau sonst damit anfangen? Dies sollte offenbar ein Trumpf sein; die tugend¬
haften Aufklärer wußten aber auch dafür sofort einen Rat: mau möge das
Geschirr verkaufen und von dem Erlös ein Bett für reisende Bnchbindergesellen
ins Pilgerhaus stiften.
Zu solcher Höhe der Aufklärung vermochten sich die Herren vom Gericht
doch nicht aufzuschwingen; und es war noch ein weiterer Umstand, der sie
stutzig machen mußte. Die Meister hatten keinerlei Vorteil oder Genuß von
jener Abschiedsfeier, an der sie nicht einmal persönlich teilnahmen. Wenn sie
dennoch lebhaft für die Beibehaltung des Brauches eintraten, so konnte das
keinen andern Grund haben, als daß andernfalls in der That böse Schwierig¬
keiten Vonseiten der Gesellen, etwa Aufstände oder gar Wegzug, zu erwarten
waren. Dies hätte aber nicht nur die Meister in ihrem Erwerbe empfindlich
beeinträchtigt und auch sonst wirtschaftliche Störungen in der Stadt verursacht,
sondern es wären auch dem löbliche« Handwerksgerichte, ja dem hohen Rate
selbst zweifelsohne daraus vielerlei Schreibereien und andre Verdrießlichkeiten
erwachsen. Es war also behutsames Vorgehen geboten.
Am 30. Juni wurde der vorsichtige Spruch gefällt, die Sache müsse
noch gründlicher untersucht werden, bis dies aber geschehen, so solle alles
gehalten werden, wie es bisher gehalten worden; und als nun die streitenden
Parteien auf eine weitere Entscheidung drängten, beschloß das Gericht am
3. September, die Entscheidung der Weisheit des Rates selber zu überlassen.
Der Rat aber beschloß am 20. desselben Monats, die Sache solle beratschlagt
werden. Sie wurde auch beratschlagt, zu einem Abschlüsse aber sind die
Beratschlagungen niemals gelangt.
Unterdessen hatte einer von den vier Aufgeklärten schon im Sommer
Augsburg verlassen, die drei übrigen sind ihm vielleicht bald gefolgt, oder sie
beruhigten sich allmählich. Mit der Feier des Ausgeschenkes aber blieb es
beim Alten.
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GMM^eher die gerichtliche Verurteilung eiues sogenannten „Naturarztes"
berichteten die Berliner Blätter Ende Juli d. I. folgendes:
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^MDW^In Berlin ist kürzlich ein Naturarzt namens K. wegen fahr¬
lässiger Behandlung eines Kranken verurteilt worden. In der
Urteilsbegründung führte das Landgericht aus: „Ob die soge¬
nannte Naturheilmethode als ein zweckentsprechendes und auf wissenschaftlicher
Grundlage beruhendes Verfahre» anzusehen ist, kauu vollständig außer Betracht
bleiben. Der Antrag des K,, darüber das Obermedizinalkollegium zu vernehme!,,
war daher abzulehnen, da jene Naturheilmethode, von einem wissenschaftlich
gebildeten und rito geprüften Arzte ausgeführt, sehr wohl nach wissenschaft¬
lichen Prinzipien auf erprobter Grundlage gehandhabt werden kann. Nicht
darin ist ein Versehen des K. zu finden, daß er sich jener sogenannten Natnr-
heilmethode zugewandt, sondern vielmehr darin, daß er überhaupt praktische
Heilkunde ausgeübt und sich insbesondre hier zur Behandlung des I. ver¬
standen hat. Wenn auch K., seinem ursprünglichen Stande nach Lehrer, seit
fünfundzwanzig Jahren, wie er angiebt, in die medizinische Wissenschaft ein¬
zudringen versucht hat, so kauu dies bei dem heutigen verwickelten Stande
dieser Wissenschaft und in Anbetracht dessen, daß K. nicht die vorschrifts¬
mäßigen Bahnen des medizinischen Fachstudiums durchlaufen hat, nicht als
eine hinreichende Grundlage angesehen werden, dem praktischen Heilbernfe nach¬
zugehen. Er hätte die Abgabe einer Diagnose und die Behandlung des I.
ablehnen müssen und nicht intensiv wirkende, den Organismus heftig angreifende
Mittel verschreiben dürfen. Ohne Anstrengung von Aufmerksamkeit mußte K.
als begabter Mensch wissen, daß er sich nicht die geeignete wissenschaftliche
Grundlage zur Ausübung des Heilberufes erworben hatte, und daß seine
Mittel für I. die verderblichsten Folgen haben konnten. Wenn er sich trotzdem
in dieser Weise zur Behandlung des I. verstanden hat, so fällt ihm ein grobes
Versehen zu Last."
Eine Berufung des Verurteilten an das Kammergericht wurde verworfen.
Auch das Kammergericht führt in seiner Entscheidung aus: „Es ist als kein Ver¬
sehen zu erachten, wenn ein Laie sich der Ausübung der Heilkunde widmet, auch
kann dahingestellt bleiben, ob die Grundsätze der Natnrheilkunde richtig oder
unrichtig seien; jedenfalls hat aber auch der Naturarzt wie jeder andre Arzt die
Verpflichtung, seine Patienten sorgfältig zu behandeln und dann, wenn er sieht,
daß seine Heilmethode nicht anschlägt, rechtzeitig davon abzugehen. So durfte
K. namentlich nach dem Gutachten der Sachverstandigen das kranke Bein nicht
unter Anwendung von Hitze behandeln und mußte, als er den bösen Erfolg
davon sah, rechtzeitig von einer weitern derartigen Behandlung absehen. Daß
er dies nicht gethan hat, begründet den Thatbestand des groben Verfahrens."
Andrerseits ist auf der Jahreskonferenz der freien Vereinigung der säch¬
sischen Ortskrankenkassen, die am 24. und 25. Mai dieses Jahres in Chemnitz
getagt hat, u. a. die Zulassung von Naturheilkundigen zur Behandlung von
Kranken der Ortskraukeukassen als wünschenswert bezeichnet worden.
Gegenüber den in jenen richterlichen Entscheidungen enthaltenen Sätzen:
„Es könne im gegebnen Falle außer Betracht bleiben, ob die sogenannte
Naturheilmethode als ein zweckentsprechendes und auf wissenschaftlicher Grund¬
lage beruhendes Verfahren anzusehen sei" und „ob die Grundsätze der Natur¬
heilmethode richtig oder unrichtig seien," andrerseits gegenüber dem Beschluß der
Konferenz der Ortskrankenkassen, Naturheilkundige zur Mitgliederbehandluug
zuzulassen, erscheint es rütlich, einmal allgemeinverständlich festzustellen, was
denn die sogenannte Naturheilkuude und Naturheilmethode eigentlich ist, und
warum ein Teil des Publikums von einer besondern Naturheilkunde mehr
erwartet als von der gesamten Heilkunde.
Unter Naturheilkunde wird im allgemeinen das Wasserheilverfahren ver¬
standen, und zwar im besondern dann, wenn es nicht bloß bei bestimmten
Krankheitsfällen und Krankheitserscheinungen, sondern als ausschließliches Heil¬
verfahren bei allen möglichen Erkrankungen angewandt wird. Die Jünger
dieser Naturheilkunde, die sich „Naturärzte" nennen, sind fast ausschließlich
Laien, meist Leute, die ihren bürgerlichen Beruf verfehlt haben und nun gleich¬
wohl sich leichtfertig anmaßen, in dem schweren und verantwortungsvollen
Beruf der Heilkunst ohne Lehrzeit und Prüfung gleich als Meister aufzutreten.
Um ihre Berechtigung zum Heilkünstler darzuthun, legen sie sich einfach selbst
den Titel „Naturärzte" oder „Naturheilknndige" bei und schimpfen wacker auf
die „Mediziuärzte." Leider haben es auch Ärzte nicht verschmäht, sich dieser
Schar anzureihen, sich „Naturärzte" oder „Phhsiater" zu nennen und Lehr^
bücher der „Naturheilkunde" zu schreiben.
Unter einem „Naturarzte" muß man wörtlich einen Heilkünstler verstehen,
der die Krankheit durch die Regelung einer natürlichen Lebensweise zu ver-
hüten sucht, und der den Krankheitsverlauf durch Unterstützung der Natur¬
kräfte des menschlichen Körpers, sei es durch Stärkungs- oder Reizungs-,
Dämpfungs- oder Ableitungsmittel fördert und regelt. Danach ist jeder ver¬
nünftige Arzt ein Naturarzt. Er nennt sich aber nicht so, weil das selbst-
verständlich ist und das Gegenteil Unsinn wäre. Jeder Pfuscher aber greift
nach der Benennung Naturarzt, wenn er nur seine oft sehr unnatürlichen Heil¬
mittel nicht aus der Apotheke bezieht. Insbesondre beansprucht jeder Laie,
der Wasserkuren macht und nichts weiter, als wahrer Naturarzt anerkannt zu
werdeu. Das Heilverfahren also, das sich als wahrhaft und einzig natur¬
gemäß bezeichnet, ist thatsächlich ein laienhaftes, unwissenschaftliches. Das
sogenannte Naturhcilverfcchren unterscheidet sich von der wissenschaftlichen Heil-
kunst dadurch, daß der „Naturarzt" ohne Krankheitserkenntnis ans Werk geht.
Eine Diagnose ist für ihn ganz entbehrlich, da sie seine Therapie, die nur in
einem einzigen Mittel besteht, doch nicht verändert.
Die Naturheilknnde behauptet, daß Luft, Licht, Wasser, allenfalls noch
Diät und Bewegung, kurz die Naturkräfte und Lebensweisen, die zur
Erhaltung und Befestigung der Gesundheit gehören, auch allein genügten,
.Krankheit jeglicher Art zu heilen. Sie verbannt alle „Medikamente," sie glaubt
nur an Heilkräfte, nicht an Heilsäfte, die „Mediziner" sind ihr eine „Ver¬
brecherkolonie der Pharmakopöe," die mit ihrem „Giftheilshstem" lediglich eine
„UnHeilmethode" befolgt.
Der echte Jünger des Naturheilverfahrens ist nun ausschließlicher Wasser¬
schwärmer, ein Fanatiker „vom reinsten Wasser": andre, weniger waschechte,
ziehen schon Massage, Gymnastik, Atmidiatrik, noch andre auch die Diätetik
(allerdings mit Vorliebe nur trockene oder die vegetarianische Diät) in ihr
Gebiet und vergessen ganz , daß die Ernährung und Diät uicht auf rein
Physikalischen, sondern auf chemikalischem Wege zu stände kommt, während sie
doch die ganze Chemie aus der Heilmittellehre verstoßen haben. Die Natur¬
heilkunde wendet (wie Kühner ausführt) nur physikalische, als dem Organismus
gleichartige, nicht chemische, als ihm fremdartige und der Zelle nicht ange¬
messene Reize an; sie stellt somit eine den physiologischen Gesetzen des mensch¬
lichen Körpers homogene, die Medizinalheilkunde eine diesen Gesetzen heterogene
Verfahrungsart dar. Mit andern Worten, mit klaren deutscheu Worten gesagt,
heißt das: die Naturwissenschaft des Naturarztes geht uicht über die Physik
hinaus; Physik allein ist ihm Natur, Chemie Unnatur gegenüber dem Menschen.
Die chemischen Reize gelten ihm als uicht naturgemäß, eine pathologische
und therapeutische Chemie, die auch mit den physiologischen Gesetzen des
menschlichen Körpers zu thun hat, besteht für ihn nicht; die Lehren der Bio¬
chemie über die Verwendbarkeit der Stoffwechselprodukte der Bakterien zu
therapeutischen und Schutzimpfungen erscheinen ihm als unheilvoller Frevel.
Neben der äußerlichen Kur mit Wasser eine innere mit Arzneien anzuwenden,
erklärt der Natnrarzt für eine Sünde wider die alleinseligmachende Wasser¬
heilkraft. Nur das arzneilose Heilverfahren ist für ihn natürlich und
zugleich das Universalmittel. Der echte Naturarzt verwirft sogar den Ge¬
brauch des Chloroforms bei einer chirurgischen Operation, weil es ein Gift
ist, und überläßt lieber den Kranken seinem Schmerz, ja er verwirft überhaupt
alle Chirurgie, weil sie nicht mehr Natur, sondern Kunst ist. Er vergißt über
dem ^lütui'Ä Saint, das er zum Wahlspruch gewählt hat, ganz den zweiten
Teil des Satzes: nivcliend! our.it. Die neueste naturürztliche Schule in Wörris-
hofeu, die sich in mancher Beziehung zur alten Schule in Opposition setzt,
denkt freilich anders über die Arzneimittel, von denen sie eine ganze Haus¬
apotheke vorrätig hält; sie kennt den Spruch Sirachs: „Der Herr läßt die
Arznei aus der Erde wachsen, und ein Vernünftiger verachtet sie nicht" und
sagt darum: Lore-äieitö univei'Lii, g'vrniirmntm in törrli Doniini! Aber aller-
dings andre Mittelchen, als in seiner Apotheke stehen, darf der Kurgast des
hochwürdigen Sebastian nicht gebrauchen, und wenn eine Dame, die an Mi¬
gräne leidet, außer dein Wasserklystier etwa noch den Migränestift gebraucht,
so heißt das „mit einer Rakete einen Hasen totschießen."
Nach alledem ist ersichtlich, daß die sogenannte Naturheilkunde gar keine
besondre Heilmethode ist. Das Wort bezeichnet nur das Verhalten der Heil¬
künstler, die sich eine bestimmte einseitige Beschränkung in der Auswahl der
Heilmittel zur Richtschnur ihres ganzen Heilverfahrens machen. Die „Grund¬
sätze" der Naturheilkunde sind also nur negative und beruhen lediglich in der
Bevorzugung einzelner und der Ausschließung aller andern Heilmittel; die
„Praxis" und Methode der Naturheilkunde ist nichts eigentümliches, besondres,
neues, sondern nur ein Kapitel aus der allgemeinen Medizin, das auch von
Ärzten gepflegt, daneben aber häufig von Nichtürzteu in unwissenschaftlicher
Weise als Spezialität ausgeübt, als Uuiversalheilmethode angepriesen und als
allem natürliches Verfahren hingestellt wird, mit dem Anspruch, daß alle
andern Kapitel der gesamten Medizin und alle übrigen Heilverfahren un¬
natürlich und verwerflich seien. Die Firma „Naturheilkunde" enthält also eine
gänzlich ungerechtfertigte Anmaßung gegenüber der gesamten Heilkunst und eine
irreführende Reklame gegenüber dem leidenden Publikum. Der Naturarzt
nennt sich einen Physiater, indem er aus seiner Physikojatrie eine Physiatrie,
aus der Physik eine Physis, aus der Mechanik die Natur überhaupt macht.
Wie kommt es nun, daß das Publikum und die Mitglieder der Orts¬
krankenkassen ihr Vertrauen zum Teil den sogenannten Naturärzten, die keine
apprvbirten Ärzte sind, schenkt und sie mannigfach den wirklichen Ärzten gegen¬
über bevorzugt?
Zunächst erklärt sich das daraus, daß sich die Ärzte mit den physikalischen
Heilmethoden, insonderheit mit der Wasserheilkunde, im ganzen wenig abgeben
oder sie nur in einzelnen Anstalten, außerhalb der großen Städte gelegenen
Wasserheilanstalten, während einer kurzen Sommersaison betreiben. Dies rührt
wieder daher, daß die ärztlichen Schulen der Universitäten fast ohne Aus¬
nahme keine Lehrstütten für die methodische Anwendung und den Unterricht
in diesem Zweige der Krankenbehandlung haben. Diese stiefmütterliche Be-
Handlung auf den Universitäten teilt die Hydrotherapie mit andern Fächern
der physikalischen Heilmethoden. Auch die Heilgymnastik, die Orthopädie und
die Massage finden selten in der ihnen gebührenden Ausdehnung Berücksichtigung.
Die Universität Leipzig war bis vor kurzem die einzige in Deutschland, die
sich im Besitz einer orthopädischen Poliklinik befand, und diese verdankte sie
den Bemühungen des praktischen Arztes Dr. Schildbach, der mit Hilfe des
Ministeriums des Kultus und des Unterrichts einen Lehrstuhl für Orthopädie
einrichtete und 1876 die Anstalt eröffnete. Erst 18L0 ist auch Berlin mit
Errichtung einer orthopädischen Poliklinik nnchgesolgt. Der Elektrotherapie
ist es gelungen, ihren Anschluß an die Kliniken für Nervenkrankheiten zu
lockern und sich als selbständigen Lehrgegenstand einzuführen; die Pneumato-
therapie und die diätetischen Kuren haben sich den klinischen Studien und
Kurmethoden eingefügt und werden an den Universitäten meist in genügender
Weise ausgeübt und demonstrirt, die Hydrotherapie dagegen wird sast an allen
Kliniken nur sporadisch, nicht methodisch betrieben, nur in Wien besteht ein Lehr-
stuhl und eine Poliklinik sür diese Heilmethode. Überall sonst bleibt den
Studenten der Medizin dieser wichtige Heilbehelf in den chronischen Krank¬
heiten — und diese bilden das Hauptfeld der Thätigkeit des praktischen Arztes —
mehr oder weniger unbekannt. Die Wirkung der Hydrotherapie wird z. B.
selbst bei der Lungenschwindsucht in den Kliniken weder theoretisch erklärt,
noch wird dies Verfahren praktisch angewendet und eingeübt. Bei den akuten
Fiebern, insonderheit beim Abdominaltyphus, wird es allerdings seit Brand in
Gestalt von kalten Bädern mehr oder weniger ausgedehnt angewendet, aber
man rechnet dabei in einseitiger Weise nur mit der Abkühlung als dem einzigen
springenden Punkt und dem einzigen Ergebnis und vernachlässigt die dnrch das
Kaltwasserverfahren erzeugten Veränderungen der Innervation, der Zirkulation,
des Gewebs- und Gefäßtonus, der thermischen oder mechanischen Fluxion zu
einem Körperteil, der Wasserretention des Körpers u. f. w.
Schon seit den Versuchen und Forschungen von Joh. Gottfr. Hahn in
Vreslau (1734), von James Currie in Liverpool (1787), von E. Brand in
Stettin (1361) über die Anwendung und Wirksamkeit der Kaltwasserbehand¬
lung in fieberhaften Krankheiten und feit den wissenschaftlichen Arbeiten
von Gully (1852), Petri (1853), Pleniger (1863), Runge (1869),
Winternitz (1874) u. v. a. über die Wasserbehandlung bei chronischen Er¬
krankungen bildet die Hydrotherapie einen wichtigen Bestandteil der ärztlichen
Kunst. Ihre Anzeigen und Gegenanzeigeu sind wissenschaftlich erforscht, die
Ausführung ihrer Prozeduren und die Dosirnng ihrer Mittel ist genau fest¬
gestellt. Man darf behaupten, daß die Hydrotherapie eines der am besten
ausgearbeiteten Kapitel der Pharmakodynamik sei. Sie hat ihre Lehrlingszeit
und ihre Sturm- und Drangperiode hinter sich und hat sich in der langen
Probezeit durch Abstoßung der Schlacken soweit geläutert, daß sie in ihren
Grundlagen als allgemeingültig anerkannt ist, was man bei der überstürzten
Vielgeschüftigkeit und Veränderlichkeit der modernen Therapie keineswegs von
allen neuen therapeutischen Heilverfahren sagen kann.
Die Ausübung dieses Zweiges der ärztlichen Kunst ist nun keineswegs
so einfach und selbstverständlich, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag.
Die Technik und Anwendung der Hydrotherapie bedarf eines besondern Stu¬
diums und einer besondern Übung ebenso gut, wie andre technische Speziali¬
täten der Heilkunst und sollte deshalb unbedingt auf der Universität einen
Lehrgegenstand bilden. Die Behandlung mit innern chemischen Mitteln ist für
deu Arzt sogar viel einfacher und leichter, als die mit physikalischen Mitteln.
Jene werden in der Apotheke zubereitet und vom Kranken einfach nach Vor¬
schrift eingenommen; bei diesen genügt das hydrotherapeutische Rezept nicht,
hier muß der Arzt bei der Anwendung der verordneten Prozeduren oft selbst
mit Hand anlegen, jedenfalls dabei eine fortlaufende Beaufsichtigung und
Überwachung ausüben. Denn das Wasserheilverfahren ist ein eingreifendes
Verfahren und hat für manche Zustünde seine Gefahren, wie andre Methoden
auch. Es giebt keine guten und schlechten Verfahren an sich, es düngt alles
von der richtigen und passenden Anwendung ab. Mittel, die nie schaden
können, nützen meist anch nichts. Auch die Mittel ans der Wasserapvtheke
gehören zum großen Teil zu den heroischen und üben je mich der Stärke,
Dauer und Art ihrer Ausführung und nach der Natur des Kranken und seiner
Krankheit eine sehr verschiedne Wirkung aus. Die Leistungen dieser BeHand¬
lungsweise Verhalten sich in der Hand des Sachverständigen ganz anders, als
in der des Laien. Es ist ganz verkehrt, wenn der Naturarzt predigt, das
Wasser sei unter allen Umstünden ein ganz unschuldiges Mittel und mir
chemische Mittel könnten vergiften; verderben und krankmachen kann das Wasser
nicht minder. Die Gefahren laienhafter naturärztlicher Behandlung sind that¬
sächlich groß. Die Beispiele, daß Unheil angerichtet worden ist, indem Wasser¬
kuren einseitig und fanatisch übertrieben angewandt werden, sind nicht seltener,
als bei den Entfettungskuren und andern Diätkuren. Auch der Bauer Vincenz
Prießnitz in Grüfenberg (1825 -1845) hat durch barbarische Kaltwasserstürze im
Gießbach, durch maßlose Schwitzkuren und unsinniges Wassertrinken (zehn bis
vierzig Gläser täglich) manchen Lungenkranken, nervenschwachen und Wasser¬
süchtigen an den Rand des Grabes gebracht und sich selbst ein tötliches Nieren¬
leiden zugezogen. Der Pfarrer Kneipp in Wörrishofen hat in der Erkenntnis
dieser Gefahren neuerdings wohlweislich ärztliche Beihilfe für seine Anwendungen
herangezogen. Wenn der Laie, der die äußre Technik der Prozeduren der
Wasserkur gelernt hat, diese selbständig anwendet, ohne sich die richtige Er¬
kenntnis der Krankheiten angeeignet zu haben und ohne die Tragweite der
angewandten Eingriffe genau ermessen zu können, so handelt er gewissenlos
und fahrlässig und setzt die Gesundheit der Hilfesuchenden unverantwortlich
aufs Spiel. Nur der geprüfte Arzt ist berufen und berechtigt, das Wasser-
heilverfahren allseitig zu verwerten, denu nur er vermag sachverständig zu
beurteilen, ob die für viele Krankheiten vorzüglich wirksamen und in manchen
Fällen unersetzlichen Mittel der Wasserkur im einzelnen gegebnen Falle sich
überhaupt, und in welcher Form sie sich eignen.
Deshalb ist es auf der andern Seite aber auch eine Pflicht der Ärzte,
die Ausübung des Wasserheilverfahrens mehr in die Hand zu nehmen und
in die allgemeine Praxis einzuführen. Es genügt nicht, daß es mehrere gut
geleitete Wasserheilanstalten außerhalb der Städte, im Gebirge giebt, es muß
den Kranken auch an deren Wohnort Gelegenheit gegeben sein, jederzeit im
ganzen Jahr die gesuchte Hilfe in sachverständiger Weise zu erlangen. Wie
nicht jeder Kranke, dem ein Mineralbrunnen heilsam ist, mehrere Wochen in
den fernen Badeort gehen kann und deshalb die Trink- und Badekur zu Hans
und auch mit Nutzen gebraucht, so muß es auch beim Wasserheilverfahren der
Fall sein. Es giebt zahlreiche Krankheitsfülle, die einer Anstaltsbehandlung
— die ihrerseits für andre Fälle unentbehrlich bleibt — nicht bedürfen,
sondern von einer im Wohnort der Kranken selbst vorgenommenen polikliuischen
Behandlung großen Nutzen ziehen können. Die Hydrotherapie sollte in die
allgemeine Praxis.wenigstens ebenso weit übergehen wie die Balneotherapie,
von der jeder praktische Arzt die Indikationen und Verordnungen kennen muß,
wenn er auch dem Badearzte die Leitung der Anwendungen im einzelnen über¬
läßt und überlassen muß.
Weil die Mehrzahl der Ärzte bisher gegen diese Einführung der Wasser¬
kur in die allgemeine Praxis eine große Gleichgiltigkeit gezeigt hat, ist es
ganz natürlich geschehen, daß, von Prießnitz an, zahlreiche Nichtärzte die Aus¬
übung dieser Heilmethode, so gut es ebeu ging, in die Hand genommen und
zur Ausbildung ihrer Anwendungsformen mitgewirkt haben. Unter diesen
Nichtärzten sind einzelne begabte Leute mit offnen Sinnen und guter Beobach¬
tungsgabe, die meist durch deu Verlauf von Leiden an ihrem eignen Körper
zu Erfnhrnngen über die Wirkungen der einfachen Wafferbehandlung gekommen
find, zu begeisterte«: Propheten derselben geworden und glauben aufrichtig,
damit einen Humanitären Beruf zu erfüllen. Anders ist aber die Schar der
Jünger und Nachbeter dieser vereinzelten befähigten Empiristen beschaffen, die
mit ihrem schwindelhafter Treiben die ganze Wasserkur bei deu Ärzten eine
lange Zeit in Verruf gebracht hat. Aber doch mit Unrecht. Von den Arz¬
neien sind viele aus dem Kreis der Volksmittel in den Kodex der Apotheken
gekommen, also auch von Laien, Schäfern und Kräuterfrauen znerst angewandt
worden, ehe sie in der Wissenschaft hoffähig wurden, und viele Arzneimittel
werden täglich noch als Hausmittel und mit Recht gebraucht. Es thut einem
Heilmittel und Heilverfahren keinen Eintrag, daß es zuerst von Laien gefunden
oder ungewandt worden ist, ebensowenig wie es den Wert der medizinischen
Schule beeinträchtigt. Denn diese ist es doch immer gewesen, die das neue
Verfahren zu einer wissenschaftlichen Methode ausgebildet und die Anzeigen
und Gegenanzeigen des neuen Mittels und damit seinen Wert festgestellt hat.
Wie wichtig es ist, daß die Ärzte das Wasserheilverfahren nicht allein,
sondern die physikalischen Heilmethoden überhaupt in der allgemeinen Praxis
und zwar in die Praxis der allgemeinen Krankenhäuser nicht weniger als in
die Hauspraxis einführen, das zeigt der Umstand, daß die Berufsgenossen-
schaften in vielen Orten mit dem Plane umgehen, besondre Heilanstalten zu
errichten, weil für diese die Behandlung in den bestehenden öffentlichen
Krankenanstalten nicht genüge oder ungeeignet sei. Auf dem in diesem Jahre
in München abgehaltnen Genosfeuschaftstage wurde die Zweckmäßigkeit und
Notwendigkeit solcher Heilanstalten für Unfallverletzte allseitig anerkannt, und
von verschiednen Seiten auf die nahe Verwirklichung des Planes in Rheinland
und Westfalen, in Stettin und Brandenburg und anderwärts hingewiesen.
In dem Bericht heißt es: „Die Gründe, die zur Errichtung solch besondrer
Heilanstalten Veranlassung geben, sind die Folgen, die das Unfallversicherungs¬
gesetz gezeitigt hat, und die in ihrem gegenwärtigen Zustande für die Ver¬
sicherten, sowie für die Berufsgenvffenschnften und das ärztliche Publikum in
gleicher Weise beschwerlich und nachteilig sind. Von allen beteiligten Seiten
wird offen zugestanden, daß die entstandnen Verhältnisse auf die Dauer un¬
haltbar sind und einer Umgestaltung dringend bedürfen. Es ist bekannt, daß
die Berufsgenossenschaften erst nach Ablauf der dreizehnten Woche nach der
Verletzung die Verpflichtung zur Behandlung der Unfallverletzten an Stelle
der Krankenkassen übernehmen. Diese zwiefache Art der sozialen Fürsorge für
den erkrankten Arbeiter hat zu mancherlei Mißständen geführt, im besondern
noch die gedachte Art der Zeitbemessung. Von den schweren Verletzungen
führen manche erst nach der doppelten oder dreifachen Zeit von dreizehn Wochen
zur Wiedererlangung der vollständigen Arbeitsfähigkeit, manche aber überhaupt
nie, sondern die Verletzten erleiden dauernd eine größere oder geringere Einbuße
an Arbeitsfähigkeit. Es ist nun für den Arzt eine der schwierigsten Aufgaben,
den Grad der Verminderung an Arbeitsfähigkeit festzustellen, und dadurch ist
unter den Unfallverletzten eine große Anzahl von Simulanten entstanden, die
eine schwere und teure Last für die Berufsgenossenschaft sind. Andrerseits ist
es unbestreitbar, daß die Zeit der Wiederherstellung zur Arbeitsfähigkeit sich
sehr verzögert durch den Mangel einer angemessenen Behandlung, ja viele der
Verletzten werden gerade dieses Umstandes wegen gar nicht oder weniger
arbeitsfähig, als sich bei besserer Art der Behandlung erreichen ließe. Vor
allem fehlt nämlich den Verletzten die nötige Nachbehandlung, die nach der
Heilung der Wunden noch notwendig erscheint zur Wiedergewinnung der nor¬
malen physiologischen Funktion der verletzten Gliedmaßen, Körperteile und der¬
gleichen. Die für diesen Zweck dem Arzte zur Verfügung stehenden Hilfsmittel
sind die Massage, die Gymnastik, die Elektrizität, die Kaltwasserbehandlung.
Bäder u. a. in. Die Heilmittel für den Unfallverletzten in gehöriger Weise
auszunutzen sind aber sowohl die praktischen Ärzte wie die großen allgemeinen
Krankenhäuser und Kliniken ihrer ganzen Ausrüstung und Behandlungs-
weise nach nicht imstande. Mehr zu leisten vermögen schon die in neuerer
Zeit in vielen deutschen Städten errichteten medikv-mechanischen und chirurgisch-
orthopädischen Heilanstalten, die ausschließlich der Ausnutzung der genannten
Heilmittel dienen. Aber auch sie erweisen sich noch als unzulänglich u. s. w."
Es ist also klar, daß wenn sich die allgemeinen öffentlichen Krankenhäuser
der Städte auch ferner vor der methodischen Anwendung der physikalischen
Heilmethoden verschließen, sie bald keine allgemeinen Krankenhäuser mehr sein
werden, sondern daß die Berufsgenossenschaften und Ortskrankenkasfen eigne
Heilanstalten für ihre Kranken errichten werden, in denen für jene Heilmittel
in genügender Weise gesorgt ist.
Die Medizin unsrer Tage zersplittert sich zuviel in Spezial- und Lokal¬
kenntnisse und Spezial- und Lokaltherapien, wir haben eine spezielle Augen-,
Ohren-, Kehlkopf-, Magen-, Blascnkunde u. a. in. Die diätetischen und physi¬
kalischen Heilmethoden legen das Hauptgewicht auf die konstitutionelle Therapie,
sie greifen die örtlichen und Organkrankheiten nicht bloß und nicht vorzüglich
durch örtliche Mittel an, sondern nur unter Mitbehandlung des Gesamt¬
organismus.
Die moderne Therapie ist vorwiegend eine kausale und ätiologische ge¬
worden, sie geht den krankmachenden Mikroorganismen nach, sucht die Krankheits¬
keime auf ihren Wegen im Körper einzuholen und sie mit chemischen Mitteln
unschädlich zu machen, während die physikalischen Heilmethoden der inäivutiv
morbi mehr dnrch hygienisch wirkende Maßnahmen zu genügen und den Or¬
ganismus selbst in einen Zustand zu versetzen streben, der ihn befähigt, sich
mit seinen eignen Mitteln der eingedrungnen Schädlinge zu erwehren und sie
zu überwinden.
Aus dem übertriebnen Nihilismus der Medizin in der Mitte unsers Jahr¬
hunderts erwuchs die überwuchernde Medikasterei, die unberufne Arzneianwen¬
dung durch Laienärzte. Aus der modernen pharmazeutischen Polypraxie droht
jetzt wiederum ein cheiniatrischer Nihilismus der Naturärzte zu erwachsen.
Wir wollen hoffen, daß die medizinische Schule diese einseitige und übertriebne
Reaktion nicht zu einer Gegnerschaft heranwachsen läßt, sondern das, was in
ihr berechtigt und notwendig ist, beizeiten in ihre eignen Säfte und Kräfte
aufnimmt.
s war an einem Vormittage des Jahres 2091, als sich eine
größere Gesellschaft junger Gelehrten in der uralten Weinstube
von Lutter (vormals Lutter und Wegener) in Berlin zusammen¬
fand, um dort uach ebenfalls uralter deutscher Sitte dem Früh¬
schoppen zu huldigen und gleichzeitig ernste Fragen der Wissen¬
schaft in scharfer Wechselrede zu erörtern. Die meisten waren Ärzte, Natur¬
forscher, Techniker, ein kräftiges Geschlecht, wie es der mächtige Fortschritt
der Zeit erforderte, das den Sinn auf das Greifbare gerichtet hielt und ver¬
ächtlich auf alle idealistischen Vorurteile herabsah, mit denen sich die ver¬
gangnen Zeiten so vielfach geplagt hatten.
Ein Vertreter jener alten Vorurteile war freilich noch unter ihnen, der
Privatdozent der Philosophie I)r. Ernst Simmer, aber er hatte einen schweren
Stand. Galt doch seine Wissenschaft bei aufgeklärten Köpfen längst als über¬
lebt, als ein unnützer Wortkram oder ein veralteter Aberglaube, der vor den
mächtigern Gewalten der Phhsik, der Chemie und ganz besonders der Physio¬
logie das Feld hatte räumen müssen und nur noch in den Köpfen einiger
zurückgebliebnen oder überspannten Gesellen ein schattenhaftes Dnsein fristete.
Man hörte eigentlich mehr zum Scherz den Ausführungen des Doktors zu,
der, offenbar blind für alle Errungenschaften der modernen Forschung, eben
wieder das absurdeste Zeug zum beste» gab.
Redet, was ihr wollt — sagte er —, ihr werdet mich niemals zu euern
Anschauungen herüberziehen, mich niemals von der Nichtigkeit des Geistes
oder der Seele — wie ihr es nun nennen wollt — überzeugen. Ist nicht
vielmehr mein Geist das einzige, dessen Wirklichkeit mir unmittelbar bewußt
ist, während ich auf das Vorhandensein von allen andern Dingen nur schließe?
Und da sollte ich annehmen, dieses erste und unmittelbarste .wäre nichts,
gar nicht vorhanden, ein physikalischer Vorgang, ein Oxydationsprvzeß des
Gehirns und sonst nichts? Nein, ich glaube viel eher, daß die ganze Außen¬
welt samt Kraft und Stoff nichts sei als eine Vorstellung meines Geistes,
hinter der etwas Wirkliches am Ende gar nicht steckt. Wenigstens wird der
Beweis dafür, daß etwas dahinter stecke, wohl niemals geführt werden.
Und das sagt jemand im vollen Ernst am Ende des einundzwanzigsten
Jahrhunderts — rief Dr. Fritz Wirklich, erster Assistent an der chirurgischen
Klinik und einer der eifrigsten Vertreter der modernen Richtung —, im ein¬
undzwanzigsten Jahrhundert, wo der Gegenbeweis seiner Ansichten längst ge¬
führt ist, und zwar ein naturwissenschaftlicher Beweis xsr oxverimonwin, der
mehr Wert hat, als alle Künste einer überlebten Dialektik. Wie? ist es nicht
Professor Le Faiseur in Paris längst gelungen, künstliche Pflanzenzellen her¬
zustellen und einige niedere Organismen des Tierreichs — die doch sozusagen
auch Seele haben — auf chemischem Wege zu entwickeln? Hat nicht Gallinelli
in Rom künstliche Eier fabrizirt, aus denen nach dem Brüten die muntersten
Kücken auskrochen? Und ging nicht neulich noch durch alle Zeitungen die
Nachricht, daß Mr. Nodomont in Philadelphia künstliche Aale hergestellt habe,
die an Lebendigkeit — und selbstverständlich auch an gutem Geschmack und
Billigkeit — die natürlichen weit überträfen?
Ja ja — rief Ingenieur Krause, der Senior der Versammlung, lachend —,
wir leben in einer schnell fortschreitenden Zeit. Mit Kunstbutter fing es vor
zweihundert Jahren um, jetzt macht mau schon die Aale künstlich. Wie lauge
noch, und auch die Philosophen werden fabrikmäßig hergestellt und samt ihrer
unsterblichen Seele in den Handel gebracht werden, Kantianer a, 1 Mark,
Hegelianer ü, 75 Pfennige das Stück.
Wirklich nippte mit überlegnem Lächeln aus seinem Glase. Was du da
scherzhaft vorbringst, mein Lieber — sagte er —, ist vielleicht der Erfüllung
näher, als du denkst, ja eben darauf wollte ich hinaus. Unser berühmter
Experimentalphysiologe Geheimrat Dr. Faust stellt bekanntlich schon lange
künstliches Blut her, das das natürliche völlig ersetzt und bei Blutarmut
vielfach mit Erfolg verwendet wird. Ebenso hat er Nervensubstanz angefertigt,
die sich in der Praxis trefflich bewährt. Seit zehn Jahren ist er nun mit
dem Problem des künstlichen Menschen beschäftigt und hat wahrend dieser
Zeit sein Laboratorium vou niemand betreten lassen. Gestern aber sagte er
mir, seine Experimente wären dem Abschluß nahe, und er werde mit dem
Ergebnis demnächst vor die Öffentlichkeit treten. Der Beweis von der Nichtig¬
keit der Seele wird also in der That bald ooulos geführt werden, und
dann, mein lieber Simmer, wirst auch du dich wohl für überwunden erklären.
Ich halte das Experiment, von dem du sprichst, für völlig unausführbar
^ sagte Simmer —, aber selbst wenn es gelänge — wir Philosophen sind nun
einmal eigensinnig —, ich glaube nicht, daß ich meine eben ausgesprochene
Ansicht ändern würde.
Da bin ich doch in der That neugierig, wie du sie noch begründen wirst.
Sehr einfach; du kannst mir wohl vorführen, wie ein Mensch gemacht
wird, aber wie willst du meine Zweifel heben, ob das, was du mir vorführst,
auch Wirklichkeit sei? Kann es nicht auch nur eine Vorspiegelung meiner
eignen Phantasie sein? ein Traumbild, wie alles, was ich um mich sehe, ein
Traumbild, wie du es bist und alle ihr andern, ja wie diese ganze Welt
hervorgezaubert von dem träumenden „Ich," dem allein wahren und wirklichen?
Aber, lieber Freund, willst du denn nicht einsehen, daß das unmöglich
ist? Widerspricht deiner Anschauung nicht die Folgerichtigkeit, in der sich die
ganze Außenwelt darstellt? Nirgends findest du den Kausalnexus unterbrochen,
und wo er einmal dunkel scheint, hellt er sich gewiß bei näherm Zusehen auf.
Ist es denkbar, daß jemand so — ich möchte sagen — überlegt träumen sollte,
daß er sich in den Phantasiebildern, die er sich schafft, niemals vergriffe,
sodaß alle in eincmderpassen und der Zusammenhang an keiner Stelle gestört
würde, während doch der wirkliche Traum zweifellos lehrt, daß die nur auf
sich selbst angewiesene Phantasie das widerspruchvollste und zusammenhangs¬
loseste Zeug hervorbringt?
Und doch merken wir während des Traumes nichts davon, daß alle die
Dinge, die wir sehen, der folgerichtigen Verbindung entbehren, sie scheinen
uns eben so wohlgeordnet wie die sogenannte Wirklichkeit, und erst beim Er¬
wachen werden wir uns ihrer Widersprüche bewußt. Ist es nicht denkbar,
daß auch beim Erwachen aus diesem Leben manches, was uns jetzt sehr folge¬
richtig erscheint, sich als widerspruchsvoll und zusammenhanglos offenbaren
könnte, und wir uns, wie nach dem Traume, wunderten, wie wir nur so
etwas haben für möglich halten können. Nein, die „Folgerichtigkeit" dieser
Welt beweist nichts für ihre Wirklichkeit, sie kann ebenso gut eine Täuschung
sein wie alles andre.
Ihnen ist nicht zu helfen — rief Ingenieur Krause —, träumen Sie ruhig
fort, lieber Doktor, und bemerken Sie einstweilen, wie die Phantome ihre Zeche
bezahlen. Damit beschloß man die Sitzung.
Einige Tage darauf erhielt Siuner von seinem Freunde Wirklich fol¬
genden Brief:
Eben komme ich von Geheimrat Faust, der mich einlud, morgen früh elf Uhr
der Vollendung seines künstlichen Menschen beizuwohnen. Da mir Deine Bekehrung
am Herzen liegt und ich hoffe, daß der Anblick des Thatsächlichen denn doch mehr
wirken wird, als meine Worte, so habe ich den Geheimrat gebeten, Dich mitbringen
zu dürfen, und habe ihm von unserm letzten Streit erzählt. Er war sehr damit
einverstanden und freut sich darauf, Deine persönliche Bekanntschaft zu machen, da
er Dich aus Deinen Schriften schon zu kennen behauptet. Was Du da für einen
Leser hast! ich hätte das nie geglaubt. Bringen Sie Ihren Freund ja mit, sagte
er noch beim Abschied, ich hoffe, Sie werden beide etwas lernen. Das hoffe ich
auch und bin in der That außerordentlich gespannt.
Simmer erwiderte umgehend:
Wenn ich den Traum nach Belieben einrichten kann, Weshalb sollte ich mir
nicht etwas so interessantes träumen lassen, als es mir Deine Güte in Aussicht
stellt? Ich danke dir bestens und werde nicht verfehlen, mich pünktlich einzufinden.
Am nächsten Morgen zur festgesetzten Zeit stiegen die beiden Freunde die
Treppe in dem prächtigen Gebände hinauf, worin der Professor seine Wohnung
und sein Laboratorium eingerichtet halte. Der alte Herr empfing beide in
liebenswürdigster Weise und bat sie zunächst in seinem an das Laboratorium
anstoßenden Arbeitszimmer Platz zu nehmen, einem stattlichen Raum, worin
Simmer »eben den Büsten einiger neuern Gelehrten die Darwins und zu seiner
Verwunderung anch die Immanuel Kants bemerkte. Nach einigen einleitenden
Worten wandte sich das Gespräch bald auf die bevorstehende Demonstration. Ich
beabsichtige deu Herren zwei verschleime Arbeiten zu zeigen, sagte der Professor,
auf die ich in dem letzten Jahrzehnt meine ganze angestrengte Thätigkeit ver¬
wendet habe, und die beide heilte vollendet werden sollen. Die eine ist, wie
Ihnen bereits bekannt, der it0munouiu8, die andre behalte ich mir vor, zu
benennen. Sie, mein Verehrtester Herr Doktor, wandte er sich an den Philo¬
sophen, haben, wie ich aus Ihren Werken sehe, die Ausführbarkeit der erst¬
genannten Arbeit bestritten. Gestatten Sie mir, bevor ich die Möglichkeit
derselben praktisch zeige, Ihnen ganz kurz auseinanderzusetzen, von welchen
Anschauungen ich bei meinem Unternehmen ausgegangen bin.
Wie Ihnen bekannt ist, gelang es vor mehr als zweihundert Jahren dem
Engländer Darwin durch bahnbrechende Forschungen den Unterschied, den
man früher zwischen Mensch und Tier angenommen hatte, als nichtig nach¬
zuweisen, er zeigte, daß beide aus demselben Stamme entsprossen sind, und
daß der Mensch nur infolge günstigerer Umstünde einen Vorsprung in dem
Kampf ums Dasein erlangt hat und sich dadurch zu dem höher organisirten
Wesen hat ausbilden können, das er zweifellos ist. Und ebenso wie Mensch
und Tier, sind wiederum Tier und Pflanze nichts spezifisch verschiednes, anch
sie haben deu gleichen Ursprung und sind nur infolge zufälliger Umstände in
verschiedene Bahnen der Entwicklung gedrängt worden, in denen sie sich dann
nach den Gesetzen der Zuchtwahl, der Anpassung und der Vererbung immer
weiter von einander entfernen mußten.
Durch diese Theorie wurde der alte Glaube von dem übernatürlichen
Ursprung und der übernatürlichen Beschaffenheit der menschlichen Seele stark
erschüttert, mau konnte ihn nur halten, indem man diese beiden Eigenschaften
auf die ganze belebte Materie übertrug, also die Tier- und Pflanzenseele mit
derselben göttlichen Beschaffenheit wie früher den Menschen ausstattete. Je
»lehr sich die Unterschiede innerhalb des organischen Reiches verwischten, desto
schärfer suchte die Philosophie die Grenze zwischen diesem und der unorga¬
nischen Natur zu ziehen. Sie verbiß sich auf die „Lebenskraft" der alten
Schulen und behauptete in ihr etwas höheres und von den übrigen Natur-
kräften, wie Schwere, Elektrizität, chemische Verwandtschaft, dein Wesen nach
verschiednes zu besitzen.
Aber auch dieser Glaube hielt nicht lange vor. Mehr und mehr gelang
es den Untersuchungen der Biologen, die einzelnen Vorgänge des organischen
Lebens in chemische, elektrische, mechanische aufzulösen, und immer klarer und
unabweisbarer wurde die Wahrheit, daß die sogenannten Lebenserscheinungen
nichts andres sind, als physikalische Vorgänge verwickelter Art.
Zwei Jahrhunderte lang ging nun die Wissenschaft den mühsamen Weg
der Analyse, oft schien er endlos; war ein Rätsel gelöst, so zeigten sich zehn
neue, noch schwerere. Aber man ließ sich nicht abschrecken, man forschte weiter,
man löste auch diese, und heute — ich darf es mit Stolz sagen —, heute sind
wir am Ziele. Es giebt für den Vorgeschrittener,! im Wissen keine unerklärte
Erscheinung mehr im organischen Leben, jede, jede läßt sich auf einfache me¬
chanische Vorgänge zurückführen, es giebt nnr noch zwei Dinge, die einfache
Materie und die einfache Kraft.
Wenn dem aber so ist, wenn z. B. der Mensch nichts weiter ist, als
eine bestimmte Menge von Atomen in bestimmter Ordnung über und neben
einander gelegt und an allen Stellen mit bestimmten Mengen von Kraft ver¬
sehen, so muß es auch möglich sein, einen solchen Menschen zu schaffen.
Denn wenn es gelingt, die Atome eben so zu ordnen und die Kräfte eben so
zu verteilen, wie in meinem Vorbilde, so muß auch derselbe Mensch entstehen
mit denselben Sinnen, denselben Gedanken, demselben Willen.
5ieA0, rief der Philosoph heftig, nöAO nmjoreKi. Zeigen Sie mir
immerhin alle Schwingungen, in die die Gehörnerven durch die Schallwellen
versetzt werden, zeigen Sie mir jede Veweguug der Gehirnfaser infolge dieser
Erschütterungen, jeden chemischen und elektrischen Vorgang, der dadurch ver¬
ursacht wird, immer werde ich Ihnen erwidern: von dem Tone selbst, den
ich vernehme, von der Vorstellung, die in mir entsteht, und von dem Bewußt¬
sein, daß dies meine Vorstellung ist, davon ist alles, was Sie mir zeigen,
himmelweit verschieden. Oder meinen Sie etwa, wenn ich im Homer lese und
vor meinem innern Auge die kämpfenden Helden sehe, hier gehe wirklich nichts
andres vor als ein Verbrennungsprozeß der Gehirnmasse? Nein, sage ich,
und abermals nein, die eine Erscheinung mag eine Ursache der andern sein,
oder sie mögen neben einander hergehen, dasselbe sind sie nimmermehr. Darum
mögen Sie immerhin Ihren künstlichen Menschen schaffen, leben wird er
vielleicht, d. h. die in ihm verteilten Kräfte mögen einige dem Leben ähnliche
Bewegungen der Masse verursachen, aber wahrnehmen, empfinden, denken,
wollen wird er nie, und aus diesem Grunde, fürchte ich, wird es ein sehr
unbeholfenes Wesen werden, dessen Lebenserscheinungen mir vou kurzer
Dauer sind.
Der Geheimrat erhob sich. Diese Frage — sagte er — kann mir der
Versuch selbst entscheiden. Folgen Sie mir, meine Herren.
Mau betrat das Laboratorium. Rings an den Wunden und auf den
Tischen sah man Gefäße mit Chemikalien, Retorten, Gasometer, elektrische
Motoren und eine Menge andrer Apparate, wie sie das Handwerkszeug des
experimentirenden Physiologen im einundzwanzigsten Jahrhundert bildeten.
In der Mitte des Raumes bemerkte mau ans einem freistehenden Ruhebett
die kräftige Gestalt eines Jünglings, der wie im Schlafe lag. Die Angen
waren geschlossen, und das edel geformte Gesicht erschien blaß, wie das eines
Toten. Auch bemerkten die Freunde, als sie näher herantraten, daß kein
Atemzug die Brust bewegte. Die Gestalt war völlig und zwar nach der
neuesten Mode bekleidet, und fast schien es, als habe sich der junge Mann
ebeu erst hier niedergelegt. Bestärkt wurde dieser Eindruck noch durch ein
Tischchen, das neben dem Ruhebett stand, und auf dem sich neben einem aus¬
geschlagnen Buch ein halbvolles Glas Wem und eine halb aufgerauchte Zigarre
befanden. Das auffälligste aber war, daß in den Hals des Körpers zwei
Gummischläuche endeten, die zu verschiednen geschlossenen Gefäßen hinführten.
Dr. Wirklich ließ einen Ausruf des Erstaunens hören. Wie — sagte er
einen erwachsenen Menschen haben Sie zusammengestellt, Herr Geheimrat?
Ich glaubte, daß uns ein Kind auf den ersten Entwicklungsstufen vorgeführt
werden würde.
Das wäre allerdings leichter gewesen — erwiderte der Geheimrat - , aber
um unsers Freundes willen freut es mich doch, daß ich das Schwerere ge¬
wühlt habe; wir werden uun nicht so lange auf Äußerungen der Vernunft zu
warten brauchen, wie es bei einem Neugebornen der Fall sein würde. Doch
nnn aus Werk. Es bedarf, um dies Gebilde ins Leben zu rufen, uur »och
weniger Arbeit, und ich habe diese bis jetzt aufgespart, damit Sie mir nicht
etwa vorwerfe», ich hätte Sie zum Besten und mir irgend ein Individuum
gedungen, die Rolle des llomunoulus zu spiele». Wie Sie sich überzeugen
können, findet hier zur Zeit weder Atmung noch Herzschlag statt. Trotzdem
ist der Körper nicht etwa blutleer. Ich lasse hier durch den Schlauch zur
Rechten etwas vou meinem künstlichen Blut in die große Arterie eintreten,
gerade genug, die Adern offen zu halten und vor Fäulnis zu schützen. Durch
den linken Schlauch fließt es nach vollendetem Kreislauf wieder ab. Es er¬
übrigt nnr, den linken Schlauch zu entfernen und die kleine Wunde am Halse
zu schließen. Dann warten wir, bis genügend viel Blut im Körper ist, was
nur ein besonders kvustruirter Apparat anzeigt, und entfernen alsbald in
gleicher Weise den rechten Schlauch. Beide Operationen bitte ich Sie, lieber
Kollege Wirklich, auszuführen. Ich stelle indessen die elektrischen Apparate,
die in demselben Augenblick, wo der äußere Blutzufluß aufhört, das Herz
zum Schlagen bringen müssen. Die Atmung tritt dann bei einiger Nachhilfe
bald ein.
Dr. Wirklich griff in die Brusttasche und holte seine chirurgischen In¬
strumente hervor. Mit geübter Hand zog er deu linken Schlauch aus der
Vene und begann die Wunde zu schließen. Die Chirurgie war zu der Zeit,
wo unsre Geschichte spielt, viel weiter als im neunzehnten Jahrhundert, es
war einem so trefflichen Arzt wie Dr. Wirklich leicht, eine geringe Verletzung,
wie die hier vorliegende, binnen weniger Minuten so völlig zum Heilen zu
bringen, daß keine Spur zurückblieb. Der Doktor hatte die Gewohnheit, die
sich auch heutzutage bei manchen Chirurgen findet, während der Operation
ruhig weiterzusprechen, ohne doch die Aufmerksamkeit von dem Patienten ab¬
zuwenden. Eins, Herr Geheimrat — sagte er —, ist mir immer noch unklar:
wenn Sie Ihrem Herrn Sohne hier auch den allerschärfsten Verstand mit¬
gegeben haben, wird er sich nicht etwas fremd auf dieser Welt vorkommen,
in die er jetzt als erwachsener Mensch ohne jede Erfahrung, ohne Kenntnisse,
ohne Erinnerung an eine Vergangenheit eintreten soll?
Lieber Kollege — rief der Geheimrat von den elektrischen Apparaten
herüber —, wie können Sie so fragen! Sie müssen doch wissen, daß Kenntnisse
Erfahrungen, Erinnerungen nichts weiter sind als Falte» in der Gehirnsnbstanz.
Seien Sie überzeugt, ich habe mein Präparat mit genügend vielen solcher
Falten ausgestattet, sodaß es hoffentlich keinen Mangel fühlen wird. Aber
bitte, verrücke» Sie mir das Tischchen dort nicht, das hat anch seinen Zweck.
Man war mit den Vorbereitungen fertig. In demselben Augenblicke, wo
Dr. Wirklich den Einführungsschlauch aus dem Halse entfernte, drückte der
Geheimrat auf den Knopf seiner elektrischen Maschine, und sofort wurde der
Herzschlag vernehmbar. Nun eilte der Geheimrat, während der Doktor die
zweite Wunde in Behandlung nahm, an das Kopfende des Lagers und suchte
durch Heben und Senken der Arme die Atmung herbeizuführen.
Nach kaum einer Minute trat er zurück, und mit Verwunderung sah
Simmer, wie der Körper des Liegenden ruhig, wie im Schlafe atmete, während
das Gesicht die gesunde Farbe eines kräftigen Mannes annahm.
Bitte, treten Sie etwas zurück, meine Herren — sagte der Geheimrat —,
ich möchte den Schlafenden jetzt wecken.
Wirklich befand sich in großer Erregung. Bist du uun überführt? flüsterte
er dem Freunde zu. Warte nur, erwiderte dieser nicht minder erregt, die
Hauptsache muß ja jetzt kommen.
Kein Zug in dem ernsten Gesicht des Geheimrath verriet, daß es sich
um die Entscheidung über die Hauptarbeit seines Lebens handelte; ruhig trat
er MI das Lager hinan, blickte einige Augenblicke in das Gesicht des Schlafenden,
faßte ihn dann an der Schulter und rief mit müßig erhobener Stimme: Herr
Homunculus, wachen Sie ans.
Langsam bewegte sich der Kopf nach der andern Seite, langsam erhob
sich die Hand und fuhr über die Augen, während ein langer und tiefer Atem¬
zug hörbar wurde. Dann erhob sich die Gestalt mit kräftigem Nuck, die
Lider waren geöffnet, und zwei helle, blitzende Augen schauten nicht sonderlich
verwundert im Zimmer umher. Jetzt öffneten sich auch die Lippen, und der
neu entstandene Mensch sagte mit noch etwas schlaftrunkener Stimme: Sehen
Sie mal an, Herr Geheimrat, da bin ich also doch eingeschlafen. Der Ungar¬
wein, den Sie mir gütigerweise vorsetzten, war doch etwas schwer, und Sie
haben mich in der That ziemlich lange allein gelassen. Da hat mich denn
selbst der Roman hier nicht wach halten können, übrigens wirklich ein vortreff¬
liches Buch, von dem ich die ersten Kapitel mit vielem Interesse gelesen habe.
Die beiden Freunde standen sprachlos, der Geheimrat schien nicht im
mindesten verwundert, sondern sagte nur: Wie ich sehe, haben Sie auch Ihre
Zigarre ausgehen lassen, darf ich Ihnen mit einer neuen dienen?
Wenn Sie eine von Ihren leichten da haben — erwiderte Homunculus —,
so bitte ich; die andre war mir etwas zu schwer. Aber wird denn der Besuch,
den Sie erwarten, bald kommen?
Wenn Sie sich umwenden wollen — sagte der Geheimrat —, es sind
sogar zwei Herren hier, Dr. Wirklich, den Sie ja bereits kennen, und unser
Philosoph or. Simmer, von dem Sie wohl schon gehört haben.
Der neue Mensch wandte sich rasch um: Bitte tausendmal um Vergebung
— sagte er —, daß ich mich schlafend überraschen ließ. Nun, die Herren haben
ja meine Entschuldigung schon gehört. Dann trat er auf Simmer zu und
sagte mit kurzer Verbeugung: Homunculus; ich schätze es mir zur besondern
Ehre, Herr Doktor, Ihre Bekanntschaft, die ich nur schon lange gewünscht habe,
zu machen.
Simmer war so verwirrt, daß er kaum die Verbeugung erwiderte, aber
»och mehr erstaunte Wirklich, als er von dem sonderbaren Wesen wie ein
guter Bekannter begrüßt wurde: Sieht man Sie endlich einmal wieder, Herr
Doktor! Die Wissenschaften lassen Ihnen wohl gar keine Zeit mehr, sich um
Ihre alten Freunde zu kümmern.
Unwillkürlich stammelte Wirklich: Ich weiß in der That nicht, woher —
als ein heftiges Augenzwinkern des Geheimrath ihn abbrechen ließ. Nun fand
er schnell genug die nötige Fassung, die Anrede seines neuen Freundes ge¬
hörig zu erwidern und sich mit den wirklich dringenden Arbeiten der letzten
Zeit zu entschuldigen.
Die Herren sind wohl gekommen, sich das große Experiment zeigen zu
lassen, das der Herr Geheimrat heute ausführen will, fuhr Homunculus un-
beirrt durch das Staunen seiner beiden Gegenüber fort. Natürlich — sagte
der Geheimrat —, und wir werden gleich anfangen; zuvor aber möchte ich
Sie bitten, ein kleines Frühstück, das im Nebenzimmer bereit steht, mit nur
einzunehmen.
Homunculus legte die frisch angebrannte Zigarre beiseite, und man begab
sich in das Arbeitszimmer zurück, wo inzwischen ein gedeckter Tisch mit allerlei
Gerichten aufgestellt worden war.
(Schluß folgt)
Joseph Mazzini und die italienische Einheit. Von Graf Ad. Fr. Schack. Stutt¬
gart, Cottaische Verlagsbuchhandlung
Ob es Wohl ein Angehöriger einer andern als der deutschen Nation über sich
gewinnen würde, als Monarchist einem Republikaner und Verschwörer, als treuer
Sohn seines Volkes so vorbehaltlos den Ruhmeskranz einem Manne zu reichen,
der seinen eignen Landsleuten die Todcsdrohung für eben jenes Volk im allge¬
meinen auf die Lippen legte? Und dabei werden wir tagtäglich von Norden,
Osten und Westen wegen unsrer Ungerechtigkeit, Unduldsamkeit, Unterdrückung der
Fremden geschmähtI Allerdings ist Graf Schack kein Politiker und will uicht für
einen solchen gelten; er liefert auch uicht eigentlich ein Lebens- und Charakterbild
des merkwürdigen Mannes, der gewiß sehr viel für die Einigung Italiens gethan,
aber zugleich durch Nährung der Kvnspirationslust, Anstiftung zu Pulsader und
politischen Morden in seinem Vaterlande verhängnisvoll gewirkt hat; er weiht dem
Andenken eines Freundes die Blätter als „Denkmal nie erloschner Liebe und
Verehrung." Mnzzini hat auf ihn bei der ersten Begegnung einen gewaltigen
Eindruck gemacht, und langjähriger Verkehr hat diesen Eindruck nur gesteigert;
Schack steht noch heut uuter dem Banne der bedeutenden Persönlichkeit, so sehr,
dcisi er womöglich alle Schatten an ihr in Lichtseiten verwandeln möchte, wenig-
stens alle zu mildern und zu entschuldigen sucht. Am meisten sachliches Interesse
bieten wohl die Erinnerungen aus Rom während der Diktatur Mnzzinis. Das;
Graf Schack nicht anders als geistvoll und schön schreiben kann, braucht denen
nicht gesagt zu werden, die seine „Kunst der Araber" kennen.
er Grashdanin des Fürsten Mcschtscherski hat einen militärischen
Mitarbeiter, der in einer langen Reihe von Feuilletons das
russische und das ausländische Kriegswesen nach allen Richtungen
durchackert. Aus dein dreiundachtzigsteu dieser Feuilletons lohnt
es, die unter dem Titel: „Wen fürchtet der Dreibund" erschienene,
in ihrer Art mustergiltige und in ihrer offenherzigen Naivität kaum zu über¬
treffende Schilderung des russischen Soldaten hervorzuheben. Im folgenden
wird dem Leser eine meist wörtliche Übersetzung dieses Feuilletons geboten.
Unser Soldat, so beginnt der Artikel, geht ausschließlich ans einem Stande
hervor, der von der Wiege an zu fortgesetzter Anstrengung, zu Arbeit, Hunger
und Kälte gewohnt wird; er ist ein im höchsten Grade gefügiges, nie wider¬
sprechendes und unbeschreiblich duldsames Wesen. Jedem, der unter den
Soldaten gelebt hat, der sie nicht nur aus der Ferne kennt, sind der Humor nud
die Gutmütigkeit bekannt, womit er immer scherzend und spottend seine schwere
Lage erträgt. In unserm merkantilen Jahrhundert, wo jeder dem Gewinn
nachjagt, ist es ein Genuß, das Auge einem Menschenschlage zuzuwenden, der
jederzeit bereit ist, mit dem Leben für seine Freunde einzutreten. Der Soldat
ist der Vertreter des Idealismus unsrer Zeit, der treue Diener höherer sitt¬
licher Grundsätze, ein Mensch, der in Kriegszeiten, wenn das Vaterland blutige
Opfer fordert, sie ohne zu murren bringt, ganz wie seine Vorgesetzten es
thun. Er allein aber ohne Ehrgeiz, und ihm fällt ausschließlich die Gefahr
zu. Im Kampfe ermutigt sein ernstes, ruhiges und gutmütiges Gesicht
die, die die Zuversicht verlieren; nach dem Kampfe aber überläßt er den Vor¬
gesetzten die Lorbeeren des Sieges, der dnrch seine Anstrengungen und sein Blut
erworben wurde, und schärft, obgleich er hungrig, müde und matt ist, das
Bajonett zu neuem Kampfe. Wein anders als unserm grauen Soldaten, und
ihm ausschließlich, danken wir die ruhmvolle Vergangenheit der russischen
Armee, und heute scheut mir vor ihm, vor seinem unüberwindlichen Bajonett
die bewaffnete Macht unsrer Feinde zurück.
Der bekannte englische Korrespondent McCahcm, der Freund Skobelews,
der unsre Truppen bei all ihren Expeditionen in Zentralasien begleitete, giebt
in einer seiner Schriften eine höchst zutreffende Charakteristik des russischen
Soldaten, die aus dein Munde des Fremden noch an Wert gewinnt.
Wir versuchen aus der Beobachtung des Engländers und aus eigner
Kenntnis eine Skizze unsers Soldaten zu entwerfen.
Geboren wurde Iwan Jwanow — so nannte der Engländer den russischen
Durchschnittssoldaten — als Leibeigner. Sein Vater, Iwan Michailvw war
auch Bauer und, wie alle seine Vorfahren, Leibeigener. Sein Lebtag hat
Michailow nichts gekannt als schwere Arbeit und dürftigste Nahrung. Vor
Aufhebung der Leibeigenschaft mußte er von sieben Tagen in der Woche vier
für seinen Herrn arbeiten, sich selbst verpflegen, Pferd und Ackergerät stellen
und durch die Arbeit, der übrigen drei Tage sich und die Seinen erhalten.
Bedenkt mau, daß die klimatischen Verhältnisse Rußlands volle sechs Monate
lang die Arbeit unmöglich machen, so begreift man, daß nicht eben das
glänzendste Los Michailow zu teil wurde. Nachdem er den ganzen Tag für
den Gutsherrn gearbeitet hatte, brauchte er uoch die halbe Nacht für sich,
und als Nahrung diente ihm sein Leben lang Kohl und Suppe, dazu Schwarz¬
brot — in Hungerjahren Birkenwasser und Lindenblätter. Seine Wohnung
besteht aus einer Hütte, in der sich alle Familienglieder, Greise und kleine
Kinder, drängen und unter den Schlafstellen Kälber und Ferkel. In derselben
Hütte wohnen die verheirateten Söhne mit ihren Frauen und Kindern. Unter
diesen Umständen läßt sich freilich nicht erwarten, daß Michailow sich durch
besonders feine Sittlichkeit, durch Bildung und aufgeklärte Denkweise aus¬
zeichnet — im Gegenteil, alle diese Eigenschaften sind bei ihm nicht zu finden.
Er ist unentwickelt und grenzenlos abergläubisch, aber er zeigt auch gute
Eigenschaften. Er ist von Natur weder hart noch unmenschlich und hat
keinerlei entwürdigende Laster. Michailows schwache Seite ist dieselbe wie bei
dem ersten Napoleon: er ist Fatalist, nur wirkt der Fatalismus auf Michai¬
low ganz anders. Er macht ihn nicht unsinnig kühn und zu jedem Wagnis
bereit, sondern entwickelt eine gewisse Apathie in ihm; er hat keinerlei ver¬
zückten Glauben an seinen Stern, er weiß nicht einmal, daß er einen Stern
hat, und wenn er es weiß, hält er ihn für einen unheilvollen und betrügeri¬
schen, dem mau ja uicht vertrauen darf, den mau vermeiden und verwünschen
muß. Geht ihm die Hütte in Flammen auf — Gott hat es gewollt, und
so läßt er sie bis auf deu Grund niederbrennen; erkrankt er, so wird er ans
demselben Grunde keine Arzneien nehmen. Geschieht es ihm, daß er unbedacht
handelt, etwa fremdes Eigentum oder fremdes Geld an sich nimmt, so ist
das wieder nicht seine Schuld, er besteht fest darauf, daß der Böse ihn ver¬
leitet habe, und daß er selbst ganz unschuldig sei. Alle Erzählungen Michai-
lows enden tragisch: die Sagenwelt der Vampyre, der Hausgeister und Teufel,
vor deren Hinterlist, Bosheit und Blutgier es keine Rettung giebt, befängt
ihn. Ebenso trostlos sind seine Lieder, alle Melodien sind in Moll gehalten
und klingen unbeschreiblich traurig.
Die Summe dieser Eigentümlichkeiten und Charakterzüge, die von Geschlecht
zu Geschlecht mit geringer Abtönung gegangen sind, in langer historischer Ent¬
wicklung, von der Tatarenzeit durch die Leibeigenschaft, hat auch sein Nach¬
folger und Sohn, Iwan Jwanow geerbt, nur sind noch einige besondre Züge
dazugetreteu. In früher Jugend hat man ihn von Familie und Freunden
getrennt und zum Rekruten gemacht. Das Schicksal hat mit einemmale sein
ganzes Leben umgewandelt und ihn zu einem andern Wesen gemacht. An¬
fangs weinte er wohl bei dem Gedanken an Vater und Mutter, an die Liebste
und an sein bittres Los: war seine arme Hütte auch nicht freundlich und
anziehend, so war es doch das Dach der Eltern! Wann aber wird er es
wiedersehn? Aber Monate, Jahre und Jahre gehen hin, und die große Staats¬
maschine modelt ihn nach der allgemeinen Form um; und so wird unser Iwein
in das immer gleich monotone Leben der Kaserne hineingezogen. Er wird
ein lebendiger, nie widersprechender Automat; er gehorcht einem Willen, den
sein einfacher Verstand durchaus unfähig ist zu kritisiren und ergiebt sich
blind seinem Schicksal, ohne einen Versuch des Widerstandes. Auch liegt es
uicht in seiner Natur, gegen das Unabwendbare anzukämpfen: Gott wird es
so gewollt haben — es ist hurtig und unnütz, dawider zu murren! so läßt
Iwan die Vergangenheit vergangen sein und denkt ausschließlich daran, sich
der Gegenwart anzupassen.
Ans dem ungeheuern Gebiete des Mütterchen Rußland wird Iwan von
einem Klima ins andre, von einer Ecke des Reiches in die andre geworfen,
und überall ist er zufrieden, dieselbe Schablone wiederzufinden. Überall er¬
hält er seine drei Pfund Brot und fünfmal in der Woche sogar ein halbes
Pfund Fleisch, sodaß die sprichwörtliche Unmäßigkeit der Bewohner des Nordens
und die Mäßigkeit der Bewohner warmer Länder bei Iwan ausgeglichen
werden. Solcher Iwans giebt es unzählige, und alljährlich treibt man sie
in die Kasernen, wo man ihre umsonst zu habende Arbeitskraft beispiellos
ausbeutet. Wo zwei Iwans genügen würden, schickt man vier oder fünf hin
(es kommt nicht darauf an, man braucht nicht zu zahlen). Wollte man für
ein Jahr die in den Kasernen vergeudete Arbeit Iwans nutzbar macheu, so
ließen sich viele Wälder setzen, Eisenbahnen banen oder Kanäle graben! Unser
Iwan hat aber auch seine Feiertage, wenn man ihn zu freier Arbeit entlaßt.
Das ist für ihn dasselbe, was Hapsal oder Karlsbald für andre Leute ist.
Er erfrischt sich nach der engen Eintönigkeit des Kasernenlebens, und indem
er sich den frühern Gefährten seines Landlebens nähert, dringt durch Sense
und Pflug ein poetisches Element in sein eintöniges Dasein. Vielleicht bleibt
von dem erarbeiteten Gelde etwas in seinem Beutel — der größte Teil geht
in die Kasse des Artet (Arbeitsgenossenschaft). Was er zurückbehält, ist meist
ein Stück Wachs, ein Fingerhut und ein Stückchen Kreide — viel Geld braucht
er ja uicht, er ist bekleidet, beschuht, gesättigt und hat ein warmes Unter¬
kommen. Seine persönlichen Ausgaben gehen meist auf Herzensangelegenheiten
hin. Es muß uümlich bemerkt werden, daß Iwan ein großer Verehrer des
weiblichen Geschlechts ist; wenn er mich sagt: Durch die schlimmen Weiber
kann auch ein gerechter Engel zum Sünder werden, so ist er doch ein großer
Feinschmecker in dieser Hinsicht. Trotz seiner Plumpheit zeigt er sich hier
unternehmend, und als Kampfesmittel hat er seine Harmonika und viel schöne
Worte. Schon längst gehört sein Herz der dicken Köchin des Nachbarhauses,
die ihn liebkost, für ihn wäscht und näht und nur selten zur Belohnung ein
Pfund Nüsse oder Pfefferkuchen erhält, von denen er dann dreiviertel selbst
verzehrt.
Die stete Anspannung des Svldatenlebens bringt es dann mit sich, daß
Iwan schließlich die in der fernen Heimat zurückgelassenen Verwandten
vergißt. Zeigt ihm die Zukunft auch wenig Hoffnungen, so hat er dafür,
die Wahrheit zu gestehen, auch nichts zu verlieren — ihm droht kein
Kummer mehr, und so wird aus ihm der allerlustigste, mutwilligste Bursche.
Die Hauptquelle der Vergnügungen Iwans bilden seine Lieder. Er singt
vom Morgen bis in die Nacht, auch ans dem Marsche verstummt er selten.
In seinem Repertoire finden sich Lieder, die Hunderte von Versen haben,
und viele dieser Lieder haben für einen menschlichen Verstand keinerlei
Sinn — auch weiß niemand, wann und durch wen sie entstanden sind;
aber Iwan singt sie mit Begeisterung fast von Anfang bis zu Ende mit
stets neuem Genuß. Diese Siebenmeilenlieder begleite:? ihn dnrch die Wüste,
wie auf die Spitzen der Berge. Er hat die Liebe zum Gesang von seinem
Vater Iwan Michailvw überkommen, dem die Lieder die Stütze im Leben
waren: sie betäubten ihm den Jammer der Leibeigenschaft. Iwan sieht daher
in seinem Gesang durchaus kein unwichtiges, gleichgiltiges Geschäft. Wenn
Iwan singt, dann steht er aufrecht; sein Gesicht ist ernst, als ob er etwas
Heiliges vornehme, und die Gefährten sammeln sich um ihn und fallen am
Schluß jeder Strophe im Chor ein. Durch die Lustigkeit Iwans klingt sogar
eine gewisse Übertreibung, die wohl anzeigt, daß es in seiner Seele durchaus
uicht so hell und freudig ausschaut, wie die Worte des Liedes sagen.
Es darf übrigens nicht verschwiegen werden, daß hente in die ausschließlich
aus Jwauvws bestehende Armee auch der Nachwuchs des Adels, Fabrik¬
arbeiter und Beamtensöhne getreten sind, und dadurch der Charakter des
Liedes sich stark verändert hat. Die Unanständigkeit einzelner Lieder ist heute
so unbeschreiblich, daß sie eben dadurch den Charakter der Unanständigkeit
verlieren und zu einem grotesken Unsinn werden.
Einer besondern Betonung bedars die staunenswerte Vielseitigkeit Iwans:
heute ist er ein Schlitze ersten Ranges, morgen ein ausgezeichneter Stall¬
meister — dann tischlert er in der Werkstatt oder dient dem Offizier als
Koch oder Wäscherin. Unersetzlich ist er für die arme Offiziersfamilie: er
wartet die Kinder, geht auf den Markt und hilft der Hausfrau die Kleider
bügeln. Dazu kommt die Fähigkeit unsers Iwan, sich mit Fremden zu
verständigen: Franzosen, Türken, Engländer, Deutsche, Chinesen, Italiener,
alle verstehen ihn, allen weiß er seine Gedanken durch Geberden, die nur ihm
eigentümlich sind, kundzuthun. Bald schlüge er auf den Nacken oder auf den
Bauch, oder er schneidet eine Grimasse, in jedem Fall aber versteht man ihn.
Der Glaube Iwans an die Fähigkeit und Ehrlichkeit seiner Offiziere ist in
der That erstaunlich, lobenswert und erbaulich. Sie sind für ihn, was der
Papst für den gläubigen Katholiken ist; er glaubt fest an ihre Unfehlbarkeit
und ist völlig überzeugt, daß, was sie thun, nicht besser erdacht und geschickter
ausgeführt werden könne. Deshalb meutert er auch niemals. Und doch ist
seine Lage schwer, sehr schwer, und stünde ein Ausländer an seiner Stelle, er
würde sich ausbäumen und sicher murren. Iwan aber giebt keinen Laut von
sich. Seine Väter und Vorväter haben ganz andre Dinge ertragen, und Iwan
kann nicht so sinken, daß er sich über ein Nichts beschweren sollte. Giebt man
ihm kein Fleisch, so ist gewiß keins da; ist das Fleisch schlecht, so ist die
Hitze daran schuld, der gegenüber sogar die Vorgesetzten ohnmächtig sind; taugen
die Stiefel nichts, und erfrieren Iwans Füße, so trägt der Frost die Schuld;
ist der Zwiebnck voller Würmer, so haben es eben die Würmer gethan. Es
kommt ihm überhaupt nie der Gedanke, jemandem Vorwürfe zu machen.
Liegt er wegen irgend eines Vergehens in Ketten, in dünnem Mäntelchen und
zerrissenen Stiefeln, und erfrieren ihm Füße, Hände, Ohren und Nase, oder
gerät er durch irgend eine Unvorsichtigkeit in ein mörderisches Feuer, das seine
Kameraden zu Hunderten tötet und dem Regimente sichern Untergang bereitet,
so ist es wieder Gottes Wille, den: man sich ohne Murren unterwerfen muß.
Niemals kommt ihm der Gedanke, durch die Flucht sich den Folgen der Mi߬
griffe seiner Vorgesetzten zu entziehen. Mit einem Wort, unser Iwan ist über¬
zeugt, daß ihm alles zum besten diene, und so nimmt er die Dinge, wie sie sich
ihm darbieten. Er ist mit dem Leben zufrieden, wenn er auch nur schwarzes
Brot hat, und denkt nie daran, zu klagen, und nach seiner Logik hat er auch
Recht. Wie schlimm auch im Dienste Nahrung und Kleidung Iwans sein
mag, immer uoch ist es besser, als das Brodwasser mit Lauch, das er in der
Nauchstättc der elterliche,, Wohnstätte findet. Wenn Iwan in der Einfalt
seiner Seele wenig über sich selbst nachdenkt, so wird für ihn und über ihn
sehr viel gedacht und noch mehr geschrieben. So hat z. B. ein gewisser
Doktor Geltowski erkunden wollen, wieviel Schmutz drei Jahre im Mantel
Iwans aufhäufen. Der Mantel ist nämlich das Hauptkleidungsstück Iwans.
Den trägt er bei 15 Grad Wärme und bei 25 Grad Frost, der dient ihm
tags als Mantel, cibeuds und morgens als Schlafrock und nachts als
Decke oder Matratze, je nachdem. Nach den Untersuchungen des wi߬
begierigen Arztes ergab sich, daß Iwans Mantel 886 Gramm Schmutz ent¬
hält, d. h. mehr als drei Pfund. Dieser Schmutz zeigt das gesamte Ver¬
halten des guten Iwan. Was war nicht alles in diesem Schmutz zu finden:
Ziegel, Kalk, Kreide, Stücke getrockneten Speichels, verschiedne Pilze, ganze
Gänge von Jnsektenzellen, von Fis'heu und allerlei beweglichen Mikroben.
Das alles aber beginnt zu wandern unter dem Hauch seines Atems, wenn er
sich im Schlafe den Kopf zudeckt. Von der Wärme dieses Mantels bemerkt
Geltowski, daß es vorteilhafter wäre, ein Hemd und ein dünnes Wams zu
tragen, ja sogar nützlicher, sich in Zeitungspapier einzuschlagen, als dies Sol¬
datenkleid auf bloßem Körper zu tragen. Indem wir diesen Schluß dem Ge¬
wissen des Doktors überlassen, bemerken wir nur, daß dies Mäntelchen Iwan
nicht hindert, beim grimmigsten Frost ebenso gemütlich mit seiner Köchin ein-
hcrzuspazicren, wie ein beliebiger Stutzer in seinem Schuppenpelz.
Iwan liebt niemanden außer den Kameraden, diese aber leidenschaftlich,
wenngleich unbewußt. Es kommt in Schlachten nicht selten vor, daß an einer
Stelle achtzig Soldaten im feindlichen Feuer fallen, weil sie einen verwundeten
Kameraden fortzutragen versuchen. In Iwans Natur ist nichts melodramatisch;
er vollzieht die größten Heldenthaten, ohne auf den Einfall zu kommen, daß
er etwas Ungewöhnliches, Heldenmütiges thue. Tapfer wie ein Löwe, bringt
ihn das tollste und wagehalsigste Unternehmen nicht zum Stutzen, und auf
Befehl des Herrschers geht er mit demselben Gleichmut in den sichern Tod,
wie er etwa zum Mittagessen geht. Überhaupt ist in unserm Heere ein zwar
unbewußter, aber darum nicht minder großartiger Heroismus. Es ist der
Zug, von dem Napoleon sagte: es genügt nicht, den russische» Soldaten
zu töten, man muß ihn noch umwerfen. Die kenntlichste und hervorragendste
Eigenschaft Iwans ist seine Gutmütigkeit, die ihn auch im Kampfe begleitet.
Von den Ausländern hat Iwan, offenbar als ein Erbstück der Vorfahren, eine
höchst sonderbare Vorstellung, für ihn sind sie alle Empörer wider das
Väterchen, den Zaren, und er ist fest überzeugt, daß früher oder später die
ganze Menschheit sich dem Willen des rechtgläubigen Zaren unterwerfen muß.
Iwein hat keinerlei Haß gegen den Feind, er schmäht ihn auch nicht — wie
denn Iwan im nüchternen Zustand überhaupt nicht zu schimpfen liebt —, hat
er aber getrunken, so entströmen ihm Worte, vor denen man gut thut die
Heiligenbilder aus dem Zimmer zu tragen. Iwan liebt es nicht einmal, den
Feind zu tadeln und seine Tapferkeit zu bestreiten; uur selten hört man von
ihm eine verächtliche Bezeichnung desselben. Jeder Feind ist ihm vor allem
Mensch; erschlägt er ihn im Kampfe, so geschieht es auf Befehl der Vor¬
gesetzten — da giebt es kein Erbarmen. Mit einem Wort, Iwan ist das voll¬
kommene Ideal eines Soldaten, er ist der beste Soldat auf der ganzen Welt.
Nicht die Tinte diplomatischer Abmachungen ist es, vor der der Dreibund
feige zurückschreckt, er fürchtet nur unsern gutmütigen Iwan. —
Einem europäischen Leser wird wohl nichts überraschender kommen, als
dieser Schluß des russischen Feuilletonisten. Wie, dieses absolut unselbständige,
ohne sittliche Überzeugungen erwachsene, nur von Instinkten geleitete Wesen,
das soll das „Ideal" des Soldatentums sein? Und vor dieser Masse, nur
weil sie ein Werkzeug ist, das nach Belieben gebraucht werde» kann, sollte
das Abendland zittern?
Was aber wird aus dem russischen Soldaten, wenn er nicht geführt
wird? wenn, wie bei Mars la Tour und so oft vorher und nachher während
des französischen Krieges, die Offiziere erschossen sind, und ein Entschluß aus
den Reihen der Truppe heraus gefaßt und durchgeführt werden muß? Was
aber vor allem sind die russischen Offiziere?
Ist die obige Schilderung richtig, so giebt es keine Armee der Welt, die
abhängiger wäre von ihrem Osfiziersmatericil als die russische! Wir irren
aber wohl nicht mit der Annahme, daß der russische Offiziersstand bis heute
der erste der Welt noch uicht sei.
lieu denen, die noch die einfachern Lebensverhältnisse vor fünfzig
bis sechzig Jahren gekannt haben, muß sich der Gedanke auf¬
drängen, daß in neuerer Zeit die Verwaltung einen Umfang
und einen Grad der Verwicklung angenommen hat, der mit Be¬
sorgnis in die Zukunft blicken läßt. Der Arbeit der Gesetzgebung
ist kaum noch zu folgen; es findet ein allgemeines Aufgebot aller brauchbaren
geistigen Arbeitskräfte statt. Ju gleichem Maße wie das Heer der Beamten,
denen die Bewältigung der Geschäfte anvertraut ist, steigen die öffentlichen
Lasten. Der Versuch, einen großen Teil der Geschäfte an die Gemeinden und
die höheren kommunalen Verbände abzugeben, hat keine Entlastung herbei-
geführt; neue Aufgaben haben vielmehr aufs neue zur Vermehrung der Arbeits¬
kräfte genötigt, während man sie vermindern zu können geglaubt hatte. Und
wie die Budgets der Staaten und der Gemeinden anschwellen, so steigen die
Steuern aller Arten, und viele Steuerpflichtige mögen — ganz abgesehen von
der Grundsteuer, deren Charakter als Steuer sich bestreiten läßt — zehn bis
fünfzehn Prozent ihres Einkommens der Öffentlichkeit darbringen.
Wenn man sich fragt, wodurch diese Vermehrung der Geschäfte und diese
Steigerung der Steuern im Laufe der letzten Jahrzehnte hervorgerufen worden
ist, so kann die Antwort nur dahin lauten, daß die Ursache teils in größern
Ansprüchen des Publikums und einer höhern Auffassung von den Aufgaben
des Staates und der kommunalen Verbände zu suchen ist, teils aber in der
Notwendigkeit, schreiende Übelstände, die in die Erscheinung getreten sind, zu
beseitigen oder abzuwehren. In manchen Einrichtungen treffen beide Ursachen
zusammen. Die Pflege der Wissenschaften und der Künste, die reiche Aus¬
stattung vieler Anstalten mit allen Hilfsmitteln, die die Neuzeit erdacht oder
aufgefunden hat, gehören dem Bestreben an, alle Kulturaufgaben anzufassen
und zu übernehmen. Wenn aber jetzt Irrenhäuser, Taubstummenanstalten u. s. w.
in einer Weise hergestellt werden, die allen, auch deu weitgehendsten Forde¬
rungen genügt, so kommen die beiden Rücksichten des Strebens nach höchster
Vollendung des in Angriff genommenen und der Abwendung trauriger Zu¬
stände zusammen. Blicken wir anf das umfassende Gebiet der neuen Ver-
sicheruugsgesetzgebuug, so handelt es sich dabei lediglich darum, Notständen
vorzubeugen. Bei genauerer Erforschung der Verhältnisse wird sich aber
zeigen, daß bei weitem das größere Maß der aufgewandten Kräfte und Geld¬
mittel der öffentlichen Verwaltung dem Zwecke dient, die Not des Lebens
der Massen abzuwenden und die aus der Armut entstehenden Übelstände zu
beseitigen.
Mau könnte sich vielleicht der Meinung hingeben, daß die ungeheuern
Summen, die das Militär verschlingt, bei dieser Betrachtung ausgeschlossen
bleiben müßten, indem sie doch nur dem Zwecke dienten, dem Reiche Sicher¬
heit nach außen wie nach innen zu verschaffen. Aber es wird sich wohl nicht
bezweifeln lassen, daß die Kriege kaum noch möglich sein würden, wenn hüben
und drüben die Wohlstandsverhältnisse der Massen besser wären, die Zahl der
Unznsriednen und Mißvergnügten und derer, die nichts zu verlieren haben, nnr
gering wäre. Die große Zahl der Unzufriedneu, die, weil sie nichts zuzusetzen
haben, bei jeder Veränderung gewinnen zu können glauben und hoffen, bildet
den großen Troß derer, die aus Eigennutz und Ehrgeiz zum .Kriege treiben und
Hetzen. Scheu wir auf die Kosten der Justiz, insbesondre der Kriminaljustiz,
der polizeilichen Veranstaltungen, des Schulwesens, des Armenwesens n. s. w.,
so liegt klar zu Tage, wie sehr sie vermindert werden würden, wenn nicht die
Armut das beständige Eingreife» des Staates und der Gemeinden erforderlich
machte. Wären die Massen der Bevölkerung in befriedigenden Wohlstands¬
verhältnissen, so brauchte sich das Armenwesen ihrer nicht anzunehmen; könnten
die Eltern Schulgeld bezahlen, so wären die Freischnlen nicht erforderlich.
Auch an Korrektionsnnstalteu, Zuchthäusern u. s. w. würde viel erspart werde»,
wenn die Not nicht mehr zu Vergehen und Verbrechen verführte. Allerdings
würden mit der Not Vergehen und Verbrechen nicht ans der Welt verschwin¬
den, weil die Not nicht ihre einzige Ursache ist.
Aber wieviel besser wäre es doch um uns bestellt, wenn die neuere
Versicherungsgesetzgebuug nicht notwendig gewesen wäre, weil alle Beteiligten
sich in der Lage befänden, sich gegen die durch Krankheit, Unfall, Alter und
Invalidität herbeigeführten Notstände durch Ersparnisse selbst zu sichern! Und
wie viel erfreulicher wären die Zustände, wenn es keine Bedürftigen mehr gäbe,
und alle auch deu untersten Klassen angehörigen in allen Wechselfällen des
Lebens für sich und die Ihrigen das Erforderliche ersparen könnten!
Die nötigen Veranstaltungen müssen von der Öffentlichkeit getroffen wer¬
den, weil die Massen nicht in der Lage sind, die Übelstände selbst abzuwehren.
Ihr Einkommen reicht nicht aus, es genügt kaum, die nächsten täglichen Be¬
dürfnisse zu befriedigen; jedes unvorhergesehene Ereignis versetzt sie in die
Lage, fremde Hilfe nachsuchen zu müssen. Aber unzweifelhaft wäre es doch
für alle Teile bei weitem vorzuziehen, wenn fremde Hilfe nicht notwendig
wäre, wenn die Bedürftigen das, was ihnen gegeben werden muß, bereits
selbst besäßen.
Vielleicht möchte mancher die Behauptung aufstellen, der Umfang der Pro¬
duktion ließe es uicht zu, die Massen so zu stellen, daß sie fremder Hilfe nicht
bedürften. Die Behauptung ist zwar unrichtig; aber auch wenn sie richtig wäre,
müßte doch zugegeben werden, daß die ungeheuern Summen, die jetzt zur Abwen¬
dung der Notstände in den untern Klassen öffentlich und privatim ausgegeben
werden, schou sehr wesentlich zur Milderung beitragen würden, wenn die Be¬
dürftigen, anstatt sie zu empfange», sie durch ihre Arbeit schon erworben
hätten. Was die ungenügenden gesellschaftlichen Zustünde, insbesondre die
unvollkommne Verteilung der produzirten Güter der arbeitenden Klasse vor¬
enthalten, muß ihnen zum großen Teil auf andre Weise als im Arbeitslohn
und unter keineswegs erfreulichen Umständen doch gegeben werden.
Die Arbeiter haben längst die Überzeugung gewonnen, daß ihnen von
den: Produzirteu der ihnen gebührende Anteil nicht zufließt, und diese Über¬
zeugung verbreitet sich rasch und wird auch schon in de» Kreisen der besser ge¬
stellten vielfach geteilt u»d ausgesprochen. Die Arbeiter, in diesem Jahrhundert
durch die allgemeine Schulbildung geistig gehoben, dazu jetzt auch im Besitz
politischer Rechte, insbesondre der Koalitionsfreiheit, legen es mit Ernst und
Energie darauf an, sich eine bessere Stellung zu erobern, indem sie günstigere
Arbeitsbedingungen und einen höhern Anteil am Ertrage verlangen. Sie sind
bisher noch nicht in der Lage, ihre Forderungen dem Kapital aufnötigen zu
können; wohl aber können sie dem Kapital und den Unternehmern große
Schwierigkeiten bereiten, indem sie gelegentlich ihre Mitwirkung versagen.
Durch die Streiks üben sie einen mächtigen Einfluß aus und haben schon oft
ihre Forderungen ganz oder zum Teil durchgesetzt. Leider muß man aber
dieses Verhältnis der Arbeitskraft zu den Unternehmern als einen in hohem
Grade bedauerlichen Kriegszustand bezeichnen, und nichts wäre erwünschter,
als wenn geeignete Mittel gefunden würden, die Zwistigkeiten auf friedlichem
Wege auszugleichen und sie für die Zukunft zu verhindern. Die Störungen
im Wirtschaftsleben, die durch die Streiks verursacht werden, sind so schwer
und können gelegentlich so gefährlich werden, daß alles aufgeboten werden
muß, ihnen vorzubeugen. Aber uoch sind wir weit von diesem Ziele ent¬
fernt. Noch werden Streiks organisirt, nicht nur um höhere Lohnforderungen
oder leichtere Arbeitsbedingungen zu erreichen, sondern auch lediglich zu tak¬
tischen Zwecken. Als solche muß man es bezeichnen, wenn z. B. in England
von den Dvckarbeitern verlangt wird, daß nur die ihrem Verbände angehörigen
Arbeiter von den Unternehmern beschäftigt werden dürfen, und wenn andrer¬
seits die Zigarrenfabrikanten in Hamburg die Forderung stellen, daß die Ar¬
beiter gewissen Verbänden nicht angehören dürfen. Nach unsrer Ansicht sind
beide Forderungen unberechtigt; die Arbeiter können nicht verlangen, daß die
Freiheit der Arbeit beeinträchtigt wird, indem zünftig geschlossene Korpora¬
tionen gebildet werden; die Arbeitgeber dürfen das Koalitionsrecht der Arbeit¬
nehmer nicht in Frage stellen: die Grundlage des durch Vereinbarung und
gegenseitige Zugeständnisse zu schaffenden Zustandes muß die Gleichberechtigung
beider Teile sein. Alle ans lediglich taktischen Gründen geübten Schikanen
erbittern aufs äußerste und erschweren es, den Frieden zu erhalten oder wieder
herzustellen.
Gewiß werden von den Arbeitern häufig Forderungen in Bezug auf ihren
Anteil am Ertrage gestellt, die nicht erfüllt werden können, auf die wenigstens
zur Zeit nicht eingegangen werden kann. Es ist ein verhängnisvoller Irrtum,
wenn manche Arbeiter glauben, daß es nnr auf den guten Willen der Unter¬
nehmer oder des Staates ankomme, um ihnen höhere Löhne zukommen zu
lassen. Je höher die Kosten eines Produktes oder Fabrikates sind, desto
höher muß auch der Preis gestellt werdeu. Der zu erlangende Preis aber
wird nicht von dem Unternehmer festgesetzt, sondern er ist abhängig von dem
Angebot und der Nachfrage. Die Nachfrage aber bestimmt sich durch mancherlei
Umstände, insbesondre durch die innerhalb des Landes vorhaudne Kaufkraft und
ist davou abhängig, ob die Ware auch an auswärtige Konsumenten abgesetzt
werden kann, ob sie also Fracht und Zoll tragen kann. Die Erzeugung der
Ware wird aufgegeben, wenn der Unternehmer seine Rechnung nicht mehr
findet; er steht mit seiner Verantwortlichkeit zwischen den Kosten und Ans-
lagen einerseits und dem schließlichen Ergebnis der Produktion andrerseits;
die Differenz ist der Unternehmergewinn, der ihn veranlaßt hat, das Geschäft
zu gründen. Entspricht diese Differenz nicht mehr berechtigten Erwartungen,
weil die Kosten zu hoch, die schließlichen Erträge zu niedrig sind, so hört das
Unternehmen auf. Bei dem Versuch, es aufrecht zu erhalten, kann der Unter¬
nehmer im wesentliche» nur auf die Kosten einwirken, und da zu diesen die
Löhne gehören, so wird sein Bestreben immer darauf gerichtet sein, die Löhne
herabzusetzen. Und hier ist denn der Punkt, wo die Interessen der Ar¬
beitskraft und des Kapitals feindlich auf einander treffen. Ist aber unsre
Annahme richtig, daß der Unternehmer auf den zu erlangenden Preis der
Ware wenig oder keinen Einfluß habe, so ist es auch unwiderleglich, daß so,
wie die Verhältnisse gegenwärtig sind, von einer beliebigen Erhöhung der
Löhne keine Rede sein kann. Wenn in einer Stadt einige Baulust herrscht,
so werden die Bauhandwerker unter Umständen eine Verbesserung ihrer Löhne
erreichen können. Die Baulust gründet sich darauf, daß Wohnungen gesucht
werden. Die höhern Löhne verteuern selbstverständlich den Bau; der Unter¬
nehmer wird dem Bauherrn die gelieferte Arbeit teurer anrechnen müssen, und
der Bauherr wird sich durch höhere Miete zu entschädigen haben. Ist der
Zuzug von Wvhnungsuchenden stark genug, sodaß die Hauseigentümer die
höhere Miete erlangen können, so geht die Sache einstweilen. Ist aber das
Gegenteil der Fall, so finden die Bauunternehmer nicht mehr ihre Rechnung,
sie stellen das Banen ein, und Maurer und Zimmerleute bleiben ohne Be¬
schäftigung, werden sich also, wenn nicht an andern Orten noch unterzukommen
ist, entschließen müssen, ihre Arbeit wieder zu niedrigeren Lohne anzubieten.
Ganz ähnlich steht es z. B. bei dem Betrieb der Kohlenzechen. Jede
Lohnerhöhung werden die Besitzer durch höhere Kohlenpreise auszugleichen
bemüht sein. Diese Erhöhung wird allen Konsumenten fühlbar. In den Haus¬
ständen wird man möglichste Sparsamkeit walten lassen, um durch geringern
Verbrauch den höhern Preis auszugleichen. Alle Dampfbetriebe werden mit
höhern Kosten arbeiten und geringern Gewinn abwerfen, wenn ihnen nicht die
Nachfrage nach ihren Fabrikaten ermöglicht, die Preise zu erhöhen. Aber
diese Preissteigerung hat ziemlich enge Grenzen, teils wegen der Konkurrenz,
teils weil jede Preissteigerung die Nachfrage schwächt, und es wird daher
bald der Punkt erreicht sein, wo die Erhöhung der Löhne der Bergarbeiter
zur Unmöglichkeit wird, weil der Absatz der Kohle ins Stocken gerät, oder bei
mangelndem Unternehmergewinn die Besitzer der Kohlengruben kein Interesse
»lehr an der Fortsetzung des Betriebes haben.
Das ist keinem Zweifel unterworfen, daß die Erhöhung der Löhne und,
was damit gleiche Bedeutung hat, die Verkürzung der Arbeitszeit zunächst auf
Kosten des Unternehmergewinnes erfolgt. Der Kapitalist, der bei einem Unter¬
nehmen beteiligt ist, will Zinsen, womöglich auch Dividende haben, der Unter-
nehmer will Bezahlung seiner Arbeit. Auf Zins und Vergütung für die ge¬
leistete Arbeit kann unter keinen Umstanden (es sei denn für kurze Zeit, um
über eine schwierige Periode hinwegzukommen) verzichtet werden. Das Kapital,
dem die Zinsen ausbleiben, wird zurückgezogen, und ebenso zieht sich der Unter¬
nehmer zurück, dem die Leitung des Geschäftes, der Aufwand seiner Arbeits¬
kraft nicht vergütet wird. Nun aber kann der Unternehmergewinn über diese
zwei Erfordernisse: Verzinsung und Vergütung der aufgewandten Arbeitskraft,
noch weit hinausgehen. Dann wird es sich fragen, ob mit dein Geschäft be¬
deutendes Risiko verbunden ist, und ob nicht in dem über Verzinsung und
Gehalt des Unternehmers hinausgehenden Ertrage eine Versicherungsprämie
steckt, die aufgespart werden muß, um etwa eintretende Verluste zu decke».
Wenn dann nach Berücksichtigung aller dieser Erfordernisse noch etwas übrig
bleibt, dann kann erst in Frage kommen, wem nach Recht und Billigkeit dieses
Etwas gebührt.
Bei unsrer jetzigen Produktionsweise, wobei der Arbeiter mit Lohn ab¬
gefunden wird, bleibt aber der Gewinn in den Händen der Unternehmer und
Kapitalisten. Die günstige Konjunktur kommt ihnen allein zu gute. Nun
glaube» viele, die Sache einfach damit abmachen zu können, daß sie darauf
verweisen, daß auch die ungünstige Konjunktur, das Risiko, von den Arbeitern
nicht mit getragen werde, auch nicht getragen werden könne. Allein es giebt
sehr viele Unternehmungen, bei denen von Risiko kaum die Rede sein kauu.
Es kann ferner auch das wirklich vorhandene Risiko durch einen Zuschlag zu
den dem Kapital zufließenden Zinsen gedeckt werden. Die ungeheuern Ver¬
mögen, die durch industrielle und kaufmännische Unternehmungen gewonnen
werden, liefern den Beweis, daß die Aussichten auf Gewinn weit günstiger
sind, als die auf Verlust, und wenn das richtig ist, da»» ist die Überweisung
des ganzen Übergewinns an den Unternehmer nicht mehr darauf zu begründen,
daß der Unternehmer anch den etwaigen Verlust zu tragen habe. Daß im
Durchschnitt die geschäftlichen Unternehmungen nicht mit Schaden arbeiten,
erkennt man leicht aus dem erstaunlichen Reichtum, der sich beispielsweise in
Hamburg und Berlin angehäuft hat.
Wenn nun die Arbeiter sehen, daß in den Unternehmungen, in denen sie
beschäftigt sind, große Gewinne erübrigt werden, so ist es sehr begreiflich, daß
sie sich die Frage vorlegen, ob sie mit dem Lohne, der ihnen zu teil wird,
den richtigen und gerechten Anteil an dem Ergebnis der Produktion, das auf
dem Zusammenwirken von Arbeitskraft und Kapital beruht, erhalten. Die
bisherige Auffassung, daß die Arbeit eine Ware sei, die sich kaufen läßt, und
deren Preis wie der aller andern Waren sich durch Angebot und Nachfrage
bestimmt, will nicht mehr recht vorhalten; es ist in den Massen das Gefühl,
die Überzeugung davon wach geworden, daß die Arbeit ein Ausfluß, eine
Lebensäußerung der Persönlichkeit ist, die mit dieser in allerengstcr Beziehung
steht und sich ebenso wenig gegen Geld verkaufen läßt, als die Person selbst;
daß aber, wenn man Arbeitskraft kaufen kann, zeitweilig eine Abhängigkeit
der Person entsteht, die mit der Freiheit und Gleichberechtigung der Staats¬
bürger in Widerspruch gerät. Darin liegt der Kern der sozialen Frage, daß
das bis jetzt geltende Lvhnshstem durch ein andres ersetzt werden muß.
Und wird es nicht allmählich klar und immer klarer, daß wir mit dem
Lohngesetz Bankrott zu macheu im Begriffe stehen? Die Not um Arbeiter auf
dem Lande wächst von Tag zu Tage; in den Städten wird es immer schwerer,
Dienstboten zu bekommen, und in den Vangewerbeu und bei den Fabrik- und
Bergwerksuuternehmungcn ist immer die Gefahr vorhanden, daß durch Streiks
der Betrieb zum Stillstand gebracht wird. Und abgesehen davon wird überall
über die Lässigkeit und Widerwilligkeit der Arbeiter geklagt, auf ihren guten
Willen ist nicht mehr zu rechnen.
Das Wohlwollen der Arbeitgeber vermag hiergegen wenig auszurichten,
wenn auch da, wo die Arbeiter dieses Wohlwollen wahrnehmen und wo
Wohlfahrtseinrichtungen Zeugnis davon geben, die Gefahr ernster Störungen
und Zerwürfnisse geringer ist. Denn dieselbe innere Strömung steckt doch in allen
Arbeitnehmern, sie haben das Gefühl, politisch frei zu sein, und wollen daher
für sich, nicht mehr für andre arbeiten. Das patriarchalische Verhältnis ist
abgethan, es gehört der Vergangenheit an. Die ganze Arbeiterwelt verlangt
nach Recht und verwirft Äußerungen des Wohlwollens; in Rechtsverhältnisse
gehört das Wohlwollen nicht hinein, während es in andern Verhältnissen,
die mehr auf sittlicher Grundlage beruhen, am Platze sein kann.
In dem Lvhnverhältuis ist noch ein Zug früherer Unfreiheit stecken ge¬
blieben. Wie der Sklave seine Arbeitskraft ganz zur Verfügung des Herrn
zu stellen hat, nicht für sich, seinen Borten, seine Zwecke arbeiten kann, so
arbeitet auch der Arbeiter gegen Lohn nicht für sich, sondern für den Arbeit¬
geber. Dabei entsteht nun der Konflikt, daß ihm die Pflicht auferlegt, ein
angemessenes Maß der Arbeit für den -zu erwartenden Lohn zu geben, während
der in jedem Menschen steckende Egoismus oder Selbsterhaltungstrieb ihn an¬
treibt, seine Kräfte zu schone». Auch das äußerste Aufgebot der Kraft stellt
ihm nicht den mindesten Vorteil in Aussicht, denn der Lohn ist vorher be¬
dungen. Der größte Erfolg des Geschäftes giebt ihm kein Anrecht auf einen
noch so kleinen Anteil an dem Ergebnis. Es liegt in der Natur der Sache,
daß das Gedeihen des Geschäftes dein Arbeiter völlig gleichgültig ist, und daß
er so wenig Kraft, als irgend zulässig, aufbietet. Höchstens geht sein Interesse
soweit, daß er die Fortdauer des Geschäftes wünscht, und daß er vermeidet,
wegen mangelhafter Leistung entlassen zu werden.
Erwägungen solcher Art haben dahin geführt, Produktivgenossenschaften
der Arbeiter zu bilden. In ihnen würden die Arbeiter allerdings für sich
selbst arbeite«, aber es haften ihnen Übelstände an, die nicht haben über-
wunden werden können. Der Zusanunenschluß der Arbeitskräfte genügt nicht,
um Kapital und die zur Leitung solcher Unternehmungen erforderlichen Kennt¬
nisse und Kräfte zu schaffen, und da Leitung und Geldmittel zu aller Pro¬
duktion ebenso unentbehrlich sind, wie Arbeitskraft, so haben die Produktiv-
genossenschaften bis jetzt keine Erfolge zu verzeichnen.
Andrerseits haben sich Vereine und Verbände genug gebildet, die den
Zwecken der Arbeiter oder der Unternehmer dienen sollen. Die Kräfte werden
vereinigt und zusammengezogen, aber leider! zum Kampf und zum Kriege,
nicht zu gemeinschaftlichem friedlichen Wirken. Die Arbeitgeber bilden Ver¬
bände, um dem Andrängen der Arbeiter und deren Forderungen besser wider¬
stehen zu können. Die Arbeiter vereinigen sich, um mit vereinten Kräften
ihre Forderungen durchzusetzen, sich gegenseitig bei Streiks zu unterstützen,
alle Berufsgenossen an sich heranzuziehen, den Arbeitgebern allen Zuzug ab¬
zuschneiden — lauter taktische Maßregeln, die das Endziel haben, die stärkere
Teilnahme der Arbeitenden an dem Ertrage des Unternehmens zu erreichen.
Der Erfolg dieser Bestrebungen ans beiden Seiten ist: Unsicherheit der Pro¬
duktion nach allen Richtungen hiu, die Gefahr, daß einmal unentbehrliche
Güter ganz fehlen werden, die Schwierigkeit, kontraktliche Verpflichtungen zu
übernehmen, endlich Verhetzung und Erbitterung zwischen den verschiednen
Kreisen der bürgerlichen Gesellschaft, selbst bis zu der Möglichkeit gewaltsamer
Ausbrüche.
Sollte sich nun ans Grund der in: Vorstehenden enthaltenen Ausführungen
kein Weg finden lassen, die Gegensätze zu vereinigen und Frieden und
Einigkeit an die Stelle des Unfriedens und des Klassenkampfes zu setzen?
Sollte man nicht den Arbeitnehmern Einräumungen machen können, die das
Mögliche und Erreichbare gewähren, ohne die Interessen der Arbeitgeber auf
bedenkliche Weise zu verletzen? Sollte es nicht gelingen, das Los der Arbeiter
gründlich zu verbessern, ohne die Ideale eines Bellamy ins Auge zu fassen
oder sozialdemokratischen Utopien nachzujagen? den Gegensatz zwischen So¬
zialismus und Individualismus zu vermitteln, ohne die heutige Gesellschafts¬
ordnung über den Haufen zu werfen?
Wir leben der Überzeugung, daß in der genossenschaftlichen Vereinigung
von Kapitalisten und Unternehmern mit der Arbeitskraft das richtige Mittel
gefunden werden könne.
MM
^MMcum es sich um den Einfluß der Reformation auf die politische
Befreiung der Völker handelt, so Pflegt man allerdings nicht
ans Luthertum, sondern an die Konfession der Reformirten und
hauptsächlich an den Calvinismus zu denken. Sonderbar, Luther,
dessen ganzes Wesen heitere Freiheit atmet, soll die politische
Knechtschaft, und der finstere, despotische Calvin soll die politische Freiheit
gebracht haben! Des Rätsels Lösung liegt darin, daß in beiden Fällen die
Wirkung weniger aus der Glaubenslehre als aus den Verhältnissen der Länder
und Völker hervorging, in denen sie zur Herrschaft gelangte. Können wir
demnach auch dem Calvinismus einen Ruhm nicht ungeschmälert zugestehen,
den seine Verehrer für ihn beanspruchen, so sind wir doch keineswegs gewillt,
seine wirklichen Verdienste zu verkleinern. Namentlich leugnen wir nicht seine
großen Verdienste um Wiederherstellung einer bessern Sittenzncht und den
vortrefflichen reinen, klaren und starkmütigcn Geist, der in einzelnen calvinischen
Familien und in ganzen Gemeinden bis auf den heutigen Tag waltet. Ja
nachdem sich die ursprüngliche Härte zum sittliche:? Ernst gemildert hat, nach¬
dem auch die Calvinisten aus dein engen Zirkel ihres Dogmas und ihres
alttestamentlichen Vorstellungskreises heraus und unbefangen mit allen Rich¬
tungen der Zeit in Verbindung getreten sind, nachdem sie notgedrungen ge¬
lernt haben, sich mit Andersgläubigen zu vertragen, finden wir unter ihnen
selbst so liebenswürdige Erscheinungen, wie den Grafen Agsnvr de Gasparin
und sein Buch über die Gleichheit (I/I^Alto, Paris, Michel Leps, 1869).
Als seinen echten Jünger würde Calvin diesen demokratischen Grafen kaum
anerkennen, denn nicht auf den unerbittlichen ewigen Ratschluß Gottes, sondern
auf den freien Willen des Menschen sührt Gasparin die furchtbarste und un¬
überwindlichste Ungleichheit, die der Guten und Bösen zurück. Doch ist diese
Abklärung in einzelnen idealen Gestalten nicht dein Calvinismus allein eigen.
Wer würde nicht Lutheraner wie den edeln Spener und den Grafen Zinzen-
dorf lieben, oder wie mau sie in den norddeutschen Pastorenfamilien und in
vielen adlichen und Bürgerhäusern antrifft, wer nicht Katholiken, wie sie
Goethe im Kreise der Fürstin Galitzin fand? Damit wollen wir keineswegs
das Sprüchlein empfohlen haben: „Christ, Jude, Türk und Hottentott, wir
glauben all an einen Gott." Vielmehr besteht das Anziehende solcher Ideal-
gestalten gerade in der eigentümlichen Färbung, die sie von ihrer Konfession
empfangen. Wir wollen nur sagen, daß der edle Kern jeder Konfession erst
nach Abschwächung ihrer im Streit mit den andern übertrieben hervorgekehrten
Eigentümlichkeiten und nur in" einzelnen ihrer Vertreter ungetrübt zur Er¬
scheinung kommt.
In dem Schlamm und dem Gewirr der politischen Parteikämpfe ist der
Zustand der Ungetrübtheit von vornherein ausgeschlossen. Wir können uns die
Untersuchung der politischen Wirkungen des Calvinismus bequem macheu,
indem wir uns an den schon erwähnten Essay Treitschkes über die Republik
der vereinigten Niederlande anlehnen. Treitschke hat darin schon alles gesagt,
was wir zu sagen haben, nur daß er gerade das, worauf es uns ankommt,
mit seiner feurigen Beredsamkeit sich selbst und seinen Lesern auszureden sucht.
Welche beiden ealvinistischen Lehren es waren, die dem Freiheitskämpfe der
Niederländer und ihrem Streben uach Machterweiterung zu Hilfe kamen, dürfen
wir wohl als bekannt voraussetzen. Die eine war die alttestamentliche, daß
dem Volke das Recht der Empörung gegen einen „gottlosen" König zustehe.
„Die unsittliche Lehre vom leidenden Gehorsam — sagt Treitschke — sog
den: Lutheraner das Mark des Willens aus den Knochen." Wie unbarmherzig
hat Maeaulah um dieser Lehre willen die englische Staatskirche verspottet, die
dieses lutherische Element mit dem calvinischen Dogma und einer katholischen
Kirchenverfassung und Liturgie zu einem wenig harmonischen, aber für den
Adel des Landes sehr vorteilhaften Ganzen zu verschmelzen gewußt hat!
Über die calvinistische Ansicht sagt Treitschke: „In dem gereinigten Glanben
lag schon der Keim einer neuen menschlichem Staatslehre. Gott hat einen
Bund geschlossen mit seinem gläubigen Volke; das Volk unterwirft sich dem
Fürsten, solange er selber diesem Bunde, dem Gesetze, treu bleibt — mit solchen
Sätzen begründeten die politischen Denker der Hugenotten das Recht des
Widerstandes." Und da jeder Einzelne den Geist Gottes zu haben glaubte,
so ward jeder gemeine Mann und vollends jeder Prediger zum Propheten,
der, ein andrer Samuel, dem Saul seineu Bundbruch vorhielt und den Ver¬
trag kündigte. Daß aber diese alttestamentlichen Gläubigen einen Papisten,
der ja in ihren Augen ein Götzendiener war, nicht als König anerkennen
konnten, verstand sich für sie von selbst.
Wer nun meint, daß bis dahin in Europa die absolute Monarchie ge¬
herrscht und im Staate kein andres Recht als das unumschränkte Königsrecht
gegolten habe, der muß allerdings die Calvinisten für die Schöpfer nicht allein
der republikanischen Freiheit, sondern anch der konstitutionellen Monarchie an-
sehen, in der die revolutionäre und anfänglich in Phantastische, dem Alten
Testament entlehnte Redensarten gekleidete Staatsrechtslehre der Calvinisten,
Hugenotten und Puritaner zuguderletzt ihre bleibende Verkörperung gefunden
hat. Aber so liegt die Sache uicht. Vielmehr war die Lehre von der Ver¬
tragsnatur des Staates das Alte und der Absolutismus das Neue. Auch der
entschiedne Protestant Wenzelburger hebt in seiner Geschichte der Niederlande
sehr nachdrücklich hervor, daß man bis ins sechzehnte Jahrhundert hinein
in Europa kein unumschränktes Monarchenrecht gekannt, sondern es für ganz
selbstverständlich gehalten habe, daß das Volk dein Fürsten von dem Augenblick
an nicht mehr zu gehorchen brauche, wo dieser den bei seiner Thronbesteigung
eingegangenen Vertrag nicht mehr hält. Ein solcher Vertrag wurde meistens
nicht nur stillschweigend, sondern in aller Form abgeschlossen, indem der Fürst
eine Wahlkapitnlation zu unterschreiben oder zu geloben hatte, daß er die
Rechte des Volkes oder der Stände aufrecht erhalten wolle. Eben dieses war
den Niederländern ja der Anlaß zum Abfall gewesen, daß ihrer Ansicht nach
Philipp II. den Vertrag gebrochen hatte. Nicht die Prvtestantenverfolgnngen,
auch das weist Wenzelburger nach, sondern die Eingriffe des Königs in die
Rechte, namentlich in die Steuervorrechte der Provinzen hatten das Volk zum
Aufruhr getrieben; die Glaubensgerichte spielten dabei nur insofern eine Rolle,
als die Einrichtung der Inquisition eben selbst ein unberechtigter Eingriff in
die Selbstverwaltung der Provinzen war. Nicht sowohl um den Gegensatz
zwischen Protestantismus und Katholizismus also handelte es sich in diesem
großen Befreiungskampfe, als um den zwischen dem alten Ständestaat und dem
neuen nach unumschränkter Gewalt strebenden Königtum. Der Protestant
Jakob II., die lutherischen Fürsten Deutschlands, die skandinavischen Könige, sie
standen ganz und gar auf demselben Boden und verfuhren nach denselben Grund¬
sätzen wie Philipp II., Ferdinand II. und der Kardinal Richelieu. Das An¬
sehen eines Kampfes zwischen Protestantismus und Katholizismus gewann der
Unabhängigkeitskrieg erst, als in seinem weitern Verlaufe die nördlichen, dem
Protestantismus zuneigenden Provinzen die Führung in die Hand bekamen.
Dieses protestantische Gepräge hat dem neuen Staate bekanntlich seine südlichen
Provinzen gekostet, die nur darum mit den Spaniern Frieden schlossen, weil
sie den Protestantismus nicht annehmen mochten.
Um die Lage ganz zu durchschauen, muß man das Verhältnis der Stärke
der Konfessionen kennen. Der Protestantismus und gar erst der reine strenge
Calvinismus überwog nicht einmal in den nachher sogenannten Vereinigten
Staaten, in der nördlichen Hälfte der Niederlande. Treitschke umgeht die für
seinen Standpunkt heikle Frage, indem er nur sagt, daß durch die rührige
Arbeit der Theologen (nach Ausbruch des Aufruhrs!) „die ungeheure Mehr¬
heit des Volkes von Holland und Zeeland gänzlich dem Protestantismus ge¬
wonnen worden" sei. Aber nicht einmal für die genannten zwei Provinzen
trifft der Ausdruck ungeheure Mehrheit zu; es schien nur so, weil der calvi-
nische Teil des Volkes überall der thatkräftigere und zugleich unduldsamere
war, die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten an sich riß und sich die
Mehrheit unterwarf. Wenzelburger berichtet darüber (Band II, S. 807 ff.),
Wilhelm von Oranien habe solange auf Gleichberechtigung der beiden Kulte
und auf vollständige Gewissens- und Religionsfreiheit gedrungen, als noch
die gegründete Aussicht bestand, sämtliche siebzehn Provinzen zu einem un¬
abhängigen Gemeinwesen zu vereinigen. Nachdem aber die Katholiken der
Sttdprovinzen, erbittert durch die Mißhandlungen, denen sie sich ausgesetzt
sahen, ihre Sympathien für Spanien unzweideutig kundgegeben hätten, habe
er seinen Widerstand gegen die ealvinistischen Forderungen aufgegeben. So sei
deun im Jahre 1573 zum erstenmale die öffentliche Ausübung der katholischen
Religion verboten worden. Holland und Zeeland gingen voran, die andern
Provinzen folgten nach. „Johann von Nassau reformirte mit Hilfe seiner
Truppen Gelderland und Overyssel, in Friesland und Groningen that später
Wilhelm Ludwig dasselbe. Den Katholiken in Groningen wurden kurzweg
die Kirchen weggenommen und den Protestanten übergeben, dasselbe war in
Nymwegen geschehen, als sich die Stadt 1591 an Moritz übergeben hatte.
Auf dein platten Lande wurden die Geistlichen eingeladen, sich von der Wahr¬
heit der neuen Lehre zu überzeugen und dann als Prädikanten an der Spitze
ihrer Gemeinden zu bleiben oder im Weigerungsfalle ihre Stellen niederzu¬
legen. Aber trotz aller Gewaltmaßregeln war es doch nicht gelungen, den
Katholizismus so vollständig zu vertilge«, wie es in, katholischen Ländern mit
dein Protestantismus geschehen war.. IDer verschiedne Erfolg erklärt sich leicht
genug; in dem einen Falle wurde eine neue, unbefestigte, in den Glaubens-
meinungen vielfach gespaltne Minderheit von der befestigten alten in sich
einigen Mehrheit ausgerottet, im andern Falle machte die neue Minderheit
den Versuch, der nur durch ein Wunder hätte gelingen können, die alte, be¬
festigte Mehrheit auszurotten.^ Zur Zeit Oldenbarnevelts bilden die Katho¬
liken nach seiner Behauptung noch die Mehrheit, und zwar nicht nur in
Gelderland, Friesland, Overyssel, Groningen und Utrecht, sondern selbst in
Holland, wo in einer Konferenz von Prädikauteu und Deputirten im Jahre 1587
konstatirt wurde, daß nicht der zehnte Teil der Einwohner der Provinz refor-
mirt sei, und später, 1K18, gab Oldenbarnevelt dem englischen Gesandten
Carleton die Versicherung, daß die Papisten noch immer den reichsten und
angesehensten Teil der Bevölkerung bildeten, und daß die Protestanten nicht
den dritten Teil der Bewohner ausmachten." Daß sich eine so große Mehr¬
heit einfach unterdrücken ließ, würde unglaublich erscheinen, wenn man nicht
wüßte, in einer wie schwierigen Lage sie sich befand. Bei einer großen, von
Ideen getragnen Umwälzung fallen natürlicherweise die begabteren Geister,
die unruhigeren und thatkräftigeren Köpfe der Partei der Neuerer zu. So
geriet denn, sobald die Protestanten Luft bekamen, die politische Führung
überall in ihre Hände, wo sie es nur zu einer irgend beträchtlichen Zahl
brachten, und noch dazu hatten sie das unschätzbare Glück, in den Orcmiern
Staatsmänner und Feldherren ersten Ranges zu gewinnen, die ihrer Religion
angehörten. Den Katholiken blieb unter diesen Umständen nur die Wahl, ob
sie sich dem Willen der führenden Minderheit fügen oder die Sache der Un¬
abhängigkeit im Stich lassen und sich den Spaniern unterwerfen wollten.
Daß die Katholiken der sieben nördlichen Staaten, abweichend von ihren
Glaubensgenossen in den wallonischen und den flandrischen Provinzen, das
zweite Übel für das größere ansahen, läßt sich wohl aus der nüchternen Natur
des Stammes erklären, derzufolge bei ihnen die Anhänglichkeit an den katho¬
lischen Gottesdienst weniger lebhaft sein mochte. Vielleicht auch gab der Um¬
stand den Ausschlag, daß die materiellen Interessen des neuen Staates je-
länger desto mehr in Gegensatz traten nicht nlleiu zu den Interessen Spaniens,
sondern auch des unter seinen Szepter zurückkehrenden Flanderns.
Wir sind weit entfernt davon, den holländischen Calvinisten aus ihrer
Rücksichtslosigkeit einen Vorwurf machen zu wollen. Einer Kirche gegenüber,
die Scheiterhaufen und Folter als unentbehrliche Heilsmittel handhabte, wäre
zarte Rücksicht übel angebracht gewesen. Die holländischen Calvinisten übten
nur Wiedervergeltung und wehrten sich ihrer Haut; in so gewaltthätiger Zeit ist
der Angriff die einzig mögliche Form der Verteidigung; und außerdem waren
sie Vollstrecker eines Gottesgerichtes. Aber wenn die Duldung, die sie dem
Privatgottesdienste der Katholiken gewährten, sogar von Wenzelburger als
Ausfluß des freieren Geistes des Calvinismus gepriesen wird, so vergißt er
doch allzuschnell, was er selbst darüber gesagt hat. Der Calvinismus an sich
kennt nur die starre Unduldsamkeit; er ist so wenig gesonnen, „Amalek" und
sonstiges Heidenvolk zu verschonen, wie es die grimmen Leviten des Alten
Testamentes waren, die er sich zum Vorbild erwühlt hatte. Aber es wäre
geradezu Wahnsinn gewesen, über das Verbot des öffentlichen Gottesdienstes
hinauszugehen und mitten im Kriege mit einer katholischen Macht durch Ein¬
dringen in die Häuser, durch Unterdrückung des katholischen Privatgottesdienstes
und des privaten Meinungsaustausches die katholische Mehrheit zur Verzweif¬
lung zu treiben.
Daß es eine protestantische oder wenigstens eine von Protestanten ge¬
führte Bevölkerung war, der die Verteidigung der alten Volksfreiheit gegen
die neue Fürsteiltyrannei zufiel, und daß dieser Fürst Katholik war, erscheint
zwar, wenn man nur auf die Personen sieht, als Zufall, im Zusammenhange
der Weltbegebenheiten jedoch allerdings als höhere Fügung. Denn nicht allein
die leidenschaftliche Schwärmerei der Calvinisten sür alttestamentliche Vorbilder
war es, was ihnen in diesem Kampfe die Energie des Fanatismus einflößte,
sondern gerade und vor allem auch ihr Grunddogma: die Prädestination.
,,Die furchtbare Lehre von der Vorherbestimmung — schreibt Treitschke — unter¬
scheidet nicht Hoch und Niedrig, nicht die Starken und die Schwachen im Geist.
Wer auserwählt ist durch Gottes Gnade, schreitet sicher dnrch das Leben wie
ein Gaul, dem die Augen geblendet sind, denn »welche der Herr berufen hat,
die hat er auch gerecht gemacht.« Dieses Glaubens voll hatten die Bürger
von Haarlem und von Leyden auf ihren Wällen gefochten. Er empfing auf
niederländischen Boden durch die Dvrdrechter Synode seine feste dogmatische
Gestaltung, er bewahrte unleugbar am treuesten die ursprünglichen Gedanken
der Reformation — jene erhabnen Lehren des Augustin, von denen einst Luther
ausging — und durchdrang hier das gesamte Volksleben so übermächtig, daß
mich die Katholiken sich ihm nicht entziehen konnten, auch Jansenius und die
Utrechter „altrömische" Gemeinde an augustinischen Ideen sich begeisterten.
Jener alttestamentarische Zug, der überall den strengen Calvinismus bezeichnet,
war den gottseliger Domines der niederländischen Gomaristen so scharf auf¬
geprägt, daß sie oft von der Kanzel herab die Holländer als den neuen Stamm
Juda, die Kinder Abrahams als die nächsten Glaubensverwandten der recht¬
gläubigen Protestanten Priesen. Solche Gefühle erwidernd hielt die Juden¬
schaft Mann für Mann zu der oranischen Partei." Diese war es nämlich,
die, gestützt auf das fanatisirte gemeine Volk, die Lehre von der Vorherbestim¬
mung in ihrer ganzen Härte aufrecht erhielt, während die Staatenpartei, die
dem monarchischen Zuge der Oranier widerstrebte und die Selbständigkeit der
Provinzen aufrecht erhalten wollte, aus aufgeklärten duldsamer Aristokraten
bestand, die der mildern Lehre des Armiuius zuneigten. Bekanntlich hat der
ausgezeichnete Staatsmann Oldenbarnevelt, obwohl seine unsterblichen Verdienste
um die Republik von niemand bestritten werden konnten, seine tolerante
Gesinnung und seinen Kampf für die Selbständigkeit der Staaten ans dem
Blutgerüste gebüßt.
Wie sehr mußte ein Völkchen, das mit der Zweifellvsigkeit eines blinden
Gauls — wir dürfen auch sagen eines wütenden Stiers — gerade auf sein
Ziel losging, an Thatkraft jenem Philipp II. überlegen sein, den Wenzelburger
ganz richtig als einen gewissenhaften, pedantischen Narren schildert, und der
auch bei den dringendsten Angelegenheiten Wochen brauchte, um einen Ent¬
schluß zu fassen! Besonders, da die nimmer wankende Selbstgewißheit und
Unbeugsamkeit des Willens von einem diplomatischen Verstände unterstützt
wurde, der in Europa nicht seinesgleichen hatte und erst später in Richelieu
einen ebenbürtigen Nebenbuhler fand. Wo jenem mit der göttlichen Allmacht
sich eins wissenden Willen der kluge Berater bei der Auswahl der Mittel
fehlte, da führte auch das enlvinische Gottvertrauen nicht immer zu einem
guten Eude. Aus der cnlvinischen Lehre schöpfte Elisabeth, die Tochter
Jakobs II-, die Zuversicht, mit der sie ihren leichtfertige» Gemahl, den Kur¬
fürsten Friedrich vou der Pfalz, in seinem überkühnen Vorhaben bestärkte:
Weil Gott alles dirigire, so antwortete sie ihm, und sonder Zweifel auch
dieses also geschickt habe, so stelle sie ihm anheim, ob er die Krone anzu¬
nehmen ratsam befinde, ans welchen Fall sie dann bereit sei, dem göttlichen
Rufe zu folgen und dabei zu leiden, was Gott verordnen werde, ja auch auf
den Notfall ihre Kleinodien und was sie sonsten in der Welt habe, „aufzu¬
setzen." Das Leiden kannte sie freilich bloß vom Hörensagen; zunächst gedachte
sie in Prag noch lustiger zu leben, als wie sie in Heidelberg gelebt hatte.
Man weiß, wie kläglich das stolze Bewußtsein, von Gott berufen zu sein,
in diesem Falle zu Schanden wurde, wo großes unternommen ward mit un¬
zulänglichen und namentlich mit unzulänglichen sittlichen Kräften. Wir stimmen
deshalb auch Treitschke nicht bei, wenn er die volle Schale seines Zornes
nusgießt über die faulen und feigen lutherischen Fürsten, die, anstatt sich der
kühnen calvinischen Aktionspartci anzuschließen, ruhig daheim geblieben wären,
und von denen einige sogar das Haus Habsburg unterstützt Hütten. Wir
wollen auf die staatsrechtliche Seite der Sache und auf das Gewissen weiter
kein Gewicht legen; erleuchteten und vorurteilsloser Männern mag es ja als
eine große Dummheit erscheinen, daß es der Kurfürst von Sachsen für eine
Sünde hielt, sich mit Ausländern gegen Ferdinand zu Verbunden, der soeben
einstimmig — sogar Friedrich von der Pfalz hatte ihm merkwürdigerweise
seiue Stimme gegeben — zum Kaiser erwühlt worden war; das Wort „reichs¬
treu" bedeutet eben verschiednen Leuten verschiednes. Aber bei der Abwägung
der Streitkräfte und der moralischen Kräfte haben sich die vorsichtigen und
frommen Lutheraner ganz und gar nicht dumm bewiesen. Sie haben voll¬
kommen richtig vorausgesehen und — wie mehrere Urkunden beweisen —
vorausgesagt, daß, wenn man nach der Absicht der Calvinisten geradezu auf
die Vernichtung des Hauses Habsburg ausgehe, dieses Haus sich zu einem
Verzweiflungskampf um seine Existenz aufraffen und alle seine bisher unbenutzt
liegende« Hilfsmittel zusammenraffen werde, wo es dann den Evangelischen,
selbst wenn sie sich alle verbündeten, übel ergehen könne. Besonders inter¬
essant ist das Gutachten eines „vornehmen Korrespondenzrates," d. h. eines
Rates eines der Mitglieder der calvinistischen Union, über das Bündnis mit
den Generalstaaten vom Jahre 1L14. (Aus der „Holländischen Vundtsver-
wcmdtnus," einer im Jahre 1624 gedruckten Urkuudeusammlung, mitgeteilt
vou Ouro Klopp in seiner Geschichte des dreißigjährigen Krieges.) Dieser
Korrespondenzrat warnt ganz entschieden vor einem zu engen Anschluß an die
Generalstaaten. Deren Hilfe und der Schrecke« ihres Namens seien ja gegen
die Papisten ganz gut zu gebrauchen, aber ins Reich herein dürfe man sie
auf keinen Fall lassen. Denn was sie einmal in den Händen hätten, das
ließen sie um keinen Preis wieder fahren, und gelänge es ihnen, sich katho¬
lischer Gebiete in Deutschland zu bemächtige«, so würden sie deren Hilfsmittel
dann zur Unterjochung der Evangelische« benützen. Sodann duldeten sie
überall, wo sie herrschten, keine andre Staatsverfassung als die demokratische.
Damit kämen sie den Regungen der hanseatischen Bürgerschaften entgegen, die
ebenfalls eine Universaldemokratie anstrebten. Und gerate die demokratische
Bewegung einmal in Fluß, dann werde sich in Deutschland gewiß auch das
hart bedrängte Landvolk erheben. Wenn die Evangelischen in Deutschland
die Sache nur recht angriffen, so würden sich mit der Zeit wohl noch Mittel
finden, auch ohne Hilfe des Auslands „die Papisten auszureuten." Ein plötz¬
licher Ansturm im Bunde mit den Niederlanden aber sei höchst gefährlich.
„Letzlich stehe ich gar hart an und besorg, daß wir etwa nicht die Rechnung
ohne den Wirt gemacht, daß wir Korrespondirende sso nannten sich bekanntlich
die Mitglieder der Union j vermeinen, die Papisten und Pfaffen zu vertilgen,
und sollte solches uns selbst ebensobald widerfahren. Denn wenn wir die
Ursachen sine, atleotu in Wahrheit erwägen wollen, müssen wir bekennen, daß
das Papsttum und Pfaffentum ältere Stiftungen als unsre Kirchen haben
und lange vor uns gewesen, und daß, wo sie ihre Kräfte konjungiren wollen,
sie uns in allem übertreffen."
Das Ergebnis unsrer Untersuchung ist demnach folgendes. Die nieder¬
ländische Freiheit ist weiter nichts als die ständische Freiheit des Mittelalters,
die mit Erfolg gegen den aufkommenden modernen Großstaat verteidigt wurde.
Indem aber der Großstaat in diesem Falle ein katholischer war, und indem
es Protestanten waren, die fast allein in ganz Europa die alte Freiheit zu
behaupten vermochte», indem endlich ihr eigentümlicher alpinischer Glaube
ihre Widerstandskraft und Angriffslust nicht wenig stärkte, hat dieser Be¬
freiungskampf in den Augen der Beobachter das Gepräge eines Religions¬
krieges angenommen und ist der Calvinismus, dessen Geburtsstätte ja übrigens
ein republikanisches Gemeinwesen war, zu dem Ruhme gelangt, der Schöpfer
der politischen Freiheit geworden zu sein. Um ihm völlig gerecht zu werden,
wollen wir noch hervorheben, daß er mehr demokratischen Zug in die alte
ständische Freiheit brachte, indem beim kirchlichen Umsturz überall bewaffnete
Haufen des gemeinen Volkes die ausschlaggebende Rolle spielten, und der
Glaube oder die Einbildung unmittelbarer göttlicher Erleuchtung und Be¬
rufung gerade in den Ungebildetsten am stärksten wirkte. Natürlich dauerte
das nicht gar lange; schließlich behauptete auch in Holland der Reichtum
wieder sein politisches Vorrecht. Wenn die Generalstaaten schon in-jener
ersten und unduldsamsten Zeit des herrschenden Territorialkirchentums im be¬
scheidnen Maße Duldung übten und Glaubensfreiheit gestatteten, so machten
sie nur, wie wir gesehen haben, aus der Not eine Tugend. Wie wenig die
Duldung im Wesen des Calvinismus liegt, das würde, auch wenn man Calvin
und Beza nicht kannte, schon das Blut Oldenbaruevelts zur Genüge bezeugen.
Ähnlich verhält sichs mit dem beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwünge
der Niederlande. Er beruhte nicht auf der Religion, sondern, wie Wenzel-
burger unbefangen anerkennt, auf derselben Grundteige, auf der in der katho¬
lischen Zeit die flandrischen Städte reich und mächtig geworden waren, nämlich
auf der Freiheit, oder wenn man lieber will, der Anarchie. Diese entfesselte
alle in den findigen Köpfen, in den ehrgeizigen und habsüchtigen Herzen der
kleinen Nation vorhandnen Kräfte und gab ihr ein ungeheures Übergewicht
über die plumpen Großstaaten, deren Kräfte durch das damals aufkommende
Bevormundungssystem gelähmt wurden. Indem nun das bis dahin blühende
Flandern durch die Rückkehr unter die spanische Herrschaft derselben Lähmung
verfiel, blieb der Vorteil der wirtschaftlichen Freiheit den Nordprovinzen allein.
Treitschke freilich möchte auch hier alles aus dem religiösen Gegensatze erklären.
„Die ungeheure Überlegenheit protestantischer Geistesfreiheit — schreibt er —
tritt uns vor die Augen, sobald wir den finstern Druck der venetianischen
Inquisition, den grundsätzlich zu sinnlicher Schlaffheit erzognen Pöbel der
Lagunenstadt neben die kühne Presse, das trotzige Bürgertum des nordischen
Venedig stellen." Um gerecht zu sein, muß man dem aufstrebenden Amsterdam
doch nicht das sinkende, sondern das blühende Venedig gegenüberstellen. Das
wirtschaftliche Übergewicht Hollands hat nicht viel länger als zweihundert
Jahre gedauert, die Blüte des katholischen Flanderns mindestens ebenso lange,
Venedig aber ist beinahe tausend Jahre lang die Königin der Meere gewesen.
Als in Venedig das goldne Buch, das Verzeichnis der herrschenden Familien
geschlossen und die übrige Bürgerschaft ihrer politischen Rechte beraubt wurde,
hatte die Stadt schon fünfhundert Jahre lang geblüht, und die demokratische
Verfassung war durch deu Besitz ganzer Königreiche unmöglich geworden.
Die niederländische Republik ist gar nicht so alt geworden, daß sie vor die
Frage gestellt worden wäre, ob sie um der Volksfreiheit willen ihre Macht
preisgeben oder sich zur Annahme einer aristokratischen oder streng monarchischen
Verfassung bequemen wolle. Ihre Preßfreiheit verdankte sie, wie wiederum
Wenzelburger anerkennt, der Teilung in sieben auf dem Gebiete der Verwal¬
tung von einander unabhängige Miniaturstaaten: was in dem einen verboten
wurde, das ward ein paar Meilen davon im andern gedruckt. Was aber die
venetianische Inquisition anlangt, so vergißt Treitschke, daß eben damals
Venedig in einen erbitterten Kampf mit dem Papste verwickelt, und daß der
Freigeist Paolo Sarpi, dieser leidenschaftliche Gegner der Hierarchie, als
Staatskvnsultor die Seele seiner Regierung war. Der Papst hatte über
Venedig nicht viel mehr Macht als über die Niederlande; es muß also doch
wohl in der Natur des Volkes liegen, daß der Versuch, die Venetianer pro¬
testantisch zu machen, fehlschlug. Im Jahre 1611 berichtete der Hugeuott
Asselineau an Duplessis Momay: „Das Evangelium ist hier zwei Jahre lang
so rein gepredigt worden, wie es an irgend einem Ort zu Anfang hat ge¬
schehen können; allein anstatt die Unwissenden aufzuklüreu, hat es sie in ihrer
Unwissenheit uoch mehr befestigt, weil sie sich nichts anders denken können
als das Gewöhnliche. Die Mehrzahl der klarer blickenden dagegen, indem
sie dem Aberglauben völlig entsagten, sind in reinen Atheismus verfallen.
Der kürzeste Weg, das Evangelium hier zu pflanzen, ist ohne Zweifel der
Krieg, von welcher Seite immer er komme."
Unbeteiligt war bei der Wendung, die von da ab die katholischen Nationen
in wirtschaftlicher Beziehung abwärts, die protestantischen aufwärts führte,
der religiöse Gegensatz keineswegs; aber die Art des Einflusses der Religion
ist für ein echt christliches Gemüt auf dieser Seite uicht minder unerfreulich wie
auf jeuer. In den katholischen Staaten wurde die im römischen Sinne wieder¬
hergestellte Religiosität beim Volke mit den Zwangsmitteln des absoluten
Staates durchgesetzt. Die Gewohnheiten des Fastens, Veichtens, Betens und
vielfacher Andachtsübungen, mit denen es die Masse früher leicht genommen
hatte, wurden vou jetzt ab der Jugend anerzogen, und durch fleißige Unter¬
weisung, die großenteils in den Händen der Jesuiten lag, wurden die Gemüter
in immerwährender Furcht vor der Hölle erhalten und die Blicke bestündig
aufs Jenseits gelenkt. Auch eine strenge Sittenzucht ward eingeführt — die
Praxis, den Geist der Kritik durch Begünstigung der Liederlichkeit zu ersticken,
blieb einer spätern Periode der habsburgischen und bourbonischen Staatskunst
vorbehalten ^; versuchte doch in Baiern die Polizei sogar die „unzüchtigen"
Kniehosen auszurotten. So wurde das Volk bigott, ängstlich, mutlos, feig
und durch die vielen das werktägliche Schaffen unterbrechenden Andachts-
übungen hie und da auch faul, jedenfalls aber zum Konkurrenzkampf unfähig
gemacht.
Fiel das zuletzt erwähnte Hemmnis schon überhaupt bei allen Prote¬
stanten weg, so erwies sich den Calvinisten noch ganz besonders ihr eigentüm¬
licher Glaubenssatz förderlich für den Konkurrenzkampf. Hölle und Teufel
schreckten sie uicht, schüchterten sie nicht ein, weil sie ja beides überwunden
zu haben glaubten und sich mit unerschütterlicher Gewißheit für Auserwühlte
hielten, denen die ewige Seligkeit sicher und durch keine That oder — Schand¬
that zu gefährden sei. Mit einem Wort: sie verzichteten — nach Treitschkes
Darstellung wenigstens — im Erwerbsleben gänzlich auf den hinderlichen Luxus
eines Gewissens. Man lese bei ihm nach, mit welcher von keinem christlichen
oder heidnischen Volke keiner Zeit erreichten Rücksichtslosigkeit, Skrupellosig-
keit und „jesuitischen" Hinterlist sie im Handel, bei der Eroberung, Be¬
herrschung und Ausbeutung ihrer Kolonien verfuhren; welche Gewalt¬
thaten und Ungerechtigkeiten sie verübten, wie sie nie auch nur einen Augenblick
Anstand nahmen, um eines Handelsgewinns willen sogar ihren Glauben zu
verleugnen. ,,Der Handel muß frei sein, überall, bis in die Hölle — so
lautet ein oft wiederholter kaufmüunischer Kernspruch jener Tage —, wenn
Mynheer Sala» gute Rimessen giebt, so soll er pünktlich bedient werden."
Sein Endurteil über die holländische Handelspolitik spricht Treitschke in den
Worten aus: „Für uns die Freiheit, gegen andre das Monopol — das ist
der wahre Sinn jener mit Freiheitsphrasen prunkenden Politik, deren Gleißnerei
uns noch mehr empören würde, wenn nicht, wie die Welt lag, das Monopol
der Holländer unleugbar der gesamten europäischen Gesittung Gewinn ge¬
bracht hätte."
Wir denken nicht daran, behaupten zu wollen, daß die Holländer jener
Zeit gottlose, ruchlose und gewissenlose Leute gewesen wären. Daheim wan¬
delten sie fein christlich und ehrbar; der Ruhm ihrer bis auf den heutigen
Tag vortrefflichen, von Diakonen geleiteten Armenpflege und ihres trauten
Familienlebens, dem das tägliche gemeinsame Gebet nicht sehlt, soll ihnen
nicht bestritten, noch verkümmert werden. Allein das Verdienst dieser Vor¬
züge ist doch nicht allzuhoch, anzuschlagen. Es ist nicht übermäßig schwierig,
die Armen im Lande zu versorgen, wenn man draußen fabelhafte Reichtümer
zusammengerafft hat, und auch die gute bürgerliche und Familienordnung läßt
sich leicht aufrecht erhalten in einem kleinen Lande, dessen jungen Leuten und
unruhigen Köpfen ein zehn- oder zwanzigmal so großes Kolonialreich und das
Weltmeer mit seinen Häfen zum Austoben Raum darbieten.
Übrigens hatte diese Ordnung nichts puritanisches an sich, und das Joch
der Sittenzncht war nicht übermäßig schwer. Calvin dürfte zu dem Lobe,
das Treitschke dem echt reformirten Geiste der Niederländer spendet, den
Kopf schütteln; in deu trinkenden, rauchenden, feilschenden, kartenspielenden,
tanzenden, raufenden, Weiber umarmenden Bauern, Matrosen und Krämern
der niederländischen Maler würde er sein Ideal eines christlichen Volkes
schwerlich wiedererkannt haben. Bei der ungeheuern Menge und großen Über¬
einstimmung der niederländischen Genrebilder ist gar nicht daran zu zweifeln,
daß sie wirklich das Volksleben naturgetreu abspiegeln. Die niederländische
Malerei und demnach auch das Volksleben, das sie widerspiegelt, ist offenbar
weder katholisch noch protestantisch — wo sollte denn in den betrunknen
Bauern Ostades (der freilich von Geburt ein Lübecker war) das Protestantische,
und in denen Teniers das Katholische stecken? — sondern niederländisch; hier
wie dort dasselbe tüchtige, aber auch derbe, rohe und lustige Volk, das sich
vergnügt, wie sich noch heute die Bauern, Handwerksgesellen, Fabrikarbeiter
und Matrosen in katholischen und protestantischen Landen vergnügen, soweit
es ihnen die Polizei gestattet. Wenn die flandrische Schule des Rubens und
van Dyck durch den Katholizismus mit Italien in Verbindung bleibt und den
Schönheitssinn noch pflegt, der selbst die Bauern Teniers mit einem idealisti¬
schen Hauche einigermaßen veredelt, so finden wir darin nichts schlimmes.
Daß die derb realistische und gemütliche Auffassung biblischer Stoffe bei Rem-
brandt und seinen Schülern ihre Bilder fürs Leben wirksamer machen mochte
als der idealisirende Stil, dem die Flandrer ein wenig treu blieben, wollen
wir zugeben. Aber das ändert nichts an der Thatsache, daß die Zahl der
religiösen Bilder sehr viel kleiner ist, als die der übermütigen Genrebilder,
daß demnach, wie wir schließen dürfen, die Religion in diesem lustigen Kriegs¬
und Geschäftsleben nnr eine bescheidne Rolle spielte. Sie erhob die edlern
Gemüter und schützte die Massen vor dem Versinken in grobes Heidentum; das
war ihre Wirkung dort wie in allen christlichen Ländern auch der andern
Konfessionen. Wo, wie in dem Genf Calvins, in dem Schottland des John
Knox und in den Ländern der Habsburger, die Staatsgewalt eine äußerlich
hervortretende Religiosität ganz allgemein beim ganzen Volke erzwang, da
ward entweder sein Lebensmut gebrochen, oder es ward zur Heuchelei erzogen,
oder wo der Druck nur kürzere Zeit dauerte, da schlug nach dessen Aufhören
die Kopfhängerei sofort wieder in Ausgelassenheit um.
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M>cum der Entwurf eines neuen Jagdkodex vorschlüge, gewisse
Gliedmaßen des Rehbocks fortan „Beine" zu nennen, so würde
ein Aufschrei durch die Welt des Sports gehen. So sehr sich
unser Zeitalter daran gewöhnt hat, von radikalen Reform-
Vorschlägen nicht mehr überrascht zu sein, so würde es sich gegen
gewisse Dinge doch unbedingt ablehnend verhalten. Dazu gehört das eben
erwähnte Beispiel, obgleich seine Bedeutung in der That verschwindend klein ist.
Wenigstens kaun man sagen, daß es Reformvorschläge giebt, die größere Be-
deutuug haben; sie unterscheiden sich nur dadurch von dem genannten, daß
ihnen kein weiter verbreitetes, nicht auf den bloßen Fachkreis beschränktes Interesse
innewohnt.
Das Interesse für Seegebräuche beschränkt sich in der That auf den Fach¬
kreis; es ist dies namentlich im deutschen Reiche der Fall, und wenn sich
große Zeitungen mit dem Kapitel der „Nuderkommandos" beschäftigen, so
erachtet das der größere Teil der Leser für eine Abschweifung, der — so
meinen sie — man eigentlich nur in Fachblättern begegnen sollte. Etwas
näher tritt es nur denen, die entweder selbst oder durch die Erfahrungen
Bekannter oder Verwandter mit größer» Seeunfällen in Berührung ge¬
kommen sind.
Dies war beispielsweise der Fall mit jener großen Katastrophe, die mit
der Bezeichnung „Untergang des Großen Kurfürsten" jedem Kinde im deutschen
Reiche bekannt und geläufig ist. Wer sich die Mühe nahm, sich näher dar¬
über zu unterrichten, weiß, was dem Vorgange zu Grunde lag. Das Ruder
des „König Wilhelm" war Steuerbord kommandirt und Backbord gelegt
worden. Ein in rechtem Sinne gegebnes Kommando war im entgegengesetzten
Sinne ausgeführt worden. Ein solcher Umstand genügt zur Herbeiführung
eines Unfalles, und es ist nicht nötig, an dieser Stelle zu erörtern, ob andre
Gründe, die man noch angeführt hat, zutrafen oder nicht.
Auch der Wortlaut der Kommandowvrte an sich spielt hier keine Rolle,
denn ein Mißverständnis kann mit jeder Art von Wortlaut zum Unfall führen.
Dagegen ist es nicht gleichgiltig, ob man die Wahl des Wortlautes so ein¬
richtet, daß sie Mißverständnissen Thür und Thor öffnet.
Nur wenigen Nichtseeleuten ist es bekannt, daß es infolge gewisser Schifss-
einrichtungen Weltgebrauch war und zum größte» Teil noch ist, sür das
Ruderkommando den Ausdruck zu gebrauchen, der das Gegenteil von dein
meinte, was er aussprach. Im Kvmmcmdowvrt bezeichnete man den Griff
des Ruders, die Pinne genannt; wenn man diesen Griff nach Steuerbord,
d. h. rechts drehte, fo brachte das für das Vorderteil des Schiffes eine Rich¬
tung nach Backbord, d. h. links, hervor. Verlangte man also diese Richtung
für das Vorderteil oder den Kopf des Schiffes, so kommandirte man Steuer¬
bord und meinte damit den Griff des Ruders. Dies letztere bewegte sich
dann wie ein Fischschwanz unter im Wasser nach Backbord und brachte
dadurch eine Wendung des Kopfes nach Backbord hervor.
Wollte man das so gegebne Kommando noch mit einem Fingerzeig oder
einer Handbewegung unterstützen, so zeigte man unbeschadet dessen, daß man
dein Rudersmann Steuerbord zurief, mit der Hand nach Backbord, d. h.
nach der Richtung, wohin sich das Schiff drehen sollte. Auf diese Weise er¬
folgte der Ruf im entgegengesetzten Sinne, als der Wink; das war ein un¬
verkennbarer Widerspruch, von dein man Wohl Mißverständnisse und in ihrem
Gefolge Unfälle befürchten konnte.
Damit aber nicht genug, es kam ein Umstand hinzu, der die Sache
noch auffälliger machte. Auf größern Fahrzeugen ist die Bewegung des Nnder-
griffes, der Pinne, dem Auge entzogen, weil dieser Teil des Ruders immer
unter Deck, meist sogar unter die Wasserlinie gebracht wird. Gehandhabt
wird sie mittelbar durch eine Tau- oder Kettenleitnng, die ihr Ende an einer
auf Deck befindlichen Welle findet, und mit dieser Welle und den Speichen
des zu ihrer Handhabung dienenden Rades bewirkt man die Bewegung der
Pinne. Da die Wirkung eine mittelbare ist, so war es erforderlich, die Rad¬
speichen nach Backbord herüberzndrehen, wenn man die Nuderpinne Steuer¬
bord haben wollte. Daraus ergiebt sich auf den Ruf Steuerbord mit der
vorher erwähnten Handbewegung nach Backbord eine Drehung der Radspeichen
nach Backbord, eine Bewegung des im Wasser befindlichen Rnderteiles nach
Backbord, und nur die dem Ruf entsprechende Bewegung des meist unsicht¬
baren Griffes oder Pinne nach Steuerbord. Es stimmte also alles mit dein
Ruf oder dem Kommando überein, nur nicht die Pinne, mithin war das
Kommando der Ausdruck für ein Ding, das man meistens nicht sah.
Für Seeleute, die von Jugend auf daran gewöhnt waren, hatte das
nichts Befremdendes; man pflegte darüber nicht viel nachzudenken. Wer aber
nachdachte, erkannte das Widersprechende, und die, bei denen die Gewohnheit
nicht stärker war, als der Gedanke, konnten sich einer gewissen Unruhe darüber
nicht erwehren.
Das riesige Anwachsen des Verkehrs, die durch den Dampf gewachsene
Schnelligkeit im Verkehr trugen noch zu weiter» Befürchtungen bei; gewisse
Seemächte bemühten sich um eine internationale Regelung und Vereinfachung;
das gelang aber nicht, weil Seeleute am Hergebrachten hängen, und weil
— mit aus diesem Grunde — die herrschenden Seemächte, schon aus Selbst¬
bewußtsein, noch konservativer sind als andre Mächte.
Auf diese Weise kam es, daß gewisse Seemächte, namentlich Frankreich
und die Skandinavier, selbständig vorgingen; sie machten sich ein Verfahren
zur Regel, wonach auf den Ruf Steuerbord insgesamt alle die oben er¬
wähnten, die optischen sowohl wie die mechanischen Bewegungen in Steucr-
bordrichtnng erfolgten. Wer Steuerbord kommandirte, zeigte auch mit der
Hand nach Steuerbord, der Rndersmcmn drehte das Rad nach Steuerbord,
und auch der im Waffer befindliche, unmittelbar wirkende Ruderteil machte
seine Bewegung in derselben Richtung, während lediglich die unsichtbare Pinne
ihre ebenso unsichtbare Bewegung in entgegengesetzter Richtung vollzog.
Andre Seemächte zögerten zwar, dem Beispiel zu folgen, England und
Amerika legten Widerspruch ein; die deutsche Admiralität aber glaubte dem
von Frankreich gegebnen Beispiel folgen zu sollen und traf für die kaiserliche
Marine eine dem entsprechende Anordnung.
Man verhehlte sich aber nicht, daß eine volle Ausnutzung der Maßregel
erschwert werde, wenn sie nicht auf den gesamten Seeverkehr Deutschlands
ausgedehnt würde. Ein solches Hindernis war für den französischen Marine-
minister nicht vorhanden, weil das Marineministerium dort als allgemeine
obere Seebehörde maßgebend ist. Eine Änderung grundlegender Gebräuche
übt deshalb eine Wirkung auf die Gesamtheit. Im deutschen Reich ist das
nicht der Fall, und anstatt dem Beispiel der Admiralität zu folgen, erhoben
die Reedereien lebhaften Widerspruch.
Da die Maßregel auch in Marinekreisen nicht ungeteilten Beifall fand,
weil Seeleute eben gern an alten Gebräuchen Hunger, so mußte man gespannt
sein, ob sich die Sache einbürgern würde. Wider Erwarten verstummten aber
in Marinekreisen bald alle Widersprüche; man spürte den Nutzen der Verein-
fachung, und wo man konnte, gab man sich Mühe, auch weitere Kreise dafür
zu gewinnen, denn man verhehlte sich nicht, daß die nunmehr vorhandne Ver¬
schiedenheit bedenklich war.
Das hat man denn auch in den Kreisen der Schiffsrecder nach und nach
eingesehen; denn so, wie die Erziehung der Kanffcchrer den Grundstock der
Flotte liefert, so ist der Dienst in der Flotte eine nachhaltige Schule für die
Zukunft des Kauffahrers.
Man Hütte also erwarten können, daß, wenn die Reedereien einlenkten,
sie sich den Grundsätzen der kaiserlichen Marine, materiell und formell, einfach
angeschlossen hätten. Hätten sie dies gethan, so wäre die Form des Kom¬
mandos im gesamten deutschen Seeverkehr ein und dieselbe gewesen.
Einen solchen Weg einzuschlagen hat man aber nicht beliebt. Mochte
man das Beispiel der kaiserlichen Marine nicht für ausschlaggebend halten,
oder glaubte man, die kaiserliche Marine zu sich herüberziehen zu können, kurz,
Steuerbord und Backbord wurde als Ruderkommando überhaupt verworfen,
und dafür die Ausdrücke „rechts" für „Steuerbord" und „links" für „Back¬
bord" eingeführt.
Mit andern Worten: man regelte die Meinung des Kommandos im
Sinne der kaiserlichen Marine, glaubte aber die geläufigem Ausdrücke „rechts"
und „links" dafür wühlen zu müssen.
Über die Zweckmäßigkeit eines solchen Verfahrens läßt sich ja reden.
Wenn man sich ohne Rücksicht auf das, was andre thun, zu einer Änderung
entschließt und Freiheit hat in der Wahl der Wörter, so läßt sich manches
anführen für die hier getroffne Wahl der Ausdrücke. Was rechts und links
ist, weiß jeder; was Steuerbord und Backbord ist, weiß nicht jeder; es
wissen das nur die Seeleute. Die Frage ist nur, ob es gut ist, sich zu
einem solchen Verfahren zu entschließen, ohne alle Rücksicht auf das, was
andre thun.
Das in der kaiserlichen Marine eingeschlagne Verfahren ist seit einem
Jahrzehnt in Wirkung und hat sich eingebürgert. Es hat sich sogar so ein?
gebürgcrt, daß sich der Übelstand der Verschiedenheit von dem Gebrauche der
Kauffahrer uicht fühlbar machte. Für ein Kommando von der größten Wichtig¬
keit hatte man thatsächlich zwei, nicht allein verschiedne, sondern sich wider¬
sprechende Gebräuche und Ausdrucksweisen, und statt einander zu einer voll-
kommnen Einigung entgegenzukommen, trägt man noch eine dritte Verschiedenheit
in die Kauffahrtei hinein, die nur ein halbes Entgegenkommen und nur ge¬
eignet ist, das Gesamtverkehrswesen zu verwirren.
Wenn man erkannte, daß es besser sei, den alten Gebrauch aufzugeben,
so mußte man dem Beispiel der kaiserlichen Marine folgen; damit wäre ein
doppelter Nutzen erreicht worden, man hätte dem Zweck der Vereinfachung
und Berichtigung des Kommandos genügt, und man hätte die bis dahin ver¬
mißte Einheitlichkeit des Gebrauches hergestellt. Was hat man statt dessen
gethan? Man hat das Verfahren selbst zwar der kaiserlichen Marine gleich ein¬
gerichtet, hat aber die Ausdrucksweise verworfen und für die bekannten Worte
„Steuerbord" und „Backbord" die allerdings einfachen Worte „rechts" und
„links" eingeführt. Das ist bis jetzt wenigstens von seiten des Norddeutschen
Lloyd und der Hamburg-Amerikanischen Paketfahrt-Aktien-Gesellschaft geschehen.
Ob die übrigen Reedereien dem Beispiel dieser Gesellschaften folgen wer¬
den, ist noch nicht bekannt geworden, scheint aber beabsichtigt zu sein.
Man behauptet nun, daß dies ein „Mittelweg" sei, der sowohl den Zwecken
der kaiserlichen Marine, wie denen der Kauffahrtei genehm sein müsse; denn
dadurch, daß man das Verfahren und die Ausführung des Kommandos dem
Vorgang der Marine gleich gemacht habe, werde man dieser gerecht und da¬
durch, daß man andre Wörter gewählt habe, werde man der Kauffahrtei ge¬
recht; durch die Wahl der Worte „rechts" und „links" werde die alte Be¬
deutung der Worte „Steuerbord" und „Backbord" nicht berührt. Ob das
letzte wirklich der Fall ist, möge dahingestellt bleiben. Wer auf das Kom¬
mando „rechts" die Pinne des Ruders rechts legt, wird auch in diesem Fall
unrichtig handeln; es wäre also mit der geänderten Wahl der Ausdrücke
nichts gebessert.
Es kommt aber außer der veränderten Wahl der Ausdrücke noch ein
andrer Umstand in Betracht; das ist der beinahe gleiche Laut der beiden
Wörter. Man sage nicht, daß das eine seinen Haupttou im Vokal e, das
andre im Vokal i habe. Man denke sich den regen Schiffsverkehr in stürmi¬
scher, dunkler Nacht im englischen Kanal, wo der Rufende oder Kommandirende
zum Aufwand des ganzen Brusttones genötigt ist, und man wird einräumen,
daß die geringe Verschiedenheit des Vokales nicht genügt. Wenn ich anführe,
daß man in England und Amerika die beinahe gleichlautenden Wörter lar-
dos-ra und 8tÄrl>c>g,rak für ungenügend gehalten und dafür xort und stg-rdo^ra
gewählt habe, so wird man diese Berufung vielleicht nicht anerkennen und
sagen, die erstgenannten beiden Wörter Hütten wirklich denselben Vokal, und
das sei ein fühlbarer Übelstand gewesen. Das wäre richtig, soweit es den
Vokal betrifft. Man hat aber auch die Notwendigkeit erkannt, die Silben¬
zahl zu ändern.
Die Worte Steuerbord und Backbord werden beidem gerecht; die Vokale
cuc und a sind schwer zu verwechseln, und ebenso ist das dreisilbige Steuer¬
bord nicht leicht für das zweisilbige Wort zu nehmen. Wem diese Verschieden¬
heit nicht genügt, der könnte die Nufweise der Nosselenker, das „Hot" und
das „Haarweg" auf die See übertragen; er würde dem Zweck besser genügen,
als es mit der Wahl der Wörter „rechts" und „links" geschieht.
Für die Beibehaltung der Wörter Steuerbord und Backbord spricht
aber endlich noch ein andrer Umstand. Das ist ihre Ähnlichkeit mit den ent¬
sprechenden Kvmmandowvrten aller andern Sprachen, namentlich der Sprachen,
die das gleiche Verfahren und die gleiche Bedeutung der Kommandoworte
längst vor uns angenommen haben, der Skandinavier und Franzosen.
Gegen das in der kaiserlichen Marine beliebte Verfahren ist ein Einwand
erhoben worden, er hat aber nur eine scheinbare Bedeutung. Man meint,
die alten deutschen Kauffahrteischiffer würden sich nun und nimmermehr den
alten liebgewordnen Gebrauch verkümmern lassen. Da sich aber die alten
Seefahrer der Bretagne und der Normandie, die der Normcinner, Dänen und
Schweden hineingefunden haben, so werden die Friesen, Schleswig-Holsteiner
und Pommern auf die Dauer an Gelehrigkeit hinter jenen wohl auch nicht
zurückbleiben wollen.
Daß die seemännischen Betriebe des deutschen Reiches drei sich wider¬
sprechende Arten von Nuderkommandos haben, und daß die Möglichkeit einer
noch hinzutretender vierten Art nicht ausgeschlossen ist, muß als ein auf die
Dauer unhaltbarer Übelstand bezeichnet werden. Wenn man sich nicht einigen
kann, so wird nichts übrig bleiben, als dem Mißstände auf dem Wege des
Gesetzes ein Ende zu machen.
le Sprachwissenschaft, die heute in dem Kreise ihrer Schwestern
eine ehrenvolle Stellung einnimmt, hat, wie uns dieses Jahr
klar vor Augen führt, noch kein recht ehrwürdiges Alter er¬
reicht, denn am 14. September ist erst ein Jahrhundert verflossen,
seit Franz Bopp, ihr Begründer und Ausbnuer, geboren wurde,
und erst 75 Jahre sind vergangen, seit sein erstes Werk „Über das Konju¬
gationssystem der Sanskritsprache in Vergleichung mit jenem der lateini¬
schen, persischen und germanischen Sprache" veröffentlicht wurde. Schon bei
seinem Erscheinen erregte dieses kleine Buch, mit dem Bopp mit einer
empfehlenden Vorrede seines Lehrers Windischmann in die wissenschaftliche
Welt eintrat, und das er wenige Jahre darauf auch in englischer Sprache
herausgab, bei den beiden stammverwandten Völkern berechtigtes Aufsehen, aber
daß der hier gepflanzte Same zu einem so mächtigen, herrlichen Baume ge¬
deihen würde, konnte damals keiner ahnen. Bopp hat die von ihm begründete
Wissenschaft selbst weiter ausgebaut, vor allem durch seine „Vergleichende
Grammatik des Sanskrit, Zend, Griechischen, Lateinischen, Lithauischen, Go-
dischen und Deutschen," die von 1833 bis 1852 erschien, und die er selbst
uoch in einer zweiten Auflage herausgeben konnte. Übersetzungen in das Eng¬
lische und Französische legten Zeugnis dafür ab, welches Interesse mau auch
in diesen Ländern der jung aufblühenden Wissenschaft entgegenbrachte. Aber
mit den hier behandelten Sprachen war der Kreis der verwandten noch nicht
erschöpft; uoch fehlten von größern Sprachfamilien das slawische, das Keltische,
das Armenische und das Albanesische. Aber auch deren indogermanischen Ur¬
sprung hat zum Teil Bopp selbst noch in glänzenden Untersuchungen dar¬
gelegt. Die nachfolgenden Geschlechter haben zwar den stolzen Bau im Innern
noch schöner zu gestalten, auch ihn noch höher zu führen vermocht, aber zu
dem von Bopp gegründeten Fundament haben sie nicht viel hinzufügen, auch
nichts hinwegnehmen können. Selbst den folgenschwersten Gedanken der neuern
Sprachforschung von der Ursprünglichkeit des europäischen Vokalismus mit
seinem 6 und o gegenüber dem einförmigen sanskritischen a finden wir schon
in der ersten Schrift Bopps ausgesprochen. Leider hat sich Bopp später durch
Jakob Grimm verleiten lassen, diese Ansicht aufzugeben.
Eines solchen Mannes zu seinem hundertsten Geburtstage zu gedenken,
ist unsre Ehrenpflicht. Gehört doch Bopp mit zu denen, die den deutschen
Namen in einer Zeit, wo unser Vaterland in viele Teile gespalten politisch
ohnmächtig darniederlag, zu Ehren gebracht haben. Denn in vielen Ländern
hat man die Ergebnisse der Sprachforschung freudig begrüßt und nach manchen
Seiten zu verwerten sich bemüht. Aber auch ihren weitern Ausbau verdankt
sie im wesentlichen Deutschen, die übrigen Völker verhalten sich, von einzelnen,
glänzenden Ausnahmen abgesehen — ich brauche nur an den Italiener Ascvli
und den Amerikaner Whitney zu erinnern, die auch in Deutschland in hohem
Ansehen stehen — mehr rezeptiv, und so können wir die Sprachwissenschaft
zugleich die deutscheste aller Wissenschaften nennen. Zwar scheint es, als ob
sich diese Lage der Dinge heute ändern wollte. Die Amerikaner und vor .allen
Skandinavier nehmen kräftig an dem Ausbau der Wissenschaft teil, und wenn
auch die Amerikaner ihre erste Belehrung noch vielfach in Deutschland selbst
suchen , und an manchen Universitäten eine größere Zahl zu den Sprachwissen-
schaftstudirenden stellen als die Deutschen selbst, so dürfte doch die Zeit nicht
mehr fern sein, wo sie nicht mehr zu diesem Zweck übers Meer kommen
werden. Die geistige Führung aber wird, wenn nicht für immer, so doch noch
für lange Zeit unserm Vaterlande verbleiben.
Bopps Leben soll hier nicht erzählt werden. Sein Leben sind seine
Werke, und der Leser findet darüber an manchen Orten, so in jedem Konver¬
sationslexikon, Auskunft. Wir werden uns Bopps große Verdienste besser
vergegenwärtigen, weim wir die Bedeutung der Sprachwissenschaft würdigen,
uns ihre bisher erreichten Ergebnisse vorführen und ihre künftigen Ziele ins
Auge fassen.
Bopp widmete der Sprachforschung seine Neigung zu ernster, wissenschaft¬
licher Beschäftigung „sogleich von Anbeginn mit der Absicht," wie sein Lehrer
Windischmann in den Vorerümerungen des zuerst erwähnten Buches bemerkt,
,,auf diesem Wege in das Geheimnis des menschlichen Geistes einzudringen
und demselben etwas von seiner Natur und von seinem Gesetz abzugewinnen."
Und dies ist in der That eines der Hauptziele der Sprachwissenschaft geblieben.
Die Sprache ist das, was den Menschen am meisten vom Tier unterscheidet,
sie ist der Ausfluß seines Denkens und der Ausdruck seines Geistes, und in
dieser Beziehung ist die Beschäftigung mit der Sprache, der Art und Weise,
wie der einzelne Mensch und einzelne Volksstämme ihre Gedanken ausdrücken,
ein Teil der Psychologie.
Bekanntlich unterscheiden sich die indogermanischen Sprachen nebst den
semitischen von allen andern scharf, sie sind flektirend, das heißt, sie stellen
die Beziehungen, in denen die einzelnen Wörter, die einzelnen Begriffe zu
einander stehen, durch eine formale Änderung des Wortes dar: mensg., der
Tisch, des Tisches. Es ist möglich, daß in diesen Kasusendungen
selbständige Wörter verborgen sind, llipu-s sich aus Inpo und -s, das „der"
oder „dieser" bedeutet haben mag, zusammensetzt, und daß es vielleicht gelingen
wird, eine Brücke zu den bloß agglutiuirendeu, d. h. zusammenleimenden
Sprachen zu schlagen. In diesem Ausdruck der Beziehungen aber, wie ihn
die flektirenden Sprachen ausgebildet haben, zeigt die historische Entwicklung,
die uns erst durch die Sprachwissenschaft klar geworden ist, eine eigentümliche
Wandlung. Die indogermanischen Sprachen ersetzen allmählich den Ausdruck
der Beziehung, der ursprünglich am Ende stand, durch einen vor dem Worte.
Während der Lateiner noch deklinirt bonio, llvimnis, horum, drückt der Fran¬
zose dieselben Beziehungen durch 1'llonun«, <lo 1'bomink, -i. I'llominc; aus. Der
Deutsche sagt noch der Mann, des Mann-es mit doppeltem Ausdruck der
Beziehung im Artikel und in der Kasusendung — eines genügte vollkommen
wie im Femininum — die Frau — der Frau —, aber der Engländer
ist schon einen Schritt weiter gegangen und deklinirt til« inM, et du<?
man. Daß dies eine geistige Entwicklung darstellt, ist nicht von Anfang an
bemerkt worden, aber trotzdem unzweifelhaft, denn den Ausdruck vor den neu
eingeführten Begriff zu setzen, erfordert ein größeres Maß geistiger Übersicht
als der umgekehrte Weg. Je mehr die Beziehungen durch Präpositionen vor
dem Wort, durch feste Stellung innerhalb des Satzgefüges wie im Französischen,
im Englischen und im Deutschen ausgedrückt werden, um so weiter ist auch die
geistige Entwicklung des Volkes vorgeschritten. Und so lehrt uns denn die
Sprachwissenschaft, was uns mit andern Mitteln die Geschichte anvertraut hat,
daß die europäischen Völker sich von einer tiefern, geistigen Stufe zu einer
höhern erhoben haben, wobei allerdings die Sprachwissenschaft ihre Betrach¬
tung auf sehr viel frühere Zeit als die Geschichte ausdehnen kann.
Man könnte nun zwar manche der psychologischen Probleme, die die
Sprache bietet, erklären, wenn man moderne Sprachen, Sprachen der Europäer,
der Asiaten und der Afrikaner neben einander stellte und untersuchte, welche
Mittel jede zum Ausdruck der Gedanken anwendet, aber diesem Vorgehen
würde eine wichtige Seite fehlen, die Betrachtung der Entwicklung. Die Sprach¬
wissenschaft hat ihre überraschendsten Ergebnisse dadurch erreicht, daß sie die
Sprachen verschiedner Völker verglichen und hieraus eine viel frühere Sprach¬
periode erschlossen hat. Zwischen dieser ältesten Stufe und den historisch über¬
lieferten können wir oftmals noch Zwischenstufen aufstellen, so z. B. das Ur¬
germanische, aus den: alle germanischen Sprachen, Gotisch, Skandinavisch, Deutsch,
Englisch geflossen sind, weiter das Westgermanische, die Vorstufe für Oberdeutsch,
niederdeutsch, Friesisch und Englisch allein. Aufgabe der Sprachwissenschaft ist
die Betrachtung dieser ganzen Reihe von den ältesten Zeiten bis auf die
Dialekte der Gegenwart. Wir können nirgends einen Einschnitt machen und
müssen auch auf alle Sprachperioden die sprachwissenschaftliche, d. h. entwick-
lnngsgeschichtliche Betrachtungsweise anwenden. Thatsächlich geschieht dies
auch in den meisten Fällen. Die germanische, die slawische, die romanische
Grammatik kennt keinen andern Standpunkt der Erklciruug als diesen, nur die
klassische Philologie hält sich, zu ihrem eignen Nachteil, von der Sprachwissen¬
schaft noch fern.
Fast von selbst also hat sich der Begriff der Entwicklung ergeben, aber
gerade darin lag anch von Anfang an die größte Schwierigkeit. Von der
Sprache gilt das Wort des alten griechischen Philosophen: ?r«or« Die
Sprache ist in einem steten Flusse, ist immerwährender Veränderung unter¬
worfen, und so galt es denn zuerst, die Veränderungen, die sich von einer Zeit
zur andern eingestellt hatten, ausfindig zu machen. Vieles fiel ja sofort in
die Augen. Die deutsche Lautverschiebung ist frühzeitig von Jakob Grimm
entdeckt worden. Auch daß, obgleich sie oft für sehr viele Fülle gilt, doch
mannichfache Ausnahmen von diesen Lautveränderungen vorhanden waren,
konnte nicht verborgen bleiben, und der aus dem Altertum übernommene Satz:
„Keine Regel ohne Ausnahme" schien in der gesamten Wissenschaft selbst die
einzige Regel ohne Ausnahme zu sein. Die fortschreitende Entwicklung der Wissen¬
schaft deckte jedoch mehr und mehr deu Grund einzelner Abweichungen auf,
und so gelang es, als der romantische Sinn vom Anfang unsers Jahrhunderts
in den naturwissenschaftliche,! der modernen Zeit überzugehen anfing, den
ruhenden Pol in der Erscheinungen Furcht zu finden, in dem man den durch
die Thatsachen allerdings noch nicht völlig bestätigten Grundsatz aufstellte:
Die Lautgesetze sind ausnahmslos. Die Fassung dieses Satzes ist nicht be¬
sonders glücklich, dn sie zu vielen Mißverständnissen führen kann und geführt
hat. In letzter Linie geht er auf den Satz von zureichenden Grunde zurück,
daß sich nichts ohne Ursache vollzieht, und daß es daher Aufgabe der Wissen-
schaft sein muß, zu erkenne», weshalb sich in dein einen Fall ein Laut so,
in dem andern so verändert hat. Ein Beispiel mag das klarer machen.
Nach Grimms Lautverschiebnngsgesetz entspricht einem griechisch-lateinischen t
im Gotischen ein et, mit dein Lautwert des englischen et, und dies hat sich
im Hochdeutschen weiter zu ä gewandelt, z. B. lateinisch tmtgr gotisch
drollig-r ^ Bruder. In andern Fällen, die genau dieselben zu sein scheinen,
finden wir im gotischen ein «1, im deutschen ein t, so im lateinischen Ma-,
irmtsr gotisch naar, uwäiu-, Vater, Mutter. Anscheinend hat sich also hier
derselbe Laut willkürlich in zwei verschiedne gespalten, und recht lange hat
man nicht gewußt, irgend eine Ursache dafür ausfindig zu machen, bis endlich
durch eine glänzende Entdeckung Karl Verners, eines dänischen Gelehrten, der
Grund in dem Wechsel des indogermanischen Aceentes gefunden wurde.
Bruder entspricht im Sanskrit ?>Iir»tÄ, Vater, Mutter MiL, mM. So haben
nur im Delltschen also in diesen und vielen andern Wörtern noch Nachwirkungen
des alten, vor mehreren tausend Jahren gesprochnen indogermanischen Aeeentes,
und es gehört zu den anziehendsten Aufgaben der Wissenschaft, diese alten Über¬
reste zu betrachten. Wie hier, so ist es aber auch in unzähligen andern Fallen
gelungen, die scheinbaren Ausnahmen wieder auf Gesetze zurückzuführen, und
das Endziel der Wissenschaft, gewiß ein ideales, wohl nie ganz erreichbares
muß sein, dies in allen Fällen zu thun.
Die genaue Feststellung der Lautgesetze und die damit gegebne vollstän¬
dige Darlegung der Entwicklung der Sprache ist nun jn an und für sich wichtig
genug. Sie ist aber auch notwendig für die Erforschung der Kulturgeschichte,
zu der vor allem auch die Sprachwissenschaft so viel beigetragen hat und noch
beiträgt. Als der Zusammenhang der indogermanischen Sprachen aufgedeckt
war, gelaugte mau zu der Ansicht, daß alle diese verwandten Sprachen aus
einer uns wahrscheinlich nicht mehr erhaltenen Urquelle geflossen seien. Die
Sprache besteht aber uicht an und für sich, sondern ist an den Menschen, an
ein Volk als ihren Träger mit Notwendigkeit gebunden, also muß auch vor
mehreren tausend Jahren ein Volk gelebt haben, das diese Sprache gesprochen
hat. Und aus dein Wortschatz, den wir für diese Urzeit durch Bergleichung
gewinnen, können wir uns eine Vorstellung von der Kultur dieses Volkes
machen. Bei den großen Schwierigkeiten, die mit dieser Forschung verbunden
waren, und von denen sich die junge Wissenschaft nicht die rechte Vorstellung
machte, kann es nicht verwundern, daß die Ansichten über diese Kultur sehr
geschwankt haben. Während man früher den Indogermanen Ackerbau und
damit hohe geistige Entwicklung zuschrieb, hält mau sie heute für ein Hirten¬
volk, das höchstens ein oder zwei wild wachsende Halmfrüchte und die Eicheln
sammelte, die der Herbststurm von den mächtigen Bäumen herabschüttelte.
Hund, Rind und Schaf besaß mau in gezähmtem Zustande, nicht aber das
Schwein, das Roß und die Ziege. Die Nahrung bestand demgemäß aus
Fleisch und Milch, die aber kaum zu Käse und Butter verarbeitet wurde, und im
Winter verzehrte man wohl die gesammelten Früchte. Die zahlreichen Aus¬
drücke für verwandtschaftliche Beziehungen wie Vater, Mutter, Bruder, Schwester,
Enkel oder Neffe, lateinisch ruzxos, Schwiegertochter, Sanskrit Limits., lateinisch
uurus, unser Schnur, Schwiegervater, lateinisch sooer, griechisch exv^o^ mittel¬
hochdeutsch Schweher u. s. w. weisen auf ein ausgebildetes, fest gegliedertes
Familienleben. In ähnlicher Weise ist es nach vielen andern Richtungen ge¬
lungen, ein Bild von der ältesten Kultur der Indogermanen zu entwerfen.
Auch ihre Heimat hat man mit denselben Mitteln zu bestimmen versucht.
Früher hielt mau ziemlich allgemein Asien, diese otlioing. gvutiuru, für den
Urwohusitz, heute nimmt man in weiten Kreisen Europa dafür in Anspruch,
weil im indogermanischen wohl Ausdrücke für Wolf und Bär, nicht aber für
Löwe und Tiger, für das Noß, nicht aber für das Kamel, für die europäischen
Bäume Birke, Buche, Eiche, Fichte, Weide, nicht aber für die Palme vor¬
handen waren.
Doch weiter. Wie wir mit Hilfe der Sprachwissenschaft nicht nur eine
indogermanische, sondern auch eine urgermanische und eine westgermanische
Sprachperiode erschließen, so auch natürlich entsprechende Kulturperioden. Und
gerade für diese Perioden ist eine genaue Feststellung der Lautgesetze eine
Notwendigkeit, denn nur wenn dies geschehen ist, können wir mit Sicherheit
sagen, ob ein Wort uraltes Erbgut oder Entlehnung ist. Je zahlreichere und
eigentümlichere Lautwaudlungen eine Sprache im Laufe der Zeit erlitten hat
— gerade das Germanische ist sehr stark und eigentümlich umgewandelt worden —,
umso leichter ist für die Sprachwissenschaft die Scheidung des alten Erbgutes
von den Lehnwörtern. So entrollt sich denn vor unsern Augen das Bild
eines überaus lebhaften Kulturaustausches zwischen Römern, Kelten, Germanen
und Slawen. Die römischen Kaufleute brachten den Wein, der ursprünglich
den Germanen fremd war, und gaben mit dem Namen dafür auch ihren eignen,
denn unser „kaufen," althochdeutsch Kimpön, ist aus lateinisch eaupo ab¬
geleitet. Die mangelnde Lautverschiebung zeigt mit Sicherheit, daß dieses
Wort entlehnt ist.
Es sind aber nicht nur einzelne Wörter, die mit deu dazu gehörigen
Gegenständen einwandern, sondern ganze Gruppen. Wie noch heute unsre
militärischen Ausdrücke fast durchweg ein französisches Gepräge tragen, weil
die Ausbildung des modernen Heeres einst bei den Romanen ihren Ursprung
genommen hat, und somit auch dem nicht sprachwissenschaftlich gebildeten ihre
Geschichte deutlich erzählen, so läßt sich durch tieferes Eindringen auch der
fremdländische Ursprung von Wörtern, die sich auf die Baukunst beziehen, er¬
kennen. Mauer, Keller, Söller, Speicher, Kammer, Ziegel, Pfeiler, Pfosten,
Pfahl sind, wenn mich jetzt ganz deutschen Aussehens, ebenso entlehnt wie
zahlreiche ans die Küche bezügliche Ausdrücke: Koch, Küche, Schüssel, Kessel,
Recken. Tisch, Essig. Senf, Pfeffer, Kohl, Pflanze, Rettich, Kürbis. Kümmel,
Kirsche, Pfirsich, Pflaume, Quitte, Feige.
Aber wenn auch manches auf diesem Gebiete heute schon mit Sicherheit
festgestellt ist, so bedarf es doch in vielen Fällen immer wieder erneuter Unter-
suchung und Feststellung der Lautgesetze und der geschichtlichen Entwicklung
der Sprache. Das ist die Grundlage, auf der der ganze kühne Bau der
Kulturgeschichte erst ruhen kann, und ist diese Grundlage nicht sorgfältig und
fest gefügt, ist sie auf Sand statt auf den Fels gegründet, so kann auch der
darüber errichtete Bau nicht Bestand haben, er muß wieder abgetragen und
neu errichtet werden.
Im allgemeinen kann und muß die Forschung in der bisherigen Weise
weiter gehen, und sie wird, wenn sie sich erst mit den übrigen Wissenschaften,
die dieselben Ziele verfolgen, wie Geschichte, Archäologie, Ethnologie und
Anthropologie, in das rechte Einverständnis gesetzt hat, gewiß auch schöne
Ergebnisse haben.
Aber auch für die weitere vorhistorische Ferne winken der indogermanischen
Sprachwissenschaft noch lockende Ziele. Die indogermanische Grundsprache ist
nicht fertig mit einemmale wie Athene aus dem Haupte des Zeus entsprungen,
sondern sie muß sich aus einer mit andern Völkern gemeinsamen Sprache ent¬
wickelt haben, sie muß näher oder ferner mit den übrigen Sprachen der Welt
verwandt sein. Bis jetzt hat man freilich noch vergeblich versucht, engere
Beziehungen zu deu semitischen und deu finnisch-ugrischen Sprachen zu be¬
gründen. Die Hoffnung, daß es gelingen werde, auch hier eine viel frühere
gemeinsame Sprachpcriode nachzuweisen, die dann Licht für sehr frühe Zeiten
bringen würde, dürfen wir aber nicht aufgeben, obgleich niemand sagen kann,
wann dieses Ziel erreicht werden wird.
Immer werden aber der Beschäftigung mit der Sprache, diesem wunder¬
barsten und machtvollsten Werkzeuge des Menschen, schöne und hehre Ziele
winken, und das Denkmal, das sich Franz Bopp mit der Begründung dieser
Wissenschaft gesetzt hat, ist in Wahrheit asio porsiuiius. Hoffentlich werden
sich die Deutschen bemühen, wie bisher, so anch künftig in dieser Wissenschaft
allzeit voran zu sein.
le beiden Freunde waren noch immer so verwirrt, daß sie weder
zum Essen noch zum Reden Zeit fanden. Zum Glück für die
Unterhaltung zeigte sich Homunmlus — der mich den Austern
und dem Rüdesheimer alle Ehre anthat — sehr gesprächig. Er
hatte vielerlei erlebt und gesehen und wußte über alles mit be¬
scheidnen, aber sicherm Urteil zu spreche». In Italien, wo er vor mehreren
Jahren gewesen zu sein glaubte, hatte ihn besonders die Kunst des sechzehnten
Jahrhunderts gefesselt, und er zeigte viel Verständnis für deren Schönheiten.
Doch bedauerte er, daß der Kunstsinn in Rom in letzter Zeit so zurückge¬
gangen sei.
Von Amerika behauptete er erst vor sechs Wochen wiedergekehrt zu sein,
und er beschrieb mit Lachen, wie sehr er auf der mehr als zweitägigen Über¬
fahrt (solange brauchten die Schnelldampfer damals thatsächlich) an der See¬
krankheit gelitten hätte.
Auch in der Litteratur schien er bewandert, und als der Geheimrat ihn
in ein Gespräch über Shakespeare verwickelte, zitirte er mehrere Stellen dieses
Dichters im Urtext.
Wirklich hatte sich inzwischen soweit erholt, daß er in das Gespräch ein¬
greifen konnte: Wo war es eigentlich, Herr Homumulus — fragte er — wo
wir uns zuerst getroffen haben?
Ja, wenn man sich so lange kennt, wie wir zwei uns — sagte Homun-
culus —, dann ist einem das erste Zusammentreffen gewöhnlich aus dem Ge¬
dächtnis geschwunden. Aber warten Sie mal, ich will mich doch besinnen —
und er stützte mit ernstester Miene den Kopf in die Hand, als suchten seine
Gedanken in vergangnen Zeiten.
Vom Ansehen sagte er — kannte ich Sie ja schon auf dem Köllni-
schen Gymnasium, wo Sie zwei Klassen über mir saßen; aber eigentlich be¬
kannt wurden wir doch erst in Heidelberg, wo ich im Sommer 81 als Fuchs
studirte, wo war es doch nur? Bei der Kahupartie nach Neckarsteinach, nein,
da waren Sie nicht dabei; richtig bei dem großen Fackelzug zu Ehren Pro¬
fessor Zöllners oder vielmehr bei dem Kommers nachher, wo Sie an unsern
Tisch herüberkamen.
Richtig, richtig! — sagte Wirklich — ich entsinne mich jetzt. Mit dem
Fackelzug und dem Kommers hatte es in der That seine Richtigkeit, nur hatte
er natürlich einen Herrn Homunculus dort nicht kennen lernen. Es fiel ihm
aber ein, daß er dem Geheimrat einmal ausführlich von dieser Feier erzählt
hatte.
Man kam auf Jugeuderimierungen zu sprechen. Homunculus erzählte,
daß er seine Eltern früh verloren und nur ein undeutliches Bild von ihnen
bewahrt habe. Aber mitunter — sagte er — ist es mir, als sähe ich sie
gegenwärtig, dann ist es mir plötzlich, als würde ein Schleier von der Ver¬
gangenheit gezogen.
Inzwischen war das Frühstück beendet, und der Geheimrat bat Homun-
culus, ihm wieder in das Laboratorium zu folgen. Ich will — sagte er —
noch einige Vorbereitungen zu dem Experimente machen, und Herr Homun¬
culus, der mir schon in den letzten Tagen behilflich war, wird mir dabei
assistiren. Wenn alles fertig ist, rufe ich die Herren herein.
Die beiden Doktoren blieben allein. Anfangs sprach keiner. Wirklich
starrte auf das Tischtuch, und Simmer ging mit großen Schritten im Zimmer
auf und nieder. Das ist sonderbar, höchst sonderbar, begann Wirklich endlich,
und ganz anders, als ich es mir vorgestellt hatte. Was sagt deine Philo¬
sophie dazu, Simmer? Idealismus oder Realismus?
Simmer war stehen geblieben. Idealismus — sagte er — mehr denn je,
ja ich muß gestehen, daß diese praktische Demonstration der Kantischen Lehre
von der Idealität der Zeit, die wir soeben gesehen haben, mich fast mit Grauen
erfüllt. Denn an diesen Teil des Systems wollte ich bisher nie recht glnnben.
Ich gönnte der Seele, die ich mir als eine träumende vorstellte, wenigstens
die Zeit, sich ihre Phantasiegebilde auszumalen. Auch das wird mir jetzt ge¬
nommen. Die ganze Vergangenheit kann, wie wir eben gesehen haben, Täu¬
schung sein. Ich brauche alles das nicht gesehen und erlebt zu haben, an
was ich mich so deutlich erinnere. Nichts, nichts ist mein, als der flüchtige,
armselige Augenblick, den wir Gegenwart nennen, und auch seine Realität
wird im nächsten Augenblick, wo er Vergangenheit geworden ist, wieder proble¬
matisch. Du schüttelst mit dem Kopfe? Wer sagt dir denn, daß du nicht
auch, daß nicht vielleicht wir beide Homuneeln sind, von diesem Professor hier
angefertigt, kurz zuvor, ehe er uns sein drittes Präparat vorführte?
Aber lieber Freund, wir find doch zusammen hergekommen?
Kann das nicht auch Täuschung sein, die uus beiden in gleicher Weise
eingepflanzt worden ist? Vielleicht sind wir auch erst nach dem andern Ho¬
munculus fertig geworden, erst nach diesem Frühstück hier, von dem wir noch
den Geschmack zu haben uns einbilden. Ja nur scheint es in der That so,
der Geheimrat lächelte so eigentümlich, als er hinausging, es freut ihn, wie
sich von seinen drei Geschöpfen jedes für wirklich hält. Nein, es ist nichts
mehr sicher, weder Raum noch Zeit.
Lieber Freund — sagte Wirklich und zündete sich eine Cigarette an —,
du verlierst die Ruhe, die der Philosoph bekanntlich immer bewahren
soll. Erlaube jetzt, daß ich dir ein wenig ins Geschäft pfusche. Ich
gebe zu: nach dem, was wir gesehen haben, können wir auch für uns
die Möglichkeit uicht ganz ausschließen, daß das, was wir unsre Ver¬
gangenheit nennen, nicht wirklich war, sondern nur eingebildet ist. Die Rea¬
lität von Zeit und Raum selbst wird aber dadurch nicht berührt. Denn an¬
genommen, ich wäre ein Homunculus, so wäre zwar die Vergangenheit, die
ich mir vorstelle, nicht gewesen, aber es war doch vor dem Jetzt eine andre
Zeit, nämlich die, wo ich hergestellt wurde, und an ihrer Realität wird nicht
gerüttelt. Noch weniger gerüttelt wird an der des Raumes, denn auch der
Homunculus muß sich in demselben Raume bewegen wie die andern, und
ganz unerschüttert endlich bleibt die Realität der Materie, denn sie ist es ja
gerade, ihre Allmacht, möchte ich sagen, ist es, die das, was wir eben gesehen
haben, möglich machte. Es werden dir also nicht, wie du eben sagtest, Raum
und Zeit gleichzeitig genommen, du wirst höchstens vor die Wahl gestellt, ob
du nach deiner alten Theorie den Raum für unwirklich, die Zeit dagegen für
wirklich halten willst, oder ob dn Raum und Zeit und, was in ihnen ist, für
wirklich erklärst, dafür aber die immerhin doch sehr unwahrscheinliche Möglich¬
keit hinnimmst, daß die Vergangenheit für dich selbst eine gewissermaßen per¬
sönliche Idealität haben könnte.
In diesem Augenblick steckte der Professor den Kopf durch die Thür:
Wenn es Ihnen gefällig ist, meine Herren, mich noch mein zweites Experi¬
ment zu sehen, es ist alles vorbereitet.
Man ging durch mehrere Räume des ausgedehnten Laboratoriums, und
Wirklich benutzte die Zeit noch zu eine Frage. Wie war es möglich, Herr
Geheimrat — sagte er —, in einem Zeitraume vou zehn Jahren anßer allem
andern, was Sie an Ihrem Homunculus gethan haben, ihm anch noch die
Erinnerung an mehr als zwanzig Jahre mitzugeben, denn er macht doch den
Eindruck eines hohen Zwanzigers? Gehört nicht ebenso lange, wenn nicht eine
viel längere Zeit dazu, sich so ein ganzes Leben auszudenken und bis auf
jeden Tag und jede Stunde mit allem Erlebten dem Gedächtnis einzupflanzen?
So unbegreiflich, wie es Ihnen scheint — erwiderte der Geheimrat —,
ist das doch nicht. Sie müssen bedenken, daß wir Menschen ein sehr verge߬
liches Geschlecht sind, und daß »/ig — was sage ich: ^„<, von allem, was wir
erlebt haben, dem Gedächtnis wieder entschwindet. Ebenso steht es mit dem
gelesenen. Homunculus wird Ihnen von manchen Büchern sprechen, die er
gelesen hat, aber er kennt davon ebensowenig wie Sie jedes Wort auswendig,
er hat eine allgemeine Erinnerung, kennt wenige Stellen und hat im übrigen
nur das Bewußtsein, das Ganze gelesen zu haben, was durch eine allerdings
ganz eigenartig und ziemlich schwer herzustellende Faltung der Gehirnsubstanz
verursacht wird. Wenn Sie die Spannkraft hätten, sich alles, was Sie von
Erlebtem und Gelesenen noch wissen, nach einander ins Gedächtnis zu rufen,
so würden Sie — trotz Ihrer umfangreichen Kenntnisse — meiner Ansicht
nach in vier Wochen bequem fertig werden.
Man war in das letzte Zimmer gelangt, wo man Homunculus vor einem
Tische eifrig beschäftigt fand. Was haben Sie denn da auf dem Teller
liegen? fragte Siuner näher tretend. Wirklich hatte es auf den ersten Blick
erkannt. Auf dem Teller lag nämlich nichts andres als ein menschliches Ge¬
hirn. Durch zwei Schläuche wurde es in ähnlicher Weise, wie es bei
Homunculus der Fall gewesen war, mit Blut versehen. Von dem Gehirn aus
liefen uach allen Richtungen eine Menge weiße Fäden, die in verschiednen
sehr komplizirt aussehenden Apparaten endeten. An den vielfachen mit Draht
umwickelten Spulen konnte man erkennen, daß es elektrische Maschinen waren.
Das, was Sie hier sehen — begann der Geheimrat —, ist ein von mir
künstlich nach dem Vorbilde des menschlichen hergestelltes und mit meinem
künstlichen Blute genährtes Gehirn. Sie werden vielleicht glauben, das sei
nur eine Vorarbeit zu dem künstlichen Menschen, von dem ich ja mit Ihnen
— und auch mit Ihnen, Herr Homunculus — öfter gesprochen habe. Dem
ist aber nicht so. Dies hier ist vielmehr eine bedeutend schwierigere Arbeit.
Ich habe nämlich nichts geringeres vor, als in diesem Gehirn die Vorstel¬
lung zu erregen, als stecke es in einem Menschen, laufe mit ihm herum, sehe,
höre, rieche, schmecke und fühle mit ihm, bewege sich, handle nach eignem
Willen, kurz, als erlebe es ein vollständiges Leben.
Die beiden Doktoren hatten heute schon viel wunderbares gesehen, aber
das war ihnen doch etwas zu bunt. Simmer sah den Geheimrat zweifelhaft
an, als hätte er nicht recht gehört, und Wirklich ließ uur die Äußerung hören,
die der Berliner allen überraschenden Ereignissen entgegenrnft, das kurze
Wörtchen: Nanu!
Dazu benutze ich — fuhr der Geheimrat unbeirrt fort — die weißen
Fäden, die Sie hier sehen, und die die sensibel« Nerven sind. Jeder Nerv
endet in einen Apparat, der es mir möglich macht, ihn in ganz gleicher Weise
zu reizen, wie dies in der Natur durch die äußern Eindrücke geschieht. Die
Schwierigkeit ist natürlich bei den verschiednen Nerven sehr verschieden. Am
geringsten ist sie dn, wo nur ein äußrer Druck übermittelt wird, am größten
selbstverständlich beim Sehnerv. Dieser muß dem Gehirn vollständige, jeden
Augenblick wechselnde Bilder zuführen, die doch in stetem Zusammenhange
bleiben. Ich hätte nun ja eine Netzhaut herstellen und auf dieser die nötigen
Bilder optisch hervorrufen können. Ich habe das aber nicht gethan, sondern
vorgezogen, nur den Sehnerv selbst anzufertigen und in ihm durch elektrische
Anstöße alle jene Schwingungen und Veränderungen hervorzurufen, die in
der Natur die Einwirkung des Lichts hervorruft. In ganz gleicher Weise
verfahre ich bei den Gehörnerven, ich reize sie elektrisch, und dadurch entsteht
im Gehirn der Eindruck des Tons, ohne daß in Wirklichkeit ein Schall da
ist, und ebenso mache ich es dann mit den Geruchs-, Geschmacks-und Gefühls¬
nerven. Durch das richtige Zusammenwirken aller dieser wird in dem vor
uns liegenden Gehirn dann ein vollständiges Weltbild erzeugt. Selbstver¬
ständlich müssen, um die Täuschung aufrecht zu erhalten, in jedem Augenblick
eine Menge Nerven thätig sein, wie wir ja auch gleichzeitig sehen, hören,
fühlen u. f. w. Da ich nnn nicht an allen Apparaten gleichzeitig sitzen kann,
mußte ich auf ein Mittel sinnen, sie dennoch gleichzeitig in Thätigkeit treten
zu lassen. Das erreichte ich folgendermaßen. Alle diese Apparate sind elek¬
trisch. Es kommt also bei ihnen allen darauf an, Ströme zu unterbrechen
und zu schließen. Dies nun besorgt diese Walze hier, die, wie Sie sehen,
ähnlich der eines Phonographen mit vielen Erhöhungen und Eindrücken ver¬
sehen ist. Sie steht mit allen Leitungen in Verbindung, und bei ihrer Um¬
drehung wird immer eine Anzahl geöffnet oder geschlossen. Auf diese
Walze habe ich die ganze Lebensgeschichte meines Präparats eingegraben,
sobald ich sie in Bewegung setze, erhält das Gehirn sinnliche Eindrücke, macht
sich infolge davon Vorstellungen, beginnt zu denken, zu wollen und glaubt
mich zu handeln.
Wirklich hatte aufmerksam zugehört. Haben Sie schon mit dem Apparat
gearbeitet, Herr Geheimrat? fragte er dann. Noch nicht — erwiderte dieser —,
Sie selbst sollten Zeuge seiner ersten Thätigkeit sein.
Allen Respekt vor Ihrem eminenten Wissen und Können, aber diesmal,
fürchte ich, wird die Sache nicht gehen.
Und weshalb uicht? fragte der Geheimrat.
Nun, Sie können durch Ihre Apparate alle möglichen Vorstellungen in
dem Gehirn hier wachrufen, Sie können aber nicht bestimmen und nicht wissen,
wie das Gehirn auf diese Vorstellungen reagiren wird; und doch wird Ihr
ganzes Weltbild wie ein Kartenhaus zusammenfallen, wenn Vorstellung und
Reaktion nicht auf einander passen. Ich will mich deutlicher ausdrücken.
Sie können nicht wissen, ob das Gehirn jetzt den Kopf nach rechts oder nach
links drehen will, und doch müssen Sie das wissen, denn Sie müssen darnach
die Bilder ändern, die Sie ihm erscheinen lassen. Sie können irgend einen
Menschen zu ihm sprechen lassen, aber Sie können nicht wissen, was das
Gehirn darauf antworten will, und doch müssen Sie das wissen, denn Sie
müssen es seine eigne» Worte vernehmen lassen, wenn die Tnuschnng weiter
bestehen soll.
Diese Einwendung würde unser Philosoph wohl nicht gemacht haben,
sagte der Geheimrat. Sie vergessen, Herr Doktor, daß ich es selbst war, der
dieses Wesen hier schuf. Durch die Konstruktion seiner Hirnmasse bestimmte
ich alle seine Eigenschaften, seinen Verstand und sein Gefühl, seine Neigungen
und Abneigungen, seine Willenskraft, mit einem Worte seinen Charakter. Ans
dem Charakter und den äußern Eindrücken aber folgen die Handlungen eines
jeden notwendig wie die Bewegungen einer Maschine — oxvnn-i se-aMur ess<z.
Hier habe ich selbst den Charakter gegeben und füge auch die äußern Ein¬
drücke selbst hinzu; daraus folgt, daß ich auch jeden Willensakt und jede
Handlung mathematisch genau berechnen kann. Das habe ich denn auch ge¬
than. Ich weiß genau, wann Herr Nemo — so glaubt dies Wesen zu
heißen — den rechten Arm heben will, und sogleich bringt mein Apparat in
ihm die Empfindungen hervor, als geschähe dies wirklich. Ich weiß genau,
was Herr Nemo auf eine Frage, die er hört, antworten wird, und mein
Apparat läßt ihn dann seine eignen Worte vernehmen.
Nach allem Wunderbaren, was wir von Ihnen bereits gesehen haben
— sagte Siuner —, wage ich nicht mehr zu bezweifeln, daß der Versuch Ihnen
auch hier Recht geben wird, wenn es auch unendlich schwer gewesen sein muß,
mit dieser Genauigkeit für Ihr Geschöpf in die Zukunft zu sehen. Eins aber ist
mir noch unklar. Dieses Wesen hat keinerlei Organe, sich vernehmbar zu macheu;
wie werdeu wir von dem, was in seinem Innern vorgeht, Kenntnis erhalten?
Auch dafür ist gesorgt, sagte der Geheimrat. Alle zum Sprechen er¬
forderlichen motorischen Nerven sind vorhanden. Sie werden, wenn Herr
Nemo sprechen will, in Schwingungen versetzt. Diese Schwingungen über¬
trägt nun ein außerordentlich verwickelter Apparat — den ich jetzt nicht näher
erklären mochte — auf die Metallplättchen der Telephone dort an der Wand,
und zwar in der Weise umgesetzt, daß jedesmal die Worte, die Herr Nemo
sprechen will, wirklich ertönen. Ich bitte Sie also, die Telephone zur Hand
zu nehmen, und werde die Walze dann gleich in Thätigkeit setzen. Zuvor aber
noch eine Bemerkung. Wundern Sie sich nicht, wenn manches, was Herr
Nemo sagen wird, recht sonderbar klingt, ich habe ihn in eine Welt versetzt,
die von der unsrigen sich mehrfach unterscheidet. Er glaubt durchaus nicht
etwa auf unsrer Erde zu sein, sondern wandelt auf einem Phantasiestern
herum, dessen Geographie und Geschichte ich allerdings erst aufs genaueste
ausarbeiten mußte, damit keinerlei Widersprüche in ihr vorkommen. Sie können
daraus ersehen, daß ein tüchtiges Stück Arbeit nötig war. Selbstverständlich
fängt Herr Nemo sein Leben in der Mitte an, er ist ein Mann in den besten
Jahren und feierte vor einigen Tagen seineu neunzigsten Geburtstag, was auf
seinem Stern nicht all zu viel zu bedeuten hat, da man dort bis zweihundert
Jahre alt wird. Augenblicklich ist er mit einem Freunde auf eiuer Ver¬
gnügungsreise im Gebirge.
Die Doktoren und Homunculus traten an die Telephone, und der Ge¬
heimrat rückte an einem Zeiger. Sofort begann sich die Walze langsam zu
drehen. Zunächst war nichts zu bemerken. Das Gehirn mit den Nerven
daran lag unbeweglich, als ob nicht das Geringste in ihm vorginge. Man
hörte nur das Summen der elektrischen Maschinen. Der Geheimrat nahm
ebenfalls ein Telephon zur Hand.
Nach etwa einer Minute vernahm man einen Seufzer. So Hans — sagte
dann eine tiefe Stimme —, nun hätten wir ja die Hauptsache überstanden
und müssen gleich oben sein. Siebenundvierzigtausend Fuß über dem Meeres¬
spiegel ist freilich keine Kleinigkeit, und noch dazu bei der Hitze, die Sonne
brennt ja wie noch nie. Als ich das letztemal oben war, vor fünfzig Jahren,
war ich freilich noch rüstiger.
Nun erfolgte eine Pause. Jetzt antwortet ihm sein Freund, sagte der
Geheimrat.
Ah, siehst du, um kommt die Aussicht heraus — ließ sich die Stimme
wieder vernehmen —, herrlich, wirklich herrlich, sieh nur das Meer unten mit
den unzähligen Schiffen, die wie kleine Punkte aussehen, und dann die Berge
drüben! Ja, der hohe hier rechts ist der Nephelvphoros, der höchste Berg
des Gebirges. Wie wundervoll es sich macht, der Fuß im ewigen Schnee
und der Gipfel mit Palmen und Chpresseu bedeckt! Du möchtest mein Glas,
warte, gleich werde ich es abmachen, so, du mußt noch etwas mehr schrauben,
denn ich bin kurzsichtig. Aber lehne dich nicht so über das Geländer, du
könntest hinunterstürzen, und die Tiefe ist wirklich schauerlich.
Alle diese Reden erfolgten mit kleinen Pansen. Nun blieb es einige Zeit
lang stille.
Sie gehen jetzt in die Restauration, um sich von den Strapazen ein
wenig zu erholen, sagte der Geheunrat.
Nein, nicht an jenen Tisch — begann die Stimme wieder —, da sitzt
ja der verrückte Mensch, der Professor Tanne, mit dem ich mich neulich so
gestritten habe. — Weshalb? — Denke dir, dieser Mensch behauptete, die ganze
Welt existire gar nicht, das Leben wäre nur ein Traum, eine Einbildung, und
was dergleichen Unsinn mehr war. Nun, ich diente ihm gehörig. Ins Narren¬
haus sperren sollte man solche Leute, anstatt ihnen von Staats wegen Geld
dafür zu geben, daß sie mit ihrem Blödsinn den jungen Leuten die Köpfe
verdrehen. — Du hast recht, wir wollen lieber die Aussicht genießen, als uns
ärgern. Sieh nur, eben geht die erste Sonne unter und die zweite auf. . . .
Genug, Herr Geheimrnt — rief Wirklich und ließ sein Telephon fallen —,
genug, mir schwindelt!
Eine halbe Stunde später stiegen beide Freunde die Treppe des Labora¬
toriums wieder herab.
Wie steht es nun um die Unabhängigkeit des Geistes von den Physischen
Vorgängen im Gehirn? fragte Wirklich. Und wie steht es um die Realität
von Raum und Zeit und die so ganz unerschütterliche der Materie? entgegnete
Simmer. Das Wesen, das wir soeben beobachteten, lebte und bewegte sich in
einem Raume, der nicht ist, es hatte eine Zeit hinter sich, die nicht war. Die
Materie, die es sah und fühlte, war nichtig, die Menschen, mit denen es sprach,
waren weniger als ein Schatten. Nichts war wirklich, als es selbst, und die
kurze Spanne Zeit, in der wir es vernahmen. Nicht einmal die Naturgesetze,
nach denen sich seine Welt bewegte, sind wirklich, und doch erschien ihm alles
so real wie uns, und mit Hohnlachen wies es den Versuch, seine Welt zu
leugnen, zurück. Sollte es nicht einen Standpunkt geben, von dem auch unsre
Welt, unsre Zeit, das, was wir Naturgesetze nennen, ja wir selbst ebenso nichtig
aussehen wie Herr Nemo und seine Welt?
Wirklich erwiderte nichts. Simmer aber sprach, mehr für sich als zu dem
andern gewendet, die Verse:
Geheimnisvoll am lichten Tag
Läßt sich Natur des Schleiers nicht berauben,
Und was sie deinem Geist nicht offenbaren mag,
Das zwingst dn ihr nicht ab mit Hebeln und mit Schrauben.
Zu den seltsamsten Erscheinungen unsrer an Seltsamkeiten
recht reichen Zeit gehört es wohl, daß Männer in hoher Staatsstellung sich her¬
beilassen, den Besuch van Journalisten anzunehmen, die mit der ausgesprochnen
Absicht erscheinen, sie auszukundschaften. Wenn die Leiter hervorragender politischer
Blätter die Gelegenheit suchen, ihre Kenntnis der in Regiernngskreisen herrschenden
Auffassung bestimmten Fragen an der Quelle zu schöpfen, so ist das ebenso natür¬
lich, als daß Staatsmänner solchen Bemühungen mittelbar oder unmittelbar ent¬
gegenkommen, falls sie sich darauf verlassen können, daß die Erkundigungen im
Interesse des Staates eingezogen und taktvoll benutzt werden. Aber Publizisten
im wahren Sinne des Wortes, Männer, die es mit ihrer wichtigen Aufgabe ernst
nehmen, sind es ja nicht, die einen fremden Gesandten, Minister, General über¬
fallen, um ein oft höchst abgeschmacktes Examen mit ihnen anzustellen und das
Frag- und Antwortspiel brühwarm an eine Zeitung zu schicken, sondern in der
Regel „rontinirte lüoiviois voznAoni's," die statt in Barchent oder Cigarren in
Politik machen, weil ihnen dies Geschäft einträglicher erscheint. Sie leihen dann
in ihren Berichten die eigentümliche Beredsamkeit ihres Standes großmütig der
„Kundschaft," d. h. dein „interviewten" Staatsmanne, Plaudern rücksichtslos ver-
trauliche Äußerungen aus, schmücken aus, falls er zurückhaltend war, und ergänzen
aus eignen Mitteln, wo sie ihm nicht oder falsch verstanden haben. Sie sind ja
nicht alle von der Art der Herren „de Blowitz," Löw oder Hirsch „Snint-Csre"
und Consorten und mögen oft nicht absichtlich lügen, sondern durch ihren Mangel an
Bildung und Fassungskraft irregeführt werden. Wir geben auch zu, daß Dilettanten
in der hohen Politik, wie manche russische Generale, sich dadurch geschmeichelt
fühlen, daß ihren Meinungen eine unverdiente Bedeutung beigelegt und Verbrei¬
tung gegeben wird. Und ob einem Manne, wie der kroatische Bischof Stroßmayer,
etwas mehr oder weniger Unsinn in den Mund gelegt wird, ist gewiß gleichgiltig;
in seiner lahmen Ableugnung des haarsträubenden Zeuges, das er zu einem unga¬
rischen Berichterstatter gesagt haben soll, kommt die köstliche Wendung vor, wer
ihn kenne, werde wissen, was ihm zuzutrauen sei, und in der That weiß das der
Zeitungsleser, der sich erinnert, daß der vielgeschäftige Bischof zu den entschiedensten
Opponenten auf dein vatikanischen Konzil gehörte, dann landabiliter zu Kreuze
kroch, in Rußland den Pnnslawisten spielte n, s. w. n. s. w. Welchen Nutzen sich
aber Diplomaten im Amt von solchen Gesprächen und ihrer Veröffentlichung ver¬
sprechen, ist durchaus unverständlich. Entweder enthält der Bericht nichts, was
man nicht schol: wüßte, oder er muß als teilweis oder gänzlich erdichtet bezeichnet
Werden. Darüber vergeht aber Zeit, und es hängt noch von dem Belieben der
Zeitungen ab, ob sie die Berichtigung abdrucken wollen oder nicht. In dieser Be¬
ziehung trifft das Sprichwort nicht zu, daß Lügen kurze Beine haben: man kann
noch nach Jahren Erzählungen wieder begegnen, die mit aller Bestimmtheit in das
Reich der Neporterphantasie verwiesen worden sind. Vor allem: wie kann sich
dein Pariser Korrespondenten der Times noch irgend eine Thür öffnen? Dem
Manne, der so viel dazu beigetragen hat, dem einstigen Weltblatt allen Kredit zu
runden, ist es doch augenscheinlich nur um Skandal zu thu». Die „Fliegenden
Blätter" lieferten eine Zeit lang fast in jedem Blatt einen humoristischen Borschlag
zur Abwehr zudringlicher „Geschäftsreisender," z. B. das Anbringen eines eignen
Glvckenzuges für sie, der, wenn laut Vorschrift stark gezogen, über den Landenden
einen Eimer Wasser ausleerte. Eine derartige Vorrichtung für „Interviewer"
könnte sich als nützlich erweisen, nur müßte der Eimer natürlich mit Tinte gefüllt
sein. Irgend ein Abraham „Abranyi" würde zwar auch daraus einen kleinen
Roman zu machen wissen, aber dann wüßte wenigstens auch der naivste Leser,
was er davon zu halten hätte.
ist bekanntlich in Österreich Gegen¬
stand einer Prvzeßverhandlung gewesen und infolge deren verboten worden. Da
der Verfasser, Professor in Prag, sich keine Autorrechte vorbehalte» hatte, ist die
Übersetzung des Buches ins Französische und eine Zurückübersetzuug ins Deutsche
möglich geworden, die Carl Paasch, der Verfasser eines unlängst in diesen Blättern
besprochnen Werkes über die Judenfrage, besorgt hat (Leipzig, Th. Fritsch).
Gegenüber den Behauptungen und den Ableugnungen der Authentizität der von
Rodung benutzten Texte ist es dem Nichtfachmanne schwer, sich ein Urteil zu bilden.
Unter allen Umständen bleibt das Buch eine interessante Erscheinung.
Über soziale Differenzirung. Soziologische und psychologische Untersuchungen von
G. Simmel. (Band X der von Schmoller herausgegebenen Staats-und Sozialwissenschaftlichen
Forschungen.) Leipzig, Duncker und Humblot, 1890
Herbart hatte die Gesetze, nach denen sich das Netzwerk der Vorstellungen
in der Seele bildet und ändert, auf das Gewebe von Staat und Gesellschaft an¬
zuwenden versucht. Schiiffle betrachtete sodann den Aufbau der menschlichen Gesell¬
schaft als eine Fortsetzung desselben Naturprozesses, der nach darwinischen Gesetzen
die Organismen bildet, sodaß der Gesellschaftskörper nnr als ein erweiterter und
vervollkommneter Mensch erscheint, wie der Mensch nichts als ein höheres Tier
ist. Simmel vereinigt beides, indem er das Seelenleben des Einzelnen und das
Leben der Gesellschaft als zwei gleichzeitig und in Wechselwirkung sich aufwachsende
Seiten desselben Wesens betrachtet. Eine formale Einheit stiftet er zwischen seinen
vielumfassenden Betrachtungen dadurch, daß er sie an das Wort Differenzirung
anknüpft, womit gemeint ist, daß mit dem wachsenden Inhalt in der Seele die
Zahl verschiedner Vorstellungen, Empfindungen und Bestrebungen, in der Gesellschaft
die Zahl verschiedner Gruppen, Einrichtungen, Interessen und Beziehungen wächst.
Das Endergebnis seiner Untersuchungen besteht in der Anerkennung jenes Wider¬
spruches, der, wie wir alle empfinden, mit jedem weiter» Kulturfortschritt immer
unerträglicher wird: einen je größern Reichtum von Wissensschätzen, Gesellschafts-
einrichtnngen und Beziehungen der Kulturfortschritt aufhäuft, desto leichter kann
natürlich auch der einzelne Menschengeist dadurch reich werden, daß er alle diese
Dinge in sich aufnimmt. Aber je reicher ein Geist ist, desto weniger taugt er sür
die heutige Gesellschaft, die bei der feinen Verzweigung ihrer Thätigkeit in Spezial-
fächer nur noch einseitige Virtuosität gebrauchen kann. Natürlich kommt Simmel
bei dieser Gelegenheit auch auf die Schule zu sprechen, er hätte aber noch deut¬
licher und kräftiger hervorheben können, wie innig das Schülerelend mit der
(hoffentlich bloß vorläufigen) Unlösbarkeit dieses Widerspruchs zusammenhängt.
Soll der Schüler ein wirklich gebildeter Maun werden, so muß er von allen Be¬
standteile» unsrer heutigen Bildung einen Begriff bekommen. Lernt er aber von
allem etwas, dann lernt er von keinem so viel, als sein zukünftiges Fach oder
zunächst die Fachschule fordert.
Durch die Fülle scharfsinniger Beobachtungen und geistreicher Verknüpfungen,
die das Buch darbietet, wirkt es ungemein anregend auf den spekulirenden Theore¬
tiker. Ob es dem praktischen Pädagogen, Staatsmann und Sozialpolikiker mehr
nützen oder mehr schaden wird, mag dahingestellt bleiben; die Gefahr, daß es gar
zu vielen Praktikern die Blässe des Gedankens ankränteln könnte, ist glücklicherweise
dnrch die schwer verständliche gelehrte Sprache oder, wenn das höflicher klingt,
durch die streng wissenschaftliche Darstellung ausgeschlossen. Was die Ergebnisse
anlangt, so stimmen wir in den meisten mit dem Verfasser überein; nicht so in
Beziehung auf die Auffassung der seineu Untersuchungen zu Grnnde liegenden
Thatsachen, die uns hie und da ungenau beobachtet zu sein scheinen. Einige Fälle
wollen wir doch anführen.
Daß wir die geistigen Vorgänge und Thätigkeiten mit bildlichen Ausdrücken»
wie begreifen und schließe«, bezeichnen, erklärt Simmel Seite 18 aus dem Um¬
stände, daß sich die Aufmerksamkeit jenen innern Ereignissen erst in einer Zeit zu¬
gewandt habe, wo die Sprache nicht mehr Schöpferkraft genug besaß, um eigue
Ausdrücke dafür zu erfinden. Vielmehr dürfte diese bildliche Redeweise auf einer
ursprünglichen Einrichtung der Seele beruhen. Nur das Vorstellbare können wir
in Worten ausdrücken, und anders als in Bildern können wir die Seelenvorgänge
nicht vorstellbar machen. „Wie Licht und Luft keinen ökonomischen Wert haben,
weil sie allen in gleicher Weise zu gute kommen, so u. s. w." heißt es auf Seite 19.
In welches Jahrhundert oder Jahrtausend hat sich denn da der Verfasser zurück¬
geträumt? Licht und Luft gehören sür uns Städter, d. h. für die größere Hälfte
der Neichsbürger, zu den allerkostspieligsten ökonomischen Gütern, und für Leute,
die sich in der glücklichen Lage befinden, sie ihren Mitmenschen versperren oder
gewähren zu können, sind sie Geldquellen ersten Ranges. Daß, wie auf Seite 48
ausgeführt wird, die Gebildeten eines Landes unter einander sehr verschieden, im
Ganzen betrachtet aber den Gebildeten andrer Länder sehr ähnlich sind, während
im Gegenteil die Ungebildeten desselben Landes als gleichartige Masse erscheinen,
dafür aber von dem gemeinen Volke andrer Länder desto schärfer abstechen, ist
gewiß eine sehr geistreiche Bemerkung, die aber doch eigentlich nur wahr ist, soweit
man solche Äußerlichkeiten wie Mode, Volkstracht und Volkssitte ins Auge faßt.
Der Genremaler sucht seine Gegenstände weniger im Salon als im Bauernhause
und in der Werkstatt, und zwar nicht bloß der Kleidung, sondern auch der Ge¬
sichter wegen. In ihrem Gedcmkeuinhalte können drei Bauern allerdings niemals
so gewaltige Unterschiede ausweisen, wie etwa ein Schöngeist, ein Astronom und
ein Diplomat, wohl aber im Charakter. Der Weltverkehr sührt eben ans einem
andern Wege jene Gleichförmigkeit wieder zurück, die das Menschengeschlecht vor
Zeiten beim Aufsteigen zu höherer Kultur verlassen hat. „Dem Proletarier — sagt
Simmel Seite 77 — siud heut vielerlei Komforts und Külturvorteile zugänglich, die
er in frühern Jahrhunderten entbehrte." Drücken wir den Satz so aus: „Auch
dem Proletarier siud heute einige jener Kulturvorteile zugänglich, die früher über¬
haupt nicht vorhanden waren," dann wird es richtiger sein. Der heutige Prole¬
tarier kann mit der Eisenbahn fahren, sich bei Gasbeleuchtung nach Hause finden,
dort angekommen mit einem Streichholz Licht machen, und mag er nun noch ein
eignes Nest besitzen oder im Asyl oder im Polizeigefängnis einkehren, so wird er
meistens Glasfenster finden und einen Ofen, der seinen Rauch wenigstens teilweise
und bei günstigem Winde durch den Schornstein entsendet, was alles vor tausend
Jahren auch die Fürsten entbehren mußten. Aber das Wort Komfort erweckt
falsche Vorstellungen. Man muß schon bis zu den Eskimos hinaufgehen — bei
Naturvölker« der gemäßigten und der warmen Länder kommt dergleichen nicht
vor —, um einen ähnlichen Grad des Gegenteils von Komfort zu finden, wie bei
den Proletariern unsrer großen Städte. Wer sich scheut, selbst Entdeckungsreisen
in diese nicht allzuferne Gegend zu unternehmen, der lese z. B. die Schilderungen
des Londoner Proletarierlebens in den Reisebriefen des gewissenhaften, durch und
durch wahrhaftigen V. A. Huber.
An der aufgewendeten Denkarbeit gemessen, ist das kleine Buch Simmels
eine sehr bedeutende Leistung.
n diesen Tagen, wo Frankreich und Rußland lärmende Ver¬
brüderungsfeste feiern und die französischen Chauvinisten wieder
eine neue Balaneirstange in die Hände bekommen haben, um
über das dunkle unheimliche Gefühl der eignen Schwäche und
Unselbständigkeit prahlerisch hinwegzutänzeln, ist aus dem Nachlaß
des Feldmarschalls von Moltke gleichsam wie ein stilles, aber vielsagendes
Menetekel die Geschichte des deutsch-französischen Krieges erschienen.
Der Herausgeber von Moltkes gesammelten Schriften und Denkwürdig-
keiten hat diese Geschichte, die eigentlich deu dritten Band des umfangreichen
Werkes bilden sollte, zuerst veröffentlicht, weil die Handschrift des dahin-
gegangnen Feldherrn schon vollständig druckfertig vorlag und auch wohl
gerade der Inhalt dieses Bandes am meisten geeignet erschien, die Aufmerk¬
samkeit der gebildeten Welt ans Moltkes hinterlassene Schriften zu lenken.
Nur schwer hatte sich der greise Heerführer dazu verstanden, dem deutschen
Volle eine eigenhändige Darstellung jenes beispiellosen Krieges gleichsam als
letztes Vermächtnis darzubieten, denn er fürchtete durch das Hineiumengen
kleinlicher Gesichtspunkte die großen geschichtlichen Thatsachen zu verzerren
und durch die Mitteilung persönlicher Erlebnisse das Bild dieses oder jenes
Mannes, das rein und erhaben in der Geschichte dasteht, in häßlicher Weise
zu verunstalten. „Es ist eine Pflicht der Pietät und der Vaterlandsliebe,
sagt er, gewisse Prestige» nicht zu zerstören, welche die Siege unsrer Armee
an bestimmte Persönlichkeiten knüpfen." So hat er sich denn in der vor¬
liegende» Darstellung auf deu Standpunkt des alles überschauenden und fein-
bevbachteudeu Berichterstatters ztt stellen versucht, der alle kriegerischen Ereignisse
und militärischen lluternehmnugeu in deu Zusammenhang des von ihm als
obersten Leiter erkannten großen Ganzen einordnet und die Wechselwirkungen
wie die Folgen der einzelnen erwarteten oder unerwarteten Begebenheiten ans
dem ganzen Kriegsschauplatze klar hervortreten läßt. Von diesem Standpunkte
aus konnte er einen einheitlichen Zug in die wechselvollen, scheinbar zusammen¬
hanglosen Maßnahmen und Kämpfe auf den verschiednen Gebieten bringen
und so dem Leser gleichsam ein umfangreiches, in sich abgeschlossenes Bild aus
der Vogelperspektive des großen Generalstabes bieten. Für allgemeine, volks¬
tümlich belehrende Zwecke schien ihm die vom Generalstab herausgegebne
bändereiche Geschichte des Feldzuges zu detaillirt und zu fachmännisch geschrieben.
So begann denn Moltke als siebenundachtzigjühriger Greis auf seinem Landsitz
Creisau eine zusammenfassende Umarbeitung oder besser einen in selbständiger
Auffassung behandelten Auszug aus jener Geschichte, und trotz seines hohen
Alters hat er in wenigen Monaten ein Werk zustande gebracht, das jedem
Leser die größte Bewunderung abgewinnen, in jedem Deutschen aber die Ge¬
fühle der Begeisterung und der Dankbarkeit hervorrufen muß.
Voll Erstaunen blickt das Ausland auf diese schriftstellerische Leistung des
greisen Heerführers, und selbst in der französischen Presse findet man neben
den Ausbrüchen bittern Grolls und nnverhohlnen Neides doch auch Worte der
Anerkennung und der Hochachtung. Durch die hervorragenden Eigenschaften
dieses Buches, durch die in ihm atmende Vaterlandsliebe, durch eine bewunderns-
werte, selbst in verwickelten und dunkeln Ereignissen hervortretende Klarheit
der Darstellung und nicht zum mindesten dnrch die Reinheit, Einfachheit und
Schönheit der Sprache bewogen, hat man im Übereifer sogar schon die
Forderung gestellt, Moltkes Werk als Lehrbuch in unsre Gymnasien einzuführen
und dafür Cäsar, Livius, Herodot u. s. w. möglichst bald ans unsern Schulen
zu entfernen. Moltke sei, obgleich er keine klassische Bildung genossen habe,
doch durch sein Werk einer unsrer ersten Klassiker geworden und müsse als
solcher unsrer Jugend bekannt gemacht werden. Das ist denn doch eine offen¬
bare Verkennung der Schwierigkeiten, die Moltkes Werk trotz seiner klassisch
einfachen Sprache jedem nicht militärisch gebildeten Leser bietet. Derartige
Bücher aus unsrer Zeit sind überhaupt nicht für den Schulunterricht ge¬
schrieben, schon aus dem einfachen Grunde, weil die meisten Lehrer nicht
imstande wären, sie sachgemäß zu erklären. Überlassen wir das Studium
Moltkes und der Gegenwart dem heranreifenden oder gereiften Manne und
verlangen wir von ihm, daß er seine allgemeine Bildung auch auf diesem
Gebiete nicht mit den Schuljahre» für abgeschlossn halte, sondern selbst an
ihrer Vervollständigung weiter arbeite, dann wird man endlich aufhören, bloß
immer auf die unreife Jugend zu schauen, der Schule Aufgaben zuzumuten,
die sie nicht erfüllen kann, und sie für einen Bildungsmangel verantwortlich
zu machen, den jeder, wenn er nicht als Banause gelten Null, die Pflicht hätte,
nach den Schuljahren durch eigne Arbeit und selbständiges Nachdenken zu be-
seitigen. Es giebt Gott sei Dank noch Bücher, die für unsre Jugend zu schade
sind! Diese Meinung schließt nicht aus, daß sich auch in Moltkes Werk
Kapitel finden, die unsre reifere Jugend verstehen wird, und die ihr zugänglich
gemacht werden könnten.
Moltke hat, wie gesagt, keine kritische Geschichte des Feldzugs schreiben
wollen; es wäre sonst vielleicht um das Ansehen mancher unsrer Heerführer
aus jener Zeit, trotz ihrer Erfolge, geschehen; aber ganz verschweigen konnte
seine Gerechtigkeitsliebe die mannigfachen Mißgriffe und taktischen Fehler, die
von den Leitern gemacht worden sind, doch nicht. Gegen überlieferte, allge¬
mein verbreitete und sich allmählich festwurzelnde falsche Ansichten über die
Kriegsführung, das Angriffsverfahren, die Verfolgung des geschlagner Feindes,
die Marschbewegungen, die Belagerungen fester Plätze und dergleichen Einzel¬
heiten tritt er, wo sich die Gelegenheit nur bietet, mit der Ruhe und Ent¬
schiedenheit des sachkundigen Meisters auf. So wendet er sich gleich im ersten
Kapitel, das die Vorbereitungen zum Kriege behandelt, gegen die in den Ge¬
schichtsbüchern als bestimmte Thatsache erscheinende Annahme, daß der Feld-
zugsplan von ihm auf weite Zeit hinaus festgestellt und im großen und ganzen
auch bis zu Ende durchgeführt worden sei. „Der erste Zusammenstoß mit
der feindlichen Hauptmacht schafft, sagt er, je nach seinem Ausfall eine neue
Sachlage. Vieles wird unausführbar, was man beabsichtigt haben mochte,
manches möglich, was vorher nicht zu erwarten stand. Die geänderten Ver¬
hältnisse richtig auffassen, daraufhin in absehbarer Frist das Zweckmäßige
anordnen und entschlossen durchführen ist alles, was die Heeresleitung zu
thun vermag." Moltkes Plan ging darauf aus, die feindliche Hauptstadt, die
in Frankreich von größerer Bedeutung ist, als in andern Ländern, zu erobern.
Auf dem Wege dahin sollte die Streitmacht des Gegners möglichst von dem
an Hilfsmitteln reichen Süden ab- und in das engere Hinterland des Nordens
gedrängt werden. Maßgebend aber vor allem war der Entschluß, deu Feind,
wo man ihn träfe, unverzüglich anzugreifen und die Kräfte so zusammenzn-
hnlten, daß es mit überlegner Zahl geschehen könnte. Ein unberechenbarer
Vorteil war es gleich bei Beginn des Feldzugs, daß die französischen Truppen
im immobilem Zustande, d. h. ohne das Eintreffen der Ersatzungsmannschaften
und der Ausrüstung abzuwarten, aus ihren Standorten abgerückt waren. Die
einberufneu französischen Reserven häuften sich in den Depots; alle Bahnhöfe waren
überfüllt, die Eisenbahnen zum Teil schon verstopft. Die Weiterbeförderung
stockte, da mau oft in den Depots deu augenblicklichen Standort der Regi¬
menter nicht kannte, an die die Mannschaften abzusenden waren. Trafen diese
endlich bei ihren Regimentern ein, so mangelten ihnen die notwendigsten
Ausrüstungsgegenstände. Den Korps und den Divisionen fehlten die Trains,
die Lazarete und fast das gesamte Verwaltuugspersonal. Magazine waren
nicht im voraus angelegt worden, und die Truppen wurden daher auf die
Bestände der Festungen angewiesen. Diese selbst befanden sich in vernach¬
lässigten Zustande, denn auf sie war bei der sichern Erwartung, man werde
alsbald in Feindesland vorgehen, wenig Rücksicht genommen worden. So
hatte man auch Karten, zwar vou Deutschland, nicht aber von dem eignen
Gebiet an die Stäbe verteilt. Zahllose Anforderungen, Klagen und Beschwerden
liefen beim Kriegsministerium in Paris ein, das schließlich den Truppen über¬
lassen mußte, sich zu helfen, wie sie konnten. On so Äudroriillörii. hoffte die
zentrale Behörde.
Moltke kommt wiederholt in seinem Buche auf die mangelhafte Ausrüstung
der französischen Armee zurück, die durchaus nicht im;inxröt» gewesen sei.
So hebt er z. B. bei der Schilderung der Schlacht bei Gravelotte hervor,
daß das sechste französische Korps gar keinen Geuiepark besaß, und
daß, um nur die Verwundeten zurückzuschaffen, Proviantwagen abgeladen
und ihr Inhalt verbrannt werden mußte. Das sechste Korps vermochte
daher nicht den notwendigen fortifikatorischer Abschluß gegen den Wald
von Jaumont herzustellen, der dein rechten Flügel eine erhöhte Stärke ver¬
liehen hätte.
Die unausbleibliche Folge dieser mangelhaften Zustände war eine be¬
ständig wachsende Zuchtlosigkeit in der französischen Armee. Moltke unterläßt
nicht, an verschiednen Stellen seines Buches darauf hinzuweisen. So bemerkt
er, daß die Garnison aus Soissons uach der Kapitulation größtenteils be¬
rauscht abgerückt sei, daß der Kommandant von Schlettstadt nach der Über¬
gabe um ein beschleunigtes Einrücken der deutschen Truppen dringend gebeten
habe, da in der Stadt die größte Zuchtlosigkeit herrsche, daß der Rückzug der
Franzosen fast immer ungeordnet gewesen sei und gleich im Anfang des Feld¬
zuges, wo auf französischer Seite von unausgebildeten Truppe« noch keine Rede
sein konnte, gewöhnlich, z. B. schon nach der Schlacht bei Worts, zu einer
völligen Auflösung ausgeartet sei. Daher habe sich anch die Zahl unver-
wundeter Gefangnen von Schlacht zu Schlacht gesteigert. Aus dem Lager
von ClMvus mußten achtzehn Mobilgnrdenbataillvne zurückgeführt werden, da
sie solche Proben von Unbotmäßigkeit abgelegt hatten, daß man Bedenken
tragen mußte, sie nu den Feind zu bringen. Moltke ist gerecht genug, den
französischen Truppen da, wo sie sich wirklich auszeichneten, volle Anerkennung
zu zollen, z. B. bei den großartigen, aber völlig nutzlosen Kavallerieangriffen
während der Schlacht bei Sedan oder bei der tapfern Verteidigung von
Se. Cloud. Den französischen Führern gegenüber verhält er sich mit seinem
Lobe jedoch außerordentlich zurückhaltend. Aufrichtige Achtung empfindet er
im Grunde nur vor dem General Chanzh, der sich bekanntlich bei den Kämpfen
um Orleans auszeichnete und in kurzer Frist den innern Halt der geschlagner
Truppen in dem Maße wieder herzustellen wußte, daß sie der Armeecibteilnng
des Großherzogs von Mecklenburg nicht »ur Stand zu halten, sondern gegen
sie selbst angriffsweise vorzugehen vermochten. Moltke nennt Chauzh den
tüchtigsten von allen Führern, die die Deutschen im Felde zu bekämpfen ge¬
habt haben. Um so vorsichtiger ist sein kritisches Urteil über Bazaine. Die
offenbaren taktischen Fehler dieses Marschalls erscheinen ihm nnr durch die
Annahme erklärlich, daß Bazaine schon vom 16. August an in seinen militä¬
rischen Operationen unter dem Einfluß politischer Erwägungen gestanden habe.
Wollte Bazaine seineu geplanten Rückzug von Metz auf Verdun fortsetzen, so
mußte er sich nach Moltkes Ansicht nicht in eine Verteidigungsstellung be¬
geben, sondern augriffsweise verfahren und sich vor allen Dingen des unmittel-
bar gegenüberstehenden Gegners mit aller Gewalt entledigen. Warum dies
nicht geschah, sagt Moltke, ist aus rein militärischem Gründen nicht leicht zu
erklären. Mit voller Sicherheit war zu übersehen, daß nur ein Teil, wahr¬
scheinlich ein kleiner Teil, der deutscheu Heeresmacht sich schon jetzt auf dem
linken Moselufer befinden könnte, und als im Laufe des Tages auch die noch
bei Metz zurückgebliebnen Divisionen einrückten, hatten die Franzosen eine
mehrfache Überlegenheit. Aber die vornehmlichste Sorge des Marschalls scheint
gewesen zu sein, uicht von Metz abgedrängt zu werden, und so richtete er den
Blick fast nur nach seinem linken Flügel. Indem er dorthin immer neue
Verstärkungen absandte, häufte er das ganze Gnrdekorvs und einen Teil des
sechsten dem Bois des Oguvus gegenüber an, vou dem aus ein Augriff über¬
haupt uicht stattfand. Man ist versucht anzunehmen, daß nur politische Grüude
den Mnrschall Bazaine schon an diesem Tage zu dem Entschluß brachten, bei
Metz zu verbleiben.
Vou dem Verdachte eines Verrates sucht ihn Moltke jedoch zu reinige»;
ein Feldherr dürfe sich zwar nicht dnrch politische Beweggründe beeinflusse»
lasse», aber es frage sich doch sehr, ob Bazaine bei der in Frankreich eiuge-
trctnen Verwirrung anders habe handeln können. Aus seinem ganzen Verhalten
in deu Schlachte» vor Metz gehe eine entschiedne Abneigung hervor, sich von
diesem Platze zu trennen. Unter seinen Mauern vermochte er in der That
eine bedeutende Heeresmacht bis zum gegebnen Augenblick ungeschwächt zu
bewahren. An der Spitze der einzigen noch nicht zertrümmerten Armee Frank¬
reichs konnte ihm eine Machtstellung zufallen wie keinem andern im Lande.
Freilich mußte diese Armee erst von dem Banne befreit sein, der sie zur Zeit
gefesselt hielt. Der gewaltsame Durchbruch hätte sie, selbst wenn er gelang,
erheblich geschwächt, und ganz undenkbar war es nicht, daß der Marschall,
als stärkste Autorität im Lande, einen Preis werde bieten können, der deu
Gegner bestimmte, den Abzug zu gestatten. Denn wenn es endlich zum
Friedensschlüsse kam, mußte man ans deutscher Seite fragen: Wo ist in
Frankreich die Macht, mit der nach Zusammensturz des Kaiserreiches ver¬
handelt werden kann, und die in ihrer Stärke die Bürgschaft dafür leistet,
daß nbernommue Verpflichtungen auch gehalten werden? Daß der Marschall,
wenn seine Pläne zur Ausführung gelangt wären, anders als im Interesse
Frankreichs gehandelt haben würde, ist weder bewiesen noch vorauszusetzen.
In höherm Grade als dieser Politiker scheint Moltkes Sympathie der
Marschall Mac Mahon besessen zu haben, der seine vernünftigen militärischen
Maßregeln den unvernünftigen Forderungen aus Paris unterordnen mußte,
und sich, statt die Hauptstadt zu decken, durch das Geschrei der National¬
versammlung: der französische General, der seine Gefährten im Stiche lasse,
verfalle dem Fluche des Vaterlandes, bewegen ließ, dem „tapfern" Bazaine zu
Hilfe zu eilen und dadurch seine Armee unrettbar ins Verderben zu führen.
Für den Marschall Mac Mahon, sagt Moltke, war es ein besondrer Glücks¬
fall, daß er schon am Anfang der Schlacht bei Sedan verwundet worden
war, sonst wäre unausbleiblich er der Unterzeichner der Übergabe gewesen,
und obwohl er nnr die Befehle ausgeführt hatte, die ihm von Paris ans
aufgedrängt worden waren, würde er schwerlich später über den Waffen-
gefährten zu Gericht gesessen haben, dessen Befreiung ihm nicht ge¬
lungen war.
Moltke betont wiederholt im Laufe seiner Darstellung, wie unheilvoll es
für die französische Armee gewesen sei, daß ihre Heerführer beständig auf die
Volksstimmung in Paris gelauscht und sich dadurch oft zu ganz zwecklosen
Unternehmungen hätten hinreißen lassen. Die meisten Ausfälle aus Paris
seien Folgen dieser Rücksicht gewesen, denn auf einen wirklichen Erfolg hätte
man dabei immer nur rechnen können, wenn eine Armee von außen so nahe
herangerückt wäre, daß sie der aus dem Platze heraustretenden unmittelbar die
Hand reichen konnte. Behandelt Moltke Chanzy und Mac Mahon mit einer
gewissen kameradschaftlichen Achtung, so läßt er jede Rücksicht fallen, wo er
auf die dilettantische Kriegsführung Gambcttas und Freycinets zu sprechen
kommt. Er rühmt allerdings Gambetta nach, daß er es vortrefflich verstanden
habe, ganze Bevölkerungen des Landes zu bewaffnen; die ins Leben gerufenen
Scharen nach einheitlichem Plane zu lenken, dazu habe er aber nicht die ge¬
ringste Fähigkeit besessen. „Ohne ihnen Zeit zu lassen, sich zu kriegstttchtigcn
Truppe» heranzubilden, schickte er sie mangelhaft ausgerüstet mit rücksichts¬
loser Härte in unzusammenhüngende Unternehmungen gegen einen Feind, an
dessen fester Fügung ihre Tapferkeit und ihre Hingebung zerschellen mußten.
Er verlängerte den Kampf mit allen Opfern auf beiden Seiten, ohne das
Schicksal zu Gunsten Frankreichs zu wenden." Man sieht das überlegne
Lächeln des erfahrne,? Feldherrn überall da, wo er, z. B. bei der Schilderung
der Kämpfe um Besanyon, auf die wunderlichen Anordnungen und lcnenhaften
Marschbefehle Freycinets zu sprechen kommt; dort heißt es: „Den militärischen
Dilettantismus, der vou Bordeaux aus die Heeresbewegnngen leiten zu können
glaubte, kennzeichnet ein Telegramm vom 25. Januar nachmittags. Als seine
oonvivticm bivn A'i'dtvo spricht Herr de Freycinet aus, daß General Bvnr-
hati, wenn er seine Korps versäumte und nötigenfalls sich mit Ggribaldi
verständige, stark genng sei, xonr xg-sser soit x-u- I)ülo, soit xar Noruzlmr«!,
soit xar Org./, soit xsir ?onwi11ol' (nördlich Auxonne). Die Wahl blieb frei¬
gelassen. Noch außerordentlicher war der weitere Vorschlag: wenn der Zu¬
stand der Armee denn wirklich einen lungern Marsch nicht erlaube, so solle
sie sich in Chagny, doch unzweifelhaft angesichts des ihr folgenden Feindes (!)
auf der Eisenbahn einschiffen."
Bei dieser Gelegenheit sei erwähnt, daß Moltke eingesteht, er sei auf
Frehcinets Plan, der sich auf Vesanyon bezog, durch die französischen Zeitungen
aufmerksam gemacht worden, wie er mich schon Mac Masons Zug nach Metz
aus dem Pariser ?6inxs erfahren habe. Noch weniger ernsthaft als Freycinet
vermag Moltke den General Garibaldi zu nehmen. Mit sichtlichem Humor
erzählt er, daß dieser „Retter Frankreichs" nach einer kläglichen Rolle bei
Messigny mit seinen Truppen uuter den rauschenden Klängen der Marseillaise
wieder in Dijon eingerückt sei. Der bitterste Vorwurf, deu Moltke den fran¬
zösischen Führern macht, ist der, daß sie oft gar nicht, oft unzureichend auf
die Sicherung ihrer Truppen bedacht gewesen seien. Selbst die einfachsten
und notwendigsten Maßregeln seien von ihnen zuweilen außer acht gelassen
worden. So hatten die Franzosen z. B. bei Vionville das lange, als Sperre
außerordentlich wichtige Waldthal nach Gorze völlig unbesetzt gelassen und
durch diesen schweren Fehler der fünften preußischen Division den ungehinderten
Vormarsch ermöglicht. Bei Beaumont konnte infolge dieser unerhörten Nach¬
lässigkeit die Spitze der achten Division vollkommen unbemerkt bis auf acht¬
hundert Schritt (!) an das feindliche Lager gelangen. Nicht minder scharf
rügt der Feldherr den Mangel an einheitlicher Oberleitung, an selbständigem
Handeln und schneller Auffassung der gegebnen Gefechtslagen bei den Unter¬
führern. So sagt er bei der Schilderung der Schlacht bei Spichern: „Den
vollen Gegensatz zu der kameradschaftlichen Hilfe, die die Preußischen Führer
sich leisteten, und das Herandrängen der Truppen zum Gefecht, bilden die
seltsamen Hin- und Herzüge der uoch hinter General Frossard stehenden
Divisionen, von denen zwar drei zu seiner Unterstützung in Bewegung gesetzt
wurden, aber nur zwei eintrafen, nachdem der Kampf beendet war."
Noch an andern Stellen rühmt er die selbständige Entschließung ans
deutscher Seite, das einheitliche Zusammenhalten und die Vereitschaft zu gegen¬
seitigen Hilfsleistungen unter allen im Bereiche des Gefechtsfeldes stehenden
Befehlshabern, Eigenschaften, die besonders glänzend in der Schlacht bei
Colvmbey-Romilly und in dem außerordentlich schwierigen Zuge der zweiten
Armee nach Le Maus hervorgetreten sind. Nie während des ganzen Feld-
zuges hat er über die Mannszucht unter den deutschen Truppen zu klagen,
obwohl an ihre Leistungsfähigkeit, Hingebung und Tapferkeit die unglaublichsten
Anforderungen gestellt wurden. In Versailles, erzählt er, wo die Einwohner
nicht geflohen waren, konnte man glauben in tiefem Frieden zu leben. Die treff¬
liche Mannszucht der Truppen gestattete deu Bürgern, ihren Geschäften in aller
Ruhe nachzugehen, die Wirte verdienten reichlich an der Einquartierung, und
der Landmann bestellte ungestört seine Felder und Garten. In Se. Cloud
zeigten sich alle Räume genau in der saubern Anordnung, wie die kaiserliche
Familie sie verlassen hatte, bis die Geschosse vom Mont Valörien diesen
reizenden Palast mit allen seinen Kunstschätzen in einen ausgebrannten
Trümmerhaufen verwandelten. Ebenso verwüsteten französische Granaten das
Schloß von Meudon, die Porzellanfabrik von Scwres und ganze Ortschaften
der nächsten Umgebung. Moltke tadelt an verschiednen Stellen seines Werkes
die strafwürdige Munitionsverschwendung der französischen Artillerie, die sich
darin zu gefallen schien, mit den schwersten Kalibern ohne Erfolg auf die
nichtigsten Gegenstände zu schießen. Dagegen hebt er an der deutscheu Be¬
lagerungsartillerie die Umsicht, die Treffsicherheit und die bedeutenden Erfolge
hervor. Am 27. Dezember eröffneten z. B. sechsundsiebzig Geschütze das Fetter
gegen den Mont Avron. Dichtes Schneegestöber gestattete ein genaues Eiu-
schießeu nicht und verhinderte die Beobachtung der Schußwirkung. Der Mont
Avron und eilest minder die Forts Nogent und Nosuh antworteten schnell
und lebhaft. Die deutschen Batterien verloren zwei Offiziere und fünfund¬
zwanzig Mann, mehrere Laffetten waren uuter dem eignen Feuer zusammen¬
gebrochen, und allgemein gab man sich der Ansicht hin, daß an diesem Tage
kein sonderlicher Erfolg erreicht worden sei. Aber die Batterien hatten besser
geschossen, als sie selbst vermutete». Das klare Wetter am 28. gestattete eine
genaue Korrektur, die preußischen Geschosse schlugen mit sichtbarer Wirkung
ein und richtete» auch uuter der starken und völlig schutzlosen Jnfautcrie-
besatzuug furchtbare Verwüstung an. Der Mont Avron verstummte, und nur
die Forts setzten ein schwaches Feuer fort.
Selbst uuter deu schwierigsten Verhältnissen wurde die Infanterie von
der dentschen Artillerie nicht verlassen. Nur ihrer Gewandtheit, Ausdauer und
Unerschrockenheit ist es nach Moltkes Ansicht zu verdanken, daß sich z. B. die
Armeeabteilung des Großherzogs in den Kämpfen vom 7. bis zum 10. Dezember
gegen drei feindliche Korps behaupten konnte. Ihr Material war in diese»
Kämpfen auch dergestalt in Anspruch genommen worden, daß schließlich die
stählerne» Rohre fast sämtlicher leichten Batterien der 22. Division und die
meisten bairischen dnrch Ausbrennen der Keillochflächen uubrnuchbar ge¬
worden waren.
Aber so anerkennend sich Moltke durchgehend über die deutschen Truppen
und ihre Unterführer ausspricht, so hat er es doch für seine Pflicht gehalten,
hie und da auf einige gefährliche Mißgriffe und Verabsänmnngen der höher»
Befehlshaber hinzuweisen; allerdings an Stelle» seines Werkes, wo man
über seine wichtige Kritik leicht als über etwas Nebensächliches hinwegliest,
und in einer Form, aus der nur der aufmerksame Leser die oft schweren An¬
schuldigungen herauszuerkennen vermag. Als in der Schlacht bei Spicheren
der General Frossard seinen linken Flügel auf anderthalb Divisionen verstärk!
hatte und nun angriffsweisc vorging, fehlte es auf deutscher Seite völlig an
irgend einer geschlossenen Abteilung, um dem zu widerstehen, und so gingen
hier alle bisher errungnen Vorteile wieder verloren. Entscheidend, sagt
Moltke, hätte jetzt die dreizehnte Division eingreifen und dem ganzen Gefecht
ein Ende machen können. Diese war, allerdings nach einem Marsch von vier
Meilen, bereits um ein Uhr in Püttlingen eingetroffen, kaum mehr als eine
Meile von Stiering entfernt. Als das Gefecht bei Saarbrücken vernommen
wurde, rückte auch wirklich die Avantgarde um vier Uhr nach Rössel vor.
Im dortigen Waldgelände soll Geschützfeuer nicht (!) hörbar gewesen sein, man
hielt den Kampf für beendet, und die Division bezog Biwaks bei Völklingen,
als dem Punkt, den das Kvrpskommando in einem früher erlassenen Befehl
als Marschziel bezeichnet hatte, freilich zu eiuer Zeit, wo die jetzt eingetretene
Situation nicht vorhergesehen werden konnte. Derselben dreizehnten Division,
die als Avantgarde gegen Forbach nach der Schlacht bei Spicheren vor¬
marschiert, macht er den Vorwurf, daß sie in die Stadt nicht eingerückt sei,
weil sie sich durch eine Handvoll französischer Dragoner habe täuschen lassen.
Desgleichen tadelt er, daß die dritte Armee nach dieser Schlacht mit dem
geschlagner Feinde keine Fühlung behalten und weder seinen aufgelösten
Zustand noch selbst die Richtung seines Rückzuges erkannt habe. Man er¬
wartete ihn jenseits der Vogesen zu erneutem Widerstande geordnet zu finden,
und da das Gebirge nnr in getrennten Kolonnen durchschritten werden konnte,
so wurde mit großer Vorsicht und in kurzen Tagemürschen vorgerückt. Obwohl
die gerade Entfernung von Neichshofen bis zur Saar nur sechs Meilen beträgt,
wurde dieser Fluß erst nach fünf(!) Tagen erreicht. Einen Feind hatte man
dabei nicht vorgefunden, außer in den kleinen, aber sturmfreien Plätzen, die
die Hauptstraßen im Gebirge sperrten. Zum erstenmal giebt Moltke in seinem
Werke eine Erklärung dafür, daß der General Vinoy nach der Schlacht bei
Sedan unbehindert nach Paris entkommen konnte, obgleich das preußische
sechste Korps schon ans der Nückzugslinie des Gegners stand. General v. Hoff-
mann hatte bei Rethel Stellung genommen und den Gegner erwartet, dessen
Anmarsch ihn: gemeldet worden war. Persönlich vorreitend überzeugte er sich
jedoch von der Seitwärtsbeweguug der Franzosen und marschierte nachmittags
vier Uhr nach Ecly, wo er spät abends eintraf. Ein Teil seiner Truppen
streifte noch gegen Ch-lteau Porcien vor.
Benachrichtigt, daß ihm auch diese Straße verlegt sei, verließ General
Vinoy bereits um eineinhalb Uhr nachts wieder sein Biwak, dessen Feuer
unterhalten blieben, und setzte nnter strömendem Regen und bei tiefer Dunkel¬
heit in einem zweiten Nachtmarsche die Bewegung fort.
Zunächst wich er in nördlicher Richtung aus, um dann auf Umwege»
wenigstens nach Laon zu gelangen. Auf grundlos gewordnen Straßen, unter
vielfachen Störungen, aber ohne vom Gegner erreicht zu sein, traf er morgens
Uhr in Chaumont Porcien ein, wo ein zweistündiger Halt gemacht
wurde. Die Beschaffenheit der Wege zwang nun aber, wieder die südliche
Richtung einzuhalten, und als die Tete Svraineourt erreichte, verkündeten
Kanonenschüsse, daß die Queue vom Feinde angegriffen worden sei.
Die preußische Kavallerie hatte früh morgens den Abmarsch der Fran¬
zosen entdeckt, aber diese wichtige Mitteilung traf den General v. Hoffmann
nicht mehr in Ecly. Dieser war bereits von dort aufgebrochen, um den
Gegner in Novivn-Porcien aufzusuchen, wo man ihn nach seinem ersten nächt¬
lichen Marsche allerdings vermuten durfte, fand nun aber um 9'/z Uhr den
Ort geräumt. Die deutsche und die französische Division waren sonach am
Vormittag auf Entfernung von einer Meile (!) in entgegengesetzter Richtung
aneinander vorbei marschiert. Moltke fügt hinzu, nicht unbemerkt und nicht
unbehindert hätte dieser Marsch des Gegners angesichts zweier Kavallerie¬
divisionen bleiben dürfen.
Es würde uns zu weit führen, auf die zwar vornehme, aber herbe Kritik
einzugehen, die Moltke an den Operationen des Großherzogs von Mecklenburg
bei seinem Vorgehen nach Beaugency ausübt. Der Feldherr ist übrigens
ehrlich genug, an einzelnen Stellen einzugestehen, daß er sich selbst nicht von
Fehlern freispreche. So sagt er bei der Schilderung der Schlacht bei Grave-
lotte, als die abends eintreffenden Pommern den Wunsch aussprachen, noch
an demselben Tage an den Feind zu gelangen: „Es wäre richtiger gewesen,
wenn der zur Stelle anwesende Chef des Generalstcibes der Armee dies Vor¬
gehen in so später Abendstunde nicht gewährt hätte. Eine völlig intakte
Kerntruppe konnte am folgenden Tage sehr erwünscht sein, an diesem Abend
aber hier kaum noch einen entscheidenden Umschwung herbeiführen."
Bitter beklagt sich Moltke über die Rücksichtslosigkeit, die die sogenannte
„zweite Staffel" des Hauptquartiers gegen ihn, den Vielgeplngten, zu zeigen
pflegte. Nach der Beendigung der Schlacht bei Beaumont war der König,
da man alle nähern Ortschaften mit Verwundeten belegt fand, nach Buzcmch
zurückgeritten. „Wie schon in Clermont, erzählt Moltke, machte sich hier die
schwere Belästigung geltend, die aus Hunderte» von hohen Gästen und ihrem
Gefolge erwuchs, wenn das Hauptquartier nicht immer nach großen Städten,
sondern auch einmal nach den militärisch richtigen (es muß wohl heißen „wich¬
tigen") kleinern Orten verlegt wurde. Nur mit größter Mühe gelang es, Spuk
in der Nacht ein Unterkommen für diejenigen zu erlangen, die für den fol¬
genden Tag die nötigen Befehle vorzubereiten hatten." Hoffentlich wird diese
trockene, aber bittere Vemerknng Moltkes genügen, künftighin den Zuschauern
weniger Freiheiten zu gestatten.
Fast in allen den deutsch-französischen Krieg behandelnden Werten werden
gegen die deutsche Heeresleitung gewöhnlich drei Vorwürfe erhoben: die Ka¬
vallerie sei nicht schnell und energisch genug zur unmittelbaren Verfolgung
des geschlagner Feindes ausgenützt worden; das übereilte schneidige Drnnf-
gehen habe fast immer Opfer und Verluste gekostet, die in gnr keinem Ver¬
hältnis zu den erreichten Erfolgen standen; die Belagerung und Beschießung
der Hauptstadt Paris sei nicht mit genug Entschlossenheit und Nachdruck be¬
trieben worden. Moltke kommt im Laufe seiner Darstellung auch auf diese
Vorwürfe zu sprechen und sucht sie, wenn auch gerade nicht zu beseitigen, so
doch bedeutend durch den Zusammenhang der Thatsachen abzuschwächen. Bei
Se. Quentin wurde z. B. die Verfolgung des geschlagner Feindes erst am
nächsten Tage durch den General von Goebeu aufgenommen. Hierzu bemerkt
Moltke: „Nach der Theorie soll dem Siege die Verfolgung sich unmittelbar
anschließen, eine Forderung, der alle, besonders auch die Laien, zustimmen,
und doch wird ihr in der Praxis selten entsprochen. Die Kriegsgeschichte
weist wenige Beispiele ans wie das berühmte von Velle-Alliame. Es gehört
ein sehr starker, mitleidsloser Wille dazu, einer Truppe, die zehn bis zwölf
Stunden marschiert, gefochten und gehungert hat, statt der erhofften Ruhe und
Sättigung aufs neue Anstrengung und Gefahren aufzuerlegen. Aber auch
diesen Willen vorausgesetzt, hängt die Verfolgung noch ab von der Art, wie
der Sieg gewonnen wurde. Sie wird schwer ausführbar, wenn alle Ab¬
teilungen ans dem Schlachtfelds, wie bei Königgrätz, so durcheinander geraten
sind, daß Stunde» erforderlich werden, um sie erst wieder in taktischen Ver¬
bänden herzustellen, oder wenn, wie bei Se. Quentin, alle, auch die legten
Truppen in das Gefecht verwickelt waren, sodaß eine intakte geschlossene
Jnfanterieabteilung nicht mehr verfügbar ist. Ohne die Unterstützung einer
solchen wird die Kavallerie, vollends bei Nacht von allen Bodenhindernissen
und jeder kleinsten Postirung des Feindes aufgehalten, allem die Aufgabe
selten lösen."
Auch den zweiten Vorwurf, daß unsre Truppen oft zu voreilig drauflos-
gegange» seien, sucht er durch die Bemerkung zu entkräftigen, daß überall,
wo die feindlichen Parteien so nahe aneinander gerückt seien, wie bei Wörth,
der Kampf nur zu leicht auch gegen deu entschiednen Willen der obern Leitung zu
entbrennen Pflege. Man habe nachträglich behauptet, die Schlacht bei Spicheren
sei am unrechten Orte geschlagen worden und habe höhere Pläne durchkreuzt.
„Allerdings, sagt er, war sie nicht vorgesehen. Im allgemeinen aber wird es
wenig Fälle geben, wo der taktische Sieg nicht in den strategischen Plan
Paßt. Der Wafsenerfolg wird immer dankbar acceptirt und ausgenutzt werden."
Den dritten Tadel, daß Paris nicht früh genug beschossen worden sei, weist
er durch die Bemerkung zurück, daß der Angriff eines großen Kriegsplatzes
im Innern des feindlichen Landes geradezu unmöglich werde, so lange man
nicht Herr der dahinführenden Eisenbahnen sei, um das erforderliche unermeß-
liche Material heranzuführen. Die deutsche Armee habe aber in den ersten
Monaten nur über eine einzige Eisenbahn auf französischem Boden verfügt,
und diese sei völlig in Anspruch genommen worden, um für die Ernährung
der Feldarmee Lebensmittel, ferner Ersatz und Ausrüstung heran-, Verwundete,
Kranke und Gefangne zurückzuschaffen. An ein Bombardement sei daher zu¬
nächst nicht zu deuten gewesen; auch sollte es nicht den Zweck haben, Paris
zu zerstöre», sondern einen letzten Druck auf die Bevölkerung auszuüben,
wenn eine längere Einschließung die Standhaftigkeit der Belagerten zuvor er¬
schüttert hätte.
In einem Anhang zu dieser Geschichte des deutsch-französischen Krieges
beseitigt Moltke die vielfach verbreitete Ansicht, daß über die großen Unter¬
nehmungen und wichtigen Maßregeln im Felde ein Kriegsrat beschlossen habe.
Auf diesen vermeintlichen Kriegsrat kommt er auch schon früher in seinem Werk
an der Stelle zu sprechen, wo er den Durchbruchsversuch des Generals Duervt
ans Paris am 2. Dezember behandelt. „Es hat sich, sagt er in einer An¬
merkung, später eine Legende gebildet, wonach auf deutscher Seite in einem
Kriegsrat die Stimme eines Generals gegen alle übrigen die Räumung von
Versailles durch das große Hauptquartier verhindert habe. Abgesehen davon,
daß im Laufe des ganze» Feldzuges ein Kriegsrat niemals berufen worden
ist, ist es in der militärischen Umgebung des Königs niemand auch nur in
den Sinn gekommen, der Armee ein so übles Beispiel zu geben."
Moltke hat mit diesem unübertreffliche Werke, das zu den edelsten Blüten
unsrer Litteratur gerechnet werden muß, nicht nur dem deutschen Heere, son¬
dern auch dein ganzen deutscheu Volke ein dauerndes Vermächtnis hinterlassen.
me bemerkenswerte Wandlung in der öffentliche» Meinung
Deutschlands ist im Laufe der letzten zehn bis fünfzehn Jahre
in der Wertschätzung des Nichterbernfs und Nichterstandes vor
sich gegangen. Es wird das niemand unbemerkt geblieben
sein, der die vereinzelten Erscheinungen des Tages mit einander
verknüpft. Während vor zwanzig bis dreißig Jahren dem Richterstand eine
Gunst und Hochachtung entgegengebracht wurde, die ihn geradezu vor andern
Berufsarten bevorzugte, ist jetzt, ohne daß irgeud eine besondre Veranlassung
für diesen Wechsel ersichtlich wäre, fast das Gegenteil eingetreten. Es sind
nicht Vorwürfe und Bemängelungen im einzelnen, in denen sich diese Ungunst
zeigt; es ist eine unausgesprochene Stellungnahme, die aber für jeden Ein¬
sichtigen die eingetretene Wandlung fühlbar werden läßt. Neuerdings sind
auch in der Presse Stimmen laut geworden, die zeigen, daß man auch in
weitern Kreisen auf die Thatsache aufmerksam zu werden beginnt. Insbesondre
hat kürzlich die Kreuzzeitung in einem beachtenswerten Aufsatz ans die übrigens
anch von andern Seiten bestätigte Thatsache hingewiesen, daß sich in der
neuesten Zeit eine Verschiebung der gesellschaftlichen Schichten vollzieht, die
dein Richterstande seinen Nachwuchs liefern. „Nicht nur der Landadel, auch der
bürgerliche Großgrundbesitz, ja fast die gesamten gebildeten und guten Familien
des platten Landes, namentlich die wohlhabenderen und angeseheneren Pächter
von Domänen und sonstigem Großgrundbesitz schicken in Preußen ihre Söhne
nur noch in die verschiednen Zweige der Staatsverwaltung, nicht in den
Richterstand, eher uoch in die Staats- und Rechtsanwaltschaft. Ferner zeigen
auch die höhern Beamtenfamilien, darunter anch die der Justiz selbst, wenig
Neigung zu einem Verbleiben im Justizdienst, und endlich verläßt diesen auch
das städtische Patriziat und wendet sich der Kvmmunalverwaltnng und der
Nechtsanwaltschast zu."
Diese Ausführung mag vielleicht nicht für den ganzen preußischen Staat
und noch weniger darüber hinaus die Geltung beanspruchen können, die sie
nach ihrer allgemeinen Fassung zu verlangen scheint, sie mag vielleicht selbst
für die östlichen Teile Preußens eine unzulässige Verallgemeinerung einzelner
beobachteten Thatsachen enthalten; aber ein richtiger Kern steckt darin, und
bei der Wichtigkeit, die der Richterstand als der erste und bedeutendste Träger
der Rechtspflege für deren Entwicklung und damit für die gedeihliche Ent¬
wicklung des ganzen Staats- und Volkslebens hat, verdient die Thatsache
wohl, ernst genommen zu werden. Denn für die Rechtspflege ist nicht nur
das thatsächliche Vorhandensein der für den Beruf erforderlichen Geistes- und
Charaktereigenschaften im Richterstande von nöten, sondern zu einem gesunden
Nechtszustmid ist auch die allgemeine Volksüberzeugung notwendig, daß im
Richterstande die zur gedeihlichen Lösung seiner Aufgaben erforderlichen Vor¬
aussetzungen gegeben seien. Eine bloße Abnahme dieses Zutrauens schon
müßte nachteilig auf das Rechtsleben zurückwirken; und so ist die Befürchtung
nicht von der Hand zu weisen, daß die von der Kreuzzeitung angedeutete
Änderung in der Zusammensetzung des Richterstandes und der dadurch gegebne
gesellschaftliche Rückgang desselben einen ungünstigen Einfluß für das Rechtsleben
zur Folge haben würde. Diese Schwenkung der öffentlichen Meinung ver¬
dient daher sowohl als eine an sich eigentümliche Erscheinung vom allgemeinen
sozialpsychologischen Standpunkt wie um ihrer praktischen Folgen willen von
dem besondern Standpunkte der Justizverwaltung ans Beachtung und Fest¬
stellung ihrer Ursachen.
Um Mißdeutungen vorzubeugen, sei gleich vorangeschickt, daß hier keines¬
wegs die Bestrebungen gewisser Berufsarten, z. B. der technischen Eisenbahn¬
beamten, um Gleichstellung mit den juristisch vorgebildeten Mitgliedern ihrer
Behörden zurückgewiesen werden sollen. Diese Bestrebungen sind im Gegen¬
teil durchaus berechtigt, und es ist ihnen nur Erfolg zu wünschen. Die hier
noch bestehende Bevorzugung der Juristen ist ein Nest des Privilegs, das
diese einst fast für alle Verwaltungszweige besaßen, und das bei ihrer for-
malen Gewandtheit unter den frühern technisch und wirtschaftlich einfachern
Verhältnissen begründet war, heutzutage aber eine Ungereimtheit und in den
meisten Verwaltuugszweigeu ja auch schon beseitigt ist. Hier handelt sichs
nicht um die Stellung der Juristen in den sonstigen Verwaltungszweigen,
sondern um den eigentlichen Richterstand.
Der nächste und hauptsächlichste Grund für die Abwendung der öffent¬
lichen Meinung von ihm dürfte wohl ein innerer sein. Die zweite Hälfte
dieses Jahrhunderts bis zum Ausgang der siebziger Jahre ist für Deutsch¬
land die Periode, wo der Rechtsstaat das von der öffentlichen Meinung ge¬
tragne Ideal des Staates überhaupt war. Die damals herrschende wirtschaft¬
liche und die aus ihr hervorgehende rechtsphilosophische Lehre des Manchestcr-
tums sah als den nicht mir überwiegenden, sondern geradezu als den allein
berechtigten Zweck des Staates nach innen den Rechtsschutz an (dieses Wort
im Sinne der Aufrechterhaltung der rein formalen Rechtsordnung verstanden),
und es war nur eine natürliche, wenn auch vielleicht unbewußte Folge, daß
darum auch der Träger der Rechtspflege, der Richterstand, als der erste
bürgerliche Stand galt. Dazu kam die frische Erinnerung und Nachwirkung
der eben überstandnen politischen Wirren im Innern. In den Verfassnngs-
kämpfen der ersten Hälfte des Jahrhunderts — genau genommen wurden sie
ja in Preußen, Kurhessen u. a. erst im Jahre 18KK abgeschlossen — war die
Unabhängigkeit der Richtergewalt fast überall ein Gegenstand besondrer Für¬
sorge der Verfassungsparteien gewesen, und wo es zu heftigem Reibungen
kam, wie in den genannten Staaten, da hatte sich der Richterstand auch zum
überwiegenden Teil als strenger Verfechter des verfassungsmäßigen Zustandes
und Rechtes bewährt. Es war die Zeit, wo der Kreisrichter in Preußen an
der Spitze der liberalen Partei ging und für den „populärsten Mann" im
Lande erklärt werden konnte, und wo in Kurhessen sämtliche Gerichte, voran
das Oberappellationsgericht, einem Willkürregiment ohnegleichen allen Schikanen
zum Trotz die Spitze boten.
Unter diesen Verhältnissen war es natürlich, daß alle die Volkskreise,
die an dem verfassungsmäßigen Zustande hingen, auch zu dem Richtcrstandc
mit Liebe, ja mit Verehrung emporblickten, seine Unabhängigkeit als ein kost¬
bares Gut nicht nur für den Stand selbst, sondern für das ganze Volk be¬
trachteten und ihre Söhne gern dem Nichterberufe widmete».
Mit dem Ende der siebziger und im Verlauf der achtziger Jahre ist das
anders geworden. Mit der liberalen Wirtschaftstheorie wurde auch die libe¬
rale Staats- und Rechtstheorie mehr und mehr zurückgedrängt. Anstatt im
Schutz der Rechtsordnung ward jetzt der Staatszweck in der ebenso um¬
fassenden wie eingehenden Fürsorge für die gesamte wirtschaftliche Wohlfahrt
des Volkes gefunden. Das Augenmerk der öffentlichen Meinung lenkte sich
vollständig von den alten überwnndnen politischen Kämpfen ab und neuen
Fragen und Aufgaben zu, die durch die ungeheuer rasche Entwicklung der
wirtschaftlichen, insbesondre der gewerblichen Verhältnisse plötzlich der Gesell¬
schaft erstanden, und zu deren Lösung seit Beginn der achtziger Jahre auch
die Gesetzgebung überging. Unsre Zeit — das ist kein Zweifel — steht uuter
dem Zeichen der sozialen Frage. Diese beherrscht die Geister; ihr wendet die
öffentliche Meinung fast ausschließlich ihre Aufmerksamkeit zu, und sie ver¬
teilt ihre Gunst unter den Berufsständen nach dem Maße, wie sie ihr ge¬
eignete Vorkämpfer in dem sozialen Kampfe der Gegenwart erscheinen.
Zur Mitwirkung an diesen Aufgaben der Zeit ist der Richterstand als
solcher nicht berufen; im Gegenteil, sein Thätigkeitsbereich wurde, als sich die
Gesetzgebung mit ihnen zu beschäftigen anfing, noch eingeschränkt. Das ganze
große Gebiet der Arbeiterversicherung hat sich von der ordentlichen Gerichtsbar¬
keit, deren Träger der Richterstand ist, abgelöst. Die Entscheidung der diesem
Gebiet angehörenden Rechtsstreitigkeiten ist mit wenigen Ausnahmen an Souder-
gerichte übergegangen. Wenn diese auch teilweise mit juristisch vorgebildete«?
Personen besetzt sind, so kommen doch diese Personen für den Richterstand
nicht mehr in Betracht, wie sie ja auch nicht mehr den Nichternamen, sondern
den Titel von Verwaltungsbeamten führen. Für Preußen kommt daneben
noch in Betracht, daß durch die großen organisatorischen Gesetze über die all¬
gemeine Landesverwaltung und das Verwaltungsstreitverfahren ebenfalls ein
umfangreiches Gebiet gerade jetzt wichtiger und sich in den Vordergrund
drängender Aufgaben des staatlichen und wirtschaftlichen Lebens in den Bereich
von Sondergerichten gezogen worden ist, deren Znsammensetzung nicht besonders
viel Raum für richterliche Beamte läßt, und für deren richterliche Mitglieder
das eben gesagte gilt.
So ist nicht bloß äußerlich der Bereich der Thätigkeit des eigentliche»
Richterstandes eingeschränkt, es sind ihm auch gerade die Gebiete entzogen
worden, die jetzt im Mittelpunkte der öffentlichen Anfmerksamkeit stehen. Der
Richterstand und seine Thätigkeit liegen abseits von den Bahnen der heutigen
Zeit. Die Güter, die er zu schützen hat, erscheinen klein neben den Aufgaben
ans andern Gebieten. Was ist der Schutz des Einzelnen in seinem Vermögen,
wo es sich darum handelt, die gesamte heutige Rechts- und Vermögens¬
ordnung gegen die anstürmenden Feinde zu verteidigen?
Und nicht anders ist es im Strafrecht. War es zur Zeit der politischen
Kämpfe der unabhängige Richter, auf den sich vertrauensvoll das Auge des
Volkes richtete, wenn einem unschuldig Verfolgten despotische Gewaltübergriffe
drohten, wer denkt da jetzt noch daran? Jetzt richtet sich der Kampf, den die
Gesellschaft mit dem scharfen Schwert der Strafjustiz führt, gegen die unheim¬
lichen, dunkeln Mächte, die, über die ganze Kulturwelt verbreitet, mit den
furchtbaren Mitteln der Neuzeit gegen den Bestand des Staates und der
Gesellschaft selbst ankämpfen, und gegen die weitverzweigten Verbrechen eines
internationalen Hochstaplertnms, das mit seinen von lauger Hand vorbereiteten,
blitzschnell geführten Schlägen auf einmal ganze Vermögen an sich bringt. In
einem solchen Kampfe ist in der That die Nichterthätigkeit untergeordneter
Natur, das eigentliche Werkzeug der Gesellschaft in ihm ist die Kriminalpolizei.
Diese ist es, die Auge und Gunst der öffentlichen Meinung auf sich zieht,
wenn es ihr gelingt, die verworrenen Fäden eines dunkeln Verbrechens zu
entwirren und die zerstreuten Spuren zur Entdeckung des Thäters zu sammeln.
Die Richterthätigkeit im Strafprozeß ist mehr formaler Natur; die schwerere
Aufgabe, die Aburteilung überhaupt erst zu ermöglichen, und darum das
größere Verdienst füllt gerade bei den am meisten Aussehen erregenden Fällen
andern Behörden zu.
So ist es uicht zu verwundern, daß sich thatkräftige und thatenlustige
Naturen, die den Drang fühlen, an den Aufgaben der Zeit mitzuarbeiten,
uicht dem Richterstaude zuwenden. Ein ähnlicher, nur in umgekehrter Rich¬
tung sich bewegender Wechsel hat sich im Lauf der beiden letzten Jahrzehnte
auf einem verwandten Berufsgebiet — dem der Theologie — vollzogen.
Noch vor etwa fünfzehn Jahren wurde der theologische Beruf vou den
Söhnen der bessern und wohlhabender» Gesellschaftsschichten — abgesehen von
Pfarrersfamilien — nur selten gewählt, während ihm jetzt mehr und mehr
Zuwachs gerade aus den besten Kreisen wird. Der Grund dafür liegt sicher¬
lich nicht allem in einer Zunahme der Neigung zur theologischen Wissenschaft
(wenn auch nicht zu verkennen ist, daß sich auf den Platten Materialismus
der letztvcrgaugnen Periode eine Umkehr zum Bessern anbahnt), vielmehr
spricht zweifellos zum großen Teil auch der Umstand mit, daß der Beruf des
Geistlichen den Fragen der heutigen Zeit, besonders gerade der sozialen
näher steht. Mehr und mehr bricht sich ja die Einsicht Bahn, daß der Kampf,
der sich auf wirtschaftlichem Gebiete entsponnen hat, und der dem äußern
Schein nach nur wirtschaftliche Fragen betrifft, bei aller Notwendigkeit wirt¬
schaftlicher Umgestaltungen doch seinem innern Kern nach und besonders in
seiner Richtung gegen den Svzialdemokrntismus ein Kampf verschiedner Welt¬
anschauungen ist, der ans geistigem Gebiete zum Austrag gebracht werde» muß.
Denn es gilt, die Irrlehre der materialistischen Welt- und Lebensauffassung
aufzudecken und zu widerlegen, dieser Lehre, die wie so viele andre all¬
mählich von oben nach unten durchgesickert ist, und während sie oben wenig-
seems von der Mehrzahl aller denkenden Köpfe längst aufgegeben ist, in den
untern Schichten noch die Geister gebunden hält. Daß aber in diesem geistigen
Kampfe der Geistliche kraft seines Berufes eine hervorragendere Bedeutung und
Stellung hat, als der Jurist, liegt auf der Hand. Der Geistliche ist dabei
gerade in seinem Element; sein Beruf ist es ja. die dumpfen, trüben Geister
aufzuhellen und zu der Sonne eiuer das Lebe» durchleuchtenden und erwär¬
mende», über dieses selbst hinaus zielenden Lebensanschauung hinzuführen.
Das Gefühl dieser im Beruf gegebnen Pflicht macht sich unter den Geistlichen
auch mehr und mehr geltend, und es ist kein Zufall, daß der so beachtens¬
werte Versuch der praktischen Förderung des Problems dnrch eigne, unter¬
schiedslose Teilnahme an dem Leben und Arbeiten, deu Leiden und Ver¬
gnügungen der Fabrikarbeiter von einem Theologen ausgegangen ist.
Der Richter steht dem ferner. Sein Amt ist es, Recht zu sprechen; nicht
das bestehende Recht gegen Zweifel zu verteidigen; eine Einwirknng auf die
Menge dnrch Lehre lind Ermahnung liegt wenigstens nicht in seinem Beruf.
Weit näher bringt den Frage» und Aufgabe» der Zeit sein Beruf schon deu
Verwaltungsbeamten; seiue Einwirknng auf die wirtschaftlichen Verhältnisse ist
weit unmittelbarer, seine Berührung mit den kämpfenden Parteien viel häufiger
und inniger. Auch die Thätigkeit der Selbstverwaltungsbezirke und Gemeinde»
»innre uach Umfang und Inhalt fortwährend zu und gewinnt durch staatliche
Überweisung immer neue Gebiete, wie ja z. B. in Preußen auch die Alters-
und Jnvaliditätsversicheruugsaustalten an die Provinzialverbände angegliedert
worden sind.
Nach alledem kann es nicht verwundern, wenn sich thatkräftigere und
strebsamere Elemente aus den Kreisen, die bisher dem Nichterstande seine»
Nachwuchs lieferten, andern Zweigen, namentlich der Verwaltung zuwenden.
Ausschließlich hat dieser innere Grund allerdings diese Verschiebung nicht ver¬
anlaßt. Auch äußere und zum Teil recht unerquickliche Umstände haben mit¬
gewirkt.
Dazu zählt unverkennbar in besondern: Maße die Überfüllung des Berufs
und die dadurch veranlaßte Verspätung in der Anstellung. Auch der, den,
seine Vermögensverhältnisse noch einige Jahre unbesoldet zu leben erlauben,
wird von der Aussicht, die sich ihm jetzt nach der Staatsprüfung bietet, ab¬
geschreckt. Man versetze sich nur einmal in die Seele eines junge» Mannes,
dem sich Ende der zwanziger Jahre, also in dem Alter besten, regsten Schaffens,
die Aussicht eröffnet, über ein halbes Jahrzehnt hinaus ohne bestimmt »in-
grenzten Wirkungskreis überflüssig als fünftes Rad am Wagen thätig zu sein.
Die Jahre der besten Schaffenskraft gehen auf diese Weise für die eigentliche
Berufsarbeit fast unbenutzt vorüber, und ein Gefühl der Unlust muß sich zu¬
letzt eiues jede», und nicht am wenigsten gerade des tüchtigen, bemächtigen.
Wer aber wirklich ausgehalten und schließlich seine Anstellung als Amtsrichter
in irgend einem kleinen Landstädtchen erlangt hat, was hat er erreicht?
Durch die fortwährenden Klagerufe der Philologen über Zurücksetzung gegen¬
über den Richtern hat sich in der öffentlichen Meinung der Eindruck festgesetzt,
als ob der Richter eine Bevorzugung ohnegleichen gegenüber andern eben¬
bürtigen Berufsstäuden, namentlich gegenüber den Lehrern genösse. Es soll
hier keineswegs berechtigten Ansprüchen der Lehrer entgegengetreten werden,
aber die Gerechtigkeit erfordert doch, daß erst die Wage richtig eingestellt
werde, ehe man zu wägen beginnt. Das ist jedoch gerade in dieser Angelegen¬
heit häufig nicht der Fall. Zum Beweis uur ein Beispiel: Vor kurzem hat
ein Lehrer in einem Fachblatt eine Zusammenstellung veröffentlicht (von wo
ans sie dann in die Tagesblntter überging), mit der bewiesen werden sollte,
daß der Richter in Preußen bei gleichem Dienstalter einen weit höhern Gehalt
beziehe, als der Lehrer. Obgleich die Zusammenstellung sofort als unrichtig
angefochten wurde, hielt sie der Verfasser doch aufrecht, und die Möglichkeit
einer Widerlegung wurde abgeschnitten, da die Schristleitung des Blattes die
Erörterung der Sache schloß. Und doch war jene Zusammenstellung unrichtig
gewesen, sie beruhte auf einer völlig willkürlichen Grundlage: die Dienstzeit
der Lehrer war von dem Beginn des Probejahres, also dem Eintritt in den
Staatsdienst, die der Richter dagegen erst von dem Assessorexamen an berechnet,
ohne jede Berücksichtigung der Referendarzeit, die doch unter Einrechnung der
durch das zweite Examen erforderten Wartezeit in Preußen mindestens 4^
bis 4^ Jahre beträgt. Wenn nun auch das philologische Studium in der
Regel ein Jahr mehr beansprucht als das juristische, und die Staatsprüfung
einige Monate mehr als das Referendarexamen, so gestattet dies doch immer
noch nicht mit diesen vielleicht Jahren ans der einen Seite die Jahre
auf der andern Seite einfach auszugleichen.
Auch sonstige Vorteile ihrer Stellung gegenüber den Richtern werden
von den philologischen Wortführern weislich verschwiegen. Eine staatliche
oder städtische höhere Lehranstalt giebt es doch nnr an einem Orte, der auch
Gelegenheit zu geistiger Anregung bietet, sie bildet selbst schon durch die an
ihr wirkenden Genossen einen Mittelpunkt geistigen Lebens mit der Möglich¬
keit gegenseitiger Anregung und Fortbildung, einer Möglichkeit, die der Richter
auf dem Lande, und am meisten natürlich gerade der geistig lebhafte, schmerz¬
lich entbehrt. Ihm steht keine wissenschaftliche Bibliothek zu Gebote, wie sie
selbst die kleinsten Schulanstalten besitzen. Er ist für seine geistige Weiter¬
bildung aus sich allein angewiesen, und er kann froh sein, wenn er vielleicht
in dem Pfarrer oder in dem Arzt, die am Orte wohnen, einigermaßen geistig
gleichgeartete Persönlichkeiten antrifft. Und es bleibt nicht bei diesen: ideellen
Nachteil, auch materiell macht sich dieser bemerklich. Von den über elfhundert
Orten, die in Preußen Sitze von Amtsgerichten sind, haben noch nicht !!l>0,
also noch nicht ein Drittel, eine höhere Lehranstalt, d. h. eine Anstalt außer
der Volksschule. Welche Opfer ein Amtsrichter zu bringen hat, dem die
Kinder heranwachsen, und der sie nun in einem Alter von zehn Jahren in
einer andern Stadt in einer Familie unterbringen muß, davon wird klug ge¬
schwiegen, wenn über die Zurücksetzung des Lehrerstandes geklagt wird.
Die unaufhörlichem Klagen ans den Kreisen dieses Standes werden sicher¬
lich schließlich den erstrebten Erfolg haben; in Preußen soll ja schon durch
den nächsten Staatshaushaltsentwurf die Gleichstellung eingeführt werden.
Man darf wohl begierig sein, ob dabei auch den Lehrern eine der Resereudar-
zeit entsprechende drei- bis vierjährige Wartezeit auferlegt werden wird, in der
sie im Staatsdienste thätig sein müssen, ohne einen Pfennig Gehalt zu be¬
kommen. Und auch darauf darf man gespannt sein, ob dann das jetzt geradezu
anstößig betrielme Erteilen von Sondernnterricht, wem? auch nicht an die
eignen, so doch — unter Verbürgung gegenseitiger Forthilfe bei der Versetzung
u. dergl. — an die Schüler der Kollegen, und die ebenfalls an vielen
Anstalten betriebne anstößige Ausnutzung der Lehrerstellung, Schüler als
Hanszöglinge zu erstaunlichen Preisen anzunehmen, wegfallen wird. Wenn
jetzt solche Ungehörigkeiten getadelt werden, dann wird der Vorwurf mit der
Berufung auf die ungünstige materielle Stellung der Lehrer zurückgewiesen.
Immerhin wäre zu wünschen, daß nach Besserung der letztern die Aufsichts¬
behörde unnachsichtig gegen solche Mißstände einschritte, am besten ein allge¬
meines Verbot gegen Ungehörigkeiten dieser Art erließe, denn sonst ist zu
befürchten, daß mancher trotzdem einen so einträglichen Nebenerwerb nicht
aufgeben möchte.
Wenn die Richter nicht ebenso wie die Lehrer fortwährend ihre Klagen
nach Besserung ihrer Stellung laut werden lassen, so liegt das wahrlich nicht
an einem Mangel an Veranlassung dazu. Die Bevorzugung der Verwaltungs¬
beamten ihnen gegenüber sowohl im Rang wie im Gehalt liegt offen zu Tage.
Der im Dienst ergraute älteste Amts- oder Landgerichtsrat steht (wenigstens
in Preußen) dem jüngsten Landrat nach; und was den Gehalt betrifft, so
muß ein Richter ebenfalls schon lange Jahre thätig gewesen sein, ehe er die
unterste Gehaltsstufe der Verwnltungsbeamten erreicht.
Welche Achtung man überhaupt in preußischen Verwaltungskreisen dem
Richterstand und den Ausgaben der Rechtspflege entgegenbringt, dafür liefert
der uns gerade vorliegende amtliche Staatsdienstkalender für den Regierungs¬
bezirk Kassel auf das Jahr 1890/91 einen recht bezeichnenden Beitrag. Ist die
darin gegebne Zusammenstellung der Behörden in ihrer Reihenfolge auch ein
wahres Muster von Systemlosigkeit (königliche und kaiserliche, weltliche und
kirchliche, staatliche und Selbstverwaltnngsbehörden bilden ein buntes Durch¬
einander), so ist es doch sicherlich kein Zufall, daß die Justizbehörden erst an
allerletzter Stelle unter Nummer 31 aufgeführt werden, hinter dem Hanpt-
gestüt zu Bererbeck, der Direktion des Hanpthofhvspitals, der Intendantur der
königlichen Schauspiele, den eidlichen Stiftern, der Lmidgendarmcric und ähn¬
lichen Behörden. Mau wird gewiß allen diesen Behörden nicht zu nahe treten,
wenn man die Ansicht auszusprechen wagt, das; die Aufgaben der Rechts¬
pflege vielleicht doch wichtiger sind, als die Pferdezucht, das Theater und die
Sorge für adliche Fräulein, und daß deshalb den Justizbehörden wohl auch
der Vorrang in einer solchen amtlichen Zusammenstellung gebührt. Im ehe¬
maligen kurhessischen Staatsdieustkaleuder stand freilich die Justiz unter dem
„Zivilstaat" an erster Stelle. Auch ein Zeichen der Zeit!
Ein Unterschied waltet freilich schon zwischen den Referendaren der Verwaltung
und der Justiz, ein Unterschied, der den Negieruugsreferendar auf den Gerichts-
refercudar herabblicken läßt mit einem Gefühl, wie es etwa der Offizier der Garde
gegenüber dem der Linie empfinden mag. Man lächle nicht, es ist das Ernst, und
dieser Stolz, wenn er auch als Überhebung unbegründet ist, ist doch sonst uicht ganz
ungerechtfertigt. Denn bei der Zulassung zur Verwaltungsdienst wird eine sorg¬
fältige und strenge Auswahl unter den Bewerbern getroffen, und da die Zahl der
Bewerber in der Regel das durch das Bedürfnis gesteckte Maß der Zulassung
überschreitet, so hat es der Regierungspräsident in der Hand, sich die in jeder
Beziehung, namentlich auch nach ihren Familienverhältnissen, am meisten ge¬
eignet erscheinenden auszuwählen, die dann gewissermaßen als das höhere
Element aus der etwas unklaren Mischung ausscheiden. Denn das müssen
sich die Bessern uuter den der Justiz verbleibenden Referendaren mit
schmerzlichem Bedauern selbst sagen, bei der Zulassung zu ihrem Stande
wird eine gleich strenge, ja unnachsichtige Kritik nicht geübt, und wenn
sie auf die namentlich in den großen Städten nicht immer unzweifelhaften
Persönlichkeiten unter sich blicken, so können sie das bittere Gefühl nicht unter¬
drücken, daß solche nominW ovsouri die gesellschaftliche Stufe des ganzen
Standes herabdrücken müssen. Vor allem sind es — welche Frage giebt es
denn noch heutzutage, bei der uicht auch dieser dunkle Punkt auftauchte? —
die zahlreichen jüdischen Referendare, die sich in die Justiz eindrängen und
diese durch ihre Menge unvorteilhaft auszeichnen, während sie in dem
Staatsverwaltuugsdieust kaum irgendwo Aufnahme gefunden haben dürften.
Wie schmerzlich dieses Überwuchern des jüdischen Elements in der Justiz, in
dem ganzen Nichterstande empfunden wird, davon hat der Abgeordnete Branden¬
burg in der letzten Tagung des preußischen Abgeordnetenhauses in der be¬
kannten Angelegenheit der Hildesheimer Refercudare Zeugnis abgelegt. Es
darf kühn behauptet werdeu, daß uicht nur der ganze Stand mit verschwindenden
Ausnahmen, sondern auch die überwiegende Mehrheit des Volkes seine Ansicht
teilt. Kein andrer Stand, dessen Händen die Ausübung von Staatshoheits¬
rechten anvertraut ist, keiner, dessen Aufgabe und Beruf sich an idealer Be¬
deutung mit der seinen messen kann, ist so von dem Ansturm des Judentums
gefährdet, wie der Richterstand. Man braucht nur das Verzeichnis der
prcuszischeil Gerichtsassessoren durchzublättern, um in den Namen die Bestätigung
dieser Behauptung zu finden. Allein unter denen, deren Dienstalter schon
über sechs Jahre beträgt, finden sich ein Dutzend jüdischer Assessoren, die
offenbar Anstellung als Richter erstreben, da sie sonst jedenfalls schon längst
in die Rcchtsanwaltschcift oder den sonst erwählten Beruf übergegangen wären.
Und leider scheint, wenigstens in Preußen, die Justizverwaltung unempfindlich
für die Gefährdung zu sein, die daraus dem Stand und seinem Ansehen er¬
wächst. Zum Beweis genügt es, auf die Verhandlungen des Abgeordneten¬
hauses über die vorher erwähnte Angelegenheit der Hildesheimer Referendare
hinzuweisen. Kein Unparteiischer kann zweifeln, daß die Maßregelung dieser
Referendare, die vom Standpunkt der Gleichberechtigung der Konfessionen aus
verteidigt wurde, eine Willfährigkeit gegen das Judentum enthält, die geradezu
zu einer Bevorzugung desselben führen muß. Entweder muß es überhaupt
als unerlaubt für die Referendare gelten, auch bei einer noch so privaten
Vereinigung, wie es doch wohl eine Tischgesellschaft ist, die Zulassung eines
Kollegen von subjektiven Rücksichten der Sympathie und Antipathie abhängig
zu machen — ein Standpunkt, der ausdrücklich abgelehnt wurde —, oder man
mußte diesen Fall ebenso gut den Beteiligten zur selbständigen Regelung über¬
lassen und sich jeder Einmischung enthalten, wie es z. B. zweifellos der Fall
gewesen sein würde, wenn ein bürgerlicher Referendar in eine Tischgesellschaft
üblicher Kollegen oder ein früherer Finke in eine Gesellschaft ehemaliger Korps¬
studenten, die diese Eigenschaft zur Voraussetzung der Teilnahme gemacht
hätten, nicht aufgenommen worden wäre. Wenn man überhaupt persönlichen und
subjektiven Abneigungen für solche gesellige Vereinigungen Raum giebt, die
auch nicht einmal dem Namen nach einen Zusammenschluß sämtlicher Referen¬
dare enthalten, dann ist doch in der That auch nicht der entfernteste Grund
einzusehen, der die Beteiligten, wenn sich ihre Abneigung nun einmal gegen
jüdische Elemente richtete, hätte veranlassen sollen, diese Abneigung zu unter¬
drücken. Sollte sie etwa die Hochachtung vor dem Gesetz vom 3. Juli 1869
über die Gleichberechtigung der Konfessionen dazu nötigen? Unverkennbar
und ausgesprochenermaßen hat so gerade das Judentum des, Abgelehnten zu
einer Behandlung seiner Gegner geführt, die bei sonst gleichen Verhältnissen
nicht eingetreten wäre.
Man könnte dagegen einwenden, daß die Justizverwaltung, indem sie
einen jungen Mann zum Referendar annimmt, damit auch die Bürgschaft
seiner Ehrenhaftigkeit und gesellschaftlichen Tadellosigkeit übernehme, und von
diesem Gesichtspunkte ans von seinen Standesgenossen verlangen könne, daß
sie auch außerdienstlich seinen Umgang nicht abweisen. Aber man sieht auf
den ersten Blick das Fehlerhafte dieser Ansicht, denn offenbar berechtigt auch
die sorgfältigste Kritik bei Aufnahme eines Referendars die Aufsichtsbehörde
nicht, seine Zulassung in rein vertrauliche Kreise zu verlangen, wie es eine
Tischgesellschaft ist, namentlich wenn sie, wie in dem Hildesheimer Fall, nicht
ausschließlich ans Angehörigen des einen Standes besteht.
Leider ist ja aber die Kritik bei Zulassung zum Justizvvrbereitungsdienst
als Referendar, wie jeder Einsichtige weiß, durchaus uicht so streng, daß sie
die zukünftigen Kollegen des Aufgenommenen der Notwendigkeit einer Nach¬
prüfung überhöbe, wenn es sich um nähern persönlichen Umgang handelt, das;
sie ihn gewissermaßen unbesehen auch zu vertraulichern Verkehr zulassen
könnten. Daß es sehr schwer ist, bei der Zulassung die richtige Linie inne¬
zuhalten, soll nicht verkannt werden, aber ebenso zweifellos ist es, daß sich
trotz aller Verschärfungen der Ausnahmebedingungen, die im Laufe der letzten
Jahre getroffen worden sind, doch noch immer Elemente einzuschleichen wissen,
die zur Hebung des Ansehens des Standes nach innen und außen kaum ge¬
eignet sein dürften. Es kann z. B. doch kaum dazu beitragen, wenn, wie es
vor einigen Jahren in einer mittlern Proviuzialstndt geschah, als Referendar
ein junger Mann zugelassen wurde, dessen Vater in derselben Stadt ein all¬
gemein bekannter, nicht besonders günstig beleumundeter und bereits gerichtlich
bestrafter Winkeladvokat war, der auch, während sein Sohn seine Laufbahn
verfolgte, diese Thätigkeit fortsetzte. Mancher findet es vielleicht anerkennens¬
wert, daß ein solcher Mann seinen Sohn soweit gebracht hat, und darum
hart, diesem die juristische Laufbahn zu verschließen."') Wir gehören nicht zu
denen. Die Ehre und das Ansehen des Nichtcrstcmdes erfordern unsers Tr¬
achtens mehr Rücksicht als die Eitelkeit eines Vaters und das Strebertum
seines Sprößlings. Der junge Mann brauchte aber noch uicht einmal von
der juristischen Laufbahn ausgeschlossen zu werden, er mochte ja immerhin in
einem andern, entfernten Bezirk Anstellung finden; aber ihn in derselben Stadt
als Referendar und dann als Assessor zu beschäftigen, wo sich das dunkle
Treiben seines Vaters abspielte, das war gewiß nicht geeignet, den Stand
in den Augen des Volkes besonders achtungswert erscheinen zu lassen.
Wie die Verquickung mit solchen Elementen auf den Richterstand zurück¬
wirken muß, bedars keiner Darlegung. Unter solchen Umständen kann es nicht
Wunder nehmen, wenn sich die bessern Kreise, ans denen bisher der Stand
seinen hauptsächlichsten nud tüchtigsten Zuwachs erhielt, von ihm abwenden
und andre Berufsarten aufsuchen. Ebenso wenig kann es zweifelhaft sein, daß
schließlich nicht bloß das Ansehen des Standes in der öffentlichen Meinung,
sondern in der That auch die geistige und gesellschaftliche Stufe, auf der er
sich früher befand, sinken muß. Die Frage nach der Verhütung eines solchen,
doch gewiß nicht leicht zu nehmenden Mißstandes dürfte wohl ernstlicher Er¬
wägung wert sein.
Wenn die öffentliche Meinung ihre Gunst von dem Nichterstcmde ab¬
gewandt hat, weil dieser den Aufgaben der heutigen Zeit ferner steht, als
andere Berufsstände, so ist das an sich noch keine bedenkliche Erscheinung,
dürfte aber immerhin die Justizverwaltung darauf aufmerksam machen, daß es
gut wäre, auch den Richterstand zur Mitwirkung bei Lösung dieser neuen
Aufgaben, wo es angeht, heranzuziehen. Als ein erfreulicher Anfang in dieser
Richtung darf es begrüßt werden, daß in Preußen jetzt die Amtsrichter in
größerm Umfange zu Vorsitzenden der Schiedsgerichte für die Alters- und
Jnvaliditütsversicheruug bestellt worden sind, ein Schritt, dem hoffentlich bei
dein weitern Ausbau der Versicherungsgesetzgebung (namentlich hinsichtlich des
Verfahrens dürften sich im Lauf der Zeit uoch manche Verbesserungen nötig
erweisen) ähnliche folgen werden. Durch solche Maßregeln wird es gewiß
gelinge», den Richterstand wieder an die Stelle zu rücken, die er vor der
öffentlichen Meinung einzunehmen beanspruchen darf. Die erste und unum¬
gänglichste Voraussetzung dazu, und namentlich auch dazu, ihm wieder den
Nachwuchs aus den gesellschaftlichen Schichten zu sichern, die ihn jetzt im
Stich lassen, wäre freilich größere Strenge bei der Zulassung schon zum Vor¬
bereitungsdienst, unnachsichtiges Fernhalten aller zweifelhaften, namentlich eines
ihrer Herkunft nach ungeeigneten Elementen, und vor allein die Beseitigung
des überwuchernden jüdischen Elements. Das letzte ist vielleicht die Haupt¬
sache. Gerade damit aber hat es, fürchten wir, gute Wege.
ir haben es als den Kern der sozialen Frage bezeichnet, daß
der Arbeiter nicht für sich selbst arbeitet, und daß er mit Lohn
abgefunden wird, anstatt an dem Ertrage teilzunehmen. Nun
könnte man, um jede weitere Erörterung abzuschneiden, behaupten,
es könne nach der Natur der Dinge nicht anders sein. Die
Arbeiter hätten nicht die Mittel, sich bis zur Feststellung des Ertrages des Unter¬
nehmens selbst zu erhalten, und ebenso wenig wären sie imstande, an Verlusten
teilzunehmen, könnten daher auch auf den Gewinn keinen Anspruch machen.
Es ist ja auch richtig, daß die jetzigen Arbeiter dank dem Kapitalismus so
mittellos sind, daß sie sich während einer Prodnktionsperiode nicht selbst er¬
nähren können. Aber dieser Übelstand ist doch nicht für alle Zeiten unab¬
änderlich festgestellt; es konnte doch wohl ein Zustand gedacht werden, bei
dem die Arbeiter sehr wohl den eignen und ihrer Familie Unterhalt auf
längere Zeit bestreiten könnten, und überdies ließe sich doch die Einrichtung
treffen, daß, solange die Arbeiter so wenig bemittelt sind, ihnen für ihren
Bedarf ein Vorschuß von dem Unternehmer in wöchentlichen Zahlungen geleistet
würde. Was den andern Punkt anlangt, so muß zwar zugegeben werde»,
daß der Unternehmergewinn für etwaigen Verlust auszukommen hat; allein es
ist eine zwar sehr verbreitete, aber doch noch erst zu beweisende Behauptung,
daß jeder Unternehmergewinn, und zwar in seinem ganze» Umfange, dem
Kapital als Ersatz für möglichen Verlust zufallen müsse.
Man kann die Arbeiter für das Geschäft nur dadurch interesstren, daß
man sie an dem Ertrage teilnehmen läßt. Wenn sie wissen, daß ihr Anteil
umso höher sein wird, je höher der Ertrag des Geschäftes ist, so ist ihre
ganze Stellung mit einem Schlage verändert. Sie arbeiten dann mit Lust
und Liebe, weil sie für sich arbeiten. Gleichzeitig arbeiten sie zwar für den
Unternehmer und den Kapitalisten, aber sie empfinden, daß diese auch für sie
arbeiten; daß alle an dem Geschäft beteiligten sich gegenseitig fördern, daß
die Blüte des Unternehmens in aller Interesse liegt, daraus ergiebt sich Liebe
zur Arbeit, vorsichtige Behandlung alles Inventars und aller Materialien,
gegenseitige Beaufsichtigung der Arbeiter, um Verschwendung und Unterschleif
zu verhindern. In sittlicher Beziehung tritt ferner die durchgreifende und folgen¬
reiche Änderung ein, daß der Arbeiter nicht mehr die Arbeit, den Ausfluß
seiner Persönlichkeit wie eine Ware verkauft; vielmehr tritt er mit seiner
Persönlichkeit in ein Geschäft ein, das er als das seinige bezeichnen kann.
Es ist nichts Ungewöhnliches, daß in einem Gesellschaftsverträge (scioistÄL)
der eine Gesellschafter mehr Kapital, der andre mehr Arbeit einschießt, auch
selbstverständlich, daß je nach der Höhe des Eingeschossenen der Anteil an
dem Ertrage des Geschäftes verschieden ist. Aber Gesellschafter kann nur der
sein, dessen Anteil am Ertrage von dem Ergebnis des Geschäftes abhängig
bleibt; wer mit einem von vornherein bestimmten Lohn oder Honorar abge¬
funden wird, ist nicht Gesellschafter. Daß jeder Teilnehmer auch an dem
negativen Ergebnis des Geschäftes beteiligt werde, ist nicht erforderlich; es
kann das Risiko von dem das Kapital einschießenden Gesellschafter allein ge¬
tragen werden, der für diese Leistung mit einer Prämie oder durch Bildung
eines entsprechenden Reservefonds abgefunden wird.
Es soll also nach unsrer Ansicht eine Gesellschaft oder, sage» wir i»
gegenwärtiger Zeit, eine Genosse»schaft gebildet werde», bestehend aus Kapi-
Wüsten, Unternehmern und Arbeitskräften. Es soll auf diese Weise zusammen¬
gebracht und vereinigt werden, was sich jetzt gegenseitig sucht und nötig hat,
aber bisher durch die Ungunst der herkömmlichen Anschauungen und Verhält¬
nisse nicht hat finden können. Daß sich Kapitalisten und Unternehmer zu¬
sammenthun, um bestimmte Zwecke zu erreichen, kommt täglich vor. Daß sich
zahlreiche Personen zu bestimmten Zwecken vereinigen, in Konsumvereinen,
Kreditgenossenschaften u. f. w., ist eine bekannte Thatsache. Die Kapitalisten
vereinigen sich in großer Ausdehnung in Aktiengesellschaften, weil das große
Kapital dem kleinern gegenüber wesentliche Vorzüge hat. Was in allen diesen
Fällen die Einzelnen veranlaßt und bestimmt, sich zusammenzuschließen, das
ist der Nutzen, der allen Einzelnen ans dem Zusammenwirken erwächst; die
Mitglieder eines Konsumvereins wollen billig und gut kaufen; die Mitglieder
der Kreditgenossenschaft wollen alle erleichterten und wohlfeilen Kredit u. f. w.
Die Arbeiter bilden Verbände, um den Arbeitgebern gegenüber ihre Stellung
zu vervesfern und zu verstärken, oder sie vereinigen sich in Krankenkassen oder
zu gemeinschaftlicher Produktion. Die Arbeitgeber vereinigen sich zur Abwehr
der Bestrebungen der Arbeiter oder um ihr Kapital zu größerm Betrieb in
Aktienunternehmungen zusammenzulegen. In allen diesen Fällen handelt sichs
um den Zusammenschluß von Einzelnen, die gleiche Wünsche, gleiche Zwecke
habe», und die durch das Zusammenwirken die Kräfte aller konzentriren wollen.
Es giebt nun aber Zwecke und Ziele, denen die Massenkvnzentrirnng der Kräfte
nicht näher führen kann, Bedürfnisse, deren Befriedigung von der Ausdehnung
der Mittel und Kräfte nicht allein abhängig ist. Wenn ein Arbeiterverein
auch über eine große Zahl von Mitgliedern gebietet, so hat er damit
noch kein Kapital, um eine Unternehmung ins Leben zu rufen, und hätte er
auch das nötige Kapital, so würde es ihm an den Kräften zur Leitung, an
Geschäftskenntnis, Erfahrung im Handel fehlen. Und gewönne er diese
Kräfte, so wäre es nicht mehr ein Arbeiterverein, sondern ein Aktienunter¬
nehmen. Das ist der Widerspruch, an dem die Produktivgenossenschaften
scheitern. Eine Aktiengesellschaft mag noch so große Kapitalien zusammen¬
gebracht haben, so ist ihr doch damit noch kein einziger guter und zuver¬
lässiger Arbeiter gesichert. Wir erfahren es täglich, wie große Unternehmungen
zum Stillstand gebracht werden, weil sich ihnen die Arbeitskräfte versagen.
Die Dockarbeiter oder Schiffsmannschaften streiken, und die Reedereien, die
über Millionen verfügen, sind zur Unthätigkeit verdammt. Dasselbe wieder¬
holt sich tailsendfältig: Kapitalisten und Unternehmer sind einmal ans die
Arbeitskraft angewiesen, und die Arbeitskraft auf das Kapital und die Leitung.
Sie sind ans einander angewiesen und von einander abhängig. Dein Kapital
ist die Arbeitskraft unentbehrlich, es kann ohne sie nichts schaffen. Was aber
unentbehrlich ist, ist auch unschätzbar, und wenn es auch in großer Menge
vorhanden sein mag. Das Wasser ist in größter Fülle vorhanden und doch
für den, der es nötig hat und es entbehren muß, ein unschätzbares Gut. Der
Arbeitskraft ist Leitung und Kapital unentbehrlich und eben deshalb auch von
unschätzbarem Werte, und mag die Arbeitskraft dnrch Vereinigung noch so sehr
gesteigert werden, so gewinnt sie doch dadurch diese unschätzbaren Mittel nicht.
Bei dieser Lage der Dinge ergiebt sich die Lösung der Differenz von selbst.
Das, was sich nicht entbehren kann, was gegenseitig auf einander angewiesen
ist, muß sich gesellschaftlich oder nach moderner Bezeichnung genossenschaftlich
vereinigen. Über den Zusammenschluß der Kräfte darf nicht das scheinbar
Nächstliegende Interesse entscheiden, sondern der richtig erkannte wahre und
wirkliche Nutzen. Kapital und Unternehmertum (wir können bei dieser Unter¬
suchung künftig beides unter „Kapital" zusammenfassen) fühlen sich verletzt
und gestoßen durch die Ansprüche der Arbeitskraft, die Arbeitskraft steht mit
Neid und Erbitterung auf die bessere Stellung des Kapitals; die Trennung
beider Teile von einander wird immer schroffer, die gegenüberstehenden Parteien
schließen sich immer fester zusammen, und Krieg und Feindschaft herrschen da,
wo doch uur Zusammenwirken und Friede zum Ziele führen kann. Die Arbeits¬
kraft will von den Gütern dieser Welt einen großem Anteil haben; das Kapital
glaubt ihn ohne eigne Einbuße nicht gewähren zu können. Die Arbeitskraft
verzweifelt daran, dnrch Vereinbarung ihren Willen zu erreichen und kommt
zu utopistischen Ideen über die Umgestaltung der menschlichen Gesellschaft;
das Kapital rüstet sich zum Kampfe für die alte gesellschaftliche Ordnung.
Kapital und Arbeitskraft sollen sich also mit einander verbinden; sie sollen,
was sie besitzen und was zur Produktion erforderlich ist, in eine Gemeinschaft
einschießen, der Unternehmer Geschäftskunde, der Kapitalist Kapital und die
Arbeiter Arbeitskraft, und zwar zur Erreichung eines gemeinschaftlichen Zweckes,
eines möglichst hohen Ertrages. Wo die Zusammenlegung des Gleichartigen
nicht zum Ziele führen kann, soll die Zusammenlegung des Ungleichartigen,
das sich gegenseitig ergänzt, an die Stelle treten. Und dann soll das Kapital
der Arbeit einräumen, was ihr gebührt, und die Arbeit ebenso dem Kapital.
Große Veränderungen aus politischem und wirtschaftlichem Gebiete voll¬
ziehen sich nur unter dem Druck der Notwendigkeit. Menschenliebe und
Brüderlichkeit wird zwar vom Christentum geboten, auf deu Kanzeln empfohlen,
aber sie bestimmen nur zur Wohlthätigkeit im Einzelfall, nicht zu einem Wechsel
des Systems. Selbst hervorragende Maßregeln, wie die in Deutschland ein¬
geführten Versicherungsgesetze, haben mehr politische als christliche Zwecke im
Auge gehabt. Aus christlicher Gesinnung wird das Kapital der Arbeitskraft
niemals eine bessere Stellung einräumen; sobald aber die Vertreter des Kapi¬
tals zu der Überzeugung gelangen würden, entweder, daß es keinen andern
Weg giebt, das Kapital zu retten, oder daß die jetzigen Zustände unerträg¬
lich sind, oder endlich, daß sie durch Zugeständnisse ihre eigne Lage ver¬
bessern können, wird die erforderliche Änderung vorgenommen werden. Manche
Kapitalisten oder Grundbesitzer mögen noch glauben, daß die jetzigen Be¬
strebungen der Arbeiterwelt eine vorübergehende Erscheinung seien; wer nicht
ganz über die geschichtliche Entwicklung der Neuzeit im Unklaren ist, kann sich
solcher Täuschung wohl nicht hingeben. Dagegen werden die Zustände in der
Arbeiterwelt den Arbeitgebern mehr und mehr unerträglich, und es wird gewiß
in vielen Kreisen der Arbeitgeber bereits die Sehnsucht sehr lebhaft sein, an
die Stelle der jetzigen Anarchie geordnete Verhältnisse gesetzt zu sehen. Es
braucht hier ja nicht weiter auseinandergesetzt zu werdeu, wie verderblich die
Unlust, Widersetzlichkeit und Unzuverlässigkeit der Arbeiter, der Koutraktbruch
und die Streiks auf das ganze wirtschaftliche Leben einwirken. Für alle Be¬
teiligten ist es mit Händen zu greifen. Je unerträglicher sich aber die gegen¬
wärtigen Zustände gestalten, desto eher gewöhnt sich das Kapital an den Ge¬
danken, daß eine zunächst mit Opfern verbundne Vereinbarung der Arbeitskraft
doch vielleicht zu erwünschteren Zustünden führen konnte, und dieser Gedanke
wird an Stärke gewinnen und den Mut zur That geben, wenn sich gar die
Überzeugung aufdrängt, daß auch für das Kapital die Änderung nutzbringend
sein würde. In einem „Die Überproduktion" überschriebnen Artikel der Grenz¬
boten vom Jahre 1887 haben wir nachzuweisen versucht, daß die Konsumtion
durchaus mit der Produktion Schritt halten müsse, wenn von befriedigenden
wirtschaftlichen Verhältnissen die Rede sein solle. Es hat sich in den letzten
drei Jahren an manchen Erscheinungen gezeigt, daß die in jenem Artikel ver-
tretne Ansicht auf Wahrheit beruht. Die Möglichkeit der Produktion ist vor-
läufig unbegrenzt; sobald nur die erforderliche Nachfrage vorhanden ist, zeigt
sich die Produktion bereit und imstande, ihr zu folgen. Die Störungen im
wirtschaftlichen Leben entstehen nnr durch die Überproduktion, der keine aus¬
reichende auf Kaufkraft beruhende Nachfrage gegenübersteht. Zur Überpro¬
duktion wird Veranlassung gegeben durch zu nusgedehutes Kapitalisiren. Die
ersparten Kapitalien suchen Anlegung, vermehren die produktiven Unterneh¬
mungen, treten in Konkurrenz mit den schon bestehenden, drücken dadurch die
Preise zum Nachteil sowohl der Unternehmer als anch der Arbeiter. Besser
wäre es, wenn ein großer Teil der Ersparnisse unproduktive Verwendung fände.
Der große Kapitalreichtum in England und Frankreich hindert nicht, daß in
beiden Ländern viel Proletariat entstanden ist und oft die schwersten Not¬
stände eintreten. Es gilt zwar fast als Ketzerei, zu bezweifeln, daß ein Land
um so glücklicher sei, je mehr Kapital es besitzt. Aber das kann uns nicht
hindern, daran festzuhalten, daß dieser Satz nur dann als richtig gelten kann,
wenn auch die Kaufkraft der Massen dem Reichtum des Landes entspricht.
Die Überproduktion des Getreides hat die europäische Landwirtschaft schwer
geschädigt; die Anhäufung großer Kapitalien, die sich nach angemessener Ver¬
wendung umsehen, führt zu so gewagten Unternehmungen, wie die Kredit¬
geschäfte mit Buenos Ayres, bei denen wahrscheinlich Hunderte von Millionen,
die europäischer Fleiß hervorgebracht hat, verloren gehen werden. Min denke
sich nur einmal, diese Hunderte von Millionen wären bei einer gerechteren
uno humaneren Verteilung des Gesamtertrages in die Hände der Arbeiter
gekommen und hätten zur Aufbesserung ihres Verbrauchs gedient, sie wären
also für reichlichere und bessere Nahrung, vermehrten Verbrauch von Milch,
Butter, Fleisch und Zucker verwandt, für Cigarren und Bier, Kleidung und
Mobiliar ausgegeben worden; welch eine Nachfrage nach Gebrauchs- und
Verbranchsgegenständen aller Art würde dadurch hervorgerufen worden sein,
wie würden Kapitalien und Arbeitskräfte gesucht gewesen sein, um der ge¬
steigerten Nachfrage zu genügen! Was hat deun Deutschland davon, wenn die
großen inländischen Bankhäuser ihre Ersparnisse dieses Jahr in Südamerika
anlegen, die Zinsen in den nächsten Jahren vielleicht in China u. s. w.? Von
solcher Vermehrung des Kapitals haben wir gar nichts; die Zunahme des
inländischen Konsums aber belebt die gesamte Volkswirtschaft, indem Nach¬
frage geschaffen wird.
Es ist sehr wahrscheinlich, daß sich das Mißverhältnis zwischen der Pro¬
duktion und der Konsumtion fort und fort steigern wird. Aderlässe, wie
europäische Kriege, durch die große Kapitalien zerstört werden, Zusammen¬
bruche gleich dem in Buenos Ayres, halten den Prozeß ans, aber nur für
einige Zeit. Die kapitalistische Produktion wird ans die Dauer immer dahin
führen, daß die Kanfkraft der arbeitenden Massen mit der Produktion nicht
Schritt hält. Jetzt bilden sich die Unternehmerknrtelle, teils um die Preise
ihrer Erzeugnisse festzustellen, teils um Konkurrenten zu vernichten. Indem
sie die Preise beherrsche«, sogar die Produktion zu diesem Behufe einschränken,
verhindern und erschweren sie die Zunahme des Verbrauches. Sie tragen
dadurch aufs neue dazu bei, die wirtschaftliche Ordnung zu stören. Indem
sie die Preise hochhalten, schädigen sie — z. B. dnrch Verteuerung des Eisens,
der Kohle, der Chemikalien — andre Industrien; indem sie Konkurrenz ver¬
hindern, mehren sie die Zahl derer, die sich vergebens nach einer Lebensstellung
umsehen, und tragen zu dem Überfluß der nulagesucheuden Kapitalien bei.
Die Bildung der Kartelle der Aktiengesellschaften ist die letzte Konsequenz und
Spitze des Kapitalismus; sie wird aber unzweifelhaft zur Selbstvernichtung
dieses Systems führen. Der Kreislauf ist beendigt: die Gewerbefreiheit hat
durch den Kapitalismus zum Monopol zurückgeführt!
Die kapitalistische Produktion hat unzweifelhaft das Verdienst gehabt, zur
Massenproduktion zu führen und niedrige Preise zu ermöglichen. Zum Vor¬
wurf diente ihr, daß sie dadurch, daß sie die Maschine an die Stelle der
menschlichen Arbeitskraft setzte, das Massenproletariat erzeugte und bestündig
vermehrte. Sie konnte sich aber doch stets darauf berufen, daß sie unablässig
bestrebt sei, die Produktion zum Segen der Menschheit auszudehnen und
immer wohlfeiler zu erzeugen. Das ist nun vorbei. Fortan kann sich die
kapitalistische Produktion aus diese Vorzüge nicht mehr berufen; denn die
Kartelle bezwecken Einschränkung der Produktion und Hochhalteu der Preise.
Überdies wird der Gewinn ans den Kartellen, je mehr die Konkurrenz durch
sie beschränkt wird, immer mehr einer kleinern Zahl von Persönlichkeiten zu¬
fallen und dadurch der große Übelstand noch verstärkt werden, daß sich unge¬
heure Vermögen in einzelnen Händen ansammeln.
(Schluß folgt)
on einer unrichtigen Auffassung der geschichtlichen Vorgänge zu
Anfange des gegenwärtigen, nun bald auslaufenden Jahrhunderts
würde es zeugen, wollte man annehmen, daß die allgemeine
Erhebung des deutschen Volkes in den sogenannten Freiheits¬
kriegen nur einer augenblicklichen, wenn auch zornigen und
mächtigen Aufwallung des Nationalgefühls entsprungen sei. Um ein Bild zu
gebrauchen: es war nicht ein Emporspritzen politischen Gischts und das darauf¬
folgende Wellenkreisen des Wassers, als der napoleonische Felsblock ins Meer
der Zeit geworfen wurde, sondern es kam ein die Tiefen aushöhlender, alles
vernichtender Vvlkssturm, den die Schwüle einer drückenden Zeit längst ge¬
weissagt hatte, und dessen gewaltige und nachhaltige Wirkung in der höhern,
sittlichen Macht beruhte, die ihn heranrief. Diese sittliche Macht oder der
Gott, der da lebt, „zu strafen und zu rächen," drückte dann den jungen Helden
das Schwert in die Hand und gab den Sängern die feurigen Lieder ein.
Diese Macht und Kraft wuchs jedoch nicht im gegebnen Augenblicke aus der
Erde urplötzlich empor, wie einst die behelmten Krieger in der Jasonsage,
sondern sie war ein langsam gewachsener und mühevoll gepflegter Baum.
Theodor Körner und seine Kampfgenossen aber waren die purpurnen Blüten
an diesem modernen Welten bäume Jggdrasil. In der That, der Aufruf „An
mein Volk" hätte es nicht allein zu Wege gebracht, daß „alle, alle kamen."
Er konnte nur die „Männer" von den „Buben" scheiden, er war nur der
Windstoß, der in die verborgne, aber fort und fort glimmende Glut fuhr,
daß sie zur Flamme aufloderte.
Wer aber hatte die gute Saat in die Furchen der Zeit schon lange zuvor
gestreut, wer hatte das heilige Feuer in Brand erhalten? Eine nicht gerade
zahlreiche Schar von Männern, die, wenn sie auch nicht immer oder nicht
aufdringlich im Vordergrunde standen, doch in jenen schweren und trüben
Tagen die geistigen Führer des Volkes waren. Und Führer ziehen ja nie in
einem Massenaufgebot daher, sie lenken und leiten vereinzelt.
Diese Vorkämpfer — Streiter, noch ehe die Schlacht wogte — waren
gereifte Männer, zum Teil Greise. Sie waren die geistigen Urheber, die sitt¬
lichen Hebel der ganzen Bewegung. Zu ihnen gehörte, um nur einige zu
nennen, Fichte, Wilhelm von Humboldt, sogar uoch Schiller und, nicht zuletzt,
Christian Gottfried Körner. Ohne ihn, auch nur im geistigen Sinne gesprochen,
kein Karl Theodor Körner!
Weil aber dieser so ganz der Sohn auch seines geistigen Vaters war und
immer mehr zu werden versprach, so sei am hundertjährigen Geburtstage des
Helden und Sängers auch dessen gedacht, dem er nicht bloß das Sein,
sondern auch zum überwiegende» Teile das Werden und Fühlen verdankte.
In unsrer Zeit wird viel und wird wenig gelesen. Viel, um die Flut der
Tageslitteratur zu bewältigen; wenig, weil diese Flut eben Wasser, nichts als
Wasser ist, und man zwar mit den Augen, aber leider oft nicht für Geist und
Herz liest. Gute Bücher sind nach wie vor eine seltene Erscheinung, sie bleiben
aber häufig, wie die Perlenmuscheln in der See, ungesunden, wenn sie nicht
des Tauchers Hand vom Grunde emporholt. Ein solches gutes Buch, das
in sich schon der klare Beweis für unsre Ansicht über die Bedeutung Christian
Gottfried Körners ist, sind seine von Adolf Stern herausgegebnen gesammelten
Schriften.*)
In dem einbändigen, 423 Seiten zählenden Buche findet sich auch für den
Kenner reiche Geistesnahrung. Aber erst recht der Gebildete jedes Standes
sollte es lesen, für den Christian Gottfried Körner vorzugsweise schrieb. Für
ihn könnte es noch heutzutage ein Wegweiser und Ratgeber in vielen Füllen
sein. Wen» nur überhaupt die Persönlichkeit des Verfassers, den man eben
gewöhnlich bloß als den Vater des Sohnes nennt, bekannter wäre! Mögen
die Feuer, die zu Ehren Theodor Körners an dessen hundertjährigem Geburts¬
tage aufflammen werden, auch dazu dienen, ihren Schein rückwärts auf Leben
und Charakter des Vaters zu werfen!
Bekanntlich gab Christian Gottfried Körner, als der Sohn ihm seinen
heldenmütigen Vorsatz mitteilte, fürs Vaterland zu kämpfen, unbedenklich seine
Zustimmung. Die große Zeit fand beide nicht klein. Ja in jenen Tagen des
erwachenden Völkerfrühliugs schrieb auch der Vater eine zündende Flugschrift,
von der nur noch wenige Exemplare vorhanden sein mochten. Sie führt den
Titel „Deutschlands Hoffnungen" (Leipzig, 1813) und trügt das Motto ans
Tacitus vo M0ritu8 SörrnMias: IM^iss vt siZug. ÄvtiÄvw weis
in xroslwm ksrunt. „Ihrer Grundstimmung nach — sagt der neue Heraus¬
geber — klang sie mit den poetischen Verheißungen des Sohnes zusammen:
Vor uns liegt ein glücklich Hoffen,
Liegt der Zukunft goldne Zeit,
Steht ein ganzer Himmel offen,
Blühe der Freiheit Seligkeit.
Deutsche Kunst und deutsche Lieder,
Frauenhuld und Liebesglück —
Alles Große kommt uns wieder,
Alles Schone kehrt zurück."
Und wie kühn, auch auf die Gefahr hin, die Schiffe hinter sich zu ver¬
brennen, hebt Christian Gottfried Körner nun selber an: „Mit euch, deutsche
Männer und Jünglinge, für die Unabhängigkeit unsers Vaterlandes an der
Seite meines Sohnes zu kämpfen, hindern mich Amt und Jahre. Aber ver¬
schmäht das Wenige nicht, was ich selbst vielleicht noch für die gute Sache
zu leisten vermag. Nehmt freundlich einen Versuch auf, euch Bilder der Zu¬
kunft heraufzuführen, wie sie in den schönsten Momenten mir vorschweben, da
das Vertrauen, daß Gott eure Waffen segne, am lebendigsten ist. Auch eure
Vorfahren stärkten sich gern in der Schlacht an dem Anblick der Heiligtümer,
für deren Schutz sie sich opferten. . . . Und möchte doch meine Stimme auch
zu einem jeden gelangen, der diesen großen Zeitpunkt durch ängstliche Sorgen
entehrt, damit nicht durch Zweifel über den Erfolg des jetzigen Kampfes selbst
in bessern Seelen der Eifer erkalte, auf dessen Fortdauer und allgemeiner Ver¬
breitung Deutschlands Rettung beruht. . . . Nicht zu früh können wir uns
der seelenerhebeuden Betrachtung überlassen, was für herrliche Blüten und
Früchte aus dem innern Reichtum des Vaterlandes von selbst hervorgehen
würden, sobald es die eiserne Hand nicht mehr fühlte, die jetzt die edelsten
Keime zerknickt. Unsre Hoffnungen sind nicht zu kühn, wenn sie nicht auf
willkürliche Voraussetzungen, sondern auf Erfahrungen sich gründen. Und
jetzt ist es mehr als jemals Pflicht, den eigentümlichen Wert des echten
Deutschen nicht zu verkennen, sondern mit gerechtem Stolze sich daran zu er-
freuen. . . . Wenn zu allen Zeiten selbst unter den ungünstigsten Verhält¬
nissen einzelne Deutsche durch Geist, Kraft, Ernst und Gemüt in irgend einer
Gattung von Thätigkeit sich auszeichneten, so liegt am Tage, was wir zu er¬
warten haben, sobald jedes Streben höherer Art durch fremde Übermacht nicht
mehr gehemmt wird. . . . Was unter den zeitherigen Umstünden in unserm
Vaterlande der Einzelne leistete, gelang ihm durch das Übergewicht einer starken
Seele über den äußern Druck. Unerschütttert von den Stürmen der Zeit
lebte er in einer bessern Welt für die Seinigen, für sein Geschäft, seine Kunst,
seiue Wissenschaft, seinen Glauben."
Genau so lag der Fall bei Theodor Körners Vater. Die „Einzel¬
leistung", trotz äußern Druckes, war groß, weil sie der Allgemeinheit diente.
Und der leibliche und geistige Sohn des charaktervoller Vaters besiegelte die
ihm vom Vater eingeflößte Gesinnung mit seinem Herzblute. Der Vater aber
war ein deutscher Charakter durch und dnrch. Um dies zu erweisen, sei hier
in großen Zügen sein Lebens- und Entwicklungsgang geschildert.
Christian Gottfried Körner wurde am 2. Juli 1756 zu Leipzig geboren
als der Sohn eines strenggläubigen Geistlichen, der den beiden altberühmten
Leipziger Gotteshäusern, der Nikolai- und der Thomaskirche, angehörte. Schon
dieser, ein ehrenfester Charakter vom Schlage etwa des alten Lessing oder Goethe,
nahm in dem Leipzig jener Tage, das sich erst später zu einem Klein-Paris
umbildete, nicht bloß in geistlichen, sondern auch geistigen Dingen eine füh¬
rende Stellung ein. Reich an Titeln — er war Dr, tdsol,, Archidiakonus
an der Thomaskirche, Superintendent, ordentlicher Professor, Assessor im
Konsistorium, zuletzt noch Domherr des Hochstifts zu Meißen — fehlte es
ihm infolge seiner zahlreichen Ämter auch nicht an Mitteln, wozu kam, daß
er seine Lebensgefährtin, Sophie Margarete Reiner, aus einem gewichtigen
Leipziger Patrizierhanse erwählt hatte. Wenn ihn auch das Bewußtsein seines
Wertes nicht gerade verblendete, so meinte er doch, zumal da ihn seine tadel¬
lose Lebensführung vollends sicher machte, den Sohn die väterlichen Wege
führen zu müssen. Wie es indes oft zu geschehen Pflegt, stieß er ans Wider¬
stand. Ein unabhängiger Sinn geht eigne Bahnen.
Der dreizehnjährige Knabe bezog mit kurfürstlicher, ihm vom Vater er¬
wirkter Protektion die Landesschule zu Grimma', das Noläanum illustre.
Schon aus jener Zeit stammt ein Gedicht an eine Körnersche spätere „Erd¬
karte," Frau Christiane Sophie Ayrer in Zerbst, das nicht ungewandt abgefaßt
ist. Aber weit entfernt, sich dichterischen Schwärmereien hinzugeben, entwickelte
er, von Eltern und Lehrern vielfach angespornt, aber auch aus eignem An¬
triebe, einen ruhigen Fleiß und versagte sich selbst die unschuldigsten Ver¬
gnügungen. Dieser Eifer, der sich eigentlich niemals geungthuu konnte, zeichnete
ihn während seines ganzen Lebens aus.
Mit einer gründlichen klassischen Bildung ausgerüstet, sollte er sich nach
beendeten Schuljahren für einen Beruf entscheiden. Er würde, nach seinen
eignen Mitteilungen, dem väterlichen Beispiele gefolgt sein und die Theologie
erwählt haben, hätte nicht die Philosophie schon Zweifel in ihm wachgerufen.
Die unangenehme Situation der praktischen Ärzte verleidete ihm von vorn¬
herein die Medizin. So blieb, da für ihn nur drei Fakultäten in Betracht
kamen, noch die Jurisprudenz übrig. Weil ihn aber davon das „buntscheckige
Gewebe willkürlicher Sätze, die trotz ihrer Widersinnigkeit dem Gedächtnis
eingeprägt werden mußten," abstieß, so beschloß er, die Rechtsgelehrsamkeit
mehr nach der philosophischen und nationalökonomischen Seite zu betreiben,
damals noch etwas neues. In Verbindung damit befleißigte er sich dann
aber auch der Naturwissenschaften und der Mathematik, namentlich in ihren
Anwendungen auf die Bedürfnisse und Gewerbe der Menschen, ein Gebiet, das
man heutzutage Technologie nennen würde.
Bei feinen Studien leitete ihn nicht die Absicht, durch die Erlangung
besondrer Fachkenntnisse später in seiner Laufbahn schneller vorwärts zu
kommen, sondern das Streben, auf unbekanntem Bahnen zu forschen. Im
allgemeinen war es der Trieb nach Erkenntnis und Wahrheit, der ihn beseelte.
Von vornherein hatte er sich den Wahlspruch erkoren, der Wahrheit das Leben
zu widmen (viwni iinxsnäsrv ve-ro), ganz im Sinne des um jene Zeit von
G. E. Lessing in seiner Duplik gegen Goeze aufgestellten Forschergrundsatzes,
daß nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgend jemand sei oder zu sein ver¬
neine, sondern die aufrichtige Mühe, die er aufgewendet habe, hinter die
Wahrheit zu kommen, den Wert eines Menschen ausmache.
Nachdem Körner seine Studien in Leipzig begonnen und in Göttingen
fortgesetzt hatte, kehrte er 1777 in seine Vaterstadt zurück, um sie dort ab¬
zuschließen. Im folgenden Jahre wurde er Magister in der philosophischen
Fakultät und erwarb sich 1779 die Erlaubnis, juristische Vorlesungen zu
halten, nachdem er vorher die Würde eines Doktors beider Rechte erlangt
hatte. Aber Zuhörer wollten nicht kommen. Nach einem Jahrzehnt schrieb
er mit gutmütiger Selbstverspottung an Schiller, den angehenden Geschichts¬
professor: „Mit mehr Geräusch hättest du deine neue Laufbahn nicht beginnen
können. Ich kann mich desto besser in deinen Fall denken, da ich selbst etliche
male zu Anfang des halben Jahres am Fenster gelauert habe, wobei jedes
Stiefeltratfchen mir willkommene Musik war." Zuvor erhielt er noch Ge¬
legenheit, außer der vielseitig gelehrten sich auch eine weltmännische Bildung
anzueignen. Im Herbst desselben Jahres (1779) begleitete er einen jungen
Grafen (Schönburg-Glauchau) als Mentor auf dessen „Kavaliertvur." Die
Reise dauerte ungefähr vierzehn Monate, und er lernte auf ihr außer einem
großen Teile Deutschlands Holland, England, Frankreich, die Niederlande
und die Schweiz kennen. Nach der guten Sitte der damaligen Zeit führte er
ein eingehendes Neisetagebuch, worin er sich in verständigem Ton und ohne viele
Redensarten über Land und Leute, Kunst und Industrie ausspricht.
Schon 1781 verzichtete er darauf, in seinem Auditorium die Studenten
vergeblich zu erwarten, und wurde Konsistorialadvokat in Leipzig. Da er sich
guter Empfehlungen zu erfreuen hatte und auch wirklich bald als brauchbarer
Beamter erkannt wurde, erstieg er bereits uach zwei Jahren eine höhere Stufe
und ward als jüngster, auf jeden Fall sehr junger Rat, an das Oberkon¬
sistorium nach Dresden berufen.
Der Abschied aus seiner Vaterstadt wurde ihm schwer, besonders auch
deshalb, weil ihn dort die Liebe gefesselt hielt. Schon 1782 hatte er sich mit
der verwaisten Maria Jakobina Stock, der Tochter des aus „Dichtung und
Wahrheit" bekannten, von Nürnberg eingewanderten Kupferstechers Stock, die
er im Breitkopfischen Hause kennen gelernt hatte, verlobt. Seine Eltern sahen
dieser Verbindung ihres Sohnes, für den sie andre Pläne in Bereitschaft haben
mochten, mit einer „Kupferstechermamsell," wie es in ihren Kreisen hieß, kaum
freudig entgegen. Überhaupt waren dem Vater die Bekanntschaften Christians
mit Künstlern und ähnlichen, in seinen Angen wohl „problematischen" Naturen
ein Dorn im Ange. Jedoch der ausgeprägte Wille des Sohnes machte sich
schon hier geltend. Nicht als ob er von der seltenen Schönheit seiner Braut
so hingenommen gewesen wäre, um sich überhaupt klarer Erkenntnis zu ver¬
schließen. Aber er hegte die feste Überzeugung, und die Zeit hat gelehrt, wie
richtig er zu urteilen verstand, in seiner „Minna" (vielleicht eine Zusammen-
ziehung aus Maria Jakobiua) das Wesen zu besitzen, das ihn dauernd be¬
glücken könnte. Noch nach zwanzig Jahren vermochte er an seinem Hochzeits¬
tage aufrichtigen Herzens zu schreiben:
Festlied gestimmt erwach ich und blicke dankbar gen Himmel,
Und er zeigt mir ein Bild, würdig des heutigen Tags.Klar und mild ist die Blume, nur leichte Streifen von Wolken
Zeigen sich einzeln, doch bald hat sie ein Lüftchen verweht.Alles umglänzt und verherrlicht vom Strahle der freundlichen Sonne -—
So ward einst meine Welt, Liebe, durch dich mir verklärt!
Der Vater war und blieb aber andrer Ansicht, und so hieß es für das
Brautpaar warten. Jedoch verstrich ihnen die Zeit durchaus nicht in trüb¬
seligen Harren, denn die Jugend läßt besonders in solcher Lage den Mut
so leicht nicht sinken. Zudem fanden sich sogar zwei Brautpaare in Stocks
mehr als einfacher Mansardenwohnung zu fröhlichem, besonders geistig be¬
lebten Verkehr zusammen. Der ältern Schwester Dorothea oder Doris hatte
sich ein junger begabter Schriftsteller, Ludwig Ferdinand Huber, genähert, sie
war eS, in deren auschlägigem Kopfe die Idee entstand, den durch Verfolgung
und Flucht mit dem Zauber der Romantik umwobenen Dichter der „Räuber"
in sinniger Art und Weise dnrch ein Geschenk zu überraschen und zu erfreuen.
Bekanntlich sandten die vier Verlobte» durch Vermittlung der Schwanschen
Buchhandlung kleine Zeichen der Verehrung nach Mannheim, uuter denen
außer einem von Körner selbst kompouirteu Liede aus den Räubern die von
Doris gemalten Bilder der Absender die ansprechendsten sein mochten. Weniger
bekannt möchte sein, daß durch diese Annäherung Schiller vor nicht unwahr¬
scheinlichen Untergange bewahrt blieb. Noch ans Mannheim schrieb er an
seine Leipziger Verehrer: „Ich kaun nicht mehr Hierbleiben. Zwölf Tage habe
ichs in meinem Herzen herumgetragen, wie den Entschluß, aus der Welt zu
gehen. Menschen, Verhältnisse, Erdreich und Himmel sind mir zuwider."
Dazu ergänzt Friedrich Förster: „Diesen Entschluß, »aus der Welt zu gehen,«
auszuführen, war der an den Rand der Verzweiflung getriebne Schiller damals
sehr nahe. In einem Briefe an Körner, den dieser mich lesen ließ, schrieb er:
»Von der Brücke bei Sachsenhauser sah ich mut- und trostlos hinunter in
den Fluß und war entschlossen, einem qualvollen Leben ein Ende zu machen; —
da traten eure Bilder mir vor die Seele, ich gedachte eurer Liebe und
Freundschaft; sie riefen mich in das Leben zurück und retteten mich.« Als
der Vater Körner mich damit betraut hatte, aus dem damals nur hand¬
schriftlich vorhandenen Briefwechsel Auszüge für Frau von Wolzogen zu machen,
hatte ich diese Stelle als vom größten Interesse zur Veröffentlichung aus¬
gezogen; Körner legte jedoch den Brief zurück, wie er meinte, aus schonender
Rücksicht für den Freund."
So war der Aufenthalt Schillers bei Körner in Leipzig und Dresden
ein Ereignis von noch viel schwerer wiegender Bedeutung, als gewöhnlich
angenommen wird. Niemand hat aber auch von vornherein so scharf und
klar Schillers Größe erkannt, wie sein Freund Körner. Schon nach kurzer
Zeit ihrer Bekanntschaft äußerte dieser in aufrichtiger Bewunderung, daß
„alles, was die Geschichte in Charakteren und Situationen Großes liefere und
Shakespeare noch nicht erschöpft habe, auf Schillers Pinsel warte." Der
Briefwechsel zwischen den beiden Freunden und die philosophischen Briefe
zwischen Julius und Raphael (Schillers Thalia, drittes Heft, 1787, und
siebentes Heft, 1789), abgedruckt in Christian Gottfried Körners Gesammelten
Schriften, unter uns an, wie das erhebende Geläut zweier harmonisch
gestimmten Glocken; die „Nachrichten von Schillers Leben" aber, die kein
Würdigerer schreiben konnte als Körner, und mit denen dieser die erste Ge¬
samtausgabe der Werke seines Freundes begleitete, können wohl mit Goethes
berühmtem Epilog zu Schillers Glocke verglichen werden, wenn sie auch in
schlichter Prosa abgefaßt sind.
Während Schiller mit Körner und Huber zusammenlebte und sein Lied
an die Freude dichtete, vollzog sich der Bund fürs Leben zwischen Minna
Stock und ihrem Verlobten. Durch den Tod der Eltern zu Anfang des Jahres
1785 war Körner in den Besitz eines nicht unbeträchtlichen Vermögens gelangt,
dessen er freilich auch zur Begründung eines Hallsstandes bedürfte, denn sein
Gehalt betrug damals, einschließlich eines Nebenamtes, nur zweihundert Thaler.
Die Opfer, die er Schiller brachte, waren also nicht ganz gering anzuschlagen.
Aber noch einem zweiten Freunde stand er bei, dem Buchhändler Göschen,
dem spätern Verleger der „Knospen" seines Sohnes, wenn er bei dieser Unter¬
stützung auch hoffte, sein Geld leidlich zu verzinsen.
Das Haus, das er nun in Dresden begründete, wird mit Recht als eine
Oase in der damaligen „Wüste der Geister" geschildert. Die Persönlichkeiten,
die darin ein- und ausgingen oder längere und kürzere Zeit dort verweilten
- außer Schiller noch Goethe, Wilhelm von Humboldt, Graf Geßler, die Herzogin
von Kurland, Tieck, Heinrich von Kleist, Ohlenschläger, Mozart, Zelter — sind
das lebendige Zeugnis einer geistigen Atmosphäre, hinter der im wesenlosen
Scheine das Niedrige und Gemeine lag. Eines besonders starken Charakters
bedürfte es allerdings, um in jenen Tagen erfolgreich allen fremden, unlautern
Elementen den Eintritt zu wehren. Wenn Zelter und Förster die Körnerschen
Frauen von einer gewissen Nachgiebigkeit dem französischen Wesen gegenüber
nicht ganz freisprechen wollen, so ist dagegen Körner selbst ein Fels in solcher
Brandung. Die Gefahren sah er wohl und sprach sie auch in „Deutschlands
Hoffnungen" aus: „Fremde Gewalt ist dem deutschen Volke, sobald es nicht
durch innere Zwietracht geschwächt wird, weniger gefährlich, als fremde Sitte,
die sich durch eine glänzende Außenseite empfiehlt. Ein Übermaß von Be¬
scheidenheit verleitet uns, jede Eigenheit des Ausländers, die wir an uns
vermissen, in einem verschönernden Lichte zu betrachten. Daher das Bestreben,
unsre Söhne und Töchter nach dem Muster eines Volkes zu bilden, bei dem
Frivolität, Eitelkeit und Selbstsucht einheimisch geworden waren. Wohl uus,
wenn wir bei dem jetzigen Kampfe zur Besonnenheit erwachen und es dahin
kommt, daß Flachheit, Herzlosigkeit und all der Flitterstaat, mit dem eine
modische Erziehung Prange, nicht mehr für höhere Ausbildung gilt."
Diese auch heute noch zutreffenden Worte waren zugleich das Erziehungs¬
programm für seine beiden Kinder, für die am 19. April 1788 geborene
Emma Sophie und namentlich für Karl Theodor. Als dieser größer wurde,
las der Vater viel über Pädagogik und kehrte zu seinem Lieblingsstudium der
Natur zurück. Gern nahm er sür seine pädagogischen Grundsätze aus dieser
auch seine Vergleiche. Was nicht von selbst wächst, äußerte er sich öfter über
Theodor, Pflege ich nicht.
Es ist anziehend, zu beobachten, wie meisterhaft es der Vater verstand,
den Sohn zu leiten und ihm doch ein großes Maß von Selbständigkeit zu
gewähren. Die Erziehung, mehr im Hause als in der Schule bethätigt, da
Theodor die Kreuzschule in Dresden nur kürzere Zeit besuchte, gründete sich
auf ein Vertrauen, das der Sohn auch niemals bewußt täuschte. Das ehrt
ihn und den Vater. Als Theodor zur Bergakademie geht, schreibt ihm der
Vater (am 10. Juni 1808): „Seit heute bist du nun, lieber Sohn, dir selbst
überlassen. Über diese wichtige Veränderung in deinem Leben habe ich dir
wenig zu sagen. Ich liebe die Vermahnungen nicht, weil ich sie für unnötig
halte, wenn man Grund zum Vertrauen hat, und weil sie im entgegengesetzten
Falle ganz unnötig sind. Ohne Vertrauen auf dich würde ich sehr unglücklich
sein, aber ich rechne fest darauf, daß du fortfahren wirst, deinen Eltern Freude
zu machen."
Diese Zuversicht geht ihm selbst bei den Ausschreitungen seines Sohnes
auf der Universität Leipzig nicht verloren. Er weiß, daß der Jugendqnell
bei ihm wohl überschäumen, aber nichts Unreines zu Tage fördern kann. So
ist er stets mehr der freundliche Berater, als der strenge Vater, aber nicht
jeder Sohn ist anch ein Theodor Körner. Als dieser den großen Entschluß
seines Lebeus faßt, mit Draugabe seines jungen glänzenden Jngendglückes
Blut und Leben zu wagen, wird aus dem gütigen Ratgeber der Freund, der
Kampfgenosse. Christian Gottfried durfte sich gerechten Stolzes sagen, daß
die Saat, die er selbst sorgsam gesät hatte, herrlich ausgegangen war.
Und was konnte es denn Erhabneres geben, wenn es ihm auch das Herz
zerriß, als den Heldentod seines Sohnes! In diesem Sohne war, wie Wilhelm
Scherer sagt, kein Rückblick ans vergangene Zeiten, keine Weichheit, keine
Träumerei, sondern die volle Frische des Jünglings, die in der Gegenwart
lebt; der reinste Enthusiasmus, dem die große Zeit einen großen Inhalt giebt.
Er ward ein Idealist, wie Piccolomini. Er lebte in den Gesinnungen der
Jungfrau von Orleans: „nichtswürdig ist die Nation, die nicht ihr Alles
freudig setzt an ihre Ehre!" „Was ist unschuldig, heilig, menschlich, gut,
wenn es der Kampf nicht ist uns Vaterland?"
So hatte auch der Vater gedacht, und dennoch ist begreiflich, daß der
Tod des Sohnes alle seine Hoffnungen vernichtete. Als Flüchtling vor der
Rache des Eroberers, der ihm sein Glück zerschmettert hatte, umhergetrieben,
empfing er die sichere Kunde von dem betrübenden Ereignis des 26. August 1813
erst im November desselben Jahres. An den Leipziger Freund Kunze schrieb
er starken Herzens über Theodors frühzeitiges Ende: „Mein Schmerz ist sanft,
und sein Tod hat für mich eine seelenerhebende Wirkung. Als Schutzgeist
werde ich ihn ehren und den Nest meines Lebens alles anwenden, um seiner
wert zu sein, um für die große Sache, der er sich geopfert hat, auch in
meinem Wirkungskreise nach meinen Kräften etwas zu leisten."
Unter den obwaltenden Umständen, wenn er auch in seinem engern Vater¬
lande eine neue, ihm zusagende Beschäftigung gefunden hatte, mußte ihm die
Aussicht, gerade in preußische Dienste übertreten zu können, angenehm sein.
In den alten Verhältnissen „ekelte ihn manches Gesicht." Am 3. März 1815
trug ihm Hardenberg die Stelle eines Staatsrath im preußischen Ministerium
des Innern an. „Die Verdienste — so lautete das amtliche Schriftstück —,
welche Sie Sich durch Ihre ebenso einsichtsvolle als thätige Teilnahme an
der Sache Ihres Vaterlandes, besonders auch durch Ihre Arbeiten am König¬
lichen Generalgouvernement erworben haben, und die Verhältnisse, in welche
Sie dnrch die Ereignisse versetzt worden sind, legen mir die Pflicht auf,
Ihnen mit dem Anerbieten, Sie in den preußischen Staatsdienst aufzunehmen,
entgegenzukommen."
Im Geiste seines Sohnes zu wirken, bot Preußen allerdings ein geeig¬
neteres Feld als Sachsen. Auch den schweren Schicksalsschlag durch den
Verlust der blühenden Tochter, von der man wohl sagen kann, daß der Tod
des Bruders ihr das Herz brach, überwand er kraftvoll. Sie starb am
15. Mürz 1815, und bereits ani 3. April vermag der Vater an Frau von
Humboldt zu schreiben: „Mich hat Gott wunderbar gestärkt, und meine Gesund¬
heit ist weit weniger angegriffen, als nach dem Tode des Sohnes." „Den
Manen der Kinder" aber hat er, als er 1818 ihre Grabstätte in dem fernen
Wobbelin besuchte, nachstehende ergreifende Distichen gewidmet:
Heil euch, seliges Paar! Hoch schwebt ihr über der Erde;
Wir verweilen noch hier, wandeln auf doruichtcr Bahn,Aber in Blumen und Sternen, in jeder Zierde des Weltalls
Sieht der sehnende Blick seine Geliebten verklärt.Auch in der Eiche, die hier die bethränten Gräber beschattet,
Zeigt, was ihr wäret und seid, uns sich als liebliches Bild.Nah aus der Wurzel entstehn ans dem Herzen des Stammes zwei Äste,
Kräftig strebt einer empor, ihm schließt der zweite sich an.Bald, wie durch fremde Gewalt, sehn wir sie gehemmt und vereinigt,
Aber der höhere Trieb siegt über irdische Macht.
Schon ein Jahr vorher hatte man ihn in Berlin in den Wirkungskreis
gestellt, der für die ganze Richtung seines Geistes in der That der geeignetste
war, er wurde 1817 Geheimer Ober-Regierungsrnt im Altensteinschen Kultus¬
ministerium. Befriedigung gewährte ihm, die Lage der Lehrer und namentlich
ihrer Witwen und Waisen verbessern zu Minen, wenn auch bereits damals
der Realismus der Finanzen dem Idealismus des Kultus die Flügel zu
beschneiden Pflegte. Auch als eine Art Kurator der Berliner Gymnasien fand
er eine ihm zusagende Thätigkeit, weniger schon als Beamter im Ober-Zensur¬
kollegium. Hier trat ihm das zu damaliger Zeit in Berlin leider vor¬
herrschende Pnrteiwesen entgegen, dein er mit seinem ruhigen, auch fremde
Gegensätze gern ausgleichenden Geiste abhold war. Aber als eine kleine,
dennoch mächtige Strömung am Hofe immer mehr Einfluß erhielt und die
zu verfolgen anfing, die im Kampfe für die Freiheit nicht Gut noch Blut
geschont hatten, fühlte er sich in seinem innersten Fühlen verletzt und ver¬
faßte eine Schrift: „Stimme der Warnung bei dem Gerücht von geheimen
politischen Verbindungen im Preußischen Staate." (Berlin, 1815.) Es han¬
delte sich um vermeintliche Ausläufer des „Tugendbundes," aufgespürt und
angeklagt von dem Professor und ftäats- und rechtswissenschaftlichen Schrift¬
steller Schmalz in Berlin, in einer Flugschrift „Über politische Vereine," die
viel Staub aufwirbelte. War auch Körners Gegenschrift ziemlich matt, da
er sich als Staatsbeamter vorsichtig zurückhielt, war sie demnach kein attisches
Salz auf jeues „Schmalz," so läßt sie doch den verhaltenen Kammer des
Vaters durchblicken, daß der Heldentod seines Sohnes für eine weitere frei¬
heitliche Entwicklung eigentlich fruchtlos geblieben war. „Die tapfern Streiter
— sagt er —, denen das Vaterland seine Stellung verdankt, kehren beim,
lind ihre glorreichen Siege fordern ein würdiges Denkmal. Dies ist die Aus¬
führung des großen Werkes, das ans den Schlachtfeldern gegründet wurde.
Für die vereinigten Kräfte Deutschlands giebt es kein höheres Ziel, und bei
der Nachwelt haben wir zu verantworten, was in dem jetzigen Zeitpunkte
versäumt wird. Auf den preußischen Staat sind vornehmlich alle Augen ge¬
richtet, denn hier erwartet man mit Recht einen edeln Wetteifer unter allen
Klassen der Nation und in jedem Wirkungskreise die Früchte der allgemeinen
Begeisterung, die durch die Thaten der Krieger bei ihren friedlichen Mit¬
bürgern erzeugt wird. Daß aber eben in diesem Staate und eben jetzt die
Spuren von einem Geiste des Argwohns und der Zwietracht sich zeigen , der
seit mehreren Jahrhunderten so viel Unheil in Deutschland gestiftet hat, ist
eine traurige Erscheinung." Und an einer andern Stelle: „Daß Deutschland
so wieder hergestellt werde, wie es vor den letzten Jahren des Unglücks und
der Knechtschaft gewesen war, darf uus nicht genügen. Der innere Gehalt
des deutschen und insbesondre des preußischen Volkes hat sich dnrch vielfache
Prüfungen bewährt und begründet seinen Beruf zu einer höhern Stufe. Es
soll nicht bloß uuter den gebildetsten und blühendsten Völkern seinen Platz
einnehmen, sondern auf der Bahn zur Vollendung als Beispiel vorangehen."
Aber die Zeit war ihrem Ideale uoch nicht reif, wie sein großer Freund
Schiller gesagt hatte, und so mußte Körner sich bescheiden. Ein andrer,
größerer hat die schon damals eingesenkten Keime zu herrlicher Entfaltung
gebracht. Körner aber flüchtete in Stunden der Entmutigung zu feiner Kunst,
der Musik, deren Angelegenheiten er auch im Ministerium zu vertreten
hatte, und suchte auch das deutsche Wesen, dnrch Beispiele im eignen Hause
darauf geführt, aus dem Charakter tüchtiger Frauen zu ergründen, denen seine
letzte schriftstellerische Arbeit gewidmet ist, „Für deutsche Frauen" (Berlin und
Stettin, 1824). Er spricht darin über Weiblichkeit, Schönheit der Seele, Leben,
Freiheit, Einheit, Ebenmaß, innern Frieden und Licht und Wurme, alles in
Bezug auf Frauengeist und weibliches Gemüt. Außerdem fanden sich von
ihm einige bisher noch ungedruckte Handschriften im Dresdner Körnermuseum
und in der Berliner Bibliothek vor, so „Gedanken über die Bedingungen eines
blühenden Zustandes der preußischen Uuiversitnteu" u. s. w.
Überblicken wir den stattlichen Umfang seiner noch nicht erwähnten litte¬
rarischen, ästhetischen und politischen Arbeiten, die teils über die Freiheit des
Dichters bei der Wahl seines Stoffes, über die Kunst der Deklamation,
Charakterdarstellnng in der Musik, Wilhelm Meisters Lehrjahre, das Lustspiel,
teils über Geist und Esprit und über die deutsche Litteratur handeln, die
ferner das Lebe» des Kanzlers Axel Oxenstierna, die Verbesserung des Zivil-
Prozesses, die Hilfsquellen Sachsens, den staatswirtschaftlichen Wert eines
Menschenlebens und noch manche andre praktische Frage zum Gegenstande
haben, ziehen wir endlich sein mehr als pflichttreues amtliches Wirken in Be¬
tracht, das ihm in dem letzten Abschnitt seines Lebens freilich eine gewisse
gebundne Mnrschronte vorschrieb, so finden wir bestätigt, was sein Freund
Streckfuß von ihm in einem Nekrolog aussprach, daß er bis an seine letzten
Tilge die Forschung und die Kunst liebte und übte und der Wissenschaft in allen
ihren bedeutenden Erscheinungen folgte, daß aber alle diese verschiedenartigen
Bestrebungen zu einem einheitlichen Ganzen durch ein Gemüt verschmolzen
waren, in dem nur Wahrheit, Treue und Liebe wohnte, und das alles Ge¬
wöhnliche und Schlechte, was uns im Leben nur zu oft entgegentritt und sich
uns aufdrängen will, ohne Kampf und Anstrengung, nur durch die ruhige
Kraft der innern Würde zurückwies.
Diesem trotz alledem anspruchslosen Charakter war es beschieden, 1828
das fünfzigjährige Doktorjubiläum durch ein Fest zu begehen, das zwar auf
Anregung seiner Vorgesetzten gefeiert wurde, aber trotzdem weit eher ein herz¬
liches, als ein amtliches Gepräge trug. Sein langjähriger Freund, der Mi¬
nister W. von Humboldt, leitete die Feier mit einer warm empfundnen An¬
sprache ein, und als der Jubilar nur als Theodor Körners Vater dankte^
nahm der Minister von Kamptz Veranlassung, die eignen hohen Verdienste
des Gefeierten gebührend hervorzuheben.
Von diesem sonnigen Rückblick umstrahlt, wirkte er in ungeschwüchter
Kraft uoch drei Jahre und schied dann, ohne vorher krank gewesen zu sein,
schmerzlos am 13. Mai 1831 aus dem Leben. Seinem Wunsche gemäß wurde
er an der Seite seines Sohnes und seiner Tochter bei Wöbbelin bestattet.
Einfach und schlicht, wie sein Wesen, war seine Grabschrift; sie wies nur
seinen Namen und den Tag seiner Geburt und seines Todes auf. Erhalten
sind aber die Worte, die Neander an Ch. G. Körners Sarg sprach, als dieser
die letzte Reise zu der Eiche auf mecklenburgischem Grund antrat. Es war
nicht ein bloßer Schmuck der Trauerrede, wenn ihm der würdige Bischof den
höchsten Vorzug zuerkannte, in der That und Wahrheit ein Christ gewesen zu
sein, wenn er sagte, daß der Geist eines Weisen in ihm gewohnt und das
Herz eines Kindes in seiner Brust geschlagen habe, daß um ihm das Beste der
alten und neuen Zeit in seltner Verschmelzung vereinigt gewesen sei. So war
Ch. G. Körner, das beweist sein Leben, davon zeugt sein Wirken, ein tief¬
ernster Idealist, ein Muster für die Mit- und Nachwelt, ein echter deutscher
Charakter.
roßvaters Schreiber wußte alle Neuigkeiten der Stadt und der
Umgegend, und kein Mensch verstand so wie er, aus kleine»,
harmlosen Begebenheiten eine große, wichtige Geschichte zu machen.
Auch gab es wohl niemand in der kleinen Stadt, dessen äußere
Erscheinung so allgemein bekannt gewesen wäre, wie die von Gro߬
vaters Schreiber. „Herr Seckertnr" nannten ihn die Leute, und
Nasmus Rasmussen ließ sich diese Bezeichnung mit wohlwollender Herablassung
gefallen, ebenso wie die kleinen Schnäpse, die er sich als Tribut seiner hervor¬
ragenden Stellung hin und wieder einschenken ließ. Wer Nasmus reden hörte,
mußte glauben, daß das Wohl und Wehe des ganzen Bezirkes von ihm ab-
hinge, daß alle Beamten, vom Amtmann abwärts, eigentlich nur ihm zu ge¬
horchen Hütten, ja daß er mit dem König selbst auf vertrauten? Fuße stünde.
Besonders regten ihn die gebrannten Wasser auf die angenehmste Weise an,
und wenn er nach einem Rundgang in den verschiednen kleinen Wirtschaften
der Stadt wieder zum Schreibepult zurückkehrte, so floß sein Mund über von
deu interessantesten Geschichten.
Wenn wir ihn in diesen Augenblicken der Verzückung besuchten, so hatte
Nasmus für uns eine große Anziehungskraft. Er saß gewöhnlich an seinem
Pult und schnitt Gänsefedern, probirte auch wohl eine oder die andre,
während er seiner beredten Phantasie den freiesten Lauf ließ. Wir hockten
mif Schemeln und Tischecken der alten räucherigen und staubigen Schreibstube
und regten unsern Freund zu immer weitern Mitteilungen an. Durch jahre¬
lange Bekanntschaft wußten wir ziemlich genau, was er uns erzählen würde,
und mein Bruder Jürgen hatte Rasmus Geschichten förmlich in Klassen ge¬
bracht, die sich nach der Anzahl seiner Schnäpse richteten. Hatte er z. B.
an Morgen nur zwei oder drei „Ltttjenburger" genommen, dann berichtete
er uns aus seiner weit hinter ihm liegenden Kindheit. Wie er sich immer
so artig und brav betragen, wie er niemals „nachgesessen" hätte, wie er fast
nie bestraft worden und stets ein Musterknabe gewesen sei. Obgleich sein
rührendes Selbstlob mit vielen schönen Beispielen belegt wurde, so mochten
wir diese Geschichten doch am wenigsten hören. Uns war es lieber, wenn
Nasmus einige Schnäpse mehr getrunken hatte, weil er uns dann von den
Irrfahrten seiner Jugend- und Mannesjahre berichtete. Er hatte nach unsrer
Ansicht die halbe Welt gesehen, denn er war in Hamburg Bierbrauer und
in Kopenhagen Kaufmann gewesen, und einmal war er sogar zu Schiff von
Friderieia uach Sonderburg gefahren, eine Reise, bei der Nasmns Meer-
ungeheuer, Walfische, Delphine, jn sogar ein Meerweib erblickt hatte, sodaß
uns die Haare zu Berge stauben. Denn das wußten wir ganz genau: wenn
man einem Meerweibe begegnet, dann muß man sterben. Wann? ist freilich
nicht bestimmt angegeben; denn die Meerfräulein haben die schlechte Angewohn-
heit, stumm zu sein, und manchmal lassen sie die Menschen noch vierzig bis
sechzig Jahre leben, nachdem sie ihnen erschienen sind. Sie sind eben ganz
abscheulich unberechenbar, wie alle Weiber, sagte Rasmus mit einem Seufzer,
und wir seufzten teilnahmsvoll mit ihm. Der arme Rasmns war wirklich
von einem Mädchen angeführt worden, und wir verstanden es sehr gut, daß
er jetzt alle Weiber verachtete und immer höhnisch lachte, wenn von Heiraten
und Verloben die Rede war. Wir wußten noch mehr: denn wenn Rasmns
mehr als acht „Lütjenburger" getrunken — Jürgen kannte die genaue Zahl! —
so erzählte er uus von seiner Braut. Es war eine rührende Geschichte, und
daß ihm manchmal dabei die Thränen über die dicken Backen liefen, fanden
wir selbstverständlich. Sie war so schön gewesen, so reich, so vornehm, und
sie hatte Nasmus so glühend geliebt, daß ihm die Worte bei der Beschreibung
dieser Leidenschaft ausgingen. Wir aber verstanden durch Fragen nachzuhelfen,
die, wenn anch nur praktischer Natur, doch dazu beitrugen, die Geschichte für
uns noch anziehender zu machen. O, was war sie schön! stöhnte Rasmns,
indem er mit seinen verschwommenen Augen die geschwärzte Zimmerdecke an¬
starrte. Schwarze Augen und blondes Haar, und jeden Tag ein seidnes
Kleid an. Und immer Nachtisch beim Mittagsessen, und abends Theepunsch
und belegtes Butterbrot!
Womit war es belegt? fragte Jürgen, und Rasmns wurde nachdenklich.
Mit Frikandellen und Käse! murmelte er, während Jürgen die Achseln zuckte.
Frikandellen mag ich gar nicht gern; wenn das meine Braut gewesen
wäre, hätte sie mir Kalbsbraten mit Gelee geben müssen!
Und nnn kam die Reihe des Fragens an mich. Weshalb hat deine
Braut heute wieder schwarze Augen, Nasmus? Neulich hatte sie blaue, und
die habe ich viel lieber!
Sie hatte wahrscheinlich ein blaues und ein schwarzes Auge! schlug
Jürgen vor, und da wir ein kleines Mädchen kannten, die wirklich diese
Naturmerkwürdigkeit besaß, so war ich mit diesem Kompromiß zufrieden.
Rasmus weinte inzwischen. Er wollte Federn schneiden, aber er ließ
die Hand mit dem Messer sinken. Was hatte sie mich lieb! schluchzte er.
Wenn sie mich sah, dann wurde sie ganz steif, und ihre Beine kriegten das
Zittern — alles aus Liebe!
Diese Mitteilung ließ uns kalt. Nach gelegentlichen Äußerungen vou
Erwachsenen mußten wir annehmen, daß die Liebe ein ganz absonderlicher
Zustand sei — weshalb sollte man nicht vor Liebe steif werden können?
Weshalb hast du deine Braut eigentlich nicht hier? fragten wir wohl
gelegentlich. Sie könnte ja gut bei dir wohnen!
Dann schüttelte Rasmns den Kopf. Hier wohnen? In dieser Hütte?
Meine Braut? Habe ich euch denn nicht gesagt, daß sie in Hamburg wohnt!
Hamburg und hier! Er lachte spöttisch, und wir stammelten einige Worte
der Entschuldigung.
Rasmns Schreibstube ging, auf den Hof hinaus und besaß keine sehr
aufregende Aussicht. Eine Pumpe und der dahinter liegende Pferdestall bil¬
deten die einzigen sichtbaren Gegenstände, mit denen sich die Phantasie des
Schreibers beschäftigen konnte; dann war noch eine nach der Straße führende
Pforte, die meistens offen stand. Durch diese Pforte kamen die Schulkinder
in den Hof gelaufen, um sich Wasser in Mützen und Papierdttteu zu hole»,
eine Liebhaberei, die den Hof zu gewissen Stunden recht lebhaft machte. Denn
Nasmus fand die Benutzung „seiner" Pumpe sehr überflüssig und schalt die
Kinder in seinem etwas fehlerhaften Deutsch oftmals aus; oder er jagte sie
in höchsteigner Person fort, ein Unternehmen, das dem großen, unbeholfenen,
meist ein wenig angetrunkenen Manne nur unvollkommen gelang, und das
dann allgemeine Fröhlichkeit erregte. Abends aber war der Hof einsam und
verlassen, und wir Kinder gingen dann ganz gewiß nicht allein hin, weil es,
wohlverbürgter Gerüchten zufolge, lebhaft darin spuken, oder wie man bei
uns sagte, „spökeln" sollte. Irgend eine Dame, die in ihrem irdischen Dasein
geizig gewesen war und ihren Dienstboten uicht genug zu essen gegeben hatte,
war jetzt dazu verdammt, uns dein Hofe und in den untern Räumen unsers
Hauses zu spökelu. Sie huschte mit drei Lichtern in der Hand bald hier
bald dort herum und benahm sich für ein Gespenst ziemlich leichtsinnig, da
sie durchaus kein festes Standquartier besaß und es besonders darauf abgesehen
hatte, den Dienstmädchen gerade dann zu erscheinen, wenn sie am lustigsten
waren.
Wir Kinder glaubten felsenfest an das weiße Gespenst, und deshalb
hüteten wir uns wohl, im Dunkeln über den Hof nach der Pumpe zu gehen.
Einmal aber mußte ich doch den schweren Weg machen. Das war, als ich
an einem warmen Sommertage versucht hatte, aus meinem Strohhut Wasser
zu trinken, ein Versuch, dessen Ergebnis ziemlich verblüffend gewesen war.
Wahrscheinlich war meine Kopfbedeckung nicht aus -gutem Stroh, sondern aus
irgend einem billigen Bast geflochten/ jedenfalls hatte sie Form und Farbe
bis zu einem solchen Grade verloren, daß ich mein unglückseliges Eigentum
ans die Pumpeuspitze drückte und den festen Vorsatz faßte, es ruhig dort sitzen
zu lassen. Aber die Menschen sind neugierig. Mutter wollte plötzlich wissen,
wo der „gute Hut" sei, und erzählte mir beiläufig, wie vorsichtig sie immer
mit ihren Sachen umgegangen sei. Großvater, der sonst nie darauf achtete,
ob seiue Enkel überhaupt bekleidet waren, verlangte mit einemmale, ich solle
in der Sonne nicht ohne Hut gehen, und selbst Jürgen meinte, wenn man so
häßlich wäre wie ich, könnte ein Hut nur nützlich sein, weil man ihn so auf¬
setzen könnte, daß das Gesicht nicht zu sehen sei.
So näherte ich mich denn, obgleich es schon recht dümmrig geworden
war, mit vorsichtigen Schritten der nach der Straße führenden Hofthür und
schielte durch die Thüröffnung nach der Pumpe. Nur die Pumpe wollte ich
sehen, das hatte ich mir fest vorgenommen, und sollte das weiße Gespenst mit
seinen drei Lichtern irgendwo ans dem Hofe umherstöbern, wollte ich es durch
meine Blicke sicherlich' uicht erzürnen. Mein Hut, eine weiße Ruine, hing
unbeweglich auf dem Pmnpeukuaufe ^ was aber bewegte sich neben der
Pumpe? Es war uicht die weiße Frau; ein ganz in dunkle Gewänder ge¬
hülltes Wesen stand dicht neben Nasmus Feuster, und dieser selbst hatte sich
so weit aus eben diesem Fenster herausgekehrt, als es nur eben ging. Mit
beiden Armen hatte er die Gestalt umfaßt, küßte mehreremale und sehr laut
ein ihm zugewandtes Gesicht und flüsterte dabei mit gerührter Stimme einige
Worte, deren Sinn ich nicht verstand. Einen Augenblick war ich starr vor
Staunen; dann huschte ich nach der Pumpe, nahm meinen Hut und zog muh
leise zurück. Keiner der zwei Liebenden hatte mich bemerkt; ich aber ging fort
mit dem Bewußtsein, etwas Sonderbares gesehen zu haben und doch nicht
genau die Bedeutung des Gesehenen zu kennen. Trotz seiner Verhüllung hatte
ich übrigens das weibliche Wesen sofort erkannt, und ich würde von meinem
Erlebnis gewiß andern Mitteilung gemacht haben, wenn nicht der unglückselige
Hut meine Gedanken gänzlich ausgefüllt hatte. Trotz meines reumütigen Ge¬
ständnisses bekam ich sehr viele Schelte, mußte ohne Abendbrot mein Lager
aufsuchen und empfand eine so tiefe Zerknirschung über meine allgemeine Sünd¬
haftigkeit, daß ich erst am andern Morgen, als die Sonne schien, wieder die
gewohnte Lebensfreudigkeit in mir fühlte. Mit dem Vergnügen am Dasei,:
kehrte auch die Erinnerung an das Erlebnis des gestrigen Tages zurück, und
bald steckten Jürgen und ich die Köpfe zusammen zu wichtiger Unterhaltung,
deren Gegenstand Mamsell Hansen bildete. Denn so hieß die Dame, die von
Rnsmus so innig geküßt worden war. War sie seine Braut oder seine Fron?
Und weshalb küßten sie sich im Dunkeln? Und was würde die andre Braut,
die das Zittern bekam, dazu sagen, wenn Nasmus hier noch eine Braut
hätte?
Jürgen, dem immer gleich seine biblischen Geschichten einfielen, bemerkte
hierzu, daß Abraham zwei oder drei Frauen gehabt, und daß auch Jnkvb erst
Lea und dann Rahel geheiratet habe. Aber Mamsell Hansen hatte nach der
Bilderbibel gar keine Ähnlichkeit mit Rahel. Sie war klein, dick und besaß
einen recht ansehnlichen grauschwarzen Schnurrbart, um den alle größern
Jungen sie beneideten. Sie hatte eine Leidenschaft für Menschen, die böse
Finger oder die Rose hatten; dann verband oder „besprach" sie das kranke
Glied und gab alle Medizin umsonst, sodaß sie sich unter der dienenden Klasse
eines großen Zuspruchs erfreute. Vor Jahren war einmal ein sogenannter
Gesundheitsapostel. Ernst Mahner mit Namen, im Städtchen erschienen; zu
seinen Hauptjüngeriuneu hatte Mamsell Hansen gehört. Auf den Befehl dieses
Mannes hatte sie jeden Morgen ein kaltes Bad genommen und war dann
ohne jede Bekleidung im Garten spazieren gegangen, damit die Sonne auf
ihren ganzen Körper wirken könne. Selbstverständlich war dieser Spaziergang
immer in aller Herrgottsfrühe gewesen; aber die bösartige Jugend des
Städtchens war noch früher ans den Beinen gewesen, sogar das Stadtvber-
haupt hatte sich aufgeregt, und der armen kleinen Mamsell wurde es uicht
vergönnt, die Sonne nach Mahnerscher Manier auf sich wirken zu lassen.
In unserm kalten Norden hatte man für paradiesische Trachten so wenig Ver¬
ständnis, daß Mamsell Hansen seit der Zeit für ein wenig übergeschnappt galt,
und daß Jürgen und ich uns sorgenvoll anblickten bei dem Gedanken, daß
Nasmus, der kluge Nasmus, einen so sonderbaren Geschmack entwickelte.
Selbstverständlich wollten wir ihn fragen, was er eigentlich mit Mamsell
Hansen vorhabe; aber es war gerade eine sehr beschäftigte Zeit. Mein Gro߬
vater nahm den Schreiber ganz in Anspruch, und er kam nicht dazu, seine
geliebten Schnäpse zu trinken, und als er wieder mehr Ruhe fand, war unsre
erste Erregung über Mamsell Hansen verflogen.
Da geschah es eines Tages, daß die Genannte, am Fenster ihres Hauses
stehend, Jürgen und mich heranwinkte. Wir hatten gerade nichts Besondres
zu thun und folgten mit großem Vergnügen ihrer Einladung, ein bischen zu
ihr „einzukommen," wie sie sagte. Es war sehr gemütlich in ihrem Alt-
jungferstübchen mit dem blanken Kaffeegeschirr auf dem Tisch, und bald saßen
wir beide vor'einer vollen Tasse und „stippten" Kuchen hinein. Auch die
Unterhaltung riß nicht ab. Wir gehörten nicht zu den Kindern, die den
Finger in den Mund stecken und trübselig um sich starren, wenn sie Rede
und Antwort stehen sollen; wir berichteten heitern Herzens alles, was wir
wußten. Wir nahmen natürlich an, daß Mamsell Hansen sich gerade so für
unsre Familie interessire, wie wir selbst, und so erzählten wir denn, daß unser
jüngstes Brüderchen schon anfange zu laufen, daß der älteste einen Anzug
beim wirklichen Schneider gemacht bekommen, und daß wir heute Klöße mit
Pflaumen gegessen hätte,?. Freundlich hörte Mamsell Hansen uns an, mit
großer Freigebigkeit bot sie ihren Kuchen an, und da sie überhaupt ein gutes
Gesicht hatte, so faßten wir unbegrenztes Zutrauen zu ihr. Plötzlich, ich weiß
nicht mehr, wie es kam, sprachen wir von Nasmus. Nicht wahr, er ist ein
sehr netter Mann, fragte die kleine Mamsell, und wir nickten mit vollen Backen.
O, er ist riesig gut — und so stark, daß er uus an seinen Daumen zehn
Minuten lang in der Luft hängen läßt, und wie schon sind seine blanken
Westen, in denen man sich beinahe spiegeln kann. Und was kann Nasmus
für Schnaps trinken! setzte Jürgen nachdrücklich hinzu. Ja, Mamsell Hansen,
das glaubst du gar nicht, was er vertragen kann. Neulich bin ich mal mit
ihm gegangen, als er was zu besorgen hatte, und da sind wir überall einge¬
kehrt, und Nasmus hat gewiß vierzehn Lütjenburger getrunken. Und nachher
konnte er gar nicht mehr genan den Weg sehen, aber vergnügt war er
ordentlich, das ist wahr!
, Trotz dieser Lobeserhebung schien Mamsell Hansen von dem eben mit¬
geteilten nicht besonders entzückt zu sein. Sie seufzte, wischte sich ein wenig
dle Augen, nahm einen Schluck Kaffee und murmelte dann allerlei von Über¬
treibung, und daß man nicht auf schlechte Menschen hören solle, und was
dergleichen mehr war. Wir nickten wohlwollend, obgleich wir ihre Worte
acht verstanden, und ich beschloß, auch mein Scherflein zu Nasmus Lobe
beizutragen.
Seine Braut hat ihn auch so furchtbar lieb! berichtete ich, indem
>es meine zweite Tasse Kaffee zufrieden umrührte. Sie kriegt immer das
<>ledern, sobald sie ihn sieht, und sie hat ein seidnes Kleid an, und jeden Tag
Mehl es Nachtisch bei ihr! Mamsell Hansen, darf ich noch ein Stück Zucker
haben? Jürgen hat zwei genommen. Nächstens kommt sie auch zu Nasmus
ä">n Besuch! ' 5 ^
Das ist noch gar nicht gewiß! unterbrach mich Jürgen. „Großvater
naß seine Erlaubnis dazu geben, und er ist noch acht gefragt worden!
Und du hast gar uicht gesagt, wo sie das Zittern kriegt, wenn sie Nasmus
Nest. Ju deu Knieen kriegt sie es!
Ju den Beinen! widersprach ich.
Sie wird ganz steif vor lauter Liebe, und dann muß sie an einem Glase
machen, wo Salmiakgeist darin ist, und —
Ju den Knieen bekommt sie das Zittern! schrie Jürgen, der meinen
Widerspruch stets sehr übel nahm. Nasmns hat es mir erst gestern selbst
gesagt, und du bist ein —
Aber er stockte in seiner Rede, und auch ich starrte sprachlos auf Mamsell
Hansen, die, das Taschentuch vor ihr Gesicht gedrückt, in ihrem Stuhl lag
und weinte. Große Thränen rollten über ihre roten Wangen, und ihr Stöhnen
klang so erbärmlich, daß auch mein Herz ein Gefühl unendlicher Wehmut be-
schlich. Schon rieb ich an meinen Augen herum, während ich plötzlich glühende
Sehnsucht nach meinen Eltern und den kleinen Geschwistern empfand, als sich
Bruder Jürgen zum Herrn der Situation machte.
Trinke deinen Kaffee aus! flüsterte er mir zu. Wir wollen nach
Hause gehen, Mamsell Hansen hat gewiß einen schlimmen Finger bekommen.
Das thut weh, und dabei muß man immer weinen!
Da schlimme Finger gewissermaßen zu Mamsell Hansens Attributen ge¬
hörten, fand ich diese Erklärung sehr glaubwürdig. Meine schmerzliche'
Rührung war verflogen, und mit vielen Danksagungen und Wünschen für
„gute Besserung" verließen wir Mamsell Hansens gastliches Dach, während
sie noch immer in Thränen schwamm. Unaufgefordert versprachen wir auch
bald wieder zu kommen und berichteten den andern aufhorchenden Geschwistern
von so viel Kaffee und Kuchen, daß den ältern das Wasser im Munde zu¬
sammenlief und sie uns prügelten, weil wir ihnen nichts mitgebracht hatten.
Natürlich besuchte,: wir Mamsell Hanse» am nächsten Tage wieder, und zwei
der ältern Brüder gingen mit, um festzustellen, ob sich alles so verhielte, wie
wir berichtet hatten; aber die Hausthür der guten Jungfrau war verschlossen
und die Fenster verhängt. Eine Nachbarin sagte, sie sei aufs Land gegangen
zu ihrem Bruder, und wir mußten nicht allein unverrichteter Sache wieder
abziehen, sondern uns auch noch allerhand spöttische Neckereien von den Großen
gefallen lassen, die, wie so oft, so auch jetzt wieder behaupteten, daß Jürgen
und ich unleidliche Großmäuler seien, denen man gar nichts mehr glauben
könne. Und weil sie uns tagelang fragten, ob nur nicht wieder Kaffee bei
Mamsell Hansen trinken wollten, so war es ganz begreiflich, daß wir von
unsrer so schnell erworbnen und plötzlich so grausam wieder Verlornen
Freundin nicht gern mehr sprachen.
Rasmus hatte sich übrigens auch verändert. Er erzählte uns keine
Geschichten mehr, ging uns vielmehr aus dem Wege, sah böse ans, wenn Nur
mit ihm sprachen!, und was uns alle im höchsten Maße interessirte: Gro߬
vater jagte ihn zweimal fort. Der Schreiber ging zwar nicht, sondern blieb
hartnäckig an seinem Posten; aber für uns Kinder war doch die ganze Ge¬
schichte sehr aufregend. Weshalb sagte Großvater, Nasmus solle machen, daß
er fortkäme, als wir gerade alle bei Tische saßen und der Schreiber mit
seligem Gesicht hereinkam? Die Größern hatten es bald heraus — es war
der Schnaps aus.Lütjenburg, der Rasmus so gleichgiltig, so blaurot, so
sonderbar machte —, und allmählich begannen wir den großen, starken Mann,
der sich von einem kleinen Glase beherrschen ließ, zu verachten. Mochte er
uns in seinen nüchternen Augenblicken auch noch die städtischen Neuigkeiten
und sonstige Mordgeschichten erzählen, wir hörten ihm wohl zu, aber wir
besuchten ihn nicht mehr in seiner Schreibstube, und unsre vertrauliche Freund-
schaft für ihn hörte vollständig auf.
Es war gewiß ein Jahr vergangen, seitdem Mamsell Hansen aufs Land
gegangen war; da erschien sie eines Tages wieder in der kleinen Stadt. Wir
hatten sie noch nicht gesehen, aber ein junger Onkel von uns erzählte bei
Tisch, daß er ihr begegnet sei. Sie hat einen famosen Schnurrbart, setzte
er halb lachend, halb neidisch hinzu, und ich sah zu Rasmus hinüber, der
unten am Tische saß und eifrig zu essen schien. Er sagte kein Wort, obgleich
noch allerhand spöttisches über die gute Mamsell geredet ward. Ich aber
fühlte mich veranlaßt, ihre Verteidigung zu übernehmen.
Mamsell Hansen^ ist sehr nett, nicht wahr, NaSmns?
Der Angeredete bekam einen roten Kopf. Ich kenne die Dame gnr nicht!
sagte er sehr bestimmt, sodaß meine Augen rund vor Staunen wurden.
Du kennst sie nicht? Und vorigen Sommer hast du sie hinter der
Pumpe gerußt und deine Arme um sie geschlungen. Ich habe euch wohl
gesehen, und Jürgen weiß es auch, und als wir nachher bei Mamsell Hansen
Kaffee tranken, hat sie so viel nach dir gefragt, und wir erzählten ihr von
deiner andern Braut, und nachher weinte sie, weil sie einen schlimmen Finger
bekam, und da —. Aber weiter kam ich nicht. Zu Anfang meiner Rede war
bei Tisch eine große Stille entstanden, nun sprachen alle durch einander und
sagten zu mir, .Kinder dürsten nicht so viel erzählen, das schicke sich nicht.
Und weil Rasmus jetzt aufstand und erklärte, unaufschiebbare Geschäfte zu
haben, und weil der Pudding gerade ins Zimmer gebracht wurde, so dachte
ich bald an etwas andres und konnte nicht recht begreifen, weshalb der Onkel
so furchtbar lachte, und weshalb ich ihm später noch einmal erzählen mußte,
was ich mit Nasmus und mit Mamsell Hausen erlebt hatte.
So war ich es leider gewesen, die mit kindischer Hand den Schleier weg¬
gerissen hatte von einem zarten Verhältnis, das viele Jahre hindurch nur in
verstohlnen Spaziergängen und in noch heimlicherer Zusammenkünften bestand.
Denn Mamsell Hansen verzieh dem Schreiber jene glühende Braut, die das
Zittern bekam, sobald sie erfuhr, daß dieses entzückende Wesen schon lange ver¬
heiratet war und von Nasmus nnr aus der Entfernung angebetet wurde. Wie
sich die Versöhnung der Liebenden machte, weiß ich nicht; sie kam aber zustande,
und etwa acht Jahre später führte Nasmns seine letzte Liebe zum Altar, nach¬
dem sein Brautstand niemals veröffentlicht und doch von allen anerkannt
worden war. In der Zwischenzeit geschah allerlei Bemerkenswertes: unser
Land wurde z. B. von den Preußen erobert, ein Ereignis, das unsern Rasmus
sehr ärgerte, weil er sich plötzlich seiner dänischen Geburt entsann. Er ver¬
hielt sich in Gesellschaft der unser Hans besuchenden preußischen Offiziere
meistens sehr still und drückte sich in den dunkelsten Ecken herum. Sah er
uns Kinder aber allein, dann stieß er allerhand geheimnisvolle Drohungen
gegen die „frechen Kerls" aus und behauptete, sie sollten ihn noch alle kennen
lernen. Selbst seine Braut vernachlässigte er in diesen Zeiten, und als er
erfuhr, daß Mamsell Hansen preußische Soldaten ius Quartier genommen
hatte, wuchs sein Zorn gegen die siegreiche Armee bis ins Unendliche. Gethan
aber hat er den Preußen niemals etwas, und diese waren schließlich die Ur¬
heber seines Glückes; denn trotz seiner dänischen Geburt und seiner Vorliebe
für den Lütjenbnrger Schnaps ist Nasmus Rasmussen als wohlbestallter
Preußischer Amtsgerichtssekretür gestorben, und Mamsell Hansen durfte als
Frau Sekretärin den Lebensabend ihrer langjährigen Liebe verschönern. Als
ich sie zuletzt sah, war ihr Schnurrbart schneeweiß geworden; sonst sah sie
gesund aus und sprach mit Rührung von ihrem verstorbenen Eheherrn: Er
war ein guter Mann, und sein Herz war erst recht gut, und Herr Justizrat
war der beste von allen. Denn wenn er nicht immer mit Rasmus Geduld
gehabt hätte, dann wäre der ja nicht Sekretär geworden, wo ich nun die
schöne Pangschon von kriege. Und wenn Nasmus' den Lütjenburger nicht so
gern gehabt hätte, könnte er es heute noch gut bei mir haben! Aber sterbe»
müssen wir alle, und wers zuerst trifft, der ist auch zuerst damit durch!
Frau Rasmussen sprach noch eine Weile so weiter und ich kam nicht in
die Lage, ihr Trostworte sagen zu müssen, lind doch sah ich im Geiste deiz
dunkeln Hof so deutlich vor mir, auf dem zwei Liebende zärtlich sich um¬
fangen hielten. Frnu Rasmussen wollte durchaus, daß ich bei ihr Wasser
trinken und das Buch vom gesunden und kranke» Meuschen lesen sollte, auf
das sie große Stücke hielt: ich dankte aber und ging hinüber in den Hof, aus
denk die Pumpe aber verschwunden war. Unser Spielplatz war ein Kohl¬
garten geworden, und als ich mich nach unserm Hausgeist erkundigte, hieß
es, daß selbst diese Dame verschwunden sei und sich gar nicht mehr blicken
lasse. Wenn aber sogar die Gespenster das Geschäft 'des „Spvkelns" auf¬
geben, wie langweilig muß die Welt geworden heilt! Da kommen die Kinder
aus der Schule! Wie vernünftig gehen sie und welch einen Packen neuer
Schulbücher trage» sie! — Ihr Armen! Wir waren lange nicht so klug;
unsre Bücher waren lange nicht so schon, und wir hatten es dennoch viel,
viel besser!
Zehn Arbeiterbndgets, deren sieben nur rin Znschüssen des Arbeitgebers bnlcmeiren.
Ein Beitrug zur Frage der Arbeiterivohtsahrtseinrichtnngen von Mar May. Berti»,
R. Oppenheim, 1891
Der Wert der Arbeiterbndgets für Volkswirtschaft und Sozialpolitik dürfte
allgemein anerkannt sein. Die hier aufgestellten sind aber noch aus besondern
Gründen interessant. Sie entstammen einer Textilfabrik, deren ungenannter Be¬
sitzer, ein frommer und menschenfreundlicher Mann, durch musterhafte Wvhlfnhrts-
einrichtungen die Lage seiner Arbeiter so glücklich gestaltet hat, daß in seinem
kleinen Reiche ein Jdealzustand vollkommener Zufriedenheit herrscht. Das merk¬
würdigste aber ist folgende Einrichtung. Er hält seine Arbeiter an, Haushaltuilgs-
rechnungen zu sichren, und hat ermittelt, daß der Durchschnittsverdienst eines Ar¬
beiters bei drei kleinen Kindern gerade noch für das Notwendige (aber nicht mehr
für das Angenehme) hinreicht, und daß die Familie von der Geburt des vierten
Kindes ein, auch wenn sie von keinem llnglncksfall betroffen wird, regelmäßig in
Not gerät. Übersteht sie diese, so bessert sich dann ihre Lage wieder von der
Zeit ale, wo die Kinder mit zu verdienen anfangen. Der wohlwollende Fabrik¬
besitzer zahlt nun jeder seiner Arbeiterfamilien, so lange sie sich in dieser Periode
wirtschaftlicher Not befindet, einen Zuschuß, der hinreicht, ohne Herabsetzung der
Lebensführung das Gleichgewicht im Budget herzustellen. Seine Berechnungen und
Äergleichuugeu ergeben, daß eine Familie mit kleinen Kindern durchschnittlich für
den Kopf und Tag SV Pfennige, eine mit größer» Kindern oder zu erhaltenden
Erwachselle» V0 bis 70 Pfe»»ige bedarf, „um in verlninftiger Weise einfach z»
lebe»."
cum sich nur die rechten Männer fänden, so ließe sich jetzt wohl
etwas machen. Die deutschen Sozialdemokraten sind offenbar
mit ihrem Latein zu Ende. Im ersten Abschnitt ihres Daseins
lag der sozialdemokratischen Partei die Aufgabe ob, den sozia¬
listischen Gedanken im Arbeiterstande zu verbreite» und diesen
Stand zu organisiren. Den sozialistischen Gedanken an sich hat die Wissen¬
schaft längst als berechtigt anerkannt, ist er doch die unentbehrliche Ergänzung
des individualistischen Kapitalismus. In seiner „Quintessenz des Sozialismus"
hat Schaffte schon vor siebzehn Jahren nachgewiesen, „daß die sozialistische
Hauptidee öffentlicher Grundorganisation der Güterhervorbringung und des
Güterumsatzes auch eine nicht radikale, nicht demokratische, nicht die ganze
Volkswirtschaft verschlingende Ausgestaltung zuläßt. Dieser Sozialismus"
— sagt er im Vorwort zu der eben erschienenen dreizehnten Auflage des ge¬
nannten Schriftchens — „ist längst da und breitet sich zusehends aus. Je mehr
die private kapitalistische Organisation der Volkswirtschaft sich vom Standpunkte
der Gesellschaft aus als leistungsunfühig erweist, je mehr sie auf der Spitze
ihrer Entwicklung in Großmonopole auslaufend die Garantien der Konkur¬
renz für die Gesamtheit einbüßt und abwirft, desto mehr mag dieser praktische
Sozialismus an äußerer Verbreitung und innerer Durchbildung gewinnen.
Meines Dafürhaltens ist eine noch stärkere Hinüberbildung der Volkswirtschaft
der Zukunft aus der kapitalistischen Organisation in die Formen des Vereins¬
wesens (Konsumvereine) und in die Formen des öffentlichen Rechtes (Körper¬
schafts-, Gemeinde- und Staatsanstalten) eine Eventualität, der der Staats¬
mann mit der größten Ruhe entgegensehen kann, sofern nur bei dieser teilweisen
und schrittweisen Umbildung die Erreichung höchster Wirtschaftlichkeit und die
ewig notwendige Trennung der Volkswirtschaft vom Staat, bezw. die Dezen¬
tralisation verstaatlichter Betriebe, von der Gesetzgebung und von der Verwal¬
tung als maßgebende Gesichtspunkte behandelt werden." ES mag dahinge¬
stellt bleiben, ob gerade die Konsumvereine es verdienen, unter den wohl¬
thätigen Lebensäußerungen eines praktischen Sozialismus an erster Stelle
genannt zu werden. Soeben hat der schlesische Prvvinzialverbandstng der
Vereine zum Schutze des Handels und Gewerbes eine Resolution angenommen,
die also lautet: „Die Versammlung erklärt die Konsumvereine und ähnliche
Vereinigungen als die ärgsten Schädiger des gelverblichen Mittelstandes und
spricht die Erwartung aus, daß die Staatsregierung Mittel und Wege er¬
greifen wird sWege ergreifen! reizend!^, den kleinen und mittlern Handels¬
und Gewerbestaud in seiner Existenz zu schlitzen." Aber im ganzen hat
Schäffle ja Recht. Hätten sich nun im ersten Stadium der sozialdemokratischen
Bewegung unterrichtete und angesehene Männer als Vertreter dieser Auffassung
in die Arbeiterversammlungen begeben, vielleicht wäre es ihnen gelungen, die
Bewegung aus der phantastisch-revolutionären Richtung in die praktisch-aufer-
bauende umznlcnkeu. Sie hätten etwa sagen können: „Kinder, eure Idee ist
ja gut, aber sie ist uicht die einzige gute Idee in der Welt und muß sich mit
den übrigen guten Ideen vertragen. Will jemand die ganze Gesellschaft nach
einer einzigen Idee einrichten, so kommt dabei allemal eine große Narrheit
heraus. Euer sozialistischer Zukunftsstaat ist eine Utopie, und jeder ernstliche
Versuch, sie zu verwirklichen, wurde zu allererst euch selber unglücklich machen.
Aber im einzelnen und kleinen läßt sich eure Idee recht wohl verwirklichen,
Probiren wirs also und machen wir gleich einen Anfang, sei es mit Gewerk¬
vereinen oder mit Produktivgenossenschaften — ohne Staatshilfe. Auch ange¬
nommen, daß euer kommunistischer Zukunftsstaat möglich wäre, müßt ihr doch
einsehen, daß er noch in sehr weiter Ferne liegt, und daß der Sperling in der
Hand besser ist als die Taube auf dem Dache. Zweihundert Arbeiter, die sich
zu gegenseitiger Unterstützung für alle gegenwärtigen und zukünftigen Notfalle
vereinigen und ihre Mitglieder zu tüchtigen, gescheiten und wirtschaftlichen
Männern erziehen, verwirklichen ein Stück Sozialismus, zwei Millionen Schreier
aber, die den Kommunistenstnat der Zukunft fordern, verwirklichen gar nichts.
Jene schaffen ein Stück Elend aus der Welt, diese vermehren das Elend."
Solche Männer fanden sich nicht; zu einem fruchtreichen persönlichen Ver¬
kehr von Universitätslehrern, großen Unternehmern und Staatsmännern mit
den Arbeitern, wie in England, tum es nicht. Jede Klasse blieb für sich.
Die Sozialdemokraten fuhren fort zu schreien: „Schlagt die Kapitalisten tot,
es lebe das Proletariat!" Die Liberalen schrien: „Schlagt die Sozialisten,
die Junker und die Pfaffen tot, es lebe die individuelle Freiheit und das
Geschäft!" Die Konservativen endlich: „Schlagt die Sozialisten samt den
Liberalen tot, es lebe die Autorität, der König und die Kirche." Die Pro-
fessoren aber blieben ebenfalls unter sich und priesen einander gegenseitig die
wirklich ganz vortrefflichen Mittel ihrer sozialen Apotheke an. Nun, keiner
kann aus seiner Haut fahren, und daß Schäffle selber nicht zum Volkslehrer
Paßt, sieht ja jeder schou ans der obigen Stilvrobe. Aber ein Unglück bleibts
doch, wenn keiner den andern versteht im lieben deutschen Reiche und sich
anch gar keiner erst Mühe giebt, zu verstehen oder verstanden zu werden.
Unter der Herrschaft des Sozialistengesetzes dann waren die Sozialdemo-
kraten so vollständig durch die Sorge um Wiederherstellung ihrer zerstörten
Organisation und durch den Kampf gegen das Ausnahmegesetz in Anspruch
genommen, daß sie für eine schöpferische, aufbauende Thätigkeit weder Zeit
noch Kraft übrig hatten. Auch würde ihnen eine solche nicht gestattet worden
sein, da eine sozialdemokratische Gewerlvereinsgründuug wahrscheinlich als ein
Verstoß gegen das Gesetz behandelt worden wäre. Seit vorigem Jahre aber
sind sie frei. Sie habe kluge Männer zu Führern, die im Laufe der Jahre
zu der Einsicht gekommen sein könnten, daß es mit dem Kommunistenstante
nichts ist. Ans dem Kongreß zu Halle haben sie es sich und ihren Genossen
offen eingestanden, daß sie erst ein Fünftel des deutschen Volkes ausmachen,
und daß es demnach mit der Expropriation der Besitzenden und mit dein
„Hineinwachsen" in den Sozialisteustaat uoch gute Wege hat. Vorher müßte»
doch mindestens noch drei weitere Fünftel unsers Volkes aus Besitzern zu
Proletariern werden, die werden sich aber wohl noch ein Weilchen wehren.
Man sollte also meinen, die Herren Bebel, Liebknecht, Alter und Genossen
würden jetzt in den Versammlungen ungefähr die Worte sprechen, die wir
oben einem nicht existirenden Professor in den Mund gelegt haben, und sie
könnten uoch hinzusetzen: „schon damit uns die Wartezeit nicht zu lang wird,
müssen wir doch einstweilen etwas nützliches thun," aber es geschieht nicht.
Der einzige von Vollmar hat nahezu diesen Standpunkt eingenommen. Die
übrigen bleiben „unentwegt" auf ihrem hölzernen Phrasengaule sitzen und
kommen nicht einen Schritt vorwärts. Sei es, daß das anhaltende Beschauen
ihres Ideals sie verzaubert hat, oder daß sie die Macht über die Massen zu
verlieren und die Partei zu zerstören fürchten, wenn sie ihren Irrtum einge-
stehen, sie fahren fort, die alten Sätze ihres Meisters Marx hernnterzuleiern,
die nun schon jedes Kind auswendig kann, und sonst wissen sie nichts. Auf
dem Brüsseler Kongreß hatte Liebknecht die schönste Gelegenheit, ein offnes
Sündenbekenntnis abzulegen und seinen Parteigenossen die Wendung vom un¬
fruchtbaren doktrinären zum Praktischen Sozialismus vorzuschlagen. Dem ver¬
rückten Nieuwenhuis, der da forderte, daß die Arbeiter bei Ausbruch eines
Krieges den Generalstreik proklamiren sollten, antwortete er, damit würden
sie sich höchstens lächerlich machen. (Patriotische Bedenken hatte Herr Lieb¬
knecht natürlich nicht.) Nun, wenn die Sozialdemokratie die Macht wäre, die
sie zu sein vorgiebt, und wenn die „Bourgeoisie" wirklich die drohende Expro-
priation zu fürchten hätte, dann würde eine solche Kriegserklärung der Arbeiter
gegen die kriegführenden Mächte ganz und gar nicht lächerlich, sondern der
furchtbar ernste Anfang des Umsturzes sein. Liebknecht gesteht also die Ohn¬
macht seiner Partei ein und spricht ihr damit die Existenzberechtigung ab.
Denn eine Partei, die den Staat absetzen will, ist nur dann daseinsberechtigt,
wenn sie die Macht dazu schon besitzt oder diese Macht in nächster Zukunft
zu erringen Aussicht hat. Haben die Arbeiter aber nicht die Macht, das
Unterste zu oberst zu kehren und sich obendrauf zu setzen, so haben sie doch
die Macht, durch Begründung gemeinnütziger Einrichtungen ihre Lage zu ver¬
bessern, und nur dadurch, daß sie von dieser Macht Gebrauch machten, etwa
durch Verwandlung ihrer Fachvereine, die nichts als Streikvereine sind, in
Gewerkvereine nach dem Muster der englischen, oder durch Gründung von
Produktivgenossenschaften könnten sie den Fortbestand ihrer Partei rechtfertigen.
Der zur Zeit tobende Kampf der Jungen gegen die Alten geht denn auch
aus der ganz richtigen Erkenntnis hervor, daß die Partei ihre bisherige Hal¬
tung auf die Dauer nicht zu behaupten vermag. „Unsre parlamentarischen
Vertreter haben das sozialdemokratische Programm preisgegeben und wissen
nichts neues an die Stelle zu setzen; sie haben sich in zahme Anhänger der
bürgerlichen Demokratie verwandelt und unterscheiden sich von den Deutsch¬
freisinnigen höchstens dadurch, daß sie noch etwas mehr nörgeln als diese."
Das ist das Grundthema der Vorwürfe, die den unglückseligen sozialdemokra¬
tischen Parlamentariern tagtäglich in höchst unparlamentarischen Ausdrücken an
den Kopf geworfen werden. „Die Forderungen unsers Programms — klagte
der Tapezierer Wildberger in einer jener stürmischen Versammlungen, die jetzt
in Berlin so häufig sind — stehen zwar auf dem Papiere, werden aber niemals
ausgesprochen, z. B. daß die Entscheidung über Krieg und Frieden in der
Hand des Volkes liegen, das stehende Heer durch ein Vvlksheer ersetzt werden
soll." Daß die Parlamentarier von den Anarchisten so vorsichtig abrücken,
nimmt ihnen der Klavierarbeiter Veetz sehr übel; was ist denn ein Anarchist
weiter, sagt er, als ein zur Verzweiflung gebrachter Sozialdemokrat? Aber
daß das wütende Umsichschlagen von Verzweifelten den Arbeitern nichts nützen
kann, sieht die Mehrzahl doch ein. Die pathetische Drohung des Genossen
Nodrian: „Zwischen jetzt und fünfzehn Jahren kommts zum Schlagen" wurde
von der Versammlung (es war in der Nacht zum 10. September) mit stür¬
mischer Heiterkeit aufgenommen, und die Antwort Auers: „Wenn Sie Revo¬
lution machen wollen, dann machen Sie sie auf Ihre Verantwortung" mit
stürmischem Beifall; auch wurde dem Genossen Auer nach stundenlangen
furchtbarem Lärm und leidenschaftlichem Gezänk schließlich das Vertrauen der
Versammlung votirt. Aber damit ist noch immer nicht gesagt, was die Herren
in Zukunft eigentlich wollen oder sollen; wie die Arbeiter dazu kommen, mit
ihren abgedarbten Groschen in alle Ewigkeit eine Fraktion zu bezahlen, die
ihnen keinen greifbaren Vorteil verschafft, will ihnen schon jetzt nicht einleuchten
und wird ihnen von Tag zu Tage unklarer werden; über die hohe» Kosten
der Fraktion, über die drei- bis fünftausend Mark, die einem dem Konkurse
nahen Abgeordneten zur Bezahlung seiner Schulden bewilligt worden seien,
wurde in der Versammlung bitter geklagt.
Bei dieser Aussichtslosigkeit der Sozialdemokratie und Ratlosigkeit der
Führer würden christliche Sozialsten nach Art der englischen einen wohlvor-
bereiteten Boden finden. Freilich müßten es Männer sein, denen eben vor
allem das Wohl der Arbeiter am Herzen liegt, nicht solche, die das Wohl
der Arbeiter nur zu dem Zwecke fördern, um sie entweder in den Schafstall
der Kirche oder in das Garn der bürgerlichen Wahlmacher zu locken. Es
müßten also Männer von dem Schlage Paul Göhres sein. Wo die Arbeiter
uneigennützige Liebe sehen, die sich in jahrelangem geduldigen Wirken bewährt,
da lernen sie schließlich auch die christliche Gesinnung hochschätzen, aus der
diese opferwillige Liebe fließt. Bei Unternehmungen dagegen, denen die Absicht
breit an die Stirn geschrieben steht, ist Verstimmung die einzige Wirkung, die
man erwarten darf. Frühere Versuche sind an dieser Klippe gescheitert, und
ob die im Laufe der letzten Jahre gegründeten „königstrenen," „reichstreuen,"
„evangelischen" und „katholischen" Arbeitervereine bessere Erfolge erzielen
werden, bleibt abzuwarten.
Man wende nicht ein: wir haben ja die Sozialpolitik des Staates, zu
was brauchen wir da noch eine christlich-soziale Organisation der Arbeiter?
Abgesehen davon, daß die bessernde und versöhnende Kraft dieser von rechts
und links hart angefochtenen Gesetzgebung noch lauge nicht über jeden Zweifel
erhaben ist, wird von ihr die hauptsächlichste Forderung und das dringendste
Bedürfnis des Arbeiterstandes: die Sicherung der Existenz des gefunden und
arbeitsfähigen Mannes, überhaupt gar nicht berührt. Und was die Haupt¬
sache ist: so lange die Welt besteht, ist noch niemals einem Menschen in leib¬
licher oder geistiger Beziehung geholfen worden, der sich nicht selbst helfen
wollte oder konnte. Was aber von der einzelnen Person gilt, das gilt auch
von Klassen und Ständen. Es giebt mit Ausnahme des Beamtenstandes, für
den der Staat sorgt, keinen Stand, der der geordneten körperschaftlichen oder
ge'nvsfenschaftlichen Selbsthilfe entbehren könnte. Und je zahlreicher und dabei
wirtschaftlich schwächer ein Stand ist, desto weniger kann er ihrer entbehren.
Den Arbeiterstand in die Wege solcher Selbsthilfe, die ihm von seinen eignen
Führern versperrt werden, hineinzuleiten, wäre eben die Aufgabe solcher hilf¬
reichen Freunde aus den höhern Ständen, wie wir sie meinen; sie müßten
ihnen das leisten, was Schulze-Delitzsch einem Teile des Gewerbestandes ge¬
leistet hat. Die sozialdemokratischen Führer stellen sich solchen Leistungen
geradezu feindlich in den Weg; sie raten von dem Versuche, Produktivgenossen-
schaften zu gründen, entschieden ab, denn sie wollen ja nicht Besserung, sondern
Verschlechterung der Lage des Arbeiterstandes und völligen Ruin des Mittel¬
standes, weil nur von einer zu mindestens drei Vierteilen aus Proletariern
bestehenden Gesellschaft der erste Schritt zur Verwirklichung des kommunistischen
Ideals, zur „Expropriation der Expropriateure" allenfalls erwartet werden
könnte. Die Arbeiter sehen aber jetzt schon die Unvernunft der Zumutung
ein, sich für eine Zukunft aufopfern zu sollen, die in nebelhafter Ferne liegt
und vielleicht niemals eintritt, und sie haben bereits gegen den Willen des
Parteivorstandes um verschiednen Orten mit Gründung von Produktivgenossen-
schaften den Anfang gemacht.
Von den „bürgerlichen" Parteien hatte eine ans christlicher Grundlage
beruhende Arbeitergcnossenschaftsbeweguug weder Liebe noch Förderung zu er¬
warten, schon darum nicht, weil diese Parteien zunächst an „gute" Wahlen
zu denken Pflegen, die Arbeiter in ihrer neuen Organisation aber schwerlich
ans eigne parlamentarische Vertretung verzichten würden. Diese Vertretung
würde zwar einen andern Ton anschlagen wie die jetzige sozialdemokratische,
aber doch in allen Fällen, wo Klasseninteressen ins Spiel kommen, zu den
„bürgerlichen" Parteien in Opposition treten. Derartige Bestrebungen hätten
demnach so wenig auf die Gunst einflußreicher Kreise zu rechnen, wie etwa
die in Nummer 34 der Grenzboten mit Recht der Beachtung empfohlene
deutsch-soziale Bewegung. Das würde indes der guten Sache nichts schaden.
Übrigens verrechnen sich die beiden „Ordnnngsparteien," die sich vorzugsweise
als solche fühlen, wenn sie glauben, daß ihnen bei dem bevorstehenden Bankerott
der sozialdemokratischen Partei die Arbeiterstimmen zufallen würden. Für die
konservative Partei, die seit einiger Zeit fast nur noch als Agrarierpartei in
Betracht kommt, kann sich der Arbeiter in einer Zeit hoher Lebensmittelpreise
und knappen Verdienstes so wenig begeistern, wie für die nativnalliberale, in
der jetzt die ziemlich unpopulären rheinischen Großindustriellen eine so hervor¬
ragende Rolle spielen. Die Arbeiter würden also, wenn die sozialdemokratische
Fraktion in die Brüche ginge, mit den Deutschfreisinnigen, oder mit den süd¬
deutschen Demokraten, oder rin den Antisemiten, oder mit dem ersten besten
Parteiführer gehen, der unter irgend einem Namen Opposition zu macheu ver¬
spräche. Es giebt ja Arbeiter, für die durch wohlwollende Unternehmer, unter
denen Krupp vor alleu glüuzt, so ausreichend gesorgt ist, daß ihnen die ganze
Politik gleichartig sein kann, und daß sie mit Vergnügen für jeden stimmen,
den ihnen ihr Brodherr bezeichnet, ohne darnach zu fragen, auf welcher Seite
des Hanfes er sich niederzulassen gedenkt; allein diese Glücklichen machen doch
nnr einen kleinen Bruchteil der gesamten Lvhnarbeiterschaft aus. Die „staats-
erhaltenden" haben also in keinem Falle auf Zuwachs aus Arbeiterkreisen zu
rechnen, und schließlich bleibt doch die Zufriedenheit der Staatsbürger, die
durch eine verstündige Arbeiterorganisation gefördert werden würde, die festeste
Grundlage des Staates, während eine große Partei der llnznfriednen, die
ohne klar erkanntes Ziel wühlen, ngitiren, sich zanken und durch einander
schreien, wenn auch noch keine Gefahr für den Staat, so doch sicher kein Zeichen
von Gesundheit unsers Gemeinwesens ist. Möchten sich für die Lösung der
großen, schönen und schwierigen Aufgabe, die im Vorstehenden angedeutet ist,
die rechten Männer finden!
s wurde schon darauf hingewiesen, daß sich die Löhne nicht be¬
liebig erhöhen lassen, wie es die Arbeiter durch Arbeitseinstel¬
lungen häufig versuchen, denn die Nachfrage nach dem Erzeugnis
entscheidet in jedem Falle über die Möglichkeit des Gelingens,
und es fragt sich immer, ob das Kapital und der Unternehmer
mich Erhöhung der Löhne noch ihre Rechnung finden werden. Dagegen kann
die Beteiligung am Gewinn keine wirtschaftlichen Störungen herbeiführen, weil
j" das Borhandensein eines Gewinns den Beweis liefert, daß das Unternehmen
Gedeihen hat. Daß für das Kapital der Unternehmergewinn vermindert wird,
betrachten wir nicht als einen Übelstand; es liegt hierin das Opfer, das das
Kapital der Arbeit zu bringen hat, um der Arbeit gerecht zu werden. Es
wird sich aber bei allgemeinerer Anwendung der Gewinnbeteiligung bald zeigen
^ und hierauf ist das größte Gewicht zu legen —, daß von einem Opfer
überhaupt keine Rede sein wird, daß vielmehr auch das Kapital, indem es
scheinbar anf größern Nutzen verzichtet, in eine bessere Lage kommt, denn der
größere unproduktive Berbranch, der durch Zuwendung vieler Millionen an
die Arbeiter verursacht wird, muß eine bedeutende Steigerung der Nachfrage
aller Verbrauchsgegenstände hervorrufen, sodaß kaum allen Anforderungen
wird genügt werden können. Wenn diese Überzeugung erst in die Kreise der
Kapitalisten eindringt, wird die Gewinnbeteiligung rasch Eingang finden.
Niemand wird bestreiten können, daß zur Zeit ein großer Teil des Unter¬
nehmergewinns zu neuen Unternehmungen häufig überflüssigerweise oder zum
Schaden schwächerer Konkurrenten verwandt wird, während das den Arbeitern
Zufließende zur Verbesserung ihrer Lebensform, mithin zu ilnprodnktivem Ver¬
brauch ausgegeben wird.
Wir sehen in der Gewinnbeteiligung einen Ausgleich zwischen den Be¬
strebungen der Sozialdemokratin! und der jetzt bestehenden Gesellschaftsform.
Die Sozialdemokratie will, wie Bebel neuerdings auf dem Kongreß in Brüssel
ausgesprochen hat, die jetzige bürgerliche Gesellschaft vernichten, d. h. das
Privatkapital aufheben und den sozialen Staat an seine Stelle setzen, in dem
alle Produktionsmittel dein Gemeinwesen gehören. Wenn auch der Staat und
die untergeordneten kommunalen Körperschaften schon jetzt manche Gegenstände
der Privatkonkurrenz entzogen haben, so ist doch der überwiegende Teil der
wirtschaftlichen Arbeiten noch in den Hunden des Privatkapitals geblieben.
Abgesehen davon, daß eine so radikale Umgestaltung aller Verhältnisse, wie
sie die Sozialdemokratie plant, unter allen Umstünden an der Macht der sich
entgegenstellenden realen Umstände scheitern muß, wird von den Sozial¬
demokraten übersehen, daß ihre Bestrebungen ans Voraussetzungen beruhen,
die sich nicht verwirklichen lassen. Die Natur und Eigenart der Menschen und
des Kapitals stehen ihnen im Wege, die Menschen sind von Natur egoistisch
und mit einem nicht geringen Grade von Trägheit ausgerüstet und bieten ihre
Kräfte nur dann auf, wenn ihnen Vorteile in Aussicht gestellt werden. Daran
läßt sich nichts ändern, und in Jahrhunderten wird sich die menschliche Natur
nicht soweit umschaffen lassen, daß nur Pflichtgefühl und Nächstenliebe ihre
Handlungsweise bestimmten. Das Kapital aber würde sich bald verflüchtigen,
wenn es aufhörte, ein Mittel zu sein, dein Einzelnen Vorteile und Annehmlich¬
keiten zu verschaffen. Überdies unterschätzen die Sozialdemokraten den Wert
der geistigen Kräfte, die auch zur Produktion in ihren vielfachen Verzweigungen
erforderlich sind: Studium, Geschäftserfahrung, Routine, technische und kauf¬
männische Kenntnisse u. s. w., und sie begreifen nicht, daß diese Kräfte auch
später erforderlich sein werden, und daß die, die sie besitzen, sich niemals den
Inhabern bloßer Körperkräfte und Handgeschicklichkeiten werden an die Seite
stellen lassen, daß also auch in der neuen sozialen Ordnung sofort wieder
Rangunterschiede und ungleiche Bezahlung der geleisteten Dienste vorhanden
sein werden. Sie begreifen das nicht, obgleich ihnen das bestündige Mißlingen
der Produktivgenossenschaften längst die Überzeugung von der Unmöglichkeit
derartiger Versuche Hütte beibringen müssen.
Anders steht es mit den Produktivgenossenschaften, wie wir sie im Auge
haben, bei denen sich die geistigen Kräfte in Gestalt der Unternehmer, Direk¬
toren, Techniker mit dem Kapital und der Arbeitskraft zu einem gemeinschaft¬
lichen Unternehmen verbinde». Von gleicher Beteiligung der einzelnen Per¬
sonen, die solcher Genossenschaft angehören, kann allerdings keine Rede sein.
Wollte man die Leiter den Arbeitern gleichstellen, so würden sich keine mehr
finden, denn wer würde Zeit, Arbeit und Kosten hergeben, um schließlich
nicht mehr zu erreichen, als was andern ohne diese Aufwendungen zufällt?
Und daß auch das .Kapital seineu Anteil haben muß, steht sür uns außer Frage,
denn nur wegen der Vorteile, die es gewährt, wird es erspart und erhalten.
Wir haben keineswegs Genossenschaften im Auge, die ganze Berufszweige
auf größerm Gebiete umfassen, sondern wir meinen, daß sich die schon vor-
hnndnen Unternehmungen, größere wie kleinere, genossenschaftlich organisiren
sollten. Sowohl Aktienunternehmungen wie sonstige Privatunternehmungen
eignen sich dazu. Der Fabrikbesitzer, der jetzt täglich befürchten muß, durch
Widerwilligkeit seiner Arbeiter Störungen zu erleiden, sollte etwa in folgender
Weise zu seinen Kommis, Werkmeistern und Arbeitern sprechen: „Ich begreife,
daß das Geschüft so, wie es jetzt betrieben wird, nicht zur höchsten Blüte
gelangen kaun. Ihr habt bisher für mich gearbeitet und dafür den bednngnen
Lohn bezogen. Ihr sollt künftig für euch selbst und zugleich für mich arbeiten,
und ebenso will ich für mich und zugleich für euch arbeiten. Wir wollen
uns zusammenthun zu gemeinschaftlicher Arbeit und gemeinschaftlichem Ertrage,
wir wollen eine Genossenschaft mit einander bilden, und ihr sollt je nach euern
Leistungen an dem Ertrage des Geschäftes teilnehmen. Ich betrachte fortan
euern Lohn und euern Gehalt, der den jetzigen Gewohnheiten entspricht,
als Vorschüsse, die zugleich den Maßstab eurer Beteiligung am Reinertrage
abgeben sollen. Mein Kapital soll mit x Prozent verzinst, und für das Ge¬
schäftsrisiko soll ein Prozent in einen Reservefonds gelegt werden. Für meine
eigne Geschäftsleitung bedinge ich mir x Mark. Was von dem Ertrage des
Geschäftes nach Abzug aller Kosten, Gehalte, Löhne, Zinsen und meines eignen
Gehaltes übrig bleibt, wird in der Weise verteilt, daß alle Löhne, Gehalte
und Zinsen pro ratg. teilnehmen. An einem etwaigen Fehlbetrag am Ende
des Jahres seid ihr unbeteiligt, da die Einlage in den Reservefonds zur
Deckung bestimmt ist. Wenn ich euch dieses Anerbieten auch teils meines
eignen Vorteils wegen, teils aus brüderlicher Gesinnung, wie sie in einer
Genossenschaft herrschen soll, mache, so dürft ihr nicht die Meinung hegen,
als beruhte diese neue Einrichtung nur auf Wohlwollen, es handelt sich viel¬
mehr um eine Vereinbarung, die euch volles Recht gewährt, sodaß ihr, wenn
ihr mein Anerbieten annehme, die etwa für euch entstehenden Ansprüche ge¬
richtlich geltend machen könnt. Es versteht sich übrigens von selbst, daß die
bisherige Fabrikordnung in Kraft verbleibt, bis wir uns etwa über ander¬
weitige Bestimmungen geeinigt haben werden. Auch steht es euch nach wie
vor frei, zu kündigen, wie ich mir auch dieses Recht vorbehalte. Die Gewinn¬
beteiligung gilt vorläufig für ein Jahr."
Die Zinsen stellen den Aufwand dar, den das Kapital für die Produktion
leistet, Gehalte und Arbeitslohn den Aufwand der Arbeit. Oder, könnte man
sagen: die Zinsen nebst der Prämie für das Risiko bezeichnen den Wert, der
durch die Produktion aufgebracht werden und ..... ""s Kapital zu erhalten.
Gehalte und Arbeitslohn-- ^^t dar, der zur Erzeugung der Arbeits¬
kräfte ^s"^"^ ist. Es leuchtet ein, daß es große Schwierigkeiten bietet,
das gemeinschaftliche, dem Recht und de-r Billigkeit entsprechende Maß für
diese beiden Faktoren der Produktion zu finden. Vor der Hand wird nichts
weiter übrig bleiben, als zunächst von den Zur Zeit Glieder Gehalten und
Löhnen auszugehen, wenn °"<H selbstverständlich der Begriff „Lohn" bei der
Gewinnbeteiligung auf Grund der Assozintion später U'egfallen muß, denn die
Gewinnbeteiligung, wie man sie bis jetzt aufgefaßt hat, soll sich in ihrer weitern
Ausbildung in eine Beteiligung am Ertrage verwandeln, und deshalb ist vor¬
hin auch schon die Verzinsung, die der Arbeit vor Beendigung der Prvdnktions-
Periode gezahlt wird, nicht als Lohn, sondern als Vorschuß bezeichnet werden.
Dieser Vorschuß wird bestimmt werden müssen teils nach dein dringendsten
Bedürfnis der Arbeiter, teils nach dem Grade ihrer Leistungsfähigkeit, wie es
zur Zeit mit dem Lohne auch der Fall ist. Es ist aber nicht zu übersehen,
daß er zugleich den Maßstab für den Anteil des Einzelnen an dem Ertrage
abgeben soll. Deshalb ist es notwendig, daß der Arbeitskraft ein festbestimmter
Anteil am Ertrage zugesichert wird und daneben der wechselnde Anteil an
dem Überschuß des Unternehmens, der sich nicht vorausbestimmen läßt, son¬
dern erst nach Ablauf bestimmter Zeitperioden rcchnnngsmüßig festgestellt
werden kann. Gerade weil der festbestimmte Anteil zugleich den Maßstab für
die gesamte Beteiligung abgeben soll, wird eine bestimmte Stufenleiter, eine
Skala, für ihn in der Vereinbarung auszumachen sein, die sich nach der Lage
des Geschäftes, dem Angebot der Kräfte und der Leistungsfähigkeit des Ein¬
zelnen zu richten hat. Es wird dadurch und dabei zugleich zu vermeiden
sein, daß mit Rücksicht auf deu zu erwartenden beträchtlichen wechselnden
Anteil der festbestimmte Anteil im Interesse des Unternehmens möglichst
niedrig angesetzt wird.
Wenn in dieser Weise das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeiter
festgestellt wird, so ist der Arbeiter an dem Gedeihen des Unternehmens nicht
weniger beteiligt, als der Arbeitgeber. Der Arbeiter arbeitet nicht mehr für
den Unternehmer allein, sondern zugleich für sich selbst. Es leuchtet ein, welch
großen sittlichen Einfluß dies auf den ganzen Stand ausüben würde. Mag
der Tagelohn bei der jetzt herrschenden Weise noch so sehr erhöht werden,
so arbeitet der Arbeiter doch stets für andre, und dieser Umstand wird immer
dahin führen, daß ihm die Arbeit kein Interesse einflößt. Zugleich aber wird
nach unserm Vorschlage das erreicht, daß sich der Arbeiter der Arbeit nicht
entziehen wird. Denn selbstverständlich kann mich der erwähnte feste Anteil
am Ertrage mir nach Maßgabe der wirklich geleisteten Arbeit den: Arbeiter
gegeben werden, und je geringer dieser Anteil infolge von Versäumnisse» wird,
desto geringer wird auch der wechselnde Anteil ausfallen müssen.
Die Gewinnbeteiligung ^,.^t so große Vorteile, sowohl für die Unter-
nehmer wie für die Arbeiter, daß es Wunder -» h>„,„ muß. daß sie nicht schon
längst ausgedehnte Anwendung gefunden hat. Die Werte von V. Bnhmert
und Gilmau-Kutscher geben eine Übersicht über die Fälle, worin sie zur An¬
wendung gekommen sind. Neben einer Auzahl gelungener Versuche finden sich
zahlreiche Fehlschläge. Wenn mau d!e Fälle in, einzelnen kritisch untersucht,
so wird man finden, daß es noch an der klaren Erkenntniß dessen, worauf es
ankommt, fehlt. Der eine faßt die Sache so, der andre anders an. Es läßt
sich nicht verkennen, daß sich in den meisten Versuchen viel Wohlwollen für
die Arbeiter ausspricht; aber damit ist es doch nicht gethan, die Zeitverhält-
nisse, die ans der politischen Gleichberechtigung der Arbeiter entspringenden
Ansprüche und Anforderungen werden nicht genügend gewürdigt. Man mochte
ein patriarchalisches Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeiter herstellen
oder feststellen. Wenn man diesen Weg vor fünfzig Jahren eingeschlagen und
in christlich humanen Sinne verfolgt hätte, so wären die Schwierigkeiten, vor
denen wir jetzt stehen, wahrscheinlich gar nicht entstanden, die Svzialdemokrntie
wäre nicht groß gezogen worden. Aber jetzt ist es zu spät. Die Arbeiter
verlangen nicht mehr das Wohlwollen der Arbeitgeber, sondern ein Recht,
das sie fordern zu können vermeinen, einen größern Anteil an dem Ertrage
der Unternehmungen. Sie entziehen sich mehr und mehr der persönlichen Be¬
einflussung, die als Korrelat des ihnen erwiesenen Wohlwollens betrachtet
wurde. Sie wollen als ebenbürtige Rechtssubjekte behandelt werden, und daran
wird sich jetzt nichts mehr ändern lassen, nachdem sie dnrch ihre Koalitionen
zum Bewußtsein ihrer Macht gelaugt sind. Die Bedingung des Gelingens
der Einführung der Gewinnbeteiligung ist daher, daß den Arbeitern ein er-
zwingbnres Recht dnrch die Vereinbarung gewährt wird. Dies setzt ferner
voraus, daß ein festes Prinzip für die Feststellung des Anteils des Arbeit an
dem Ertrage gefunden wird. Will man den vorhin gemachten Versuch, ein
solches Prinzip zu finden, nicht gelten lassen, so möge man mit bessern Vor¬
schlägen kommen. Aber wenn man bisher ganz willkürlich gewisse Prozente
des Überschusses den Arbeitern bietet, ohne das Maß derselben auf ein dem
Recht und der Billigkeit entsprechendes Prinzip zu gründen, so wird man sich
ohne Zweifel bald dem Widerspruch und begründeten Einwendungen ausgesetzt
sehen. So lange sich die Beteiligung lediglich ans das Wohlwollen der Ar¬
beitgeber gründete, konnte diese Einwendung mir darauf gerichtet sein, daß
dem Wohlwollen zu enge Grenzen gezogen seien. Auch darin ist vielfach ge¬
sündigt worden, daß man mit geringen Opfern große Erfolge zu erzielen hoffte
und für wenig Geld viel Eifer und guten Willen der Arbeiter ernten zu
können meinte. Es ist ferner großen Bedenken unterworfen, wenn anch mit
dem Gesichtspunkte der Vereinbarung nicht schlechthin unvereinbar, die Be¬
teiligung von allerhand Voraussetzungen und Bedingungen abhängig zu machen.
Dahin gehört die Bestimmung, daß nur ein Teil der Arbeiter zum Genusse
der Beteiligung zugelassen wird, daß die Zuwendung nicht erfolgt, wenn Ar¬
beiter durch ihr Betragen Anstoß gegeben haben, daß der Genuß der Beteili¬
gung erst nach Ablauf gewisser Jahre eintritt, daß die den Arbeitern zufallenden
Snnunen zu bestimmten Zwecken (für Arbeitslosigkeit, Krankheit, Todesfälle
oder zur Ansammlung von Kapital überhaupt) verwendet werden sollen. Durch
alle solche Bestimmungen werden die Arbeiter an ihre bisherige Abhängigkeit
von dem Arbeitgeber erinnert, und es wird ihnen das Bewußtsein, daß auch
sie zu völlig selbständigen und deshalb auch Verantwortlicher Rechtssubjekten
herangewachsen seien, verkümmert. Am ersten ließe sich die letzte Einschränkung,
die mit Bezug auf die Verwendung, uoch rechtfertigen, solange ein großer Teil
der Arbeiter an Selbstbeherrschung und wirtschaftlicher Einsicht noch so vieles
zu wünschen übrig läßt.
Sobald man aber die Beteiligung als ein Recht der Arbeit betrachtet,
muß man es allen Angestellten einräumen und darf dagegen nicht einwenden,
daß manche Arbeiten (scheinbar) keinen Einfluß auf das Gedeihen des Unter¬
nehmens haben. Denn alle unentbehrliche Arbeit, sei sie hoch oder niedrig,
ist, wenn auch mit verschiedenem Betrage, zur Teilnahme berechtigt. Wird
dieses Recht anerkannt, so sind auch gewisse Karenzjahre nicht zu rechtfertigen.
Dagegen darf die Beteiligung aus dem Grunde nicht von der Aufführung der
Arbeiter abhängig gemacht werden, weil die Erziehung des Arbeiters nicht
mehr, wie zur Zeit der Patriarchalischeu Wirtschaft, Sache des Arbeitgebers
sein darf. Die Folgen übler Aufführung sind in großen: Betrieben durch die
Fabrikordnung zu regeln. Im übrigen wird ja das Recht, unbrauchbare
Mitglieder aus der Genossenschaft durch Kündigung auszuschließen, durch das
Recht der Gewinnbeteiligung nicht berührt.
Wir kommen zum Schlüsse, soviel auch noch zu sagen wäre, um den
Umfang der Betrachtungen nicht über den uns für jetzt zu Gebote stehenden
Raum hinaus auszudehnen. Zweierlei aber möchten wir »och besonders
wieder betonen: erstens, daß das Hin- und Hertappen auf dem Gebiete der
Gewinnbeteiligung aufhören und daß man, um das Ziel zu erreichen, feste
Prinzipien zu Grunde legen muß. Zweitens, daß die außerordentlich großen
und segensreichen Folgen erst dann völlig ans Licht treten werden, wenn diese
Einrichtung allgemeine Verbreitung findet. Erst dann wird der Arbeiter aus
der Lohnsklaverei, wie er seine jetzige Stellung nicht ganz mit Unrecht nennt,
erlöst sein, erst dann werden die Arbeitgeber den vollen und befriedigenden
Lohn für ihr Entgegenkommen finden.
Wir sind der Ansicht, daß die Beteiligung der Arbeit am Ertrage in der
von uns geschilderten Weise ein Recht der Arbeit sei; andrerseits aber hegen
wir die Überzeugung, daß mehr der Arbeit niemals gewährt werden könne.
Die gegenwärtigen Zeitverhältnisse fordern wahrlich dazu auf, zu überlegen,
ob nicht, um eine Versöhnung herbeizuführen, Opfer gebracht werden müssen.
Man täusche sich nicht über die Größe und über die Nähe der Gefahr und
vertraue nicht zu sehr auf die Allmacht des Staates. Denn der Staat besteht
doch um Ende aus Menschen.
Wer sich den Anschauungen des Verfassers nicht anzuschließen vermag,
wird wenigstens uicht verkennen, daß seine Betrachtungen über die soziale
Frage dem besten Willen entsprungen sind.
rvfefsor Nensch, der Unermüdliche, hat nun noch eine Anzahl
von Arbeiten seines verewigten großen Freundes in einen Band
zusammengefaßt, die teils nur in Zeitungen veröffentlicht worden,
also uicht mehr allgemein zugänglich waren, teils überhaupt
noch nicht gedruckt worden waren.Dies letzte gilt von dreien;
es sind dies die Aufsätze: Die Speicrische Seminarfrage und der Syllabus,
Geschichtliche 'Übersicht des Konzils von Trient und Pius IX. Die Biographie
dieses Papstes wurde nach seinem Tode begonnen und ist unvollendet liegen
geblieben. Dn der Zeitraum, in den die Abfassung dieser Aufsätze fällt, die
dreißig Jahre von 1848 bis 1878 umfaßt, so können wir darin, und das ist
das Interessante daran, den Fortschritt Döllingers von der römisch-katholischen
zur freien Protestantischen Auffassung der Welt- und Kirchengeschichte einiger¬
maßen verfolgen. Die Tiefe seiner Gedankenwerkstatt allerdings wird uns
auch hier n^de enthüllt; weder erfahren wir etwas von den Seelenkämpfen,
die ihm das Wachstum seiner historischen Einsicht verursacht haben muß, noch
erhalten wir Aufschluß über das Glaubenssystem, das er sich mich dem Zu-
sammenbruch der geschichtlichen Grundlage seines frühern aufgebaut haben mag.
Soweit aber daraus die Entwicklung Döllingers zu erkennen ist, gewährt sie
uns zugleich einen Einblick in die Ansichten und Stimmungen der großen
Masse seiner Glaubensgenossen und lehrt uus einigermaßen begreifen, wie es
kam, daß diese den entgegengesetzten Weg einschlugen.
Die erste Abteilung enthält Reden und Gutachten ans der Zeit des
Nvlkerfrühliugs von 1848, der auch für die katholische Kirche ein Frühling
war und für sie bedeutend länger anhielt, als für die Völker. Sie sind, wie
man sich denken kaun, von der gehobensten Stimmung erfüllt. Mit den
besten unter seinen deutschen Glaubensgenossen sieht Döllinger wirklich für die
Kirche wie für die Völker einen neuen Frühling, wo nicht ein goldnes Zeit¬
alter Heraufziehen. Die Kirche braucht nur durch die Erklärung der Grund¬
rechte, die er in der Paulskirche versieht, von den Fessel» des Polizeistaates
befreit zu werden, um zur Segenspenderi» für die Völker zu werdeu. Insofern
verleugnet er bereits seine in demselben Jahre 1848 herausgegebene, aber
freilich der Hauptsache nach schon weit früher vollendete Reformationsgeschichte,
als er ganz frei ist von polemischer Bitterkeit und die gläubigen Protestanten,
mit denen er als Mitglied der Nationalversammlung freundschaftlich verkehrt,
sehr hochschätzt als Bundesgenossen sowohl gegen den Unglauben wie gegen
den absoluten Polizeistaat. Zwar ist ihm die „Kirchenspaltung" noch das
größte Unglück für die deutsche Nation, und er hofft die Wiedervereinigung
auf dem Wege reuiger Rückkehr der Protestanten zur Mutterkirche, aber er
spricht diese Gedanken in einer Form ans, die niemand verletzen kann, und
vorläufig erwartet er von der wiederherzustellenden Kirchenfreiheit ein fried¬
liches und freundschaftliches Verhältnis zwischen den Konfessionen; denn, meint
er, der Konfessionshnß rühre doch vor allem daher, daß die Gläubigen jeder
Konfession von andersgläubigen Regierungen so viele schmerzliche Eingriffe in
ihre Herzens- und Gewissensangelegenheiten zu erdulden gehabt hätten. Auch
verträgt sich sein Katholizismus nicht allein mit dem wärmsten Patriotismus,
sondern beide scheinen ihm derselben Wurzel zu entspringen, indem er sich die
Vollendung der Menschenseele gar nicht anders denken kann, als wenn sie in
der die Menschheit umfassenden Weltkirche und zugleich im eigentümlichen
Geiste ihres Volkes lebt und webt. So sagt er in einem für die Konferenz
der deutschen Bischöfe zu Würzburg (Oktober 1848) abgearbeiteten Gutachten:
„Die Nationalität ist etwas der Freiheit des menschlichen Willen entrücktes,
geheimnisvolles und in ihrem letzten Grnnde selbst etwas von Gott gewolltes.
Daß die Menschen sich zu großen Völkerschaften ausprägen, daß in diesen
welthistorischen Völkern sich bestimmte eigentümliche Richtungen, Lebens- und
Anschauungsweisen entwickeln, das gehört mit zur Ökonomie der göttlichen
Vorsehung, die im moralischen und geistigen Gebiete so wenig als im physischen
will, daß allen Väumen eine Rinde wachse und alle Völker in starrer Uniformität
einander gleich seien. Auch im religiösen und kirchlichen Gebiete ist daher bei aller
katholische:: uuiws in luz(;o«8s.rÜL der Eigentümlichkeit der Nationalitäten ein
freier Spielraum verstattet. Der französische Katholik wird nie völlig dem
italienischen in allen Manifestationen seines religiösen Denkens und Fühlens
gleichen, und der Deutsche wird sich von: Franzosen sowohl als vom Italiener
auch in kirchlicher Beziehung stets unterscheiden. Solche nationale Verschieden¬
heiten zeigen sich in den außerordentlichem Formen des Gottesdienstes, in der
Predigtweise, in dem Charakter der theologischen Litteratur, in der Verbindung
religiöser Vorstellungen oder Gebräuche mit dem täglichen Leben, in der
äußern Haltung des Klerus u, s, w. Sie bilden die innere Grundlage einer
Nationalkirche, und die Aufgabe der Kirche selbst ist es, sie zu regeln, ihnen
Rechnung zu tragen, sie aber auch vor Ausartung zu bewahren." Wir
brauchen wohl kaum ausdrücklich zu sagen, daß wir für dieses winzige Maß
der unsrer Nation in kirchlicher Beziehung zugestandncn Rechte danken müssen.
Wir werden der italienischen Priesterschaft, die doch hier mit dem Worte
„Kirche" im Grunde genommen gemeint ist, niemals das Recht zugestehen,
die Befriedigung unsrer eigentümlichen religiösen Bedürfnisse zu regeln und
llusre nativnalkirchlichen Regungen und Bestrebungen „vor Ausartung zu be¬
wahren." Die Denkschrift fährt fort: „Die deutsche Nation gehört unstreitig
z>l jenen welthistorischen, die ganz besondre Werkzeuge in den Händen der
göttlichen Vorsehung sind. Gleich wie sie in frühern Zeiten der Sache der
Kirche eigentümliche Dienste geleistet hat und die Trägerin des christlichen
Kaisertums und der eigentlichen, zum Schutze der Kirche berufnen Gewalt ge¬
wesen ist, so ist sie auch, wenn nicht alle Zeichen trügen, in einer vielleicht
schon nahen Zukunft wieder berufen, eine besondre, dem Dienste der göttlichen
Wahrheit und der katholischen Kirche gewidmete Mission zu erfüllen. Gott
hat es gefügt, daß die größere Hälfte der Nation jetzt wieder katholisch ist.
^Damals gehörte ja Österreich noch zu Deutschlands Dieser Teil der Nation
ist der eigentliche Trüger und Repräsentant der deutschen Nationalität ^das
'se noch heute die Ansicht der bairischen. rheinländischen und westfälischen
Katholikens, denn er steht in der ununterbrochenen Kontinuität mit der ganzen
großen Vergangenheit des deutschen Volkes; wie unsre Väter geglaubt, gefühlt
nud gedacht (haben), so glauben, fühlen und denken auch wir; und von dem Volke,
von welchem die große Apostasie der neuern Zeit mit ihrem ganzen Gefolge
einer unchristlichen Geistesentwicklung und Litteratur ausgegangen gliche von
uns Deutschen, sondern von den Engländern und Franzosen ist »die große
Apostasie« ausgegangen, wenn man darunter nicht den Abfall von der römischen
Kirche, sondern den Abfall vom christlichen Glauben verstehtj, von eben diesem
Volke wird auch, so Gott will, die aufrichtige Rückkehr zur einen Wahrheit
und die Wiederbelebung derselben ausgehen."
Daß die Verfassung der römisch-katholischen Kirche in irgend einem Punkte
mit den Bedürfnissen und berechtigten Forderungen der Deutschen in Wider¬
spruch geraten und jene jemals ein Hindernis für die Befriedigung dieser sein
könne, giebt er natürlich nicht zu. Zur Beschwichtigung der Bedenken, die
namentlich der Abgeordnete von Beisler (damals bairischer Kultusminister)
gegen die für die katholische Kirche geforderte Unabhängigkeit vom Staate er¬
hoben hatte, versichert er in der Nationalversammlung, daß es keine Gewalt
in der Welt gebe, die mehr durch Gesetze gebunden und vollkommner vor der
Gefahr, in eine Willkürherrschaft auszuarten, geschützt wäre, als die päpstliche.
Den Vorwurf des Ultramontanismus weist er auf der Katholikenversammlnng
zu Linz (September 1850) mit den Worten zurück: „Es wird in dieser Ver¬
sammlung nicht leicht jemand sein, dein dieser Vorwurf häufiger gemacht
worden wäre, als dem, der eben zu Ihnen spricht. Ich habe mich vergeblich
bemüht, auch nur ein einziges mal von denen, die dieses Wort im Munde
führen, eine Erklärung zu hören, was Ultramontanismus sei, oder worin denn
der Unterschied zwischen einem Katholiken und einem Ultramontanen liege.
Die einzige einigermaßen faßliche Erklärung wurde mir einmal in der Frank¬
furter Nationalversammlung mit den Worten gegeben: Ultramvntanc seien
die, welche den Papst zum deutschen Kaiser machen wollten. Gleichwohl aber
kaun ich mir eine Bedeutung dieses Ausdrucks deuten, die mich veranlassen
würde, mich auf das entschiedenste gegen den Ultrcnnvntanismus — wenn eine
solche Gesinnung nud Richtung existirt — zu erklären. Ich würde nämlich
sagen, ich verstünde unter Ultramontanismus das Bestreben, mit gänzlicher
Zurücksetzung und Vernachlässigung der Eigentümlichkeiten des deutschen Volkes
ihm dasjenige, was eine andre Nation nach ihrer Eigentümlichkeit in religiöser
Beziehung gestaltet und entwickelt hat, aufdrängen und wie einen fremden
Rock dein sich sträubenden deutschet? Volke anziehen zu wollen. Das wäre der
Ultramontanismus, gegen den ich als der erste mich entschieden erklären würde.
Denn wir Deutschen wollen als Mitglieder der katholischen Kirche nicht auf¬
hören, Deutsche zu sein, sondern Deutsche im wahren und vollsten Sinne des
Wortes bleiben und auch kein Jota unsrer nationalen Eigentümlichkeit, so
weit sie gut und rechtmäßig ist und mit dem Geiste der katholischen Kirche
im Einklange steht, aufgeben."
Der Indikativ steht wohl nicht zufällig in dem Satze „wenn eine solche
Gesinnung und Richtung existirt," anstatt des Konjunktivs, den man erwarten
dürfte. Döllinger scheint damals schon bemerkt zu haben, daß die von ihm
verurteilte Richtung wirklich existirte, wenn er sie anch noch nicht für ge¬
fährlich hielt, und jeuer hypothetische Satz klingt wie eine leise Warnung.
Dreizehn Jahre später sieht er sich veranlaßt, ihre Existenz und ihre steigende
Macht öffentlich anzuerkennen und ausdrücklich vor ihr zu warnen. Das ge¬
schah auf der Gelehrtenversammlung zu München in der um 28. September
1863 gehaltenen Rede über die Vergangenheit und Gegenwart der katholischen
Theologie, die zusammen mit seinen berühmten Musenmsvvrträgen über den
Kirchenstaat (5. und 9. April 1861) den Wendepunkt in seinem öffentlichen
Leben bildet; in der Sammlung von Reusch eröffnet sie die zweite Abteilung.
Beim Rückblick auf die Vergangenheit muß er bekennen, daß die mittelalter¬
liche Theologie eigentlich einäugig gewesen sei, da sie nur das spekulative
Auge besessen, des historischen aber entbehrt habe. Und über die Reformation,
die er jetzt schon mit diesem Name» zu nennen wagt, sagt er: „Im ganzen
und großen müssen wir doch bekennen, daß, wenn wir die Interessen der
Wissenschaft zum Maßstabe nehmen, die Trennung der Christenheit weit eher
als ein Gewinn und großartiger Fortschritt dein: als eine Schädigung sich
erwiesen hat. Hatte man vorher befürchten müssen, daß die von der Geschichte
nicht erleuchtete und belebte Wissenschaft allmählich zu einem Cenotaphium
werde, das uur Totengebeine, nur abgestorbne Formeln in sich berge, so
wurden nun gleichzeitig die Quellen des historischen Wissens erschlossen, die
Prinzipien und Mittel historischer Forschung erkannt und geübt." Die
spanische Inquisition hatte er 1849 ein Institut genannt, „dessen sich die
Könige zu politischen Zwecken, nicht ohne den Widerspruch und die Reklama¬
tionen der Päpste bedienten," wobei er, augenscheinlich in Verlegenheit, ein
wenig jesuitisch deu Leser im Zweifel läßt, ob der Widerspruch der Päpste
dem Institut selbst oder nur seiner Verwendung für die Zwecke des König¬
tums gegolten habe. Jetzt räumt er schon ein, daß jenes Institut der Hier¬
archie unter andern dazu gedient habe, die Wissenschaft zu vernichten. Er be¬
zeichnet die scholastische Nachblute in den Werken des Suarez und seiner
Zeitgenossen als „das letzte Aufflackern einer bereits erlöschenden Lampe, und
darauf folgt Nacht und Dunkel, denn uun ging in Spanien die Wissenschaft
nu der Inquisition zu Grunde, um dort bis jetzt nicht wieder aufzuleben."
Zum Beweise für diese Behauptung verweist er auf deu luclvx lidroruw
xrolübiwrum für Spanien. „Man lese die Regeln, vergleiche den als prak¬
tischen Kommentar dazu dienenden Index, und man wird erkennen, daß unter
der Herrschaft dieses Systems einer wissenschaftlichen Theologie, Exegese/
Philosophie. Geschichte geradeso fortzuleben möglich war, als es einem Vogel
möglich ist, unter einer Glasglocke zu lebe», aus der mau die Luft gepumpt
hat. Mau konnte in Spanien nicht nur kein wissenschaftliches Werk mehr
schreiben, ohne der Inquisition zu verfallen, man konnte nicht einmal die einem
Gelehrten unentbehrlichen litterarische» Hilfsmittel besitzen." Was dann die
Gegenwart anlangt, so charakterisirt er das italienische Priestertum durch die
Thatsache, daß die einzigen wissenschaftlich bedeutenden Männer, die es in
diesem Jahrhundert auszuweisen habe (Nvsmini, Gioberti. Ventura und
Passaglia), alle vier der römischen Censur verfallen seien. Über Deutschland
drückt er sich zwar sehr vorsichtig, aber deutlich genug aus. Der Leuchter
der theologische» Wissenschaft sei von seinen frühern Stellen weggerückt (auch
in Frmikreich sei das Licht erloschen), und die Reihe sei endlich a» Deutsch¬
land gekommen. „Nicht die Mittagshöhe einer vollständig ausgebildeten und
gereiften Theologie nehme ich für Deutschland in Anspruch, sondern nur die
Morgenröte einer zu neuer, großartiger Entwicklung fortschreitenden Theologie.
Das Charisma der wissenschaftlichen Schärfe und Gründlichkeit, der rastlosen,
in die Tiefe dringenden Forschung und der beharrlichen Geistesarbeit ist uus
Deutschen einmal gegeben; mit diesem Pfunde nicht wuchern zu »vollen, wäre
sträfliche Versäumnis." Zumal da der deutschen Theologie die erhabne Auf¬
gabe obliege, die Wunden, die sie unserm Volke vor vierthalb Jahrhunderten
geschlagen habe, zu heilen und seine beiden konfessionell getrennten Hälften
dereinst wiederum in höherer Einheit zu versöhnen. Leider fehle es nicht bloß
bei den Protestanten, sondern auch bei den Katholiken vielfach um dein guten Willen
zur Versöhnung. Döllinger sagt es nicht ausdrücklich, aber er giebt es zu
verstehen, daß das Hindernis bei der orthodoxen Richtung liege, die sich der
rein wissenschaftlichen gegenüberstelle. Er betont zwar so stark wie möglich
seine eigne Rechtglünbigkeit und die Notwendigkeit der kirchlichen Autorität in
Glaubenssachen, erklärt aber andrerseits, der Wissenschaft, auch der theolo¬
gischen, sei die Freiheit so unentbehrlich wie den lebenden Wesen die Luft,
„und wenn es Theologen giebt, die ihren Fachgenossen diese Lebenslust uuter
dein Vorwande der Gefahr für das Dogma entziehen wollen, so ist dies ein
kurzsichtiges und selbstmörderisches Beginnen." Gegen wissenschaftliche Fehler
und Verirrungen dürften nur gleichartige Mittel, also wissenschaftliche Wider¬
legungen und nicht kirchliche Censuren angewendet werden. Er hätte einen
durchschlagenden Erfolg, wenn auch nicht einen Erfolg in seinem Sinne, er¬
zielen können, wenn er es gerade herausgesagt Hütte, daß sich damals einige
deutsche Professoren der Theologie das Denunziantentum zum Lebensberuf
erwählt hatten, ihre Kollegen ansspionirten, was sie an „ketzerischen" Be¬
hauptungen in deren Büchern und Vortrügen aufzustöbern vermochtet!, uach
Rom berichteten und die Verurteilung der Delinquenten mit fanatischem Eifer
betrieben. Aber er begnügte sich mit der schwächlichen Schlußmnhuung:
„Möge den» jeder von uns, wenn die Versuchung ihn anwandelt, über wirkliche
oder vermeintliche Irrtümer eines Fachgenossen scharfes Gericht zu halten
oder gar die Orthodoxie eines Buches und seines Verfassers zu verdächtigen,
eingedenk sein der Worte" (folgen einige Verse aus Dante).
Döllinger hatte uoch in der Sitzung selbst Gelegenheit, sich von der
UnHaltbarkeit seiner Stellung und von der Unmöglichkeit eiuer katholischen
Theologie, wie er sie sich träumte, zu überzeuge,?. Die anwesenden Roma¬
nisten ließen ihm keinen Zweifel daran, daß sich Rom und die deutsche Wissen¬
schaft ungefähr ebenso gut vertrllgeu wie Feuer und Wasser. Der Papst
nahm deu Segen zurück, deu er der Versammlung gespendet hatte, und machte
durch ein Breve die Wiederholung solcher Befreiungsversuche unmöglich. Das
förderte denn unsern Döllinger rasch ein gutes Stück, und in der zwei Jahre
darauf verfaßten Denkschrift über die Speierische Seminarfrage (der Bischof
von Speier wollte die Lehrerstellen an seinem Priesterseminar ohne Mitwir¬
kung der Regierung besetzen) und über deu Syllnbus führt er schon so ziemlich
die Sprache des Janus. Die Lage des katholischen Deutschlands Rom gegen¬
über habe sich geändert, der Ultramontanismus sei keine Erdichtung der Kirchen-
fcinde mehr, sondern eine wirkliche aggressiv fortschreitende Macht; ihre haupt¬
sächlichsten Träger seien die Jesnitenzöglinge, die sich von Jahr zu Jahr
zahlreicher in den dentschen Klerus einnisteten. „Das also — ruft er nach
einer Übersicht des Syllabus — ist der Mühlstein, den man in Rom den
Katholiken aller Länder an den Hals binden möchte! Diese Dinge sollen
künftig gelehrt, sollen vor allem dem Geiste der heranwachsenden Generation
eingeprägt werden mich in jenen Ländern, in denen die ganze Existenz der
katholischen Kirche, ihre Freiheit und Sicherheit einzig auf den Prinzipien be¬
ruht, die hier als schamlose, verderbliche Irrlehren gebrandmarkt werden,
Prinzipien, mit denen die religiöse Freiheit der Katholiken dort stehen und
fallen muß. Bischöfen und Priestern ist hiermit die feierliche Verpflichtung
auferlegt, ihre Gemeinden bei jeder Gelegenheit zu belehren, daß sie in einem
durch und dnrch von Sünde und Irrtum iusizirteu, auf falschen Prinzipien
erbauten Gemeinwesen leben. Sie müsse« jedes Mittel der Belehrung er¬
greifen, um Monarchen, Regierungen, Nationen zu der Erkenntnis zu bringen,
daß sie nichts Besseres, Dringenderes thun können, als ihre Verfassungen zu
stürzen, ihre Gesetzbücher zu vernichten, den Entwicklungsgang von vier Jahr¬
hunderten plötzlich abzubrechen und die Zustände und Ordnungen des vier-
zehnten wieder aufz „richte,,."
Mau sieht, nicht bloß das Verhältnis zu Rom hatte sich in Döllingers
Auge» geändert, sondern Rom selbst war ihm ein andres geworden; seine
Schrift ist eine förmliche Absage um den Papst und hätte, wenn sie ver¬
öffentlicht worden wäre, die Exkommunikation zur Folge haben müssen. Sie blieb
über ungedruckt, und die darauf folgenden uicht weniger scharfen Artikel, sowie
die im Ja uns zusammengefaßten erschienen nicht unter Döllingers Namen.
Die bedeutendsten unter jenen siud die über die Inquisition, zu denen die
»Heiligsprechung" des Scheusals Arbues im Jahre 1867 den Anstoß gab.
Gerade diese Abhandlungen aber, von denen so mancher Protestant erwartet
haben mag, daß sie dem Katholizismus in Deutschland den Garaus machen
würden, lehren uns verstehen, wie es kam, daß das katholische Deutschland
dem von Döllinger eingeschlagnen Wege nicht folgte, und daß seine Augriffe
nur dazu dienten, die römische Kirchgläubigkeit zu befestigen. Die Inquisition,
die Hexenprozesse und jene Mvlvchsopfer, die der moderne Jndustrialismus
einige Jahrzehnte hindurch in einige» Ländern, namentlich in England ge¬
fordert hat, sind die drei großen Schandflecke der Christenheit. Die Inquisition
gehört der römisch-katholischen Kirche allein an. Im Hcxenfoltern und Hexen-
verbrennen haben zwar die deutschen und die schottischen Protestanten mit den
Katholiken gewetteifert, aber die Verantwortung dafür füllt doch ausschließlich
"uf die Päpste zurück, die den Hexenwahn als Dogma gelehrt und das alle
Greuel der römischem Christenverfolgungen tief in Schatten stellende abscheu¬
liche Verfahren für die Hexenprozesse, d. h. für die an vielen hunderttausend
unschuldige» Menschen zu begehenden Justizmorde, vorgeschrieben haben. An deu
aus Habsucht begangenen Unthaten des modernen Jndustrialismus siud zwar
die protestantischen Völker mit einem reichlicher,, Maße beteiligt als die katho-
lischen, obwohl es gerade die Spanier sind, die in Amerika das Beispiel und
den ersten Anstoß dazu gegeben haben; doch ist dafür keine der christlichen
Kirchen verantwortlich zu machen. Nun ist es zwar durchaus nicht nötig,
daß ein Katholik, der jene ungeheure Blutschuld seiner Kirche erkannt hat,
ihr darum untreu werde, so wenig man sich von seinem. Vaterlande, seinem
Volke oder seinem Staate deswegen loszusagen braucht, weil die Blatter seiner
Geschichte mit Blut und Ungerechtigkeiten befleckt sind. Aber eines ist unver¬
meidlich: nicht zwar die Kirche, aber das Dogma von der Kirche, wie es der
Katholizismus lehrt, muß aufgegeben werden, sobald jene geschichtlichen That¬
sachen bekannt geworden sind. Eine Kirche, die den allerdümmsten und ver¬
derblichsten heidnischen Aberglauben wieder einführt, nachdem er sechshundert
Jahre vorher (unter Karl dem Großen) schon als solcher erkannt und aus¬
drücklich bezeichnet worden ist, für die unfehlbare Lehrmeisterin der Wahrheit
halten, eine Hierarchie, die das gesetzloseste Morden und Rauben und die
Wollust der Grausamkeit in ein System bringt und dieses jahrhundertelang
handhabt, als die Verwalterin göttlicher Gnadenschätze ehren und bei ihr die
Vergebung der Sünden suchen, das ist rein unmöglich. Das merken die
Katholiken bis zum einfältigsten Weiblein hinab instinktiv, wem? sie es sich
auch nicht als eine Kette logischer Folgerungen auseinanderlegen. Darum
schließen sie solchen Thatsachen gegenüber die Augen und haben für einen
Universitätslehrer, der sie auszusprechen wagt, uur eine Antwort: Hinweg mit
ihm, er raubt uus den Glauben! Deal nachdem der Hierarchie die Macht zu
schaden genommen worden ist, empfinden die heutigen Katholiken vorzugsweise
die wohlthätigen Wirkungen der Thätigkeit dieser alten Körperschaft, in der
die Weisheit und Erfahrung von anderthalb Jahrtausenden walten. Daß sie
notwendig zu Grunde gehen oder doch ihre heilsame Wirksamkeit einbüßen
müßte, wenn sie von ihren Gläubigen nicht mehr für die unfehlbare, Sünden
vergehende und den Zugang zum Himmel erschließende gehalten würde, ist
freilich nicht bewiesen, und das Gegenteil wäre recht gut deutbar, aber der
Katholik, der sie über alles schützt, mag sich aus das gewagte Experiment nicht
einlassen, und so weist er denn lieber von vornherein alles ub, was ihr einen
Teil der Glorie, von der sie in seinen Augen umflossen ist, abstreift. Döllinger
konnte umso weniger auf Gehör rechnen, als er keinen Versuch gemacht hat, dein
Volke zu zeigen, wie man nach der Preisgebung des Dogmas von der Kirche den
Katholizismus retten und den Übertritt zum Protestantismus vermeiden könne.
Aber, wird man fragen, wie sieht es im Kopf und Herzen von Männern
aus, die wie Hefele durch ihren Beruf zur Kenntnis jeuer Thatsachen ge¬
zwungen werden, und die sogar darüber schreiben? Sind sie Dummköpfe oder
Heuchler? Keines von beiden; man kann sie einem Kranken vergleichen, der
an einer fixen Idee leidet. Ich kannte einen solchen, der sich einbildete, von
seinem Wohnorte L. nach S. versetzt worden zu heilt, in allem übrigen aber
ganz vernünftig dachte und sprach. Seine Hausgenossen stellten — natürlich
vergebens — allerlei Versuche an, ihn von der Falschheit seiner Einbildung
zu überzeugen. Eines Tages bat ihn ein Freund, zu bestimmen, welcher seiner
in L. wohnenden Nachbarn ihn besuchen solle; binnen fünf Minuten werde er
da sein, und das sei doch von S. aus uicht möglich. Der Kranke bestimmte
den dicken Herrn T. Nach fünf Minuten trat dieser keuchend ins Kranken¬
zimmer. „Na, sehen Sie?" rief der Freund triumphirend. Der Kranke aber
erwiderte halb ärgerlich: „Ach, gehen Sie, mit dem Telegraphen ist alles
möglich!" Der Geisteskranke hat sein eigentümliches Sehorgan, mit dem er
Nichtvvrhandnes zu sehen, Vorhandnes nicht zu sehen vermag, er hat seine
eigne Logik, mit der er auch die widersprechendsten Thatsachen der ihn beherr¬
schenden Idee anzupassen vermag. Eine Glaubenslehre, in die man sich ein¬
gelebt, bildet ein gegen jeden Ansturm der Thatsachen gefestigtes System fixer
Ideen. (Das gilt auch von politischen, wissenschaftlichen und sozialen Glaubens¬
lehren.) Adam Möhler wirft einmal die Frage auf, wie es wohl möglich
gewesen sei, das; gebildete Männer jene ungeheuerlichen und phantastischen
Kindermärchen geglaubt hätten, ans denen das Lehrgebäude der Gnostiker be¬
stand, und er antwortet darauf, das System habe eben die Macht, den Geist
zu fesseln und jeden Widerspruch der Vernunft und der Thatsachen ans einer
feindlichen Waffe in eine Stütze zu verwaudel». Man hat dieser Tage wiederum
gesehen, wie gebildete Katholiken solche Verlegenheiten zu überwinden ver¬
stehen. Wenn irgend etwas in der Welt feststeht, so ist es die Thatsache,
daß der Kurie die weltliche Herrschaft des Papsttums mehr am Herzen liegt,
als das Wohl der ganze» Kirche und das Heil der Seelen. Wie dumm und
hastig beißt sie auf jeden Köder an, der ihr von einem Macht verheißenden
Mächtigen hingeworfen wird! Wie plump ist der Papst in der Hoffnung,
für sich etwas zu ergattern, bei der Septennatswcchl hineingefallen! Wie un¬
empfindlich er gegen das schreckliche Schicksal der russischen Uuirteu bleibt, um
es nur ja mit dem Zaren, dem Freunde Frankreichs nicht zu verderben, ward
erst kürzlich in den 'Grenzboten hervorgehoben. Die berüchtigten Artikel des
Osservatore Romano entsprechen durchaus diesen Traditionen. Nachdem des
Papstes Hoffnung, durch den mächtigen Vismarck ein Fleckchen italienischen
Landes unter seine Herrschaft zu bringen, zerronnen ist, hat er keinen Grund
Arr Freundschaft mehr für den Bundesgenossen seines Todfeindes. Daß die
deutschen Katholiken die treuesten, echtesten und frömmsten Katholiken der Welt
sind, das kümmert ihn jn nichts; als Italiener hat er gar kein Verständnis
für diese tiefe und echte Frömmigkeit, und wenn statt deS klugen Leo noch
der naive Pius ans Petri Stuhle säße, so würde es Herr von Schorlemer in
einen: offnen päpstlichen Sendschreiben zu lesen bekommen, daß der Osservatore
»indes schreiben darf als des Papstes eigne Meinung. Dieser Kelch wird nnn
zwar an dem edeln westfälischen Ritter vorübergehen, aber würde er ihm ge-
reicht, so würde er ihn trinken. Um es also kurz zu sagen: vor der drohenden
Gefahr, mit dem Papste ihre Kirche zu verlieren, haben sich die deutscheu
Katholiken in den Schutz des Unfehlbarer geflüchtet; ist der Papst unfehlbar,
so — kaun ja das Schreckliche, was die Geschichtswissenschaft enthüllt, gar
nicht wahr sein!
Die beiden Artikel über die Inquisition bilden zusammen eine kurze
quellenmäßige Geschichte dieses Haifisches uuter den menschlichen Einrichtungen.
Professor Neusch sollte sie in einen verarbeiten und besonders Herausgeber.
Das würde ein etwa hundert Seiten starkes Büchlein ergeben, von dem
mindestens zehnmal so viel Exemplare verkauft werden würden, wie von dem
vorliegenden ziemlich dicken Bande. Der Protestant findet darin das schlimmste,
was er sich von der Sache gedacht hat, urkundlich bestätigt. Es werden in
besondern Abschnitten abgehandelt: die ältere zur Ausrottung der Katharer,
Patarener und Waldenser eingeführte, dann die spanische Inquisition, die Ein¬
führung der Hexenprozesse lind die zur Unterdrückung des Protestantismus
wiederhergestellte römische Inquisition. Um einige Ziffern anzuführen, so sind
unter Torquemada während der vierzig Jahre von 1480 bis 1520 in der
einen Stadt Sevilla viertausend Menschen lebendig verbrannt, über dreißig-
tnuseud „Bußfertige" zu Kerker oder Galeere und öffentlicher Beschimpfung
verurteilt worden. Die Zahl der Verurteilungen in der ganzen Diözese Se¬
villa beläuft sich für den angegebnen Zeitraum auf hunderttausend und darüber.
Jsabella hat sich doch einigermaßen im Gewissen beunruhigt gefühlt. Sie
schreibt einmal nach Rom: „Ich habe großes Unglück verursacht, habe Städte
und Länder, Provinzen und Königreiche entvölkert, doch alles aus Liebe zu
Christus und seiner jungfräulichen Mutter." Gewiß eine wunderbare Liebe!
Übrigens scheinen die Anwandlungen von Neue, deren diese vom Fanatismus
verschrobne Seele noch fähig war, mehr politischer als menschlicher Natur ge¬
wesen zu sein; die Entvölkerung und Verwüstung ihres Staates schmerzt sie,
daß sie jedoch mit den gemarterten Menschen, worunter sich zarte Kinder und
kranke Greisinnen befanden, Mitleid gefühlt hätte, ist nicht zu erkennen. Beim
Regierungsantritt Karls V. gaben sich die Cortes große Mühe, einige Milde¬
rungen des Verfahrens durchzusetzen: dein Angeklagten, hieß es in einer vom
Rechtsgelehrten Juan Selvagio aufgesetzte» Schrift, sollten wenigstens die
Denunzianten genannt, die Inquisitoren sollten nicht aus dem Vermögen der
Angeklagten bezahlt, sondern vom Staate besoldet, die Juquisitivnsgerichte alle
zwei Jahre einer Visitation unterworfen werden. „Einkerkerungen sollten nur
auf hinreichend begründete Indizien erfolgen, die Gefangnen in erträglichen
Kerkern verwahrt und ihnen der Gottesdienst und der Gebrauch der kirchlichen
Heilsmittel verstattet werde». Die Folter solle nur mit Mäßigung, nicht
wiederholt und mit Beseitigung der neu erfundnen grausamen Peinignngs-
mittel angewendet werden. Mau hätte erwarten sollen, daß ein junger, fern
von Spanien erzogner Monarch, ein Enkel Maximilians, gern ein so leichtes
und wohlfeiles Mittel ergriffen haben würde, sich die Gunst der Nation, mit
der er von nun an zusammenleben sollte, zu gewinnen. Aber Selvngiv starb
gerade im entscheidenden Moment, und Karls Umgebung, die gierigen Nieder¬
länder, sah in der Inquisition nur die treffliche, unerschöpfliche Finanzquelle,
und so wurden denn die Cortes mit der Phrase abgefertigt, es sei des Königs
Wille, daß die päpstlichen Dekrete über die Inquisition unverbrüchlich beobachtet
würde»; ihre Auslegung stehe nur dem Papste zu." Durch die Wirksamkeit
dieses abscheulichen Instituts wurde das ganze spanische Volk in eine seltsame
Gemütsverfassung versetzt, von der sich im heutigen Europa, mit Ausnahme
der ruchlosesten unter den großen Verbrechern, vielleicht nur uoch einzelne
Vivisektvren eine Vorstellung macheu könne»; denn sowohl die Stiergefechte
wie die altrömischen Gladiatoreukämpfe sind doch etwas andres, weil dabei
ein ästhetisches Interesse mitspielt. Für den echten Spanier jener Zeit gab
es keinen höhern Genuß, als Menschen lebendig verbrennen zu sehen. „Nur
in Spanien war es möglich, daß die Ankunft einer jungen Königin mit einem
Auto de F6 gefeiert oder die Melancholie eines kränklichen Königs (Karls II.)
durch deu Anblick der lodernden Scheiterhaufen zu verscheuchen gesucht wurde."
Diese tolle Verirrung, sollte man meinen, hätte alle edlern Regungen, alle
zarten Empfindungen in deu Herzen dieses Volkes ersticken müssen, was jedoch
bekanntlich nicht geschah. Wie wunderbar ist doch die unverwüstliche Güte
der Meiischeuseele und die Elastizität, mit der sie sich aus der Verschrobenheit in
ihre natürliche Form zurückbiegt, sobald die verdrehende Kraft aufhört zu wirken!
Es folgt dann nach einigen Aufsätzen über den Nnfehlbarteitsstreit die
ungemein tiefe und geistreiche Abhandlung über den Weissagungsglanben und
das Propheteutum in der christlichen Zeit, die zuerst 1871 in Raumers
Historischen Taschenbuch erschienen ist. Wie sich im Propheten die Hoffnung
seiner Zeit oder seiner Partei verkörpert, und wie sich die Weissagung auf
einer vielstufigen Leiter ans- und abwärts bewegt zwischen einem ans reicher
Lebenserfahrung oder aus dem geheimnisvollen Ahnungsvermögen eines reinen
liebenden Herzens geschöpften Hellsehen und dem bewußten Betrug, der durch
die Weissagung des Gewünschten eben dieses Gewünschte zu verwirklichen sucht,
wird an einer großen Menge meist bisher wenig bekannter oder ganz unbe¬
kannter Beispiele gezeigt. Von den bekanntern wird u. a. die Vision des
Cazvtte erwähnt und als eine Erdichtung desselben Laharpe bezeichnet, der sie
so dramatisch beschrieben habe. Dagegen sei es wahr, sagt Döllinger, daß
dreizehn Jahre vor Ausbruch der Revolution ein berühmter Prediger, Beaure-
gard. in Notre-Dame auf der Kanzel gesprochen habe: „Die Tempel Gottes werden
geplündert und zerstört, seine Feste abgeschafft, sein Name gelästert, sein Dienst
geächtet werden. Ja. was höre, was erblicke ich? Statt der Hymnen zum
Lobe Gottes werden hier lüsterne und profane Lieder gesungen, und die Göttin
der Heiden, Venus selbst, erdreistet sich, hier die Stelle des lebendige» Gottes
einzunehmen, sich auf den Altar zu setzen und die Huldigungen ihrer treuen
Anbeter zu empfangen." Alles dies, fügt der Verfasser bei, „ist einige Jahre
später wirklich, und zwar in eben der Kirche, in der die prophetischen Worte
gesprochen wurden, geschehen. Wer uun den Zustand von Paris in jener
Zeit kennt, der mag sich wohl vorstellen, daß ein Mann wie Beauregard, der
tiefere Blicke in den Abgrund der damaligen Korruption gethan hatte, sehr
wohl Dinge voraussagen konnte, wie sie nachher als Manifestationen des schon
seit geraumer Zeit, wenn anch vorerst mehr nur in der Stille wirkenden
Geistes zu Tage traten." An den mittelalterlichen Weissagungen ist wohl das
merkwürdigste, daß die römische Kurie vou so vielen ausgezeichneten und
frommen Männern mit wunderbarer Übereinstimmung als die große Hure der
Apokalypse bezeichnet wird. Kurz vor der Reformation war im deutschen
Klerus die Ahnung, daß ein großes Strafgericht über ihn hereinbrechen werde,
ziemlich weit verbreitet.
Den Schluß der Sammlung bildet die leider unvollendete Lebensbeschrei¬
bung des Unfehlbarkeitspapstes. Die Persönlichkeit des Mannes tritt darin
mit plastischer Deutlichkeit hervor, und die scheinbaren Widersprüche seines
Lebens werden befriedigend erklärt. Pius war eine ganz weibliche Natur:
gutmütig, liebenswürdig, ein angenehmer Plauderer, voll witziger Einfälle,
erfreute er sich jener Selbstgewißheit, die so leicht zu behaupten ist. wenn man
in der Befriedigung seiner Wünsche und in der Verfolgung seiner Ziele weder
durch die Logik, noch dnrch Wissenschaft, noch durch Kenntnis der Thatsachen
und Geschäfte gestört und behindert wird. Eine Verhandlung mit ihm, sagt
Tocqueville, war wie der Hader mit einem Weibe. Natürlich hatte er immer
Recht, und wenn er heute das Gegenteil von gestern anordnen mußte, so machte
ihn das nicht irre. sein Uufehlbarkeirswahn und die Huldigungen, mit denen
man ihn betäubte, benahmen ihm vollends jeden Zweifel. „Die große Menge
feiler Dirnen — erzählt Döllinger S. 58!Z —, welche mit dem Einzug der öster¬
reichischen Regimenter ^uach Niederwerfung der Revolution^ in die Städte der
Romagna zum Bedürfnis wurde, machte einen beträchtlichen Aufwand für
ärztliche Überwachung, Behandlung und Verpflegung nötig. Da die städtischen
Behörden diese Kosten zu tragen sich weigerten, übernahm der Papst sie auf
seine eigne Kasse." Solche Kleinigkeiten machten ihn an der Güte seiner
Negierung nicht irre. Das Schlimmste freilich, z. B. daß im Jahre 1851
nicht weniger als 8800 politische Gefangne in seinen Kerkern schmachteten,
erfuhr er gar nicht. Weiber fühlen sich im allgemeinen mehr von männlichen
als vou weibischen Männern angezogen; in diesem Falle jedoch scheint gerade
die Gleichartigkeit des Charakters anziehend gewirkt zu haben. Die unbegrenzte
Verehrung der Frauen für Pius hat in seinen Erfolgen eine sehr wichtige Rolle
gespielt; auch die außerordentliche Schönheit seines Gesichts kam ihm zu statten.
ahrhaftig, sie hat ein unvergängliches Leben! Vor zwei Jahr¬
tausenden war sie die Priesterin der unnahbaren Gottheit, die sich
an alleu Staatsaktionen beteiligte und griechische und römische
Geschichte machte; in unserm neunzehnten Jahrhundert ist sie zuvor¬
kommender geworden und steigt weissagend in die Niederungen
des persönlichen Kleinlebens herab. Am Ende ist der Satz, daß die Menschheit
im Laufe der Geschichte das, was sie angebetet hat, verbrenne, daß die Wissen¬
schaft jeden Morgen die Irrtümer des vergangnen Tages verwerfe, und daß
die Wahrheit eine chronologische Frage sei, doch nicht wahr.
Wenn es noch Orakel gäbe, ob wir sie nicht befragen würden? Der Reiz,
den sie auf ihre Zeit ausgeübt haben, muß doch mächtig gewesen sein. Eine
hochgebildete Kulturwelt stand in ihrem Banne; denn sie gaben dem Verstände
der Menschen und der Ungewißheit der Völker, wenn sie an den Kreuzwege,?
des Lebens und der Geschichte verblüfft still standen, die neue Richtungslinie.
Wenn also die Griechen, die, wie Lasaulx bemerkt, als die Vertreter einer
geistig freien Lebcnsentwicklung in der Geschichte dastehen, wie kein andres
Volk, von dem Glauben, daß das Zukünftige vorausgewußt werden könne,
erfüllt waren und demgemäß von der weitverzweigten mantischen Kunst den
ausgiebigsten Gebrauch machten, so werden wir uns, obgleich Mantik mit
^«t>e<7^«/, (rasen) Wurzeleins ist, der einen oder andern Frage um die Zukunft
auch nicht zu schämen brauchen. Es scheint denn auch thatsächlich der Reiz,
den alles Geheimnisvolle auf deu suchenden Geist ausübt, nachwirkend in
unserm Geschlechte fortzudauern. Denn die wissenschaftliche - die kultur¬
geschichtliche und die philologische — Forschung beginnt wirklich, sich der
lange Zeit vernachlässigten Stiefkinder der griechischen Muse, der häufiger
gescholtenen als gelesenen Mantiker und Sibyllisten wieder anzunehmen und
sie aus dem kalten Schatten ihrer Vernachlässigung zu ziehen.
Aber freilich, die treibenden Kräfte dieser Wiederbelebung sind himmel¬
weit von den alten verschieden. Dem Griechen war es ein Bedürfnis, in dem
Jrrsal des Lebens, in den Fragen des Gewissens und den Rätseln der Volks¬
geschichte den sichern Weg in göttlicher Belehrung zu suchen. Die delphische
Pythia ist ihm eine ernste Figur, eine'religiöse und sittliche Macht und ein
Zeugnis seiner Religiosität; die roäivivu. ist, wenn auch nicht gerade ein
schlechter, so doch ein geistreicher Witz, immerhin aber nur ein Witz und ein
zierlicher — Scherz. An solchem hat gewiß auch der eine oder der andre
Leser dieser Blätter seine Freude. Ich bitte also, die Göttin ihm vorstellen
zu dürfen.
An den schlechten Witz erinnert eigentlich nur der Titel des Büchleins,
an das dieser Aufsatz anknüpft: Das enthüllte Geheimnis der Pythia.
Da fallen einem natürlich die Traum- und Punktirbücher unsrer Großmütter
ein, die verlockend zum Studium der Sieben Siegel Salomonis vermittelst der
geoffenbarten Weissagung des Propheten Daniel einluden. Und eigentlich
erinnert er uicht nur an einen schlechten Witz, sondern er ist auch einer. Die
heilige Pythia von Delphi trank aus der kastalischen Quelle und kaute, ehe
sie zum Dreifuß über der rauchenden Schlucht trat, Lorbeerblätter, Herr
F. Mohr, der Priester der recllvivg., wird sich wohl an einem Glase Echten
begeistert und an einer Havana in seine mathematische Ekstase hiueingedampft
haben. Immerhin hat der Titel seines Büchleins nicht allgemein abschreckend
gewirkt. Denn es steckt etwas hinter seiner Sache. Man liest, syllabirt nach
seiner Anleitung, addirt, staunt: da springt der glatte Vers heraus; dünn
reibt man sich verwundert die Stirn und lacht, aber man bewundert doch
auch den sinnigen Scherz nud das schlaue Bravourstückchen. Die Mathematiker
von Fach mögen zusehen, ob sie diese Nuß eines Vermessungsrevisors a. D.,
der zugleich ein tüchtiger Lateiner sein muß, zu knacken vermögen. Bis jetzt
haben die, die sich daran versucht haben, wenn ich recht sehe, das ganze Rätsel
noch nicht gelöst.
Die griechische Divination hatte, wie der Name sagt, etwas Göttliches
an sich; sie war ein Geschenk der Götter, eine Offenbarung:
Lu.vvtuztmr v^dös, wÄAiniw ^vvtorv xossit
IZxousstLso <Isuw.(Seherin rast, ob wohl aus der Brust sie die mächtige Gottheit
Korne entschütteln.)
Die Divination der modernem Pythia giebt sich als Wissenschaft und will
bis zu einem gewissen Grade ernst genommen sein. Damit habe ich also nichts
zu thun. Ich halte mich nicht an den schwindelhafter Hanpttitel. Der
Nebentitel aber hält, was er verspricht: „die Kunst, ohne Kenntnis der latei¬
nischen Sprache auf mathematischem Wege lateinische Hexameter zu mache»,
die zugleich weissagend auf eine vorgelegte Frage die Autwort erteilen."
(Hannover, Schmorls und Seefelds Nachfolger.) Dabei kommt mir eine klassische
Erinnerung. Tacitus berichtet (Annal. II, 54), daß sich der weissagende Priester
im Heiligtum des klarischen Apollo nur die Namen und die Zahl derer, die deu
Gott befragten, sagen ließ; dann stieg er in eine Höhle, trank von der dort
rauschenden Quelle und erteilte nun, obwohl er von Hans aus ein ruge-
lehrter Manu war und von Poesie nichts verstand, seinen Spruch in fließenden
Versen. Hier ist es nicht anders. Daß Ungelehrte ans mathematischen: Wege
wohlgebaute, fehlerlose Hexameter in lateinischer Sprache herzustellen in den
Stand gesetzt werden, das wird man für ein Kunststück halten dürfen.
Will mir der Leser aufmerksam folgen, so gebe ich ihm die Versicherung,
daß ich ihn in 5 — geschrieben: fünf — Minuten zum Versifex, sie zur
Seherin mache. Gymnasium, Realschule, höhere Töchterschule — vor diesem
neuen Adeptentnm versinken ihre Künste in wesenlose Schemen. A. Amthor,
ein bekannter hervorragender Mathematiker, sagt in seinem Begleitworte, nicht
mir das Interesse des Philologen und Mathematikers, sondern sicher eines
jeden, der ein Gymnasium besucht habe, werde das Schriftchen, das eine au¬
genehme Unterhaltung für Mußestunden biete, in Anspruch nehmen. Ich gehe
noch weiter; ich glaube und weiß es aus Erfahrung, daß diese pythischen
Künste auf jeden, den ein sinniges Gedankenspiel reizt, anregend wirken müssen.
Auf eine gewisse Frage eine Antwort zu erhalten, das sehe ich als kein Kunst¬
stück an; aber mich überrascht, daß ich auf jede beliebig gestellte Frage vou
mindestens sechs Worten 1. einen uuanstößigen lateinischen Hexameter erhalte,
daß dieser Hexameter einen divinatorischen Sinn giebt, 3. daß er die Frage
verneint, bejaht oder auch die Neugier abweist, und 4. daß ihm in sehr
vielen Fällen der pythische Charakter des Doppelsinnes anhaftet. Wie einer¬
seits rein mechanische, andrerseits von der Willkür im weitesten Umfange be¬
herrschte Messungen, nämlich Silbenzahlungen, auf das Gebiet des Geistes zu
wirke» und logische Gedankengänge hervorzubringen vermögen, das, meine ich,
muß iiberraschen; auch der mathematische Fachmann bekennt — ich glaube
aber, er lächelt dabei —, er habe eine vollständige Erklärung des Zusammen¬
hanges nicht auffinden können. Von dem Augenblick an, als ich für die nase¬
weise Eitelkeit meiner ersten Frage meinen Wischer bekam und von der Göttin
abgewiesen wurde, nahm die Himmlische mein ganzes Interesse in Anspruch.
Ich war uümlich hochmütig und neugierig und fragte: Sollte ich noch ein
berühmter Mann werden? Und wie zog sich die höfliche oder mich die ent¬
rüstete Göttin aus der Schwierigkeit? Dies war ihre Antwort:
novo, in-iAis liuxiäv non iuckvt Aimäis, tÄtum.
(Sieh, es verweigert der Gott dem Naseweiseren Gutes.)
Von da an suchte ich der Sache auf den Grund zu kommen, fand aber
nur das eine, daß die Göttin in höchst scharfsinniger und versgewandter Weise
eine Reihe von Hexametern zusammengestellt hatte, deren einzelne Füße in
beliebiger Zusammensetzung neue sinnreiche Hexameter ergaben. Die drei Hexa¬
meter z. B.
sind so gebaut, daß jede Wvrtgruppe (Fuß) des eiuen Hexameters mit der
entsprechenden Gruppe des andern vertauscht werden kann, ohne daß der
Prosodische Bau des Verses oder sein orakelhafter Sinn beeinträchtigt wird:
Es kann also kombinirt werden:
Lkmta xstis, audis solvst tibi xrii-sol^ K^tuo
oder: .lurs c^uiäow dowinans comxlodit til-Iio, ni>mon
oder: Lrsdo, soi^s, ein1>lo vomxloliii pr^simile dio ^unus u. s. w.
Eine abschließende Weissagung ist also, sobald die Grundherameter gegeben
sind, erreichbar; aber schlau und sinnreich ausgedacht ist, daß die rein willkür¬
liche Silbenzahl der Wörter, die die Frage bilden, zu den Buchstaben führen,
die die Wörter des Hexameters darstellen. Die Frage: Werden wir einen
sonnigen Herbst haben? ergiebt für die einzelnen Wörter als Vuchstabeuzahl:
6, 3, 5, 8, 6, 5. Enthält ein Wort eine die 9 überschreitende Buchstabeuznhl,
so wird ihre Differenz zu 9 in die Berechnung eingesetzt (z. B. Grenzboten
10 — 9 — 1). Sodann addirt man von rechts nach links je 2 aneinander
grenzende Ziffern, schreibt die Summe oder die um 9 verminderte unter die erste
rechts stehende Ziffer und wiederholt diese Addition mit der 2., 3. u. s. w.
Reihe bis zur Schlußzahl, demgemäß:
Die sechs rechtsstehenden Ziffern von unter gerechnet, also 6 1 7 7 2 5
werden im Schriftchen nunmehr auf drei kunstvoll oder, wenn man will,
mysteriös zusammengestellte Tabellen übertragen und ergeben zuletzt gewisse
Zahlenreihen. Aus der Schlußtabelle werden endlich mit Hilfe dieser Zahlen¬
reihen die einzelnen Buchstaben des Hexameters gewonnen. Sie vor allein
ist es, die Unglaubliches zu leisten scheint. Sie mechanisirt den Geist. Sie
enthält nämlich die Zahlen 1 — 161 in 7 Kolumnen, 1 — 23 die Buchstaben
ir bis 2 (v— u; ist kein lateinischer Laut); 24—46 aa, K», «z», 6a u. s. w.
bis 2a; 47—69 die o-, 70 — 92 die i-, 93 — 115 die o-, 116—138 die r-
und 139 — 161 die ^-Kombinationen. Aus diesem also rein äußerlich
zusammengestellten Ziffernwerk holt Pythia, den Frager in ein von Buch¬
staben zu Buchstaben wachsendes Staunen setzend, ihren Spruch; ihre
Laute runden sich nicht nur zum Vers, sondern geben auch einen divina-
torischen Sinn, im vorliegenden Falle mit überraschender Schlnßwendung:
^uro olisnim äominünK vovot liidi tÄlin, trio srmus.
(Ja, du verdknsts, »och das laufende Jahr stellt solches in Aussicht.)
Den Böotiern hatte die delphische Göttin in einer Zeit der Dürre em¬
pfohlen, sich vo» Trophonios in Lebadeia das Mittel, wie das Land zu Regen
kommen könne, sagen zu lassen. Die Männer thaten, wie ihnen geheißen
worden war, und stiegen nach mancherlei Waschungen, Salbungen und aller¬
hand Zeremonien in das Adyton des Gottes, in die Windungen einer dunkeln
Höhle hinab, wo heilige Schauer bis zum Todesgraueu ihre Seele überkamen.
Erst allmählich, berichtet Pausanms, kehrte ihnen der volle Verstand zurück,
aber das Lachen kam keinem wieder, der den Trophonios befragt hatte. Die
rociivivii ist eine gnädigere Göttin; wenn dn hinabtauchst in das scheinbare
Jrrsal der Ziffern, dann beschleicht dich auch eine Art geheimes Grauen, wie
in verhaltener Kraft arbeitet der Geist, während sich Buchstabe zu Buchstabe,
wort- und sinnrnndend, fügt, bis sich beim Daktylus des fünften Fußes die
verhaltene Spannung der Seele löst und beim Schlußfuße dem wohligen Ge¬
fühle über die gefuiidne Wahrheit, ja wahrhaftig auch einem Lächeln über
den — geistreichen Schwindel Raum giebt, der in der lebendigen Kraft sinn¬
voller Rede aus diesen toten Zahlenreihen wie ein betäubender Duft aufsteigt.
Denn diese Tabellen mit ihren griechischen Lettern und den zahlreichen, wohl
beabsichtigten Druckfehlern haben in der That keinen andern Zweck als ver¬
wirrend zu wirken und so dem schlau angelegten Spiele den Zauber des
Mysteriösen zu wahren.
Sie sind an sich völlig überflüssiges Brimborium. Es bedarf gar keiner
Waschungen und Riten, keiner Rechnungen, keiner um- und Irrwege durch sie.
Neun Grnndhexameter, die einem im Jahre 176« in Köln erschienenen kabbali¬
stischen Weissagebüchlein*) entnommen zu sein scheinen, beantworten beinahe
sofort jede an die Göttin gestellte Frage ohne den Hokuspokus der Tabellen¬
ziffern. Es sind die Hexameter:
Man sieht, sie sind (abgesehen von den falsch gemessenen tliönm und vövvy
äußerst geschickt gebaut. Sämtliche Füße können beliebig, nur immer in rechter
Reihenfolge, vertauscht werden, und immer ergiel't sich ein leidlicher Sinn, oft
mit „beabsichtigten" Dunkelheiten.
Das gekürzte Verfahren führt nun schnell zum Ziele. Wir fragen: Wird
mir mein Lieblingswunsch wohl erfüllt werden? und zählen die einzelnen Worte
nach der Zahl ihrer Buchstaben, also:
dann addiren wir von rechts beginnend immer zwei benachbarte Ziffern, also:
gewinnen also als Schlußzahl: 4 2 5 9 6 4, das heißt, dem vierten
Hexameter der obigen Grundtabelle haben wir den ersten Fuß des neuen
Distichons, dem zweiten Hexameter den zweiten Fuß, dem fünfte» Hexameter
den dritten Fuß, dem neunten Hexameter den vierten Fuß, dem sechsten Hexa¬
meter den fünften Fuß und dein vierten Hexameter den sechsten Fuß zu ent¬
nehmen, und die Antwort lautet:
podis! podis äoruMt iabila, hians.
(Großes erbiethe du! Der Gott schenkt jubelnde Freude den Wünschen.)
wobei die Verwendung von vous im Hinblick ans „Lieblingswunsch" in der
Frage von überraschender Wirkung ist.
Den Grenzboten hat, wie ich sehe, die Seherin ihre Gunst in hervor¬
ragender Weise zugewandt. Du fragst: Werden die Grenzboten bald Auflage
hunderttausend erreichen? erhältst die Zahlen:
und addirst:
Die Schlußzahl: 2 8 7 4 8 5, auf die Tabelle gebracht, ergiebt die in
ihrem Anfangs- und Schlußfuße überwältigende Antwort:
,I,8ta optas, cloiuina-us 8n1vol tibi prA-call Kio turuf.
(Weil du es wünschst, wird dies laufende Jahr dich also belohnen.)
Nicht minder gnädig beantwortet die Göttin die andre Frage: Werden die
Grenzboten denn ihre Konkurrenten schlagen?
Schlußzahl: 7 3 7 6 9 2: Antwort:
Ritts, solas, dominus pr,ioäioiti ä«tila rmmsn.
(Viel Glück, wisse, verheißt der waltende Gott nach Verdienst dir.)
Nach solchen Ermutigungen wirst du etwa übermütig und unbescheiden; wie
ein Grobian setzest du der Göttin die Pistole auf die Brust und fragst: Nur
mit der Rede ° heraus, wen lesen die Leser am liebsten? Da mußt du
erfahren, daß sie mangelnder Ehrerbietung sich versagt, milder, gütiger,
ja feinsinniger als ihre klassische Schwester, aber immerhin, sie versagt
sich. Aelian (Ilk, 44) berichtet, daß, als die Sybariten einst einen Sänger
neben dem Altar der Here ermordet hatten, eine Blutquelle plötzlich in dem
Tempel hervorgesprudelt sei. Über dieses Wunderzeichen erschreckt sandten sie
"As Sybaris einen Boten nach Delphi, und dieser erhielt von der Göttin zur
Antwort: „Fort von meinem Dreifuße. Das Blut an deinen Händen hält
dich von meiner Schwelle zurück. Ich will dir nicht antworten. Du hast die
Rache des Gottes nicht gefürchtet, nun wird die Züchtigung nicht auf sich
warten lassen, und die Schuldigen werden ihr nicht entgehen, und stammten
sie selbst von Zeus ab." Im Busen der roäiviv-i tobt der göttliche Grimm
nicht so wild. Sie antwortet dir:
NiU» pfeif, msrilo non mäht tslia, ooslum.
(Tausenderlei dn erfragst, doch der Himmel verweigert mit Recht dirs.)
Ist das nicht eine feine Abfertigung der Naseweisheit? Pythia begnügt
sich damit nicht; sie giebt zu verstehen, daß sie um Suard, -mswe-rs nicht
verlegen ist. Es sieht nämlich jeder, daß, da im ganzen 531441 Lösungen
möglich sind, es höchst unwahrscheinlich ist, daß ans die sachlich gleiche, aber
in andre Worte gekleidete Frage dieselbe Antwort kommt. Du wüuschst eben
eine bestimmte Autwort und fragst von neuem, indem du die Form der Frage
änderst: Wer liefert deu Grenzboten die schönsten Aufsätze? da verweist sie deine
Neugierde auf die Zeit und deine — Einsicht:
vie-v, wÄg'is -isrto <IonaI)it, talia. tomxus.
(Dies offenbaret gewiß die Zeit deiner Einsicht: so sag ich.)
Wenn du MM den strafenden Verweis abschüttelst und in deinem weiheloseu
Sinne weiter fragst: Wer schreibt den Grenzboten die besten Aufsätze? ant¬
wortet sie:
Nilig xotis, livitn <1ann.1M ^üuäirr rio Anruf.
(Allzu viel du erfragst, dies Jahr noch erfreuet mir Recht dich)
Das ist doch keine volle Abweisung. Du willst sie auf die Probe stellen und
änderst noch einmal die Form deiner Frage: Wer schreibt den Grenzboten die
lesenswertesten Arbeiten? Da verhüllt die Seherin ihr Antlitz: „Fort ans
meinem Heiligtume, mehr will ich dir nicht antworten." Manche Antwort ist
ja keine Antwort. Wie lautet sie hier?
Nikko xotis, lioito bon-rbit, Akurüiit tuo irnuu».
Das ist genau derselbe Spruch, deu sie dir auf eine anders geformte Frage bereits
gegeben hatte. Sie will eben nicht mehr gefragt sein, und nun — schweigst du.
Soll ich es auch? Ich habe mich zu ihrem. Anwalt gemacht, möchte sie
also nicht im Zorn von uns scheiden sehen und sie doch etwas rechtfertigen.
An deu Gott in Dodona wandte sich in allen wichtigen Angelegenheiten des
nationalen Lebens, in politischen Zeitläuften, bei Krieg und Pestilenz das
griechische Volk, um aus dem Rauschen der heiligen Eiche, dem Murmeln der
wunderbaren Quelle und dem Erzklange des dodonischen Beckens den Schicksals¬
spruch zu vernehmen. Die hannoversche Pythia versagt uns anch in den weiter-
ansgreifenden Fragen des allgemeinen Interesses ihren Spruch nicht. Sie
geht nicht ganz mit der Sprache heraus und bietet manchmal rätselhaftes
und schwer erklärliches; aber damit weist sie ja gerade den charakteristischen
Zug ihrer klassischen Ahne aus. Auch die Delphieriu war nicht immer gut
inspirirt. Apollo führt um der Dunkelheit seiner Sprache willen den Beinamen
Loxias, der Dunkle. Wir misten, daß im Altertum um dieser divinatorischen
Dunkelheit willen der Glaube an die Weissagung des angerufenen Gottes kein
unbedingter war. Die schlauen Griechen griffen dann zu dem einfachen Hilfs¬
mittel, die Probe auf deu Spruch zu macheu. Bekannt ist der Bericht des
Herodot, demzufolge Krösus vor dem Beginn des persischen Feldzuges von
der Gottheit einen Spruch über die entscheidende Frage suchte, ob er sich in
eine Unternehmung gegen die Perser überhaupt einlassen solle. Um sicher zu
gehen, wollte er den Gott auf die Probe stellen. Er sandte Lyder aus zu
sämtlichen ihm bekannten Orakeln, mit dem Auftrage, am zwanzigsten Tage,
von dem Tage ihres Aufbruchs an gerechnet, den Gott zu fragen, was König
Krösus jetzt wohl mache. Die delphische Pythia zögerte nicht mit der Antwort:
Nimmer die Tiefe des Meers entgeht mir, die Menge des Sandes,
Sprcichlosbleibeude hör ich, versteh Taubstumme nicht minder.
Mir zu der Nase jetzt dringt Schildkriitengedüfte herüber
Mit Lammfleische vereint zusammengekvchet im Erze,
Erz ist drüber gedeckt, und Erz ist drunter gebreitet.
Die Gesandten kamen zurück und meldeten in Scirtes ihre Sprüche. Die
andern, uns nicht bekannt gewordnen mißfielen dem König. Das delphische
aber machte einen tiefen Eindruck auf ihn; denn an jenem zwanzigsten
Tage hatte er in den geheimen Gemächern der Königsburg zu Sardes etwas
gethan, was auszusinnen oder aufzufinden er für unmöglich hielt. Er hatte
nämlich eine Schildkröte und ein Lamm in Stücke schneiden und beides zu¬
sammen in einem kupfernen Kessel, der zugleich einen kupfernen Deckel hatte,
kochen lassen. Pythia hatte also die Probe glänzend bestanden. Mit reichen
Geschenken, unter denen die 117 Halbziegcl, ein goldner Löwe, der Halsschmuck
und ein kostbarer Gürtel der Königin berühmt geworden sind, gingen des
Königs Gesandte zum zweitenmale nach Delphi, nun mit der Hauptfrage, ob
ihr Herr gegen die Perser ziehen solle. Es kam die bekannte Antwort: Wenn
Krösus über den Halys geht, wird er ein großes Reich zerstören. Hoch er¬
freut über den Spruch, der ihm deu Sieg über den Emporkömmling Cyrus
zu verheißen schien, fragte er in seinem erregten Verlangen zum drittenmale,
ob seine Herrschaft lauge dauern würde. Er erhielt zur Antwort:
Wenn ob dem medischen Volk dereinst wird herrschen ein Maultier,
Dann, Zartfüßiger, flieh zum Ufer des steinigen Hermos
Fort, und halte nicht Stand, und der Feigheit schäme dich nimmer.
Keine Antwort unter deu bisherigen erfreute den König wie diese. Wie sollte
ein Maultier an Stelle eines Königs über die Meder herrschen? Nun schien
vor dem persischen Ansturm seine und seiner Nachkommen Herrschaft fest ge¬
gründet zu sein. Er unternahm deu Krieg — sein Ausgang ist bekannt.
Als der gefangne König dem delphischen Gotte seine Ketten mit dem Vor¬
würfe überschickte, er sehe wohl, daß die griechischen Götter undankbar und
trügerisch seien, gab Pythia dem König, vielgewandt und schlau, den Vorwurf
mit dem Bedauern zurück, daß sie gegen das Schicksal machtlos sei: er sei
zwar ein frommer, aber mich ein unüberlegter Mann, denn bei dem einen
Orakel habe er nicht gefragt, welches Reich gemeint sei, und bei dem andern
nicht bedacht, ob das Maultier nicht auf den Cyrus passe, der von Eltern
geboren sei, die weder eines Volkes, noch eines Standes gewesen. Da er¬
kannte der König, daß nicht die Götter, sondern er selbst anzuklagen sei, und
ertrug williger sein Geschick.
Der Gott also lehnte es ab, seine Weisheit meistern zu lassen. Dem
mächtigen und frommen Lyderköuig hat die ungelehrte Pythia eben ein
Schnippchen geschlagen trotz aller seiner Schlauheit. Ob die reäiviva ihrer
Urgroßmutter in dieser Beziehung über ist, werden wir gleich sehen. Eine
gewisse Rechthaberei ist, wie sich schon zeigte, ihrem dwinatorischen Geiste
nicht abzusprechen.
Ich sehe es im Hinblick auf das mechanisirte Fragwerk als eine nicht
üble Probe an, ihr dieselbe Frage in wechselnden Formen vorzulegen und
die Erwartung an sie zu stellen, daß sie in der Sache bei ihrem Spruche
bleibt. Nicht ohne Überraschung habe ich nun gefunden, daß sie auf meine
Fragen uach einem neuen Besuche der Influenza, nach dem viel besprochnen
englischen Bündnis und nach dem Ausgange des uus bevorstehenden Weltkrieges
mit Beharrlichkeit ihren ersten Spruch verteidigt. Auf die Frage: Ob nächstes
Jahr die Influenza wiederkehren wird? erfolgt die Antwort:
Lovo, ludsns voiis vovst tibi tosüsr», VÄI'MSN.
(Siehe, der gnädige Gott ist deinen Wünschen verbündet.)
Oder: Wird uns nächstes Jahr die Influenza noch einmal bringen?
Nikko, solas, moi'it,», xrg,v(non, ooiumoil» tat-um.
(Wie dus verdienst, so verheißt das Geschick viel Gutes, das wisse!)
Oder: Haben wir noch einmal die Influenza zu fürchten?
^uro, oxtg.8, t's.uLto vovvt tibi xi's,venin, numsn.
(Gutes, du wünschst es, verheißt die Göttin mit Recht dir Beglückten.)
Der böse Gast kommt also nicht wieder.
Nicht minder bestimmt bleibt Phthia bei ihrem Spruche über die eng¬
lische Hilfsflotte im bevorstehenden Weltkriege. Uns will sie in dieser Frage
nicht wohl, und für die Engländer hat sie sogar eine Bosheit. Ans die Frage:
Haben wir von England im Kriegsfalle Hilfe zu erwarten? antwortet sie:
vivo, iniigis k»usto xrowitititi 8aovula> sumsn!
(Ihre Hilfe verheißt dem mehr Beglückten die Gottheit!)
Heißt das nicht, sich auf die Engländer und ihren Krämergeist trefflich ver¬
stehen? Ich finde ferner, daß sie mit ihren: beharrlichen unius die mangelnden
Sympathien für uns zu decken sucht. Wird im Kriegsfall England zu uns
stehen?
Uonno Hui<Zom <!uoio üonlidit oommoäk tnmiius?
(Ob dir die Zeit viel Glückliches bringt, sehr zweifelhaft scheint mirs.)
Oder: Wird im Kriegsfall England uns beistehen?
Dloo, satis tendis solvvt t,nu xrospora, oovlnm.
(Dies mein Spruch: sehr zweifelhaft ist, ob dir Gutes beschert ist.)
Diese Antwort gefällt uns nicht; wir ändern, um die Seherin günstiger zu
stimme», das Endwvrt durch Beseitigung des ganz unwesentlichen e, um —
uoch viel schlechter zu fahren: Wird England im Kriegsfall uns beistehn?
Ists, ludvus (Uidio praociivit r^kia tomMS.
(Dies sagt dir sehr zweifelhaft zu der Gott, und es freut ihn.)
Mit ihrem ganzen Unwillen aber lehnt sie die letzte Frage und in ihr, wie¬
wohl dnrch das oronta» ein wenig verklausulirt, die englische Hilfe ub: Wird
im Kriegsfall England uns beistehn?
lui'vno, Intimus liviro non iiillot t-Mg, tsmpus.
(Gern und mit Recht auch versaget die Zeit dir solches: so glaub ich.)
Endlich: nicht minder klar hat die Göttin die Zukunft der sozialdemo-
kratischen Ideen vor ihrem geistigen Auge. Sie setzt ihrerseits die Herren
Bebel und Liebknecht ins Recht: sie haben sich die Zukunft sogar verdient.
Wird die Sozinldemokratie im Kampfe noch siegen?
Ist^ »imis wol'ito ünmplsbit, enim, lÄtllill.
(Solches alles erfüllt das Geschick, weils mehr als verdient ist.)
Oder: Werden die sozialdemokratischen Träume sich noch verwirklichen?
'lallte vtonim (IviuinÄllS vovot tibi sasonia t,0inxus.
(Ja, diese Weltordnung stellt die waltende Zeit dir in Aussicht.)
Oder: Werde» sich die sozialdemokratischen Utopien erfüllen?
Ist,^ vtonim viMlto xiÄöiiicit labil^ tomxus.
(Diesen Triumph fürwahr sagt zu dem Wunsche die Gottheit.)
Was, lieber Leser, haben wir von der Sache zu halten? Verzeihe mir
das Bild: ein Dienstmädchen sagt zum andern: „Höre, das war aber eine
gescheite Frau, man merkte es ihr gar nicht an," und erhält von der andern,
die von dieser Frau weniger erbaut ist, die Antwort: „Du, ein bischen dumm
ist am Ende jedes, aber so dumm wie mancher ist doch eigentlich keiner."
Unsre Pythia ist auch eine gescheite Frau, aber man merkt es ihr nicht an!
Die Göttin rast und will ein Opfer haben: Werden wir im kommenden Welt¬
kriege Sieger sein?
I)in',o, fois,s, murito vovst, tibi xi'iwmia, tvniMs.
(Wisse den Spruch: Es verheißet die Zeit viel Glück nach Verdienst dir.)
und: Werden wir im kommenden Weltkriege die Sieger sein?
^uro, follis, -wdis xromittit, x^uäiu, tÄtnm.
(Wisse, mit Recht verheißt das Geschick ein zweifelhaft Glück dir.)
Cove, Evoe, es lebe und gedeihe der klassische Schwindel!
aß unser Freund Mahlmann keine ganz tadellose Vergangenheit
hatte, erfuhren wir allmählich mit den zunehmenden Jahren.
Aber ich muß es leider gestehen, wir machten uns gar nichts
daraus. Wir fanden es sogar sehr interessant, daß er im Zucht-
hause gewesen war, und daß er zu verschiednen Zeiten die Be¬
griffe von mein und dein verwechselt hatte. Er selbst sprach, wenn er gerade
Laune hatte, mit großer Offenheit von seine» Fehlern, und er entdeckte manch-
mal Wahrheiten, die erwachsenen Leuten wie Gemeinplätze vorkamen, von uns
aber mit großer Andacht vernommen wurden.
Ja ja, pflegte er zu sagen. Ehrlich währt am längsten! hätt ich das
man eher gewußt! dann wär allens besser gewesen. Aber nun sitz ich da
und habe nix und kann nix und hätt doch ein reichen Mann sein können,
wenn ich man bloß ehrlich gewesen wäre. Aber dazumalen, als ich jung war,
lernte man noch nix, und nu is es zu spät.
Es klang das immer, als wenn die Folge der Ehrlichkeit Reichtum sei»
müßte, und aus diesem Grunde das Befolgen des siebenten Gebotes zu em¬
pfehlen wäre. Daß mau auch ehrlich sein könne, ohne gleich die Belohnung in
klingender Münze zu erhalten, kam Mahlmann gar nicht in den Sinn. In¬
folgedessen gab es natürlich Leute, die ihn einen alten Spitzbuben nannte»,
der nicht einmal die Sünden seiner Vergangenheit bereue, sondern nur außer»
Vorteiles wegen bedaure, kein ehrlicher Mann geblieben zu sein. Wir Kinder
aber besaßen noch nicht soviel Unterscheidungsvermögen und hätten den alten
Mann ungern in unserm Freundeskreise entbehrt. Er that auch keinem Men¬
schen etwas, und er war so einsam und allein, wie wenige. Früher, als er
noch gehen konnte, war er aufs Laud gewandert, um alte Freunde zu besuchen,
auch wohl hin und wieder etwas zu betteln; aber jetzt versagten ihm die
Glieder, und er sah sich auf die Mildthätigkeit seiner Mitmenschen angewiesen.
Nur daß er manchmal einen Dank aussprechen mußte, wo ihm eine Gabe halb
widerstrebend, halb gleichgiltig gereicht worden war, das machte ihm verdrießlich
und gallig, das fraß an ihm, sodaß er dann böse Worte sprach, die ihn: selbst
am meisten schadeten. Denn das Geschlecht der Wohlthäter ist von jeher ein
anspruchsvolles gewesen, das mit Samiuetpfötchen angefaßt werden will, wenn
es nicht, über den Undank der ganzen Welt schreiend, mit stvlzerhvbuem Haupte
sich vou allein Geben zurückziehen soll. Wir Kinder aber verlangten keine
gerührten Dankeshymnen, wenn wir Großvaters Köchin allerlei Gutes für
unsern Freund abgeschwätzt hatten. Wir waren ja satt, Nur brauchten die
Lebensmittel nicht, die wir lustig davontrugen, unsrer Ansicht nach war unser
Großvater ein reicher Mann, dem es nicht darauf ankommen konnte, ein paar
Arme satt zu machen, und mit strahlenden Gesichtern polterten wir zu Mühl-
mann hinein: Hier ist etwas für dich! Slina wollte es uns nicht geben;
aber wir liefen damit weg, und sie konnte uns nicht einholen! Dann lüftete
der Alte den Korbdeckel, um den Duft der Speise einzuatmen. Gebratne
Klöße! sagte er schmunzelnd. Mit Speck gebraten! Kinners, nun werd ich
mal wieder gesund! Deal was die echten, rechte» Klöße sind, mit denen muß
mau einen erwachsene» Kerl ein Loch in den Kopf smeißen können. Und wer
die aufm Totenbett zu essen kriegt, der lebt noch wenigstens ein Jahr länger,
so gesund sind sie! Abers mit Speck müssen sie gebraten sein, mit richtigem
Sweinespeck, sonst is das nix!
Miihlmcmn legte sich bei diesen Worten in seine Kissen zurück — er lag
nämlich im Bett — und nickte uns zufrieden zu. Ihr seid gute Kinners,
sagte er; ihr wißt, was ein alten Kerl haben muß, um ein büschen lustig zu
werden!
Mahlmanns Lob war uns sehr schmeichelhaft, und um ihn noch mehr
aufzuheitern, erzählten wir, daß wir bald ein Schwein schlachten würden, eine
Nachricht, die den Alten förmlich aufregte.
Sweinslachten! sagte er. O du himmlische Dreifaltigkeit, was Swein-
slachten doch füm schönes Fest is! Da is Weihnachten gar nix gegen. Und
was hab ich manchmal füm Spaß gehabt bein Sweinslachten! Wenn ich an
Jochen Friederichsen sein Swein denke, dann muß ich heute noch lachen!
Setzt euch man ein büschen, Kinners; dann will ich euch den Spaß man
gleich erzählen. Abersten die gebraten Klöse muß ich dabei essen, sonst ver-
swiemeln mich die Gedanken!
Das ließen wir uns nicht zweimal sagen. Bald saß Mahlmann aufrecht
im Bett, verzehrte sein Lieblingsgericht, und wir saßen um ihn herum. Und
uun begann er mit den Worten, mit denen er jede Geschichte anfing.
Ja, Kinners, was ich man noch sagen wollte — Jochen Friederichsen
sein Sweinslachten, das war spaßig. Nu is das all lange her; denn dazu-
malen, da hatte man noch ein vergnügtes Leben hier, was heutigentages
ganz vorbei is, weil jedermann langweilig geworden is und immer an die
Gesetzen denkt. Liebe Zeit, ich wußte von all die dummen Gesetzen nix; kein
Mensch hat mich die vorgelesen, und das hab ich auch die Herreus gesagt,
die nachher ein großen Skandal machte» und sagten, wir hätten gestohlen.
Als wenn wir jemals was von die Arums genommen hätten! Bloß ein
büschen von die Neicheus. Aber die stellen sich ja immer so an. Und Jochen
Friederichsen war anch so einer, der »ich mal ein Ferkel aus» Stall missen
mochte. Da war ein Bekannter von mich, der mochte so furchtbar gern Ferkel
leiden, und als er einmal bei Jochen Friederichsen sein Sweinstall vorbeikam,
da nahm er halb in Gedanken zwei oder drei von die kleinen niedlichen Dinger
mit. Na, und das weiß ja ein neugebornes Kind, daß so'n richtiges Mutter-
swein ümmer nach seinen eignen Kopp geht und keinen Menschen um seine Mei¬
nung fragt. Da läuft denn auch Jochen Friederichsens San mit einemmale
hinter meinen Bekannten her und will parens nich wieder in Friederichsen seinen
Stall hinein; und was nun mein Freund is, der ein gutes Herz hat, und der
so'n unvernünftiges Vieh nich mitten in die Nacht aufn offnen Felde lassen
will, der nimmt das alte Swein ans purer christlicher Barmherzigkeit mit in
sein eignes Haus. Und weil er ein büschen swach von Gedächtnis war, so
konnte er sich uicht besinnen, aus was füm Stall die alte San gekommen
war, und weil in seineu eigen Hans nich viel Platz war, so hat er das Tier
geslachtet, weil daß er doch nich wollte, daß so'n gutes und nützliches Vieh
Heimweh kriegen sollte nach den andern kleinen Ferkeln. Von dieser Geschichte
hat Jochen Friederichsen einen unbändigen Skandal gemacht. In die Stadt
is er geritten und hat es angezeigt, daß seine San verswnnden wär, und hat
sich benommen wie ein unvernünftigen Menschen. Denn da kann doch keiner
was für, wenn sein Swein sich mal in die Welt umsehen will, und es is
delischen ordinär, denn gleich von Dieben und Diebsbande zu sprechen. So
haben denn viele von meine Freunde einen delischen Pik auf Friederichseu ge¬
kriegt, und das war stimm, weil da wirklich gebildete Menschen mit mang
gewesen sind. Überhaupt so reiche Leute sind komisch. Wenn der Frühling
kommt, dann kunst der Balbier zu allen hin und stage ihnen die Ader auf,
daß sie ein büschen Blut lassen und bei die Hitze kein Slag kriegen. Obers
sie kriegen was ein our Apteiler, damit sie sinnt werden. An ihrem eigne»
Leibe können sie so was missen, wenn das abersten auf ihren Geldbeutel los¬
geht, dann werden sie fuchswild. Lieber Gott, das is doch auch gesund für
viele Menschen, wenn die Reichens ein paar Thaler lassen müssen!
Mahlmnnn hatte so eifrig gesprochen, daß er das Essen beinahe darüber
vergessen hatte. Jetzt aß er wieder kopfschüttelnd und einige halblaute Worte
murmelnd.
Passirte die Geschichte mit Jochen Friederichsen, als die große Diebes¬
bande hier war? fragte einer von uns.
Der Alte sah deu Frager verdrießlich an. Was ne dumme Frage!
sagte er. Hab ich nich gesagt, daß hier gar kein Diebsbande war? Da waren
ein paar Lenkers, die sich manchmal ein kleinen Spaß machten; das is allens,
und an die Hänser von die Arums gingen sie vorbei. Gebildet waren sie,
viel feiner als die dummen Bauerus hier, die niemals weiter als in die Stadt
gekommen sind und sich auf ihre Geldsäcke was einbilden! Und Gemüt hatten
sie, furchtbar viel Gemüt, was ihr schon um die Verse sehen könnt, die sie
überall angesriebcn haben. Bei einen von die Reichens, wo sie ein büschen
Geld genommen hatten, stand mit Kreide an die Hausthür: „Wir sind unsrer
vier und nich bang vor dir." Bei ein andern, wo sie ein paar Schinken
und Würste ruhn Rauchfang geholt hatten, da hatten sie um die swarze Wand
gesrieben: „Allens was is von Swein, das smeckt fein!" O, da waren noch
viel mehr Verse, ich hab sie man bloß vergessen, weil daß mein Gedächtnis
nich is, wie früher; das aber sag ich euch: mein Swestertvchter, die nu schon
an die dreizig Jahre tot is und die was von das echte Dichten verstand, die
sagte immer, die Verse, die damals mau bloß an die Wand gemalt wurden,
die hätten direktemang ins Gesangbuch gedruckt werden können, so schön waren
sie. Abers dn sind menner Leute, die von sowas keinen^ Begriff haben, lind
Jochen Friederichsen war einer von die dummen Kerls, die bloß ümmer an
ihren Geldbeutel denken. Nix anders hat er gethan, als von die Diebe
snncken, und daß der Pollerzei und Schandarmen hierzulande garnix taugten.
Das mag ja nun kein Mensch gern hören und auch der Pollerzei nich, und
ich glaub, mein Seel, daß bloß von wegen Friederichseil sein Gesuack zwei
Schandarmen mehr von Kiel kamen. Und von so'n Benehmen können die
besten Menschen verdrießlich werden; denn es is »ich angenehm, zu denken,
daß man in einen Moinaug gleich ins Gefängnis kommen kann, bloß weil
Friederichsen sein Mutterswein sich verlaufen hat. Da sind denn auch noch
andre Geschichten passirt, die alle natürlicherweise von die Diebens gemacht
sein sollten. Einmal brannte ein Haus ab. und ein alten Maun, der ein
richtigen Tttndelbüx war, der blieb in Lehnstuhl sitzen und konnte nich ge¬
rettet werden, weil er nich aufstehe,, wollte. Lieber Gott! wenn ich nich leben
will, denn bleib ich tot, da is nix bei zu machen, und kein Mensch kann da
was bei thun. Abersten die Leute wollten keine Näsong annehmen und stellten
sich grasig an, und sie frieher sogar was i» die Zeitung, daß der Pollerzei
nich im geringsten was taugte. Wenn man nu ein büschen eigensinnig is,
denn kehrt mau sich den Deubel um so'n Snack, und so kam es noch ümmer
vor, daß bei die Neichens Besuch kam, der ein büschen was mitnahm. Bloß
bei die Neichens, und denn man bloß ein büschen. Und weil Jochen Friede¬
richsen seine Speziesthaler so lieb hatte, so wurden ihm ein paar Beutel ab¬
geholt. Denn Gerechtigkeit muß sein, und wo man am meisten von hält, das
muß mau hergeben. Und Jochen Friederichsen hat himmelhoch gesworen, daß
er sich rächen wollt, was ein sehr unchristliches Wort war. Abersten so sind
die Reichen. Bei ihren Geldbeutel, da hört allens auf, selbst das Christentum,
das uns' Herr Pastor doch so schön predigen kaun. Und als Jochen Friede¬
richsen in "seinen Kuhstall mal ein jungen Mann sieht, der die Kühe meill,
da stage er ihn halbtot und smeißt ihn dann aufn Wagen und junkerirt mit
ihn in die Stadt zun Amtmann. Ans diese heimtückische Manier is ein ganz
furchtbar guten und netten Manu mit einmal ins Loch gekommen, der doch
weiter »ix gethan hatte, als daß er aus Versehen in ein fremden Kuhstall
gerate» war. Er hat uatürlicheweise gedacht, daß er in sein Vater sein Stall
wär. Abersten die Kruke geht so lange zu Wasser, bis daß sie kaput is, und
als Jochen Friederichsen in Herbst das erste Sweinslachten feierte, wo auch
ein Kuh mit mang war, da aß er so viele Smalzapfelns und frische Leber¬
wurst, daß er mit einem male perdüh war und ein richtigen Slag kriegte.
Zwei Stunde» nachher war er mausetot, und sein Frau, die gerade all das
schöne Kuh- und Sweinefleisch eingesalzen hatte, daß alle Tonnens in Keller
voll waren, die mußte in denselben Mvmang auch noch Kuchen fürs Leicheu-
bier backen. Friederichsen war ein großen Bauer gewesen; da mußten woll
um die zwanzig verschiednen Sorten Kuchens gemacht werden, nud die Wächters,
die bei die Leiche Wache hielten, die kriegten am Tage Kalbsbraten und Rot¬
wein und abends gebratene Klöse mit Speck und nachts Kaffee und Kuchen
nud Punsch. Ja, die Wächters, die lebten sei», und damals wollte ich auch
bei Friederichsen wachen und meldete mir dazu, was doch ein Zeichen von
mein guten Gemüt war, weil daß er auch von mich was Böses gesagt hatte.
Abersten als ich mir bei Frau Friederichsen anbiete, da faßt sie mir an den
Hals und smeißt mir so ohne Sangfassong aus die Thür und sagt, daß ihre
Knechtens bessere Wächter wären, als ich, und schimpferirt so fürchterlich hinter
mich her, daß ich ordentlich swiemelig in Kopf wurde. Weil ich nun aber
ein gutes Gemüt hab, bin ich still weggegangen, und die Wächters, die sitzen
ueben die Stube, wo Herr Friederichsen liegt und snacken und trinken und
essen. Natürlicherweise sind sie vergnügt, von wegen das gute Essen und
Trinken, und die Mädchens, die in die Backstube stehen und Kuchen aufrühren,
die sind eines lustig. Denn ein feines Leicheubier mit Braten und Wein und
Kuchen, das is üminer ein fermoses Fest gewesen, worauf sich jedermann in
Ehren freuen kann. Drei Tage und drei Nächte hatte das Leichenwachen all
gedauert, und an den vierten Tag sollte das Fest und die Beerdigung sein.
Vielleicht, daß nun die Knechtens und Mädchens ein büschen flasrig geworden
waren: ich weiß da nix von, abers denken kann ich mich das. Da war viel
Arbeit ins Haus gewesen: sie hatten auch zwei Kälber geflüchtet und viele
Tauben und Hübners, weil die Verwandtschaft so groß war, und dein Leichen-
smaus doch ordentlich gegessen wird. Da kommt der Tischler mit die Leichen¬
kiste und geht in die Stube, wo Jochen Friederichseu liegt, und will ihn in
den Sarg legen. Mit ein furchtbar dummen Gesicht kommt er wieder aus
das Zimmer, denn Jochen war nich da!
Mahlmcinn schwieg. Er hatte sein Leibgericht behaglich aufgegessen und
reichte mir jetzt die Schüssel.
Er war nicht da? wiederholte ich, starr vor Erstaunen. Wo war
er denn?
Der Alte wischte sich mit einem rvtbaninwollnen Tuche den Mund ab.
Slina kann gut Klöse braten! bemerkte er wohlwollend. Bloß, da muß ein
büschen mehr Speck ein sein, und in die .Klöse ein büschen mehr Eier. Dann
is es ein Essen füm täuschen König!
Aber Mahlmann! rief ich verzweiflungsvoll, wo war denn Jochen
Friederichsen? Du mußt es uus sagen!
Der alte Mann zuckte die Achseln. Das hat er mich jn auch nich ge¬
sagt, wo er war, da weiß ich wahrhaftig kein Wort von. Jochen Friederichsen
lag nich mehr auf sein Totenbett, und all die Kuchens und all die Bratens
waren umsonst gebacken und gebraten, denn da konnte kein Leichenbier sein,
wo die Leiche mit einemmal einen kleinen Spaziergang machte!
Sie mußte aber doch wiederkommen! bemerkte einer meiner Brüder. Aber
Mahlmann antwortete nicht weiter, sondern sah starr auf die weißgetünchte
Wand, an der die Sonne runde Figürchen malte. Das war stimm für
Frau Friederichsen! sagte er dann. Die hatte sich iimmer so viel eingebildet und
meinte wunder was sie vornehm wär, nun kriegte sie nich mal ein ordentliches
Leichenbier, und sie konnte die Kuchens an die Sweine geben. Und dann kam
noch all der Sncick aufn Dorf. Die Leute sagten natürlicherweise, Friederichsen
wäre gar nich tot, er hätt man bloß so gethan; und nu wär er ausgekratzt
nach Merita, wo all die swarzen Heidens sind. Da wollt er sich ne neue
Frau nehmen oder auch zwei, gerade so, wie das da Mode war. Ja, das
sagten die Lenkers, und Mutter Friederichsen mußte allens mit anhören und
konnte uicht sagen: O ihr vermaledeiten Lügeubeutels!
Es dauerte eine ganze Weile, bis wir merkten, daß Mahlmann unter
keiner Bedingung den Schluß seiner Geschichte erzählen wollte. Wir baten,
flehten, schmollten: Mahlmann blieb ungerührt und sprach mit unbefangner
Miene von etwas anderm. Da gingen wir denn endlich in Hellem Zorn fort
und gelobten uns, den abscheulichen alten Mann fürs erste nicht wieder zu
besuchen, und wir führten unsern Vorsatz auch aus. Allerdings mehr zufällig,
denn es kam damals eine Seiltänzergesellschaft in unsre Stadt, deren Leistungen
uus so entzückten, daß wir unsern alten Mahlmann ganz darüber vergaßen.
Wenn wir auch nicht immer in das Innere des vielfach geflickten Zeltes ein¬
treten konnten, so war es doch schon ein köstlicher Zeitvertreib, stundenlang
vor dem Künstlertempel zu stehen und andachtsvoll die dicke Frau an der
Kasse oder den klugen Pony Zampa oder die reizende Miß Kitty anzustarren.
Und nach den Seiltänzern kam der General Montecucculi. Er war gerade so
groß wie unser dreijähriger Bruder, trug eine wundervolle Uniform und er¬
zählte auf einem Tische stehend mit piepsiger Stimme, daß er in Eckernförde
geboren sei. So kam es, daß Wochen vergingen, ehe wir wieder an Mahl¬
mann dachten. Erst als in unserm Städtchen ein sogenannter Pferdemarkt
war, an dem sich aber mir etliche magere Kühe und eine Frau mit geräucherten
Aalen beteiligten, fiel mir der Alte wieder ein; denn er hatte eine besondre
Leidenschaft für geräucherte Aale. Der Nest meiner Barschaft wurde also für
ein stocksteif geräuchertes Tier ausgegeben, das ich im Triumph durch die
Gassen trug. Erhitzt und aufs äußerste mit nur zufrieden, langte ich bei
Mahlmann an, der vor seinem Fenster saß und meinen Gruß gar nicht er¬
widerte. Auch die Frage, wie es ihm ginge, fand keine Antwort; erst ein
Blick auf den geräucherten Aal löste dem Alten die Zunge.
Nu? lebst auch noch? knurrte er. Gestern da läuteten die Glockens, und
ich meinte, du würdest begraben!
Diese feine Anspielung fand ich höchst ergötzlich und lachte aus vollem Halse.
Nein, Mahlmann, ich bin es nicht gewesen — das war ja der alte
Lorenzen; du weißt, der alte, krumme, der immer so viel Branntwein trank!
Na, denn kommst du vielleicht das nächstemal dran! brummte Mahlmann.
Ich nickte gleichmütig. Viel zu oft hatte ich Tote gesehen und den Be¬
gräbnissen nachgeblickt, als daß der Gedanke ans Sterben meine Nerven erregt
hätte. Aber ein andrer Gedanke durchzuckte mich blitzschnell, und anstatt dem
Alten den geräucherten Aal zu überreichen, legte ich den Leckerbissen auf die
entfernteste Fensterbank.
Was thust du dort? fragte Mahlmann, der jede meiner Bewegungen mit
Argusaugen beobachtet hatte.
Ich machte ein gleichgiltiges Gesicht. O, ich wollte dich man bloß fragen,
ob du nicht ein kleines Stück Papier hättest. Ich möchte den Aal einwickeln
und an unsre Brotfrau schenken — du weißt, an Trina. Sie mag so gern
Geräuchertes!
Als wenn das gesund wäre! murrte der Alte. Alte Weihers und ge¬
räucherten Aal, das paßt nich zusammen! Da kann Trina den Tod von kriegen,
und wer ihr dann den Aal geschenkt hat, der kommt ins Loch. Ja, so is
das mit die neumodschen Gesetzen; da kann man steche bei wegkommen!
Gestern hat Triua einen geräucherten Aal gegessen, ich Habs selbst gesehen;
da kann sie diesen auch vertragen! erwiderte ich.
Der Alte seufzte. Ja, denn geh man zu Trinn; die magst du doch lieber
leiden als mir. Und ich weiß so'ne feine Geschichte! So'ne Gespenstergeschichte,
wo siebenundvierzig Geisters mit einemmale aus die Erde kommen - reine-
mang aus die Erde. Soll ich dich ein büschen davon verzählen?
Ich schüttelte den Kopf. Die Gespenstergeschichten hatten ihre zwei Seiten,
eine helle Tag-, aber auch eine entsetzliche Nachtseite. Auch hatte ich mir etwas
andres vorgenommen. Weißt dn wohl, Mahlmann, daß Hinrich gesagt hat,
Jochen Friederichsen wäre gar nicht wieder aufgewacht, nachdem er drei Tage
tot gelegen hatte? er sagt, du hättest mal wieder gelogen!
Mahlmnnns Augen sprühten vor Zorn. Als wenn Hinrich davon was
wüßt! sagte er verächtlich. Der war dazumalen ja kaum aus der Wiege und
gerade son Dösbaddel als nun!
Die Abneigung Mahlmanns gegen unsern Kutscher Hinrich war uns be¬
kannt und eine Quelle großer Belustigung. Er sagt aber, daß Jochen
Friederichsen damals gleich tot gewesen ist, rief ich, und —
Mahlmann schlug mit der Hand auf den Tisch. Hab ich gesagt, daß er
nich tot war? Meine Zeit! tot war er, und tot blieb er; und das war ja der
Spaß davon, daß die Leuteus sich die Zunge aufn Mund snackten und doch
nich wußten, wo Friederichsen hingekommen war. Und die Geschichte kam in
die Zeitungens, und der dänische König hat sie auch gehört und über Friede¬
richsen sein Verswinden so mien Kopp geschüttelt, daß ihn die Krone mit eins
abgefallen is!
Der Alte sah einen Augenblick starr vor sich hin; dann lachte er ein
wenig. Was nich allens Passiren kann! Von diese Geschichte is viel gesnackt
worden; abersten als Friederichsen nich wiederkam, da wurde der Sarg casu
Boden gestellt, und die Wirtschaft ins Haus und aufn Hof ging weiter.
Zuerst hatte Frau Friederichseu woll zwanzig Spezies Belohnung versprochen
für den, der ihren Manu wieder brächte; aber kein Mensch fand ihm und so
ging allens allmächtig weiter. Weihnachten kam, und denn das Mistfahren,
und denn Ostern, und denn die Heuernte, und denn die Wcizenernte. Und
zwischendurch hatte Frau Friederichseu noch zweimal Swcinslnchtcn gehabt,
und die Knechtens und Mädchens hatten ordentlich Speck und Grütze ge¬
gessen und viel von das Swein- und Kuhfleisch, das unten in Keller in
große Tournus eingesalzen stand. Und ein große Tonne war da, dn hatte
Iran Friederichseu die besten Stücke von die Kuh und das Swein in Salzlake
gelegt, und da wollte sie in Herbst bei. Abers als ihr Bruder sich aufhängte,
weil er nicht wußte, ob er sein Geld in Papieren oder in Hausers anlegen
sollt, da ging Fran Friederichseu doch an die beste Tonne, weil sie ihr
Swiegcrin ein gutes Stück fürs Leichenbier schicken wollt. Abersteu da war
gar kein Kuhfleisch mehr ein; bloß Jochen Friederichseu, der stand in die
Salzlake und war so gut vertvuservirt, daß jedermann ihn direktemang erkannte!
Oh Mahlmann, das hatten die Diebe gethan! rief ich entsetzt.
Der Erzähler sah mich listig an. Da weiß ich nix von, Kind! Ich bin
»ich beigewesen, als sie ihm fanden; abersten die Lenkers sagen, daß Fran
Friederichseu beswiemelt war, als sie ihren Mann mit einmal wiedergefunden
hat. Ja, so sind die Weihers! Erst schreien sie, wenn einer tot bleibt; und
wenn sie ihn wieder finden, dann mögen sie das auch nich! Abers sonsten
war die Frau ganz vernünftig geworden. Als ich hinging und fragte, ob ich
um »ich ein büschen Leichenwnch halten sollt bei Herr Friederichseu, da is sie
ganz manierlich gewesen, hat mich ein paar Spezies geschenkt und ein paar
dicke Würste. Und was so ante Freunde von mich gewesen sind, die haben
auch allerlei gekriegt; abers gewacht haben wir nich. Die Fermilie hat ge¬
meint, wir sollten uns mau nich in Ungelegenheiten setze», und Friederichseu
is flink eingegraben worden. Das is ümmer das beste, wenn man nich soviel
Snackerei von ein kleinen Spaß macht; das hätte sie man früher einsehen
sollen!
Als ich Mahlmann jetzt den geräucherten Aal verehrte, war er sehr be¬
friedigt und versprach mir noch eine schöne Geschichte zu erzählen, wenn ich
ihm bald wieder etwas Gutes brächte. Dieses Versprechen hat er auch ge¬
halten. Aber die Erzählung von dem verschwundenen Herrn Friederichseu
wollte er uns niemals wiederholen; aus welchem Grunde, konnten wir nicht
erfahre». Später habe ich in alten Akten dieselbe Geschichte wieder gefunden;
sie war aber so umständlich und langweilig erzählt, daß ich Mahlmanns
Bericht den Vorzug geben möchte. Eins aber ging aus deu langweiligen Akten
klar hervor, daß unser Freund Mahlmann Herrn Friederichsen in die Salzlake
gesteckt, und daß er zu deu Leuten gehört hatte, die so viel Gemüt besäße»
und so schöne Verse dichteten.
Der Verfasser des unter
diesem Titel erschienenen Buches, Hans Blum, geht von der Thatsache ans, daß
die deutschen Sozialdemokratin seit Aufhebung des Sozialistengesetzes ihre Taktik
einigermaßen geändert haben, indem sie, namentlich um Anhänger ans dem Lande
zu gewinnen, ihre revolutionären Ziele, ihre unpatriotische Gesinnung und ihren
Atheismus in Agitations- und Wahlreden nach Möglichkeit verheimlichen. Er be¬
zeichnet diese Taktik als Lüge und führt den Beweis dafür auf den 422 klein
gedruckten Seiten seines Buches ans der urkundlichen Geschichte der deutschen
Sozialdemokratie und aus ihren Preßerzeugnissen. Die Einteilung des Stoffes
ersieht mau aus den Überschriften der Abschnitte: „Die Entwicklung der Partei
und ihrer Lehre von 1863 bis 1871 ^Druckfehler für 189>I. Die kommunistische
Zulüuftsgesellschaft. Die Vaterlandsliebe unsrer Sozialdemokratie. Die Religion
unsrer Sozialdemokratie. Die Arbeiterfrcundlichkeit unsrer Sozialdemokratie." Als
Beitrag zur Geschichte der Sozialdemokratie ist das Buch von hohem Wert. Durch
seine thätige Teilnahme am Politischen Leben, durch seiue persönliche Bekanntschaft
mit den hauptsächlichsten Führern der deutschen Sozialdemokrntie sah sich der Ver¬
fasser in den Stand gesetzt, eine Menge charakteristischer Züge und Thatsachen mit¬
zuteilen, die bisher nicht allgemein bekannt waren, und die sehr vollständige chrono¬
logische Aufzählung der Schicksale, Thaten und Unthaten der Partei, der wört¬
liche Abdruck ihrer wichtigen Urkunden machen die erste Hälfte des Werkes zu
einem bequemen Hand- und Nachschlagebuche. Aber sein Zweck ist kein wissen¬
schaftlicher oder litterarischer. Es soll „ein Rüstzeug zur Enthüllung und Wider¬
legung der Lügen der Sozialdemokratie" sein. Das Buch soll, heißt es in der
Ankündigung, „allen denen ein Hilfsmittel und eine Waffe sein, die Interesse
nehmen an den in vielen Teilen Deutschlands aus allen Parteien heraus sich bil¬
denden Vereinigungen, die die nachdrückliche Bekämpfung der Sozialdemokratie zum
Zwecke haben. Man hat endlich erkannt, daß man den sozialistischen Wühlereien
bis dahin zu gleichgiltig und zu lässig gegenübergestanden und uur dadurch ^wirtlich
nur dadurch?1 denselben im Mahlgange von 1890 zu zahlreichen Erfolgen ver-
holfen hat. Die sozialdemokrntische Agitation ist zu einer drohenden Gefahr für
das Vaterland geworden, der von nun an entschlossen und energisch entgegengetreten
werden muß. Ju diesem Kampfe, gegen die Partei, die alles vernichten will, was
uns derer und heilig ist: Vaterland, Familie und Ehe, Religion und Treue und
Vertrauen in Wandel und Verkehr, soll das Buch ein Rüstzeug sein." Die pa¬
triotische Begeisterung des Verfassers, sein heiliger Zorn gegen die Bedroher unsrer
idealen Güter und der Fleiß, mit dem er den reichen Stoff seines Werkes ge¬
sammelt und verarbeitet hat, verdienen alle Anerkennung. Der Erfolg jedoch hängt
davon ab, ob seine Voraussetzungen richtig sind oder nicht. Wenn, wie der Ver¬
fasser annimmt, bei uns weder Vvlksnot noch ein Interessengegensatz zwischen der
Kapitalisten- und der Arbeiterklasse vorhanden ist, wenn die soziale Reform, soweit
eine solche nötig war, durch die Reichsgesetzgebung vollzogen worden und von
irgendwelchen begründeten Beschwerden oder berechtigten Forderungen der Arbeiter
nicht mehr die Rede sein kann; wenn alle bisherigen Reformen so ausschließlich
aus dem freiwilligen Wohlwollen der Regierung und der „bürgerlichen" Parteien
hervorgegangen sind, daß sie auch ohne die Arbeiterbewegung erfolgt sein würden,
wenn die Führer der Sozinldemokratcn die grundschlechter Menschen sind, als die
.Haus Blum sie darstellt, dann ist die ganze Arbeiterbewegung nur eine krankhafte
Ncrirrung, die über kurz oder laug überwunden werden wird, und das vorliegende
Buch wird seinen Anteil des Verdienstes dafür beanspruchen dürfen. Sollte es
sich aber Heransstellen, daß wirklich ein großer Teil unsers Volkes von argen
sozialen Übelständen bedrückt wird, und daß sich unter dem Wust sozialdemvkra-
tischer Lügen, Phantastereien und Phrasen auch mancher vernünftige Gedanke
findet, der zur Abstellung jener Adelstände verwendet werden konnte, sollten „Wandel
und Verkehr" so erbärmlich gehen, daß selbst die allerkonservativsten und national-
liberalsten Männer kein rechtes Vertrauen darein zu setze» vermöchten, so würde wahr¬
scheinlich auch in Zukunft eine große Partei der Uuzufrieduen fortbestehen, und es
wäre nicht viel damit gewonnen, wenn sie ihren jetzigen Namen mit einem andern
vertauschte.
Wir wagen die Frage nicht zu entscheiden, sondern wollen nur noch auf zwei
Lücken des Buches hinweisen, die der überzeugenden Kraft seiner Beweisführung
Eintrag thu», und die sich der Verfasser vielleicht bei einer zweiten Auflage aus¬
zufüllen bewogen fühlen wird. Ans Seile 165—175 kritisirt er die Grundlehre
der deutschen Sozialdemokratie, worunter er, wie die Ausführung ergiebt, die
Tauschwertthevrie des „Dalai Lamas" der Svzinldcmokrnteu, Karl Marx, versteht;
er widerlegt diese Werttheorie in klarer und schlagender Beweisführung. Nun ist
aber diese Theorie eine scholastische Düftelei, die unsereiner zur Not, vou den
anderthalb Millionen sozialdemokratischer Neichstagswähler aber wahrscheinlich
keiner versteht, und eine völlig uuverstandne Lehre kann unmöglich eine besondre
Wirkung ausüben. Dagegen steckt in dem Hauptwerke des großen sozialistischen
Theoretikers außer der Tauschwertthevrie noch ein andrer Gegenstand, dein eine
große agitatorische Kraft innewohnt, und der dabei ganz leicht verständlich ist- die
geschichtliche Darlegung des Prozesses, worin das englische Kapital auf Kohle»
andrer Völker und des einheimischen Arbeiterstandes aufgehäuft wordeu ist. Und
dieser historische Beweis ist keineswegs Marxens alleiniges Eigentum oder seine
eigne Erfindung, sondern man kann ihn vollständig ans andern historische» und
volkswirtschaftlichen Werke» schöpfen, deren Verfasser der Sozialdemokratie fern
stehen. Die Frage, ob nicht doch vielleicht die englische Kapitalbildung typisch sei
für die moderne Kapitalbildnng im allgemeine» (wir verstehe» hier uiiter Kapital
uicht das Vollsvermögeu, sondern das Großkapital), darf nicht nmgange» werden,
wo es darauf ankommt, die Sozialdemokratie vollständig ins Unrecht zu setzen'.
Die andre Lücke findet sich in der Polemik gegen den Atheismus der Sozicil-
demokrateu. Haus Blum sagt, die gegenwärtige Taktik der Parteiführer verspottend,
auf Seite 2: „Unsre Sozialdemokratin sind also sehr religiös. Nur behalten sie
sich kleine Freiheiten der Begriffsbestimmung darüber vor, was »lau unter Gott,
Religion, Glaube, Kirche u. f. w. zu verstehen habe, und überall dn, wo ihre eignen
Begriffe von diesen Dingen und unsre Begriffe von einander abweichen, begnügen
sie sich damit, Recht zu haben und uns wegen der bei uns hervortretenden »un¬
wissenschaftlichen Gehirnvergiftnng« zu bemitleiden." Da Hans Blum mit dem
„unsre" und „uus" offenbar die „bürgerlichen" Parteien meint, so setzt er also
diese als eine Gesamtheit gläubiger Christe» den ungläubigen Sozinldemvkrate»
entgegen. Auch in dem Abschnitt über die Religion der Sozmldemokrcitie wird'
die Sache so dargestellt, als ob Marx der Erfinder und Schöpfer des Atheismus
und Materialismus und die Sozialdemokratin in Deutschland die einzige Ver¬
breiterin dieser Lehren wäre. Nun weiß aber doch alle Welt, daß der Atheismus
in allen Kulturstaaten, das fromme England nicht ausgeuounnen, die Religion der
„Wissenschaftlich" gebildeten ist, daß in Deutschland viele der angesehenste« Zei¬
tungen und Zeitschriften, darunter auch solche, die der politische» Partei des Ver¬
fassers dienen, den Atheismus als selbstverständlich vorauszusehen Pflegen, und daß
eine Wochenschrift für die Gebildeten, die gleich den Grenzboten den Mut hat,
sich zum Glauben an den persönlichen Gott zu bekennen, dadurch beinahe ihre
Existenz aufs Spiel setzt. Nur illustrirten Familienblättern gestattet man dergleichen,
indem der gebildete Hausvater sich der doppelten Buchführung zu bedienen Pflegt:
das „Wissenschaftliche" für sich, das Religiös-Erbauliche für Weib und Kinder.
Der eine fromme Professor der Medizin, auf den sich Blum beruft — es wird
ja noch einige solche geben —, bestätigt ja nur als Ausnahme die Regel. Ist es
denkbar, daß sich im Zeitalter des allgemeinen Schnlzwauges und der Presse die
Volksmassen von dem Mitgenuß der „Errungenschaften der Forschung" sollten
ausschließen lassen, daß nach Vernichtung der Sozialdemokratie nicht sofort wieder
andre Organisationen entstehen sollten, die das von den alten Bildungsvereinen
begonnene „Aufklärungswerk" fortsetzen? Den Unglauben der Sozialdemokratie
bekämpfen und dabei den Atheismus der modernen Wissenschaft ignoriren, das ist
so, wie wenn ein Hausbesitzer, dem es in die Bilde regnet, immer nur die faulenden
Dielen ausbessern, die Löcher im Dache aber offen lassen wollte. Vielleicht sieht
sich der Verfasser, bevor er eine neue Auflage veranstaltet, einmal die Verhand¬
lungen der letzten Augustkonferenz über diesen Punkt an.
Den 23. September feiert das
deutsche Volk den hundertjährigen Geburtstag eines seiner Lieblinge, des jugend¬
lichen Säugers und Helden der Freiheitskriege Theodor Körner. Wenn sich auch
erwarten ließ, daß die lebhaftere Aufmerksamkeit, die bei der diesjährigen Wieder¬
kehr des Tages auf deu Dichter gelenkt werden würde, vielleicht auch neues über
ihn und same Kreise zu Tage fördern würde -— eine so reiche Ausbeute, wie
sie in der That gespendet worden ist, hätte niemand zu hoffen gewagt. Der
Lebenserinnerungen Alfred von Arneths, die das anmutige Bild der schönen
Dichterbraut Antonie Adamberger in das hellste Licht gerückt haben, ist in diesen
Blättern schon ausführlicher gedacht worden (vgl. Heft 32). Über den Kreis
der Familie Körner selbst bringt wertvolle Nachrichten das inzwischen erschienene
Werk von Rudolf Brockhaus: Theodor Körner. Zum 23. September 1891.
Leipzig, F. A. Brockhaus.
Aus seiner reichen Aulvgraphensamiuluug, die die deutsche Litteraturgeschichte
Von Gottsched bis auf Heine umfaßt, hat der Herausgeber hier eine Reihe bisher
zum großen Teil uugedrnckter Briefe und Schriftstücke veröffentlicht, die sich auf
die Familie Körner beziehen. Eingeleitet wird die Sammlung durch drei Facsimile,
und alle Leser werden mit uns dem Herausgeber Dank wissen, daß er gleich an
die Spitze den herrlichen Brief Theodors gestellt hat, worin der Sohn dem Vater,
dem treuen Freunde, in ungestümer Freude feine junge Liebe gesteht — man
glaubt es beim Anblick der kühnen Schriftzüge zu sehen, wie die jugendlich kräftige
Hand die Feder hat über das Papier fliegen lassen. Dann folgt ein weniger
bekannter prächtiger Brief Tonis an Theodors Mutter; er ist wenige Wochen
nach Körners Abschied von der Breme und von Wien geschrieben, schildert in
innigen Worten den tiefen Schmerz über die Trennung von dem Geliebten und
läßt doch zugleich den Stolz über seinen männlichen Entschluß durchblicke». „Nie.
ich bitte Sie — schreibt das zartfühlende Mädchen — nie soll Theodor erfahren, was
ich, wie ich leide, aber seiner Mutter, meiner Mutter, darf ich ja wohl gestehen,
daß ich in diesem Augenblicke sehr unglücklich bin. . . . Ich bin bey Tage nie
allein, arbeite viel, spiele fast alle Tage und zerstreue mich so sehr wie möglich,
gher — in der Seele wirds nicht ruhig. Ich habe so viele Leute um mich, und
so wenig Menschen.....Theodors schöner Entschluß hat mich Thränen gekostet,
dennoch war ich glücklich. Nun hab ich keine Thränen mehr, und ich bin unglück¬
lich." Das dritte Facsimile zeigt uns wieder Körners Hand; man sieht es den
wenigen Zeilen auf dem kleinen Zettel an, daß sie in einem unruhigen Augenblick
hastig niedergeschrieben sind: Theodor hat sie am 23. August 1813 aus dem
Biwak bei Kirch-Jesar an den Hofrat Parthey in Berlin gerichtet, der im Begriffe
war, seine Gedichte zu verlegen. Den Hauptinhalt bezeichnen die drei erste» Worte:
„Ich lebe noch." Drei Tage später, noch ehe Parthey dieses „Lebenszeichen" er¬
halten hatte, ist Theodor Körner in früher Morgenstunde gefallen.
Die zweite Abteilung der Sammlung bilden Briefe von Vater, Mutter und
Schwester an Theodor (1808—1813), beigegeben ist ein Brief der Tante Dora
Stock aus dem Jahre 1801 an Christian Friedrich Ludwig, damals Rektor der
Leipziger Universität (übrigens einen Sohn jenes Hofrat Ludwig, bei dem der
junge Goethe zu Anfang seiner Leipziger Studentenzeit den Mittngstisch hatte),
ans dem hervorgeht, daß schon der zehnjährige Theodor oder besser Karl— den»
das war damals »och sei» Rnfname — i» die Uiiiversitätsmatrikel aufgenommen
worden ist. Die dritte Abteilung zeigt uns den ausgelassenen Knaben und Jüng¬
ling in fünf »unter» Briefche» an seinen Busenfreund Fritz Henoch, den artigen
Schüler in einem ebenso sorgfältig stilisirten wie sauber geschriebn»! Aufsatze, der
von weise» Sentenzen überquillt, die vierte endlich bringt eine größere Reihe von
Briefen, Dichtungen und Dokumenten an und über Theodor und die Familie.
Sie führen uns viele der hervorragenden Freunde und Freundinnen des Körnerschen
Hauses in ihren eignen Worten vor; um einen Begriff von der Reichhaltigkeit
dieses Teiles zu geben, seien die Namen Huber, Graf Geßler, Wolzogen, Cotta,
W. v. Humboldt, Streckfuß genannt, auch Theodors Pater Elise von der Recke
und ihre Halbschwester Dorothea, die Herzogin von Kurland, wie seine geistvollen
Wiener Freundinnen Karoline Pichler, Karoline von Humboldt und die Baronin
Pereira fehlen nicht. Von ganz besonderm Interesse ist gleich die erste Nummer
der vierten Abteilung: sie enthält sechs Blätter aus den, Stammbuch Mienen
Körners, darunter vo» Herders Hand folgende, bis jetzt unbekannte Distichen, bei
einem Besuche der Eltern Theodors 1789 in Weimar eingetragen:
Heilge Vestalen werden uns bald die göttlichen Musen,
Wenn nicht der Grazien Chor freundlich mit ihnen sich mischt:Du, von beiden geliebt, der Musen und Grnzieu Freundinn,
Wandle, von beide» geliebt, fröhlich dein Leben hindurch.Schöne Gaben gewährten sie dir; die schönste der Gaben
Ist des genießenden Danks häuslicher stiller Altar.
So großen Dank wir schon für die Veröffentlichung dieses wertvollen Stoffes
zollen nnissen, der Herausgeber ist dabei nicht stehen geblieben: in seinen Erläute¬
rungen beantwortet er gewissenhaft alle Rätsel, die die Briefe dem Leser aufgeben,
wobei er ab und zu auch eine etwas abseits liegende Frage mit freundlicher Aus-
führlichkeit aufklärt,-und als Anhang hat er aus Arneths Lebenserinnerungen, die
als Manuskript gedruckt und deshalb schwer zugänglich sind, die wichtigsten Stellen
über Tonis Beziehungen zur Bühne und besonders zu Körner mitgeteilt.
Die Faesimilewicdergabe der drei Briefe des ersten Teils, die Ausstattung
des ganzen Werkes — ein vornehmer Qunrtbnnd auf Büttenpapier gedruckt — und
die heitere Klarheit, die die Form der Erläuterungen auszeichnet, sind des Namens
Brockhaus würdig.
Was für einen Kurs haben wir? Eine politische Zeitbetrachtniig von Borussen.
Gotha, K. Schwalbe
Der Titel dieser Schrift läßt bereits erraten, was dnrch die Wahl des Mottos
bestätigt wird: „Wahrheit sagen in Liebe muß nicht so erfüllt werden, daß man
die halbe Wahrheit der Liebe und die halbe Liebe der Wahrheit opfert." Preußische
Patrioten prüfen an der Hand der Thatsachen die Fragen, ob wirklich zur Zeit
des Kanzlers Bismarck das politische Leben erstarrt gewesen, und ob, wenn dies
der Fall war, seit Bismarcks Sturze neues Leben erblüht sei? Die Antwort lautet
beidemal verneinend. Dabei führt ihnen durchaus nicht etwa persönliche Verblen¬
dung die Feder. Sie erkennen sehr wohl Bismarcks Schwächen und äußern sich
besonders entschieden über deu Fehlgriff bei der letzten Besetzung des Staatssekretär¬
postens im auswärtigen Amte. Auch wird uicht die Rückkehr des ersten .Kanzlers
gewünscht, wohl aber die Rückkehr in seine Bahnen, und in diesem Sinne ergeht
an alle Vaterlandsfreunde die Mahnung, nicht mit der Wahrheit zurückzuhalten.
Wir wünschen und glauben, daß die Verfasser in manchem Falle zu düster sehen.
Beachtung aber verdienen ihre Betrachtungen in hohem Grade, insbesondere der
Hinweis auf Ähnlichkeiten zwischen der jetzigen Lage und der in den ersten Negie-
rungsjahren Friedrich Wilhelms IV., wo Enttäuschungen nach großen Worten,
Unsicherheit über die Ziele und die Einsicht der Staatsleiter in der Beamtenschaft
teils eine latente Opposition, teils Nullen- und charakterloses Sichfügen und Buhlen
um die Gunst der Machthaber hervorrief.
Aur Beachtung Mit dem nächsten Beste beginnt diese Zeitschrift das 4. Vierteljahr ihres 50. Jahr¬
ganges. Sie ist durch alle Buchhandlungen und postanstaltcn des In- und Auslandes zu
beziehen, preis für das Vierteljahr g Mark, wir bitten, die Bestellung schleunig zu
erneuern. Leipzig, im September isgz Die Verlagshandlung