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]]> V- Jahrgang
Drittes Vierteljahr
is Fürst Bismarck als Kanzler des deutschen Reiches »eben
den politischen Geschicken seines Landes die der ganzen Welt
leitete oder doch in dem Rufe stand, seine Hand überall im
Spiele zu haben, wäre ein Schriftsteller, der sich das in der
Überschrift genannte Thema zum Gegenstände einer Betrachtung
gewählt hätte, leicht in den Verdacht unwürdiger Schmeichelei geraten, oder
er hätte sichs doch gefallen lassen müssen, mit jenen Flngschriftenmachern
und sensationslustigen Feuilletonisten in einen Topf geworfen zu werden,
die die große politische und weltgeschichtliche Gestalt gewaltsam heranzogen,
um ans ihre eigne unbedeutende Person ein helleres Licht zu werfen und einen
Leserkreis zu finden, der ihnen ohne die Einbeziehung des Fürsten Bismarck
in ihre Erörterungen verschlossen geblieben wäre. Wir haben in Zeituugs-
anfsätzen und Flugschriften die gewagtesten Spekulationen über „Bismarck und
das Theater," „Bismarck und die Musik," „Bismarck und die Litteratur,"
„Bismarck und den Humor," „Bismarck und Goethe" n. dergl. in. gelesen, an
denen wenig mehr zu bewundern war, als das Geschick »ud die Zähigkeit,
womit die Verfasser zwischen Personen und Dingen eine Verbindung zu er¬
zwingen suchten, über die nur ein sehr geringes oder gar kein authentisches
Material vorlag. Nach glaubwürdigen Mitteilungen hat Fürst Bismarck
während der letzten zwanzig Jahre nnr zwei oder dreimal ein Theater besucht
und den Komiker Helmerding mehrere male zu Tische geladen. Welche Schlüsse
kann jemand, de/nicht zu den Freunden der Bismarckschen Familie gehört
oder nicht in mündlichem Verkehr mit dein Reichskanzler gestanden hat, daraus
auf seine Stellung zum Theater oder auf seine Meinung von der Schaubühne
unsrer Zeit ziehen? Außer den gewöhnlichen, meist gleichlautenden Dank-
'
schreiben, mit denen Fürst Bismarck als höflicher Manu die häufigen Zu¬
sendungen litterarischer Erzeugnisse beantwortete, liegt uns nur ein bemerkens¬
wertes Urteil im Wortlante vor, das der ehemalige Reichskanzler über ein
Werk eines neuern Unterhaltnngöschriftstellers gefällt hat. Wir glauben aber,
daß mau dem Fürsten Unrecht thun würde, wenn man seinen litterarischen
Geschmack ausschließlich nach dem anerkennnngsvollen Briefe beurteilen wollte,
den er vor sechs Jahren zum Dank für angenehme Unterhaltung „in langen,
dnrch seine Krankheit ihm auferlegten Mußestunden" an den Verfasser der
„Familie Buchholz" geschrieben hat. Wie Friedrich Wilhelm I. sich nur in
tormöntiiz der Malerei befleißigte, so hat Fürst Bismarck vielleicht nur in
körperlichen Nöten zu dem Buche gegriffen.
Nicht viel anders ist es mit seinem Verhältnis zur bildenden Kunst be¬
stellt. Er hat sich von A. v. Werner, von Franz Lenbach und von dem
Engländer W. B. Richmond malen lassen, und zu plastischen Arbeiten für
öffentliche Zwecke hat er, so viel wir wissen und so weit es sich um hervor-
ragende Bildhauer handelt, mir Schayer, Reinhold Begas und Dvnndvrf
Sitzungen gewährt. Das sind sechs künstlerische Persönlichkeiten, die so
ziemlich die entgegengesetzten Pole der verschiednen Richtungen unsrer gegen¬
wärtigen Kunst darstellen, und wenn man daraus wieder einen Schluß ziehen
sollte, könnte man nur sagen, daß Fürst Bismarck entweder, etwa wie in der
Politik, auch in seiner künstlerischen Geschmacksrichtung ein Eklektiker sei, oder
aber, daß er sich eiues eignen Urteils begeben und die künstlerischen Persön¬
lichkeiten an sich habe heraiikvmmen lassen, wie es der Zufall oder gewichtige
Empfehlungen gefügt haben. In engere Beziehungen ist er, wie bekannt, mir
zu dein Maler Lenbach getreten, und diesen wird man demnach als den Künstler
zu betrachten haben, dessen Bildnisse nach der Meinung des Dargestellten des
höchsten Vertrauens oder doch der ernsthaftesten Beachtung würdig siud. Von
'andern Urteilen Bismarcks über Werke der bildenden Kunst ist nichts in
authentischer Fassung öffentlich bekannt geworden. Wie er sich vom Theater¬
besuch aus begreiflichen Gründen fern hielt, so hat er auch keine Kmistaus-
stellnngen besucht. Doch giebt es wenigstens ein gezeichnetes Dokument, aus
dem ein Kunsturteil des Fürsten Bismarck herauszulesen ist: jene mit schnellen
Strichen hingeworfene Skizze A. v. Werners, die den Fürsten mit der dampfenden
Pfeife im Munde schmunzelnd bei der Lektüre von Scheffels „Gaudeamus,"
illustrirt von A. v. Werner, darstellt. In die Sprache des Theaters übersetzt
würde dieses Urteil etwa als ein „Heiterkeits- oder Lacherfolg" zu bezeichnen
sein, und mehr als einen Lacherfolg hat auch die photographisch vervielfältigte
Zeichnung A. v. Werners nicht gehabt, der man mit Recht eine banausische,
um nicht zu sagen ordinäre Auffassung vorgeworfen hat.
Bei einer Besprechung des Verhältnisses des Fürsten Bismarck zur bil-
denden Kunst würde mau also auch mir im Dunkeln umhertappen oder auf
müßige Vermutungen angewiesen sein. Der Gefahr, in den Verdacht der
Schmeichelei oder gar einer besondern Absicht zu geraten, ist man freilich
dabei jetzt uicht mehr ausgesetzt. Denn die Lobredner und Schmeichler des
Fürsten Bismarck sind jetzt so selten geworden, daß die findigsten Detektives
der Freisinnigen von der Wasserstiefelpartei schwere Mühe haben, täglich auch
nnr einen dein Richtbeil der „öffentlichen Meinung" zu überliefern. Wenn
wir gleichwohl den Versuch machen, über die Art, wie sich die bildende
Kunst mit dem Fürsten Bismarck während der letzten dreißig Jahre, seit seinem
ersten Auftreten als Staatsmann bis zu seinem Rücktritt, beschäftigt hat, einige
Betrachtungen anzustellen, so hat sich dazu ein äußerer Anlaß durch zwei
jüngst veröffentlichte Bildersammlungen geboten, die einen Überblick über die
an die Person des Fürsten Bismarck geheftete politische Karrikatur ermöglichen,
das Vismarck-Album des Kladderadatsch und das Buch des in Paris lebenden
Schweizers John Grand-Carteret: Li8irn.roK ein <ZMioawro8.^) Das erste war
ursprünglich als eine Festgabe zum fünfundsiebzigsten Geburtstage des Reichs¬
kanzlers gedacht, kam aber zur Ausgabe, als der Rücktritt des Fürsten von
seinen Ämtern bereits vollzogene Thatsache war. Das Buch des französische,?
Schriftstellers, das sich überdies einen weitern Kreis gesteckt hat, ist erst durch
den Abschluß der amtlichen Laufbahn des Fürsten, zum Teil Wohl auch dnrch
die Veröffentlichung des Kladderadatsch, hervorgerufen worden. Es ist also
in drei Monaten zusammengestellt, geschrieben und gedruckt worden und ist dar¬
nach zu beurteilen. Aus den Sammlungen zu seinen frühern Arbeiten über die
Karrikatur in Deutschland, Österreich, Frankreich und der Schweiz hat der Her¬
ausgeber wohl ein reiches Material zur Verfügung gehabt. Aber die Zeit, die
er sich genommen hat, war zu kurz, als daß er den gewaltigen Stoff hätte
systematisch durcharbeiten und das Eigenartige, das die Karrikatur jedes Volks
kennzeichnet, mit genügender Schärfe hervorheben können. Dafür hat er den
Borzug, der erste zu sein, der einen glücklichen Gedanken mit der bekannten
französischen Geschicklichkeit und —- Skrupellosigkeit in der äußern Anordnung
zur Ausführung gebracht hat, und wenn es in dein Texte, mit dem er seine
Auswahl aus der fast unübersehbaren Fülle vou Karrikaturen auf Bismarck
begleitet, auch nicht an irrigen Auffassungen und Auslegungen fehlt, so sind
die leitenden Gedanken doch fast durchweg als richtig anzuerkennen, und die
Gesinnung, die er kundgiebt, ist die eines ehrlichen Mannes, der für die Größe
des Staatsmannes, der dem in Paris heimisch gewordenen französischen Schweizer
nicht immer sympathisch sein konnte, ein vorurteilsfreies Verständnis hat.
Bevor er auf die Bismarck-Karrikaturen in de» einzelnen Ländern eingeht,
sucht er seinen Lesern eine Vorstellung von der wirklichen Erscheinung Bis-
marcks zu geben, indem er zwei Bildnisse des Fürsten, eins aus dem Jahre
1847 und ein nach den neuesten Photographien aus dem Jahre 1890 für die
Pariser Zeitschrift I^s nionäö illustrs gezeichnetes, reproduzirt und damit die
Beschreibungen französischer Journalisten aus den Jahren 1881 und 1890
verbindet. „Da die Karrikatur die Fälschung des auf die Person lautenden
Passes ist — bemerkt er dabei —, ist es wichtig, den Paß in seiner genanen
Fassung wiederherzustellen." Wie sieht aber diese Fassung aus? Mit den
paar Bruchstücken, die er seinen Lesern bietet, wird sich in Deutschland nie¬
mand zufriedengeben. Schon die Bemerkung des einen seiner journalistischen
Zeugen wird einen starken Widerspruch herausfordern. Am^d«e Pigeon, ein
Franzose, der, nebenbei bemerkt, eine Zeit lang in Berlin journalistisch thätig
war, u. a. als Korrespondent des Pariser Figaro, sagt in seinem 1885 er¬
schienenen Buche I/^1IönmAn<z <is Ur. 1ji«raro>c: „Das Bildnis des Mannes
in seiner natürlichen Erscheinung hat nach meiner Meinung niemand geschaffen,
nicht einmal Lenbach, der nnr die Hnltnng des stolzen Löwen und noch dazu
in Übertreibung dargestellt hat. Man merkt mir zu sehr, daß dieses Bildnis
gemalt worden ist, um damit den Reisenden zu imponiren, die durch die
Museen laufen. Es wäre hier ein Holbein Vonnöten, der sich einige Vor¬
mittage dein Fürsten gegenübersetzen könnte — oder wenigstens ein Prnd'hon,
dem der Fürst zu sitzen sich herbeiließe, wie einst Talleyrand." Den Wunsch,
den Fürsten Bismarck einem großen Portraitmaler von der kühlen Objektivität
und der geistvollen Detnillirnngsknnst eines Holbein gegenübergestellt zu sehen,
teilen wir mit dem Franzosen. Niemand wird ihm aber in Deutschland darin
beistimmen, daß die Leubachschen Bildnisse für die Museen gemalt worden
seien. Man brcincht nur daran zu erinnern, daß sich überall in den großen
Städten, sobald die Absicht laut wurde, ein Bildnis des Fürsten Bismarck
für eine staatliche oder städtische Kuustsammluug anzukaufen, ein Sturm der
Entrüstung erhob, der sich nach der vollzogenen Thatsache nnr langsam be¬
schwichtigte. Nicht etwa weil mau in den Lenbachschen Bildnissen eine Übertrei¬
bung, eine idealistische Steigerung der Persönlichkeit in das Heroische oder
Löwenhafte sah, sondern weil man im Gegenteil an der allzu familiären, so¬
zusagen schlottrigen Auffassung und an der argen Vernachlässigung des Körpers,
der Hände, des bürgerlichen Anzuges wie der militärischen Uniform Anstoß
nahm. Mau wollte den Helden und erhielt den Einsiedler von Friedrichsruh,
der im bequemen Hausrock in seinen Wäldern herumstreift und auf seine Land-
und Forstwirtschaft Acht giebt. Lenbach hat nnr selten den berechtigten
Wünschen seiner Auftraggeber nachgegebn. Er hat seinen Willen durchgesetzt,
die Überzeugung von der Richtigkeit seiner Auffassung andern aufgezwungen,
und man hat sich allmählich an seinen Bismarckthpns gewöhnt, vielleicht auch
gewöhnen müssen, weil er häufig Gast des Vismarckschen Hauses in Friedrichsruh
und in Berlin war und deshalb wie kein andrer Maler Gelegenheit hatte,
die Physiognomie des Fürsten uuter verschixdnen geistigen lind körperliche»
Stimmungen zu erforschen. Aus diesem Vorzüge ist eine Art Privilegium ge¬
worden, das der Münchener Porträtmaler F. A. Kaulbach zum Gegenstand
einiger sehr bittern Satiren gemacht hat. Aber ohne jedes Verdienst
wird in unsrer argwöhnischen Zeit ein Privilegium kaum mehr erworben.
Je mehr man sich vor den Leubachschen Bismnrck-Bildnissen über die Nach¬
lässigkeit und fast beleidigende Niicksichtslvsigkeit in der Ausführung aller dem
Kopfe untergeordneten Teile entrüstete, desto mehr wuchs das Erstaunen über deu
Scharfblick, womit der Künstler immer tiefer in das geistige Leben des Fürsten
eindrang. Und er ist am Ende wirklich dazu gelangt, die ganze geistige Beweg¬
lichkeit, die blitzende, unheimliche, fast dämonische Genialität des gewaltigen
Mannes ans dem monumental gebauten Kopfe herausleuchten zu lassen. Das
Hütte vielleicht auch die Fähigkeiten oder doch die künstlerische Auffassungsweise
eines Holbein tiberstiegen, der uns im günstigsten Falle den Diplomaten in
der Art Talleyrands oder den Staatsmann, der mit dein Ausdruck der Be¬
friedigung über den ersten Teil seines Lebenswerkes im Angesicht die Kaiser¬
proklamation in Versailles vorliest, mit vollkommener Treue wiedergegeben
hätte. Daß Lenbach bei seiner großen Wandlungsfähigkeit zur Not auch in
der Art Holbeins malen kann, hat er an dem Kopfe Moltkes gezeigt, der den
greisen Feldmarschall ohne Perücke darstellt, damit die interessante Schädel¬
bildung zu voller Erscheinung gelangen kann. Für den vorsichtig abwägenden,
kühl berechnenden Denker und Beobachter ist diese Art der Darstellung charak¬
teristisch und erschöpfend. Für einen Mann wie Bismarck, der unter der
Herrschaft genialer Eingebungen steht, dessen Entschlüsse und Thaten etwas
Jmprvvisirtcs, Blitzartiges haben, schien dem Künstler vielmehr die Dnrstellungs-
weise geeignet, die in ihrer höchsten Ausbildung mit dein Namen Rembrandt
verknüpft ist: ein Wetterleuchten aus dunkler Tiefe, das Himibergreifcn der
plastischen Form in ein schwebendes Helldunkel, die Verzichtleistung auf alles,
was der Philister an dem Ebenbilde seiner teuern Person am höchsten schätzt
und deshalb nicht missen will. Man würde Lenbach Unrecht thun, wenn man
ihm die Fähigkeit, eine Hand, einen Arm, einen Oberkörper richtig zu zeichnen,
absprechen wollte. Aber daß ihn alles dies, das er vielleicht auch als Ballast
der menschlichen Erscheinung sehr gering schätzt, in hohem Grade genirt, kann
kaum noch bezweifelt werden, wem: man das in diesem Jahre gemalte, durch
die Photographie vervielfältigte Bildnis in Betracht zieht, das den Fürsten
sitzend, etwa bis zu den Knieen, in .Kürassieruuiform und mit dem Stahlhelm
ans dem Haupte darstellt. Die Gestalt sieht matt, kraftlos, wie zusammenge¬
sunken aus, die Haltung erscheint gezwungen, und die dem Künstler einmal
in Fleisch und Blut übergegangne summarische Art der Pinselftthrung ist der
Absicht, hier in der Wiedergabe der Uniform, des Heims, der Orden n, s. w,
etwas mit dem wie gewöhnlich sorgsam und eingehend durchgeführten Kopf
übereinstimmendes zu schaffen, durchaus nicht gerecht geworden. Man thut
also Unrecht, Lenbach in dein Sinne den offizielle» Maler des Fürsten Vis-
marck zu nennen, als ob seine Bismarck-Bildnisse etwas von jener feierlichen
und förmlichen Jnszcniruug hätten, die man auf Porträts für Museen, für
die Festräume in öffentlichen Gebäuden u. s. w. zu sehen gewohnt ist. Im
Gegensatz zu einer solchen Auffassung hat Lenbach, dem Charakter seiner Kunst
entsprechend, mehr die innere, geistige Seite des Bismnrckfchen Wesens, freilich
ganz oder doch fast erschöpfend, gezeigt, den Bismarck im Hauskleide, nicht den
Kanzler im Waffenrock oder im Staatskleide.
Mehr in der zeichnerischen, bedächtig individualisirenden Richtung Hol-
beins bewegen sich das Ölbildnis und die Zeichnungen des englischen Malers
William Blake Richmond, der in seinem Vatcrlnnde für einen hervorragenden
Bildnismalcr und geistvollen Mann gilt. Er hat auch Bildnisse gemalt, die
diesen Ruf rechtfertigen und die namentlich in der Wiedergabe leuchtender,
seelenvoller Augen wirklich an Holbein erinnern. An dem Kopfe des Fürsten
Bismarck ist aber seine Kunst gescheitert. Er hat weder den mächtigen Ban
des Schädels richtig verstanden und zu wirksamer Anschauung gebracht, noch
hat er die charakteristischen Züge des Antlitzes energisch genug hervorgehoben.
In dem Ölgemälde sowohl wie in den Zeichnungen hat das Gesicht etwas
schwammiges, nwlluskeucirtiges, und auch der Fleischton schien vielen Beurteilern
verfehlt, obwohl wieder andre versicherten, daß das Antlitz des Fürsten während
seines Landaufenthalts, namentlich nach einem erfrischenden Morgenspaziergange,
wirklich diese zarte, rosige Färbung zeige. Im großen und ganzen konnte man
jedoch angesichts dieser Bilder die Verstimmung vieler Berliner Maler begreif¬
lich finden, die es tief beklagten, das; einem Künstler von so beschränkter Auf¬
fassungsgabe ein Vorzug zu Teil geworden war, der Begabteren und Bernseneren
leider versagt geblieben ist.
Auch diejenigen Gemälde, die den Fürsten Bismarck als Träger oder im
Mittelpunkte eiues bedeutsamen politischen, diplomatischen oder militärischen
Vorganges darstellen, find der Persönlichkeit des ersten deutschen Reichskanzlers
nicht so gerecht geworden, daß man eine dieser Darstellungen als eine solche
bezeichnen könnte, die allgemeine Befriedigung und Zustimmung hervorgerufen
hätte. Wir wollen dabei von den zahlreichen Gemälden und Zeichnungen ab¬
sehen, die entscheidende Augenblicke und Episoden ans dem österreichischen und
dem deutsch-französischen Kriege darstellen. Auf ihnen spielt die Person des
Fürsten meist nur eine nebensächliche Rolle. Er erscheint mit andern im Ge¬
folge seines Königs, wie z.B. ans den Gemälden, die die verschiednen Peri¬
petien in dem Drama von Königgrcitz schildern, auf den Darstellungen der
Schlachten bei Gmvelvtte und Sedan, ohne daß man gewahr würde, daß die
Künstler auf die charakteristische Ausbildung seiner Erscheinung ein besondres
Gewicht gelegt hätte». Es mag dabei bemerkt werden, daß sich die bildende
Kunst von der Berufung Bismarcks zum Ministerpräsidenten bis zum Jahre 187«>
mir sehr wenig mit ihm beschäftigt hat, und daß ihm mich die politische Karri-
katur nur eine verhältnismäßig geringe Nnfmerksamkeit geschenkt hat. „Man
durchblättere die in Spanien, Italien, England und Nmerika von 1867 bis 1870
erschienenen satirischen Journale, sagt Grand-Carteret in seinem Buche, und man
wird nirgends das Antlitz Bismarcks sehen, während überall das Gesicht
Napoleons III. mit der lächerlich gekrümmten Nase erscheint, aus dein die
Spanier schließlich einen leibhaftigen Polichinell machten. Europa grollt nicht
gegen Preußen; dieses ist ja so vernünftig, macht sich so wenig beschwerlich
und zeigt sich so wenig beschäftigt mit seinen Nachbarn. Der, den Europa
mit seinen Sarkasmen verfolgt, ist der Kaiser der Franzosen." Selbst die
französische Presse drückt nach Grand-Carterets Versicherung in den wenigen
ans Bismarck bezüglichen Bildern, denen man bis zum Jahre 1870 hie und
da begegnet, keine feindliche Stimmung gegen den preußischen Minister aus,
was der französische Schriftsteller daraus zu erklären sucht, daß Bismarck,
obwohl er alles gewesen ist, sich doch nicht sehen ließ, sondern sich als treuer
Minister und vollkommener Politiker hinter seinem Souverän verschanzte. In
dem Augenblicke aber, wo „der Tuilerieuhof sich getäuscht sah, rächte er
sich und schleuderte die Zeichenstifte gegen den »nordischen Menschenfresser.«"
Von da ab regnete es fast zwei Jahre lang Karrikaturen auf Bismarck, überall
tritt seine Gestalt ans, weil sie die Zeichner kurzer Hand als Vertreter in der
germanischen Rasse verwendeten. Künstlerischen Wert besitzen diese Karrikaturen
nicht. Es gebricht ihnen sogar an Originalität, da ein Teil der Motive den
Karrikatnre» des Jahres 1792 entlehnt ist, wo sich die französischen Karrikaturen-
zeichner zuerst mit den Preußen beschäftigten, und Grand-Carteret gesteht selbst
zu, daß ein Gedanke in ihnen selten zu finden sei.
Die französischen .Karrikaturen aus den Kriegsjahren sind übrigens nicht
viel bissiger und gehässiger als die, die einige deutsche Witzblätter gegen
Bismarck in den sechziger Jahren veröffentlichten. Grand-Carteret giebt einige
Proben aus dem Münchener „Punsch" und der „Frankfurter Laterne." Heftiger
wurden Bismarck und seine Politik damals in den „Hamburger Wespen" be¬
kämpft, die dem französischen Sammler nicht zu Gesicht gekommen sind. Das Blatt
war in Preußen Verbote»; trotzdem gingen Exemplare insgeheim von Hand zu
Hand, n»d ich erinnere mich noch deutlich des großen Aufsehens, das besonders
eine Zeichnung, die den König von Preußen als blinden Mann und Bismarck
als Hund darstellte, der den seiner Führung anvertraute», Blinden eilig einem
Abgrunde zuführt, in den Kreisen der ausschließlich von der Fortschrittspresse
erleuchteten Bierbankpolitiker erregte. Eine Ausnahme von diesem oft zucht-
und schonungsloser Treiben deutscher und ausländischer Karrikaturenzeichner
hat nur der Kladderadatsch gemacht, indem er sowohl in den Zeiten des
schärfsten Konflikts, wo er an der Spitze der Opposition stand, als in den
für ihn trübem Zeiten nach 1870, wo sich bisweilen anch ihm die
Sonne Bismarckscher Gunst bis zur totalen Berfinsternng verhüllte, niemals
den vornehmen Geist verleugnete, den Wilhelm Scholz seinen Zeichnungen
aufgeprägt hat nud an dem das Blatt auch heute noch festhält, obwohl
Scholz nach einer mehr als vierzigjährigen Thätigkeit von unerschöpflicher
Fruchtbarkeit in der letzten Zeit seine Arbeitslast auf jüngere Schultern gelegt
hat. Grand-Carteret hat gegen Scholz den Vorwurf erhoben, daß er „ewig
denselben Vismarcl gesehn" und dargestellt habe. Diese Behauptung wird
durch einen Blick in das Bismarckalbnm widerlegt, das uus im Gegenteil
von Seite zu Seite belehrt, wie sich der Zeichner immer mehr von der
wachsenden Bedeutung des Staatsmannes hat überzeugen lassen, wie er immer
größere Sorgfalt auf die Wiedergabe seiner Züge verwendet, wie sich all¬
mählich aus dem aalglatten, schlangengleichen Diplomaten, aus dessen Zügen
bald mehr der hochfahrende Junker, bald mehr der verschmitzte Mephisto
herausblickt, die gewaltige, alle Mit- und Widerstrebenden überragende Per¬
sönlichkeit entwickelt, und wie der Gigant endlich zu einem monumentalen
Typus wird, dessen beste und geistvollste Erscheinungsformen gerade in den
Schvlzschen Zeichnungen aus den siebziger und achtziger Jahren zu finden
sind. Freilich blieb Scholz nicht vor dem Schicksal bewahrt, dein die Mehr¬
zahl aller fruchtbaren Künstler verfällt: er geriet am Ende in eine trockne,
einförmige Manier. Aber ihre Schattenseiten machen sich nur in den Einzel¬
heiten der Zeichnung, besonders in den Extremitäten, geltend, nicht in der
Erfindung, die an Mannichfaltigkeit in dem Grade zunimmt, wie der poli¬
tische Machtkreis und der Einfluß des Fürsten Bismarck wachsen. Mail wird
dieselbe Beobachtung übrigens bei allen Zeichnern machen, die Jahrzehnte laug
für ein bestimmtes Blatt thätig sind, dessen Wvchenbedarf sie gewissermaßen
zu decken haben. Wir erinnern nur an die Franzosen Gavarni, Esau und
Gruvin, an den Wiener Zeichner Klie, an einige Zeichner der Fliegenden
Blätter, besonders an Oberländer und Schlittgen, an Hermann Scherenberg,
den Illustrator des „Alls," des einzigen deutscheu Witzblattes politischen In¬
haltes, das sich neben dem Kladderadatsch längere Zeit behauptet hat, freilich
nicht selbständig, sondern als Beilage zu eiuer verbreiteten Tageszeitung. Ich
möchte hierbei die Frage berühren, ob sich das Interesse der großen Masse an
der politischen Karrikatur nicht in neuerer Zeit in dem Maße verringert
habe, als dein Einzelne» die Teilnahme am politischen Leben leichter gemacht
worden ist. Die politische Karrikatur ist eine Pflanze, die am üppigsten unter
dem Drucke einer Gewaltherrschaft oder eines verächtlichen Regiments gedeiht.
Beide Regierungsformen sind in Europa, wenn man von Rußland absieht,
durch die Zunahme der parlamentarischen Einflüsse und besonders dnrch die
Umwandlung Frankreichs in eine Republik so gut wie unmöglich geworden.
Durch den Sturz Napoleons III. war der politischen Karrikatur eine der
Grundlagen ihrer Blüte entzogen worden. Ein zweiter Grundpfeiler ist mit
Bismarck gefallen. Nach einer andern Ursache braucht mau gar nicht zu
suchen, um den Rückgang des Kladderadatsch und andrer satirisch-humoristischen
Blätter zu erklären. Der parlamentarische Tyrann Eugen Richter ist für jene
Verluste nur ein kümmerlicher Ersatz, und die politischen Witzblätter in
Deutschland, für die der edle Freiheitsheld nach ihrer eignen Parteistelluug
unantastbar ist, haben sich deshalb entweder ganz oder zur Hälfte in unpoli¬
tische im Stil der Münchner Fliegenden Blätter umgewandelt.
Wir haben oben von solchen Darstellungen ans dem deutsch-französischen
Kriege gesprochen, in denen Bismarck nur als Glied einer Gruppe erscheint.
In den Vordergrund tritt er erst in den Tagen von Sedan, wo das seit
Jahren mit Napoleon III. geführte diplomatische Scharmützel sozusagen zu
einem persönlichen Zweikampfe wurde, wo die Thätigkeit des leitenden Staats¬
mannes neben der Arbeit des Schwertes zuerst wieder in die weitere Ent¬
wicklung der Dinge eingriff. Das charaktervollste Abbild des Kanzlers aus
jenen Tagen, ein geschichtliches Dokument, verdanken wir dem Zeichner und
Schriftsteller Ludwig Pietsch: eine gezeichnete Angeublicksaufuechme — photo¬
graphische gab es damals noch nicht —, die Bismarck auf der Höhe vor
Sedan mit ausgespreizten Beinen, den Verlauf der Schlacht mit dem Feldstecher
beobachtend, darstellt, leider von hinten, aber in jedem Zuge so voll Geist und
Leben, daß die nervöse Erregung, die den gewaltigen Mann erfüllt, auch ohne
die Mitwirkung des Antlitzes sichtbar wird. Es kommen dann jene Darstellungen
in Betracht, die die Kapitulationsverhandlnngei? mit Geuercil v. Wimpffeu am
Abend des 1. September schildern und unter denen die von Bleibtreu und
A. v. Werner den Vorgang, nach dem Bericht eines Augenzeugen, des jetzigen
Kriegsministers v. Verdy du Vernois, am treuesten schildern. Das erste
Wort führte dabei aber nicht Bismarck, sondern Moltke, dessen Gestalt die
Komposition beherrscht, während Bismarck nur den Beobachter spielt, der die
Gegner scharf ins Auge faßt. Einen Augenblick des folgenden Tages, die
Begegnung Napoleons mit Bismarck, giebt ein Bild von W. Camphausen
wieder, dem man jedoch mit Recht eine zu untergeordnete Auffassung des
Kanzlers zum Vorwurf macht. Bismarck sieht aus wie ein Gendarm, der
einen Gefangnen begleitet. Wirksamer und vornehmer ist eine Darstellung
desselben Vorganges von A. v. Werner, die den Kanzler, vom Rücken gesehen,
im Vordergrunde reitend zeigt, während ihn Napoleon und seine Begleiter
neben dem auf der Chaussee haltenden Wagen stehend erwarten.
Wenn man von einem „offiziellen" Maler des Fürsten Bismarck sprechen
will, d. h. von einem Maler, der berufen wurde und noch wird, ihn in seiner
amtlichen Eigenschaft bei Haupt- und Staatsaktionen vorzuführen, kann nur
A. v. Werner genannt werden. Er hat zu wiederholten malen Gelegenheit
gehabt, den Reichskanzler nach der Natur zu zeichnen, und diese Pvrträtstudieu
hat er seinen verschiednen Darstellungen der Kaiserproklamation zu Versailles,
dein im Auftrage des Berliner Magistrats gemalten Bilde zur Erinnerung an
den Berliner Kongreß von 1878 und einem Bildnis, das den Fürsten Bismarck
mir Bnndesratstisch im Reichstag als Redner zeigt, zu Grunde gelegt. Auch
an diesen Bildern hat man den Mangel an vornehmer, monumentaler Auf¬
fassung und an genügendem Ausdruck der geistigen Kräfte, die sich im Ange-
sichte eines bedeutenden Mannes wiederspiegeln sollen, gerügt, und am meisten
begründet ist dieser Tadel bei dem Kongreßbilde, auf dem die Charakteristik
der Hauptfiguren hinter ihrer geistigen Bedeutung allerdings zurückgeblieben
ist und jener Mangel an geistiger und selbst an äußerer Vornehmheit am
stärksten empfunden wird. A. v. Werners künstlerisches Naturell ist kühl
und bedächtig. Er giebt nur die Oberfläche der Dinge wieder, diese allerdings
in tadelloser Vollkommenheit und Wahrheit, aber in die Tiefe dringt er nicht,
und das Reich der Phantasie ist ihm auch verschlossen. Immerhin befähigen
ihn die Eigenschaften, die er besitzt, wenn nicht zum Porträtmaler im weitesten
Umfange dieser Kunst, so doch zum treuen Chronisten aller jener feierlichen
Vorgänge im modernen Staatsleben, bei denen sich die wirkliche geistige
Physiognomie des Einzelnen bis zur Selbstverleugnung hinter der Uniform oder
dem Galakleide des Hof- und Staatsbeamten verbirgt und auch verbergen muß,
da bei solchen Gelegenheiten die Kundgebung von persönlichen Stimmungen
und geistigen Regungen unangemessen wäre.
Viel zuverlässiger, treuer und im großen und ganzen auch erschöpfender
als die gemalten Bilder des Fürsten Bismarck sind die plastischen, obwohl auch
hier nur, wie schon bemerkt, sehr wenige hervorragende Künstler in Betracht
kommen, denen der Fürst gesessen hat. Die Kolossalstatue des Fürsten Bismarck,
die Schayer für Köln geschaffen hat, ist die künstlerische Schöpfung, die der
geschichtlichen Erscheinung und dem geistigen Wesen des ersten deutschen Reichs¬
kanzlers am meisten, vielleicht vollkommen gerecht wird. Keine Übertreibung
ins Dämonisch-Geniale, aber auch keine geistige Unterbilanz, kein Zug zum
Pathetischen, aber auch kein Stich in die graue Langeweile der kleinbürgerlichen
Photographie! Zu spüren ist dieser Stich etwas an einer Büste desselben
Künstlers, die den Kanzler in Zivilkleidung darstellt. Es scheint aber, daß
dieser Maugel mehr der bürgerlichen Tracht, die der plastischen Verkörperung
nicht bloß Bismnrcks, sondern auch vieler andern Leute ungünstig ist, als der
Auffassung und Charakteristik des Künstlers zur Last zu legen sei. Die
Marmorbüsten Donndorfs, zu denen der Künstler die Studien nach der Natur
etwa seit 1885 gemacht hat, sind Urkunden von unanfechtbarer Treue und
zugleich Spiegelbilder des kühnen, energischen Geistes, dessen Sitz das gewaltige,
der monumentalen Gestaltung wie kaum ein zweites entgegenkommende Haupt
ist. Auf die Mitwirkung der Augen, auf denen in erster Linie die hinreißende
Gewalt des Bismarckschen Antlitzes beruht, muß die Plastik freilich zur Zeit
noch verzichten, da bisher alle Versuche, den Augenstern zu beleben, nur geringe
Erfolge gehabt haben. Dafür hat sie den Vorzug, daß die ganze Persönlich¬
keit des Kanzlers, der den Beinamen des Eisernen ebenso sehr seinem Geiste
wie seiner körperlichen Erscheinung verdankt, den Ausdrucksmitteln der plastischen
Kunst einen viel dankbareren Vorwurf bietet als denen der Malerei.
Was Schayer und Dvnndorf vermieden haben, die Steigerung der ge¬
schichtlichen Gestalt über die Greuzen der Menschheit hinaus in das Poetisch-
Heroische, hat Reinhold Begas in Übereinstimmung mit der ganzen Richtung
seiner Kunst angestrebt. Was Lenbach in der Malerei mit Wechselnden Er¬
folgen versucht hat, hat Begas in der Plastik erreicht. Seine Büste des Fürsten
Bismarck enthüllt das geheimnisvolle Weben eines Feuergeistes, das ehrfurcht¬
gebietende, vor keinem Hindernis zurückschreckende Walten des Säkularmenschen,
die Majestät des <?uvrütgr tornus, der gelernt hat, die Menschen mehr zu ver¬
achten, als zu achten. Als künstlerische Leistung diesen plastischen Arbeiten
ebenbürtig ist auch die kolossale Reiterstatue des Fürsten Bismarck von
R. Siemering, die einen Bestandteil des Leipziger Siegesdenkmals bildet. Wie
das Schapersche Standbild, wird auch sie der geschichtlichen Erscheinung voll¬
kommen gerecht. Da aber das Haupt des Reichskanzlers mit dem Helm bedeckt
ist, mußte sich Siemering verschiedner Vorteile begeben, die Schayer zur vollen
Geltung bringen konnte.
Wenn sich jemand der dankbaren Aufgabe unterziehen wollte, eine Ikono¬
graphie des Fürsten Bismarck zusammen zu stellen, eine Geschichte Bismarcks
in Bildern zu schreiben, so stünde ihm, wie wir gesehen haben, ein im Verhältnis
zu der geschichtlichen Bedeutung des Mannes nur geringes und noch dazu
nicht sehr zuverlässiges Material, soweit es sich um freie künstlerische Schöpfungen
handelt, zur Verfügung. Um einerseits die zahlreich vorhandnen Lücken
auszufüllen, anderseits die Austastung der Künstler zu prüfen und zu berichtigen,
würden die Erzeugnisse der Photographie, aus früherer Zeit auch die der
Lithographie herangezogen werden müssen, deren es glücklicherweise vortreffliche
giebt. Einen Anhang zu dieser Biographie in Bildern oder eine zweite
Bilderreihe neben jener ersten würde dann die Geschichte des Fürsten Bismarck
in der Karrikatur ausmachen, zu der die ganze Welt, soweit sie am politischen
Leben Anteil nimmt, ihre Beitrüge geliefert hat. Grand-Carteret erzählt, daß
selbst in Ägypten ein Witzblatt in arabischer Sprache, in dem der Herausgeber
Scheich Abu Naddara die Politik des Khedive Tewfik bekämpfte und die Empörung
gegen den englischen Einfluß predigte, Karrikaturen auf Bismarck enthalten hat.
Am Schluß jener ersten Bilderreihe würde auch das letzte Porträt des Fürsten
Bismarck von Lenbachs Hand, das wir oben gekennzeichnet haben, eine ver¬
ständlichere Sprache reden, als es zu führen fcheint, wenn man es abgesondert
betrachtet. Aus den hagern, eingefallenen Wangen, aus dem Zuge leidvoller
Entsagung um den Mund, aus dem ernsten, fragenden Blick würde man den
Schmerz des großen Streiters herauslesen dürfen, dem es nicht beschieden war,
bis zum letzters Atemzuge seinem Wahlspruche zu leben: ^.iÜ8 w^rviemio
Musumor.
aß die Erzählung in Versen den Kampf uns Dasein mit dem
Roman und namentlich mit der Novelle kämpft, ist eine bekannte
Thatsache; die Abneigung des Publikums gegen Verse ist zu
groß, als daß die Zeitschriften, von denen die schaffenden Dichter
^zunächst abhängen, den Mut fänden, die gebundene Sprache zu
pflegen; sie würden damit nur ihren Absatz gefährden. Dennoch erscheinen jahraus
jahrein metrische Erzählungen, und einzelnen Dichtern ist es sogar gelungen,
gerade mit solchen Dichtungen Erfolg zu erringen. Die Form kann aber auch
nicht aussterben, und man sollte von vornherein jeden loben, der den Mut
findet, sie trotz der Ungunst der Zeit zu Pflegen. Für den rechten Dichter
muß immer das Bedürfnis bestehen, das, was er zu sagen hat, anch schön
und kunstvoll zu sagen, und dann greift er zum Verse. Die erhöhte Stimmung,
das starke Gefühl, die Leidenschaft, die Andacht sprechen unwillkürlich in
Rhythmen; der Vers hebt über viele konventionelle Formen hinweg und erlaubt,
streng bei der Sache, dem poetischen Gefühl, zu bleiben. Der Vers ist kon¬
servativ im doppelten Sinne: er hängt am Alten und erhält das Neue;
er verträgt keine Modesprache und sichert dein neuen Gehalt eine längere
Dauer als die Prosa. Der Vers ist die beständigere Form, wie er auch die
schönere ist und den Reiz des Kunstwerkes erhöht. Darum wird er aller
Ungunst der Zeit zum Trotz immer wieder gewählt werden. Freilich birgt er
für sich selbst einen so mächtigen Reiz, daß er auch Virtuosen der Dichtung
schaffen kann, wie denn z. B. Julins Wolff gleich so ein Virtuos ist.
Nachdem er ein „Schelmenlied," einen „Minnesang," eine „Romanze,"
eine „Aventiure," eine „Waidmannsmär" erzählt und gesungen hat, hat er
nun schließlich ein „Reiterlied" unter dem Titel: Die Pappenheimer ange¬
stimmt (Berlin, Grote, 188V). Seine Leser können also bei seinen Büchern
einen Kursus der Litteraturgeschichte gratis mitmachen, wenn sie die verschiednen
Kostüme, die er im Laufe seiner litterarischen Thätigkeit angelegt hat, recht
fleißig studiren. Wir freilich sind der Meinung, daß eine Sammlung von
Nachahmungen alter Kunstwerke nieder ein Museum noch ein Künstleratelier
sei, sondern nnr eine Antiguitätenhnndlung für die uneingeweihte Menge, die
die Mode der reichen Kenner nud Kunstliebhaber mitmachen will, ihre Zimmer
mit alten Werken zu zieren. Ohne Bild gesprochen: wir sind der Meinung,
daß der rechte Dichter nicht fremde Töne, und wären sie noch so sehr durch
die nationale Pietät geweiht, nachahmen dürfe; wer ein richtiger Sauger ist,
der muß sich, alle» toten und lebenden Sängern zum Trotz, seine eigne Weise
schaffen können. Aber Wolfs wird uns vermutlich auf den Gesamtgeist unsrer
Zeit verweisen, wie er z. B. auch in der Baukunst zu Tage tritt; auch unsre
Baukünstler stellen je »ach Belieben Gebäude in griechischem oder gothischem
oder schweizerischem Stile hin und uussen doch das Innere dieser Gebäude
ganz wohnlich zu machen nud alle bequemen Nebenräume anzubringen. Wenn
die Baukünstler eines originellen Stiles entbehren können, warum nicht auch
der Dichter, der Sprachkünstler? Diese haben es sogar viel leichter als die
Baumeister, die alten Stile ihrer Kunst nachzuahmen, denn die alte Litteratur
bietet eine noch größere Mannichfaltigkeit von stilistischen Formen, der Dichter
hat also eine größere Auswahl und kaun die Maskerade noch lustiger machen.
Ja, wenn die .Kunst eine Maskerade wäre, dann hätte Wolfs allerdings sehr
Recht. Wir meinen aber, daß es für den 'Künstler gar nichts Ernsteres gebe,
als sich seinen eignen Stil zu schaffen und zu bewahren, daß dieser Stil seinem
innersten Charakter angemessen sein müsse, daß er für jeden Künstler zugleich
etwas so keusches an sich haben müsse, daß der Künstler selbst ihn nicht einmal
viel beobachten darf, ohne ihm seine Reinheit, seine „Naivität" zu rauben und
durch Selbstbespiegelung zur Manier zu verzerren. Dein echten Dichter liegt
nichts ferner, als sich in großen Werken fremden Stils zu bedienen, ja nichts
ist ihm unangenehmer, als solche Nachahmung. Damit stehen wir freilich auf
einem der Meinung Wolffs schnurstracks entgegengesetzten Standpunkte.
Nachdem er als Minnesänger und Schelm und Jäger mit Asi! und
Halali! eiuhergegnngen war, hat es ihm diesmal gefallen, in Koller und Kanonen,
in sausendem Galopp, den Degen gesenkt, eiuherzureiteu: Maskerade natürlich,
nnr daß sie ihm diesmal doch nicht so gut wie sonst steht. Wolff hat sich
eingelesen in die Soldaten- und Landsknechtslieder aus dem siebzehnten Jahr¬
hundert; er spricht so recht zum Tort für die Fremdwörterjäger das verwelschte
Deutsch, die schwülstige Militärsprache jener Zeit, und man muß sagen, „ganz
famos." Besonders hübsch macht sich das am Anfange des Buches. Das ist
aber auch das Beste, ja das einzig Gute, was man seinem „Reiterliede" nach¬
sagen kann. Man kann sagen: Julius Wolff hat eine Parodie auf sich selbst
geschrieben, indem er seiner Mustersammlung deutscher Stilnrten auch noch deu
Stil des Soldatenliedes angereiht hat. Durch die «ansehende Meisterschaft
dieser Nachahmung hat er seiner ganzen Kunstrichtung die Krone aufgesetzt,
d. h. er hat sie M -ibsnränm geführt. Denn was ist lächerlicher, als den Ton
des Soldatenliedes mit seiner kurz angebundenen, zerhackten Redeweise, mit
seinen Wendungen aus dem Ordvnnanzdentsch, mit seiner den Rhythmus wie
absichtlich unterbrechenden Prosa des militärisch sachlichen Nerichterstattens
— lauter Eigenschaften, die ein kurzes Lied prächtig zieren — für eine Er¬
zählung von 343 Seiten zu benutzen? Was in der Kürze gefällt, gewinnt
durchaus nicht in der Häufung. Welche Verkennung des Wesens einer künst¬
lerischen Form offenbart sich hier! Die Schönheit des Soldatenliedes besteht
in dem köstlichen Kontrast zwischen Inhalt und Form: die mächtigste Empfin¬
dung wird im kühl referirenden Tone verborgen; es handelt sich um Leben und
Tod ganzer Regimenter, es ist von kühnen, verwegenen Thaten die Rede, aber
gesprochen wird davon wie von etwas selbstverständlichen, denu dergleichen
kommt ja alle Tage vor, das Leben des Soldaten bewegt sich jn auf des
Messers Schneide, und er ist durch strengste Zucht darau gewöhnt, kurz in
seiner Rede zu sein, sachlich, er darf seine Gefühle uicht verraten; darum der
Schein von Härte bei allem Gefühl. Aber eben nur als Lied ist dieser Ton
schön, man muß ihn sparsam genießen, denn viel Variationen ermöglicht er
nicht. Wenn man diesen Reiz so häuft wie Wolfs in seinem Buche, denn wird
er stumpf, dann wirkt er wie alles Virtuosentum im Gegensatz zur echten
Kunst bei längerer Dauer abgeschmackt, wie eine leere Hülse ohne Inhalt,
wie Stroh.
Aber nicht bloß in der Form, auch im Gehalt will uns dieses „Reiter¬
lied" als ein Fehlgriff erscheinen. Wolff hat sich an einen Gegenstand gewagt,
für dessen tragische Größe sein kleines Talent nicht ausreicht. Um den dreißig¬
jährigen Krieg poetisch zu erfassen, nachdem es Schiller mit seinem Wallenstein
gethan hat, und nachdem sogar Schillers prosaische Darstellung in die Schulen
gedrungen ist, bedarf es doch uoch andrer Gaben als der, die Sprache des
Soldatenliedes nachzuahmen. Wolfs findet die poetische Seite der ganzen Zeit
im Svldatentum. Er nimmt, sehr vorsichtig, nicht Partei, weder für die
Protestanten uoch für die Ligisten; er lobt und tadelt beide. Wenn er
Gustav Adolf oder Wallenstein oder Tilly oder Pappenheim in seiner unplastisch
schattenhaften Weise reden läßt, so weiß er an allen etwas Gutes zu finden
und nennt das wohl poetische Gerechtigkeit. Die Hauptsache bleiben ihm die
Reiter mit ihren Galgenhumor, die sich zu keiner religiösen Partei halten,
sondern nnr Soldatenehre kennen, einen frischen Krieg, das Plündern und Ver¬
wüster lieben, nicht weiter als bis morgen denken: für diese Helden der Ver¬
zweiflung will uns Wolff mit seinen zierlichen Mitteln, mit seiner sanften
Porzellanmalerei begeistern. Da trifft er es gar übel! Wenn es je eine Zeit
gab, die den Krieg haßte, so ist es die unsrige. Wir leben in der ständigen
Furcht vor dem Kriege, wir wissen von ihm nichts andres zu sagen, als daß
er ein Unglück sei; auch Moltke nannte jeden Krieg ein Unglück. Wenn wir
heutzutage vom Kriege sprechen, so geschieht es nur, um an die großartigen
Vorkehrungen zu denken, die getroffen werden, um das Elend und die Wunden,
die er schlüge, zu lindern. Die Poesie des Krieges kann uus kein Mensch
mehr einreden; nur als ein zur Zeit noch für die Menschheit notwendiges Übel
erscheint er uns, worein wir uns zwar mit aller Kraft und Würde des
Mannes fügen können, das zu preisen uns aber niemand mehr bewegen kann.
So unwahr daher die auempfundeue Reiterpvesie Wolffs ihrer Herkunft nach
ist, so wirkungslos ist sie auch, was Wolff übrigens inzwischen gemerkt haben
dürfte, denn sein „Reiterlied" ist schon sechs Monate in der Welt, und von
Erfolg im Publikum ist gar nichts zu vermeide». Hoffentlich hat Wolff bei
dieser Gelegenheit einmal die Schwäche feiner von erborgten Scheine lebenden
Kunst erkannt.
Anspruchsloser und wenn anch nicht geeignet, im Sturm zu erobern, so
doch immerhin fähig, für sich und seine Kunst zu gewinnen, tritt Georg
Bormann mit seiner „Geschichte eines Künstlers" hervor: Hans Bvlkmar
(Berlin, Kurt Vrachvvgel, lLW). Georg Bormann ist uns ein ganz neuer
Name, aber wir werden ihn nicht wieder vergessen. Es scheint, daß er zur
Zeit noch nicht seine volle Selbständigkeit nud Individualität ausgebildet und
erreicht hat. Er ist ein feiner nud vornehmer Geist, der mit möglichst ein¬
fachen Mitteln wirken will, ein echt dichterischer Mensch, der tief und rein
fühlt, dessen allgemeine Lebensbetrachtungen stets gehaltvoll und wahrhaft sind.
Er hat den Blick in die reine Menschennatur nud sieht seine Gestalten mit
großer .Klarheit und gefunden Gefühl. Auch steht ihm eine rechtschaffene
Bildung zu Gebote, die umso besser wirkt, als sie anspruchslos auftritt, mit
ihrer Wissenschaft nicht flunkert und in der That zur schönen Natur geworden
ist. So ist auch seine Sprache von schlichtem Adel, von natürlicher Bered¬
samkeit. Nur scheint ihm noch die Fähigkeit abzugehen, seine Fabel interessant
zu verwickeln, mau wünschte ihm mehr oder ursprünglicheres Erfindnngstalent;
man wünschte ferner, daß er seine Charaktere, die er in dieser Dichtung in
allzu schlichter Schönheit gezeichnet hat, reicher mit Einzelzügen ausstattete,
man hat das Bedürfnis, daß er die trotz des stattlichen Umfanges der Er¬
zählung doch nur wie in Umrißlinien gezeichneten Personen mehr verinnerlichte,
damit wir in ihrem Bildungsgang Einblick gewännen, der uus nicht genügend
enthüllt ist. Wir wollen damit nicht der jetzt in der Romanlitteratur beliebten
Analyse der Seelen das Wort reden, die wir für sehr unkünstlerisch halten.
Der Erzähler soll eigentlich nur das sinnlich Wahrnehmbare mitteilen, mir
das, was sich durch Auge und Ohr des Berichterstatters an den Thaten,
Reden und Bewegungen der Menschen wahrnehmen läßt. Bormann hält sich
so ziemlich an dieses Grundgesetz aller Erzählungskunst, aber — er nimmt zu
wenig wahr, und dieses wenige stellt er zu ausführlich dar. Mehr Stoff
und weniger Worte sollte seine Losung werden.
Die Geschichte, die er uns im „Hans Volkmar" erzählt, ist an sich recht
hübsch. Sie spielt im vierten Jahrzehnt des sechzehnten Jahrhunderts an ver-
schiednen Orten: in Nürnberg, in Rom, vor der von den Türken belagerten
Festung Ofen. Ans dem sparsam geschilderten Hintergründe der Zeit will uns
die Dichtung den Bildungsgang eines großen Talentes von der Jngend bis
zur vollen Reife vor Angen stellen. Hans Volkmars Vater ist ein begabter
Schüler Albrecht Dürers gewesen:, den die leidenschaftlichste Sehnsucht nach
hoher .Kunst dazu trieb, sein junges Weib zu verlassen und nach Rom zu
pilgern. Dort aber ist er gestorben, gerade als er sich satt genug um den
Herrlichkeiten der damals gewaltig aufblühenden neuen Kunst gesehen hatte;
sein verlassenes Weib ist in Nürnberg vor Sehnsucht nach dem fernen Gatten
gestorben und hat den jungen Hans dem Hausgenossen und Freunde ihres
Mannes, Filippo, hinterlassen. Hans wächst in der Obhut des treuen, väterlich
gesinnten Mannes heran und verrät sehr früh hohe künstlerische Begabung,
ein Erbteil des Vaters. Auch er wird von Sehnsucht getrieben, Italien zu
sehen. In der Nürnberger Heimat haben sie es noch nicht über das Kunst¬
handwerk hinaufgebracht; die hohe, zwecklose Kunst erscheint den nüchternen
Zunftgenossen als eine unglückliche Schwärmerei. Hans leistet deshalb nur
wenig in der Znnftschule, und der ganze Gegensatz der neuen und der alten
Zeit bricht hervor, als Haus bei dem Meister Fred um die Hand seiner
Jugendfreundin Maria wirbt. Die beiden Männer verstehen sich bei aller
Reinheit der Gesinnung nicht — ein feines dichterisches Motiv. Verstärkt wird
die Abneigung des Alten gegen den Jungen noch durch ein andres Motiv.
Frey hat die Mutter des Hans geliebt, die sich damals für den zugereister
genialen Volkmar entschied; den dnrch Vvlkmars Reise nach Italien bewirkten
frühen Tod der schönen Fran kann der alte Frey seinem Nebenbuhler selbst
im Grabe nicht verzeihen. Da Hans so sehr seinem Vater im Charakter und
in der Gesichtsbildung gleicht, will ihm Frey seine Tochter nicht geben.
Dennoch läßt er sich herbei, den Liebenden zwei Jahre Bedenkzeit zu geben;
ist Hans dann ein erwerbsfähiger Mann geworden, so soll er Maria heim¬
führen. Das ist alles ebenso schlicht als wahr erfunden. Die zwei Jahre
nun dienen dazu, Hans sowohl als Maun wie als Künstler zu klären, reif
werden zu lassen. Er wird halb unwillig in den Krieg gegen die Türken
hineingerissen. Wir erhalten hübsche Schilderungen des Landsknechtstreibens
und der politischen Lage der Zeit in der zweiten Hälfte der Regierung Karls des
Fünften. Im Kriege zum Manne gehämmert, kommt er dann nach Venedig
und lernt das Haus und die Kunst Tizians kennen. Eine feine Episode
schildert ihn da in den Banden einer reichen adlichen venetianischen Witwe.
Hans muß nämlich die wahre Liebe von der künstlerischen Begeisterung für
schöne Frauen auf seinem Bildungsgange unterscheiden lernen. Dann gelangt
er nach Rom und dort in persönlichen Verkehr mit Michel Angelo, der
episodisch sehr markig dargestellt wird. Endlich kehrt er nach Nürnberg zurück,
wo er — tot gesagt und doch von dein geliebten Mädchen nicht aufgegeben —
von Maria mit offenen Armen, von ihrem Vater mit Zurückhaltung empfangen
wird. Der Schluß ist wieder fein gedacht: Hans schafft ein Bild der eignen
Mutter, das deu Alten begeistert; aber er schätzt jetzt auch das Handwerk nicht
gering und will auf höherer Stufe Kunst und Handwerk vereinigen. Nun
kann er heiraten. Maria, die die schroffen Gegensätze der Männer mildert,
ist vortrefflich geschildert. Aber man vermißt eine reichere Charakteristik des
Helden; die Zeichnung ist zu sprunghaft, zu sehr in großen Zügen gehalten.
Trotz alledem ist das Werk eine wertvolle und hoffnungerweckeude Leistung.
Nach langer Zeit hat auch Heinrich Kruse seiner ersten unter dem Titel
Seegeschichten erschienenen Sammlung kleiner Dichtungen eine zweite (Stutt¬
gart, Cottas Nachfolger, 1889) folgen lassen. Wenn nicht die schon erwähnte
Abneigung gegen alle Verse bestünde, so müßte dieses vorwiegend heitere Buch
schnell zu großer Beliebtheit gelangen. Denn Kruse ist ein geschickter Erzähler.
Die Charakteristik ist von großer Anschaulichkeit, er ist kein unkünstlerischer
Grübler, er begnügt sich mit dein zur Erzählung nötigsten in der Gestaltung
der Menschen, und die Fabel selbst ist vortrefflich gebildet »ud schlagend zu¬
gespitzt. Der Hexameter wird bei ihm anmutig, fließt zwanglos, ohne Pathos in
reicher Bildlichkeit dahin, man fühlt selten einen Zwiespalt zwischen dem Adel
der Form und dem anekdotischen oder schnurrenhasten Wesen des Inhalts;
jedenfalls wird man immer unterhalten. Die Geschichten haben bis ans
wenige das Seemannsleben, seine Gefahren und seinen Humor zum Inhalt;
es sind Sittenbilder des meerfahrenden Volkes an der norddeutschen Küste.
Am liebsten erzählt er von recht kühnen Thaten, wie z. B. die Geschichte des
„Milchlamms," eines jungen Seekadettcn, der sich als Muttersöhnlein lange
Zeit säuseln läßt, um sich plötzlich als ein unerschrockener Mann voll Geistes¬
gegenwart zu entpuppen: fünf Matrosen stehen meuternd ihm gegenüber, und
er beherrscht sie alle, bloß die Pistole in der Hand.
Im „Vorwort" sagt Kruse: „Bei diese» kleinen Dichtungen, wie bei
großen Kompositionen hat mir oft Fielding als Muster vorgeschwebt, der
einmal sagte, er erfinde gar nichts selbst, sondern er schreibe nur ub — aus
dem großen Buche der Natur, wenn er auch nicht immer die Seitenzahl an¬
führe. Dabei hab ich, wie andre Schriftsteller vor mir, öfters die Erfahrung
gemacht, die auch denen, die nach mir kommen, nicht erspart bleiben wird,
nämlich daß gerade solche Züge, die ich tren dem Leben entnommen habe,
von mürrischen Kritikern für unwahrscheinlich und unmöglich erklärt wurden.
Denn so bescheiden sind die wenigsten, um den Grund dafür, daß sie etwas
für unnatürlich halten, in der Beschränktheit ihrer eignen Erfahrung zu
suchen." Wir gestehen, daß auch wir nicht so bescheiden sind, alles was die
Dichter erzählen, für wahr oder möglich zu halten, und wir schenen uus uicht,
zu gestehe», daß wir beschränkt genug sind, die Geschichte des „Milchlamms"
far eine der kühnsten, freilich auch hübschesten Seemannsanekdvten zu halten,
die je erzählt worden sind. Möglich — was in der Welt ist nicht alles
möglich! Welche verblüffenden Thatsachen hat nicht jeder von uns erlebt, die
um» gar nicht glauben sollte, wenn man sie nicht mit eignen Augen ange¬
sehen hätte, deren Wahrheit wir aber mir mit dem Einsatz unsrer ganzen
Person glaubhaft machen konnten, als wir sie erzählten. Es ist ein Irrtum
Gruses, wenn er die Ursachen des Unglaubens an kühne Geschichten in dein
i^eher und nicht in dem Erzähler sucht. Der Dichter, der nicht bei jedem
seiner ^eher durch das Gewicht seines persönlichen Wertes den Glauben an
kühne Geschichten durchsetzen tan», hat die Pflicht, diese so zu erzählen, so
umsichtig zu motiviren, daß dadurch allein schon der Glaube an die Ge¬
schichten, die er vorbringt, erzeugt werden muß. Es ist eben ein sehr großer
Unterschied, ob mau mündlich als Privatmann oder ob man als Dichter etwas
erzählt; der erstere darf unter Umständen darüber schimpfen, daß seine Zu¬
hörer beschränkt seien; der letztere, wenn er nicht den Kritikern ge¬
radezu Übelwollen nachweisen kann, muß zurückhaltender sein, muß dem künst¬
lerischen Gesetze nachgehen, das den Glauben erzwingen soll, mögen die Kritiker
so mürrisch sein, als sie wollen. Der Hinweis auf die verschiedne (subjektive)
Erfahrung des Dichters und des Lesers ist wohl ohne Belang; stellt sich der
Dichter auf diesen Standpunkt, so will er wohl vou vornherein nur von einer
sehr walllverwandten kleinen Gemeinde verstanden werden, und dann darf er
erst recht nicht über die Kritik der nicht wahlverwandten ^eher klagen. Das
z. B. ist die Stellung vieler Lyriker, aber doch nicht die des Erzählers. Krnse
meint anch offenbar nicht diese subjektive Erfahrung. Wenn aber der Dichter
auf weitere Kreise wirken will, muß er doch auch die Gesinnung, die Erfah¬
rung dieser weitern Kreise in seiner Darstellung berücksichtigen, wie z. B. der
dramatische Dichter gezwungen ist, mit ganz andern Motiven zu arbeiten, als
der sensitive Novellist, weil das Volk, das im Theater zuhört, ganz anders
fühlt als die Dame, die das im Goldschnitt gebundene Buch in ihrem Erker¬
fensterchen liest. Der Erzähler muß sein Publikum, also auch dessen Erfah¬
rung kennen; seine Wirkung hängt von dieser Kenntnis ab; sie wird umso
größer sein, je mehr sich die subjektive Erfahrung des Erzählers deckt mit der
des Durchschnittes seiner Nation zu seiner Zeit. Denn in der Kunst ist zu
verschiednen Zeiten verschiednes glaubhaft. Es ist ein Irrtum, wenn Kruse
glaubt, daß er oder die Kunst überhaupt die Natur nur so abschreibe. Wie
viele Dichter haben das schon geglaubt, und wie himmelweit von einander
verschieden sind diese Abschriften geraten! jeder Mensch sieht ja die Natur und
den Zusammenhang in ihr ganz anders an, jeder liest andres ans ihr heraus.
Darum ist es eine Pflicht der Kunst, nicht so sehr was Krnse naturwahr nennt,
als vielmehr logisch zu sein; sie muß im Bilde logisch sein, sie muß durch
die Abfolge der Bilder vorbereiten auf dasjenige Bild, um das es ihr an,
meisten zu thun ist, sie muß motiviren, und wenn sie das geschickt genug thut,
dann kann sie uns Holt und Teufel einreden, und wir glaube» ihr, weil wir
in ihrem Banne stehen, weil sie Schönheit schafft, und nur darum soll es ihr
ausschließlich zu thun sei. Kunst ist nie und »immer Natur. Die Prosaische
Wahrheit in der Dichtung, nämlich die historische Thatsächlichkeit, ist immer nur
Nebensache, was freilich zum Schaden der Kunst heute vielfach verkannt oder
geleugnet wird; ihrem Wesen nach kann es der Kunst nnr um ideale Wahr¬
heit zu thun sein.
Zum Glück ist Kruse ein besserer Erzähler als Kunstphilosoph, und so
mürrisch nur nach dieser Entgegnung ihm in aller unsrer Unbescheidenheit und
Beschränktheit erscheinen mögen, so haben nur uns dnrch sein Vorwort den
Spaß an seinen lustigen Geschichten und die Rührung bei den ernsten nicht
verderben lassen. Das bedeutendste Stück der Sammlung — sie enthält deren
neunzehn — ist ohne Zweifel „Adelnide": hier wird in ergreifender Weise
die Tragik der Wilden Australiens im Kampfe mit den eingedrungenen Eng¬
ländern dargestellt; man möchte es ein Stück völkerpsycholvgischer Poesie
nennen. Die längste Erzählung: „Der Kalifvrnier" bringt das ganze Lebens¬
bild eines Abenteurers, der dreimal feinen Goldschatz verloren hat und sich
schließlich damit begnügt, ein Wrack am Nordseestrande auszubeuten. Die
ganze Erzählung ist von großer Schönheit bis ans ihren Nahmen, denn es ist
doch gar zu unwahrscheinlich, daß der Kalifvrnier den ersten besten Badegästen
seine lange Geschichte so bereitwillig erzählt; hier dürfte Krnse die Natur nicht
mehr abgeschrieben haben. Andre Stücke, wie „Korrektor im Sacke," zeichnen
sich durch possenhafte« Humor oder, wie „Der Geizhals," durch hübsche Klein¬
malerei ans. Zwei Stücke sind in Gesprächsform, und zwar so kunstvoll, daß
sich die beiden Gestalten selbst echt dramatisch charakterisiren.
le Viktorskirche in lauten gehörte bis zur Säkularisirung einem
Stift regulirter (halb mönchisch lebender) Kanoniker, die zwar dem
Erzbischof von Köln untergeben waren, aber sich ihren Propst
und ihren Dechanten selbst wählten. „Es giebt künstlerisch be¬
deutendere und giebt uoch besser erhaltene Kirchen als die Xan¬
tener — sagt Riehl in seinem Wanderbuch —, allein ich kenne keine, welche
so schön und so vollständig erhalten zugleich wäre." Aber es sind nicht
kunstgeschichtliche, sondern sozialwissenschastlichc Aufschlüsse, die den Wert des
unten genannten Buches") ausmachen, über das wir im folgenden berichten
wollen. Daß man im Mittelalter anders baute als heutzutage, daß man
sich Zeit nahm und den Bau liegen ließ, so oft das Geld ausging, wissen
wir zwar im allgemeinen längst. Aber noch nie ist eine solche Vaugeschichte
so im einzelnen dargestellt worden, wie es Beissel in seinem Buche gethan hat;
die Urkunden, Baurechnungen und sonstigen Aufzeichnungen des in dieser Be¬
ziehung einzig dastehenden Stiftsarchivs lieferten ihm das Material dazu. Im
Schlußknpitel des ersten Teiles faßt er den Verlauf folgendermaßen zusammen:
„Die alte Kirche genügte der Stiftsgeistlichkeit nicht mehr, und man entschloß
sich zum Neubau. Für diesen Neubau wurde ein allgemeiner Plan entworfen,
wodurch festgestellt wurde, wie lang nud breit die Kirche werden, wie viel
Schiffe sie erhalte» und wie hoch diese Schiffe sein sollten. Dann begann
man, ein neues Chor um die alte Apsis zu bauen, 1263 bis 1284. Erst
nachdem das Hauptchor mit zwei Seitenchören fertig war, brach mau die
romanische Apsis ab. Der Gottesdienst wurde durch deu Bau uicht unter¬
brochen, man bedürfte keiner Notkirche und keines neuen Banplatzes. Nun
wartete man, um die schulde» zu bezahlen und neue Bauinittel anzusammeln.
Als sie vorrätig waren, baute man bis 1372 an der östlichen Hälfte der
äußern Seitenschiffe >die Kirche ist fünfschiffig und richtig orientirt, d. h. von
Westen nach Osten gerichtet^. Der Teil der alten Kirche, in dem die Chor¬
stühle des Kapitels standen und in dem der Gottesdienst weiter gehalten wurde,
während rechts und links die jneuen^ Seitenschiffe emporstiegen, war noch uicht
berührt. Erst 1396 bis 1437 wurde er niedergelegt und an seiner Stelle das
Mittelschiff bis zum Lettner ausgebaut. So war 1437 die erste Hälfte der Arbeit
vollendet. Ostlich von: Lettner stand die neue gothische Hälfte der Kirche, westlich
das alte romanische Schiff. Von 1481 bis 1519 wurde auch das Schiff im
gothischen Stil umgebaut und zwar in drei Perioden, sodaß 1481 bis 1492
die nördlichen Seitenschiffe westlich vom Lettner, 1489 bis 1506 die südlichen
Seitenschiffe und dann bis 1519 das Mittelschiff zwischen ihnen errichtet
wurde." So wurde der ursprüngliche Plan zwar durch dritthalb Jahrhunderte
festgehalten und schließlich durchgeführt, aber jedes Geschlecht und jeder einzelne
Meister schuf frei nach seinem Geschmack in dem gegebenen Rahmen. Beissel
knüpft daran eine Kritik unsrer heutigen Baugewohnheiten. „Warum sollte
man heut ein ähnliches System nicht mehr befolgen köunen? Baumeister, die
möglichst viel Geld verdienen wollen, werden immer ganze Pläne liefern und
möglichst rasch bauen wollen. Viele werden erklären, die Gewölbe, besonders
die des Mittelschiffs, müßten zusammengeschlossen werden. Es sei unmöglich,
nur die Hälfte standfest zu machen. Aber die Baugeschichte des Mittelalters
beweist, daß nur Akademiker solche Dinge als unmöglich erklären können. Ein
praktischer Mann wird Mittel und Wege finden, heute das zu leisten, was die
Vorzeit geleistet durch Balkenlage» und andre Mittel, die der Dilettant nicht
anzugeben vermag, der Techniker aber keimen oder wiederfinden muß . . .
Massenproduktion und Fabrikarbeit haben heute die wahre Kunst des tüchtigen
Handwerkers überwuchert und erstickt. Wir sind verwöhnt durch die Billigkeit,
mit der »Fabriken für Kunstgegenstände« ihre Erzeugnisse anbieten, und durch
den geringen Preis, den Tagelöhner und Spekulanten für ihre Leistungen ver¬
langen. So find wir dazu gekommen, eine Kirche fabelhaft rasch zu bauen
und ebenso rasch auszustatten. Aber man sieht den Leistungen die Eile an."
Diese Bemerkungen verdienen Beachtuug. Ich gehe fast täglich an einer
Kirche vorüber, die auf Kosten des Fiskus — natürlich im „gothischen" Stil —
binnen vier Jahren „fertig gestellt" worden ist, und ärgere mich jedesmal über
die plumpen gebacknen Zapfen, die Fialen vorstellen sollen, über die gleichfalls
im Ofen gebacknen Kreuzblumen und das dito Maßwerk. Und wie dem, jeder
ästhetische und unästhetische Schein ans ein Sein hinweist, so ist auch diese
gebackene Herrlichkeit der getreue Ausdruck unsrer sozialen Jämmerlichkeit. Aus
dein künstlerisch arbeitenden Steinmetzen ist der lehmknetende und vfenheizende
Tagelöhner geworden, und hierdurch sowohl der innere Menschenwert wie die
änßere Lebensstellung einer ganzen Klasse herabgesetzt worden. Und da nicht
langsam, gleichmäßig fortgebaut wird, nach dem Maße der vorhandenen Mittel,
sondern die Mittel zu unsern binnen kürzester Frist zu vollendenden Bauten
durch Anleihen und Lotterien aufgebracht werden, so fließt stets ein Teil des
Arbeitslohnes in die Taschen der Geldlieferanten, d. h. also der unproduktiven
Bevölkeruugselemeute ab. Endlich werden durch das rasche Bauen und durch
das ebenso rasche Auschnffeu von Ausstattuugeu, Ausrüstungsgegenständeu u. s. w.
zeitweilig große Arbeitermassen ans einen Hnnfeu zusammengebracht, die nach
Vollendung ihrer Aufgabe leicht arbeitslos, elend für ihre Person und eine
Gefahr für den Staat werden und diesen wohl gar zu gefährlichen Experi¬
menten verleiten, z. B. zu Unternehmungen, die an sich durch kein Bedürfnis
gerechtfertigt nur den Zweck haben, Menschen zu beschäftigen.
Der Ban zu lauten war auf fortlaufende feste oder doch mir wenig
schwankende Einnahmen- gegründet. Dahin gehörte zunächst die Steinmetzen-
Pfründe, die nach heutigem Gelde etwa zweihundert Thaler jährlich abwarf.
Der Steinmetzmeister war nämlich ursprünglich ein Geistlicher. Als später
Kunst nud Handwerk'in die Hände der Laien übergingen, behielt man die
Pfründe als^ Besoldung .bei, sodaß ein weltlicher verheirateter Handwerks¬
meister Mitglied des Kapitels wurde. Dero letzte solche Präbendar war Meister
Jakob. Nach seinem Tode 1374 ward die Pfründe eingezogen, und ihr Ertrag
floß fortan der Fabrikkasse (5^irchbankasse) zu, die ein .Kanonikus unter dem
Titel Mgßistor kadrivkdv als eigentlicher Bauleiter verwaltete. Das sonstige
Vermögen der Kirchbaukasse bestand in Grundstücken und Erbrcuteu von mehr
als zwanzig Häusern. Ferner flössen dieser Kasse zu die Strafgelder von
Geistlichen, die ihren Dienst versäumten oder zu spät in die Kirche kamen,
die Gebühren für das Geläute bei Begräbnissen, gelegentliche Geschenke,
Kollekten, die unvermeidlichen Ablaßgelder und die Eintrittsgebühren der Mit¬
glieder der Kegelgilde, der tratros KvKöloruin. Ihr gehörten nicht allein alle
Honoratioren der Stadt, sondern auch die Stiftsherren an, deren Kegelbahn
hinter der Kirche lag. Selbstverständlich trug auch diese Brüderschaft einen
geistlichen Charakter und ließ es an Gebeten, Gottesdiensten, Umzügen und
Brudermahlen nicht fehlen; kein Zeitvertreib ohne den weihenden Zusatz von
Frömmigkeit — und umgekehrt! Wurde die Elle einmal länger als der Kram,
so sahen sich die Kanoniker wohl genötigt, eine Anleihe aufzunehmen? Bei¬
leibe nicht! Das wäre ja ein verbotenes Wuchergeschäft gewesen; sondern nnr
gegen das aufgenommene Kapital eine Leibrente zu verkaufen. Je nachdem
die Rente nur für die Lebenszeit des Darleihers galt oder eine Erbrente war,
schwankte der Zinsfuß zwischen zwölf und fünf Prozent. War dann wieder
einmal mehr Geld vorhanden, als man augenblicklich brauchte, so kaufte nun
die Rente zurück, d. h. man stieß die Schuld ab. Obwohl demnach das Leid¬
wesen schon im vierzehnten Jahrhundert begann, führte es doch nicht zu
dauernder Verschuldung. Der Ablaßverschleiß im fünfzehnten und im Anfange
des sechzehnten Jahrhunderts trägt, abgesehen von dem wunderlichen geistlichen
Vorwande, schon in viel höherm Grade den Charakter moderner Finanzope¬
rationen. Davon schweigtBeissel klüglich. Freilich war er nicht gerade ge¬
nötigt auf die heikle Sache einzugehen, weil der Ablaß für die.Lantener Kirche
nnr in bescheidnen Grenzen und ohne Vermittlung von Geldinstituten aus¬
genutzt wurde. Man kann in den von Beissel aufgestellten Listen von Jahr
zu Jahr verfolgen, wie die einzelnen irn^istri tÄdriea-o wirtschafteten. Ge¬
wöhnlich reichten sie mit der ordentlichen Jahreseinnahme oder behielten am
Ende des Jahres noch etwas übrig, zuweilen schlössen sie mit einem Defizit
ab; ans einen ganz besonders baulustigen, der nach dem Grundsatze: Es muß
alles verruugenirt werden, verfuhr, sind die Herren Kvnfratrcs sehr schlecht
zu sprechen. Von 1360, wo die Baurechnungen anfangen (sie sind sehr
genau; kein Trinkgeld — pro tih-nidus — und keine Maß Wein wird aus¬
gelassen), bis 1559 wurden nach heutigem Gelde (und Geldwerte) 1500000
Reichsmark verbaut. Das in der Zeit vor 13K0 verbrauchte, die nicht ver¬
rechneten Geschenke, die Reparaturen und die Ausschmückung veranschlagt
Beissel ans das Dreifache dieser Summe, sodaß der ganze Bau sechs Millionen
Mark gekostet haben mag. Hätte man, meint der Verfasser, den Drachenfels nahe
gehabt, dem ein großer Teil des Materials entnommen ist, so würde der Van
nur halb so teuer zu stehen gekommen sein; so viel verzehrte» die Transport¬
kosten, die SchiffszöUe und die Zollprellereien. Damit wäre wenigstens eine
doch wohl recht dunkle Schattenseite des frommen Mittelalters eingestanden.
Als das Wichtigste und Jnteressanteste erscheint uns in dein Buche die
genaue Ermittelung der Arbeitslöhne, die in dem fraglichen Zeitabschnitte deu
Bauhandwerkern gezahlt wurden. Mit ungeheueren Fleiß hat der Verfasser die
zahlreichen in den Baurechnungen vorkommenden Münzsorten auf die A'auteuer
Mark zurückgeführt, sodann untersucht, wie viel mau für die A'nuteuer Mark
in jedem Jahrzehnt an Weizen, Roggen, Gerste, andern Früchten, an Kleidungs¬
stücke», Wohnung u. s. w, bekam, nud so mit ziemlicher Sicherheit festgestellt,
wie viel die gezählten Löhne »ach unsern heutigen Verhältnissen wert
waren. Über zwanzig große und viele kleinere Tabellen ermöglichen dem
Leser die Prüfung der Berechnungen, die im Anhange ans Lamprechts nach
der ersten Ausgabe von Beissels Buch erschienene» Werke (Deutsches Wirt¬
schaftsleben im Mittelalter) ergänzt werde». Das Hauptergebnis faßt Beissel
Teil II, S. 16!) i» folgenden Sätzen zusammen: „Um die Mitte des vier¬
zehnten Jahrhunderts verdienten die Handwerksmeister in lauten fast zweieinhalb
mal so viel als um die Mitte des sechzehnten. 1350 bis 1479 schwankte der
Wochenlohn nach »nserm Gelde zwischen 40 und 23 Mark. Die höchsten Lohn-
Verhältnisse (sie!) fallen auf die Zeit um 14t 5 und 14t>5, die niedrigsten ans
die Zeit um 1405 und 1435. Mau hat also in deu vorstehenden Tabellen
deu mathematischen Beweis sür das Herabgehen des zeitlichen Wohles (Äo!)
von etwa 1465 an; und zwar in so rascher Folge, daß die Meister um 14t>5
an 40 Mark unsers Geldes verdienten, um .1555 aber mir 13, d. h. ein
Drittel davon." Die Meister waren nicht großartige Ba»nnternehmer, sondern
schlichte Handwerksmeister; und zwar standen Steinmetzen, Maurer, Zimmer¬
meister, Schieferdecker, Schreiner so ziemlich in demselben Range. Da die
Steinmetzmeister, die eigentlichen Baumeister, neben ihrem Tagelohn für per¬
sönlich geleistete Arbeit einen festen Gehalt für die Bauleitung bekamen und
zuweilen, nicht immer, neben dem A'auteuer Bau zugleich uoch einen zweiten
leiteten, so mochte ihr Einkomme» durchschnittlich das Doppelte des niigegebeiie»
Satzes betrage». Die Gesellen bekamen natürlich weniger; ihr Lohn betrug
je nachdem fünf Sechstel, vier Fünftel, drei Viertel des Meisterlohns und
scheint nie unter dessen Hälfte gesunken zu sein. Nehmen wir die Hälfte an,
so würde er in der guten Zeit so ziemlich dem heute üblichen gleich gekommen
sein. Doch darf man annehmen, daß sie bei gleichem Einkommen zufriedner
lebten als unsre heutigen Bauarbeiter. Einmal fehlten jene Ansprüche, die
heutzutage aus Mode und Kameradschaft erwachsen. Was kosten heute »ur
allem bairisch Bier, Zigarren, Streik- und Wahlkasse», nicht z» vergesse» die
,,Dame»toilette»" der weiblichen Familienmitglieder! Sodann bezeichnen die
obigen Sätze nicht Saisvnlöhne, sondern durchschnittliche Jahreslöhue; namentlich
bei den Steinmetzen ging die Arbeit gleichmäßig das ganze Jahr hindurch fort;
selbstverständlich wurde im Winter weniger Lohn gezahlt als im Sommer.
Endlich wußte man nichts von arbeitslosen Zeiten. Es war nicht wie heute, wo
Perioden des tollsten Banschwindels mit flaue» Jahren wechseln. Nie wurde
massenhaft, aber irgendwo wurde immer gebaut, und an Arbeitern mar kein
Überfluß. Die starke Nachfrage nach geschickten Arbeitern erklärt es, daß die
Gesellen — sie werden in den Rechnungen mit Namen aufgeführt — oft
wechseln. Stiegen die Lebeusmittelpreise, so kam es wohl zu Lohnstreitigkeiten,
die immer gütlich beigelegt worden zu sein scheinen. Nur waren dabei nicht
Meister und Gesellen die streitenden Parteien, sondern Meister und Gesellen
einer- und der Bauherr anderseits. Im dritten Teile des Buches, der von
der Ausstattung der Kirche handelt, findet man Angaben über die Lohn-
verhältnisse der Maler und Goldschmiede.
Da der Verfasser Jesuit ist, so versteht es sich von selbst, daß er die ge¬
sammelten Thatsachen gelegentlich zur Verherrlichung seiner Kirche und zu
Seitenhieben auf den Protestantismus verwendet. Wir pvlemisireu nicht gegen
seine Auslassungen. Soweit sie katholische Gebräuche und Knltusformen
empfehlen wollen, handelt es sich um Geschmacksachen, und <in AUKtidu8 non
c-Le «lisvntÄnclum, Wenn aber Beisfel den Schein zu erwecken sucht, als sei
die „Kirchenspaltung" schuld gewesen an der um eintretenden Ver¬
schlechterung der Lage des Arbeiterkindes, so hat er sich ja selbst schon hin¬
reichend widerlegt, indem er eingesteht, daß die beiden Hauptursachen dieser
Verschlechterung, die Entwertung des Geldes und das überhandnehmende
Sulmüsstvnswesen, sich schon im fünfzehnten Jahrhundert bemerkbar machen.
Damit ist schon bewiesen, daß wir es hier mit einem von Glaubensmeinungen
und Kirchenverfassungen ganz unabhängigen Umschwunge des Wirtschaftslebens
zu thun haben. Mit der Reformation hängt dieser Umschwung nnr insofern
zusammen, als er eine allgemeine Unzufriedenheit und Gährung hervorrief, die
das Volk neuerungslustig machte, und als unter den Begüterten, gegen die sich
jene neidische und begehrliche Neuerungssucht richtete, die über Bedürfnis reichen
und ihrer ursprünglichen Bestimmung meist untreu gewordenen kirchlichen In¬
stitute zunächst in die Augen fielen.
Zum Schluß mag noch bemerkt werden, daß der Verfasser an vielen
Stellen ein gesundes Urteil in Knnstfrageu bekundet und u. a. vor dem
Purismus unsrer Neugothiker warnt. Das letztere erklärt sich freilich aus den
Traditionell seines Ordens, der als Beförderer des Renaissance-, Barock-,
Rokoko- lind Zopfstils und als stilverderbender Wüterich in alten gothischen
Kirchen bei der Schule der Gebrüder Reichensperger übel angeschrieben steht.
reue Hand kommt durchs ganze Land, hieß es ehedem bei uns.
In dem modernsten aller Länder, in Nordamerika, wird es dein
treuen und ehrlichen Meuscheu mitunter schon recht schwer, wo¬
gegen Schwindler desto leichter durchkommen. Das Ranbmvrder-
paar Michel Ehraud und Gabriele Bvmpard fanden auf ihrer
Tournee durch Nordamerika überall Freunde, Glauben und offene Kasse. Das
hübsche Gesicht der Dirne, die Ehraud für seine Tochter ausgab, und seine
feine Weinzunge — so eine Weinzunge ist mehr wert als ein Leben voll ehr¬
licher Arbeit — hatten es den Großgrundbesitzern des Westens angethan; sie
drängten ihm ihr Geld förmlich auf. Ein Herr Garanger bat ihn in aller
Form um die Hand seiner „Tochter" — wie haben wir beide da gelacht! sagte
Ehraud, als er diese Geschichte in seinem kubanischen Gefängnis einem Zeitungs¬
berichterstatter erzählte — und wollte sich mit einem Diplomaten duelliren,
der sie auf einige Tage entführt hatte. Wahrscheinlich würden sie heute noch
herumhvchstapelu, wenn sie sich nicht im tollen Übermut selbst der Gerechtig¬
keit ausgeliefert hätten. Und diese namentlich in Paris oft recht blinde Ge¬
rechtigkeit wird dem interessanten Dämchen nicht viel anhaben. Sind doch die
berühmtesten Ärzte darüber her, die Glaubwürdigkeit ihrer Behauptung zu
prüfen, sie sei von Ehraud durch Suggestion gezwungen worden, den Gerichts¬
vollzieher Gvuff6 zu erdrosseln. Diese Ärzte haben bereits ermittelt, daß
Gabriele sehr nervös und leicht hypnotisirbar ist; was sich daraus erklärt,
daß sie sich von Jugend auf in ihrer Vaterstadt Lille zuerst von Schnubuden-
mngnetiseuren und dann von solchen Personen hat gebrauchen lassen, die das
Hhpnvtisiren aus Liebhaberei betreiben.
Französische Blätter weisen bei dieser Gelegenheit ans die Verheerungen
hin, die der hypnotische Unfug anrichtet. Mehrere Opfer solcher frevelhaften
Versuche haben bereits in Irrenhäuser gebracht werden müssen. Im Colloge
de Chaumont sind fünfzig Schüler krank geworden, die, durch den Besuch eines
Magnetiseurs verführt, sich gegenseitig hhpnotisirt hatten. Jene vornehme
Welt, die sich vor lauter Vergnügen stets langweilt, hat den neuen Sport
begierig aufgegriffen; auf den Einladungskarten zu Abendgesellschaften pflegt
hinter den Namen von einigen berühmten Sängerinnen und Herrn Coquelin
endet, die auftreten sollen, als vivu zum Schluß gewöhnlich ein Hypnotiseur
genannt zu werden. Aus Oberitalien berichtet Professor Lombroso eine Reihe
trauriger Fälle. In Mailand und Turin haben sich viele Personen durch den
Unsinn Schlaflosigkeit und beständige Kopfschmerzen zugezogen. Auch mehrere
Offiziere befinden sich unter den Opfern; der eine davon geht seit seiner Er¬
krankung wie im Schlafe herum, läuft des Abends allen Wagenlaternen nach
und rennt, wenn ihm ein Wagen entgegenkommt, gerade in die Pferde hinein.
Ähnliches wird aus London berichtet.
In Dentschlciud, wo die Behörden verständigerweise wenigstens die öffent¬
lichen Schaustellungen verboten haben, wirft sich der Dr. invä. Christoph Frei¬
herr v. Harlunger zum Apostel der Suggestionslehre auf. In einer Ab¬
handlung der Monatsschrift „Der Naturarzt" (Juniheft) spricht er sich sehr
abfällig über die Ärzte aus, die von der Sache nichts wissen wollen. „Daß
es noch eingefleischte Gegner des Hypnotismus und der Suggestionsmethvde
giebt, wird den nicht wunder nehmen, der dn weiß, daß es immer Menschen
und insbesondre pedantische Gelehrte geben wird, die vom Alten nichts ver¬
gessen und vom Neuen nichts lernen wollen."
Ich bin weder Gelehrter noch Pedant, verzichte aber trotzdem nicht auf
alte, feststehende Wahrheiten und mag mir neue Lehren nicht aneignen, wenn
sie offenbar unsinnig oder schädlich sind. Ich glaube an die hypnotische Sug¬
gestion nicht eher, als bis ich einen Fall davon gesehen habe, und ich werde
niemals einen solchen Fall zu Gesicht bekommen, weil ich mir dergleichen
Experimente grundsätzlich nicht ansehe. So viel allerdings glaube ich, daß
ein Mensch durch beharrliches Anstarren eines Gegenstandes halb blödsinnig
werden und in seinem Blödsinn allerlei Dummheiten begehen kann. Aber die
Grade dieses Blödsinns zu beobachten und zu messen, ist keine Aufgabe für
die wissenschaftliche Forschung, sondern nur ein Zeitvertreib zur Befriedigung
kindischer Neugierde, und weil dabei ein lebendiger Mensch zum Versuchs¬
gegenstande gemacht wird, so ist diese Befriedigung der Neugier ebenso ver¬
werflich, wie wenn man untersuchen wollte, wie viel Minuten ein Mensch in
der Bratpfanne bei Siedehitze zu leben vermag. Wo sind denn die wichtigen
Aufschlüsse, mit denen das Hhpnotisireu die Wissenschaft bereichert haben soll?
Herr v. Harlunger faßt das Ergebnis der bisherigen Beobachtungen in dem
Satze zusammen: „Die Hypnose ist ein rein seelischer Zustand, der durch
seelische Mittel mit oder ohne natürliche Zuthat >soll wahrscheinlich heißen:
mit oder ohne körperliche Einwirkung^ bei Erkrankten wie bei geistig und
körperlich Gesunden herbeigeführt werdeu kann und der sich vom normalen
Zustande durch eine Steigerung der ideo-motorischen, ideo-sensitiven und idev-
sensvriellen Reflexerregbarkeit unterscheidet." Da wissen wir auch was Rechtes!
Lassen wir die nichtssagenden „psychophysischen" Kunstausdrücke weg, so bleibt
die Behauptung übrig, ein Mensch könne durch seinen bloßen Willen in einem
rudern Menschen gewisse Gehirnerregungen hervorrufen, und hierdurch diesen
Menschen zwingen, entweder wie leblos dazuliegen oder gewisse Gedanken zu
erzeugen und gewisse Handlungen auszuführen. Ganz dasselbe haben die
Hexenmeister früherer Zeiten geglaubt und glauben die Wundersüchtigen heute
noch; nur daß der ungebildete Abergläubische die Mittlerrolle nicht kennt, die
dem Nervensystem dabei zufällt. Aber der Gebildete lernt die Bedeutung und
die Funktionen des Gehirns und der Nerven nicht erst durch den Hypnotismus
kennen, sondern kennt das alles schon längst. In wie außer der Hypnose
bewirkt der Zustand der Nervenzellen bald Starrheit der Glieder bald Bewe¬
gung, bald Denken bald Bewußtlosigkeit, bald diese bald jene Richtung der
Gedanken. Das alles wußten wir längst. Wie es aber die Nervenzellen an¬
saugen, diese verschiednen geistigen und körperlichen Zustände und Ereignisse
hervorzubringen, das wissen wir nicht, das erfahren wir auch durch hypno¬
tische Experimente nicht und können wir nicht erfahren, denn wir können in
das Gehirn und in die Nervenstränge der Hypnotischen nicht hineinsehen,
und auch das nachträgliche Seziren ihrer Leichname würde uns nichts nützen,
denn im Leichnam sehen wir doch eben nicht, was im lebendigen hypnotisirten
Menschen früher einmal vorgegangen ist. Wahrscheinlich aber würden wir
den Zusammenhang selbst dann nicht erfahren, wenn wir das Gehirn des
lebenden Menschen durchsichtig machen und seine Teile millionenfach vergrößern
könnten.
Der Freiherr v. Harlunger erwartet von der Anwendung der Suggestion
und von der Beachtung der Suggestivnslehre auch die großartigsten und wohl¬
thätigsten Wirkungen auf dem Gebiete der Heilkunst, der Rechtspflege und der
Erziehung. Wir erlauben uns, diese Erwartungen für völlig unberechtigt zu
erklären.
Daß hypnotische Versuche den Gegenstand krank macheu, wissen wir; daß
die damit verbundene Aufregung vorübergehend die Schmerzen stillen und den
Schein der Gesundheit erzeugen kann, halten wir für möglich; daß aber die
Suggestion wirklich Heilen könne, glauben wir nimmermehr. Könnte sie es,
so wäre damit nicht allein der Naturmechanismus aufgehoben, sondern auch
die sittliche Ordnung zerstört. Jede Krankheit hat ihre Ursache, und die wirk¬
liche Heilung hat die Hebung der Krankheitsursache zur Voraussetzung. Die
Krankheitsursachen kauu man in folgende vier Gruppe» einteilen: 1. Übermaß
oder Mangel um Lebensbedingungen (Nahrung, Luft, Bewegung, Ruhe, Be¬
friedigung des Geschlechtstriebes); 2. mechanische Verletzung vou außen oder
innen; Z. Vergiftung von außen oder innen; 4. fehlerhafter Bau des
Körpers (z. B. schwindsnchterzeugende Engbrüstigkeit). Die Vererbung rechnen
wir nicht als eine besondre Krankheitsursache, weil angeborne Krankheiten bei
einem der Vorfahren aus einer der aufgezählte!, Ursachen entstanden sind.
Kann die Krankheitsursache durch natürliche Mittel gehoben werden, so ist die
Suggestion unnötig; vermag aber die Suggestion, was kein natürliches Mittel
vermag, hebt sie die Kraukheitsnrsnche, z. B. die Zerreißung eines Darmes,
oder heilt sie gar ohne Hebung der Ursache, dann ist sie reine Zauberei, denn
dann wird durch sie die Kette von Ursache und Wirkung zerrissen. Wenn
der Heilwille die Hände des Arztes in Bewegung setzt, svdnß diese eine ab¬
gehackte Nase annähen, dann sehen wir den Zusammenhang. Wenn aber der
Heilwille eine Naht in der zerrissenen Magenwand zu Stande bringt ohne
Nadel und Zwirn, und ohne ein die heilende Säftebewegung beeinflnssendeS
Medikament, so ist der Zusammenhang aufgehoben, und wir befinden uns im
Reiche der Zauberer und Wunderthäter.
Am schlimmsten wäre es, wenn die Suggestion zu heilen vermöchte ohne
Hebung der Krankheitsursachen, denn dann würde sie die sittliche Ordnung
umstoßen und die menschliche Gesellschaft auflösen. Übermaß und Maugel
sollen krank machen, damit sich der Mensch des erstere» enthalte und an der
Beseitigung des andern arbeite. Könnte man die Menschen durch magnetische
Künste ohne Nahrung oder mit einer winzigen Menge von Nnhrnngsstvff am
Leben und bei Kräften erhalten, wie denn eine Luise Lateau von dem täglich
einmaligen Genuß der Hostie gelebt haben soll, so brauchte man die Arbeiter
bloß zu hypnotisiren, und die lebendige, fast ganz kostenlose Maschine wäre
fertig. Eben als bloße Maschinen aber würden diese Menschen aufhören,
Menschen zu sein, denn zum Wesen des Menschen gehört u. a., daß er sich an
Speise und Trank erfreue und in der Sorge um Speise und Trank für sich,
für Weib und Kind seine leibliche, geistige und sittliche Kraft entfalte. Ander¬
seits könnte sich der reiche Schlemmer in den Zustand unbegrenzter Genu߬
fähigkeit versetzen und sich so von dem Zwange zur Selbstbeherrschung, von
dieser natürlichen Grundlage der Sittlichkeit, frei machen. Und kehrte einmal
der Wahnsinn des siebzehnten Jahrhunderts wieder, wo die Obrigkeiten, von
der Wollust der Grausamkeit gestachelt, um hohen Lohn Henker suchten, die
die Kunst verstanden, ihre Opfer monatelang zu peinigen, ohne sie zu töten,
so wäre solchen Teufeln in Menschengestalt geholfen. Sie könnten sich jahre¬
lang täglich an den Qualen einunddesselben Gefolterten weiden; die Suggestion
würde die nnseinandergerissenen Glieder immer wieder einrenken, die Brand-
uud Schnittwunden heilen. Sollte es wahr sein, daß Gott einzelnen für heilig
gehaltenen Menschen die Gabe wunderbarer Heilkraft verleiht, so würde das
keinen solchen Umsturz des Baues der Gesellschaft zur Folge haben, weil die'
vorausgesetzte Heiligkeit der begnadeten Menschen den Mißbrauch ausschließe»
und das Walde» einzelner Bevorzugter den natürlichem Lauf der Welt im
großen und ganze» nicht verändern würde. Auch gefährdet der Glnnbe an
solche Wunderwirkungen die Zuverlässigkeit der Wissenschaft in weit geringerm
Grade als der Suggestions- und Spiritisteuschwiudel, weil er die Wunder für
Ausnahmen hält, die die Regel, die gesetzmäßige Ordnung der Natur, nur
bestätigen.
Mit der Einwirkung der Snggestionslehre ans die Rechtspflege ist natürlich
gemeint, daß man in Zukunft die Verbrechen als Äußerungen einer entweder
angebornen oder durch suggestiv« angethanen Krankheit behandeln und den
Verbrecher uicht mehr ins Zuchthaus sperren, sondern ins Krankenhaus legen
und dort pflegen soll. Bekanntlich wird diese Ansicht besonders von Professor
Lombroso verfochten. Man kann ihr aber gar nicht entschieden genug entgegen¬
treten. Ihr Wahrheitskern beschränkt sich auf folgendes. Es giebt Menschen,
deren Gehirn so schwach entwickelt ist, daß sie zeitlebens unzurechnungsfähig
bleiben. Das haben wir schon längst gewußt und haben demnach solche
Menschen, wenn sie eine Unthat begingen, nicht als Verbrecher, sondern als
Kranke behandelt. Es giebt ferner Menschen, die nicht gerade unzurechnungs-
fähig, aber so stumpfsinnig sind, daß ihnen bei Verbrechen ihre natürliche Un-
vollkommenheit als mildernder Umstand angerechnet werden kann. Auch das
ist den Richtern lange vor der neuen Theorie bekannt gewesen, und sie haben
darnach gehandelt. Es kommt endlich vor, daß ein Mensch durch leidenschaft¬
liche Aufregung oder lasterhafte Gewohnheit die Herrschaft über sich selbst und
sogar das klare Bewußtsein verliert. Aber dadurch wird seiue Verantwort¬
lichkeit nicht aufgehoben; denn wenn er sich selbst in unzurechnungsfähigen
Zustand versetzt, so bleibt er — das gilt auch vom Rausch — für die Folgen
verantwortlich. Diese drei Arten von Verbrechern bilden aber die Minderzahl;
bei der Mehrzahl hat es gar keinen Sinn, von Krankheit zu sprechen. Wir
können hier nicht alle Arten von Anreizen zur Verletzung des Sittengesetzes
und der Staatsgesetze durchgehen, wollen aber wenigstens auf drei Klassen
einen Blick werfen. Eine ungeheure Anzahl von Bergehen und Verbrechen
entspringt aus Not. Ein Mensch, der nach langem Fasten eine Mark stiehlt,
um sich einmal ordentlich satt essen zu können, bekundet dadurch doch wahrlich
keine Krankheit, sondern im Gegenteil einen gesunden Appetit. Sein Charakter
läßt insofern zu wünschen übrig, als er der heroischen Stärke entbehrt; aber
da diese von Durchschnittsmenschen gar nicht verlangt werden kann, so ist
dieser Maugel noch nicht als Krankheit zu bezeichnen. Wenn sich ein junger
Mann, der nicht heiraten kann, in der Hitze der Begierde an einem Mädchen
vergreift oder gar an einem Knaben oder einem Stück Vieh (lebt einer in
der Großstadt und hat er Geld, so kann er seinen Zweck erreichen, ohne mit
den Gesetzen in Konflikt zu geraten), so ist das zwar nicht schön, aber es ist
auch kein Zeichen von Krankheit, sondern vielmehr von kräftiger Gesundheit.
Freilich soll der Mensch seine Begierden beherrschen können; allein, fügt Herbart
diesem allgemein anerkannten Grundsatze bei, anhaltende Nichtbefriedigung der
natürlichen Begierden schadet immer. Wenn nun ein kräftiger, gesunder Mensch
in der Abwehr dieser Schädigung gegen den Stachel des Gesetzes ausschlägt,
so Wird ihn zwar der Richter nicht für unschuldig, aber »och weit weniger für
krank erklären könne». Der Richter wird ihn verurteilen, wird aber ans solchen
Fällen Anlaß nehmen, ans die Notwendigkeit einer großen Heilkur hinzuweisen,
einer Heilknr, die nicht an dem vollkommen gesunden Verbrecher, sondern an
dem. zu Verbrechen treibenden Gesellschaftsznstande vorzunehmen ist. Eine
andre Gruppe umfaßt die Betrügereien, Unterschlagungen und Diebstühle aus
leichtsinniger Genußsucht und Habsucht. Die dergleichen begehen, sind fast alle
vollkommen gesund. Bei deu meisten ist es ein erster unvorsichtiger Schritt,
der sie in ein Netz verhängnisvoller Nötignuge» verstrickt, sodaß sie von Stufe
zu Stufe sinken. Eine dritte sehr zahlreiche Klasse bilden die Strafthaten, die
gar nichts Unmoralisches a» sich haben, also zu ungünstigen Schlüssen auf die
Gesundheit des Begehenden gar nicht berechtigen, und die lediglich darum, be¬
straft werden, weil sie aus irgend einem Grunde verboten sind. In manchen
Gegenden sind die Polizeiverbvte so zahlreich, daß sie kein Mensch immer im
Gedächtnis haben kann, und daß es bloßer Zufall ist, wenn der Staatsbürger
niemals hiueiutappt und ganz unbescholten durch diese irdische Prüfungszeit
hindurchkoimnt. Daraus entspringen dann wieder die zahlreichen Fälle von
„Widerstand gegen die Staatsgewalt," dnrch den sich namentlich die alten Weiber
auszeichnen, die einzigen Personen in deutschen Landen, die das alte deutsche
Recht mit mannhafter Tapferkeit verteidigen. So blieb z. B. neulich ein
achtzigjähriges Mütterlein, das wegen eines Polizeivergehens verurteilt wurde,
hartnäckig dabei, daß sie keinem Menschen etwas schuldig sei und keinen Pfennig
zahlen werde; als dann der Gerichtsvollzieher sie pfänden wollte, wies sie dem
„verdammten Spitzbuben" mit ihrem Krückstock seine Wege (vor tausend, ja
noch vor sechshundert Jahren wären die Nachbarsleute verpflichtet gewesen,
ihr bei der „Heimsuchung" zu Hilfe zu eile», denn auch der Gcwaltbvte durfte
deu Hausfrieden nicht brechen), und als sie wegen „Widerstandes gegen die
Staatsgewalt" zum zweiteumnle verurteilt wurde, blieb sie dabei: „Ich lasse
mir nichts vormachen, ich zahle keinen Pfennig!" Die ist doch gewiß so ge¬
sund, wie man mit achtzig Jahren nur immer sein kann! Ebenso nichtig aber,
wie die Lehre von dem angebornen Hange zum Verbrechen, ist die von dem
dnrch Suggestion angethanen vorübergehenden Anreiz. In dem Falle Ehraud-
Bompard liegt die Sache ziemlich einfach. Beide Personen sind Abenteurer,
beide liederlich, beide überspannt. Sie brauchten Geld, und sür Leute von
ihrer Vergangenheit konnte der Gedanke eines Verbrechens nichts übermäßig
Schreckliches haben. Sie werden einander gegenseitig „suggerirt," d. h. ihre
Gedanken über einen möglichen unrechtmäßigen Gelderwerb mitgeteilt haben.
Und als es dann zur Ausführung des gemeinsam entworfenen Planes kam,
wird die Dirne, deren heiterm und gemütlichen Temperament eine Grausamkeit
immerhin widerstreben mochte, das Restchen ihres Gemissens mit der durch
ihre Jugenderfahruugen nahegelegten Einbildung betäubt haben, sie handle unter
dem zwingenden Einflüsse des Willens ihres Geliebten. Selbst wenn in einem
einzelnen Fall ein solcher zwingender Einfluß nachzuweisen wäre, was kaum
möglich sein dürfte, könnte ihn der Richter nicht wohl als Entschuldigungs-
grund gelten lassen, wenn die angeklagte Person sich freiwillig und gern solchen
Einflüssen hingiebt, wie jene Gabriele Bvmpard. Denn es ist eben unsittlich
und unerlaubt, sich freiwillig des Bewußtseins zu berauben und sich entweder
durch Rausch in die Gewalt der eignen blinden Triebe oder durch Narkose
oder Hypnose in die eines andern Menschen zu geben. Vor kurzem wurde in
Berlin ein Zahnarzt verhaftet, der junge Madchen betäubt und ihnen dann
Gewalt angethan hat. Wenn diese Mädchen die Betäubung bestellt haben, fo
sind sie von Mitschuld nicht freizusprechen; denn eine Frauensperson darf sich
von einem fremden Manne nur dann betäuben lassen, wenn ihr eine bekannte
Person als Hüterin ihrer Ehre zur Seite steht. Wenn die heutige Rechtspflege
sonst keine Schmerzen hat, der Suggestivnslehre wegen braucht sie sich keine
Refvrmsorgen zu machen.
Am allerentschiedensten aber müssen Nur das von französischen Ärzten
erhobene und von Herrn von Harlunger befürwortete Ansinnen zurückweise»,
daß die Suggestion als Erziehungsmittel verwendet werden solle. Der genannte
Arzt will einem Diener die Kleptomanie eingeflößt und wieder ausgetrieben
haben. Hoffentlich bildet er sich das bloß ein, und der Diener hat ihm, auf
die Schrulle seines Herrn eingehend, nur aus Gefälligkeit einige Zigarren ent¬
wendet, sonst würde der Arzt Strafe verdienen. Mit oder ohne Suggestion
ist es immer leichter, einen Menschen zu verführen, als den lasterhaft gewordenen
zu bessern. Auch Trunksucht will or. vou Harlunger geheilt, ein schläfriges,
faules Dienstmädchen in eine lustige, arbeitstüchtige Person verwandelt haben.
Aller Ehren wert, Wenns wahr ist! Er meint nun, die bisher übliche Erziehung
beruhe ja auch auf Suggestion, auf „suggestiv» im Wachen." Und er sührt
dann folgende Worte des Suggestivnsapostels Lwbanlt an: „Ohne sich davon
Rechenschaft zu geben, eignet man sich moralische und politische Ansichten,
Familien- und Rassenvorurteile um, nimmt man die Vorstellniigen in sich auf,
die die Atmosphäre, in der man lebt, erfüllen. Es giebt soziale und religiöse
Grundsätze, die vor dem Richterstichl des gesunden Menschenverstandes,
vollends vor dem der Vernunft nicht bestehen können, und die man doch bereit¬
willig glaubt; sie haben sich von den Eltern ans die Kinder vererbt, sie sind
Gemeingut der Nation geworden; es ist unmöglich, sie durch Vernunftgründe
zu vernichten; es nützt nichts, daß man ihre Falschheit nachweist." Und da
solle» diese Grundsätze auf hypnotischen Wege nnsgetrieben werde»? Aller¬
liebst! Giebt es etwa eine» als unfehlbar anerkannten Papst in der Welt
— die Unfehlbarkeit für sich allein nützt noch nichts —, der entscheidet, welche
Grundsätze richtig und z» s»ggerire» sind und welche nicht? beider oder zum
Glück giebt es keinen. Auch die Herren Snggerenten werden verschiedner
Meinung sein, und möglicherweise hält Herr Liöbault sogar die Grundsätze
seiner Brüder im seligmachende» Knnstschlaf für falsch und seine eignen allein
für richtig. So werden nun die Anhänger aller Schulen, Sekten und Parteien
drauflos suggeriren. Der stramme Protestant, bei dem sich ein verkappter
Jesuit eingeschlichen hat, wird sich morgen einen geweihten Rosenkranz kaufen,
und Windthorst wird vou Stöcker gezwungen werden, ein Lutherfestspiel zu
schreiben. Unsre Offiziere werden eines schönen Morgens als Sozialdemokratin
und die Sozia ldemvkrateu als Ritter des Könige»ins vou Gottes Gnaden
aufwache». Die geheimsten und polizeiwidrigste» Gedanken von Eltern und
Lehrern werden mit unwiderstehlicher Gewalt die Kinderseelen ergreifen, und
die ganze Welt wird sich in ein Tollhaus verWandel». Wir danken schön!
Die Grundsätze wie die Ansichten werden immer verschieden bleiben, und im
Kampf entgegengesetzter Lehren »ut Glaubeusmeüiungeu wird auch in Zukunft
das Gleichgewicht der Gesellschaft erhalten werden und der Geist der Einzelnen
zur Reife gedeihen müssen. Aber im Lichte des Bewußtseins und der Öffent¬
lichkeit muß dieser Kampf geführt und muß die Jugend zu den Grundsätzen
der Eltern und Lehrer erzogen werden. Die Obrigkeit und das Volk, in dem
ja die Gemäßigten für gewöhnlich überwiegen, müssen die kämpfenden Meinungen,
müssen den Schulunterricht überwachen können, um einzuschreiten, sobald eine
extreme Meinung, irgend ein Fanatismus sich in bedrohlichem Umfange aus¬
breitet. Das fehlte noch, daß wir bewußtlos und gegen unsern Willen durch
tückische Zauberkünste in irgend eine geistige Richtung hineingelockt würden!
Gerade das gehört auch zur Erziehung, daß der junge Mensch, je alter er
wird, desto überlegter zwischen de» dargebotene» Lehren und Grundsätze» wählen
und in einzelnen Füllen der Aufnahme Widerstand leisten kann; denn de»
wichtigste» Teil der Erziehung bildet die Selbsterziehung. Bleiben wir also
schon bei der „Suggestion im Wachen," durch nüchterne Lehre, durch Beweis¬
führung und Überredung; überlassen wir den »medizinisch-hypnotischen Sug¬
gestionsspuk den Müßiggängern, den Sonderlingen und de» Phantasten, und
setzen wir uns entschieden zur Wehr, we»n einzelne Ärzte und Philosophen
diesen Unfug unter der Flagge der Naturwissenschaft ins Krankenzimmer, in
den Gerichtssaal und in die Schule einschmuggeln wollen.
or einer Reihe von Jahren ging ein Schrei der Entrüstung dnrch
das deutsche Reich über das Heer vo» Gewvhnheitsbettlern und
Landstreichern, die sich auf bequeme Weise auf Kosten des arbei¬
tenden Teiles des Volkes durchfütterte». Es bildeten sich Privat¬
vereine, die dnrch Anlegung von Arbeiterkvlvnien und ans andre
Weise dem Unwesen zu steilern suchten. Auch gingen die Polizeibehörden mit
anerkennenswerten Eifer vielfach durch Einrichtung von Verpfleguugsstativnen
für durchreisende Fremde und in Verbindung damit durch Verordnungen vor,
in denen sie die Gewährung von Geschenken an auswärtige Bettler unter
Strafe stellten. Alle diese Maßregeln haben zweifellos segensreich gewirkt.
Auch hat die erfreuliche Entwicklung unsers gewerblichen Lebens mit der Ver¬
mehrung gut bezahlter Arbeitsgelegenheit vielfach die Lust und Gelegenheit
zum Nichtsthu» verimndert. Ans allen diesen Gründen sind die Bestrafungen
wegen Arbeitsscheu im weitesten Sinne des Wortes bedeutend zurückgegangen.
In Preußen hat dieser Rückgang nach einer in Ur. 5 des diesjährigen Justiz¬
ministerialblattes veröffentlichten Statistik in der Zeit vom Jahre 1881 bis
zum Jahre 1889 5,3,8 Prozent, also über die Hälfte betragen. Trotzdem
waren nach derselben Statistik im Jahre 1888 bis 188U noch 45067 Personen,
d. h. mehr als der nennte Teil sämtlicher in deu preußischen Jnstizgefängnissen
sitzenden Gefangenen wegen der genannten Übertretungen in Strafhaft.
Diese große Zahl drängt in einer Zeit, wo so viel von der Änderung
des Straf- und Strafvvllstrecknngssysteins gesprochen wird, die Frage auf, ob
unser heutiger Rechtszustand geeignet sei, der gewerbsmäßigen Arbeitsscheu im
weitesten Sinne wirksam entgegenzuarbeiten. Wir glaube», diese Frage ver¬
neinen zu müssen, halte» daher eine Änderung des bestehenden Zustandes für
Preußen für dringend notwendig.
^ Z«>1 Ur. 3 bis 8 des deutschen Strafgesetzbuches bestraft Landstreicher,
Betteln und Arbeitsscheu mit sogenannter qnalifizirter, d. h, mit Hast unter
Arbeitszwang bis ans die Dauer von sechs Wochen, bei Konkurrenz mehrerer
Übertretungen bis auf die Dauer von drei Monaten. Augenscheinlich ist hier
bei Haft ausnahmsweise der Arbeitszwang eingeführt, weil Bestrafte dieser Art
vor alle»: durch regelmäßige Beschäftigung vo» der übel» Gewvhttheit des
Nichtsthuns geheilt werden solle». Wie stellt sich aber die Ausführung dieser
Bestimmung in der Wirklichkeit dar?
In großen Städten mit regelmäßig und wohl gefüllten Gefängnissen ist
der Arbeitszwang in tvirtsamer Weise durchzuführen, da hier mühelos regel¬
mäßige Arbeit zu verschaffen und einzurichten ist. Aber leider nnr bis zu dem
angegebenen höchsten Betrage von sechs Wochen oder drei Monaten! Ist dieser
Betrag bei dein sechsten oder zehnten Rückfall erreicht, so kann ein zwanzig-
uud dreißigmaliger Rückfall, wie er leider hin und wieder vorkommt, nie mehr
eine Straferhöhnng zur Folge haben. Schlimmer aber ist es bei den kleinen
Gefängnissen der kleinen Gerichte. Hier ist die Beschaffung regelmäßiger und
einigermaßen anstrengender Arbeit vielfach unmöglich oder doch dem Zufall
überlassen. Der eingelieferte Vagabund wird daher oft gar nicht, oft nur mit
leichten und bequemen Arbeiten, wie Federreiße», Kaffeeanslesen und ähnlichem,
beschäftigt werden können und auf diese Weise reichlich Gelegenheit haben, in
warmer Zelle und sauberer Kleidung bei reichlicher und kräftiger Kost, vielfach
auch in der unterhaltenden Gesellschaft gleichgesinnter Kollegen, die Zeit zu
verbringen und abends, im Winter mit Dunkelwerden, denn in den Zellen
darf kein Licht gebrannt werden, sich behaglich ans sein Lager zu strecken
und gerade hierdurch dein Laster des Nichtsthuns zu verfallen, wegen dessen
er bestraft ist und von dem er geheilt werden soll. Ist das eine Strafe?
Die Beantwortung dieser Frage will ich dem Leser überlassen, möchte aber
im Gegensatz zu dem Leben des im Gefängnis „dahinschmachlenden" Vagabunden
nur das des früh bis spät in Sturm und Wetter beschäftigten Steinschlägers
und Erdarbeiters oder des stundenweit von seiner Wohnung beschäftigten
Holzarbeiters und Grubenarbeiters erwähnen, um die Vermutung nahe zu
legen, daß der gefangene Vagabund keine Veranlassung hat, diese Arbeiter zu
beneiden.
Aber, so wird vielleicht jemand einwenden, der freie Arbeiter hat doch
das schöne Gefühl, für die Seinigen zu sorgen und nach Schluß der Arbeit
seine Freiheit, sei es in vergnügter Gesellschaft, sei es im häuslichen Kreise, zu
genießen. Vom Standpunkt des freien Arbeiters ist dies ganz richtig gedacht,
sind doch gerade diese Empfindungen und Aussichten der Sporn zur eifrigen
und freudigen Arbeit. Ein richtiger Vagabund aber hat für derartige Gefühle
kein Verstäuduis. Ist es doch gerade sein Fehler, daß er in einen Zustand
so hoher Schlaffheit versunken ist, daß ihm nichts Frende macht, als zu feiern,
ohne zu darben, und nebenbei seinem Wandertriebe zu genügen.
Aber der hinkende Bote kommt nach. 8 362 des Strafgesetzbuches be¬
stimmt, daß bei der Bestrafung von Landstreichern und rückfälligen Bettlern
gleichzeitig ihre Überweisung an die Lnndespolizeibehörde ausgesprochen werden
kann. Diese Behörde, in Preußen der Regierungspräsident, erhält hierdurch
die Befugnis, die überwiesen«.' Person bis auf die Dauer vou zwei Jahren in
einem Arbeitshause unterzubringen oder zu gemeinnützigen Arbeiten zu ver¬
wenden. In der Praxis wird regelmäßig die Unterbringung in einem Arbeits¬
hause angeordnet, wohl weil der Bestrafte sonst sich zu leicht dnrch die Flucht
dem Arbeitszwang entziehen konnte.
Die Überweisung wird als Nebenstrafe, die infolge derselben angeordnete
Unterbringung in einem Arbeitshause als Zucht- und Besserungsmittel auf¬
gefaßt. Es ist wohl allgemein bekannt, daß die Vagabunden vor dem Arbeits¬
hause großen Respekt haben. Ist doch der bei wiederholtem Rückfall schließlich
ans Jahre angeordnete Aufenthalt in dein Arbeitshause, wo strengste Zucht
und Zwang zu anstrengender Arbeit herrscht, in seiner Wirkung einer mehr¬
jährigen Gefängnis- oder sogar Zuchthausstrafe sehr ähnlich.
Ist aber diese Nebenstrafe so wirksam, warum macht man sie dann nicht
unter Wegfall der bisherigen Hauptstrafe, die vielfach ein Schlag in die Luft
ist, zur Hauptstrafe und versucht im Anschluß daran die Einfiihrnng einer
andern Nebenstrafe?
Es kommt aber noch ein andrer Umstand in Betracht. In die Arbeits¬
häuser werden mir arbeitsfähige Personen aufgenommen. Ist die Arbeits¬
fähigkeit des Überwiesenen beschränkt, so hat die Überweisung keine weitere
Folge. Eine nur beschränkt arbeitsfähige Person kann also unbegrenzt betteln
und landstreichen, ohne jemals eine empfindliche Strafe zu erhalten und ohne
dauernd von diesen Übertretungen abgehalten zu werden. Es ist nun nicht
zu verkennen, daß die Frage, inwieweit die in Rede stehenden Übertretungen
von nicht völlig arbeitsfähigen Personen aus Übermut oder inwieweit sie aus
wirklicher bitterer Not begangen werden, im einzelnen Fall schwer zu beurteilen
ist und daß etwaige Straf- und Vvrbeugungsnmßregeln sich vielfach mit der
öffentlichen Armenpflege berühren werden. So schwierig aber auch hierdurch
die Einführung wirklich praktischer und wirkungsvoller Maßregeln wird, in
zwei Richtungen müßte unsrer Ansicht nach vorgegangen werden.
Zur Zeit haben die Armenverbände das dringende Interesse, unterstützungs¬
bedürftige Personen, zu deren Erhaltung sie gesetzlich verpflichtet sind, möglichst
viel außerhalb des Armenverbandes, also auf Reisen oder in irgend einem
Gefängnis oder Arbeitshaus zu wissen; sind sie doch so lange ihrer Ilnter-
haltungspflicht enthoben. Anderseits besteht kein Mittel, teilweise oder ganz
erwerbsunfähige Personen in dem Bezirk ihres Armenverbandes festzuhalten.
Es muß also ein gegenseitig fesselndes Band zwischen Armenverband und
Ortsarmen geschaffen werden, erstens dadurch, daß mau die Kosten der Voll¬
streckung einer Strafe, die wegen einer Übertretung der in Rede stehenden Art
erkannt ist, dem Armenverband zur Last legt, zweitens dadurch, daß man den
Armen zwingt, in der nnterstütznngspflichtigen Gemeinde zu bleiben und die
ihm aufgetragenen, seinen Kräften angemessenen Arbeiten zu verrichten. Ein
Zwang zu diese» Arbeiten besteht teilweise schon jetzt (vgl. § 361 Ur. 7 des
Strafgesetzbuches). Wie will man diesen Zwang aber ausüben, wenn kein
Mittel besteht, den Unterstützten in der Gemeinde festzuhalte», und man mit
verschränkten Armen zusehen mich, wie der Arme zu einer Zeit, wo ihm gerade
keine Arbeit aufgetragen ist, in die Fremde zieht?
Und ähnliche Mängel finden sich dem gefunden und arbeitsfähigen Fan¬
lenzer gegenüber. 10 des Paßgesetzes vom 12. Oktober 1867 läßt die
Zwangspässe und Reiserouten bestehen. Infolge dessen sind noch jetzt die Ein¬
richtungen in Kraft, wonach fern von der Heimat festgenommene Personen die
Weisung erhalten, sich zur Vermeidung von Strafe auf einem bestimmten Wege
in ihre Heimat zu begeben und dort bei der Polizeibehörde zu melden. Der
Zweck dieser Einrichtung ist augenscheinlich der, die betreffende Person zu ver¬
anlassen, in dein heimischen Verhältnis Arbeit und Erwerb zu erlangen. Dieser
Zweck kaun aber nicht erreicht werden, so lange kein Mittel vorhanden ist, die
Vagabunden nach ihrer Nückmeldnng bei der Heimatsbehörde auch dort fest¬
zuhalten, und sie ohne weiteres sofort wieder in die Fremde ziehen. Es wäre
daher das beste, als Nebenstrafe für gewohnheitsmäßige Müssiggänger und
Landstreicher eine polizeiliche Aufsicht einzuführen, die sich von der schon jetzt
nach 39 des Reichsstrafgesetzbuches in Geltung befindlichen dadurch unter¬
schiede, daß nicht der Aufenthalt an bestimmten Orten untersagt, sondern unter
genauerer Kontrolle geboten werden könnte. Eine derartige Freiheitsbeschränkung
wäre nicht annähernd so drückend, als die Unterbringung in ein Arbeitshaus.
Findet sich außerhalb des Bezirks, wo der Bestrafte eingesperrt ist, für ihn
lohnender Erwerb, so ließe sich durch seine Überweisung in den andern Bezirk
Abhilfe schaffen. Alle diese Maßregeln wären allerdings vorläufig nur in
großen Armenverbänden mit gehöriger Organisation der Gemeinde- und Armen¬
verwaltung möglich. Zu ihrer vollständigen Durchführung müßten die kleinen
städtischen und Landgemeinden zu großer» Armenverbänden verschmolzen werden,
was auch aus vielen ander» Gründen wünschenswert wäre.
Zum Schluß noch einiges über die Ausländer. Nach dein wiederholt
angeführten 362 kann der Ausländer, wenn gegen ihn auf Überweisung
erkannt ist, statt in ein Arbeitshaus gesteckt zu werden, aus dem Bundesgebiet
verwiesen werden. Wie es scheint, wird von dieser Erlaubnis regelmäßig
Gebrauch gemacht. Kehrt der ansgewieseue Ausländer in das Bundesgebiet
zurück, so wird er mit Haft ohne Arbeitszwang bestraft.
Die wegen Vettelns und Landstreichers ausgewiesenen Allsländer kehren
aber vielfach zu uns zurück, ein Zeichen, daß es ihnen im deutschen Reiche
besser gefällt, als im eignen Heimatsstaat. So schön nun auch Gastfreundschaft
zwischen Staaten und Völkern ist, den ausländischen Müßiggängern gegenüber
wäre es wohl angemessen, ihnen den Aufenthalt bei uus zu verleiden, und zwar
durch Einführung kurzer, aber empfindlicher (z. V. durch Dunkelhaft, Ent¬
ziehung warmer Kost und weichen Lagers verschärfter) Freiheitsstrafen.
Wir enthalten uns weiterer Vorschläge, geben aber zu bedenken, daß über
kurz oder lang ein wirtschaftlicher Rückschritt eintreten kann, der dann sicher
die Zahl der Bettler und Landstreicher wieder vermehren wird, und dnsz in
der Zeit der Not Änderungen der hier angeregten Art schwerer durchführbar
sein werden, als in der verhältnismäßig günstigen Gegenwart,
eine Herren! Oder auf schweizerisch: Herr Präsident, meine
Herre! Oder, wie Georg III, einmal begann: Mhlvrds und
Waldschnepfen! Oder, wie freie Männer einander begrüßen
sollten: Bürger! Menschen!
Erheischten Ort und Anlaß nicht einen getragenen Ton, so
würde ich an die Spitze meiner heutigen Rede die Wahrheit stellen: Die Katze
läßt das Mausen nicht. Ich war fest entschlossen, die politische Arena andern
überlassend, die allgemeine Wohlfahrt nur noch durch Pflege meiner eignen
Person zu fördern. Du bist entbehrlich, sagte ich mir, und kannst dir die Auf¬
regungen des parlamentarischen Kampfes ersparen. Wo Staatsmänner von
der Bedeutung eines Eugen Richter, eines Bebel, eines Witzcl-Meyer — ach,
daß ich Sabor nicht mehr nennen darf! — wirken, da ist alles besorgt und
aufgehoben, das Volk kann seine Vertreter loben.
Das kann es auch. Es sei fern von mir, die Verdienste der Gefeierten
und der vielen Wackern, die ihnen nacheifern, zu unterschätzen. Und dennoch,
ohne Überhebung spreche ich es aus, finde ich mich nicht ersetzt. Die volle
Konsequenz, die entschiedene Entschiedenheit lassen oft auch die vermissen, die
mit Recht ein so großes Gewicht auf Konsequenz und Entschiedenheit legen.
Auch sie nehmen Rücksichten, auch sie hemmen manchmal plötzlich ihren glän¬
zenden Anlauf, wenn sie sich vor einem Graben sehen, den zu überspringen die
.Kraft, in den hineinzuspringen die Kühnheit mangelt. Da wird der Farbe der
Entschließung die Blässe des Gedankens angekränkelt, des Gedankens, ob der
Graben nicht zu tief, ob die Flüssigkeit auch rein und wirklich flüssig, ob es
nicht wahrscheinlich sei, daß der Harras im Sumpfe steckend auch noch aus¬
gelacht werde. Dies Schauspiel bot z. B. wieder die Reichstagssitzuug vom
17. Juni dar. Niemand wagte, ohne Schelk die Konsequenzen zu ziehen, das
letzte Wort zu sprechen. Ach, auch die Besten zeigten sich nur als Halbe.
Und Wie Jemine d'Are vernahm ich einen Ruf, dem zu folgen ich mich nicht
weigern truü. Ich rücke wieder in die Schlachtlinie ein, ich bilde ganz allein
eine neue Fraktion, die Fraktion des Entschiedensten. Schon dieses Beispiel
wird hoffentlich eine neue Epoche einleiten. Denn so lange nicht jeder einzelne
Abgeordnete eine besondre Partei bildet, so lange wird die Charte nicht eine
Wahrheit werden, wie Louis Philippe sagte.
Entschiedenheit in Wort und That wurde dermaleinst auch mit dem Schlag-
worte Lairs xlir.280 charakterisirt. Heutzutage sind wir in der Erkenntnis weiter
vorgedrungen. Was ist die Freiheit ohne Phrasenklang? Ich werf sie hin,
da ihr Gehalt verloren! Gerade wo die entschiedenste Entschiedenheit besteht,
da stellt die Phrase stets zur rechten Zeit sich ein. Ja, es kann vorkommen,
daß nach Abwicklung aller Phrasen vou der ganzen Entschiedenheit nichts
übrig bleibt.
Hier haben Sie knapp und klar mein Programm. Und nun zur Sache!
Als über die untere Altersgrenze bei den Wahlen für die Gewerbegerichte
gestritten wurde, stellte der hochverehrte Kollege Witzel-Meyer eiuen Satz auf,
der in Gvldschrift über die Thür jedes Hauses geschrieben werde» sollte, in
den, mau Gesetze berät: „Gesetze sollen so eingerichtet werden, daß sie den Be¬
teiligten gefallen." Nur die Schlichtheit und Anspruchslosigkeit, mit der dieser
schöpferische Gedanke ausgesprochen wurde, kaun es verschulden, daß nicht das
ganze Haus in den begeisterten Ruf ausbrach: „Ein Daniel!" Ich dachte
schon daran, zu beantragen, daß die ganze Gesetzsammlung dem Redner mit
dem Ersuchen, sie nach jenem Prinzip umzuarbeiten, ins Haus geschickt würde.
Denn wir sind ja leider so reich an Gesetzen, die gar keinem Beteiligten ge¬
fallen, lind an andern, mit deuen nur ein Teil der Beteiligten einverstanden
ist. Das Strafgesetzbuch, die Gesetze über Rechtsstreitigkeiten lind so viele
andre werden von Grund aus umgestaltet werden müssen. Leicht wird es uicht
sein, z. B. die Gesetze zum Schutze des Eigentums so einzurichten, daß sie auch
den Herren Einbrechern gefallen. Aber für den Abgeordneten Daniel wäre
das offenbar eine Kleinigkeit.
Was thun jetzt seine Parteigenossen? Sie ereifern sich auch dagegen, daß
die Wählbarkeit erst mit dem dreißigsten Jahr eintrete» soll, »ud verlange»
dafür das fünflliidzlvnnzigste. Wo bleibt da die Konsequenz? Das würde
allen unter fünfundzwanzig Jahren nicht gefallen. Herr Rickert bezog sich
darauf, daß sehr hervorragende Staatsmänner, wie Gras Wilhelm Bismarck,
mit fünfundzwanzig Jahren im Reichstage gesessen habe». Das Beispiel war
nicht ehe» glücklich gewählt. Sprach er im Ernst, so hätte gerade er doch
Grund genug, den Unterschied zwischen einem tüchtigen Verwaltungsbeamten
und einem hervorragende» Staatsmmm anzuerkennen. Und wollte er »ur die
Gelegenheit benutze», um den frühern Reichskanzler ein wenig zu kitzeln, so
fiel das wieder schüchtern aus. Da ist Herr Auer tapferer, der einige Tage
später sagte, die Äußerung, dnß das Kapital auswandern könnte, wenn die
Fabrikanten zu sehr belastet würden, sei bereits so ans den Hund gekommen,
daß sie letzthin sogar in Friedrichsruhe gebraucht worden sei. Sehen Sie, Herr
Nickert, so muß man dein Manne kommen, der sich etwas darauf einbildet,
das deutsche Reich neu geschaffen und ein Aierteljahrhnndert lang die euro¬
päische Politik geleitet zu haben. AIs ob das nicht jeder von uns gethan
haben würde, hätte man uns »ur rangelassen! Doch uns hat noch keiner
ein Portefeuille angeboten, weder Herrn Nickert, noch Herrn Auer, und mir
erst recht nicht. Und so gut wie der Abgeordnete Auer konnte Fürst Bismarck
gar nicht regieren, weil er kein Sozialdemokrat ist. Die Sozialdemokraten
sind die einzigen einsichtigen, urteilsfähigen, gerechten, vorurteilsfreien
Menschen; das sagen sie selbst, also muß es wahr sein. In die Gewerbe-
gerichtc, sagen die Herren, müssen so viele als irgend möglich von unsrer
Partei gebracht werden, nicht weil sie etwas von den Sachen verstünden,
sondern weil sie Sozialdemokraten sind. Und einer der hervorragendsten von
ihnen, Herr Grillenberger, gab auch gleich ein Beispiel, wie sachlich sie vor¬
gehen. „Ich würde, wenn gar kein andrer Grund gegen das dreißigste Lebens¬
jahr vorhanden wäre, schon deshalb dagegen stimmen, weil der Abgeordnete
Ackermann dafür ist." Wenn der Verfasser des „Zitateuschatzes" dieses Wort
nicht für die nächste Auflage vvrinerkt, so versteht er sein Geschäft nicht. Es
muß gleich neben die unbekannten, aber gemißbilligten Gründe kommen.
Da ich wieder bei der Altersgrenze angelangt bin, so erlaube ich mir die
Frage an Herrn Nickert: Warum denn fünfundzwanzig Jahre? Weil man
eben in diesem Alter Mitglied des Reichstages werden kaun. Ein schöner
Grund, eine längst überwundene Verfassung! Wie alt war denn Alexander der
Große, als er den Thron bestieg? Noch nicht zwanzig. Mozart kvnzertirte
mit sechs Jahren, und mit achten komponirte er Sonaten. Kinder, die kaum
aus den Windeln sind, tanzen schon ans dem Seile, und das — ich weiß
nicht, ob einer von den Herren es schon versucht hat — ist noch etwas
schwieriger, als in einer Streitigkeit zwischen einem Arbeitgeber und einem
Herrn Arbeiter dein letztern Recht geben, weil er ein Sozialdemokrat ist.
Darum fort mit jeder Altersgrenze; wer eine Stimme hat, muß sie auch ab¬
geben können, das ist Menschenrecht, und der Stumme darf durch Zeichen
sprechen, konsequent, Herr Nickert, entschieden!")
Damit ist schon entschieden, daß auch das weibliche Geschlecht das Wahlrecht
erhalten muß, das aktive und das passive, wenigstens alle Mädchen und Franc»,
die sich zur arbeitenden Klasse zählen. Für dieses Recht ist der Abgeordnete
Singer eingetreten, aber auch er hat mich nicht befriedigt. Ich sage das mit
Bedauern, denn an ihm habe ich sonst viel Freude. Ich will unerwähnt lassen,
daß, seitdem er hier ist, die Rechte besser von der äußersten Linke» denkt als
früher, weil sie sich sagt: die Sozialdemokraten können doch nicht so gefähr¬
lich sein, wie sie behaupten. Ich bewundere an Herrn Singer vor allem
den Scharfblick. Andre von seiner Art setzen die von den roßtäuschelnden
Ahnen überkommenen Traditionell auf dem Turf fort und äffen auch sonst
den Adel nach, weil sie sich einbilde», von ihm als gleich anerkannt zu
werden, wenn sie ebenso viele Pferde laufen lassen und ebenso schone Karossen
und andres mehr halten. Herr Singer hat die Aussichtslosigkeit solcher An¬
strengungen eingesehen und hat sich mit Entschlossenheit auf einen Boden gestellt,
ans dem er schon durch sein Erscheinen ein gewisses Aufsehen erregen mußte. Der
Erfolg war ihm so sicher, wie dein Citoheu Philippe Egalitv, und gewiß hat
er sich vorgenommen, vorsichtiger als der zu sein. Wenn nun gerade er, der
dnrch sein Verhältnis als „Konfektionär" zu deu Arbeiterinnen schon vor
Beginn seiner parlamentarischen Laufbahn eine gewisse Berühmtheit erlangt
hatte, für „die berechtigten Wünsche der Frauen" eintrat, so entbehrte das
wieder nicht der Pikanterie. Bringt er aber in Zukunft nicht bessere Beweis¬
gründe vor, so könnte er seineu Genossen doch verdächtig werden. Die Welt¬
geschichte muß er hassen, das begreife ich, denn wer sich mit der einläßt, der
behält nicht die Naivität, auf das geheime Zukunftsbild zu schworen, das
verschleierte Bild, dessen Entschleierung der Abgeordnete Biester zu verlangen
unartig genug war. Doch ist meines Wissens das Studium der französischen
Revolution auch den Sozialdemokraten strenger Observanz gestattet. Warum
rief er nicht die Damen der Halle, die Trikotenseu aus der Schreckenszeit an,
diese leuchtenden Vorbilder für Frauen, die sich an „deu Dingen des öffent¬
lichen Lebens" beteiligen wollen? Warum erinnerte er nicht daran, daß selbst
in der Revolution den Frauen das Wahlrecht verweigert wurde, und zwar
mit denn veralteten Grunde, daß die Natur selbst dein Weibe eine andre Stel¬
lung und andre Aufgaben zugewiesen habe als dem Manne? Er hätte ja
dieser beschränkten, reaktionären Entscheidung die Schuld für deu unerfreulichen
Ausgang der glorreichen Revolution beimessen können. Und wenn er nicht
so weit zurückgreife» wollte: giebt es nicht eine Louise Michel, dies Heldenweib?
Haben nicht bei einzelnen Aufständen in neuester Zeit die Weiber sich im
Werfen mit Steinen mindestens ebenso kräftig und entschieden gezeigt, wie
ihre Müuner?
konsequent, entschieden! muß ich auch Herr» Singer zurufen. Wenn
sogar solche Geister zu wenig Energie entwickeln, dann muß eben der Ungewählte
wieder in die Bresche springen.
Unter der Überschrift „Für unsre
Freiheiten" veröffentlicht Jules Lemaltres in Ur. 173 des „Figaro" einen
Schmerzensschrei, der uicht bloß für die „republikanische Freiheit," sondern für den
modernen Staat überhaupt charakteristisch ist, und den wir deshalb abgekürzt hier
wiedergeben wollen.
Da leben wir nun — sagt er — unter der dritten Republik und hundert
Jahre nach der großen Revolution und — schmachten nach Freiheit. Von Paris
will ich nicht reden. Hier haben wir keine Gelegenheit, unsre Unfreiheit gewahr
zu werden. Paris ist der große Jahrmarkt für die Vergnügungssüchtigen Europas.
Man läßt uns hier unserm Vergnügen wie unserm. Tagewerk nachgehen, und mehr
verlangen wir uicht. Sonstige Freiheiten haben nur zwar auch noch, allein wir
fühlen selten das Bedürfnis, davon. Gebrauch zu macheu, und thun wir es ja
einmal, so bereitet es uus keine Genugthuung. Was sollen uns unsre politischen
Rechte? Unsre Stimme ersäuft in dem Meere der Stimmen von einigen hundert¬
tausend Hvhlköpfen und Fanatikern. Was die Kandidaten anlangt, so hat man
nur die Wahl zwischen einem Narren der äußersten Linken und einem Stcirrkvpf
der äußersten Rechten. In solchen Fällen enthält man sich der Abstimmung, oder
man verliert seine Stimme nu Pasteur oder Renum. Der ganze Lärm ist eiueiu
gleichgiltig. Paris ist für uns keine Heimat; fast keiner von uus ist hier geboren;
es ist der Ort, wo mau sich am wenigsten an den Staat und vom Staate ge¬
bunden fühlt und wo man demnach den Druck schlechter Gesetze am wenigsten spürt.
In der Provinz aber, in den Dörfern und kleinen Städten fühlt man sich
wirklich bedrückt. Nicht gerade in der Weise wie die Shrakuscmer unter Dionhsius
und die Schweizer unter Geßler, aber doch in recht empfindlicher Weise bedrückt.
Wir haben da z. B. die Geschichte der kleinen Gemeinde Vicq, die für ihre Schule
durchaus die Ordensschwestern behalten wollte, und der die weltliche Lehrerin
— armes Mädchen! - durch Gendarmen, aufgezwungen wurde. Der Präfekt,
der Unterpräfekt und die guten Gendarmen haben uur ihre Schuldigkeit gethan;
wer Unrecht hat, das ist eben das Gesetz. Es ist eine Ungeheuerlichkeit, daß eine
Gemeinde ihre Volksschule uicht soll nach ihrem Belieben, einrichten und den Per¬
sonen, anvertrauen können, die sie selbst wählt. Da verlohnte es sich wahrhaftig
nicht, 1789 zu machen!
Ein andres Beispiel solcher Tyrannei. In meinem Heimatsdorfe ist die
Schule überfüllt. Die Knabenklasse, wie die Mädchentlnsfe zählen jede über neunzig
Kopfe, sodaß der eine Lehrer und die eine Lehrerin offenbar nicht genügen. Der
Gemeinderat hat nnn beschlossen, die Kinder unter sechs Jahren, Knaben und
Mädchen zusammen, in einer Kleinkinderschule s^ssUs et'nsilo oder ßovls in-rtsrneUs
sagt man in Frankreichs unterzubringen, wodurch die. Schülerznhl der beiden Klassen
auf das normale Maß zurückgeführt werden würde. Aber die Sache darf nicht
viel kosten, denn die Gemeinde ist verschuldet, und der Wein ist vier Jahre hinter
einander mißraten. Der Maire erholt sich Rat bei Sachverständigen und kommt
zu dem Ergebnis, daß mau den Lehrsaal und die Wohnung der Lehrerin mit
höchstens 10 000 Franks herstellen kann; Buden und Baumaterialien sind spott-
billig. Der Plur wird dem Schulinspektor vorgelegt. „HM ihr denn in euerm
Bauplan, sagt dieser gestrenge Bureaukrat, einen Bauplatz von so und so viel
Meter Länge und Breite vorgesehen? Habt ihr auch so und so viel Fenster von
der vorschriftsmäßigen Große? Habt ihr auch so und so viel Kubikmeter Luft für
jedes Kind? Entspricht euer Plan den gesetzlichen, ans den Grundsätzen der
neuesten hygienischen Wissenschaft abgeleiteten Vorschriften? Nicht? Nun, daun
gehts nicht. Bei der Kopfzahl eurer Gemeinde könnt ihr eine Kleinkinderschule
nicht billiger haben als für 30 000 Franks. So will es das Gesetz!" Nun,
dann können wir eben keine baue», sagt der Maire und empfiehlt sich.
Kami es etwas Unvernünftigeres und Bedrückeuderes geben als dieses Ver¬
fahren? Es ist ja löblich, wenn die Regierung namentlich in großen Städten
darauf sieht, daß bei Schulbnuteu nicht die einfachsten Regeln der Hhgiene gröblich
verletzt werden. Aber darauf sollte sie sich auch beschränken. Ich kann es be¬
schwören, daß die Kinder meines Heimatsdorfes in dem geplanten Saale vortrefflich
aufgehoben gewesen wären. Er hätte ans offenem Felde gelegen, in der gesündesten
Luft; er wäre weit geräumiger nud sauberer gewesen als die elterlichen Woh¬
nungen, in denen die Würmchen schlafen, ohne ihre roten Backen zu verlieren.
Rechnet man außerdem, daß sie sich täglich volle zehn Stunden im Freien herum¬
treiben, auf der Straße, in den Weinbergen, am Ufer der Loire, uuter einem
milden Himmel in eiuer sauerstoffreichen Luft, was will man dn mehr für die
Gesundheit?
Ähnliche Fälle ereignen sich aller Augenblicke in tausend und abertausend
kleinen Landgemeinden. Mau zwingt sie, Schulpaläste zu bauen, und sich auf ein
Jahrhundert yinnns in Schulden zu stürzen. Niemals haben sich die kleinen Ge¬
meinde« in einem solchen Zustande der Bedrückung und so unbehaglich befunden;
bloß weil es dreihundert Abgeordneten, intoleranten Politikern, die, in der Stadt
aufgewachsen, keine Ahnung von ländlichen Verhältnissen haben, in einem Anfalle
des jakobinischen und des Zentralisirnngsfiebers beliebte, das Gesetz über den obli¬
gatorischen Laiennnterricht zu erlassen.
Diese Unterdrückung der Geineiudefreiheileu Null mir nicht in deu Sinu.
Nicht daß wir Dörfler auf die Politischen Freiheiten, die Preß- und Vereius-
freiheit namentlich, verzichten möchten, aber wir haben doch eigentlich sehr wenig
davon. Dagegen brauchen wir die Gemeindefreiheiten sehr notwendig und würden
sie als eine große Wohlthat empfinden. Von den politischen Freiheiten machen
wir fast mir durch Stellvertreter Gebrauch; die Gemeiudefreiheit gebrauchen wir
selbst und genießen ihre Früchte. So müsse» wir also gerade die Freiheiten ent¬
behren, die uns notwendig und teuer sind, während man uns mit solchen über¬
schüttet, mit denen wir nichts anzufangen wissen. Wo es sich um die Entschei-
dung handelt, was wir für eine Staatsregierung haben fallen, da darf der
unwissendste Tagelöhner seine Stimme abgebe«; aber in den Angelegenheiten seines
eignen Dorfes hat dessen Gemeinderat nichts zu sagen.
So liegt denn das Gemeindeleben darnieder. Und doch wäre seine kräftige
Entfaltung von höchstem Werte. Wer daheim seinen Thätigkcitsdraug befriedigen
und sich nützlich machen kaun, der wandert nicht fort. Könnte man sich entschließen,
den Gemeinde« wieder so viel Freiheit zu gewähren, als die griechischen Deinen,
die römischen Munizipien und die französischen Gemeinden nnter dem anoicm
rkg'imo besaßen, so würde dadurch die unselige Auswanderung der Landbevölkerung
in die großen Städte aufgehalten werden. Einstweilen ist der Passive Widerstand
der Gemeinden gegen die Regieruugstyraunei heilige Pflicht.
Vor einigen Wochen er-
schienen in der Berliner „Volkszeitung zwei Aufsätze, die die Lage der Gymnasial¬
lehrer in Preußen in sehr bitterer Weise besprachen. Das wäre ja nnn an sich
nicht tragisch zu nehmen; aber traurig ist es, daß das Blatt diesmal nur zu sehr
Recht hatte. Die Darlegungen des Verfassers gingen ans von einer Übersicht der
Beamtengehalte verschiedner Klassen in einer Stadt mit Oberlnndesgcricht. Daraus
ergab sich, daß z. B. der zweitälteste Lehrer des betreffenden Gymnasiums weniger
Gehalt bezieht als mehrere Subalternbeamte seines Wohnorts; daß zwei Hilfs¬
lehrer, von denen jeder über dreißig Jahre alt ist, je 1500 Mark erhalten; daß
selbstverständlich die Oberlandesgerichtsräte in einer unvergleichlich bessern Lage sind,
als die Oberlehrer u. s. w. Die Übersicht ist nnn freilich schon vor zwei bis drei
Jahren bekannt geworden, aber die Verhältnisse haben sich seitdem nicht geändert,
nur sind die in Betracht kommenden Personen älter geworden.
Und bei solchen Verhältnissen, unter denen ein Mann, der vier bis fünf Jahre
einem anstrengenden Studium gewidmet hat, der dann das Probejahr (auch zwei)
abznmnchen und in der Regel noch mehrere Jahre unentgeltlich zu arbeiten hat,
durchschnittlich achtundzwanzig Jahre alt wird, ehe er 1500 Mark verdient, und
bis in die Mitte der dreißiger Jahre gelangen kann, ohne fest angestellt zu werden,
d. h. 1800 Mark und WohuuugSgeldznschuß zu erhallen, unter solchen Verhält¬
nissen sind die Gymnasiallehrer bei der letzten Gehaltserhöhung wieder unberück¬
sichtigt geblieben, „aus Mangel an verfügbaren Mitteln." Das ist ungerecht und
muß auf die Dauer in den beteiligten Kreisen Erbitterung erzeugen, wie denn auch
Angehörige andrer Stände stets sehr erstaunt sind, wenn sie einmal davon hören,
in welcher Pekuniären Lage sich ein preußischer Gymnasiallehrer befindet. Hier ist
Abhilfe nötig, und der nationalliberale Antrag, es solle in dem nächsten Etat der
nötige Betrag dafür eingestellt werden ohne Rücksicht auf die Finanzlage, war so
berechtigt wie möglich, aber — er ist abgelehnt worden.
Jetzt ist die Lage der Gymnasiallehrer derart, daß nicht in einzelnen, sondern
in vielen Fällen ein gleichaltriger Volksschullehrer, der natürlich viel früher ange¬
fangen hat zu verdienen und dem seine Ausbildung verhältnismäßig geringe Kosten
verursacht, sich besser steht als sein akademisch gebildeter Kollege; denn in den
größern und mittlern Städten steigt sein Gehalt sehr bald über 1500 Mark, ein
wissenschaftlicher Hilfslehrer aber weiß gar nicht, wann ihm dies Glück widerfahren
wird; denn ein geregeltes Aufrücken giebt es für den preußischen Gymnasiallehrer
nicht. Der Herr Kultusminister hat neuerdings wieder erklärt, er beschäftige sich
schon sechs Jahre mit der Frage, sei aber noch zu keinem bestimmten Ergebnis
gekommen. Das ist sehr bedauerlich; denn mau versteht nicht, wo die ungeheuern
Schwierigkeiten liegen sollen. Hoffentlich teilt der Herr Minister nicht die klassische
Ansicht Wieses, der seinerzeit so berechtigte Entrüstung hervorgerufen hat: für die
Gymnasiallehrer sei ein geregeltes Aufrücken nicht zu empfehlen; es sei nützlich,
wenn sie einen Sporn zu besondern! Eifer hätten: Wie einfach liegt die Sache
doch verglichen mit der sozialen Gesetzgebung, bei der in weit kürzerer Zeit viel
bedeutendere Fragen entschieden worden sind! Hier fragt sichs doch eigentlich
nur: Soll die Sache für den ganzen Staat oder nach Provinzen geordnet werden?
Wir würden bei der großen Zahl der städtischen Anstalten, die zunächst nicht in
Betracht kommen können, das erste vorziehen; die Hauptsache ist aber, daß überhaupt
eine Regel an Stelle der Willkür tritt, die zum Strebertum verleitet. Daß dabei
solche, die nur ein Lehrerzeugnis besitzen, anders behandelt werden müssen als solche
mit Oberlehrerzeugnis, ist ohnedies klar; die erster» könnten eben einfach nur bis zur
Gehaltsstufe eines ersten ordentlichen Lehrers aufrücken oder müßten eine andre Skala
haben. Fortwährende Versetzungen wären durchaus nicht nötig. Brauchte einmal
eine Anstalt mehr Geld, als durchschnittlich für sie verfügbar ist, so würde das an
einer andern mit vorwiegend jüngern Lehrern erspart; jedenfalls aber brauchte
niemand mehr auf den Tod seiner Vordermänner zu warten. Diese ganze Sache
könnte geregelt werden ohne nennenswerte Geldopfer.
Aber freilich — auch eine durchgreifende Gehaltsaufbesserung ist durchaus
nötig. Dazu muß in einem großen Staate das Geld beschafft werden, gerade so
gut wie für die Schlagfertigkeit unsrer Armee, und glücklicherweise handelt es sich
ja hier nur um einige Millionen. Auch die Zahl der Hilfslehrer — am meisten
an königlichen Anstalten — ist verhältnismäßig viel zu groß. An den ursprüng¬
lichen Zweck der Einrichtung, dem vielleicht nur vorübergehenden Bedürfnis nach
einer Lehrkraft abzuhelfen, denkt man. nirgends mehr; sie wird einfach benutzt, um
Geld zu sparen. Es giebt um großen Anstalten nicht selten fünf bis sechs Hilfs¬
lehrer (abgesehen von den unbesoldeten Kandidaten), auch an mittlern zwei bis drei.
Ja neuerdings sind auch die „halben" Hilfslehrer nichts seltenes mehr, die
zwölf bis vierzehn Stunden zu unterrichten haben und dafür 1000 oder auch uur
750 Mark jährlich erhalten — eine Summe von erbärmlicher Geringfügigkeit.
Wir haben nur einige der dringendsten Übelstände berührt; aber das Gesagte
genügt wohl, um zu zeigen, daß hier baldige Abhilfe dringend nötig ist, im Interesse
des Staates nicht minder als in dem der Lehrer. Jeder Arbeiter ist seines
Lohnes wert.
Manche wissenschaftliche
Frage hat ein merkwürdiges Schicksal: die Männer vom Fach treffen mit großer
Einmütigkeit in einer bestimmten Antwort zusammen, während sich die Welt der
Laien mit äußerster Hartnäckigkeit für eine ganz andre Lösung entscheidet. Dieses
Schicksal hat auch die Frage nach der Heimat Walthers von der Vogelweide gehabt.
Als im September des vergangnen Jahres in Bozen ein Denkmal Walthers ent¬
hüllt wurde, da glaubten die Tiroler einen der Ihrigen zu feiern; sie sind fest
überzeugt, daß seine Wiege im Laiener Ried im Thale des Eisack gestanden habe.
Die Wissenschaft dagegen behauptet, daß Walthers engere Heimat nicht zu ermitteln,
höchstens hält sie es im allgemeinen für wahrscheinlich, daß er ein Österreicher
gewesen sei, und der hervorragende Forscher, der in Bozen die Festrede hielt, Karl
Weinhold, hat mit feinem Sinne nur davon gesprochen, daß die Männer vom Eisack
und von der Etsch Waldherr das .Heimatrecht aus freiem Willen erteilt hätten.
Neuerdings nun hat Karl Domanig eine Entdeckung gemacht, die einen wich¬
tigen Beweis für die Tiroler Heimat bringen soll. Da seine Ausführungen much
bei Fachgenossen Beifall zu. finde» scheinen und schon in die Tageslilterntnr ihren
Weg genommen haben, so ist es Wohl angemessen, sie mit einem ganz kurzen Wort
zu kennzeichnen. Die Sache verhält sich folgendermaßen. Walther spricht wieder¬
holt von den Urteilen und Stimmungen eines ZMkvimms, eines Klausners; wer
damit gemeint sei, darüber hat man sich vielfältig den Kopf zerbrochen. Domnnig
nun vertritt die Ansicht, der KIKssnaoro sei nichts andres, als eine Poetische Objek-
tiviruug von Walthers eigner Person und sei nicht mit Klausner, sondern mit
Klausener zu übersetzen, bedeute also einen Mann von Klausen. Klausen aber
liegt kaum anderthalb Stunden von Laien entfernt; somit kann, kein Zweifel mehr
bestehein Walther war ein Tiroler. Das wäre sehr schön und gut. Leider liegt
nur da ein ganz kleines, unscheinbares grammatisches Steinchen, über dein die neuere
Auffassung zu Falle kommeu muß. Der alte Name von Klausen ist nämlich posa,
vlusna, vlussnn,,*) und ein Einwohner dieses Ortes konnte nnr als vlÄsoimoiv.,
nicht als Olgssnasro bezeichnet N'erden. So miisseu >vir denn leider zu dem durch¬
bohrenden Gefühle unsrer Untvissenheit zurückkehren und uns damit trösten, daß
uns noch mancher andre gefeierte Minnesänger seine Heimat nicht verrät, daß es
uns z. B. noch nicht gelungen ist, den klassischen Vertreter der höfischen Er-
zählungskunst, Hartmann von Ane, mit Sicherheit einer bestimmten Landschaft zu¬
zuweisen.
Ein Hauptgrund für diese Ratlosigkeit liegt in dem Umstände, daß so viele
unsrer mittelalterlichen Dichter unstete fahrende Gesellen gewesen sind. Ans ihren
Wanderungen haben sie heimische Eigentümlichkeiten abgelegt und oft dafür fremde
nugeuvmmeu. So hat Wolfram von Eschenbach, von dem wir allerdings trotzdem
wissen, daß er bei Ausbund zu Hause war, auf der Wartburg thüringische Be¬
sonderheiten angenommen, und Hans von Bühel, ein Alemanne ans der Nähe von
Rastatt, hat in den Diensten des Erzbischofs von Köln gelernt, fränkische Laute
und Formen einzumischen. Wenn daher Domanig noch einige sprachliche Eigen-
tllinlichkeiten Wnlthers anführt, die angeblich speziell tirolisch sind und gleichfalls
für seine Herkunft aus Tirol zeugen sollen, so kann auch diesen natürlich nicht die
geringste Beweiskraft beigelegt werden.
Eine wichtige Quelle für die Geschichte der Verwaltung Friedrichs sind die
Kabinetsordres und die kurzen schriftlichen Randbemerkungen, die sogenannten
Marginnl-Resolutionen, mit denen der .König die ihm zur Prüfung und Unterschrift
vorgelegten Schriftstücke versah. Schon Preuß hat im zweiten Bande seines
„Urknndenbuches zur Lebensgeschichte Friedrichs des Großen" (18K3) eine Auswahl
von mehr als hundert solchen Verfügungen des Königs gegeben, und einige der
derbsten und witzigsten sind allgemein bekannt. Doch fehlte bisher eine ausführliche
Zusammenstellung und Verarbeitung des reichen Stoffes. Etwas Abschließendes
bietet nun zwar auch Stadelmmm nicht. Sein Buch ist ein Nebenertrag seiner
Arbeiten für die „Publikationen aus deu königl. preuß. Staatsarchiven"; es enthält,
wie der Verfasser selbst bemerkt, überwiegend Fragmente, einzelne Beiträge zur
Charakteristik des Königs und zu der Kenntnis seines Wirkens. Aber trotz
mancher Wicken und Mängel bildet das Buch eine wertvolle Zugabe zu jeder
politischen Geschichte. Friedrichs. Die rastlose Thätigkeit und das unermüdliche
Vorwttrtstrciben des Königs, seine Einsicht, sein Streben nach Einfachheit, Wahrheit
und Klarheit, seine unerbittliche Strenge gegen die Beamten, herber Tadel und
scharfe Vermnhnungen selbst bei geringen Fehlern und Unterlassungen, viel seltener
eine wohlwollende Aufmunterung oder nach treuer Pflichterfüllung warme Aner¬
kennung, zuweilen ein fast grausamer Witz und schonungsloser Spott — alle diese
Eigenschaften, die die Erscheinung des Königs nicht immer liebenswürdig, aber fast
immer bewundernswert machen und von denen in seinem Bilde keine fehlen darf,
treten nirgends deutlicher hervor, als in diesen kurzen, rasch hingeworfenen, nnr
für den Empfänger bestimmten Marginalien. Die zahlreichen Urkunden sind nicht
zeitlich — häufig fehlt leider die Zeitangabe überhaupt —, sondern inhaltlich nach
den verschiednen Gebieten der VerwnltnngSthätigkeit geordnet: Kolonisation, Agrnria,
Gewerbewesen, Bauthätigkeit, Militärisches, Rechtspflege, Religion und Kirche,
bildende'Künste; Kabinetsordres verschiednen Inhalts folgen; eine kurze Schilderung
der täglichen Lebensweise Friedrichs und seiner letzten Tage bildet die Einleitung
und den Schluß des Buches.
Dieses auf zwei Bände in Hochgnart berechnete Werk will das Staats- und
Rechtsleben im Zusammenhange mit den übrigen Schöpfungen der menschlichen
Kultur und deren bisheriger Entwicklung behandeln, indem es überall ans die Ur¬
anfänge des Werdens zurückgeht, es null in. rein sachlicher Weise, fern von jeder
Voreingenommenheit und Parteileidenschaft, über die vielverzweigten Fragen des
politischen Lebens unterrichten. Ganz besonders aber soll es für den Jünger der
Rechtswissenschaft ein Hilfsmittel werden, die Grundlage seines Fachsludinms zu
erweitern und einen Stnndpnnkt zu gewinnen, von dem aus er das ganze Gebiet
seiner, das gesamte Kulturleben umspannenden Wissenschaft mit freiem und sicherm
Blick überschauen kann. Fürwahr ein großes Unternehmen; aber wie verhält es
sich mit der Ausführung?
Die uns vorliegende acht Bogen starke erste Lieferung bringt nach einer kurzen
Einleitung über den Zweck des Rechts eine Erörterung über die natürlichen Grund¬
lagen des Staates, nämlich über das Land in seiner natürlichen Beschaffenheit und
Ausdehnung, der eine statistische Tafel über die Größe und Bevölkerung der euro¬
päischen Staaten (einschließlich Liechtensteins und Monacos), der Vereinigten Staateil
von Amerika und Ehinas beigegeben ist, sonne über die Stellung des Menschen in
der Natur unter Anschluß einer ausführliche« Darstellung der Darwinschen Ab¬
stammungslehre und — in scheinbar objektivem Gewände — einer Bekämpfung
nicht nur des biblischen Standpunktes über die Entstehung des Menschengeschlechts,
sondern auch der Anschauung, daß der Mensch etwas andres als ein Tier sei,
da doch seine Seele nur eine höher entwickelte (Pvtenzirte) Tierseele sei. Hieran
anschließend wird eine ausführliche Erzählung über die Entwicklung des Menschen¬
geschlechts vom Stein- zum Metallzeitalter gegeben. Dann folgt eine ausführliche
Darstellung des wirtschaftlichen Lebens und seiner Entwicklung vom Zustande des
Jäger- und Fischervolkes bis zu dem des Jndustrievölkes und der zur Lösung der
sozialen Fragen aufgestellten kehren, »voran sich 2l Seiten Statistik über das
wirtschaftliche Leben im deutschen Reich, insbesondre in Preußen und Sachsen, und
in Großbritannien anschließen. Der folgende Abschnitt über das geistige Leben
behandelt zunächst die Sprache, bezüglich deren uus wieder ausführlich aus
einander gehest Ivird, das; wir uns auf ihren Behn, ja nichts gegenüber de»i
Tier einbilden sollen, dn much dieses seine Sprache rede. Nach einem Auschnitt
über die Entwicklung des Schrifttums behandelt ein weiterer das geistige Leben
der Gegenwart und bringt eine Statistik über die litterarische Produktion
Deutschlands und die Entwicklung des ZcituugsweseuS in Deutschland, Italien,
Großbritannien und den Vereinigten Staaten von Amerika. Daran reiht sich
eine Schilderung des heutigen Pnrteiwescus und eine Statistik der deutschen
Neichslngsivahleu. Als Anhang ist ein System der heutige» Wissenschaften nach
deren Einteilung in Natur-, Kultur-, philosophische und theologische Wissenschaften
beigefügt, die aber in der vorliegenden Lieferung nnr zum Teil zum Abdruck gelangt
ist. Im weitern Verlauf soll das Buch noch das sittliche und religiöse Leben des
Menschen, die Menschenrassen, die Nationen und Volker, die Volksschichten, die
Verschiedenheit des Geschlechts, sowie die Entstehung, die Formen und die Funktionen
der Staatsgewalt schildern.
Dürfen wir von der ersten Lieferung ans das ganze Werk schließen, so können
wir unser Urteil nnr dahin zusammenfassen, daß wir dein Jünger der Rechts¬
wissenschaft das Henschelsche Buch nicht als Hilfsmittel zur Erweiterung der Grund¬
lagen seiiies Studiums oder gnr zur Gewinnung eines Standpunktes empfehlen
können. Das Buch bringt eine Menge Dinge, die für das juristische Fachstudium
gar nicht oder nur von beiläufigen Interesse sind. Daneben fehlt iroh der stellen¬
weise übermäßige» Breite der Darstellung anderseits doch auch wieder die Voll¬
ständigkeit, und es macht den Eindruck, als ob der Verfasser versrhiednes, ihm zu¬
fällig unter die Hände gekommenes Material mit der Papierscheere zusammengestellt
hätte, um dein Stammgast am Biertisch einen Anhalt zu viele», über allerhand
seht ans der Tagesordnung stehende Frage» ein billiges, wen» auch lückenhaftes
und uiigrüiidlicheS Urteil zu gebe». Der angehende Jurist ivird aus dem Buche so
gut wie nichts lernen.
Bckamittich gehört der Essay, die biographisch-kritische Darstelluiig eiuer ein¬
zelnen hervorragenden Persönlichkeit des geistigen Lebens oder der Politik zu den
beliebtesten ivissenschnftlich-litterarischen Formen der Gegenwart. In einer Zeit
des Skeptizismus, wo sich die Weltanschmmngen so grenzenlos zersplittern und die
große Masse der Gebildeten einer einheitlichen Grundanschauung entbehrt; in einer
Zeit ferner, die alles Schwergewicht auf die Thatsachen der Geschichte legt, die zu
sammeln, zu ordnen und zu durchdenken mau noch lauge nicht fertig ist, dn muß
sich der allgemeine Geschmack derjenigen Form zuwenden, die es gestattet, die Un¬
endlichkeit der geschichtliche» Wirklichkeit zu begrenzen, die die Aussicht darauf sichert,
daß das begreiizte Feld sorgfältig d»rchgcnckert werde, und dnrch eben diese Be¬
grenzung des Forschers auf das Leben »ud die Wirksamkeit eiues geschichtliche»
Charakters auch schon den idealen Zweck des ganzen Essays feststellt: nämlich das
Wesen dieser bestimmten Persönlichkeit klar und überzeugend begreiflich zu machen.
Der Essay gestattet alle möglichen Seitenblicke, ja auch Seitensprünge, aber nur
mit Maß. Der Essay räumt allen allgemeinen Betrachtungen bereitwilligst Raum
el», zwingt sie aber, niemals den Hauptzweck des Ganzen ans dem Auge zu ver¬
lieren, und vor allem fordert er ein gewisses Maß von künstlerischer Gestaltungs¬
kraft, ohne das kein Historiker seine litterarische Aufgabe erfüllen tan»; er fordert
Sir» für Individualität, denn gerade ihr Reiz hat ihn so beliebt gemacht. Nie¬
mals ist dieser Sinn so mächtig gewesen, wie heutzutage (vielleicht »ur »och in
der Renaissance); in Wissenschaft und Leben offenbart er sich, wenn man z. B.
nur um Ranke denken will, dem die ganze Weltgeschichte aus der Biographie
herausgewachsen ist; und anderseits an den Zauber überragender Persönlichkeiten
wie Bismarck, den viele rein als Menschen lieben, mögen sie in ihren politischen
Wünschen mich nicht immer mit ihm übereingestimmt haben. Das Unbegreifliche,
Urwüchsige, wie die Natur selbst Unausdenkbare in starken und schöpferischen
Menschen soll uns der Essayist mit der grössten Sachlichkeit, mit der schärfsten
Seelenkunde, die nur erreichbar sind, zum Bewußtsein bringen; dann lieben nur
seine Essays und genießen sie mit Dankbarkeit.
"
Den „Lebensbildern von Carriere können wir diese Tugenden uicht nach¬
rühmen. Das Vermögen der kurzen, schlagenden Charakteristik besitzen sie nicht.
Bei all dem Fleiß und aller Gelehrsamkeit geht Carriere mit Vorliebe darauf aus,
in den Aussprüchen andrer Denier und Dichter eine Bestntiguug und Bekräftigung
für seine eigne Philosophie zu finden. Auf die Dauer ist das aber langweilig.
Seine Dnrstelluug geht äußerlich schematisch von Buch zu Buch, von Kunstwerk zu
Kunstwerk vor; wie aber der Charakter gewachsen ist, die treibenden Kräfte in ihm
zu veranschaulichen, eine etwaige Notwendigkeit in der innern Entwicklung nachzu¬
weisen, interessirt ihn nicht. Er schreibt nicht übersichtlich, weil er nicht ans einer
kttustlerischeu Gesamtauschauuug schafft; alles eher als Lebeus,,bilder" find diese
Abhandlungen über so sehr interessante Menschen wie Cromwell, Cornelius, Bettina,
Freiligrath, Geibel, Börne, Johannes Huber n. in. a. Es fehlt ihnen an Plastik,
man behält sogar nach sehr aufmerksamer Lektüre wenig oder nichts im Kopfe,
gewiß kein Bild. Am anziehendsten ist Carrieres Darstellung da, wo sie neues
Material aus vergilbten Papiere» andrer mitteilt, wie z. B. in dem Kapitel:
,,Liebig und Pinten," wo aus dem Briefwechsel beider eine wertvolle Blumenlese
mitgeteilt wird.
Wir sprechen dieses Urteil bei aller Hochachtung vor den sonstige» Verdienste»
Carrieres i» aller Aufrichtigkeit ans. Wir sind dabei auf den Einwand gefaßt,
daß solche Abhandlungen doch zunächst auf sachliche Beurteilung Anspruch erhöben.
Gerade dies leugnen wir. Fast über alle Persönlichkeiten, deren Lebensbilder hier
vorgeführt werden, ist schon sehr viel geschrieben worden; wesentlich Neues er¬
fahren wir also wenig ans diesem Buche; wenn es seinen Wert behaupte» soll, so
kaun es nur durch den Geist der Darstellung geschehen — und dem eben gilt
unsre Kritik.
Die drei Vorträge und Aufsätze, die in dem vorliegende!! Buche abgedruckt
sind — Ägypten als klimatischer Kurort; Über die Augenheilkunde der alten
Ägypter; Über die ägyptische Augenentzündung —, wenden sich zunächst an den
Arzt und mit der Erörterung zahlreicher Stellen ans Herodot, Plinius, Galen
und andern Schriftstellern an den Philologen. Doch enthalten sie auch für Reisende,
von denen Ägypten „jetzt wimmelt" und von denen „die meisten ans Neugier"
und aus Modeiiarrheit, darf mau hinzufügen, nach Ägypten kommen, mauches
Beherzigenswerte. Die Warnung, daß ein Mensch ohne Bildung und Empfänglichkeit
für Natur und geschichtliche Altertümer nicht nach Ägypten gehen soll, gilt ihnen
gewiß ebenso wie den Kranken.
se die Aufgabe der Gegenwart im Grunde eine pädagogische, so
hat offenbar die Schule ihren Anteil daran zu nehmen. Nach
einem bekannte» Schlagwort heißt es: Wer die Schule hat, der
hat die Zukunft in den Händen. Es fragt sich aber: Wer hat
die Schule in den Händen, und ist es auch wahr, daß man mit
ihr die Zukunft, das heißt das heranwachsende Geschlecht in den Händen hat?
Wir beschränken uns bei der Erwägung dieser Frage auf die Volksschule.
Wer hat die Schule in den Händen? Der Staat. Seit dem Schulauf-
sichtsgesetze vom Jahre 1872 wird die Schule ausdrücklich als Staatscmstnlt
bezeichnet. Bis dahin fand ein gemeinschaftlicher Besitz von Staat und Kirche
statt, der seine gute geschichtliche Begründung hatte und auch in der Praxis
das natürlichste war. Wenn nun der Staat unter Zuhilfenahme des Schul-
zwauges die Schule für seine Veranstaltung erklärt, so nimmt er eine große
Verantwortung auf seine Schulter und greift tiefer in die Privatverhältnisse
seiner Unterthanen ein, als durch irgend eine andre Anforderung, wie Dicnst-
zwang oder Steuerauflage. Streng genommen ist die Schule ein Gesamt¬
unternehmen der Eltern, die ihre Kinder geeigneten Händen zur Erziehung
übergeben. Nun kann man sich wohl denken, daß der Staat an die Stelle
der Eltern tritt und daß er gegenüber dem Unverstand einzelner die Meinung
ihres verständigeren Teiles zur Geltung bringt; aber er darf doch nicht ver¬
gessen, daß er Beauftragter der Eltern ist und daß er die Kinder nicht für
sich — um ihnen die „für einen vernünftigen Menschen notwendigen Kennt¬
nisse" beizubringen oder um leistungsfähige Steuerzahler oder Soldaten zu
habe» —, sondern für die Eltern erzieht. Und dies umso weniger, als er
die Eltern zwingt, ihm ihre Kinder zu übergeben. Er wird alle Rücksicht auf
die berechtigten Wünsche der Eltern, sowohl wegen der praktischen Ziele, als
auch ganz besonders wegen der religiösen und sittlichen Erziehung zu nehmen
haben. Ob der Staat recht daran thut, einfach zu erklären: die Schule ist
mein, wobei er sich die sehr bedeutenden Zuschüsse aus Kirchenmitteln nach
wie vor gefallen läßt, ohne zugleich der Kirche den ihr zukommenden Einfluß
auf diese Erziehung freizulassen, darf ernstlich bezweifelt werden.
Aber — sagt man — die Kirche hat ja den Einfluß auf den Religions¬
unterricht frei. Warum gehen denn die Geistlichen uicht in den Unterricht und
kümmern sich um die Sache? Warum nicht? Das mag ein Einzelfall klar
machen. Denken wir uns eine Stadt mittlerer Größe, worin der erste Rektor
die Lokalschuliuspektiou hat. Es kommen Klagen über einen Lehrer und dessen
Art, den Religionsunterricht zu geben. Oder der Oberpfarrer nimmt wahr,
daß sich die aus dieser Klasse ihm überwiesenen Konfirmanden in religiösen
Dingen in einem schauderhaften Zustande befinden. Er nimmt also sein Recht
wahr, dem Religionsunterrichte beizuwohnen. Der Lehrer verfährt genau nach
dem „kleinen Krüger," er lehrt keinen Unsinn, aber er behandelt seinen Stoff
in kältester, geisttötendster Weise und verekelt den Kindern den Unterricht
gründlich. Der Pfarrer ist außer sich, setzt sich hin und schreibt einen Bericht
an den Superintendenten. Dieser giebt ihn weiter an den Rektor. Der Rektor
fühlt sich unangenehm berührt, revidirt den Unterricht des betreffenden Lehrers,
findet die Sache nicht so schlimm und glaubt, daß sie mit ein paar allge¬
meinen Hinweisungen abgethan sei. Nun ist aber der Lehrer teufelswild,
schimpft auf deu Schwarzrock und macht es noch einmal so schlimm. Der
Pfarrer hätte vielleicht versuchen können, den Lehrer vou seinem Fehler zu
überzeugen. Als ob sich so ein Maun überzeugen ließe! Die Antwort wäre
doch sicher gewesen: Was hat der nur denn zu sagen? Man sieht, eine Aufsicht
ohne Exekutive ist null und nichtig. Es ist deu Geistlichen nicht zu verdenke»,
daß sie auf ein solches Recht lieber verzichten. Und welcher Widersinn ist es,
daß ein von der Kirche erhobenes Bedenken erst dann giltig wird, wenn es
vom Staate und von Leuten, die in der Sache nicht znstündig sind, anerkannt
wird! Hier liegt ein tiefer Schade im Schulwesen, der nur dadurch gemildert
wird, daß die Schulinspektion meist noch in den Händen der Geistlichkeit liegt.
Aber auch so ist nicht viel zu machen. Der Staat giebt den Lehrplan
und bildet die Lehrer vor. Die alten Stielschen Regulative, die ihrerzeit mit
Spott und Hohn in die Wolfsschlucht geworfen wurden, waren doch so übel
nicht. Sie vertraten den Grundsatz: Beschränkung und Vertiefung des Wissens.
Man nannte das Verdummung des Volkes und jubelte deu Falkschen Be¬
stimmungen zu, die der Schule jene nützlichen nud wissenswerteil Dinge zu¬
führten, ohne die der moderne Mensch nicht glücklich sein zu können glaubte.
Jetzt seufzen die Lehrer nnter der neuen Last und wären die Geister, die sie
riefen, gern wieder los. Das Wort von deu „sogenannten Klassikern" hat
seinerzeit viel böses Blut gemacht; nun hat man seine Klassiker in der Volks¬
schule, aber welcher Segen liegt darin, daß das Kind beim Examen auszusagen
weiß: Goethe ist geboren den 28. August 1749. Er war der Sohn der Frau
Rat Goethe, machte eine Sturm- und Drangperiode durch und starb mit dem
Ausspruche: Mehr Licht? Es ist doch prachtvoll, wenn in der Volksschule
der pythagoreische Lehrsatz, Mikroskopie und Pflanzenphhsiologie gelehrt,
und wenn die Naturkunde auf wissenschaftliche Weise getrieben wird. Ich
könnte ergötzliche Einzelheiten vorbringen, aber auf diese kommt es nicht an,
sondern auf den Grundfehler, daß man glaubt, durch Mehrung des Wissens
den Willen bilden zu können. „Bildung macht frei." Ja wohl, aber Halb¬
bildung ist der Übel größtes und führt stracks in die Sozialdemokratie hinein.
Es sind oft die Schüler mit den besten Zensuren, die später die ärgsten Sozial-
demokraten werden. Wer ist gebildeter, der Mann der Wissenschaft, der eine
Unsumme von Wissen in seinem Kopfe aufgespeichert hat, oder die Frau, die
wenig gelernt hat, aber gut erzogen ist und weiß, was sich ziemt? Die Schule,
wie sie jetzt ist, kaun nicht als der zuverlässige Eckstein des Staates gelten,
als der sie gerühmt wird. Sie thäte gut, die „Last der hundert Kamele,"
mit der sie sich schleppt, in der Wüste zu lassen und alle ihre Kräfte anf die
Hauptsache zu sammeln, auf die Erziehung des Schülers. Wir haben, wie
gesagt, hierbei die Volksschule und ganz besonders die städtische Volksschule
im Auge.
Der Kultusminister hat in seiner Begrüßung der allgemeinen deutschen
Lehrerversammlung in Berlin die Schule den Eckstein des Vaterlandes genannt.
Das ging den Herren höchst linde ein, denn wer hört sich nicht gern als den
Eckstein des Vaterlandes loben! Später hat der Kultusminister seine Worte
dahin ausgelegt, daß er das Institut gemeint habe, nicht die Personen. Aber
was sind denn Institute anders als Personen? Wenn wir von der Schule
reden, haben wir uns vor allem mit der Person der Herren Schulmeister zu
befassen. Und da muß denn billig bezweifelt werden, ob der Staat, der die
Schule sein nennt, die Leiter und Inhaber der Schule, nämlich die Schullehrer,
so an der Hand habe, daß er sich aus sie verlassen kau». Es giebt unter deu
Schullehrern zuverlässige, treue, verständige Leute, wir wollen sogar annehmen,
daß es die Mehrheit sei, aber es giebt unter ihnen auch mehr als genug, die
das Gegenteil davon sind, Leute von radikaler Gesinnung in politischer wie in
religiöser Beziehung, denen der Skat der höchste Lebenszweck und der Schul¬
unterricht das größte Übel ist, und die von sich selbst eine hohe, ja sogar
die allerhöchste Meinung haben. So ein Schulmeister hält sich für einen
Elementarprvfesfor, für den Inhaber einer unfehlbaren Methode, für den
Schöpfer der Nativnalintelligeuz und für den Macher des Ganzen. Dabei ist
er stets unzufrieden. Sein Gehalt würde auch verdoppelt nicht ausreichen,
ihn nach Gebühr zu bezahlen. Den Vorgesetzten gegenüber geben die Herren
keinen Ton von sich, in den Konferenzen hüllen sie sich in philosophisches
Schweigen, in der Schule halten sie ihren Unterricht in handwerksmäßiger
Weise, aber wenn sie unter sich sind, dann gehts los! Die jüngsten sind
natürlich die tollsten, und wer die fortgeschrittenste Meinung hat oder das
meiste fordert, das ist ihr Mann. Und wer ihnen zu schmeicheln versteht, der
hat sie in der Tasche. Es giebt unter ihnen viele, die die reinen Demokraten
sind — wie viele mögen svzialdemokratisch gewählt haben! Von einem Lehrer,
der bis jetzt, soviel ich weiß, noch nicht zur Verantwortung gezogen ist, wird
berichtet, daß er bei den letzten Neichstagswcchlen durchs Dorf gegangen sei,
um für den jüdischen Fortschrittsmann zu wühlen, indem er den kleinen Leuten
vorhielt: Wenn ihr wollt, daß der Schnaps billig werden soll, dann wählt
den Doktor T. Nehmen wir auch an, daß diese geradezu gefährlich zu
nennenden Elemente der Lehrerschaft die Minderheit bilden, so übernimmt doch
diese Minderheit, wie es mit radikalen Minderheiten gegenüber besonneneren,
aber weniger energischen Mehrheiten immer der Fall ist, die Führung und
giebt dem ganzen Stande das Gepräge.
Wir haben die Rede des Herrn Dittes in der erwähnten Lehrerversamm-
lung und den jubelnden Beifall, den sie fand, mit aufrichtiger Genugthuung
begrüßt. Man war auf dem besten Wege, zu vergessen, wes Geistes Kinder
jene Herren sind. Noch sind die Negiernngsverfügungen in Giltigkeit, die es
verboten, den Lehrern zum Besuche des allgemeinen deutschen Lehrertages Ur¬
laub zu geben. Aber sie sind natürlich nicht aufrecht zu erhalten, wenn sich
das Unterrichtsministerium auf der Versammlung vertreten läßt. Offenbar
war man oben der Meinung, daß sich die Herren, die durchaus uicht die
deutsche Lehrerschaft, sondern nnr deren äußersten linken Flügel darstellen,
etwas gelernt und sich etwas gebessert Hütten, zu welcher Ansicht die sehr
gemäßigt gehaltenen Themen und Thesen allerdings führen konnten. Nun
haben wir aber eine neue Religion kennen lernen, die, die man mit dem
Namen Ditteismus, einem Zwischendinge von Atheismus und Theismus be¬
zeichnen kann. Ju solchen Händen liegt der Religionsunterricht. Das sind
die Leute, die der hereinbrechenden Gottlosigkeit und Sittenlosigkeit entgegen¬
arbeiten sollen. Sie werden dabei unzweifelhaft denselben schonen Erfolg haben,
dessen sich der Fortschritt der Sozialdemokratie gegenüber rühmt.
Die Volksschullehrer bilden eine ganz merkwürdige, in sich abgeschlossene
mit ganz bestimmten Standesvorurteilen, Ansprüchen und Lebensanschauungen
beherrschte Klasse von Menschen. Viele reden über die Lehrerschaft, aber
wenige kennen sie wirklich. Neben großem Selbstgefühl und allgemeiner Un¬
zufriedenheit gehört auch ein gewisses mißtrauisches, zurückhaltendes Wesen zu
den Eigentümlichkeiten des Lehrers. Wir machen für diese Erscheinungen
nicht den Einzelnen, sondern die schiefe soziale Lage, in der sich der ganze Stand
befindet, und die Art seiner Ausbildung verantwortlich. Der Schulmeister der
ältern Generation war nicht mehr als seine Umgebung, er war kein „Herr"
und wollte nichts vorstellen. Unter solchen Umständen stand sein allerdings
dürftiger Gehalt mit seiner Lebensart nicht gar zu sehr im Widerspruch. Nun
hat man den Stand des Lehrers „gehoben," hat den Lehrern alles mögliche
beigebracht, hat alle möglichen Bedürfnisse und Ansprüche in ihnen geweckt,
aber man hat versäumt, das Einkommen in Übereinstimmung mit der neuen
Lage zu bringen. Und was die Ausbildung betrifft, so ist diese nur Notsache.
Es ist die reine Schnellfabrik und der Erfolg jene Halbbildung, die ganz be¬
sondre Gefahren in sich birgt. Wenn der fünfzehnjährige junge Mensch in
die Präparande kommt, bringt er schon — meist von zu Hause — seine be¬
stimmte Ausprägung mit. Im Seminar wird ihm dann beigebracht, daß er
zwar gegenüber dem Direktor und den Lehrern ein armer Schlucker sei, im
übrigen aber auf unerreichbarer Hohe stehe. Mit zwanzig Jahren ist er fertig.
Er arbeitet sich mit seiner Klasse ein, er sieht wohl auch bis zum zweiten
Examen noch in ein Buch, aber die meisten lerne» von da an nichts mehr.
Nebenbcschüftiguug, Nebenverdienst, womöglich eine gute Heirat — das füllt
ihr Interesse aus.
Das ist nnn der „Sieger von Königgrätz!" Es ist gar nicht zu sagen,
was dieses Wort oder vielmehr die ganze Anschauung, der dieses Wort zum
Ausdruck dient, für Schaden angerichtet hat. Der Fortschritt betrachtet es als
seine besondre Aufgabe, die Lehrerschaft für sich zu gewinnen, ihr zu schmeicheln,
für ihre Interessen einzutreten, um ein den Lehrern Wahlagitatoren zu ge¬
winnen. Ans konservativer Seite will man nicht zurückbleiben und macht eine
leutselige Verbeugung nach der Seite der Herren Lehrer hin, wenn im Landtage
von ihnen die Rede ist. So ein Lehrer ist eine von rechts und links begehrte
Person, es ist kein Wunder, wenn er von sich selbst eine große Meinung hat.
Und die Regierung — hat eine unglückliche Hand. Der Grundfehler ist,
daß das hundertmal versprochene Schulgesetz noch immer nicht hat erscheinen
wollen. Statt dessen ist durch ein Notgesetz festgesetzt worden, daß die Gemeinden
soundsoviel hundert Mark aus Staatsmitteln Zuschuß zu den Schnlkostcn ge¬
zahlt erhalten. Die Lehrerschaft aber steht dabei und erhält nichts oder einen
geringen Anteil und muß sich wieder auf das in nebelhafter Ferne befindliche
Schulgesetz vertrösten lassen. Das hätte man nicht thun sollen; diese Form
des Zuschusses mußte vermieden werden. Man hat sie gewählt, um eine leichte
Vcrteiluugsart zu haben und schnell mit der Sache fertig zu werden. Aber
sie schafft so viel Bitterkeit, wie durch doppelte Wohlthaten nicht wieder gut
gemacht werden kann. Man wird mit Bankiers und andern gesättigten
Existenzen gegen die Sozialdemokratie nicht viel anfangen können, aber ebenso
wenig mit Leuten, die in ihrer ganzen Lebensstimmung unzufrieden sind und
die auch ewiges Recht dazu haben. Was soll man gar zu folgenden Ma߬
regeln einer preußische« Regierung, deren Namen wir nicht nennen wollen,
sagen? Sie verlangte für Zuweisungen an die Schulgemeinde Quittung von
der Hand des Lehrers in der Form, als habe er die Zuwendung erhalten.
Als sich nun einzelne Lehrer weigerten, als empfangen zu bescheinigen, was
sie doch nicht empfangen hatten, wurden sie durch Androhung von Maßrege¬
lungen gezwungen! Also Zahlungen an die Gemeinde aus Fonds, die für
die Lehrer bestimmt waren! Es ist eine ganze Reihe solcher Fälle festgestellt
worden. Die Sache lief vor knrzeiu durch die Lehrerzeitungen. Eine andre
Negierung verlangte bei Gelegenheit der letzten Neichstagswcchlen, daß die
Lehrer bei Strafe der Amtsentsetzung in staatserhaltenden Sinne zu wählen
Hütten. Das war etwas für Eugen Richter und Genossen! Die Negierung
mußte auf Ministerialverfügung ihren Erlaß zurückziehen. Es wäre aber
tausendmal besser gewesen, ihn gar nicht zu geben. Die Gehaltsfrage und die
der politischen Unabhängigkeit, das sind die beiden empfindlichen Punkte der
Lehrerschaft. Wer sie da verletzt, verdirbt es mit ihnen gründlich. Wir
wollten aber Antwort geben auf die Frage, ob der Staat, wenn er die Schule
zu seiner Verteidigung heranzieht, mich der Lehrerschaft sicher sei.
Die Schule soll sich also mit der sozialen Frage und ihrer Lösung be¬
schäftigen. Wie macht sie das? Nun, der Schul- und Regierungsrat stellt
zunächst ein entsprechendes Thema für die Schulkonferenz auf. Das Thema wird
einem der Lehrer zugewiesen, der es seufzend übernimmt. Nehmen wir an, es
heiße: Die soziale Frage und die Schule. Der Referent schreibt also ans
einem halben Dutzend Bücher etwas über die soziale Frage und etwas über
die Schule zusammen, durchflicht sein Werk mit schönen Zitaten und schließt
mit der Forderung, daß sich die Schule mit der sozialen Frage zu beschäftigen
habe. Dann folgen die üblichen Thesen, in denen einige Gemeinplätze von
unanfechtbarer Wahrheit vorgetragen werden. Die Sache wird mit der üblichen
Feierlichkeit vorgetragen. Man bemängelt einige Nebensächlichkeiten und streitet
sich über die Fassung der dritten oder der vierten These. Dann werden die
Thesen angenommen, und die Verhandlung wird protolvllirt. Zum Schluß
erscheint ein General- und ein Spezialbescheid von der königlichem Regierung —
die Schule hat sich mit der sozialen Frage beschäftigt.
Aber im Ernst: was kann denn die Schule mit der sozialen Frage zu
thun haben? Soll sie, wie alles Ernstes verlangt worden ist, die Elemente
der Staatswissenschaft den AVE-Schlitzen beibringen? Oder soll sie die In¬
telligenz so weit fördern, daß der Schüler das Grundgesetz des Angebotes und
der Nachfrage begreift und sich ihm widerstandslos unterwirft? Oder soll in der
Schule kräftig über die Sozialdemokraten geschimpft werden? Auch die mehr-
erwähnte Berliner Lehrerversammlung hat das Thema behandelt und ist zu
überraschend verständigen Schlußsätzen gekommen. Sie lehnt die theoretische
Behandlung der Sache ab und legt den Hauptnachdruck auf die „erziehliche"
^richtiger: erziehende oder erzieherisches Thätigkeit der Schule. Das ists!
Diese „erziehliche" Thätigkeit setzt freilich die des Hauses voraus, sie ist
doch nur die Ergänzung der häuslichen Erziehung und kauu uicht die Aufgabe
haben, wider das Haus zu kämpfen und das gut zu macheu, was das Haus
verdirbt. Aber das ist eben die gegenwärtige Lage. Man kauu die
Beobachtung machen, daß in dem Maße, als die Selbstbestimmung des
einzelnen Menschen, der der Leitung bedarf, freier gemacht wird, die Fähig¬
keit der Selbstbestimmung schwindet; der Mensch verliert sich selbst ans der
Hand, er verliert das Regiment über sich selbst, und in demselben Maße ver¬
liert er die Fähigkeit, seine Kinder zu erziehen. Auch das ist die gegenwärtige
Lage. Einem großen Teile unsers Volkes ist die Kunst, die Kinder zu erziehen,
gänzlich abhanden gekommen. Es liegt nicht so sehr an dem Erwerb außer
dem Hause, es liegt an der sittlichen Ohnmacht, an der Willenlosigkeit der
Eltern, wenn die Kinder nicht geraten.
Nun solls die Schule machen. Schön. Aber mit welchen Mitteln? Der
verwahrlosten Gesellschaft gegenüber, die das Wort Gehorsam uicht keimt, muß
doch erst der Stock einmal ein freundlich-ernstes Wort mit reden. Dn geht
aber ein Heidenspektakel los. Natürlich nehmen die Eltern die Goldsöhnchen in
Schutz, und die eutrüstetsteu Mütter stürmen das Haus des Lokalschulinspektors.
Der giebt der Klägerin zu bedenken, sie möge Gott danken, daß der Schlingel
die ihm Ankommenden Schläge, die die Eltern versäumt hätten, in der Schule
erhalte. Solche Auseinandersetzungen kamen früher alle Tage vor. Wenn
sich die lieben Eltern ausgetobt hatten, so wars abgethan. Vorausgesetzt, daß
der Lehrer mit dem vorschriftsmäßigen Stocke die vorschriftsmäßigen fünf
Hiebe auf die vorschriftsmäßige Körperstelle gebracht hatte, war nichts weiter
zu machen, der Lehrer genoß den ihm dringend nötigen amtlichen Schutz. Der
ist nun weggefallen. Die Gerichte verurteilen bei einer nach ihrer Meinung
vorliegenden Strafrechtsüberschreitung den Lehrer wegen Körperverletzung zu
Gefängnis. Die Meinung des Richters wird durch das Gutachten des Arztes
bestimmt, das aber gänzlich unberechenbar ist. Der eine Arzt schickt den sich
beklagenden Bengel lachend fort, und der andre, von Hygiene, Gefühlsdusel
und Unerfahrenheit bestimmt, mißt den Striemen mit dem Zcntimetermaß, kon-
statirt eine Hantabschürfung und erwägt die möglichen gesundheitsschädlichen
Folgen, und der Lehrer — sitzt im Loche! Um ihn uicht doppelt zu strafen,
hat der Minister alle seine besondern Strafbestimmungen zurückgezogen. Aber
der Lehrer hat nun keinen Schutz mehr. Was ist die Folge? Er stellt seinen
Stock in die Ecke und läßt es gehen, wie es gehen will, was ihm doch wahr¬
haftig nicht zu verdenken ist.
Nun giebt es ja noch andre und bessere Erziehungsmittel als den Stock,
und ein tüchtiger Lehrer wird auch ohne ihn auskommen; aber einesteils giebt
es der Natur der Sache nach nicht bloß tüchtige Lehrer, und anderseits ist es
eine merkwürdige Sache, daß, wenn die ultima r-Mo gebrochen ist, die andern
i'l^ionL8 auch nicht viel helfen. So sieht es aus; das Haus versäumt die
Erziehung der Jugend, und der Schule, die es nachholen soll, wehrt mans.
Dazu kommt noch die Fürsorge des Staates für die jugendlichen Tauge¬
nichtse. Es war gut gemeint, das jugendliche Alter bis zu zwölf Jahren
außerhalb des Strafgesetzbuches zu stelle» und auch weiterhin frei zu geben,
daß eine Verwarnung an Stelle der Bestrafung trete. Aber besser wäre es
gewesen, zu bestrafen, nur die Strafakten nach gewisser Frist zu beseitigen,
während man jetzt eine geschehene Bestrafung einem Menschen in engherziger
Weise sein ganzes Leben lang nachträgt. So kann ein Lümmel unter zwölf
Jahren machen, was er will, wenn er sich nur davor hütet, etwas zu begehen,
das ihn zur Zwangserziehung reif machen würde. Mau Übersicht hierbei
vollständig, daß die entscheidenden Jahre für die Charakterbildung gerade diese
frühern Jahre sind, und daß, wenn einer mit des Staates gütiger Hilfe in
dieser Zeit ein Lump geworden ist, er es wahrscheinlich Zeit seines Lebens
bleiben wird. Man stellt die Frage: Hat der Übertreter die nötige Einsicht
in die Folgen seiner That gehabt? statt dem Patron einen väterlichen Denk¬
zettel zu geben mit der Begründung: Das mußtest du wissen, und du hast es
auch gewußt, einer Begründung, bei der sich einem richtigen Juristen die Haare
sträuben. Da uun doch eine Bestrafung stattfinden soll, hat man sie der
Schule zugeschoben, ohne die Schule zu fragen, ob sie den Auftrag übernehmen
will, und ohne sie zu verpflichten, daß sie ihn übernehmen muß. Was machen
wir in Preußen mit unsern vielen Gesetzen für traurige Stückarbeit!
Trotz alledem ist der erziehende Einfluß der Schule unverkennbar. Man
sieht das deutlich in deu letzten Schulquartalcu vor der Konfirmation, wo
einzelne in der Aussicht auf die bevorstehende goldne Freiheit an der schüt¬
telte zu rütteln anfangen. Mit der Konfirmation tritt nun auch jene goldne
Freiheit ein, in der, was die Schule vielleicht Gutes gethan hat, schnell wieder
zu Grunde geht. Offenbar ist ein junger Mensch von vierzehn bis achtzehn
Jahren nicht imstande, sich selbst zu bestimmen. Bleiben diese Altersjahre ohne
Aufsicht, so muß ja das heranwachsende Geschlecht Schaden leiden. Das
hat man längst erkannt, aber wie helfen? Die erwähnte Lehrerversammlung
hat auch dies erwogen und ist zu dem Schlüsse gekommen, man müsse eine
Art Nebenschule bis zum achtzehnten Jahre einrichten. Das ist ersichtlich eine
undurchführbare Sache. Auch die Mädchen bedürfen der Pflege und Weiter¬
bildung. Jetzt liegt es so, daß zahlreiche Mädchen, wenn sie heiraten, nicht
wissen, wie sie eine Kartoffelsuppe kochen sollen. Vom Haushalten, von spar¬
samen und vernünftigem Wirtschaften haben sie keine Ahnung. Dadurch geht
mancher Haushalt zu Grunde, wird manche Ehe zerrüttet. Die Frau bildet
sich zur Schlumpe aus, der Mann zum Säufer. Mau hat Haushaltungs-
schulen eingerichtet, aber die Wohlthat solcher Schulen wird von Hunderten
von Mädchen einer zu Teil. Auf das Hans kann man sich gar nicht verlassen.
Denn wenn die Eltern ihrer Kinder nicht Herr sind, so lange sie sie ernähren,
so haben sie allen Einfluß auf sie verloren, wenn die Kinder, kaum aus der
Schule heraus, in ihrem Einkommen selbständig geworden sind. Solche Zu¬
stände bilden den eigentlichen Boden der Svzialdemvkmtie.
Unser Volk hat mit der Veränderung der Erwerbsverhältnisse und mit
der gesetzlichen Regelung dieses Zustandes durch die Gewerbefreiheit die innere
Gliederung verloren. Sonst kam ein junger Bursch in die Lehre und damit
in strenge Zucht. Auch auf dem Lande gab es das Lehrlingsverhältnis in
Gestalt des „Eulen." Jetzt giebt es nur noch Arbeiter. Der junge Bursche
ist so gut Arbeiter wie der erfahrene Mann. Er will Gehilfe und Meister
sein, ohne gelernt zu haben. Daß dies ein unhaltbarer Zustand ist, ist doch
klar. Wir sind nicht so kurzsichtig, zu glauben, daß mit der Wiedereinführung
der alten Zünfte aller Not abgeholfen sei, aber das meinen wir, daß für die
neuen Verhältnisse neue Formen gefunden werden müssen, um aus dem gegen¬
wärtigen Chaos herauszukommen.
in vorigen Jahrgange der Grenzboten erörtert ein medizinischer
Sachverständiger die Lehre von der Zilrechnuugsfähigkeit nach
geltendem Recht und gelangt zu folgendem Ergebnis: 1. Der
§ 51 des Strafgesetzbuchs macht es nötig, zwischen Schwachsinn
hohen und niedern Grades zu unterscheiden. Nur der erstere
befreit von Schuld im Sinne des Gesetzes. 2. Schwachsinn hohen Grades
wird jedesmal dann anzunehmen sein, wenn die gesetzliche Entmündigung nach
§ 28, Teil 1, Titel 1 des preußischen Landrechts möglich ist. 3. Die innere
Berechtigung dieser Unterscheidung beruht darauf, daß dem, der die Folgen
seiner Handlungen zu überlegen außer stunde ist, damit auch die zur Erkenntnis
der Strafbarkeit erforderliche Einsicht abgesprochen werden muß. Diese aber
ist die allgemeine Vorbedingung jeder Verschuldung. Unter Schwachsinn
versteht der Verfasser jenes Aufsatzes auch den sogenannten moralischen
Schwachsinn.
Die gegenwärtige Erörterung bezweckt, diese Sätze um der Hand des Ge¬
setzes zu prüfen, und wird sich in diesen Grenzen halten.
Das Strafgesetzbuch bestimmt:
§ 81. Eine strafbare Handlung ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur
Zeit der Begehung der Handlung sich in einem Zustande von Bewußtlosigkeit oder
krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befand, durch welchen seine freie Willens-
bestimmnng ausgeschlossen war.
8 52, Abs. 1. Eine strafbare Handlung ist uicht vorhanden, wenn der
Thäter durch unwiderstehliche Gewalt oder durch eine Drohung, welche mit eiuer
gegenwärtigen, aus andre Weise nicht abwendbaren Gefahr für Leib und Leben
seiner selbst oder eines Angehörigen verbunden war, zu der Handlung genötigt
worden ist.
Beiden Bestimmungen gemeinsam ist die Voraussetzung, daß die sreie Willens-
bestimmung des Thäters ausgeschlossen sei; und man sollte meinen, daß
es hierauf allein und uicht auf die Ursachen des Ausschlusses ankomme. Es
entsteht daher die Frage, ob das Gesetz auch dann anzuwenden ist, wenn wegen
geistiger Mängel die freie Willensbestimmung des Thäters ausgeschlossen war,
er sich aber weder in einem Zustande von Bewußtlosigkeit, noch in einem Zu¬
stande krankhafter Störung der Geistesthätigkeit befunden hat. Weiter entsteht
die Frage, was unter Bewußtlosigkeit und krankhafter Störung der Geistes¬
thätigkeit zu verstehen ist.
Zur Beantwortung dieser Fragen muß auf die Entstehungsgeschichte des
Gesetzes zurückgegangen werden. Dem Gesetze liegt das preußische Strafgesetz¬
buch, diesem wieder der französische ^oäs xkrml zu gründe. Art. 64 des lüoels
pong.1 lautet:
II 11,'^ Ä IU <,'!'!>>:>'. ni Zölle, 1ors<zus is xrüvsmr 6kalt «Zir leg>t As äsllionoö
SU <BM,P8 ü<z 1'aotion, VN lorsqu'it Ä 6t6 vontiA-int xai' ruf korvs Ä Ill^uÄls it
ki'n pu I'SListor.
Z 40 des preußischen Strafgesetzbuchs:
Ein Verbrechen oder Bergeheu ist nicht vorhanden, wenn der Thäter zur Zeit
der That wahnsinnig oder blödsinnig, oder die freie Willeusbestimmung desselben
durch Gewalt oder durch Drohung ausgeschlossen war.
Gegen die letzte Bestimmung wurde geltend gemacht, daß sie zu eng sei,
weil es außer Wahnsinn und Blödsinn noch Seelenzustände gebe, die die straf¬
rechtliche Zurechnungsfühigkeit ausschlossen. In der Rechtsprechung habe man
unter den Begriff des Wahnsinns und Blödsinns Krankheitsformen eingezwängt,
die nach Annahme der medizinischen Wissenschaft nicht wohl darunter zu be¬
greifen wären, außerdem fasse das Landrecht den Begriff des Wahnsinns und
Blödsinns anders auf als die medizinische Wissenschaft, und zum Teil anders
als das preußische Strafgesetzbuch. Die statt der preußischen Vorschriften in
dem ersten Entwurf des jetzigen Strafgesetzbuchs vorgeschlagene Bestimmung
lautete daher:
Ein Verbreche» oder Vergehen ist nicht vorhanden, wenn zur Zeit der That
die freie Willensbestimmnng des Thäters ausgeschlossen war.
Doch erregte diese Fassung wieder wegen ihrer Allgemeinheit, die große
Gefahren für die Handhabung des Strafrechts herbeiführen konnte, Bedenken.
Einerseits konnten die Gerichtsärzte die Willensfreiheit schon durch jede Leiden¬
schaft, jede Erregung u. dergl. als ausgeschlossen ansehen, anderseits konnten
Richter nud Staatsnnwülte selbst beim Vorhandensein einer Geisteskrankheit die
Willensfreiheit dann annehmen, wenn ein Einfluß der Wahnvorstellungen auf
die That nicht nachweisbar war. Man wollte die Gründe genau angeben, in
denen bei Entscheidung des einzelnen Falles die Ausschließung der freien
Willensbestimmnng zu suchen sei. Einen großen Vorzug, meinte man, würde
es nun darbieten, wenn die Hinstellung eines fest umschriebenen Thatbestandes
möglich sei, und in der That lasse sich ein solcher für die durch äußern Zwang
begründete Ausschließung der Zurechnungsfähigkeit hinstellen, dagegen sei dies
bezüglich der Geisteskrankheiten nicht möglich oder wenigstens nicht ratsam.
Die psychologischen Thatsachen ließen, weil sie im Innern des Menschen vor
sich gehen, keine anschauliche und gemeinverständliche Bezeichnung zu, es gebe
im Sprachgebrauch des gemeinen Lebens kein allgemein geläufiges Wort,
wodurch die die Zurechnungsfähigkeit ausschließenden Geisteskrankheiten mit
hinreichender Bestimmtheit zusammengefaßt und von andern Krankheiten getrennt
würden. Zur Zeit sei es daher geboten, die in Betracht kommenden krank¬
haften Zustände' in das Gesetz aufzunehmen, und zwar in der sich am meisten
empfehlenden Bezeichnung, anderseits aber die Notwendigkeit der Beziehung
derselben auf den Ausschluß der freien Willensbestimmung hervorzuheben.
Die Bezeichnung „krankhafte Störung der Geistesthätigkeit" sei von den
vielen in Vorschlag gebrachten die passendste. Namentlich werde dadurch die
gerichtsärztliche Aufgabe scharf umgrenzt, indem der Gerichtsarzt zunächst zu
untersuchen habe, ob Krankheit vorhanden gewesen sei, wenn nicht, sich aller
weitern Erörterungen zu enthalten habe. Neben der krankhaften Störung der
Geistesthätigkeit seien denn noch die auf die Willensfreiheit störend einwirkenden
Zustände, die gewöhnlich nicht als Krankheit aufgefaßt würden, besonders zu
nennen, und hierher sei der Ausdruck „Bewußtlosigkeit" der richtigste und
gemeinverständlichste.
Der zweite Entwurf beruht hinsichtlich des Z 49 auf diesen Erwägungen.
49 stimmt mit 8 51 des jetzt geltenden Strafgesetzbuchs überein, nur enthielt
8 49 noch hinter den Worten „freie Willensbestimmung" den Zusatz „in
Beziehung auf die Handlung." Man wollte damit sagen, daß es nicht nötig
sei, festzustellen, daß die freie Willensbestimmung nach allen Richtungen hin
ausgeschlossen sei. Wenn der Arzt feststelle, daß Wahnidee», wenn auch nicht
in unmittelbar ursächlichen Zusammenhange mit der That und ihrem Zwecke
stehend, das geistige Bewußtsein des Thäters so gestört haben, daß er auch
über die Grenzen der Wahnidee als geistig gesund nicht anzusehen sei, so werde
hierdurch zugleich festgestellt, daß die freie Willensbestimmung auch bezüglich
der einzelnen That ausgeschlossen sei; der Thäter könne nach vielen Richtungen
hin eine freie Willensbestimmnng zeigen und doch die That unfrei begehen.
Gleichwohl wurde dieser Zusatz vom Reichstage gestrichen, indem man besorgte,
es möchte zum Nachteil des Angeklagten der Nachweis gefordert werden, daß
gerade in Beziehung auf die angeschuldigte Handlung die freie Willens¬
bestimmung ausgeschlossen gewesen sei.
Die Entstehung des Gesetzes ergiebt also, daß man nicht beabsichtigte,
die Vorschrift des ersten Entwurfs einzuschränken und alle Handlungen, bei
denen die freie Willensbestimmnng ausgeschlossen ist, abgesehen von den im
Gesetz hervorgehobenen Fällen, für strafbar zu erklären, sondern daß man
lediglich einer mißbräuchlichen Anwendung des Gesetzes vorbeugen wollte.
Der Gesetzgeber geht sichtlich von der Auffassung aus, daß seine Aufzählung
erschöpfend sei, und daß es weitere Fälle, wo die freie Willensbestimmung
ausgeschlossen sei, nicht gebe. Die Fälle des äußern Zwanges hat er unter
Z 52 des Gesetzes untergebracht. Was § 51 betrifft, so unterscheiden die
Motive 1. Zustände, die gewöhnlich nicht als Krankheit aufgefaßt werden
(Bewußtlosigkeit), 2. Zustände, bei denen eine Krankheit festzustellen sei (krank¬
hafte Störung der Geistesthätigkeit). Zu beachten ist aber, daß die Ausdrücke
„Bewußtlosigkeit" und „krankhafte Störung der Geistesthätigkeit" keine juristisch
technischen Begriffe, fondern dem gewöhnlichen Leben entnommen sind. Obwohl
nun die Motive für die Auslegung des Gesetzes von hohem Werte sind, so ist
doch nur das, was im Gesetz zum Ausdruck gekommen ist, maßgebend, und
deshalb der Sprachgebrauch von wesentlicher Bedeutung.
Es ist nun nicht zu bezweifeln, daß unter Bewußtlosigkeit sprach-
gebrüuchlich der vorübergehende Zustand völliger Geistesabwesenheit verstanden
wird. Der Einwand, daß bei völliger Bewußtlosigkeit von einer Handlung
gar nicht die Rede fein könne, ist nicht stichhaltig, da man thatsächlich auch
in solchen Fällen von Handlungen spricht. In dem Satze, daß jemand im
Zustande sinnloser Trunkenheit etwas gethan oder unterlassen habe, liegt bei¬
spielsweise nichts Sprachwidriges. Zwar wäre es logisch richtiger, solche Fälle
als Neflexerschcinungen zu kennzeichnen, aber für diese fehlt es der deutschen
Sprache an einem zutreffenden Ausdruck. Der Sprachgebrauch ist überdies
nicht immer logisch. Mit demselben Rechte ließe sich geltend machen, daß,
wenn eine strafbare Handlung nicht vorhanden sei (Ausdruck des Gesetzes),
auch von einem Thäter nicht die Rede sein könne, weil der Thäter nach dem
Sprachgebrauch des Gesetzes stets strafbar sei, ferner, daß die Überschrift des
vierten Abschnitts „Grüude, welche die Strafe ausschließen oder mildern,"
nicht richtig gewählt sei, weil, wenn eine strafbare Handlung nicht vorhanden
sei, eine Strafe nicht eintreten, folglich auch nicht ausgeschlossen werden könne.
Die Motive, ebenso wie das sächsische Landesmedizinalkollegium, fassen
allerdings den Ausdruck „Bewußtlosigkeit" viel weiter auf, dahin, daß er alle
die Seelenzustände umfasse, die, ohne zu den wirklichen Geisteskrankheiten zu
gehören, doch den Menschen der Freiheit der Willensbestimmung berauben, daß
es sich nicht bloß an die Trunkenheit und Schlaftrunkenheit, um das Fieber¬
delirium und die abnormen psychischen Zustände der Gebärenden handle,
sondern daß anch noch andre psychische Zustände hierher gehören, wie z, V.
das Nachtwandeln, der psychische Zustand nach einem epileptischen Anfalle, der
Zustand der Verwirrung im höchsten Grade mancher Affekte, wie des Schreckens,
der Angst und Furcht, der abnorme Zustand der Vergiftung durch manche
Narkotika. Das gemeinsame psychologische Merkmal aller dieser Seelenzustände
sei die vorübergehende Störung des Selbstbewußtseins, und deshalb sei auch
uach diesem gemeinsamen Merkmale die Bezeichnung zu wählen.
Unter einem krankhaften Zustande versteht man im gewöhnlichen Leben
erstens einen wirklichen Krankheitszustand, sodann einen Zustand, der ähnliche
Erscheinungen darbietet, wie eine Krankheit. Man spricht von krankhaften Ge¬
lüsten auch dann, wenn sie ihre Ursache nicht in einem Krankheitszustande
haben. Krankheit des Körpers bezeichnet einen bedeutendern Kampf der Lebens-
orgnue gegen äußere Eingriffe. Minder bedeutende Kämpfe bezeichnet mau als
Unpäßlichkeit, Unwohlsein; geringfügige berücksichtigt man überhaupt nicht. Ob
der Zustand mit Genesung endigt oder zum Tode führt, ob er dauernd oder
vorübergehend ist, kommt nicht in Betracht. Ein Mensch, der ein Glied ver¬
liert, ist krank, so lange der Organismus gegen den Verlust oder dessen Folgen
sich widersetzt (z. V. Kuocheubrand, Wundfieber), er ist gesund, wem: der
Kampf beendet ist. Gleiches gilt, soweit die körperliche Krankheit in Frage
steht, für Verletzungen oder Verlust eines Teiles des Gehirns. Aber der Be¬
griff der Geisteskrankheit reicht weiter, als der Begriff der körperlichen Krank¬
heit. Wesentliche Verminderungen der Geistesthätigkeit bezeichnet man auch
dann als Geisteskrankheit, wenn die ursächliche Körperkrankheit längst gehoben
oder der Zustand angeboren ist. Der Grund des abweichenden Sprach¬
gebrauches liegt darin, daß bei körperlichen Krankheiten das Vorhandensein des
Kampfes feststellbar ist, bei geistigen Zuständen aber schon die bloße Möglich¬
keit eines Kampfes in Betracht kommt. Noch weiter geht, wie bemerkt, der Be¬
griff der Krankhaftigkeit. Dein? da hier nur die Ähnlichkeit mit einem Krankheits¬
zustande in Betracht kommt, der Begriff der Ähnlichkeit aber relativ ist, so
kann füglich jedes regelwidrige, willensuufreie Versälle» eines Gesunden ohne
Verstoß gegen den Sprachgebrauch als krankhaft bezeichnet werdeu.
Uuter Störung versteht mau einen vorübergehenden Eingriff. Da nun
die Störung etwas Regelwidriges ist, so ist streng genommen in dem Ausdruck
„krankhafte Störung" das Wort „krankhaft" überflüssig, da jede Störung der
Geistesthntigkeit eine willeusuufreie Regelwidrigkeit dieser Thätigkeit voraussetzt.
In der That muß es zur Ausschließung der Zurechnungsfähigkeit genügen, wenn
durch Störung der Geistesthätigkeit die freie Willensbestimmung beseitigt wird.
Die Mangelhaftigkeit des Ausdrucks fällt sofort auf, wenn man das Giltachten
der preußischen wissenschaftlichen Deputation für das Medizinalwesen bezüglich
der Nichtigkeit des Satzes Prüft, daß mangelhafte geistige Entwicklung nur
unter der Voraussetzung einer krankhaften Störung die Zurechnungsfähigkeit
ausschließe, nicht aber, wenn sie auf mangelhafter Erziehung, auf Vernach-
lässigung oder Verwilderung beruhe. Mau kann zu dieser Schlußfolgerung
gelangen, wenn man die Begriffe „krankhaft" und „durch Krankheit verursacht"
als gleichbedeutend ansieht. Alsdann müßte, wie die Leipziger Fakultät sagt,
der Gerichtsarzt untersuchen, ob Krankheit Vorhäute» gewesen sei oder nicht,
und in dem letzter« Falle sich aller weitern Erörterungen enthalte,:. Aber die
Begriffe „krankhaft" und „durch Krankheit verursacht" sind eben keineswegs
gleichbedeutend; durch den erster» wird ein einem Krankheitszustande ähnlicher
Zustand bezeichnet. Daß aber mangelhafte Erziehung n. f. w. nicht ein einem
Krankheitszustande ähnlichen Zustand bewirken könne, dafür bleibt das Gut¬
achten den Beweis schuldig. Nehmen wir an, daß der von frühester Kindheit
an isolirt eingesperrte Kaspar Hauser uach seiner plötzlichen Freilassung ein
Verbrechen begangen hätte und seine Zurechnungsfähigkeit in Frage gekommen
wäre, so würde die Annahme einer krankhaften Störung der Geistesthätigkeit
keineswegs ausgeschlossen gewesen sein. Die Mangelhaftigkeit des Ausdrucks
liegt in seiner unbegrenzten Dehnbarkeit.
Hiernach hat der Gesetzgeber seine Absicht, die Fälle, wo die Freiheit der
Willensbeftimmung wegen geistiger Mängel ausgeschlossen sei, erschöpfend auf¬
zuführen, nicht erreicht, weil 1. der Ausdruck „Bewußtlosigkeit" nach gewöhn¬
lichem Sprachgebrauch nicht alle Fälle umfaßt, die gewöhnlich nicht als
Krankheit bezeichnet werden, 2. der Ausdruck „krankhafte Störung der Geistes¬
thätigkeit" keineswegs auf die Fälle zu beschränke» ist, wo eine Krankheitsursache
festgestellt werden kann, anderseits wegen seiner Dehnbarkeit Einschränkungen
nach persönlichem Belieben gestattet.
Hiernach entsteht, insbesondre bei zweifelhaften Fällen, die Frage, ob eine
ausdehnende Anwendung des Gesetzes statthaft sei. Hierbei ist vornehmlich von
dein Zwecke des Gesetzes auszugehen. Das Gesetz kann entweder die Aufstellung
eines Rechtssatzes bezwecken oder es kaun einen Rechtszustand erklären. Ins¬
besondre kann der Gesetzgeber bei Aufstellung voir Strafausschließungsgrüiiden
entweder von der Ansicht ausgehen, ohne das Gesetz müsse die Bestrafung
eintreten, oder er kann annehme», daß zwar der Strafansschließungsgrund aus
allgemeinen Grundsätze» folge, aber daß es zur Verhütung mißbräuchlicher
Auslegung ratsam sei, den Strafansschließungsgrund besonders aufzustellen.
Beispielsweise folgt ans allgemeinen Grundsätzen, daß eine willensfreie That
nicht strafbar sein kann, da die Strafe sich gegen den widerrechtlichen Willen
richtet, ein Gesetz also, das Bewußtlosigkeit (im gewöhnlichen sprachst»»)
oder unwiderstehliche Gewalt für Strafansschließuugsgriiude erklärt, ist er¬
klärender Natur. Es liegt ja nnn nahe, Strafattsschließnngsgriinde als Aus¬
nahmebestimmungen nicht ausdehnend anzuwenden. Man könnte sagen, bei
krankhafter Störung der Geistesthätigkeit sei — abgesehen von dem Falle der
völligen Geistesnmnachtung — ein widerrechtlicher Wille vorhanden, folglich
habe das Gesetz den Strafausschließnngsgrund positiv normirt, sodaß ohne das
Gesetz die Bestrafung eintreten müßte. Von diesem Standpunkt ans erscheint
eine ausdehnende Anwendung des Gesetzes unstatthaft. Aber die Entstehungs¬
geschichte des Gesetzes führt zu einen: andern Ergebnis. Beabsichtigt war die
Aufstellung des Rechtssatzes, eine strafbare Handlung sei nicht vorhanden, wenn
die freie Willensbestimmuug des Thäters zur Zeit der Begehung der Handlung
ausgeschlossen war. Die Aufzählung der Fälle sollte mißbräuchlichen Aus¬
dehnungen und Einschränkungen vorbeugen, sie sollte erschöpfend sein. Hierbei hat
der Gesetzgeber, wie die Motive aussprechen, von den vorgeschlagenen Bezeich¬
nungen die gewühlt, die ihm die passendsten zu sein schienen, also lediglich
deswegen, weil er bessere nicht kannte. Der Ausdruck „Bewußtlosigkeit" ist zu
eng, der Ausdruck „kraukhafte Störung der Geistesthätigkeit" der Abgrenzung
nicht fähig, das persönliche Ermessen entscheidet im einzelnen Fall. Das per¬
sönliche Ermessen kann bald dazu führen, daß man stets das Vorhandensein
einer Krankheitsursache verlangt, bald dazu, daß man jede Beeinträchtigung
der Geistesthätigkeit für eine krankhafte Störung erklärt. Eine solche Rechts¬
ungewißheit ist auf die Dauer unhaltbar. Jede Beeinträchtigung der Geistes¬
thätigkeit, durch die die freie Willeusbestimmuug ausgeschlossen wird, fällt
unter das Gesetz; die Ursachen der Beeinträchtigung sind gleichgiltig.
Hiernach ist dem Verfasser des angeführten Grenzbotenaufsatzes darin bei-
zutreten, daß Schwachsinn, durch den die sreie Willeusbestimmung ausgeschlossen
wird, Strafausschließungsgrund ist, gleichviel aus welchen Ursachen der Schwach¬
sinn entspringt. Man kann einen solchen Schwachsinn unbedenklich als hohen
Schwachsinn bezeichnen. Hiermit stimmt das Gutachten des Medizinisch-
Psycholvgischeu Vereins zu Berlin im Ergebnis tiberein, insofern er es für
zweckmäßig, aber nicht für nötig gehalten hat, den Schwachsinn besonders auf¬
zuführen. Dagegen ist daS Gutachten der Deputation für das Medizinalwesen,
das die angeborene Geistesschwache, als durch krankhafte Verhältnisse begründet,
für einen Strafausschließnngsgnlnd erklärt, die später entstandene Geistes¬
schwache aber nur dann, wenn sie auf krankhafter Störung beruht, wegen
Verkennung des Begriffes der Krankhaftigkeit unhaltbar.
Die Frage, ob hochgradiger Schwachsinn vorhanden sei, läßt sich allgemein
nicht beantworten. Der Verfasser des erwähnten Aufsatzes sucht hier den
Begriff der Zurechnungsfähigkeit für Zivilrecht und Strafrecht übereinstimmend
hinzustellen. Er bezeichnet sie als einen Zweckmäßigkeitsbegriff, insofern sie
den Geisteszustand darstelle, der als Vorbedingung gelte, um die Vorteile der
Gesellschaft zu genießen, anderseits den Zustand, wo der Einzelne seine Ge¬
bundenheit durch die Gesellschaft in Form der Strafe anerkennen müsse. Die
Frage, ob jemand die Folgen seiner Handlungen überlegen könne, entscheide,
ob er als blödsinnig zu entmündigen sei, sie sei aber auch für die Feststellung
der strafrechtlichen Zurechnungsfähigkeit entscheidend. Denn wer die Folgen
seiner Handlungen nicht überlegen könne, dein fehle auch die zur Erkenntnis
ihrer Strafbarkeit erforderliche Einsicht, das Vorhandensein dieses llnter-
scheidnngsvermögens sei aber ganz allgemein Voraussetzung der Schuld. Diese
Ausführung bezweckt offenbar, die Grenze zwischen hohem und niederm Schwach¬
sinn festzustellen, und wenn der Verfasser am Schlüsse des Aufsatzes zu dem
Ergebnis gelangt, daß Schwnchsiun hohen Grades stets anzunehmen sei, wenn
die Entmündigung wegen Blödsinns erfolgen könne, so ist in seinem Sinne
hinzuzufügen, daß andernfalls diese Annahme ausgeschlossen sei.
Die Ausführungen des Verfassers sind nicht ohne Bedenken. Die Ent-
mündigung und die Bevormundung erfolgen aus Rücksicht für die Person und
das Vermögen des Einzelnen, die Bestrafung aus Rücksicht für den Einzelnen
und die Gesellschaft. Beide Interessen decken sich nicht notwendig. Es ist
denkbar, daß jemand zur Wahrung seiner Person entmündigt und bevor¬
mundet werden muß, daß aber in strafrechtlicher Beziehung bei ihm die
freie Willensbestimmung durch den Schwachsinn nicht ausgeschlossen ist, und
umgekehrt.
Wie weit übrigens die zivilrechtlichen und die strafrechtlichen Interessen
aus einander gehen, dürfte ein Blick auf den Entwurf des bürgerlichen Gesetz¬
buchs zeigen. Dieser bezeichnet uur solche Personen als geisteskrank, die des
Verunnftgebranchs beraubt sind, erklärt sie für die Dauer dieses Zustandes
und ihrer Entmündigung für geschäftsunfähig, ordnet für Entmündigte eine
Vormundschaft an und läßt für solche, deren Entmündigung beantragt ist, eine
vorläufige Vormundschaft zu. Bloßer Schwachsinn bleibt unberücksichtigt. Wer
des Veruunftgebranchs nicht beraubt, aber durch seinen geistigen Zustand ganz
oder teilweise gehindert ist, seine Vermögensangelegenheiten zu besorgen, ist
unbeschränkt geschäftsfähig; er kann einen Pfleger erhalten, soll aber, wenn
eine Verständigung mit ihm möglich ist, in die Unordnung der Pflegschaft ein¬
willigen und bleibt ungeachtet der Einleitung einer solchen unbeschränkt ge¬
schäftsfähig.
Gleichwohl mag es gegebnen Falls zweckmäßig sein, daß der Sachver¬
ständige, der sich über die strafrechtliche Zurechnungsfähigkeit gutachtlich zu
äußern hat, zur eignen Kontrole prüft, ob eine Entmündigung des Schwach¬
sinnigen wegen Blödsinns erfolgen könne, und umgekehrt, wenn er sich über
die Entmündigung zu äußern hat, ob eine strafrechtliche Verurteilung möglich
sei. Nur ist, da die zivilrechtliche Entscheidung für den Strafrichter ohne
Bedeutung ist, und umgekehrt, auf eiuer etlva schon erfolgten zivilrechtlichen
oder strafrechtlichen Entscheidung allein nicht zu fußen.
Mau wird deshalb den Satz 2 dahin aufstellen können:
Der Sachverständige hat hochgradigen Schwachsinn in der Regel dann anzu-
nehmen, wenn er die Entmimdignng wegen Blödsinns für möglich erachtet; andern¬
falls kann in der Ziegel nnr mindergradiger Schniachsinn. migenommen lverden.
Die landrechtliche Begriffsbestimmung: „Menschen, welchen das Vermögen,
die Folgen ihrer Handlungen zu überlegen, ermangelt, werden blödsinnig ge¬
nannt," dürfte dabei nur mit Vorsicht anzuwenden sein. Denn „die Fähig¬
keit, die Folgen seiner Handlungen zu überlegen, besitzt anch der geistig gesunde
Mensch uur in einem gewissen Grade, und zweifellos geisteskranken ist sie ander¬
seits nicht völlig abzusprechen."
Schließlich mag noch bemerkt werden, daß moralischer Schwachsinn als
solcher niemals die Strafansschließung begründen kann. Man versteht unter
moralischem Schwachsinn einen geistigen Zustand, bei dein die logischen Pro¬
zesse ungestört vor sich gehen, die Besonnenheit erhalten ist, Wahnideen und
Sinnestäuschungen ganz fehlen, der Mensch aber statt sittlich-rechtlicher
Motive nur Begriffe der Nützlichkeit und Schädlichkeit verwertet, das
Strafgesetz nur als eine Art polizeilicher Vorschriften beurteilt, und bei
diesem sittlichen und geistigen Mangel mehr oder weniger widerstandslos
seinen selbstsüchtigen Antrieben preisgegeben ist. Die Vertreter der entgegen¬
gesetzten Ansicht fußen ans dem Mangel der Widerstandskraft, sie sagen, daß
der Betreffende an der That ebenso unschuldig sei, wie bei angebornei»
Schwachsinn. Dieser Grund ist aber nicht stichhaltig und trifft bezüg¬
lich eines jeden Verbrechers, namentlich des gewohnheitsmäßigen schlimmen
Verbrechers zu. Die Gclvvhuheitsverbrechcr stammen meist ans dem. Pro¬
letariat, haben von frühester Jngend an in Berbrecherkreisen gelebt; wie soll
sich dn der Sinn für das Sittliche und die Widerstandskraft gegen das Un¬
sittliche entwickeln? Bei dem Schwachsinn im engern Wortsinne ist der wider¬
rechtliche Wille, gegen den sich die Strafe richtet, ausgeschlossen oder so
bedeutend vermindert, daß die Willensfreiheit ausgeschlossen ist, bei dem mora¬
lischen schwächst!,,, ist sowohl der widerrechtliche Wille, wie die Willensfreiheit
vorhanden. Wenn z. B. eine Person, um der Bestrafung ihrer Naschhaftigkeit
zu entgehen, ihren Mitwisser ermordet, so mag eine solche That unbegreiflich
erscheinen, es mag auch zugegeben werden, daß die Person aller sittlichen Be¬
griffe ermangelt und als moralisch schwachsinnig erachtet werden muß. Aber
wenn keine Thatsachen vorliegen, die ans eine krankhafte Störung der geistigen
Thätigkeit, durch welche die freie Willensbestimmung ausgeschlossen wird, hin¬
weisen, so muß die Bestrafung des moralisch Schwachsinnigen ebenso wie die
des Gewohnheitsverbrechers im Interesse der Gesellschaft unbedingt erfolgen,
die Ursachen des widerrechtlichen Willens können, gleichviel ob verschuldet oder
nicht verschuldet, nicht in Betracht kommen. Man vergleiche damit die Ansicht
des Verfassers des erwähnten Aufsatzes, daß die Zurechnungsfähigkeit ein
Zweckmäßigkeitsbegriff sei, indem sie den Geisteszustand bezeichne, der als Vor¬
bedingung gelte, um die Vorteile der Gesellschaft zu genießen, anderseits den
Zustand, wo der Einzelne feine Gebundenheit durch die Gesellschaft in Form
der Strafe anerkennen müsse.
Für die Gegenwart erscheint übrigens die Frage, ob der moralische
Schwachsinn als Strafausschließuugsgrund gelte, durch die Rechtsprechung des
Reichsgerichts in verneinenden Sinne erledigt. Auch für eine künftige Gesetz¬
gebung wird sie verneinend zu entscheiden sein, man müßte sich denn ent¬
schließen, moralisch schwachsinnige und Gewohnheitsverbrecher in Erziehungs-
odcr Sicherungsanstalten unterzubringen.
in August 1717 kam der schlesische Dichter Christian Günther
in dem Alter von zweiundzwanzig Jahren aus Wittenberg nach
Leipzig. Als Student der Medizin hatte er in Wittenberg nur
wenig geleistet, auch sein Dichterruhm leuchtete bisher nur
schwach, er gründete sich nnr auf fabrikmäßige Gelegenheitsarbeit.
Da lockten ihn freundschaftliche Beziehungen und der R'uf der Leipziger Uni¬
versität, er betrat das „angenehme Pleißatheu," und uun beginnt, wie mit
einem Schlage ein Umschwung in seiner geistigen Entwicklung. Wie ein dunkler
Traum liegen die wüsten Erinnerungen des Wittenberger Aufenthaltes hinter
ihm, neues Hoffen, neues Wollen erfüllt ihn, über Erwarte» schnell er¬
stehe» dem jugeudschönen, geistvollen Manne gute Verbindungen, ihn selbst
umgiebt bald ein Kreis anregender Freunde, die in Leipzig die alte Schulzeit
aus Schweidnitz erneuern.
Im Vordergründe seiner Leipziger Gönner und Freunde steht Burknrd
Meute, der teilnehmende Förderer aller wissenschaftlichen und künstlerischen
Bestrebungen, der Dichter und Gelehrte und Vorsteher der Deutschen Gesell¬
schaft in Leipzig, der, wie Thomasius, darnach strebte, die herrschende latei¬
nische Sprache durch die Muttersprache zu verdrängen. Günther war durch
einen seiner schlesischen Freunde, der eine Tochter Meukes zur Braut hatte,
in Meukes Hnilsi! eingeführt worden. Näher führte sie beide das gemeinschaft¬
liche Wohlgefallen an der Dichtkunst zusammen. Denn auch Meute machte
unter dem Namen Philnnder von der Linde satirische Gedichte. Sie verrieten
zwar wenig poetische Kraft, und Günthers Urteil läßt sich durch Nebenrück-
sichten beeinflussen, wenn er von Menkes Liedern sagt:
Gerak' ich in das Buch bescheidner Schertzgedichte,
So jagt Dcmokrilns den Cato vom Gesichte.
Aber was oft mehr als die eigne Begabung hilft, ist die anregende Art und
das Verständnis. Meute fühlte warm, erkannte offenbar in Günther den
hochbegabten Dichter und suchte auf seinen verwirrten Lebensweg ordnend
einzuwirken. Er führte ihn deshalb der vergessenen Medizin wieder zu, er
veranlaßte ihn noch 1718 ein längeres Gedicht ans den weltbewegenden
Passarowitzer Frieden (1718) zu schreibe», in der Hoffnung, dadurch die
Angen des Dresdener Hofes auf den jungen Dichter zu lenken. Günther
strengte die ganze Vollkraft seines urwüchsigen Talentes an. Wie prachtvoll
anschaulich ist z. V. folgende Strophe, wie unnachahmlich giebt sie die Kriegs¬
lage und die Stimmung der Zeit wieder:
Dort spitzt ein voller Tisch das Ohr
Und horcht, wie Nachbars Haus erzähle;
Hans ißt und schneidet doppelt vor
Und schmiert sich dann und wann die Kehle,
„Da, spricht er, Schwäger, seht nur her,
Als wenn nun dies die Donau wär"
(Hier macht er einen Strich von Biere)
„Da streiften wir, da stund der Feind,
Da ging es schiirscr, als man meint.
Gott Straf! Ihr glaubt mir ohne Schwüre."
Leider hatte diese bedeutendste Leistung Günthers ans seiner Leipziger
Zeit nicht die gewünschte Wirkung. Das Gedicht wurde über einer elenden
Lobhudelei eines gewissen Valentin Pietsch vergessen, und nur das frei ur¬
teilende Deutschland erkannte den Wert, indem es eine Geldsammlung zu Gunsten
des unbemittelten Dichters veranstaltete. Auch der Gedanke Menkes, Günthern
als Hofpoeten an den kurfürstlichen Hof zu bringen, mußte bei dessen hitzigem
Wesen, das zu allein eher als zu einer Zeremonienmeisterstelle paßte, fehl¬
schlagen. Aber erkannt hat Günther in allem, was Meute that, den guten
Willen dieses trefflichen Mannes, von den: er gelegentlich sagt, „er habe mehr
an ihm gethan, als er kaum, wie weit er denke, seinein Lob erwidern kann."
""
Und wie gefiel dem Jüngling erst Leipzig selber, das er oft als „Philuris)
feiert, „wo Kunst und Linden blühn Und Witz und Hofflichkeit die Länder an
sich ziehn!" „Leipzig mustert Ausehn, Wort. Verstand und auch Geberden,
Läßt Glieder und Gestalt zugleich gelehrter werden." Athen könne man Wohl
für Leipzigs Tochter halte». Vor allein aber weilt er gern unter den Linden
des Nosenthals:
In unserm Rosenthal ist hinter Weg und Wald
Ein angenehmer Hahn, der Nymphen Aufenthalt,
Den Still' und Einsamkeit zur Poesie bequemen
Und Ufer, Wies' und Teich recht in die Mitten nehmen.
Dort, „wo Pleiß' und Elster rauscht," will er „den seufzenden Gebüschen des
dunkeln Nosenthals manch nasses Ach vermischen." Wenn er die Gesellschaft
scheute, so wählte er das Rosenthnl zum Arzte seiner Qunl und zum Ver¬
trauten seiner Liebe. Als dann auch schwere Stunden in Leipzig für ihn
kamen, als der Vater ihm dauernd wegen seiner dichterischen Bestrebungen
zürnte, da erfüllte er auch wohl mit Verzweiflungsangst „das Gebüsch der
schönen Philhris, die dennoch seiner Not fast Mutterhände bot und, wenn es
nah und fern auf seine Scheitel krachte, Empfindung, Furcht und Last ein gut
Teil leichter machte." Es waren aber auch für Günther inhaltsschwere, be¬
wegte Tage an der „grundgelehrten Pleiße"; da zog mau nach „Golitz" oder
„nach Stettritz ans das Land" und schrieb dann aus der Schenke an den viel-
besvrgten Vater: „Ich mache mir die Welt bekannt." Denn gezecht und
Virginia-Knaster geraucht wurde weidlich in dem lustigen Leipziger Kreise:
Vom Morgen in die Nacht und durch die Nacht bis früh
Steht Kann' und Lampe voll, das grundgelehrte Vieh
Sitzt unter Rauch und Dampf, wie Engel in der Hölle,
Der flucht die Stuben schwarz, der parfumirt die Zelle.
Da wurde denn anch wohl das neuentstandene Studentenlied Günthers zum.
erstenmale angestimmt:
Brüder, laßt uns lustig sein,
Weil der Frühling währet
lind der Jngend Sonnenschein
unser Laub verklaret.
Oder es hieß in kräftigerer Tonart:
Kostet auch den Wurzner Saft,
Gcrstenblut macht Brüderschaft,
Fort, ihr Brüder, trinkt nud schrei!,
Weil ihr noch in Leipzig seid,
Und man in der schönen Stadt
Doch kein ewig Lebe» hat.
Versäumte auch Günther darüber ein Jahr laug, sich immatriknlireu zu
lassen — er that es erst 1718 —, so waren es ihm doch „güldene Zeiten",
»lib er gesteht selbst, daß in Leipzig „sein Geist gewachsen und sie trotz aller lln-
glückspossen nach Menkes kluger Hand nichts freudigeres genossen, als wenn
er früh und spät, nachdem es etwa kam, die deutsche Laute zur Hand nahm."
Aber die beiden Leipziger Jahre sind mich mit reger dichterischer Thätigkeit
gefüllt, obwohl Günthers Vater diese brodlose Kunst me anerkennen wollte.
Mit wunderbar leichter Schaffenskraft, die oft an einem Tag »ut in einer
Nacht mehr als zweitausend Verse vollendete, dichtete Günther in Leipzig außer
den Ergüssen seines eignen Seelenlebens gegen dreißig größere Gelegenheits-
vden, die nebst dem Passarowitzer Friedenslied einen stattliche« Band füllen
würden. Daneben vergaß mau die Klassiker nicht; Daniel Wilhelm Triller")
giebt in seiner poetischem Verherrlichung Günthers Zeugnis davon!
Ich gedenk' »och oft und viel
An die auge»ebenen Stunden,
Die bei Phölnls Saitenspiel
Uns im Pleißathen verschwunden.Damals mußt' Annkrevn
Deutsch von dir verstehe» lerne»,
lind d» sa»gst vom Lauf der Sterne»
Einen geisterfiilltcn Ton.
Spielt Triller in den ersten Versen der zweiten Strophe unzweideutig aus
Günthers Übersetzung des Anakreon an, so weisen die letzten Zeilen wahr¬
scheinlich auf eine Nachahmung der Ovidischcn l^^ti hin, die schon ziemlich
angewachsen und in ein dickes Buch in Quart geschrieben war. Daß Günther
auch eine deutsche ^r« annual zu dichtet: schon in Leipzig beabsichtigte, erwähnt
er selbst in einem Gedicht, in den „Letzte» Gedanken"; das Thema paßte auch
vortrefflich für ihn, dem „Leben Liebe" galt.
Denn auch hier fehlte es dem Dichter nirgends an Liebe, wobei ihm der
Wechsel die Sinne vergnügte. „Klug, thöricht, frei, furchtsam, stark, lang
oder klein, Sie sein, wie sie wollen, ich finde mich drein." Kaum hat er die
Schweidnitzer Leonore (Magdalis, Lenchen, Eleonore), seine wärmste Neigung,
zu vergesse» gesucht, als ihn im Herbst 1718 nach der Genesung ans einer
schweren Krankheit schon wieder el» Mädchen zu leidenschaftlichster Liebe ent¬
flammt. Nun bleibt es ja seltfnm und für alle Forscher ein schweres Krenz,
daß er die Leipziger Geliebte auch unter dem Namen Leonore verherrlicht hat.
Daran zu zweifeln ist aber nicht möglich. Günther richtete mit Absicht eine
künstliche Verwirrung in seinen Liebesverhältnissen an, um vorwitzige Spürnasen
irre zu führen. Der Ton freilich dieser Leipziger Leonvrenlieder unterscheidet
sich wesentlich von dem der Liebesgesange an die Schweidnitzer Geliebte. Hier
ein derb' sinnlicher Zug, dort zarte Innigkeit. Offenbar war die Leonore
Leipzigs eine berechnende Kokette, „eine falsche Sirene," die sich zwar den
Huldigungen des begabten Dichters willig hingab, aber ihm kein tieferes Gefühl
entgegenbrachte. Wir wissen von ihr nur, daß sie eine Waise und vielleicht
aus Schlesien war, und daß die Liebeszusnnmtenkünfte auf — dem Johminis-
kirchhof stattfanden: „Sie führte mich an den schon oft besuchten Ort, wo
nichts als Graus und Nacht regieret und Tod und Stille triumphiret."
Später gedenkt er ihrer nur uoch ein paarmal, er giebt aus Dresden dem
Wiude viel tausend heiße Küsse an sie mit und bittet an andrer Stelle das
edle Sachsen, dein „kleinen Lorchen" nach dem Trennungsschmerz Ruhe zu
verleihen. Aber zwischen der ersten Leonore in Schweidnitz, die ihn sein ganzes
Leben hindurch gefesselt hat, und der Leipziger Namensschwester, die ihn mehr
in plötzliche Glut versetzte, drängt sich gleich zu Anfang der Leipziger Studenten¬
zeit eine dritte Geliebte in sein leicht entzündbares Herz, die man bisher nicht
gewürdigt hat. Es sind ihr auch nur vier Lieder gewidmet: „An Rosette."
Nur versuchsweise hat man die vier Gedichte in die Leipziger Zeit gesetzt, aber
viel hat man damit nicht anzufangen gewußt. Der neueste Herausgeber
Günthers, Ludwig Fulda, meint in eiuer Anmerkung, die Datirung sei nicht
sicher, doch sei es das wahrscheinlichste, diese Lieder auf eine vorübergehende
Neigung in Leipzig etwa im Sommer 1718 zu beziehen. Diese Vermutung
läßt sich zur Gewißheit erheben.
Sehen wir uns die Lieder etwas näher an. Das erste Gedicht giebt
freilich nichts als einen Vornamen des Mädchens: Rosette. Sie haben zu¬
sammen ein Pfänderspiel veranstaltet, dabei sich die Hände gedrückt, und dieser
Druck, »»schuldig in seiner Natürlichkeit, veranlaßt den Dichter zu folgendem
Wunschgedicht:
Ihr drückt mich zwar, ihr schwanenwciche Hände,
Ihr drückt mich zwar, doch leider mir ans Scherz.
Ihr fühlt den Puls, ihr weckt die schnellen Brände,
Ach, führt sie doch Rosetten in tels Herz!
Meidet ihr dabei
Den Ursprung solcher Qual,
Und sagt, es sei
Nichts andres als ein Strahl.Ein holder Strahl der fcuerrcicheu Blicke
Steckt unverhofft deu Sitz der Freiheit an;
Da diese flicht, so bleibt kein Trost zurücke,
Als deu mir uoch die Liebe geben kann;
Aber ach, auch die
Giebt Finsternis auf Licht
Und zeigt zu früh,
Wie leicht die Hoffnung bricht.Die Hoffnung bricht; ach Kind, du könntest retten,
Dn siehst und hörst viel Schnsuchtszeichcn gehn;
Ich wünsche mir das Glucke deiner Ketten,
Es giebt es selbst mein Finger zu Verstehn,
Ach, erbarm dich noch:
Und folgt auch kein Gehör,
Bergeß ich doch
Dein Wesen nimmermehr.
Der sanfte Händedruck begeistert ihn dünn zu einem zweiten Gedicht auf sie
mit ähnlichem Inhalt:
Versteht ihr mich, ihr sanften Hände,
Wnrmn euch mein Verlangen drückt?
Die Freiheit, merk' ich, geht zum Ende
Und wird mir mit Gewalt entrückt.
Aber er weiß ihr nicht zu nahen. Ein flüchtiges Begegnen am Abend ist alles:
Und hätt' ich auch uoch sonst zu hoffen,
So wehrt es mir die kurze Zeit,
Es steht kein Weg zum Umgang offen;
Komm, selige Gelegenheit,
Und schaffe, daß ich zeigen könne,
Wie zart und rein mein Herze brenne.Ich weiß, die artige Rosette
Erklärte sich vor meine Treu,
Wofern sie erst geprüfet hätte,
Wie gleich ihr mein Gemüte sei.
Und wenn sie ans Erfahrung wüßte,
Was aunes Verliebter dulden müßte!Ich bin mit mancher umgegangen,
Die noch wohl liebenswürdig wär;
Bis jetzo blieb ich nugefaugeu;
Du, schönes Kind, kommst ungefähr
Und rührst mich gleich zum erstenmale
Auch nur mit einem holden Strahle.
Selbst der Traum zaubert ihm ihr Bild vor, und so hofft er, daß sich ver¬
wirklichen werde, was er gesehen hat:
Dies alles ist wohl nicht vergebens,
Der Himmel paart oft wunderlich;
Zum Troste des betrübten Lebeus
Begehre' ich sonst kein Kind als dich;
Die Liebe könnte Mittel zeigen,
Und heute - doch ich muß uur schweigen.
Eine eigentümliche Zurückhaltung klingt aus diesen Worten. Aber der Dichter
wird wärmer und geht einen Schritt weiter. Er schreibt ein heißglühendes
drittes Gedicht, worin er die Geliebte um einen Kuß bittet:
Ach, was ist das vor ein Leben,
Niemals recht verliebt zu sein!
Nichts kann Trost im llugliick geben,
Als ein Kuß voll süßer Pein.
Reizt mich nicht ein, große Titel,
Oder rühmt mir etwan Geld:
Schöne Redlichkeit im Kittel
Ist mein höchstes Gut der Welt,Neider fluchen, Spötter kränke»,
Alles hoff' ich auSzustehu,
Laß mir nur dein Angedenken
Auf den Hosfuuugsrosen gehn.Ruch dem Hauche deiner Lippen
Geht der Sehnsucht schneller Kahn:
Ist die Lieb' ein Meer von Klippe»,
Nimm nur mich zum Anker an!
Aber das gute Kind hat die geheime Sprache nicht verstanden. So muß er
ihr es denn noch ein wenig deutlicher sagen, und das thut er in dein vierte»
und letzten Gedicht:
Ich untersteh mich dir, galant- und treues Kind,
Eil» schlecht gesetztes Lied verwegen darzureichen.
Doch weil dein Schluß und Wort sein schönster Inhalt sind,
So wird ein holder Blick ans dessen Zeilen ölreichen.
Den Sinn dieser Worte hat kein Erklärer Günthers bis jetzt durchschallt. „Ihr
Wort" soll der schönste Inhalt desjenigen Gedichtes sein, das er vorher als drittes
a» sie geschickt hat. Die Herausgeber haben nicht bemerkt, daß jenes dritte Liebes¬
lied eines der akrostichischen Gedichte bei Günther ist, deren er eine ganze An¬
zahl geschrieben hat. Es konnte ihnen leicht entgehe», weil die ältern Allsgaben
es ohne jede Markirung gedruckt, es also offenbar anch nicht bemerkt haben.
Und was ergiebt der Anfangsreim? Den Namen: Anna Rohinei Laugi». Die
Rosette der Dichtung tritt also in das Gebiet der greifbaren Wirklichkeit.
Wer war diese Anna Rosina Lange? Der Name Lange begegnet so häufig,
daß eine Enthüllung fast undenkbar erschien. Zum Glück bot sich ein andres
längeres Gelegenheitsgedicht Günthers dar, das uns den erwünschten Aufschluß
gewährt, da es uns ihren Vater vorführt. Dieses Gedicht entstand: „Bei
Herrn I). Gottfried Laugeus Erwehlung zniil Bürgermeister in Leipzig."
Lange wurde am lei. März 1719 zum Bürgernleister gewählt; Günther bezieht
sich auf den Monat, wen» er sagt:
Und da sonst Naß und Wind den Mertz verdrießlich machen,
So läßt ihr warmer Schein Luft, Feld und Vögel lache».
Laiige folgte dem Bürgermeister Schacher im Amte, einem tüchtigen Manne,
auf den Günther ebenfalls drei längere Gedichte geschrieben hat; es entsprach
der Wahrheit, wenn Günther in dem Gedicht auf Lange sagte:
Jetzt hat ihm Wahl und Rang die Stelle zugedacht,
Die Schachers frühe Flucht mit Ehren leer gemacht,
Und also wird sein Bild auf Leipzigs Hvheits-Bühnen
In jener langen Reih berühmter Bilder grünen.
Auch die Fäden, die den jungen Dichter an den Bürgermeister Lange
knüpfen, lassen sich aufdecken, sie weisen nach Schlesien, beider Männer gemein¬
samer Heimat. Günther selber sagt:
Wird Greiffenberg was stolz und wächst sein Mut zu sehr,
So sei eS ihm »erziehn, denn jetzo heißes nicht mehr:
Die kleinst' und niedrigste der Stadt im Vaterlande,
Ans ihr kommt jetzt ein Haupt, das an dem Pleißenstrande
Die Gegend der Geburt mit sich zugleich erhöht,
Solang' ein Zug von ihm in Tagebüchern steht.
Ganz genau so verhielt es sich zwar nicht, aber viel fehlt daran nicht.
Riemer in seinen Leipziger Annalen, die sich handschriftlich im Leipziger Nats-
archiv befinden, berichtet (Bd. II, S. 706): „Den 8. Nov. 1748 starb
abends um 8 Uhr der geheimbde Kriegsrath und Bürgemeister Hr. Joh. Gott¬
fried Lange, gewesener Vorsteher der Kirche zu Se. Thomae, nachdem er sein
Leben gebracht auf 76 Jahr 9 Monat. Dieser hochverdiente Mann ist den
7. April 1672 zu Schwerta, nicht weit von Marcklissa in der Oberlausitz ge¬
boren worden, allwo sein Vater N. Caspar Lange Prediger gewesen."
Schwerta liegt nun höchstens eine Stunde von Greiffenberg entfernt.
Dazu kam ein zweiter Berührungspunkt. Lange, wie Meute, liebte die
schonen Künste, vorzüglich die Dichtkunst. Er hatte in seiner Jugendzeit sich
selbst in Übersetzungen versucht, als er in Begleitung des Grafen von Wied
auf der Ritterakademie in Wolfenbüttel weilte. (Vgl. Jvchers Gelehrtenlexikon.)
Damals hatte er den Cid des Corneille so musterhaft ins Deutsche übertragen,
daß Gottsched davon entzückt war und ihn 1742 in den ersten Band seiner
deutschen Schaubühne aufnahm, allerdings ohne Langes Namen zu nennen.
Die erklärenden Worte Gottscheds in der Vorrede (Seite 16) werfen ein
so schönes Licht auf Langes Tüchtigkeit, daß ich mir nicht versagen kann, sie
hier zum Vorteil des Gesamtbildes herzusetzen. „Was die deutsche Übersetzung
des Cid anlangt, so haben wir dieselbe einem vornehmen Manne zu danken,
der sich durch viel wichtigere Verdienste, als die Poesie geben kann, zu den
ansehnlichsten Ämtern emporgeschwungen hat. Er hat dieselbe bereits vor
42 Jahren*) und also in seiner Jugend verfertiget, als er mit einem jungen
Grafen, den er als Hofmeister geführet, am Braunschweigischen Hofe gelebet:
welchen damals der durchlauchtigste Herzog Anton Ulrich zu einer Residenz
der deutschen Muse» gemacht. Eben dieses durchlauchtigsten Herzogs Ver¬
langen und Befehl munterte diesen geschickten Dichter auf, sich an die Über¬
setzung dieses Trauerspiels zu machen; und der Beyfall eines so erleuchteten
Hofes, hat ihm die darauf gewandte Mühe reichlich vergolten. Ich habe mirs
also für eine Pflicht geschätzet, diese wohlgeratene Übersetzung, die gleich da-
mals im Drucke erschienen, der Welt nochmals vor Augen zu legen; zumal ich
nicht nur die Erlaubnis dazu von dem Herrn Verfasser, sondern auch eine von
desselben eigner Feder verbesserte Abschrift davon zu erhalten das Glück gehabt."
Günther verkehrte also unzweifelhaft in Langes Hans, das sich auf¬
strebenden jungen Geistern gewiß gern aufthat. Ein Sohn, später auch Mit¬
glied des Rates, zu Günthers Zeit noch ein Knabe, genoß hauptsächlich als
Nesthäkchen die Liebe seiner Eltern, doch auch das Wohlwollen der Freunde:
Der klein- und muntre Sohn, das hoffnungsvolle Kind,
An dem des Vaters Geist und Mienen kenntlich sind,
Kriege, wie Pnpyrius, das Alter vor den Jahren.
Die beliebten Pfänder- und Schüferspiele wurden ins Werk gesetzt, viel¬
leicht sogar von der Mutter Johanna Nadel, einer gebornen Fetter, gern ge¬
sehen. Denn Bürgermeister Lange hatte drei Töchter, über die uns Riemer
freilich nur wenig berichtet: „Von den drei Töchtern ward die älteste mit
Herrn Hofrat Dr. Benedictus Oertel verheiratet, welcher aber kurz vor seinem
Herrn Schwiegervater die Zeitlichkeit verlassen." Welche von diesen drei
Mädchen Günthern nun so ausnehmend gefiel, ob es diese später vermählte ge¬
wesen ist oder eine der andern, bin ich nicht imstande zu sagen.") Aber be¬
wahrt hat er das Andenken an diese eine von ihnen noch lauge, und als er
von schwerer.Krankheit ergriffen war, empfindet er noch „das zärtliche Gefühl
und die treue Redlichkeit," die er einst Leonilden^) — so nennt er sie da —
geweiht hat. Es war ein unglückseliges Geschick, daß sich auch diese Neigung
zu, einem Mädchen ans vornehmen, Kreisen zu keinem, dauernden Bunde gestaltete.
Ein merkwürdiger Zufall ist es, daß auch der junge Goethe, mit dem
Günther oft verglichen worden ist, sechzig Jahre später als Leipziger Student
in dem Hause eines Leipziger Ratsherrn, namens Lange, des kurfürstlich säch¬
sischen Hofrats Dr, Johann Gottfried Lange, ans und ein ging. (Vgl. darüber
die zuerst im 7. Bande des Gvethejahrbuches veröffentlichten Briefe Goethes
an seine Schwester Cornelia). Dieser Lange war der Sohn von dem, in dessen
Hause Günther verkehrt hatte.
in Verlage von C, Konegen in Wien hat kürzlich Freiherr von
Berger ein Bändchen Dramaturgische Vortrüge ver¬
öffentlicht.^) DaS Buch hat im eigentlichsten Sinne des Wortes
sein Schicksal, seine Geschichte, und sie spiegelt sich auch teilweise
in seinem Texte wieder. Entstanden ist es aus Vorlesungen, die
Berger letzten Winter (1889/90) als Privatdozent an der philosophischen
Fakultät der Wiener Universität gehalten but. Aber in der Zwischenzeit hat
sich Bergers Stellung in Wien sehr geändert; er ist ans einem wichtigen
Amte, wo er der öffentlichen Anfmerksamkeit ausgesetzt war, unter großer
Teilnahme der Wiener Gesellschaft geschieden, ohne doch deshalb ganz in das
Dunkel des Privatlebens verschwinden zu können. Berger gehört zu den Er¬
scheinungen, die, ohne es zu beabsichtigen, im guten und im bösen Sinne der
Leute Mund beschäftigen, die ein Hauch moderner Romantik umgiebt. Nach
dem Rücktritt Wilbrandts von der Führung des Bnrgtheaters wurde er dem
zeitweiligen Leiter des Theaters, Svuneuthal, uuter dem Titel eines „artistischen
Sekretärs" als litterarischer Beirat an die Seite gestellt. Ein Sohn des ver¬
storbenen österreichischen Ministers, hatte er bis dahin in aller Stille philo¬
sophischen und dichterischen Arbeiten obgelegen, er war als Privatdozent an
der Wiener Universität habilitirt, ohne irgendwie weitere Kreise zu beschäftigen.
Durch seine Berufung an das Vurgtheater trat er mit einem Schlage ins Licht
der Öffentlichkeit, man sah in ihm schon den künftigen Direktor des Burg¬
theaters, dein wohlwollende Gönner aus den höchsten preisen in der Stellung
eines dramaturgischen Sekretärs (die seit Schreyvvgel nicht mehr besetzt worden
war) Gelegenheit geben wollten, sich in die Geschäfte des ebenso berühmten
wie von den Wienern eifersüchtig geliebten Hauses einzuarbeiten. In dieser
Stellung blieb er längere Zeit, ohne viel von sich reden zu macheu. Er strebte
auch gar uicht darnach, sondern freute sich, im Stillen lernen und helfen zu
können. Als dann Sonnenthals Provisorium dnrch die Berufung Angust
Försters aus Burgtheater abgelöst wurde, behielt Rerger auch an der Seite
des neuen Direktors die Stellung eines stillen litterarischen Ratgebers
bei; er hatte zunächst den Eingang an Theaterstücken zu prüfen und draus
zu wählen, was sich etwa als brauchbar ansehen ließ. Ob seine Einwirkung
auf die Führung und die Leistungen des Burgtheaters nicht doch etwas größer
war, als es schien, wußte das Publikum nicht, obwohl sich die Zeitungen
nicht ungern etwas boshaft mit ihm beschäftigten, so oft sich ein Anlaß dazu
bot. Beim Abschied vom alten Burgtheater hatte er sich durch einen fein
empfundenen Epilog neue Freunde gemacht, und mit einem im „Verein der
Litteraturfreunde" gehaltenen Vortrag über den Hamletcharakter bei Shakespeare
und Turgenjew hatte er großen Beifall gefunden.
Bei Beginn des letzten Wintersemesters war er nun den akademischen Ge¬
setzen gemäß genötigt, wieder einmal ein Kolleg zu halten; denn der Privat-
dozent verliert seine vsnw, Isg'vrai, wenn er länger als zwei Jahre seine Vor¬
lesungen unterbricht. Mit dieser Wiedereröffnung seiner Vorlesungen war
Berger plötzlich der Mann des Tages geworden. Daß er schön spricht und
geistvoll denkt, wußte man schon; daß aber einer der Führer des Burgtheaters
seine dramaturgischen Erfahrungen von dem Katheder herab mitteilen wollte,
war noch nicht vorgekommen. Man muß wissen, wie sehr die Wiener,
namentlich die edlere Jugend Wiens, am Burgtheater hängt, um den Andrang
von Männern und Frauen zu Bergers Vorlesungen zu begreifen. Es war, als
ob der Genius des Burgtheaters in einem andern, nicht minder geweihten
Raume seine Stätte aufgeschlagen hätte: so stark war der Zndrnng. Die
Zeitungen brachten von jeder Vorlesung Auszüge, sogar Polemiken dagegen
druckten sie. Von alleu Seiten wurde er mit Einladungen, anderwärts Vor¬
trage zu halten, bestürmt, er folgte anch ein- oder das andremal diesen Rufen,
und es sind nicht die am wenigsten gelungner Vorträge seines Buches, die er
außerhalb der Hochschule gehalten hat. Doppelt interessant war er den
Wienern dadurch geworden, daß er plötzlich als der Gatte einer der genialsten
Schauspielerinnen des Burgtheaters, des Fräulein Hohenfels, erschien, die ihm
ihre große Beliebtheit als Hochzeitsgeschenk mitgebracht hatte. Da trat auf
der Höhe seines Erfolges ein Ereignis ein, das das Schicksal des Philosophen
und Dichters entschied. Zu Weihnachten starb August Förster plötzlich an
einem Schlngflusz. Man war kaum der endlich im Burgtheater hergestellten
Ordnung froh geworden, man hatte sich gefreut, daß es unter der sachkundigen
Leitung Försters wieder seinen alten Glanz und seine Größe wiedergewinnen
würde; nun war alle diese Hoffnung mit einem Schlage erschüttert. Natürlich
wandten sich nun aller Augen wieder auf Berger, der ja seine Fähigkeit zur
Leitung des Bnrgtheaters genügend erprobt hatte, und nun begann ein ge¬
waltiges Reden für und gegen ihn in allen Blättern. Durch seine Heirat mit
der Hohenfels hatte sich die Sachlage sehr verwickelt. Der zukünftige Direktor
des Burgtheaters sollte nicht eine der wichtigsten Schauspielerinnen desselben
Theaters zur Gattin haben, sonst war eine unparteiische Regierung nicht wahr-
scheinlich; die Schauspielerin durfte nicht Direktorin sein. Aber die noch junge
Schauspielerin in den Ruhestand versetzen, das ging doch anch nicht an, das
hätte dem Theater eine seiner bedeutendsten Kräfte geraubt. Also durfte Berger
nicht Direktor werden? Aber es war ja weit und breit kein Mann zu finden,
der mehr dazu berufen gewesen wäre als er! Dieses Dilemma wurde in end¬
loser Weise hin und her erwogen. Berger konnte bei dieser Gelegenheit er¬
fahren, daß man auch bei dem reinsten Streben, bei dem edelsten Eifer, bei
der echtesten Bescheidenheit nicht davor bewahrt bleibt, Feinde zu haben; denn
was für Niederträchtigkeiten bei dieser Gelegenheit gegen ihn geschrieben worden
sind, der doch nichts weiter gethan hatte, als sein berechtigtes Selbstbewußtsein
in kritischer Zeit hervorzukehren, ist gar nicht zu sagen. Ganze Misthaufen
wurden von ebenso urteilslosen wie großmäuliger Journalisten auf ihn ge¬
worfen, anf denselben Mann, der bis dahin nichts als Gutes geleistet und
erstrebt hatte. Schließlich wurde er trotz des Eintretens des einflußreichsten
und einst chtigsteu Wiener Kritikers, Ludwig Speidels, doch uicht zum Direktor
des Burgtheatcrs ernannt; viele sagen: gerade deswegen nicht, weil sich die
obersten Behörden des Hoftheaters nicht von Speidel die Wahl des Direktors
vorschreiben lassen wollten; doch ist das unverbürgtes Gerede. Ein der Kunst
und Litteratur bis dahin ganz fernstehender Jurist wurde an die Spitze des
Theaters gestellt, und Berger blieb, was er bis dahin gewesen war — Privat¬
dozent an der Wiener Universität, und führte sein Kolleg: „Beiträge zur Theorie
und Technik des Dramas" in größerer Stille, als er es begonnen hatte, aber
mit nicht geringerm Geist zu Ende.
Unter diesen aufregenden Erlebnissen also ist sein Buch zustande gekommen.
Als Berger seine ersten Vorträge hielt, stand er mit einem Fuß in der Uni¬
versität, mit dem andern im praktischen Theatergetriebe, und diese gerade für
den Ästhetiker, den „praktischen Philosophen" sehr vorteilhafte Doppelstellung
merkt man anch den ersten Vorträgen an, denn Berger hat mit wirksamer Ab¬
sicht seinem Buche die ursprüngliche Form der Rede gelassen. Als er seine
Vortrüge schloß, war er nichts mehr als ein wie jeder andre das Theater
von außen beobachtender Kritiker. Aber wenn er auch nicht Direktor des Burg¬
theaters geworden ist, so hat das doch seinem Buche nichts geschadet; weil
er aber lange Jahre Mitarbeiter an einem den höchste» dramatischen Zielen
gewidmeten Theater war, hat er ein so gutes Buch machen können. Es ist
vielleicht das erstemal, daß ein philosophischer Kopf von der Tiefe und der
kritischen Schärfe Vergers das Theater ans nächster Nähe studiren und seine
Urteile fortwährend an dem Boden der Erfahrung nähren und läutern konnte.
Daher kommt es, daß fein Buch auf jeder Seite interessant ist, insofern es
einerseits alle die Fragen besonders hervorhebt und durchspricht, die gerade
jetzt im praktischen Bühnenleben die Geister am meisten beschäftigen, andrerseits
viele Beobachtungen mitteilt, die dem auf seine Bücher und Grübeleien allein
angewiesenen Denker leicht entgehen. Freilich kommt noch seine Kunst in der
Deutung, Erklärung und Zergliederung ästhetischer Gefühle hinzu, seine Fähig¬
keit, den Dichter» nachzuempfinden, anzudichten, ferner seine Gabe, so zarte Dinge,
wie es die dichterische Schöpfung und der ästhetische Genuß sind, in drastischer
Klarheit darzustellen, um sein Buch zu dem lebensvollen Werke zu machen,
das es geworden ist. Denn, die Wahrheit zu sagen: Nur zählen es zu den
schönsten, gedankenreichsten und anregendsten Schriften, die seit langer Zeit auf
dem Gebiete der Ästhetik erschiene» sind. Es bietet eine Fülle von tiefen Be¬
merkungen über die Kunst im allgemeinen und über bestimmte Dichter im
einzelnen.
Alfred v. Berger gehört zu den Denkern, die mich im wissenschaftlichen
Leben den Wert des Gefühls über den der Reflexion stellen. Man hat, sagt
er, die Wahrheit aller Dinge bezweifelt, die wir wahrnehmen, der Phänomena-
lismns ist die herrschende Philosophie; allein so weit mich die Zweifelsucht
ging, so hat sie doch beim Gefühl von den Dingen Halt machen müssen: das
Gefühl ist uns der letzte und allersicherste Beweis für die Existenz der Dinge.
Die wichtigste Rolle aber spielt das Fühlen in der Kunst. Was man nicht
fühlt, das besteht auch dichterisch nicht für uns. Aus dem Gefühl und nicht
aus dem Verstände muß der Dramatiker schassen. Das macht den Unterschied
z. V. zwischen Hebbel und Shakespeare. Hebbel besaß von jeder seiner Ge¬
stalten ein staunenswertes psychologisches Wissen; er hatte aber nicht jenes
fühlende Gesicht, jenes intuitive Gefühl für sie, das Shakespeare eigen war,
der gewiß nicht so tiefsinnig wie Hebbel seine eignen Geschöpfe hätte zergliedern
können. In der dramatischen Kunst ist aber dieses intuitive Gefühl einzig
maßgebend. Der Dichter bedarf seiner, um seine Handlung wahrhaft bühnen¬
fähig zu gestalte», der Schauspieler bedarf seiner, um die Charaktere des Dichters
darstellen zu können, und nur das naive Publikum, das die Vorgänge aus der
Bühne nicht blasirt zergliedert, sondern mit unmittelbarer Teilnahme verfolgen
kann, ist das richtige; zum Schaden der Kunst ist es leider jetzt selten ge¬
worden. Mit einem einfachen Gleichnis erklärt Berger diesen Begriff. „Ich
erinnere Sie, um Ihnen ganz klar zu machen, was ich meine, an das Ver¬
hältnis, in dein Sie zu den Charakteren Ihrer Freunde und Verwandten stehen.
Sie wissen oft voraus, was z. V. Ihr Onkel oder Ihre Tante in einem bestimmten
Falle thun oder sagen wird. Folgern Sie Ihr prophetisches Wissen etwa aus
einer von Ihnen gewußten Psychologie Ihres Herrn Onkels oder Ihrer Fran
Tante? Sie haben etwas wie eine intuitive Anschauung des innern Wesens
dieser Respektspersonen, und aus dieser Intuition heraus sagen Sie: das wird
er sagen und das wird er thun . . . Dieses Gefühl Ihnen in Bezug auf die
in ein Drama verflochtenen Personen so zu geben, wie Sie es hinsichtlich
Ihrer Freunde und Verwandten besitzen, ist eines der Ziele des dramatischen
Darstellers."
In dem stetigen Rückgang dieser unmittelbaren Art zu fühlen und zu
urteilen, der eine Folge der fortschreitenden Zivilisation, der Ausbildung der
Verstandesurteile ist, findet Verger eine der Ursachen des Verfalls der drama¬
tischen Litteratur: Dichter und Publikum leiden an diesem Mangel. Er wird
aber noch schlimmer dadurch, daß eine krankhafte Neigung zur Selbstbeobach¬
tung verheerend wie der Borkenkäfer im Fichtenwalde um sich greift. In der
modernen Romanlitteratur füllen sich die Druckbogen mit langen und lang¬
weiligen Zergliederungen seelischer Zustände; der Erzähler berichtet nicht mehr,
sondern er annlysirt; er stellt nicht dar, sondern er beschreibt seine Charaktere.
Da aber unsre begabtesten Dichter sehr selten oder nie in unmittelbaren Ver¬
kehr mit den Schauspielern treten, im Gegensatz zu Shakespeare, der gleichsam
am Negiepulte dichtete, fern von der Bühne in der Einsamkeit der Studirstube
schaffen, so steheu sie in demselben Bann wie die Erzähler. Dies ist für die
dramatische Produktion ein großer Schade, denn ans der Bühne ist die psycho¬
logische Analyse gänzlich wirkungslos. Es ist ein sehr großer Unterschied, ob
der Dichter ein fremdes Ich aus der innern Beobachtung des sich selbst teilenden
Ich darstellt, indem er sich in eine fremde Seele innerlich versetzt und von hier
aus spricht, oder ob er das fremde Ich aus dessen sinnlich wahrnehmbaren
Äußerungen, als da sind: Melodie der Sprache, Gesichtsausdruck, Körper¬
bewegung, unbewußt das Innere verratende Rede u. tgi. in., zur Anschauung
bringt. Nur diese mittelbare Dnrstellnugsweise ist dramatisch wirksam. Ja
sie ist für das Drama fo wichtig, daß Berger von vornherein die dramatische
Kunst für zusammengesetzt ans drei Künsten erklärt, die in den Persönlichkeiten,
die sie ausüben, freilich getrennt sind. Das Buch des Dichters ist nämlich
noch lange nicht das dramatische Kunstwerk, wenn es auch sein wichtigster Teil
ist; es müssen noch die durchaus kvugeuialen Künste des Schauspielers und
des Regisseurs, der zu den bildenden Künstlern gehört, hinzutreten, um das
Drama zum Drama zu macheu. Gegen die Unterschätzung der Schauspielkunst
wendet sich Berger mit großem Nachdruck, und wie wichtig die Kunst des
Jnszenireus geworden ist gerade in unsrer Zeit, die sich den Meuschen nicht
getrennt von seiner Umgebung vorstellen kann, ja in ihrer Einseitigkeit fo weit
geht, den Menschen nnr allzu klein im Verhältnis zur Natur zu betrachten,
weist Berger einsichtig nach.
Also zum schauenden Gefühl spricht die Bühne; alle Forderungen ans
dramatische Kunstwerk lassen sich von dieser einzigen Erkenntnis ableiten.
Gefühl erzengen ist schließlich sowohl Mittel als Zweck der dramatischen Kunst.
Es ist ein Mittel insofern, als die dramatische Illusion durch gar nichts andres
so wirksam hervorgerufen wird, als dadurch, daß unser Gefühl für das, was
auf der Bühne vorgeht, erregt wird. Wir glauben erst dann an die Menschen
da oben, wenn wir mit oder für oder auch gegen sie zu fühlen begonnen haben,
und dann ist diese Täuschung so mächtig, daß die Ausstattung des Stückes
gleichgültig wird; folglich ist hier mich das Maß mit das Gesetz für die Aus¬
stattung der Dramen gegeben. Und noch eine andre wichtige Folgerung ergiebt
sich daraus, nämlich die, daß der Naturalismus unmöglich lmhuenwirkscim
werdeu kauu. Diesem Naturalismus rückt Berger von deu verschiedensten
Seiten zu Leibe, er bekämpft ihn in glänzenden Gefechten.
Der Naturalismus will sich in der Poesie zur Welt und zu den Menschen
gerade so wie die Naturwissenschaft selbst stellen, d. h. er will nicht über die
Dinge vom Standpunkt irgend eines über die Erfahrung hinausgehenden Ideals
urteile», sondern die Wirklichkeit kalt nachahulen, wiederholen: sie ist nicht böse,
sie ist nicht gut, sondern mir: so ist sie! Ganz abgesehen nun von der
Täuschung, die sich der Naturalismus mit dieser Lehre selbst bereitet — denn
befolgt kann sie gar nicht werden, und die naturalistische Praxis lehrt das
Gegenteil: eine Tendenz haben alle naturalistischen Romane —, ist diese Lehre
auch künstlerisch deswegen wertlos, weil ganz nüchtern auf die Bühne hinge¬
stellte Figuren den Zuschauer auch nüchtern lassen, und wenn die Illusion
ausbleibt, tritt die Langeweile oder das Gelächter ein. Wir müssen für die
Menschen auf der Bühne fühlen, nur unsre Teilnahme macht sie lebendig, wie
überhaupt alles, was in der Welt da ist, nur für den da ist, der ihm ein
Gefühl weiht. Daher auch ein andrer grundsätzlicher Gegensatz zwischen der
echten Kunst und dem Naturalismus, den Berger betont: ohne eine ideale
Weltanschauung oder Grundstimmung religiöser Art ist gar kein hohes Drama
möglich; dem Naturalismus fehlt diese Wurzel, und darum kann er nicht die
Bühne gewinnen. Der moderne Naturalismus ist pessimistisch; aber ein Drama,
das nicht in dem Glauben an eine sittliche Weltordnung, an das Bestehen einer
Gerechtigkeit wurzelt, ist unmöglich, weil unerträglich, von Volkstümlichkeit gar
nicht zu reden. Berger ist weit davon entfernt, diesen Glauben in flacher
Weise zu fordern; er meint nicht, daß der Dichter von Wonne triefen, daß er
sich blind stellen solle gegen das viele unbegreifliche Leid, das besteht; aber
das Welträtsel gläubig zu betrachten hält er für eine notwendige Voraussetzung
des Gedeihens der dramatischen Kunst, und in der Erschütterung dieser gläu¬
bigen Grundstimmung erkennt er einen andern der Gründe, weshalb trotz aller
Anstrengungen die dramatische Kunst uicht gedeihen will. Auch die Frage und
Suche uach Begriff und Wesen der poetischen Gerechtigkeit häugt für ihn mit
dem Mangel an Religion zusammen. So lange der Glaube an ein sittliches
Prinzip bestand, haben die Dichter und Ästhetiker nicht nach der poetischen
Gerechtigkeit gefragt: sie verstand sich von selbst, sie wurde intuitio mit
Sicherheit geübt. Die Sicherheit schwand mit der Herrschaft des Zweifels;
und die Anschauung der Naturwissenschaft, die den Menschen entthront, die
alte und unverwüstliche anthropozentrische Weltbetrachtung bekämpft, den
Menschen als einen allen andern Organismen gleichwertigen Teil der Natur
betrachtet, ist nicht geeignet, die Poesie zu fördern, die ihrem Wesen nach die
Natur zu vermenschlichen bestrebt ist. Das ist der Gegensatz zwischen dem
Naturalismus und der Poesie: er haßt, sie kaun nur lieben.
Mit dem Mangel an weltfreudiger Grundstimmung der Dichter unsers
Jahrhunderts bringt Berger auch die geringe Produktion selbst der besten
Dramatiker in Zusammenhang, wenn man sie mit der üppigen Fruchtbarkeit
der alte» Dichter vergleicht. Der moderne Dichter muß sich erst künstlich in
die Stimmung des Dramas hineinarbeiten, während sie dem alten Dichter
Lebenselement war. Dazu kommt noch die Verinnerlichung des modernen
Lebens, die Ausgleichung der Gegensätze, die Zähmung der Leidenschaften,
während das Drama nur in Epochen zu gedeihen Pflegt, die am Wendepunkte
zweier Zeitalter stehen.
Nach alledem wird man nicht überrascht sein, daß Verger sich öfter gegen die
naturwissenschaftliche Methode im Gebiete der Ästhetik ausspricht, auch gegen
die Poetik Scherers Stellung nimmt. Scherer leugnete den Wert und die
Möglichkeit einer gesetzgeberischen Ästhetik, selbst Aristoteles ist ihm zu wenig
Empiriker und zu viel Gesetzgeber. Dein gegenüber weist Berger darauf hin,
daß in der Praxis die gesetzgeberische Ästhetik gar nicht zu entbehren oder zu
vermeiden sei. Jeder Theaterdirektor, der die Wahl zwischen neuen Werken
zu treffen hat, ist ein nichtempirischer, ein idealistischer Ästhetiker; jeder
Dichter ist es mehr oder weniger bewußt, insofern er an seinem Werke herum¬
bessert, bevor er es aus der Hand giebt, und überhaupt fügen nur hinzu, ist
eine Poetik, die die dichterischen Erscheinungen nur aufzählen will, ohne sie
zu beurteilen, ohne sie ihrem verschiednen Werte nach abzuschätzen, eine Un¬
möglichkeit. Es war ein Irrtum Scherers, als er eine Poetik auf rein in¬
duktiven Wege schaffen zu können glaubte. Man muß wissen und nicht bloß
fühlen, was poetisch mehr- oder minderwertig ist, wenn man die Poesie in
allen ihren Gestalten in naturwissenschaftlichem Geiste ordnen will. Scherer
hat in seinem reichgebildeten Sinne dieses Wissen auch schon mitgebracht, aber
der Methode zuliebe eine philosophische Naivität geheuchelt, die mit Recht an¬
gegriffen und verurteilt wurde. Bergers Standpunkt ist der der innern Er¬
fahrung nicht weniger als der der äußern Beobachtung; sei» Wissen gelangt
durch dus, was er aus dem Schatz der eignen philosophischen Begabung da¬
zuthut, erst zur richtigen Bedeutung. Gegenüber dem vorwiegend ans das
biographische und geschichtliche Material gerichteten Interesse der modernen
Litterarhistvriker erscheint der Wert der „Dramaturgischen Vorträge" Bergers
umso größer, weil sie von den äußerlichen Dingen zu dem Wesen der Kunst
führen, der Verflachung entgegentreten und die Dichter tiefer verstehen lehre»,
weil sie sich vornehmlich um die Erkenntnis ihrer künstlerischen Absichten be¬
mühen. Die Vortrüge, die sich nicht mit den allgemeinen ästhetischen Fragen
des dramatischen Stils und der Technik, sondern mit der Erklärung einzelner
vielnmstrittenen Stücke von Shakespeare (Hamlet), Grillparzer (Jüdin von
Toledo, Esther) und Hebbel (Der Ring des Gyges) beschäftigen, sind das Beste
in seinein Buche und von bleibendem Werte sür die richtige Erkenntnis und
Schätzung der Dichter, da sie uns zum Teil geradezu ein neues Licht über sie
aufstecken. Natürlich können wir den Gedankengang dieser Vorträge hier nicht
wiederholen, nnr die Bemerkungen über Hamlets Charakter wollen wir in aller
Kürze nachschreiben.
Zum „Hamlet" scheint Berger ein ganz persönliches Verhältnis zu haben,
es ist sein Lieblingswerk, worauf er sehr häufig bei verschiednen Anlässen zu
sprechen kommt. Die Brücke zwischen der Dichtung und dem Kritiker schlägt
das Thema der Selbstbeobachtung, worauf Verger auch häufig zurückkommt.
Der Philosoph, dessen Theorien in solchem Umfange auf der innern Erfahrung
beruhen, weiß wohl den Nutzen und Schaden der Selbstbeobachtung zu beur¬
teilen. Gewisse Erkenntnisse, ja die ganze Methode analytischer Kritik sind
ohne diesen Trieb der Selbstbeobachtung gar nicht möglich. Den tiefen Gegensatz
zwischen Anschauung und Reflexion in der Kunst, kann auch uur ein Geist recht
erfassen, der sich seiner Neigung, zu reflektiren, sich selbst zu beobachten, im Gegen¬
satz zu den naiv hinausschaueuden andern Menschen bewußt geworden ist. Eine
der feinsten Bemerkungen Bergers stammt aus dem Kreise dieser Gedanken: „Auch
die Lyrik kennt eine dem Bnchdrama verwandte Erscheinung: das nnsangbare
»lyrische Gedicht,« welches nicht wie das sangbare Lied das naive Ausjubeln und
Ausklagen eines Gefühls ist, sondern die versifizirte Schilderung eines von der
Selbstbeobachtung festgehaltenen Seelenzustandes. Darin liegt die Eigenart
der »Reflexionspoesie,« nicht darin, daß sie Gedanken ausspricht, wie man oft
diejenigen sagen hört, die selbst keine haben." Wir kennen keine Erklärung,
die den Unterschied der genannten zwei Formen der lyrischen Poesie besser be¬
leuchtete, als diese kurze von Berger, die er im Vorübergehen giebt. Darum
hat er auch den Hamlet am besten verstanden. Er sagt:
Das tragische Grundmotiv des Stückes ist, daß Hamlet der ihm vom Schicksal
aufgezwungenen Aufgabe nicht gewachsen ist, und zwar aus ganz persönlichen, in
der Eigenart seines hohen und edel«, der ihn umgebenden Welt überlegenen und
dieser daher rätselhaften und geheimnisvollen geistigen Wesens liegenden Gründen.
Das Schlagwort, mit welche«: Goethe im „Wilhelm Meister" den Grundnerv der
Dichtung streift: „Eine große That ans eine Seele gelegt, die der That nicht ge¬
wachsen ist," scheint mir den Gehält des „Hamlet" nicht zu erschöpfe». Er ist der
Rolle, die ihm das Schicksal meent, uicht gewachsen, aber nicht wegen des einfachen
Fehlens einer hierzu erforderlichen Eigenschaft, sondern aus subjektiven Ursachen,
welche zugleich sein ganzes Wesen adeln, etwas Leuchtendes um seiue trauernd
sinnende Stirn ergießen, und ihn auch in den Augen einfacher Leute als den
gebornen Vertraute» einer unsichtbaren Welt erscheinen lassen, die für sie stumm
ist. Die Schwäche, die Untauglichkeit zu dem, Was er zu leisten hat, darf um
keinen Preis als ein Gebrechen, als eine beklagenswerte Verstümmelung eines sonst
wohlgebildeten Charakters erscheinen, dein zur Vollkommenheit nur ein Stück „sinn¬
licher Stärke," wie Goethe sagt, fehlt. Im Gegenteil, seine Unfähigkeit zu deu
Werken, wie sie in dieser verderbten Welt unerläßlich sind, soll geradezu eine Be¬
glaubigung seines höhern Wesens und Wertes sein, er ist dadurch mehr, nicht
weniger als andre Menschen. Wie viel hat man von dem um vielen genialen
Menschen beobachtetet: „unpraktischen" Wesen gesprochen, ohne diese geniale Unfähig¬
keit mit der alltäglichen Undichtigkeit zu den Geschäften des Lebens zu konfundiren.
Der tragische Gesamteindruck des Trauerspiels besteht darin, daß wir einem großen
Menschengeist zuschauen, dessen natürliche Heimat eine bessere, weichere und reinere
Welt wäre, tief verstrickt in die Handel und den Jammer dieser Erde, mit denen
er nicht zurecht kommen kann, wie Millionen andrer dieser im Argen liegenden
Welt so recht kongenialer menschlicher Wesen. Hamlet ist von der geheimnisvollen
Macht, die ihn schuf, in eine Welt hiueingeschaffen, für die er nicht eigentlich ge¬
schaffen ist. Ein tiefes Bedürfnis nach einer reineren Sphäre, nach besserer
Gesellschaft, nach höhern Angelegenheiten und Beschäftigungen, als diese Erde sie
zudringlich bietet, und eine Ahnung einer höhern Ordnung der Dinge, die sich
hinter der irdischen verbirgt, geht durch sein Wesen. Er hat das Gefühl eines
gebornen Kimigssvhues, der unversehens in eine Gesellschaft von Dieben und
Mördern verzaubert ist und ihr niedriges Treiben, vor dem ihm schaudert und
ekelt, mitmachen soll. Ja er ist dazu verurteilt, den Henker zu machen, und von
a>llioro kann doch nur Henker sein, wer von einerlei geistiger Nasse mit dem Ver¬
brecher ist. Um ordentlich auf das Pack loszuschlagen, muß man sich unter Um¬
ständen auch mit ihm vertragen können, also etwas von Pack in sich tragen. Das
fehlt nun Hamlet gänzlich. Als ein durch und durch adlicher Mensch ist er ge¬
zwungen, in einer die Forderungen seines Gemüts versöhnenden Pöbelwelt zu
atme», sich mit nichtigen und schuftiger Gesellen, bis zu einem gewissen Grade ein-
zulassen, mit ihnen Gespräche zu führen, und endlich soll er gar dem Oberhaupt
all dieser Schurken, dem König dieser niederträchtigen Gilde, den Garaus machen!
Nicht eine That, der er nicht gewachsen ist, sondern eine That, der er ^deshalb!
nicht gewachsen ist, weil, sie unter seiner Wurde ist, eine That, die ihn: widersteht,
ist auf Hamlets Seele gelegt. Das ist die Tragik des Stückes. Wie Hamlet als
dichterische Gestalt aus dem Nahmen eines wüsten und bluttriefenden Spektakel-
stückcs für deu großen Haufen heraus wehmütig schön dem edlern Zuschauer ius
Auge sieht, so steht er als Mensch in eiuer nicht zu ihm passenden Welt, in der
ihn ein dummes und brutales Schicksal, das für das übrige Gelichter der richtige
Zuchtmeister ist, ein onnNUo behandelt. Ein für die Seligkeit reifer Geist im
Zuchthause! Hamlet zeigt die typischen Charakterfehler abnorm ideal angelegter
Naturen: Mangel an Sinn für die Interessen, welche andern Menschen das Höchste
sind, ist die natürliche Folge seiner intellektuellen und moralischen Überlegenheit.
Zum Typus überirdisch veranlagter Menschen, wie Hamlet einer ist, gehört auch,
daß sich in ihnen sekundäre Eigenschaften entwickeln, welche ihre Willenskraft lähmen.
Die wichtigste dieser Eigenschaften ist die habituelle Beschäftigung mit sich selbst,
die stets uach innen gekehrte Aufmerksamkeit, das unaufhörliche grübelnde Annlysiren
der Vorgänge im eignen Bewußtsein, wodurch weder ein eigentlicher Glaube an
etwas, noch feste Entschlossenheit aufkommen kann, ja wodurch das physische Phä¬
nomen des Willensnktes beinahe zur Unmöglichkeit wird. N. f. f.
Dieser Ausschnitt wird genügen, um Bergers Auffassung klar zu machen.
Er geht noch tief auf die Technik des Stückes ein und auf die staunens¬
werten Mittel, die Shakespeare benutzt hat, um seinen so tief in sich selbst
vergrabenen Helden zu charakterisiren. Eine Folgerung, die Berger aus der
Technik zieht, ist zu interessant und geistvoll, als das; wir sie nicht noch hier
wiedergeben sollten:
Menschen vom Schlage Hamlets bleibe» immer sie selbst. Das, was sie von
Natur sind, ihr echtes Selbst, überwiegt so sehr alles, was sie durch Beziehungen zu
andern, dnrch menschliche Konvention n. tgi. sind, daß es ihnen schwer fällt, sich
mit einer ihnen vom Weltlauf diltirten Rolle zu identifiziren, was tief unter ihnen
stehenden Geistern nicht nur gelingt, sondern was diese gar nicht vermeiden tonnen.
Solche Hamlet-Menschen stellen sich daher gar oft schüchtern, steif und unbeholfen
an, wenn sie versuchen, auch eiumnl zu thun, Was sie andre so natürlich thun sehen,
und werden bei solchen Versuchen das Gefühl, erkünstelt Komödie zu spielen, nicht
los. Aus diesem Gefühl heraus wundert sich Hantlet so sehr, daß der Schauspieler
nnr zu wollen braucht, um sich mit einer Rolle bis zum Vergießen eigner Thränen
zu identifiziren. Er selbst bleibt stets wie Hans der Träumer seiner Sache fremd.
Es scheint mir zweifellos, daß Shakespeare, da er den „Hamlet" schuf, eine der
eben dargelegten ähnliche Theorie von den menschlichen Charakteren im Kopfe hatte.
Nur so ist es zu erklären, daß er die Thatlvsigkeit Hamlets dnrch Kontrast!rung
desselben mit einem Schauspieler am besten zur Anschauung zu bringen hoffte
— ein genial-grillenhaftes Motiv, das jedenfalls höchst subjektiven Reflexionen des
Dichters seinen Ursprung verdankt —, und daß er dieser Episode so breiten Raum
an so wichtiger Stelle gönnte.
Berger erinnert dabei (nach Otto Ludwig) an Shakespeares Neigung, die
Charaktere sich dnrch den Kontrast gegenseitig erklären zu lassen: „Und so
stehen sich im »Hamlet« der König, der Meister der praktischen Schauspielkunst
im Leben, der Repräsentationstiinstler, der nur ein einzigesmal aus der Rolle
fällt, der hitzige Laertes, der die ihm durch die Umstände diktirte Rolle des
rächenden Sohnes und trostlosen Bruders ohne Besinnen annimmt und etwas
ontrirt spielt, der Schauspieler, der Thränen um Heknba vergießt, und Hamlet,
dem nicht gelingen will, was all diese geringeren Seelen fertig bringen, sinn¬
voll gegenüber. Das den innern Mechanismus dieser Charaktere durchleuchtende
Licht geht vom Schauspieler ans, und das ist für mich ein Beweis, daß aus
»Hamlet« eine dem Schauspieler natürliche Anschauung menschlichen Wesens
spricht, daß also nicht Baco von Vernimm ihn gedichtet hat."
Mit diesem geistvollen Schluß Bergers wollen wir auch diesen Auszug
schließen. Wir sagen wohl nicht zu viel, wenn wir seine „Dramaturgischen
Vorträge" den Shakespearcstudien von Otto Ludwig, auf die sie öfters liebe¬
voll verweisen, für ebenbürtig erklären.
Weiß nicht, obs anders worden
In dieser neue» Zeit.
kümmern — so nannten wirs auf der 5i'renzschule in Dresden.
Es ist zwar keine schöne Bildung, lateinisch im Stamm und in
der Endung griechisch: almnn-^v — anderwärts sagt man viel¬
leicht richtiger dafür Alumnat —, aber die Form ist mir einmal
lieb und vertraut, darum will ich dabei bleiben.
Alumncum — was für Erinnerungen weckt dieses Wort in mir! Ich
sehe mich als zehn- oder elfjährigen Jungen im harten Winter früh halb nackt
in kalter, finstrer Kammer stehen und mit der Faust die Eisdecke des blechernen
Waschbeckens durchschlagen, ans dem ich mich waschen sollte, oder in heißer
Sommernacht in engem, dumpfigen Schlafsaal ans dem Bette liegen, von
Wanzen gepeinigt, oder an einem lustigen Frühlingstage beim Mittagessen
traurig an der Thür des Eßsaales stehen, zusehen, wies den andern schmeckt,
„kariren" — zur Strafe für irgend eine Lumperei, die ich begangen haben
sollte. Das war schrecklich! Und dann sehe ich mich wieder als vierzehn¬
jährigen auf dem Chor der Kreuzkirche stehen, unmittelbar neben dem Kantor,
bei der Osterkantate, in der ich eben mit Herzklopfen die Sopranarie „solo"
gesungen habe, und den Kantor sich zu mir neigen, während er weiter diri-
girt, und mir ein paar Worte des Lobes zuflüstern, und dann wieder als
siebzehnjährigen selber am Dirigentenpulte stehen, den Taktstock schwingen, und
rings um mich eine Schar von fünfzig Jungen, die meinem Taktstock Pariren
und eines jener wunderbaren Ul^Moat kwiiun, nos clowinnin des alten Kreuz¬
schulkantors Homilius herunterhingen. Das war wonnig! Das schönste, was
mir träumen kann, und was mir immer wieder einmal träumt, ist, daß ich
auf dem Chor der Kreuzkirche stehe und eine Motette dirigire.
Wir waren unser zweiunddreißig und hausten in der alten Kreuz¬
schule, die noch heute neben der Kreuzkirche steht, aber, wie so viele alte
Schulhäuser, jetzt dnrch einen neuen Schulpalast ersetzt ist. Unten und im
ersten Stock war die Schule, oben, im zweiten, das übrigens schon Dach¬
geschoß war (denn wenn wir zum Fenster hinaussahen, sahen Nur auf die
Dachrinne), war das Alumneum. Als Wohnräume sollten uns fünf „Zellen"
dienen, wie sie im feierlichen Anitsstil genannt wurden; wir nannten sie
„Kammern": erste Kammer, zweite Kammer, dritte Kammer n. s, w. Diese
Kammern waren von verschiedner Größe; einige waren für acht oder neun,
andre nur für fünf oder sechs eingerichtet. Wir hielten uns aber wenig darin
auf, im Winter gnr nicht, da sie weder Heizung noch Beleuchtung hatten, sondern
saßen, auch in der freien Zeit, meist im „großen Auditorium," einem Zimmer,
das als gemeinschaftlicher Arbeits- und Eßsnal diente. Außerdem gab es zwei
Schlafsäle, einen für achtzehn und einen für vierzehn Betten, eine Kranken¬
stube, eine unbenutzte dunkle Küche und zwei Zimmer für den Inspektor des
Alumueums. Alle Zimmer, mit Ausnahme des zweiten Schlafsaals, der neben
dem heizbaren großen Auditorium lag und deshalb für behaglicher galt, mündeten
auf die „Tciblate" (talmIiM). An der Treppe stand eine dünne hölzerne Säule,
an der eine Klingel hing, die an einem Draht gezogen wurde. Die nächste
Treppe, die mit Latten verschlagen war, führte hinauf auf den Dachboden, der
an eine Drogucnhandluug in der Nähe vermietet war, voll offner Tonnen,
Kisten und Säcke stand und fortwährend jenes würzige Duftgemisch aus¬
strömte, das uus in einem Kräutergewölbe umfängt. Täglich kam mehreremal
der Markthelfer herüber, und wenn wir seinen schweren Schritt die Treppe
heraufkommen und seinen Schlüsselbund klirren hörten, vetterten sich immer ein
paar an ihn an, um mit hinaufgenonnnen zu werden auf deu Boden und dort
ein Stück Johannisbrot oder Süßholz oder ein paar ausländische Nüsse zu
ergattern.
Die Kammern waren ganz unwohnlich und unbehaglich. Sie waren hell
getüncht und enthielten weiter nichts als einen Tisch, eine Waschbank und für
jeden einen Schrank. Stühle gab es nicht. Der Rat der Stadt — die
Kreuzschule ist eine städtische Schule — ließ zwar einmal zweiunddreißig
Stühle machen, aber schon nach drei Jahren war auf dem ganzen Alumncnm
kein Stuhl mehr zu finden. Wie das möglich war? Sehr einfach. Kosten
sollte es immer nicht viel, wenn wirklich einmal etwas sür uns angefertigt
wurde, und so waren auch diese Stühle nichts als elende Lehnschemel aus
weichem Holz. Natürlich dauerte es keine vier Wochen, so fielen überall die
Beine heraus. Anfangs nahm man sich noch die Mühe, sie wieder hinein¬
zuschlagen, aber das nützte nichts. Bald lagen überall Schemelbeine in den
Kammern herum, die Schemel fielen fortwährend um, Sitze und Lehnen zer-
spellten, nach und nach wanderten die Trümmer in die dunkle Küche und dort
in den Ofen des großen Auditoriums, der von der Küche aus geheizt wurde,
und schließlich waren die Schemel verschwunden, ohne daß irgend jemandem
ein Vorwurf deshalb hätte gemacht werden können, und wir saßen wieder,
wie zuvor, auf den aufgerichteten Kisten nud Koffern, die hie und da in den
Kammern standen, den Verkehrsvermittlern zwischen Alnmneum und Eltern¬
haus. Am liebsten hielten wir uus gar nicht in der Kammer auf. Nur wer
eine Pfeife rauchen, einen Skat spielen oder einen Leihbibliothelsrvman lesen
wollte, zog sich in die Kammer zurück. Im übrigen war man nnr früh beim
Ankleiden drin oder wenn es etwas aus dem Schwüle zu holen gab.
Die Schränke waren sehr zweckmäßig eingerichtet; bei einem, der nicht
ein geborner Liedrian war, konnte kaum Unordnung drin aufkomme«. Jeder
Schrank hatte eine obere, größere und eine untere, kleinere Thür. Wenn man
die obere öffnete, sah man den Schrank von oben nach unter in zwei Hälften
geteilt. In der rechten Hälfte hingen die Kleider, dabei lagen die Toiletten¬
gegenstände, Seifcnnäpfchen, Kamm und Bürste, die linke war durch Quer¬
bretter zu Vücherfächern hergerichtet, im untersten Fach lagen Vrvt, Butter
und sonstige Lebensmittel. Öffnete man die untere Thür, so sah man den
Kasten für die Wäsche, und drunter wieder zwei offene Fächer für Stiefel, Schuhe
und Wichszeug. Außerdem hing inwendig an der obern Schrankthür in
malerisch geschwungenem Bogen an zwei Nägeln das Handtuch, ein kleiner
Spiegel und vielleicht noch ein Bild. sinnige Gemüter aber hatten sich hier
ein ganzes kleines Museum, eine Pvrtmtgalerie oder dergleichen eingerichtet.
Mein Vater besaß ein schönes, vollständiges Exemplar der „Saxonia," einer
Zeitschrift für sächsische Vaterlandskunde, die von 1835 bis 1841 erschienen
war und eine Menge hübscher Lithographien, namentlich Porträts und Stüdte-
ansichten enthielt. Noch heilte empfinde ich Neue darüber, daß ich, nur um
meinen Schrank zu schmücken und mit dem Schmuck bisweilen zu wechseln,
nach und nach eine ganze Reihe von Porträts ans dieser „Saxonia"
herausgenommen, beschnitten und mit Oblaten an meine Schrund'ebur ge¬
klebt habe.
Auf der Waschbank standen in jeder Kammer ein paar Waschbecken aus
lackirten Blech — nicht für jeden eins; wenn wir uns waschen wollten, mußte
einer auf den andern warten —, darunter die zugehörigen Blechlrüge. Dieses
Waschgeschirr war zu meiner Zeit auch einmal neu angeschafft worden, sah
aber in kurzem auch schon wieder entsetzlich aus. Es waren 'Teilen hinein¬
gestoßen, und das bischen Lackfarbe war vom Seifenwasser ganz zerfressen.
Man sollte meinen, daß für zweiunddreißig Jungen, die alle musikalisch
Ware», die zum guten Teil aus Pfarrer-, Lehrer- und Kantorfamilien stammten
lind alle schon im Elternhause musizirt hatten, ein Klavier zum Übeu dage¬
wesen wäre. Ja, ein Klavier war wohl da, es stand unten im Erdgeschoß im
Singesaal; sowohl der Gesanglehrer der „Extraner," wie unser Kantor be-
nutzte es bei den Singestnuden. Aber es war ein fürchterlicher alter Klapper¬
kasten, dunkelrot angestrichen, ganz ausgespielt, klang so dünn wie eine Harfe
und hielt keine Stimmung mehr, obwohl der Skinner nicht sehr ans dem
Hause kam. Für die Singestunden der Extraner schien er uns ja gut genug,
denn auf deren Gesangsleistungen wie auf ihren Leiter, den Siugelehrer, blickten
wir mit großer Verachtung hinab; daß sich aber anch unser Knutvr damit
begnügte, daß er nicht drauf drückte, daß der Rat einmal ein ordentliches
Klavier anschasste, konnten wir nicht begreifen.
Als ich in Obersekunda faß, mietete ich mir mit Erlaubnis des Inspek¬
tors mit einem Präfekten zusammen sür die Sommermonate ein anständiges
Klavier, das in der ersten Kammer aufgestellt wurde. Es war das ein Er¬
eignis, das ein gewisses Aufsehen erregte: ein Klavier, ein anständiges Klavier
ans dem Alumneum! Für uns zwei wurde es eine Quelle unsäglicher Freuden,
aber auch steter Angst nud Sorge, denn wir hatten ja damit eine schwere Ver¬
antwortung auf uns geladen. Wie manchen schonen Sommerabend haben wir
bis gegen Mitternacht vierbändig gespielt, erst Haydnsche Symphonien, dann
Mozartsche, dann alle Veethovenschen, diese in der meisterhaften, so leicht spiel¬
baren und dabei für damals unglaublich billigen Bearbeitung von Marknll,
die in Typensntz gedruckt bei Holle in Wolfenbüttel erschienen, aber, wie es
hieß, „verboten" war. Wenigstens war sie bei keinem Musikalienhändler
Dresdens zu bekommen; nur einer hinter der Frauenkirche hatte sie, langte sie
aber immer vorsichtig, wenn Nur uns ein Heft kauften, aus einem besondern
Bersteck hervor und schärfte uns ein, daß wir ja nicht verraten sollten, wo
wir sie gekauft hätten. Auf der Brühlschen Terrasse gab es damals jede
Woche einen Abend Symphvniekonzert für — zwei und einen halben Neugroschen!
Da hörten wir in kurzer Zeit alle Veethovenschen Symphonien nach einander,
sogar die neunte, natürlich ohne den letzten Satz. Wenn wir dann nach Hanse
kamen, ließ es uns keine Nuhe, wir mußten die Symphonie, die wir eben vom
Orchester gehört hatten, noch einmal vierbändig spielen. Welcher Stolz, als
wir die Hauptthemen und die Gesangsthemen aller sechsunddreißig Sätze fest
im Kopfe hatten, sodaß wir eine Art musikalisches Mvrraspiel damit treiben
konnten; der eine rief: siebente Symphonie — vierter Satz — zweites Thema!
und im Nu sang der andre die geforderte Melodie. Und für solche Jungen
gab es kein Klavier auf der Schule! Ist das wohl glaublich? Aber welche
Angst standen-wir auch aus um das gute Klavier: daß es nicht von andern
als Tisch benutzt, nicht ein Wasserkrug draufgesetzt und umgeschüttet, vor
allem daß es beim Auskehren der Kammer nicht beschmutzt wurde! Jede
Kammer mußte täglich früh von ihrem „Ultimns" gekehrt werden. Dazu
nahm er ein Waschbecken voll schmutzigen Waschwassers, sprengte daraus die
Dielen ein, daß alles schwamm, und fegte nun mit einem Nutenbesen drüber,
daß der Schmutz fußhoch spritzte. Wir hatten daher gleich am ersten Tage
nur die Klavierbeine große Papierbogen gewickelt und mit Bindfaden fest¬
gebunden.
Der damalige Inspektor war ein höchst liebenswürdiger Mann. Obgleich er
sein Schlafzimmer unmittelbar neben der ersten Kanuner hatte, ließen wirs doch
drauf ankommen, ob er unsre musikalischen Sommernachtsgenüsse unterbrechen
und uus zu Bett schicken würde oder nicht. Im Bett wartete unser freilich
nichts Gutes. Ihrer achtzehn in einem engen Raume schlafen müssen, worin
außer für die Bettstellen kaum noch ein paar Qnndratellen Platz war, das
war schon an sich nicht schön. War ein Schnarcher drunter, wie das zuweilen
vorkam, so hatte der ganze Schlafsaal unter seinem „Cellospiel" zu leiden.
Indeß im Winter mochte es gehen. Aber im, Sommer, wenn die Wanzen
kamen, das war entsetzlich! Und sie kamen jeden Sommer mit unabwendbarer
Gewißheit nud in unglaublichen Scharen. Ganz unerträglich war es in den
Wochen vor den großen Serien. Einmal in jedem Jahre, in den Sommer-
ferien, schlug die „Maari" alle zweiunddreißig Bettstellen aus einander, schleppte
sie in deu Schulhof an den Brunnen, dort wurden alle Locher und Glinzen
erst mit kochend heißem Seifenwasser ausgegossen und dann uoch unterm
Brunnen mit kaltem Wasser nachgespült. Dann hatten wir für den Nest des
Sommers Ruhe. Aber die letzten Wochen vor der Reinigung! Daß wir das
ausgehalten haben und haben anschalten müssen, auch das ist mir heute unbegreiflich.
Es wurde eben hingenommen »nie etwas Selbstverständliches, niemand beschwerte
sich drüber — wer hätte sich denn getraut, dem Inspektor gegenüber das
Wort Wanze auszusprechen! ^, und so gab es auch keine Abhilfe. Wie oft
sind wir nachts aufgestanden, haben Licht gemacht und ein großes Morden
veranstaltet! Aber es half uns wenig. Schließlich, wenn es gar nicht mehr
zu ertragen war, zogen wir in die Kammer und machten uns dort eine Pritsche
zurecht, indem Nur eine Schrankthür aufhoben und schräg auf ein paar Lexika
legten.
Wer die Maari war, die nus einmal im Jahre so als rettender Engel
erschien? Ja, wenn die Maari uicht gewesen wäre! Was wären wir ohne
die Maari gewesen! Die Aufsicht über das ganze Alumueum und die Sorge
für unser geistiges Wohl war dem Inspektor anvertraut. Es war das immer
der letzte, jüngste Lehrer der Schule, der natürlich unverheiratet sein mußte.
Er führte übrigens den Titel „Kollaborator," den wir der Bequemlichkeit
wegen in „Cvllätsch" (nicht wie das englische LollvM zu sprechen, sondern
mit dem. Toll auf der letzten, langen Silbe) abgekürzt hatten. Unser leibliches
Wohl aber lag in den Händen des Hausmanns, noch mehr der Hausmanns-
fran und ihres Küchenmädchens, und das war eben die Maari. Die Haus-
mannssamilie führte den sinnigen Namen Hahuefeld; wir hatten Hahnebnmbel
draus gemacht und das dann wieder zu Bambel verkürzt: er hieß der „Bambel,"
sie die „Bambeln." Die Köchin aber, ein schmuckes, sauberes Mädel, das
während meiner ganzen Alumnenzeit dawar und auch später noch in ihrer wirklich
nicht leichten Stellung allsgehalten hat, hieß Marie; für uns war sie „die Maari."
Die Neigung der Jugend, aller Welt Spitznamen zu geben, auch
Wörter und Redensarten eine Zeit lang zu Tode zu Hetzen, war in uns sehr
lebendig. So war uns der Begriff eines hohen Grades oder Maßes eine
Zeit lang ausschließlich an das Wort „diebisch" geknüpft: man hatte diebischen
Hunger, fror oder schwitzte diebisch, freute oder ärgerte sich diebisch, belämmerte
einen diebisch, bekam dafür diebische Prügel u, f. w. Ein andermal überboten
wir uns darin, an einen beliebigen Wortstamm alle möglichen und unmöglichen
griechischen, lateinischen, französischen und italieuischenAdjektivendnngen zu hängen:
kolossal, kvlvssiv, kvlvssubel, kvlvssin, kolossär, kvlvssesk u. s. w. Wieder ein
andermal war die lächerliche Zahlangabe „zwei bis sieben" Mode, dann wieder
die „Geschwindigkeit des Mokkakäfers," man sollte sogar einen Auftrag „mit der
Geschwindigkeit von zwei bis sieben Mokkatafern" ausführen. Ebenso erfinderisch
waren wir um auch in Spitznamen; jeder Lehrer hatte den seinen, wir alle
hatten uuter einander welche, es wurde niemand anders als mit seinem. Spitz¬
namen genannt. Da hieß der eine Pupvater, der andre Hundemama, ein
dritter Davus, ein vierter Cacus, ein fünfter Schvppelmann, ein sechster
Schweppermann u. s. w. Woher die Namen stammten, wußte man keineswegs
immer zu sagen. Daß ein kleiner dummer Kerl, dem die Dummheit im Ge¬
sichte stand, und der alle Austräge falsch ausrichtete, nach dem Diener aus
der Andria genannt wurde, der selbst vou sich gesteht: Davu» 8oru, non
OöcllputZ, einem großen ungeschlachten Kerl der Name Cacus anflog, sobald in
Ovids Fasten die Geschichte vom. Herkules und Cacus gelesen wurde, ist
wohl kein Wunder. Aber es gab auch Namen, deren Herkunft dunkel war.
Aber auch ihre Schöpfung mußte doch auf einer glücklichen Eingebung beruhen,
denn sie.schienen mit dem Wesen oder einer Wesensseite der Betreffenden wie
durch eine geheime uveWÄtus verknüpft, und sie hatten dabei unleugbar einen
onomatopoetischen Reiz. Zu ihnen gehörte auch der Name Bambel. Das
ganze Wesen des Bambel war so durchaus bambelhaft, daß ein besserer Name
für ihn ganz „unerfindlich" gewesen wäre — hier paßt einmal das Wort.
Die Thätigkeit des Bambel bestand darin, uns früh zu wecken und im
Winter für Feuer und Licht zu sorge». Unsre Tagesordnung war kurz
folgende. Im Sommerhalbjahr, von Ostern bis Michaeli, wurde früh dreiviertel
fünf Uhr geweckt, einViertel sechs Uhr begann die „Arbeitsstunde," die bis
einhalb sieben Uhr dauerte, dann blieb eine halbe Stunde Zeit zum. Ankleiden
und Frühstücken, von sieben (genauer einViertel acht) bis elf Uhr waren Schul¬
stunden. Im Winterhalbjahr rückte das alles um eine Stunde vor. Nach
dein Vormittagsunterricht folgte dann irgend welcher Chordienst, Singestnnde
oder anch sreie Zeit, um zwölf Uhr im Sommer, um ein Uhr im Winter
wurde zu Mittag gegessen. Von zwei bis vier Uhr waren wieder Schul¬
stunden, dann kam wieder freie Zeit und abends von halb sieben bis neun Uhr
wieder Arbeitsstunde, dann gings zu Bett.
Wer einen leisen Morgenschlaf hatte, hörte den Bambel schon über die
Tablate schlürfen und den Klöppel der Weckerglocke in seiner Hand klirren,
noch ehe sie kündete. Eine Minute später stand er im Schlafsaal, schwang das
verwünschte Werkzeug in der Hand und brummte dabei: „Immer munter,
munter, munter! immer munter, munter, munter!" Dann brannte er, Wenns
nötig war, die Öllampe des Schlafsaals an und trollte sich wieder. Uns fiel
es nicht ein, aufzustehen. Ein oder zwei Minuten vor ein Viertel sprang alles
ans den Betten, strich sich die Haare aus dein Gesicht, schlüpfte in den Schlaf¬
rock und in die Schuhe, und Punkt ein Viertel saß jeder auf seinen: Arbeits¬
platz im „großen Auditorium," wo nun der Präfekt das Morgenlied im
Gesangbuche bezeichnete: 843, Vers 1—3 nud gleich darauf auch anstimmte;
wenn die Verse gesungen warm, stand alles auf, und der Präfekt las noch
ein paar weitere Verse vor. Eigentlich sollte Wohl beim Morgengebet immer
der Kollaborator zugegen sein, für den zu diesem Zweck ein kleines Katheder
dastand und der sei» Wohnzimmer unmittelbar neben dem Arbcitssanl hatte.
Er kam aber ganz unregelmäßig, einmal eine Woche lang jeden Tag, dann
ließ er sich vier Wochen lang gar nicht sehen, wahrscheinlich um uns sicher zu
machen. Plötzlich erschien er dann wieder einmal, und da schlüpften richtig
drei oder vier, deren Ohr der erste Ton des Morgenliedes uoch auf dem .Kissen
getroffen hatte, beim dritten Liedervers verlegen und beschämt in die Bank.
Daß wir uns im Schlafrock — neun- bis achtzehnjährige Jungen! —,
ungewaschen und ungekämmt zu Gebet und Arbeit einstellten, war eine Lotter¬
wirtschaft, deren Duldung ich heute auch nicht begreifen kaun. Aber sie war
hergebracht und schleppte sich fort, so oft auch der Kollaborator wechselte.
Der wattirte Schlafrock gehörte zur häuslichen Ausstattung jedes Alumuus.
Nicht etwa daß er gefordert gewesen wäre, bewahre; gefordert war nur, wenn
man das Alumneunl bezog, ein Bett — die Bettstelle mit dem Strohsack fand
man vor —, zwei zinnerne Teller, ein flacher und ein tiefer, und Messer,
Gabel und Löffel. Aber da sie alle den Schlafrock hatten, so quälte jeder
Neue seine Mutter so lange darum, bis er auch einen hatte. Bei den Kleinen
richtete übrigens das ungewohnte Kleidungsstück auf eine eigentümliche Weise
manches Unheil an. Die Schlafrocke waren zu lang, man trat darauf, wenn
mau die Treppe hinaufging und in beiden Händen etwas zu tragen hatte.
Mir ist es mehr als einmal begegnet, daß ich mit zwei vollen Wasserkrügen,
mit denen ich vom Brunnen kam, auf der Treppe stürzte, weil ich auf den
dummen Schlafrock getreten hatte; da lagen beide Krüge in Scherben da, und
das Wasser strömte die Treppe hinunter.
Im großen Auditorium standen vier Tafeln mit je zwei Bänken; an jeder
Tafel saßen acht, so verteilt, daß an der ersten der erste, der fünfte, der nennte,
der dreizehnte u. s. w. saß. Über der Mitte jeder Tafel hing an der niedrigen
Decke eine Öllampe. Könnt' ich einen Begriff von dieser Beleuchtung geben!
Man glaubt es nicht, was für Zustände noch vor einem Menschenalter möglich
gewesen sind! Diese Lampen mochten, wohl fünfzig Jahre alt sein. Sie be¬
standen aus einem ringförmigen Ölbehälter, ans dem ein Schirm lag, alles
grün nugestricheu, der Schirm inwendig weiß (gewesen!), alles von schmierigen
Brennöl klebend, daß es einem graute, es anzugreifen. Eine solche Funzel
sollte acht Arbeitsplätze beleuchten! Täglich im Winter kam der Vambel mit
der Ölkanne, um die Behälter frisch zu füllen und die Dochte und die Cylinder
zu putze». Dennoch war täglich mitten in der Arbeitsstunde nu irgend einer
Lampe etwas nicht in Ordnung, sie rauchte oder sie tropfte, sie hatte zu viel
oder zu wenig Öl, und so wurde der Bündel aus seiner Abendruhe aufge¬
scheucht, um Abhilfe zu schaffen. Dann kam er mürrisch nugeschlurft und
begleitete, zu unser aller Bergnügen, seine Besseruugsversuche mit lauten
Monologen, worin er stets dein Verdacht Ausdruck gab, daß wir „Saujungen,"
die wir ja „gar keene Rallion" hätten, uns an der Lauche vergriffen haben
mochten. Einmal, wo in den Lampen fo viel Öl war, daß die Behälter es
kaum fassen konnten, und es oben am Dochte herausquoll, stellte er fluchend
die Thatsache fest, daß „alle Döchter ersoffen" wären. Daß die Lampen, weil
sie dem guten Alten so viel Ärger und dieser Ärger uns so viel Vergnügen
machte, Anlaß zu allerhand Schabernack gaben, will ich nicht leugnen. Ich
weiß, daß uns eine Zeit lang lebhaft der Gedanke beschäftigte, eines schönen
Tages in alle Lampen zwischen das Öl Tinte zu gießen, entsinne mich aber
nicht, ob es wirklich ausgeführt worden ist.
Die Arbeitsstunden waren eine gute Einrichtung. Sie verschafften nus
mehr als genügende Zeit, ruhig und ungestört unsre Schularbeiten anzufertigen,
wobei es den Kleinern zu statten kam, daß sie sich bei den Größern Rats
erholen konnten, da Jungen aus allen Klassen durch einander saßen. Auch
sonst half man sich gegenseitig aus. Ich hatte in Quarta noch kein lateinisches
Wörterbuch, mein Nachbar am Tische, der in derselben Klasse saß, hatte den
„großen Georges," um den ich ihn lange beneidet habe. Er war aber ein
ungefälliger Junge. Obwohl das dicke Buch immer zwischen uns lag, wenn
wir am lateinischen „Specimen" drechselten, dürfte ich es doch nicht anrühren,
ohne ihn jedesmal vorher drum gefragt zu bilden, und manchmal hätte er mirs
lieber ganz verweigert. Da war die Sache nun sehr einfach. Er war sich
meist nicht klar darüber, ob der ^emmg-divus cum iiilinitivo oder ein Nebensatz,
im oder ut non, ejnill oder auoä zu stehen hätte, und versuchte es dann, mich
auszuhorchen. Natürlich mußte er dn jede syntaktische Auskunft lexikalisch bar
bezahlen.
Die Zeit zwischen der Früharbeitsstnnde und den Schulstunden war
für ihren Zweck etwas knapp bemessen. Besonders schlimm aber waren die
Kleinen dran. Sie mußten die Großen beim Herzuholen des Frühstücks be¬
dienen, jeder Kammerultimus mußte seinem Kammerprimus die Stiefel wichsen,
und dabei sollte er doch auch die eignen putzen, sollte die Kammer kehren, sollte
sich wasche» und ankleiden und wollte doch auch essen und trinken. Schauderhaft
war es im Winter, wen» in den unheizbaren Kammern eine Kälte war, daß
einem die Wichsbürste aus den Fingern sprang, und in den Waschbecken die
Eisstücken schlvanuncn. Daß das am Abend in die Becken gegossene Wasser früh
zu vollständigen Schollen gefroren war, die am Ofen herausgethaut werden
mußten, war keine Seltenheit, Leider benahmen sich die „Obern," die doch den
„Untern" in solcher Zeit mit guten, Beispiel hatten vorangehen sollen, oft
recht memmenhaft; sie wuschen sich im großen Auditorium hinterm Ofen und
überließen die kalten Kammern den Kleinen.
Das Verhältnis der „Obern" zu den „Untern" war überhaupt in mancher
Beziehung nichts Schönes. Die Kreuzschule hatte damals nenn Klassen: die
Primn einfach, die andern Klassen von der Sekunda bis zur Quinta doppelt.
Wer in einer der drei obersten Klassen saß: in Prima, in Ober- oder in Unter¬
sekunda, zählte auf dem Alumneum zu den Ober!?, alle übrigen zu den Untern.
Die Obern konnten befehle», konnten die Untern zu allerhaud Dienstleistungen
heranziehen, Wege besorgen lassen u. s. w., die Untern hatten zu gehorchen.
Die Obern hatten auch Strafgewalt liber die Untern. Wer nicht gehorchte,
wer sich irgend einen Verstoß gegen die Ordnung zu Schulden kommen ließ,
den konnte der Obere, der ihn dabei betraf, mit einem Pensum (Auswendig¬
lernen eines Cäsarkapitels oder dergleichen), sogar mit Entziehung des Mittag¬
essens bestrafen. Natürlich nahm die Fähigkeit und das Recht, zu strafen,
nach obenhin, die Fähigkeit und das Recht, bestraft zu werden, nach untenhiu
zu. Wenn sich ein neubackener Oberer, ein Uutersekuudauer, Hütte heraus¬
nehmen wollen, einen Obertertianer zu bestrafen, es wäre ja die reine Lächerlich¬
keit gewesen, er mußte sich jüngere Opfer aussuchen, wenn er seine Strafgewalt
erproben wollte; der Primaner aber konnte sich selbst am Obertertianer ver¬
greifen. Schön, wie gesagt, war die ganze Einrichtung nicht, sie führte zu
mancherlei Mißbräuchen, eine Berufung an eine höhere Instanz — etwa den
Inspektor - - war bei Ungerechtigkeit und Willkür so gut wie ausgeschlossen,
denn sie hätte dem Beschwerdeführer mehr geschadet als genützt, und so er¬
trug mau manches stumm und tröstete sich mit der Hoffnung, auch einmal
hinaufzukommen und Oberer zu werden.
Ein ganz gefährlicher Kunde, der förmlich dans ausging, etwas auszu¬
schnüffeln, damit er etwas zu, bestrafen oder anzuzeigen hatte, war die Hunde-
mama mit ihrer lange», spitzen Nase. Wir hatten einmal, drei Obertertianer,
am Sylvesterabend zu unserm Glase Grog einen Skat riskirt — im großen
Auditorium! Die Kleinen schliefen, die Großen waren noch nicht zu Hanse.
Da erschien unerwartet zeitig die Hnndemama, „klappte" uns, nahm uns die
Karten weg und — trug sie andern Tages hinein zum Kollaborator! Es
folgten für uus ein paar sehr unruhige Tage. Der Kollaborator ging an eine
noch höhere Instanz, er zeigte nach den Weihnachtsferien das fürchterliche Ver¬
brechen dem Rektor um. Der Rektor, unser guter, lieber Rektor, den, nichts
widerwärtiger war als solche Klatscherei, ließ uns in der Freiviertelstunde
herunterkommen, verhörte uus, gab jedem einen Patsch ins Gesicht — eine
Ohrfeige konnte mans kaum nennen — und entließ uns dann mit der köstlichen
Bemerkung: „Spielt ihr doch Schafkopp! Jetzt geht naus und laßt euch vom
Kollaborator el!? Pensum geben!" Da mußten wir denn den Ovid bringen
und bekamen über achtzig Verse aufgebrannt — beiläufig: eine sehr geeignete
Art, Liebe zu deu alten Schriftstellern zu erwecken. Zum Glück waren es
Verse, die Nur schon in der Schule gelernt hatten — sie singen an: livg'in
Lolis M-i-t 8ni»linüdu8 »1W volmmris —, und so war der augenblickliche Schade
nicht groß. Schlimmer war, daß zu Ostern auf der Zensur eine 2°' in den
Sitten Prangte, und dazu die unheimliche Bemerkung: Mag sich hüten, nicht
auf Abwege zu geraten. Ungefährlicher als die Hundemama, aber auch uoch
schlimm genug war ein andrer, der sich stets ans Fenster stellte, wenn er einen
einen Weg geschickt hatte, und aufpaßte, ob mau schnell oder langsam zurück¬
kommen würde. War man langsam gegangen, so hieß es: „Bring mal deinen
Cäsar!" Und hinterher, wenn man sein Straskapitel gelernt hatte, überhörte
ers nicht einmal, sondern ließ sich nur die ersten zwei oder drei Zeilen sagen,
dann hatte ers satt und klappte das Buch zu.
Die freie Zeit nach dein Nachmittagsunterricht bis zur Abendarbeits¬
stunde und namentlich Mittwochs und Sonnabends nachmittags wurde in der
verschiedenste» Weise vertempert. Man ging spazieren — im Sommer in den
Prießnitzgrund oder in den Plauischen Grund lehnte auch halbe und
ganze Stunden an der Hausthür, jagte sich auf der Tablate oder im Schul-
hofe herum — einem nach hinten spitz zulaufenden Höfchen von etwa fünfzig
Schritt Länge und zwanzig Schritt Breite! Als ich nach Jahren einmal wieder
hineintrat, überkam mich eine förmliche Angst vor dieser Enge, ich konnte mir
kaum, noch vorstellen, daß auf diesem Raume einst in den Freiviertelstnnden
Schneebataillen veranstaltet worden waren und dabei die Großen auch uoch
Platz gefunden hatten, ,rept?r«-ri^xl7>s ihre Horazoden zu lernen! Es gab aber
auch solche, die deu lieben langen Nachmittag zu Hanse hockten, „büffelten" oder
in der Kammer heimlich über einem Leihbiblivtheksschmöker saßen. Eines
schönen Nachmittags vergnügten sich zwei damit, daß sie sich ans der Tablate
mit einem Wasserkrug und einer Spritze verfolgten. Es ging ziemlich laut
dabei her, fortwährend wurden die Kammerthüren zugeworfen, und so erschien
endlich der Kollaborator. Er sieht die triefende Tablate, klopft an die Thür,
die zuletzt zugeworfen worden ist, und fordert Einlaß. Niemand öffnet. Er
geht in sein Zimmer zurück und holt den Hauptschlüssel. Wie er ausschließen
will, wird von innen fest zugehalten. „Nimm dich in Acht, du kriegst die volle
Ladung ins Gesicht!" ruft es drinnen. „Machen Sie sofort ans, ich bins!"
erwidert der Kollaborator. „Du kannst den Kollätsch famos nachmachen!
Aber nimm dich in Acht, ich rate dirs!" Endlich reißt der Kollaborator die
Thür mit Gewalt auf und — bekommt richtig die volle Spritzenladuug ins
Gesicht. Es war ihm, hinlänglich vorher angekündigt worden er konnte
sich also nicht beklagen. Er machte auch gute Miene zum bösen Spiel, und der
Spritzer kam mit dem. Schrecken, davon.
Zur Abeudarbeitsstuude mußten alle pünktlich wieder zur Stelle sein;
doch hielt es nicht besonders schwer, sich beim Kollaborator auch für den Abend
frei zu machen, wenn mau einmal aufs Linkische Bad oder ans die Brühlsche
Terrasse ins Konzert oder, wenn Dawison spielte oder Rienzi, Tannhäuser
oder Lohengrin, selbst Orpheus in der Unterwelt gegeben wurde, ins Theater
gehen wollte. Für die Wagnerschen Opern, soweit sie damals vorhanden
waren, schwärmten wir alle. Im Theater — es war der schone alte
Sempersche Bau, der 1869 abbrannte — war eine Treppe, die ins Souterrain
führte zu einer großen, mit einem eisernen Gitter verwahrten Mauerosfnung,
an der man laut und deutlich das Orchester hörte. Wie oft habe ich an dieser
Öffnung gestanden, um wenigstens die Ouvertüre zu erschnappen! Besonders
die Rienzionvertüre, an der sich zu berauschen es übrigens noch eine andre
Gelegenheit gab: die Wachparade am Blockhause in Neustadt, wo sie oft
Sonntags unter der Leitung eiues kleinen, etwas hochschultrigen Militär¬
kapellmeisters wundervoll gespielt wurde. Aber auch Dawison wurde von uns
vergöttert. Wo wir nur konnten, liefen wir ihm zu Gefallen, um ihn zu
sehen. Richard den Dritten, Falstaff und Narziß konnten wir alle auswendig.
„Ein Pferd, ein Pferd, mein Königreich für'n Pferd!" oder: „Dn kennst meine
alte Parade! so lag ich, und so führte ich meine Klinge" oder: „Ich bin ein
Nichts von einem Menschen und hab' mich mein Lebtag nie ans Fachstudien
eingelassen" bemühten wir uns genau so nachzusprechen, wie er es sprach, und
wie er als Richard in der ersten Szene erst lange auf sich warten ließ und
daun endlich hereinhinkte, selbst das wurde ihm nachgemacht. Einer hatte das
unsägliche Glück, daß er, infolge hoher Verbindungen — ein Verwandter von
ihm war, glaub' ich, Theaterschneider — während der Aufführung manchmal
hinter die Kulissen durfte. Der konnte dann sogar erzählen, was Dawison
nußer der Rolle noch gesagt hatte, wie er, wenn draußen Beifall geklatscht
wurde, mit den Fingern geschnalzt und in den Schnürboden hinausgerufen
hatte, den Vorhang wieder aufzuziehen.
So schön wars in der Arbeitsstunde freilich nicht. Da konnte man sich
vor Müdigkeit manchmal kaum aufrecht erhalte» und lauerte auf deu Glocken-
schlag, der das Abendlied und das Abendgebet brachte. Und doch knarrte mit¬
unter eine Viertelstunde vor Schluß ganz überflüssigerweise noch einmal die
Thür des Kollaborators, und er ging noch einmal an den Tafeln entlang und
wartete seines Jnspektoramtes. Aber man hatte doch wenigstens Mitleid mit
deu Kleinen; man neckte sie höchstens ein bischen, wenn sie sich gar so sehr nach
dem Bettzipfel sehnten. Mich hatten sie einmal, während ich mit dem Kopf
auf dem Tische liegend fest eingeschlafen war, ganz.mit Büchern umbaut und
einen Spiegel in die Mitte gestellt.
Der Verkehr unter uus Alumnen war im großen und ganzen friedlich
»ut freundschaftlich. Die in ein und derselben .Masse säße», duzten sich
natürlich; die Kleinen aber sagten zu den Großen „Sie," die Großen zu den
Kleinen „du," und erst von Obertertia an konnte man beanspruchen, von oben
wie 0vn unten her gesiezt zu werden, und dann blieb es besondrer Übereinkunft
überlassen^ wie mans mit dem Einzelnen halten wollte. Immer aber konnte
nur der Ältere dem Jüngern das vertrauliche „du" anbieten, was von diesem
dann nicht ohne Rührung angenommen wurde, denn es war ja nur der längst
erwartete Schlußpunkt einer gegenseitigem Zuneigung, die schon vorher im
Stillen bestanden hatte und die nun, nachdem sie durch den Vruderluß besiegelt
war, bisweilen die Zärtlichkeit eines Liebesverhältnisses annahm. Aber anch
Trübungen und Entzweiungen blieben nicht aus. Da lief mau dann monate¬
lang neben einander her, sah sich nicht an und sprach kein Wort mit einander,
obwohl mau sich vor Liebe hätte fressen mögen; es war ein schiuerzlich-süßer
Zustand. Endlich sprach einer daS erlösende Wort, und dann folgte die
Seligkeit der Versöhnung. An einem Tag im Jahre galt es für anständig,
anch mit den bittersten Feindschaften einmal aufzuräumen, an dem Tage, wo
die konfirmirten Alumnen zusammen mit dem Lehrerkollegium zur Kommunion
gingen; dem Kirchgange ging da immer ein kleines Aersöhnuugsfest voraus."
Aber auch das Verhältnis zwischen den Alumnen und den „Extranern,
d. h. den Schillern, die nicht zum Singechor gehörten, sondern nur die Schule
besuchten und dafür Schulgeld bezahlten, ließ wenig zu wünschen übrig. Ur¬
sprünglich, vor Jahrhunderten, waren ja die Alumnen die eigentlichen und
hauptsächlichen Schiller der Schule gewesen, während die Extraner oder
„Externen," wie man sie anderwärts nennt, nur so daneben hergelaufen
waren. Dieses Verhältnis hatte sich längst umgekehrt: die Extrauer bildeten,
schon ihrer großen Zahl nach, den Hauptschülerbestnnd, und die kleine Alumnen¬
schar war es, die die Ausnahmestellung einnahm. Unter den Extranern
waren natürlich vornehme und reiche Jungen, die Alumnen, waren fast lauter
arme Teufel von bescheidenster Herkunft. Aber solche Unterschiede waren hin¬
fällig, wo alles auf Begabung und wissenschaftliche Leistungen ankam, und es
waren die dümmsten nicht, die oft gerade unter den Alumnen zu finden waren.
Der gescheiteste Kerl in meiner ganzen Klasse war ein Alumnus, ein armer
Bergmauusjunge aus der Nähe von Freiberg. Der brachte es fertig, daß er
bei einer deutscheu Examenarbeit drei Aufsätze über dasselbe Themm schrieb,
einen für sich und zwei für zwei Extraner, die ihn dafür jeder mit zehn
Neugroschen belohnten; und dabei schrieb er diese beiden auch noch zuerst,
damit die Empfänger sie noch abschreibe» konnten, und jeden so anders, daß
eine Entdeckung ganz unmöglich war, seinen eignen zuletzt, gleich „ins Gute,"
und doch hatte er sich für den noch die besten Gedanken aufgespart! Solche
Alumnen mußten von den Extraneru schon warm gehalten werden. Freilich
gab es unter den Extranern auch dumme Hänse, die mit Verachtung ans die
armen Jungen herabblickten, die sich ihren Schulunterricht jahraus jahrein durch
Chordienst erstngen mußten.
(Fortsetzung folgt)
s werden nun bald zwanzig Jahre verflossen sein, seitdem im
Reichslande die deutsche Herrschaft eingerichtet ist. Da erscheint
gewiß auch weitern Kreisen im deutschen Reiche eine Prüfung
der Frage wünschenswert, wie weit bis jetzt das Werk gediehe»
ist, die eingeborene Bevölkerung für das neue Vaterland zu
gewinnen. Die rechtlichen Ausnahmezustände, wie sie sich besonders in dem
bei Einführung einer geregelten Verwaltung im Jahre 1871 erlassenen soge¬
nannten Diktaturparagraphen, in der Aufrechterhaltung einer Reihe meist aus
der französischen Zeit übernommener Polizeigesetze und zuletzt in den Pa߬
vorschriften hinsichtlich des Personenverkehrs mit Frankreich offenbaren, sind
bisher in den Kampf der politischen Parteien noch nicht hineingezogen worden,
und es ist anzunehmen, daß auch in absehbarer Zeit, trotz der Anregungen im
Reichstag über die Aufhebung des Paßzwnnges, eine eigne Behandlung der
elsaß-lothringischen Verhältnisse fortbestehen wird, wie es zum Vorteile des
Reiches geboten ist. Gewisse staatsrechtliche Schwierigkeiten lassen sich nach der
Grundlage unsrer gegenwärtigen Reichsverfassung überhaupt nicht überwinden;
sie sind dadurch gegeben, daß Elsaß-Lothringen einen Bestandteil des deutschen
Reiches bildet, ohne doch einem einzelnen Bnndesstacit anzugehören oder ein
selbständiges Mitglied des Bundes zu sein. Trotz verschiedner, nicht zu ver¬
meidender Mißgriffe, die namentlich bei der Auswahl der zur Leitung be¬
stimmten Personen vorgekommen sind, ist man doch sachlich auf dem richtigen
Wege zu Werke gegangen- Man übertrug nach Beseitigung der vorübergehenden
und durch die Okkupation erklärlichen Militürherrschaft zuerst die Verwaltung
einem uuter dein Reichskanzler stehenden Oberpräsidenten und teilte das
Land in Anlehnung an die französischen Departements in drei Verwaltungs¬
bezirke ein, Unterelsaß, Oberelsaß und Lothringen. Mit dem 1. Januar 1871
trat die Reichsverfassung für das Reichsland in Kraft, und seither sind
fünfzehn Abgeordnete ans den drei Bezirken zum Reichstag gewählt wurden,
während Elsaß-Lothringen zum Bundesrat nur Vertreter mit beratender Stimme
entsendet. Vorher wie nachher sind die meisten schon damals bestehenden Reichs-
gesetze auf Elsaß-Lothringen ausgedehnt worden. Um die Bevölkerung für das
Wohl ihres engern Vaterlandes durch Teilnahme an den öffentlichen Angelegen¬
heiten zu gewinnen, rief ein kaiserlicher Erlaß vom 29. Oktober 1874 den
Landesausschuß ins Leben, zunächst nur zur gutachtlichen Beratung der Gesetz¬
entwürfe und Landesangelegenheiten, aber schon durch das Gesetz vom 2. Mai
1877 wurde dieser Landesausschuß zum Gesetzgebungsorgau, wenngleich der
Reichsgesetzgebung ebenfalls die Erlassung von Landesgesetzen vorbehalten wurde.
Die wesentliche Umgestaltung seiner staatsrechtlichen Verhältnisse und seiner
Verwaltung erfuhr Elsaß-Lothringen seit dein 1. Oktober 1879, seitdem ein
Statthalter nicht nur mit den Befugnissen des Reichskanzlers und des frühern
Oberpräsidenten, sondern noch mit eiuer Reihe landesherrlicher Machtvoll¬
kommenheiten ausgestattet und unter ihm ein Ministerium an die Spitze gestellt
worden ist.
Die eingeschlagenen Maßregeln haben ihre Wirkung nicht verfehlt- Die
Zugehörigen der bessern Klassen haben, nachdem die erste Angstperiode nach
dem Kriege überwunden war, allmählich den doktrinär prvtestlerischen Stand¬
punkt, wenigstens im Interesse des Landes und gewiß nicht ohne ein eignes
ansprechendes Interesse verlassen, und zum Zustnndebringen der meisten wirt¬
schaftlichen Gesetze gelang es, die Zustimmung der Mehrheit des Landes¬
ausschusses zum Negierungsvorschlage herbeizuführen, sodaß man sich des
Weges der Reichsgesetzgebung nicht zu bedienen brauchte. Nur die lothringischen
Abgeordneten suchten hin und wieder durch eine geschlossene Verneinung Ein¬
druck zu macheu, auch wurde gegenüber Abünderungsentwürfeu des Ooäs olvii,
des in Elsaß-Lothringen geltenden bürgerlichen Rechts, eine gewisse Zurück -
haltung beobachtet, sodaß man wenigstens zuerst auch da sich ablehnend ver¬
hielt, wo, wie z. B. ans dem Gebiete der Liegenschaften und Hypotheken, das
französische Recht längst von der modernen deutschen, vorzüglich der preußischen
Gesetzgebung überholt war. Im Anfange trug gewiß zu dieser Haltung auch
die Erwägung bei, daß man hypnotisch auf die Bresche in den Vogesen blickte
und es den befreienden Franzosen ersparen wollte, mit so vielen unnützen
Dingen aufräumen zu müssen. Nach und nach machten sich doch die Vorteile
der deutschen Gesetze in ihrer Ausführung bemerkbar, und jetzt kommen die
Regierung und der Landesausschuß mit einander aus, wie verständige Eheleute,
die sich ursprünglich nicht aus gegenseitiger Neigung genommen haben. Wenn
gegen die zweite, allzu schnell arbeitende Gesetzgebung von Elsaß-Lothringen
ein Vorwurf erhoben werden kauu, fo trifft er jedenfalls weniger die ein-
gebornen Elemente, die daran beteiligt sind. Soweit es sich freilich nur rein
politische Maßregeln handelt, hat die Regierung, wenn sie die Form des Gesetzes
wählte, sich an den Reichstag gewandt. Dies geschah unter der Herrschaft
Kaiser Friedrichs in einem mit Rückwirkung versehenen Gesetz, das gegenüber
einer abweichenden Auffassung des Reichsgerichtes die Wirksamkeit zweier
französischen Preßbestimmuugeu aufrecht erhielt. Da der Thatbestand, bei dem
diese Gesetze zur Anwendung gelangen, für die Stimmung im Reichsland
eigentümlich ist, so mag es gestattet sein, ihn an dieser Stelle wiederzugeben. Die
Gesetze verbieten das öffentliche Ausstoßen anfrührerischer Rufe und das Tragen
von demonstrativen Abzeichen. Es fallen darunter alle jene Ausschreitungen
meist der untern Volksschichten, bei denen der Sympathie für Frankreich und
dem Haß gegen Deutschland und Preußen Ausdruck geliehen wird. Es reizt
den Ackerer, deu Fabrikarbeiter und die bei einer Grenzbevölkernng nicht selten
vorkommenden zweifelhaften Existenzen, „Wackes," wie sie im Volke genannt
werden, zumal wenn sie von dem starken oberelsässischen Weine genossen haben,
Vivs I» ?i'MLv, a ba3 til ?rü88ö! zu rufen, obwohl sie sich der Strafbarkeit
ihrer Handlungsweise bewußt sind und nicht viel mehr von der französischen
Sprache verstehen, als diesen verbotenen Ausruf. Die bei der Musterung
ausgehobenen jungen Burschen, die OonsoritK, wählen sich einen Tambour¬
major, von dessen Stab die Bänder der französischen Trikolore herabwehen, oder
die jugendlichen Teilnehmer an den Volksfesten, „Kilben," ziehen in geschlossenen
Reihen mit blauen, weißen und roten Mützen durchs Dorf, um die Altdeutschen
zu trunken, um ihre Landsleute an Frankreich zu erinnern. Zu diesen ver¬
botenen Genüssen gehören anch Gedichte und Lieder, wie die Marseillaise, ein
Klagegesang über die Abtretung des Neichslandes, das mit den Worten beginnt:
Vous n'g,in'S2 xss 1'L.lsaoo ot I», I,ori'!uno,
M nialxrö vous nous rostvrons Z?runyais.
Vous avsü M g'vrmnnisor la pi-i-iuo
Kais uotro ocour vous no I'ani-oil Mruus —
ein im Volkston gehaltenes Lied, teils französisch, teils im Dialekt gedichtet
und nach einer bekannten Melodie ans dem Repertoire der Madame Therese
zu singen:
L.110As nous ^Isavious,
I^o odassspot «laus 1a enlum,
?our olmssei' los Il'i'ussiens
Ds I'-mei'v vois ein Kiiin.
Vivo I» Vr-nos, a das I» ?r»gse
De Schwvbe mllsse zum Lttndle »us.
Endlich ist noch das sogenannte Sebastvpollied zu erwähnen, ein Gesang nach
einer alten deutschen Volksweise, womit die Elsässer im Krimkriege zum Kampfe
gegen Nußland angefeuert werden sollten; nncrlanbterweise ändert man den
Text ub, und das „Siegreich wollen wir Rußland schlagen" wird in „Siegreich
wollen wir Deutschland schlagen" verwandelt.
Es muß jedoch anerkannt werden, daß der Charakter der reichsländischen
Bevölkerung keineswegs zu politischen Ausschreitungen neigt. Eine Unruhe
im vergangnen Herbst bei der Nekrnteneinstellung in Alttirch, an der franzö¬
sischen Grenze gegen Belfort gelegen, verlief durchaus harmlos und wurde nnr
von ausländischen Zeitungen aufgebauscht. Bei dem Arbeiterausstand, der in
diesem Frühjahr im Oberelsaß stattfand, haben in Mülhausen eine Woche hin¬
durch zwanzig- bis dreißigtausend Arbeiter gefeiert, ohne daß irgend eine größere
Ausschreitung vorgekommen wäre. Die Arbeiter leisteten den Anordnungen der
Polizeibehörde unbedingt Folge, selbst als man ihnen untersagte, sich auf den
Straßen anzusammeln oder in Reihen durch die Stadt zu marschiren. Daß
diese Behutsamkeit nicht etwa lediglich auf die Furcht vor einem Eingreifen
des Militärs zurückzuführen ist, beweisen die Aufstände in Thann und Seuu-
heim, wohin erst später Truppen zur Aufrechterhaltung der Ordnung abgesandt
wurden. Auch hier ist keine nennenswerte Ausschreitung zu verzeichnen. Dem
Kreisdirektor von Forbach ist es weit besser und leichter gelungen, die streikenden
Bergwerksleute von Rosheim wieder an die Arbeit zu bringen, als seinem
preußischen Kollegen in Westfalen. Der Grund dieses Verhaltens liegt, ab¬
gesehen von dem friedfertigen Charakter der Bevölkerung, darin, daß man dem
Kaiser und seinen Beamten Vertrauen entgegenbrachte und den Anforderungen
der Fabrikherren gegenüber von ihnen Schutz hoffte. Dies bedeutet aber
einen Fortschritt im Vergleich zu der französischen Zeit, wo der Arbeiter auch
den öffentlichen Organen mit Mißtrauen begegnete.
Der Hilfe der Reichsgesetzgebung bedarf die Negierung zum Erlaß von
Ausnahmemaßregcln gewöhnlich nicht; hierzu ist in dem Diktaturparagraphen,
der jedoch in den letzten Jahren nicht mehr zur Anwendung gekommen ist,
sowie in den dehnbaren, aus der Zeit vor der französischen Revolution her¬
rührenden Polizeigesctzen die erforderliche Rechtsgrundlage gegeben.
Die bessern Gesellschaftsklassen haben sich, wenige Ausnahmen abgerechnet,
von politischen Kundgebungen ferngehalten. Aber sind sie für die deutsche
Sache gewonnen worden, oder sind sie ihr auch nur näher getreten? Im
Landesausschuß wie im Reichstag ist behauptet worden, daß in Elsaß-Lothringen
die Ruhe des Kirchhofs herrsche. Es giebt nichts Übertriebeneres, als diese
Ansicht; denn im Lande blühen Handel und Industrie, Ackerbau und Weiu-
kultnr, und überall regt sich eine frohe Schaffenskraft. Der Etat weist er¬
freuliche Ergebnisse auf, sodaß es nicht an Mitteln zu Aufbesserungen fehlt.
Wäre die polizeiliche Knechtung so stark, wie man fabelt, so würde eine der¬
artige Kraftentwicklung nicht möglich gewesen sei,?. Straßburg, unter franzö-
sischer Herrschaft eine vernachlässigte Provinzialmittelstndt, ist seit dem Jahre
1870 zu einer prächtigen und geschmackvollen Großstadt herangewachsen. Die
engen Festungsmauern, die die Altstadt einschlossen, sind gefallen, und eine
vornehme Neustadt mit monumentalen Prachtbauten, der Universität, der
Kaiserpfalz, dem Landesansschnßgcbäude und der Landesbibliothek hat sich nuf
dem freigewordenen Boden angeschlossen. Mülhausens Industrie hat sich regel¬
recht fortentwickelt, die großen Firmen der Dollfus, Mieg, Kvchliu gedeihen,
wie sie früher gediehen sind, und nicht zum mindesten hat bei ihnen die ver¬
änderte Zollgesetzgebung gut angeschlagen. Nur Metz ging zunächst in seinem
Handel wie in seiner Bewvhnerzahl, deren bessere Elemente nach Nancy über¬
siedelten, zurück, ist aber auch schon längst wieder im Steigen begriffen, wobei
zu beachten ist, daß der gewaltige Festungsring dem Wachstum der Stadt
natürlich Grenzen setzt. Es herrscht also keine Kirchhvfsstille, sondern nur
eine gewisse Resignation in politischer Beziehung bei der obern eingebornen
Gesellschaft, die eingesehen hat, daß die Befreiung durch die Franzosen ans
den griechischen Kalenden zu erwarten steht. Man äußert seine Abneigung bei
deu Wahlen und dadurch, daß man sich hermetisch von den Altdeutschen ab¬
schließt. In der Hauptstadt wird diese Absonderung weniger fühlbar als an
andern Orten; denn mit dem Statthalter und den Spitzen der Behörden wollen
die Einheimischen unter allen Umständen Beziehungen unterhalten. Am meisten
tritt der Gegensatz der alt- und der neudeutschen Gesellschaft in Mülhausen zu Tage.
In dieser Fabrikstadt, wo sich, ähnlich wie in den Hansestädten, ein angesehener,
vornehmer Patrizierstand mit bedeutendem Vermögen gebildet hat, spielt die
eingewanderte Gesellschaft, von der allein die Beamten, Offiziere und deren
Anhang in Betracht kommen, den eingebornen Kreisen gegenüber eine ganz
geringfügige Rolle. Es giebt keine Anknüpfungen zwischen beiden. Wie erzählt
wird, sollen insbesondre die Frauen der Großfabrikanten durch ihre Versetzungen
jede Annäherung an die Eingewanderten hintertreiben, während die Männer
schon in Folge ihres Berufes äußerliche Berührungen nicht vermeiden können.
Es wäre am Platze, in diese Stadt an die Stelle eines Generals einen ver¬
heirateten Prinzen zu ertheilte»; er würde an: ehesten imstande sein, beide
Elemente mit einander in Verkehr zu bringen. An Entgegenkommen hat es
von altdeutscher Seite nicht gefehlt.
Da mau durch das in büreaukratischen Bahnen sich bewegende System
des Oberpräsidenten Möller in der Germanisirung nicht schnell genug vorwärts
gekommen zu sein meinte, ließ man einen Wechsel eintreten. Der verstorbene
Statthalter, Freiherr v. Manteuffel, führte ein persönliches Regiment ein, er
suchte und unterhielt einen intimeren Verkehr mit den Notabeln manchmal
sogar gewaltsam. In seinem Hause überwog die französische Sprache in der
Konversation. Vielleicht glaubte er die Notabeln durch Anknüpfung an die
Formen der französischen Präfektenmethode, die sie von früher her gewohnt
waren, für sich zu gewinnen. Sein Liebcswerben fand aber keine Gegenneigung,
man nutzte die Liebenswürdigkeit des Statthalters aus, und es erlangten über
die Köpfe der Beamten hinweg Leute Einfluß, die sich nachträglich als unzu¬
verlässig und noch schlimmer als das herausstellten. Dabei verstimmte dieses
Verfahren die Beamten und erfüllte auch weite Schichten des Volkes mit Mi߬
trauen. Die Franzosen, unter ihnen Tausende von Militärpflichtiger, über¬
schwemmten das Land, die Optanten, die im Lande wohnten und als geborne
Elsässer und Lothringer mit der deutsch gewordenen Bevölkerung den engsten
Verkehr unterhielten, schürten immer aufs neue die Flammen der Unzufriedenheit.
Familien mit nachweisbar revanchelustiger Gesinnung verbrachten den Sommer
auf ihren Besitzungen in den Reichslanden, französische Offiziere in großer
Menge verlebten die Jagdzeit bei ihren Freunden und Bekannten im Elsaß.
Der Handlungsreisende brachte mit den neuesten Modeartikeln aus Paris auch
jene Hetzblätter mit, die wie der Sozialdemokrat von persönlichen Denunziationen
wimmelten und zeigen sollten, daß man in der Hauptstadt alles genau kou-
trollire. Wehe den Abgefallenen, den Männern wie Petri, Schlumberger,
Bulach — was müßte ihr Schicksal sein, wenn wieder die befreienden Franzosen
herrschen würden! Es folgte eine Reihe von Landesverratsprozessen, die be¬
wiesen, wie unsre Nachbarn im Westen die ihnen gewährte Gastfreundschaft
verwandten. Es stellte sich heraus, daß subalterne Beamte, die aus der fran¬
zösischen Zeit übernommen waren, ihre Stellungen, bei denen man ihnen Ver¬
trauen schenken mußte, zum Verrat mißbraucht hatten. Gerade für diese lagen
in den Verhältnissen selbst schwere Gefährdungen; von zwei Brüdern war der
eine vielleicht als französischer Gendarm an der Grenze beschäftigt, der andre
stand dicht daneben im deutschen Eisenbahndicnst. Dazu kam, daß die inter¬
nationalen Beziehungen zwischen Frankreich und dem deutschen Reiche sich ver¬
schlechterten. Jules Ferrh hatte gehen müssen, Boulanger wurde Kriegsminister
und schien einen unwiderstehlichen Zauber auf seine Landsleute auszuüben.
Selbst Reibungen, wie sie die Kauffmann- und die Schnäbeleaffcnre zeigen,
blieben nicht aus.
Noch unter Manteuffel selbst trat der aus den Umständen sich notwendig
ergebende Umschwung ein. Selbst ein Mann von der Richtung des Abge¬
ordneten Guerber mußte zugeben, wie er dies kürzlich in seiner Neichstagsrede
gethan hat, daß der Kriegsminister Boulanger das deutsche Reich zur Vor¬
kehrung aller Schutzmaßregeln zwang. Bei den Reichstagswahlen siegten die
protestlerischen Kandidaten, und nicht ohne Grund konnte jemand aus Alt¬
deutschland seine Stimme erheben und verlangen, daß man Personen, die das
deutsche Reich in seinen: Bestand anfechten, auch die Eigenschaft zum Abge¬
ordneten gesetzlich absprechen sollte.
Die neue Ära wird eingeleitet mit dein Erlaß des Statthalters Manteuffel
an den Staatssekretär v. Hofmann vom 28. August 1884, der, um die Bildung
einer französischen Kolonie zu verhindern, das Reichsland von den Optanten
und den Elementen, die vor Eintritt in das wehrpflichtige Alter ausgewandert
und nach Verlust der deutschen Reichsangehörigkeit zurückgekehrt waren, säubern
sollte. Es folgten Verordnungen, die Aufenthaltsbeschränkungen für Ausländer
enthielten; es mußte zuvor von der Verwaltungsbehörde eine Erlaubnis nach¬
gesucht werden. Damit wurde deu französische,, Offizieren der Besuch im
Reichslande wenigstens öffentlich unmöglich gemacht. An Ausländer, auch an
solche, die in Elsaß-Lothringen Jagden hatten, wurden keine Jagdscheine mehr
erteilt. Den Abschluß dieser nach innen wie außen gerichteten Maßnahmen
bildet der Paßzwaug, der deu von Frankreich her die elsaß-lothringische Grenze
Passirenden Ausländern die Verpflichtung auferlegt, einen mit dem Visum der
deutschen Botschaft versehenen Paß vorzuweisen.
Es kann keinem Zweifel unterliegen, daß diese Vorkehrungen, höchstens
die spater fallen gelassenen Aufenthaltsbeschränkungen ausgenommen, nicht gegen
den völkerrechtlichen Frankfurter Friedensvertrag verstoßen; denn die Meist-
begnnstigungsklansel, die sich Deutschland und Frankreich darin in ihren gegen¬
seitigen Beziehungen zusichern, verhindert keine der beiden Nationen, sich gegen
politische Übergriffe der andern zu sichern. Jeder Staat muß es im Interesse
seiner Selbsterhaltung in der Gewalt haben, den Zufluß fremder Unterthanen
zu bestimmen.
Die Elsaß-Lothringer, die alle diese Maßregeln lediglich ans dem Gesichts¬
punkte der sie treffenden Unannehmlichkeiten beurteilten, haben sich überein¬
stimmend dagegen erklärt und sich im Landesausschuß wie im Reichstag be¬
müht, die Wiederaufhebung des Paßzwanges zu erwirken. Man hat insbesondre
vor dem Lande die traurigen Folgen erörtert, die aber mehr in der Möglichkeit
bestehen, als daß sie häufiger vorgekommen wären. Gewiß hat es nicht in
der Absicht der Paßverordnung gelegen, zu verhindern, daß der Sohn an das
Totenlager der Mutter eile. Hin und wieder sind Ausschreitungen unter¬
geordneter Organe vorgekommen, man hat sie aber auch an die große Glocke
gehängt. Solche Ausschreitungen sind traurig, aber unvermeidlich, sie kommen
überall vor, in Deutschland ebensowohl wie in Frankreich, der Schweiz und
Amerika. Sicher hat sich auch die Spionage durch den Paßzwang nicht
wesentlich vermindert, aber die Versetzungen, die in dem geöffneten Reichslande
von Frankreich ans bequem Einlaß fanden, haben aufgehört. Es ist That¬
sache, daß in den letzten Jahren keine Hochverrats- und Laudesverrcitsfälle zur
Anzeige gelaugt sind. Es war durchaus erforderlich, den Greuzgrabeu zu ver¬
tiefen in einem Lande, in das die fremden Mächte ans Rücksicht auf Frankreich
keine diplomatischen Vertreter entsenden, Deutschland mußte den Elsaß-Loth¬
ringern, Frankreich und der ganzen Welt offenbaren, daß es das Schicksal des
teuer genug erkauften Reichslandes zu bestimmen habe, wobei vor der Wohl¬
fahrt des Ganzen die Interessen des Teiles zurücktreten. Diese Wirkungen
haben die Maßnahmen seit dem Jahre 1884 gehabt, sie haben in gewissen
Kreisen eine politische Resignation hervorgerufen. Das ist aber für die deutsche
Sache nur günstig. Besser wäre es freilich gewesen, wenn man schon im
Jahre 1871 den Schritt gethan Hütte, den man erst 1888 unternommen hat.
Aber damals überwogen die Empfindungen, daß die Verlornen Brüder lediglich
durch die Liebe wiedergewonnen werden könnten, und niemand verdient deshalb
einen Vorwurf.
Im Innern ist man gleichzeitig bestrebt gewesen, die Durchführung der
deutschen Sprache in den französischen Sprachgebieten energischer zu betreiben.
Vor deu Gerichten wird auch in diesen Kantonen in deutscher Sprache ver¬
handelt, die Urteile werden deutsch abgefaßt, und die Notare müssen ihre Akte
in deutscher Sprache aufnehmen. Die Buchführungen der Kaufleute, zumal
der Großkaufleute, sind allerdings meist noch französisch gehalten und lauten
sogar vielfach auf Franken und Centimes. Die Behörden sind aber darauf
hingewiesen, solche Urkunden nicht zu berücksichtigen. Übrigens ist das fran¬
zösische Sprachgebiet im Elsaß von sehr geringer Ausdehnung. Zum Laud-
gerichtsbezirk Straßburg gehört nicht eine einzige französisch redende Gemeinde.
Lediglich die dicht an der französischen Grenze belegenen Kantone bei Schirmeck,
Markirch und Dammerkirch siud dem fremden Sprachgebiet überwiesen. Es
ist dies der beste Beweis, wie wenig es den Franzosen gelungen ist, das Land
für ihre Kultur zu gewinnen. Der Dialekt des Volkes ist deutsch, im Süden
nähert er sich der badischen und schweizerischen, im Norden der pfälzischem
Mundart. Mau hat deu Eindruck, als ob die deutsche Kultur seit zwei Jahr¬
hunderten im Lande unverändert geblieben wäre. Wie die Anrede von Person
zu Person nicht Sie, sondern Ihr lautet, so erinnert sogar der Stil und die
Schriftform der Bevölkerung an die Formen, wie sie in Altdeutschland im
siebzehnten Jahrhundert verbreitet gewesen sind. Umfangreicher ist das fran¬
zösische Sprachgebiet in Lothringen, obwohl hier der bei weitem größere Teil
des Volkes eine deutsche, an das Pfälzische anklingende Mundart redet. Bei
Falkenberg wird der Übergang durch ein französisches Patois gebildet.
In Metz ist bereits der französische Charakter zum vollen Durchbruch gelangt,
hier wird die Germanisirung, wenn nicht etwa, wie es den Anschein hat, die
Eingewanderten die Mehrheit erlangen und die Eingebornen ersetzen, natürlich
längere Zeit währen. Aber wir wissen von sachverständiger Seite, daß die
Annexion von Metz für Deutschland eine militärische Notwendigkeit war, daß
sie Frankreich gegenüber eine Armee von 100000 Mann bedeutete.
Da die Schule ohne Zweifel das berufene Organ ist, das heranwachsende
Geschlecht für die deutsche Sache zu gewinnen, so müßten in dieser Hinsicht
noch strengere Bestimmungen zur Durchführung der Schulpflicht ergehen.
Insbesondre sollte es den bessergestellten Familien nicht ermöglicht werden,
ihre Kinder durch häuslichen Unterricht dem allgemeinen Schulbesuch und so
auch dem Verkehr mit den Kindern aus altdeutschen Familien zu entziehen.
Eine von der Verwaltungsbehörde etwa ausgeübte Aufsicht bei der Wahl
des Hauslehrers kaun nicht als geeignetes Gegenmittel erachtet werden. Bei
der niedern Grenze des schulpflichtigen Alters sind gerade diese Gesellschafts-
klaffe» in der Lage, ihre Kinder in den entscheidenden Entwicklungsjahren in
Frankreich ausbilden zu lasten.
In der Schulbildung steht Elsaß-Lothringen noch weit zurück gegen das
Maß von Kenntnissen, das in Altdeutschland fast jeder besitzt. Unter den
Landleuten find nicht wenige, die Nieder schreiben noch lesen können. Hier
liegt noch eine große Aufgabe für den Lehrerstand, der durch Zuziehung be¬
währter altdeutscher Kräfte noch gestärkt werden niüßte, damit die Kinder nicht
das erlernte Deutsch gar zu schnell wieder vergessen.
Durch die Einwirkung des Klerus, dessen Sympathie sich Frankreich zu¬
wendet, ist die Schulfrage freilich besonders heilet geworden. In der fran¬
zösischen Zeit sollen umgekehrt die katholischen Geistlichen im deutschen Interesse,
namentlich sür Erhaltung der deutschen Sprache gewirkt haben.
Eine Verordnung der Bezirkspräsidenten aus dem Jahre 1887 sucht einem
Mißstände zu steuern, der namentlich bei den Fremden den Eindruck erwecken
könnte, als ob das Reichsland wirklich verwelscht worden sei. Es find das
die Schilder und Inschriften der Geschäfte und Läden, die selbst an solchen
Orten in französischer Sprache abgefaßt sind, wo sonst die Bewohner nicht
mehr, als einige in den Dialekt eingedrungene Brocken französisch verstehe».
Wer Straßburg keimt, weiß, daß überall das Gewerbe oder der Beruf des
Gewerbetreibenden in französischer Bezeichnung angebracht ist. Da liest man
als Aufschriften der kleinsten Läden torti-mtiEr, bonvlierio, olmroutsriL, von-
<iumoiiilIoriL, obwohl die Inhaber nur ihr clsässer „Dieses" reden.
Noch mehr fällt dieser Mißstand in den kleinern Städten und Gemeinden auf.
Mit der Durchführung der erwähnten Verordnungen, die allerdings keine rück¬
wirkende Kraft haben und das Bestehende unberührt lassen, wird diese welsche
Außenseite von der Oberflüche verschwinden.
Eine wesentliche Förderung würde die Germanisirung Elsaß-Lothringens
durch eine Hebung der wechselseitigen Beziehungen zwischen dem Reichsland
und Altdeutschland erfahren; die Vollendung der in Aussicht genommenen
Wasserstraße zwischen Straßburg und Ludwigshafen mich dein schiffbaren Rhein
wird diesen Anschluß an den Osten begünstigen. Der altdeutsche Kaufmann
und Grundbesitzer zeigt sich außerordentlich zurückhaltend, und es ist darin nicht
die letzte Ursache zu suchen, weshalb die einheimischen industriellen Kreise wie
die Guteigentümer ihrer frühern Gewohnheit nach an Paris festhalten. Man
bringt den hiesigen Verhältnissen ein Mißtrauen entgegen, das nach der kraft¬
vollen wie friedfertigen Politik des deutschen Reiches als unbegründet bezeichnet
werden muß. Man sollte in der Kolonisirung ähnlich vorgehen, wie es Preußen
in Posen gethan hat. Vermögende und angesehene Kaufleute und Fabrikanten
sollten es wagen, sich in Elsaß-Lothringen niederzulassen. Gewiß würde der
Kampf und die Konkurrenz mit den Eingeborenen nicht leicht sein, aber unser
Kaufmannsstand klebt heute uicht mehr so an der Scholle, er ist stark und
mutig geworden. Ein mächtiger Rückhalt würde ihm an der großen Beamten¬
zahl gewährt werden; denn mir allzu sehr wird von dieser das fehlende kaus-
müuuische Element, werden die Großgrundbesitzer vermißt, die in die Einseitig¬
keit und Einförmigkeit des Beamtenlebeus Abwechslung bringen könnten. Man
stelle die Mitgliederzahl der Nichtbeamten und Nichtstudirten in den deutschen
Kasinos, die, von Straßburg abgesehen, deu Mittelpunkt des geselligen Ver¬
kehrs bilden, zusammen, und man wird über ihre geringe Zahl erstaunt sein.
Ein lebhafter Zuzug der Gewerbe- und Handeltreibenden aus Altdeutschland
würde auch auf die öffentlichen Angelegenheiten eine günstige Einwirkung nicht
verfehlen. Man könnte daran denken, unter der Mitarbeit solcher Kräfte in
die Gemeindeverwaltungeu, die jetzt auf der Grundlage der französischen Gesetz¬
gebung in vollster Abhängigkeit vom Staate stehen, das deutsche Prinzip der
Selbstverwaltung hineinzutragen. Denn anders als der Franzose, der seinen
Beamten zwar mit gewaltigen staatlichen Machtbefugnissen ausstattet, aber ihn
doch wieder in jedem Augenblick aus seiner Stellung entfernt, bethätigt der
deutsche Bürger im öffentlichen Leben seine Teilnahme an der Einrichtung selbst
und übt seine Kontrolle in der Mitwirkung.
Insbesondere aber möge es dem altdeutschen Publikum ans Herz gelegt
sein, Elsaß-Lothringen zahlreicher, als es bisher geschehen ist, aufzusuchen und
Land und Leute kennen zu lernen. Ein solcher Anreiz bestand bis in das
Ende des vorigen Jahrhunderts, wie es die Beispiele Goethes, Herders und
der um sie versammelten Gesellschaft zeigen. Er scheint jetzt verschwunden zu
sein. Es verlohnt sich, die kleinern Ortschaften auch außerhalb Straßburgs zu
besuchen. Vom Schwarzwald, vou der Schweiz und dem Jura aus sind die
Blicke nach deu Vogesen gerichtet. Die Reisenden sehen das Gebirge vor sich
liegen, mögen aber nicht ins Innere eindringen. Ohne Zweifel find die Vo-
gesen dem Schwarzwald nicht gleichwertig in der Naturschönheit, in der Auf¬
nahme und Verpflegung der Fremden durch die nicht immer gastfreundlichen
Bewohner. Auch find die Wege nicht so leicht und bequem. Erst nach dem
Kriege, seit der „Schwabenzeit" ist das Interesse für die Besteigung der Berge
erwacht. Aber nach dem Schwarzwald sind die Vogesen gewiß das herrlichste
deutsche Mittelgebirge, und sie können es an Fernsicht auf die Alpen von den
Höhen der beiden Welchen und des Roßberg mit diesem aufnehmen. Und um
die alten Burgruinen und Bergeshnlden schwebt die deutsche Sage und Er¬
zählung, die von den Niesen bei Niedeck, von dein Kampfe Walters von Aaui-
tauien, dem Waltariliede und von ruhmvollen Geschlechtern berichtet. Das
Se. Amariner und das Wesserlinger Thal, das waldumkrnnzte Zabern laden
jeden ein, der sich vom Lärm in die Einsamkeit zurückziehen will. Sollte
überhaupt erst einmal ein regerer Verkehr in den Vogesen stattfinden, dann
wird es mich dem Furchtsamern minder bedenklich erscheinen, auf den Kamm¬
partien den französischen Boden zu betreten. Niederbronn, ein Bad, dessen
stattliche Kurhalle den Beweis liefert, daß es vor dem Kriege stark besucht
gewesen ist, hat in den letzten Jahren nur wenige Hunderte von Badegästen in
der Saison aufzuweisen. Seine Quellen haben ähnliche Bestandteile wie die
von Karlsbnd und Kissingen. Das heranwachsende Geschlecht, das nicht mehr
Zeuge der deutschen Einigung gewesen ist, möge es sich im Anblick der blut¬
getränkten Schlachtfelder zum Bewußtsein bringen, wie kostbar das deutsche
Reich und Elsaß-Lothringen errungen worden sind.
Wie heute die Verhältnisse liegen, haben selbst die Eingewanderten noch
nicht die volle Empfindung, als ob sie im Lande heimisch geworden wären,
sie betrachten ihren Aufenthalt in Elsaß-Lothringen, wie wenn sie in eine
Kolonie entsendet wären. Gewiß trägt hierzu beim Militär der häufige Wechsel
der Garnisonorte und bei den aus allen Teilen des Vaterlandes zusammen¬
gewürfelten Zivilbeamten der Umstand bei, daß sie sich nicht genug in einander
einleben. Es ist übrigens charakteristisch, daß die Mehrzahl der höhern Zivil-
beamten nicht etwa aus Altpreußen herrührt, sondern in der Verwaltung'aus
Hessen, in der Justiz aus der Pfalz übernommen ist. Die meisten von diesen
Beamten verbringen, wenn sie in den Ruhestand getreten sind, ihre alten Tage
nicht in Elsaß-Lothringen, sondern kehren in das alte Vaterland zurück. In
den zwanzig Jahren ist ihnen Elsaß-Lothringen noch nicht zur zweitem Heimat
geworden! Eine weitere Annäherung wird sich erst bei den spätern Geschlechtern
vollziehen, wenn sich die alten Familienbande mit Frankreich gelockert haben
und neue mit Altdeutschen geknüpft worden sind, wenn erst die obersten Ämter
mit den Söhnen des Landes besetzt werden können. Nur sehr wenige junge
Reichslünder haben sich bisher entschließen können, in den höher» Staatsdienst
einzutreten.
Wer die Germanisirung von Elsaß-Lothringen mit ruhigem Blick be¬
trachtet, nachdem er sich im Lande umgesehen hat, der wird erkennen, daß wir
noch nicht so weit gelangt sind, um auf alle Ausnahmemaßregclu zu verzichten.
Schule und Heeresdienst werden noch lange arbeiten müssen, um den politischen
Einfluß der Familie zu überwinden. Übergangsperioden Pflegen mit Härten
verbunden zu sein, der Lohn aber ist, daß die Zukunft gesichert wird. Nur
von diesem Gesichtspunkte muß man im deutschen Reiche, wo man der Zu¬
kunft fest und sicher entgegenschaut, den durch die Sonderverhältnisse not¬
wendigen Sonderrechtszustand von Elsaß-Lothringen beurteile». Es ist uicht
gut, wenn von außen zuviel daran gerührt wird. Verfolgt die Regierung bei
ihrem Vorgehen den Grundsatz?ortikvr in ro, srmviwr in moäo, wie dies die
jüngste Ermäßigung des im allgemeinen aufrecht erhaltenen Paßzwanges be¬
zeugt, so können ihre Schritte nur gebilligt werden.
er deutsche Länderhandel, wie er sich in der Zeit vom Frieden
zu Luneville (9. Februar 1801) bis zum Reichsdeputations-
hauptschluß (25. Februar 1803) abspielte, bildet eines der trau¬
rigste!? Blätter unsrer vaterländischen Geschichte. Doch denkt
man, wenn es sich um diesen Schacher handelt, gewöhnlich nur
an alle die nichtswürdigen Mittel, wodurch die Gesandten der hervorragenderen
deutschen Mittel- und Kleinstaaten sich in Paris selbst die Vertreter der fran¬
zösischen Republik geneigt macheu wollten; von den Mühen und Nöten der
harmloseren ganz kleinen Fürsten und Grafen, deren Arm oder Beutel uicht
bis Paris reichte, hören wir selten. Und doch wird gerade durch eine Dar¬
stellung ihrer Kämpfe das trostlose Zeitbild in charakteristischer Weise vervoll¬
ständigt. Selbst für diese wenig bemittelten Herren war nämlich, wenn auch
in viel beschränkterer Weise, immer noch etwas zu machen, wenn sie nur einen
geschickten Vertreter zur Neichsdepntation entsenden konnten; denn wurde auch
das Geschäft im großen zu Paris abgeschlossen, so blieb doch für den Einzel¬
handel in Regensburg immer uoch etwas übrig. Einer von diesen wenig be¬
mittelten Reichsständen war Graf von Wartenberg; auch er hatte durch den
Frieden von Luneville, der das linke Rheinufer Frankreich zuerkannte, seine
kleine Grafschaft in der Rheinpfalz verloren und war, wie seine von gleichem
Geschick betroffenen Standesgenossen, mit seinen Entschädigungsansprüchen auf
die noch zu säkularisireuden geistlichen Besitzungen auf dem rechten Rheinufer
verwiesen worden. Als Vertreter dieses Grafen von Wartenberg bei der
Reichsdeputation wirkte Joh. Friedr. Knapp"), Regierungsrat des Grafen
von Erbach i. O., eines Schwagers von Wartenberg. Über seine Thätigkeit
in der Wartenbergischen Angelegenheit berichtet nun Knapp, wie folgt:
Graf Ludwig von Würtenberg, der letzte seines Stammes, ein Schwager meines
Herrn, hatte seine Grafschaft mit seiner Residenz Meckeuheim^) ebenfalls verloren und
hatte versprochen, die Entschädigung, die er erhalten würde, den Söhnen meines Herrn
zuzuwenden. Mein Herr hatte also ein großes Interesse um dieser Entschädigungsange¬
legenheit. In dem ersten Eutschädignngsplan, den die vermittelnden Mächte, Frankreich
und Rußland, vorlegten, war dem Grafen von Wartenberg Neckarsteinach, die Kellerei
Ehrenberg und der Wormserhof zu Wimpfen zugewiesen worden. Weder der Graf von
Wartenberg, damals Genernlndjutant zu München, noch sein Geschäftsführer zu
Regensburg, Kanzleidirektor Nonne, hatten Kenntnis von dem Ertrag der erwähnten
Objekte. Sie wendeten sich an meinen Herrn; dieser schickte mich sogleich ab, und
es gelang mir in einigen Tagen, die nötigen Notizen zu sammeln, um das Unzu¬
reichende dieser Entschädigung darzuthun. Graf Wartenberg ließ also dagegen
reklamiren. Nun erschien ein zweiter Entschädigungsplan. Nach diesem sollten die
Reichsgrafen mit den Reichsprälaturen in Oberschwaben entschädigt und diese Masse
durch Württemberg und Baden nach Maßgabe des Verlustes verteilt werden.
Wartenberg sollte aus dieser Masse ebenfalls seine Befriedigung erhalten. Kanzlei¬
direktor Nonne hielt diese Verfügung für sehr nachteilig für seinen Herrn, überwarf
sich darüber, wie ich erst lange nachher erfuhr, so sehr mit dem russische» Gesandten,
Bnrou von Bühler, daß er nicht mehr vor ihm erscheine» durfte, verließ Regens¬
burg unter dem Vorwnnde eines Übelbesindens, schrieb dies auf der Reise »ach
Frankfurt von Miltenberg aus meinem Herrn und bat ihn, den Grafen von Warten¬
berg von seiner Entfernung von Regensburg zu benachrichtigen. Mein Herr erhielt
diesen Brief abends, und um folgenden Morgen, den 17. Oktober 1802, ernannte
er mich zu seinem Regierungsrat und befahl mir, zu seinem Schwager nach München
zu reisen und, wenn mich dieser bevollmächtigen wollte, seine Entschädigungsgeschäfte
zu führen. Ich fuhr mit Extrapost Tag und Nacht fort, und als ich in München
ankam, war Graf Wartenberg, der die Desertion seines Geschäftsmannes eben auch .
erfahren hatte und sich in der größten Verlegenheit befand, über die freundschaftliche
Vorsorge seines Schwagers bis zu Thränen gerührt, fuhr andern Tages mit mir
nach Regensburg und stellte mir dort die erforderliche Vollmacht aus, womit ich
mich am 27. Oktober 1802 um Nounes Stelle bei der Reichsdeputation
legitimirte.
Ganz unbekannt mit den Revenüen der Verlornen Besitzungen des Grafen
Wartenberg und seinem Verhältnisse zum Reich, hatte ich gehofft, in den von meinem
Vorgänger in Regensburg zurückgelassenen Akten genügende Auskunft zu finden;
allein dieselben bestanden, als es mir geglückt war, sie zu finden, aus wenigen ganz
unbedeutenden Blättern. Als ich »ach Überreichung meiner Vollmacht die nötigen
Visiten machte und zu dem russischen Gesandten, Baron von Bühler, kam, wurde
ich anfangs sehr kalt empfangen. Kaum hatte ich aber geäußert, daß ich die neuen
Verfügungen für meinen Kommittenten als sehr vorteilhaft betrachtete und dein
Herrn Gesandten deshalb den besondern Dank des Grafen auszudrücken beauftragt
sei, sprang der Gesandte von seinem Sitze ans, sagte, es sei allerdings die neue
Verfügung nur in der wohlmeinendsten Absicht gegen den Grafen geschehen, es
freue ihn, daß ich dies anerkenne, und wenn mir in meinen Geschäften etwas vor¬
käme, wo ich glaubte, daß er mir nützlich sein kllnue, so sollte ich mich uur um ihn
wenden. Ich war sehr überrascht von diesen wohlwollenden Äußerungen — daß
mein Vorgänger im entgegengesetzten Sinne gesprochen hulde, wußte ich dnmnls noch
nicht —, glaubte jedoch mich nicht darauf verlassen zu können. So erfreulich diese
Aufnahme war, so niederschlagend war es, als der württembergische Regierungsrat
Reuß, der Herausgeber der Stnatskanzlei, der eigentlich das württembergische
Avena bei der Neichsdcputation als Staatsrechtsgelehrter führte, bei meinem ersten
Besuch zu mir sagte: „O junger Mann, wie dauern Sie mich, das ist wohl Ihr
erstes Geschäftle, was Sie machen wollen, aber der Wartenberg ist kein Reichsstnud
mehr, virloatm- Moser!"*) Diese Worte aus dem Munde eines berühmten Publi¬
zisten wirkten wie ein Donnerschlag auf mich, denn nur die wirklichen Reichsstände
sollten aus der oberschwäbischen Masse, die man zur Befriedigung aller darauf
angewiesenen für unzureichend hielt, in „erster Klasse," also vorzugsweise entschädigt
werden. Tröstlicher war mir der Empfang bei dem Grafen Metternich, dem Vater
des nachmaligen österreichischen Fürsten-Staatskanzlers. Dieser Staatsmann, damals
auch Direktor des westfälischen Grafenkollegiums, war mit feinen Entschädigungs¬
ansprüchen ebenfalls ans die oberschwäbischen Prnlaturen angewiesen worden. Er
hatte Absicht auf die Prälntnr Ochsenhausen. Ich erklärte ihm, Wartenberg
mache auf diese keine Ansprüche, und da ich ihm anch etwas schmeichelhaftes über
ein Zirkularschreiben sagte, das er kurz vorher an die übrigen Grafenkollegien er¬
lassen hatte, so nahm er mich in seine Gunst auf. Ich mußte jeden Vormittag zu
ihm kommen, wo sich auch einige andre Grafen oder ihre Bevollmächtigten ein¬
fanden und über unser Wirken für das gemeinschaftliche Interesse Verabredungen
getroffen wurden. Der bairische Gesandte, Graf von Rechberg-Rotheulöwen, sowie
der Preußische Gesandte, Graf von Görz, waren stets sehr gnädig und gefällig gegen
mich. Von den französischen Gesandten Laforet und Matthieu kann ich dasselbe
nicht rühmen, ich konnte ihnen aber auch weder Geld noch Wechsel durch ihren
Agenten, den Löwensteinschen Geheimrat von Feder, der mir aus dieser Operation
kein Geheimnis machte, anbieten lassen.
Mein Erstes war nun, nach Erbach zu schreiben, um mir von der Wartcn-
bcrgischen Debitkommission, die ihren Sitz in Frankfurt hatte, die nötigen Rech¬
nungen und Dokumente zur Liquidirung des Wartenbergischen Verlustes zu ver¬
schaffe« und in Mosers Staatsarchiv nachzusehen. Ich fand darin, daß Graf
Johann Kasimir von Wartenberg,"^) der 1707 in den Reichsgrafenstand erhoben
worden war, wegen nicht bezahlter Kollegialprästanden aus dem Wetternnischen
Grafenkollegium 1738 ausgeschlossen worden war. Es schien mir vor allem
darauf anzukommen, ob die Reichsstandschaft des Grafen Johann Kasimir vor 1738
vollständig begründet und anerkannt gewesen sei. Ich ließ mir Abschriften der im
Reichstag befindlichen Jntroduktionsakten dieses Grafen geben, und es ging daraus
hervor, daß er nicht nur ein kaiserliches Einberusungsschreiben erhalten, sondern
auch den Gesandten des wetterauischen Grafenkollegiums eine eigne Vollmacht aus¬
gestellt hatte. Auf diese Dokumente gestützt, suchte ich in einem kurzen Aufsatz
auszuführen, daß ein Grafenkollegium einen wirklichen Reichsstand seiner Neichs-
standschaft nicht habe berauben können, dn dies dem Kaiser selbst nicht zustehe,
und ging damit zu Regierungsrat Reuß. Er las meinen Aufsatz durch und gab
ihn mir mit der Äußerung zurück, er habe wirklich nicht geglaubt, daß in dieser
Sache für den Grafen noch etwas zu thun sei, allein ich hatte den richtigen Weg
eingeschlagen und sollte nur dabei bleiben, er wäre jetzt mit meiner Ansicht ein¬
verstanden.
Am 12. November 1802 trafen die subdelegirten Konnnissarien, nämlich von
Württemberg der Geheimrat von der Luh und von Baden der Geheimreferendar
von Hofer, zu Ochseuhausen ein, und ich ging einige Tage nachher ebenfalls dahin
ab. Als ich deshalb in Regensburg Abschiedsbesuche machte, sagte mir Graf
Goldsteini „Gehen Sie nur nach Ochsenhausen, Ihr Graf bekommt doch nichts,
denn er ist kein Reichsstand mehr, aber mein Bevollmächtigter bekommt ein Em¬
pfehlungsschreiben von dem russischen Gesandten mit." Dies erinnerte mich an die
mir von Baron von Bühler bei meinem ersten Besuch gegebene Zusicherung; ich
ging geraden Weges zu ihm, bat ihn um ein Empfehlungsschreiben an die Kom¬
mission in Ochsenhnusen, und der Erfolg war, daß ich andern Tags das erbetene
Schreiben von ihm erhielt, und Graf Goldstein brachte es nur dahin, daß seiner
nebenbei darin gedacht wurde. So gerüstet kam ich zu Ochseuhausen an, wurde
aber von Geheimrat von der Luh ebenso empfangen wie früher von Regierungsrat
Neuß. Er fragte mich nämlich über Tisch — die Kommissarien und Abgeordneten
logirten und aßen zusammen in dem sogenannten Frcmdenbnu der Prälatur —:
„In welche Klasse will denn der Graf Wartenberg gesetzt sein?" „In die erste,"
erwiderte ich. „El, el! sehr bestimmt gesprochen, aber viclvatur Moser!" sagte er,
worauf ich bemerkte, die Gründe meiner bestimmten Antwort wollte ich ihm an¬
geben, wenn er mir erlauben würde, ihm auf seinem Zimmer aufzuwarten. „Das
soll mir ein Vergnügen sein," versetzte er, „denn ich nehme sehr gern Belehrung
an." Als ich ihn aber besucht und meine Gründe auseinander gesetzt hatte, spottete
er nicht mehr, und nach sorgfältigen Beratungen mit dem bübischer Kommissar und
nachdem man sich auch bei einem andern Staatsrechtsgelehrten (wahrscheinlich dem
Regierungsrat Neuß) Rats erholt hatte, wurde Wartenberg in die erste Klasse der
zu eutschädigeuden gesetzt.
Meine Liquidation der Revenüen stützte ich nicht sowohl auf Rechnungsaus¬
züge, teils Weil es mir daran mangelte, teils weil die Wartenbergische Debit¬
kommission schlecht verwaltet hatte, sondern ans den Mchcngehalt der Domänen,
Güter und Waldungen und die Ertragsfähigkeit derselben pro Morgen, in Rücksicht
ans die verschiednen Kultnrarten nach kameralistischeu Grundsätzen oder Erfahrungen.
Meine Berechnung stieg dadurch auf jährlich 52 000 Gulden, wohl das Doppelte
des wirklichen Verlustes, wurde aber von Hofrat Spittler, der zur Prüfung der
Liquidationen der Kommission beigegeben war, nicht beanstandet, sondern sogar
belobt. Da hiernach Wartenberg auf die zweiteinträglichste Prälatur Noth") An¬
sprüche macheu konnte, so nahm mich Hofrat Spittler mit, als er die Revenüen
derselben untersuchte. Die Geistlichen hielten mich für ein Mitglied der Kommission
und machten keine Einwendungen gegen meine Gegenwart bei dem Geschäft, die ich
dazu benutzte, auf möglichst geringe Ertragsberechnuugen hinzuwirken. Erst als
wir abgereist waren, erfuhren die Geistlichen, daß ich ein Abgeordneter sei, und
führten deshalb Beschwerde über Hofrat Spittler bei der Kommission, jedoch ohne
Erfolg.
Der Graf von Sickingen war längere Zeit in Pfandschaftlichem Besitz eines
Teiles der Grafschaft Wartenberg gewesen und hatte 1788 das dazu gehörige Dorf
Ellerstadt,") sowie den Aspacher- und Oranienhof verknust. Die gänzliche Berich¬
tigung des Kaufschillings und die Immission waren aber noch nicht erfolgt, als
das linke Rheinufer an Frankreich kam. Um nun die Rechte des Grafen Warten¬
berg zu sicher» und zugleich Sickingens Entschädigung in erster Klasse zu bewirken,
nahm ich die verkauften Objekte unter der Rubrik „Würtenberg für Sickingen" in
meine Entschädigungsberechnung ans. Als Sickingen dies erfuhr, kam er nach
Ochsenhausen nud protestirte bei der Kommission und bei mir dagegen, jedoch ohne
eine Abänderung zu bewirken. Da er aber zugleich der Kommission versicherte,
ich hätte die Wartenbergischeu Revenüen viel zu hoch liquidirt, und er dies ver¬
möge des lange innegehabten pfnudschnftlichen Besitzes wissen konnte, die Masse
auch zur Befriedigung aller, die Entschädigungsansprüche erhoben hatten, nicht zu¬
reichen wollte, so forderte mich die Kommission Plötzlich auf, in aller Geschwindig¬
keit Rechnungen vorzulegen. Ich erwiderte, daß ich dies nicht könne, weil die
Franzosen die Rechnungen zerstört hätten, daß ich längst meine Liquidation ein¬
gereicht hätte, ohne daß ein Anstand dagegen erhoben worden sei; und weil ich
wußte, daß die Kommission von Regensburg aus auf Erstattung ihres Berichtes
fehr gedrängt worden war und nnr noch einige Tage übrig hatte, so hielt ich es
für das Beste, um allen weitern Beseitigungen zu entgehen, eine Reise uach
Schussenried und Lindau zu machen, in der Überzeugung, daß mir die Kommission
weniger abziehen würde, wenn sie aufs Geratewohl handeln müsse, als wenn ich
diejenigen Rechnungen vorlegte, in deren Besitz ich war.
Als ich zurückkam, war der vom 29. Januar 1803 datirte Kommissivns-
bericht fertig. Wartenbergs Verlust war auf 47 Ovv Gulden jährlicher Revenüen
herabgesetzt und ihm die Abtei Noth mit einem Ertrag von 38 360 Gulden nebst
einer auf Ochsenhausen angewiesenen Rente von 81Q0 Gulden als Entschädigung
gegeben worden. Überdies erhielt „Würtenberg für Sickingen" das Dorf Bleß'^)
mit 4050 Gulden Revenüen und eine Rente von 5L00 Gulden. Ich jammerte
zwar sehr über den mir gemachten Abzug, aber innerlich sehr froh, so davon ge¬
kommen zu sein, und in der Überzeugung, daß der Verlust meines Kommittenten
mehr als reichlich ersetzt sei, eilte ich zu ihm nach München, um ihn von dem
Ausgange der Ochsenhansener Verhandlungen in Kenntnis zu setzen. Er war höchst
erfreut darüber, beschenkte mich mit einer goldnen Repetiruhr, und seiue besten
Wünsche begleiteten mich nach Regensburg. Dort galt es, dem Kommissionsbericht
die Genehmigung der Neichsdeputativn zu erwirken. Ich konferirte wieder täglich
mit dem Grafen Metternich. Wir hatten den Wunsch geäußert, die Grafen möchten
zur Besitzergreifung förmlich nntorisirt werden; dies fand aber Anstand, und während
der entscheidenden Deputationssitznng vom 12. Februar 1803 schrieb der böhmische
Gesandte Baron v. Schrank an den Grafen Metternich deshalb einige Zeilen, worauf
wir — ich war gerade wieder bei Metternich — von jenem Wunsche abstrahirten.
Metternich antwortete hiernach, und der Kvmmissivnsbericht wurde von der Deputation
genehmigt. Einige Tage später, nachdem Graf Wartenberg noch dahin gekommen
war, um sich selbst vou dem glücklichen Ansgnng seiner Angelegenheit zu überzeugen,
verließ ich Regensburg, froh über das Gelingen meines Geschäfts, aber höchst in-
dignirt über das Benehmen mehrerer Fürsten und Grafen und ihrer Geschäfts¬
männer, das ich zu beobachten Gelegenheit gehabt hatte.
Von meinem Herrn erhielt ich hierauf eine Gehaltszulage von 200 Gulden,
und der Graf von Wartenberg, nachdem er Roth in Besitz genommen hatte, machte
mir ein Geschenk von 4000 Gulden. Meine Diäten und Reiserechnungen, während
ich als sein Bevollmächtigter ogirte, beliefen sich auf 800 Gulden.
Die Bemühungen Kuapps für seine beiden Auftraggeber waren nicht von
dauerndem Erfolge gekrönt, denn schon im Jahre 1806 wurden mit der Grün¬
dung des Rheinbundes mich die Grafen von Erbnch und Wartenberg mediatisirt.
" cum das Jahr 178L) als Ausgangspunkt, das Jahr 1««;» als
Zielpunkt einer geschichtsphilosophischen Darstellung gewählt
würde, so müßte es sich darin hauptsächlich um die Wirkungen
der französischen Revolution auf die Welt und mit die wirklichen
oder vermeinten Ergebnisse des Jahrhunderts handeln, das seit
der Eröffnung der französischen Nativnalversmumlnng und dem Bastillensturm
verflossen ist. Es darf als ein großer und nicht hoch genng zu schätzender
Porzug anerkannt werden, daß ein deutscher Denker im Jahre 188!) Studien
und Betrachtungen über deu Zeitgeist veröffentlicht hat, die nicht an den
5». Mai, den 14. Juli oder den 4. Nngust des Jahres 178!» anknüpfen, sondern
den Begriff des Jahrhunderts freier und tiefer auffassend, das Erscheinen von
Kants „Kritik der reinen Vernunft" als den geistigen Beginn großer Wand¬
lungen und Umbildungen auf deutschem Boden und im deutschen Leben an¬
sehen. In dem Buche: Hundert Jahre Zeitgeist in Deutschland,
Geschichte und Kritik, von Julius Duboc (Leipzig, Otto Wigand) haben
wir jedenfalls einen ernsten Versuch vor uns, „den Zeitgeist über eine größere
Strecke Weges zu begleiten, seine Wandlungen zu beobachten und über die Ur¬
sachen und Bedingungen derselben Rechenschaft zu geben." Unter Zeitgeist
will Dr. Duboc „in Übereinstimmung mit dem Sprachgebrauch die in einem
bestimmten Zeitabschnitt herrschend gewordene tonangebende Gesamtrichtnng des
Meinens, Urteilens, Empfindens, des Geschmacks und von ihnen beeinflußt
des Strebens und Wollens" verstanden haben. Natürlich konnte er sich nicht
darüber täuschen, daß die Begrenzung seiner Darstellung ans das heimatliche
Gebiet manchen Bedenken begegnen muß, aber er macht geltend, daß die
nationale Begrenzung durchzuführen sei, „weil trotz des internationalen Cha¬
rakters der nnter einander verschlungenen Knltnrmomente jedes groß be-
anlagte und wirkende Pott schließlich sein eignem ^eben lebt und seine eigne
'
Bahn in Fußspuren beschreibt, die ihm angehören, die Abdrücke seines Wesens
sind und Zeugnisse seines Erdenwandels. Sie ist aber auch, wie mir scheint,
mit Vorteil durchzuführen, weil nur dadurch jene geschlossene, ins einzelne
reichende auffallende Übersichtlichkeit zu erzielen ist, welche mir wertvoll und
wesentlich erscheint."
Ju der That ist bei einer Aufgabe, wie sie sich Duboc stellt, eine mög¬
lichste Begrenzung um so notwendiger »ut willkommener, als der Begriff des
Zeitgeistes selbst schwankend und vieldeutig bleibt. Er erläutert ihn als „die
Persönlichkeit der Vielen," die der Persönlichkeit des Einzelnen gegenüber eine
ausschlaggebende Bedeutung habe, er verhehlt sich nicht, daß dem Einzelnen
viel mehr Zeit und Genie innewohnen könne als dem Zeitgeist, meint aber,
daß dem Einzelnen gleichwohl geschichtlich nur eine untergeordnete Rolle zu-
fallen könne. „Wenn sich dem Einzelnen die geeigneten Handhaben der Ein¬
wirkung versagen, wenn er sie verschmäht oder nicht zu benutzen weiß, so kau»
er, trotz des reichsten individuellen Lebensinhaltes, für die Entwicklung seiner
Zeit wenig oder nichts bedeuten, er kann in diesem Sinne untergehen. Was
nicht untergeht, was sich als lebendiges Kraftelement herauskrystallisirt, ist
eben der Zeitgeist." Gegen diese Erklärung würde nicht viel einzuwenden sein,
wenn der Verfasser uicht eins zu sehr in den Hintergrund stellte. Dies ist
die Wandelbarkeit lind Bestimmbarkeit der Persönlichkeit der Vielen. Wenn
wir Dnboes ans scharfen Beobachtungen und mannichfachen Studien beruhende,
überall den Ernst eines warmfühlenden Denkers offenbarende Betrachtungen
und Darstellungen aufmerksam verfolgen, so nehmen wir bald wahr, daß der
Versasser die Kraft der Minderheiten innerhalb der modernen deutschen Gesell¬
schaft und für die Entwicklung des „Zeitgeistes" stark unterschätzt. Er betrachtet,
wo seiue eigne genauere Beschäftigung mit den Zeiterscheinungen und Zeitfragen
nicht ausreicht, die Zeitungen allzu willig als getreue und unbefangene Spiegel
der gesellschaftlichen Stimmungen, der Geschmacksrichtungen, sobald es sich
darum handelt, „das geistige Gesamtleben der Stammgenosse», wie es sich in der
Gegenwart im Meinen und Urteilen, in Empfindung und Geschmack, im Streben
und Wollen gestaltet hat," zu schildern. Er vergißt, daß auf allen Lebens-
und Schaffensgebieten jene „rückläufigen Bewegungen im Zeitgeist," die er
auf seinem eigensten, dem philosophischen Gebiete, so fein und vortrefflich
beobachtet und darstellt, fort und fort stattfanden »ut stattfinden, daß die
Geschmacksurteile und Empfindungen der höher begabten Minderheit, die von
der Tagespresse entweder ganz übersehen oder in flüchtig unzulänglicher Weise
gespiegelt werden, sich nach Verlauf eiuer gewissen Zeit entweder in Bewußtsein
der Mehrheit oder in herrschende Überlieferung wandeln, sonnt „Zeitgeist"
werden müssen. Dieser Wandlungsprozeß aber ist stumm und in gewissem
Sinne selbst unsichtbar; zwischen der Zeit, wo die verehrlichen Spiegel des
Zeitgeistes Schöpfungen der Kunst oder Erkenntnisse der Wissenschaft entweder
geringschätzig ignoriren oder lüstern, »ut der, wo sie die Anerkennung derselben
Schöpfungen und Leistungen als eisernen Bestandteil der Bildung voraussetzen,
liegen Jahre und Jahrzehnte. Wollte man nnn annehmen, daß alle diese
Wasserläufe im Sande verrinnen müßten und nicht in LUvvuiri 83,ng'umhin
des Zeitkörpers umgesetzt würden, so liefe man Gefahr, dem „Zeitgeiste" gerade
alles das abzusprechen, wodurch er sich zu unserm Gluck noch vom Zeitgeist
des sinkenden Rom und Byzanz unterscheidet. Duboc denkt natürlich nicht
hieran, aber in der Besorgnis, geistige Erscheinungen mit zu schätzen, die bei
den „Vielen" noch nicht ins Gewicht fallen, geht er entschieden zu weit.
Doch gegenüber der sonstigen Bedeutung des interessante» und auch da,
wo man mit ihm nicht in Einklang ist, anregenden Buches will dieser Vor¬
behalt wenig besagen. Der Verfasser hat seiner Umschau über das Jahr¬
hundert, die sich im wesentlichen zur Umschau über die unmittelbare Gegenwart
gestaltet, das Lessingsche Wort vorangesetzt: „Wahrheit ist der Seele not¬
wendig, und es wird Tyrannei, ihr in Befriedigung dieses wesentlichen Be¬
dürfnisses den geringsten Zwang anzuthun." Es ist also zunächst ein persön¬
liches Bedürfnis unsers Verfassers, sich mit den Erscheinungen der Zeit und
namentlich mit denen auseinanderzusetzen, die übermächtig und übermütig
herandrvheud, wenn nicht unsre gesamte Kultur, doch deren mögliche friedliche
und gedeihliche Weiterentwicklung in Frage stellen. Nun ist es schwer, mit
dem Einzelnen darüber zu rechtem, wie hoch er hierbei die Stärke und Macht
namentlich der geistigen Erscheinungen anschlagen will, denen er sich entschlossen
entgegenwirft. Den Schwimmer im Strom umrauschen die Wogen, die er
teilt, anders als den Beobachter am Ufer. Und da nun der Leser eiues Buches
wie des Dubvcscheu den Einzelfragen gegenüber bald Mitschwimmer, bald
Beobachter im Trocknen zu sein pflegt, so wirkt das, was dem Verfasser als
Wahrheit gilt, bald mehr, bald minder überzeugend. Unter keinen Umständen
kann man sich aber dem Eindruck entziehen, daß hier eine tiefer angelegte, in
ernster Arbeit und stetem, Nachdenken gereifte Natur, die das Leben, die Auf¬
gaben der Menschheit wie des Einzelnen nicht leicht nimmt, nach Wahrheit
trachtet. Und so wird denn jeder Leser den Ausführungen Dubocs über „die
metaphysische Periode des Zeitgeistes," den „realistischen Idealismus der vier¬
ziger Jahre," den „Pessimismus," den „ethischen Materialismus und seine
Einwirkungen," den „naturalistischen Realismus," die „rückläufigen Bewegungen
im, Zeitgeist" und endlich über „Evolution und Revolution" willig oder un¬
willig, oft mit zustimmenden Anteil, immer mit Belehrung folgen. Unter jeder
dieser Kapitelüberschriften birgt sich eine Fülle von Einzelerörtcrungen. Greifen
wir mir ein Kapitel wie das vierte, über den ethischen Materialismus und
seine Einwirkungen, heraus. Es handelt nach einer kurzen Einleitung von dem
doppelseitigen Charakter des ethischen Materialismus, bespricht die Gründer¬
periode und die Signatur der aus ihr hervorgegangenen Gesellschaft, geht
von da auf das Kunstgelnet über, beleuchtet hiev den Naturalismus, deu
Sernalismns, zieht Turgenjew, Zola, Ibsen, Richard Wagner, sowie eine
Reihe minder berühmter Erscheinungen in den Kreis der Betrachtung, wendet
sich von Wagners musikalischen Produktionen zu den „Problemen" der freien
Liebe, der Halbwelt, der Ehe, der Familie, prüft schließlich die Umstimmung
in dem seelischen Habitus des Weibes und verhält sich zu allen diesen Fragen
und Erscheinnnge» großenteils kritisch, immer jedoch mit dem Bestreben, die
Erscheinungen selbst als notwendige Ergebnisse der vvrausgegangneu Er¬
schütterungen und Wandlungen des allgemeinen Bewußtseins, als Verkörperungen
herrschender Stimmungen zu erklären. Um eine Probe der Anschauungen und
der Ausdrucksweise Duboes zu geben, mögen hier einige Sätze seiner Charakteristik
des neueste» Naturalismus stehen. Unsre Leser, die den Standpunkt der
(^renzboteu in dieser Frage hinreichend kennen, werden wahrnehmen, daß
der Verfasser der lärmenden und anspruchsvollen Teudeuzlitteratur des Augen¬
blicks viel mehr zugesteht, als Nur je einräumen würden und könnten, aber
schließlich und in der Hauptsache doch zu der gleichen Anschauung gelangt, die
in diesen Blättern beständig vertreten worden ist. Er sagt:
Ich will einmal von dem Mischcharakter der Motive ganz absehen, welche
auf den Künstler bei seinein Hinabtauchen in die „abgründigsten Tiefen" des ge¬
sellschaftlichen Lebens bestimmend einwirken können. Denn er erhält dadurch ja
gleichzeitig einen aufregende» Stoff und einen, der sich für eine effektvolle charak¬
teristische Schilderung und eine realistische. Kraftleistung besonders eignet. Ich will
den Künstler nur als Gewissensprediger ins Auge fassen und jihmj als solchem ge¬
recht werden. Es soll also nnr der Beantwortung der Frage gelten, ob wir
denn, indem wir verneinen, daß das, was geboten und auf den Markt gebracht
wird, noch eigentliche Kunst sei, noch Kunstwerke und Ziele verfolgen, blind gegen
die wertvolle Mitarbeit der Kunst an dem Ringen der Zeit seien und wie wir
dieselbe, wenn wir sie verpönen, zu ersetzen gemeint sind. Um die Fragestellung
und die Antwort zu vereinfachen, null ich von vornherein zugeben, daß der
wünschenswerte Griff ans Herz und an das Genüssen der Gesellschaft vielleicht
wirksamer durch den realistischen, mit allen Mitteln der Darstellung die Einbildungs¬
kraft erhitzenden Roman besorgt werde» kann, als durch die nüchternen ziffermäßigen
Belege und Auseinandersetzungen von Sozialpolitikern, Volkswirten, Statistikern und
sonstigen Beamten der öffentlichen Wohlfahrt. Ich will also in diesem suae das
Vorhandensei» einer llnersetzlichkeit der sozialpolitischen realistischen Dichtung als
möglich zugeben. Ich für meinen Teil würde ihr nicht den Mund verbiete» wollen,
wenn ich es auch könnte. In diesem Zngestciudiiis liegt aber »icht die E!»räuin»ng,
daß darin Kmist, künstlerisches Schaffe», Kmistzwecke »ut Knnstanfgaben zu er¬
blicken seien. Abgesehen davon, daß eine spezielle, nicht »»mittelbar mit der künst¬
lerischen Gestaltung zuscnnmeiifallende Tendenz der Kunst überhaupt widerspricht,
wird diese Frage z» verneine» haben, wer künstlerisches Schaffen nnr innerhalb
der drei Momente für möglich hält: Ähnlichkeit und charakteristischer Ausdruck. Ästheti-
sirimg des Stoffes oder demgemiiße Auswahl, Beherrschung der Technik des künst¬
lerischen Ausdrucks. Er wird deu uiid K»»stinittelu arbeitenden revvlutimiären
Agitator für keinen Künstler halten, weil er im zweite» Pricke die künstlerische
(Grenze iiberschreilet, unbeschadet dessen, daß die. beiden andern Punkte in hoher
Vollendung vorhanden sein können. Jede hochgradig erregte Zeit hat stets an die
Kunst dieselbe Anforderung gerichtet, sich ihr zu Diensten zu stellen. Soweit sie
eS that, ward sie gepriesen, wo sie sich weigern mußte, ward sie verunglimpft und
ihren Jünger» das Verharren im Jdealbereich als kühle Ablehnung und Vornehm-
heit vorgerückt. Der künstlerische Idealismus muß sich das gefallen lassen. Er
kann eher zugeben, daß es Zeiten giebt, in denen die Kunst verkümmern
muß, als daß sie ihr Wesen zur Erscheinung bringen könne, wo ihr der Boden
dadurch entzogen wird, daß ihr zugemutet wird, sich in das sittlich und ästhetisch
Beleidigeude einzupferchen, statt von demselben zu befreien. Freilich giebt es
auch auf diesem Gebiet Affektation und Schein. Nervenschwäche, Zimperlichkeit,
Ziererei, Kouvenienzlüge und Modegeschmack können mit ihren Ansprüchen die Ma߬
stäbe für das, was als sittlich und ästhetisch beleidigend zu gelten hat, fälschen.
Diesen falschen Rücksichten gegenüber, in die. verfallen werden kann, ist derjenige
im Vorteil, der die absolute Rncksichts- und Zwanglosigkeit proklamirt, denn er ist
dann jedenfalls auch der falschen Rücksichten enthoben. Nur darf er daraus nicht
das Recht ableiten, die Richtung zu verlästern, welche dieser Verschnörkeluug des
Geschmacks statt mit dem Nnmnß mit dem Prinzip des Maßes und der innern
Wahrheit und Einfachheit entgegenstrebt.
Wir haben bezüglich des Verhältnisses der sogenannten naturalistischen
Schule zur Wirklichkeit, zur Gesamtheit unsers Lebens von Duboc wesentlich
abweichende Ansichten, aber sie fallen gegenüber der gesunden Sachlichkeit seiner
Schlußergebnisse hier nicht weiter ins Gewicht. Und wie in der berührten
Frage, wird der aufmerksame Leser noch an zahlreichen andern Stellen des
Buches ein wohlthuendes Gefühl haben, wie es durch ehrlichen Ernst und reife
Bildung immer erweckt wird. Auch wer politisch und religiös auf durchaus
anderm Boden steht, als Julius Duboc (und das dürfte bei den meisten Lesern
der Grenzboten der Fall sein), wird vor dem Wahrheitsdrange und dein selbst¬
losen Aufgehen im Allgemeinleben nur die entschiedenste Achtung hegen und
wo er vou den Untersuchungen und Erörterungen des Verfassers nicht über¬
zeugt wird, sich doch gefesselt und zu eignem Nachdenken über den Zeitgeist
angeregt fühlen.
»M,Ul5
,ScMK»?/ior einiger Zeit war ich in der angenehmen Lage, den Lesern
der Grenzboten die Bekanntschaft einer Anzahl vorzüglicher Er¬
zeugnisse der neuesten Rndirungskunst zu vermitteln, und ich
sprach damals die Hoffnung aus, nächstens auch von neuen
Photogravüren Nachricht geben zu können. Indem ich heute
dieses Versprechen erfülle, möchte ich zunächst auf einige von den Kunst¬
werken hinweisen, die im Verlage einer der berühmtesten französischen Firmen
erschienen sind. Ich meine das Haus Goupil u. Co. (jetzt Boussod, Valadon
n. Co.) in Paris. Seit ihrem Entstehen im Jahre 1827 hat diese Verlags-
nnstalt nicht nachgelassen, das Vorzüglichste zu leisten, was sich nur ermög¬
lichen ließ. Früher durch Herstellung guter Grabstichelblätter, neuerdings durch
Anfertigung fast unübertrefflicher Photogravüren hat sie es erreicht, daß sie in
dem Range der außerdeutschen Knnstinstitute obenan steht. Ja sie ist es recht
eigentlich, der die Photogravüre die Bedeutung verdankt, die ihr uuter deu
vervielfältigenden Künsten gegenwärtig zukommt. Als eine Erfindung, die in
den Werkstätten des Goupilschen Hauses selbst durch einen Herrn Rousfelon
gemacht worden ist, hat sie dort immer auch besondre Pflege gefunden; und wenn
auch anderwärts mancherlei ähnliche Verfahren in Anwendung gebracht werdeu,
so ist doch die Goupilsche Photvgravnrc unerreicht und wird es wohl auch
bleiben, so lange das Geheimnis ihrer Herstellung mit der bisherigen Strenge
gehütet wird. Was sich da den Augen des Publikums als fertiges Bild dar¬
stellt, ist das Erzeugnis einer Verschmelzung der Photographie mit dem Kupfer¬
druck. Bald vornehm kühl in schwärzlichem Grau, bald einfarbig in heitern
Tönen, bald in buntem Farbenschmucke, zeigen uns diese französischen Blätter
alles, was sich bis zur Stunde an Vervollkommnungen des Verfahrens hat
ersinnen lassen. Damit soll nicht gesagt sein, daß alles gleichwertig sei.
Meinem Geschmacke wenigstens und dein einiger Personen, deren Urteil mir
maßgebend ist, sagen die schwarzen nud einfarbig getonten Stücke mehr zu als
die bunten. Ich wühle den letzten Ausdruck mit Absicht, weil er die Eigen¬
schaft deutlich macht, die diesen Blättern einen höhern Kunstwert nimmt. So
schwierig ihre Ausführung sein mag und so gern ich zugebe, daß die Hersteller
auf diese Leistungen als auf etwas besondres hinweisen können, so wenig ge¬
nügen doch die bunten Photogravüren den Ansprüchen, die man an wahre
Schönheit der Farben stellen kann. Es bleibt eben ein Unterschied zwischen
einem Kunstwerk und einem bloßen Kunststück. Was geht es mich an, ob die
vielen Farben von einer oder von vielen Platten gedruckt siud, wenn die Har¬
monie der Farben zu wünschen läßt, wenn sie keinen Glanz haben und sich
am Ende nichts weiter darstellt als ein müßig kolvrirtes Bild? Die glück¬
licherweise heutzutage verschollenen bunten Aquatintablätter der englischen
Stecher waren ähnliche Erzeugnisse, und wie jene, werden much die bunten
Photogravüren allmählich wieder verschwinden — sie müßten sich denn noch
wesentlich ändern.
Was die Gegenstünde auf den Blättern des Goupilschen Verlages be¬
trifft, so ist klar, daß sie nicht alle auf gleicher Stufe stehen können. sendet
doch die Firma zweimal jährlich eine Menge neuer Erzeugnisse in die Welt,
und wenn schon infolge dessen die stete Auswahl wirklich bedeutender Vorbilder
schwierig wird, so muß außerdem die Geschäftspraxiö des französischen Hauses
erwogen werden, das sich zwar ein vornehmes, dabei aber doch möglichst
großes Publikum wünscht und daher jedem Geschmacke Rechnung zu tragen
sucht. So wechseln denn in bunter Folge Landschaften, Tierstücke, Genre-
szenen, Allegorien, auch mancherlei Verfängliches mit einander ab, und sogar
unsre deutschen Märchen, wie Dornröschen, Aschenbrödel und Blaubart sind
der Feder eines französischen Umdichters verfallen, um als Grundlage für
Gonpilsche Illustrationen zu dienen. Übrigens-will ich dieses Märchenbuch
nicht etwa herabsetzen. Ich habe noch nie etwas Reizenderes gesehen, als diese
Bilder, zu denen Edouard de Veanmont die Vorbilder geliefert hat. Der
Künstler entfaltet darin den ganzen Zauber seines reichen Talents und bietet
uns dessen Früchte mit so entzückenden Humor, daß wir ihm nicht böse
werden können, auch wenn er noch so tolle Dinge anrichtet. Denn stillos
sind die Beanmontschen Illustrationen in einem Maße, daß jeder schulgerechte
Kritikus darob in Entsetzen geraten muß. Der Künstler macht sich gar nichts
daraus, seine Figuren mit den Beinen in den Text des Märchens hineinragen
zu lassen; seine Pflanzen wuchern vergnügt zwischen den Druckzeilen; er treibt
es so weit, die Buchstaben an einer Stelle hinter den Dampfwolken eines
Kvchtopfes nur blaß hervorschimmern zu lassen. Aber mer könnte der Liebens¬
würdigkeit dieser neckischen und geistreichen Zeichnungen gegenüber griesgräm-
liche Einwendungen machen? Man läßt den Künstler gewähren und vergnügt
sich — das ist ja um Ende auch seine Absicht. Er hätte sie aber nicht er¬
reicht, wenn ihm nicht die Kunst der Goupilschen Werkstatt mit ihrer Vollkommen¬
heit dazu geholfen hätte.
Was mir sonst von Photogravüreu des Goupilschen Verlages bekannt
ist, reicht an die künstlerische Höhe des eben besprochenen Werkes nicht hinan.
Gleichwohl bietet jede der zwei jährlichen Ausgaben neuer Blätter beachtens¬
wertes; besonders gelungen sind die Tierstücke und Landschaften. Die Bilder
aus dem Leben der Beduinen von Schreyer, hervorragend durch die muster¬
hafte Zeichnung der herrlichen Pferde, brauche ich, da sie allbekannt find, hier
nur zu nennen. Von sonstigen Tierbildern ist sehr hübsch I,«zö ?vns^s as 1a
l'rmoessö, wobei freilich der, der den altmodischen Wunsch hat, den Titel
durch das Bild gerechtfertigt zu sehen, vergeblich uach der Prinzessin oder
nach irgend etwas suchen wird, was auf eine Prinzessin hindeutete. Unter den
Allegorien erwähne ich die Nu8iqnö 8!lor6s 8t pi-vllus, ein zweiteiliges Bild
von Dubufe, das auf einer Seite die heilige Cäcilie mit Engeln musizirend
zeigt, während ans der andern Gesang und Instrumentalmusik durch eine An¬
zahl allegorischer Frauengestalten dargestellt sind. Sehr niedlich sind die
Varmtions sur uri ttiöius vonnu, eine Anzahl von Kindergruppen, freilich ganz
in französischem Geiste gehalten, die parodistisch die verschiednen Arten der
Liebe vorführen. Von Landschaften greife ich nur zwei heraus: los viel
HomösrvAä von Horace Hooger, ausgezeichnet durch die Wiedergabe des in
tausend Pfützen glänzenden Regenwassers, und das Berniersche Bild: I>s
dor<l8 as l'lsole-. Eine Menge andrer, zum Teil sehr effektvoller Stücke nniß
ich unerwähnt lassen, weil ihre Besprechung mich allzu weit führen würde.
Wer die Leistungen des Goupilschen Verlags kennt, wird sich nicht wundern,
daß sie fast bis auf diesen Tag unbestritten die Herrschaft gehabt haben; es
gehört Mut dazu, mit solchen Leistungen in Wettbewerb zu treten. Gleichwohl
ist das Wagnis auch bei uns Deutschen mehrfach unternommen worden, freilich
nicht allenthalben mit Erfolg. Die meiste Aussicht auf ein ehrenvolles Be¬
stehen scheint gegenwärtig der Caspersche Verlag in Berlin zu haben, auf dessen
vorzügliche Produktionen ans dem Gebiete der Radirnng ich die Leser schon
neulich aufmerksam machte. Die Leitung dieses Instituts läßt sichs angelegen
sein, eine Hebung der Photogravüre in dem Sinne anzustreben, daß sie sie
ans der Reihe der bloß mechanisch nachbildenden Techniken auf die Höhe einer
wirklichen Kunstübung emporzuheben sucht. Die Verschmelzung der Phvto-
gravüre und der Radirnng, die wir bei einer ganzen Anzahl der Casperschen
Werke bemerken, ist an sich kein neuer Gedanke, auch kann jene Heizung natür¬
lich nie weiter als bis zur Hälfte des Weges gelangen; trotzdem darf man
sich darüber freuen, daß sich jemand findet, der sie unternimmt. Einesteils
kommt darin doch wenigstens einigermaßen das Bewußtsein zur Geltung, daß
das wahre Kunstwerk dem Ange und Sinn und der schaffenden Hand des
Menschen, nicht der Maschine entspringt. Andcrnteils steht trotz ihres freudig
anzuerkennenden Aufschwunges die Knpferrndirung doch noch ans schwachen
Füßen, sodnß es immer eine gewagte Sache ist, die hohen durch sie verursachten
Kosten auf die Nachbildung solcher Bilder zu wenden, die rein durch Schönheit
der Form erfreuen. Eine entsetzlich zugerichtete Madonna von Murillo, die
ich kürzlich sah, lieferte den deutlichsten Beweis dafür. Den Namen des un-
glücklichen Nadirers will ich lieber verschweigen, lind doch verdiente der
Manu Lob, deun er versuchte sich doch am Größten. Aber eS gelingt eben
nur wenigen, und darum muß die Photogravüre vorläufig aushelfen. Natürlich
nur so lange, als sie unentbehrlich ist!
Von solchen Erwägungen hat sich der Caspersche Verlag leiten lassen, als
er dasjenige Bild in Photogravüre nachbilden ließ, das sich Kaivg Kcig-um
nennt. Gemalt von Morelli in Florenz, stellt es eine thronende Madonna
dar. Die Auffassung ist etwas ungewöhnlich, modern im höchsten Grade.
Das Gesicht der in ganz schlichten Gewändern bescheiden mit gesenkten. Blicke
dasitzenden Frau hat etwas idealisirt-porträtartiges; ans ihren Armen hält sie
den Knaben, aus dessen strahlende» Augen das Heil der Welt leuchtend hervor
bricht. Entzückend ist die Beimischung von Kindlichkeit, die den überirdische»
Erdengast zugleich als irdischen Knaben zu erkennen giebt ^ die zierliche
Bewegung des kleinen Fingers der linken Hand (und was für einer Hand!)
gegen die Lippen. K-no«! ki,6<>'M!>, ist ein Werk, das ich unbedenklich neben die
beste» Schöpsimge» der italiemsche» Frührenaissa»ce stelle. Daß es gleichwohl
anders aussieht als diese, ist wohl kein Vorwurf. Oder macht man jenen
Alten etwa Vorwürfe, weil ihre Kunstwerke anders aussehen, als die der von
ihnen so hoch gepriesenen Antike?
Auch was uns sonst von Photogravüreu in dein Casperschen Kunstsalon
begegnet ist, verdient Lob, teils wegen des erlesenen Geschmacks, mit dem die
meisten Sachen ausgesucht sind, teils wegen der durchweg vortrefflichen Aus¬
führung. Einiges könnte man freilich trotz des letztern Vorzuges leicht missen.
Das kleine, „Haideröschen" benannte Gänsemädchen mit den schwarzen Haaren
und dem koketten Blick (von G. Wertheimer), das sich „gelangweilt" fühlende
Fräulein, das ihr Blumenbegießen unterbricht, um sich in ihrer Langenweile
zu einer wenig schönen Stellung auszurecken (von N. Romagnoli), und noch
einiges andre erscheint doch allzu unbedeutend und der sonstigen vornehmen
Vildergesellschaft nicht recht angemessen.
Da nimmt man das „Vorpostengeplänkel" von A. Saul schon lieber hin.
Dieser Krieger des siebzehnten Jahrhunderts, der mit der hübschen Inhaberin
einer Schenke schäkert und ganz darnach aussieht, als ob er aus dem Geplänkel
bald einen regelrechten Sturmangriff machen wollte, erinnert lebhaft an die
Gestalten Vineas, was keine schlechte Empfehlung für das Bild ist. Überaus
anmutig ist die „Interessante Lektüre," ein Werk des Jtalieners Tito Conti,
darstellend eine lesende junge Dame im Kostüm des vorigen Jahrhunderts,
das freilich nach der von Conti beliebten Art von Anachronismen nicht völlig
frei ist. Die deutsche Kunst ist durch mehrere ausgezeichnete Werke vertreten.
Ich erwähne namentlich ein vorzügliches Tierstück von C. Rud. Huber, betitelt
„An der Tränke," ferner ein reizendes Grütznersches Bild, selbstverständlich
einen Mönch darstellend, der voll Andacht im Klosterkeller das neueste Gewächs
probirt, endlich ein Bild von Hcirburgcr: „Das Bittgesuch": in seiner Studir-
stube sitzt im bequemen Lehnsessel am Tische der gestrenge Herr Rat, satt und
wohlbeleibt, die verquollenen kleinen Angen gleichgiltig blinzelnd auf den vor
ihn: sitzenden Bittsteller gerichtet. Die halbverhungerte Gestalt des letztern
hat der Künstler etwas gar zu absichtlich gebildet; dennoch ist es ein wirkungs¬
volles Genrebild, lebendig und spannend, wie der vorletzte Akt eines Dramas.
Leistungen wie die eben besprochenen kann man, mit den gemachten Ein-
schrünknngen, als Meisterwerke bezeichnen. Sollte jemand einwenden, daß
mechanische Reproduktion auf jeden Fall nur einen relativen Wert behalte, so
bin ich ganz derselben Ansicht. Wenn der Kupferstich, insbesondre die Nadirung,
die Photogravüre einmal wieder beiseite schieben sollte, so würde eben ein
schwächerer von einem Tüchtigern besiegt werden. Bis dahin bleibt mir eine
vorzügliche mechanische Reproduktion lieber, als eine mittelmäßige nicht¬
mechanische. Sollte ich damit nicht Recht haben?
er ganze Singechor der Kreuzschule bestand aus vierundfünfzig
Jungen. Außer den zweiunddreißig Alumnen waren noch zweiund¬
zwanzig da, die uicht auf dein Alumneum wohnten, sondern ans
Kosten ihrer Eltern in Familien untergebracht waren oder auch
- die Eltern selbst in der Stadt hatten, aber am Chordienst teil¬
nahmen, um freien Schulunterricht zu haben. Sie hießen „Kurrendnuer."
Diese vierundfünfzig zusammen hatten Sonn- und Wochentags den Chor¬
dienst in drei Kirchen zu versorgen: in der Kreuzkirche, in der Frauenkirche
und in der evangelischen Hofkirche oder Sophienkirche. In der Kreuzkirche
gab es Sonntags Frühgottesdienst, im Sommer um fünf, im Winter um
sechs Uhr, Vormittagsgvttesdienst um halb neun Uhr und Nachmittagsgottes¬
dienst um halb drei Uhr, jeden Wochentag dreiviertel zwei Uhr Betstunde,
außerdem Donnerstags früh um sieben Uhr Wochenkommunivn, Freitags früh
Betstunde und Sonnabends halb zwei Uhr Vesper. In der Frauenkirche war
Sonntags Vormittags- und Mittagsgottesdienst, in der Woche nichts. In der
Sophienkirche bestand eine eigentümliche Teilung. Sonntags Vormittags galt
sie als Hofkirche, da war Hofgottesdienst, eine Einrichtung, die noch aus der
Zeit stammte, wo der Hof evangelisch gewesen war; für diesen Gottesdienst
war ein besondrer Organist da, und ein besondrer kleiner Singechvr, die Kapell¬
knaben. Sie sangen aber nur Sopran und Alt, daher blickten wir mit einer
gewissen Geringschätzung auf sie hinab und nannten sie „Kapellschuster."
Mittags und nachmittags dagegen galt die Kirche als Stadtkirche, und da
hatten wir Kreuzschüler den Gottesdienst zu besorgen. Zu alledem kam dann
noch die Kurrende, Brautmessen, Leichensingen vor den Häusern und Leichen-
siugen auf den Kirchhöfen.
Um diesen vielfachen Aufgaben genügen zu können, war der Chor in ver-
schiedner Weise gegliedert. Die Alumnen allein waren in drei „Amtsparten,"
die Alumnen und die Kurrendaner zusammen in zwei „Chöre" und außerdem
in vier „Wochenparten" geteilt. Eine „Amtspart" bestand also aus zehn,
ein „Chor" aus siebenundzwanzig, eine „Wocheupart" aus dreizehn Jungen.
Jede Part war, ebenso wie die beiden Chöre, vollständig vierstimmig; sie
bestand etwa aus vier Sopranisten und zwei oder drei Mister, Tenoristen und
Bassisten. An der Spitze jeder „Part" stand ein „Vorsänger," an der Spitze
jedes „Chors" ein „Präfekt." Die beiden ersten in jeder Stimme hießen und
waren „Solofänger."
Diese ganze Einteilung wurde zu Beginn jedes Semesters, zu Ostern und zu
Michaeli, von neuem festgestellt. Wer in der Zwischenzeit die Stimme wechselte,
aus dem Sopran in den Alt, in den Tenor oder, was auch geschah, in den
Baß umschuappte, mußte bis zu Ende des Semesters in der bisherigen Stimme
weiterpfeifen. Schonung gab es da nicht. Am Semesterschluß hielt der Kantor
eine kurze Stimmprvbe ab; uach deren Ausfall wurde die Neuordnung der
Parder vorgenommen, bei der zugleich die Neulinge mit eingereiht wurden.
Ein einzigesmal kam es vor, daß der Kantor mitten im Semester einen in
eine andre Stimme steckte. Er hatte in der Siugestunde gehört, wie einer
im Sopran fortwährend „überschnappte"; da neigte er sein Haupt, horchte
herum, bis er ihn herausgefunden hatte, und führte ihn stillschweigend am
Ohrläppchen zu den Tenoristen. Freilich gab es auch Fälle, wo die Jungen
selbst so lange als möglich in einer Stimme zu bleiben suchten. Die beiden
Solofänger im Sopran führten einen besondern, sehr vornehmen Titel: sie
hießen „Natsdiskautisteu," und mit diesem Titel war eine schöne Einnahme ver¬
bunden, sie bekamen jeder allmonatlich vom Rate einen Thaler, gewiß infolge
einer Stiftung, die in alten Zeiten einmal jemand, der in die Jungen verliebt
gewesen war, gemacht hatte. Schon um dieser Einnahme Nullen, noch mehr
aber nur der sonstigen Einnahmen Nullen, die den Solvsüngeru zuflössen, suchten
sie so lange, als es die Stimme irgend hergab, in dieser Stellung zu bleiben.
Welcher Kummer, wen» dann das hohe a nur uoch mit Fistelstimme zu ermög¬
lichen war, dann auch das hö, das k, und endlich gar die Mittellage rauh und
krähig wurde, sodaß man den Natsdiskantisten spöttisch einen Raazdiskantisten
nannte!
Entworfen wurde die neue Ordnung stets vom Kantor in Gemeinschaft
mit den beiden Präfekten, und zwar in der Wohnung des Kantors, wobei es
gewöhnlich ein Fläschchen Wein gab. Die entscheidende Stimme hatten aber
doch die Präfekten, die ja die Einzelnen viel genauer kannten als der Kantor.
Daher wurden auch vorher eine Menge Bitten an die Präfekten gebracht: dn
wollte der und der Vorsänger gern den und den Sopranisten in seine Part
haben, da wollten hier ein paar Busenfreunde, dort ein paar Landsleute zu-
sammen in eine Part gesteckt fein, und was dergleichen mehr war. Wenn dann
die Präfekten mit dem frisch geschriebenen „Chorzettel" ans der Kantorwohnung
kamen — welches Gedränge um die Küchenthür auf der Tablate, wo er nach
altem Herkommen angeschlagen wurde! Da gab es frohe und enttäuschte Gesichter.
Die Einrichtung des Chorzettcls sehe ich noch deutlich vor mir. Links standen in
zwei Kolumnen die beiden Chöre, rechts oben die Amtsparten, darunter die
Wvchenparten. Arr sehn'ächstcn war es gewöhnlich um den Alt bestellt. Ich
glaube auch gar nicht, daß der Alt eine Knabeustiuune ist; eiuen wirklich
schönen Alt kann immer nur eine Frau singen. Ein Knabenalt ist nichts
weiter als ein heruntergequetschter Sopran oder ein hinaufgeschraubter Tenor,
»ud da auch im vierstimmigen Gesang, wenn er nicht figurirt ist, der Alt die
undankbarste Rolle hat, so war gewöhnlich zum Alt die geringste Neigung da;
am liebsten suchte man ihn zu überspringen.
Mit einem besondern Nimbus waren natürlich die beiden Präfektenstellen
umgeben, besonders die erste. Der erste Präfekt hatte das Prafektenbnch in
seiner Verwahrung, einen alten Quartband, den er bei seinem Amtsantritt
vom Vorgänger gegen eine Kaution von fünf Thalern erhielt, um ihn später
ebenso an seinen Nachfolger weiterzugehen. Dieses Präfektenbuch wurde den
Augen der übrigen um keinen Preis gezeigt, sein Inhalt war tiefstes Ge¬
heimnis. Das war aber auch nötig, denn wenn der Nachfolger den Inhalt
vorher gekannt hätte, hätte er sich vielleicht geweigert, es zu übernehmen: es
stand nämlich weiter nichts drin als ein paar veraltete Bestimmungen und die
vollständige Reihe der ersten Prüfekten, zurück, wenn ich nicht irre, bis an
das Ende des siebzehnten Jahrhunderts, jeder von eigner Hand eingeschrieben.
Das war ja gewiß fünf Thaler wert, doch war die Schätzung immerhin
Gefühlssache, und darum war es klug, das Schicksal des Buches noch auf
andre Weise zu sichern.
Im Frühgottesdienst in der Kreuzkirche hatten nur die Amtsparten zu
singen. Nur bei ihnen war man sicher, daß sie zu so früher Stunde pünktlich
und vollzählig zu haben waren. Aller drei Wochen also mußte der Alum¬
nus auch Sonntags frühzeitig ans den Federn, die beiden andern Sonntage
konnte er ausschlafen. Am schlimmsten waren auch hier wieder die Kleinen
dran. Der letzte in jeder Part hatte das Amt des „Aussteckers." Es war
das eine ganz abscheuliche Einrichtung. Die Aufgabe des kleinen Burschen
bestand darin, etwa eine Viertelstunde vor Beginn des Gottesdienstes in die
Sakristei zu gehen, dort deu „Liederzettel" zu holen, den der Kirchendiener (wir
bezeichneten ihn mit einem etwas despektirlichen Namen, den ich hier nicht
wiedergeben kann, den aber jeder „Letzte" in der Part, in der Kammer, wie
in der Schulklasse führte) vorher aus der Wohnung des Geistlichen geholt
hatte, und nun die Liederuummern an den schwarzen Tafeln, die auf der
Empvrkirche an mehreren Säulen angebracht waren, „aufzustecken." Diese
Tafeln waren drehbar. Um die Nummern auswechseln zu können, drehte man
die Tafel von der Säule herum bis nu die Emporenbrüstung, trat auf die
Brüstung und nahm nun die alten Ziffertäfelchen heraus, um die neuen ein¬
zuschieben. Nun denke man sich, daß diese so herumgeschlagene Tafel in keiner
Weise — etwa durch einen Haken — an der Brüstung befestigt werden konnte,
daß die Oberfläche der Brüstung etwas schräg war, um Gesangbücher darauf
legen zu können, daß man auf dieser schrägen Brüstung stehend mit der einen
Hand die Ziffertäfelchen zu wechseln, mit der andern die Tafel zu halten und
sich gleichzeitig daran anzuhalten hatte, und man wird verstehen, warum ich
die Einrichtung abscheulich genannt habe. Daß in deu acht Jahren meiner
Alumnenzeit bei diesem Ausstecken kein Unglück vorgekommen ist, daß so ein
kleiner Ausstecker nicht einmal von der Brüstung hinunter ins Schiff und
in die Kircheubänke gestürzt ist, daß ich selber nicht hinuntergestürzt bin
— denn ich habe das Ausstecken hundertmal besorgen müssen —, ist mir heute
ein reines Rätsel. Jetzt überlänfts mich schon, wenn ich mirs nnr wieder
vorstelle.
In den Amtsparten hatte aber der Ansstecker auch noch das Amt des
„Weckers." Er mußte sich am Sonnabend Abend beim Bambel melden und
war nun der erste, der am Sonntag früh etwa eine halbe Stunde vor Beginn
des Gottesdienstes aus den Federn geholt wurde, um dann die übrigen
zu wecken, die zur Part gehörten. Du lieber Gott, war das eine Not!
Man sollte sich selber in wenigen Minuten zum Chordienst ankleiden, in¬
zwischen noch drei- bis viermal von Bett zu Bett laufen, um die Part aus
dem Schlafe zu rütteln, und dann noch rechtzeitig in der Kirche sein, um das
Ausstecken zu besorgen! Zum Glück gab es in jeder Part einen „Nachwecker";
das war der Vorletzte. Ehe man in die Kirche hinüberlief, überzeugte man
sich, daß wenigstens der Nachwecker wirklich aus dem Bett war, und überließ
es dann dem, die übrigen vollends herauszubringen. WnS dem Nachwecker
nicht gelang, mußten schließlich die Glocken besorgen. Sowie die Glocken zu
läuten anfingen, sprangen die Letzten ans den Betten, fuhren wie der Teufel
in die Hosen und standen, wenn das Orgelvorspiel vorbei war, richtig noch zum
ersten Liedervcrs auf ihrem Platze. Der Organist dehnte schon sein Vorspiel
ein bischen aus, bis alle dawaren, und die Kirchgänger konnten sich das auch
gefallen lassen, denn der Alte war, bei all seiner äußerlichen Unscheinbar¬
keit, ein Musikus recht von Gottes Gnaden und phantasirte herrlich. Einmal
geschah aber doch das Unerhörte: der Nachwecker verschlief es, und ich war
der Unglückselige, den die Verantwortung traf! Ich hatte ihn, bis ich zum
Ausstecken lief, nicht aus dem Bette bringen können, hatte ihm aber zuletzt
noch el>? paar Kutsche auf seine feisten Schenkel versetzt, in der Hoffnung, daß
die eine Weile nachwirken würden. Aber die Glocken hatten ausgeläutet, der
Organist hatte sein Vorspiel schon so lang gemacht, daß es anfing, auffällig
zu werden, und noch immer ließ sich niemand weiter ans dem Chöre sehen.
Wir entschlossen uns endlich — wir, der Organist und ich! —, das Lied
anzufangen. Ich saug, so laut ich konnte, um die ganze Part zu ersetzen.
Vielleicht merkts niemand, dachte ich. Aber ich hatte kaum einen Liedervers
gesungen, so erschien auf dem Altarplatz in der Sakristeithür das lockige Haupt
des Kirchendieners. Er mußte die Sachlage sofort durchschaut haben, denn
er ist dann — wie nur erzählt wurde — hinüber in die Schule gekommen,
dort schreckensbleich im Schlafsaal erschienen und — er war ein ängstliches
und dabei sehr höfliches Männchen — zitternd in die Worte nusgebrochen:
„Meine Herren, Sie mvchtens wohl verschlafen haben, der Ansstecker singt
ganz alleine drüben!" Da kamen sie denn endlich.
Dreimal im Jahre aber sprangen wir alle vergnügt aus den Betten:
zum Turmsingen am ersten Feiertage der drei hohen Feste. Das war doch
immer aufs neue wieder ein Gaudium.! Zu Ostern und zu Pfingsten um
vier Uhr, zu Weihnachten um fünf Uhr zog die ganze Schar die enge steinerne
Wendeltreppe des Kreuzturms hinan. Alle Glocken läuteten, auch die große,
die nur an Festtagen bei vollem Geläute drankam. Die dicken Turmmauern
schienen zu zittern. Immer näher kam das Summen und Brummen. Jetzt
— man hörte sein eignes Wort nicht mehr — gings an der offnen Thür des
Glockenbodens vorbei, da schwangen, an mächtigen Seilen gezogen, die Glocken
auf und nieder, und dann noch höher hinauf, während der Schall wieder
dumpfer wurde, bis zur Türmerwohnung. Hier ein kurzes Verschnaufen —
dann gings hinaus auf den von eisernem Geländer geschützten Umgang, wo
schon die Bläser des Stadtmusikchors unser harrten. Welches Vergnügen,
von dort oben an einem schönen Pfingstmorgen die Stadt zu überschauen, deu
Altmarkt zumal, der von Menschen wimmelte, denn auch sür die Bürgerschaft
war ja das Turmsingen immer eine Freude; viele, die sich zu einem Pfingst-
ausflug aufgemacht hatten, wollten auf dem Markt erst noch den Pfingstchoral
mitnehmen, der aus der Höhe herniederklang. Zu Weihnachten freilich, da sah
es anders aus. Da zogen wir hinauf wie eine Schar vermummter Schreck¬
gestalten, im Schlafrock, darüber den Winterflaus, dicke Shawls um Hals und
Ohren gewickelt, und oben war manchmal eine Kälte, daß den Bläsern die
Instrumente einfroren und sie aller drei, vier Töne überschnappten. Aber ein
Gaudium wars doch!
Den Svnntagsvormittagsgottesdienst hatten die beiden ciudern Amts¬
parten zu besorgen; die Knrrendaner wurden zur Hälfte in die Kreuzkirche, zur
Hälfte in die Frauenkirche geschickt. Für die vier Mittags- und Nachmittags-
gottesdieuste waren die vier Wochenparten bestimmt, die aber auch einander
so nachrückten, daß innerhalb von vier Wochen jede Part einmal an jeden
Gottesdienst kam. An manchen Sonntagen war man also um ein Uhr, an
manchen erst um vier Uhr fertig. Ähnlich waren die Betstunden und der
sonstige Wochengottesdienst verteilt, auch da kam jeder einmal an jedes. Einzelne
Vertauschuugen und Stellvertretungen waren mit Genehmigung der Vorsänger
gestattet.
Bei den Betstunden wurden die Lieder ohne Orgelbegleitung gesungen.
Der Vorsänger stimmte einfach den Choral an, und fofort wurde vierstimmig
eingesetzt. Manche Vorsänger bedienten sich, um richtig anfangen zu können,
einer Stimmgabel. Doch galt das im allgemeinen nicht für ehrenvoll,
der Vorsänger sollte so viel Musik im Leibe haben, das; er ohne weiteres jeden
Ton angeben konnte. Man riskirte das anch, nur stellte sich dann manchmal
nach zwei Zeilen heraus, daß man viel zu hoch oder viel zu tief angefangen hatte:
der Diskant konnte nicht hinauf oder der Baß uicht hinunter. In der Kreuz-
kirche befand sich am Notenpult in der Mitte des Chors ein drehbarer eiserner
Leuchter. Daran war irgendwo ein Eiseuplüttchen los, das, wenn man es
mit dem Finger anschnippte, in Schwingungen geriet und das schönste a
summte. Dieses Plättchen war der heimliche Tröster aller Vorsänger und hat
manches Unheil verhütet.
Daß wir bei all dem vielen Kirchengehen nicht mit Erbauuugsstoff über¬
füttert wurden, dafür sorgten wir selbst. Von hundert Predigten haben wir
keine zehn mit angehört. Wenn der Prediger auf die Kanzel gestiegen war,
mußten wir zwar zunächst noch ein paar Minuten aushalten; denn wenn
er seine Einleitung gemacht und das „Thema" und die üblichen „drei Teile"
genannt hatte, wurde ja erst noch der „Kanzelvers" gesungen. Sowie aber
von dein der letzte Ton verklungen war, überließen wir die weitere Ausführung
der drei Teile dem Prediger und der Gemeinde, und die ganze Part ver¬
schwand aus der Kirche — geduckt und auf den Zehen, um jedes Geräusch zu
vermeiden, was leider doch nicht immer gelang, denn es gab in den alten
vertrockneten Chorpodien Stellen, die niederträchtig knackten, wenn man auch
noch so leise auftrat. Wie lange die Predigt dauern würde, wußten wir sehr
genau; jeder Prediger hatte sein bestimmtes Maß. Des einen Worte loderten wie
Feuerflammen, aber in längstens fünfzehn Minuten war alles niedergebrannt;
ein andrer — wir nannten ihn den „Damenprediger" — brauchte zwanzig
Minuten, bis er sich auf deu Wellen seines schönen, hohen Barytons satt ge¬
schaukelt hatte; ein dritter ließ seine Mühle eine volle halbe Stunde klappern.
Weit entfernten nur uns ja nicht. Im Sommer schlenderten wir ein paar
mal um die Kirche oder lehnten an der Kirchthür, im Winter wärmten wir
uns irgendwo, während der Frühpredigt natürlich drüben auf dem Alumueum
beim Kaffee — denn an Kirchenheizung dachte damals noch niemand, empfanden
wir es doch schon als eine ganz gotteslästerliche Neuerung, als in der Kreuz¬
kirche Gasbeleuchtung eingeführt wurde und die Kirchenbesucher uicht mehr
nötig hatten, im Frühgottesdienst im Winter ihr Lichtchen neben dem Ge¬
sangbuch aufzupflanzen. Im Notfall war auch der Organist da, der stets in
der Kirche blieb und ein paar Vvrspielgriffe mehr that, bis wir alle wieder
beisammen waren. Manchmal gab es freilich auch hier ein Unglück. Einem
Prediger war der Faden etwas eher ausgegangen, als wir gedacht hatten, und
der Organist mußte auffällig lange spielen, um die Lücke auszufüllen. Da
wurde dann wieder einmal eingeschärft, daß wir während der Predigt unbe¬
dingt auf dem Chöre zu bleibe» hätten. Aber nach ein paar Wochen bröckelte
doch wieder einer nach dem andern ab, der Vorsänger voran, die andern
hinterher. Es war aber mich durch das Dableiben nicht jedes Unglück aus¬
geschlossen. Die Kapellknaben der Sophienkirche hatten für den Winter große
schwarze Filzschuhe, sogenannte Bärlatschen, in die sie gleich mit den Stiefeln
fuhren. Sie schlössen sie gewöhnlich ein, damit wir sie nicht mitbenutzen
könnten. Einmal waren aber doch ein paar stehen geblieben und wurden nun
für uns während der Predigt zu einem willkommenen Spielzeug: wir sackten
sie uns gegenseitig mit den Fußspitze» zu. Nun lag der Altarplatz in der
Sophienkirche dem Chor nicht gegenüber, sondern zur Rechten des Chores,
auf derselben Schmalseite der Kirche. Da wollte es das Unglück, daß ein
solcher Latsch über die Chorbrüstung flog, hinunter auf den Altar, unmittelbar
vor das Kruzifix! Wir waren starr vor Schrecken und völlig ratlos; das
Ding war ja auf keine Weise dort wieder wegzubringen. Nach der Predigt
kam der Geistliche zur Liturgie und sah die Bescherung. Die ganze Part
wurde in die Sakristei bestellt, wir erzählten offen und ehrlich, wie alles zu¬
gegangen war, im Innern mag wohl auch der Geistliche gelacht haben, wir
erhielten aber doch eine niederschmetternde Strafpredigt und zitterten noch lange
vor den Folgen, die glücklicherweise ausblieben.
An manchen Sonntagen — und vor allem natürlich an den hohen Fest¬
tagen — war vormittags Kirchenmusik, wobei das Stadtmusikchor den Orchester¬
teil besorgte. Dazu mußte, solange die Kantate oder was es nun war, dauerte,
die Part, die den Frühgottesdienst gehabt hatte, sich zur Verstärkung einfinden.
Beide Chöre zusammen aber — also alle vierundfünfzig — waren uur in der
Souuabeudsvesper in Thätigkeit, wo in der Regel eine Motette und dann,
nach einer kurzeu Liturgie, eine Arie, beides » eg.Mölbi., d. h. ohne Musik-
begleitung, gesungen wurde. Die.Kirchenmusiken leitete der Kantor selbst, die
Vesper Woche um Woche abwechselnd der erste und der zweite Präfekt.
Nur diese Kirchenmusiken und Vespern waren es denn auch, die im Laufe
der Woche einige Vorbereitung in Gestalt von „Singestuudeu" zu erfordern
schienen; die Chorüle des gewöhnlichen Gottesdienstes bedurften keiner Übung.
An einem der ersten Wochentage, oft auch erst an einem der letzten, war nach
dem Vormittagsunterricht „Siugestunde." An welchem Tage, das hatte, so¬
weit es sich um die Vorbereitung zur Vesper handelte, der Präfekt zu be¬
stimmen, der die Woche hatte; er bestimmte auch die Motette und die Arie,
die um Sonnabend gesungen werden sollten. War eine Kirchenmusik in Sicht,
so setzte der Kantor eine Siugcstuude an, der übrigens jeden Vormittag in
der „großen Freiviertelstuude" durch deu „Kantorfamulus" in seiner Wohnung
— er wohnte gleich neben der Schule in dein schmalen Schulgäßcheu — be¬
grüßt und um seine etwaigen Wünsche und Anordnungen befragt werden
mußte. Die Stellung des Kantorfamulus war eine beneidete Ehren- und
Vertrauensstellung, zu der sich der Kantor stets ein flinkes und freundliches
Bürschchen, gewöhnlich den zweiten Natsdiskantisten, aufsuchte. An vielen
Tagen wurde er gleich um der Snalthür abgefertigt mit dem Bescheid: „Es
ist nichts heute." An andern wurde er aber auch hereingerufen, erhielt dann
mündlich die Weisungen des Kantors, zugleich den etwa mitzunehmenden
Notenpack und, wenn das Glück günstig war, auch ein Glas Weißwein, ja
sogar eine halbe Vuttersemmel mit geschabtem rohem Rindfleisch, denn der
Kantor pflegte um diese Stunde auf seinem roten Plüschsofa zu sitzen und zu
frühstücken.
Nach Schluß des Vvrmittagsnnterrichts versammelte sich der ganze Chor,
Alumnen und Kurrendauer, oben auf dem Alumueum. Da zog der Präfekt
die.Klingel und rief dabei entweder: „Nichts zu singen"! oder: „Alle Singe-
stnnde"! worauf entweder alle vergnügt aus einander stoben oder, weniger
vergnügt, sich hinunter in den Singesaal verfügten. An einem der letzten
Wochentage, meist am Donnerstag oder Freitag, kam dann der Kantor selbst
zur Singestunde, hörte sich an, was der Präfekt eingeübt hatte, Probirte wohl
auch an diesem Tage erst, Wenns nicht schon früher geschehen war, die Kirchen¬
musik für den Sonntag.
Im allgemeinen wurde nicht viel geübt. Von einer Übung, um zu üben,
war nie die Rede. Von den kleinen Neulingen, die zu Ostern oder zu Michaeli
in den Chor eintraten, galt im eigentlichen Sinne das Wort: „Wie die Alten
sungen, so zwitschern anch die Jungen." Der Kantor sah bei der Aufnahme
nur auf hübsche Stimme, „Gehör" und ein klein wenig musikalische Vorbil¬
dung. Irgend welchen Unterricht gab es nicht für sie, sie wurden mitten
drunter gestellt unter die Übrigen, und in wenigen Monaten sangen sie alles
tapfer mit. Der Umkreis dessen, was gesungen wurde, war freilich uicht groß.
Er bestand in der Hauptsache aus einem Bande Motetten — vielleicht vierzig —
und einem Bändchen Arien — vielleicht fünfzig —, von denen manche noch
dazu nie drankamen; wie bald war man da herum und konnte wieder von vorn
anfangen! Die Singestnnden waren deshalb auch nicht sehr beliebt, besonders
wenn, wie es freilich bisweilen vorkam, recht unmusikalische Präfekten an der
Spitze standen. Das Präfektenamt war nämlich ein reines Aneiennitätsamt.
Präfekten waren stets die beiden obersten Primaner des Singechors; ob sie
besondre Befähigung dazu hatten, darnach wurde nicht gefragt, sie waren an
der Reihe gewesen, mußten also verbraucht werden. Was konnte ein solcher
Präfekt dem Chöre viel lehren? Er trat eben hin und fuchtelte mehr oder
weniger anmutig mit dem Taktstock in der Luft herum, und wir sangen. Wenn
v- dastand, sangen wir leise, wenn k. dastand, sangen wir laut, und auf ein
leidliches oresoLiuto und äLeröseoriäo verstanden wir uns auch. Mit Ton-
bildung, Aussprache, Atemverteilnng, gar mit „Phrasirung," wovon jetzt so
dick geschwafelt wird, belästigte uns niemand. Von den wohlfeilen Mätzchen,
mit denen sich heute jeder lumpige Gesangverein spreizt: dem unnatürlichen
Unterdrücken der unbetonten Silben, dein ruhen Kontrast zwischen Fvrtissimo-
gebrüll und Piauissimogesä'nsel und ähnlichem wußte man damals überhaupt
noch nichts. Machten wirs gut, so machten wirs eben von selber gut, weil
es uns so gefiel, weil es uns so am hübschesten zu klingen schien, und
weil es immer so gemacht worden war. Es kam vor, daß der Präfekt,
wenn eine Motette durchgesungen war, uicht ein Sterbenswörtchen dazu
zu sagen wußte, wir hätten sie wahrscheinlich ohne Probe am Sonnabend
genau so gesungen — wozu also die Singestnnde? Es gab aber doch auch
musikalischere Präfekten, die die hergebrachte Aufgabe einmal etwas anders
auffaßten und anfaßten, die über die oder jene Stelle einen Wink zu geben
wußten, sie wiederholen ließen, hie und da die Stimmen einzeln singen ließen,
wohl gar — norrivilv M(tlo! — neue Motetten brachten, die noch nie gesungen
worden waren, an der Klingel den unerhörten Ruf ertönen ließen: „Sopran
und Alt Singestunde!" u. ahnt. Die erregten dann natürlich anfangs etwas
Mißvergnügen, aber schließlich waren sie uns lieber als die unmusikalischen,
bei denen alles, wie von selber, in den hergebrachten Gleisen trottete.
Etwas mehr zu üben und zu probiren gab es in den acht oder vierzehn
Tagen vor Ostern, Pfingsten und Weihnachten. An den drei hohen Festen
waren an beiden Feiertagen fast alle Gottesdienste mit Kirchenmusik ausgestattet.
Dazu kam, daß am Karfreitag stets ein „Oratorium" aufgeführt wurde — etwa
Beethovens „Christus am Ölberge" oder Hahdns „Sieben Worte des Erlösers
am Kreuze." Dazu mußten doch ausnahmsweise etwas größere Anstrengungen
gemacht werden, der Kantor hielt da öfter selbst einmal eine Singestnnde ab,
wobei wir seine Geschicklichkeit, aus der Partitur — er hatte nie Klavier¬
auszüge! — eine klangvolle, alles Wesentliche erschöpfende Klavierbegleitung zu
schaffen, immer aufs neue bewunderten, und endlich wurde dann eine große,
gewöhnlich einen ganzen Vormittag ausfüllende „Musikprobe" mit dem Stadt-
mnsikchvr abgehalten, bisweilen in der Kirche, oft aber auch uur im Singc-
saal der Schule, obwohl in der Kirche die Sänger und Spieler ganz anders
aufgestellt waren als im Saale, also sehr leicht einmal hätte „umgeschüttet"
werden können. Es kam aber selten ein Unglück vor; höchstens daß einmal
einer von den Bläsern, die auf dem linken Seitenchor standen und daher der
zusammenhaltenden Gewalt der Tnktstockspitze und der Blicke des Kantors etwas
weiter entrückt waren, an unrechter Stelle dazwischenfuhr. Freilich entsinne
ich mich auch des peinlichen Vorgangs, daß ein Chorsatz — ich glaube gar,
es war in einem Karfreitagsvmtorium — infolge der Unsicherheit des Orchesters
vollständig in Verwirrung kam, der Kantor abklopfen und, während sich die
Köpfe aller Zuhörer ängstlich uach dem Chöre richteten, den Satz von vorn
beginnen mußte.
Eine ganz eigentümliche gottesdienstliche Aufgabe war endlich noch die
„Büttelei," d. h. der Gesang beim Gottesdienst im Gefängnis. Aller vier
Wochen, glaube ich, fand an einem Wochentage früh im Gefängnis ein regel¬
rechter Gottesdienst mit Predigt statt, zu dem eine kleine Anzahl Chorschüler
kommandirt wurden. In einem engen Betzimmer saßen, getrennt und hinter
hohen Ständen abgeschlossen, die gefangenen Männer und Frauen; für uns
stand eine kleine Bank neben der Kanzel, den Mädchen gegenüber. Es war
immer eine schaurige Stunde für uns. Bald malten wir uns aus, daß einer
von den Graukitteln, deren Kopfe dort über die Holzwand schauten, ausbrechen
könnte, bald beschäftigten uns die Gesichter, Thaten und Schicksale der zum
Teil sehr hübschen Sünderinnen, die uns gegenüber saßen und die jedesmal in
lautes Schluchzen ausbrachen, wenn der Prediger sich besonders um sie wandte
und ihnen ins Gewissen redete. Wir waren froh, wenn wir wieder in der
freien Luft waren — auch schon unsrer Nasen wegen, denn das ganze Haus
roch nach armen Sündern.
Damit wäre wohl erschöpft, worin unsre gottesdienstlichen Aufgaben be¬
standen. Nun die außergvttesdienstlichen. Was wir „Kurrende" nannten, war
nur noch ein kümmerlicher Überrest der Einrichtung, die es ehemals gewesen
war, vielleicht nicht einmal das, vielleicht nur die Übertragung des alten
Namens ans etwas andres. Mit Kurrende bezeichnet man ja eigentlich die
Sitte, daß die Chorschüler um gewissen Festtagen Choräle und Lieder singend
dnrch die Straßen zogen. Das war zu meiner Zeit längst abgekommen.
Kurrende nannten wir folgendes. An einzelnen Sonntagen lief der ganze Chor,
Alumnen und Kurrendancr, unmittelbar nach Schluß des Vvrmittagsgvttcs-
dienstes vor einige in Altstadt am Markt und in der Nähe des Marktes gelegene
Hänser, eins auf der Schloßgasse, eins ans der Weißengasse u. s. w. — es waren
drei oder vier —, stellte sich im Halbkreis um die Hausthür, der Präfekt an
die Thür, und sang eine Motette oder Arie. Wahrscheinlich lagen alte Stif¬
tungen zu Grunde; irgend jemand hatte in alter Zeit ans ein Haus ein
Darlehen, eine Hypothek gegeben, aber leine Zinsen genommen, sondern die
Zinsen um die Schule gewiesen und sich dafür das Singen ausbedungen. Uns
war die Einrichtung im höchsten Grade unangenehm. Ans mehreren Gründen.
Erstens raubte sie vielen die kurze Erholungspause zwischen dem Vormittags¬
und dem Mittagsgottesdienst und ließ ihnen kaum ein paar Minuten zum
Essen übrig. Der Hauptgrund aber war die garstige Prostitution vor dem
Sonntagspublikum. Ich muß hier mit ein paar Worten unsrer Kleidung ge¬
denke».
Als ich 1854 Chorschüler wurde, war unsre vorgeschriebene Kleidung für
alle chordienstlichen Handlungen Frack und Zylinder! Ich sehe mich noch als
zehnjährigen Jungen, wie ich zum erstenmale während der Mittagspredigt
vor der Sophienkirche auf dem Straßenpflaster stand und in der Mittagssonne
meinen eignen Schatten in Frack und Zylinder bewunderte. Zu beiden gehörte
eigentlich noch ein Drittes, nämlich ein Chormantel ans schwarzem Mohair,
ohne Schnitt, ein Ding, etwa wie es einem der Haarschneider umhängt. Aber
dieser Chvrmcmtel wurde bei der Aufnahme nur erwähnt, drauf gedrungen
wurde nicht mehr, und so schaffte sich ihn auch niemand mehr an. Es gab
aber noch eine Anzahl aus frühern Jahren in den kleinen Kurrendanerschränken,
die auf der Tablate standen, und in denen die Knrrendaner für unvorher¬
gesehene Fälle Zylinder, Frack und Gesangbuch aufbewahrte»; da lagen auch
noch ein paar solche Mäntel, und ich habe selbst noch einige von uns in diesen
dünnen, fadenscheinigen Lirepipien beim Straßcnsingen herumlaufen sehen.
Für gewöhnlich nun, und auch zum Gottesdienst, brauchten wir nur im dunkeln
Anzüge zu gehen. Dazu trugen wir eine grüne Mütze, die in Dresden sehr
geschickt und sein angefertigt wurde, noch geschickter und feiner in Leipzig bei
der Witwe Saft in Auerbachs Hof, von wo, wer das Geld dazu übrig hatte,
sich alljährlich eine neue kommen ließ. Es waren das noch wirkliche Mützen,
weich, nach wenigen Wochen des Gebrauchs sich in hübschen Falten zusammen¬
setzend, nicht solche Jammertöpfe mit Rohr und Pappe, wie man sie hente
trägt. Aber bei allem Straßensingen, auch beim Kirchhofssingen, war der Zy¬
linder vorgeschrieben. Nun denke man sich, daß wir in diesem Auszüge, der
uns selber lächerlich war, Sonntags vormittags um elf Uhr an einem Hanse
auf der Schlvßgasse, wo schon damals um diese Zeit die vornehme Welt flanirte,
uns vor die Hausthür stellen und singen sollten! Als kleiner Kerl verschwand
man ja unter den übrigen und steckte die Nase ins Notenbuch. Aber als
Präfekt da stehen, dirigiren und sich angaffen lassen zu müssen — es war
abscheulich. Kein Wunder, daß die Kurrende so selten wie möglich, nur aller
vier bis sechs Wochen einmal abgehalten wurden, und daß uns der Ruf an
der Klingel: „Alle Kurrende!" wohl das verhaßteste Kommando war. Mit¬
unter vergingen sogar Monate, ehe einmal an die Kurrende gedacht wurde;
wenn sie nnr nicht ganz einschlief.
Das Hans auf der Schloßgasse wechselte zu meiner Zeit einmal seinen
Besitzer, und der neue — seines Zeichens ein Schneider — mochte bei der
Übernahme uuter alten Papieren mich die Stiftungsurkunde unsers Singens
gefunden haben, er bestand plötzlich auf seinem Schein und verlangte, daß
wir jeden Sonntag vor seinem Hause singen sollten. Das Schnlarchiv war
natürlich auch im Besitz der Urkunde, es wurde nachgesehen, und siehe da, der
Mann hatte Recht. Aber in der Urkunde stand nur von einem Liedervers
etwas, und wir hatten doch immer eine lange Motette gesungen. Da gingen wir
denn wirklich einige Sonntage hinter einander hin und sangen unsern Liedervers.
Das hatte der gute Mann nicht erwartet. Er bat, wir möchten wieder kommen,
so oft wir wollten, aber nur ja eine Motette singen, und so kehrten wir denn
bereitwillig zu der frühern Einrichtung zurück.
Außer dein regelmäßigen Chordienst gab es nun aber noch unregel¬
mäßigen, außerordentlichen. Dazu gehörten vor allem die Leichensingm. Diese
Waren von doppelter Art. Die einen führten den seltsamen Namen „Extra"
und hatten große Ähnlichkeit mit der Kurrende. Wenn nach Schluß des Vvr-
mittagsnnterrichts an der Klingel der Ruf ertönte: „Erstes Chor Extra!" — zu
unsrer Schande muß ich gestehen, daß „Chor" in unserm Sprachgebrauch
als Neutrum behandelt wurde —, so waren wir anch nicht gerade erbaut.
Der erste Chor machte sich dann unter Führung seines Prnfekten nach dem
Sterbehcmse auf, von wo das Singen bestellt worden war; dort bildeten wir
wieder den üblichen Halbkreis um die Hausthür und sangen zwei Sterbelieder
aus dem Gesangbuch und eine Trauerarie. Für diese Leistung wurden — zwei
Thaler bezahlt, wovon der führende Präfekt fünfzehn Neugroschen und der
Kantor, der inzwischen ruhig zu Hause auf seinem Sofa saß, auch fünfzehn
Neugroschen bekam; der zweite Thaler wanderte in die „Chvrkasfe." Wo sich
diese befand, wer sie verwaltete, was daraus bezahlt wurde, habe ich nie er¬
fahren; nur fragten damals auch nicht darnach. Die Leute, die sich solche
Extra singen ließen, waren meist Kleinbürger, die noch an den Gebräuchen der
Altvordern festhielten; sie wohnten auch meist in der innern, alten Stadt, sodaß
wir nicht weit zu laufen hatten. Es kam aber doch auch vor, daß wir weit
hinaus in die Vorstadt mußten, der Präfekt ^.«xsz« ^jZ«s voran, die schwarze
Schar in kleineren Schritten eilig hinterher. Dann fragten wir Wohl ungeduldig:
„Wo ist es denn? weiß es keiner, wos ist?" bis endlich der Präfekt, der sich
in vornehmes Schweigen hüllte oder höchstens einigen der Obern Aufschluß
gab, an der betreffenden Hausthür Halt machte.
Bisweilen geschah es, daß solche Singen für den Abend bestellt wurden,
mit Fackeln. Das ließ man sich schon eher gefallen, das war doch eine
interessante Abwechslung. Wir mußten die qualmenden Pechfackeln während
des Singens selber halten, und das war ein Hauptspaß. Bei solchen „Fackcl-
singen" wurde auch zur Schonung der Kleider alles hervorgesucht, was noch
von alten Chormänteln aufzutreiben war.
Vornehmer, beliebter und zahlreicher als die Extra waren die Singen
auf den Kirchhöfen bei Begräbnissen. Sie hatten einen noch wunderlicheren
Namen: ein solches Leichensingen beim Begräbnis hieß ein „Bär" — ich
schreibe das Wort, so wie wirs sprachen. Vom Brumm- und Tanzbär unter¬
schied es sich sprachlich uur in der Mehrzahl: die hieß nicht Bären, sondern
Bäre. Woher dieser seltsame Name stammen mochte, die Frage hat uns viel
beschäftigt. Der Bär wurde nur von einem Doppelquartett gesungen, und
zwar immer vou denselben acht, nämlich von den beiden Präfekten und sechs
Solvsängern. Der Idee nach sollten es wohl eigentlich aus jeder Stimme die
beiden besten Sänger sein, und die waren es ja auch unzweifelhaft im Sopran
und im Alt. Nun sollten und wollten aber doch auch stets die beiden Prä¬
fekten dabei sein, denn die Bäre bildeten das Jahr über eine fette Einnahme,
das Geld dafür floß nicht in jene geheimnisvolle Chvrkasfe, sondern in die
Tasche» der Sänger. Man konnte aber doch auch im Tenor und Baß
wenigstens den ersten Solofänger nicht ausschließen. Wenn beide Präfekten
zufällig von nennr Tenoristen gewesen wären, so wäre der Solofänger im
Tenor um seine Bäre gekommen. Die Sache wurde also, wenn irgend möglich
— und es mußte möglich sein —, so eingerichtet, daß der eine Präfekt Tenor,
der andre Baß sang, so sehr sich auch vielleicht ihre Stimme ihre „stimm¬
liche Veranlagung" würden unsre Herren Kritiker jetzt schreiben dagegen
sträubte. Bezahlt wurden sür einen Bär vier Thaler. Davon bekam der erste
Präfekt fünfundzwanzig Neugroschen, der Kantor — der wieder gar nichts dabei
that, oft nicht einmal die Bestellung annahm, denn die Leichenbitter oder
Leichenwäscherinnen, die das Singen zu bestellen hatten, kamen an: liebsten
gleich aufs Alumneum — zwanzig Neugroschen, der zweite Präfekt fünfzehn,
jeder von den sechs Solosängern zehn Neugroschen, für damals eine sehr
reichliche Bezahlung. Auf einem Kirchhofe, der außergewöhnlich weit von
der Stadt entfernt lag — ich glaube, es war der „weite Neustädter" —
wurden sogar fünf Thaler bezahlt; dann erhöhte sich jeder Anteil um ein Viertel.
Unsre Aufgabe bei einem Bär bestand darin, das; wir vom Thore des Kirch¬
hofs an, wo die Leiche von Wagen gehoben und auf die Bahre gesetzt wurde,
hinter dem Leichenbitter, der den Zug eröffnete, und vor den Leichenträgern,
die auf der Bahre den Sarg trugen, hergingen und einen Choral sangen, so
lange bis der Zug am Grabe angekommen und der Sarg über das offene
Grab gesetzt war. Dann stellten wir uns in der Nähe des Grabes, etwa hinter
einer Chpresfe oder einem Hollunderftrauch auf und sangen dort, nachdem die
Grabrede vorüber war, während die üblichen drei Hände Erde ins Grab ge¬
worfen wurden, noch eine Arie: entweder „Wie sie so sanft ruhen" oder „Eine
Hand voll Erde" oder „Wir drücken dir die Augen zu" (aus Schichts „Ende
des Gerechten," mit etwas verändertem Text) oder: „Lieb und Freundschaft"
(ans Tiedges „Urania," in der Komposition von Himmel). Namentlich die
beiden letzten waren sehr beliebt, und sie gehören ja auch zu dem Schönste»,
was je für gemischtes Quartett geschrieben worden ist. Wir Jungen waren
doch gewiß durch das häufige Singen an Gräbern und durch das häufige
Anhören von Leichenpredigten, in denen immer dieselben Redensarten wieder¬
kehrten, gegen die Thränen der Leidtragenden abgestumpft; aber bei der
rührenden Weise des Himmelseber Liedes, namentlich bei der süßen Chromntik
der Worte: „Treten weinend um ein Vlumengrab, wo die Brust versank, an
der sie ruhten," wurde uns doch auch mitunter ein bischen weich ums Herz.
Gesungen haben wir bei all diesen Gelegenheiten, das weiß ich, wie die
Engel. Wir setzten unsern ganzen Stolz darein, diese Arien so rein und zart
und voll Empfindung, wie nur möglich, zu singen. Das beste Stimmmaterial
des Chores war auf dem Platze. Wenn also nicht unglückliche Zufälle (Heiser¬
keit oder dergleichen) eintraten, so waren die a vMivIItt-Gesänge dieses Doppel-
guartetts wohl dus Beste und Schönste, was wir bieten konnten. Woher
aber nun der seltsame Name „Bär" ? Die einen meinten, es bedeute eigentlich
„Bahrsingen," weil wir vor der Bahre hergingen, andre wollten es als „Paar¬
singen" deuten, weil wir paarweise gingen, noch andre wollten es gar vom
lateinischen xiu'vnwtio (Totenfeier, Totenopfer) ableiten. Eine befriedigende
Erklärung konnte keiner geben; auch der Kantor wußte nicht zu helfen, der
doch schon jahrzehntelang an der Schule war.
(Fvrlsehunn folgt)
Obgleich in der letzten Zeit die deutsch¬
feindliche Gesinnung in Frankreich mehr und mehr zu verschwinden scheint und die
Revnuchegedanken nach dem traurigen Ende des Bonlangismus immer weiter zurück¬
treten, um einer ruhigeren Politischen Auffassung Platz zu macheu, so giebt es doch
uoch einen großen Kreis von Chauvinisten, die von einer Versöhnung mit Deutsch¬
land nud einen: endgiltigen Verzicht auf Elsaß-Lothringen nichts wissen wollen.
Sie hören nicht uns, in Büchern, Flugschriften und Zeitungsartikeln jeden für einen
Vaterlandsverräter zu erklären, der sich mit den bestehenden Verhältnissen zufrieden
giebt. Diese planmäßige Aufhetzung wird mit großer Hartnäckigkeit namentlich von
frühern Elsässcrn betrieben, die trotz ihrer echt deutschen Namen das Deutschtum
gründlich hasse» und sich als die eifrigsten Franzosen geberden.
Neuerdings ist ein Buch von R. Knppelin erschienen, das den langen Titel
führt: lV^is-rczo a, tra,vör8 los soo nuits et'oriZ'me? ot alö ra,vo8 novo 1a
'
ZsiMvo, 808 UM»S i>>ovo In, Iivrrmnv, 808 raxxorts avoo 1^UsiQliKus (Paris, Fisch¬
bacher, 1390). Der Verfasser begnügt sich nicht mehr, wie die andern Heißsporne,
mit dem Nachweis, daß das Elsaß unsers Jahrhunderts ein französisches Land
geworden sei; er geht in seiner oft romanhaft aufgeputzten Darstellung bis in die
vorgeschichtliche Zeit zurück und sucht dem Leser klar zu machen, daß Elsaß auch
in geologischer Beziehung zu Frankreich gehöre, also nicht von ihm getrennt werden
diirfe(!). Wenn Dentschland das alles nehmen wollte, was in geologischer Hinsicht
zu ihm gehört!
Der Verfasser, der sich übrigens durch eine Reihe naturwissenschaftlicher
Schriften bekannt gemacht hat, schildert die Eiszeit, das Auftreten des Mmumuths
am linken Rheinufer, das Erscheinen des ersten Menschen im Elsaß, die Steinzeit,
das Zeitalter der Brome und des Eisens nud findet im Elsaß überall dieselben
Erscheinungen wie im übrigen Frankreich. Er durcheilt die Zeit der keltischen
Eroberungen, der gallo-romanischen Einrichtungen und der gallo-frünkischen Zustände;
tiberall und immer erscheint ihm das Elsaß als ein untrennbarer Bestandteil des
übrigen Frankreichs. Karl den Großen nennen die Deutschen nach seiner Ansicht
widerrechtlich ihren Kaiser; bezeichnend für die historischen Begriffe des französische!:
Verfassers ist es, wenn er von den Sachsen sagt: Sie leisteten ihm so lauge Wider¬
stand, bis er sie fast vernichtet und durch seine fränkischen Soldaten niedergetreten
hatte; deshalb feiern ihn die Nachkommen der Sachsen, die heutigen Deutschen, als
germanischen Kaiser und nennen ihn ihren großen Karl, Sie wollen sich thu an¬
eignen, wie sie alles an sich zu reißen suchen, was ihnen nützlich ist und was ihre»
materiellen Bestrebungen und ihrer schwerfälligen Eitelkeit günstig erscheint.
Der Verfasser kommt schließlich auf Grund seiner naturwissenschaftliche«,
ethnographischen und geschichtlichen Untersuchungen zu dem Ergebnis, daß auch die
ursprünglichen Bewohner des Elsaß von Anfang an echte Franzosen, d. h. Gallo-
Franken gewesen seien. Unter den Nachfolgern Karls des Großen fiel Elsaß
allerdings um Ludwig den Deutschen, aber das Land erhielt niemals eine Ein¬
wanderung deutscher Stämme von der andern Seite des Rheines; mich haben sich
im Elsaß niemals längere Zeit deutsche Heere aufgehalten, die irgend eine Ver¬
änderung des Menschenschlages hätten herbeiführen können. Wie sollte sich also
das gallo-frdnkische Blut der Elsässer, worin das gallische vorherrschend war,
plötzlich in ein germanisches verwandelt haben, und wie darf man die Behauptung
aussprechen, daß die Elsässer deutscher Herkunft seien? Käppelin ist natürlich ein
echt französischer Name! Zwar haben die elsässischen Großen, die Behörden und
angesehene Bürger während der siebenhundertjährigen Verbindung mit Deutschland
die deutsche Sprache in Rede und Schrift angenommen; trotzdem hat das Elsaß
stets seinen ursprünglichen Charakter, seine Selbständigkeit und seine Svnderinter-
esscn bewahrt und sich bei seiner ausgesprochenen Unabhängigkeit, d. h, doch wohl
bei seinem echt deutschen, engherzigen Partikularismus, niemals einem deutscheu
Stamme jenseits des Rheines angeschlossen
Während der langen Zeit seiner Isolirung, sagt der Verfasser, hat das
elsässische Volk nicht, wie die deutschen Stämme, die absolute Herrschaft seiner ver¬
schleimen Fürsten sklavisch getragen; selbst unter dem Regiment der Bischöfe von
Straßburg und einiger besondern Herrscher und unter der Oberhoheit des Kaisers
von Deutschland wußte es wichtige Freiheiten zu bewahren oder zu erwerben, und
seine hauptsächlichen Städte regierten sich durch eigne Behörden. Thätiger und
willensstärker als die Nachkommen der alten Germanen, behielten die Elsässer stets
einen lebendiger» Zug und ein kühneres Auftreten als ihre Nachbarn jenseits des
Rheines, die sie nicht liebten, während sie lebhaft mit den Schweizern sympathi-
sirten, deren Sitten und Einrichtungen am meisten den ihrigen entsprechen. Der
Rhein ist die Grenze in geologischer, ethnographischer und geschichtlicher Beziehung;
er trennte die Kelten von den Teutonen, die Franken von den Deutschen; er muß
auch jetzt wieder die Grenzlinie zwischen Frankreich und Deutschland bilden. ?our
1o rspos se 1s xroZrös an monäo, so schließt der Verfasser, it klint, rsvsnir ü,
vstts AiAncls tranolrss, er»<z6o xar 1a. Iiatvrs, ontrs Ass xsnxlM ä'srig'inss se. as
rasss clillsrsntss.
Prof. Kuntze in Karlsruhe verfolgt in Ur. 25
der Grenzboten einige „geflügelte Worte," darunter das „ Vinnnr der Vater u. f. w."
aus Fritz Reuters „Stromtid." Ich gebe dazu hier noch ein Paar Zwischenglieder.
"
In Rists „Aller-Edelstein Nass Der Gantzen Welt. jener prächtigen Apo¬
theose des Alkohols, die es trotz des moralischen Schlusses nun doch einmal ist
— die Tinte wird freilich endgiltig als das Aller-Edelste Nass genennet — in diesem
Büchlein findet sich (Franckfurt 1674, S. 106) folgende Stelle: ,,Kan auch jemand
grössere Schmertzen erdulden, als diejenige thun müssen, die von dem abscheulichen
i'säagiA (welche schöne Tochter von ihrem dickbäuchichtem Venter Lassims, dem
vielversvffenem Wein-Gott ist erzeuget) werden geplaget?"
Wahrscheinlich kannte Rist die Poetische Fassung des Gedankens. Hielt er es
vielleicht nicht für angeniesten, das Verslein dem Knrandor in den Mund z»
legen, seinem ernsten Freunde aus dein Elbschwanenorden, dein Herrn Conrecwri
der Saldrischeu Schule in Altbraiidenburg, Balthasar Kindermann? Die Spruch-
form bestand schon, >var auch verbreitet, daS zeigt Harsdörffers „Grosser Schau-
Platz jämmerlicher Mord-Geschichten." Dort heisst es (Hamburg! 1666, S. 450 f.):
„Pechio (ein Handelsmann zu Mailand, der mit einem vornehmen Herren in
Feiudschafft und Strittigkeit gerate») war ein Zipprianer, das ist, rin der schmertz-
lichen und fast uuheilsameu Kranckheit des; Z>ipperleinS behafftet, lvelche man von
Cypern oder der Venus Königreich bennniet: weil dieselbe vielleicht nit die ge¬
ringste Ursach darzu giebet, nach den gemeinen öd. i. den allbekanutenj bösen Reimen
von einer bösen Sache:
tZ-toolnis der Vciler
Vomis die Mutter
Il-i. die Hebamm
Zeugen ?al!»g'i'!mi.
Als nnn dieser Zipprianer in seines Feindes Gewalt, hat er ihn in ein finstres
und kleines Gefängniß zik stecken, und mit ein wenig harten Vrot und
sliuckeudcu Wasser täglichs abzuspeisen befohleiu So hat Peechio ucnuzcheu gantzer
Jahr zugebracht, und bey solcher gezwungenen Massigkeit das Zipperlein niemals
gespüret, auch nachmals, als er ledig worden, desselben befreyt gewesen" — ein
recht probates Mittel, das aber wohl wenig Verehrer unter deu Zipprinuern
finden dürfte. Daß „sich bald erzürnen viel Kranckheiten verursachet" (Irn. die
Hebamiu) schreibt auch ein braver Vater, Christoph Schorer, l'mi. et Rock. voot.
in seiner Information An Seine liebe Söhne (Ma 1669, S. 31, ^ 11).
Zum Schluss «och eine Randbemerkung aus dem Exemplar der Harsdörffer-
schen „Mordgeschichten" auf der hiesigen Universitätsbibliothek. Nebenbei, ,,bösen
Reimen von dieser bösen Sache" steht, schon lauge, wie die verblaßte Tinte zeigt,
von ehrwürdiger Hand geschrieben der nicht eben klassische Hexameter:
ki'rigoi'Ä, vinum, Vsinis ne>iIa.ArÄnt oorxorn. nostrs^.
Wem von den
freundlichen Lesern käme beim Anblick dieser Noten nicht das Lied in holde Er¬
innerung, das Robert Schumann, es find jetzt gerade fünfzig Jahre, als „Widmung"
seiner Liederscnnmlnng „Myrrhen" voranstellte, die er in seliger Stnimimig „seiner
geliebten Braut" damals als Hochzeitsgeschenk entgegenbrachte? Das Lied wurde
zuerst am 31. März 1841 öffentlich gesungen, in demselben Konzert, in dem sich
der edle Meister mit seiner L-clrir-Symphonie auch zuerst als Orchesterkomponist
den gespannt lauschenden Zuhörern vorführte, und wie es damals, von Sophie
Schloß ausdrucksvoll vorgetragen, gleich dermaßen ansprach, daß es wiederholt
werden mußte, so hat es seitdem mit seinem süßen Zauber viele Tausend Menschen-
Herzen erfüllt, daß fie ihm bis heute mit gleicher Liebe zugethan geblieben sind.
Die oben stehende Stelle ist getreu nach der ursprünglichen Ausgabe wiedergegeben.
Sie vergegenwärtigt den sinnigen Zug, wo aus dem Mittelsalz des Liedes in D-nur
wieder in die Haupttonart ^s-cor eingemündet wird. Die Singstimme und die
obern Töne der Begleitung bilden mit dem eis und seiner enharmvnischen Ver¬
wechslung nach usf die Vermittelung des Übergangs; die Mittelstimmen -r und o
verschwinden, das a. des Basses geht nach d, und die Dominante W tritt wieder
geheimnisvoll in ihre frühern Rechte ein. Natürlich muß hier die Oberstimme
etwas Heller als die übrigen Stimmen ertönen; nimmt die Begleitung die vorge¬
schriebene Klangabstusung für die drei letzten Akkorde vor Eintritt der wechselnden
Vorzeichnung und die vorgeschriebene geringe Verzögerung des Tempos, der viel¬
leicht eine kaum merkbare Pause folgen kann, gehörig wahr, so wird die wunder¬
bare Wirkung des Überganges nie ausbleiben. Fünfzig Jahre lang, wie gesagt,
hat sich nunmehr diese Wirkung erhalten.
Siehe, da kommt ein Weiser ans dem Morgen- oder Abcndlnnde, mit Namen
Siegfried Ochs. Der bringt die eben ins Auge gefaßte Stelle mit „einem bisher
unbemerkt gebliebenen Druckfehler" in Verbindung und nennt auf Grund seiner
Forschung den Übergang siegessicher einen „sehr schroffen und ungeschickt klingenden."
In dem Autograph des Liedes, das als Stichvorlage gedient habe, sagt er, habe
Schumann „in unendlich feinsinniger Weise" anders geschrieben. In den drei
letzten Morden der Begleitung stehe nicht mehr a, sondern xis, und im folgenden
Takt erscheine ein Zusatz von einem Viertel os-g', sodaß sich der Übergang in der
rechten Hand der Begleitung so darstelle:
Der Unterschied, glaubt er, sei sinnfällig genug, um jedes weitere Wort überflüssig
zu machen.
Nach dieser Lesart bleibt also die Oberstimme wie bisher, die Mittelstimmen
gehen parallel eine halbe Stufe tiefer nach os-g', die linke Hand bleibt gleich¬
falls. Ob der Zutritt des sis als großer Septime zu dem ^-Dreiklnng und dann
der Parallelschritt zweier großen Terzen, ob der Schritt o-os, der sich mit dem
Basse a-W kreuzt, wirklich vorteilhaft für den Übergang sei, das soll nicht zum
Streite werden. Aber wenn Herr Ochs in der ersten Lesart einen sehr schroffen,
ungeschickt klingenden, in der zweiten Lesart einen in unendlich feinsinniger Weise
gestalteten Übergang erblickt, so muß es Wunder nehmen, daß er den vermeint¬
lichen Druckfehler als „an sich nicht von schwerwiegender Bedeutung" ansieht; das
wäre doch, dein von ihm zum Ausdruck gebrachten Gegensatze gemäß, ein das
herrliche Lied außerordentlich schändender Druckfehler! Und der sollte bisher un¬
bemerkt geblieben sein?
Er ist es in der Thut geblieben. Schumann selbst hat ihn nicht bemerkt,
auch Clara Schramm nicht. Es ist auch gar kein Druckfehler. Glaube Herr Ochs
wirklich, wenn der Unterschied der beiden Lesarten so haarsträubend wäre, wie
er ihn schildert, daß Schinnann den vermeintlichen Fehler nicht sofort ans den,
Platten hätte tilgen lassen, und daß Frau Schumann, die in der großen Gesamt¬
ausgabe die Lesart gerade so wiedergiebt, wie sie in der Originalausgabe steht,
ihn so ganz nußer Acht gelassen, hätte?
Sagen wir einmal Stichfehler statt Druckfehler. Stichfehler der Art, daß
ein Nvteutopf statt eines andern falsch gesetzt wird, kommen häufig vor, zumal
wenn ein Akkord mehrere Male gleichmäßig nach einander erscheint (wie oben der
^ dur-Akkord); Stichfehler der Art dagegen, daß Noten, für die doch der Platz
allenthalben Punktirt wird, ganz unbeachtet bleiben, laufen den Stechern sehr selten
nnter. Schon nach rein technischer Seite hin betrachtet, wäre der Ausfall jenes
W-i; ganz unwahrscheinlich. Nun muß man aber wissen, daß Schinnann die
Korrekturabzüge sehr sorgfältig durchsah; wie hätte er also gerade bei einer so
empfindlichen Stelle wie der in Rede stehenden nach seinen eigensten Worten
„Bretter vor den Augen habe» fallen"?
Das Rätsel löst sich sehr einfach. Komponisten und Schriftsteller ändern und
feilen bekanntlich bis zum letzten Augenblick an ihren Produkten, um sie so voll¬
endet wie möglich in die Öffentlichkeit zu bringen. Die Herren Stecher und Setzer
ärgern sich oft schwer über die nachträglichen Korrekturen, muh die Verleger; jenen
stören sie oft die vorher wohlbedachte Anordnung, diesen kosten sie oft schweres
Geld. Unter den Komponisten warm es besonders, wie der Verfasser dieser Zeilen
aus persönlicher Erfahrung weiß, Mendelssohn, Schumann und Hnuptmann, die
unermüdlich bis vor Thorschluß seitdem; Mendelssohn kam bisweilen selbst noch in
die Stccherei, um gleich nach mündlicher Angabe und schon während des Druckes
der Noten noch eine Note oder ein Vortragszeichcn abändern zu lassen. Hat nun
im vorliegenden Falle die Stichvorlage eine andre Lesart als der Reindruck, so
hat eben Schumann die Änderung auf dem Revisionsnbzug vorgenommen, wie in
der That der Fachkenner in den ersten Drucken die Korrekturspureu, die die Tilgung
der beiden Noten e8-x hinterlassen haben, noch erkennen kann. Sieht sich Herr
Ochs weiter um, so wird er auch bei Schumann noch mancherlei derartige Fälle
vorfinden. Die Erfahrung ist demnach die, daß das Autograph nicht immer den
letzten Willen des Komponisten oder des Schriftstellers kund thut. Wer so sieges¬
sicher auf das Autograph pocht wie Herr Ochs, kaun dabei leicht sehr irre gehen.
Übrigens hat sich auch Clara Schinnann zwar dahin vernehmen lasten, daß das
xi« richtig sei, aber über den Zusatz des M-g, der dann gar nicht zu umgehen
wäre, hat sie sich nusgeschwiegcn. Das hat aber nichts auf sich: sie hat in der
Gesmntansgabc den endgiltigen Willen ihres Gatten richtig wiedergegeben, und
das genügt.
Der Leser aber möge sich nicht beirren lassen, wenn noch öfters derartiger
blinder Lärm geschlagen werden sollte. Unsre großen Musikalienhandlungen sind
heilte gewissenhaft genug, daß nichts geschehe, was die Rechte der Komponisten
schädigen könnte. Mithin bleibt es bei der Lesart, die oben gegeben und die gegen
alle Anzweiflimgen unerfahrener Personen gesichert ist.
Der Titel dieser Schrift ist eigentlich falsch; der Verfasser handelt darin aus¬
schließlich vom Stadtrecht, das doch nur einen von den Bestandteilen des Stiidte-
wesens bildet. Im Anschluß an v. Beloiv (Zur Entstehung der deutschen Stadt-
Verfassung) und Aloys Schulte (Über Reichenauer Städtegründuugen) gelangt er
zu folgendem Ergebnis. Ans dem Marktrecht ist das Stadtrecht hervorgegangen.
Das Marktrecht, und zwar das Marktrecht allein, hat dem Einbrecht seinen Ur¬
sprung und seinen eigentümlichen Inhalt gegeben. Die Stadtgründling in Radolf-
zell (die Von Schulte und Sohin als Typus angesehen wird) vollzieht sich durch
Marktgriiudung. Der Markt hat sein bestimmtes örtliches Gebiet. Für dies Ge¬
biet besteht ein besondres Marktgericht und ein besondres Marktrecht. Den Markt
sichert ein Friede. Im Marktgericht urteilen Kaufleute, und zwar nicht bloß unter
sich, sondern auch über Fremde, nicht bloß über Handelssachen, sondern mich über
Grundbesitz und peinliche Sachen. Das Gebiet des Marktgerichts (Weichbild) deckt
sich weder mit den Jinmunitätsgrenzen (für den kirchlichen Grundbesitz) noch mit
den Gemarkungsgrenzen. So wenig die Jinmunitätsprivilegien, ebenso wenig sind
die alten Gemeindeverbändc für die unmittelbare Grundlage der städtischen Ent¬
wicklung zu erachten. Das Stadtrecht oder Weichbildrecht ist das Recht des Kreuzes.
Das Kreuz ist Marktzeichen. So lange das Kreuz aufgerichtet ist, dauert der
Markt. Die Stadt besitzt das Recht, ständig ein Kreuz zu haben. Auf den
Märkten des Platten Landes steht das Kreuz nur vorübergehend, so lange der
Markt dauert. Damit ist die rechtliche Unterscheidung zwischen Stadt und Land
gegeben. Kreuz, Fahne, Hut, Handschuh, Schwert sind des Königs Leibzcichcn;
sie bedeuten, daß der König anwesend ist. Mit dem christlichen Krenz hat das
Stadtkreuz nichts zu thun. Als man in späterer, nach geschmackvollerer Form be¬
gehrender Zeit Handschuhe, Schwert und Schild nicht mehr ans Kreuz hängen
wollte, wurde aus diesem die Rolandssäule. Der Name Roland ward dem Ritter
gegeben, weil es Karls des Großen Schwert ist, das er trägt. Das Sinnbild
bedeutet, daß der König am Orte weilt; daß dort der königliche Burgfrieden,
das königliche Burgrecht herrscht; jede Stadt ist eine Burg des Königs. Durch
das Marktkreuz ist die Stadt für den König in Besitz genommen. Die Immunität,
das befreite Gilt des Königs, der Kirche, ist von der öffentlichen Gerichtsverfassung
grundsätzlich nicht ausgenommen. Nur daß die Vollstreckung des öffentlichen
Gerichtsurteils gegen den Hintersassen der Mitwirkung seitens (Aberflüssiges Wort!)
der gefreiten Gutsverwaltung bedarf. Ein besondres Gericht, ein besondres Recht.
Die Bedeutung der stndtgerichtlichen Rechtsprechung und Rechtserzeugung bericht im
wesentlichen in drei Stücken. Einmal in der Entfaltung des peinlichen Weichbild-
strnfrechts. Sodann in der Beseitigung der Geburtsflandesunterschicdc für die
Stadtverfnssnng. Drittens in der Erzeugung eines Handels- und Nerkehrsrechts.
Sollte nicht dieses dritte das erste gewesen sein? Und ist nicht am Ende
das mächtige Köln, von dein Nitzsch mit seiner Untersuchung ausgeht, ein besserer
Typus als das armselige Nadolfzell? Es scheint doch zu weit zu gehen, wenn
Sohl» behauptet, durch die neuern Untersuchungen „sei die ältere Ansicht von Nitzsch,
die die städtische Entwicklung ans dem Hofrecht abzuleiten sich bemühte, endgiltig
beseitigt worden." Auch Sohm leugnet nicht, daß neben dem neuen Marktrecht
das alte Hofrecht in dielen Städten noch eine Zeit lang fortbestand, und auch Nitzsch
hat gebührend hervorgehoben, wie die allmähliche Befreiung der Kaufleute vom
Hofrecht und die Erwerbung eines eignen Marktrechtes das städtische Wesen der
spätern Zeit begründet. Ebenso gilt könnte man sagen, die Hypothese Maurers
sei endgiltig beseitigt, nach der 'die deutsche Stadt ursprünglich nur ein ummauertes
Dorf, die Stadtgemeinde eine Markgemeinde und das Stadtrecht ein Markgemeinde¬
recht war. Aber auch damit wäre zu viel behauptet, denn Sohm selbst gesteht
Spuren der alten Gemeindeverfassung in einigen Städten zu. Es wird also Wohl
bei der Kompromißansicht bleiben, die in neuerer Zeit ziemlich allgemein geworden
ist und nach der jede der drei Hypothesen über die Entstehung der Stadtgemeinden
sich ans ein wirklich vorhandenes Element stützt, das aber eben nnr eines nnter
mehrern war. Die Macht und Bedeutung der seit Karl dein Großen herrschenden Idee,
daß alles Recht in der Person des Königs verkörpert sei, soll nicht bestritten werden.
Aber gerade den für die städtische Entwicklung so wichtigen Seestädten, des deutschen
Nordens galt ebenso wie den freien Bauernschaften in der Schweiz und an der
Nordsee der geheiligte Name des Königs, der später hinter dem kaiserlichen zurück¬
trat, nur als ein Vorwand und Schirm, hinter dem sie sich der Herrschaft des
Landesherr» erwehren und zu republikanischer Selbständigkeit entwickeln konnten.
Immerhin sind Wert und Tragweite der Idee des Königtums, die mit erstaunlicher
Lebenskraft nach einem Jahrhunderte langen Schattendasein seit Friedrich dein Großen
wieder volle frische Wirklichkeit gewonnen hat, nicht zu unterschätzen, und so können
wir, wenn auch mit einigem Vorbehalt, schon in den Satz einstimmen, mit dem
Sohm seine gründliche und anziehende Untersuchung schließt: „Nicht das Hofrecht,
uoch das römische Recht, dem noch Savigny die Erzeugung der deutsches Stadt¬
verfassung beimessen zu müssen meinte, sondern allein das Amtsrecht des germani¬
schen Königtums hat machtvoll als sein lebenskräftigstes, uoch heute blühendes
Erzeugnis der deutschen und der ganzen abendländischen Entwicklung das deutsche
Biirgertilm geschenkt."
Die hergebrachten Vorstellungen über Smiths Leben, sagt der Verfasser, ent¬
halten zahlreiche Irrtümer; durch die Arbeiten voll Delatonr und Haldane fand er
sich zik einer neuen Durchsicht der Litteratur über Smith veranlaßt, und das Er¬
gebnis dieser mühevollen Arbeit legt er in diese!» kleinen, in zwei Kapitel abge¬
teilten Buche vor. Das zweite Kapitel beginnt mit der Z»rückweisnng der Ansicht
Brettes, „Smith habe in seiner Iboor^ ol Moral Lontimonts alles ebenso einseitig
auf die szMpkM? zurückgeführt, wie in seinem 'Vo-Mr ol Meinen auf das
sÄLntMvst. Ein so unwissenschaftliches und pedantisches Verfahren lag dem großen
Schotte» fern." So gar unwissenschaftlich würde das Verfcchreu doch wohl nicht
sein. Buckle sieht im Gegenteil darin den höchsten Triumph der wissenschaftlichen
Abstraktion; indem Smith die Wirkungen der Selbstsucht und die des Mitgefühls
von cinmider gesondert darstellte, habe er es so gemacht wie der Anatom, der das
Nervensystem und das Gefäßsystem gesondert darstellt, obwohl keines von beiden in
der Natur gesondert vorkommt. Walcker entwickelt die Ideen Smiths, indem er
Stellen aus den beiden Hauptwerken, die sich also doch auch nach seiner Ansicht
gegenseitig ergänzen, mit einander verbindet; ans dein ersten sehr unbekannten
wünschte nur bei dieser Gelegenheit etwas mehr zu erfahren, als Walcker mitteilt.
Bei dem geringen Umfange der Schrift mich die Darstellung des weitschichtigen
Stoffes trotz großer Knappheit der Form aphoristisch bleiben. Das Verständnis
wird noch durch die Gewohnheit, des Verfassers erschwert, bei jedem Punkte alle
die Gelehrten anzuführen, die die eine oder die andre Ansicht darüber vertreten.
Diese zahlreichen Namen bekunden zwar die große Belesenheit und Gründlichkeit
des Verfassers, stören aber den Leser mehr, als sie ihm nützen. Als dankenswerter
Beitrag zur Kenntnis Smiths verdient die Schrift empfohlen zu werden.
Diese Gedichte üben ihren Reiz weniger durch die in ihnen sich offenbarende
Kunst des Erzählers als dnrch die eigenartige Persönlichkeit, die jeder Zeile ihr
eigentümliches Gepräge aufdrückt.
Pichler ist einer jeuer Menschen, die der Widerspruch mit besondrer Kraft
anzieht, die ihr Hauptvergnügen darin finden, der Gegensätze voll zu erscheinen,
obwohl sie sie in einer für den Tieferblicken den erkennbaren höhern Einheit auf¬
zuheben wisseii. Hinter dem meisten, was Adolf Pichler sagt und thut, steckt der
Humorist, nur daß sein Humor sich nie in schallendem Gelächter entlädt, sondern
in knappen Epigrammen ironisch auszulaufen Pflegt.
Pichler vereinigt in sich merkwürdige Gegensätze. Einmal ist er ein Mann
der Naturwissenschaft; anfänglich Arzt, wurde er dann Professor der Geologie und
Mineralogie an der Innsbrucker Universität, was er noch jetzt ist, und er ist stolz
auf seine nnturwisseilschaftliche Bildung; mit Vorliebe schildert er sich selbst, wie
er in den heimischen Tiroler Bergen oder in den nördlichen Apenninen Gesteine
abklopfend umherwandert. Aber aufzugehen in der Gesteinkunde ist seine Sache
nicht. Wenn er so in den. Bergen mit dem Mineralogenhammer herumklettert, so
ist sein Gemüt noch mehr empfänglich für die Erhabenheit der Natur, und sein
Ange verfolgt mit der Teilnahme des Dichters und des Ethnographeil die Sitten
und Schicksale der Menschen. Neben den naturwissenschaftlichen hat Pichler von
Jugend auf humanistische und schöngeistige Studien betrieben, und wenn er sich ans
der einen Seite über die Schwärmer lustig macht, die im Blauen nach dem ab¬
strakten Ideal des rein Menschlichen herumsuchen, statt fest im Volkstum zu wurzeln,
so sind auf der andern Seite die Darwinianer, die rohen Materialisten, die nichts
anerkennen, was sie nicht greifen können, ihm noch widerwärtiger. Er hält zu
keiner Partei, kennt aber alle Parteien, da er ein unermüdlicher Bücherwurm ist
bei all seiner Bcrgsteigerei.
Ein andrer solcher Gegensatz ist der der Religion. Ausdrücklich bekennt sich
Pichler als absoluter Skeptiker, d. h. als einen Menschen, der nicht glaubt, daß
unsre Erkenntnis jemals die Rätsel des Daseins durchdringen werde. Dieser
Skeptizismus ist die Wurzel seines Spottes, der sich gegen alle und gegen alles
richtet; aber seinen Idealismus zu entwurzeln war er nicht imstande, viel¬
mehr hat er ihn wieder auf eine über die Parteien erhobene Warte gestellt,
von wo ans er teilnehmend alles verfolgt, was den Stempel echter Menschenliebe
an sich trägt. Darum ist es nur folgerichtig, daß er seine Dichtung „Der Zeggler
Franz," die das Bekenntnis des absoluten Zweifels enthält, mit dem Bilde des
Tiroler Seelenhirten schließt, der mitten dnrch Sturm und Wetter einen einsam
und hoch gelegenen Bauernhof aufsucht, um einer mit dem Tode ringenden Seele
die letzten Tröstungen der Religion zu gewähren. Oder er gestaltet ein ideales
Mannesbild, den Frei Serafico, der in der Felsenwildnis der Apenninen einsam
und entsagend als Mönch im Dienste der armen Bergbewohner lebt, die ihn, ihren
Leib- und Seelenarzt, so verwildert und roh sie siud, mit Recht geradezu als einen
Heiligen verehren. Oder er vertieft sich in die christliche Legende und gestaltet in
wirklich reiner Poesie das Bild des ewigen Juden, der in seinem nüchternen Sinn
ohne Liebe den Opfertod des Heilands für diese nichtsnutzige Menschheit schlechtweg
nicht begreifen kaun. Und um das Äußerste an Unparteilichkeit zu leisten, zeichnet
er, nachdem er den Juden hie und da einen spöttischen Seitenhieb versetzt hat, die
Gestalt einer schonen Jüdin, die ans absonderlichen Wege dahinkommt, einen Tiroler
Bauer glücklich zu machen
Ebenso macht er es in politischen, in nationalen Dingen. Den Tiroler betont er in
seinen Dichtungen fast bis zur Geschmacklosigkeit. Er spickt seine Sprache mit tirolischen
Worten und mit einer Menge von Anspielungen auf lokale Menschen, Zustände, Sitten,
Ereignisse, und zwar dermaßen, daß der Dichter seine eignen Gedichte kommentiren
muß, ums doch nicht mehr schon ist. Er treibt sein Tirolertum so weit, daß er an
demselben Strange wie die einheimischen Kirchtürmler zieht, die den Fremdenznfluß
mit scheelen Augen sehen, ihre Berge durch den Tritt der Berliner entweiht fühlen.
Und doch ist dieser selbe Tiroler Dichter ein begeisterter Verehrer Bismarcks, er
erinnert an den Schmerz darüber, daß 1870 die Tiroler ihre treffsichern Kugeln
uicht auch gegen die Franzosen schicken durften, er sehnt sich nach der Einheit mit
dem auferstandenen Reich, brummt über die Zustande in Österreich, und wenn er
dort bis über die Ohren im Tirolertum zu stecken scheint, so zeigt er hier, daß
seine Bildung universell ist, daß Pindar und Dante, Byron und Goethe die Ge¬
fährten seiner Einsamkeit sind.
Ebenso humoristisch widerspruchsreich ist auch Piasters Verhältnis zu den
Frauen. Er findet schöne, reine, heitere und sehnsüchtige Töne zu ihrem Preise;
aber auch boshaft neckische, satirisch strafende; er kennt das liebend dienende, aber
auch das keifende Weib, das dem Manne ans Erden eine Hölle bereitet.
An allen diesen Widersprüchen hat Pichler, der gar nichts naiv, alles mit
Bewußtsein, ja geradezu mit dem undichter!scheu Bewußtsein der Selbstbespiegelung
thut, seinen, Hauptspaß. Da es uus hier uicht so sehr ums Beurteilen, als ums
Abbilden zu thun ist, so urteilen wir auch uicht darüber.
Zuweilen ist es, als wenn Pichler deu Geist des Tiroler Schnnderhüpfels
in seiner Poesie ans höheren künstlerischen Boden hätte ausbilden wollen. Seine
Verse verbergen das Gefühl hinter allerlei Bosheit und Spitzfindigkeit, atmen
eine unverwüstliche Freude an Kampf und Streit und zanken selbst, wo sie der
Liebe Ausdruck geben wollen. Es scheint der Tiroler Volksseele eine gewisse
Sprödigkeit anzuhaften, die sich scheut, zarten Gefühlen unmittelbar Ausdruck zu
geben, die lieber grob als sentimental erscheint. So macht es Pichler. Mitten
in einem Hymnus auf Pindar ein grobes Wort einzustreuen, das ist sein Stil,
und die Verachtung, die er vor der zeitgenössischen Litteratur zur Schau trägt,
läßt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig. Und doch läßt ihn das Papier
nicht los, doch knittert es zuweilen recht trocken durch seine Verse! Darum ist ihr
Gcsnmteindruck, den nun nach dem Zuklappen deS in zierlichem Elzevier gedruckten
Buches behält, der, daß man keinen Erzähler, sondern ein Original kennen gelernt
hat, iwch dazu: ein einsames Original! Es ist begreiflich, daß ein Mensch, der
zu keiner Partei hält, der über die Gegensätze hinaufstrebt, auch vou keiner Partei
im alltäglichen Leben verstanden wird, und hier hat man much die Ursache der
großen Liebe zu suchen, die Pichler dem großen Florentiner Dante weiht. Der
Gestalt dieses Mannes fühlt er sich wahlverwandt, und darum ist auch das Gedicht
„Dante in Ravenna" das rührendste und schönste Stück des Buches. In der
Einsamkeit aber hat sich Pichler die Liebe zum Volke und die Liebe zur Henne, die
Begeisterung für die Kunst und die Empfänglichkeit für die erhabene Natur seiner
Heimat bewahrt. Darum schließt sein Buch mit dem schonen Gedichte „Das letzte
Lied der Lerche," das wir uoch hierher setzen wollen.
Verschwimmt im Osten der Morgenstern?
Ist trüb meines Auges Licht?
Noch einmal regt' ich die Schwinge gern,
Die schon das Alter zerbricht.Du steigst mir, Sonne, zum letztenmal
Ans feurigem Morgenrot:
Ich will mich wärmen ein deinem Strahl,
Dann fasse mich der Tod.So manche Hymnen sang ich dir
Laut schmetternd hinaus in die Luft —
Bald trifft much sterbend der Abend hier,
Die Nacht weint auf die Gruft.Und wenn das Grün zum Golde reift.
Zur Ernte der Schnitter geht —
Eh noch die Sichel die Ähre streift
Bin ich zu Stande verweht.Dann fallt die Chane, fällt der Mohn
Als Todesopfer der Flur;
Ich lebte so viele Lenze schon —
Die Blume blüht einen nur.So flute der Jahreszeiten Strom
Im Wechsel stets auf und ab.
So wölbe sich ewig des Himmels Dom
Auf meinem bescheidenen Grab!Und wenn mein Lied auf Erden schweigt —
Sie bleibt ja nicht stumm und tot;
Denn eine andere Lerche steigt
Und jubelt im Morgenrot.
le „gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie," mit
andern Worten das Staatsideal, das die Unzufriedenheit der
arbeitenden Klassen und ihrer mehr oder minder gebildeten Führer
dem gegenwärtigen Stande der Dinge entgegenstellt, nimmt für
den Augenblick die Aufmerksamkeit der ganzen deutschen Leserwelt
in Anspruch, und mit vollem Rechte, denu von ihrem Ausgange hängt die
ganze Zukunft unsers Volkes, ja der ganzen gesitteten Menschheit ub. Darum
ist jeder Gebildete, der seine eigne, wohlbegründete lind wohlerwogene Ansicht
über die Ursachen und den Vereehtigungsgrad jener Beschwerden wie über die
Zweckmäßigkeit der vorgeschlagenen Abhilfe zu haben glaubt, gewissermaßen
verpflichtet, sein Scherflein in den Opferstock der öffentlichen Meinung zu werfen
und so die Summe der aufgebrachten Staatsweisheit, wenn auch um einen
noch so geringen Beitrag, zu vermehren. Nun ist aber von vornherein ab¬
zusehen, daß eine ausreichende Losung dieser brennenden Frage nicht von solchen
zu erwarten ist, die mitten im Kampfe der streitenden Parteien stehen und
denen der aufsteigende Pulverdampf des Schlachtfeldes mindestens die eine
Hälfte, gewöhnlich aber alles bis auf den eignen Standpunkt verhüllt. Wer
rechts steht, sieht meist nichts von der Not, der Verbitterung und der Un¬
wissenheit, die den Gegner zum Verzweiflungskampfe treiben und seine Ab-
weichungen von der regelrechten Kriegführung erklären; dem Streiter der Linken
entzieht sich der Anblick der Mängel, die die Gewohnheit des Herrschens und
Vesitzens in die Kampfesweise ihrer Feinde trägt. Der verbissene Arbeiter
sieht überall nur selbstsüchtige, hartherzige, herrische „Bourgeois," der Kapitalist
oder der Beamte uur rohe, freche, gewnltthätige „Massen," wiewohl alle ge¬
wöhnlich nur einige wenige Muster dieser Gattungen gekannt haben. Daher sind
unsre Parteimänner auch bei dein besten Willen und dem redlichsten Bemühen
außer stände, eine Verständigung zwischen den beiden Lager» anzubahnen, die
einem Waffenstillstande oder gar einem Frieden zur Grundlage dienen könnte.
Sie tragen die Schenklappen ihres Parteistandpunktes beständig mit sich
herum nud sehen nur, was vor ihnen liegt, was diesem einmal befestigte»
und eingewurzelten Glauben an die einzige eigne Berechtigung irgendwelche
Nahrung verschaffen könnte: sie sind eben parteiisch und können nicht
anders sein. Das erste Erfordernis einer Verständigung ist aber das Ver¬
ständnis für die Berechtigung aller streitenden Sonderwillen, und dieses
kaun nur von einer Seite erwartet werde«, nach der sich aller Blicke richten
müssen, die eine gerechte Entscheidung dieses Zwistes überhaupt ersehnen:
nur vou der unabhängigem, nupnrteiischen, allein mit Thatsachen und nicht
mit Meinungen rechnenden Wissenschaft und deren krönenden Sammelpunkte,
der wissenschaftlichen Philosophie, die die Ergebnisse der Sonderwissenschaften
zusammenfassend zur Gewinnung allgemeiner Vernunftschlüsse verwertet und
so eine eigentliche Weltanschauung begründet. Nur sie kann der „ehrliche
Makler" des großen Vertrages werden, des wirklichen „Gesellschaftsvertrages,"
den die Stände des deutscheu Volkes mit einander schließen wollen und sollen,
um wieder in Frieden und Eintracht mit einander zu wohnen und nicht in
trotzigem Eigensinn zur Wahrung ihrer getrennten Vorteile einander gewaffnet
gegenüberzustehen; nur ihre uneigennützige, unverdächtige Vermittlung kaun und
wird Deutschland innerlich einigen und so dem Werke unsers abgeschiedueu
Heldenkaisers die Krone aufsetzen, sein Vermächtnis erfüllen. Nur ihr ist es
möglich, deu Mittler abzugeben, weil sie allein von der Höhe ihres welt¬
überragenden Gesichtspunktes über beide Heere sieht und die Fehler ihrer Auf-
stellung und Taktik besser überschaut, als es selbst die Führer unten vermöchten.
Die Männer der wissenschaftlichen Philosophie gleichen so einer Gruppe höherer
Offiziere, die vou der Gondel eines Fesselballons über die Bewegungen zweier
Truppenkörper zu Gericht sitzen: sie sind zwar nicht in der Verfassung, beide
zu leiten, aber doch zu sehen und zu urteilen, wo es fehlt und wie es ginge.
Und dabei verlieren sie bei aller schwindelnden Höhe doch nie den Boden unter
den Füßen; das haltbare Tau ihrer Deduktionen aus unbestrittenen, unbestreit¬
baren, thatsächlichen Beobachtungen hält sie beständig an unsrer Erde fest.
Um vieler Mund wird bei dieser Behauptung ein verächtliches Lächeln
spielen, hüben wie drüben. „Philosophie ist nur rativnalisirte Theologie,"
erklärte neulich ein sozialdemokratischer Häuptling — ein gebildeter Maun;
er hatte für den Augenblick vergessen, welche Anregung das sozialistische
Staatsideal den Ausführungen Hegels über die Entwicklungslehre verdankt,
wie gerade die eigentlichen Begründer der Sozialdemokratie, Ferdinand Lassalle
und Karl Marz:, den Einfluß der Hegelschen Schule auf Schritt und Tritt
verraten. Aber auch rechts sehe ich eine Anzahl stattlicher Herren mit hohen
Titeln nud noch höherm Einkommen vornehm über diese Einfalt die Achseln
zucken. „Was ist Philosophie?" „Was ist Wahrheit?" fragte auch Pilatus.
Was aber beiden Verächtern gleichermaßen fehlt, das ist eben die „Philosophie,"
das Vermögen und die Gewohnheit grundsätzlicher Erörterung von Fragen,
die durch ihre leidenschaftliche und vorurteilsvolle Behandlung nicht von
der Stelle rücken. Jeder Mensch ist, wie schon Herr Jourdain im Loui'Mois
(^ntMoivmö entdeckte, ein „Philosoph, ohne es zu wissen"; er will nicht nur,
er denkt auch, und will und handelt, wie er denkt, und je nachdem, ob er
gründlich oder oberflächlich, falsch oder richtig denkt, wird auch sein Handeln
entsprechende Erfolge zeigen. Nun denkt man entweder in Vorurteilen oder
in Begriffen, entweder weil alle so denken, die man kennt, und weil es der
eigne Vorteil bei oberflächlichem Überschlage der persönlichen Aussichten so
verlangt, oder weil man nach reiflicher Erwägung aller einschlagenden Ver¬
hältniße auf gewisse Folgerungen gestoßen ist. Wir denken bekanntlich nnr
noch in Worten, jedes Wort aber hat einen landläufigen Sinn, der sich mit
einem landläufigen Vorurteile deckt: ein Grund mehr, der das begriffliche
Denken dem Ungeübten erschwert. So versteht man z. B. uuter „Bildung"
zunächst das Abgangszeugnis eines Gymnasiums oder einer Hochschule, einen
anständigen Rock, feines Benehmen und schneidiges Auftreten; das ist das
Vorurteil der Bildung, das wir gewohnheitsgemäß mit dem Worte verbinden.
Aber will man den Begriff der Bildung bestimmen, so kommt man zu ganz
andern Ergebnissen. Da findet mau, daß es als Ableitung von „bilden" so viel
wie „abgeschlossene Erziehung, gereifte Eigenart" bedeutet, also innere Vorzüge
des Geistes, des Gemütes und des Charakters, denen jene Äußerlichkeiten des
Vorurteils als Deckblatt dienen können, aber nicht müssen. Da aber das
philosophische Denken, die Gewohnheit, sich über Wort und Vorurteil zum
Begriff und zur Eigenheit zu erheben, nicht auf unsern Schulen gelehrt wird,
wo wir ganz andre, weit wichtigere Dinge zu lernen haben, z. B. die Ver¬
fassung des Servius Tullius und die euripideische Metrik, so kann es mich
nicht Wunder nehmen, wenn seine Meister, die Fechner, Lotze, Riehl, Wunde,
so wenig Achtung genießen und ihre Wissenschaft sich der offenbarsten Gering¬
schätzung aller Parteien erfreut. Darum laufen wir auch alle, jeder mit seinen
eignen Scheuklappen behaftet, an einander vorbei, in wörtlichster Wahrheit
„der Nase nach," bis wir gegen eine Mauer rennen, und wären die Folgen
nicht so schwerwiegend, wäre man versucht, dieses tolle Durcheinander vou
der scherzhaften Seite zu nehmen. Aber so hängt das Wohl und Wehe des
Reiches von der Entscheidung eines Kampfes ab, der alljährlich Hunderte in
die Gefängnisse und Zuchthäuser, ins Elend oder in die Verbannung treibt,
in dein selbst Blut hüben wie drüben geflossen ist. Um diesem Bürgerkriege
ein Ende zu machen, bedarf es einer Waffenruhe und einer Unterhandlung,
die ihren Schwerpunkt in die grundsätzliche Erörterung der schwebenden Fragen
Verlegt, in die Erörterung der Grundsätze, auf die man auf beiden Seiten sein
Handeln stützen möchte. Grundsätze können nicht leidenschaftlich oder vorurteils-
voll verfochten werden, ohne ihren Wert als solche und darum ihre Beweis¬
kraft einzubüßen. Der Wille soll eben schweigen, so lange der Verstand berät;
ist doch das Vorurteil nichts als die Projektion des Willens, des unbewußten
Wollens auf das Denken. Ein Zweikampf der Begriffe kann weder die Ruhe
stören noch den Frieden beeinträchtigen. Vielleicht ließe sich mit Hilfe dieses
„ehrlichen Makkers," der wissenschaftlichen Philosophie, ein Mittelweg finden,
der weder das Aufgehen des Staates in einen unterschiedslosen „Gemeinstaat"
noch die Beibehaltung der beklagten Mißbräuche nötig machte, den berechtigten
Ansprüchen der Arbeit wie des Kapitals gleichmäßig Rechnung trüge. Gleich¬
zeitig wäre das eine Art „internationaler Konferenz." Denn wie das Kapital
und die Arbeit, so ist auch die Wissenschaft ein Bindeglied der Völker, das
noch dazu nur einen freundlichen Wetteifer, keinen feindlichen und gehässigen
„Kampf ums Dasein" kennt, und da die Bedingungen des latenten Bürger¬
krieges, den wir die „soziale Frage" nennen, in allen Staaten Europas über¬
eintreffen, so werden auch die Mittel ihrer Umgestaltung im Sinne des Friedens¬
schlusses überall dieselbe» sein. Als eine Probe dieser Vermittlung mag aber
eine kurze Besprechung des Materialismus dienen, der jn beiden Parteien
gleichmäßig vorgeworfen wird, und dessen Einfluß unleugbar seit seinem ersten
Auftreten in Deutschland nach Hegels Sturze gestiegen ist.
Eigentlich sollte man glauben, der Materialismus als Weltanschauung
müsse längst den wiederholten Schlägen der wissenschaftlichen Philosophen er¬
legen sein. Fechner und Lotze, beides Mediziner, nahmen gegen ihn Partei;
Dubois-Reymond, seine Hoffnung, sprach gegen ihn sein sprichwörtlich ge¬
wordenes iMvrMmus aus. F. A. Lauge wies ihn mit liebevoller Schonung
aus dem Tempel der Philosophie, wo er sich nach dem Verschwinden
der Hegelianer breit gemacht hatte. Aber sie alle bedienten sich der gehalt¬
vollen Sprache der Wissenschaft, während die Vogt, Büchner, Moleschott der
Masse des Volkes diese Sprache in dünnster Lösung kredenzten; Fechner, Lotze,
Lange, Wundt sind hente noch unbekannte Größen, Büchners „Kraft und Stoff"
ist beinahe ein Volksbuch geworden. Der Grund liegt in der besagten Vor¬
bildung unsrer Gebildeten, die — abgesehen von den philosophischen Zwangs¬
kursen bei den Philologen — sich mit derlei „Allotria" nicht abzugeben
brauchen.
So konnte es denn geschehen, daß vor den letzten Wahlen in einer kleinen
märkischen Stadt ein sozialdemvkratischer Tapezierergchilfe zwei Ghmnasialober-
lehrer und einen Geistlichen in Sachen des Materialismus so jämmerlich in
die Flucht schlug, daß selbst der aufsichtführeude Beamte bedauernd nieder¬
schrieb: „Sie waren dem p. p. X (sagen wir »Genossen Meier«) aber nicht
gewachsen"! Ja noch schlimmer, ein großer Teil unsrer Gebildeten ist selbst
materialistisch gesinnt, wenn nicht ans philosophischen Erwägungen, so doch,
Weil sie mit dem Glauben ihrer Väter gebrochen und ihre eigne leibliche Wohl¬
fahrt an die Stelle der zertrümmerten Gesetzestafeln des alten und neuen
Bundes gerückt haben. So bleibt die Bekämpfung dieser Irrlehre, die einer
Partei als solcher uicht gelingen turn, weil Parteien überhaupt nicht sür oder
gegen Lehrmeinungen, sondern für oder gegen Interessen kämpfen, der un¬
parteiischen Wissenschaft überlassen, die die Beweisgründe aller Überzeugungen
prüft und je nach ihrer Haltbarkeit über ihre Zulässigkeit entscheidet.
Die Behauptung, daß Kraft und Stoff, Materie und Bewegung das
Wesen aller Dinge ausmachten, daß unser Denken und Fühlen nur eine Form
derselben Bewegung sei, die sich in den Schwingungen des Äthers wie im
Pulsschläge unsers Blutes äußere, daß unser Bewußtsein endlich nur eine
„Ausscheidung des Hirnes" sei, wie es Cabanis wirklich getauft hat, erscheint
auf den ersten Blick sehr einleuchtend: wir finden keine Seele, und wenn wir
noch so sorgfältig die ganze Körperwelt absuchen. Aber ein wenig Selbst¬
besinnung hilft doch über diese Täuschung hinweg. Die Bewegung nehmen Nur
wahr. Wodurch? Durch unsre Sinne. Wie nehmen wir aber unsre Sinne
selbst wahr? Wie kommen wir überhaupt dazu, von Sinnen zu reden? Weil
wir sie sehen? Aber zum Sehen gehört doch selbst wieder ein Sinn, und wie
nehmen wir diesen wahr? Und ohne ihn könnten wir doch nur zu dem Hirn
gelangen, das angeblich unser Bewußtsein „ausscheidet." Da bleibt uns denn
nichts übrig, als zu sagen, wir nehmen es wahr durch unsre „Wahrnehmung,"
die also als Erstes keine Wirkung des Zweiten sein kann. Wie nehmen wir
aber erst unsre Gefühle wahr? z. B. den Hochgenuß eines Pschorr? Doch
nur, indem wir es fühlen. So haben wir zwei Vorgänge in unserm Bewußt¬
sein entdeckt, die sich von einander sehr fühlbar unterscheiden: unsre Sinnes-
empfindungen oder Wahrnehmungen und unsre Gefühle. Die einen zeichnen
sich dadurch aus, daß sie allein eine räumliche Gliederung, die zweiten, daß
sie nur eine zeitliche Messung erleiden. Was man „Stoss" nennt, ist also in
Wahrheit uur die Gesamtheit aller je erfahrenen und möglichen Sinnes-
empfindungen, bezeichnet also gar keinen begrenzbaren Gegenstand, sondern, mit
Kant zu reden, nur alle „Gegenstände einer möglichen äußern Erfahrung."
Die Sinne selbst sind nur Gruppen von Empsindungsvorgäugeu. „Kraft"
nennen wir die Gesamtheit der räumlichen und zeitlichen Beziehungen, die
zwischen diesen Empfindungen stattfinden; selbst Raum und Zeit siud Begriffe,
die sich nachweisbar aus Sinnesempfindungen einfachster Art entwickelt haben.
Im Grunde genommen giebt es also nur Seele, und der „Körper" ist eine
Selbsttäuschung. Die andre Reihe von Vewnßtseinsvvrgängen, die wir „Ge¬
fühle" nennen, sind einer Messung nach dem Zeitraume fähig, der zwischen einer
bestimmten Empfindung und einem bestimmten Gefühle verfließt; aber da sie
nicht räumlich begrenzbar sind, können jene erwähnten Beziehungen der Em-
pfindungswelt nicht auf sie übertragen werde«: ihre „Kraft" ist qualitativ,
die „.Kraft" des „Stoffes" quantitativ. Nun but es nie an Versuchen gefehlt,
beide Arten von Bewußtseinsvorgängen auf eine gemeinschaftliche Grundlage
zurückzuführen. Die Materialisten behaupten, alles sei Empfindung, das Gefühl
sei nur ihre „subjektive Seite," so Lewes, der bekannte Goethebivgraph, und
Leon Dumont; Schopenhauer wieder möchte alles auf das Gefühl beziehen.
Den Beweis seiner Behauptung ist der Materialismus allerdings schuldig ge¬
blieben; selbst ein Physiologe, der sich in seiner eignen Abhandlung zum
Materialismus bekennt, Herzen, sagt dennoch im Vorworte: „Die Wissenschaft
kennt nur eine ständige, notwendige (?) Gleichzeitigkeit und Entsprechung der
Nervenschwiugnng und der Geistcsthntigkeit," Und Tyndall meint: „Gesetzt,
das Gefühl »Liebe« entspräche einer rechtsseitigen Spiraldrehung der Hirn¬
moleküle, das Gefühl »Haß« einer linksseitigen, so wüßten wir ja, daß im
Falle der Liebe die Bewegung nach der einen, im Falle des Hasses nach der
andern Seite erfolgt, aber das Warum würden wir darum noch immer unbe¬
antwortet lassen. . . . Der Übergang der körperlichen Bewegung im Hirn zu
den entsprechenden Thatsachen des Bewußtseins entzieht sich aller Erklärung.
Nie wird unser Denken den Abgrund überbrücken, der diese beiden Klassen
von Erscheinungen trennt." „Körper" und „Seele," richtiger Empfindungen
und Gefühle gehen also beständig neben einander, wo die eine ist, ist auch das
andre, und der Materialismus ist eine plumpe Verkennung der thatsächlichsten
Thatsächlichkeit, eine oberflächliche Verallgemeinerung und gehört nicht in die
Wissenschaft.
Wie ist es denn aber möglich, daß nicht nur die Masse der Halbgebildeten,
sondern tüchtige Gelehrte und Forscher dem Materialismus anheimfallen? Ganz
einfach: sie haben durch die ausschließliche Beschäftigung mit den Naturwissen¬
schaften den eignen Geist vollkommen aus den Angen verloren und über der
ausschließlichen Beschäftigung mit Empfindungen ganz vergessen, daß es auch
Gefühle giebt. Der Irrtum wäre harmlos, wenn er nicht durch seine Gegen¬
wirkung auf die Wertschätzung der geistigem Ziele eine einseitige Bezugnahme
nur auf die leibliche Wohlfahrt erzielte und namentlich bei seinen minder¬
gebildeten Bekennern eine gefährliche Verkennung des Ideals in Wissenschaft,
Kunst und Leben bewirkte. Ist der Körper das Wesen des Menschen, so mich
für ihn zuerst gesorgt werden; seine „Ausscheidung," die Seele, hat dann mir
einen Verhüttniswert. Da aber die alten Vorurteile über Sittlichkeit und
Glauben samt und sonders auf der Annahme eines Ideals beruhen, dem unsre
Zeit allerdings, wenigstens die Wissenschaft unsrer Zeit entwachsen ist, so
schüttet der Materialismus das Kind mit dein Bade aus und wirft mit den
Vorurteilen die Sittlichkeit und deu Glauben über Bord. Und das gilt nicht
nur von unsern Sozialdemokraten. Unsre Aufgabe kaun es aber nicht sein,
diesem Auflösungsvorgange ruhig zuzusehen, sondern Hand anzulegen, ein jeder,
wie er kann, und mit den Bausteinen, die uns die Wissenschaft darreicht, und
uach dem Pinne, den unsre philosophischen Vaukünstler entwerfen, ein neues,
wohnliches Haus herzurichten, das für alle Platz hat und auch seinen Stil
dein veränderten Zeitgeschmäcke anpaßt. Der Materialismus ist zu solchem
Ausbau außer stände, weil er die Wissenschaft mit Füßen tritt; er kann uur
abbrechen, aber wegen seiner grundsätzlichen Leugnung der Ideale kein plan¬
volles, gegliedertes Ganze bemeistern. Er ist eine Übergnugskrankheit der
Weltanschauung, weiter nichts: sein Heilmittel aber ist die möglichste Förderung
und Verbreitung einer wahren, wissenschaftliche» Philosophie.
oweit auch das forschende Auge einzudringen sucht in das sagen¬
verklärte Dunkel griechischer Vorzeit, überall trete» uus daraus
die Kraftgestalteu zeuseutsprvssener Könige entgegen, die teils
auf kühne» Wanderzügen mit überlegener Kraft des Körpers und
Geistes wegclagcrndc Ungeheuer erlegen und so deu freien Ver¬
kehr der Volksgenossen anbahnen, teils auf hohen Bürgen hinter kyklopischen
Mauern sitzen und in kühngewölbten, unterirdischen Schntzhäusern eine andre
Stütze ihrer Macht, das asiatische Gold, bergen und, indem sie dort deu ver¬
einzelten Landgemeinden einen Mittelpunkt schaffen, als Begründer der Stadt
und des Staates für alle Zeiten göttliche Verehrung genießen. Vereinigt sind
ihre Namen in den gemeinsamen Unternehmungen der Heroenzeit, im Nrgv-
nantenznge und in dem spätern trojanischen Kriege, wo noch immer die Könige
selbst, Agamemnon neben Achill, Ajax mit Odhsseus an der Spitze ihrer
Völker mit stolzer Herausforderung den Kampf beginnen und vom Streitwagen
herab mit starker Hand auf den fürstliche« Geguer den Speer entsenden. Sie
allein ergreifen auch im Rate das Wort, doch tritt bereits hier öfter ein
scharfer Gegensatz hervor zwischen Oberkönig und den andern Fürsten, der
Keim der bald das Königtum überwuchernden Aristokratie. Umsonst erhebt
schon Homer seine mahnende Stimme dagegen in deu geflügelten Worten,
Ilias II, 204: „Nichts gutes ist Vielherrschaft; einer soll Herr sein, einer
König, dem es gab der Sohn des verschlagenen Kronos." Die Umwandlung
der monarchischen Verfassung schreitet unaufhaltsam vorwärts.
So sehen wir zunächst in Athen das während der dorischen Wanderung
eingedrungene Geschlecht des pylischen Nestor den altberechtigten Nachkommen
des Theseus vom Throne verdrängen, um dann selbst in Kodros den letzten
König von Athen zu stellen, dessen eigne Söhne unter dem wahrhaft komischen
Vorwand, daß uach einem solchen König keiner mehr des Namens würdig sei,
des altehrwürdigen Titels beraubt oder in die Fremde getrieben werden.
Schritt für Schritt wissen dann die übrigen Eupatriden die volle Gleich¬
berechtigung mit den Neliden durchzusetzen, indem sie die Staatsverwaltung
immer vielköpfiger ausbilden und das arme Volk immer rücksichtsloser aus¬
beuten, das vergeblich vou den geschriebenen Gesetzen Drakons und Solons
Abhilfe erwartet. Da wird nun die Entwicklung der Republik unterbrochen durch
die vom Adel geschmähte, von der Gunst des Volkes getragene Thrannis, und
das neue Königtum des Peisistratos bezeichnet für Athen — wie die ziemlich
gleichzeitige Herrschaft des Periander in Korinth und des Pvkhkrates auf
Samos — eine Blüte des Staates nach anßen und innen, die sich in den
ersten auswärtigen Kolonien, dem freiwilligen Anschluß Platääs um Vvvtien,
großartig angelegten und zum Teil erst später vollendeten Bauten und einer
glänzenden Hofhaltung ausspricht, deren Verherrlichung sich auch die Leier der
berühmtesten Dichter nicht entzieht, wie denn hier auch die alten homerischen
Gesänge zuerst in geordnetem Zusammenhang erklingen.
Vor allem aber hatte nnter den Peisistratiden Handel und Gewerbe und
damit Wohlhabenheit und Selbstbewußtsein des Vürgertinns einen Aufschwung
genommen, der dann anch der drohenden Reaktion des von Sparta unterstützten
Adels zu trotzen vermochte und die unter der Fürstenregierung durchgeführte
Gleichheit aller vor dem Gesetze festhielt als unantastbares Erbe für alle Zeiten
der nun immer demokratischer sich färbenden Republik. Judem sich jedoch das
ätherische Volk auch fernerhin willig der Leitung verständnisvoller und vaterlands¬
liebender Glieder der durch Bildung und Besitz hervorragende« „Geschlechter"
anvertraute, wußte es sowohl der innern Schwierigkeiten Herr zu werden, als
auch in dem gewaltigen Ringkampfe mit dem drohend ausholenden persischen
Niesen als preisgekrönter Sieger zu Wasser und zu Lande vor alle Griechen
hinzutreten. Nach den Perserkriegen rechtfertigte ueben Kimon besonders Perikles
das von den Vätern ererbte Vertrauen seiner Mitbürger, und Athen erlebte
nnter der langjährigen, unerschütterlichen Negierung des Olympiers eine zweite
Blüte äußerer Machtentfaltung und innerer Wohlfahrt, deren zerfallene Trümmer
noch immer den Blick jedes Humanisten fesseln und beim Anschauen dieser wohl
unübertroffenen Gesanttentwicklung aller menschlichen Tugenden und Fähigkeiten
das Herz mit seliger Wehmut erfüllen.
Mit des Perikles unzeitigem Tode hatte auch Athen seinen Höhepunkt
überschritten, und rasch durchlief die nnn kopflose Republik ohne den Halt
eines besonnenen, die Volksversammlung beherrschende» Führers alle weitern
Staffeln der unseligen Entwicklung bis zur vollen Ochlokratie, nur endlich in
dein furchtbaren dreißigjährigen Kriege Griechenlands durch eigne Maßlosigkeit
und Launenhaftigkeit völlig zu erliegen der heimtückischen Verschwörung vnter-
landslvser Oligarchen, die von jeher Anschluß suchten an das aristokratische
Sparta.
Denn auch dieser dorische Kriegerstaat hat sich der allgemein hellenischen
Wandlung der Regierungsformen nicht entzogen, trotz der äußern Erstarrung
und scheinbaren UnVeränderlichkeit von der Einwanderung unter den Herakliden-
königen an bis auf Kleomenes III. Es wäre ein Irrtum, hier den Grund
des zähen Festhaltens am bewährten Alten, den rettenden Felsen in der Bran¬
dung des griechischen Staatslebens in der scheinbar unangetasteten Monarchie zu
suchen. Die bloße Thatsache des verfassungsmäßigen Dvppelkönigtnms, dieser
rätselhaften, das monarchische Prinzip geradezu aufhebenden Mißbildung müßte
eines Bessern belehren, noch deutlicher ein Blick auf die spartanische Geschichte.
Denn wenn wir auch öfters kraftvolle, echt königliche Gestalten an der Spitze
der Spartiaten sehen, zumal im Kriege glänzende Vertreter ihrer Würde, ich
erinnere nur an Leonidas oder Agesilaos, so handelten doch selbst diese nicht
auf eigne freie Verantwortlichkeit hin, sondern gehorsam den Gesetzen des
Staates. Und neben ihnen treten von Anfang an andre, nicht gekrönte Per¬
sönlichkeiten hervor und werden gerade in den kritischsten Zeiten Spartas aus¬
schlaggebend für den Gang seiner äußern und innern Geschichte: weder Lhknrg,
der seinem Volke die besten Gesetze gegeben hat, noch Pausanias, der seinen end-
giltigen Sieg über das persische Laudheer nicht vergessen konnte, noch etwa
Vrasidas und Lysnnder, die dem ersten und zweiten Teile des peloponnesischen
Krieges die entscheidende, für Athen so verhängnisvolle Wendung gegeben
haben, waren szeptertragende Könige. Kein Zweifel, auch in Sparta war
thatsächlich die Königsgewalt überwunden und beschränkt durch die gleich-
begüterten Adlichen, die sich in den Ephoren eine Behörde geschaffen hatten,
deren Befehlen selbst die Könige gehorchten, und die nun ohne Schelk die recht-
und schutzlose niedere Bevölkerung Lakoniens ihre starke Herrenfaust fühlen
ließen. Und dieses herrische Auftreten war den Spartiaten so zur andern
Natur geworden, daß sie es auch den übrige» vertrauensseligen Griechen gegen¬
über, die sie ja von der angeblichen Thrannin Athen befreit hatten, in echt
junkerlichen Übermute nicht verleugnen konnten.
Nur das lange gering geschätzte Theben wagte die Übergriffe eigen¬
mächtiger spartanischer Heerführer, die von den Königen nnr zum Schein ge¬
mißbilligt wurden, energisch zurückzuweisen unter Führung der edeln Dioskuren
Epameinondas und Pelopidas, die als geborene Fürsten im republikanischen
Staate walteten und auf kurze Zeit die Erinnerung an des Ödipus kraftvolle
Negierung wieder aufleben ließen. Und die Größe ihrer Vaterstadt hing so
sichtlich an der Person dieser beiden fürstlichen Gestalten, daß man sie mit
ihrem Tode sofort dahinschwinden sieht; und um beginnt jene unselige Ver¬
wirrung und Ohnmacht über die greisenhafter griechischen Stadtrepubliken
hereinzubrechen, der selbst die männliche Beredsamkeit des Demosthenes uicht
mehr Einhalt zu thun vermochte. Nur ein würdiges Ende konnte er der
griechischen Freiheit bereiten. Unaufhaltsam näherte man sich dem Hinüber¬
fließen ins Reich der makedonischer Heerkönige, deren glänzender Hof schon
längst gleich dem der sizilischen Tyrannen auf die größten Geister Griechenlands
eine bedeutendere Anziehungskraft ausübte, als das in nutzlosen Fehden sich
verbindende Mutterland. Was Philipp mit kluger Berechnung und unver¬
drossener Ausdauer gesät hatte, sollte er uicht ernten; aber fein vom Glück
begnnstigterer Sohn Alexander übertraf durch seine unerhörten Triumphe in
Asien bis zum Jaxartes und Indus die kühnsten Hoffnungen der verbündeten
Griechen; und seiue übermenschliche Tapferkeit, wie seine über nationale Vor¬
urteile erhabene, leider zu früh endende schöpferische Thätigkeit für Ver¬
schmelzung der unterworfenen Völker zu einem einheitlichen dauerhaften Weltreiche
und Eröffnung neuer Verkehrswege rechtfertigt einigermaßen die Vergötterung,
die ihm nach orientalischem Vorgange auch in Griechenland zuerkannt wurde.
Zu sehr kam er den Bedürfnissen der hellenischen Nation entgegen, der die
heimischen Verhältnisse zu klein geworden waren, und die sich stark genug fühlte,
eine neue Welt mit ihrer Kultur zu durchgingen, wenn nur ein starker Fürst
an der Spitze eines zuverlässigen Heeres ihr Bahn brach.
Und so war denn der Ring der Verfassungswandlungen zum erstenmale
geschlossen, und die erst aristokratisch, dann demokratisch regierten griechischen
Städte ordnen sich ein in die Geschichte Makedoniens, das von jeher treu zu
seinem Königshause gehalten und das auch fortan mit ihm verbunden blieb
bis hinab auf König Perses, bis König und Land in die Hände der Römer fiel.
Nicht wesentlich anders verläuft die politische Entwicklung in Rom. Auch
hier finden wir — soweit läßt sich in den nach griechisch-persischen Vorbildern
aufgeschmückten römischen Gründungssagen unzweifelhaft ein geschichtlicher Kern
erkennen — von Anfang an Könige an der Spitze des Volkes, die sich bei den
häufigen Raubzügen als echte Söhne des Mars erwiesen und mit starker Hand
die Grenzen des neuen Stadtgebietes schützten und stetig erweiterten. Daheim
zogen sie die Streitigkeiten der Bürger vor ihr Tribunal und vertraten endlich
auch den Göttern gegenüber das fromme Volk, bei Opfern und Auspizien von
den Priestern nur unterstützt. Diese letztere Seite des Königsamtes, die reli¬
giöse, soll erst Numa Pompilius völlig ausgebildet und die meisten Kulte be¬
gründet haben, nach der Überlieferung der von: Volk erzwungene sabinische
Nachfolger des kriegslustiger Romulus, ein offenbares Versehen in dieser Sagen¬
bildung; denn unstreitig reicht die Gvtterverehrnng weiter zurück in die Urge¬
schichte eines Volkes, als seine staatliche Ordnung. Unter dem dritten Könige,
Tullus Hostilius, dem Spiegelbild des ersten, entreißt Rom der Mutterstadt
die Hegemonie über Latium in einem der spartanischen Geschichte entlehnten
Einzelkampfe, woran die Sage recht einleuchtend das Beispiel einer vom
König ans Volk gestatteten Appellation geknüpft hat. Die letzten drei Könige
zeigen unverkennbar den Charakter der griechischen Tyrannis, nicht bloß in der
illegitimen Thronfolge und in ihrer Willkürherrschaft, die besonders in Tarquinius
Superbus die senatorische Überlieferung auszumalen beflissen war zur eignen
Rechtfertigung, am deutlichsten in ihrer Baulust, der das republikanische
Rom eingestandenermaßen die Hauptzierden des Kapitals und des Forums,
sowie den (üiroinz inMimu« und die noch jetzt dauernden Kloaken verdankte,
ferner in der Heranziehung etruskischer und griechischer Kultur und vor allem
in dem Ausbau der Verfassung, da ja unter Servius Tullius die beträchtlich
angewachsene Bürgerschaft bereits in Vermögensklassen eingeteilt und dabei das
plebejische Element zum erstenmale gesetzlich berücksichtigt wurde. Trotz dieser
unleugbaren Verdienste um Stadt und Volk sehen wir auch hier (nach einem
mißglückter ersten Versuche des Senats bereits mit des Romulus Tode) das
Königtum einer Adelsverschwörung erliegen, ohne daß das bisher geschützte
und geförderte Volk irgendwie Protest gegen solche Vergewaltigung seiner
Wohlthäter erhebt. Umso schwerer büßte es seine politische Gleichartigkeit in
der Folgezeit; denn außer empfindlichen auswärtigen Niederlagen bei dem
Übergänge zur Republik mußte es die größten Übel der neuen Herrschaft an
sich selbst erfahren, da der nnn nicht mehr von oben gezügelte Adel mit dem ganzen
Gewicht seiner bevorzugten rechtlichen und wirtschaftlichen Stellung nach unten
auf das arme Volk drückte. Weder die nach hartnäckigsten Widerstande er¬
zwungene Abfassung schriftlicher Gesetze — wobei die Absetzung der Deccmvirn
eine auffallende Ähnlichkeit mit der Vertreibung der Könige zeigt — noch die
gleichfalls lange vereitelte Zulassung der Plebejer zu deu höhern Staatsämtern
vermochte an der schlimmen Lage des bevormundeten Volkes etwas wesentliches
zu ändern, dessen Elend mit der ins Ungemessene steigenden Ausdehnung des
römischen Reiches und dem verschwenderischen Reichtum seiner regierenden Ge¬
schlechter einen immer schärferen Gegensatz bildete.
Die große Masse der römischen Bürger, „diese Herren der Welt, die keine
Scholle ihr eigen nannten, die nichts als Luft und Sonne ihres Vaterlandes
genossen und schlimmer als das Wild der eignen Wohnung und des sichern
Lagers entbehrten," sie erfuhren erst aus dem beredten Munde der beiden
Gracchen, wie ihrer unter dem selbstsüchtigen Regiment einer verknöcherten
Aristokratie verzweifelten Lage durch großartige Unternehmungen und gesetzliche
Zugeständnisse aufzuhelfen sei. Aber sobald einmal die Ansprüche des Volkes
auf Anteil an der Verwaltung und wirtschaftlichen Ausbeutung des durch ihre
Arme eroberten und mit ihrem Blute gedüngten Ländergebietes ausgesprochen
und öffentlich anerkannt worden waren, heisesten sie von dem verstockten Senat
in einem Jahrhundert blutiger Vürgerkämpfe ihre volle, ehrliche Erfüllung.
In Marius, in Cinna jubelte die unaustilgbare Volkspartei ihren stets
nachwachsenden Häuptern zu, in deren gehäuften Konsulaten man bereits
sichtlich — und wohl mit sehenden Augen — der Monarchie zusteuerte; bis
dann endlich der große Cäsar, auf dein der menschenfreundliche Geist der
Gracchen nebst dem Glück und dem Genie Snllas ruhte, mit sicherer Hand
die reife Frucht der Alleinherrschaft pflückte, um sie zwar nicht selbst zu ge¬
nießen, aber doch die neue Regierungsform so mit seinem Geiste zu durch-
dringen, daß sie trotz Verschwörung und Intriguen festbegrttndet und an seinen
Namen geknüpft forterbte. Und es wäre ein Glück für den Staat, ein Glück
für das römische Volk gewesen, Hütte Cäsar auch seinen für alles Große und
Gute erleuchteten Geist, seinen milden, die Gegner lieber entwaffnenden als
vernichtenden Sinn, seinen hellen, alle Schwierigkeiten überschauenden Blick
auf seine Nachfolger vererben können. Aber wenn diese sich auch nicht, wie
ihr Heros eponymos,*) als sieghafte Führer auf der Bahn alles menschlichen
Fortschrittes erwiesen, sondern sich dem Sklavengeist ihrer Unterthanen anbe¬
quemten und spätern senatorischen Schriftstellern Anlaß gaben, eine neue Art
wahnsinniger Herrscherwillkür zu schildern, die zugleich ihre Namen mit dem
Fluche mißtrauischer Grausamkeit und unmenschlicher Lasterhaftigkeit behaftete,
so dürfen wir doch anderseits nicht vergessen, daß die bedeutendsten zeit¬
genössischen Dichter dieselben ersten Kaiser wegen ihrer Verdienste gepriesen
und in den Himmel gehoben haben gleich einem Theseus und Alexander, gleich
einem Quirinus und Dipus Julius. Und wenn thatsächlich im ganzen römischen
Reiche neben den alten Göttern den Cäsaren Tempel und Altäre errichtet
wurden, so sprach sich darin auch die dankbare Verehrung aus, die ihnen zumal
der untere Teil der Bevölkerung zollte, die armen, so lange von Senatoren
und Rittern ausgesogenen Bundesgenossen und Provinzialen, die jetzt zum
erstenmale eine menschenwürdige Stellung einnahmen und ähnlichen Schlitz der
Staatsgesetze unter kaiserlichen Statthaltern genossen wie die unverletzlichen
römischen Bürger. Das römische Reich und die römischen Kaiser sind eine
ehrwürdige Erscheinung geblieben selbst für die freien germanischen Völker, deren
gewaltigste Fürsten es noch nach Jahrhunderten für die höchste Auszeichnung
gehalten haben, wenn ihnen der stolze Titel „Kaiser" übertragen wurde: er
ist noch heute der Inbegriff der höchsten Macht, das Zauberwort, das den
gewaltigsten Reichen Europas eine gesegnete Regierung zu verbürgen scheint.
So haben wir denn die Gesamtentwicklung der Staatsverfassungen des
Altertums verfolgt bis zu ihrem alles mvellirenden Abschluß in der römischen
Weltmonarchie. Wir wollen nun noch einige Ergebnisse dieses Überblickes her¬
ausheben.
Da finden wir denn zunächst fast als ein Naturgesetz, daß selbst bei den
freiheitsliebenden Völkern des klassischen Altertums Anfang und Ende ihrer
Politischen Entwicklung die Monarchie bezeichnet: sie ist das A und O aller
menschlichen Staatenbildung, und wie aus dem sageuumwölkten Morgennebel
der frühesten Zeiten die leuchtenden Strahlen fürstlicher Kraft hervorbrechen
und den vollen Tag einer höher:: Kultur heraufführen, so erscheint auch nach
vollbrachtem Tageslaufe durch blutige Abendröte die milde Leuchte des regie¬
renden Nachtgestirns, unter dessen versöhnenden Glänze die Völker von des
Tages Hitze aufatmen und sich der sichern Ruhe hingeben. Zwischen diesen
beiden Endpunkten bleibt allerdings noch ein genügender Spielraum für die
beiden andern um die freigewordene Regierungsgewalt ringenden Kräfte, Adel
und Volk, in deren, Wechselnden Stellungen sich gleichfalls ein gewisser gesetz¬
mäßiger Verlauf erkennen läßt. Dem Adel, der mit sicherer Hand die Zügel
der Regierung zu ergreifen weiß, werden sie namentlich in Griechenland je
einmal durch einen abtrünnigen, auf die Volksgunst sich stützenden Standes¬
genossen entrissen und so mit dem Übergange durch die Tyrmmis dem Volke
in die Hände gespielt, bis dann die immer mehr ausartende Demokratie eine
kräftige Reaktion und stärkere Zentralisation erwünscht erscheine:: läßt; damit
übereinstimmend sehen wir auch in Rom die Herrschaft des Senats durch demo¬
kratische Wirren ins Wanken geraten und dann wieder dem Prinzipat eines
Einzelnen Platz machen.
Wenn wir jedoch nach der Dauer und Bedeutung der besprochenen Re¬
gierungsgegensätze im Altertum fragen, so ist ohne weiteres zuzugeben, daß
trotz der Existenz staatsgründender, durch Körperkraft und Reichtum hervor-
ragender Könige, die als Oberanführer, Oberpriester und Richter an der Spitze
des jungen Volkes stehen, trotz der spätern glänzenden Hofhaltung weit be¬
rühmter Tyrannen, die gestützt auf stehende Heere und Bündnisse unter ein¬
ander die Macht und Kultur ihres Landes auf eine höhere Stufe heben, endlich
trotz des die spiralförmige Bewegung abschließenden, durch militärische Erfolge
empfohlenen absoluten Königtums, das deu erschütterte:: Völkern die lang¬
ersehnte, durch Vergötterung gedankte Ruhe und Befriedigung bringt, — trotz all
dieser leuchtenden Phasen der Monarchie bleibt doch als Thatsache bestehen,
daß beide klassische Völker die längste Zeit nicht unter Königen gestanden, die
glänzendste:: Perioden ihrer Entwicklung, an die wir bei ihren Namen zunächst
denken, der Republik zu danken haben. Und in der That ist dies eine er¬
staunliche Erscheinung: daß die höchste Stufe nationaler Wohlfahrt und mate¬
riellen Wohlbefindens erreicht werden, daß ebenso die tapferste Abwehr scheinbar
unwiderstehlicher Feinde wie unübertroffene Leistungen in Kunst und Wissen¬
schaft gelingen, ja daß sogar die Weltherrschaft errungen und behauptet werde::
konnte ohne Leitung eines erblichen Staatsoberhauptes, wie denn zumal in
Rom Gehorsam, Unbestechlichkeit, Vaterlandsliebe, Opferfreudigkeit auch ohne
Rücksicht auf Belohnung als echt republikanische Tugenden erscheinen — dieses
in unvergänglichen Farben strahlende Gesamtbild freier menschlicher Entwick¬
lung wirkt allerdings erhebend. Aber es entbehrt gleichwohl bei näherer Be¬
sichtigung nicht der tiefen Schatten.
Oder wer wollte leugnen, daß die launenhafte Willkür der kurzsichtigen
Menge in Athen, die in der höchsten Not des peloponnesischen Krieges ihren
Retter, den genialen Alkibiades, ohne jeden vernünftigen Grund in die Ver¬
bannung treibt und alsdann die siegreichen Feldherrn bei den Arginnsen, ihre
letzten, wahnwitzig zum Tode verurteilt, auch den begeistertsten Lobredner der
unfehlbaren Volksherrschaft irre machen muß? Man begreift nach solchen
Vorgängen wenigstens einigermaßen, wie selbst ätherische Schriftsteller, zumal
Piano, die uns so großartig erscheinende Wirksamkeit ihrer größten Staats¬
männer, namentlich des Themistokles und Perikles, so absprechend beurteilen
können. Und nun in Rom! Wem wäre da nicht schon die allen gesetzlichen
Schranken Hohn sprechende, selbst die Gerichte schamlos zu einem Parteimittel
herabwürdigende Mißwirtschaft der Nobilität verabscheuungswürdig und die
allzeit geduldige, unterthünigste Haltung des Volkes ihr gegenüber geradezu
kläglich erschienen, das alles ruhig über sich ergehen läßt und, ohne eine Hand
zu rühren, selbst seine entschiedensten Wohlthäter, einen Spurius Maelius,
Maulius Capitolinus, Tiberius Gracchus vor seinen Augen umbringen läßt
nnter dem bezeichnenden Vorwnnde, sie strebten nach dem Diadem?
Und doch muß man vielleicht gerade in diesem ehrerbietigen, streng loyalen
Charakterzug der Römer, die den selbstgewählten Beamten nicht nur vor dem
Feinde, sondern auch in den erbittertsten Parteikämpfen unverbrüchlichen Gehorsam
leisteten, die geheime Kraft erkennen, die sie auf die Dauer von fast fünfundeinhalb
Jahrhunderten des Königtums von Gottes Gnaden entbehren ließ. (Auch ihren
vom Volke ernannten Konsuln enthielten die Götter ihre Bestätigung in den
Auspizien nicht vor.) Und haben nicht auch die Athener ihren aus edeln
Häusern ununterbrochen nachwachsenden großen Männern, einem Miltiades,
Themistokles, Aristides, Kimvn bis hinab ans Demosthenes aufs freudigste in
Krieg und Frieden Gehorsam geleistet und ihnen zeitweilig mit Hilfe des
Ostrazismus unumschränkte Machtfülle verliehen, beinahe wie römischen Dikta¬
toren? Ja was fehlte dem bedeutendsten von allen, dem das Werk des
Peisistratos und des Themistokles krönenden Perikles noch, als die äußere
Zierde und der Name „König"? In der That war ers bis zu seinem
Tode, wie schon Thukydides klar erkannt und ausgesprochen hat am Schluß
seiner Charakteristik des bewunderten Zeitgenossen mit den Worten (II, 65):
„Es war dem Namen nach zwar Volksherrschaft, in der That aber unter
dem ersten Manne Regierung."
So erkennt also das Volk selbst unwillkürlich seine Bedürftigkeit der Leitung
dnrch geistig höher stehende Männer an; jedenfalls — das ist eine weitere
für das Altertum unbestreitbare Thatsache — ist es niemals das Volk gewesen,
welches den Sturz der Könige herbeigeführt hat.
Sowohl bei des Kodros Tode in Athen, als mich bei des Tarquinius
Vertreibung aus Rom ist es der Adel, der unverzüglich die Erbschaft des
Königtums antritt und besonders in letzterer Stadt die Herrschaft mit staunens¬
werter Zähigkeit und Thatkraft festhält, bis endlich Ciisar den neuen Fürsten¬
thron in der Liebe des Volkes begründet, trotz der mörderischen Wut einiger
allzusehr geschonten, nicht zufrieden zu stellenden Senatoren. Der Adel ist
demnach nicht die zuverlässigste Stütze des Thrones, sondern des Königtums
mächtigster Rival, und nach den großartigen Proben von Negierungsfähigkeit,
die wir in Rom, wie in Athen und Sparta von ihm zu bewundern hatte»,
unstreitig eine politische Macht, die aus alleu Wandlungen stets neugekräftigt
hervorgeht und für alle Zeiten in der Staatsverfassung eine gewisse Berück¬
sichtigung fordert.
Ähnlich verhält es sich mit der andern sogenannten Stütze der Monarchie,
der Kirche: anch der Bund zwischen Thron und Altar ist kein ewiger, unab¬
änderlicher Bund. Schon zwischen Agamemnon und Kalchas, zwischen Ödipus
und Teiresias besteht nach der Anschauung der alten Dichter ein entschiedener
Gegensatz, und in ihren heftigen Vorwürfen spricht sich ein tiefgewnrzeltes
Mißtrauen der Könige gegen priesterliche Anschläge aus. Und in der That
findet sich später die Priesterschaft in Athen wie in Rom gar leicht durch die
vom Adel ausgehende Umwälzung der monarchischen Verfassung völlig be¬
ruhigt, wenn nur noch dem Namen nach ein König den Göttern gegenüber¬
steht. Überhaupt lehnen sich Geistlichkeit und Adel schon im Altertum gern
an einander. So sind die erbittertsten, unversöhnlichen Feinde des Vvlkslieb-
lings Alkibiades, des selbst von Aristophanes den Athenern empfohlenen
„jungen Löwen," die Priester im Bunde mit den Oligarcheu. Und ähnlich
verschanzen sich in Rom die Patrizier gegen den Ansturm der Plebejer auf
das Konsulat hinter religiösen Bedenken, die Priesterämter sind die letzten
Vollwerke ihres Geburtsvorrechtes; ja noch der ersterbende Widerstand der
Nobilität gegen den Konsul Cäsar stützt sich auf die scheinheilige Beobachtung
des Himmels, freilich ohne auf deu vom Volk erwählten ?ouMsx uutxiiuu»
noch den gewünschten Eindruck zu machen.
Und dieselben Neigungen zum Bündnis zwischen den beiden privilegirten
Ständen, Adel und Geistlichkeit, gegenüber dem weltlichen Oberhaupte des
Staates lassen sich weiter verfolgen durch das äußerlich so streng monarchische
Mittelalter herab bis zur Neuzeit. Hat doch das den geheiligten Sitz der
Cäsaren, das ewige Rom, einnehmende Oberhaupt der abendländischen Christen¬
heit nicht bloß einmal versucht, auch die höchste weltliche Macht um sich zu
reißen und mit Hilfe der zum Abfall verlockten, ihres Lehnseides entbundenen
hohen Adlichen den römischen Kaiser deutscher Nation vor der dreifachen Papst-
kröne zu demütigen gewußt. Die katholische Kirche fühlt sich noch heute um
keine bestimmte Verfassung, auch nicht die monarchische, innerlich gebunden.
Der Papst trägt kein Bedenken, wie dereinst dem allerchristlichsteu König,
so später dem Sohne der französischen Revolution, dem großen Korsen, und
heute dem jeweiligen Präsidenten der französischen Republik seinen Segen zu
erteilen.
Und hierin finden wir zum Schluß eine überraschende Bestätigung des
im Altertum nachgewiesenen Entwicklungsganges der Verfassungsänderuugeu:
wie dereinst, als die Tyrannis der Pisistmtiden mit Hilfe Spartas gestürzt
war, die Demokratie durchgeführt wurde, so ist auch in unseru Tngeu die
Tyrannis der napoleoniden durch die Siege einer auswärtigen monarchischen
Macht zu Falle gekommen und hat um eiuer vorläufig uoch immer recht
unklaren und unsichern Republik Platz gemacht.
u der wertvollen Flugschriftensammlung der Leipziger Stadt-
bibliothek findet sich neben zahlreichen andern Seltenheiten auch
ein dünnes Heft in Quart mit der Aufschrift: „Verzeichniß des
Büchervorrathes, den der Prinz von Soubise im Feldlager mit
sich herumgeführet, und welcher durch das Königlich-Preußische
Malerische Corps den 3. Nov. 1757 in Weisenfels ist erbeutet worden." Das
Heft hat einen Umfang von 2« Seiten; das Druckjahr ist 1753, die Angabe
des Druckortes fehlt.
In der Stadt Weißenfels, deren die Flugschrift gedenkt, hatte der Fürst
von Soubise in den letzten Oktobertagen des verhängnisvollen Jahres sein
Standlager genommen. Er blieb dort auch unbeweglich stehen, als die zer¬
lumpten Scharen der Reichsarmee einen Vorstoß bis nach Leipzig hin wagten.
Und als seine Verbündeten vor dem anrückenden Heere Friedrichs des Großen
rasch wieder zurückfluteten, kam es längs der Saale zu mehreren Gefechten,
wobei auch der Übergang bei Weißenfels von den Preußen besetzt und das
französische Heer aus der Stadt vertrieben wurde. Dies geschah am Refor¬
mationstage, am 31. Oktober. Unsre Flugschrift nennt erst den 3. November.
Wir müssen also wohl annehmen, daß die Büchersammlung erst auf dem weitern
Vormarsch von den Preußen erbeutet wurde, oder — was bei dem mehrtägigen
Aufenthalte des Fürsten von Soubise in Weißenfels vielleicht wahrscheinlicher
ist — dnß sie in einem Hanse untergebracht war und erst in den nächsten Tagen
und andern Beutegegenständen aufgefunden und in Beschlag genommen wurde.
Über das weitere Schicksal der Bibliothek berichtet der ungenannte Heraus¬
geber auf Seite Z und 4:
„Vorläufige Nachricht. Man schmeichelt sich, den Lesern und Sammler»
derjenigen schafften, welche in gegenwärtigem Kriege herauskommen, einen
angenehme» Dienst durch den Abdruck dieses Verzeichnisses der in der That
merkwürdigen Soubisischeu Feidbibliothel zu erweisen. Die Preußen erbeuteten
selbige den 3. November in Weisenfels und haben sie theils korbweise und sehr
wohlfeil verlauft, theils on> einige» Büchern die Bände ausgeschnitten und solche
für Maculatur hingegeben; daher denn auch viele kostbare Werke schädlich und un¬
glücklich getrennel wurden. Die Herren Franzosen müssen sich sehr ruhige Winter¬
quartiere in Deutschland, oder gar eine bleibende Stätte bey uns versprochen haben,
weil sie so viele Bücher, und darunter sehr viele, die bloß zum Zeitvertreibe dienen,
mit nach Deutschland genommen haben. Der Titel des Verzeichnisses sollte einen
auf die Gedanken bringen, als ob mehrere Französische Regimenter dergleichen
Bibliothecke» mit sich geführet hätten. — Die Ordnung dieses Verzeichnisses stünde
zwar sehr zu verbessern, und sonderlich wäre uuter die Mängel zu rechnen, daß
bey den wenigsten Büchern das Format, bey keinem aber der Ort oder das Jahr
des Druckes angezeigt worden: inzwischen wird es doch Nutzen und Vergnügen
macheu; und es wird besser seyn, daß Nur es nach dem Original als in eiuer
willkührlichen und freyen Veränderung haben abdrucken lassen. — llebrigens wäre
freilich zu wünschen gewesen, daß dieser aus vielen und kostbahren Werken bestandene,
sehr sauber eiugebuudeue, Büchervorrath wäre beisammen erhalten und zum Ange-
denken der Französische», auch im Kriege herrschenden, Galanterie, als ein seltenes
Siegeszeichen in einem öffentlichen Deutschen Büchcrsanle aufgestellet worden. Da
deun aber leider solches nicht geschehen, so wollen wir dieser nun zerstobeueu
Kriegsbibliolheck ihr letztes Deuckmahl aufrichten. Ein Originalverzeichuiß, deren
etliche wenige dieser Bibliotheck beygeleget waren, und davon uns eines zu Händen
gekommen, wird den gegenwärtigen, darnach besorgten, Abdruck desto zuverlässiger
und schätzbarer macheu."
Bei der Büchersammlung lag also in mehrere» Exemplaren ein Ver¬
zeichnis. Der Herausgeber bringt es in der Flugschrift wörtlich zum Abdruck.
Wahrscheinlich war es gedruckt, denn „Auf dem Titelblatt," sagt der Heraus¬
geber, „stehet ein Französisches Wappen-Schild mit den 3 Lilien, mit einen
Rauten-Kranz umgeben, darüber die Krone, uuter diesem Wappen aber folgende
Worte: lZidliotinzquo militnirs. Roginuznt ä'.Jul'Nitöri6 N. Vu xmr Mu»
UgM- du an Kggwuznt. ^.vis an tuo'kürö ^ Urs. Iss 05ilei«zi8 ass I'roupW
<in Iloi. Huoiaus vo (üntalossuv 8vit -WM dicur <zourx08L, it no 6on vers von-
»icköro ciuo ovinus nu sssai. Ils /vio lirii in'iruiuuz, n'g.urg. xoint Ah dorruzs,
»i lo suvvös rsxoiul n tuos esxSravoös, et äans um tomps on 1v8 Irmixss Su
lioi sont oomxoLvös Ä'Ollieivrs vol-iiros o! (lo Ssirs as IlSttro», ^'al usu as
l<Z ^rösunuzr."
Wie aus dieser buchhalterischen Nachricht hervorgeht, ist die in Weißen-
fels erbeutete Büchersammlung eigentlich eine französische Regiinentsbibliothek
gewesen; wenigstens hat der Buchhändler die Bücher in dieser Absicht ausge¬
wählt und ihr Verzeichnis zur Prüfung vorgelegt. Der Herausgeber unsrer
Flugschrift vermutet daher, es möchten vielleicht mehrere französische Regimenter
dergleichen Bibliotheken mit sich geführt haben. Aber diese Vermutung geht
wohl zu weit. Aus den Worten des Buchhändlers ist doch mir zu schließen,
daß er selbst sich die Büchersammlung als Regimentsbibliothek gedacht und ihr
Verzeichnis in dieser Absicht den höhern Offizieren angeboten hat. Daß aber
mehrere Regimenter derartige Bibliotheken nun auch wirklich angekauft, und
weiter, daß mehrere Regimenter solche Bibliotheken mit ins Feld genommen
hätten, dafür fehlen die Beweise, und zwei Umstände sprechen dagegen. Zunächst
muß die in Weißenfels erbeutete Bibliothek unmittelbar vor Beginn des Feld¬
zugs zusammengestellt worden sein. Bei zahlreichen Büchern läßt sich das
Druckjahr leicht uachmeiseu: I^c- I'IMtrv alö N-iriviuix (S. 19 der Flugschrift)
ist in vier Bünden 1750 ausgegeben worden, I/Äpologis var l'abdo clokr-nie»
(S. 6) 1752 und I/a,rk ac l» Ausrr«z xi'Menu piir Kg.^ no Le. HomW (S. 15)
1754; aufs Jahr 1755 gehe» die zwölfbändigen Osuvrss ä« L-niet-DvrvmomI,
(S. 17) zurück; I^N't alö (Ävllloric! xg,r Limnivr (S. 11), Rinn (S. 22) und
I^it ?riir<zssL(z alö (loiixÄFue; (S. 22) gehören dem Jahre 1756 an, und die
(^ommöilllUrss 8ur ig, ävkönLv äos vlaoes (l'^vnoas 1o ki^etieiön xar N. et«;
IZv-rusobro (S. 14), sowie die Ovuvrizs 8-rire-liöal in acht Bänden (S. 17)
siud sogar erst im Jahre 1757 gedruckt worden. Der Abmarsch des Heeres
aus Frankreich erfolgte nnn aber bereits im Februar ebeu des Jahres 1757.
Es ist gewiß nicht wahrscheinlich, daß binnen wenigen Wintermvmten mehrere
französische Regimenter Bibliotheken von fast 2000 Bänden erworben und aus
Paris nach dein Osten mit sich geführt hätten. Und noch entschiedner spricht
gegen diese Annahme, daß wir nnr von dieser einen, in Weißenfels erbeuteten
Bibliothek Kunde habe». Hätten wirklich mehrere Regimenter derartige Bücher-
schätze nach Deutschland gebracht, so würden wir nach der Niederlage von Roß-
bach sicherlich davon erfahren. Aber unter der reichen und seltsamen Beute
von Gotha und Roßbach werden zwar allerlei männliche und weibliche Toi-
letteugegenstäude und andre schöne Dinge aufgeführt, aber keine Bücher.
Die Sieger hatten in der Weißenfelsischen Veute also wohl wirklich eine
Feldbibliothek des französischen Oberbefehlshabers, des Fürsten von Soubise,
vor sich. Mail darf sich ihre Entstehung vielleicht folgendermaßen denken.
Als der Krieg ausbrach — der Fürst von Soubise wurde am 1. Januar 1757
zum Oberbefehlshaber ernannt —, stellte ein findiger Buchhändler in Paris
diese Bibliothek zusammen und bot sie dem Fürsten an, zugleich mit einem
gedruckten Verzeichnis, in der ausgesprochnen Überzeugung, mit dieser Bücher¬
sammlung eine vortreffliche Regimentsbibliothek geschaffen zu bilden. Aber
selbst wenn bei den hohem Offizieren die Neigung dazu vorhanden gewesen
wäre, für ihre Regimenter solche Bibliotheken anzukaufen, folgten die Ereignisse
zu schnell auf einander, als daß die Erfüllung dieses überdies ziemlich kost¬
spieligen Wunsches möglich gewesen wäre. Daher ist nur die eine bereits
zusammengestellte, in den Besitz des Fürsten von Soubise übergegangene
Bibliothek mit nach Deutschland gebracht worden. An der Auswahl der Bücher
trägt somit der Fürst keine Schuld. Wohl aber hat er ihre Mitführnng zu
verantworten, und die spöttischen Worte, mit denen der Herausgeber der Flug¬
schrift dieser min zerstobenen Kriegsbiblivthek ihr letztes Denkmal aufrichtet,
sind wohl berechtigt. Mau konnte keine schlimmere Satire ans das Frankreich
Ludwigs XV, und ans den Fürsten von Soubise selbst schreiben, als das Ver¬
zeichnis dieser fast zweitausend Bände starken Büchersammlung, die der Fürst
aus einem Hauptquartier ins andre bis nach Mitteldeutschland hin mit sich
geschleppt hat. Gleich das erste Buch ist wie ein Hohn — I^a sgäirts Liblo,
Mi' Al, as L-in^, in 23 Bänden; für die Feldbibliothek des gottlosen, spott¬
süchtigen und leichtlebigen Lieblings der Marquise de Pompadour gewiß ein
seltsamer Eingang, diese dreiundzwauzigbnndige Bibelausgabe! Und ihr folgen
ans Seite 5, 6 und 7 dreiundvierzig weitere theologische Werke, Kirchen¬
geschichten, Streitschriften und Abhandlungen.
Die Bücher sind nämlich im großen und ganzen dem Inhalte nach ge¬
ordnet, und zwar in folgenden Abteilungen: I. Hi«toiro8 saoröss, ^lroologivnL
xolvllNWos, ordIioÄoxv8 se IMüroäoxes, 44 Bücher mit annähernd (mindestens)
1l>!> Bänden; II. Loisuoes se ^res, 50 Bücher mit 81 Bänden; III. ?Ili1o-
«ol>dio inoriilo, ?ir/8j<zu«z vt Histoiro mrturollo, 90 Bücher mit 178 Bänden;
IV. ISoonomis et I'olitiauL, 48 Bücher und 97 Bänden; V. NiMemiMqno ob
^.re wilitairs, 84 Bücher mit 15)0 Bänden; VI. LvUes I^ot-trof, nouo^es
Ilittvr^ires et oritiWos, 65, Bücher mit 233 Bänden; VII. ?oöLios se?boÄi,roh,
87 Bücher mit 25>7 Bänden; IX. Nit.tlo1oMö, I'MW ot Ilomaus, 89 Bücher
mit 235) Bänden, und X. Hist0iro8, 165 Bücher init 606 Bänden.
Denk Inhalte nach sind die einzelnen Bücher nicht gerade sehr sorgfältig
verteilt. Geschichtliche und schönwissenschaftliche Werke sind fast in allen Ab¬
teilungen verzettelt. Doch giebt die Übersicht wenigstens eine ungefähre Bor¬
stellung von dem Umfange der Bibliothek. Soviel sieht man: hätten Nur
nicht die Anzeige des Buchhändlers und das Vorwort des Herausgebers, so
würde niemand in diesem Verzeichnis das einer Kriegsbibliothek oder gar einer
Regimentsbibliothek vermuten. Es giebt uns vielmehr eine Büchersannnlnng,
wie sie Wohl ein geistreicher und lebenslustiger Herr auf feinem Schloß auf¬
stellte, in kostbaren Einbänden, in einem Zimmer, das man vor jungen Damen
am besten verschlossen hielt; denn neben den ernsten Musen und den heitern
Grazien hatte da auch die Venus Vulgivaga ihren Sitz. Doch wer möchte
einem vornehmen Herrn des vorigen Jahrhunderts einen besondern Vorwurf
daraus machen? Das Wunderliche ist mir, daß diese Büchersammlung nach
der Absicht des Buchhändlers eine Regimentsbibliothek sein soll, und daß ein
französischer Oberbefehlshaber sie als Feldbibliothek mit sich ins feindliche Land
genommen hat.
Unter diesen Gesichtspunkten ist die kleine Anzahl der kriegswissenschaft-
lichen Werke bemerkenswert. Das Verzeichnis hat freilich eine besondre Abteilung
„Mathematik und Kriegskunst," aber sie ist eine der kleinsten. Von 722 Büchern
mit rund 2000 Bänden, aus denen die Bibliothek bestand, umfaßt die Ab¬
teilung nur 84 Bücher mit 150 Bänden, und davon sind noch auszuscheiden
die rein mathematischen Werke, sodaß streng genommen eigentlich nur 50 wirklich
kriegswissenschaftliche Werke mit etwa 100 Bünden übrig bleiben, also etwa ein
Zwanzigstel des Ganzen! Darunter befindet sich zwar manches Gute. Denn
das muß hervorgehoben werden, die besten und teuersten Werke der französischen
Litteratur sind in die Bibliothek aufgenommen. Aber dein gegenüber muß doch
auch betont werden, daß die Kriegswissenschaft in 50 Büchern nicht erschöpft,
ja nicht einmal nach einer Richtung hin auch nur annähernd vollständig be¬
handelt werden kann.
Am vollständigsten ist in der Bibliothek des Fürsten von Soubise die schöne
Litteratur vertreten. Wenn wir alle hierher gehörigen Bücher zusammenzählen
wollten, würden wir wohl fast auf tausend Bände kommen; also etwa die
Hälfte der ganzen Büchersammlung dient, wie der Herausgeber bemerkt, bloß
dem Zeitvertreibe. Von Romanen, guten und schlechten, bieten die Seiten 22,
23 und 24 eine kleine Blütenlese; da begegnen wir anch den Romanen von
Crobillon Fils nich Rötis de la Bretonne und ihren Nachahmungen, auch
andern Romanen, bei denen schon die Aufschrift anzeigt, wes Geistes Kind sie
sind. Zahlreich siud ferner Gedichtsammlungen, theatralische Sammlungen,
Lebensbeschreibungen, Memoiren und philosophirende und mvrnlifirende Werke,
die ja damals in Frankreich wie die Pilze emporschössen, eßbare Pilze, aber
auch zahlreiche Giftpilze. Ziemlich vollständig ist in Übersetzungen die latei¬
nische Litteratur vertreten; anch in die Litteraturgeschichte der Kaiserzeit konnte
man sich durch ein „Leben des Properz" (Vio alö?roxvrc:lZ, S. 24) und durch
die vierbändigen „Liebschaften des Cntull und Tibull" (^rnoui'L cle (ÄWIlv
se "lidullö, S. 22) einführen lassen. Weniger zahlreich sind die Übersetzungen
aus der italienischen, spanischen und portugiesischen Litteratur. Aus der
griechischen Litteratur siud die Homerischen Epen, die Charaktere des Theo-
phrast und der schlüpfrige Roman des Eustathius (Les s-mours ä'Iswönv ol
ä'lsrQöiims, S. 22) in Übersetzungen da. Vollständig sehlt die deutsche Litte¬
ratur, wenn wir von einer Übersetzung deutscher Fabeln iMlilvs se (none-68
traäuiw av 1'^llöiniwä, S. 21) absehen. Doch dürfen wir dem Verzeichnis
aus diesem Mangel keinen Vorwurf machen. Die großen griechischen Geschicht¬
schreiber, Redner und Tragiker sind weitern Kreisen überhaupt erst in der
zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, ja vielfach erst in den ersten Jahr¬
zehnten unsers Jahrhunderts bekannt geworden; in Frankreich stellte noch
Voltaire einen Corneille und .Racine über Sophokles und Euripides. Und
auch das Fehlen der deutschen Litteratur ist nicht wunderbar; man er¬
innere sich nur des absprechender Urteils Friedrichs des Großen! Wenn dieser
deutsche Fürst von der deutschen Dichtkunst nichts wissen wollte, ist es gewiß
verzeihlich, daß wir die schwerfälligen Gottscheds, Hallers und Klopstocks in
der Bibliothek des Fürsten von Soubise nicht vorfinden. Aus ähnlichen
Gründen fehlt ans der englischen Litteratur Shakespeare, dessen Würdigung ja
erst durch Lessing angebahnt worden ist. Etwas anders ist das Verhältnis
unsrer Bibliothek zu deu englischen Romanschriftstellern und Philosophen. Die
großen französischen Schriftsteller des vorigen Jahrhunderts, ein Montesquieu,
Rousseau und Voltaire, sind bei den englischen Philosophen in die Schule
gegangen, und seit Diderot galten die Romane von Richnrdson und Fielding
auch den Franzosen als Vorbilder. Es entstand damals in Frankreich eine
förmliche Schwärmerei, ein Kultus englischen Wesens und englischer Staats-
einrichtungen. So finden Nur auch in der Bibliothek des Fürsten ein l'rossr-
vstik ooutro l'^nglonmiriv (S. 18) und eine Iclvs as 1a ^»Aloisö, zih>r
1'^1>I>ö ^inxl (vierbändig, S. 20); von Richardson ist die IliswirL i1(! 3ir
(^rAnliLon (in sieben Bänden, S. 22) übersetzt, von Fielding die Kistviro «1v
?our 5vno8 (in vier Bände», S. 22), Swifts Voy-iZvs <Jo <Z-u11ivsr (zweibändig,
S. 18) und Miltons I'MuI!,? ^grilu (er-uluit pu- N. liavintZ, in drei Bänden,
S. 19); auch von Newton, Locke und Hume sind mehrere Übersetzungen da,
und mehrere Bücher beschäftigen sich mit der englischen Staatskunst, dem Handel
und der Kolonialmacht Englands.
Nächst der schönen Litteratur ist die Geschichte am stärksten vertreten.
Doch finden sich darin recht sonderbare Lücken. Während z. B. die römische
Geschichte mit zwölf Büchern, die Geschichte Frankreichs mit mehr als sechzig,
ja sogar die jüdische Geschichte mit wenigsteus vier Büchern bedacht ist, ist die
Geschichte Deutschlands, des Nachbarlandes von Frankreich, nur durch zwei
Bücher von je einem Bande vertreten. Die Entwicklung Preußens kaun dem
Fürsten von Soubise sehr wenig Teilnahme abgewonnen haben; denn über
Preußen ist kein einziges Buch da, während Österreich wenigstens durch eine
Lebensbeschreibung des Prinzen Eugen vertreten ist. Über China und Japan
kann man sich aus zwei Büchern belehren; über England, Dänemark, Schweden,
Rußland, über die Türkei, Genua und Portugal, über Persien und Georgien,
über Peru, Mexiko und Paraguay, ja sogar über das Knpland lind über
Australien sind geschichtlich-geographische Werke in die Bibliothek aufge¬
nommen — Preußen fehlt! Und doch war Preußen Jahre lang Frankreichs
Buttdesgeuosse gewesen, und manchem Franzosen, der Heller blickte als der Fürst
von Soubise, waren schon vor dem Schlage von Roßbach die Augen ange¬
gangen über die wahre Bedeutung des Mannes, der damals die Sandbüchse
des heiligen römischen Reichs in fester Hand hielt. Man hat in den letzten
zwanzig Jahre» vielfach Gelegenheit gehabt, eine ganz auffällige Unwissenheit
der Franzosen über alles, was außerhalb ihrer Grenzen vor sich geht, zu
beobachten; selbst größere deutsche Städte sind ihnen böhmische Dörfer, und
über unsre innern Zustände hegen sie die seltsamsten Meinungen. In dieser
Beziehung ist es nicht ganz unwichtig, zu bemerken, daß in der Bibliothek des
Fürsten von Soubise eine Abteilung „Geographie" ganz fehlt und daß über
den preußischen Staat und das preußische Heer, gegen das er ins Feld zu
ziehen im Begriff steht, kein einziges Buch in dieser Vüchersammlung zu finden
ist. Diese Unkenntnis des preußischen Wesens hat sich an den Franzosen nicht
nur unter Napoleon I. und III., sondern schon unter Ludwig XV. bitter ge¬
rächt. Die Niederlage von Roßbach war die Antwort ans französische An¬
maßung und Überhebung.
Über die andern kleinern Abteilungen der Bibliothek können wir rasch
hinweggehen. Gute und zahlreiche Bücher sind über die schönen Künste, die
Malerei, Bildhauerei und Baukunst (S. 7 und 8, 13) und über die Sprach¬
wissenschaft (S. 8) aufgenommen; wir finden französische, italienische, deutsche
und englische Grammatiker, französisch-italienische, französisch-deutsche und
französisch-englische Wörterbücher. Auch die philosophische Sammlung ist
ziemlich stark und enthält die meisten französischen und englischen Modeschrift¬
steller jener Zeit. Was noch übrig bleibt, sind Handbücher über Medizin und
Anatomie, Naturwissenschaften, Staats- und Hauswirtschaft und eine große
Zahl Einzelabhandlnngen, darunter vieles Vortreffliche, aber mich manches
recht Seltsame. Schwer begreift man, warum der Buchhändler ein Werk
„Über die Erziehung der kleinen Kinder" (IZ«8»is sur l'väuvittio«, «>v« polie«
onskms, S. 13) in seine Negimentsbibliothek aufnahm. Den „Tanzmeister"
(Joe Nmtrs ü, (Iimsor, xm.- Ilg-iuviru, I?ig'. S. 7) hätte der Fürst von Soubise
ebenfalls in Frankreich lassen können. Und was sollten seine Offiziere an¬
fangen mit der „Kunst, die Hühnereier künstlich auszubrüten" (I/^re alö
öolorro ä«8 oouks, xar N. Ap Roanmnr, 2 vol., S. 11) oder mit einer
„Französischen Sprachlehre für junge Damen" (Wiotori<imo Pranysise ü, 1'u8i>Ho
des Vvnr0i8vllo8, S. 8)? Oder was halfen ihnen nach der Schmach von Ro߬
bach die „Ermahnungen eines Vaters an seine Tochter" (^öl8 ä'ein I','','<>
8^ ullo, S. 9) oder endlich die „Kunst, das Zwerchfell zu erschüttern" (1/^.i't,
av ä080pxll6r tu. r-res)? Das klingt doch wie Spott und Hohn auf ernste
Männer!
Aber ist nicht vielleicht die Flugschrift überhaupt nur eine Spottschrift?
und die angebliche Feldbiblivthek des Fürsten von Soubise erdichtet? erdichtet,
um zu der Schmach vou Roßbach die Lächerlichkeit zu häufen! Die Art und
Weise, wie der Herausgeber der Flugschrift die in Weißenfels erbeutete
Bibliothek sofort zu Makulatur macht, könnte einen wohl auf diesen Gedanken
bringen. Aber dem Verzeichnis ist doch zu deutlich der Stempel der Wahr-
heit aufgedrückt. Das Vorwort des Buchhändlers, die Auswahl und Zu¬
sammenstellung der Bücher, die Aufnahme der neuesten Erzeugnisse der fran¬
zösischen Litteratur und die ganze mangelhafte Anlage des Verzeichnisses be¬
weisen seinen französischen Ursprung. Auch wäre wohl nur einer der größte»
deutschen Buchhändler im Jahre 1758 imstande gewesen, ein solches Ver¬
zeichnis französischer Bücher bis zum Jahre 1757 aufzustellen; und ein Deutscher
wäre gründlicher verfahren als der Franzose und hätte nicht regelmüßig das
Druckjahr und den Druckort weggelassen. Der Verdacht, der Inhalt der Flug¬
schrift möchte erdichtet sein, kann vor diesen Gründen nicht bestehen. Vielleicht
gelingt es, in thüringischen Büchersammlungen ein oder das andre Stück der
zerstobenen Kriegsbiblivthek des Fürsten von Soubise wieder aufzufinden.
le Tausende von andächtigen und uimudächtigeu Pilgern, die
alljährlich die ewige Stadt betrete», wissen bei der Heimkehr
viel vo» dem alte», wenig von dem Rom der Gegenwart z»
rühme». Ihr Begriff von „alte»" Rom ist freilich höchst dehn¬
bar und reicht etwa vo» de» Zelte» Julius Cäsars bis zum
September des Jahres 1870. An allem, was äußerlich sichtbar seit dem Tage
entstanden ist, wo die italienischen Bersaglieri und König Viktor Emanuel i»
Rom einzogen, hat die Welt, auch wenn sie mit der Wandlung der Dinge
noch so einverstanden war, wenig Freude gewonnen, und bittere Anklage»
gegen die vandalische Zerstörungslust, die geschmacklose, ja rohe Modernität,
die über Nacht Rom in eine nüchtern zweckmäßige Großstadt verwandeln
möchte — je nüchterner und amerikanischer, um so zweckmäßiger! —, sind von
allen Seiten laut geworden. Auch die große Mehrzahl solcher Besucher, die
Rom vor 1870 niemals erblickt habe», de» Umfang der Veränderung, der Ver¬
wüstung köstlicher Gärten und historisch bedeutsanier Gebäude gar nicht ermesse»
könne», fühlt sich von den großen, vielstöckigeu, der Stadt gleichsam aufgeklebte»
halbfertigen oder schon wieder zerbröckelnder weißgekalkten Häuservierecken, vo»
dem ganze» wüste» Treibe» der »enerdings verkrachte» Baugesellschafte» ab-
gestoßen und stimmt in das Klagelied von der Vernichtung Roms ein. Aber
die Römer haben besseres Vertrauen ans die unverwüstliche, aus allen Wand¬
lungen immer wieder aufleuchtende Herrlichkeit ihrer ewigen Stadt, und in der
That, was wäre eine Ewigkeit, selbst in der kurzsichtig menschlichen Bedeutung
des Wortes, die durch zwei Jahrzehnte uoch so barbarischer und rücksichtsloser
Geschäftigkeit gefährdet werden könnte! So folgten den Stimmen, die kräftig
ihr Mißfallen an Neurvm ausdrückten, einige andre, die für eine hoffnungs¬
reichere Betrachtung wenigstens einzelner Schöpfungen nud Bauten der letzten
Jahre eintraten.
Wem es nur vergönnt war, ein paar genußreiche Monate in der Stadt
der Städte zu verleben, der sollte in diesem Streite nicht mitreden, wenigstens
kein entscheidendes Wort sprechen wollen. Nur den Eindruck, dessen er froh
geworden ist, darf er schildern. Und indem ich die wechselnde» Stunden eines
römischen Frühlings in der Erinnerung Vorübergleiten lasse, heben sich mit
lichtem Schimmer die Morgen und Abende hervor, die uns auf der Höhe und
in den Laubgängen der Passegiata Margherita, der schönsten Anlage des neuen
Roms, zu Teil wurden. Im Sonnenschein oder im Abendglmize liegt das einzige,
wundervolle Städtebild zu Füßen des Glücklichen, der vom alten Janiculus
über Trastevere und den Tiber, über Dächer und Kuppeln, über Paläste und
Kirchen, Gärten und Rinnen, alte Stadtmauern und neue Festungswerke weit
in die bergumkränzte römische Landschaft hinausschaut. Die ewige Stadt er¬
freut sich einer langen Reihe vielgepriesener Umschau- und Übersichten»kee,
und weder dem Monte Pincio, noch dein Monte Mario, noch dein antiken
begrünten Scherbeuhügel (Monte Tcstaceio) bei der Porta San Paolo, noch
auch der unvergleichlichen Kuppel von Sankt Peter soll ihr gutes Recht ab¬
gesprochen werden. Aber die zauberhafte Passegiata Margherita mit ihrem
reichen Bilde, das sich auf dein Gange über die Prachtstraße allmählich ver¬
schiebt und doch immer gleich fesselnd bleibt, läßt sie alle weit hinter sich.
Die baumbepflanzte Straße über den Hügelrücken von Süd nach Nord, von
San Pietro in Montorio bis hinab zur Porta San Spirito und dem großen
Petersplatze, gehört ohne Frage zu den schönsten Spaziergängen der Welt, bei
jedem Schritt wird der Fuß gefesselt, weil die Augen schwelgen wollen, und
die wundersame Stimmung, die den Menschen bei dem Anblick gegenwärtiger und
der Erinnerung an vergangne Herrlichkeit überschleicht, wird in jedem Augen¬
blick angeregt und gesteigert. Die tiefste, beglückeudste Einsamkeit, hoch über
dem geschäftig bunten Treiben der Stadt, kommt der Dauer solcher Stimmung
zu gute. Denn so schön und anziehend die neue ans dieser Höhe geschaffene
Promenade ist, sie liegt viel zu weit vou den Mittelpunkten des römischen
Lebens ab, sie bedeutet viel zu wenig für den Verkehr, um stark belebt oder
auch nur viel besucht zu sein. Selbst die zur Zeit geltende Gewohnheit, an zwei
Nachmittagen deu nahe gelegenen Prachtgärten der Villa Doria-Pamfili zur
Kvrsofcchrt zu benutzen, lockt mir eine geringe Anzahl von Wagen hier herauf,
und das Gehen hat auch der moderne Römer noch nicht gelernt. Beinahe
jeder Vormittag und Abend und vollends ein Sonntag Morgen, um dem die
Sonne über dein Hüusermeer von Rom funkelt und die Glockentöne von hundert
Kirchen zu den schönen Pflanzungen am Gianieolo emporwogen, gewährt die
Stille, in der der Empfängliche noch andre Stimmen vernimmt, als die der
Glocken. J„ scharfer Deutlichkeit und duftiger Farbenpracht läßt sich von der
Hohe dieses Weges die ewige Stadt bis zu ihren letzten Außenkirchen und die
Eampagnci mit ihren Wasferleitungsbogen überblicken, gewisse Punkte, nament¬
lich der königliche Quirinalpalast mit seinen weiten Hosen, Gärten und Neben¬
bauten, treten hier oben viel schärfer und wirksamer ans der Häuserflut her-
dvr, als nu irgeud einem andern Übersichtspnnkte. Wie der Zauber Roms
vor allem in der täglich wachsenden Gewißheit liegt, daß sein Reichtum offen¬
barer oder nach und nach zu Tage tretender Schönheit niemals zu erschöpfen
ist, so bleibt es der Hnuptreiz der Passegiata Margherita, daß auf jedem
Gange über sie hinweg neue fesselnde Züge, neue Einzelheiten in dem großen
Stadtbilde sich offenbaren. Gewiß, Rom ist nicht an einem Tage erbaut worden,
es kann auch nicht, selbst in der Überschau nicht, an einem Tage gesehen werden.
Der Streit zwischen den empfänglichen, ihrer Eindrücke und Offenbarungen
still wartenden Naturen und den modernen Bädekerreisenden hat seine Wurzel
in dem Trotz, mit dem sich die letztern gegen den tiefern Sinn des alten
Spruches auflehnen.
Die Passegiata Margherita ist nach der ersten Königin des neuen Italiens,
die drüben im Quirinal Hof hält, getauft worden. In ihrer entzückenden
Schönheit birgt sie eine tröstliche Verheißung, daß auch das neue königliche
Rom seinen Teil zu der stillen Majestät und Größe der alten Hauptstadt der
Welt beitragen werde. Freilich erscheint auch diese Anlage in zwei Punkten
echt römisch: um sie schaffen zu können, hat ein Teil der hinter dem Palazzo
Corsini zum Janienlushügel aufsteigenden Gärten, auch der vielbernhmte Kloster¬
garten von San Onvfriv, zerstört werden müssen, und sie ist etwa nur zu zwei
Dritteln fertig geworden. Die Fahrstraße ist allerdings durch- und bis zur
Lvngara hinabgeführt, aber die Schönheit der Anlage, die wirkliche Vollendung
dnrch Baum- und Buschgruppen, durch die Entfaltung südlicher Pflanzenpracht,
der Abschluß und die Befestigung dnrch Stützmauern und Treppen bricht hinter
der Tassoeiche plötzlich ab, und eine Folge von Schuttstätten, Stein- und Lehm¬
haufe», vergrauten Mauern, Halbwüsten Gärten stimmt schlecht zu dem heitern
Anfang und Fortgang des stolzen Höhenweges. Was die Zerstörung anlangt,
der die prächtige Passegiata abgewonnen worden ist, so hat sich hier nnr
wiederholt und erneuert, was wie ein ehernes Gesetz über der ewigen Stadt
und ihren Schicksalen waltet. In alter und neuer Zeit hat hier Geschlecht auf
Geschlecht, um im Schaffe» den eignen großen Sinn bethätigen, um aus den:
Vollen schöpfe» zu können, einen Teil des Vergangenen preisgegeben. Wahr¬
scheinlich sind auch bei der Schöpfung der gepriesenen Passegiata Margheritn
lauschige Gartcneinsamkeiten, malerische Winkel und Wege geopfert worden;
mancher ältere Besucher Roms mag milde» in der neuen Herrlichkeit ein lieb-
gewvrdnes Plätzchen, einen stillen Neiz vermissen, doch er wird einräumen
müssen, daß das neuentstandene des Opfers wert sei. Die Unfertigkeit der
großgeplanten Anlage aber entspricht nur allzuvielein, was auch im alten Rom
begonnen und nicht zu Ende geführt worden ist, und in diesem Falle ist ja
an der schließlichen Ausführung des ursprünglichen großen Entwurfs nicht zu
zweifeln. Die weltlichen Könige haben im allgemeinen eine längere Zeit des
Wirkens vor sich als die Priesterkönige des ehemaligen Kirchenstaates, ja sie
stehen im schlimmsten Falle den Bauten und Anlagen ihrer Vorgänger minder
gleichgiltig, ja feindselig gegenüber wie die Päpste früherer Jahrhunderte.
Längst vor der Eröffnung der Passegiata Margherita gab es vom Hngel-
kamme des Monte Gianievlo einzelne von Alters her gepriesene Aussichts¬
punkte. Der Platz vor dem Kirchlein San Pietro in Mvntvrio, der sich un¬
mittelbar über Trastevere, über die heutige Via Garibaldi erhebt, die Terrasse
bei der Fontana dell Acqua Pavlci, dem granitenen und marmornen Brunnen¬
denkmal Papst Pauls V., dessen prachtvoll herabrauschende Wasserströme seit
dein Beginne des siebzehnten Jahrhunderts Hunderttausenden von Beschauern
Auge und Herz erfrischt haben, und eine halbe Stunde davon nordwärts, jen¬
seits zahlloser Gärten, Höfe, Bignen und wüster Flecke, der so hoch gelegene
Klvstergnrten von San Onofriv haben jeder einen herrlichen Niederblick auf
Rom gewährt. Das Verdienst der jüngsten Anlage ist es, nun alle diese
wundervollen Stellen mit einander zu verbinden, die Halbrnndsicht auf Rom
und die Campagna, die der ganze Janiculus gewährt, vollständig zu erschließen,
eine Folge wechselnder Bilder, die ebenso stark zur Phantasie als zum Blick
sprechen, Bilder von großem Zug und unsäglichem Farbenreiz, harmonisch
aneinanderzurücken, in freier Höhe, hoch über den Niederungen des Tiberthales
und am Räude der ausgebreiteten Stadt, einen wahrhaft schonen Spaziergang
geschaffen zu haben, der für künftige Jahrzehnte noch laubigere Schatten, noch
köstlicheren Blütendnft verspricht, als er schon heute spendet. Vom Aufgnng
zur Passegiata, in dessen Nähe auch das berühmte Tempelchen (Tempiettv)
Bramantes steht, bis gegen die Mitte liegt immer ganz Rom mit einer wesent¬
lichen Ausnahme zu Füßen und vor den Augen. Ganz Rom, bis auf die
Leostadt, die, in der Tiefe zwischen dem Janiculus und dem vatikanischen Hügel
steckend, zunächst nicht sichtbar wird, bis mit einemmale links die ungeheure
Kuppel von Sankt Peter, das Weltwahrzeichen Roms, majestätisch in dieblaue
Luft emporragt. Auf dieser Strecke des einzig schönen Weges ist es, wo sich
die Fülle jener Eindrücke zusammendrängt, unter denen der Beschnner, wenn
er nicht ganz stumpf, ganz armselig flach ist, die unter ihm liegende, von Jahr-
tausenden, vou so uneriueßlichen Erlebnissen, Thätigkeiten, Kämpfen und Leiden
zeugende steinerne Wirklichkeit zu sich sprechen lassen muß. Meine Lieblings-
stelle, wie die manches andern, war der Raum zwischen der einsam aber prächtig
gelegenen Villn Lante und der Eiche des Torquato Tasso, die gestützt und
mit eisernen Klammern zusanunengehalten, dem Blitzstrahl wie den Jahrhun¬
derten getrotzt hat. Von dieser Stelle herab schaut man in die Reste der
Corsinigärteu und jenseits in die griiue Einsamkeit, in der das Juwel der
Renaissnucekunst, die Farnesina, noch immer unangetastet, von dein zerstörenden
Atem der Zeit kaum angehaucht liegt; von hier ans läßt sich an den auf¬
ragenden Türmen und Kuppeln der unzähligen Kirchen, an den Tiberbriickeu
und den schärferen Umrissen der gegenüber liegenden Hügel jedes einzelne
Quartier, jeder bedeutende Punkt der Stadt erkennen. Hier empfindet man
lebhaft, ja überwältigend, daß dies mannichfaltige Rom mit seineu tausend
verwirrenden Einzelheiten, seinen durch und übereinander geschobenen historischen
Schichten doch eine Einheit ist, daß auch heute noch das Goethische Wort gilt,
daß hier das Große war, ist und sein wird. Die drei Jahrhunderte, die ver¬
gangen sind, seit Torquato Tasso im letzten Frühling seines Lebens von diesem
Hügel auf die ewige Stadt hinuutergesehen hat, heißen mit Recht in der unend¬
lichen Geschichte Roms eine schlechte und ärmliche Zeit, und doch — was haben
anch sie gesehen, geschaffen und hinterlassen!
Wer heute eine Beschreibung der Stadt Rom unternähme, wie sie von
Bunsen, Platner und andern in den dreißiger und vierziger Jahren in ver¬
hältnismäßig stiller Zeit vollendet worden ist, liefe Gefahr, überall auf Ver¬
änderungen, unruhige Übergänge und unerfreuliche Widersprüche zu stoßen, die
in dem innern Leben der ewigen Stadt walten und natürlich ihren äußern
Ausdruck finden. Wenn man aber von der Höhe unsrer Passegiata das Ge¬
samtbild Roms aufmerksam und immer wieder betrachtet, wenn man wahrnimmt,
wie hier die alten und die neuen Teile wunderbar in einander gehen und zu einem
mächtigen Ganzen werden, auch wenn der Himmel deu leuchtenden Schimmer
einmal versagt, der in der Regel über dem herrlichen Bilde liegt, wenn man
mit frohem Schauer gewiß wird,, daß das Unbedeutende, zufällig Aufgepfropfte
von dem Bedeutenden, Charakteristischen, Bleibenden vollständig überwältigt und
gleichsam verflüchtigt erscheint, so hegt man wenig Besorgnisse darum, ob auch
künftige Geschlechter noch mit Begeisterung und Entzücken auf Rom hinüber¬
schauen werden.
Das wandelbar Zufällige und das Dauernde haben hier vou je in eigen¬
tümlicher Wechselwirkung gestanden. Selbst die wohlerhaltenen Kunstwerke
waren den Veränderungen der Zeit und des gerade herrschenden Geschmacks
unterworfen, lind nicht alle wurden so verhältnismäßig glücklich umgestellt, wie
das antike Reiterstandbild Mure Aurels, das vom Lateranpalast auf die Höhe
des Kapitols versetzt wurde, oder die Tmnsfigurntion Rafaels, die noch Goethe
in San Pietro in Montvrio gesehen und genossen hat, und die heute eine
Hauptzierde der vatikanischen Pinakothek bildet. Da freut man sich denn jedes
Baues und jeder Anlage, die mit den natürlichen Grundlinien der Tiberstadt,
dem Terrain selbst in Verbindung gebracht siud und eine Bürgschaft langer
Dauer in sich tragen. Neben den vielen sehr willkürlichen und schon heute
als rasch vergänglich zu erachtenden Umgestaltungen Roms darf sich die
Passcgiata Margherita dieser Bürgschaft rühmen. Ich habe sie nur im lichten
Frühlingsgrün gesehen, in Wochen, wo auch die Cnmpagna sich mit
neuem üppigem Grün schmückt und der Reisende kaum an einzelnen, dem
Sonnenbrand besonders ausgesetzten oder verödeten Stellen ahnen kann, wie
Sommerglut und Staub die lachende Landschaft umzuwandeln vermögen. Aber
ich zweifle uicht, daß der Eindruck zu allen Zeiten gewinnend und nachhaltig
sein wird: es ist ein großer Zug in dieser Anlage, eine Mischung heitern
Behagens und ernster Würde, die ja echt römisch sind/'
An der eigentlichen Promenade liegen nur wenige Gebäude, unter denen
die obengenannte Villa Lante und das Kloster San Ouofrio die bedeutendsten
und wichtigsten sind. Das Kloster, die Zufluchtsstätte, zu der sich der kranke
Dichter des „Befreiten Jerusalems" empvrbringen ließ, als er im Winter von
1594 auf 15W merkte, daß er die ihm zugedachte Dichterkrone mit einer
himmlischen Krone werde vertauschen müssen, erscheint zur Zeit noch Wohl
erhalten, im Hauptgebäude werden in der Zelle Tassos die Erinnerungen an
seinen kurzen Aufenthalt und Tod sorgfältig bewahrt. Die wächserne Toten¬
maske, Handschriften, Bücher, Schreibzeug und Spiegel des Dichters berührten
mich tiefer und stimmungsvoller, als das getreue, aber grelle und allzusehr
auf die überraschende Wirkung gemalte moderne Freskobild, das von der
Rückwand der Zelle her dem Beschauer entgegenblickt. Der beste Eindruck,
den man davonträgt, ist das helle Licht in dem einfachen Gemach, eine
gewisse ruhige Würde des davor liegenden Ganges. Man fühlt es nach
Jahrhunderten noch, wie der innerlich gebrochene, krankheitgebeugte, aber
immer noch stolze und vornehme Dichter in diesem Aufenthalt ein Gefühl
des Friedens, wehmutsvoller Beruhigung vou Tag zu Tag stärker empfinden
mußte, und man freut sich, daß wenigstens der Ausgang dieses Lebens
der innern Würde einer feinbesaiteten Natur entsprochen hat. Freilich fehlt
nnter dem geringfügigen litterarischen Nachlaß auch die römische Ausgabe
der (ZvrnLcckömrnö vonHumtiika, nicht, der traurigen Verballhornuug des eignen
besten und unsterblichste!: Werkes, die sich Tasso abgequält hatte, um den An¬
sprüchen des gegenrefornmtorischen Zelotismus zu genügen und die ursprüng¬
liche Richtung seiner Phantasie zu verleugnen. Wenn man sich ins Gedächtnis
ruft, daß er noch auf dem Totenbette den Kardinal Aldvbrandini beschwor,
die Exemplare des „Befreiten Jerusalems" aufkaufen und vernichten zu lassen,
damit nichts von dein schimmernden Glanz und der farbenreichen Frische seiner
ursprünglichen Schöpfung übrig bleibe, so gönnt man zwar in der Erinnerung
denk unglücklichen Dichter sein letztes einfach würdevolles Asyl, aber um, atmet,
ans die freie Pnssegiata Margheritn wieder hinaustretend, unwillkürlich bei dem
Gedanken auf, daß kein großer und echter Dichter späterer Tage mehr nach
solchem klösterlichen Asyl begehrt hat.
on Dr. H. I. Kleins „Astronomischen Abenden"") ist die dritte
Auflage erschienen. Wir machen darauf aufmerksam, indem
wir kaum nötig haben, empfehlende Worte hinzuzusetzen. Die
überaus klare, anregende und schöne Schreibweise des Verfassers
ist ja in weiten Kreisen bekannt und geschätzt. Der Verfasser
erhebt mit seinen „Astronomischen Abenden" nicht den Anspruch, eine systema¬
tische Darstellung der Astronomie in populärer Form zu geben; vielmehr be¬
absichtigt er in einer mehr freien und möglichst unterhaltenden Form dem
Leser die hauptsächlichsten Errungenschaften der heutigen Sternkunde vorzu¬
führen. Die geschichtliche Entwicklung der Sternkunde schließt sich an die
Lebensgeschichten der hervorragendsten Astronomen an, und zwar so, daß die
Hauptfragen und Hanpterruugenschaften der Sternkunde nach einander auftauchen
und erörtert werden, wie sie in der geschichtlichen Entwicklung der Wissenschaft
angetreten sind. Damit wird die Grundlage gewonnen für weitere Dar¬
stellungen, die sich mit Sonne, Mond, dem Planetensysteme, den Kometen und
Fixsternen in sachlich erörternder Form befassen. Der Hauptzweck des Werkes
ist, eine anregende Lektüre zu sein für solche, die ohne weitere Vorkenntnisse
und Absichten, als die des gebildeten Menschen, sich ans der Sternkunde unter¬
richten möchten. Mit dieser Einschränkung seiner Aufgabe hat der Verfasser
recht. Deal keine Wissenschaft kann den Dilettantismus weniger vertragen
als die Astronomie, keine übt aber anch auf die ferner stehenden Kreise eine so
große und geheimnisvolle Anziehungskraft aus. Wenn der Verfasser der
Astronomie auch sittliche, volksbildeude Kräfte zuschreiben möchte, so hat er
freilich unrecht. Er führt Dieffenbach an und ist mit diesem der Meinung,
das; die Pflege einer so edeln und hohen Wissenschaft, wie die Astronomie,
über den sittlichen und geistigen Rückgang unsrer Zeit, die leere und hohle
Genußsucht, den thörichten Kultus der Theatergrvßen, deu hohlen Prunk und
sittlichen Verfall hinweghelfen könne; einer Wissenschaft, die lehre, daß dieses
Weltall wie unser Menschengeschlecht ewigen unerschütterlichen Entwicklungs¬
gesetzen folge, und die darum den, der sich mit ihr beschäftigt, nur sittlich
heben und läutern könne. In Belgien lasse neuerdings der Unterrichtsminister
für sämtliche Schulen Fernrohre anschaffen. Diesem Beispiele müsse man
folgen, und um die Welt sittlich zu hebe», zu den Sterne« aufschauen. Das
sind Träumereien, die mit den wirklichen Dingen und wirklichen Menschen
wenig genug zu thun haben. Ich erinnere mich, vor etlichen Jahren in Wester-
manns Monatsheften einen Aufsatz gelesen zu haben, in dem der Verfasser
— ich weiß seinen Namen nicht mehr — allen Ernstes vorschlug, auf den
öffentlichen Plätzen Fernrohre aufzustellen zur unentgeltlichen Benutzung für
das Volk. Die Beobachtung der in stiller Gesetzmäßigkeit kreisenden Jupiters -
Monde werde ohne Zweifel die nnzufriednen Volksklassen über die ewigen
Gesetze belehren und mit ihrer Lage versöhnen. Man könnte ebenso gilt als
wirksames soziales Heilmittel die liebevolle Pflege des alten schönen Liedes
„Guter Mond, du gehst so stille" empfehlen, auch an Stindes Professor Desens
denken, der die Betrachtung der mild-blauen Cäsinmlinien des Spektrums nu
die Stelle der Tröstungen der Religion setzen wollte. Wir wären nicht böse
darüber, wenn die Stelle über die ethische Bedeutung der Astronomie in einer
spätern Auflage fehlte.
Um aber ans deu „Astronomischen Abenden" eine Probe mitzuteilen,
wählen wir die Frage der Doppelsterne, die durch allerneueste Entdeckungen
in den Vordergrund des Interesses getreten ist.
Unter den Fixsternen des nächtlichen Himmels, die mit völliger Regel¬
losigkeit an der scheinbaren Himmelsdecke ausgestreut sind, finden sich viele,
die paarweise in so großer Nähe bei einander stehen, daß sie dem unbewaff-
neten Ange nur als ein Stern erscheinen. Mau könnte annehmen, daß diese
Nähe ans einer zufälligen Anordnung beruhe, aber die Forschung hat ergeben,
daß diese Doppelsterne jeder für sich ein eignes System bilden. Der erste,
der dies aussprach, war Christian Mäher im Jahre 1778. Doch war die
Vorstellung von Fixsterntrabanten dieser Art vor hundert Jahren eine so
ungewohnte, daß Mäher den heftigsten Widerspruch fand. Ja man machte
gegen die Annahme zweier zusammengehörigen Sonnen geltend, daß zwei sich
gegenseitig beleuchtende Sonnen zwecklos, also in einer zweckmäßig gebunden
Welt unmöglich seien.
Zu gleicher Zeit wandte Herschel sein Riesenteleskop den Doppelsternen
zu lind entdeckte und vermaß in vier Jahren nicht weniger als 269 Doppel¬
sterne, von denen die »leisten einen geringeren Abstand als 32 Bvgensekunden
haben. Im ganzen weisen seine Kataloge 846 Doppelsterne ans. Herschel ging
zunächst von der Ansicht aus, daß die beiden zusammengehörigen Sterne nnr
scheinbar nahe bei einander, in Wirklichkeit aber in nahezu gleicher Richtung
weit hinter einander stünden, und er beabsichtigte bei der Verschiebung dieser
beiden Sterne zufolge des Umgangs der Erde um die Sonne ihre Entfernung
zu berechnen. Dies ist ihm nun allerdings nicht gelungen, wohl aber konnte
er eine Eigenbewegung der Doppelsterne und zu Anfang dieses Jahrhunderts
bei Beobachtung des Doppelsternes ? im Herkules die Thatsache feststellen,
das; ein Fixstern durch den andern bedeckt wurde.
Erst mit dem Gebrauche Fraunhvferschcr achromatischer Refraktoren, das
heißt von großen, mit farbfreien Glaslinsen versehenen Fernrohren gelang es,
neue Erfolge auf dein Gebiete der Beobachtung von Doppelsternen zu erzielen.
Struve entdeckte und beobachtete in den Jahren 1824 bis 1836 mit seinein
großen Dorpater Refraktor nicht weniger als 2641 Doppelsterne von weniger
als 32 Bogensekunden Entfernung. In etwa derselben Zeit durchforschte der
jüngere Herschel von Kap der guten Hoffnung aus deu südlichen Sternhimmel
und fand 2100 neue Doppelsterne. Ihnen folgten der jüngere Struve und
Bnrnham, von denen der letztere mit einem kleineren und später mit dem großen
Refraktor zu Chicago 1000 neue Doppelsterne fand.
Noch eine besondre Merkwürdigkeit der Doppelsterne hat sich gezeigt,
nämlich eine häufig vorhandene ungleiche Färbung der beiden Sterne. Nicht
selten ist der eine Stern gelb, der andre blau, bisweilen der eine grün, der
andre blau; häufig findet man einen Weißen Hauptstern und einen binnen
Begleiter. In jüngster Zeit hat mau die Vermutung ausgesprochen, daß
sich in einigen Doppelsternsystemen die Färbung je nach der Stellung deS
Begleiters in seiner Bahn ändere. Es drängt sich die Frage auf, wie sich
unter diesen Verhältnissen die Beleuchtung eines Planeten, der diese Doppel-
sonnen umkreist, gestalten muß? Muß ein solcher Planet nicht sehr farbige
und sehr ungleich farbige Tage haben, wenn seine beiden Sonnen etwa rot
und grün sind? Nehmen wir an, unsre Sonne sei purpurrot und stehe hoch
am Himmel. Nun ist die ganze Natur von diesem farbigen Lichte Übergossen;
aber°statt des blauen Himmels sehen wir ein schwarzes Firmament, und eben
so schwarz erscheint der Pflanzenteppich. Jetzt erhebt sich über dein Horizont
eine zweite Sonne, nehmen wir an von goldgelber Farbe. Sofort verwandelt
sich der Anblick der ganzen Umgebung, neue Farben und Schattirungen ent¬
stehen, wer vermag sie zu schildern! Wie wir Menschen uns auf einen schönen
Sonnentag freuen, so können vielleicht die Bewohner der Planeten jener
Doppelsterne den Aufgang ihrer blauen oder goldgelben Sonne erwarten, um
eine Landpartie zu machen!
Man darf schließen, daß mit zunehmender optischer Kraft der Ferngläser
auch die Zahl der sehr engen Doppelsterne zunehmen wird. Aber die Leistungs-
fähigkeit der Teleskope hat Grenzen, denen wir vielleicht scholl ziemlich nahe
gekommen sind. Auch bildet die Atmosphäre el» großes Hindernis, wenn es
sich um sehr feine Beobachtungen handelt. Da tritt fast unerwartet die Spektral-
Photographie hilfreich ein und lehrt uns sogar Doppelsterne erkennen, die
niemals ein Fernrohr trennen kann, und andre, deren einer Teil überhaupt
unsichtbar ist. Wie ist das aber möglich?
Zum bessern Verständnisse des Nachfolgenden möge mir gestattet fein, einige
Bemerkungen einzuschalten. Wenn mau an einer Eisenbahn steht, und el»
Schnellzug fährt vorüber, dessen Lokomotivpfeife ertönt, so hören wir beim Nahen
des Zuges deu Ton der Pfeife nicht allein lauter, sondern auch höher werden. Beim
Entfernen des Zuges sinkt die Tonhöhe. Wie hängt das zusammen ? Die Pfeife
sendet einen Ton aus, von dem wir annehmen wollen, daß er 500 Schwingungen
in der Sekunde habe. Die einzelnen Schwingungen, die aus einer stoßweisen
Vorwärtsbewegung der Luft und darauffolgenden Verzögerung bestehen, brauchen
eine Sekunde, um den Weg von AjO Meter zurückzulegen. Ertönt die Pfeife
bei stillstehender Maschine aus einer Entfernung von Metern, so langen die
dein Tone entsprechenden Wellen nach einer Sekunde an. Wenn sich aber die
Maschine zugleich dem Hörer nähert, nehmen wir an mit gleicher Schnelligkeit
wie der Ton, so empfangen wir in dieser Zeit die doppelte Anzahl von Ton-
Wellen, und der Ton erhöht sich in die Oktave. Oder braucht die Maschine,
um AZO Meter zurückzulegen, 20 Sekunden, so empfangen wir in dieser Zeit
500 -j- ^, also 525 Tonwellen und hören einen um dies Maß erhöhten Ton.
Das Umgekehrte findet statt, wenn sich der Tvngeber entfernt. Der Ton ver¬
tieft sich in demselben Maße, als er sich zuvor erhöht hatte. Nun kann mau
mit Hilfe einer mitschwingenden Membran Töne niederschreiben. Die Schrift
besteht in einer regelmüßigen Folge von Wellen. Bei einem Tone eines fest¬
stehenden Tongebers würden wir auf einer Fläche, die in einer Sekunde
vorübergeht, 500 Wellen, bei einem Tone eines sich nähernden Tongebers
mehr als 500 Wellen, d. h. ein nach links verschvbues Wellenbild haben. Das
Umgekehrte geschieht, wenn sich der Tvngeber entfernt; das Wellenbild ver¬
schiebt sich nach rechts.
Nun besteht auch das Licht aus Wellen, und zwar ans solchen des Äthers.
Das Spektrum ist das Bild eines in seine Bestandteile zerlegten Lichtstrahles.
Hier geschieht nun genau dasselbe, was oben beim Tone eines bewegten Tvn-
gebers gezeigt wurde, wenn sich die Lichtquelle uns nähert oder sich von uns
entfernt. Wir erhalten bei eiuer sich nähernden Lichtquelle eine größere Zahl,
bei einer sich entfernenden eine geringere Zahl von Lichtwellen, als die ruhende
Lichtquelle ausgesendet haben würde. Demzufolge muß sich das Lichtbild bei
einer sich nähernden Lichtquelle »ach der Seite der höhern Wellenzahl, also
nach der violetten Seite des Spektrums, im umgekehrten Falle nach dessen
roter Seite verschieben. Aber diese Verschiebung kann bei der ungeheuern
Schnelligkeit des Lichtes nur eine äußerst geringe sein und würde nicht fest¬
gestellt werden können, wenn Nur nicht an den das Spektrum quer durch¬
schneidenden Frauuhoferscheu Linien einen festen Anhaltepunkt hätten. Wenn
wir uns nun den Fall vorstellen, daß von zwei dicht neben einander liegenden
Lichtquellen ein gemeinsames Spektrum hervorgebracht wird, so werden,
wenn diese beiden Lichtquellen derart auseinanderrücken, daß die eine sich
nähert, die andre sich entfernt, sich die gemeinsamen Linien in zwei neben
einander stehende teilen, da das eine Wellenbild nach rechts, das andre
nach links rückt. Nunmehr kehren wir zur Frage von der Natur der Doppel¬
sterne zurück.
Auf der Harvard-Sternwarte zu Cambridge in Nordamerika wurden seit
mehreren Jahren photographische Ausnahmen von Sternspektren gemacht und
die in denselben befindlichen dunkeln Linien studirt. Unter diesen Sternen be¬
fand sich der Stern Mizar des großen Bären, derselbe, der das Sternchen
Alkvr, das Reiterchen, über sich hat. Im Ende des Jahres 1889 fand man,
daß eine der dunkeln Linien des Spektrums dieses Sternes sich von Zeit zu
Zeit verdoppelte, und daß diese Verdoppelung mit großer Regelmäßigkeit in
52 Tagen wiederkehre. Nach der Rechnung mußte sie am 8. Dezember 1889
eintreten, und in der That zeigen drei an jenem Tage erhaltene Photographien
die erwähnte Dvppellinie. Die einzige befriedigende Erklärung dieser Thatsache
liegt nun in der Annahme, daß der Stern Mizar ein überaus enger Doppelstern
ist, eine zweifache Sonne, deren Komponenten fast gleich hell sind und so nahe
bei einander stehen, daß kein Fernrohr sie zu trennen vermag. Auch im
Spektroskop fallen die Spektra beider Sterne mit ihren dunkeln Linien genau
auf einander. Nun aber bewegen sich beide Sterne um ihren gemeinsamen
Schwerpunkt. Bewegt sich bei dieser Umlaufsbewegung der eine der beiden
Sterne in der Richtung ans die Erde zu, so müssen sich die Linien seines
Spektrums gegen das blaue Ende verschieben. Gleichzeitig aber bewegt sich
der zweite Stern in entgegengesetzter Richtung. Die Linien des Spektrums
werden daher gegen das rote Ende verschoben, und die zuvor aus einander
fallenden Linien rücken aus einander. Daraus, daß dies Auseinandertreten
der Spektrallinien regelmäßig aller 52 Tage wiederkehrt, ergiebt sich, daß
die Umlaufsbewegung beider Sterne 104 Tage betragen muß. Durch genaue
Messungen der Weite der Verdoppelung der Linien hat man ferner ermittelt,
daß der eine der beiden Sterne eine Bahn von 1450 Millionen Kilometer
durchläuft, und daß beide Sterne 230 Millionen Kilometer von einander
entfernt sind. Die gesamte Masse beider Sterne übertrifft diejenige unsrer
Sonne wenigstens um das Vierzigfache!
Gleichzeitig mit dieser Entdeckung ist eine ähnliche von Professor Vogel
auf der Potsdamer Sternwarte gemacht worden. Von den, Stern Algol im
Sternbilde des Perseus war es seit langem bekannt, daß er in regelmäßiger
Folge abnehmendes und zunehmendes Licht habe. Schon Ende vorigen Jahr¬
hunderts wurde die Hypothese aufgestellt, daß sich um ihn ein andrer dunkler
und großer Weltkörper bewege, daß wir also nach Ablauf von 2'/« Tagen eine
regelmäßige Algvlverfinsterung erleben. Diese Annahme ist vor einigen Jahren
von Professor Pickering geprüft und dahin abgeändert worden, daß der Welt¬
körper, der den Algol umkreist, diesem sehr nahe stehen müsse, und daß sich
beide Sterne mit großer Geschwindigkeit um ihre gemeinsame Are bewegen.
So weit war die Untersuchung gediehen, als Professor Vogel durch genaue Be¬
stimmung der Lage einer Linie im photographirten Spektrum erkannte, daß
diese Linien, wenn der Stern an Licht abnimmt, sich nach Rot verschieben,
während dagegen während der viereinhalbstüudigen Lichtzunahme eine Ver¬
schiebung nach dem blauen Ende des Spektrums erfolgt. sonach ist erwiesen,
daß sich Algol vor dem kleinsten Lichte von der Erde entfernt, nach demselben
sich wieder der Erde nähert, folglich um einen Punkt in seiner Nähe eine ge¬
schlossene Bahn beschreibt. Dies kann indessen nur eintreten, wenn sich ein
zweiter großer Weltkörper in seiner Nähe befindet und der Punkt, um den beide,
der helle und der dunkle, kreisen, ihr gemeinschaftlicher Mittelpunkt ist. Unter
Zuhilfenahme der Veränderungen der Lichtstärke ist es möglich geworden, die
Größen beider Sterne und ihrer Bahnen zu berechnen. Professor Vogel giebt
folgende Werte an: Durchmesser des Algol 1728000 Kilometer, Durchmesser
des umkreisten Planeten 1353000 Kilometer, Abstand der Mittelpunkte beider
5263000 Kilometer, Geschwindigkeit des Algol in seiner Bahn 43 Kilometer,
Geschwindigkeit des Begleiters W Kilometer in der Sekunde, Masse des Algol
'V.. der Sonnenmasse, Masse des Begleiters ^ der Sonnenmasse.
Das sind wahrhaft erstaunliche Berechnungen, und sie siud um so über¬
raschender, als es unmöglich ist und auch niemals gelingen wird, den dunkeln
Begleiter des Algol im Fernrohre zu sehen.
Wir sind in Vorstehendem der Darstellung Kleins gefolgt, indem wir sie
dem verwendbaren Raume entsprechend zusammenzogen, und haben unsern Bericht
in der Absicht gegeben, den Leser für die Himmelskunde zu interessiren und
ihm zu seiner Unterrichtung Kleins „Astronomische Abende" zu empfehlen.
in besondres Fest war ein „Laudbär." Es Kien bisweilen vor,
daß wir zum Begräbnissingen drei, vier Stunden weit hinaus
aufs Dorf, ans ein Rittergut oder zu einem reichen Bauer be¬
stellt wurden. Da fuhr ein Wagen vor der Schule vor, und
wir kutschirten hinaus, vielleicht in die schöne Sommerlandschaft,
Währelid die andern drin in der Mathematikstunde oder beim griechischen
Extemporale schwitzten. Draußen wurden wir vortrefflich bewirtet, mit Wein
und kaltem Frühstück, sogar zweimal, vor und nach dem Begräbnis, und
dann wurde in der vergnügtesten Stimmung wieder hereingefahren. Eil? Fall,
wo die Trauerfeier im Gnrtenpavillon eines alten, schönen herrschaftlichen
Parkes stattfand, und wo ich zum erstenmale einen Blick that in das Leben
einer begüterten Adelsfamilie, ist mir in besondrer Erinnerung geblieben. Dabei
brachte ein Landbür jedem das Doppelte eines gewöhnlichen Bars ein, er wurde
mit acht Thalern bezahlt.
Aber das war ein seltnes Ereignis; kaum ein- oder zweimal im Jahre
wurde uus so wohl. Dafür waren die gewöhnlichen Bäre umso häufiger und
bildeten für die glücklichen Acht, die sie zu singen hatten, eine bedeutende
Einnahmequelle, freilich auch eine Veranlassung zu fortwährenden Schulvcr-
säumnissen, denn die meisten fielen, vormittags wie nachmittags, mitten in die
Unterrichtsstunden, und dazu bestand die Unsitte, daß wir stets, nur damit wir
uicht zu spät kämen, viel zu früh bestellt wurden, sodaß es gar nichts unge¬
wöhnliches war, daß N'ir wegen eines Leichensingens drei Schulstunden ver¬
säumten. Aber es geschah noch etwas schlimmeres: wir selbst dehnten nicht
bloß diese Versäumnis auf alle Weise uugelmhrlich aus, durch langsames Gehen
auf dem Rückwege oder durch gemeinschaftliches Einkehren in einer am Wege
gelegenen Bierwirtschaft, sondern wir führten sogar die Versäumnis künstlich
und widerrechtlich herbei, wir „schwärzten," wie der technische Ausdruck lautete,
und saugen Bäre, die gar nicht bestellt waren. Sei es nun daß ein positiver
Anlaß dazu vorlag in Gestalt eines schönen Sommermorgens, oder ein nega¬
tiver in Gestalt einer angekündigten Geschichtsrepetitiou oder einer nicht herans-
gebrachten mathematischen Aufgabe, kurz, es kam vor, daß der Präfekt den
beteiligten sieben in aller Stille den verruchten Gedanken zur Erwägung gab,
ob es heute nicht angezeigt sei, einmal zu schwarzen. Bei der kleinen An¬
zahl der Beteiligten war Einverständnis leicht zu erzielen, und leider kann ich
nicht verschweigen, daß die Schlechtigkeit so weit getrieben wurde, daß wir uns
mit Gesangbuch und Zylinder an der Schulthür versammelten und, ehe wir
abgingen, uns von den hereinkommenden Lehrern auch erst noch bedauern
ließen, daß wir „schon wieder" zu singen hätten. Dann wurde beratschlagt, ob
wir lieber anus 1^ drauä M'am oder eliM8 es ^otg,rü'a,no M'ain gehen oder lieber
in der Vorstadt ein Stündchen Villard spielen wollten, denn natürlich mußte
ein stilles Fleckchen aufgesucht werden, wo uns so leicht niemand entdecken
konnte/ Einmal ereilte uns aber doch das Verhängnis, wenn wir auch noch
unverdientes Glück dabei hatten. Als wir eines Nachmittags dnrch die
Pirnische Gasse steuerten, scheinbar hinaus nach dem Elias- oder dem „weiten"
Kirchhof, begegnete uns zu ganz ungewohnter Stunde und an ganz unge¬
wohntem Orte — der Kantor! ,,J, wo wollt ihr denn hin?" — „Wir haben
einen Bür auf dem weiten Kirchhof," erwidert rasch entschlossen der Präfekt. —
„So? ich weiß ja gar nichts davon." — „Ja, es ist ans dem Alumneum
bestellt worden, vorhin erst." Damit war das Verhör zu Ende, und wir
konnten weiterziehen. Abgesehen von dem ausgestandner Schrecken hatten wir
nur die eine Strafe, daß wir dem Kantor zwanzig Neugroschen aus unsrer
Tasche zahlen mußten — den ihm zukommenden Anteil am Singegeld.
Schändlicherweise beteiligten sich aber an solchen Schwänzbären sogar
solche, die mit dem Kirchhofsingen gar nichts zu thun hatten. Es konnte das
freilich nur bei Lehrern gewagt werden, die von der ganzen Einrichtung des
Singechors keine rechte Kunde hatten, und das harmloseste Gemüt in dieser
Beziehung war der Korrektor, ein grundgelehrtes Hans, ein hervorragender
Kenner des Griechischen und vor allem des Hebräischen, aber ein ganz zurück¬
gezogener Vüchermensch, der keine Ahnung davon hatte, wies im Leben her¬
ging, und in allem, was Musik betraf, ein reines Kind. Sein Spitzname war
„der Pietsch." Die eine Klasse war einmal sehr stark mit Alumnen besetzt; es
waren wohl elf oder zwölf darin. Als diese Klasse nach Obersekunda ausrückte,
wo der Pietsch Klassenlehrer war, da begann allerdings ein arges Treiben.
Wir hatten ans den Text des Liedes „Wer nur den lieben Gott läßt walten"
vier verschiedne Melodien; eine davon war kurz zuvor neu eingeführt worden,
sie war etwas süßlich, aber gerade deshalb beim Publikum sehr beliebt. Da
wurde nun ausgemacht, daß, wenn der Pietsch einmal zur Morgenandacht ein
Lied nach der Melodie „Wer nur den lieben Gott läßt walten" bestimmen
würde, alle vier Melodien gleichzeitig gesungen werden sollten. Es war das
leicht durchzuführen, denn die Alumnen saßen in der ganzen Klasse verteilt,
je zwei oder drei saugen stramm und „unentwegt" ihre Melodie, und die
herumsitzenden Extraner sangen mit. Dieser eigentümliche Gesang fiel aber doch
selber dem Pietsch auf, und er sagte nach der Stunde, was denn heute mit
dein Morgenliede gewesen sei, das habe doch so merkwürdig geklungen. Da
wurde ihm denn gesagt, das sei die neue Melodie, aber wir könnten sie noch
nicht ordentlich. Dabei beruhigte er sich. Beim Pietsch nun kam es öfter vor,
daß in einer griechischen Stunde alle Alumnen der Klasse mit Ausnahme eines
einzigen — es war der Cacus — schwärzten, sodaß die halbe Klasse leer war.
Da fragte endlich einmal der Pietsch den Cacus: „Wie kommts denn nur,
daß immer bloß die andern fehlen und Sie immer da sind?" Und was ant¬
wortete der brave Junge? „Ich bin kein Solofänger."
Großes sittliches Unheil ist trotzdem durch die Bäre und die gelegent¬
lichen Schwänzbäre nicht angerichtet worden, ebenso wenig großer wissen¬
schaftlicher Schaden. Ich hatte Hunderte von Bären mitgesungen, darunter
auch manchen Schwänzbär, und ging beim Maturitätsexamen doch mit der 1"
als wissenschaftlicher Zensur ab, ein Beweis, daß der gesetzliche Unterrichts¬
plan die kleinen Abkürzungen, die wir gelegentlich damit vornahmen, recht wohl
vertrug. Ich will allerdings nicht verschweigen, daß gerade unter den Alumnen
damals eine große Anzahl in ihrer Schullaufbahu Schiffbruch litten. In
Freundeshand hat sich das Bruchstück eines Tagebuches erhalten, das mein
lieber Vierhändigspieler eine Zeit lang ans dem Alumneum geführt hat. Es
enthält unter andern: auch eine vollständige Liste der Alumnen ans den Jahren
1857 bis 1859, im ganzen sechzig Namen; bei allen ist der Geburtstag, der Ge¬
burtsort, der Stand des Vaters, der Tag der Aufnahme auf die Schule und
der der Aufnahme aufs Alnmncum angegeben, bei achtunddreißig außerdem
noch der Tag und die Art des Abganges, zum Teil von andrer Hand später
nachgetragen. Da zeigt sich denn, daß von diesen achtunddreißig drei „fort¬
geschickt," d. h. ganz von der Schule gejagt, fünf „vom Alumneum gewiesen"
worden, zwei „davongelaufen" sind; bei einem endlich steht: „geht nach Hanse,
wollte sich ersaufend!)." Nimmt man hinzu, daß auch unter den übrigen noch
so mancher ist, dessen Abgang zwar freiwillig geschah, aber doch vor der Zeit
und nnr, um Schlimmerem zuvorzukommen, so gelangt man zu einem ganz er¬
schreckenden Prozentsatz Schiffbrüchiger. Aber die Ursachen davon waren
von der mannichfaltigsten Art, zum Teil geradezu gemeine Vergehen, wie
Diebstahl, wozu die Versuchung leider nahe genug lag. Die meiste» der Un¬
glücklichen hatten wohl schon aus dein Elternhause keinen rechten Halt mit¬
gebracht. Der Schwänzverführnng ist keiner zum Opfer gefallen. Einer hatte
etwas ganz Sonderbares verbrochen. Der Lehrer des Deutschen in Ober-
ftknnda — er hieß „der Forscher," weil er namentlich Geschichtsunterricht
gab — hatte zum deutschen Aufsatz das Thema gestellt: „Nausikaa." Da
hatte einer die unglaubliche Frechheit, das Thema in den Schmutz zu ziehen
und den Odysseus als einen schamlosen Patron hinzustellen. Er wurde darauf
zwar uicht fortgeschickt, empfand aber doch seine ganze Stellung von Stund
an als so erschüttert, daß er es vorzog, sich kurz darauf aufs „Klinikum" zu
retten, das überhaupt damals für viele, auch für ganz brave, aber arme Jungen,
die sich auf der Universität nicht durchzukommen getranten, eine Zufluchts¬
stätte war.
Viel näher lag bei den häufigen Straßen- und Kirchhofssingen eine
andre Gefahr, nämlich die, daß wir unsre Gesundheit dabei schädigten.
Wie oft haben wir im Winter eine Stunde lang und länger mit eiskalten
Füßen auf dem Kirchhofe hernmgestamvft und auf die Leiche gewartet, wie
oft während einer endlosen Grabrede in zollhohen Schneewasser zwischen den
Gräbern gestanden, wie oft beim Singen uns den Nord- oder Ostwind in den
Mund blasen lassen! Der Prediger stellte sich natürlich vorsichtig ans,
daß ihm der Wind hübsch in den Rücken pfiff und die weiten Talarärmel
nach vorn wehten; aber darnach fragten wir Jungen doch nicht, wo wir standen,
da standen wir eben. Daß da keine ernstlichen Erkrankungen vorkamen, niemand
auch, soviel mir bekannt geworden ist, den Keim zu spätern Krankheiten mit
fortgenommen hat, ist ein wahres Wunder.
Die Krankenstube wurde freilich im Winter nicht recht leer. Aber das
wollte nicht viel sagen. Jeder, der sich einen Husten oder Schnupfen geholt hatte,
meldete sich beim Inspektor krank und setzte sich dann ein paar Tage in die
Krankenstube. Für manche» war auch das nur eine willkommene Gelegenheit,
in das Einerlei des Schulunterrichts einmal etwas Abwechslung zu bringen.
Der Schularzt war ein alter Herr, der sich alles vorreden ließ, die Zunge
besah und den Puls befühlte und dann jedesmal dieselbe rote Flasche oder
denselben bunten Thee verschrieb, zu dessen Bestandteilen auch Feigeustückchen
und kleine Rosinen gehörten, die natürlich vor dem Kochen herausgelesen und
gegessen wurden. Angefertigt wurden die Rezepte in der Marienapotheke am
Markte, die übrigens — jetzt fällt mirs ein! — zu den Kurrendeuhäusern gehörte,
also wohl die Arzneien etwas billiger lieferte. Wer Zahnschmerzen hatte, ging
zum Natsbader, zu dessen Amtspflichten es gehörte, die Alnmnenzühne unentgeltlich
auszuziehen. Der Solofänger, den etwa vor den Feiertagen plötzlich Heiserkeit
befiel, half sich selbst: er holte sich in der Apotheke ein Stück Lederzucker oder in
schlimmern Fällen ein Mschchen Pimpinellentinktnr. Ein Solofänger im Alt, der
gern den Kraftmeier spielte und in seinem ganzen Wesen ein bischen Renommist
war, kochte sich einmal am ersten Pfingstfeiertage früh ein Tnubennest mitsamt
dem Taubenmist aus und trank die ganze Brühe. Sehr gemütlich war es des
Abends und — des Nachts in der Krankenstube. Da saßen zwei oder drei ver¬
gnügt beisammen, es war gut geheizt, man hatte seine besondre Tischlampe und
konnte ungestört Schustern. Einer, ein baumlanger Kerl, der sich für einen
großen dramatischen Dichter hielt und durchaus Schauspieler werden wollte
— er soll auch später bei einer herumziehenden Truppe gesehen worden
sein — wurde jedesmal krank, wenn er wieder über einem Drama brütete.
Da schrieb er dann die halbe Nacht und nötigte die, die gerade mit ihm zu¬
sammen waren, seine Verse anzuhören. Ein großer Monolog begann: „In
diesem Mantel will ich mich vermummen" (nach „Ans dieser Bank von Stein
will ich mich setzen"). Sogar geraucht wurde in diesen gemütlichen Kranken
stnbeunächten. Einmal hörten wir zu unserm Schrecken kurz vor Mitternacht
jemanden die Treppe heraufkommen. Es war ein Oberer, der sich für den
Abend freigemacht hatte und nnn spät nach Hanse kam — derselbe, der die
Cäsarkapitel immer nur bis zur dritten Zeile überhörte. Wir bliesen sofort
die Lampe aus, aber er hatte schon von unten das helle Fenster gesehen,
kam an die Thür und klinkte und klopfte. Wir waren mäuschenstill, ich war
— was gar keinen Zweck hatte, da wir ja doch nicht öffneten — unter ein
Bett gekrochen! Nachdem er lange vergeblich an der Klinke gedreht hatte,
ging er endlich weg, indem er, den Mund dicht an der Thürspalte, mit nieder¬
schmetternder Bestimmtheit die Worte sprach: „Die Krankenstube ist des
Farinns überwiesen." Welche Folgen sich daran knüpften, ist mir nicht mehr
erinnerlich.
Nur ein einzigesmal zeigte die Krankenstube ein ernstes, wehmütiges
Gesicht: sie wurde ganz unerwartet zum Sterbezimmer. Meinen lieben Partner
im Vierhändigspielen raffte als ersten Präfekten, wenige Monate zuvor, ehe
er zur Universität gehen wollte, eine kurze, heftige Krankheit hinweg. Aber
auch bei ihm war nicht der Chordienst schuld. Er war ein leidenschaftlicher
und feiner Turner und Tänzer. Eines Abends hatte er sich nach der Tanz¬
stunde gefährlich erkältet, aber anstatt sich zu schonen, wollte er sich dadurch
kuriren, daß er sich mit Gewalt in Schweiß turnte. Es folgte eine zweite,
noch weit schlimmere Erkältung, und in drei Tagen war er tot. Ich wachte
die letzte Nacht bei ihm in der Krankenstube mit seiner ältern Schwester, die
auf eine Nachricht ins Elternhaus schleunig herbeigeeilt war, und mit einigen
andern Freunden. Nach Mitternacht weckten wir in unsrer Herzensangst
den Hausmann und schickten noch einmal zum Arzt. Die Hausmannsfrau
kam herauf, und sowie sie die Thür öffnete, sagte sie, noch die Klinke in der
Hand: „Ach Gott, er röchelt ja schon"! Ich begriff den Ernst ihrer Worte
nicht ganz; todmüde, wie ich war, wollte ich gern noch ein paar Stunden
schlafen und ging zu Bett. Als ich früh wieder in die Krankenstube kam, lag
er schon als Leiche da; man hatte ihm ein weißes Tuch ums Gesicht gebunden.
Die Schwester erzählte mir unter Thränen, daß sich vorausgewußt habe:
vor wenigen Tagen habe ihr zu Hause geträn-ut, daß ihr ein Zahn ausfiele;
das bedeute immer einen Todesfall in der Familie. Nach drei Tagen be¬
gleitete ihn der ganze Chor zu Grabe.
Das Beste an den vielen Leichensingeu waren jedenfalls die Einnahmen.
Ach glaube, daß ich allein in meinem Prüfektenjahre mir gegen hundert Thaler
damit verdient habe. Die zwvlfbändige Schillerausgabe, die vierzigbändige
Goetheausgabe, die ueunbändige Shakespeareansgabe mit den schönen Kupfer¬
stichen von Ludwig Richter, die alle noch heute auf meinem Vücherbrette stehen,
habe ich mir als Alumnus mich und nach von den Singcgcldern angeschafft. Und
was hatte eine Gesamtausgabe Goethes damals zu bedeuten! Der Lehrer, der
uns in Untersekunda deutschen Unterricht gab, hatte sie nicht; dein schenkten
wir, seine Klasse, sie erst einmal zum Geburtstage. Sie kostete gebunden über
zwanzig Thaler, das war für damalige Verhältnisse so viel, wie heute etwa
zweihundert Mark. Daß uns die hohen Einnahmen auch manchmal zum
Leichtsinn und zur Verschwendung verlockten, will ich nicht leugnen. Das
Singegeld wurde vom Kantor in der Regel den Monat über aufgespart und
am Mvnatsschlnß verteilt. Es kam aber auch vor, daß der Knntvrfnmulus
schon in der Mitte des Monats abgeschickt wurde, beim Kantor um die Aus¬
zahlung des Singcgeldes zu betteln, weil Einzelne schon wieder ganz ab¬
gebrannt waren.
In solchen Noten bildete dann eine willkommene Rettung eine unerwartet
bestellte „Vrautmessc." So hieß eine Trauung, bei der sich das Brautpaar
den Luxus von Orgelspiel und Chorgesang gestattete, während die meisten
Trauungen ohne das abgehalten wurden. Wir hatten da zu Beginn, nachdem
das Brautpaar und die Hochzeitsgäste unter deu Klängen eines Orgelvvrspiels
aus der Sakristei auf den Altarplatz gezogen waren und sich niedergelassen
hatten, zwei oder drei Chvralverse zu singen und nach dem Ningwechsel und
Segen noch einen Schlnßvers; das war alles. Auch diese Vrautmessen aber
sang nur das Doppelquartett der Solofänger; berechnet wurden sie genau so
wie ein Bär, und auch die Verteilung war dieselbe. Ein großer Vorzug der
Brautmessen aber bestand darin, daß sie schnell vorüber waren, und daß sie
unmittelbar hinterher in der Küsterei bezahlt wurden. Sowie der letzte Ton
verklungen war, stürmten wir hinunter an die Kirchenthür, wo die Hochzeits¬
wagen standen, drängten uns — es war das ein Vorrecht, das uns Grün-
mützen widerspruchslos von den dort harrenden neugierigen Weibern und
Kinder» eingeräumt wurde — in die vorderste Reihe, um uns die Braut und
die Brautjungfern noch einmal aus der Nähe zu betrachten, dann warteten
wir an der Schnlthür, bis die Kirche geschlossen und der Kirchendiener mit
dem Schlüsselbund in der Küsterei verschwunden war, dann aber wurde
schleunigst ein Bote abgesandt, um deu verdienten Lohn in Empfang zu nehmen.
Einmal im Jahre wurden wir auch — wenigstens zu meiner Zeit ganz
regelmäßig — auf ein Dorf ein paar Stunden von Dresden eingeladen, um
das dortige Erntefest verschönern zu helfen. Die Anregung dazu war wohl
gemeinschaftlich von dem dortigen Pfarrer und Kantor ausgegangen, und
nachdem die Sache einmal versucht worden war, hatte sie den Bauern so gut
gefallen, daß sie dann jedes Jahr wiederholt wurde. Der Gottesdienst war
am Nachmittag, wir gingen zu Fuß hinaus und sangen in der traulichen
kleinen Dorfkirche, angestaunt von den Bauern, die in langschößigen, blauen
Röcken die Empore füllten und ihre alten rauhen Filzzylinder rings herum
an der Emporenbrüstung aufgehängt hatten, angestaunt vor allem nach von
den pausbäckigen, kurzgeschornen Blondköpfen, denen wir für heute ihre Ver¬
richtungen auf dem Orgelchor abgenommen hatten, ein paar unsrer heitersten
und faßlichsten Motetten, eine zu Beginn, die andre, nachdem der Pfarrer seine
ebenso heitere und faßliche Erntepredigt gehalten hatte. Dann ging es unter
Führung des wackern Dvrfkantors auf ein Nachbardorf, wo wir im Gasthofs¬
garten ungestört — es war ja alles drüben zur Kirmes; — bis zum Abend
Kegel schoben, und am Abend waren wir im Kantorhause zu Gaste, vergalten
nnserm freundlichen Wirt und seiner Familie das leckere Abendbrot damit, daß
wir eine Motette »ach der andern sangen, und traten dann vergnügt den Rückweg
an. Ob außer der Bewirtung für dieses Kirmeßsingen noch etwas bezahlt
würde, war mir eine Zeit lang zweifelhaft; jedenfalls bekamen die Kleinen
nichts davon zu sehen, wir vermuteten aber, daß die beiden Präfekten nicht
ganz leer ausgingen. Und so war es denn auch. Das einemal, als Nur uns
spät abends verabschiedeten, kollerte plötzlich, während der Kantor dem Prä¬
fekten die Hand schüttelte, ein blanker Thaler auf der Diele, und in der Ver¬
legenheit, die beim Aufheben entstand, horte man in einer andern Hand noch
einige weitere klimpern. Damit war der Zweifel gelöst. Davon bekommen
habe ich aber trotzdem nichts, habe es freilich später als Präfekt auch nicht
besser gemacht.
Eine andre Gastrolle, zu der, wenn nicht der ganze Chor, so doch der
größere und bessere Teil alljährlich zugezogen wurde, war unsre Teilnahme am
Palmsonntagskonzert im königlichen Hofthenter. Regelmäßig am Palmsonntags
fand im Theater eine große Kvnzertauffnhrung statt, die nur aus zwei Nummern
bestand, einem Oratorium und einer Symphonie. Es war die glänzendste
Dresdner Konzertanffnhrnng des ganzen Jahres. Die vier Großen, für die
Wagner seinerzeit die Hauptrollen im Rienzi, im Tannhäuser und im Lohengrin
geschrieben hatte: Frau Bürde-Ney, Frau Krebs-Michalesi, Tichatschek und
Mitterwurzer, waren damals noch in voller Wirksamkeit und saugen die Soli
im Oratorium (nur an Tichatscheks Stelle trat später Rudolph), die königliche
Kapelle war verstärkt -— ich glaube das einemal acht Celli und acht Bässe
gezählt zu haben —, und die Chöre sang die Singakademie in Verbindung
mit dem Kreuzchor. Die ganze Bühne war als Saal zur Aufstellung des
Orchesters hergerichtet, davor, in dem gewöhnlichen Orchesterraum, standen die
Sänger und Sängerinnen. In die Direktion teilten sich die beiden Kapell¬
meister; der eine leitete das Oratorium, der andre die Symphonie.
Dein Kantor lag nicht viel an diesen Palmsonntagskonzerten, denn er
mußte dann in den Wochen vor Ostern, in einer Zeit, wo es ohnehin etwas
mehr für ihn zu thun gab als gewöhnlich, wo er das Karfreitagsoratvrium
und die Feiertagsmusiken einzuüben hatte, auch noch die Chöre für die Theater-
aufführung mit uns durchnehmen. Umso mehr freuten wir uns darauf.
Was habe ich damals als Junge alles keimen lernen! Wie viel Anregung
und Genuß verdanke ich diesem Konzerten! Und wir machten unserm Kantor
die Sache doch wirklich leicht. Die Chöre eines Händelschen Oratoriums — was
war das weiter für uns? wir fraßen sie ja nur so hinein, wir saugen sie
wirklich fast vom Blatt herunter. Nach wenigen Singestunden konnten wir
schon an den Proben der Singakademie teilnehmen, dann kam die große Orchester¬
probe im Theater und endlich — um Sonnabend vor Palmsonntag — abends
die Generalprobe, die eigentlich schon eine Aufführung war, denn das Publikum
hatte dazu zu halben Theaterpreisen Zutritt, und das Haus war stets aus¬
verkauft; viele behaupteten sogar, diese Generalprobe sei eine bessere Aufführung
als das wirkliche Konzert, und sie mochten damit nicht ganz Unrecht haben,
denn die Spannung und Begeisterung dieses Abends, wo zum erstenmale alles
klappen mußte, nichts getadelt, nichts wiederholt werden durste, war am zweiten
Abend doch nicht wieder so zu erreichen.
Wir Jungen im Sopran und Alt waren natürlich fest überzeugt, daß wir
allein die Chöre hielten, ja daß wir sie eigentlich sängen; die Damen der Sing¬
akademie schienen uns mehr zur Dekoration dazusein. Thatsache ist, daß
wir für alle schwierige» Eiusütze einzustehen hatten und auch wirklich einstanden.
In den Proben gaben wir uns manchmal bei irgend einer Stelle das Wort:
Hier wollen wir einmal still sein, wollen einmal sehen, ob die Damen einsetzen
werden! Ja, drei oder vier setzten wohl zaghaft ein, die andern aber kamen
alle erst beim zweiten oder dritten Takte hinterher. Die Stelle wurde natürlich
wiederholt, nun legten wir uns ins Zeug, und da ging es denn. Namentlich
gönnten wir uns diesen kleinen Triumph in der ersten Orchesterprobe im Theater,
wo die Dcnueu breitspurig in den vordersten Reihen saßen, und wir kleinen
Kerle, auf die doch so viel ankam, bescheiden und sast unsichtbar dahintersteckten.
Dafür kam aber auch Kapellmeister Krebs einmal vor einer Generalprobe be¬
sonders zu uns hinter, klopfte uns auf die Schultern und sagte: „Na, Jungens,
nun singt einmal, daß die Zähne wackeln!" Zu solcher (Aptutiu ließ er sich
den Damen gegenüber nicht herab.
Auch die Chöre aus der Neunten Symphonie haben wir bei einem solchen
Palmsvnntagskvnzert mitgesungen — für mein ganzes Lebe« eine der schönste»
Erinnerungen. „O Freunde, nicht diese Töne!" kann ich mir ja gar nicht mehr
anders gesungen denken, als wie es Mitterwurzer damals sang. Es war über¬
wältigend, dieser Durchbruch der Menschenstimme, dieser Menschenstimme! durch
das Gewirr der Instrumente. Es war das übrigens das Konzert, wo Nietz,
der um Reißigers Stelle vom Leipziger Gewaudhnuse nach Dresden berufen
worden war, zum erstenmale dirigirte. Er erschien in blauem Frack mit goldnen
Knöpfen. Beim Scherzo legte er uach einigen Seiten zum allgemeinen Er-
staunen den Taktstock muss Pult und die Hände auf den Rücken und ließ das
Orchester eine Zeit lang allein spielen. Am Schlüsse des Scherzos klatschte
er in die Hände, dankte und versicherte, daß er den Satz noch nie so meister¬
haft habe spielen hören. Nur einen quälte er ein bischen: den Pauker. Der
stand ganz hinten, und sein ^. ^ ^ klang — das konnten sogar nur Jungen
bestätigen —, ehe es bis vor zu deu Sängern kam, immer bloß wie ^1 ^ . das
Achtel horte man nicht. Dem ließ er keine Ruhe, bis ers ihm zu Danke
machte.
Man sieht, es war ein reicher und in vieler Beziehung beneidenswerter
künstlerischer Wirkungskreis, den wir neben unsern trocknen Schulpflichten
auszufüllen hatten. Nicht ganz so reich und nicht immer beneidenswert war
das, was uns dafür geboten wurde. Nun ja, wir wohnten auf der Schule
— wie? das habe ich ja gezeigt —, wir hatten freien Schulunterricht, und
das war nicht zu verachten, wenn anch das Schulgeld damals weit niedriger
war als heutzutage, wir wurden endlich auch auf öffentliche Kosten verpflegt-
Diese Verpflegung entsprach nur leider durchaus unsern bescheidnen Wohnnngs-
verhältnissen. Wenn ich bedenke, daß iU„ouni8 ein altes Partizipium pr-w-
Mutis Mssivi von iüiM ist und eigentlich bedeutet: „einer, der ernährt wird,"
so erscheint mir der Name heute fast wie ein Spott auf unsre damalige Lage.
"
Die „Nahrung, die uus gereicht wurde, bestand täglich aus einem Wei߬
brot für drei Pfennige (einem sogenannten Dreierbrot), einem Pfund Schwarz¬
brot und einem warmen Mittagessen. Das Dreierbrvt bildete das Frühstück.
Ein paar Minuten vor Schluß der Arbeitsstunde ging der „Ultimus" hinunter
in die Küche nud holte deu Heukelkorb mit den zweiunddreißig Dreierbrötchen
herauf. Denn ging er, beim ersten Präfekten anfangend, der Reihe nach von
Platz zu Platz, und jeder suchte sich ein Brötchen ans — beiläufig: eine nicht
sehr appetitliche Einrichtung. Denn jeder — namentlich die ersten, denen noch
der volle Korb hingehalten wurde — ließ erst so und so viel Brötchen durch
seine ungewaschenen Hände gehen und drückte dran herum, um zu sehen, welches
Wohl das knusprigste und zugleich flockigste wäre, auch die regelmäßigste Nun¬
dung hätte, bis er sich endlich für eins entschied. Man kaun sich denken, wie
die Brötchen aussahen, die für die letzten im Korbe blieben, besonders das
für den kleinen Herumträger: es war ein ganz zerquetschtes Huzel, das gewiß
durch zwanzig Hände gegangen war. Kaffee gab es nicht. Wer Kaffee trinken
oder Butter auf sein Brötchen haben wollte, mußte es aus seiner Tasche bezahlen.
Das thaten freilich die meisten, wohl alle. Sowie die Arbeitsstnnde zu Ende war,
lief alles in die Küche hinunter, um Kaffee zu holen; die Großen ließen sich
aber auch dabei wieder von den Kleinen bedienen. In der Küche hatte die
Bambeln einen mächtigen eisernen Topf voll dünnen Kaffees gekocht, in den
gleich etwas Milch geschüttet war, und da holte sich um» jeder für zwei oder
drei Pfennige ein Blcchnösel voll. Ans dem Nösel wurde er auch gleich ge-
trunken. Tassen warm für die meisten ein unbekannter Luxus. Wenn auch
natürlich jeder aus dem Elternhause eine Kaffeetasse mitgebracht hatte, so war
doch die Obertasse nach wenigen Wochen in Stücken, die Untertasse diente
vielleicht noch eine Zeit lang als Vutterteller, schließlich auch als Wichsnapf;
das Blechnösel war uns sicherer.
An ein offizielles zweites Frühstück war noch viel weniger zu denken.
Um so schöner blühte es uns privatim in der Stille. In der „großen Frei¬
viertelstunde" ging es wieder hinunter in die Küche, da thronte die Bambeln
in einem Nebenstübchen auf einem am Fenster stehenden Tritt. Wenn ich sie
mir im Geiste vorstelle, die gute Alte, so sehe ich sie am liebsten ans diesem
Tritt sitzen. Es ging die Sage unter uns, daß sie einst ein schönes Mädchen
gewesen sei, und das wird schon wahr sein. Denn sie hatte noch zu unsrer
Zeit, wo sie schon eine behäbige Matrone mit weißem Haar war, ein feines
Gesicht mit roten Bäckchen. Es war eine Lust, sie so sitzen zu sehen, im
weißen Häubchen, einen Korb ans dem Schoße, neben sich ein Tischchen, der
Korb gefüllt und das Tischchen belegt mit Butterbroten, Knackwürstchen, in
der Fastenzeit auch mit Brezeln, sogar „geschmierten," d. h. mit kleinen Butter¬
stückchen belegten Vrezelu, eine üppige Erfindung, auf die sie ebenso stolz wie
unser Schnabel begierig war. Natürlich war dieses Frühstück vor allem auf
die wohlhabenderen Extraner berechnet, aber auch wir armen Teufel, wir
Alumnen, fanden uns dazu eilt, umso mehr, als die Bambeln nicht ans baare
Bezahlung drang, sondern auf dem Fensterbret in der Ecke eine alte, rahmen¬
lose Schiefertafel stehen hatte, die in verblaßten Zügen so manchen Schuldner-
uamen monatelang trug. Bei dieser Gelegenheit wurde immer auch schon
spionirt, was es zu Mittag geben würde, was uns freilich manchen „Topf¬
gucker" und auch noch stärkeres eintrug.
(Schluß folgt)
Dieser Band enthalt die Kcnsercrlasse vom 1. Januar, das Programm und
die Beschlüsse der internationalen Arbeiterschutzkonferenz, den Gesetzentwurf über die
Gewerbegerichte (der seitdem Gesetz geworden ist), die Verhandlungen des Reichs¬
tages über die Gewerbeordnung von 1874 bis 1839, und den Bericht über die
Sitzung der von industriellen und wirtschaftlichen Vereinen ernannten Kommission
zur Beratung der deutschen, Arbeiterverhältnisse in Berlin ain 20. März 18N0,
In der Einleitung wird die Wendung, die in jüngster Zeit die Arbeiterbewegung
genommen hat, ein dem Arbeitgeber frivol aufgedrmigter Knuipf »ins Dasei» ge-
nannt und u. a. gesagt: „Niemals darf und lvird der Arbeitgeber es übersehen,
daß er es in der Hauptsache mit mißleiteten und verständnislosen Massen zu thun
hat, er darf und wird daher deu ihm in brntalster Weise nufgedrimgeueu Kanipf
nicht in der Absicht sichren, dem Arbeiter zu kürzen, was ihm von Rechts wegen, d.h.
nach Maßgabe der staatlichen und wirtschaftliche» Gesetze zusteht. Aber der Arbeit¬
geber ist es sich in der Gesamtheit, ist eS dem Gemeinwohl schuldig, seiue Stel¬
lung zu wahren und zur Behauptung derselbe», alle erlaubte» Mittel rücksichtslos
anzuwenden."
Ein nützliches Buch, sowohl zum Nachschlagen, als auch zur Orientirung über
deu gegenwärtigen Stand der sozialen Frage. Der Verfasser beginnt mit den Kaiser-
erlassen vom 4. Januar d. I., behandelt dann deu Schutz der jugendliche» Arbeiter
und der Arbeiterinnen in der in- und ausländischen Gesetzgebung, den Maximal-
arbcitslag, die Sonntagsruhe, den Schutz der Freiheit und der gerechten Durch¬
führung des Arbeitsertrages, deu Schlitz von Gesundheit, Leben und Sittlichkeit,
die Ausdehnung des Arbeiterschutzes auf Werkstätten und Hausindustrie, die Fnbrik-
iuspeltion, und er teilt endlich die Beschlüsse der Berliner Konferenz und de»
denk Reichstage vorliegenden Gesetzentwurf der Verbündete» Regierungen mit. Er
beschränkt sich nicht auf Wiedergabe des Wortlauts der einschlagenden Gesetze, Be¬
richte und sonstige» Schriftstücke, sonder» verarbeitet sie vo» sei»em Standpunkt
aus. So hebt er z. B. de» Einfluß hervor, den der Arbeilerschutz auf die Rege¬
lung der Produktion ausübt, n»d bemerkt am Schlüsse seiner Ausführungen über
den MaximalarbeitStag: „Jede gesetzliche Regelung ist schablonenhaft, kann unmöglich
allen individuellen Bedürfnissen gerecht werden. Das schließt aber nicht ans, daß
gewisse Schranken gezogen werde», »in de» schlimmste» Mißsläiide» zu Steuer»,
daß das, was bereits allgemei» als Regel besteht, auch als solche vo» der Gesetz¬
gebung sanktionirt wird." In dem Kapitel über de» Nrbcitsvertrag wird die
Thätigkeit der englischen Gewerkvereine ziemlich ausführlich dargestellt. Folgender
Satz auf Seite 174 enthält das soziale Programm des Verfassers: „Aufsaugung
der kleine» selbständigen Unternehmungen durch die Fabrik, das ist der erste Teil
der wirtschaftlichen soziale» Entwicklung; möglichste Wiedererringnng der Frei¬
heit und Selbstbestimmung, möglichste Begrenzung der HerrschaftssPhNre der Fabrik
ist der notwendig folgende zweite Teil. Die Grenze» zwischen Herrschaft »ut
Freiheit richtig z» ziehen, ist das z» lösende Problem."
Der Verfasser hat a»S dem Werke Ix; MmiliMro av (Kriso geschöpft, das
für die vorjährige Pariser Ausstellung verfaßt worden war. Godin. 1317 i» einem
Dorfe des Departements l'Aisne geboren, besuchte die schlechte Schule seines Heimats-
ortes bis zum Alter vou 11-^ Jahren, trat dann als Lehrling bei seinein Vater
«in, der Schmied und Schlosser war, ging mit siebzehn, Jahren ans die Wander¬
schaft, machte sich mit dreiundzwanzig Jahre» in seinem Heimatsdorfe selbständig
und heiratete, beschäftigte mit neunttndzwnnzig Jahren schon dreißig Arbeiter und
siedelte mit ihnen 184K nach Guise über. Er studirte. eifrig die soziale Frage,
machte seine Fabrik durch Wohlfahrtseinrichtungen, zweckmäßige Lohnzahlung und
Bersichernngskassen zu einer Musteranstalt und gründete 1859 sein Familisterium,
worin er die Gewinnbeteiligung der Arbeiter durchführte. Nach zwanzigjähriger
Erfahrung stellte er 1380 seine Schöpfung ans gesetzlicher Grundlage sicher, indem
er sie als einfache Konunanditgesellschaft eintragen ließ. Die Arbeiter und Beamten
wurden hierdurch Eigentümer der großartigen Anlagen, die außer den Werkstätten,
in denen Koch- und Heizapparate, Möbel u. ni. hergestellt werden, Wohnhäuser,
Schulen, Theater, Parkanlagen und Ackerbau umfaßt; Godin behielt die Leitung.
Vor zwei Jahren ist er gestorben. Die Zukunft muß lehren, ob diese Produktiv-
geuvsseuschaft lebensfähig bleibt, nachdem sie der Geist ihres Schöpfers verlassen
hat. Bekanntlich sind alle frühern Versuche, die Gewinnbeteiligung der Arbeiter
durchzuführen, mißlungen.
Der Begründer des Goethejahrbuches und Verfasser der Monographien
„Johann Reuchlin" und „Petrarca" hat in diesem Bande drei Gruppen von
"Aufsätzen aus denjenigen Gebieten der Litteraturgeschichte vereinigt, denen er ein¬
gehendere Studien gewidmet hat, und so gliedert sich das Buch in Abhandlungen
und kleinere Beiträge „Zur Litteratur der Renaissance," „Aus den. Tagen der
Aufklärung" und „Ans der Zeit Goethes." Geiger ist frei von der Anmaßung,
alle gelegentlichen Arbeiten und Forschungen sammeln zu wollen, er hat zahlreiche
Rezensionen und spezifisch gelehrte Studien, mich solche Aufsätze beiseite gelassen,
die sich in die bezeichneten Gruppenrahmcn nicht fügen ließen, er bietet in dem
reichhaltigen und durchaus lesenswerten Buche lediglich Darstellungen, die das
größere gebildete Publikum fesseln und mannichfach belehren können. Leider läßt
sich nicht verhehlen, daß dies größere Publikum sehr klein ist, daß eine Sammlung
wie die vorliegende doch meist ans einen engern Kreis von Litteraturfrenuden be¬
schränkt bleibt, die natürlich mich eine eingehendere Darstellung hinnehmen würden
als der größere Kreis, an den der Schriftsteller bei solchen Arbeiten, denkt und der
sich immer seltener zusammenfindet. Die Selbstvergötterung der Gegenwart schließt
eine naive und lebendige Beschäftigung mit dem Geisteszustand und den Geistes¬
größen vergangener Tage nahezu ans. Irren wir uns in dem Fall des Geigerschen
Buches, so soll es uns lieb sein. Unter den. einzelnen Aufsätzen der drei Gruppen
mögen die über „Gelehrte Griechen in Europa im fünfzehnten und sechzehnten
Jahrhundert," „Erosmns in Italien," „Der älteste römische Musenalmanach," der
Vortrag ,,Voltnire und Friedrich der Große" und „Berlin vor hundert Jahren,"
„Goethe und die Juden," „Goethe und die Renaissance" besonders hervorgehoben
sein; sie behandeln Erscheinungen, Persönlichkeiten und Fragen, die dem einmal
vorausgesetzten Publikum doch etwas näher liegen, als Jsotn Nogarola oder die
Briefe David Friedländers.
Die Abhandlungen Pröhles, die in diesen«. Bande vorliegen, sind großen¬
teils in der Sonntagsbeilage der Bossische«« Zeitung erschienen. Sie enthalte«« eine
Fülle vortrefflichen Materials, erweisen eine umfassende Einzelkenntnis der Per¬
sönlichkeiten und Veziehnngeu der klassischen Litteratnrperiode und des gesamten
achtzehnten Jahrhunderts und offenbaren liberal! den warmen Anteil des Verfassers an
den behandelten Gegenständen. In der Form lassen sie zu wünschen übrig. Pröhle
selbst meint, sein „Genre" (wozu das Fremdwort?) halte die Mitte zwischen Essay
und Forschung. Wir können nicht einsehen und zugeben, daß mit diesem „mittlern
Genre" viel gewonnen sei. Jede Forschung, wenn sie nicht ganz schlicht und an¬
spruchslos das neugewonnene Material wörtlich oder auszugsweise mitteilt und nnr
den Zweck verfolgt, das Neue gegenüber dem schon Bekannten hervorzuheben, kaun
doch mit einigem Fleiß und Geschmack in einen Aufsatz verwandelt werden, in dem
kein Rest unverarbeiteten Materials bleibt, der keiner Anmerkungen bedarf, der
selbständigen Reiz und Wert besitzt. Unter den zahlreichen seither ungedruckten
Briefen und Blättern, die Pröhle in diesen Abhandlungen mitteilt, verdienen die
Briefe, die der nachmalige preußische General und Generalfeldmnrschalt Karl
Friedrich von dem Knesebeck als junger Offizier während des unglücklichen Feld¬
zugs von 1792 und in den folgenden Jahren an den alten Gleim in Hnlberstadt
geschrieben hat, besonders hervorgehoben zu werdeu.
Dieser elegant ausgestattete, mit einem Farbenbilde, sieben Lichtbrücken und
zahlreiche« Textillustrationen geschmückte Band erzählt die Fahrten eines „Spezial-
artisleu" der Gartenlaube zwischen 1880 und 1884. Der Verfasser schildert haupt¬
sächlich die westlichen Teile der Bereinigten Staaten, die zu den verhältnismäßig
unbekannten gehören und eine außerordentliche Mnnuichfaltigkeit großartiger Natur¬
bilder aufweisen. Freilich scheint es, nach deu Erzählungen unsers Künstlers, als
sei die Durchwnuderung dieser Naturszeuen noch mit tausend Schwierigkeiten und
Beschwerden verknüpft, sodciß wohl noch viele Jahrzehnte vergehen werden, ehe
das Ivsemitethal von Tausenden von Wandrern durchzogen werden wird, wie das
Chamounixthal, oder ehe mau deu Coloradostrvm befahren wird, wie den Rhein
und die Donau. Die gepriesenen Prachtgegeuden der neuen Welt haben offenbar
Reize, die sie namentlich für abenteuerlustige Naturen anziehend machen. Dabei
fühlt man doch durch die Schilderungen des Gartenlaubeuzeichners hindurch, daß
es vor allem die Reize des übergewaltige», des schroff Gegensätzlichen sind, die
im fernen Westen vorwalten. Die einzelnen Kapitel des Buches: „Zwölfhundert
Meilen auf dem Mississippi," „Auf den Jagdgründen der Dakotas," „Das Heilig¬
tum der roten Rasse," „Ein roter Napoleon," „Im goldenen Nordwesten," „Ein
Tag in den Bad Lands," „Durch Montana," „Im Wunderland des Yellvw-
stvne," „Unter den Heiligen der jüngsten Tage," „In der Weltstadt am goldenen
Thore," „Durch Oregon und Washington," „Im Josemitethal und unter den
kalifornischen Riesenbäumen," „Im Lande der Fata Morgana," „Im alten Monle-
zumareiche," „Im Herzen der Felsengebirge" und „Durch die Prärien von Kansas"
find lebendig und fließend geschrieben und gewähren, wenn auch keine eingehende
Belehrung, doch unterhaltende Anschauung.
Der bereits mehrfach als poetischer Übersetzer, namentlich der „AlliSlündischen
Volksballaden und Heldenlieder der Färinger" hervorgetretene Herausgeber bietet
hier Proben aus der schwedischen, finnischen, norwegischen, isländischen und dänischen
Lyrik. Da sie einen ziemlich ausgedehnten Zeitraum umfassen und zahlreiche Dichter
berücksichtigen, so tonnen sie wohl einen ungefähren Begriff von dem Reichtum der
Töne und Farben dieser lyrischen Poesie geben. Während die Reihe der schwedischen
Dichter mit Olof von Dalin ^l.708—17l>3) beginnt und mit den, gegenwärtig
gefeierten Lyrikern Graf Karl Snoilsky, Mein und August Strindberg endet, die
Proben dänischer Lyrik von Ewalds zum Nationallied gewordenen „König Christian
stand am hohen Mast" bis zu Holger Drachmcmn, dem gegenwärtig gepriesensten
Dichter des Jnsellandes, reichen, beginnt die norwegische Lyrik erst mit dem neun¬
zehnten Jahrhundert. Die finnischen Suomi-Nunen, und die altisläudischen Volks-
balladen dagegen weisen in viel frühere Zeiten zurück und eröffnen zugleich einen
Blick in den Jungbrunnen, aus dem die nordische Dichtkunst wieder und wieder
geschöpft hat. Der größere Teil der Übertragungen ist lobenswürdig, doch bleibt
zu bedauern, daß es den Übersetzer nicht getrieben hat, mehr charakteristische,
die Individualität der einzelnen Dichter scharf wiederspiegelnde Gedichte auszu¬
wählen. Er räumt dies im Vorwort selbst ein, sagt, daß seine Auswahl eine
mehr zufällige gewesen sei: „Hier spornte die Melodik eines Liedes an, es zu
übertragen, wenn es auch vielleicht nicht eben als hervorragende Schöpfung gelten
konnte, dort reizte die Volkstümlichkeit im Heimatlande zur Wiedergabe." Immer¬
hin wird der, der sich für die Litteraturen des germanischen Nordens interessirt
und keiner der nordischen Sprachen mächtig ist, durch Willntzens „Nordlandsharfe"
eine gewisse Übersicht und einen bestimmten Eindruck von dem Reichtum dieser
stammverwandte» Lyrik gewinnen können.
Die vorliegenden Novellen sind ziemlich leicht und sogar flüchtig geschrieben,
sie gehören der Gattung der Feuilletounovelle an, bei der es weder auf Wahrheit
des Lebens, noch ans poetischen Stimmungsgehalt, sondern meist nur ans eine
gewisse Beweglichkeit und Lebendigkeit ankommt. Dn nnr humoristische und sati¬
rische Erfindungen wie „Gebratene Nachtigallen" diese Art des Vortrags besser
vertragen, als tragische, wie „Norge" und „Lenz im Herbst," so ist der Eindruck,
den, die Novellen hinterlassen, sehr ungleich. Verglichen mit den Durchschnitts¬
leistungen der jüngsten Litteratur darf mau übrigens sämtlichen Novellen eine ver¬
hältnismäßige Einfachheit und Gesundheit der Empfindung zusprechen; auch der
Stil ist von der phrasenhaften Großmannssucht und den, Schwulst der anspruchs¬
vollen Teudenzerzählung frei. Genau besehen ein recht dürftiges Lob. Aber man
lernt sich allmählich bescheiden.
n der jüngsten Session des Reichstages ist ein schon seit Jahren
in Aussicht genommenes Gesetz über Gelverbegerichte zu stände
gekommen. Wir können nicht umhin, an dieses Gesetz, dessen
Bedeutung weit über seinen unmittelbaren Gegenstand hinaus-
reicht, einige Betrachtungen zu knüpfen.
Gewerbegerichte sind französische» Ursprunges. Schon vor der Revolution
gab es in einigen Städten Frankreichs solche Einrichtungen. Durch ein kaiser¬
liches Gesetz vom 1». März 1«0<i wurde dann angeordnet, daß in Fabrik-
städten, wo die Regierung es für angemessen erachte, ein Rat der Gewerb-
verstäudigeu errichtet werden könne. Hiernach wurden schon zu französischer
Zeit in mehreren Städten der Rheinprovinz Gewerbegerichte (oder, wie man
früher sagte, Fabrikgerichte) geschaffen. Die preußische Regierung folgte auf
Grundlage des französischen Gesetzes mit Schaffung solcher Gerichte in einer
Anzahl weiterer Städte. Diese Gerichte waren zuständig als Zivilgerichte für
Streitigkeiten der bei dem Gewerbebetrieb Beteiligten und zugleich als Straf¬
gerichte für Übertretungen in Gewerbesachen. Als Zivilgerichte erkannten sie
in Sachen bis zu hundert Franks als einzige Instanz. In Sachen von höheren
Werte fand eine Berufung an das Handelsgericht oder in Ermangelung eines
solchen an das Landgericht statt. Das Verfahren war beinahe ganz das näm¬
liche wie bei den Friedensgerichten.
Diese Gewerbegerichte, die bis zur Stunde in den Rheinlanden bestehen,
darf mau sich aber nicht als eine arbeiterfreundliche Einrichtung denken. Die
Richter werden nämlich von den Fabrikanten, Werkmeistern und Handwerks-
'M'istern ans ihrer Mitte auf drei Jahre gewählt, und zwar so, daß die
Zahl der Fabrikanten stets die der Werkmeister und Handwerker übersteigt.
Mit der Sprache der Sozialdemokratie zu reden, sind also diese französisch-
rheinischen Gewerbegerichte nichts andres, als eine Einrichtung zu Gunsten
der Bourgeoisie. In Gewerbesachen spricht diese sich selbst Recht. Damit
soll nur freilich nicht gesagt sein, daß die so gebildeten Gerichte unerträg¬
liche Entscheidungen geben müßten. Sitzen verständige Männer darin, so
müssen sie schon aus Klugheit sich davor hüten, völlig einseitig zu Werke zu
gehen. Daß aber im allgemeinen diese Gerichte sich in erster Linie berufen
fühlen werden, die Interessen der Arbeitgeber zu wahren, das liegt doch in der
Natur der Sache. Dem entspricht es auch, daß die Industriellen allein die
Kosten dieser Gerichte tragen. Die Richter selbst beziehen freilich keine Ver¬
gütung. Nur der Gerichtsschreiber, der die zum Staatsdienst befähigenden
Eigenschaften haben muß und der eine Hauptperson bei diesen Gerichten bildet,
darf bestimmte Sporteln oder auch eine Besoldung beziehen. Das einzige
Volkstümliche dieser Gerichte besteht darin, daß sie die Justiz umsonst geben.
Und dieser Umstand wiegt so schwer, daß er much bei den Arbeitern ihnen eine
gewisse Beliebtheit verschaffen mochte.
Als bei der neuen Justizorganisation im Jahre 1877 der unglaubliche
Fetischismus, deu die Rheinländer mit ihren Rechtsinstitntivnen treiben, in der
deutschen Zivilprozeßordnung seinen Triumph feierte, wurden natürlich anch
diese Gewerbegerichte aufrecht erhalten, umsomehr, als man inzwischen schon
mehrfach bemüht gewesen war, auch für das übrige Deutschland besondre Ge¬
werbegerichte zu schassen.
Schon die Gewerbeordnung (§ 108) hatte bestimmt, daß in Gewerbesnchen
zunächst die Gemeindebehörde eine Entscheidung abgeben solle, gegen die freilich
den Beteiligten „die Berufung auf deu Rechtsweg" vorbehalte» blieb, daß ferner
durch Orlsstatnt gewerbliche Schiedsgerichte geschaffen werden können. Hier
tritt nun auch zuerst der Satz auf, daß diese Schiedsgerichte durch die Ge¬
meindebehörden „unter gleichmäßiger Zuziehung von Arbeitgebern und Arbeit¬
nehmern" zu bilden seien. Die Vorschriften der Gewerbeordnung erwiesen sich
aber als unpraktisch, und namentlich wurde von der Befugnis, gewerbliche
Schiedsgerichte zu schaffen, nnr äußerst selten Gebrauch gemacht. Im Jahre
1873 wurde dem Reichstage ein Gesetzentwurf vorgelegt, wonach durch die
Zentralbehörden besondre Gewerbegerichte für gewerbliche Streitigkeiten sollte»
geschaffen werde» können. Der Entwurf kam wegen Schluß des Reichstages
nicht mehr zur Verhandlung. Abermals wurde dem Reichstage ein Gesetz¬
entwurf dieser Art im Jahre 1878 vorgelegt. Er kam zwar zur Verhandlung,
scheiterte aber daran, daß für deu Paragraphen, der die Zusammensetzung des
Gerichts bestimmte, sich keine Mehrheit zusammenfand.
Nun ist endlich dein gegenwärtigen Reichstage ein neuer Entwurf vor¬
gelegt worden und dieser hat mit wenigen Änderungen die Zustimmung gefunden.
Darnach sollen Gewerbegerichte auch fernerhin dnrch statutarische Regelung der
Gemeinde oder eines weitern Kvmmunalverbaudes geschaffen werden tonnen,
diese Körperschaften auch zur Tragung der Kosten Pflichtig sein. Unterlassen sie
aber die Errichtung solcher Gerichte, so sollen diese auch dnrch Anordnung der
Landeszentralbehörde ins Leben gerufen werden können.
Fragen wir nun, was diese Gewerbegerichte von den ordentlichen Gerichten
unterscheidet, so liegen die charakteristischen Unterschiede in dreierlei: in der
Bildung des Gerichtes, in dem Verfahren und in den Kosten. Ehe wir aber
hierauf im einzelnen eingehen, müssen wir eine Hauptfrage erörtern, die freilich
an Ivgv !'"um.l!> erledigt ist, deren Erörterung wir aber gleichwohl für unsre
Betrachtung nicht entbehren können.
Es ist das die Frage: Haben denn Streitigkeiten der Gewerbetreibenden
wirklich eine so eigentümliche Natur, daß für sie die Herstellung einer besondern
Gerichtsbarkeit sachlich geboten erscheint? Darauf kauu man mir mit einem
entschiedenen Nein antworten. Alle Rechtsverhältnisse hängen mehr oder minder
mit dem besondern Kreise der Lebensverhältnisse zusammen, aus denen sie hervor¬
gehen. Man erwartet von dem Richter als einem, gebildeten Manne, daß er
alle Lebensverhältnisse so weit kenne oder doch zu erkunden vermöge, daß er
ein gerechtes Urteil zu fallen imstmide sei. Die Gewerbeverhältnisse nehmen
in dieser Beziehung keine besondre Stellung ein. Sie sind um nichts mehr
eigentümlich, als z. B. die Verhältnisse der Landwirtschaft, die man anch einiger¬
maßen kennen muß, um daraus hervorgegangene Rechtsstreitigkeiten richtig zu
beurteilen. Wir wüßten nicht, worin der Unterschied läge, ob der Fabrikherr
mit seinem Arbeiter oder der Bauer mit seinem Knecht über eine Lohnfrage in
Streit gerät. Die ganz besondern technischen Verhältnisse eines einzelnen Ge¬
werbes kommen bei Rechtsstreitigkeiten nur selten in Betracht, und für solche
wird auch bei de» Gewerbegerichten nur selten und ganz zufällig wirkliche Sach¬
kunde vertreten sein. Wenn es sich z. B. um die besondern Verhältnisse des
Hufschmiede- oder des Schornsteinfegergewerbes handelt, so ist doch nicht ab¬
zusehen, weshalb ein zu Gericht sitzender Buchbinder und Konditor davon mehr
verstehen sollten, als jeder andre lebenserfahrene Mensch, Eigentümlichkeiten
in den Rechtsverhältnissen weist noch am meisten der Handelsstand ans. Im
Handelsrechte haben sich wirklich eine Anzahl Rechtsbildungen entwickelt, die
vom gemeinen Rechte mehr oder minder abweichen und die in den meisten
Ländern und auch bei uus in einem besondern Handelsgesetzbuche zum gesetz¬
lichen Ausdruck gekommen sind. Gleichwohl war im Jahre 1«75 die Reichs-
jnstizkommission in ihrer großen Mehrheit der Ansicht, daß es kein Bedürfnis
sei, besondre Handelsgerichte zu schaffen; und erst auf heftiges äußeres An¬
drängen aus Kreisen des Handelsstandes (von dem man sagte, daß es mehr
durch persönliche als dnrch sachliche Gründe veranlaßt worden sei) entschloß sich
die Kommission, nachträglich Handelsgerichte in die Organisation aufzunehmen.
Die Fragen des Gewerberechtes kommen aber nicht entfernt den Frage» des
Handelsrechtes an Eigentümlichkeit gleich; und es möchte in der That schwer
werden, ein dem Handelsgesetzbuch entsprechendes Gewerbegesetzbuch aufzustellen.
Ebenso unrichtig ist es, wenn man sagt, die Streitigkeiten der Gewerbe¬
treibenden seien gewöhnlich einfacher Natur und bedürfen nur eiues Ausspruches
nach Billigkeit. Auch in dieser Beziehung sind die Gewerbestreitigkeiteu von
andern Prozesse!? nicht verschieden. Sie sind gerade so einfach und nicht einfach,
gerade so leicht und so schwierig zu entscheiden, wie alle übrigen auch. Es
ist wahr, Gewerbestreitigkeiten verlangen eine vernünftige und gerechte Ent¬
scheidung, und es ist wünschenswert, daß sie schnell erledigt werden. Dasselbe
kann man aber von allen Prozessen sagen.
Man könnte vielleicht der Ansicht sein, eine besondre Gerichtsbarkeit für
Gewerbesachen sei deshalb nützlich, weil bei einem solchen Sondergerichte sich
leichter ein bestimmter Gerichtsgebrauch ausbilde, der der Rechtssicherheit zu
gute komme. Wenn mau dies aber als maßgebend betrachtete, so müßte man
auch noch manche andre Sondergerichte errichten. Warum sollten nicht
Streitigkeiten zwischen Hauseigentümern und Mietern, zwischen Herrschaft und
Gesinde von besondern Gerichten entschieden werden? Dann hätte man eine
ähnliche zersplitterte Rechtspflege, wie jetzt die Ärzte sich in lauter Spezial-
ärzte umzubilden beginnen. Ob darin aber für die Sache ein Vorteil läge, ist
doch sehr zweifelhaft. Jedenfalls hat das neue Gesetz selbst diesen Standpunkt
uicht festgehalten, indem es wider die Entscheidungen der Gewerbegerichte die
Berufung an die Landgerichte gestattet. Wäre wirklich die Entscheidung eines
Sondergerichtes für besser zu halten, als die eiues allgemeinen Gerichtes, so
ist nicht abzusehen, wie man die Entscheidung des allgemeinen Gerichtes über
die Entscheidung des Sondergcrichtes stellen könnte.
Wenn hiernach sachliche Grüude in der That nicht vorliegen, für Gewerbe-
sachcn eine besondre Gerichtsbarkeit zu schaffe», so muß der Grund hierfür
wohl in persönlichen Rücksichten gesucht werdeu. Daß diese heutzutage uicht
darauf hinauslaufen können, den Arbeitgebern eine besondre Gunst zu er¬
weise,?, liegt auf der Hand. Vielmehr hat ohne Zweifel die Schaffung der
Gewerbcgerichte eine Freundlichkeit gegen die Arbeiter sein sollen. Es fragt sich
nur, in welcher Beziehung diesen damit wirklich eine Wohlthat erwiesen wird.
Betrachten wir nun die den Gewerbegerichten verliehenen Eigentümlich¬
keiten, und zwar zunächst die Bildung des Gerichtes. Als Richter sollen drei
Männer thätig sein, ein Vorsitzender und zwei Beisitzer. Von den Beisitzern
soll der eine Arbeitgeber, der andre Arbeiter sein, und sie sollen je aus der
Wahl der Arbeitgeber und der Arbeiter hervorgehen. Zur Vermeidung von
Mißverstündnissen wollen wir zunächst hier aussprechen, daß wir grundsätzlich
durchaus uicht Gegner einer Mitwirkung des Laienelements bei der Recht¬
sprechung sind. Wir halten unsre Schöffengerichte für eine ganz verständige
Einrichtung, weil ein Einzelrichter, wenn er für sich allein urteilt, leicht einer
gewissen Einseitigkeit verfällt, vor der er eher bewahrt bleibt, wenn er sich
über seinen Richterspruch mit andern, sei es auch mit Laien, auseinander zu
setzen hat. Wir würden daher auch kaum etwas gegen eine Ziviljustiz ein¬
zuwenden haben, bei der in unterer Instanz neben dem Einzelrichter Schöffen
mitwirkten, wenn nicht dadurch unser Bürgerstand allzu sehr belastet würde.
Bei den netten Gewerbegerichten liegt nun aber das Charakteristische darin,
daß die zur Mitwirkung berufenen Beisitzer je nus der Wahl der Stände
hervorgehen sollen, denen regelmäßig die streitenden Parteien angehören. Jede
Partei hat also ihren eignen Vertrauensmann im Gerichte sitzen, und dieser
Richter hat nach seiner Lebensstellung dieselben Interessen, wie die Partei,
deren Vertrauensmann er ist. Damit hören die Beisitzer ans, Richter im
vollen Sinne des Wortes zu sein. Es ist ja möglich, daß in einem Streitfalle
die eine Partei so klar im Unrecht ist, daß beide Beisitzer sich gegen sie aus-
sprechen; und dann wird diese Vcsetznng des Gerichtes die wohlthätige Folge
haben, daß der unterliegende Teil sich um so eher überzeugt, daß ihm durch
den Richterspruch kein Unrecht geschehen ist. Ist aber die Sache einigermaßen
zweifelhaft, so wird in der Regel der von den Arbeitgebern gewählte Beisitzer
sich ans die Seite des Arbeitgebers, der von den Arbeitern gewählte ans die
Seite des Arbeiters stellen, und der Kampf der Parteien wird sich im Gerichte
selbst fortsetzen. Das ist so sehr menschlich, daß es eben nicht anders sein
kann. Ans diese Weise werden die beiden Beisitzer sich als Richter neutrali-
siren. Die eigentliche Entscheidung wird bei dein Vorsitzenden liegen. Wer
ist nun dieser Vorsitzende?
Nach dein Gesetze soll der Vorsitzende von dem Magistrat oder der Ver¬
tretung des weitern KommnnalverbandeS auf mindestens ein Jahr gewählt
werden. Er soll, wenn er nicht schon ein staatlich ernannter oder bestätigter
Staats- oder Gemeindebeamter ist, der Bestätigung der höhern Verwaltungs¬
behörde bedürfen. Er darf auch einen Gehalt beziehen, während das Amt
der Beisitzer ein Ehrenamt sein soll. Für die persönlichen Eigenschaften des
Vvrsitzendell ist nichts weiter vorgeschrieben, als daß er weder Arbeitgeber
noch Arbeiter sein soll. In den Motiven ist dann noch ausdrücklich gesagt,
daß der Borsitzende Jurist nicht zu sein brauche. Auch bei den Verhandlungen
im Reichstage wurde von einigen Seiten gerade dies als ein Vorzug hervor¬
gehoben.
Bleiben Nur zunächst bei dieser Negative stehen, so müssen wir, trotzdem
daß auch wir die Schwächen des Juristenstandes sehr wohl zu würdigen wissen,
doch die Überzeugung aussprechen, daß es nimmermehr eine gute Rechtsprechung
geben kann, wenn nicht der Vorsitzende des Gerichtes ein Jurist ist. Auch
abgesehen davon, daß zur Rechtsprechung und insbesondre auch zur Prozeß-
leituug doch immer noch einige Nechtskenntnisse gehören, so ist auch das Be-
wußtsein, das; der Richter den Beruf habe, ein unparteiischer Mann zu sei»,
durchschnittlich bei Juristen weit mehr entwickelt, als bei Laien. Das gegen¬
teilige Beispiel der Rheinprovinz überzeugt uns in dieser Beziehung ganz und
gar nicht. Wir haben doch wohl endlich an dem zur Zeit in Deutschland
bestehenden Prozeß die Erfahrung gemacht, daß die Lobreden der Rheinländer
auf ihre französischen Rechtseiurichtnngen eine arge Täuschung gewesen sind.
Der französische Prozeß ist ein Institut zum Vorteil der Juristen. aber nicht
des Volkes. Ebenso werden wir annehmen dürfen, daß die Lobreden, mit
denen man die rheinischen Gewerbegerichte angepriesen hat, von den Ständen aus¬
gehen, die selbst darin zu Gericht sitzen. Damit ist aber noch nicht bewiesen,
daß von diesen Gerichten wirklich eine gute Rechtsprechung geübt wird. Es
geht natürlich alles, wenn man nicht darnach fragt, wie es geht. Übrigens
gestehen die Rheinländer selbst zu, daß eine Hauptperson bei ihren Gewerbe¬
gerichten der Gerichtsschreiber sei. Damit schon ist diesen Gerichten ihr wahrer
Charakter aufgedrückt.
Wir sind deshalb auch überzeugt, daß in dem übrigen Deutschland die
mit Berufung des Vorsitzenden beauftragten Körperschaften in der große»
Mehrzahl der Fälle bemüht sein werden, einen Juristen für diese Stelle zu
gewinnen. Ein andrer Mann, wenn er nicht das leichte Blut des Rhein¬
länders hat, würde sich auch in einer solchen Rolle höchst unglücklich fühlen.
Es fragt sich uur, woher man einen solchen Juristen nehmen soll. Die meisten
Juristen sind in fester Stellung als Richter, Beamte, Anwälte ». s. w. bereits
vollnnf beschäftigt. Man müßte also einen Juristen finden, der ausnahms¬
weise seine Zeit diesem Amte widmen könnte. Oder man müßte einem schon
anderweit beschäftigten Juristen das Amt als Nebenstelle übertragen, wobei
aber immer der Zweifel entstünde, ob damit auch für das Amt genügend ge¬
sorgt sei. Es fragt sich dann auch, welche Summe die Magistrate für diese
neue Belastung der Gemeinden aufwenden wollen und können. Von der
Größe dieser Summe wird vielfach die größere oder geringere Bereitwilligkeit zur
Übernahme des Amtes abhängen. Ob die Magistrate über die Frage, welche Männer
sich für eine solche Stellung am besten eignen, stets ein sicheres Urteil haben
werden, darüber läßt sich auch sprechen. Gegen arge Mißgriffe ist allerdings
durch die, wen» auch nur beschränkt, vorbehaltene staatliche Bestätigung gesorgt.
Aber dennoch sind Irrungen in dieser Beziehung nicht ausgeschlossen. Wahr¬
scheinlich wird man solche Müuucr zu wählen suchen, die sich ihrem ganzen
Wesen nach einer gewissen Popularität erfreuen, was ja auch manches für
sich hätte.
Alles in allein gerechnet, halten wir die Wahrscheinlichkeit, daß in dem
R'ichterkolleg der Gewerbegerichte ein besseres Organ fiir die Rechtsprechung
werde geschaffen werden, als in den vom Staate berufenen Richtern, für nicht
sehr groß. Auch die Arbeiter werden bald gewahr werden, daß ihr Vertreter
im Gericht doch immer nur eine Stimme hat, lind daß deshalb alles auf die
Person des Vorsitzenden ankommt.
Eben deshalb ist es auch höchst auffallend, daß nach ^ 80 des Gesetzes
für die rheinischen Länder die dort bestehenden Gewerbegcrichte aufrecht er¬
halten und nur darin geändert werden sollen, daß die beiden Beisitzer
des Gerichts je ein Arbeitgeber und ein Arbeiter sind nud aus Wahlen der
beiden Stände hervorgehen. Was aber die Hauptsache ist: der Borsitzende des
Gerichts bleibt derselbe wie bisher, nämlich ein Arbeitgeber. Der Antrag des
Abgeordneten Tutzauer, der für den Vorsitz einen keiner Partei angehörenden
Mann begehrte, wurde im Reichstage abgelehnt. Der Unterschied besteht also
nnr darin, daß bisher drei Arbeitgeber, in Zukunft aber, neben einem Arbeiter,
zwei Arbeitgeber zu Gericht sitzen. Damit haben die Arbeitgeber von vorn¬
herein die Mehrheit, und sie bestimmen die Entscheidung. Nach wie vor bilden
diese Gerichte eine Einrichtung zu Gunsten der Arbeitgeber.
Mit der Organisation des Gerichts in nahem Zusammenhange steht die
Vorschrift des neuen Gesetzes, daß Rechtsanwälte und Personen, die das Ver¬
handeln von Prozessen gewerbsmäßig betreiben, bei den Gewerbegerichten
nicht zugelassen werden sollen. Wir halten diese Maßregel sür zwei¬
schneidig. Daß manche Sachen durch die Dazwischenkunft von Anwälten schwie¬
riger werden, ist unzweifelhaft. Eben so unzweifelhaft ist es aber anch, daß
manche Parteien sehr unvollkommen imstande sind, ihre Rechte selbst zu ver¬
treten. Und dieser Mangel wird noch öfter auf feiten des Arbeiters, als
des Arbeitgebers sich einstellen. Insofern ist also die Maßregel nicht als eine
für die Arbeiter unbedingt wohlthätige zu erkennen. Der Nachteil wird viel¬
leicht dadurch abgeschwächt, daß jede Partei ihre» — sagen wir unbewußter —
Advokaten im Gerichte selbst sitzen hat. Hierzu werden sich die beiden Bei¬
sitzer um so leichter herausbilden, als die Rechtsverteidigung der Partei selbst
mangelhaft ist. Unbedingt wohlthätig wird die Maßregel nur insofern wirken,
als sie dazu dient, die Kosten des Prozesses ans einer geringen Stufe zu er¬
halte». Und dieser Umstand mag sie ja Wohl auch den Arbeitern gefällig
erscheinen lassen. Jedenfalls aber steht die Bestimmung in einem seltsamen
Gegensatz zu dem Vorschriften des gemeinen Prozesses, der nicht allein in
allen Sachen Anwälte zuläßt, sondern auch in Sachen über dreihundert Mark
Anwälte unbedingt fordert. Hat es wohl einen verständigen Sinn, gleichzeitig
M sagen :, Anwälte sind für den Prozeß so schädlich, daß sie bei Gewerbegerichten
gar nicht zugelassen werden dürfen; und dann wieder: Anwälte sind für den
Prozeß so nützlich, daß ohne sie ein Prozeß gar nicht geführt werden darf?
Wir wenden nus nun zu denjenigen Eigentümlichkeite>l des Prozesses vor
dem Gewerbegerichte, durch die den Gewerbetreibenden in Wahrheit ein ent¬
schiedener Vorzug vor allen übrigen Staatsangehörigen verliehen wird. Diese?
Vorzug liegt in dem Verfahren und in den kosten.
Dem Verfahren liegt zwar der gemeine amtsgernhtliche Prozeß zu. Grunde.
Aber es ist von allen den Formalitäten befreit, die den geiueiuen Prozeß fiir
unser Volk zu einem wahren Kreuz gemacht haben. Wir wollen hier die haupt¬
sächlichsten Bestimmungen des bei den Gelverbegerichten angeordneten Verfahrens
kurz aufführen. Alle Zustellungen erfolgen von Nmtswegen. Urteile, Beschlüsse,
gegen die ein Rechtsmittel stattfindet, werden den Parteien ohne weiteres zu¬
gestellt, wenn sie nicht darauf verzichten. Auch sonstige Urteile und Beschlusse
sind den Parteien zuzustellen, wenn sie nicht in ihrer Anwesenheit verkündet
worden sind. Anträge lind Erklärungen, die der andern Partei zugestellt werden
sollen, sind bei Gericht einzureichen oder beim Gerichtsschreiber zu Protokoll
zu geben. Mit dieser Handlung tritt schon die Wahrung einer Frist oder
die Unterbrechung einer Verjährung ein. Der Gerichtsschreiber hat die
Zustellung in einer „vereinfachten" Form durch die Post bewirken zu lassen.
Alle nicht auf Grund mündlicher Verhandlung ergehenden Beschlüsse und
Verfügllugeu erläßt der Vorsitzende allein. Er setzt die Verhandlungs¬
termine an. Der Gerichtsschreiber hat die Parteien zu laden. Zu dem
ersten Termine brauchen die Beisitzer nicht zugezogen zu werde». Erscheint
eine Partei nicht, so erläßt der Vorsitzende das Versüumnisnrteil. Erscheinen
beide Parteien, so verflicht er zwischen ihnen die Güte. Kommt ein Vergleich
zu stände, wird der Klagansprnch anerkannt oder die Klage zurückgenommen,
so ist damit der Prozeß zu Ende. Auch kann der Vorsitzende, wenn es von
beiden Parteien beantragt wird, sofort in der Sache entscheiden. Andernfalls
wird, wenn die Sache streitig bleibt, ein andrer Termin angesetzt, zu dem nnn
die Beisitzer zugezogen werden. Zu diesem Termin werden gleich die nötigen
Zeugen und Sachverständigen geladen. In dem Termine ist mündlich zu ver¬
handeln. Das Gericht kann jederzeit das persönliche Erscheinen der Parteien
anordnen. Ülwr die Verhaudlniig ist ein Protokoll aufzunehmen. Alle diese Vor¬
schriften enthielt schon der Regiernngsentwnrf. Dann ist aber noch eine schwer¬
wiegende Bestimmung durch die Reichstagskommission in das Gesetz gebracht
worden. Erscheinen in einem zur Fortsetzung der Verhandlung bestimmten Termine
die Parteien oder deren eine nicht, so ist das Urteil unter Berücksichtigung der
bisherigen Verhandlungen zu erlassen. Dadurch ist mit dem jetzt bestehende»
leidigen Prinzip, das davon ausgeht, daß in jedem Termine der ganze Prozeß
von neuem beginne und deshalb das Nichterscheinen einer Partei stets den
Verlust der ganzen Sache nach sich ziehe, gebrochen worden. Es wird dieser
neue Grundsatz aber auch die Folge haben, daß in die Protokolle die Ver¬
handlungen ihrem wesentlichen materiellen Inhalt nach aufgenommen werden
müssen. Denn wie könnte man ein Urteil „mit Berücksichtigung der bisherigen
Verhandlungen" geben, wenn man von den bisherigen Verhandlungen nichts weiß?
In diesem ganzen Verfahren haben wir nun einen vernünftigen Prozeß
vor Auge», der mit dem leidigen Formalismus der Zivilprvzeßvrdnnng gänzlich
gebrochen hat. Man fühlt sich wie von einem Alp befreit, wenn man liest,
daß der Sinn für das Natürliche und Gesunde doch noch nicht völlig aus der
Jurisprudenz verschwunden ist.
lind nun kommt noch die Hauptsache. Für die Verhandlung des Rechts¬
streites vor den Gewerbegerichten wird eine einmalige Gebühr nach folgenden
Sätzen erhoben: in Sachen bis zu 20 Mark 1 Mark, in Sachen von 20 bis
50 Mark 1 Mark 50 Pf., in Sachen von 50 bis 100 Mark 3 Mark. Von da
an steigen die Gebühren für je 100 Mark um 3 Mark. Die höchste Gebühr
betrügt 30 Mark. Wird der Prozeß durch Anerkennung oder Versäumnisurteil
erledigt, so wird die Gebühr nur zur Hälfte erhoben. Kommt ein Vergleich
zu stände, so wird gar leine Gebühr erhoben. Schreibgcbühren kommen gar
uicht in Ansatz. Die zur Kostentragung verurteilte Partei braucht die Kosten
eines vom Gegner zugezogenen Prozeßbevollmächtigten oder Beistandes uur zu
bezahlen, wenn die Zuziehung durch besondre Umstände gerechtfertigt ist, und
nur in beni vom Gericht für angemessen erachteten Betrage. Auch von den
hohen Gebühren der Gerichtsvollzieher sind die Gewerbeprozesse durch die Zu¬
stellung mittels der Post und weiter dadurch befreit, daß für die Zustellungen
Gemeindebeamte verwendet werden können.
Nun vergleiche man einmal mit diesen Gebührensätzen die des allgemeinen
Tarifs. Schon die einfachen Sätze sind in diesem zum Teil höher; sie werden
aber in jedem Prozeß, je nach der Art seines Verlaufes, doppelt und dreifach
erhoben. Dazu kommen dann noch alle die Nebengebühren, Schreibgebühren,
Zustellungskosten u. s. w. So summt sich die Gebührenrechnung in einer Weise
auf, daß man für den gemeinen Prozeß das Vier- bis Fünffache dessen rechnen
kann, was ein Prozeß vor dem Gewerbegerichte kosten soll. Vermehrt werden
die Kosten des gemeinen Prozesses dann noch dnrch die Kosten der Vertretung
der Parteien, die bei dein Landgerichtsprozeß eine erzwungene ist. So haben
diese Kosten eine Höhe erreicht, die dahin führt, daß Menschen mitunter sich
lieber jedem Unrecht unterwerfen, als in eine so kostspielige Prozedur sich
hineinstürzen.
Wenn man nun diesen ganzen Gegensatz betrachtet, in dem dieser nen-
geordnete Prozeß zu dem gemeinen Prozeß steht, und wenn man weiter in
Betracht zieht, daß Gewerbestreitigkeiten von allen übrigen Streitigkeiten nicht
im geringsten verschieden sind, so gelangt man unwillkürlich zu der Frage: Mit
welchem Rechte hält man, während man den Arbeitern für ihre Streitigkeiten
ein einfaches, verständiges und wohlfeiles Verfahren giebt, alle übrigen Staats¬
angehörigen unter dem Bann eines formalistischen und mit schweren Kohle»
verbundenen Prozesses fest? Wir gönnen unsern Arbeitern alles mögliche
Gute. Aber haben sie allein einen Anspruch auf das Wohlwollen des Staates,
und braucht man auf die übrigen Stände, weil sie nicht so laut den Mund
aufthun, keine Rücksicht zu nehmen?
Der Arbeiter wohnt in der Stadt und hat bis zum Gericht keinen weiten
Weg. Der Bauer aber wohnt auf dem Lande und muß bis zum Gericht oft
drei, vier Stunden Weges gehen. Und doch verlangt man von dem Bauer,
daß er in jedem Pnblikationstermin erscheine, oder er muß — wozu ihm oft
gänzlich die Mittel fehlen — Feder und Papier nehmen und sich eine Abschrift
der Entscheidung erbitten, während dem Arbeiter die Entscheidung ohne weiteres
ins Haus geschickt werden soll. Dem Arbeiter nimmt man die Last und die
Gefahr des eignen Prozeßbetriebes ab; auf dem Bauer aber, der noch weniger
davon versteht, läßt man sie haften. Dem Arbeiter soll, wenn er einen Termin
versäumt, das bisher Verhandelte zu gute kommen. Versäumt aber der Bauer
einen Termin, so bricht über ihn ohne alle Rücksicht auf das bisher Verhandelte
ein Kontnmazialerkeuntnis herein. Ist das wohl Gerechtigkeit?
Und wie ist es mit den Prozeßkvsten? Sind Arbeiter und Arbeitgeber
so viel bessere Menschen, daß sie niemals frivole und leichtfertige Prozesse an¬
fingen, die mit Verurteilung in die Kosten gebüßt werden müßten? Alle die
Gründe, die man für die Notwendigkeit hoher Prozeßkosten anzuführen Pflegt,
treffen in gleichem Maße auch für Gewerbestreitigkeiten zu. Und wenn man
nun doch für diese Streitigkeiten weit geringere Kosten festsetzt, so beweist das
eben, daß alle jene Grüude unrichtig oder übertrieben sind. Oder ist es etwa
gerechtfertigt, daß ein armes Dienstmädchen, das mit seinem Dienstherrn um
25 Mark Lohn streitet, für den Prozeß 7 Mark 20 Pf. an Hauptgebühren und
dazu noch alle Nebengebühren bezahlen muß, während die Kvnfektionsdame, wenn
sie mit ihrem Dienstherrn um denselben Lohnbetrag streitet, mit 1 Mark 50 Pf.
wegkommt? Allerdings fließen die allgemeinen Prozeßkosten in die Staats¬
kassen, während die Kosten der Gewerbeprozesse in die Gemeindekassen fließen
sollen, wo sie schwerlich ausreichen werden, um den Gemeinden die durch Schaffung
der Gewerbegerichte neu auferlegten Lasten zu decken. Aber auch dieser Gegensatz
dürste doch den gewaltigen Unterschied in der Höhe der einen und der andern
Kosten kaum rechtfertigen. Auch die Kosten der Gemeinden fallen den Staats¬
angehörigen in der Form der Gemeindeabgabeu zur Last. Ist es nun gerecht,
daß in dieser Form die Kosten einer den Arbeitgebern und Arbeitern zu ge-
wührenden wohlfeilen Justiz von den übrigen Staatsangehörigen aufgebracht
werden müssen, während diese selbst, wenn sie ihr Recht vor Gericht verfolgen,
mit schweren Kosten heimgesucht werden?
Bisher hat man immer noch den nun schon seit beinahe elf Jahren be-
stehenden Prozeß trotz seiner längst erkannten schweren Mängel und seiner un¬
erschwinglichen Kosten von gewissen Seiten zu verteidigen gesucht. Nach Erlaß
des Gesetzes über die Gewcrbegerichte ist das nicht mehr möglich. Er ist durch
dieses Gesetz verurteilt. In einer bestimmten Richtung hat der Reichstag selbst
dieser Verurteilung einen positiven Ausdruck gegeben, indem er eine Resolution
beschlossen hat, wodurch die verbündeten Regierungen ersucht werden, noch vor
durchgreifender Revision der Reichsprozeßgesetze und zwar baldmöglichst eine
Änderung in dem ZustelluugSwcseu zur Beseitigung der zu Tage getretenen
Mängel und Härten eintreten zu lassen. Unleugbar ist das Znstellungsweseu
derjenige Punkt, in dem sich die Fehler des bestehenden Prozesses am schmerz¬
lichsten fühlbar machen. Wir können aber nnr wünschen, daß die demnächstige
Gesetzesvorlage sich nicht auf diesen Punkt beschränke. Denn das Zustelluugs-
Wesen bildet nnr ein einzelnes Stück des ganzen Systems, wodurch dieser Prozeß
sich, für die Parteiinteressen so verderblich erweist. Es ist ein Schicksal für
Deutschland gewesen, das; es sich durch diesen französischen Prozeß hat bethören
lassen.
er Verein für Massenverbreitung guter Schriften hat in kurzer
Zeit sein Netz über ganz Deutschland ausgebreitet; in allen
größern Städten sind Zweigvereine entstanden, die mit aner¬
kennenswerter Rührigkeit für die neue Sache eintreten und überall
Gönner und Mitglieder in großer Zahl zu werben wissen. Das
wäre ein günstiges Zeichen, wenn nicht die Thatsache bestünde, daß kein Volk
sich so erstaunlich leicht zu Vereine» krhstallisirt wie das deutsche, selbst da,
wo es sich um die wunderlichsten Dinge handelt; wenn man uicht wüßte,
mit welcher Vereitwilligkeit sich die meisten Menschen vor ihrem Gewissen und
der Gesellschaft zu rechtfertigen suchen, wenn sie sich von den wissenschaftlichen,
litterarischen, künstlerischen oder volkswirtschaftlichen Verpflichtungen, denen man
nun doch einmal als gebildeter Mann unterworfen ist, dnrch Lösung einer
Mitgliedskarte zu diesem oder jenein Vereine befreien können.
Mit Vereinsgründung und Beitragszahlung glauben dann die edeln
Menschenfreunde genug gethan zu haben, um mit Selbstgerechtigkeit dem Ver¬
laufe der Zeit- und Streitfragen ruhig zuschauen zu dürfen. Wer sich die un¬
absehbare Reihe unsrer Vereine vergegenwärtigt, die tagtäglich wie Pilze aus
der Erde hervorsprießen, wird dieser Ansicht beistimmen. Die Bereinssimpelei
nimmt in Deutschland nachgerade einen solchen Umfang an, daß heutzutage
Menschen, die nicht irgend einem Vereine angehören, bei uns kaum mehr zu
finden sind. Wer sich von allein Vereinsleben fern hält — und es giebt Gott
sei Dank auch noch solche Leute —, der müßte sich gegenüber der beständig
wachsenden Flut von Vereinsschriften, Aufforderungen und Berichten, die auf
die Mitglieder mit staunenswerter Beharrlichkeit losgelassen werden, eigentlich
wie ein Geächteter vorkommen. Es wird ihm aber die Thatsache zum Troste
gereichen, daß noch nie von einem Vereine Bahnbrechendes für den Kulturfort¬
schritt der Menschheit geleistet wordeu ist, daß im Gegenteil großartige Um¬
gestaltungen und Förderungen des geistigen Lebens immer nur von einzelnen
Geistern hervorgegangen sind; denn alle Genossenschaften und Vereine zu¬
sammengenommen hätten weder zur Entdeckung Amerikas geführt, noch die
Reformation hervorgerufen, weder das deutsche Reich gegründet, noch die ge¬
waltigen Erfindungen der neuern Zeit ersonnen. Die meisten unsrer Vereine
— und das wird die Vereinslosen noch mehr beruhigen — haben ihre Wurzel
in dein Ehrgeiz von zwei oder drei mittelmäßigen Geistern, die sich in dem
Verein eine Stätte zur Selbstberäucherung und eine Folie für ihre unbedeu¬
tenden Persönlichkeiten zu schaffen suchen. Daher kommt es denn auch, daß
scheinbar lebenskräftige Vereine sich plötzlich im Sande verlaufen, sobald die
eine Person, die den Vereinsspvrt zu schüren wußte, aus dem Kreise ver¬
schwindet. .
Wir rechnen den Verein für Massenverbreitung guter Schriften nicht zu
dieser Gruppe, und doch möchten wir bezweifeln, daß die Grundsätze und die
Mittel, mit denen der Verein zu wirken gedenkt, zu dem gesteckten Ziele, d. h.
zur Hebung der Volksbildung, zur Veredlung des Gemüts und zur Besserung
der Sitten führen werden. Es ist unzweifelhaft ein edles Bestreben, die gro߬
artigen Schätze unsrer Litteratur durch massenhafte Verbreitung zum Gemeingut
des ganzen Volkes zu macheu; es fragt sich uur, welchen Umfang man hierbei
dem Begriffe „Volk" giebt. Rechnet man dazu alles, was schreiben und lesen
kann, wo bleiben dann die Angehörigen des Arbeiterkreises, die das nicht
können? — und deren giebt es trotz unsrer Volksschulen noch eine große Zahl.
Rechnet man dazu uur die halbwegs Gebildeten oder die Angehörigen des
Kleinbürger- und Bauernstandes, weshalb dann solchen mächtigen Hochdrnck-
avparat in Bewegung setzen, weshalb dann solche übertriebene Furcht vor den
verderblichen Einflüssen der Kolpvrtagelitteratnr? Der Schaden, den die Hinter¬
treppenromane verursachen, wird von ängstlichen Gemütern in der That dnrch
ein Vergrößerungsglas angesehen. Unsittliche lind staatsgefährliche Schriften
werden bekanntlich von der Polizei mit Beschlag belegt; in den übrigen Mach¬
werken triumphiren immer Tugend und Edelmut über das phantastisch und
abschreckend ausgemalte Laster. Wer lediglich durch das Lesen eines Kriminal-
rvmcms zum Verbrecher wird, und hie und da führt das wohl einer als Ent-
schuldigungsgrund für seine Schandthaten an, der befand sich schon ans ver¬
brecherischen Wegen und wäre auch durch keine Klassiker zu retten gewesen; die
Gesellschaft verliert also an ihm nichts. Viel gefährlicher als solche Hirn¬
gespinste sind die öffentlichen Gerichtssitzungen und die ausführlichen Zeitungs¬
artikel darüber; denn hieraus, nicht aus Romanen, sammeln die Verbrecher
ihre praktischen Kenntnisse und ihre besondre Berufsbildung. Ist es wirklich
notwendig, das Lesebedürfnis in unserm Volke, die verwirrende Beschäftigung
mit Büchern durch Vereine für billige Schriften noch künstlich anzustacheln?
Wir Deutschen geraten immer mehr in eine ode Stubenhockerei hinein, die alle
gesunden Lebensüußerungen, alle Freude an dem Aufenthalt in der Natur und
an der Entfaltung körperlicher Vorzüge allmählich ganz zu ersticken droht.
Man schaffe dem Volke erst die äußern Bedingungen eines Daseins, das dem
Stnndpnnkte unsrer Kultur entspricht, d. h. gesunde Wohnungen und Arbeits¬
stätten, festes Familienleben und kräftige Nahrung, bevor man Vereine bildet,
um die litterarischen Bedürfnisse des Volkes zu befriedigen; wer ein Schiff
baut, soll uicht mit den Wimpeln anfangen; die Rippen und das, was daranf-
sitzt, ist notwendiger. Lesen, lesen, lesen — als ob der Mensch auf die Erde
gesetzt sei, um sich eine papierne Welt zu bauen, als ob man kein andres Elixir
wüßte, als die Druckerschwärze, und keinen andern Freibrief auf das himmlische
und das irdische Glück, als das Buch und die Zeitung. Je mehr gelesen wird,
desto weniger wird gedacht; je mehr sich das Volk mit fremden Gedanken be¬
schäftigt, desto mehr verliert es die eignen. Die Lesewut raubt unserm Volke
den gesunden Menschenverstand und macht es zu unzufriedenen Träumern, zu
unpraktischen Nörglern, zu stumpfsinnigen Wiederkäuern. Man sollte diesen
Hang eher unterdrücken, als künstlich großziehen.
Die Kolportagelitteratur aus unsern Arbeiterkreisen beseitigen und dafür
die Werke eines Heinrich von Kleist, Zschokke, Hauff, Auerbach, Freytag u. f. w.
dem Proletariat in die Hände spielen, wie das Heinrich Fränkel in seiner
Broschüre „Ein neuer Weg zur geistigen und sittlichen Hebung des Volkes"
vorschlägt, würde ja wohl einer Zurückdämmung der Lesewut gleichkommen,
denn was dem Gebildeten in der Litteratur Honigbrot ist, das bleibt sür den
Mann aus dem Volke ungenießbarer Sauerteig; aber auf eine Einschränkung
des Lesebedürfnisfes geht der Verein gar nicht aus, er will dies nur in ein
klassisches Fahrwasser leiten und vergißt dabei, daß unsre hervorragenden Geister
gar nicht für die große Masse des Volkes gedacht und geschrieben haben. Es
werden immer nur einige Auserwählte sein, die ihnen auf die Höhen des
geistigen Lebens folgen können, und das ist gut. Je höher die große Masse
der unter lebenden Seetiere nach oben getrieben wird, desto unbehaglicher wirds
ihnen, bis der Gegendruck der Umgebung nicht mehr ausreicht, und die armen
Wesen platzen. Auch das Volk gerät außer Rand und Band, wenn man es
mit aller Gewalt in eine Sphäre hochtreiben will, wo es thatsächlich nicht
mehr atmen kann. Das Volk hat nun einmal, wie die Kinder, kein Verständnis
für eine edle Form, eine klassische Sprache, eine gedankentiefe Darstellung; wer
es nicht durch den abenteuerlichen Stoff, durch die Fülle der Begebenheiten,
durch den Zauber der Personen packen kann, der packt es überhaupt nicht.
Es wird daher nie und nimmer seine Lieblingsrvmane von der edeln Gräfin,
dein schwarzen Spion und dem elenden Diener aufgeben; es will sich bei dem
ewigen Einerlei seines Daseins auch einmal, wenn auch uur in der Phantasie,
in den Höhen des irdischen Glanzes, des Reichtums und der Macht bewegen;
man lasse ihm diese Freude — wenn die Polizei nichts dagegen hat — und
raube ihm um Himmels willen nicht die geheime Scheu vor der Gräfin, d. h.
vor den höhern Ständen. Die Franzosen haben neuerdings ans ihren Gym¬
nasien die Lektüre des Michael Kohlhaas entfernt, weil sie den jungen Leuten zu
viel Schwierigkeiten in Inhalt nud Sprache bot; glaubt der Verein, daß unsre
Sackträger und Fabrikarbeiter genug Intelligenz besitzen, um solch ein Werk zu
verstehen? Und wenn sich wirklich lesen, so ist sicher darauf zu wetten, daß
sie eine Moral daraus ziehen werden, von der gerade keine besondre Förderung
unsrer sozialen Zustände zu erwarten wäre.
Im Übereifer fangen unsre optimistischen Volksfreunde alles falsch an;
man glaubt die ganze Gesellschaft reformiren zu können, indem man mit den
Umgestaltungen ganz unten beim Pöbel anfängt, statt oben zu beginnen. Wenn
die Glieder nicht mehr wollen, ist immer der Magen oder das Gehirn dran
schuld; hier hätte man vor allen Dingen mit der Kur anzufangen.
Ist denn wirklich das geistige Leben unsrer bessern Gesellschaft so gesund,
das litterarische Interesse und künstlerische Verständnis unter den sogenannten
Gebildeten so vortrefflich, daß wir daran denken können, auch die untern Volks¬
schichten mit einer gediegneren geistigen Nahrung zu beglücken? Wer sich einmal
die Mühe nimmt, in den Leihbibliotheken nachzufragen, welche Bücher am meisten
vom gebildeten Publikum gelesen werden, der wird betrübende Erfahrungen
machen; aber es giebt noch einen bessern Wertmesser für den geistigen Stand¬
punkt, für den litterarischen Geschmack und das kritische Urteil der bessern
Kreise, man findet ihn in unsern Familieublättern, Wochenschriften und Tages¬
zeitungen. Man steht in der That oft sprachlos da, wenn man sieht, welch
ein unerhörtes Zeug die Journale, von den wissenschaftlich zugestutztem Rund¬
schauen herunter bis zu den seichten Familienblättern, ihren Lesern vorzusetzen
wagen dürfen; man muß noch mehr erstaunen, wenn man von den Redakteuren
erfährt, daß fades Salongewäsch, überspannte Darstellungen und offenbarer
Blödsinn in den Romanen und Novellen Beifall und Begeisterung finden, und
das nicht etwa unter den Schueidermädchen, sondern, wie oft aus den Brief¬
kastennotizen zu ersehen ist, gerade unter den Lesern der bessern Gesellschaft.
Haben wir bei einem so traurigen Zustande unsers litterarischen Urteils, bei
einer so offenbaren Geschmacksverirrung, die unsre gelddürstigen Verleger in
strafwürdiger Gewissenlosigkeit weidlich auszubeuten suchen, das Recht, über die
Kolpvrtagclitteratur den Stab zu brechen, uns in Entrüstung, Selbstgerechtigkeit
und Menschenliebe aufzublähen und in allen Gauen Deutschlands Geld zu
sammeln, nur die armen Enterbten der untern Volksschichten für das Glück der
höher» geistigen Genüsse empfänglich zu machen und ihnen in den Schätzen
unsrer Klassiker eine ideale Entschädigung für die materiellen Entbehrungen des
Lebens zu, bieten? Und doch ist die Frage, wie heben wir im Volke die
Intelligenz, d. h. eine gesunde Verstandesbildung, wie stärken wir das sittliche
Bewußtsein, wie füllen wir vor allen Dingen die gefährliche Langeweile aus,
die den Arbeiter, insbesondre den unverheirateten, packt, sobald er eine Zeit
lang seine Tretmühle verläßt, von schwerwiegender Bedeutung.
Geschlechtsliebe, Hunger und Langeweile sind immer die drei Parzen der
menschlichen Gesellschaft gewesen; sie spinnen ihren Lebensfaden, erhalten ihn
und schneiden ihn ab. Zu allen Zeiten haben sie das Leben der Volker nach
ihrer wechselnden Oberherrschaft in einem Maße bestimmt, daß man die ganze
Kulturgeschichte leicht auf diese verhängnisvollen Mächte zurückführen konnte.
Geschlechtsliebe, Hunger und Langeweile sind im Organismus eines jeden Volkes
die gewaltigsten Triebkräfte, vor denen alle andern Motive verschwinden. Es
fragt sich nur, welcher mau hierbei den ersten Rang einzuräumen habe. Sie
in die Gewalt zu bekommen und ihnen eine bestimmte Richtung aufzudrängen,
ist von jeher das Bestreben aller Gesetzgeber und staatenbildenden Mächte ge¬
wesen. Der blinde Geschlechtstrieb wird staatlich geordnet, kirchlich geheiligt
und zur Familiengründung und ordnungsmäßigen Fortpflanzung ausgenutzt.
Die Befriedigung des Hungers giebt Gelegenheit, als Gegenleistung die Arbeit
der Individuen zu verlangen, d. h. ihre Muskelkraft und Intelligenz in Pro¬
duktivität umzusetzen. Familiengründung und Produktivität arbeiten sich in
die Hände, so lange die wirtschaftliche Lage des Volkes gesund ist; sie schließen
sich aus, sobald ein krankhafter Zustand eingetreten ist, sobald mehr Kräfte
vorhanden sind, als der Staat zur Familiengründung und Nahrungsbeschaffnng
beansprucht. Jeder zur Bewegungslosigkeit verurteilte Strom wird staguirend
und zu einem Herde von Fäulniskeimen; jedes Volk, dessen überschüssige Kraft
nicht ins Spiel gesetzt wird, das in eine gewisse Bewegungslosigkeit, d. h. in
Langeweile geraten ist, geht dem Verfalle mit Riesenschritten entgegen.
Die Langeweile ist der gefährlichste Feind aller Nationen. Das wußten
die alten Volker besser als wir; daher die unzähligen Veranstaltungen bei den
Griechen und bei den Römern, um die unbeschäftigte» Gemüter und Körper¬
kräfte fortwährend in Thätigkeit zu erhalten; daher die beständige Vermehrung
der öffentlichen Schaubühnen, der Volksspiele und großen Feste; daher die
unheilvolle Zersetzung und die stürmischen Auftritte, sobald dein Rufe uach
Brot und Spielen nicht sofort vom Staate Folge gegeben wurde. Im Mittel¬
alter wußte die Kirche mit richtigem Verständnis den Spieltrieb und die Schau¬
lust des Volkes zu organisiren, ja sie gewann es über sich, viele ihrer Ein-
richtungen den germanischen Überlieferungen anzupassen und erst allmählich die
alten überkommenen Formen und Gebräuche mit christlichen Anschauungen zu
füllen. Trotz des düstern mönchischen Geistes, der zuweilen die überschüssigen
Kräfte des Volkes in Gebeten, Bußübungen und Kasteiungen zu ersticken ver-
suchte, brach der gesunde Vvlkshumor doch immer wieder durch und überschlug
sich zuweilen selbst in die unglaublichsten Gotteslästerungen.
Vvlkshumor — ob wir heutzutage uicht auf dem besten Wege sind, dieses
Gnadengeschenk des Himmels, dieses Linderungsmittel aller Schmerzen gründlich
auszurotten? Man liest in allen Litteraturgeschichten, es sei ein unzweifelhaftes
Verdienst Gottscheds, den Hanswurst von der Bühne Verbanne zu haben; wir
halten diese Heldenthat für eine der thörichtsten Handlungen, die jemals ein
pedantischer, verbohrter Schulfuchs ausgeführt hat. Sie zeigt ein so geringes
Verständnis für die geschichtliche Entwicklung unsrer Bühne, eine solche Un¬
kenntnis des volkstümlichen Geistes, seiner Neigungen und Bedürfnisse, daß
wir in dieser That Gottscheds nicht das geringste Verdienst zu erkennen ver¬
mögen.
Spielte der Hanswurst auf der Volksbühne jener Zeit wirklich eine zu
große Rolle, so hätte man ihn in die gehörigen Grenzen zurückweisen müssen;
ihn aber völlig verbannen, hieß dem Volke ein gut Teil seines ursprünglichen
Humors rauben. Die blinde Verehrung des Franzosentums und die darauf
folgende gespreizte Vornehmthuerei mit der sklavischen Nachahmung der Alten
hat das deutsche Volk, d. h. die untern Schichten, von dem geistigen Mitleben
mit unsrer Litteratur immer mehr ausgeschlossen. Mit einem Walter von der
Vogelweide, mit einem Hans Sachs, einem Gellert lebte es — was aber ist
unserm Volke, d. h. dem gemeinen Manne, Hekuba? Was ist ihm unsre ganze
klassische Dichtung mit dem mythologischen Apparat der Alten? Ohne gelehrte
Bildung ist sie überhaupt uicht mehr zu verstehen, und wenn z. B. die Räuber
oder Götz von Berlichingen auch heutzutage auf den Ungebildeten einen unaus¬
löschlichen Eindruck ausüben, so geschieht das nur, weil sich darin etwas von
dem unverwüstlichen Geiste eines Hans Sachs vorfindet. Aber diese Thatsache
lehrt uns auch, wo mau mit den Reformbestrebungen unsrer Tage einzu¬
setzen hat.
Wer gegenwärtig nur Humanismus lehren, Sitten predigen und die Er¬
gebnisse der Wissenschaft verkünden will, wird wenig Hörer finden. Die
Bildungsvereine mit ihren Vortrügen liefern dafür den besten Beleg. Der
sogenannte Gebildete geht nicht hin, weil er schon alles in der Schule „gehabt
hat" oder weil er dem Skatspiel mehr Interesse abgewinnt. Der Ungebildete
geht nicht hin, weil er von dem ganzen Brimborium nichts versteht. Und so
müht sich denn der ideal angehauchte Redner ab, vor einer Gesellschaft von
Handlungslehrlingen seine philosophischen, naturwissenschaftlichen oder littera¬
rischen Probleme zu entwickeln. Ich frage, was hat das Volk von diesem
Vilduugsschwiudel, vou dieser Schaumschlägerei mit gelehrten Phrasen, von
diesem Sammelsurium abgeschlossener Gedanken und fertiger Urteile? Es ist
viel leichter, Kaviar und Austern zu würdigen, Weinsorten zu unterscheiden
lind den Wert von Zigarre» abzuschätzen, als die Werke der Denker nud Dichter
zu verstehe». Man würde lachen, wollte man jene Fähigkeiten vom Mann
aus dem Balle verlangen, aber man nimmt es sehr ernst, ihm dieses Ver¬
ständnis beizubringen. Es ist unnatürlich, Wald- und Wiesengestrüpp in einen
Kulturgarten zu schleppen; es ist thöricht, sich einzubilden, daß man die
Menschen glücklich machen könnte, wenn man sie aus ihrer geistigen Sphäre
in eine andre versetzt. Man gebe unserm Volke wieder, was des Volkes ist,
d. h. seine Gebräuche, seine Trachten, seine Bolksspielc und Belustigungen;
mau gebe ihm den Volkshumor wieder. Unser Volk kann nicht mehr lachen,
nicht mehr harmlos und herzlich lachen, das verlernt es schon bei unsern ver¬
bissenen Schulmeistern. Wir sind wirklich auf dem besten Wege, aus ihm ein
verschlossenes, finster brütendes, scheues Gesindel zu machen; in einigen Teilen
Norddeutsch lands sind wir schon so weit. Die polizeiliche Bevormundung und
Beobachtung selbst da, wo sie völlig überflüssig ist, wirkt geradezu lähmend
auf jede gesunde Regung der Volksseele. Der vielgerühmte Uufugsparagraph
in ttusrer Gesetzgebung ist das Grab des Volkshumors. Selbst Handlungen,
bei denen dem Bvlksbewnßtseiu jeder Gedanke an Straffälligkeit abgeht, bei
denen man nur die heitere Laune und den Mutterwitz anerkennen nud be¬
lachen müßte, werden vor den Richterstuhl gezogen. Man denke dabei nur an
den unglücklichen Provinziellen, der in der Silvesternacht seinen neuen Zhlinder-
hnt mit Stecknadeln spickt, um dem, der ihn einschlägt, einen Denkzettel zu
geben, und der schließlich wegen Körperverletzung bestraft wird, weil ein Über¬
mütiger ihm bei der ersten besten Gelegenheit den Zylinder über die Ohren
treibt. Wer singend durch die Dorfstraße zieht, wird bestraft; wer mit um¬
gekehrtem Überzieher über den Marktplatz schreitet, verfällt dem Unfugspara-
grnphen. Solche Fälle sind unzählig und tragen am meisten dazu bei, die
Freude an Spaß und Witz in unserm Volk völlig auszurotten, und den Duck¬
mäuser zum Ideal des Staatsbürgers zu machen. Es giebt nur wenige
Juristen, die sich bei ihren? verknöcherten Büreaukratismus überhaupt noch die
Mühe geben, den eigentümlichen Charakter des Volkes, seine Dialekte nud
Ausdrucksweisen kennen zu lernen, obwohl ihr Urteil durch diese Vertrautheit
mit dem Volksgeiste vielfach geändert werden würde. Ein Vorsitzender, der
bei der Beurteilung eines Korndiebstahls aus den Worten des Angeklagten
„Da war ook Kaff (Spreu) mang" fortwährend auf eine mitschuldige Person
mit Namen Kaff schließt und dadurch die Zeugen, die Schreiber, den ganzen
Gerichtshof in Verwirrung setzt, eignet sich nicht zu einer so verantwortungs¬
vollen Stellung. Der Verwaltungskörper unsrer Regierungsbeamten trennt
sich thatsächlich immer mehr von unserm Volksleben ab, bildet einen Orga¬
nismus für sich und sucht das gesunde Volksleben immer mehr in seinen toten
Formalismus hineinzuzwängen. Wir haben überall zu viel unproduktive
Juristen; der grüne Tisch und der Drehschemel sind die modernen Fvlterwerl-
zenge unsers Volkes. Ju den Stapeln von Akte», Berichten und Verfügungen,
deren unglaubliches Kauderwelsch der Spott kommender Zeiten sein wird, haucht
die natürliche Volksseele ihr Leben aus.
Wir sind nachgerade eine Gesellschaft engbrüstiger, kurzsichtiger, wichtig¬
thuender Schreiber geworden. Es wird in allen Verwaltungszweigen viel zu
viel geschrieben, zum Teil aus Unverstand der Vorgesetzten, zum Teil aus der
Notwendigkeit, das beständig wachsende Heer der federführenden Beamte«?
regelmäßig zu beschäftigen. Ein klarer Gedanke, der sich in drei Reihen für
jedermann verstündlich ausdrücken läßt, wird so lange in dem schwülstigen,
zopfigen Jargon herumgewälzt und mit so viel verwirrenden Flitterwerk des
Kanzleistils behängt, daß eine cicervnicmische Periode dagegen Kinderspiel ist
und er von Leuten, die ihre Sinne in der richtigen Rangordnung haben,
überhaupt nicht mehr verstanden wird. Die Schreibwut, die jedes unbefangene
Urteil trübt und jeden frischen Dienstbetrieb kühne, ist wie ein tötliches Gift
in alle Kreise gedrungen, vom Minister herunter bis zum Dorfschulzen, und
selbst der Reiteroffizier, der heutzutage länger auf dem Pferde als auf dem
Drehschemel sitzt, ist schon eine Seltenheit geworden. Unsre gesamte Kultur
würde uicht im geringste» geschädigt werden, ließe man das ganze Akten¬
material in Flammen auflodern; aber sie geht zu Grunde, sobald man dem
Volke seine Ursprünglichkeit, seinen Charakter, seine Gesundheit nimmt.
Man studirt und sinnt über neue Hoftrachten; die Zeitungen beschäftigen
sich monatelang mit diesem Stoffe und behandeln die Angelegenheit mit einer
Wichtigkeit, als ob das Bestehen unsrer Gesellschaft davon abhinge; aber nie¬
mand denkt daran, unserm Volke, d. h. dem gemeinen Manne, eine Tracht zu
geben, in der er sich menschlicher und behaglicher fühlt, als in seiner schmutzigen
„Kluft," niemand denkt daran, im Volke wieder die Freude an der lebendigen
lachenden Farbe zu erwecken und dort, wo sich noch, insbesondre in Nord-
deutschland, die alten Gebräuche in der Kleidung zeigen, mit allen Mitteln für
die Erhaltung und Verbreitung dieser Volkstrachten einzutreten; unser Himmel
ist schon gran genug, wir hätten alle Veranlassung, wenigstens in einer farbigen
Kleidung der trostlosen Stimmung entgegenzuarbeiten. ?g,nom et oireLusos!
Wo sind die unzähligen Spiele geblieben, in denen das Volk Gelegenheit fand,
seine Körperkräfte und Gewandtheit auszubilden, sich in frohem Treiben von
des Tages Last und Hitze zu erholen? Leute, die sich heutzutage nicht in
irgend einen Verein eingepfercht haben, stehen schon fast außerhalb jeder fröh¬
lichen Veranstaltung und finden nnr in der Branntweinstube ihren Ersatz, wo
sie den letzten Rest von körperlicher und sittlicher Reinheit verlieren. Es ist
eine sehr richtige Bemerkung, die nur der Unverstand tadeln konnte, wenn der
Verfasser von „Rembrandt als Erzieher" sagt: Wenn es statt der fünfzigtausend
Schanklokale, die es im jetzigen Preußen giebt, dort fünfzigtausend öffentliche
Badeanstalten gäbe, so würde es um die physische, geistige und sogar sittliche
Gesundheit seiner Staatsangehörigen besser stehen als jetzt. Denn körperliche
und sittliche Reinheit bedingen sich gegenseitig, es würde wahrscheinlich weniger
Sozialdemokraten in Deutschland geben, wenn es dort mehr Bäder gäbe.
Unsre Arbeiter sind zu plumpen, schwerfälligen Wesen geworden, die nicht
mehr gehen, sondern watscheln und stolpern, die nicht mehr sprechen, sondern
gröhlen und grunzen, die nicht mehr singen, sondern brüllen, und das auch
dann nur, wenn sie sich mit Alkohol die gehörige Ballonfüllung verschafft
haben. Und seltsam, was diese vierschrötiger Menschen brüllen, sind nicht
etwa unsre kernigen Volkslieder, sondern die gelten Kankanmelodien der Mode¬
operetten, wie: „Ach, ich hab sie ja nur auf die Schulter geküßt" u. dergl.
Man könnte darüber lachen, wenn die Wahrnehmung für deu Kulturhistoriker
nicht so überaus traurig wäre. Selbst ius Militär schleichen sich diese Operetten¬
lieder; hier aber sollte man sie mit aller Macht ausmerzen und von oben herab
mehr Wert auf die Pflege des echten Soldatenliedes legen; Leute, die diese
nicht mehr singen wollen, sind im Felde nicht zu gebrauchen. So viel man
auch reden mag, unser Volk ist trotz aller Volksschulen und Gesangvereine arm
geworden an seinen Liedern; man gebe ihm seine alten Weisen wieder, denn
ein singendes Volk ist ein glückliches Volk.
Wir Norddeutschen könnten in allen diesen Dingen viel, sehr viel von den
Süddeutschen und Österreichern lernen; es würde uns wirklich nichts schaden,
bei ihnen auch einmal in die Schule zu gehen und unser Volk nach den guten
altdeutschen Sitten und Gebräuchen, die sich im Süden erhalten haben, um¬
zubilden. Uns fehlen die Volkstrachten, die Volksspiele, das Volkslied, uns
fehlt vor allem das Volkstheater. Seitdem das Kasperletheater verschwunden
ist, hat der gemeine Mann nichts mehr, was seine Schaulust wecken und be¬
friedigen könnte. Was siud ihm alle Zirkusreiter, alle Kunststücke und allego¬
rischen Spiele, wenn der „August" nicht da ist, denn die Volksseele ist eine
Kindesseele; was sind ihm alle Lutherfestspiele, wenn es sich in dem auftretenden
Volke nicht wiedererkennt; was ist ihm die freie Bühne, wenn es sich darin
auf dem Misthaufen oder im Schweinestall sieht? Uns Norddeutschen fehlt
ein Raimund und ein Anzengrnber, uns fehlt ein wahres Volkstheater! Laßt
das Volk nicht lesen, immer lesen und grübeln, laßt es die Dinge sehen und
hören. Die gedruckte unsinnige Rede eines Sozialdemokraten beschäftigt den
Geist der Fabrikarbeiter monatelang; ein guter Prozeß, der sich einige Tage
vor dem Tribunal abspielt, ist für unsre Landleute ein Unterhaltungsstoff für
viele Jahre. Mail konzentrire diese Regungen und schaffe im Volkstheater
eine Stätte, wo das Volk ein Spiegelbild seiner Kämpfe und Bestrebungen
wiederfindet, wo es seine Schaulust befriedigt, gesunde Gedanken einsaugt, wo
es von seinen Grübeleien abgelenkt und durch eine volkstümliche Kunst über
die gefährliche Langeweile und Geistesödc hinweggetragen wird.
In Wien hat man sich bereits zu dieser Anschauung emporgeschwungen;
man beschäftigt sich eifrig mit dem Plane, ein Raimund-Theater zu gründen,
eine Nativnalbühne zur Pflege des wahren Volksstückes, der Banernkomödie,
der Posse, des Znubermärchens und Singspiels mit Ausschluß alles Operetten¬
artigen. Diese Bühne soll, wie es im Aufruf heißt, für die dramatische Volks¬
dichtung die gleiche Bedeutung erlangen, die das Burgtheater traditionell für
die klassische Dichtung besitzt. Sie soll, im innersten Wesen echt volkstümlich
geartet, jeder spekulativen Absicht fern stehen, von dem Wiener Volkstheatcr-
verein in eigner Regie geführt werden und bei allerbilligsten Preisen much
den unbemitteltsten Schichten zugänglich sein. Das Neinertrügnis des Theaters
soll alljährlich großen Humanitären Unternehmungen zugeführt werden, sodaß
dieses zugleich eine immerwährende Fundgrube zur nachhaltigen Forderung
derartiger Zwecke bilden würde. Solche Einrichtungen wären für uns Deutsche
noch notwendiger; denn nicht mehr durch Massenverbreitung von klassischen
Romanen und Novellen, von Erbanuugsschriften und Volksbüchern läßt sich
die soziale Bewegung beeinflussen und regeln. Wer heutzutage das Volk in
geistiger und sittlicher Beziehung leiten und heben will, der hat außer den
angeführten Maßregeln kein besseres Mittel als die volkstümliche Bühne; nur
das Angeschaute wirkt und haftet. Mögen hier die unruhigen Geister aufeinander¬
platzen, die geheimen Umtriebe gemeiner Hetzer vor das Forum der Öffentlich¬
keit gezogen werden, die unklaren Begriffe sich klären, nud das Volk sich
wiederfinden in seiner eignen Welt, in seinen Sorgen und Freuden.
er erste Teil des nnter diesem Titel erschienenen interessanten
Werkes") ist in Ur. 49 des vorigen Jahrganges der Grenzboten
besprochen worden. Einige Kapitelüberschriften mögen den In¬
halt des vorliegenden Bandes andeuten. Pompeji, keine Toten-
stadt (d. h., die heutigen Bewohner der Ortschaften um Pompeji
leben ganz in den Vorstellungen, Gewohnheiten und Gebräuchen der ver¬
schütteten Pompejaner); Schlangenverehrnng; die große Mutter; die neue Juno
(die heilige Anna); ein Vergessener (der Apostel Paulus, der deu heutigen
Bewohnern Puteolis unbekannt ist, obwohl er im Jahre 62 dort landete und
von den Brüdern begrüßt wurde); Hausgötter; Ablaß; vom Nachfolger des
Neptun (Se. Nikolaus). Das Unternehmen, dem heidnischen Ursprünge der
katholische» Gebräuche nachzuspüren, ist nicht neu, aber wohl noch niemals mit
solcher Gründlichkeit durchgeführt worden, wie von dem in den alten Klassikern
sehr belesenen Verfasser, der mit seiner Arbeit einen wertvollen Beitrag zur
Kultur- und Religionsgeschichte wie zur Ethnographie liefert. Aber gerade des¬
wegen, weil wir den Wert des Werkes anerkennen, möchten wir einige Aus¬
stellungen daran machen.
Zunächst scheint uns Trete mit einigen seiner Ableitungen nicht das
Richtige zu treffen. Er meint, die römische Kirche stütze ihren Schutzengel-
glanben, der dem heidnischen Genienkultus entspreche, ausschließlich auf das
apokryphe Buch Tobias; er wundert sich förmlich darüber, daß die poetische
Figur des Engels Rafael nicht allein für ein wirkliches Wesen gehalten werde,
sondern much noch unzählige Gefährten erhalten habe, indem die römische Lehre
jedem einzelnen Menschen seinen besondern Schutzgeist zuweise; und er zitirt
zum Beweise für die letztere Thatsache ein Gebet, das Silvio Pelileo in seinem
Gefängnis auf dem Spielberge verfaßt hat. Aber das konnte ja Trete in
jedem römisch-katholischen Katechismus finden; und dort Hütte er zugleich ge¬
sehen, daß die römische Theologie sich in diesem Punkte keineswegs bloß ans
das Buch Tobias, sondern auch auf Matthäus 18, 10 und 26, 53 stützt,
abgesehen von den vielen andern neutestamentlichen Stellen (eine führt Trete
selbst an), wo die Engel als wirkliche Wesen und hilfreiche Menschenfreunde
erscheinen. Die moderne Bibelkritik behandelt nun allerdings alle Engel- und
Wundergeschichten des Neuen Testaments als Mythen, und läßt vom ganzen
Neuen Testament nur die vier ersten der paulinischen Briefe als echt gelten.
Aber auf diesem Wege ist bekanntlich David Strauß dahin gelangt, daß er die
Frage: „Sind wir noch Christen?" für sich und seine protestantischen Freunde
nicht weniger entschieden verneinte, wie sie Trete für die katholischen Bewohner
Campaniens verneint. Deshalb ist die Scheu christlich gesinnter Männer vor
diesem kritischen Wege gerechtfertigt, und eine Polemik, die aufs neue in diesen
Weg hineintreibe, sehr unvorsichtig. Die evangelische Kirche wird es nach
wie vor umgekehrt halten wie die katholische; sie wird immer auf die lehr¬
haften Bestandteile des Neuen Testaments größeres Gewicht legen als ans die
Wunder- und Engelgeschichten, aber wenn diese Geschichten zu polemischen
Zwecken geradezu als ein Stück Heidentum bezeichnet werden, so geschieht ihr
damit kein Gefallen.
Unter der Überschrift „Olympischer Wohlgeruch" berichtet Trete über
den Kultus des Franziskancrprovinzials Giuseppe ti Copertino, dem nach der
Legende die Gabe des Fliegens zu Teil geworden war, und dessen Leib einen
wunderbaren Wohlgeruch ausströmte. Daß dieser Wohlgeruch in den helle¬
nischen Gedankenkreis paßt, ist richtig; aber die Vorliebe für Wohlgerüche ist
doch nicht ans die Hellenen beschränkt, vielmehr teilen sie so ziemlich alle
Menschen, mit Ausnahme der deutschen Tabakraucher, und wenn einmal von
dem eigentümlichen Geruch eines Menschen die Rede sein soll — Jäger hat
das ja in die Mode gebracht —, so stellt man sich ihn bei solchen, die man
liebt und verehrt, lieber angenehm vor als das Gegenteil. Aber in der Haupt¬
sache ist dieser wohlriechende Josef von Copertin so unhellenisch wie möglich.
Sein spezifisches Aroma ist ihm nämlich, wie Trete auch selbst anführt, seiner
Reinheit, seiner Jungfräulichkeit wegen verliehen worden. Kann es einen
uuhelleuischeren Gedanken geben? Ein jungfräulicher Mann! Diese Vorstellung
wäre den Hellenen einfach unfaßbar und dabei höchst lächerlich vorgekommen.
Die Griechen kannten zwar jene orientalischen Kulte (und verabscheuten sie),
von deren Priestern Enthaltsamkeit gefordert wurde; aber sie wußten auch,
daß diese Enthaltsamkeit nur durch eine körperliche Operation bewirkt werden
konnte. Nicht als Götterliebling durch Wohlgeruch ausgezeichnet, sondern mit
übelriechende» Pestbeulen geschlagen würde der Verächter der Venus in einer
Volkssage erscheinen, die aus hellenischer Anschauung entsprungen wäre. Voll¬
kommen richtig hat Goethe in seiner Braut vou Korinth das hellenische Urteil
über das Keuschheitsideal der katholischen Kirche ausgedrückt, und in neuerer
Zeit spricht sich der italienische Arzt Mantegazza, der die antike Ansicht mit der
modern naturwissenschaftlichen verbindet, ganz ähnlich aus. Er nenut den
ägyptischen Josef einen dummen Heiligen, und meint, ein Jüngling, der vor
den Liebeswerbungen einer Frau entfliehe, sei verächtlicher als ein Eunuch.
Wenn es demnach auch den Italienern gar nicht einfällt, nach dem Wohl¬
geruch des seligen Josef von Cvpertin zu streben, ihren Geistlichen am aller¬
wenigsten, so liegt trotzdem in der Legende dieses Heiligen und in seiner Ver¬
ehrung ein ganz entschiedener Bruch mit der hellenischen Lebensansicht. Nicht
minder unbegründet ist es, wenn Trete die „Märlein" vom fliegenden Josef
nach dem Muster einer apokryphen Legende des Buches Daniel fabrizirt
sein läßt. Hier entführt ein Engel den Propheten Habaknk dnrch die
Luft; dieser wird also — sofern man den Engel als Motor gelten lassen
will —, auf ganz mechanische Weise fortgebracht. Nach der fraglichen ita¬
lienischen Legende dagegen wurde Josef von Copertin durch die innere Kraft
seiner Liebe emporgerissen, und die Schwere seines Körpers wurde durch die
Lösung seiner Seele von allen Banden irdischer Begierden aufgehoben. Be¬
richtete die Legende wahres, so würde das innere, psychologische Wunder weit
größer sein, als das körperliche, in dein jenes seineu sinnlichen Ausdruck faud.
Dazu kommt, daß dieses körperliche Wunder in andern Fällen als dein des
Copertin von unsern heutigen Spiritisten und nnturwissenschaftlicheu Mystikern
für beglaubigt angenommen und „wissenschaftlich" erklärt wird; „medinmistische
Jnvitativn" (Verminderung des Körpergewichts oder Aufhebung der Schwer¬
kraft) lautet, wenn wir nicht irren, der Kunstausdruck dafür. Es sind Pro¬
testanten, und zwar teilweise solche, die sich durch starke Abneigung gegen den
Katholizismus auszeichnen, Naturforscher und Philosophen von bedeutendem
Ruf, die sich zum Glauben an den Mediumismus" bekennen. Daraus folgt
allerdings nicht, daß solche Wundergeschichten wahr sind, wohl aber, daß ihre
Auffassung in der protestantischen Gelehrtenwelt einen gründliche,! Umschwung
erfahren hat, dem Trete um des wissenschaftlichen Wertes seiner Arbeit willen
hätte Beachtung scheuten sollen.
Wir heben noch einen dritten Fall irriger Ableitung hervor. Trete be¬
spricht die künstlerische Darstellung der Engel, und bemerkt ganz richtig, daß
die gesetzten, wohlanständig bekleideten und in reiferem Alter stehenden Engel
der ältern christlichen Zeit seit der Blüte der Renaissance von einem losen
Volke nackter Bürschlein verdrängt worden seien. Er findet diese besonders in
süditalischen Kirchen häufige Erscheinung rätselhaft, und weiß keine andre Er¬
klärung dafür, als daß die Renaissance den Hofstaat der Aphrodite, die Amo-
rinen und Amoretten, wiederbelebt habe. Da sind wohl anch die Putten in
den Vignetten und Randverzierungen der Grenzboten rätselhaft, und nur durch
die Wiederbelebung des Aphrvditekultus in Klein-Paris zu erklären; denn was
hätte diese Zeitschrift für ernste Männer mit kleinen Knaben zu schaffe»? Wir
haben es auch hier mir mit einem allgemein menschlichen Bedürfnis, nicht mit
der römisch-griechischen Mythologie zu thun. Kleine nackte Kinder sind an¬
mutige und drollige Wesen, die jeder unverkünstelte Mensch mit Vergnügen
anschaut, und darum werden Putten als gefälliger Schmuck verwendet, wo
immer die Umstände es gestatten. Nur dort fehlt diese Art von Verzierung,
wo das religiöse Vorurteil oder die Volkssitte das Anschalten des nackten
Menschenleibes verbietet, oder wo die technische Fähigkeit sehlt. Beides war
bei den Orientalen und bei den Christen des frühern Mittelalters der Fall.
Nachdem aber die Renaissance diese beiden Hindernisse beseitigt hatte, trat
natürlicherweise dieses von den griechischen und römischen Künstlern mit Vor¬
liebe verwendete Ornament wieder in seine Rechte ein. Der religiöse Glaube
kommt dabei gar nicht ins Spiel; jene Maler, die die Wände der Hänser vo»
Pompeji mit reizenden Flügelknaben geschmückt haben, glaubten so wenig an
die leibhaftige Aphrodite, wie ihr Zeitgenosse, der Dichterphilvsvph Lukrez, de^
der Liebesgöttin sein Lehrgedicht widmete, und wie die Verleger der heutige»
Zeitschriften, auf deren Titelblättern es von Amoretten wimmelt. Wir haben
es hier also gar nicht mit einer mythologischen, sondern nur mit einer Schick-
lichkeitsfrage zu thun. Christen strengerer Richtung sind der Ansicht, daß
Purzelböckeschießende nackte Knaben weder in rmtnrg. noch als Wandschmuck ins
Gotteshaus gehören. Und selbst die römische Kirche gebot Halt, als die Sache
zu arg wurde und die Künstler nicht mehr bloß nackte Knaben, sondern auch
nackte Männer über den Altar malten. Paul IV. und seiue Nachfolger ließen
deu Figuren in Michel Angelvs jüngsten Gericht Schwimmhosen anmalen,
freilich erst, nachdem die Kurie durch Luther gezwungen worden war, wieder
etwas mehr auf Frömmigkeit und Anstand Bedacht zu nehme». Wenn die
Renaissnnee als Heidentum bezeichnet wird, so darf man unter diesem Worte
nicht den Götterglnubeu, sondern nur den Naturalismus verstehe,,, so etwa
das Heidentum Goethes.
Ein zweites, was wir an Tredes Buch auszusetzen haben, ist sein pvle-
mischer Charakter. Eben der polemische Eifer ist es, der den Verfasser zum
Schaden des wissenschaftlichen Wertes seines Buches verleitet, in manchen
Dingen Heidentum zu sehen, die nur allgemein menschlich oder gar neutesta-
mentlich sind; außerdem aber vereitelt er auch den Zweck der Arbeit. Trete
wollte ohne Zweifel der evangelischen Kirche einen Dienst erweisen und der
katholischen einen Streich versetzen. Aber um diesen Zweck zu erreichen, hätte
er sich auf die wissenschaftliche Erörterung, deren Wirkung er ja durch schöne
Darstellung zu verstärken versteht, beschränken müssen. So wie das Buch jetzt
ist, ist es ein Schlag ins Wasser. Judem Trete bei jeder Gelegenheit den
Papst und die Katholiken des Fetischismus beschuldigt und den ganzen katho¬
lische» Kultus verächtlich macht, bringt er das Buch um jede Wirkung. Auf
wen wollte er Eindruck machen? Auf die italienischen Analphabeten doch gewiß
nicht. Auf deu Papst und die Kardinäle auch nicht. Wenn diese, die eigentlich
Schuldigen, überhaupt von seinem Buche Notiz nehmen, so geschieht es nur,
um das Werk neben unzählige ähnliche auf den Index zu setzen; damit ist die
Sache für die Herren abgethan. Trete konnte also nur die gebildeten Katho-
liken Deutschlands im Auge haben. Für diese aber ist sein Buch in der gegen¬
wärtigen Gestalt ungenießbar. Sie sind keineswegs blind gegen die Mängel
ihres eignen Kirchenwesens, und sie beklagen namentlich die Verderbnis des
italienischen Klerus. Aber sie befinden sich in der Lage von Staatsbürgern,
die, vor die Wahl gestellt, ob sie ihren Staat zertrümmern oder dessen offen-
bare Mängel ertragen wollen, das zweite vorziehen. Die Beseitigung dieser
Mängel ist eben ungeheuer schwierig und ohne Erschütterung der Kirche
nicht durchzuführen. Ein rechtschaffener Pfarrer kann die Frucht seiner jahre¬
langen aufopfernden Wirksamkeit vernichten, wenn er sich beikommen läßt, eine
bekleidete Puppe aus der Kirche zu schaffen, die unter dem Namen einer „Mutter
Gottes" von seiner Gemeinde verehrt wird. Die Leutchen mögen an ihrem
Pfarrer uoch so sehr hängen, an der Puppe hängen sie mehr, und das nicht
bloß in Italien, sondern auch in Deutschland. Die Jubiläen, Ablässe,
Enzykliken und Dogmen des Papstes Pius IX. brachten viele gebildete Katho¬
liken Deutschlands in große Verlegenheit und stürzten sie in schwere Gewissens-
kämpfe. Da kam ihnen — der Kulturkampf zu Hilfe. Jetzt, sagten sie sich,
jetzt dürfen wir nicht bloß, jetzt müssen wir alle diese Dinge vergessen; wenn
es uns an Kopf und Kragen geht, wenn die Existenz der Kirche in Preußen
auf dein Spiele steht, da müssen wir allen innern Zwist und alle Bedenken
zurückdrängen und Front machen gegen den äußern Feind. Jeder litterarische
Angriff, der nicht gegen einzelne katholische Lehre», Gebräuche und Eiurich-
trugen, sondern gegen den Bestand der römischen Kirche gerichtet ist, übt die¬
selbe Wirkung im Kleinen. Dagegen finden wissenschaftliche Arbeiten, die das
Natürliche und Menschliche im römischen Kirchenwesen beleuchten, ohne durch
beleidigende Polemik abzustoßen, Eingang in katholische Kreise, und erleichtern
die Verständigung. Und diese ist nicht allein das Höchste, was wir unter den
obwaltenden Umständen hoffen können, sondern zugleich auch das Mindeste,
was wir im nationalen Interesse erstreben müssen.
Von demselben wissenschaftlichen Werte wie die Nachweisung des heidnischen
Ursprungs katholischer Glaubensmeinungen und Gebräuche, und dabei von noch
höherm praktischen Werte, sind einige Fragen, die Trete ungemein nahe lagen,
die aber sein polemischer Eifer als unbequem beiseite schiebt. Er berichtet
S. 233, daß in Griechenland, also in einem Lande, das nicht in den Macht¬
bereich des Papstes fällt, der Glaube an den bösen Blick ebenso allgemein sei,
wie im südlichen Italien, und im Schlußabschuitte des Kapitels „Hausgötter"
sagt er: „Die Kirche, welche vor 1500 Jahren weder den Glauben an solche
häusliche Schutzgötter, noch das Bedürfnis, solche zu besitzen, vertilgte ^zu
vertilgen vermochte, ist dem Zusanuuenhange nach der Sinnj, hat eine Zeit
laug allerdings gegen jenen Kultus gekämpft, dann aber ihn geduldet, indem
sie den Bilderdienst förderte." Da die Sache in hundert ähnlichen Fällen
ganz ebenso verläuft, so drängen sich offenbar die Fragen auf: Wie weit ist
eine Volksreligion — nicht eine bloß konventionell anerkannte oder als Staats-
einrichtung aufrecht erhaltene Konfession, sondern eine lebendige im Volks¬
gemüt wurzelnde Religion — möglich ohne Aberglauben? Ist die christliche
Kirche imstande, wird sie es jemals sein, das Heidentum zu überwinden? Ist
nicht am Ende das Heidentum eine berechtigte, unaustilgbare Erscheinung, die
neben und in der Kirche fortleben wird bis zum Ende der Zeiten?
achten die Münchner Künstlerschaft durch Rührigkeit und Aus¬
dauer ihren Pleni, nu Stelle der in Zwischenräumen von
fünf Jahren wiederkehrenden internationalen Knnstausstellungen
Jahresausstellungen zu setzen, bereits zum zweitenmale mit
steigendem Erfolge durchgeführt hat, wird die alljährliche Aus¬
stellung der königlichen Akademie der Künste in Berlin, wenn nicht unberechen¬
bare Ereignisse eine plötzliche Umwandlung herbeiführen, für die nächste Zeit
darauf verzichten müssen, ein Spiegelbild des jeweiligen Standes der Kunst
oder auch nur der Knnstbestrebnngen des ganzen Deutschlands zu biete».
Schwerer noch als im vorigen Jahre lastet auf der diesjährigen Berliner
Ausstellung der Wettbewerb der Münchner, und wenn es in dieser auch nicht
von Meisterwerke» wimmelt, so ist doch die Gesamtphysiognomie jeuer — und
das ist entscheidend — derart, daß sie zu trübseligen Betrachtungen reich¬
lichen Anlaß bietet, selbst wenn man alle mildernden Umstände gelten läßt.
Zunächst einen, der, wie es scheint, aus den allgemeinen Zeitverhältnissen er¬
wachsen ist. Mau spricht und schreibt seit Jahren — ob mit Recht oder
Unrecht, wollen nur in diesen. Zusammenhange nicht untersuchen — so viel
und so nachdrücklich von dem Rückgänge unsers nationalen Lebens seit dem
Aufschwünge von 1870, daß die bildenden Künste kein persönlicher Borwurf
treffen kann, wenn sie an diesem Rückgänge als einer unter vielen Faktoren
und Trägern der Kultur teilgenommen haben. Und auf ihre sämtlichen Zweige
trifft nicht einmal das boshafte Wort zu, das — sicherlich zur Freude seines
jesuitischen Urhebers — schou seit Jahren ans unserm öffentlichen Leben wie
ein Alp zu lasten scheint: „Es gelingt nichts mehr!" Der Architektur und
der mit ihr verbundnen Ingenieurkunst ist es vielmehr gelungen, einerseits
alle Stilnrten und künstlerische» Ausdrucksformen vergangner Zeiten bis zur
Täuschung nachzuahmen, wobei sie von den freigebigsten Händen der Finanz-,
Industrie- und Handelswelt unterstützt wird, anderseits mit den kühnste» Er¬
findungen der konstrnirenden Rechenkunst alle von der schaffenden Natur und
den zerstörenden Elementen bereiteten Hindernisse zu überwinden und zu um¬
gehen, wobei wiederum dieselben Vertreter des speknlirenden Kapitals ihre
Millionen zur Verfügung gestellt haben. Das mit der Baukunst zusammen¬
wirkende, wie das von ihr unabhängige Kunstgewerbe hat in so überraschend
kurzer Zeit die Herrschaft über deu technischen Teil seines Schaffens gewonnen,
daß ihm kein Verfahren eines orientalischen oder ostasiatischen Handwerkers
mehr fremd oder unnachahmbar ist, und es wäre ein Unrecht, wenn man be¬
haupten wollte, daß die Läuterung des Geschmacks mit dieser technischen Aus¬
bildung nicht gleiche» Schritt gehalten habe. Nach langem Winterschlafe sind
die monumentale und die dekorative Kunst, dank der nach wohlerwogenen
Grundsätzen geregelten Pflege des Staates, zu neuem und reichem Leben er¬
wacht. Wen» man auch bei der Verteilung der Aufgaben bisweilen einen
Mißgriff in der Wahl der mit der Ausführung betrauten Kräfte begangen
hat, wenn die Leistungen auch hie und da hinter den Erwartungen zurück¬
geblieben find, so ist doch das Gesamtbild, das uns die Thätigkeit aus diesen
Gebieten während der letzten zehn Jahre gewährt hat, überwiegend erfreulich
und vertrauenerweckend, wobei man freilich nicht außer Acht lassen darf, daß
die moderne Wahrheits-, Wirklichkeits- und Naturliebe dem monumentalen Stil
andre Gesetze aufgezwungen hat, als sie Cornelius, Schmorr, Deger, Nethel
und ihren Geistesverwandten heilig und unverletzlich waren. Die Technik der
Pastell- nud Aquarellmalerei ist zu einem Umfang und zu einer Kraft des
Ausdrucks entwickelt worden, die der Kunstübung früherer Jahrhunderte un¬
bekannt waren, und in einigen Zweigen der graphischen Künste, besonders in
der Radirung und der Heliogravüre, die unserm auf Massenerzeugung und
Massenverbrauch angelegten Zeitalter besonders sympathisch sind, haben wir
es so herrlich weit gebracht, daß bei diesem Wettlauf fortschreitender Nepro-
duktiousverfahren dein schwerfällig nebenher trottendeu Kupferstich der Atem
ausgegangen ist. Die Bildhauerkunst endlich hat sich einerseits redliche Mühe
gegeben, den monumentalen Stil mit Ernst und Würde zu Pflegen, anderseits
hat sie Beweglichkeit genug gezeigt, um in der realistischen Wiedergabe des
Lebens, in der unbefangenen Natürlichkeit und naiven Anmut mit den Meistern
der Kleinplastik, den Italienern, zu wetteifern.
Der Vorwurf des Rückganges würde also streng genommen nur auf der
Staffeleimalerei haften bleiben, und die Physiognomie unsrer Ausstellung zeigt
in der That, daß dieser Borwurf begründet ist, wobei wir freilich die schon
oben gemachte Einschränkung nicht vergessen dürfen, daß wir nicht die Physio¬
gnomie der Malerei Deutschlands, sondern nur die der Malerei Preußens,
insbesondre Berlins, vor uns haben. Es ist ein eigentümliches Verhängnis,
daß die allgemeine geistige Verflachung und Verödung, die den am meisten
hervortretenden Charakterzug dieser Physiognomie bilden, gerade in einer Zeit
überHand genommen haben, wo die deutsche Malerei nach langem Ringen endlich
über alle äußern Mitteln der Darstellung eine Herrschaft errungen hat, die sie
vordem nie besessen hatte. Unsre Blumen- und Stilllebemnaler haben sowohl
an Glanz und Pracht des Kolorits wie in der die Wirklichkeit zurückspiegelnden
Wiedergabe jeglichen Kleinkrams die alten Niederländer erreicht, an Umfang
und Reichtum ihrer Kompositionen sogar übertroffen. Von einem historischen
Stillleben z. B. im Stile des viel berufenen Avr8 impvrator, dessen Urheberin,
Hermine von Preuschen, durch seinen zweifelhaften Erfolg nicht abgeschreckt worden
ist, unsre Ausstellung mit einem ähnlichen Gebilde, einer auf der Lagune cinhcr-
gleitenden, reich mit Vlumeu bestreuten Gondel mit der Leiche der Irene von
Spilimberg, einer Schülerin Tizians, zu beschicken, haben sich die alten Nieder¬
länder nichts träumen lassen. Unsre Landschafts- und Marinemaler umspannen
den ganzen Erdkreis. Sie dringen mit den Forschungsreisenden in das Innere
Afrikas und begleiten die Nordpolsucher auf ihrer entbehrungsvollen Fahrt.
Sie nehmen an wissenschaftlichen Seereisen teil, die ihnen gestatten, monatelang
das Meer unter alleu Breitegraden, zu allen Jahres-, Tages- und Nachtzeiten,
bei alle» Luft- und Lichterscheinungen zu beobachten und alle schnell vorüber¬
gehenden Erscheinungen in Öl- und Wasserfarbenstudien festzuhalten. In den
Mariueu Richard Eschkes, der im vorigen Jahre mit der Planktou-Expedition
eine große Ozeanfahrt gemacht hat, wie in denen des in Berlin thätigen
Schweden Schnarf-Alquist offenbart sich ein Grad malerischer Darstelluugs-
fähigkeit, den Eduard Hildebrandt, der maßlos gefeierte „Maler des Kosmos,"
niemals erreicht hat. Was diesem trotz heißen Bemühens nicht gelingen wollte,
die Bläue des Meerwassers unter den Tropen in der Mannichfaltigkeit ihrer
Tone, in ihrer durchsichtigen Klarheit und Leuchtkraft mit überzeugender Wahr¬
heit wiederzugeben, scheint den genannten jungen Malern keine Schwierigkeiten
mehr zu bereiten. Unsre Genremaler sind in der Kunst, uus die Menschen
vergangener Zeiten in ihrer Tracht, ihrer Bewaffnung, ihrem Gebahren und
ihrer Umgebung leibhaftig und mit vollkommener geschichtlicher Treue vorzu¬
führen, so weit gediehen, daß sie sich vor der wetteifernden Wirklichkeit der
Kostümfeste und historischen Festzuge, in denen solche Maskeraden von lebendigen
Menschen unsrer Tage nachgespielt werden, nicht zu scheuen brauchen. Alle
Vvrbereitungsstufen sind also überwunden, alle Hilfsmittel in wünschenswerter
Fülle vorhanden, und doch sucht man uuter den Werken der Staffeleimalerei
vergebens nach einem Anlauf zu großer Kunst, zu hohem Schwunge oder auch
nur zu großer Anschauung. Wo einer ins Große geht, gerät er entweder in
Roheit der Darstellung, vielleicht weil er glaubt, dadurch am schnellsten und
leichtesten zu einer starken Wirkung zu gelangen, oder es geht bei gleichmäßig
sorgfältiger Durchführung aller Teile der Geist, der diese Teile zu durchdrungen
hat, verloren, und es gähnt uns eine frostige Leere entgegen. Zwei Beispiele
für das eine und das andre mögen genügen. Theodor Rocholl, ein ans der
Düsseldorfer Schule hervorgcgangener Maler, der bisher in großen Darstel¬
lungen aus dem deutsch-französischen Kriege, insbesondre ans den Kämpfen vor
Metz, ein schönes Talent für dramatische, lebensvolle Schilderung, verbunden
mit einer reichen koloristischen Begabung, gezeigt hatte, hat eine Episode ans
König Wilhelms Ritt am Tage nach der Schlacht bei sedem geniale, wie der
von Bismarck begleitete königliche Sieger vor einer Gruppe preußischer und
bairischer Soldaten verschiedner Waffengattungen, die ihn von allen Seiten
jubelnd umdrängen, Halt macht und einem Verwundeten die Hand drückt. In
dem Ausdruck der wilden, leidenschaftlichen Erregtheit, die noch in den Ge¬
sichtern und Geberden der von Kampfeswut und der Hitze des September¬
nachmittags glühenden Soldaten zuckt, hat der Künstler einen fast unheimlichen
Grad von Wahrheit erreicht, der aber im Grunde mehr abstößt als anzieht.
Wir sind nicht so zimperlich, die Augen gegen die Wahrnehmung zu verschließen,
daß nach einer solchen Blutarbeit die Bestie im Menschen wachgerüttelt wird
und daß der Mensch das natürliche Bedürfnis hat, sie durch irgend eine Kraft-
äußerung, hier dnrch betäubenden Jnbel mit Hurrahrufen, wieder zur Ruhe
zu bringen. Aber so lange die Kunst noch nicht so völlig in die Natur auf¬
gegangen ist, daß sie keine andre Aufgabe mehr zu erfüllen hat als die, die
Natur nachzuahmen, daß sie also auf jegliche Selbständigkeit verzichtet hat, so
lange wird der ästhetisch fühlende Mensch behaupten dürfen, daß Schilderungen
menschlicher Roheit, Schilderungen von Allsnahmeznständen des menschlichen
Geistes, auch wenn sie noch so wahrheitsgetreu sind, außerhalb des Bereiches
oder doch des Berufes der bildenden Kunst liegen. Denn Roheit und Kunst
sind zwei Begriffe, die, so lange eine sinnvoll schaffende Sprache der Ausdruck
des Denkens ist, einander ausschließen. Matheinntisch läßt sich die Nichtigkeit
dieser Sätze allerdings nicht beweisen, und das wird vielleicht als ein Maugel
empfunden werden in einer kleinmütigen Zeit, wo sich große, in ihrem Urteil
schwankende Massen von einem Häuflein naturalistischer Schreier ins Bockshorn
jagen lassen. Aber am Ende gelangt man bei jedem Streit um wissenschaft¬
liche oder künstlerische Fragen an einen Ort, wo man, wenn man weiter nichts
sagen und beweisen kaun, eine Mauer aufzieht, um sich hinter ihr zu ver¬
schanzen und in philosophischer Ruhe die weitere Entwicklung der Dinge ab¬
zuwarten. Diese abwartende Stellung hat schon häufig ihr Gutes gehabt, so
auch, wie wir später sehen werden, dein Naturalismus gegenüber, der schneller
abgewirtschaftet hat, als selbst seine eifrigsten Gegner gehofft lind gewünscht
haben.
Bilder wie das Nochollsche verlangen einen heroischen Ton, der sich nicht
bloß in der geistigen Charakteristik der Figuren, die doch von einer das Gefühl
der Menschen bis zu poetischer Kraft steigernden Stimmung, der patriotischen
Begeisterung, erfüllt sind, sondern auch in ihrer malerischen Darstellung äußern
soll, die nicht das Interesse des Beschauers durch triviale Kleinigkeiten und
Nebensachen wie bestäubte Röcke und beschmutzte Stiefel zersplittern darf. Wenn
die Maler an solchen Dingen hängen bleiben, darf man sich nicht wundern,
daß es ihnen nicht mehr gelingen will, sich zur Größe des historischen Stils
zu erheben. Solche Roheiten sind ans unsrer Allsstellung leider leine ver¬
einzelte Erscheinung. Dahin gehört auch die zunehmende Frende der Maler
an der Darstellung von Tierkämpfen und andern blutige» Szenen aus dem
Leben der wilden Tiere. Es ist anzunehmen, daß diese Neigung der jüngern
Vertreter der Tiermalerei in Berlin aus der gerechtfertigten Absicht erwachsen
ist, im Gegensatz zu Paul Meherheim, dessen Löwen und Tiger aus den zoo¬
logischen Gärten in Bezug auf Virtuosität des Kolorits und Mannichfaltigkeit
der Charakteristik kaum noch zu übertrumpfen sind, die Raubtiere in ungezähmter
Wildheit, in ihrer Heimat, in Bergwüsten, Steppen und Dschungeln vorzu¬
führen. Der Wahrheit find diese Künstler, unter denen Richard Friese und
W. Kuhnert die begabtesten und entschlossensten sind, um einen starken Schritt
näher gekommen. Aber um welchen Preis! Kuhnert läßt einen Löwen mit
einer blutenden Antilope im Nachen über die Steppe jagen, und Friese schildert
die widerliche Mahlzeit eines Löwenpaarcs, das sich an einem Büffel ersättigt,
den es im Dickicht der Lagune überfallen hat. Noch scheint es, als ob die
Freude an solchen Motiven nur eine einseitige sei, und als ob das kaufende
Publikum sich noch spröde dagegen verhielte. Es wäre also verfrüht, vor Ge-
fahre» zu warnen, die noch nicht vorhanden sind, oder gar historische Erinne¬
rungen zu erwecken, die uns in jene Zeit führen, wo und dem Vergnügen des
römischen Volkes an blutigen Schauspielen auch der Niedergang des römischen
Stantswcsens begann. Aber man ist berechtigt, beizeiten ans die Grenzen hin¬
zuweisen, die dem Darstellnngsgebiete der Kunst gezogen sind.
Das zweite Beispiel, das wir zitiren wollten, ist Werner Schuchs lebens¬
großes Neiterbildnis des Kaisers in der Uniform der Leibgardehusaren, vor dem.
dieses Regiment im Parademarsch vvrnberdefilirt. Hier sah sich der Künstler
vor eine Aufgabe gestellt, für die das Maß seiner Fähigkeit nach mehreren
Richtungen unzureichend ist. Ursprünglich Architekt, hatte es Schund in diesem
Berufe schon zu Amt und Würden gebracht, als er sich der Malerei zu widmen
beschloß. In verhältnismäßig kurzer Zeit eignete er sich einen gewissen Grad
von technischer Geschicklichkeit an, der ihn befähigte, kleine Episoden aus dein
wilden Reiterleben des dreißigjährigen Krieges in Verbindung mit einer wir¬
kungsvollen, meist ernst und düster gestimmten Heidelandschaft zu lebendiger
Darstellung zu bringen. Damit hatte er sich ein eigentüiuliches Genre und
eine persönliche Ausdrucksweise geschaffen. Aber er gab sich damit nicht zu¬
frieden. Ehrgeiz, Täuschung über den Umfang seiner Begabung, vielleicht auch
der Überdruß, immer dasselbe Lied zu singen, oder die zu hohe Meinung von
Gönnern und Auftraggebern veranlaßten ihn zu gewagten Unternehmungen,
die sich über immer größer werdende Leinwaudflächen ausdehnten. Die feine
poetische Stimmung verflog, und es blieb eine Leere zurück, die der Künstler
durch seine koloristischen Mittel nicht auszufüllen vermochte. Mit dem großen
Maßstabe stellte sich uicht auch das Gefühl für monumentale Größe ein, und
als nnn gar bei lebensgroßen Darstellungen der Porträtmaler zu Worte
kommen sollte, fehlten alle Vorbedingungen dazu. Das uur im Profil sicht¬
bare Antlitz des Kaisers ist über eine allgemeine äußere Ähnlichkeit uicht
hinausgekommen, der malerischen Behandlung gebricht es an Kraft, Wärme,
Schmelz und einem individuellen Zuge, in dem man die Handschrift des
Künstlers zu erkennen vermöchte, und die Gesamtauffassung ist über die
nüchterne Wiedergabe der Wirklichkeit, der Uniform, des übrigens nicht ganz
tadellos gezeichneten und modellirten Pferdes, des Terrains und der mili¬
tärischen Umgebung hinaus uicht zur monumentalen Größe, auch uicht einmal
zu einem gewissen heroischen Schwung, zum Ausdruck der Majestät gesteigert
worden.
Daß auch weit erfahrenere und koloristisch vielseitiger gebildete Künstler
als Schund häusig das Opfer einer Selbsttäuschung werden, bringt uns in
diesen: Jahre Paul Meyerheim wiederum in Erinnerung. Auch ihn dünkt der
Ruhm, der erste Tiermaler und einer der besten Landschaftsmaler Berlins zu
sein, zu gering. Er malt Jnnenrüume, bei denen er sich die schwierigsten
Beleuchtnngsaufgaben stellt, um mit Menzel zu wetteifern. Er malt Genre-
bilder, in denen er die Charakteristik der Figuren zu jener Schärfe und glatten
Abrundung treibt, die für die letzten Arbeiten von Kraus bezeichnend geworden
sind. Er malt Stillleben und Wauddekorationen großen Stils, in denen eine
humoristische oder witzige Erfindung, die etwa für eine Tischkarte oder ein
Festprogramm ausreiche» würde, auf mehrere» Quadratmetern breit getreten
wird, wofür unsre Ausstellung in einer Allegorie auf das Glück ein drastisches
Beispiel liefert. Meherheim hat aber auch noch den Ehrgeiz, als Bildnismaler
glänzen zu wollen, und zweimal hat er sich auch mit günstigem Erfolg auf
diesem Gebiete bewährt, in den für das Museum in Danzig gemalten lebens¬
großen Bildnissen seines Vaters, des liebenswürdigen und gemütvvlleu Genre¬
malers Fr. E. Meyerheim, und des Kupferstechers Chodowiecki. Die Gabe
jedoch, anmutige junge Mädchen und Frauen in ihren: innersten Wesen zu
erfassen oder doch in ihrer äußern Erscheinung gleich anmutig wiederzugeben,
scheint ihm versagt zu sein. Das hat in diesem Jahre Mareella Sembrich
erfahren müssen, deren Antlitz, Arme und Hände der Künstler auf seinem Bild¬
nis der Sängerin mit einem so undurchsichtigen, aschgrauen Ton überzogen
hat, daß man ihm wenigstens nicht den Vorwurf der Schönfärberei machen
kann, ohne ihn jedoch zugleich als Anhänger der unbedingten Naturwahrheit
Preisen zu können. Der Mangel an jeglichem koloristischen Reize wird dabei
nicht einmal dnrch eine geistvolle, lebendige Charakteristik des Gesichts auf¬
gewogen, das nichts von dem lebhaften, beweglichen Temperament der Sängerin,
ihrer anmutigen Laune und ihrer sonnigen Heiterkeit verrät.
Die Ausstellung gewährt uns wenigstens den einen Trost, daß das Heil
und die Zukunft der Porträtmalerei in Berlin nicht ausschließlich in solchen
Händen ruhen. Zwar ist unter den jüngern Porträtmalern noch kein so sieg¬
reiches Talent aufgetaucht, wie das Gustav Richters war. Aber es sind doch
Ansätze und auch schon Proben eines tüchtigen, ernsten Strebens zu bemerken,
aus denen sich ergiebt, daß man von einem flitterhasten, nur ans Augenblend¬
werk ausgehenden Virtuosentum mit Bewußtsein wieder zu größerer Strenge
und Gewissenhaftigkeit der Zeichnung und Modellirung zurückkehrt, daß man
der hohlen, geistlosen Roben- und Stoffmalerei den Rücken wendet, daß man
an die Stelle gezierter, absichtlicher und nnsprnchsvoller Anordnung die unge¬
zwungene und unbefangene Natur, die gewissermaßen zufällige Beobachtung
setzt. Es ist ebensowohl eine Reaktion gegen die glatte Modemnlerei, die nur
den Launen der Auftraggeber schmeichelt und ihr höchstes Ziel in der täuschenden
Nachahmung glänzender Atlasroben sieht, als gegen das Leubachtum, in dessen
mystischem Dunkel sich gern solche Leute verbergen, denen die richtige Zeich¬
nung von Händen und Armen unüberwindliche Schwierigkeiten bereitet. Und
gerade in Bezug auf diese ist bei Malern und Malerinnen eine Besserung ein¬
getreten, die bei dem immer noch nicht in Abnahme gekommenen, übermäßigen
Lenbachkultns fast aussichtslos war, und die uns wenigstens mit der Hoffnung
erfüllt, das; wir wieder Dürer und Holbein die unsrigen werden nennen dürfen,
ohne uns ihrer Nachkommen zu schämen.
Es ist dies der einzige Charakterzug der Ausstellung, an den loir einige
Hoffnungen für die Zukunft knüpfen können. Wohin wir sonst blicken —
überall Stillstand oder Rückgang. Gegen einen Stillstand zu eifern, der mit
einer von Stufe zu Stufe erreichten, achtungswerten Hohe gleichbedeutend ist,
wäre eine Thorheit, die uur solche Leute begehen können, denen die Kunst nur
Achtung einflößt, wenn sie mit dein hastigen Lauf unsers öffentlichen Lebens
gleichen Schritt hält. Wer nach Fortschritten allein ausschaut, kommt nicht
zum ruhigen Genuß, und dieser stellt sich in der Regel nicht vor werdenden
oder gährenden, sondern vor ausgereiften künstlerischen Individualitäten ein.
Unter diesem Gesichtspunkte betrachtet, bilden die Werke solcher Künstler, die
sich tren geblieben sind, die sich seit einem, anch zwei Jahrzehnten mit geringen
Schwankungen auf demselben Niveau bewegen, den besten und erfreulichsten
Teil unsrer Ausstellung. Es ist auffallend, daß wir unter diesen Künstlern
meist Landschafts- und Marinemalern begegnen. Sollen wir auch darin ein
Zeichen des Erlöschens der künstlerischen Phantasie erblicken, die es bequemer
und leichter sindet, sich an ein Naturvbjekt anzuklammern, als selbstschöpferisch
thätig zu sein? Immerhin dürfen wir froh sein, daß Landschaftsmaler wie
Leu, Gude, Metzener, Donzelle, H. Eschke, A. Hertel, C. Ludwig, E. Körner
— Nur nennen uur die auf unsrer Ausstellung vertretenen — noch in voller, alter
Kraft schaffen, und nicht minder froh, daß die Mehrzahl der jüngern besonnen
genug ist, den Bahnen der Alten zu folge» und nicht auf die Lockpfeife der
Naturalisten zu hören.
Ein merklicher Rückgang ist dagegen in der Genremalerei zu spüren.
Wenn dieser Rückgang des alten Stils zugleich von der Erstarkung eines
neuen begleitet wäre, würde man darin nnr das Walten eines unabänderlichen
Naturgesetzes erblicken und je nach dein Standpunkte, den mau einnimmt, viel¬
leicht mich preisen. Aber wo bleibt der neue Stil? Wo sind Keime zu er¬
kennen, von denen Blüten und Früchte zu erwarten sind? Gläubig und
hoffnungsfreudig haben die einen, geduldig wenigstens und nachsichtig die
andern jahrelang den Verheißungen der Naturalisten und Freilichtmaler ihr
Ohr geliehen. Man hat ihnen in München und Berlin, namentlich an ersterm
Orte, alle Thüren geöffnet. Man hat sie durch Medaillen ermuntert; aber
ihre hochtönenden Reden haben sich als eitel Prahlereien erwiesen. Es sind
Feldherren ohne Armeen gewesen oder richtiger Bramarbasse, gegen die sich
der ästhetisch gebildete Teil des Publikums, den sie gern den „Bildungs¬
janhagel" nennen, ebenso mißtrauisch und ablehnend verhalten hat, wie die
große Masse des Volkes, die jene Prahlhänse durch ihre Kunst zu gewinnen
sich vermaßen, indem sie den Proletarier in seinem Elend, den Arbeiter bei
seinem stumpfmachenden „Sklavendienst" aufsuchten. Welche Enttäuschung
haben die naturalistischen Schwärmer erleben müssen! Die Sozialdemokraten
unsrer Tage sind aus härteren Holze geschnitzt, als daß sie sich durch Dar¬
stellungen materiellen Elends und häuslichen Jammers erweichen oder erheben
ließen, die nicht einmal den Durchschnittszuständen der Wirklichkeit entsprechen.
Indem man die soziale Frage mit dem Naturalismus in Kunst und Litteratur
verquickte, übersah man, daß die moderne Sozialdemokratie sich in ihrer Mehr¬
heit gegen diese Zierpflanzen der Bourgeoisie feindlich verhält. Man hat in
Berlin mehrere Versuche gemacht, die Zugkraft eines Theaters, das in einer
dicht mit Arbeitern bevölkerten Vorstadt liegt, dadurch zu verstärken, daß mau
das Repertoire auf die vermeintlichen litterarischen Interessen der sozialistischen
Arbeiter zuspitzte. Aber sie blieben auch gegen diese Lockspeise der Bourgeoisie
unempfindlich, und wenn es wirklich einmal jemand unternehmen wollte, den
litterarischen Neigungen der Sozialdemokraten nachzuspüren, würde er vielleicht
zu der Entdeckung kommen, daß die Lieblingslektüre dieser Kreise nicht die ist,
in der sich die Misere und die graue Alltäglichkeit ihres Daseins mit Photo-
graphischer Treue wiederspiegeln, sondern eine solche, die ihrer Phantasie die
idealen Zustände eines goldnen Zeitalters oder die Lustschlösser ihrer politischen
Träume vorgaukelt.
Die naturalistische Freilichtmalerei war nur eine Blase auf stagnirenden
Gewässer, die ebenso schnell wieder zerplatzt ist, wie sie aufgestiegen war. Die
technischen Entdeckungen, mit denen sie sich brüstete, sind so alt wie die Malerei
selbst — denn die Brüder van Eyck und die Florentiner des fünfzehnten Jahr¬
hunderts sind bereits Hell- und Freilichtmaler gewesen —, und das Stoff¬
gebiet, das sie mit roher Hand in Beschlag nahmen, ist durch ihre brutalen
Ausschreitungen gründlich in Mißkredit gebracht worden. Ihre grämlichen
Fratzen haben dem Publikum die Freude um den Darstellungen aus dem Volks¬
leben verleidet, sie haben durch ihre Aschermittwochspredigten ängstliche Ge¬
müter so eingeschüchtert, daß der Humor aus unsern Kunstausstellungen fast
ganz verschwunden ist, und, was das schlimmste ist, sie haben unter dein Vor-
wande, auch die „Enterbten," d. h. aus der Phrase ins Sachliche übersetzt, die
verirrten Schafe der Sozialdemokratie der religiösen Tröstungen und Er¬
bauungen teilhaftig werden zu lassen, die die bildende Kunst gewähren kann,
die religiöse Malerei auf eine schiefe Ebene geführt, von der sie bald so tief
hinabgeglitten ist, daß eine Wiederaufrichtung aussichtslos erscheint. Selbst
der naturalistische Neuerer, der es mit seiner Kunst um ernstesten und ehr¬
lichsten meint, Fritz v. Abbe, ist mit der erschreckenden Schnelligkeit, die für
jede neue Entwicklung unsrer Kunst charakteristisch ist, am Ende seines Wissens
und Könnens angelangt. Statt eine Zeit lang bei dem gemäßigten Natu¬
ralismus zu verweilen, der sein „Abendmahl" zu einem ernsthaften, achtungs-
werten Kunstwerke macht, hat er sich immer tiefer in die ziellosen Verirrungen
der extremsten Heißsporne der Richtung verstrickt, die jetzt nicht einmal die
°
Wirkung der peinlichen Überraschung üben, weil sie nicht mehr überboten
werden können. Nicht die Engherzigkeit von akademischen Behörden und Kunst¬
ausstellungsjuroren, nicht die Verstündnislosigkeit des Publikums, nicht die
Voreingenommenheit der gegnerischen Kritik haben der „neuen Kunst" den
Boden des Wachstums und des Gedeihens entzogen, sondern sie selbst hat
ihre Gedanken- und Formenarmut in so abschreckender Blöße gezeigt, daß da¬
neben alle andern feindlichen Strömungen von untergeordneter Wirkung waren.
Auch die religiöse Richtung dieser Malerei ist einem Irrwahn nachgegangen,
indem sie die oben angedeutete Mission übernahm. Mit der christlichen Re¬
ligion halten es die Führer und Wühler der Sozialdemokratie gerade so wie
mit allen andern Grundpfeilern unsers Staatswesens: sie wollen den alten
Most nicht, auch wenn er in funkelnagelneue Schläuche gefüllt ist, sie Wollen
den Heiland nicht, anch wenn er in noch so zerlumpten Aufzuge, in noch so
mitleiderregender Gestalt vor sie und mitten unter sie tritt.
Man würde die naturalistische Episode in unsrer neuern Malerei günstiger
beurteilen, wenn sie wenigstens eine heilsame Rückwirkung ausübte, wenn sie
unsre Kunst von der Notwendigkeit überzeugte, daß innerhalb der staunenswert
ausgebildeten Form auch der geistige Inhalt wieder zu seinem Rechte gelangen
muß, daß der denkende Künstler noch einmal so viel wert ist, als der, der nur
aus dem Handgelenk schafft. Wir, die wir eben erst zur Geduld gemahnt
haben, dürfen diesen Umschlag nicht von morgen oder übermorgen erwarten.
Aber wir dürfen uns auch durch die Wahrnehmung nicht entmutigen lassen,
daß die Berliner Kunstausstellung, die die Grundlage zu unsern Betrachtungen
geliefert hat, ein so trübseliges Bild von dem gegenwärtigen Zustande eines
Teils der deutscheu Malerei darbietet. Daß dieses Bild uur so wenig lichte
Punkte aufzuweisen hat, ist nur zum Teil auf die innern Ursachen zurückzu¬
führen, die wir in kurzen Zügen augedeutet haben, zum Teil auch auf
die mangelhafte Organisation des Berliner Kunstnnsstellungswcseus, die es
nicht vermocht hat, Kunstwerke von größeren Wert aus allen Teilen Deutsch¬
lands heranzuziehen. Der Münchner Ausstellung gebührt in diesem Jahre
ein größeres Maß von Autorität, und nach ihrem Ergebnis wird man die
Eindrücke zu regeln oder zu berichtigen haben, die die Berliner Ausstellung
hervorgerufen hat.
as Mittagessen bestand an allen Wochentagen aus Fleisch und
Gemüse, Sonntags aus Braten und gedünstetem Obst oder
Salat; mir Freitags gab es, nicht immer, aber meist, Milch¬
reis oder Milchhirse. Das Essen war im ganzen gut, aber —
es war herzlich wenig. Die Bambeln klagte fortwährend, daß
sie mit der geringen Summe, die sie vom Rat bekam, nicht auskommen
könnte — ich glaube, sie erhielt für das Mittagessen von zweiunddreißig Jungen
täglich 1 Thaler 20 Neugroschen! —, aber ihre Klagen halfen ihr nichts. Leidlich
gut mußte das Essen ja sein, denn der Kollaborator bekam jede» Tag genau
dasselbe wie wir, natürlich eine schöne, reichliche Fleischportion, um die ich
ihn manchmal beneidet habe, wenn ich es zufällig in der Küche mit ansah,
wie sie für ihn znrechtgeschnitten wurde, aber das Gemüse konnte doch auch nicht
viel anders zubereitet sein, als das unsrige. Ich muß es der guten Bambeln
nachrühmen, daß sie mit den geringen Mitteln das Menschenmögliche geleistet
hat, und das, obwohl in den acht Jahren, wo ich auf dem Alumnenm war,
nicht ein einzigesmal irgendwelche Kontrolle des Essens durch die Behörde
stattfand.
Äußerst fein ausgesonnen war die Art der Austeilung des Mittagessens.
Gegessen wurde in demselben Raume, wo die Arbeitsstunden abgehalten wurden,
im großen Auditorium. Während wir aber beim Arbeiten an vier Tafeln
verteilt waren, wurden beim Essen nur drei benutzt. An jeder Tafel saßen
zehn, an der ersten Tasel der erste, der vierte, der siebente u. s. f. Die beiden
letzten, die übrig blieben, wanderten Woche für Woche von einer Tafel zur
andern, sodaß jede Tafel nur aller drei Wochen wirklich zehn, die beiden andern
Wochen elf Esser hatte. Die beiden kleinen Wandrer, die so von Tisch zu
Tisch geschoben wurden, hießen „Kurser" (oursor«Z8). Nun wurde jeder Tisch
wieder eingeteilt in drei „Obere," zwei „Gleichmacher" und fünf oder, je
nachdem, sechs „Untere." (Daß man für Gleichmacher nicht „Äquator" sagte
in einer Umgebung, in der doch so vieles lateinisch benannt wurde, hatte wohl
keinen andern Grund, als daß Äquator schon in der Geographie als tsrminu8
WÄuuvus Verwendung gefunden hatte). An der Seite des Zimmers stand
noch ein kleinerer Tisch, der Gleichmachertisch. Wenn es nun zum Essen ge¬
klingelt hatte, brachte die Maari zunächst in zwei großen Zinnschüsseln, von
denen die eine noch in einer dritten, leeren stand — drei volle Hütte sie nicht
tragen können das Fleisch aus der Küche und setzte es auf den Gleich¬
machertisch. Nun kamen die beiden Gleichmacher des Tisches, der die Woche
hatte, und machten sich zunächst an das schwierige Geschäft, das Fleisch aus
den zwei Schüsseln auf drei zu verteilen. Dann kam der Primus des Tisches,
der in dieser Woche die erste Wahl hatte, womöglich begleitet von den beideu
andern Obern, und suchte sich die Schüssel für seinen Tisch aus, dann folgte
der nächste, und die übrigbleibende Schüssel erhielt der Tisch, der die Gleich¬
macher gestellt hatte. Nun erst, wenn das Fleisch auf den Eßtischen stand,
wurden die einzelnen „Parder" gemacht, an jedem Tische fünf größere, für die
Obern und für die beiden Gleichmacher, und fünf (oder sechs) kleinere, für die
Untern. Dabei machte der zweite Gleichmacher die obern Parder, hatte also
den denkbar stärksten Anlaß, die Parder völlig gleich zu macheu, denn er bekam,
wenn es nun ans Aussuchen ging, von den fünfen die letzte; der erste Gleich¬
macher machte die untern Parder, hatte also wenigstens den denkbar schwächsten
Anlaß, sie ungleich zu macheu, denn er selber hatte ja keinen Teil daran.
Während so das Fleisch zerlegt wurde, brachte die Maari im Schweiße ihres
Angesichts in einem mächtigen, blanken kupfernen Topfe das Gemüse herein,
und setzte es wieder auf den Gleichmachertisch. Einer von den sechs Gleich¬
machern, der die Woche hatte, ergriff den großen Schöpflöffel, der im Topfe
steckte, und nun traten die Tischultimi der Reihe uach heran, ließen erst eine
kleine Schüssel für die drei Obern füllen, dann die inzwischen leer gewordene
Fleischschüssel für die übrigen sieben, und nun begann an den Tischen wieder
das Anstellen in die Teller. Das Ausgeben aus dem großen Topfe war eine
überaus schwierige Sache. Das Kunststück bestand darin, so durchzukommen,
daß es bei der letzten Schüssel weder knapp herging, noch etwas übrig blieb.
Der vorsichtigste Teilungsplan aber wurde uicht selten dadurch vereitelt, daß
die eine oder andre Schüssel der Obern wieder an den Topf zurück geschickt
wurde, vom Tischprimus mit dem zornigen Zurufe begleitet: „Mehr dickes!"
oder auch: „Mehr dünnes!" Dann verbreitete sich zuweilen bei der letzten
Schüssel die Schreckenskunde: „Er hat sich vergeben!" und die Schüssel mußte
in die Küche wandern, um noch etwas nachzuholen, was dann freilich gewöhnlich
„mehr dünnes" war. Dies alles aber ging, dank der Übung, dem Scharf¬
blick und dem gefunden Hunger aller Beteiligten, viel schneller vor sich, als
ich es hier beschreiben kann. Die Freitagsschüsseln mit dem Milchbrei wurden
gleich angerichtet und schön mit brauner Butter Übergossen und mit Zucker
und Zimmet bestreut aus der Küche gebracht. Die großen wurden ausgeteilt,
die kleinen gleich aus der Schüssel gegessen, nachdem die zuckrige Oberfläche
kuttstgerecht in drei gleiche Ausschnitte zerlegt war. Dabei suchte jeder die im
Zentrum befindliche Butter durch kleine Gruben und Kanäle möglichst nach
seinem Drittel zu leiten. Sehr beglückt waren wir gerade nicht von diesen
Freitngsschttsseln. Wer von den Obern bei Kasse war, ging Freitags lieber
auf den Markt zu „Felßncr" und gönnte sich ein Beefsteak.
Zu den Strafen, mit denen ein Anderer von einem Obern belegt werden
konnte, gehörte auch das „Karireu" (<nrsr0). Man bekam dann nichts zu
Mittag und mußte während des Essens an der Thür des Eßsaales stehen und
zusehen. Es kam ja nicht gerade allzuhäufig vor, und namentlich einen, der
mit an seinem eignen Tische saß, wagte wohl nicht leicht ein Oberer zum
Kariren zu verurteilen, es hätte ja so ausgesehen, als ob er sich selbst damit eine
größere Part machen wollte; aber es kam doch häufig genug vor, um mir als
eine besondre Grausamkeit im Gedächtnis bleiben zu können; namentlich auch
der Kollaborator bestrafte gern mit Knriren, Was würde manche Mutter ge¬
sagt haben, wenn sie daheim an ihrem Mittagstische gewußt hätte, daß ihr
armer Junge jetzt an der Thüre stehen und hungern mußte!
Nach dem Mittagessen gab es für den Rest des Tages nichts weiter
als — trocknes Vrot. Einen Tag um den andern schleppte die Maari vor
dem Mittagessen einen Tragkorb mit zweiunddreißig neubackenen Zweipfund¬
broten herbei, von denen immer je zwei zusammengebacken waren, sodaß sie
über der Tischkante ans einander gebrochen werden mußten. Das war unsre
ganze weitere Nahrung! Unterschiede wurden dabei weiter nicht gemacht, der
achtzehnjährige wie der neunjährige bekam jeder täglich sein Pfund Brot.
Das Brot war sehr gut, aber es war doch eben nur Brot. Wer Butter oder
Fleisch dazu haben wollte, mußte sichs kaufen, wenn ihm nicht, was allerdings
vielfach geschah, aus dem Elternhause von Zeit zu Zeit ein Butter- oder Wnrst-
kistchen geschickt wurde. An heißen Sommernachmittagen war es beliebt, sich
zum Vesper eine „Mährde" zu machen. Es war das eine Wasferkaltschale:
man krümelte sich eine Schüssel voll Brotkrume und rührte sie mit Wasser
ein, indem man für drei oder vier Pfennige Syrup zugoß. Wer sich bis zur
„Biermährde" versteigen wollte, bekam in einer Brauerei gleich hinter der
Kreuzkirche für wenige Pfennige ein Nösel Braunbier. Denn zu trinken gab
es offiziell das ganze Jahr über nichts als Wasser — Kreuzbrunnen. In den
ganzen acht Jahren meiner Alnmnenzeit ist nicht ein einzigesmal ein Schluck
Bier auf unsern Eßtisch gekommen! Während des Essens standen auf den
Fensterbrettern die Wasserkrüge aus den Kammern, die die Ultimi, wie vor
jeder Arbeitsstunde, so auch vor jedem Mittagessen am Brunnen frisch gefüllt
haben mußten. Jeder, der vom Essen aufstand, ging ans Fensterbret und
labte sich, nachdem er sich den Schnabel gewischt oder auch uicht gewischt
hatte, durch einen Trunk aus dem Kruge. Gläser hatten wir nicht.
Zweimal im Jahre gab es eine kleine Weinspende. An dem Tage, wo die
kvnfirmirten Alumnen vormittags zur Kommunion gewesen waren, wurde
mittags aus dein königlichen Kufenhause eine Lase Rotwein — Meißner Ge¬
wächs — geschickt, wohl auch infolge einer alten Stiftung. Aber die glück¬
lichen Empfänger waren nur — die beiden Präfekten. Die hielten für diesen
Tag eine Anzahl leerer Weinflaschen bereit, die sie sich irgendwo zusammen¬
geschnurrt hatten, und füllten die Lase schleunigst auf die Flaschen. Waren
es noble Kerls, so bekamen natürlich die guten Freunde ein Glas davon; aber
es gab auch schäbige Kerle, die am liebsten alles allein gesoffen hätten. Die
zweite Weinspende, von etwas Kuchen begleitet, traf gewöhnlich einige Tage
nach dein Palmsonutagskonzert ein ^ eine Belohnung, die, wie mir heute
scheinen will, nicht entfernt dem entsprach, was wir geleistet hatten; damals
waren wir aber sehr vergnügt darüber.
Willkommene Abwechslung brachten, wie in das Einerlei der Schule,
so auch in das der täglichen Verköstigung die Ferien. Von allen Schulferien
hatten wir Chvrschüler immer nur die Hälfte, da der Chordienst natürlich
ununterbrochen fortging und versorgt werden mußte. Wer zu Ostern in die
Ferien ging, mußte zu Pfingsten dableiben, wer zu Michaeli gewesen war,
konnte nicht zu Weihnachten gehen, und die vierwöchentlichen Sommerferien
wurden halbirt. Wir empfanden das aber durchaus nicht als Opfer oder Be¬
schränkung, im Gegenteil, es war nie so hübsch aus dem Alumueum wie in
den Ferien, und die Motette, die jedesmal nach der letzten Schulstunde vor
den großen Ferien oben in der ersten Kammer angestimmt wurde, nachdem
alle Fenster aufgerissen waren (wir konnten sie alle auswendig, es war: „Lobet
den Herrn, ihr Heiden"), wurde von allen mit demselben Jubel gesungen,
gleichviel, ob sie jetzt oder erst zwei Wochen später ausfliegen konnten. So
oft wir diese Ferienmotette sangen, habe ich stets die Extraner bedauert, die
ferrum aus der Schule liefen, stumm, denn Reden und Schreien ist nicht
Singen; unsre Motette, das war die einzig wahre Fcriensprnche, wir mußten
sie singen, wir konnten gnr nicht anders! Gott, wenn man sich noch einmal
so freuen könnte!
In den Ferien fiel früh und abends die Arbeitsstunde weg und wurde
auf den Vormittag verlegt. Da konnte mau richtig ausschlafen, man konnte
sich seinem Herbarium, seiner Steiuscunmluug, seiner Siegelsammlung widmen.
Einer hatte einmal sein Herbarium tagelang im Arbeitssaale ausgebreitet,
sodaß ein andrer endlich, den Dresdner Stadtrat parodirend, an einem
Stückchen eine Papptafel an den Tisch hing mit der Aufschrift: „Diese Anlagen
werden dem Schutze des Publikums empfohlen." Vor allem aber gab es in den
Ferien auch beim Essen einmal eine Abweichung von der täglichen Gewohnheit.
Da war zunächst in jeder Ferienhälfte ein Tag, wo es gar kein Mittagessen,
sondern statt dessen „Eßgeld" gab. Die Küche sollte doch auch einmal wissen,
daß Ferien wärein Da nur die Hälfte, bisweilen nur die kleinere Hälfte,
vierzehn, sogar bloß dreizehn im Hause waren, aber die volle Summe für alle
zweiunddreißig gezahlt ivurde, so kamen auf den Einzelnen — natürlich wurde
abgestuft — doch immer dreißig bis fünfzig Pfennige. Aber wie verfehlte
dieses Eßgeld seinen Zweck! Von Küchenferien war keine Rede, aber statt
einer Köchin gab es nun ein Dutzend Köche. Was konnte man mit vierzig
Pfennigen nicht alles anfangen! Da lief jeder und kaufte elln gehacktes
Rindfleisch, Butter, Kartoffeln, eine Gurke, und jeder war für diesen Tag sein
eigner Koch. Auf dein Küchenherd und auf Spirituslampen wurde gekocht
und gebräkelt, daß es eine Lust war, sogar über dem Zylinder einer Öllampe
wurde versucht, auf einem dünnen Blechteller ein Beefsteak zu braten! Und
wie köstlich schmeckte alles an diesem Tage!
An einem andern Ferieutage gab es statt des gewöhnlichen Mittag¬
essens — Käsekeulchen. Die Bambeln war als Käsekeulcheubäckerin berühmt
in der ganzen Umgebung des Schulhauses. Sie but dann nicht bloß für uns,
sondern gab ihre Kunsterzeugnisse gegen ein Billiges auch über die Straße an
die Nachbarn ab, und auch wir begnügten uus uicht mit der uns zustehenden
Anzahl, sondern kauften uns immer noch etliche dazu, schickten wohl auch den
Eltern eine Probe. Etwas so Köstliches habe ich aber auch in meinem Leben
nicht wieder gegessen. Es ist nicht die alles verschönernde Zeitferne, die mir
dieses Gebäck mit einem solchen Nimbus umgiebt, es war wirklich etwas Be¬
sondres. Aus dem Teige wurden mit einem Trinkglase kleine, runde Keulchen
abgestochen — wir standen natürlich dabei und sahen zu, es war ja höchst
lehrreich —, die wurden dann in einen großen Topf mit kochenden: Fett ge¬
worfen, und während sie darin schwammen, quollen sie zu großen, lockern
Bällen auf, die unbeschreiblich schön schmeckten. Das Rezept zu dem Teige
war das Geheimnis der Bambeln. Ich habe mich vergeblich bemüht, es ihr
für meine Mutter zu entlocken, sie war nicht dazu zu bewegen, es her¬
zugeben.
Einigemal im Jahre gab es gegen Abend eine besondre „Speisung,"
worauf dann die Arbeitsstunde ausfiel. Auch diese Speisungen waren offenbar
Stiftungen. Verköstigt wurden wir dabei stets mit Schweinebraten, und zwar
kam auf jeden Tisch eine ganze Schweinskeule, deren Schwärtchen die Bambeln
in lauter kleine Quadrate zerschnitten hatte, die sich braun und knusprig von
dem weißen Fettgrunde abhoben. An Aufessen war nicht zu denken; an diesen
Abenden wanderten alle Teller in die Schränke, mancher labte sich noch nach
zwei Tagen daran. Eine dieser Speisungen war besonders merkwürdig, wir
nannten sie die „Mitten-wir-im-Leben-sind-Speisung." Der fromme Stifter
hatte die seltsame Bestimmung getroffen, daß vor dem Essen jedesmal das
Gesaugbuchslied: „Mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen" ge¬
sungen werden sollte, und daran wurde auch getreulich festgehalten. Nun
hatte das Lied zwar nur drei Strophen, aber die waren sehr lang, und dazu
kam, daß uns die Melodie ganz fremd war, denn das Lied wurde beim Gottes-
dienst nie gesungen. Wir mußten also stets die Choralbüchcr zu Hilfe nehmen.
Da standen wir denn alle zweiunddreißig und würgten uns mit Todesverachtung
dnrch die drei langen Strophen hindurch, während die Augen zwischen Gesaug-
und Choralbuch und dem. schon auf dem Tische stehenden duftenden Schweine¬
braten hin- und hergingen! Um dieses einen Bildes willen — daß man das
zu seinen Erinnerungen zählen kann, lohnt sichs, Alumnus der Kreuzschule
gewesen zu sein!
Zu Martini war „Gänsespeisung." Da erschien auf jedem Tische eine
gebratene Gans. Wie bei dieser Gelegenheit die Gleichmacher ihres Amtes
gewaltet haben, ist mir nicht mehr in der Erinnerung; vermutlich nicht ganz
kunstgerecht, aber geschmeckt hats uus auch.
Dreimal endlich im Jahre gab es früh statt des üblichen Dreierbrötchens
ein etwas üppigeres Backwerk, nämlich am ersten Feiertage der drei hohen
Feste. Wenn wir da vom Turmsingen herunter kamen, standen im großen
Auditorium auf den Arbeitstischen drei große Kuchenbretter mit frischem, eben
erst aus dem Ofen gekommenen Rosinenkuchen von Zollesdicke. Die Gleich¬
macher hatten sich für diesen Tag mit einem Bindfaden versehen, womit die
Kuchen erst sorgfältig der Länge und der Breite nach gemessen wurden; dann
wurde der Bindfaden in gleiche Teile zusammengefaltet, darnach die Knchenteile
abgepaßt, und nun erst trat das Messer in Thätigkeit. Zu Weihnachten lagen
statt der Kuchen zweiunddreißig allerliebste Miniatnrstollen auf den Brettern —
für Exemplare in Folio zu sorge» blieb dem Elternhause überlassen. Da
begann dann freilich dasselbe Aussuchen wie bei den Dreierbrötchen, der erste
Prüfekt hatte die Wahl ans zweiunddreißig! Glücklicherweise blieben hier
wenigstens die Hände ans dem Spiel; selbst die Hundemama, die doch sonst
alles gern betastete und beschnoberte, mußte sich hier mit dem durchdringenden
Scharfblick ihrer Brillenaugen begnügen.
Warum ich alle diese Kleinigkeiten so ausführlich erzählt habe? Nun
erstens, weil ich dachte, daß ich den alten Alumnen, nicht bloß der Kreuzschule
in Dresden, sondern auch andrer Schulen, die Alnmneen haben, und auf denen
vor dreißig, vierzig Jahren gewiß noch ähnliche Zustände bestanden haben,
eine kleine Freude damit machen würde. Sie sollen sagen: Ja, so wars,
genau so wars! Und sie werden so sagen, denn wahrheitsgetreu bis ins
Kleinste hinein zu schildern bin ich redlich bemüht gewesen; das wird anch der,
dem die Dinge fremd sind, herausfühlen. Aber ich habe nur Alumneums-
erinnerungen erzählen wollen, keine „Schulgeschichten," obwohl ich von denen
doppelt so viel hätte erzählen können. Gegen Schulgeschichten bin ich etwas
mißtrauisch, und ich würde es, glaube ich, selbst gegen meine eignen sein, denn
das Dichterwort: „Was sich nie und nirgends hat begeben, das allein ver-
allee nie" scheint mir ans die meisten Schulgeschichten nur in seinem Vorder¬
satze zu passen. Von diesen Alumneumserinnerungen aber möchte ich im
Gegenteil, daß uur der Nachsatz gelte, und das ist der zweite Grund, weshalb
ich sie aufgeschrieben habe: nach abermals drei bis vier Jahrzehnten wird ja
niemand mehr eine Ahnung davon haben, wie es einst auf einem Alumneum
zugegangen ist. Wir waren gerade noch zu einer Zeit da, wo in Verbindung
mit dem alten Schulhause, dem alten „Kasten," wie wir sagten, und unter
seinem konservirende» Schutze noch eine Menge von Einrichtungen bestand, in
denen sicherlich, wenn auch in noch so abgeschliffener und abgeblaßter Gestalt,
alte Klvsterschuleinrichtungen fortlebten, und die durch die Erbauung des
neuen Hauses gewiß größtenteils hinweggefegt worden sind. Daß diese Ein¬
richtungen nicht ganz vergessen werden möchten, das war mein zweiter Wunsch,
denn sie bilden in ihrer Art doch auch ein Stücklein deutscher Kulturgeschichte.
Endlich aber habe ich auch an die heutigen Alumnen dabei gedacht, die es
gewiß viel besser haben, als nur es unsrer Zeit gehabt haben, und die aus
diesen Aufzeichnungen lernen mögen, was sie wahrscheinlich gar nicht wissen:
wie gut sich haben!
Es ist eine auffallende Erscheinung, daß der deutsch-französische Krieg
mit seiner gewaltigen Begeisterung und seinen weltgeschichtlichen Folgen einen so
verschwindend geringen Einfluß auf die Entwicklung der deutschen Litteratur aus¬
geübt hat. Man hatte nach solchen unerhörten Ereignissen eine Wiedergeburt des
dentschen Geistes und der deutschen Kunst erwarten sollen, und man ist thatsächlich
nach zwanzig Jahren auf diesen Gebieten nicht viel weiter gekommen, als man schon
Vor dem Kriege war. Viele wollen sogar statt eines zielbewußter Fortschrittes ein
unsicheres, ratloses lind ertasten, einen unzweifelhaften Rückschritt erkennen und ver¬
fechten die Ansicht, daß heutzutage selbst siegreiche und ruhmvolle Kriege nicht mehr
erhebend, sondern lähmend ans die Schaffenskraft des künstlerischen und litterarischen
Lebens einwirken. Diese verderblichen Folgen hätten sich aber am schwersten in
Frankreich äußern müssen, und daß dies der Fall ist, wird man kaum behaupten
können. Wenn wir von den unzähligen Erzeugnissen der Nevanchelitteratur absehen,
die jahrelang wie ein Schlammvulkan ihre giftigen Machwerke über das Land
schüttete, so müssen wir doch eingestehen, daß die unerwarteten Schicksalsschlüge, die
schweren Heimsuchungen, die daraus entstehende pessimistische Stimmung und der
Rückschlag von der Selbstvergötterung zur Selbstzerfleischung wie ein befruchtender
Gewitterregen auf viele Geister in Frankreich eingewirkt hat.
Man rang nach einer neuen Lebensauffassung und nach einer neuen Form
und glaubte sie im Naturalismus gefunden zu haben; man überschlug sich in dieser
Richtung, aber mau blieb originell; man verrannte sich, aber man bewies eine
unerschöpfliche Produktionskrnft und sah mit Erstaunen und Befriedigung, daß alle
Nationen denselben Weg nachliefen, obwohl über sie jene unheilvollen Ereignisse
gar nicht hereingebrochen waren. Die französischen Naturalisten knüpfen fast alle an
den letzten Krieg an; in der Novellensammlung I»s koirßs» Ah Nüclan kommt
kaum eine Geschichte vor, die ihn nicht zum Hintergründe gewählt hätte. Zola
schließt fast in allen Teilen aus dem Nvmaneyklus I^Sö Rougon-Na.eczrca.re mit einer
Perspektive auf den deutsch-französischen Krieg. Maupassant verdankt feinen früh
erworbenen Ruhm hauptsächlich den kleinen, mit köstlichem Humor geschriebenen Ge¬
schichten aus jener Begebenheit, durch die gleichsam die letzten Reste der Romantik
in der französischen Litteratur zu Grunde gingen. Fiir diese Wendung und für den
Eindruck, den Frankreich damals auf hervorragende Geister machte, ist nichts be-
zeichneuder als die Briefe, die der gefeierte Romanschriftsteller Gustave Flaubert
an George Sand in jener Zeit schrieb, und die Maupassant in einer Sammlung
i^Paris, Charpentier u. Co., 1889) herausgegeben hat.
Flaubert lebte nur seiner Kunst; er haßte den Bourgeois, der für litterarische
Bestrebungen kein Interesse und Verstnudnis zeigte; er haßte die Politik, weil sie
die Menschen zu geistlosen Schwätzern heranbildete, er haßte die Kritiker, die sich
ohne Beruf auf dem Parnaß breit machten, er war ein einsamer Mann, seine
einzigen Freunde, zu denen er sich freimütig aussprach, waren Turgenjew und
George Sand; und doch hatte er ein klares Urteil über Frankreichs Lage und eine
sichere Kenntnis von den Stimmungen und Schwächen des Volkes. Schon im
Jahre 1307 schrieb er an George Sand: „Frankreich, das manchmal, wie unter
Karl VI., vom Veitstanz ergriffen wird, scheint jetzt an einer Lähmung des Gehirns
zu leiden. Man ist ans Furcht blödsinnig geworden: aus Furcht vor Preußen,
vor den Arbeitseinstellungen, vor der Weltausstellung, die nicht vorwärts kommt,
aus Furcht vor allem. Man muß bis ins Jahr 1849 zurückgehen, um einen
solchen Grad von Kretinismus wiederzufinden. Bei der letzten Gesellschaft hat
mau solche Kutscheruuterhältuug gepflogen, daß ich im Innern geschworen habe, den
Fuß nicht wieder dorthin zu setzen. Es war die ganze Zeit nur die Rede von
Bismarck und von Luxemburg; nur steckt das noch in den Gliedern!" Flaubert
hatte im Jahre 1869 seinen Roman I/6<Iuo»lion ssutinivirwlo veröffentlicht und
damit in der französischen Kritik einen wahren Sturm der Entrüstung und des
Beifalls heraufbeschworen. Er wandte sich von der realistischen Richtung weg und
versenkte sich in philosophische, religiöse und mystische Norstudien zu seinem selt¬
samen Roman I^i. ^vntntion, <In >Ä'in,t ^ntnino. Da riß ihn das ansprechende
Kriegsgeschrei seiner Landsleute aus seiner beschaulichen Thätigkeit. „Die Thorheit
meiner Landsleute, schreibt er an seine Freundin, thut mir weh und ekelt mich an.
Die unheilbare Barbarei der Menschheit erfüllt mich mit düsterer Traurigkeit.
Diese Begeisterung, die keine Idee als Beweggrund hat, erweckt in mir Todes¬
sehnsucht, um nichts mehr zu sehen. Der gute Franzose will sich schlagen: erstens,
Weil er sich von Preußen gereizt glaubt, zweitens, weil der natürliche Zustand der
Menschen die bestialische Wildheit ist: drittens, weil der Krieg einen mystischen
Zauber in sich birgt, der die große Masse fortreißt. Sind wir wieder zu den
Rassenkriegen zurückgekehrt? Ich befürchte es. Die entsetzliche Schlächterei, die sich
vorbereitet, hat nicht einmal einen Vorwand; es ist die Lust, sich zu schlagen, nur
um zu schlagen. Ich beweine die gesprengten Brücken, die zerstörten Tunnel, diese
ganze Verlorne Mcnschencirveit, diese radikale Vernichtung. Der Friedenskongreß
hat jetzt Unrecht; die Kultur scheint mir weit entfernt, Hobbes hat mit seinem
Ausspruch recht: Ilomn iumüni in^nrs. Ich habe 8-rink ^ntoino begonnen, und es
würde vielleicht ziemlich gut weitergehen, wenn ich nicht an den Krieg denken müßte.
Der Spießbürger ist hier nicht mehr zu halten; er findet, daß Preußen zu unver¬
schämt gewesen sei, und will sich rächen; Sie haben erfahren, daß ein Herr der
Kammer vorgeschlagen hat, das Großherzogtnm Baden zu plündern! Ach, weshalb
kann ich nicht bei den Beduinen leben!""
Auch für George Sand war das „schreckliche Jahr der Grenzstein ihrer
dichterischen Thätigkeit, das Ende ihrer romantischen Geistesrichtung; in dem
„Tagebuch eines Reisenden wahrend des Krieges" spricht sie in edler aber tief¬
trauriger Sprache ihren ganzen Schmerz aus, von dem sie sich nicht wieder er¬
holen konnte. Hin und wieder bricht bei Flanbert ein optimistischer Gedanke durch;
so schreibt er einmal: „Vielleicht wird Preußen eine tüchtige Schlappe erleiden, und
das könnte zu den. Plänen der Vorsehung stimmen, wieder das europäische Gleich¬
gewicht herzustellen. Dies Land fängt an, an Hypertrophie zu leiden, wie es
mit Frankreich zur Zeit Ludwigs XIV. und Napoleons der Fall war. Die andern
Organe sind dadurch in ihrer Bethätigung behindert; daher die allgemeine Unruhe.
Würde ein furchtbarer Aderlaß nützlich sein?" Aber auch der Blick auf Frankreich
und das französische Volk wirkt auf Flanbert gerade nicht erhebend: ,,studirt jetzt
einmal den guten Franzmann; er ist riesenhaft! er bewundert »den Rhein« von
Musset und fragt, ob Musset noch etwas andres gemacht habe. Musset wird mit
einemmale Nationaldichter und sticht den Bvrauger ans! Welche ungeheure aber
wenig heitere Pvssenreisierei ist das alles!" „Ich bin, fährt er in einem andern
Briefe fort, in Paris gewesen; ich kenne jetzt den Pariser gründlich und habe in
meinem Herzen den blutdürstigsten Staatsmännern aus dem Jahre 1793 Abbitte
geleistet. Jetzt verstehe ich sie! Welche Verrcmntheit, welche Unwissenheit, welche
Anmaßung! Meine Lnndsleute erregen in mir den Wunsch, nuszuspeien. Dieses
Volk verdient gezüchtigt zu werden, und ich fürchte, das wird auch geschehen. Es
ist mir unmöglich, jetzt irgend etwas zu lesen oder gnr etwas zu schreiben. Ich
verbringe wie jedermann meine Zeit und warte ans Neuigkeiten."
Nachdem aber der furchtbare Schlag gefallen, nachdem das kaiserliche Frank¬
reich zu Grabe getragen war und das Vaterland in seinem Bestände bedroht zu
sein schien, da griff much Flanbert trotz seiner fünfzig Jahre zu den Waffen. „Nun
sind wir also, schreibt er an George Sand, in die Tiefe des Abgrunds hinein-
geraten! Ein schmachvoller Friede wird vielleicht nicht angenommen werden; die
Preußen wollen Paris zerstören, das ist ihr Traum! . . . Paris wird das Schicksal
Warschaus teilen; Sie betrüben mich mit Ihrer Begeisterung für die Republik.
Können Sie noch in dem Augenblick, wo wir durch den reinsten Positivismus
besiegt worden sind, an Trugbilder glauben? Wie es mich immer kommen mag,
die Leute, die jetzt die Macht haben, werden geopfert werden, und die Republik
wird ihrem Schicksal folgen. sehen Sie, ich verteidige diese arme Republik, aber
ich glaube nicht an sie. ' Das ist alles, was ich Ihnen zu sagen habe; ich hätte
Ihnen eigentlich sehr viel andre Dinge zu berichten, aber mein Kopf ist nicht frei;
die Traurigkeit stürzt in Katarakten, in Strömen, in Meeren auf mich ein — es
ist nicht möglich, noch mehr zu leiden. Zuweilen fürchte ich, wahnsinnig zu
werden; schon wenn ich meine Angen ans das Gesicht meiner Mutter richte,
schwindet alle meine Willenskraft dahin. Die Versessenheit, die Wahrheit nicht
sehen zu wollen, hat uns so weit gebracht! Der Hang zum Erkünsteltem und zur
Prahlerei! Aus uns wird ein Polen, dann ein Spanien werden; dann kommt
Preußen an die Reihe, das von Nußland aufgefressen werden wird."
Aber auch in Flaubert regt sich schließlich die Freude am Kriege; der Ge-
danke, daß man Friede schließen könnte, quält ihn; man sollte Paris, wie Moskau,
in Brand stecken, damit die Preußen, Ihn ovo.xnMotM Ä'Hszxol, nicht hineinkämen.
Er klagt über die mangelhafte Mannszucht unter den französischen Truppen, über
die Dummheiten der Republik, über die Ratlosigkeit und Unthätigkeit der Führer.
„Seit sechs Wochen," schreibt er ans Rouen, „erwarten wir das Anrücken der Preußen.
Man spitzt das Ohr und glaubt von fern Kanonendonner zu hören . . . Ich glaube
nicht, daß es in Frankreich einen betrübteren Menschen giebt, als ich; ich sterbe
vor Kummer, in ihm liegt die Wahrheit; die Tröstungen bringen mich auf. Was
mir das Herz durchbohrt, das ist die Blutgier der Meuschen und die Überzeugung,
daß wir in ein stumpfsinniges Zeitalter eintreten. Der Krieg mit Preußen beendigt
die französische Revolution und hebt ihre Wirkungen ans. Aber wenn wir Sieger
wären? werden Sie zu mir sagen; eine solche Annahme ist jedoch allen Ereignissen
der Geschichte entgegengesetzt. Wo haben Sie den Süden den Norden schlagen
und die Katholiken die Protestanten beherrschen sehen? Die lateinische Rasse liegt
in den letzten Zügen. Frankreich wird Spanien und Italien folgen, und die Roheit
beginnt. Welche Umwälzung, welcher Sturz, welches Elend, welche Greuel! Kann
man im Anblick dieser Begebenheiten noch an einen Fortschritt, an eine Kultur
glauben? Wozu dient denn die ganze Wissenschaft, wenn dieses Volk, dus voll ist
von Gelehrten, Schandthaten begeht, die schlimmer sind als die der Hunnen?
Denn sie sind systematisch, berechnet, beabsichtigt und bilden weder die Leidenschaft
noch den Hunger zur Entschuldigung. Armes Paris! ich finde es heroisch; aber
wenn wir es wiederfinden, wird es nicht mehr unser Paris sein! Alle Freunde,
die ich dort hatte, sind tot oder verschollen; ich habe keinen Mittelpunkt mehr.
Die Litteratur erscheint mir als eine nichtige und unnütze Sache! Werde ich jemals
wieder imstande sein, darin zu arbeiten? O, wenn ich fliehen könnte in ein Land,
wo man keine Uniformen sieht, wo man keine Trommel hört, wo man nicht von
Gemetzeln spricht, wo man nicht gezwungen ist, Bürger zu sein! Aber die Erde
ist nicht mehr für die armen Mandarinen bewohnbar."
Flauberts Briefe ans dieser Zeit an George Sand zeigen alle dieselbe Nieder¬
geschlagenheit, denselben Schmerz, dieselbe Verzagtheit. Der Gedanke an die deutschen
Offiziere, die nach seiner Ansicht den Sanskrit lesen und mit Weißen Handschuhen
die Spiegel einschlagen, die den: Quartiergeber die Uhren wegstehlen und dann
ihre Visitenkarten hinüberschicken, der Gedanke an das Schicksal Frankreichs, an die
unvermeidliche Revanchepolitik — alles das raubt ihm die letzte Ruhe und Freude
am Dasein. Auf die Anfrage der George Sand, ob die Preußen ihn much aus¬
geplündert haben, muß er allerdings cingestcheiu Sie haben meine Wohnung nicht
ausgeräumt; einige kleine Gegenstände ohne Wert, ein paar Haarbürsten, eine
Pappschachtel und Pfeifen haben sie mitgenommen; im Grunde aber haben sie kein
Unheil angerichtet; was mein Zimmer anbetrifft, so ist es respektirt worden. Ich
hatte eine große Kiste, angefüllt mit Briefen, vergraben und meine umfangreichen
Vorarbeiten zu Luint ^ntnino in Sicherheit gebracht; ich habe alles unversehrt
wiedergefunden. Das schlimmste von dem Kriege für mich ist, daß meine arme
gute Mutter um zehn Jahre älter geworden ist. Welche Veränderung! sie kann
nicht mehr allein gehen und ist von herzbetrübender Schwäche. Wie traurig
ist es, die Wesen, die man innig liebt, nach und nach dahinschwinden zu sehen!
Um nicht mehr an dus öffentliche und persönliche Elend zu denken, habe ich mich
mit Verzweiflung in K-lind ^ukoins gestürzt, und wenn mich nichts in der Arbeit
stört »ut ich in einem Zuge fortfahren kann, so werde ich ihn im nächsten Winter
fertig haben. Ich sehne mich darnach, Ihnen die ersten sechzig Seiten vorzulesen.
Wenn man wieder auf den Eisenbahnen wird Verkehren können, besuchen Sie mich
doch auf einige Zeit; Ihr alter Troubadour erwartet Sie nun schon so lange!
'
Der Roman 1^-^ Iont-Uäon. <lo L^urd ^.nloino erschien aber erst im Jahre
1874 und erregte weniger durch den gelehrten archäologischen und philosophischen
Inhalt als durch die künstlerische Form und die klassische Sprache den Beifall der
Kunstkenner; ein herber pessimistischer Zug, der aus jener Unglückszeit stammte,
geht fast durch den ganzen Roman, sodaß ein Kritiker die boshafte Bemerkung
machen konnte, Flnubert hätte gut gethan, sich von den Preußen totschlagen
zu lassen. Der Briefwechsel reicht vom Jahre 1866 bis 1876; er enthält eine
Reihe vortrefflicher Bemerkungen über die verwickelten Zeitverhältnisse, über die
mnnnichfachen Strömungen auf dem Gebiete der Kunst und der Litteratur, und
bietet uns die Möglichkeit, in das eigentümliche Genie Flauberts einzudringen.
Der Allgemeine deutsche Sprachverein hat, wie bekannt,
in den letzten Maitagen zu München eine Hauptversammlung abgehalten. Der Vor¬
sitzende, Professor Riegel aus Brnuuschweig, forderte in einer Ansprache zum ent-
schiednen Kampfe gegen gegnerische Strömungen auf und kennzeichnete als solche nächst
dem Übereifer in der Verfolgung der Fremdwörter auch (laut Bericht in der Vereins-
zeitschrift) „die engherzige Peinlichkeit, die mit nüchternem Verstände überall die
Elle der Schulregel anlegt und da, wo dieser Maßstab versagt, über Fehler und
Dummheiten wettert, ohne Ahnung, daß die Frage nicht durch Schulweisheit,
souderu, wie Goethe sagt, durch Poesie und leidenschaftliche Rede, und wie ich
hinzusetzen darf, durch den allgemeinen Gebrauch des Volkes Weiter gebildet wird."
Ob der Verfasser der „Sprachdummheiten" in den Grenzboten, uns den diese
Worte insbesondre gemünzt zu sein scheinen, es der Mühe wert finden wird, darauf
zu entgegnen, weiß ich nicht. Keinesfalls bedarf er meiner Hilfe, und ich will
ihm auch nicht vorgreifen. Nur mein Bedauern will ich als Mitglied des Sprach¬
vereins darüber nussprechen, daß in der Versammlung niemand unmittelbar gegen
einen Satz Verwahrung eingelegt hat, der geeignet ist, zu verwirren, ja der im
Grunde die Gegner berechtigt, zu fragen: Was will denn eigentlich der Verein?
Wendet er sich denn nicht gegen einen allgemeinen Gebrauch des Volkes, wenn er
es abhalten will, die Rede mit entbehrlichen Fremdwörtern zu spicken? Wenn es
kein Recht und Gesetz geben soll, dann spielt ihr ja den Don Qnyote.
Allerdings beweisen verschiedne andre in jener Versammlung gehaltene Reden,
daß die Ansicht des Vorsitzenden keineswegs von allen Anwesenden geteilt wird,
und er, der es in Kassel noch sehr übel aufnahm, daß einzelne wagten, die Säube¬
rung unsrer Muttersprache von einheimischen Unkraut für dringender zu erklären,
als die Ausrottung des fremden, dürfte sich schon überzeugt haben, daß diese
„Strömung" sich nicht so leicht aufhalten oder ablenken läßt, wie er geglaubt
haben mag.
Und in der That würde der Verein seiner Aufgabe nur sehr ungenügend
nachkommen, wenn er nicht anch dahin wirken wollte, den Sprachgesetzen wieder
Achtung zu verschaffen. Dann darf er aber nicht in so allgemeiner Redewendung
den allgemeinen Gebrauch des Volkes als schlechthin erhaben über „Schulweisheit"
hinstellen. Wie entsteht denn heutzutage der Sprachgebrauch? Aktcumenschen,
Kaufleute und vor allem Zeitungsschreiber nehmen sich heraus, Formen, Wort-
bilduugeu, Satzverbindungen zu gebrauchen, durch die unsrer Sprache Gewalt an¬
gethan wird, die gegen den Geist unsrer Sprache sind, die sie verrenken und ver¬
unstalten, ja die oft genug düren Unsinn geben. Im Handumdrehen ist die neue
Erfindung von einer Unzahl Gedankenloser an- und aufgenommen, einfach weil sie
neu ist, weil sie sich etwas darauf einbilde«, immer das „Modernste" im Munde
zu führen. Und was man täglich Hort und liest, macht man endlich willenlos
und unwissentlich nach. Solchem Wesen ausdrücklich Berechtigung zuzuerkennen,
hieße ebenso viel, wie verlangen, daß die künstlerische Stillehre sich allen Aus¬
geburten der Schneider- und Putzmacherphautasic unterwerfen müsse.
Daß Pedanten (oder sollen wir sagen: Schnlsnchse?) die Sache übertreibe»
tonnen, ist unbestreitbar. Aber der Unfug hat gegenwärtig eine Höhe erreicht,
daß ein kleines Übermaß an Strenge gar nichts schadet. Das Sprachgewisscn ninß
erst wieder geweckt werden. Nicht gegen volkstümliche, mundartliche Wörter und
Wendungen lehnen wir uns auf, im Gegenteil werden wir solchen natürlichen Zu-
fluß stets gern begrüßen. Nur der so oft mit Unwissenheit gepaarten Willkür soll
das Handwerk gelegt, der Deutsche wieder daran gewöhnt werden, nicht nur den
Inhalt, sondern anch die Form seiner Rede zu überlegen.
Wie viel in diesem Punkt gesündigt wird, dafür lieferte Professor Riegel
gleich selbst ein kleines Beispiel. Er rühmte „die ausgezeichnete Zuvorkommenheit"
des Herrn Staatssekretärs v>-, von Stephan, mit der er in einem besondern
Schreiben für die Zusendung der Vereinsschriften gedankt habe. Hat er vielleicht
einen unausgesprochenen Wunsch des Vereins erfüllt, ihm aus eignem Antriebe eine
Vergünstigung gewahrt, oder womit ist er sonst „zuvorgekommen"? Er hat ge¬
dankt und versprochen, auch ferner ucich Thunlichkeit im Interesse des Vereins zu
wirken, wie er das bekanntlich bisher gethan hat. Das war höflich, aufmerksam,
liebenswürdig, gütig, entgegenkommend, oder wie man es sonst nennen will, aber
von Zuvorkommenheit kann dabei nicht gesprochen werden. Das verdiente nicht
erwähnt zu werden, wenn nicht Herr Riegel daraus ersehen könnte, daß ein wenig
nüchterne Schulweisheit für den Hausbedarf recht brauchbar ist.
Kurz und gut: der Sprachverein ist eine gute Sache, aber uicht Selbstzweck;
die Verdienste Riegels um diesen Verein werden bereitwillig anerkannt, aber als
Diktator können wir uns ihn nicht gefallen lassen. Und sollte den Mitgliedern,
damit die Einmütigkeit im Vereine nicht gestört werde, verboten werden, das
Falsche falsch und das Dumme dumm zu nennen, so würden sich wohl sehr viele
für die Mitgliedschaft höflich bedanken.
Die neue Auflage dieses 1383 erschienenen Buches verdient wohl eine neue
Erwähnung und Empfehlung. Denn dein heutigen Bürgertnme thun bei seinem
Ringen uach einer Neugestaltung belehrende Beispiele aus der Vergangenheit not,
und Schwebe! hat viel wertvollen Stoff zusammengetragen. Da er nur Bilder
geben wollte, so mußte er es den Lesern überlassen, selbst zu beurteilen, was von
den alten Einrichtungen unwiederbringlich dahin, was der Wiederbelebung oder
Nachahmung wert und fähig sei. Besonders reichlich sind die Städte der Hanse
bedacht worden; minder ausführlich werden die süddeutschen behandelt. Am
schlechtesten uuter allen Landschaften des neuen Reiches kommt Schlesien weg; es
wird gar nicht erwähnt; obwohl unter den Denkmälern der Baukunst wenigstens
das Breslauer Rathaus einen Platz verdient Hütte. Das Schlußwort des von
warmem Patriotismus beseelten Verfassers klingt in ein begeistertes Lob des Bürger¬
tums, namentlich des norddeutschen, der Gegenwart aus. Um dieses Lob mit unge¬
trübter Freude zu genießen, muß man freilich so manches weniger günstige Urteil
vergessen, das man im Laufe der Darstellung gelesen hat. Eines davon, ein sehr
beachtenswertes, wollen wir anführen. Eines seiner gelungensten Bilder ist das,
das er unter der Überschrift „Stilles Leben" von dem Bürgertum der ersten Hälfte
des vorigen Jnhrhnnderts entwirft; besonders die anspruchslose Tüchtigkeit des
damaligen Geschlechts hebt er hervor. Zum Teil sei diese Tüchtigkeit der Schule
jener Zeit zu verdanken gewesen. „Diese städtischen Schulmeister, vom voUöAii,
inllmus bis zum Kootor xsrvrncliws hinauf, oft — oder vielmehr in der Regel —
wahre Helden der Entsagung, was haben sie nicht für die geistige Bildung unsers
Volkes gethan! Gebe man sich keiner Täuschung hin: das Wort von der hohen
geistigen Bildung unsrer Tage ist eine leere Phrase. Wohl ist das Wissen heute
ein umfassenderes jwarum nicht umfnssender?j geworden; aber dafür hat es seine
Tiefe und Gründlichkeit und vor allem seinen stählenden Einfluß ans den Charakter
verloren, den der Unterricht in jenen Tagen von etwa 1730 bis 17S0 ausübte,
i Wirklich nur zwanzig Jahre trug?j Wer jemals alte Magistratsakten durchblättert
hat, der hat in ihnen sicher auch eigenhändige Aufzeichnungen von Kaufleuten und
Handwerkern gefunden, welche ähnliche Schriftstücke unsrer Tage bei weitem über¬
ragen, sowohl was die Gewandtheit im schriftlichen Ausdruck wie die Auffassung
der jeweiligen Verhältnisse anlangt." Obwohl überzeugter evangelischer Christ, wird
Schwebel den achtbaren unter den Erscheinungen des katholischen Mittelalters überall
gerecht. Hie und da geht er Wohl in seiner Unparteilichkeit zu weit, wie wenn
er bei der Erzählung des Kölner Aufruhrs dem Erzbischof Hanno unbedingt Recht
giebt gegen die Bürger. Daß die Reformation das deutsche Familienleben, das
deutsche Haus gegründet habe, erkennt er an; im übrigen aber,, meint er, seien die
sittlichen Früchte des geläuterten Glaubens erst zweihundert Jahre später gezeitigt
worden. Wie jedoch der verwitternde dreißigjährige Krieg die sittliche Erneuerung
gewirkt haben soll, ist nicht recht einzusehen. Ans einer richtigeren Führte scheint
uns Schwebel in seiner Geschichte der Stadt Berlin zu sein. Die absoluten Fürsten
haben Ordnung und damit wenigstens eine äußerliche Sittlichkeit hergestellt; der
große Krieg aber hatte ihnen allerdings insofern vorgearbeitet, als er das Voll
erschöpft und hierdurch gezähmt hatte.
In der Kunst der Darstellung erreicht Schwebel sein Vorbild Gustav Freytag
nicht. Aber seine Bilder aus der deutscheu Vergangenheit finden in dem vor¬
liegenden Buche inhaltlich eine wertvolle Ergänzung. Wo der Verfasser empfindet,
daß seine Darstellung an sich nicht anschaulich oder packend genug ist, da Pflegt er
mit einem Ausruf, einem Erguß seines persönlichen Gefühls n. dergl. nachzuhelfen;
da läuft ihm in dem Bemühen, die Sache recht schön zu machen, öfter eine leere
Phrase mit nnter. So sagt er auf S. 49, nachdem er von dem versunkner Schatze
der Stadt Wisby gesprochen hat: „So erzählt die Sage. Ja, wenn es gelänge,
diese Karfunkel nus der Meerestiefe zu holen! Der Glückliche würde wieder, wie
die nordische Semiramis Margaretha, die drei Kronen Schweden, Norwegen und
Dänemark, aber für immer vereinigen!" Wenn das zur Volkssage gehörte, dann
ließe man sichs gefallen; allein die Erzählung der Sage wird ja durch die vorher¬
gehende Worte deutlich geschlossen; und wie in aller Welt kommt ein moderner
Mensch dazu, solchen Unsinn vorzubringen? Tadeln ist nun freilich viel leichter
als besser machen. Wir verkenne« die Schwierigkeit der Aufgabe so wenig, als sie
Schwebel selbst, laut der Vorrede, verkannt hat. Wir weisen auf diese schwache
Seite des Buches uur in seinem eignen Interesse hin, für den Fall, daß es noch
weitere Auflagen erlebt.
Der Verfasser sucht in diesem kleinen Schriftchen nachzuweisen, daß mit den
jetzt geplanten Arbeiterschutzbestimmungen nur die alten Forderungen der Gewerk-
vereine erfüllt würden, und bekämpft die sozialdemokratische Forderung des Acht¬
stundenarbeitstages für Männer.
Die alte Geschichte, wie das Cölibat einen katholischen Pfarrer aus seiner
Kirche vertreibt, wird hier in dem schlichten, behaglich breiten und moralisirenden
Tone einer Jugendschrift vom Schlage der „Ostereier" erzählt. Das Ganze macht
so sehr den Eindruck einer Reihenfolge wirklicher Begebenheiten, daß auch solche
Nebenumstände stehen geblieben zu sein scheinen, die ein Künstler bei der Bearbei¬
tung herausgefeilt haben würde. Für Gartenlaubenleserinnen taugt der Held nichts;
er ist weder eine Feuerseele noch ein Schönheitsideal, sondern ein zaghaftes, un¬
beholfenes und etwas einfältiges Männchen und wird, nachdem ihm seine Köchin,
mit der er in Gewissensehe gelebt hatte, gestorben ist, in zweiter Ehe mit einem
Ebenbilde seiner Anna glücklicher, als er in seiner Dummheit verdient hätte, oder,
wenn man lieber will, so glücklich, wie es gewöhnlich nur den Dummen beschieden
ist. Übrigens hat die Cölibatsfrage ihre Bedeutung verloren, seitdem die Zahl der
Männer aller Stände und Konfessionen, denen der Zwang der Ehelosigkeit durch
die sozialen Zustände auferlegt wird, zehnmal so groß ist, als die der katholischen
Geistlichen. Die gesetzliche Erlaubnis, zu heiraten, nützt diesen Leuten nichts, und
wenn es ihnen dann, so um das vierzigste Jahr herum, auch die Verhältnisse
erlauben, haben sie ihre Gewissenskonflikte bereits hinter sich.
cis deutsch-englische Abkommen hat die Stadien durchlaufen, die
in England zu seiner Giltigkeit erforderlich waren, und es ist
auch anzunehmen, daß in dein Augenblick, wo diese Betrachtungen
veröffentlicht werden, die mehrfach angekündigte amtliche Denk¬
schrift erschienen sein wird, die die Gründe darlegen soll, die für die
deutsche Regierung beim Abschluß dieses Abkommens maßgebend gewesen sind.
Für den vorliegenden Zweck aber kommt es gar nicht darauf an, diese Grüude
kennen zu lernen, insbesondre auch nicht darauf, zu beurteilen, ob sie richtig
oder nicht richtig sind. Vielmehr soll die Aufgabe der nachstehenden Erörterungen
in einer allgemeinern Betrachtung bestehen, zu der die kolonialpolitische Be¬
wegung in Deutschland in den letzten Wochen Anlaß gegeben hat. Die Kolonial«
Politik im Reich ist wie manches große Werk mit unzureichenden Mitteln
begonnen und in unzureichender Weise ausgeführt und unterstützt worden; ihr
Ursprung lag offenbar in dem Überschuß nationaler Empfindung, die nach dem
glücklich beendeten Kriege und nach der Wiedererrichtung des deutschen Reiches
nicht lange Zeit brach zu liegen vermochte. Das deutsche Volk und insbesondre
die deutsche Jugend waren sich ihrer.Kraft bewußt geworden, und was das
ältere Geschlecht im Jahre 1870 geleistet hatte und womit es sich auch zu¬
frieden geben konnte, das wollte das jüngere Geschlecht ihm möglichst bald
nachthun. Nur so ist es zu erklären, wenn ganz junge Männer, die eben erst
ihre Studien vollendet hatten oder eben erst in die Armee als Offiziere ein¬
getreten waren, im Jahre 1884 den kühnen Entschluß faßten, den noch nicht
vergebnen Teil des afrikanischen Festlandes für Deutschland zu gewinnen. Es
soll ihnen auch nicht die Anerkennung versagt werden, daß sie mit kühnem
Opfermut, großer Entschlossenheit und eiserner Willenskraft das Ziel,
das sie sich vorgesteckt hatten, afrikanische Gebiete dem deutschen Einfluß zu
sichern, fast in ungeahnter Weise erreicht haben. Erst nachdem dies geschehen
war, haben die weitern Kreise der Nation für dieses Unternehmen Teilnahme
gefunden. Die nationale Begeisterung der Jugend hat die ältern Kreise mit
sich fortgerissen. Die Lust des Deutschen, in die Weite zu schweifen, fand
hier, wo die Ferne mit der nationalen Umgrenzung zusammentraf, ihre volle
Befriedigung, und es kam dahin, daß sowohl die Geschäftswelt wie die Re¬
gierung in den Strudel der kolonialen Bewegung hineingerissen wurden, und zwar,
wie man, ohne jemand zu nahe zu treten, behaupten kann, wider ihren Willen.
Was zunächst die deutsche Geschäftswelt betrifft, so war ihre Neigung,
größere Kapitalien auf Jahre hinaus in unsichern Unternehmungen zinslos
anzulegen, außerordentlich gering. Zugegeben muß hier werden, daß die
Verhältnisse der überseeischen Gebiete noch sehr zweifelhaft waren, daß nicht
bloß ihr innerer Wert noch unerforscht und verborgen lag, sondern daß es auch
nicht einmal feststand, ob und wie weit es möglich sein würde, diese Gebiete
gegenüber dem Vordringen der ältern kolonisirenden Staaten dauernd der
deutschen Macht zu sichern. Der Geschäftswelt fehlte es auch an den
geeigneten Persönlichkeiten, denen sie die Anlegung und Verwaltung ihrer
Gelder in den weiten überseeischen Gebieten hätte anvertrauen können, denn
ebenso wenig wie es im Inlande einem Kaufmann in den Sinn kommen würde,
einem eben erst von der Universität gekommenen jungen Gelehrten oder einem
tapfern Sekondeleutnant die Leitung einer großen Hnndelsunternehmung oder
einer landwirtschaftlichen Anlage zu übertragen, ebenso wenig oder vielleicht
noch weniger konnte man der deutschen .Kaufmannswelt eine solche Übertragung
in Gebieten zumuten, auf die dem Geschäftsmanne eine unmittelbare Einwirkung
ans dem Mutterlande nicht möglich war. Zu diesen sachlichen Bedenken trat
noch die unsichere Haltung der Regierung. Fürst Bismarck hatte wiederholt
erklärt, daß er kein Kolonialschwärmer sei, und daß sich die Thätigkeit der
Regierung darauf beschränken müsse, dein vorangegangnen deutschen Kaufmann
und Unternehmer mit ihrem Schutze nachzufolgen. Aber dieses Programm ist
niemals zur Durchführung gelangt. Wer vielmehr wahrheitsgetreu die ver-
schiednen Abschnitte unsrer kolonialen Bewegung schildern will, der muß
zugestehen, daß vielfach die Regierung den deutschen Kaufmann hat drängen
müssen, damit er angeblich mit seinem Unternehmen voranginge, während es
in Wahrheit ganz andre Kräfte waren, die ihn zu einem solchen Vorangehen
mit mehr oder minder freundlicher Gewalt nötigten. Alle diese Umstände
trugen dazu bei, daß die Mittel, die ans die Schutzgebiete von den kapital¬
kräftigen Beteiligten verwendet wurden, nicht ausreichend waren, daß die
Kolonialpolitik infolge der schwankenden, bald zurückhaltender, bald vorwärts
treibenden Bewegung der Regierung fortwährend ihr Antlitz wechselte, und daß
dadurch auch in denselben Kreisen, die imstande und bereit gewesen wären,
mit ihren Mitteln einzugreifen, das Vertrauen sehr erschüttert wurde. Der
Kampf mit England um den Besitz in Ostafrika spielte dabei die Hauptrolle.
Zuerst war es nur gelungen, weit entfernt von der Küste, im Innern einzelne
Gebiete für die deutsche Kolonialpolitik zu gewinnen. Die Regierung wünschte
natürlich, daß diese Gebiete nicht brach liegen blieben, sondern wirtschaftlich
verwertet würden; die Folge davon war, daß sich die Ostafrikanische Gesell¬
schaft bemühte, im Innern Plantagen anzulegen und Stationen zu errichten,
deren Zweck lediglich die Erzielung tropischer Produkte war. Von einer
Verwertung konnte aber gar keine Rede sein, da die Berkehrsverbindung mit
der Küste so viel Zeit in Anspruch nahm, daß auf einen lohnenden Absatz der
gewonnenen Erzeugnisse in dem gegenwärtigen Menschenalter nicht hätte ge¬
rechnet werden können. Die geringen Mittel, die die nationale Begeisterung
zusammengebracht hatte, waren bald zu Ende; die Ostafrikanische Gesellschaft
wäre zweifellos finanziell zusammengebrochen, wenn es nicht inzwischen der
Einwirkung der Regierung gelungen wäre, auch angesehene Geschäftsleute für
das Unternehmen zu gewinnen. Dieses erhielt eine ganz andre Gestalt, als es
der deutschen Ausdauer wie dem Drängen der Regierung möglich war, einen
günstigen Pachtvertrag mit dem Sultan von Sansibar abzuschließen, der die
bis dahin schwer entbehrte Küste in einen thatsächlich dauernden deutschen Besitz
brachte. Alles, was bisher im Innern aufgewendet worden war, war fruchtlos
aufgewendet, denn mit dem Erwerb der Küste war es notwendig, das Schwer¬
gewicht auf die Erhebung der Zölle und deu Betrieb von Handel zu legen.
Aber auch hier wurden zunächst ungeheure Summen vergeblich aufgewendet,
denn die afrikanische Sonne hat leider auch die Eigenschaft, daß das
europäische Geld in den Taschen der Afrikareisenden wie Schnee schmilzt; man
machte die Erfahrung, daß mehr als einer der dortigen Beamten zwar ein
außerordentlich tapferer Mann und ein ebenso guter Patriot, aber ein sehr
schlechter Rechner und Finanzmann war. Es zeigte sich bald die Notwendigkeit,
daß an die Stelle der tapfern Männer, die in das Innere vorgedrungen waren,
Verträge und Blutsbrüderschaften abgeschlossen hatten und von einem neuen
ostafrikanischen Reich träumten, der nüchterne deutsche Geschäftsmann trete,
der es nicht bloß verstünde, im nationalen Interesse und mit patriotischer
Begeisterung sehr viel Geld auszugeben, sondern auch den Grund zu legen
zu einer wenn auch erst zukünftigen Nutzbarmachung des Gebietes. Alle
Anstalten waren auch dazu getroffen, als der Aufstand in Ostafrika auf-
band und nicht nur den bereits erworbenen Besitz, sondern mich alle
Hoffnungen gründlich zerstörte. Es soll hier nicht auf die Frage eingegangen
werden, was den Anlaß zu diesem Aufstande bildete. In den Zeitungen,
in Parlamenten und in Versammlungen ist das Für und Wider zum Überdruß
erörtert worden; Thatsache aber ist, daß die Ostafrikanische Gesellschaft nichts
unternommen hat, ohne von dem damaligen deutschen Generalkonsul beraten
zu sein, und daß, wenn wirklich Mißgriffe vorgekommen sind, diese in gleicher
Weise den Vertretern der Gesellschaft wie denen der Regierung zur Last fallen.
Das eine Gute hatte aber doch der Aufstand bewirkt, daß die öffentliche
Meinung in Deutschland sich mehr und mehr für die ostafrikanischen Besitzungen
erwärmte, daß die nationale Gesinnung sich die religiösen und braunen
Empfindungen des Volkes zu verbinden verstand, unc> daß auch die Vertretung
der Nation sich genötigt sah, die Mittel zu bewilligen, die zur Dämpfung des
Aufstandes erforderlich waren. Aber es zeugte immer noch von dem geringen
Vertrauen, das sowohl Regierung wie Reichstag in die Sache setzten, daß
sie beide die eigne Verantwortung möglichst einzuschränken sich bemühten.
Ohne irgend eine nähere Organisation wird lediglich eine Summe bewilligt
und einem Reichskommissar gegeben, damit er nach eignem Gutdünken
und auf eigne Faust Ruhe und Ordnung wieder herstelle. In unserm Jahr¬
hundert militärischer Disziplin, in dem Musterstaate europäischer Kriegsmacht
wird plötzlich nach alter Landsknechtsart die Werbetrommel gerührt, und aus
die Fahne eines berühmten Afrikareisenden schwören zahlreiche junge Männer.
Die Wahl des Majors von Wißmann zeigte sich bald als eine außerordentlich
glückliche; er hat die Aufgabe, die ihm gestellt war, erfüllt und Friede und
Ordnung an der Küste des ostafrikanischen Festlandes wieder hergestellt. In¬
zwischen war es gerade während dieser militärischen Operation klar geworden,
wie unsicher und zweifelhaft die Rechtsverhältnisse an dieser Küste waren.
Unter der nomineller Hoheit eines afrikanischen Sultans befehligte ein deut¬
scher unabhängiger Feldhauptmann, regierten die Beamten einer deutscheu
Kvlonialgesellschaft und manövrirten die Schiffe Seiner Majestät des Kaisers
im Verein mit englischen Geschwadern. Die Emin-Pascha-Expedition, die
im Zusammenhang mit der Kolonialpolitik Gegenstand nationaler Erregung
in Deutschland wurde, hatte weitere Sehnsucht erweckt, den deutschen Einfluß
in das Innere Afrikas zu erstrecken. Dies hatte die Nebenbuhlerschaft
englischer Gesellschaften hervorgerufen, eine Expedition jagte die andre, Ver¬
treter von deutschen und englischen Gesellschaften suchten einander den Rang
abzugewinnen in dem Abschluß fragwürdiger Verträge mit ebenso fragwürdigen
Häuptlingen, in Blutsbrüderschaften und dergleichen, und das deutsche Volk
erregte sich mehr und mehr an den Thaten seiner afrikanischen Helden und
verfolgte sie mit demselben Interesse, wie die Jugend den Erzählungen über
Christoph Kolumbus und Vasco da Genua lauscht. Mit wahrer Genugthuung
berichteten die Zeitungen, wenn es wieder gelungen war, durch einen solchen
Vertrag Tausende von Quadratmeilen für Deutschland zu erwerben, lind jeder
Pinselstrich, der quer durch Afrika den Abschluß einer solchen Erwerbung be-
zeichnete, galt als die Vesiegelung eines verbriefte» Besitzes. Man machte
sich nicht ernstlich klar, daß eine Kolonisation nur im großen Stile getrieben
werden kann, und daß nur von der Aufwendung großer Kapitalien Erfolg zu
erwarten, möglich ist. Diese Kapitalien aber fehlten, da es ganz unmöglich
war, daß überall der deutsche Unternehmungsgeist hätte folgen können, wohin
Thatendrang und Abenteurerlust vorausgegangen war. Das Sprichwort, daß
die Völker büßen müssen, was die Könige thun, galt auf dem Gebiete der
Kolonialpolitik in timgekehrtem Sinne, denn die Regierungen mußten es tragen,
was die koloniale Begeisterung der Vevölkeruugeu anrichtete. Auf allen Seiten
des afrikanischen Kontinents, wo Deutschland festen Fuß gefaßt hatte, gab es
zwischen Deutschen und Engländern Händel, und die Regierungen, die nicht
bloß für Afrika, sondern auch für Europa zu sorgen hatten und insbesondre
für die Aufrechterhaltung des europäischen Friedens bemüht waren, gerieten
mehr und mehr in Reibungen und Konflikte. Selbstverständlich blieben auch
diese Verstimmungen den weitesten Kreisen nicht unbekannt, und auch dies war
ein Grund, weswegen in Deutschland das Kapital, das fiir solche Bewegungen sehr
feine Nerven hat, sich mit großer Vorsicht zurückhielt. Die Kvloninlpvlitik war
dahin gekommen, daß einerseits in Europa der Friede seine sichere Grundlage
zu verlieren schien, und daß anderseits in Afrika der deutsche Besitz bestritten
und angezweifelt wurde. Ein längeres Zuschauen war hier nicht mehr möglich,
die Regierung mußte aus ihrer neutralen Stellung heraus, und sie hat in dem
englisch-deutscheu Abkommen eine feste Stellung zu erringen gewußt. Es ist
hier uicht der Ort, zu untersuchen, ob eS möglich gewesen wäre, fiir Deutsch¬
land einige tausend Quadratmeilen unerforschten Landes in Afrika mehr her¬
auszuschlagen, als geschehen ist. Aber zweifellos ist, daß damit für Deutsch-
land ein so großer Besitz in sichern und nnangezweifelten Grenzen erworben
worden ist, daß dem deutschen Unternehmungsgeist und dem deutschen Kapital auf
mehrere Menschenalter hin ein weiter, gesicherter Spielraum zu reichster Ent¬
faltung der Kräfte geblieben ist; und für mehr zu sorgen, als für Menschen-
nlter hinaus, wird man unter den gegenwärtigen Verhältnissen keiner Regie¬
rung zumuten können. Was einmal geschehen wird, wenn diese Interessengebiete
die heute nach Breitengraden abgesteckt sind, wirklich der Menschheit durch
Kolonisation und ernste Arbeit zugänglich gemacht sind, das darf man getrost
der Zukunft überlassen. Wer wird voraussehen wollen, was dann Europa
und Afrika für ein Antlitz zeigen, und wer möchte nicht auch noch den künftigen
Geschlechtern etwas zu thun übrig lassen? Vorläufig genügt es, daß auf weite
Länderstrecken hin dem deutscheu Einfluß kein Gegner entstehen kann, und daß
deutsche Arbeit in ihrer Mühe gesichert bleibt, sowie daß deutsches Kapital
angelegt werden kaun ohne die Besorgnis, daß die Ergebnisse deutschen Fleißes
und deutscher Mittel nicht dem eignen Stamme zu gute kommen werden.
Trotzdem soll nicht gestritten werden mit denen, die mit diesem Abkommen
nicht zufrieden sind, Sie besitzen vielleicht das Geheimmittel, wodurch mehr
Hütte erreicht werden können. Aber unerhört ist es, daß man den Abschluß
des Vertrages von manchen Seiten so bezeichnete, als ob die Festung Metz
den Franzosen ausgeliefert worden wäre, ja daß man die Regierung Kaiser
Wilhelms II-, dessen koloniefreundlichc Gesinnung außer Zweifel steht, mit den
schwersten Vorwürfen überschüttete. Es hat dies gezeigt, daß die nationale
Empfindung, die unsre Kolonialpolitik bisher getragen hat und, wenn sie weiter
lebenskräftig bleiben soll, auch tragen muß, nicht frei vou schweren Aus¬
schreitungen geblieben ist. Ohne koloniale Begeisterung des Volkes ist es
für ein Land unmöglich, Kolonialpolitik zu treiben; mit der kolonialen Be¬
geisterung allein aber kann keine Kolonialpolitik betrieben werden. Eine
solche ist nur möglich unter Wahrung des allgemeinen Friedens, mit der Auf¬
wendung großer .Kapitalien und mit einer nüchternen, sparsamen Leitung der
Geschäfte, sowie mit kaufmännisch gebildeten Unternehmungen. Mit bloßen
„Resolutionen" in erhitzten Volksversammlungen ist es nicht gethan; erregte
Zeitungsartikel gewinnen der deutschen und christlichen Zivilisation nicht
einen Fuß breit unkultivirten Landes; der Thatendurst junger Männer darf
besonnenen Erwägungen nicht den Vorrang ablaufen. Mit demselben Recht,
mit dem Versammlungen angesehener Männer der Regierung die bittersten
Vorwürfe gemacht und die Nation aufgefordert haben, mit allen Kräften gegen
das englische Abkommen zu wirken, mit demselben Rechte können sozialdemo-
kratische Versammlungen die Abschaffung des Eigentums und Vernichtung der
bestehenden Gesellschaftsordnung verlangen. An die Stelle blinder Kvlvnial-
schwärmerei muß eine klare Kolouicilpolitik treten, wenn wir nicht unsern
Gegnern in die Hände arbeiten und durch die maßlose Verfolgung phantastischer
Pläne das bisher errungene aufs Spiel setzen wollen. Kein Mensch kann
mehr essen und trinken, als sein Magen verträgt, und keine Nation kann mehr
Länder erwerben, als sie zu kolonisiren vermag. Freilich dieses Kolvnisircn
ist eine ernste Arbeit, die weder am Klubtische uoch in Volksversammlungen
gethan wird, die auch in Festkommersen und Hurrarufen nicht ihren Zielpunkt
sieht. Den Männern wie Kolumbus und Vasco da Gama, die mit ihren
Thaten mit Recht die Welt erfüllt haben, muß die stille und unscheinbare
Arbeit der namenlosen Männer folgen, die mit Pflug und Hacke, in der Fak¬
torei und auf den Flüssen, als Missionäre und Vüreaubeamten thätig sind,
deren Werke aber den künftigen Geschlechtern, die an Stelle wüster Lnndereien
fruchttragende Fluren sehen werden, erkennbar sind. Vor allem wird es jetzt
darauf ankommen, daß dein Kriegszustande, wie er bisher an der ostafrikanischen
Küste geherrscht hat, ein Eude gemacht, daß dieser in friedliche Verhältnisse
übergeleitet werde. Denn es kann sich nicht darum handeln, in Ostafrika eine
Militärkolonie zu gründen und während der Friedenszeit in Europa die Pflege
kriegerischen Geistes an die ostnfrikauische Küste zu verlegen. An die Stelle
des Schwertes muß jetzt Bibel und Pflug treten, und es muß mit allen
Mitteln gesucht werden, daß die kostspielige militärische Verwaltung in eine
sparsame und ordnungsgemäße übergeleitet werde, wie dies deutsche Art und
Gewohnheit seit Jahrhunderten ist. Denn nur Ordnung und Sparsamkeit
haben Preußen groß und fähig gemacht, in einem einigen Deutschland auf¬
zugehen. Es ist unmöglich, daß nnr für die nächsten Jahre gleich hohe
Kosten ans die ostafrikanische Küste, wie bisher, verwandt werden. Nach der
gegenwärtigen Zusammensetzung des Reichstages ist auch nicht zu erwarten,
daß gleiche Bewilligungen erfolgen. Wer es also mit dein Erwerb von Ost¬
afrika durch Deutschland ehrlich meint, der muß sich bestreben, dahin zu wirken,
daß diese Kosten sich verringern, und daß dem deutschen Kaufmann und dem
dentschen Pflanzer eine Zeit lang gegönnt werde, nun die bewaffnete Macht nach
Möglichkeit abzulösen. Dann wird eine Periode kommen, wo die Zeitungen
vielleicht weniger von Ostafrika werden zu berichten haben, wo aber bei
ruhiger Arbeit das erhalten werden kann, was uns der jugendliche Mut deutscher
Männer erworben und erhalten hat.
Die Ausschreitungen auf dem Gebiete der Kolonialpolitik, wie sie sich in
den letzten Wochen ereignet haben, zeigen zu unserm Bedauern, daß das
politische Urteil in Deutschland noch nicht auf der Höhe steht. Ist es doch
vorgekommen, daß ganz ernstlich der Krieg mit England gepredigt wurde,
genügt es doch schon, daß eine Reise nach Sansibar den Reisenden sofort zum
Fachmann stempelt, dessen Urteil das allein maßgebende sein darf, hat es doch
ab und zu den Anschein, als ob die Thaten unsers Heeres im Jahre 1870
in deu Schatten gestellt würden durch die Streifzüge gegen Vuschiri und dessen
wilde Araberhorden. Bei aller Anerkennung der tapfern Thaten des Majors
von Wißmann und feiner Leute scheint es angemessen, um die Begriffe nicht
weiter zu verwirren, auch ein gewisses Maß zu üben und namentlich nicht aus
dem Auge zu verlieren, daß das deutsche Volk neben den t'oloninlpvlitischeu
Interessen auch noch andre zu verfolgen hat, und daß, wenn die Regierung
gezwungen werden sollte, all den maßlosen Forderungen nachzugeben, die vou
den Kvlvnialphantasten gestellt worden sind, der Zerfall des Reiches eine not¬
wendige Folge davon sein würde. Welcher Widerspruch würde sich erheben,
wenn der Landwirtschaftsrat den Anspruch machen wollte, daß nicht die Re¬
gierung, sondern er allein die Entscheidung in landwirtschaftlichen Fragen hätte,
und welcher Sturm würde entstehen, wenn die Handelskammern und nicht die
Regierung mit den gesetzgebenden Faktoren den Zolltarif festsetzen wollten.
Aber daß ein Kolonialrat nicht bloß sein Gutachten abzugeben, sondern noch
mehr als ein Parlament die ausschließliche Entscheidung haben soll, das wird
mit einer staunenerregenden Unbefangenheit in öffentlichen Blättern mit Ernst
verkündet und jeder Afrikareisende schon durch diese seine Eigenschaft zum
genialen Staatsmann und Verwaltungsbeamten gestempelt. Nur eins haben
diese beklagenswerten Ausschreitungen gelehrt, daß wir uns glücklich schätzen
können, eine kraftvolle Negierung zu haben, die sich nicht bloß gegen ihre
Gegner, sondern auch gegen verblendete Freunde zu wehren und die Zügel
fest zu führen vermag. Hätte sie den erregten Äußerungen der irregeleiteten
öffentlichen Meinung nachgegeben, dann würden hente unsre Kolvnial-
schwcirmer sich über die Frage klar sein, ob es besser sei, das wertlose Gebiet
um den Ngnmisee und die im Verhärten begriffene Walfischbai, ja selbst das
immer noch wenig bekannte Königreich Uganda zu besitzen oder einen Krieg
mit England zu führen, denn dahin zielten doch zuletzt die kolouialpolitischeu
Strömungen ab. Wenn gegenüber diesem unbegreiflichen Gebaren die Gegner
der Kolonialpolitik nicht den Sieg davon tragen, sondern wenn es noch ge¬
lingt, trotz dieser Anfeindungen von beiden Seiten eine kräftige Kolonialpolitik
für die Zukunft zu sichern, so wird dies das Verdienst der so sehr verketzerten
Negierung unter der Leitung des Herrn von Caprivi bleiben. Einer
Kolonialpolitik bedarf unser deutsches Volk, wenn es nicht seine Stellung
im Wettbewerb der Völker verlieren soll. Aber diese Kolonialpolitik ist
eine ernste Arbeit, die mit Umsicht geleitet, mit Kraft durchgeführt und
mit Geduld getrieben werdeu muß. Nicht von dein Strohfeuer augen¬
blicklicher Begeisterung darf sie abhängen, sondern sie muß auf der festen Grund-
lage einer dauernden Überzeugung stehen. Nicht blindlings und einseitig darf
darnach gestrebt werden, auf der Landkarte weite Gebiete zu erwerben, sondern
unter Berücksichtigung der politischen Lage, unter Abschätzung der verwendbaren
Mittel und Kräfte muß planmäßig und mit Vertrauen vorgegangen und das
Erworbene auch ernstlich für die Kultur verwertet werden. Eine solche
Kolonialpolitik ist bisher von Deutschland nicht betrieben worden. Nationale
Begeisterung hat sie geschaffen, aber sie hat weder in den wirtschaftlichen
Kreisen noch bei der Regierung bisher die erforderliche Unterstützung gefunden
und auch nicht finden können, weil die Vorbedingungen fehlten, die in der
Sicherheit des Besitzes und in dessen Beherrschung liegen. Diese Sicherheit
ist durch das deutsch-englische Abkommen geschaffen. Jetzt wird es sich zeigen,
ob in dem deutschen Volke so viel Kraft an Männern und Mitteln übrig ist,
daß die Kolonialbewegung von der Begeisterung in die Arbeit übergeleitet
werden kann. Der Negierung wird man jetzt nicht mehr den Vorwurf machen
können, daß sie nicht ihrerseits alles gethan habe, um dem deutscheu Unter¬
nehmungsgeist die Wege zu ebnen. Die Kolonialpolitik hat aber noch mit
sehr mächtigen Gegnern, namentlich im Reichstage, zu kämpfen. Diese
werden die Ausschreitungen der letzten Wochen nicht überzeugt, vielmehr in
ihrer Gegnerschaft bestärkt haben. Denn wenn man selbst von den Verun¬
glimpfungen und Verleumdungen absieht, mit denen in Versammlungen und
Presse die Negierung des Kaisers überschüttet worden ist, so wird man doch
geringes Vertrauen in die Einsicht derer setzen können, die Kolonialpolitik
losgelöst von den europäischen Machtstellungen treiben wollen, gleich als ob
Deutschland von dem Lärm der Welt fern im stillen Ozean läge. Es liegt
ferner darin eine Gefahr, daß unsre Kvlonialpvlitiker die öffentliche Meinung
schon so weit beherrschen, daß sie wegen einiger Quadratmeilen unentdeckten und
unerforschte« Landes eiuen europäischen Krieg heraufbeschwören wollen. Es ist
aber auch ein Trost dabei — und mit einen, solchen wollen wir diese wenig er¬
freulichen Betrachtungen schließen. Diese Ausschreitungen haben einen Beweis
von dein kräftig gewordnen Nationalgefühl des deutschen Volkes erbracht,
sodaß, wer da glauben wollte, er könne sich ungestraft an dem berechtigten
Besitz der Nation vergreifen, schwer irren würde. Wehe dein, der daran
rütteln sollte!
le Verhandlungen der Landesvertretung von Elsaß-Lothringen
können, wenn auch nicht an sich, so doch der besondern Stellung
des Landes wegen ein allgemeineres Interesse in Deutschland
beanspruchen, als das, das sonst die Gesamtheit den häuslichen
Angelegenheiten irgend eines Bundesgliedes widmen mag. Das
Reichsland ist ja in einer ähnlichen Lage wie die gemeinschaftlichen Vororte der
Eidgenossenschaft oder wie die niederländischen Generalstaatslande, an deren An¬
gelegenheiten die Gesamtheit Anteil nahm. Aber davon abgesehen, hat man
im Reiche, obwohl man ans dem Reichslnndc, wie im alten Rom ans Ägypten,
fortwährend Neuigkeiten, aber selten erfreuliche, erfährt, doch ein Herz dafür,
ob denn nicht doch zeitweise die nationale Aufgabe im Lande einen wahrnehm¬
baren Ruck nach vorwärts macht, und sei es auch nur auf dem Gebiete der
Interessen; denn die Zufriedenheit mit den äußern staatlichen Lebensbedingungen
bildet doch schließlich die Grundlage für einen innern nationalen Anschluß, auf
den wir dann getrost warten können.
Diese Vorbedingung der Aussöhnung mit dem Geschick ist zunächst durch
die Landesfinanzen, die doch als der Gesamtansdruck des Gesundheitszustandes
eines Landes betrachtet werden können, vollauf erfüllt, und Unterstaatssekretär
v. Schrank war in der angenehmen Lage, um die ihn fo mancher deutsche
Amtsgenvsse beneiden könnte, bei Beginn der Verhandlungen der letzten Landes-
ausschußtagung sehr erfreuliche Eröffnungen machen zu können. Bei einem
staatlichen Gesamtauswande von rund 47000000 Mark schließt das Rechnungs¬
jahr 1888/89 mit einem verfügbare» Überschusse von 1!Z77000 Mark ab; vom
Abschlüsse für 1889/90 konnten weitere W00000 Mark in Aussicht gestellt
werden, woraus in Wahrheit mehr als drei Millionen wurden; wenn auch die
Überweisungen des Reiches aus Steuern und Zöllen einen erklecklichen Beitrag
zu diesem günstigen Ergebnis liefern, so haben doch anch die gesteigerten eignen
Einnahmen des Landes und zwar aus den direkten Steuern, insbesondre der
Patent- (Gewerbe-) Steuer, aus dem Enregistrement, aus den Forsten, aus den
Abgaben für Bier u. s. w. ihren Anteil zu diesem Ergebnis geliefert, das gleich
bei Eröffnung der Beratungen angenehme Aussichten auf die Verteilung voll
Zuschüssen und Unterstützungen zur Förderung von Unternehmungen und Be¬
strebungen aller Art eröffnete. Seit Jahren bereitet der die Verhandlungen
einleitende Rechenschaftsbericht des Finanzleiters ein gewisses Grnndbehagen
unter unsern Landbvten; doch lassen sie sich durch diese beruhigenden Mittei¬
lungen niemals bestechen oder ihr Recht verdummen, freimütig ihr Urteil über
die allgemeine politische Lage oder über wahrgenommene besondre Mängel der
Verwaltung abzugeben. Protest treibt man im Landesansschusfe nicht, das
wird bei den Reichstagswahlen und im Reichstage besorgt; dennoch rückt man
mitunter der Regierung scharf zuleide, und gar oft hallte der Saal von den
donnernden Warnungen des Stadtpfarrers von Mülhausen wieder, des Reichs-
tagsabgeordneten Winterer, der der Regierung ins Gewissen redete, wie sie
dnrch Unterschätzung und Vernachlässigung des Einflusses der Kirche, dieses
begehrenswerter Bundesgenossen im Kampfe wider die Svzialdemvkrntie, auf
unfehlbare Mittel zur Beschwörung der die Gesellschaft bedrohenden Gefahren
in unseliger Verblendung verzichte. Man konnte dabei sogar den Eindruck ge¬
winnen, als ob die katholische Kirche nicht aus eignen Antriebe, sondern je
nach Wohlverhalten des Staates ihre Hilfsmittel erschließe oder sperre. Die
letzten Reichstagswahlen in Mühlhausen, bei denen der vom katholischen Klerus
unterstützte Protestler gegen einen Sozialisten unterlag, scheinen der zur Schau
getragenen dreisten Zuversicht der Kirche in Mülhausen doch einen Stoß ver¬
setzt zu haben; seitdem hat auch niemand davon gehört, daß die Mitglieder
der katholischen Jünglingsvereine oder der Bruderschaft zum heiligem Josef bei
der Arbeitseinstellung im Oberelsaß warnend oder rettend eingegriffen hätten.
Der Stadtpfarrer von Mülhcinsen ist auch diesmal nicht mit jener apostolischen
Sicherheit aufgetreten, die uns sonst an ihm gefiel, und der Versuch, die Re¬
gierung dafür verantwortlich zu machen, daß hurtige Gendarmen aus dein
Wahlkreise des Herrn Pfarrers den einen oder andern Zettelträger uuglimpflich
angefaßt hätten, verlief recht kläglich. Woran liegt es überhaupt, daß, während
in frühern Jahren der Regierung bald von elsässischen, bald von lothringischen
Rednern bei jeder Gelegenheit gründlich der Text gelesen wurde, während die
schönsten Vorlagen so häufig bemängelt wurden, und die Gegner, wenn es nicht
anders ging, nur mit grämlichen Vorbehalte zustimmten, heute der Regierung
nur noch i» herabgestimmter Tonart ins Gewissen geredet wird, gerade als
ob ein Rufer in der Wüste durch andauernde Mißerfolge verdrossen geworden
wäre? Liegt es daran, daß verschiedne stets kampfesfrohe Gegner von der
Bildfläche verschwunden sind, oder daran, daß das anfängliche Mißtrauen
gegen die Negierung sich gemindert hat, oder endlich daran, daß die Einfüh¬
rung der deutschen Sprache die allgemeine Redelust eingeschränkt hat? Wir
wollen die Frage auf sich beruhen lassen und uns mit der Thatsache begnügen,
daß die Verhandlungen des Landesausschusses in den letzten Jahren an Zug¬
kraft eingebüßt habe», während früher wenigstens die erste Lesung des Etats
alljährlich ein kleines mit Spannung erwartetes und vielfach besprochenes Er¬
eignis bildete. Nur ab und zu ereignet es sich, daß ein Abgeordneter glaubt,
es sich und der Mitwelt oder doch der Nachwelt schuldig zu sein, daß er dieser
verstockten deutschen Regierung den Mahnruf zudvnnert: „Schüstizia est fon-
damentöm reguorvm!" als ob in der ehemaligen Prnfektur zu Straßburg, wo
nach der Dichtung Rückerts die alte Vvgesentanne unwillig über die Fremd¬
herrschaft krachte, heute noch statt des liebenswürdigen Fürsten v. Hohenlohe
ein Herzog Alba walte. Es ist aber auch gar nicht so schlimm gemeint; solche
Phrasen verfangen auch uicht mehr; deun im Stillen denkt sich doch jeder, daß
es sich „im Ländel" unter deutscher Verwaltung gar nicht schlecht lebe. Es
ist aber nicht zu verkennen, daß, seitdem die deutsche Geschäftssprache eingeführt
ist, die französische Presse sich nur uoch notdürftig mit unsern Kcnnmerver-
hnndlungeu beschäftigt; seitdem ist auch eine gewisse Sorgfalt in Haltung und
Rede, ein gewisser höherer Schwung, insbesondre die Phrase verschwunden.
Die Zuhörerschaft für die früher zum Fenster hinaus gesprochenen Reden fehlt
ja jetzt; Deutschlands wegen giebt man sich keine Mühe, man fühlt sich mehr
unter sich, und im Lande selbst würden in deutscher Sprache vorgetragene
Klagen über himmelschreiende Bedrückungen doch sofort als Übertreibungen
empfunden werden. Vor vielen Jahren hörten wir von einem vertraueus-
werten Zeugen eine Geschichte erzählen, die sich am Hofe des Königs Max I.
von Baiern zutrug, der seinerzeit in Straßburg als Oberst des Regiments
UvM-^lsg-vo gelebt hatte. Der junge bairische Graf N, der von der damals
noch üblichen Bildungsreise in Frankreich heimgekehrt war, glänzte am Hofe
in München durch die erstaunliche Fertigkeit, mit der er über Nichtigkeiten die
artigsten französischen Worte zu drechseln und die Zuhörer zu blenden ver¬
stand. Der alte Graf N, ein Urbaier, wortkarg und von einfacher Art, unter¬
brach einmal, empört über die Entartung des Sprößlings, den Wortschwall:
„Xaverl, sag amol dös auf gut boarisch." „Ach, warum nicht gar, widersprach
gutmütig der König, da würde ja kein Mensch dem Xaverl auch uur ein Wort
glaube«; das Feuerwerk ist abgebrannt, was wollen Sie noch nach den leeren
Hülsen suchen?" Ernster werdend fügte der König bei, er habe bei Ausbruch
der Revolution eine eigentümliche Erfahrung in seiner elsüssischen Grafschaft
Rappoltstein gemacht. Als die Einheimischen anfingen von „de Menscherachte"
und von „de grüßante Dirranne" zu sprechen, da seien sie von den Lands-
leuten einfach ausgelacht worden; als aber die vom Konvent geschickten Redner
französisch zu donnern anfingen, da hätten die Leute geglaubt mitmachen zu
müssen, wenn auch nur meist, um ihren höhern Bildungsgrad zu beweisen
und um nicht ausgelacht zu werden.
Mit der französischen Sprache ist nur zwar die Phrase aus den Ver¬
handlungen des Landesausschusses verschwunden; einige Neste dieser Gewöh¬
nung bekommen wir aber doch manchmal auch noch in deutscher Sprache zu
hören. In keiner Volksvertretung der alten Welt kaun man so oft von „mut-
voller Verteidigung der Interessen," von „Kämpfen für einen Grundsatz," von
„unermüdlicher Ausdauer" u. s. w. reden hören. Alle Wahlprogramme bis
hinunter zu den Kreistagen strotzen von solchen heldenmütigen Redensarten;
damit meint aber der eine eine Straßenbahn, der andre deckt das Schild über
die heimliche allgemeine Hypothek, und ein Dritter zuckt das Schwert für nor¬
mannische Hengste. Das sind nur rudimentäre Reste aus einer frühern Zeit,
wo man gegen eine cäsarische Tyrannei ankämpfte. Die Hauptsache ist, daß
mit der Einführung der deutschen Geschnftssprache die Lust an der Besprechung
politischer Angelegenheiten, wie Diktaturparagraph, Sprachzwang n. s. w. ge¬
schwunden ist, womit man sonst in Frankreich Ruhm erntete. Der früher
drüben hinter den Vogesen stets bereite Beifall wird aber jetzt verkümmert
durch die Mühsal der Übersetzung. Wenn das französische Publikum durch
die deutsche Kammersprache den Reden und Verhandlungen immer weiter ent¬
fremdet werden wird, daun wird wohl einmal der Zeitpunkt eintreten, wo man
sich in Paris für die Beratungen des Landesansschusses von Elsaß-Lothringen
ungefähr ebenso erwärmen wird, wie für Zänkereien im Gcneralrate des De¬
partements Morbihan wegen ungerechter Verteilung der Unterstützungen für
Wegebauten. Es läßt sich nicht verkennen, daß die Verhandlungen des Landes¬
ausschusses immer mehr den Charakter einer nüchternen und kühlen, sachlichen
und prunklvsen Interessenvertretung gewonnen haben. Der Statthalter Fürst
v. Hohenlohe konnte die Sachlage und die vorliegenden Bedürfnisse nicht
treffender kennzeichnen als durch sein Programm: „Die beste Politik ist eine
gute Verwaltung." Die dadurch in Aussicht gestellte ehrgeizlose schlichte Pflicht¬
erfüllung entspricht dem nüchternen praktischen Sinne des Volkes, der im
Grunde doch noch vorherrscht. Die Aufgabe, die dem Lande gestellt ist, ist
kein politisches, sondern ein Arbeitsprvgramm. Wie der Reichskanzler v. Ca-
privi mit dem glücklichen Worte, daß seine Politik im Reiche wohl langweilig
sein werde, den Beginn eines Zeitabschnittes der innern Sammlung und ruhigen
Ansreifens angekündigt hat, so hat auch Fürst v. Hohenlohe durch sein Pro-
gramm der Beschäftigung mit den unabweislichen eignen Angelegenheiten das
Land in die Bahn einer ruhigen, gedeihlichen Entwicklung aus der unruhigen
Strömung hinübergeleitet, in die es durch die tastende und hastende, nach
augenblicklichen Erfolgen oder Blendwerken jagende Politik des Amtsvvr-
gnngers geraten war- Im Reichslande zeigen sich bereits die Früchte dieser
Verwaltungspolitik, und wir können daraus Wohl eine günstige Vorbedeutung
schöpfen, daß unter gleichen Vorbedingungen der Gang der Dinge auch im
Reiche ein gleicher sein wird-
Der Grundzug der Langenweile, dessen Vorherrschen in den reichslän-
dischen Angelegenheiten wir wie im Reiche als einen wahren Segen begrüßen
müssen, beeinträchtigt nun allerdings auch die Aufgabe des Berichterstatters.
Im Reiche wird man auch wenig Teilnahme dafür finden, in welcher Art sich
das Reichsland innere Verwaltungsanfgaben zurechtlegt, wie die Bildung von
Genossenschaften zur Anlage von Feldwegen, die Haltung von Zuchtstieren, die
Ausübung des Gewerbes der Hufschmiede, Entschädigung bei Viehverlnsten
durch Milzbrand, die Viehvcrstellung, Vogelschutz und Fischereifrevel, Unter-
bringung verwahrloster Kinder oder die Rechtsverhältnisse der Professoren an
der Kaiser-Wilhelm-Universität Straßburg; aber im allgemeinen kann man sich
doch dafür interessiren, wie das Reichsland unter der fürsorgenden Leitung der
Regierung in den Kreis deutscher Rechtsanschauungen wenn auch zögernd ein¬
tritt oder sich auf die Höhe der Verwaltungsgrundsätze deutscher Nnchbarstaateu
aufschwingen oder überhaupt sich daheim behaglich, mitunter vielleicht etwas
eigenartig einrichten will. Von diesem Standpunkt ans können wir es dem
Landesansschusse mich nicht sonderlich verargen, daß er die beiden von der
Regierung eingebrachten Gesetzentwürfe über die Einführung von Grundbüchern
und über Kosten in Grundbuchsachm, wem, auch nicht grundsätzlich abgelehnt,
so doch zur nochmaligen Beratung in der nächsten Session verwiesen hat. Wer
den Segen kennt, der in dein Besitz eines einheitlichen und gemeinverständlich
verfaßten Gesetzbuches liegt, der wird auch begreifen, daß man sich schwer
davon trennt: selbst die der Verbesserung bedürftigen Bestimmungen haben
immerhin den Vorteil vor dem Neuen voraus, daß sie Bestandteil der Nechts-
kenntnis des Volkes, daß sie Gemeingut geworden sind. Es ist ferner nicht
nur die Scheu vor Änderungen überhaupt, sondern auch die mangelhafte Ver¬
trautheit mit dem Gegenstande selbst, die hier hemmend wirkt. Nicht einmal
über Bedeutung und Tragweite der Sache besteht Übereinstimmung zwischen
den deutsch geschulten Juristen und den praktischen Geschäftsleuten des Landes,
wo der persönliche Kredit in erster Linie gilt, sachliche Sicherheit aber erst als
Notbehelf gesucht oder angeboten wird — nach dem Grundsatze: laut vaut
1s tora guiz vaut 1'doraus, während in Deutschland sich das Vertrauen mehr
der sachlichen Sicherheit zuwendet und die Hypothek die gewöhnliche Art der
Geldanlegnng bildet. Es mag ja sein, daß hie und da der Wunsch leitend
ist, die von Frankreich stammenden Einrichtungen für alle Fälle in unberührtem
Zustande zu erhalten; es machte anch in der That den Eindruck, als ob man
sich den Wünschen der dentschen Regierung gegenüber wählerisch und vornehm
verhielte, als wäre man auf dem Gebiete der Gesetzgebung an bessere Kost
gewöhnt; aber im ganzen und großen können wir wohl annehmen, daß die
Ablehnung der Einladung zum ersten Schritte zur Nuuäheruug an das künftige
deutsche allgemeine bürgerliche Recht dem Wunsche entsprang, die bezüglich
ihrer Tragweite unberechenbare unheimliche Neuerung soweit als möglich hin-
auszuschieben.
Die günstige Finanzlage hatte seit Jahren den Landesausschuß bestimmt,
teils den Anregungen der Regierung folgend, teils diese, soweit sie zaghaft
vorging, aufmunternd, gemeinnützige Unternehmungen aller Art in Angriff zu
nehmen. Dabei ergab sich sehr bald, wie begreiflich, ein gewisser Zwiespalt,
heute zwischen Industrie und Landwirtschaft, morgen zwischen Elsaß und
Lothringen oder zwischen Ober- und Unterelsaß; eine Einigung über Vorzug
und Reihenfolge bei Erfüllung der Wünsche zu erzielen, ist manchmal kein
leichtes Unternehmen, und gar oft entstand unter altdeutschen Beobachtern die
Meinung, als ob der Landcsausschuß eine eigennützige Verstocktheit, eine ab¬
sichtliche Verkennung der Aufgaben eines deutschen Bundesstaates, sei es im
Innern, sei es in den Beziehungen zum Reiche, walten ließe. Das scheint
uns ein ungerechtes Urteil zu sein. In welcher deutschen Kammer kommen
nicht ganz ähnliche Bestrebungen vor? Man muß sich dabei die Vergangenheit
des Landes vergegenwärtige», das früher über sich eine große staatliche Einheit,
ganz Frankreich, wußte, während heute über den örtlichen Interessen nnr eine
kleine finanzielle Gemeinschaft — das Reichsland — schwebt. Aus deu frühern
Überlieferungen entstand die Neigung, die auch Entgegenkommen fand, z. B. bei
der Kaiser-Wilhelms-Universität, beim Baue von Eisenbahnen, bei der Stadt¬
erweiterung von Straßburg, vom Reiche als dem großen Ganzen, das an
Stelle Frankreichs getreten war, Zuschüsse oder Begünstigungen zu erlangen.
Ein französischer Staatsmann hat einmal gesagt, die Jmperativmandate ans
der Provinz seien die Rache für die staatliche Zentralisation; darunter sind
aber nicht etwa nur politische, sondern weit mehr Jnteressenmandate zu ver¬
stehen. Die Provinz verlangt vom Staate Gegenleistungen für die Zustimmung
zu deu Gesamtzwecken und die Regierungsvorlagen; man verlangt von der
Regierung, daß sie sich gegenüber den Wünschen der Vertreter willfährig er¬
weise, und auf diese Weise wollen die Vertreter mitregieren und mitverwnlten.
Diese Auffassung zeigte sich in der Haltung des Landesausschusfes bei der
Beratung über Zuschüsse des Landes zur Anlage der Bahnlinien Selz-Merz-
weiler und Hagenau-Nöschwoog; schließlich wurde nur ein Zuschuß für die
Teilstrecke Selz-Walburg genehmigt. Vergeblich wurde der Versammlung vor¬
gerechnet, daß von den seit 1870 aufgewendeten Kosten für die Bahnen des
Reichslandes (515 Millionen Mary 489 Millionen vom Reiche gezahlt, da¬
gegen nnr 15 Millionen vom Lande, 8 Millionen von den Bezirken und
2,7 Millionen von Gemeinden und Privaten beigesteuert worden sind. Das
rein militärische Interesse des Reiches an der Herstellung dieser Linien wurde
als Vorwmid für die Ablehnung genommen, die keineswegs politischen Motiven
entsprang, wie man etwa annehmen könnte; es war nur eine Strafe für die
Regierung, die dem Plane, das Land mit einem Netze von Straßenbahnen zu
überziehen, nach anfänglicher Mithilfe plötzlich weitere Handreichung versagt
hatte, wohl auf Rücksicht auf die Interessen der Reichseisenbahnverwaltuug,
eine Strafe dafür, daß die Wünsche der Vertreter, die in solchen Dingen
solidarisch auftreten, nicht genügend beachtet worden waren.
Ziemlich weitgehend war der vom Bürgermeister Back von Straßbnrg
vertretene Initiativantrag, daß das aus Altdeutschland eingeführte starke Bier
einer erhöhten Übergangssteuer t)Z,20 Mark statt 2,90 Mark) unterworfen werden
mochte. Der Landesallsschuß hat den Antrag mit allen gegen eine Stimme
angenommen. Die Bierbrauer des Reichslandes befinden sich in einer Übeln
Lage. Ihr Gebrnu zieht nicht mehr recht. Tacitus hat das germanische Bier
ein weimihnliches Getränk genannt — xows in ejMnäam vini similitucliusni
eori'uxt.u8; in unsrer Zeit wurde auf den Ausstellungen in Paris und Wien
das Gebräu von Straßburg und Umgegend als boisson, als „bierähnliches
Getränk" bezeichnet und gelobt, aber nicht mit dem ehrlichen Namen Bier
beehrt. Seitdem hat sich viel gebessert, und es giebt bierehrliche Trinker aus
Altdeutschland, die sich mit Genuß und Überzeugung an „Schiltigheimer" und
„Königshvfer" laben; aber die Elsässer selbst fallen ab und huldigen nicht nur
deu Münchner Expvrtbieren, die, wie allenthalben, im Siegeszuge das Land
gewonnen haben, sondern auch den Bieren aus der Pfalz und dem Badischen,
die trotz des erhöhten Preises das euiheinlische Gebräu immer mehr verdrängell.
Dazu kommt, daß auch Frankreich, das nicht nur den Straßburgern, sondern
auch den Baiern die Geheimnisse eines herzerfreuenden Sudes abgelernt zu
haben glaubt, deu Eiugaugszoll auf fremde Biere erhöht hat. Nach Deutsch¬
land hat Elsaß niemals nennenswerten Absatz gehabt, die Ausfuhr nach Frank¬
reich sinkt fortwährend, und der Absatz im Lande wird geschmälert durch den
Wettbewerb aus Altdeutschland. nachgerade unterliegt nun das Elsaß, wenn
auch noch mit Protest, einer andern, geläuterten Geschmacksrichtung. Der
Laudesnusschuß hielt es offenbar für eine Ehrensache, dein einheimischen Brau¬
gewerbe durch eine Art von Binnenschntzzoll wieder aufzuhelfen. Die Regierung
hat die vorsichtig gefaßte Versicherung gegeben, im Bundesrate vorzutragen,
was zu Gunsten des Antrages spricht. Der schwache Punkt des Antrages
liegt wohl in der Berechnung des Verhältnisses der theoretischen Steuer zur
Effektivsteuer, was bei der Verschiedenheit der Brauarten, der Einstenerung
und der Gutschreibuugen wohl zu Meinuttgsverschiedeuheiteu führen wird.
Dazu kommt noch die Frage, ob nicht durch stärkern Einsud und nachträgliche
Verdünnung die verfassungsmäßigen Bestimmungen über die einheitlichen Grund¬
lagen des Wettbewerbes umgangen werden können. Bor der ausgleichenden
Aufgabe des Bundesrates wird dieser Antrag schwer bestehen. Aber auch an
diesem Beispiele kann man sehen, wie die Zentralisation die Leute gewöhnt hat,
statt der Selbsthilfe die Stantshilfe zu suchen, und das thun auch Bittsteller,
die keineswegs Freunde Deutschlands sind.
Ein andrer Initiativantrag aus dem Hause betraf die Vertiefung der
Kanäle, um den Anschluß an die französischen und die belgischen Wasserstraßen
zu erhalten. Neben diesem seit Jahren besprochenen Entwürfe waren es aber
noch zwei andre, die die öffentliche Meinung bewegten: die schon uuter fran¬
zösischer Herrschaft unternommene und dnrch den Krieg unterbrochene Kannli-
sirung der Mosel und die Herstellung einer Kanalverbindung zwischen Stra߬
burg und Ludwigshafen oder Speier. Keines dieser Vorhaben schloß das
andre aus, sie konnten neben einander bestehen; aber die Mittel des Landes
reichen nicht aus, um alle drei Aufgaben gleichzeitig in Angriff zu nehmen,
man mußte sich also darüber verständigen, welchem der drei Entwürfe zuerst
Unterstützung gewährt werden sollte. Solche Entscheidungen gehören aber in
einem kleinen Lande zu den schwierigsten Dingen. Im vorigen Jahre hatte
man beschlossen, die Entscheidung über die Verwendung sich vorbehaltend, einen
Kanalfvnds zum Allsbau und zur Verbesserung der bestehenden Wasserstraßen
zu bilden, um zunächst der einen oder andern der als besonders wichtig und
dringend anerkannten Anforderungen später gerecht werden zu können. Nach
Jahr und Tag aber hatte sich die Sachlage schon geändert. Die Kanalisirnng
der Mosel wird nicht mehr in Betracht gezogen; mau nahm an, und wohl
mit Recht, daß sich die Sache ohne Zuthun des Neichslnndes wegen des über¬
wiegenden Interesses Preußens von selbst machen würde. Für den Kanal
Straßbnrg-Ludwigshafen hatte man sich im Lande nie sonderlich erwärmt.
Die Oberelsässer sprachen nur von ,,'in Mantüffel sin Kanal"; in Lothringen
hatte von jeher das Schicksal des Panamakanals näher gelegen als das des
Kanals im Rheinthale. Aber auch die Stadt Straßbnrg selbst, die bestimmt
schien, durch diesen Kanal die Rolle Mannheims zu übernehmen, zeigte
wellig Vereitwilligkeit zur Übernahme dieser Ausgabe. Der Bürgermeister der
Stadt Straßburg schien die Schaffung dieser Wasserverlnil dung für eine hoff¬
nungslose Angelegenheit zu halten, der Reichstagsabgeordnete für Straßbnrg
dagegen tröstete sich und die Versammlung über alle Zweifel mit der Ver¬
sicherung, daß die Angelegenheit des Kanals nicht so schlimm stehe, da es sich
nicht nur um ein Interesse des Neichslcmdes, sondern um ein Interesse des
Reiches handle. Das Reich dürfte aber wohl wenig Interesse daran haben,
dem schönen, musterhaft verwalteten Lande Baden mit feiner fleißigen, klugen
und strebsamen Bevölkerung, dem reichstreuesteu Bundesgenossen, der schon
durch die Industrie des Elsaß, durch die Neichseisenbahnen, durch die Universität
Straßburg u. s. w. stark geschädigt wird, den Wettbewerb mit dem Reichslande,
das seine Reichstreue erst noch zu erweise« hat, noch weiter zu erschweren.
Als rettender Gedanke wurden die Ausführungen des Obcrbnurates Hvnsell
von Karlsruhe begrüßt, der an Stelle des linksrheinischen Kanals die Schiff-
barmachung des Rheins von Mannheim bis Straßbnrg empfiehlt und für
durchführbar erklärt, während im Reichslande dieser Plau früher schon für
ebenso aussichtslos erklärt wurde, als das längst aufgegebene Projekt des
Herrn Hvnsell, den Bodensee tiefer zu legen. Nun wollen wir ruhig abwarten,
wie sich die Sache weiter entwickeln wird. Straßbnrg und der ganze Landes¬
ausschuß haben dem Gedanken der Verbindung mit den belgischen und den
französischen Seehäfen und dein belgischen Kohlenbecken vor der Herstellung
von Verbindungen mit dem deutschen Rheinverkehr den Vorzug gegeben, mit
der ausgesprochenen Begründung, daß es Sache Deutschlands sei, die Kanali-
sirnng der Mosel und den Bau eines Kanals im Rheinthale durchzuführen.
Den rein sachlichen Gründen dieser Stellungnahme können wir eine gerechte
Würdigung nicht versagen. Der uralte Streit über die Schifffahrt auf dem
Rheine, den im vorigen Jahrhundert Elsaß, auf alte kurmainzische Privilegien
sich stützend, gegen die Versuche Badens führte, auf dem Landwege deu Güter¬
verkehr auf dem Rheine zu beeinträchtigen, wird allerdings keine Wiederholung
erleben, wenn Elsaß darauf verzichtet, sich den Wasserverkehr im Rheine zu
sichern; dann aber wird vielleicht die Lösung in der Schaffung eines freien
deutschen Rheins liegen. Sollte dieses Vorhaben ausführbar sein, wer sollte
sich da widersetzen?
Das eigentliche politische Interesse nahmen die Verhandlungen über den
Paßzwang in Anspruch. Man darf Wohl sagen, daß die Klagen über den
Paßzwang der Enttäuschung darüber entsprungen sind, daß Deutschland, nach¬
dem seine Langmut gegenüber dem französischen Hohn und Trotz unverwüstlich
geschienen hatte, wider alles Erwarten anfing, Ernst zu machen. Der fran¬
zösischen Zuversicht, daß Deutschland in dem Schuldbewußtsein, französischen
Boden sich angeeignet zu haben, sich glimpflich und schonend verhalten werde,
und dem festen Glauben, daß sich bei nächster Gelegenheit das Kriegsglück
wenden werde, entsprach anch die Leichtherzigkeit, mit der aus Elsaß-Lothringen
in der Hoffnung ausgewandert wurde, daß die Rückkehr nicht erschwert werden
würde. Besonders mißlich war es für die deutsche Regierung, wenn Optanten
im Lande umherwandelten als lebendige und verlockende Beispiele dafür, wie
leicht es sei, der deutschen Regierung ein Schnippchen zu schlagen, wie bequem
man die Pflichten gegen Frankreich mit der unüberwindlichen Anhänglichkeit an
die heimische Scholle in Einklang bringen könne. Rechnet man dazu noch die
Unverfrorenheit, mit der französische Eigentümer, Jagdpächter oder Jagd¬
gäste, Offiziere oder Haudlungsbeflissene den ehemaligen Landsleuten im Reichs¬
lande begreiflich machte», daß mau Deutschland alles bieten könne, so kann
man es wohl verstehen, wie Deutschland zu der Überzeugung kam, daß durch
die Bestimmungen des Frankfurter Friedens das poMiminwm nicht ordentlich
geregelt sei, daß „der Grenzgrabcn vertieft werden müsse." So oft wir aber
über Paßzwang reden hörten oder darüber lasen, im Reichstage, im Landes¬
ausschusse, in der deutschen wie in der französischen Tagespresse, niemals war
davon die Rede, wie weit denn wirklich von einer Grenzsperre oder nur von
einer Erschwerung des Übertrittes die Rede sein könne. Wenn wir recht unter¬
richtet sind, so ist die Mehrheit der Fälle, in denen das Visa erteilt wird,
längst so überwiegend, daß im großen und ganzen, da ja jetzt auch der Durch¬
gangsverkehr frei gegeben ist, höchstens noch von einer ungewöhnlichen Be¬
lästigung des Verkehrs zwischen Frankreich und Elsaß-Lothringen die Rede sein
kann. Allerdings ist es für den Zurückgewiesenen ein geringer Trost, zu wissen,
daß er zu einer Minderheit zählt. Wenn nun aber weitere Zugestündnisse
gemacht werden sollen, soll dann die Frage des Bedürfnisses für die Aufent-
haltsgewührung maßgebend erklärt werden oder die politische Wertschätzung des
Nachsuchenden? Seit Einführung des Paßzwanges sind die sogenannten
Aufenthaltserlaubnisse weggefallen, deren Beseitigung die Jnterpellation von
Richter u. Gen. ins Auge faßte, während sie längst infolge juristischer, wohl
etwas feinfühliger Bedenken über den Begriff der Meistbegünstigung aufgegeben
worden waren. Daß sich die Herren Richter u. Gen. der Sache angenommen
haben, dem Drängen des kürzlich verstorbenen Abgeordneten Grad von Colmar
entsprechend, kann man von dem Standpunkte aus begreifen, daß sich die
Partei dankbare Leute in einem Lande sichern wollte, aus dem bei den letzten
Wahlen ganz unerwartet den Deutschkonservativen, den Nationalliberalen, den,
Zentrum und den Sozialisten Beihilfe erwachsen war; man wollte auch in
Süddeutschland Stimmen machen, wo man sich über die Unbequemlichkeiten
des Paßzwanges ärgert, z. B. in Pforzheim, Stuttgart u. f. w. Wenn aber
die Elsaß-Lothringer Abschaffung des Paßzwanges verlangen, so besorgen sie
eigentlich die Geschäfte Frankreichs; aber man muß dabei zugestehen, daß die
Landesvertreter auch deu Wünschen ihrer Wähler entsprechen, die ungehinderten
Wechselverkehr mit der Auswanderung wünschen. Es ist öffentliches Geheimnis
im Lande, daß, wie bei der Zwischenwahl in Straßbnrg, so auch bei den all¬
gemeinen Wahlen von 1890 die Protestler als Preis für die Wahlenthaltung
von deu Gemäßigten verlangten, daß diese für die Abschaffung des Paßzwanges
eintreten sollten. Die vier ErzPriester in Lothringen, die aus den letzten Wahlen
hervorgingen, verdanken ihren Erfolg nur dem Verzicht der frühern Vertreter
oder andrer Bewerber, und diese traten zurück, weil sie befürchteten, daß die
Wiederwahl von Protestlern die Negierung derart verstimmen würde, daß vou
einer Aufhebung oder Milderung des Paßzwanges gar keine Rede mehr sein
könnte. Der Herrschaft des Paßzwanges sind die gemäßigten Wahlen von
1890 zu verdanken, und deshalb ist es eigentlich schnöder Undank, wenn die
aus diesen Wahlen hervvrgegnngenen Vertreter des Neichslandes gegen den
Paßzwang auftreten, der allein die französischen Einflüsse auf die Wahl fern-
gehalten hat, durch den diese Wahlergebnisse überhaupt ermöglicht wurden
waren. Es ist ferner nur eine Täuschung der öffentlichen Meinung, wenn
geklagt wird, daß der Paßzwang auf die in der Blütenentwicklung begriffene
Stimmung gewirkt habe, wie die Eisheiligen in einer Frühlingsnacht, Der
Paßzwang ist eingeführt worden, nachdem man die Überzeugung gewonnen
hatte, daß der ungehinderte Verkehr mit Frankreich eine fortgesetzte Störung
der ruhigen Entwicklung der Dinge bewirke. Da war nichts weiter zu ver¬
derben. Von uns Deutschen hatte auch von solcher Vlütenpracht niemand
etwas bemerkt. Der Paßzwang wird beibehalten; die bisher schon gewährten
Erleichterungen sollen fortbestehen, und weitere Erleichterungen sind inzwischen
bezüglich des internationalen Durchgangsverkehrs gemacht worden. Bezüglich
des Verkehrs zwischen Frankreich und dem Reichslande aber dürfte unter
grundsätzlicher Währung der Notwendigkeit der Maßnahmen als internationale
Sicherung nur in der Ausführung ein Zugeständnis gemacht werden. Man
weiß jetzt, daß der Paßzwang nicht eingeführt worden wäre, wenn man nicht
einen dauernden Zustand Hütte schaffen wollen; als vorübergehende Maßregel
würde der Paßzwang höchstens die Bedeutung einer Demütigung Frankreichs
gehabt haben, aber den gewollten Zweck nicht erfüllen, die Grenze zu vertiefen.
Der Paßzwang gehört zu jenen Dingen, c^ins non xvs8mit lAuäiu-i, nisi
xur^vt-g,. Würde er plötzlich wieder aufgegeben, obgleich sich um den Be¬
ziehungen zu Frankreich nichts geändert hat, so müßte dies als das Bekenntnis
einer Übereilung oder einer pessimistischen Auffassung verurteilt werden. Wird
aber der vom Reichskanzler als Ziel bezeichnete Zweck, die Germanisirung,
erreicht werden? Der teutschgesinnte Reichstagsabgeordnete Höffel, dessen
Zeugnis uns wichtiger erscheint, als die damit übereinstimmende Ansicht der
Vertreter andrer Richtungen, stellt dies entschiede« in Abrede. Wir Deutschen
sind nun aber so lange im Lande, daß unser Urteil auch Anspruch auf An¬
hörung erheben darf. Unter den eingewanderten Deutschen ist die Meinung
vorwiegend, daß der Paßzwang trotz der unleugbaren Verstimmung, die anch
unter Gutgesinnten hervorgerufen wurde, deshalb schließlich den besten Erfolg
haben werde, weil der Paßzwang das untrüglichste Mittel ist, die nationale
Dvppelart der Elsüsser, denen diese Untugend wie allen Grenzvölkern eigen¬
tümlich ist, zu bekehren und die Leute zur Erkenntnis des Ernstes der Lage
zu bringen. Weit bedenklicher noch als die offenkundige Anhänglichkeit an
Frankreich ist diese altererbte Fähigkeit zur nationalen Halbheit, die immer
weiter dauern würde, wenn ihr nicht einmal ein Ende gesteckt würde. Diese
Halbheit der Gesinnung wird aber weit weniger durch die Anwesenheit von
Franzosen im Reichslande als dnrch die Auswanderung aus dem Reichslande
nach Frankreich bestimmt. Diese Erfahrung kann man in jedem Grenzlande
machen, dessen Berkehrsbedingungen zum Auslande neigen. Eine solche Neigung
wird aber dadurch abgeschnitten, daß die Leute zur endgiltigen Entscheidung
für oder wider gedrängt werden, statt ihnen eine fortwährende pendelartige
Bewegung zwischen zwei Seiten zu gestatten. Die Ungewöhnlichkeit dieser
Maßregel muß man sich durch das unehrliche Verhalten Frankreichs erklären,
das alle Verhöhnungen des Frankfurter Friedensvertrages zuläßt, sowie dnrch
die erziehende Bedeutung der Sache. Wenn der freie Wechsel zwischen Frank¬
reich und Deutschland erschwert wird, wenn die, die für Frankreich vptirt
haben oder dorthin ausgewandert sind, ans diese Wahl verwiesen bleiben, dann
wird notwendig zunächst Unzufriedenheit entstehen, durch die man sich bei Er¬
strebung des Endzieles nicht irre machen lassen darf, weil sie vorauszusehen
war. Der Paßzwang ist aber nicht nur durch das unehrliche Verhalten
Frankreichs notwendig geworden, sondern durch das unzuverlässige Verhalten
der -Führer im Lande, die, als gleichzeitig der Feldmarschnll v. Manteuffel
über den Eifer, die Protestler zu gewinnen, die alten Autonomisten beiseite
schob, und die Franzosen die ehemaligen Landsleute im Reichslande immer
dringender und zuversichtlicher aufforderten, sich für eine nahe bevorstehende
Erlösung zu rüsten, das Programm der Autonomie völlig im Stiche ließen.
Das ganze öffentliche Leben im Reichslande ist beherrscht durch diesen Gedanke»
der Unsicherheit der Zukunft. Wenn man auch nicht mehr, wie vor etwa drei
Jahren, den Krieg als unmittelbar bevorstehend und unvermeidlich betrachtet
oder den Krieg überhaupt wünscht und ersehnt, so hat sich dafür jetzt die
Uberzeugung allgemein ausgebildet, daß es Frankreich mit seinen unerschöpf¬
lichen Hilfsquellen sehr bald gelingen werde, durch fortgesetzte Überbietungen
in den Rüstungen zum Kriege Deutschland bis zu einem Punkte zu drängen,
wo sich die Unmöglichkeit ergeben wird, den Widerwillen der reichsfeindliche»
Parteien zu überwinden und die mangelhafte Neichssteuermaschiue noch weiter
zu heizen.
Es hängt auch mit dem Gedanken der Unsicherheit der Zukunft zusammen,
daß mau im Landesausschufse sich nicht mehr wie früher mit der Zukunft des
Landes beschäftigt. Nur der kürzlich verstorbene Freiherr Zorn von Bulach
der Ältere, der langjährige Vizepräsident der Versammlung, verlangte auch
noch in den letzten Jahren die Gewährung der Autonomie, der vollen bundes-
staatliche» Rechte für das Land. Schon die sympathische Erscheimmg des alte»
Edelmannes, der einem der ältesten und ruhmreichsten Geschlechter der alten
reichsunmittelbare» Ritterschaft des Unterelsaß angehörte, wirkte herzerfrischend,
»och mehr der persönliche Mut des Freiherrn, der, den Anfeindungen seiner
ehemaligen Mitbürger wie dein Spotte der engern Laiidsleute trotzend, für das
Recht seines Heimatslandes eintrat und forderte, daß es in dieser oder jener
Weise den ander» Bundesstaaten gleichgestellt, daß die Elsaß-Lothringer aus
Deutschen zweiter Klasse zu Deutschen erster Klasse, aus unmittelbaren Unter¬
thanen des Reiches zu gleichberechtigten Vollbürger» gemacht werden sollten.
Es hat eine Zeit gegeben, wo sich der Landesausschuß solchem Verlnugeu be-
geistert anschloß; Nur erinnern nur an den Beschluß der Versammlung von
22. Dezember 1877, worin der Wunsch ausgesprochen wurde, es möge dem
Reichslande eine eigue Verfassung als Bundesstaat mit dem Sitze der Regierung
in Straßburg und einer Vertretung im Bundesrate gewährt werdeu, indem die
unmittelbare Souveränität des Kaisers an Stelle der Gesamtsouveränität des
Bundesrates trete.
Deutschland ist keineswegs von Schuld freizusprechen, wenn das Land,
sei es infolge der von uns geschaffenen Einrichtungen, sei es durch bedauerliche
Störungen des Ganges der Dinge, von dem ins Auge gefaßten Ziele, im
dentschen Reiche sich eine bundesstaatliche Stellung zu verschaffen, hat ab¬
drängen lassen. Wir wollen über diesen Gegenstand hier keine Betrachtung
anstellen. Die in diesem Punkte gemachten Erfahrungen bieten hinlänglichen
Stoff zum — Stillschweigen. Heute ist die alte Partei der Autonvmisten von
Schallplatze verschwunden. Nicht den Rücktritt der Leute selbst bedauern Nur,
aber die Thatsache der allgemeinen Fahnenflucht. Der Freiherr Zorn von
Bulach ist kürzlich zu seinen Vätern versammelt worden. Wer wird künftig
dieses L!Ltorniu vMsgv übernehmen? Wird etwa der Unglaube an die Er¬
füllung des Wunsches, wird die Wunschlosigkeit selbst vorwalten? Wie denkt
sich dann das Reichsland seine deutsche Zukunft? Die Führer haben das
Volk im Stiche gelassen, aber das ganze Volk ist keineswegs der Meinung,
daß es genüge, sich notdürftig mit den deutschen Anforderungen abzufinden,
bis das Land wieder französisch sein werde. Gegenüber den Zusicherungen des
Freiherrn v. Manteuffel, daß er seinen Lebensrest daran setzen werde, den,
Lande die Autonomie zu verschaffen, blieben die sogenannten Notabeln teil-
nahmslos, und die Partei der Autvnvmisten verschwand spurlos, während
Manteuffel um die Herzen der Protestler warb, da er, wie die Engel im
Himmel, an Bekehrnngsbedürftigcn größeres Gefallen fand als an Gerechten.
Dasselbe Land, das vor dreizehn Jahren durch seine Vertreter das Verlangen
ausgesprochen hatte, daß ihm an Stelle der schwer faßlichen juristischen Per¬
sönlichkeit des Reiches ein sichtbarer persönlicher Herrscher gegeben werde, eines
der reichsten, wirtschaftlich bedeutendsten Länder des Reiches, ist völlig unbe¬
kümmert um sein staatliches Schicksal. Daneben sehen wir eine rührige deutsche
Einwanderung, die in den Gemeinderäten, in den Kreis- und Bezirkstagen und
im Landesausschusse Fuß faßt und bei den Reichstagswahlen deutschgesinnten
Bewerbern zum Siege verhilft. Wenn die alte Autonomistenpartei in ihrer
Gleichgiltigkeit für die Ausgestaltung des Landes verharrt, auf die Wahrung
der materiellen Interessen sich beschränkend, wird auch im deutschen Reiche das
Politische Interesse an der Zukunft und um den eignen Wünschen des Landes
immer mehr schwinden; Vertreter dieses politischen Interesses werden immer
mehr die eingewanderten Altdeutschen werden, umso mehr als diese nicht mir
unter der Beamtenschaft, sondern ans allen Gebieten geistiger Thätigkeit die
Mehrheit bilden. Die deutsche Einwanderung hat aber auch das Interesse,
daß das Land in irgend einer Weise staatliche Gleichberechtigung im Bunde
erwerbe. Und so wird es sich wohl fügen, daß das Reichsland, während seine
Führer von Frankreich die Entscheidung über die Zukunft erwarten oder un¬
entschlossen sich lediglich um die materiellen Interessen kümmern, wenn einmal
die Hvffnttng ans Frankreich geschwunden sein wird, zu der Erkenntnis kommen
wird, daß es die Leitung seines Geschickes längst verloren Hut.
as Jahr 1^8!), wo Frankreich die Jahrhundertfeier der großen
Revolution in glänzender Weise beging, hat in der zivilisirten
Welt eine Hochflut von Arbeiten hervorgerufen, die die Ur¬
sachen und den Verlauf des weltbewegenden Ereignisses, wie die
Bedeutung der vor und während desselben auftretenden ma߬
gebenden Personen dem Leser vor die Seele zu führen bestimmt waren. Aber
nicht allenthalben ist klar zu lesen gewesen, wie neben den Ausbrüchen der
Gewalt, die gleich einem Gewitterstürme Frankreich verwüsteten, ein Kampf der
Ideen herging, der, nachdem er dort zum Austrage gebracht worden war, ganz
Europa ergriff. Die Idee der absoluten Volkssouveränität im Staate ge¬
staltete das bis dahin herrschende teilweise in Absolutismus ausgeartete Lehns-
wesen Frankreichs zum konstitutionellen Staatsshstem um, und darin liegt be¬
kanntlich die eigentliche Thatsache der Revolution, die sich später, ohne den von
Menschenblut und Feuersglut geröteten Hintergrund zu haben, auch in den
übrigen Ländern des West- und mitteleuropäischen Festlandes vollzog. Wie
der ti«zi'8-6t,At, im eignen Lande gegen die bevorzugten Stände vorging, so
drangen die Sanskulvttenheere mit der Parole „Friede den Hütten, Krieg den
Palästen" in die Nachbarländer ein, die Feudalsysteme zu Voden werfend,
ähnlich wie einst die Phalanx Alexanders der griechischen Kultur eine Gasse
dnrch ganz Vorder- und Zentralasieu schuf. Bei Jdeenkümpfen, die mit der
Energie der Begeisterung und schwer zu versöhnender Bitterkeit geführt werden,
ist erst nach Herbeiführung fester rechtlicher Verhältnisse an das Ende zu
denken. Erst nachdem die Gleichberechtigung der durch neue Verfassungen
umgestalteten Staaten neben den fortbestehenden unumschränkten Monarchien
Europas errungen war, fand im Wiener Kongreß der äußere Abschluß des
Wettkampfes statt, in dem von der Sierra Estrella bis zur Moskwa, von
Malta bis zum Torneo die Leichenhügel von Hunderttausenden aufgetürmt
worden waren. Vos lois ävvivixircmt ce-IlW av l'Pmroxg, si <z1Jo8 sont äiMLS
«to von«, hatte Mirabeau schon bei der Beratung über die Menschenrechte in
der Nationalversammlung am 17. August 1789 prophetisch ausgerufen.
Es ist auffallend, wie peinlich die konstitnirende Versammlung bemüht ist,
die allgemeinen Ideen und Grundsätze, die dem zu begründenden neuen Staats¬
system als Grundlage dienen sollen, in Präzise, volkstümliche Form zu bringen.
Das Volk, meint Durand-Maillane, werde sich den Gesetzen besser fügen, wenn
es deren Ursprung und die Grundsätze, aus denen sie hervorgegangen seien,
kenne, und so berät man denn, nachdem man die erste Scheu vor der Gefahr
so neuer Anschauungen für den bestehenden Staat überwunden hat, monate¬
lang über die Rechte, wie sie aus der Natur jedes vernünftig-sittlichen Wesens
unmittelbar hervorgehen, ergeht sich mit jugendlicher Begeisterung und feuriger
Beredsamkeit in metaphysischen Erörterungen über naturrechtliche Fragen, um
eine systematische Darstellung aller aus der Idee der Rechtsherrschaft hervor¬
gehenden ursprünglichen Rechte zu geben und auf diese die neuen sozialen
Rechtsverhältnisse zu gründen. Die Erklärung der Menschenrechte soll der
neuen Verfassung als Einleitung (xrvg,indulc>.) dienen, den Gesetzgebern bei
Bearbeitung des Verfassungswerkes, wie später den Exekutivbeamten bei Aus¬
führung seiner Bestimmungen ein Wegweiser sein. Die erste Vorlage, die der
Nationalversammlung am 11. Juli 1789 durch Lafayette nach mit lebhaftem.
Beifall aufgenommenen einleitenden Worten von dem „Freiheitskatechismns
Frankreichs" gemacht wurde, und die der später von der Nationalversammlung
wirklich beschlossenen Erklärung in gewisser Weise als Grundlage dient, wird
von dem kühl denkenden Grafen von Lally-Tolendal mit großer Zurückhaltung
besprochen. Es mögen hier einige charakteristische Stellen aus seiner Rede
folgen: „Alle diese Grundsätze sind heilig, die Ideen groß und erhaben; der
Urheber des Antrages spricht von der Freiheit, wie er sie zu verteidigen ge-
wußt hat. Der Antrag soll Gegenstand unsrer Beratung (travml) sein. Doch
je mehr uns dessen Inhalt (t'vint) hinreißend erscheint, desto mehr müssen wir
wegen der Form, die wir ihm geben, auf der Hut sein. Erlauben Sie denn,
daß ich bei den Befürchtungen, deren ich mich nicht erwehren kann, beharre
»ut meine Angst in den Schoß (fällt) Ihrer Vaterlandsliebe niederlege. Lassen
Sie uus den gewaltigen Unterschied nicht vergessen zwischen einem jungen
Volke, das sich im Weltall ankündigt, indem es sein Joch abschüttelt und seine
Fessel» bricht, und einem alten, mächtigen Volke, das seit vierzehn Jahr¬
hunderten Fürsten gehorcht, die es uach altem Brauch erwählt hat und der
Sitte gemäß verehrt . . . Was würde es sein, wem? einige verdorbene Geister,
die unsre Grundsätze nicht verstünden, sich Ausschreitungen hingäben, die wir
selbst beklagen müßten? Ich lasse dem Antrage Lafayettes alle Ehre zu
Teil werden, die er verdient; aber ich bitte, darüber nur in Verbindung mit
der Konstitution zu beraten." Die Versammlung hält es denn auch nicht für
nötig, noch weiter über den Gegenstand zu verhandeln.
Wie berechtigt die Befürchtungen Lally-Tolendals waren, zeigen gleich die
nächsten Tage. Ein Bericht über die Sitzung, sowie die Erklärung der Rechte
werden in der Nacht vom 11. zum 12. Juli gedruckt und am nächsten Tage, einem
Sonntage, in Massen in Paris verbreitet, wo sie in Verbindung mit zwei Ereig¬
nissen, der plötzlichen Entlassung Neckers und der Heranziehung der Truppen an
die Mauern von Paris, die größte Aufregung und die ärgsten Ausschreitungen,
wie später, nämlich am 14. Juli, den Vastillenstnrm hervorrufen. Lafahette
wird der gefeierte Held des Tages. Ju der Nationalversammlung wählt man
ihn am 13. Juli zum Vizepräsidenten, am 15. Juli rufen ihn die Pariser an
die Spitze der auf Antrag Guillvtins wiederhergestellten Bürgergarde, die später
den Namen Nationalgarde von Paris erhielt. Ein Hinweis des Wahlvorstehers
Moreau de Saint-Mvry auf eine im Versammlungssaal des Pariser Stadt¬
hauses aufgestellte Büste lafayettes, die der Stadt Paris im Jahre 1784 vom
Staate Nirginien zum Geschenk gemacht worden war, hatte genügt, feine Wahl
zum Kommandanten unter den Jubelrufen der Wähler herbeizuführen, wie
denu auch die Nachricht davon in der Nationalversammlung mit dem leb¬
haftesten Beifall aufgenommen wurde. Die Erklärung der Menschenrechte
Lafayettes kennzeichnet sich gleich in: ersten Artikel — „Die Natur hat
die Menschen frei und gleich gemacht; die für die gesellschaftliche Ordnung
notwendigen Unterschiede sind nur auf den allgemeinen Nutze» gegründet" —
als eine Nachahmung der nordamerikanischen Erklärungen, wie sie den Ver-
snssuugeu fast sämtlicher Staaten als Einleitung vorangesetzt worden waren.
Da Lafahette der erste war, der eine Erklärung der Menschenrechte in der
Natioualversmumlung beantragte und auch sonst dafür Propaganda machte,
so hat man ihn den Propheten der Erklärung der Menschenrechte genannt.
Die Ära der amerikanischen Revolution, nicht die der französischen, ist
entgegen der ländlichen Ansicht als der Anfang der neuen gesellschaftlichen Ord-
nung in der übrigen Welt anzusehen; sie ist zugleich die Anfangsära der Er¬
klärungen der Menschenrechte und der systematischen Konstitutionen. Virginie»
war der erste Staat, der eine Erklärung der Rechte beschlossen hatte. Diese
wurde am 1. Juni 1770 veröffentlicht und an die Spitze der Verfassung des
Staates gestellt. An ihrer Abfassung hatte Jefferson den Hauptanteil, wie er
ihn auch neben Franklin, Adams u. s. w. bei Abfassung der Unabhängigkeits-
erklärnng der Vereinigten Staaten vom 4. Juli 1770 hatte. Lafahette, der
während seiner Teilnahme an den amerikanischen Befreiungskriegen zum Re-
Publikaner geworden war und Frankreich, wie aus seinen Memoiren hervor¬
geht, auch gern republikanisch organisirt gesehen hätte, hatte seine eben erwähnte
Erklärung der Rechte an Jefferson gesandt und damit dessen Beifall in einer
Weise gefunden, daß von ihm die Absendung derselben an Washington an¬
geordnet worden war. Bekanntlich hatten sich zahlreiche französische Genie-
uud Artillerieoffiziere, wie la Colombe, Gimat, Flenrh, Marquis de la Roherie,
Tonzard, Lenfcmt, auch Lnfahette, in hervorragender Stellung mit Genehmigung
ihrer Regierung an den amerikanischen Kämpfen beteiligt; später trat der
französische Staat aus alter Eifersucht gegen England, dem er im Laufe des
achtzehnten Jahrhunderts seinen nordamerikanischen Kolonialbesitz hatte abtreten
müssen, im Kampfe zur See auf die Seite der Nordamerikaner, wie er ihnen
auch bedeutende Summen zur Kriegführung vorstreckte, und machte dadurch
wider Willen den Kampf eines unterdrückten Volkes für seine Freiheit in Frank¬
reich populär. Voll von kühnen, auf die eigue Befreiung gerichteten Hoffnungen
wandte das französische Volk seine bewegten Blicke den Amerikanern zu, die in
eine Laufbahn eingetreten waren, die es selbst zu durcheilen brannte. Wenn
mau die Gesetze als den Ausdruck des leidenschaftslosen Gemeinwillens be¬
zeichnet hat, so waren die nüchternen Amerikaner in besondrer Weise zu Gesetz¬
gebern berufen. William Peru schon, der seinen Quäkern Gesetze gab und mit
England für Pennshlvanien vorteilhafte Verträge abschloß, wird von Montes¬
quieu der Lykurg der modernen Zeit genannt. Es würde zu weit führen,
wollten wir hier nachweisen, wie das amerikanische Verfafsungswesen ein Aus¬
fluß des englischen ist, und amerikanische Rechtsanschauungen ans dem englischen
und französischen Deismus herausgewachsen sind. Lockesche, Montesqnieusche,
Rousseausche Ideen finden sich in amerikanischen Verfassungswerken oft wörtlich
wieder, wie umgekehrt französische Politiker die amerikanischen Verfassungen
mit den sie einleitenden Erklärungen der Menschenrechte eifrig studiren.
Im Laufe des Juli und August 1789, als die Freiheitsideen in Frankreich
allgemein geworden waren, mehren sich auch in der Nationalversammlung die
Entwürfe zu Erklärungen der Menschenrechte, die übrigens vom Volke zum Teil
schou vor dem Zusammentritt der Nationalversammlung, ganz besonders in den
('ÄüvrL, durch die die Wahlkreise ihren Abgeordneten für die ut»es-A6n6lAux
Instruktionen zu geben pflegten, gefordert worden waren. So sollen die Vertreter
des geistlichen Standes eine auf allgemeine Grundsätze aufgebaute Konstitution
verlangen, die die Freiheit der Person und die Sicherheit des Eigentums ver¬
bürgt, die Sklaverei der Neger beseitigt, das Briefgeheimnis wahrt u. s. w.
Die Deputirten des dritten Standes von Clermont werden beauftragt, eine
Erklärung der Meiischenrechte zu fordern, die Freiheit, Eigentum und Sicher¬
heit der Person gewährleistet. Die Pariser Wähler übergeben ihren Abge¬
ordneten für den dritten Stand sogar eine Erklärung der Menschenrechte
und eine darauf gegründete Konstitution uach amerikanischem Muster und
fordern sie auf, mit aller Entschiedenheit dafür einzutreten. Die Erklärung
der natürlichen, bürgerlichen, politischen Rechte soll nach ihrem Wunsche die
nationale Freihcitsurkunde (olmrtö) und die Grundlage der Staatsverwal¬
tung bilden. Um in Paris jegliche Erinnerung an den seither herrschenden
Absolutismus zu beseitigen, fordert dort der dritte Stand in den (Zallisrs auch
die Beseitigung der Bastille und auf dem dadurch entstehenden freien Platze
die Errichtung einer Säule von edler Einfachheit mit der Inschrift: ^
I^ouis XVI, rMwurawur as 1» libörts pnbliang. In Zusammenhang mit
dieser Forderung steht jedenfalls der am 4. August 1789, jenem denkwürdigen
Tage des allgemeinen Verzichts des Adels und der Geistlichkeit, der Städte
und Provinzen ans ihre Sonderrechte, in der Nationalversammlung gefaßte
Beschluß, dem Könige den Titel Rsstanncksni- as 1a. liöörts trMyWö zu ver¬
leihen.
Die Nationalversammlung hält nach den infolge des Bnftillenstnrms auch
in der Provinz sich mehrenden Ausschreitungen, die allenthalben Mord und
Brandstiftung im Gefolge haben, eine sofortige Beratung der Verfassung zur
Herbeiführung geordneter Verhältnisse für unbedingt notwendig und schreckt
deshalb auch vor der Beratung der Menschenrechte nicht mehr zurück. In
längerer Rede betont der Erzbischof von Bordeaux am 27. Juli, daß die Idee,
der französischen Verfassung eine Erklärung der Menschenrechte beizufügen, von
Nordamerika gekommen sei und daß unter den vorhandenen Entwürfen solcher
Erklärungen die von Sivhös und Monnier den Vorzug verdienten. Der
letzte habe große Ähnlichkeit mit dem von Lafahette. Nachdem man weiter am
1. August endgiltig beschlossen hat, die aufzustellende Verfassung mit einer
Erklärung einzuleiten, beginnt am 17. August die Beratung über den Entwurf,
der von dem am 12. August zur Prüfung der vorhandenen zwanzig Erklä¬
rungen der Rechte erwählten aus fünf Mitgliedern bestehenden Ausschüsse vor¬
gelegt worden war. Der auf besondern Wunsch der Versammlung von
Mirabeau, einem Mitgliede des Fünferansschnsses redigirte Entwurf besteht
aus neunzehn Artikeln; er wird nach kurzer Debatte am 18. August dem
sechsten Ausschuß der Nationalversammlung, dem Verfassungsausschuß, zur
nochmaligen Prüfung überwiesen, und dieser entwirft wieder eine Erklärung
in vierundzwanzig Artikeln, die der Nationalversammlung zugleich mit den
Entwürfen von Lafahette und Siöhös vorgelegt wird. Diese wählt die Er¬
klärung des Verfassungsausschusses als Unterlage für die fernern Beratungen
(Lafahette konnte für die seinige nicht eintreten, da ihn sein Kommando an
Paris fesselte). Die Einleitung in die Erklärung der Menschenrechte, die mit
der des Siuhösschen und Mirabeauschen Entwurfs gleichlautend ist, wird mit
der von Monnier beantragten Anrufung des höchsten Wesens von der National¬
versammlung ain 20. August in folgender Fassung angenommen: „Nachdem die
als Nationalversammlung vereinigten (voilsllwvs) Vertreter des Volkes erwogen
haben, daß die Unkenntnis (ig'moi'laco), die Nichtbeachtung (I'oubli) oder die Ver-
schmähung der Rechte des Menschen die alleinigen Ursachen des öffentlichen
Unglücks und der Verdorbenheit (vorruptioo) der Regierungen sind, haben sie
beschlossen, in einer feierlichen Erklärung die natürlichen, unveräußerlichen und
geheiligten (saLre«) Menschenrechte auseinanderzusetzen (sxxo8ör), damit diese
Erklärung allen Gliedern des gesellschaftlichen Körpers beständig vor Augen
sei und ihnen ihre Rechte und Pflichten immerfort in Erinnerung bringe,
damit die Handlungen <Mos) der gesetzgebenden wie der ausübenden Gewalt,
indem sie jeden Augenblick mit dein Endzweck aller politischen Satzung (insti-
wtion) zusammengehalten werden können, dadurch mehr geachtet werden, damit
weiter die künftig von einfachen und unantastbaren Grundsätzen hergeleiteten
Ansprüche (röolMmtimis) der Bürger immer auf die Aufrechterhaltung der
Verfassung und die allgemeine Wohlfahrt gerichtet seien. Infolge dessen
erkennt und erklärt die Nationalversammlung in Gegenwart und unter dem
Schutze des allerhöchsten Wesens die folgenden Rechte des Menschen und
Bürgers."
Nach Feststellung des Wortlautes der Einleitung geht man weiter zur
Beratung der einzelnen Artikel. Ans Antrag Mouniers werden an Stelle
der ersten sechs Artikel der Vorlage des Verfassungsausschusses folgende
drei von Lafahette herrührende Artikel angenommen: Art. 1. Die Menschen
werden frei und gleich an Rechten geboren und bleiben es. Die gesellschaft¬
lichen Unterschiede sollen nnr auf den allgemeinen Vorteil (utilitö) gegründet
sein. Art. 2. Der Endzweck jeder politischen Gesellschaft ist die Erhaltung
der natürlichen und unverjährbaren Menschenrechte. Diese Rechte sind die
Freiheit, das Eigentum (xroxrivtv), die Sicherheit und der Widerstand gegen
die Unterdrückung. Art. 3. Der Ursprung der Souveränität liegt wesentlich
in der Nation; keine Körperschaft, kein einzelner Bürger kann eine Gewalt
(-intorno) ausüben, die nicht ausdrücklich davon ausgeht.
Am 21. August wird die Debatte über Artikel 7 bis 10 fvrtgesetzt-
Alexander von Lameth schlägt statt der vier folgenden Artikel zwei, die nach
kurzer Aussprache genehmigt werden, vor: Art. 4. Die Freiheit besteht darin,
daß jeder thun kann, was dem andern nichts schadet; die Ausübung der natür¬
lichen Rechte jedes Menschen hat sonach nur solche Grenzen, die den andern
Gliedern der Gesellschaft den Genuß derselben Rechte verbürgen. Diese Grenzen
können nur durch das Gesetz bestimmt werden. Art. 5. Das Gesetz darf nur
solche Handlungen verbieten, die der Gesellschaft schädlich sind; was durch das
Gesetz nicht verboten ist, kann nicht verhindert werden; niemand darf gezwungen
werden, zu thun, was eS nicht anordnet.
Bei Artikel 11 der Vorlage gelangt man nach längerer Debatte und mehr¬
fachen Amendements zur Annahme der von dem Bischof von Autun, Talleyrand-
Perigvrd, beantragten Fassung, die auch den Inhalt der Artikel 12, 13 und
15 der Vorlage mit einschließt: Art, 6. Das Gesetz ist der Ausdruck des all¬
gemeinen Willens. Alle Staatsbürger haben das Recht, persönlich oder durch
ihre Vertreter bei Formulirung (torirmlion) desselben mitzuwirken. Es soll für
alle dasselbe sein, mag es beschütze» oder bestrafe». Da alle Bürger vor ihm
gleich siud, so können sie zu jeder Würde, Stelle (iK^v) und öffentlichen An¬
stellung nach ihrer Fähigkeit und ohne andern Unterschied als den ihrer Tugenden
und Talente gelangen (»out -läroiLÄdlos).
Eine lebhafte Aussprache und zahlreiche Anträge verursacht am 22. August
der Kriminalartikel 14 der Vorlage; man einigt sich schließlich den Anträgen
von Target und Duport gemäß dahin, an Stelle des einen Artikels drei mit
folgendem Wortlaut zu setzen: Art. 7. Niemand kann bestraft, verhaftet oder
gefangen gehalten werden, als in den durch das Gesetz bestimmten Fällen und
uach den Formen, die es vorschreibt. Die, die eigenmächtige Anordnungen
(in.'are!8 !U'l)itrcuroL) treffen, fördern, ausführen oder ausführen lassen, sollen
bestraft werdeu; dagegen soll jeder Bürger, der ans Grund des Gesetzes ange-
rufen (»Wolv) oder ergriffen wird, sofort gehorchen; er macht sich durch seinen
Widerstand strafbar. Art. 8. Das Gesetz soll nur Strafen verfügen, die un¬
abweisbar und augenscheinlich notwendig sind, und niemand darf bestraft
werden, als ans Grund eines vorher in Betreff des Vergehens beschlossenen
und veröffentlichten Gesetzes, das vorschriftsgemäß anzuwenden ist. Art. 9. Jeder
Mensch hat als unschuldig zu gelten, bis er für schuldig erklärt worden ist;
hält man es für unabweislich, ihn zu verhaften, so soll jede Härte, die nicht
nötig ist, sich seiner Person zu versichern, durch das Gesetz streng unterdrückt
werden.
Hierauf wird in die Diskussion über die auf die Freiheit des Denkens
und die Achtung vor dem öffentlichen Kultus bezüglichen Artikel 16, 17 und
18 der Vorlage eingetreten; es beteiligen sich daran eine Anzahl Geistliche,
wie der Bischof von Clermont, Talleyrand-Perigord, der Bischof von Lytta,
aber auch hervorragende weltliche Mitglieder der Versammlung, wie Mirabeau,
Putiou de Villeneuve, M. de Castellane, Rabaud-Saint-Etienne. Nach fast
zweitägigem Nedekampfe faßt man am 23. August die drei Artikel in deu von
Castellnue beantragten einen zusammen: Art. 10. Niemand soll wegen feiner
Meinungen, selbst der religiösen, beunruhigt werden, wenn ihre Äußerung die
durch das Gesetz geschaffene öffentliche Ordnung nicht stört.
Am 24. August wird auf Antrag des Duc de la Rochefoucauld Art. 1!)
des Verfassungsausschusses nach längerer Debatte, an der sich hervorragende
Redner, wie Raband-Se.-Etienne, Bnröre, Robespierre, beteiligen, in folgendem
Wortlailt angenommen: Art. 11. Die freie Mitteilung der Gedanken und
Meinungen ist eines der kostbarsten Rechte des Menschen; jeder Bürger kann
mithin frei sprechen, schreiben und drucken mit Vorbehalt der Verantwortlichkeit
für den Mißbrauch dieser Freiheit in den durch das Gesetz vorgesehenen Fällen.
Artikel 20 und 21 der Vorlage werden einstimmig angenommen. Sie lauten:
Art. 12. Die Berbürgnug (g'-Wutiö) der Menschen- und Bürgerrechte macht
eine öffentliche Macht notwendig; diese ist zum Vorteil aller eingesetzt und nicht
für den besondern Nutzen derer, denen sie anvertraut ist. Art. 13. Zur Unter¬
haltung der öffentlichen Macht und zur Bestreitung der Verwaltungskosten ist
eine allgemeine Steuer notwendig; diese soll unter alle Bürger mit Rücksicht
auf ihre Vermögensverhältnisse gleichmäßig verteilt werden. Auch Artikel 22,
23 und 24 werden nach kurzer Debatte am 26. August in dein Wortlaut der
Vorlage angenommen: Art. 14. Alle Bürger sind berechtigt, entweder selbst
oder durch ihre Vertreter sich vou der Notwendigkeit der öffentlichen Steuer
zik vergewissern, sie frei zu bewilligen, ihre Verwendung zu verfolgen und den
Betrag (la quollen), die Verteilung, Eintreibung und Dauer derselben zu be¬
stimmen. Art. 15. Die Gesellschaft (sovivro) ist befugt, vou jedem öffentlichen
Beamten Rechenschaft über seine Amtsführung zu verlangen. Art. 16. Jede
staatliche Vereinigung (80oivtv), in der die Sicherheit der Rechte nicht ver¬
bürgt und die Trennung der Gewalten nicht bestimmt ist, hat keine wahre
(vvritMs) Verfassung. Auf Duponts Antrag wird zuletzt noch, nachdem
der Wunsch ausgesprochen worden ist, es möge auch ein ans das Eigentum
bezüglicher Artikel in die Erklärung der Menschenrechte aufgenommen werden,
Art. 16 beschlossen: Das Eigentum (proxrivtö) ist ein unverletzliches und
geheiligtes Recht; niemand kann seiner beraubt werde», wenn eS uicht die
gesetzlich beurkundete (czon.8t»los) öffentliche Notwendigkeit unabweislich (vvi-
cIt!iQin<zue) fordert und eine gerechte vorherige Schadloshaltung (mÄömnir«)
eingetreten ist.
Diese Erklärung der Rechte, die der ersten französischen Verfassung vom
3. September 17!)1, deren Beratung sich an die der Menschenrechte unmittelbar
anschließt, vorangesetzt wurde, war zunächst Gegenstand lebhafter Kontroverse
zwischen König und Volksvertretung, bis Ludwig XVI. sich auf die Nachricht
von erneuten Unruhen in Paris im Oktober 17L9 für deren Annahme ent¬
schied. Als Lafayette am 5. Oktober an der Spitze der Pariser Nationalgarde
nach Versailles kam und sich beim Könige melden ließ, ließ dieser ihm
sagen, er sehe seinem Erscheinen mit Vergnügen entgegen und stehe im Begriff,
seine Erklärung der Menschenrechte anzunehmen. Wie sehr übrigens Lafayette
in der Umgebung des Königs als Republikaner galt, geht aus einem Vor¬
kommnis in dem bekannten Vorzimmer des Andienzsaales im Versailler Schloß
(I'MÜ-av-dont') hervor; ein Herr rief bei seinem Eintritt: Voilü, (Äoimvoll!
Lafayette antwortete ihm: „Mein Herr, Cromwell würde nicht allein einge¬
treten sein!"
Ein flüchtiger Blick in die Erklärung der Menschenrechte genügt, um in
ihr die Quintessenz des modernen Staatsrechtes zu finden, wie es gegenwärtig
ne den Reichen der zivilisirten Welt gehandhabt wird. Die frühern Unterlagen
des französischen Bürger- und Kirchcntums sind durch Staatseinrichtungen er¬
setzt, die auf Gleichheit und Freiheit beruhen. Die neue Konstitution setzt als
gesetzgebenden Körper im Gegensatz zu englischen Verfassungsbestimmungen nur
eine Kammer ein und entzieht dem König, indem sie ihn zum Haupte der voll¬
ziehenden Gewalt macht, fast allen Einfluß auf die Gesetzgebung. Der König
behält zwar in beschränkter Weise noch das Recht der Sanktion der Gesetze; aber
im allgemeinen ist die Staatsmaschine nach Artikel 3K und 15 der Menschenrechte
auf die absolute Volkssouveränität gegründet. Auch die richterliche Gewalt soll
nämlich von der freien Wahl des Volkes abhängen, von der Exekutivgewalt also
unabhängig sein. Das von Montesquieu nach dem Vorgange Lockes, ganz be¬
sonders aber vou Rousseau in schroffer Weise vertretene Dogma von der Abson¬
derung der drei Gewalten im Staate hält auf europäischem Boden zuerst in
Frankreich seinen Einzug in das wirkliche Staatsleben. Man machte dadurch die
Gesetzgebung republikanisch, die Vollziehung der Gesetze monarchisch und rief
einen Widerspruch zweier Staatsprinzipien hervor, der entweder den Untergang
der Monarchie oder die Unterdrückung des Parlaments im Gefolge haben mußte.
Die Folgezeit hat gelehrt, welchen Schwankungen das französische Staatswesen
unterworfen war, als das Staatsruder zuerst von der wilden Leidenschaft einer
stürmischen Versammlung, sodann von der rücksichtslosen Gewalt eines mächtigen
Herrschers ergriffen wurde. Das monarchische Frankreich wurde Republik und
ließ seinen König morden; die Republik wandelte sich zur Monarchie um und
ließ sich von einem Emporkömmling dem Untergange nahe bringen. Ähnlicher
Schwankungen sind noch jetzt diejenigen amerikanischen Republiken ausgesetzt,
die dem Vertreter der Exekutivgewalt zu wenig vermittelnden Einfluß zwischeu
den drei Staatsgewalten zugestehen.
Noch sei erwähnt, daß die französische Verfassung vom 24. Juni 1793
eine Erklärung der Menschenrechte in schroffer Form, die Verfassung vom
5. Fructidor d. I. 3 (22. August 1795) neben der präzisen Erklärung der Rechte
auch eine Aufstellung der Pflichten des Bürgers, wie sie schon von Rednern
bei Beratung der ersten Verfassung im Jahre 1789 gefordert worden war,
enthält, während die Konstitution vom 22. Frimaire d. I. 8 (13. Dezember 1799)
von keiner Erklärung der Menschenrechte mehr eingeleitet wird. Da die von
Frankreich unterworfenen Länder an dessen politischen Wandlungen teilnehmen,
so erhalten sie auch dieselben Verfassungen, und in der Zeit, wo Erklärungen
der Menschenrechte mit diesen Verfassungen verbunden sind, auch diese. So stehen
beispielsweise der Verfassung des Königreichs Westfalen die Menschenrechte
voran. Die Verfassungen von Baiern und Anhalt-Köthen sind der westfälischen
fast wörtlich nachgebildet. Erstere trat jedoch nicht in Kraft. Auch die Ver¬
fassung des Großherzvgtums Frankfurt vom 16. August 1810 ist von dem
durch Napoleon I. auf Lebenszeit zum Großherzog ernannten Karl von Dalberg
nach dem Muster der westfälischen entworfen worden.
Daß die Erklärung der Menschenrechte mich bei dem deutschen Volke
Anklang fand, läßt Goethe in Hermann und Dorothea erkennen, wenn er sagt:
Denn wer leugnet es Wohl, daß hoch sich das Herz ihm erhoben,
Ihm die freiere Brust mit reineren Pulsen geschlagen,
Als sich der erste Glanz der neuen Sonne heranhob,
Als man hörte vom Rechte der Menschen, das allen gemein sei,
Bon der begeisternden Freiheit und von der löblichen Gleichheit!
DA^Zäst in allen Erinnerungen und Aufzeichnungen aus Rom,
gleichviel ob sie frühern Jahrhunderten oder frühern Jahrzehnten
angehören, spielen die Schilderungen der Pracht und Macht
großer Kirchenfeste eine große Rolle. Es ist, als ob jeder,
der hohe kirchliche Feiertage und namentlich die Osterwoche in
Rom verlebt hat, von der Stimmung ergriffen worden wäre, in der Mortimer
mit glühendem Erguß an Maria Stuart die Wunder römischen Kirchenpomps
und seiner Bekehrung preist. Und bis heute fahren die Reisehandbücher und
gedruckten Führer fort, getreulich alle Herrlichkeiten zu verzeichnen, mit denen
ehedem Ohr und Auge berauscht wurden, erzählen ans Tag und Stunde, was
geschah, als noch der Papst das Hochamt hielt und die Völker segnete, und
bemerken höchstens in einer Randnote, daß Würde und Prunk der Kirchenfeste
seit 1870 bedeutend gemindert sind, daß vor allen Dingen kein Neugieriger
ans die persönliche Erscheinung des höchsten Kirchenhauptes zu rechnen hat.
Wenn trotzdem um die Osterzeit Rom von Fremden aller Völker überflutet ist,
so tragen dazu die alte Überlieferung, die einfache Thatsache, daß März und
April überhaupt günstige Monate für die ewige Stadt sind, und eine leise vo»
Jahr zu Jahr genährte Hoffnung, daß der heilige Vater einmal wieder ans
der Verborgenheit des ungeheuern Vatikanpalastes hervortreten werde, gleich¬
mäßig bei. In langen Zwischeuräumen, bei außerordentlichen Veranlassungen
erfüllt sich diese Hoffnung einmal; wer jedoch nicht so glücklich ist, einen dieser
seltenen Augenblicke zu treffen, der muß eben ans Rom Weggehen, ohne den
Papst gesehen zu haben. Natürlich spreche ich hier nur von Protestanten und
Andersgläubigen — für jeden Katholiken, der ernstlich den Wunsch und Willen
hat, das Haupt seiner Kirche von Angesicht zu sehen, wird sicher auch ein
Weg dazu geöffnet sein.
Wir hatten den Gründonnerstag, den Karfreitag und den Vormittag des
Ostersonntags großenteils in Sankt Peter zugebracht und zu den gesuchten
und stundenlang erharrten Eindrücken der Gesänge und Zeremonien den un-
gesuchten, aber überwältigenden Eindruck des geheimnisvollen Wachsens, des
allmählichen Gewahrwerdens und Gewiszwerdens der riesigen Raumverhältnisse
der Peterskirche davongetragen — das tausendmal Gehörte und Gelesene muß
eben vou jedem Einzelnen wieder erlebt werden, das voraus Gewußte schließt
in der Erfahrung immer noch eine Fülle des Ungeahnten, Unverhofften ein.
Die jahrelange beständige Belehrung mag die frohen Schauer der Erwartung
beeinträchtigen, die der herrlichen Wirklichkeit, des lebendigen Genusses mindert
sie nicht! Als wir von dem durch einen Erzbischof gehaltenen, sehr feierlich
prächtigen, aber nach der Versicherung alter Römer mit der Prachtentfaltung
und imposanten Würde eines echten päpstlichen Hochamts nicht entfernt zu
vergleichenden Hochamte des Ostersonntags in unsre Wohnung zurückkehrten,
fanden wir zwei Karten vor, die wir freundlicher und einflußreicher Vermittlung
zu verdanken hatten. Sie lauteten: ^utöogruvrg, ?0uMom. LiMgUo
et'gmuiiWiouL LÄs, nisi Oonsistors pkr siWitztörö (««zun» darf ig Zgutg.
Lmumuuioiuz) g,Ilg> Nossg, al Lug. Lgutitg Imuecll 7 Aprile 1890 litte oro 8
s,ut. II Ng-ostro all Lg-infra. all Lug, La-utitg,. DsUg Volps. Da zu diesen vom
Papste selbst gelesenen Messen immer nur wenige hundert Personen Zutritt
erhalten können, der Wunsch, einer solchen Feierlichkeit beiwohnen zu dürfen,
aber ziemlich allgemein ist, so durften wir es als eine große Vergünstigung
betrachten, auf diese Weise Gelegenheit zu erhalten, den greisen Kirchenfürsten
zu erblicken und dabei auch in die innern Räume des Vatikans vorzudringen,
die sonst nicht, wenigstens nicht leicht zugänglich sind. Freilich verleugnet sich
auch in diesen Dingen die Nachwirkung der Trinkgelderäonen nicht. Was
ich und andre der Liebenswürdigkeit und den Bemühungen angesehener Per¬
sonen zu danken hatten, das kaufen Engländer und Amerikaner in den großen
Hotels Bristol und Quirinal für ein paar Zehnlirestücke. Die Portiers dieser
Hotels haben in den Kanzleien des Vatikans gute Freunde genug, nur für ihre
reichen Gäste jederzeit sorgen zu können. Man müßte die halbe Litteratur
über Rom ausschreiben, wenn man wieder aufzählen wollte, wer alles über
diese Mißbräuche geklagt hat.
Nach festem Brauch waren der Einlaßkarte die Etikcttevvrschriften hinzu¬
gefügt: I^e Äg'mors sgrgnuo in iMto uoro 6 volo in tesw; i si^uorl in drao «
vritVÄtu, biguog, und Freunde, die an ähnlichen Feierlichkeiten teilgenommen
hatten, erteilten zweckmäßige Ratschläge in Bezug auf die Zeit des Aufbruchs,
auf Wagen und Wege, Schade nur, daß uns die vortrefflichen Winke wenig
helfen konnten. Denn am Morgen des zweiten Ostertages waren wir wohl
rechtzeitig wach und fertig, aber weit und breit zeigte sich kein einziger der
sonst so zudringlichen Kutscher, die namentlich auf der unserm Quartier benach¬
barten Piazza ti Spagna das Ein- und Abfangen der Fremden mit Nachdruck
und Erfolg betrieben. Unter bedauerndem Achselzucken erklärten die mit den
Droschken im seeleninnigsten Einverständnis befindlichen Portiers, daß die
Kutscher nicht eingespannt hätten, um nicht früh um sieben Uhr nach dem
geringfügigen Tarif fahren zu müssen. Für zehn, zwölf, fünfzehn Lire sei wohl
noch ein Wagen zu erhalten, aber es gelte raschen Entschluß. Wohl oder
übel schickten sich die meisten der Beteiligten darein, die Prellforderungen der
Rosselenker zu bewilligen. Wer sich entschloß, den weiten Weg zum Petersplatz
zu Fuß anzutreten, der fand vielleicht noch unterwegs einen Kutscher, der keine
oder doch nur eine mäßige Überforderung stellte. In langen Reihen und von
drei Zugängen her rollten, trotz des Scheinstreiks, die Wagen schon eine Stunde
vor Beginn der Messe der Engelsbrücke zu, ein Beweis, daß das außerordent¬
liche Ostergeschäft gut gewesen war.
Die Equipagen dürfen bei Anlässen wie diesem in den Cortile ti San
Damaso einfahren, die einspännigen Droschken müssen vor dem großen Portone
ti Bronzo, dem gewöhnlichen, allen Besuchern der Rafaelischen Fresken, der
Pinakothek und der Sixtinischen Kapelle wohlbekannten Eingange halten. Mit
dem Schritt durchs Thor betritt man nun das wunderbare Gebiet, in dem der
Papst fortfährt, als Souverän zu herrschen, nachdem das Patrimonium Petri
an das Königreich Italien verloren gegangen ist. Die Schweizergarde in ihrer
halb mittelalterlichen, halb modern militärischen Kleidung hält in dichten
Gruppen jeden Eingang besetzt, ihre Gewehre klirren so kriegerisch auf dem
Marmorboden, als dächten sie, bei Gelegenheit im Ernst Blut zu vergießen;
Purpurne Kämmerlinge weisen den Weg. Die prachtvolle, wahrhaft königliche
Scala Regia bleibt links liegen, der Hof des heiligen Damasus mit den Loggien
Brcnncmtes wird flüchtig überschritten, denn der Zudrang zur Hauptthür der
rechten Palastseite erweckt die Vorstellung, daß Eile nötig sei. Mit jedem
Schritte weiter, jedem Schritt empor mehrt sich der königliche Pomp, die
bunte und fremdartige Pracht der Erscheinungen, alle mit einem Anstrich, der
sie wesentlich von den Erscheinungen in einem weltlichen Königspalast unter¬
scheidet. Nicht nur die zahlreichen geistlichen Gewänder, die zwischen den
Nvbelgarden, den Schweizer Hellebardieren, den besondern Trachten der päpst¬
lichen Hausdienerschaft auftauchen, nicht nur Notstrumpf und Violetstrumpf und
die goldnen Abzeichen der Camerieri ti Cappa e Spada, die uns zahlreich auf
der Scala nobile und im Saal der Schweizer begegnen — die ganze Palast¬
einrichtung, die weiten Galerien, Säle und Zimmerfluchten selbst tragen ein
Gepräge, das keinem andern Herrscherschlosse eigentümlich ist. Denn bei aller
Pracht, dem großartigsten Aufwand von Marmor, von Vergoldung, von Fresken,
von kostbaren Bildwerken und Ornamenten, von schweren Prunkstoffen fällt
die Abwesenheit jedes eigentlichen Komforts, jedes Behagens sofort in die
Augen; hier ist alles Würde, feierliche Größe, die wunderbaren Raumverhält-
nisse, die Ausstattung und der künstlerische Schmuck. ^
Wir folgen den Hunderten, die sich zur Sala del Consistvrc wenden
und deren mäßigen Raum rasch zu füllen beginnen. Unmittelbar an der
Schranke, die den im Saale errichteten Altar und eine Anzahl von Sitzen von
den versammelten Andächtigen trennt, erhalten wir unsre Plätze. Alles, der
dicke Teppich, der den Boden des Saales bedeckt, die Polsterbünke, die rote
Sammetbekleidung des Geländers, ist darauf berechnet, jeden Ton zu dämpfen,
nur ein flüsterndes Geräusch geht durch die dichtgedrängte Versammlung, die
stehend und sitzend den Schlag der achten Stunde und das Erscheinen Seiner
Heiligkeit erwartet.
So viel ich mich umzuschauen und zu beobachten vermochte, waren es
ungefähr gleich viel Herren und Damen, die des Beginnes der Handlung
warteten. Und wenn man nach der Haltung und dem Gesichtsausdruck ur¬
teilen durfte, die freilich täuschen konnte, waren ungefähr zwei Drittel der
Anwesenden oder etwas mehr Katholiken und ein Drittel andern Konfessionen
ungehörige, die sich zunächst durch ihre UnVertrautheit mit gewissen Vorbe¬
reitungen sür die Messe, durch die neugierigen Blicke nach den hohen Geist¬
lichen in Violet und Purpur verrieten, die in den abgeschlossenen Raum ein¬
traten. Etwa zehn Minuten nach der festgesetzten Zeit vernahm man vom
großen Eingang her kurze, gedämpfte Rufe, sah die wachehaltenden Hellebar-
diere ihre mittelalterlichen Waffen Präsentiren, das summende Geräusch im
Saal verstummte augenblicklich, aller Augen wandten sich gespannt der Thür
entgegen, die Mehrzahl der Versammlung kniete nieder, und der Papst mit
einem kleinen Gefolge erschien in dem abgetrennten Altarraum. Dienende
Geistliche entledigten ihn rasch des Purpurs, in dem er eingetreten war, und
bekleideten ihn mit dem goldstrotzendem Meßgewande, und während der Messe,
die der heilige Vater mit leiser, nur in der nächsten Nähe vernehmlicher
Stimme las, während der andern von einem Hausprälaten zelebrirten, die er
hörte, hatten wir anderthalb Stunden Gelegenheit Leo den Dreizehnter genau
zu sehen. Mein Landsmann und nächster Nachbar, der Redakteur einer ultra¬
montanen Zeitung ans Trier oder Koblenz, übrigens ein liebenswürdiger
Rheinländer, der mir mein Ketzertum mit großer Freundlichkeit verzieh, kannte
auch die gesamte Umgebung Seiner Heiligkeit, bis auf den Arzt im geistlichen
Kleide, der den greisen Priesterfürsten auch in diesen Saal begleitet hatte und, wie
mir porteur, mit einer gewissen sorglichen Spannung die Anstrengung beobachtete,
der sich der heilige Bater unterzog. So gewiß der Ausdruck des geistvoll
milden, echt priesterlichen Gesichts Papst Leos auf jeden in der Versammlung
gewinnend und ehrfurchtgebietend wirkte, so flößte auch die ersichtlich von Alter
mit Krankheit gebeugte, nur durch die starke Willenskraft aufrecht und würde¬
voll erhaltene Gestalt des heilige» Vaters innige menschliche Teilnahme el».
Als wir zwei Wochen später Papst Leo bei dem. großen Hochamt wiedersahen,
das er am 21. April in Se. Peter abhielt, erschien er minder blaß und leidend,
als an diesem Ostermontag; es mag also sein, daß sein Gesundheitszustand
ungleich ist. Aber begreiflich wurde nur, wie die römischen Zeitungen von
Zeit zu Zeit das Publikum mit Gerüchten von ernster Erkrankung und
drohender Gefahr alarmiren können.
Sobald die Messe vorüber, der päpstliche Segen knieend in Empfang
genommen war, drängte sich der größte, namentlich der weibliche Teil
der Versammlung näher an den heiligen Vater hinan. Derselbe Raum,
der eben zur Kirche gedient hatte, verwandelte sich in ein Audienzzimmer. Aus
wunderlichen Verstecken in Kleiderfnlten, ans Kästchen und Pappschachteln
kamen, trotz des Verbotes, Rosenkränze, kleine Bilder, Kruzifixe und Blumen
zum Vorschein, die der Papst weihen sollte und, soviel ich sah, auch großen¬
teils weihte. Wir waren, nachdem er in italienischer und französischer Sprache
die Anwesenden begrüßt hatte, schicklicherweise zur Seite getreten, um den
Katholiken, die hier ein besseres Recht hatten, ihrem Kirchenfürsten zunächst
zu sein, nicht Weg und Platz zu rauben. Es währte immerhin eine Viertel¬
stunde lang, und der Arzt des Papstes hatte Ursache genug, unzufrieden und
besorgt dreinzublicken, bis Leo XIII. sich entschloß, den ihn umringenden ver-
chrnngsvollen, aber ungestümen Andrang der Gläubigen, unter die sich doch
auch eiuzelue bloß Neugierige mischten, nach abermaliger Spendung des
Segens zu durchbrechen und zu seinen Privatgemücheru zurückzukehren.
Lauter, als er gekommen war, von dein Erlebten erfüllt, mit reger gewordener
Neugier um sich schauend, flutete der Fremdenstrom die Marmortreppen hinab,
durch Hallen und Höfe dem Ausgange wieder zu. Fast alle Sprachen Europas
schlugen an unser Ohr, auffällig war das Überwiegen des Englischen. Mit
stolzer und sicherer Haltung blickten die Insassen wie die bewaffneten Wächter
des Vatikans den Hinweggehenden nach, und jeder Besucher verließ den Niesen-
palast, den großen Mittelpunkt der katholischen Welt, mit dem Gefühl, daß er
dem Walten und Weben einer Macht gegenübergestanden habe, deren Stärke trok
aller Kämpfe bis heute noch nicht völlig gemessen ist. Mit erdrückender Schwere
überkommt jede ernstere Natur die Gewißheit, daß hier ein ungelöstes welt¬
geschichtliches Problem der Lösung harrt. Das italienische Garautiegesetz vom
Jahre 1870 hat für so lange Zeit ungewisse und unerquickliche Zustände geschaffen,
als der Priesterkönig die freiwillige Gefangenschaft im Vatikan dem Leben mit
und unter den neuen Zuständen vorzieht, als große Parteien in der Mehrzahl
der europäischen Staaten in dem gegenwärtigen Zustand eine Vergewaltigung
sehen. Und doch kann man den denkenden Italienern nicht schlechthin wider-
sprechen, die den gegenwärtigen halben Kriegsz» stand, den fortgesetzten Protest
der Kurie gegen die Existenz des italienischen Nationalstaates, den tötlichen Haß
gegen die neue Ordnung der Dinge als das kleinere Übel betrachten und einen
förmlichen und feierliche» Friedensschluß zwischen der Kirche und dem König¬
reich Italien als den Beginn neuer, großer und nach menschlichem Ermessen
unüberwindlicher Schwierigkeiten fürchten. So lange sich die Weltmacht des
Papsttums in die Mauern des winzigen exterritorialen Gebietes einschließt, so
lange der Papst und der nationale König einander gegenüber, nicht neben
einander stehen, so lange wird Italien im Vorteil sein. Wenn morgen die
Macht der jesuitischen Partei im Vatikan gebrochen würde, ein national ge¬
sinnter Papst frei und rückhaltlos die thatsächlichen Verhältnisse anerkannte,
dafür auch alles in Anspruch nudae, was ihm dann nach Lage der Dinge
nicht versagt werden könnte, so schlösse voraussichtlich dieser Friede den
Beginn neuer, unabsehbarer, unberechenbarer Kämpfe in sich ein. Auch Dantes
Prophezeiungen von einem Zustande, in dem das weltliche und geistliche
Schwert nicht gegen einander gezückt sind, bleiben dunkel und ihre Anwendung
auf die Gegenwart schließt tausend Gefahren in sich. Am allerkläglichsten
nimmt sich angesichts dieser ernsten und schweren Frage der flache italienische
Radikalismus aus, der, Natur, Eigenart und Geschichte des eignen Volkes
verkennend und vergessend, die Lösung durch die Weisheit seiner Zeitungen
für möglich hält.
Gedanken solcher und ähnlicher Art mußten sich uns sowohl bei der
Privatmesse des Papstes, die ein Ergebnis und Sinnbild der gegenwärtigen
grollenden Zurückgezogenheit war, als bei dem prachtvollen Hochamt aufdrängen,
das noch in demselben Monat völlig unerwartet, aber mit Aufgebot des ganzen
alten Pompes der dreifachen Krone zu Ehren der Tausende von sizilicinischen
und süditalienischen Pilgern veranstaltet wurde, die Rom besuchten. Völlig un¬
erwartet, denn es waren ja Jahre verstrichen, seit der Papst zum letztenmal« am
Hochaltar seiner Basilika gestanden hatte. Die Kunde von dem bevorstehenden
Erscheinen des Papstes mit seinem gesamten Hofstaat, getragen auf dem goldnen
Sessel, umgeben von der Blüte des jungen römischen Adels, der alten Baronial-
familien, brachte alle Kreise der italienischen Hauptstadt und nicht am wenigsten
die Fremdenkolonie in Aufregung. Zwar hatte es diesmal keine Schwierig¬
keiten, Einlaß zur Peterskirche zu erhalten. Die religiösen Korporationen und
Institute, die Gesandtschaften beim heiligen Stuhl, die Konsulate, die dein
Vatikan irgend nahestehenden Kreise verteilten massenhaft Zutrittskarteu, den
Pilgern und geleitenden Priestern waren ihre Plätze ohnehin gesichert, selbst
die spanischen Stierfechter, die in diesen Tagen in Rom verweilten, fehlten
unter den gaffenden Zuschauern und andächtigen Hörern der großen und
seltenen Feierlichkeit nicht. Aller geistliche, militärische, höfische Prunk, über den
das Papsttum zu gebieten hat, erfüllte an dem sonnigen Morgen des 21. April
die ungeheuer» Räume der Peterskirche, Spaliere von Nobelgarden und
Schweizergarden schlössen den Gang von der Eintrittskapelle bis zu den am
Hvchaltcir erbauten Sitzen mit ihren Purpurbehängen ab, gegen dreißigtausend
Menschen drängten sich im Mittelschiff des Riesenbaues zusaimuen und ließen,
zur bessern Erkenntnis der unermeßlichen Ausdehnung des Ganzen, die Seiten¬
schiffe und Kapellen, die mächtigen säulengetragenen Wölbungen zunächst der
Eingangsthore fast völlig menschenleer. Denn die Thore gegen die Grenze
des Königreichs Italien (bis auf das mittlere sonst zu jeder Tageszeit offen)
waren heute vollständig geschlossen, die ganze zuströmende Menge mußte ihren
Weg durch das „Thor Karls des Großen" nehmen und sich, soweit sie nicht
bestimmt angewiesene Plätze vorfand, uach Gefallen und eignem Ermessen ver¬
teilen. Uns genügte für diesmal ein Platz unmittelbar hinter der Reihe der
Schweizer in der Nähe des Eingangs, den der päpstliche Zug vom Vatikan
her nehmen mußte. Und so sahen wir denn zum zweitenmal, fast ohne ge¬
drängt zu werden, die ehrwürdige Gestalt des Oberhauptes der katholischen
Christenheit, diesmal, wie ihn in alten Zeiten Stadt und Erdkreis geschaut
hatten, von der Höhe seines Tragsitzes die Pilger wie die bloßen Zuschauer
des prächtigen Schauspiels segnend, von kirchlichen Würdenträgern, Kämmerern,
und schimmernden Dienern aller Art umgeben. Man fühlte aus dem Pomp
und der feierlichen Würde des Aufzuges heraus, daß die Enthaltung, die für
jetzt zur Regel geworden ist, ihre Spitze gegen die Anhänger der neuen Ord¬
nung der Dinge richtet. Wohl gab der heilige Vater gerade bei diesem Anlaß
den italienischen Pilgern die Versicherung, daß er dein Gedeihen Italiens nicht
feindlich gegenüberstehe, und dieser Versicherung darf man ohne weiteres
Glauben schenken. Dennoch sind die Überlieferungen stärker als die persön¬
lichen Gesinnungen, und der Endeindruck, den man von den kirchlichen Festen
wie von dem sichtbaren und dem gesellschaftlich fühlbaren unterirdischen Krieg
in Rom davonträgt, bleibt der, daß unsre Bundesgenossen am Tiber mit Über¬
lieferungen kämpfen, um die sie wahrlich weniger zu beneiden sind, als um
die Weltbedeutung und Kunstpracht ihrer einzigen und ewigen Hauptstadt.
s war an einem Winterabend in den filnfziger Jahren, oder
richtiger gesagt, in einer Winternacht, denn die Uhr hatte schon,
wie man sagt eins oder das andre geschlagen. Ich hatte bei
einem Kameraden L'hombre gespielt — es war in meinen ersten
Studentenjahren — und ging nun in starker Kälte und Schnee-
sturm durch Kopenhagens Straßen heim.
Ab und zu kam ein starker Windstoß, und dann kreischten die Schilder
in ihren Angeln, und die Scheiben in den Laternen klirrten, sonst hörte man
keinen Laut und begegnete keinem Menschen, den Wächter ausgenommen, der
es vermutlich zu kalt fand, in einem Kellerschlund zu schlafen.
Ich war deshalb nicht wenig erstaunt, plötzlich ein innees Sprechen an
einer der nächsten Hausthüren zu hören. Sei so gut und komm herein, die
Thür ist auf! erklang es, und einen Augenblick später wurde hinzugefügt:
Na, herein mit dir! Soll ich dich vielleicht beim Schöpfe nehmen und die
Treppen hinauftragen, du Köter!
Neugierig, zu sehen, wer es wäre, der seiner Gastfreiheit auf diese etwas
eigentümliche Weise Ausdruck gab, ging ich auf die andre Seite der Straße
und erblickte einen jungen Mann, der einen großen schwarzen Hund ins Haus
hinein bekomplimentirte. Indem er eine Wendung machte, fiel der Schein der
nächsten Laterne auf sein Gesicht, und ich sah nun, daß es Otus Blau war,
„Blau, der Nabob," wie er gewöhnlich genannt wurde. Ich hatte bisher
kaum ein paar Worte mit ihm ausgetauscht, aber obgleich er einige Jahre
älter war als ich, waren wir doch gleichzeitig Studenten geworden, und jeder
aus diesem Jahrgange kannte ihn wenigstens dem Namen nach oder von An¬
sehen. Außerdem ist es ja eine Thatsache, daß, gleich wie Krieg, Pestilenz
und andre Landplagen, so auch starke Kälte und Schneesturm, namentlich zur
Nachtzeit, die Eigenschaft haben, Menschen, die sich sonst gänzlich fremd sind,
dahin zu bringen, daß sie sich solidarisch und familiär fühlen, und ich sagte
deshalb: Guten Abend, Blau! und fügte hinzu, es sei ein Hundewetter.
Ja, so kann man es dreist nennen, sagte er; aber es ist immerhin kein
Wetter, einen Hund draußen zu lassen! Deshalb bin ich auch dabei, das Tier
hereinzubringen. Komm doch, Caro, oder Phylax, oder wie du sonst heißt —
er sieht mir fast darnach aus, als könnte er Bätz heißen, wie? Komm Vatz, komm!
Wissen Sie nicht, wie er heißt? fragte ich.
Nein, woher sollte ich das denn wissen!
Gehört er nicht Ihnen?
Nein, dann wüßte ich doch wahrscheinlich, wie er heißt!
Er lachte über mich — ein Helles, ansteckendes Lachen —, ich lachte mit,
und der Hund, der möglicherweise wirklich Bätz hieß, ging, nachdem er seinen
Rufnamen gehört hatte, ruhig zur Thür hinein und schwänzelte vergnügt.
Ich gehe mitunter einen Gang durch die Straßen, ehe ich mich niederlege,
sagte Blau, und wenn ich dann einen solchen herrenlosen Hund antreffe, der
ausgesperrt ist, und das Wetter ist so niederträchtig wie heute Nacht, so Pflege
ich ihn bis zum nächsten Morgen mit mir zu nehmen; aber Bätz dort hat
offenbar fo viel Zartgefühl, daß es ihn genirt, Wohlthaten von einem Fremden
anzunehmen.
Ja, es scheint fast so! Na, gute Nacht, Blau! Erwachen Sie nur morgen
nicht mit einem Kater, nachdem Sie mit einem Bären zu Bett gegangen sind!
O, Sie sollten lieber mit hinaufkommen, um eine Pfeife zu rauchen, als
in so früher Morgenstunde schlechte Witze zu machen.
Nein, herzlichen Dank, die Uhr ist schon über zwei.
Was schadet das? sie schlägt wohl auch noch drei! Kommen Sie nur!
Ich weiß nicht, ob es das Überzeugende seiner Argumentation oder das
Ungewöhnliche der Einladung zu einer'solchen Zeit war, aber ich ließ mich
ohne weitere Einwendungen freundschaftlich in die Thür ziehen und die Treppe
hinauf lotsen, und ehe ich mirs versah, saß ich in einer hellen, warmen Stube,
während Bätz sichs vor dem Ofen bequem machte, wo ein paar große Holz¬
scheite nach Herzenslust knisterten und flammten-
Ich erlaubte mir die Bemerkung, es sei eine Seltenheit hier in der Haupt¬
stadt, daß jemand mit Holz heize. Blau entgegnete: Ja, aber es ist gemütlich,
nicht wahr? Ich kann mich nicht an Kohlen gewöhnen, sie geben eine so brutale
Wärme, und man beschmutzt sich, sobald man nur in ihre Nähe kommt. Aber
nun vor allem eine Pfeife — Sie können natürlich ebenso gut Zigarren be¬
kommen, aber sie ziehen wohl Porzellan oder Weichselrohr um diese Nach¬
mittagsstunde vor? Nun, das konnte ich nur denken! Bitte, greifen Sie zu!
Ah, entschuldigen Sie mich für einen Augenblick, aber es fällt mir eben ein,
daß das Tier vielleicht hungrig sein könnte; ich null nnr nach der Speise-
kammer laufen und sehen, ob sich etwas findet. Sind Sie nicht auch hungrig?
In sicherlich sind Sie es! Zu Butter, Brot und Käse und einem Gläschen
Portwein ist man immer aufgelegt! Also warten Sie lieber mit der Pfeife,
bis Sie gegessen haben!
Während mein improvisirter Wirt draußen war, that ich, was man ge¬
wöhnlich unter solchen Umständen zu thun pflegt: ich sah mich um. Es war
gemütlich hier, eine elegante und doch ziemlich aparte Studentenwohnung. Im
Fenster grünten Epheu und Hängepflanzen; ein schöner Schreibtisch von Eichen¬
holz, auf dem ich das dänische Gesetz Christians V. und ein paar juristische
Lehrbücher fand, stand schräg in einer Ecke, dahinter erhob sich vou der Erde
bis zur Decke ein Regal mit ausgestopften Vögeln und Tieren in Spiritus
und ein Gestell mit Neagentiengläsern. An der einen Wand hingen über dem
Sofa einige Jagdflinten und ein paar große Familienbilder, die Seitenwände
wurden durch einige mehr oder weniger abnorme Geweihe geziert, auf deren weißen
Schildern angegeben war, wo und wann der betreffende Bock geschossen worden war.
Sie sind eifriger Jäger? fragte ich, als Blau zurück kam und wir unsre
Käsemahlzeit verzehrten.
Ich bins gewesen und kann es wieder werden, aber vor der Hand rühre
ich kaum an eine Büchse. Sind Sie Jäger?
Ja, das bin ich; ich werde Forstmann!
Das freut mich! Willkommen aus gute Freundschaft!
Ich hätte nicht gedacht, daß Sie Jurist wären, sagte ich darauf.
Er lachte. Nein, das glaube ich gern, denn ich weiß selber nichts davon!
Ja, aber das Gesetz Christians V. und —
O der Plunder! Sehen Sie, mein Vormund wollte durchaus, daß ich
Student werden sollte das wurde ich denn auch, dritte Zensur übrigens —,
und dann schien es ihm zweckmäßig, wenn ich das juristische Examen machte.
Ich war fügsam und schaffte mir einen Leitfaden und einige andre Bücher an,
aber nachdem ich es ungefähr einen Monat lang ausgehalten hatte, wurde mir
dies Studium zu lebhaft.
Und nun sind Sie Mediziner? fragte ich mit einem Blick auf die zoo¬
logischen Präparate.
Nein, wie kommen Sie darauf?
Aber was studiren Sie denn eigentlich?
Sagen Sie es mir! Ich studire alles mögliche und nichts, ganz wie
Sie wollen. Meiner Wehrpflicht habe ich genügt — natürlich bei den Dra¬
gonern —, und in anderthnlben Jahren bin ich mündig; dann kaufe ich mir
jedenfalls ein Gut, denn das meines Vaters wurde nach seinem Tode verkauft.
Ich muß auf dem Lande leben, wo ich groß geworden bin, ich tauge weder
zum Stadtleben noch zum Studiren. Irgend etwas muß man sich aber hier
vornehmen, und deshalb habe ich mich auf Zoologie und Botanik geworfen,
das interessirt mich.
Zu früher Morgenstunde erst brach ich auf. Ich fühlte mich in hohem
Grade von Blaus frischer und lebhafter Natur angezogen, gleich wie mich sein
Äußeres vom ersten Augenblick an gefangen genommen hatte; er war kräftig
gebant und doch geschmeidig, ich konnte ihn fast um feinen vollen blonden
Bart beneiden, und in seine braunen Augen trat, wenn er sprach, ein Glanz,
der ihn geradezu schön machte.
Es ist offenbar, daß wir zwei uns östers sehen müssen! sagte er beim
Abschied, und ich ging mit dem Gefühl nach Hause, als hätte ich meinen neuen
Freund schon lauge gelaunt.
In den nächsten Jahren kamen wir nun auch fast täglich zusammen. Die
Bekanntschaft wurde auf beiden Seiten zur wirklichen, innigen Freundschaft,
der ich eine Reihe der vergnügtesten Stunden meines Lebens verdanke, und
eins kann ich mit Sicherheit sagen, daß ich nie eine frischere, ursprünglichere
Natur gekannt habe als die Otus Blaus. Es war rein unmöglich, sich in
seiner Gesellschaft zu langweilen. Immer war er auf dem Damm, immer
bereit, im Ernst oder im Scherz irgend ein beliebiges Thema zu behandeln,
und ein ganz besondres Vergnügen hatte er daran, seine manchmal etwas
paradoxen Meinungen bis zum äußersten zu verteidigen. Die Natur liebte er,
die Natur verstand er im Großen und im Kleinen; er konnte über eine Fern¬
sicht von einer Anhöhe in Entzücken geraten oder über einen ungewöhnlichen
Sonnenuntergang, er konnte mit der gleichen Begeisterung eine seltene Pflanze
wie eine Schneeflocke unter der Lupe betrachten. Deshalb hatte er sich auch
nicht wenig Einsicht in das Gebiet der Naturkunde verschafft, aber nur immer
teilweise und dilettantenhaft; bald mikrostopirte, bald skelettirte er, dann stellte
er Untersuchungen über den Wuchs der Schling- und Kletterpflanzen an, und
versuchte, wenn anch ohne Erfolg, den Hopfen und die (iodav-i 8<;MiäöUL zu
zwingen, sich in der entgegengesetzten Richtung zu schlingen als in der, die die
Natur ihnen angewiesen hat, und dann konnte er wieder ganz in Betrachtungen
über den Flug der Vögel und die Wanderung der Fische aufgehen. Zum
Gelehrten war er nicht geschaffen, das merkte ich wohl, aber ich habe nie
jemand getroffen, der Naturgeschichte so gut „erzählen" konnte wie er; seine
eigne, im Augenblick ungelenke Begeisterung für den Stoff teilte sich unwill¬
kürlich allen mit, zu denen er sprach, und er verstand eine eigentümliche, oft
halb symbolische Romantik in das einfachste Naturphänomen zu legen. Auf
der andern Seite hatte er so gut wie kein Interesse sür Kunst und Poesie,
und es gehörte zu seinen Lieblingsbehauptungen, übrigens war es wohl auch
seine wirkliche Meinung, daß, da die Kunst doch nie so etwas Schönes hervor¬
bringen könne wie die Natur, sie auch höchstens ein Surrogat für die Armen
sein könne, die keine Gelegenheit hätten, im Freien zu verkehren, gleich wie die
Poesie nach seiner Auffassung nur für den Interesse haben könne, der nie im
wirklichen Leben gelebt habe; denn dieses hat doch wahrhaftig viel mehr Poesie
und Romantik, als sich in Bilchern findet, sagte er. In naher Verwandtschaft
mit seinem ästhetischen Glaubensbekenntnis waren seine kirchlichen Anschauungen;
obgleich auf seine Weise wahrhaft religiös, vielleicht mehr als die meisten, ging
er doch nie zur Kirche: an unsern Herrn soll man denken und zu ihm beten
unter dem freien Himmel; da ist es höher zur Decke als in der Kirche, und die
Natur predigt viel besser als selbst der Bischof von Seeland!
Die Schuld um vielen seiner Wunderlichkeiten war sicherlich in seinein
Kinderleben und seiner Erziehung zu suchen; seine Mutter hatte er nie ge¬
kannt — sie war gestorben, während er noch in der Wiege lag —, der Vater
war eine kränkliche, melancholische Natur gewesen, und so blieb der zeitig ent¬
wickelte Knabe während seines Heranwachsens meist sich selbst überlassen. Er
tummelte sich am Strand und im Walde und wurde ein eifriger Jäger und
ein kräftiger Jüngling. Aber als der Vater starb und der Bormund es sür
das richtigste ansah, das wenig eindringende jütländische Gut zu verkaufen,
wurde Olaf Blau mit einmal der Kindesheimat entrückt und nach Kopenhagen
in ein fremdes Erdreich verpflanzt. Verwandte hatte er nicht, jedenfalls nicht
von väterlicher Seite, und er sprach immer halb wehmütig halb stolz von sich
selbst als dem letzten seines Stammes. Obgleich er seine Ahnen nicht weiter
als bis zu einem ziemlich obskuren Groß- oder Urgroßvater zurückverfolgen
konnte, und obgleich die richtigen alten Blaus, von denen bereits die Ritter-
liedcr erzählten, schon im fünfzehnten Jahrhundert ausgestorben sein sollen,
nährte er doch einen unerschütterlichen Glauben an seine legitime Abstammung
von diesen und fühlte eine fast kindliche Freude bei dem Gedanken, dein
„guten alten dänischen Adel" anzugehören; ab und zu vertiefte er sich deshalb
auch in genealogische Studien, und einmal saß er einen ganzen Monat lang
jeden Vormittag im Geheimarchiv und durchstöberte, wenn auch ohne Ergebnis,
Gott weiß wie viele Namenregister in der Hoffnung, einen Beweis oder doch
einen Stützpunkt für die Zusammengehörigkeit zwischen den alten Blaus und
seinen eignen Voreltern zu finden.
Ich wurde nach und nach sein nächster Vertrauter, aber es gab noch viele
außer mir, die seine Gesellschaft suchten und Wert darauf legten; unwillkürlich
richtete sich jeder nach ihm und folgte seinem manchmal etwas despotischen
Kommando, nicht allein weil er wirklich viel reifer und selbständiger war, als
irgend einer von uns andern, sondern auch weil er immer Leben in die Ge¬
sellschaft brachte und in neuen, originellen Einfällen unerschöpflich war. Er
war ein vortrefflicher Wirt — im Verhältnis zu uns Gleichaltrigen ein wahrer
Krösus —, und er scheute keine Anstrengungen und keine Kosten, um seinen
Gästen mit einem Souper aufzuwarten, das sie gar nicht erwiedern konnten;
er lies; Ragout von Meerschnecken mit scharfer Sauce bereiten und er ver¬
schrieb — was damals noch etwas Unbekanntes war — einen Anker echten
Münchner Bieres, wozu wir, Gott mag wissen weshalb, nur Tabak aus Thon-
pfeifen rauchen durften, die er natürlich selbst lieferte, ja einmal machte er es
möglich, durch einen Bekannten, der in dem grönländischen Handelsdepartement
angestellt war, seine Freunde mit eingekochtem Walroßfleisch und Eisbär-
koteletteu zu traktiren, merkwürdigerweise ohne zu verlangen, daß wir Thrmi
dazu trinken sollten. Eines Abends war ein kleiner verwelkter Philosoph, der
Imsen hieß, zugegen und hielt einen ziemlich langen und ganz unmorivirten
Vortrug über die l<Z8lion,g,s, die über einem griechischen Symposion ausgebreitet
gewesen sein müsse, wo die Teilnehmer mit Epheukränzen um das lockige Haar
deu edeln Sast der Tranben und geistreiche Gespräche genossen hätten, und
wo die Grenze der Schönheit niemals überschritten worden sei.
Aber wir, sagte Imsen, wir sind aller Schönheit bar!
In wir sind es! Wir sitzen und trinken prosaisches Vier oder fusligen
Portwein, und wollen wir uns zu etwas Höherem, Idealerem aufschwingen, so
können wir das nur erreichen, indem wir uns in die Schriften der Alten ver¬
tiefen. Ich z. B., ich habe ausschließlich meine schöne humane Lebensanschaung
der Bekanntschaft der Alten zu verdanken.
Blau, der nie eine Gelegenheit versäumte, seine Theorie anzubringen und
zu entwickeln, daß man die Schönheit nur in der Welt der Wirklichkeit suchen
dürfe, und nicht in toten Büchern, erklärte sogleich, daß, wenn es wirklich so
schön gewesen sei, ein Symposion zu halten, wie Imsen behaupte, so solle mau
dies halten, anstatt dazusitzen und drüber zu lesen oder zu schwadroniren,
und im Handumdrehen sandte er nach einem echten griechischen Wein — Mcmro-
daphue — ließ Kränze von den eignen Epheustöcken binden, die wir auf¬
setzen mußten, wir mochten wollen oder nicht, und nun begann das Symposion,
von dem ich übrigens einen stärkern Eindruck des guten Weines als des geist¬
reichen Gespräches behielt. Der kleine Imsen geriet in einen sehr bedenklichen
Zustand, sodaß er, als wir andern gingen, auf das Sofa gelegt werden mußte;
aber Blau lachte gutmütig, und indem er den Schlummernden ansah, dessen
Gesichtsfarbe einem klassischen Marmorantlitz ähnelte, sagte er zu uns andern:
Ich finde gerade nicht, daß über dem kleinen Imsen jetzt, nachdem er bei
einem Symposion gewesen ist, mehr Schönheit ruhe als sonst! Was
meint Ihr?
Ein andresmal kam das Gespräch auf Reisen ins Ausland, und als einer
»der der andre sich in hohen Tönen erging, wie herrlich es doch sein müsse,
reisen zu können, so war das für Otus Blan mehr als genug, um zu erklären,
daß alles an deu ausländischen Reisen Einbildung sei: Man kann ja genau
dasselbe Vergnügen haben, wenn man zu Hause bleibt und doch reist! behauptete
er. Wieso?' rief der ganze Chor. Nun, ich lade euch alle zusammen ein
— wir waren vier bis fünf Mann —, außer Landes morgen früh mit mir zu
reifem Wir treffen uns auf der Valbystation, und dann spielen wir „Fremde
in Kopenhagen." Wir bilden uns ein, daß Nur Ausländer wären, gehen ans
den runden Turm und in die Museen — dorthin kommen wir ja sonst ohne¬
hin nicht! — und essen zu Mittag im Hotel. Und so stark war die Disziplin,
wo Blau kommandirte, daß wir uns allesamt wirklich am andern Morgen an
der Valbystation einfanden und als große Kinder „Fremde in Kopenhagen"
spielten; wir hatten einen unermüdlichen Wirt und Führer, der sich an diesem
Tage sast selbst übertraf, und wir amüsirten uns köstlich.
Von derartigen Geschichten konnte ich in Masse berichten, da ich aber nie
ein Ende finden würde, so ist es am besten, ich komme so bald als möglich
zur Hauptsache, nämlich zu ?rg,x!i rmtWS.
(Fortsetzung folgt)
Warum Bier nicht aus Gläsern getrunken werden soll/') Diese
Frage ist vom höchsten Interesse, denn auf dem Standpunkte des Biertrinkers
stehen wir alle, und für einen Biertrinker ist es von großer Bedeutung, ob das
Bier gut schmeckt oder nicht. Der Verfasser beabsichtigt den Nachweis zu liefern,
daß ein dem schlechten Geschmacke des Bieres, das ans Gläsern getrunken wird,
das Glas selbst schuld sei. Thatsache ist, daß die Trinkkünstlcr unter den Bier¬
trinkern schon seit lange den Maßkrug bevorzugen und verächtlich von allen Seideln
und Gläsern reden. Es ist richtig, eine Maß Hofbräu schmeckt ganz anders im
Hofbränhaus, wo man es aus Steinkrügen trinkt, als gegenüber im Restaurant,
Wo man es im Glase erhält.
Man war bisher der Meinung, daß das/ was nur Geschmacksnrteil nennen,
eine sehr komplizirte Sache sei, daß hierbei Auge, Nase art Gefühl, sowie die
allgemeine Stimmung ihr Wort anredeten, und daß es sehr schwierig sei, ein solches
Urteil in seine einzelnen Bestandteile zu zerlegen. Man hat — mit einem Worte —
den Schwerputtkt auf den physiologischen Vorgang gelegt. Ich selbst habe mich
einmal über diesen Punkt mit möglichster Gelehrsamkeit verbreitet. Nun kommt
Herr Dr. Schnitze als Chemiker und weist nach, daß es einen Bierschädling gebe,
der den Geschmack des Bieres verderbe, und daß dieser Bierschädling das Bleioxyd
sei, das ans dem. bleihaltigen Glase ins Bier übertrete.
Er hatte schon früher darauf aufmerksam gemacht, daß das Sonnenlicht den
Biergeruch und -Geschmack zerstöre, und daß es rationell sei, Bier ans Krügen zu
trinken. Hierbei hatte er die Beobachtung gemacht, daß in einzelnen weißglasirtcu
Krüger der Biergeschmack dennoch verdorben wurde, während er in andern gewöhn¬
lichen Krüger erhalten blieb. Jene hatten eine Bleiglasur, diese eine Kochsalzglasur,
waren also bleifrei. Ebenso war bei Gläsern ein Unterschied des Geschmackes
wahrzunehmen. Um der Sache auf den Grund zu kommen, füllte er einen Krug
und ein Glas, nachdem beide eine Zeit lang im Keller gestanden hatten, direkt vom
Lagerfasse, ließ sie im Dunkeln und Kalten am Lagerfasse stehen und kostete den
Inhalt beider Trinkgefäße von fünf zu fünf Minuten. Bei dieser Versuchs¬
anstellung sind also die Einflüsse des Lichts und der Wärme ausgeschlossen. Tritt
ein Geschmacks- und Geruchsunterschied ein, so muß er von der Gefäßsubstanz ver¬
ursacht sein. Schon nach fünf Minuten war der Unterschied bemerklich. Das Bier
im Glase schmeckte scharf, dünn, leer, das Bier im Steinkruge süßlich, mild, zart
und rund. Der Unterschied wuchs mit der Zeit.
Nunmehr bezog der Verfasser aus den Bierstädten Wien, München, Frank¬
furt a. M., Dresden und Berlin alle erdenklichen Seidel, Tulpen, Gläser und
Stangen, sechsundvierzig an der Zahl, und wiederholte den Versuch — jedesmal
mit demselben Erfolge. Offenbar enthielten diese Gläser auch Bleiverbindungen.
Einstündige Auskochung mit vierprozentigem bleifreiem Essig ergab, wenn der Essig
mit Schwefelwasserstoff behandelt wurde, Bräunung durch freiwerdendes Blei. Die
Menge des im Glase enthaltenen Bleies wurde durch langwierige Analysen fest¬
gestellt. Es befanden sich meist Mengen von 0,20 bis 0,80 Prozent darin,
doch stieg die Menge in einzelnen Fällen bis 1 Prozent, 1,5 Prozent und 4,67
Prozent. Einzelne Berliner Gläser waren fast bleifrei. Ein völlig bleifreies Glas
fand der Verfasser in seinem Laboratorium in Form, eines Kochbechers. Bier, das
in diesem Kochbecher gestanden hatte, schlug an Geschmack alle andern Biere, die in
Gläsern waren, während das Bier in dem Glase mit 4,57 Prozent Bleigehnlt
nach zehn Minuten ungenießbar war. Es lag also am Bleigehalte des Glases.
Das Bleisilikat des Glases wird von der stark kvhlensäurehaltigen Flüssigkeit auf¬
gelöst und verdirbt das Bier.
Aber mich die Natron- und Kalksilikate werde», gelöst, was zur Folge hat,
daß bleifreie Gläser das Bier im Geschmack und Geruch verschlechtern, wenn auch
nicht in so hohem Maße. Um ganz sicher zu gehen, richtete der Verfasser abends
Kostproben ein. Das Ergebnis war: jede der prüfenden Personen fand die Ge¬
schmacks- und Geruchsverschlechteruug des Bieres durch das bleihaltige und durch
das bleifreie Glas sofort heraus und gewann die Überzeugung: Bier im Glase ist
nichts andres als Bier auf dem Sterbebette.
Um zu wägbaren Mengen zu gelangen, ließ der Verfasser zwölf Gläser fünf¬
zehn Tage in Bier liegen und prüfte nach dieser Zeit den Gewichtsverlust. Denn
offenbar muß das Glas an Gewicht verlieren, wenn es an das Bier Stoff abgiebt.
Der Verlust betrug bis zu zehn, Milligramm. Und zwar hatten auch die bleifreien
Gläser Stoff abgegeben. Dies ergiebt unter Reduktion der Glasoberfläche und der
Zeit von fünfzehn Tagen auf fünf Minuten 6 bis 26 Zehnmillionstel Milligramm
Glassübstnuz mit 0 bis 48 Tausendmillivnstel Milligramm Bleioxyd in einem Kubik¬
zentimeter Bier.
Hier tritt beim Leser der bekannte Zustand der Paffigkeit ein. Taufeud-
millionstel Milligramme find Mengen, vor denen sich selbst die Potenzen der
Homöopathen verstecken können. Es steht um dem Leser frei, sich zu tuenden,
wohin er will. Er kann diese Zahlen als eine Bestätigung der Probe ansehen
oder auch als den Beweis einer mißlungenen Probe.
Der Verfasser verweist zwar auf die unfaßbar feinen Verdummungen ätherischer
Öle, die unser Geruch wahrnehmen kann, daß ^^„^ Milligramm Chlorphcnol
und ^„^OM» M^n,Man Mereaptan imstande sind, den Geruchsnerven zu erregen.
Ader das ist der Geruchsnerv, der es mit Gasen, nicht der Geschmacksnerv,, der es mit
Lösungen zu thun hat. Mag das nun sein oder nicht sein, jedenfalls tragt die
größere Zahl der Nullen im Nenner eines Bruches nicht zur größer» Sicherheit
einer Rechnung bei. Kehren wir lieber zum Experiment zurück.
Nach den Untersuchungen des Verfassers ist das Glas keineswegs eine so
indifferente Masse, als man anzunehmen Pflegt. Schon kaltes, destillirtes Wasser
greift Glas an, derart, daß nach etlichen Tage» Blei, das aus dem Glase stammt,
im Wasser nachzuweisen ist. Wird gewöhnliches rauhes Preßglas in Gebrauch ge¬
nommen, so dauert es uicht lange, bis die rauhe Flache durch den Gebrauch glatt
wird. Die Glaspartikelchen sind durch Bier und Wasser nach und nach aufgelöst
worden. Ganz besonders ist aber das Bier wegen seines starken Kvhlensänregehaltes
geeignet, Silikate aufzulösen und im kleinen das zu vollbringen, was man im
großen Verwitterung nennt. Wir hätten keine Berge mehr ans Erden, wenn das
Wasser so viel Kohlensäure enthielte als das Bier.
Der „zielbewußte" Biertrinker kann also damit nicht einverstanden sein, daß ihm
sein Bier in einen«, Gefäß übergebe» wird, das dessen Genußwert erheblich herab¬
setzt. Der vollznhlende Biertrinker erhält für sein Geld ein Bier von herabgesetzter
Qualität; das Bier hat also, obwohl es getrunken wird. seinen Beruf zum Teil
verfehlt. Darum ist nach dem Verfasser Glas bierwidrig.
Aber anch der Steinkrug ist nicht über jeden Zweifel erhaben, vielmehr fleht
er dem Trinkgefäß ans Gold oder mit Vergoldeter Wand in demselben Maße
nach, wie das Glas dem Kruge. Der Holzkrug — das Lichtenhainer Kamraden —,
das nnr eine Fortsetzung des Faßzustandes darstellt, würde ebenso unschädlich sein
wie das edle Metall, wenn nicht das Pech schon bei 1^ Liter Bier — nach des
Verfassers Erfahrung — .Kopfschmerzen verursachte. Es bleibt aber außer dem
Golde noch ein Metall übrig, das reine Zinn. Der gute Zinnkrug erweist sich
höhern Ansprüchen an den Biergeschmnck gegenüber als vollkommen genügend,
wahrend er einen Preis hat, der ihn jedermann Angänglich macht.
So wäre denn nach Herrn I.)e. Schultzes Untersuchungen der Zinnkrug der
Sieger. Wir können damit vom Standpunkte nicht allein des Biertrinkers, sondern
auch des Kttustgewerblers zufrieden sein. Man lernt den feinen Silberton von
Zinugeschirr, „das jovialische Leuchten eines zinnernen Tellers" gegenwärtig wieder
mehr schätzen und wird sein Hans um so lieber mit diesen« sehr zu Unrecht gering¬
geschätzten Metall ausrüsten, als die Zinnkrttge das Bier rund, zart, milde und
süß machen. Freilich bei den« Stoffe, das man, hierzulande — ich will nicht
verraten, wo — Bier zu nennen die Keckheit hat, wird weder Zinn noch Gold
noch Steinkrng etwas helfen.
Die Bier-chemische Untersuchung von Dr. Schnitze hat begreiflicherweise in den
Kreisen der Preßglasfabritnnten böses Blut gemacht. Denn, wenn der Verfasser
Recht hat, und das Publikum ihm Recht giebt, so sieht es mit den Biergläsern böse
ans. Eine Entgegnung hat denn anch nicht ans sich warten lassen. Es ist uur
zu bedauern, daß diese Entgegnung aus dem Kreise der Bierglasfabrikanten ge¬
kommen und nusgesprocheuer Maßen für derei« Interessen geschrieben ist. Man kann
also dein Gegenpart nicht verdenken, wenn er gegen die Sachlichkeit der Einwände
Mißtraue«« hat. Professor or. F. Linke vom chemischen Laboratorium der Kunst-
gewerbeschule in Wien veröffentlicht eine Entgegnung*), in der er sagt: Da diese
(des Dr. Schnitze) Schlüsse, wenn unwiderlegt und wahr, geeignet wären, die Glas¬
industrie zu schädigen, interessirte es mich, der Sache ans den Grund zu gehen und
zunächst die Logik der Dr. Schultzescheu Broschüre einer Prüfung zu unterziehen,
dann auch selbst analytische Untersuchungen anzustellen. Meine Ergebnisse sind
folgende: die Logik der besagten Broschüre hat sich als sehr wenig stichhaltig, die
Behauptung des Bleigehaltes der Biergläser — wenigstens für Wiener Gläser —
als falsch erwiesen.
Hierauf ist nun wieder 1>r. Schnitze die Antwort^) nicht schuldig geblieben.
Und zwar hat er sich dabei einer solchen hahubücheuen Grobheit bedient, daß bei
dem Unbeteiligten die Meinung nicht abzuwehren ist, der Herr Doktor donnere nur so
start, um das Gesicht einer sachlichen Schwäche zu überdecken. Wir lassen uns ans
den Streit nicht weiter ein, sondern prüfen Rede und Gegenrede in den für uns
als „zielbewußte Biertrinker" wichtigen Punkten.
Doktor Schultze hat in Wiener Gläsern durchschnittlich 1,28 Prozent Blei ge¬
funden. Professor Linke, der wußte, daß in den Preßglashlitten seit wohl schon
länger als einem Dezennium aus Ersparnngsrücksichten, und weil in der neuern
Technik nicht mehr nötig, kein Blei mehr in Anwendung kommt, untersuchte nun
in seinem Laboratorium dieselben Glassorten und fand in vierunddreißig Fällen
nur unwägbare Mengen und zwar in 23 Gläsern weit unter Prozent, in
sechs Glttseru Prozent, in fünf Gläsern ^„ Prozent, also durchschnittlich
während Dr. Schnitze die 128fache Menge nachweist. Natürlich hält Dr. Schultze
seine Behauptung vollinhaltlich aufrecht, selbst die, im Meißner Porzellankruge Blei
gefunden zu haben, was Professor Linke für unmöglich erklärt. Und so steht Be¬
hauptung gegen Behauptung. Wir sagen: Non ki^uzt.
Ferner hatte Dr. Schnitze behauptet, daß die aus dem Glase ius Bier ge¬
ratende Bleimenge gesundheitsgefährlich sei, und hatte dabei von seiner dreizehn¬
jährigen Tochter die Geschichte einer wunderbaren Erkrankung Und Genesung erzählt,
die eigentlich ins Kapitel der Wunderkuren gehört. Professor Linke rechnet nun
aus, daß ein täglich zwei Liter Bier trinkender Mensch 91 Jahre brauche, um bei
dem, bleihaltigsten der Schnltzeschen Glaser ein, Milligramm Blei in den Leib zu
bekomme». Beim Durchschuittsglase brauche er 325, bei deu von ihm selbst unter¬
suchten Gläsern 40 000 Jahre. Hierauf erwidert Dr. Schultze: Warum ein Milli¬
gramm? Warum nicht ein Gramm? einen Meter-Zentner, ein Bleibergwerk? und
beruft sich auf die physiologische Wirkung kleinster Mengen und darauf, daß das
deutsche Gesundheitsamt eine untere Grenze der Bleigefährlichkeit uicht aufgestellt
habe. Aber es giebt doch eine solche Grenze, sonst wären wir alle schon bleisiech,
und daß die vo« Dr. Schultze ausgewiesenen Mengen unter dieser Grenze liegen,
bedarf doch kaum des Beweises.
Wir haben es aber mit dem Blei als BierschNdling, nicht als Menschen¬
schädling zu thu». Professor Linke ist um der Ansicht, daß, wenn von der Wand
des Glases durch das Bier in fünf Minuten 0,0000017 Milligramm bis 0,000027
Milligramm Beioxyd abgelöst werde, von dieser Spur einer Spur von Blei
die fragliche Geschmacksverschlechternng unmöglich herrühren könne. Bielmehr
müsse bei der Unsicherheit des Geschmacksurteiles Selbsttäuschung vorgelegen oder
irgend eine andre Nebenursache mitgewirkt haben. In Snnnna müsse wohl der
Geist des Saturn über Dr. Schnitzes Arbeiten geschwebt haben, d, h. er müsse
wohl von einem — wie Dr. Schnitze das Wort selbst auslegt — Bleiverfolguugs-
wahn befangen sein.
Da kommt er aber schön an! Ob die hundert Bierzeugen thörichte, urteils¬
lose Leute gewesen seien? Ob das, was den Geschmack im Weine macht oder
verdirbt, wägbare Bestandteile seien? Ob nicht unser Geschmack und Geruch viel
kleinere Spuren nachweisen könnten als selbst unser Auge bei Färbung oder Trübung
einer Flüssigkeit? Wodurch deun der gesamte Theehandcl und Weinhandel seine
Entscheidung und Werthbestimmung treffe? Durch den Geschmack und nur durch
den Geschmack, der also doch kein so trügerischer Sinn sei.
Ja, ganz schon. Beim Wein- und Theehandel giebt es eine große Zahl ge¬
übter Feinschmecker, deren Urteil erprobt ist und übereinstimmt. Bei der vor¬
liegenden Bierfrage haben wir Herrn Dr. Schnitze, der sicher eine seine Zunge hat
und sich durch Nebenumstände nicht täuschen läßt, und seine hundert Bierzeugen,
von denen wir weiter nichts wissen, als daß sie ungläubig kamen und gläubig
davongingen. Über die nähern Umstände der Bierprobe ist nichts mitgeteilt. Wir
wissen nicht einmal, ob den Besuchern das Bier im Glase von vornherein als das
schlechtere bezeichnet worden war, wir wissen auch nicht, ob nicht ein inzwischen
entstandener Tenipcraturuuterschied dem Bier im Kruge zu gute kam. Herr
Dr. Schultze darf noch nicht behaupten, daß die Bierverschlechterung dnrch das Glas
eine feststehende Thatsache sei, wenn die Sache sür ihn auch als feststehend er¬
scheint. Er darf es uns nicht verübeln, wenn wir die Möglichkeit zugeben, daß
er unter dem Sternbilde des Saturn stehe und sich selbst getäuscht habe, wie es
Leuten leicht ergeht, die sich auf eine Sache knieen. Unser alter guter Freund
Professor Jäger, also ein Wollspezialist, empfand faktisch brennenden Schmerz im
Gesäß, weil er eine schwarze Hose anhatte. Und er hat auch viele hundert Woll¬
zeugen hinter sich, die auf seine Haarpillen schwören.
Schade! es war ein schöner Anfang gemacht, in die Biergeschmacksfrage Klar¬
heit zu bringen, nun aber hat sich die Diskussion Verfahren, und wir dürfen weder
von I)r. Schnitze noch von Professor Linke weitere Förderung erwarten. Es wird
wohl alles beim alten bleiben, wenn wir als zielbewußte Biertrinker die Sache nicht
selbst in die Hand nehmen. Die erste Bedingung ist ein guter Stoff, die zweite
ein paar gute Freunde mit gebildeter Zunge. Beides wird sich finden lassen. Der
Koster darf nicht wissen, in welchem Gefäße das Glasbier ist. Man muß also
entweder beide Gefäße umfüllen oder zwei Steinkrüge nehmen und in das Bier
des einen ein Glasgefäß, einen Zylinder und desgleichen stellen und vor dem Kosten
entfernen. Stellt sich die Thatsache zweifellos heraus, daß das Glas dem Biere
Schärfe giebt, so ist es uns ganz gleichgiltig, ob das von Glas oder Blei her¬
rührt, wie groß die „Spuren" sind, die sich vom Glase ablösen, oder ob die
Glasindustrie geschädigt wird; wir scheu das Glas beiseite und trinken ans dem
Kruge. Wir machen allen Ernstes dem Leser den Vorschlag, zur Lösung der
schwebenden Bierfrage beizutragen.
er sogenannte böhmische Ausgleich scheint seinen Kreislauf bereits
vollendet zu haben. Die Tschechen wollen ihn nicht zu stände
kommen lassen, und die Deutschen erkennen endlich, daß ihnen
auch das weiteste Entgegenkommen nichts nützt. Auch dieser
Sühneversuch ist gescheitert, und man muß nur wünschen, daß
er der letzte bleibe. Wie viele Mittel sind schon versucht worden, die Tschechen
zu einer vernünftigen, ruhigen Mitarbeit an den Staatsgeschäften zu bewegen!
Aber weder die Giskrasche „Versöhnung durch die Freiheit," noch die wohl¬
wollende Vermittelung des Grafen Potocki, noch des Grafen Taaffe äußerste
Zugeständnisse haben verfangen, auch die Kapitulation, zu der Beleredi und
Hohenwart bereit waren, würde nicht befriedigt haben, wenn sie zu stände ge¬
kommen wäre, und die geheimen Zettelungen, einmal von Beust, einmal von
Privatpersonen (angeblich unter der Ägide des damaligen Ministers Unger)
betrieben, haben die Lage immer nur verschlimmert. Ob die Tschechen jemals
sür den Genuß politischer Freiheit reif werden, ist fraglich, jetzt find sie noch
nicht so weit. Die großen Mundhelden an ihrer Spitze wiederholen täglich,
»das Volk" verlange das tschechische Königreich Böhmen, und es ist gar nicht
zu leugnen, daß die Massen fanatisirt worden sind in dein Grade, daß die
Alttschechen nur noch durch die schmählichsten Winkel- und Rückzüge, Ver¬
schlingen der eignen Worte und bedingungslose Unterwerfung sich vor dein
Schicksal retten können, ebenso verfehmt und verfolgt zu werden, wie einst
Herbst und Schmerling. Als ob es ein Kunststück wäre, ungebildete, begehr¬
liche Bvlksmassen gegen angebliche Unterdrücker zu entflammen! Das haben
die Demagogen aller Zeiten verstanden, auch die tschechischen im vier¬
zehnten und fünfzehnten Jahrhundert und die von 1848. In dein letztern
Jahre war Graf Leo Thun, ein Hauptförderer des Tschechentnms, kann
seines Lebens sicher. Dann kam Windischgrätz mit seinen Bomben, kam der
Belagerungszustand, „das Volk" vergaß, daß es schon einen Bierbrauer zum
König von Böhmen gekürt hatte, der Bürger schämte sich seines einstigen Lieb-
üugclns mit den Russen, und das autokratische System fand keine willigeren
Werkzeuge als tschechische Demokraten. An diese Thatsache lassen sich unsre
lieben Landsleute ungern erinnern, aber deren Gedenken ist noch in allen
Ländern Österreichs lebendig; in Ungarn und Galizien hat man die tschechischen
„Germanisatoren," denen zum Teil so langes Leben verliehen ist, daß sie noch
einmal Freiheitsapostel werden konnten, in den deutschen Ländern die Polizei¬
spitzel aller Grade noch nicht vergessen. Dieses Volk ist nur glücklich, wenn
es eine starke Faust über sich fühlt; läßt der Druck uach, so wird es über¬
mütig, gewaltthätig, weiß nicht, was es will.
Auch wir haben uns in diesem Punkte früher getäuscht — wer nicht?
Wir hofften, die volle Gewährleistung ihrer Nationalität würde die Tschechen
wieder zur Besinnung bringen, sie würden sich nach und nach wieder
darein finden, friedlich neben und mit den Deutschen ihren Kohl zu pflanzen
und ihr Gewerbe zu betreiben. Früher. Allein die Vertrauensseligkeit der
Herren vom Prager Kasino und des von ihnen geleiteten Teiles der Deutschen
in den ersten Monaten dieses Jahres haben wir nicht mehr begriffen. Auf
die hochpolitischen Erwägungen, die bei den Führern unverkennbar im Spiele
waren, kommen wir nachher. Genug, sie meinten, ihre Versöhnlichkeit auch
durch große Opfer und durch Vertrauen beweisen zu müssen; sie feindeten wie
ihre gefährlichsten Gegner diejenigen Deutschböhmen an, die nur wagten, zu
bedauern, daß außer der tschechischen und der deutschen Kurie im Landtage
anch noch eine Kurie der Großgrundbesitzer geschaffen werden solle, die dnrch
ihr Veto jeden Beschluß vereiteln könne; sie gaben Rechte preis im Vertrauen
auf die Billigkeit der Tschechen. Ein solcher Fall hat nun das Loch in die
Pauke geschlagen. Im Landesschulrat soll die Gemeinde Prag durch einen
Deutschen und einen Tschechen vertreten werden, und der Stadtrat sollte zu
diesem Zwecke je drei Vorschlüge machen; in dieser Bestimmung erblickte Rieger
eine Kränkung des Stadtrates, der gewiß stets loyal vorgehen werde, und auf
diese Versicherung hin willigten die Deutschen darein, dieser Körperschaft das
freie Wahlrecht zuzugestehen. Die Wahl ist zum erstenmale erfolgt, und der
Stadtrat hat einen Schuldirektor deutscher Abstammung gewählt, der als Über¬
läufer sich der tiefsten Mißachtung der Deutschen erfreut. Rechtlich ist da¬
gegen nichts einzuwenden. Der Stadtrat hat nicht loyal gehandelt, aber das
konnte auch kein Unbefangener von ihm erwarten. Doch damit nicht zufrieden,
bekannten die Prager Blätter offen, man habe den zu einem Thersitesruhm
gelangten Herrn Heinrich gewählt, um die Deutschen zu höhnen, eins davon
nannte die Wahl „eine brennende Ohrfeige" in das Antlitz der Deutschen.
Dieser Tabak war nun ein wenig zu stark. Wo Deutsche im Lande wohnen,
äußerte sich die Entrüstung sehr entschieden, und fast überall waren sie dar¬
über einig, welche Antwort ans diese unverschämte Beleidigung zu erteilen sei.
Im nächsten Jahre soll nämlich in Prag eine böhmische Landesausstellung
stattfinden. Nur von tschechischer Seite beschickt, würde sie kaum groß inter-
essiren, selbst wenn die Besucher gewiß wären, die berühmtesten Landesprodukte,
die Gebrüder Gregr, Marat-Vnschath, die tschechischen Granden „Kaunic" und
Laschanskh und den Ehrentschechen Heinrich in den Schaukästen zu finden.
Daher war eins der ersten Desiderien beim Ausgleich, daß die Deutschen den
Beschluß, der Ausstellung fern zu bleiben, fallen lassen sollten, und in den
Flitterwochen der Versöhnung wurde diesem Wunsche bereitwillig entsprochen.
Nun erklären die Nordböhmen es ziemlich einhellig für unstatthaft, als Aus¬
steller die Gastfreundschaft einer Stadt anzunehmen, deren offizielle Vertretung
sie eingestandenermaßen absichtlich beleidigt hat. Die Parteileitung aber ver¬
öffentlicht eine Erklärung, die von dem Zurückziehen der Zusage abrät. Zwei
Gründe werden dafür angeführt. Einzelne hätten sich bereits Kosten für die
Ausstellung gemacht; das läßt sich hören, obwohl anch die Meinung etwas
für sich hat, es sei wirtschaftlicher, die Auslagen verloren zu geben, anstatt
noch mehr Geld an ein so wenig Aussicht bietendes Unternehmen zu wenden.
Auch ist dieser Grund augenscheinlich nicht der entscheidende, sondern der
folgende: obwohl die in Prag versammelt gewesenen Abgeordneten nicht mehr
an das Gelingen des Ausgleichswerkes glauben, wollen sie sich nicht nach¬
sagen lassen, sie hätten, wenn auch nur in einer Nebensache, ein Versprechen
zurückgenommen.
So trocken hingestellt muß dieses Rüsonnement Verwunderung erregen.
Denn die tschechischen Blätter scheuen vor keinem Unsinn, vor keiner Verdrehung
der Wahrheit zurück, um den Deutschen die Zerstörung des Versöhnungswerkes
vorzuwerfen, sie würden sich auch nichts daraus macheu, gerade das Erscheinen
der Deutschen auf der Ausstellung in demselben Sinne zu benutzen. Daß
ihnen kein vernünftiger Mensch glaubt, wissen sie ganz gut, sie Wollen eben Bruch
und Skandal haben um jeden Preis. Indessen ist zu berücksichtigen, daß der
Kaiser das Protektorat der Ausstellung angenommen hat, und ihn würden die
Deutschen zu verletzen fürchten. Sollte, was ja nach all diesen Vorgängen
nicht unmöglich ist, der Kaiser seine Zusage zurücknehmen, so würde das die
Sachlage ändern.
Manche Zeitungsstimmen lassen auch erkennen, daß den Führern der
„Altliberalen," wie die Partei der „Vereinigten Linken" jetzt häufig genaunt
wird, der „Fall Heinrich" keineswegs unwillkommen ist. Nach ihrer Doktrin
müßte Graf Taaffe doch endlich den Platz räumen, da er mit seinem Pro¬
gramm so vollständig auf den Sand geraten ist, und dann bliebe keine andre
Möglichkeit, als die Berufung eines deutschen Ministeriums. Auf die Frage:
was dies thun werde, um der Verwirrung ein Eude zu macheu, erhält man
leider keine klare Antwort. Aber wenn die Herren nicht im Besitz eines Ge¬
heimmittels sind, ließe sich der Verlauf der Dinge nicht allzu schwer voraus-
sagen. Freie Wahlen werden stets eine tschechische Mehrheit für den böh¬
mischen Landtag und eine deutschfeindliche Mehrheit im Reichsrat ergeben. Um
diese abzuwehren, müßte zu den altbekannten Mitteln gegriffen werden: sanfter
Druck auf Kreise, die es mit dem Hofe nicht verderben wollen, in andern
Schichten stärkerer durch die Beamtenschaft; in Galizien würde möglicherweise
trotz allem, was dort in den letzten Jahrzehnten verdorben worden ist, noch
der Schutz gegen polnische Wahlkünste genügen, um eine der Bevölkerungs-
ziffer entsprechende Anzahl Urtheilen in die Vertretungen zu bringen und sie
wieder regierungsfreundlich zu stimmen. Dann könnte die Festsetzung der
Grenzen zwischen deutsch und tschechisch durchgeführt, und vor allem dnrch
Erklärung des Deutschen zur Staatssprache weitern Übergriffen des Tschechen-
tums ein Ziel gesetzt werden. Infolge dessen vermutlich wieder parlamen¬
tarische Arbeitseinstellung der Tschechen, die als unvermeidlich mit Ruhe
hingenommen werden müßte, nud die nur dann längere Dauer haben würde,
wenn die Tschechen meinten, Zweifel in den vollen Ernst der Regierung setzen
zu dürfen.
Denkbar wäre wohl, daß die deutsche Regierung versuchte, den Bund
der Alt- und Jungtschechen zu sprengen und jene durch Zugeständnisse zu
kirren. Der Versuch könnte sehr weit führen: hat doch der liberale Deutsche
Stremeyr als Justizminister die deutsche Sache in Böhmen mehr geschädigt
als der slawenfrenndliche Schönborn. Dann würde das Ministerium von seiner
eignen Partei gestürzt werden.
Endlich wäre ein dritter Weg möglich. Die Tschechen rufen fortwährend
die Schlacht am Weißen Berge an: damit sagen sie selbst, daß Böhmen noch
jetzt als erobertes Land angesehen werden soll, und der ungebärdigen Bevölke¬
rung eines solchen wird man am besten Herr durch die Diktatur. Dabei wäre
die Negierung in der angenehmen Lage, nicht die Gutgesinnten mit den Bös¬
willigen leiden zu lassen, denn die Deutschbvhmen stellen sich ja nicht auf deren
Standpunkt.
Den dritten Weg könnten die Deutsch-Liberalen nicht wählen, dn sie mit
doktrinärer Zähigkeit an der Fiktion vom parlamentarischen Regiment fest¬
halten, und dies wenigstens zum Schein wahren würden. Das betrübende
Ziel des zweiten Weges liegt aber gar zu deutlich vor Augen. Mithin bliebe der
erste. Aber weshalb sollte die auf diesem Wege liegende Arbeit nicht ebenso gut
vom Grafen Taaffe mit einem Kreise tüchtiger, charakterfester Beamten verrichtet
werden können? Weil er sich zu seinem Irrtum bekennen müßte? Er ist kein
Doktrinär, und einen Irrtum eingestehen und wieder gut machen, bringt keine
Schande. An Mitarbeitern würde es ihm nicht fehlen, und wenn auch viele
Zeitungen jammern würden, die Bevölkerung brächte sicherlich im Staatsdienst
erprobten Männern größeres Vertrauen entgegen als unversuchten Parlaments¬
rednern oder gar schon versuchten. Die Jahre 1868 bis 1870 und 1871
bis 1879 haben schwerlich jemand auf eine Wiederholung lüstern gemacht.
Und schließlich könnten die Liberalen ja nur dankbar sein, wenn die notwendige,
mühevolle und verantwortliche Aufgabe uicht Männern ihrer Partei aufge¬
bürdet würde. Vielleicht hätte sogar einer oder der andre von diesen den
Mut, sich der Unpopnlarität auszusetzen, der Mitglieder einer nichtvarlamcn-
tarischcn, nichtliberalen Regierung verfallen. Sie ist nicht so gefährlich: der¬
selbe Herr von Czedik, der jenes Schicksal einst erfuhr, ist längst wieder zu
Gnaden angenommen, obgleich er das Eisenbahnwesen unter dem Grafen
Taaffe leitet.
icero erzählt einmal von Phthagoras, daß er die Welt mit einem
Markte verglichen habe, auf dem einige kaufen, andre verkaufen,
noch andre aber dem Treiben der übrigen zuschauen und ohne In¬
teresse an den Dingen selbst sich lediglich der Betrachtung hingeben;
diese Beschäftigung sei die edelste, und die sich ihr widmen, seien
die Weisheitsfreunde, oder wie wir jetzt sagen würden, die Gelehrten.
Diese Auffassung von der Stellung des Forschers in der Gesellschaft, nach der
er das Wesen des Aristokraten und des Asketen in sich vereinigt, hat sich ihrem,
allgemeinen Sinne nach bis in die Gegenwart erhalten, indem nur bald mehr
die asketische, bald mehr die aristokratische Seite betont worden ist. Das
Mittelalter kannte nur den geistlichen Gelehrten, der abgeschieden in den Kloster-
mauern lebt und sinnt, in der neuern Zeit hat sich der Begriff einer geistigen
Aristokratie ausgebildet, für die mannichfache Vorrechte beansprucht worden
sind; und jedenfalls erfreut sich auch in der Gegenwart der Grundsatz eines
weitverbreiteten Beifalls, daß die Wissenschaft nur um ihrer selbst willen zu
betreiben sei, und daß insofern wenigstens der Denker eine Ausnahmestellung
in der Gesellschaft einnehme und einnehmen müsse, als er unberührt von den
um materielle Güter sich bewegenden Sorgen und Bestrebungen der übrigen
Menschheit nur ans den Erwerb wissenschaftlicher Wahrheiten auszugehen habe;
diese seien Werte, die einem ganz andern Maßstabe der Schätzung unterliegen,
als die Erzeugnisse aller andern Arbeit.
Nur selten ist zwar noch das überlieferte Vorurteil anzutreffen, nach dein
die geistigen Arbeiter eine höhere Kaste bilden, der gegenüber alle übrigen
Sterblichen eine „gemeine" Masse bedeuten im Sinne des Spruches: Oäi vro-
ümuin vrügns se g,ro6o; desto fester wurzelt jedoch die Überzeugung, daß die
geistige und besonders die wissenschaftliche Arbeit nur auf dem rein idealen
Interesse an der Wahrheit beruhen dürfe und sich nicht durch die Rücksicht
auf Erreichung irgend eines greifbaren Nutzens leiten zu lassen habe, denn nur
so werde sie erfolgreich sein, und die Nutzanwendung werde der Einsicht, wie
die Belohnung der Tugend, von selbst folgen.
In der That bedarf es keines Beweises, daß die oben bezeichnete antike
Auffassung des Gelehrtenbcrufes unhaltbar ist. Ein rein geistiges Leben zu
führen ist unmöglich, da der Mensch (nach dein passenden Worte Schopen¬
hauers) nicht ein bloßer Engelskopf mit Flügeln ist; nur auf Grund bestimmter
gesellschaftlicher Einrichtungen, nach denen einige Menschen die Sorge für
die materiellen Bedürfnisse der andern übernehmen, kann unter Umständen der
Einzelne in den Stand gesetzt werden, sich einer that- und sorgenlosen Beschaulich¬
keit zu widmen. Derartige Einrichtungen hatte in der That das Altertum
in der Sklaverei, das Mittelalter im Klosterwesen, und die Neuzeit hat sie in
der Arbeitsteilung, durch die die wissenschaftliche Thätigkeit als eine besondre
Berufsart gegründet worden ist. Weniger selbstverständlich, ja geradezu be¬
denklich dürfte es jedoch erscheinen, wenn nicht nur der Forscher als ein allen
übrigen Gliedern der Gesellschaft nicht über-, sondern nebengeordnetes Glied
in deren Gefüge eingereiht werden soll, sondern wenn man auch seiner Thätig¬
keit Richtung und Ziel von denselben Gesichtspunkten aus anweisen will, die
für die Beurteilung der auf die Hervorbringung materieller Güter gerichteten
Arbeit maßgebend sind. Und doch ist dieser Versuch gemacht worden, und
zwar von dem französischen Philosophen Comte und seiner Schule.
Die von Comte aufgestellte sogenannte „positive Philosophie" hat als
philosophisches Lehrgebäude betrachtet uur eine geringe Bedeutung und deshalb
bei den Fachleuten mit Recht wenig Beachtung gefunden; aber das Eigenartige
der Anschauungen Comtes spricht sich nicht sowohl in seinen theoretischen Lehr¬
sätzen aus, es liegt vielmehr in der Art, wie er die Aufgabe und das Ziel
aller Wissenschaft bestimmt; der „Positivismus" ist nicht eine Theorie, er be¬
zeichnet ein Programm, und nicht nur ein Philosoph, sondern anch jeder
Einzelfvrscher auf irgend einem Gebiete kann Positivist sein, wie denn auch
der positivistische Gedanke von verschiednen Seiten mehr oder weniger unab¬
hängig von Comte ausgesprochen worden ist.") Indem ich von vornherein
bemerke, daß ich keineswegs zu den Comteschwärmern gehöre, so glaube ich
doch, daß die Ideen des Positivismus genug zu denken geben, sodaß ein Ein¬
gehen auf sie jedenfalls nicht Verlorne Mühe ist.
Die freilich, denen es mit grundsätzlicher Gewißheit feststeht, daß das Wissen
Selbstzweck sei, und daß der „ideale" Forscher der Wahrheit um ihrer selbst
willen nachspüren müsse, werden sich mit Entrüstung von einer Ansicht ab¬
wenden, die mit unverhüllter Offenheit ausspricht, daß die Wissenschaft
durchweg nur insofern Daseinsberechtigung und Wert habe, als sie dein Leben
dient, daß alle Kräfte, die auf die Gewinnung von Einsichten verwandt wurden,
die zwar sehr wichtig sein können, aber zur Beförderung des Wohles der
Menschheit nichts beitragen, vergeudet wurden. Denkt man jedoch etwas
tiefer, so zeigt sich, daß dieser scheinbar so rohen Anschauung thatsächlich ein
höherer Grad von Idealismus, von sittlichem Idealismus (und einen andern
giebt es eigentlich gar nicht) zu Grunde liegt, als der entgegengesetzten. Denn
der Wahrheit um ihrer selbst willen dienen, heißt doch bei Lichte besehen nichts
weiter, als in der mit jeder Erweiterung der Erkenntnis verbundenen Lust deu
ganzen Zweck der Forschung suchen; somit ist hier die Rücksicht auf die sub¬
jektive Befriedigung auf den (geistigen) Genuß die Triebfeder der Thätigkeit,
dies aber ist eine egoistische Triebfeder. Mag der geistige Genuß, die Freude
an der Erkenntnis einer Wahrheit noch so viel feiner sein, als der sinnliche,
in Bezug auf die sittliche Würdigung kaun dies keinen Unterschied machen;
überall gewinnt menschliches Streben erst dadurch einen sittlichen Wert, einen
„idealen" Inhalt, daß es sich in den Dienst der Mitmenschen stellt, daß es für
andre, nicht für den Einzelnen etwas leisten will.
Mail wird deshalb nicht umhin können, dem positivistischen Grund¬
gedanken, daß auch das Wissen nur soweit einen Wert habe, als es einem
praktisch-sittlichen Zwecke dient, im allgemeinen zuzustimmen. Daß dieser Zweck im
einzelnen und unmittelbar nachweisbar sei, wird freilich nicht verlangt werden
können, auch würde dies der Natur der Sache nach in den meisten Fällen un¬
möglich sein. Wie oft wird erst nach langer Zeit und unter ganz unerwarteten
Umständen die Einsicht, die einem still forschenden Geiste aufging, und die zunächst
nur diesen selbst erfreute, zu einem Segen für weitere Kreise der Menschheit!
Gedanken sind eben keine beweglichen Güter, denen ihr Zweck unverkennbar
innewohnt, und die der Erzeuger zum unmittelbaren Verbrauche herliefert;
neu entdeckte Wahrheiten stellen vielmehr in den meisten Fällen zunächst nur
ein totes Kapital vor, und es bleibt abzuwarten, ob und wann es lebendig
und wirksam wird. Im ganzen kann als die Regel gelten, daß die wissen¬
schaftlichen Ergebnisse der Gegenwart erst für die zukünftigen Geschlechter
Hilfsmittel für die bessere Gestaltung des Lebens abgeben. Wenn also der
wissenschaftliche Forscher diesen Endzweck seiner Arbeiten im Ange behalten soll,
so wird er doch nicht selbst überall an die Nutzanwendung zu denken brauchen.
Er soll sich nur bewußt bleiben, daß sein Thun lediglich dadurch eine»
sittlichen Wert, und er selbst die Daseinsberechtigung in der menschlichen
Gesellschaft gewinnt, daß er dazu beiträgt, das geistige Kapital der Mensch¬
heit zu vermehren. Mehr als jeder andre ist der Denker der Gesellschaft,
von der er getragen wird, zum Danke verpflichtet, und es müßte als eine
Verletzung der sozialen Pflicht bezeichnet werden, wenn einer sich in ein Lieb¬
lingsstudium vergrabend wie der Geizige im Genusse aufgehäufter geistiger
Schätze schwelgen wollte, statt die von ihm gefundnen Goldkörner der Er¬
kenntnis dem geistigen Besitze der Menschheit hinzuzufügen und als dienendes
Glied mit andern an der Vergrößerung dieses Besitztums planmüßig zu
arbeiten.
Es kommt hinzu, daß auch in seiner rein geistigen Entwicklung der
Einzelne sich in wesentlicher Abhängigkeit vom Ganzen befindet. Was die
Vorfahren gedacht und geschafft haben, wird zum Bildungsmittel für die Nach¬
kommen, und wie die Erzeugung neuer materieller Güter nur möglich ist mit
Hilfe bereits vorhandner Ergebnisse früherer Arbeit, so schreitet auch die
Forschung überall nur auf Grund überlieferter Wahrheiten zu neuen Ent¬
deckungen fort. Es ist eine kaum zu entscheidende Frage, welches die Haupt-
ursache beim Zustandekommen eines Fortschrittes auf geistigem Gebiete nicht nur,
sondern alles Fortschrittes überhaupt sei, ob die Thätigkeit einzelner hervor¬
ragender Persönlichkeiten oder die durch lange Zeiträume hindurch aufgehäufte
Wirksamkeit von ganzen Massen. Je nach ihrer Beantwortung unterscheiden
sich zwei Hauptrichtungen der geschichtsphilosophischen Auffassung. Während
Männer wie Carlisle in England und neuerdings Fr. Nietzsche bei uns mit
Entschiedenheit die Lehre verfochten haben, daß die Menschheit ausschließlich
durch einzelne schöpferische Geister vorwärts gebracht werde, ist für den Posi-
tivismus das Bestreben charakteristisch, die Leistung des Einzelnen durchweg
als verschwindend gegenüber der Wirkung der Massen, und die hervorragende
Persönlichkeit nicht als ans sich selbst ruhend, sondern als ein Erzeugnis der
Umgebung aufzufassen, aus der sie hervortritt. Es ist bekannt, daß Taine u. a.
diesen Gesichtspunkt, der verwandt ist mit dem durch Darwin in die Zoologie
eingeführten, in der Geschichtschreibung mit Geschick zur Geltung gebracht
haben, worauf hier nicht weiter einzugehen ist. Von demselben Gesichtspunkt
aus hat nun aber der Positivismus auch seine Forderung, den Wert der wissen¬
schaftlichen Arbeit nach sozialphilosophischen Prinzipien zu beurteilen, und diese
Prinzipien für ihren Betrieb maßgebend zu macheu, zu begründen gesucht.
„Ungeachtet aller ihrer Begabung, so sagt z. B. Laffitte,*) hätten die Aristoteles,
Archimedes oder Descartes sicher nichts geschaffen, wenn sie auf ihre Kräfte
allein angewiesen gewesen wären. Und ist denn eine solche Begabung übrigens
nicht selbst ein Erzeugnis der Menschheit im ganzen? Haben jene ungewöhn¬
lichen Köpfe sich selbst geschaffen, oder sind sie nicht vielmehr das Ergebnis
einer langsamen Arbeit und gewissermaßen die Frucht einer Reihe von Ge¬
schlechtern? Wenn man den Dingen auf den Grund geht, so bemerkt man leicht,
daß man den Ruhm ihrer wunderbaren und wertvollen Entdeckungen der ganzen
Menschheit zueignen müßte, der wir in den Personen der Erfinder unsre
Ehrenbezeugungen darbringen. Es ist also nicht mehr als in der Ordnung,
daß Nur der Menschheit das wiedergeben, was Nur von ihr empfangen habe»,
und planmäßig nicht unsrer persönlichen Befriedigung zuliebe, sondern mit
Rücksicht ans die Bedürfnisse des Ganzen und der zukünftigen Geschlechter
an der Wissenschaft weiterarbeiten."
Hier tritt nun aber die Hauptfrage heran, welche Bedeutung denn eigentlich
das Wissen für die Menschheit hat. Daß das Wissen nicht Selbstzweck sein könne,
steht, wie bemerkt, dem Positivismus von vornherein fest. „Die Geschichte der
Naturwissenschaften, so sagt Harnack a. a. O., zeigt, daß unser bloßes Bedürfnis
uach Erkenntnis irgend eine Befriedigung nicht gewinnt, indem alle die Fragen,
mit denen jenes immer zuerst angefangen hat und noch anfangen möchte,
ungelöst vor uns stehen wie zu deu Zeiten der ersten wissenschaftlichen
Forschung . . . Darum kann, was wirklich durch die Wissenschaften geleistet
worden ist, in seiner Bedeutung nur gemessen werden an dein Einfluß, den es
anf das thätige Leben der Menschheit gewonnen hat, aus das Leben in seinen
mannichfachen geistigen und leiblichen Bedürfnissen, in seiner sozialen Gemein¬
schaft." Und Laffitte erklärt: „Das Wissen an sich würde nichts bedeuten als
eine Befriedigung der Neugierde, aber der Positivismus hat einen hoher»
Ehrgeiz, er wünscht zu wissen, um zu handeln ... Es giebt in Wahrheit nur
eine Wissenschaft, die Wissenschaft vom Menschen und der Gesellschaft; alles
übrige sollte nur zu dein Zweck erforscht werden, um diese besser kennen zu
lernen und ihnen besser zu dienen." Alle wissenschaftliche Forschung, so legt er
weiter dar, gelangt an eine Grenze, jenseits deren es nutzlos und fast gefährlich
ist, sie weiter zu verfolgen, denn das Denken verliert sich schließlich in Fragen,
deren Beantwortung nicht nur für uns Menschen gu»z bedeutungslos ist,
sondern die auch, indem sie den Geist immer tiefer in die Spekulation hinein¬
ziehen, die Thatkraft lähmen und den Menschen untauglich zur Erfüllung
seiner praktischen Aufgaben machen.
Man sieht, daß der Zweifel an der Leistungsfähigkeit des menschlichen
Erkenntnisvermögens einer der entscheidenden Gründe für den Positivismus
bildet; und in der That ist zu allen Zeiten, wo dieser Zweifel anftrnt, die
Praktische Bestimmung der Wissenschaft vorwiegend betont worden. Ich
erinnere uur an Locke, der in seinen: „Versuche über den menschlichen
Verstand." einer Vorarbeit zu Kants „Kritik der reinen Vernunft," zu dem
Ergebnisse kam, daß wir von den Dingen nichts wissen können, als was
die Erfahrung uns über sie lehrt, aber sich damit tröstete, daß dies genüge
für die Zwecke des menschlichen Lebens, Wie man überhaupt bei englischen
Denkern fast durchweg eine sehr bescheidne Meinung von der auf sich selbst
angewiesenen Erkenntniskraft des Menschen findet, so tritt bei ihnen auch die
Auffassung des Wissens als eines Mittels zur Verwirklichung praktischer Zwecke
vorwiegend hervor, wahrend die deutsche Philosophie mit ihrem Glauben an
die Möglichkeit einer alldurchdringenden Einsicht das Ideal einer absoluten
Wissenschaft, die Selbstzweck ist, großgezogen hat. In der neuesten Zeit ist
jedoch nicht nur in deu Einzelwisfenschaften, hauptsächlich in der Naturwissen¬
schaft, sondern auch in der Philosophie der Satz zu fast unbestrittener Geltung
gekommen, daß der etwaige letzte Grund der Erscheinungen niemals Gegenstand
der Erkenntnis werden könne, die es immer bloß mit äußern Beziehungen zu
thun hat; hervorragende Gelehrte haben nicht die Erklärung, sondern lediglich
Beschreibung der Thatsachen als die Aufgabe der Wissenschaft bezeichnet und
sehen in den Naturgesetzen nicht zwingende Gebote, denen die Dinge unbedingt
gehorchen miissen, sondern Formeln, die die Wissenschaft sich gebildet hat, um
den verwickelten Verlauf der Erscheinungen übersehen zu können, denen aber
dieser nur annäherungsweise entspricht.
Aber auch abgesehen von diesen mehr innern Gründen steht der Positi-
vismus mit seinem Kampfe gegen die Überschätzung des theoretischen Wissens
nicht allein da. Mau hat in letzter Zeit bei verschiednen Anlässen Stimmen
genug vernommen, die ans die Gefahren einer solchen Überschätzung hinweisen.
Ist einerseits hervorgehoben worden, daß die Erziehung der Jugend eine ganz
verfehlte werden muß, wenn man neben der Ansammlung von Kenntnissen die
Erweckung des Verständnisses für die praktisch-sittlichen Aufgaben des mensch¬
lichen Lebens verabsäumt, so hat man anderseits betont, daß eine große
soziale Gefahr in dem schroffen Gegensatze der wissenschaftlich hochgebildeten
Kreise und der unwissenden Massen liegt, wie er sich auf Grund des mit dein
Wissen getriebenen Kultus entwickelt hat. In wie vielen Dingen — wir er¬
innern nur an die religiösen Fragen — denkt nicht der wissenschaftlich Ge¬
bildete ganz anders als der gemeine Mann, und welche bedauerlichen Erschei¬
nungen sind mit der Verbreitung wissenschaftlicher Theorien in Kreise verbunden,
die für deren Verständnis nicht reif find! „Der hohe Stand der wissenschaft¬
lichen Erkenntnis, so sagt deshalb der obengenannte Laffitte, wäre bewun-
derungswürdig, wenn die Wissenschaft, indem sie an Umfang und Tiefe zu¬
nahm, nicht Eigentum einer nur geringen Minderheit geblieben wäre, wenn
die Masse, die unendliche Masse Anteil an dem geistigen Kapital gewonnen
hätte, das durch die denkende Klasse geschaffen wurde und bei ihr aufgespeichert
ist. Je weiter wir fortschreiten, umso mehr vertieft sich die Kluft zwischen
den Wissenden und deu Unwissenden. Und das Bedenklichste ist, daß die
Wissenschaft, dieses gefährliche Werkzeug, wenn sie auch uicht in die Masse der
Menschheit eingedrungen ist, sie doch allmählich alles Glaubens, aller Über¬
lieferung beraubt hat; so ist die religiöse Kultur vernichtet, ohne daß jedoch
eine durchgreifende wissenschaftliche an ihre Stelle getreten wäre." Durch
derartige Erwägungen scheint freilich die Frage nahe gelegt zu sein, ob nicht
ein Mißverhältnis bestehe zwischen der Entwicklung der Verhältnisse der Ge¬
sellschaft im allgemeinen und der der wissenschaftlichen Forschung im besondern,
ob nicht die eine der andern vorausgeeilt sei, sodaß wir das Bild eines
Körpers hätten, dessen Kopf unverhältnismäßig größer und entwickelter ist,
als die übrigen Glieder, und Leistungen vollführt, die das Maß dessen, was
er naturgemäß für das Ganze zu leiste» hätte, weit überschreiten.
Es giebt ja um zwar Leute, die annehmen, daß der Kopf (um im Bilde
zu bleiben) nicht für den Körper, sondern vielmehr dieser sür den Kopf ge¬
schaffen sei, daß alle „niedern" Lebensthätigkeiten nur daheim, um die höchste, die
geistige Thätigkeit, zu ermöglichen. Hier steht jedoch der Positivist ans einem ganz
andern Standpunkte. So wie aus der modernen Biologie eine psychologische
Richtung hervorgewachsen ist, die die geistigen Fähigkeiten als durch die Be¬
dürfnisse des physischen Lebens entwickelt zu verstehen sucht, und Wahrneh¬
mung, Erinnerung, Denken u. s. w. als Teile der Ausrüstung betrachtet, durch
die das Einzelwesen zur Erhaltung seiner selbst und seiner Art befähigt wird,
so gilt dem Positivisten die geistige Arbeit auch als eine Verrichtung des
Gesellschaftswesens, die durch seine Lebensbedürfnisse gefordert wird und
deshalb zugleich in diesen Bedürfnissen den Maßstab für ihre gesunde Ent¬
wicklung findet. Die heutige Menschheit ist, nach der Ansicht Laffittes, endlich
zu dem Bewußtsein gekommen, daß ihre Endaufgabe die ist, einen möglichst
vollkommen entwickelten gesellschaftlichen Verband der Einzelnen zu verwirk¬
lichen; „bevor diese Einsicht erwacht war, konnte man es dein wissenschaftlichen
Arbeiter nicht zum Vorwurf machen, wenn er sich nur durch das Interesse
seiner subjektiven Befriedigung geleitet auf dieses oder jenes Gebiet verlegte;
nunmehr muß jedoch alle Forschung als müßig und ungerechtfertigt gelten, die
vom sozialen Gesichtspunkt aus betrachtet keinen Zweck hat, oder die, wenn sie
anch an sich nicht nutzlos ist, keinem dringenden sozialen Bedürfnis ent¬
spricht." Infolge des bisherigen Entwicklungsganges der Wissenschaften
kenne man jetzt so ziemlich den Umfang des ganzen Gebietes möglicher
Forschung, und wenn die Arbeit auch noch nicht überall abgeschlossen sei, so
sei doch in allen Richtungen bereits ein Anfang gemacht, und es sei deshalb
an der Zeit, daß die wissenschaftliche Arbeit nach einem einheitlichen Plane
getrieben werde, und dieser Plan könne nur bestimmt werden dnrch die Rück¬
sicht ans den Wert, den die Beschäftigung mit diesem oder jenem besondern
Gegenstande für die menschliche Gesellschaft habe. Keinesfalls aber dürfe es
der Laune und dem Belieben der Einzelnen anheimgestellt bleiben, welche
Forschungsgebiete hauptsächlich zu bearbeiten seien. „Wenn sich in der
Entwicklung der Gesellschaft ein Streben zu einer Regelung der Produktion
und einer zweckmüßigen Verteilung des Kapitals bekundet, so ist kein Grund
einzusehen, weshalb auf das geistige Kapital, das wertvollste von allen, nicht
dasselbe Verfahren Anwendung finden sollte. Mit Feldern, Wäldern, Berg¬
werken und Gewässern gehen wir haushälterisch um, da wäre es doch wirklich
seltsam, wenn der Gebrauch unsers kostbarsten Gutes, desjenigen, von
dem die Erzeugung aller andern Güter abhängt, allein der Willkür über¬
lassen wäre."
So ergiebt sich denn als zweiter Punkt des positivistischen Programms
die Forderung einer Organisation der wissenschaftlichen Arbeit, ähnlich der, die
der Sozialismus für die äußere Arbeit verlangt. Die von Comte aufgestellte
Ordnung aller Wissenschaften, mit der dieser Denker eine nähere Darlegung
der Aufgaben und Methoden jeder einzelnen verband, läßt sich gewissermaßen
als die theoretische Vorarbeit hierzu betrachten; bei Lafsitte gewinnt ans
Grund dessen der Plan, nach dem in Zukunft die wissenschaftliche Forschung
betrieben werden sollte, schon bestimmtere Gestalt. Es erscheint merkwürdig,
ist aber doch ganz folgerecht, daß darin die ausgebildetsten Wissenschaften,
Mathematik und Astronomie, ganz zurückgesetzt werden, weil sie schon
längst die Dienste geleistet haben, die mau überhaupt von ihnen erwarten
könne; sie seien in gesellschaftlicher Hinficht erschöpft, und es sollten ihnen des¬
halb nur soviel Kräfte gewidmet werden, als nötig sind, um den vorhandnen
Besitz an Kenntnissen der Nachwelt zu überliefern. „Mathematische und astro¬
nomische Forschungen bedeuten heutzutage nur noch ein Spiel des Geistes,
eine Art, die Zeit hinzubringen, wie es viele andre giebt," denn „was kann es
nützen, ob wir die Entfernungen der Planeten noch um einige tausend Meilen
genauer .kennen als jetzt, ob diese und jene neuen Kurven und ihre Eigen¬
schaften aufgefunden werden?" Und ähnlich lautet das Urteil auch über die
theoretische Physik; denn für die Zwecke der Anwendung genüge durchweg eine
annähernde Kenntnis der Gesetze, nach denen die physikalischen Wirkungen er¬
folgen, eine unbedingte Genauigkeit sei nicht erreichbar, sei aber auch uicht nötig,
und alle auf ihre Erreichung verwandte Mühe verloren. Als die Gebiete
dagegen, auf die alle Kräfte zu wenden sind, werden Biologie, Soziologie und
Psychologie bezeichnet: „Hier drängen sich die Probleme und bieten in dem
Maße, wie sie sich verallgemeinern, immer größere Schwierigkeit dar; ein
Feld ohne Grenzen steht denen offen, die nach dem Ruhme des Entdeckers
trachten und vor Schwierigkeiten nicht zurückschrecken." Wie groß sei noch
unsre Unkenntnis des physischen Lebens, das die Grundlage der geistigen Be¬
thätigungen des Menschen bildet, und welche entscheidenden Fragen harrten noch
in den andern genannten Gebieten ihrer Losung! Nur die Psychologie könne
die Entscheidung liefern, ob z. V. der Mensch verantwortlich sei für seine
Thaten oder nicht, von der die ganze Strafgesetzgebung abhängt; in der
Sozialwissenschaft handele es sich um die Lebensfragen der Menschheit, denn
nnr auf Grund der Kenntnis der natürlichen Gesetze, nach denen sich auch die
gesellschaftlichen Verhältnisse entwickeln, und der Beziehungen, in denen hier
jeder Teil zum Ganzen steht, sei ein thätiger Einfluß der Menschheit ans die
Gestaltung ihrer zukünftige» Schicksale denkbar. „Heutzutage genügt es nicht
mehr, um regieren zu können, daß mau den Geist und die Kühnheit eines
Richelieu oder Cäsar besitze, es ist ein Wissen nötig, das zu ihrer Zeit ganz
überflüssig war. Das Schicksal eines Landes ist nicht mehr wie ehedem von
dein der andern fast ganz unabhängig, vielmehr steht die kleinste Nation in
Beziehungen, die sich über den ganzen Erdball erstrecken, und ein genaues
Studium dieser Beziehungen politischer und wirtschaftlicher Art ist notwendig,
um furchtbaren Verwicklungen vorzubeugen, die den Bestand der Gesittung
überhaupt bedrohen."
Daß in den hier wiedergegebenen Anschauungen vieles Treffende ent¬
halten ist, läßt sich nicht verkennen. Unstreitig muß die wissenschaftliche
Arbeit von irgend einem einheitlichen leitenden Gesichtspunkte beherrscht sein,
dein die Einzelbestrebungen sich unterordnen; und gerade heute ist ihre
„Organisation" in diesem allgemeinen Sinn ein dringendes Bedürfnis. Denn
infolge der auch auf wissenschaftlichem Gebiete so weit gehenden Arbeitsteilung
ist der Einzelfvrscher vielfach in Gefahr, sich im Kleinen zu verlieren, die
Fähigkeit der Unterscheidung des Wichtigen und des Unwichtigen, der Haupt-
Wissenschaften und der bloßen Hilfswissenschaften einzubüßen. Nur die Bornirt-
heit kann behaupten, daß es einen Unterschied des Wichtigen und des weniger
Wichtigen in der Wissenschaft nicht gebe, daß die Erforschung des Lebens und
die Entwicklungsgeschichte der Blattläuse eine ebenso bedeutsame wissenschaftliche
Aufgabe sei, wie das Studium der Funktion eines menschlichen Organs, daß die
Menschheit eil, gleich hohes Interesse daran habe, den Aufbau des Zeustempels
in Olympia und die Vorgänge bei der französischen Revolution von 178!) genau
zu kennen u. s. w. Muß sich der Einzelne auch notwendig darauf beschränken,
eine besondre wissenschaftliche Aufgabe zu lösen, so sollte er doch darüber
klar sein, in welchem Verhältnis diese zu der Gesamtaufgabe steht, in deren
Bearbeitung sich die Gesamtheit aller Forscher teilt, und deren Lösung des¬
halb freilich auch nur vou deu vereinten Anstrengungen vieler Geschlechter
zu erwarten ist. Diese Gesamtaufgabe aber kann nicht darin bestehen, das
menschliche Wissen über alles uur irgend Wißbare auszudehnen; all¬
wissend wird nicht einmal die Menschheit als Gesamtwesen jemals werden
können, denn das Reich der Wahrheit ist grenzenlos, und es kann nicht gleich-
giltig sein, welcher Provinz dieses unbekannte« Reiches der Forscher sich zu¬
fällig zuwendet. Ein handgreiflicher Unsinn wäre es ja, wenn z. B. alle
geistigen Arbeiter damit beschäftigt werden sollten, zunächst einmal eine Über¬
sicht aller vorhandenen Arten und Unterarten der Naturkörper mit Wissenschaft-
licher Vollständigkeit festzustellen, mir erst nach Erledigung dieser Aufgabe mit
der Erforschung der physikalischen Gesetze zu beginnen; man würde das vor¬
gesteckte Ziel doch in absehbarer Zeit nicht erreichen und inzwischen so und so
viele Güter materieller und geistiger Art, deren Erzeugung auf der Kenntnis
gewisser physikalischer Gesetze beruht, entbehren. Ein ebensolcher Unsinn wäre
es, wenn, die Mehrzahl der denkenden Kopfe sich mit der Litteratur des Alter¬
tums beschäftigen wollte, während infolge der Unkenntnis der Bedingungen,
auf deuen das Bestehe» eiuer geordneten Gesellschaft beruht, inzwischen un¬
vorhergesehen und uuabgewendet ein gesellschaftlicher Umsturz hereinbräche, der
die Gesellschaft in die Barbarei zurückwerfen konnte. Die Notwendigkeit, mit
beschränkten Zeiträumen zu rechnen, und die Interesse» des thätigen Lebens
gebieten also eine Sammlung der geistige» Kräfte nach gewisse» Hauptrichtungen
hin, die vorwiegende Bearbeitung solcher Gebiete, von deuen aus jeweilig eine
Förderung des gesamten Kulturfortschrittes zu erwarten ist. Nur in diesem
verallgemeinerten Sinne mochten wir jedoch dem Positivistischen Grundsatze zu¬
stimmen, daß Fortgang und Richtung der wissenschaftlichen Arbeit durch das „soziale
Bedürfnis" bestimmt werden sollen. Denn so unsinnig einerseits die Anschauung
ist, daß die Erweiterung des Wissens unter allen Umständen an und für sich
schon einen Wert habe, so unhaltbar würde doch anderseits anch die Forderung
sein, daß der Forscher stets die praktische Anwendbarkeit der von ihm zu er¬
langenden wissenschaftlichen Ergebnisse im Auge habe. Es ist eine bekannte
Thatsache aus der Geschichte der Wissenschaften, daß die Ergebnisse von Unter¬
suchungen, die zunächst nur ein müßiges Spiel des Geistes zu sein schienen,
spater von Bedeutung für die Gestaltung des menschliche» Lebens wurden.
Und entspricht schließlich nicht auch die Befriedigung des Wissenstriebes schon
einem gewissen „sozialen Bedürfnis"? Dieser Trieb ist zweifellos im Menschen
so gut Vorhemden wie alle andern, und es ist gar nicht abzuleugnen, daß die
Entwicklung des wissenschaftlichen Denkens bei den Griechen lediglich durch
diesen Trieb veranlaßt wurde.") Allerdings macht der Wissenstrieb sich im
allgemeinen erst auf der Grundlage eines gesicherten und behaglichen äußern
Lebens geltend; aber die heutigen Kulturvölker sind doch gewiß nicht so von
der Not des Lebens bedrängt, daß sie an die Pflege des rein theoretischen
Interesses gar nicht denken könnten und dürften. Es mag zwar auf deu ersten
Blick als eine Ungerechtigkeit erscheinen, daß, während die Mehrzahl der
Menschen für die Befriedigung der Lebensbedürfnisse arbeitet und arbeiten muß,
eine geringe Minderheit mit Hilfe der andern in den Stand gesetzt ist, den
verfeinerten geistigen Interessen zu dienen, aber wird nicht auch jenen Anteil
an den geistigen Genüssen der Wissenschaft und Kunst? Durch tausend Kanäle
fließt heutzutage Belehrung über die Ergebnisse der wissenschaftlichen Forschung
den weitesten Kreisen zu und verschafft ihnen geistigen Genuß, der doch sicher
auch zur Erhöhung des Wohlbefindens der Menschheit beiträgt. Aber dessen¬
ungeachtet ist die Forderung wohlberechtigt, daß der Gelehrte die Wissen¬
schaft niemals als ein rings abgeschlossenes Reich für sich betrachte, daß er
vielmehr immer die Aufgabe im Auge behalte, die die Wissenschaft innerhalb
des ganzen Kreises menschlicher Thätigkeit zu erfüllen hat, daß er mit der
gesamten Kulturentwicklung in Zusammenhang und in bewußter Weise mit
zur Förderung derselbe» beitrage.
Das Kulturleben verschiedner Zeiten weist aber auch der wissenschaftliche
Arbeit verschiedne Ziele an. Wenn beispielsweise im Mittelalter die Bor¬
herrschaft des religiösen Geistes die vorwiegende Pflege theologischer Studien
als wohlberechtigt erscheinen läßt, so ist ebenso wenig zu verkeimen, daß im Kultur¬
leben der Gegenwart die Frage der Neugestaltung der Gesellschaft den Mittelpunkt
bildet, von dem aus es am mächtigsten bewegt wird; und auch die Wissenschaft
wird deshalb, wenn sie ihrer Bestimmung uicht untreu sein Null, für die
Gegenwart ihr Problem in erster Linie in dieser Richtung suchen. Und so
kann man denn allerdings mit Recht sagen, daß heutzutage mehr als je der
Mensch und im besondern der Mensch als gesellschaftliches Wesen den wichtig¬
sten Gegenstand der Forschung darstellt. Die Sozialwissenschaft hat natur¬
gemäß für die nächste Zukunft die Führung über alle andern zu übernehmen,
diese haben sich jener mehr oder weniger anzugliedern. Sie braucht nämlich
sehr viele andre zur Mithilfe; Anthropologie im weitesten Sinne, Psychologie
als Jndividual- und als Völkerpsychologie, Geschichte, Philosophie und viel¬
leicht anch die allgemeine Biologie haben ihr die Grundlagen zu schaffen,
während die abstrakten Wissenschaften der Mathematik, der Astronomie und
der Physik, wie es scheint, in keinem nähern Verhältnis zu ihr stehen.
Wenn deshalb das positiv istische Programm in der Aufforderung gipfelt,
auf die bezeichneten Gebiete die geistigen Arbeitskräfte zu sammeln, so hat
das einen guten Sinn und verdient volle Beachtung, und wenn es auch ver¬
kehrt wäre, die andern Forschungsgebiete währenddem brach liegen zu lassen,
so würde doch der Forscher seine Aufgabe nicht verstehen, der ohne Sinn für
die großen Fragen der Zeit unbekümmert um die andern ein kleines Feld
bearbeiten wollte, als ob er für sich allem in der Welt dawäre; jeder Einzelne
muß sich in bewußter und klarer Weise der Ordnung des Ganzen anschließen
und darin seineu Platz auszufüllen suchen.
Wie ist nun aber dieses planmäßige Zusammenarbeiten zu erreichen? Es
kann nur als eine merkwürdige Verirrung Comtes und seiner französischen
Anhänger bezeichnet werde», daß sie, ähnlich wie die Sozialisten auf wirtschaft¬
lichem Gebiete, auch im wissenschaftlichen eine Art Zwangsordnung der
Arbeit in Vorschlag bringen, statt sie von dein freien Verständnis der Einzelnen
zu erwarten, Sie reden unverblümt von einer „geistigen Gewalt" (xouvoir
sxiriwol), die in maßgebender Weise das Ganze der wissenschaftlichen Arbeit
zu leiten hätte; genauer gesprochen sollte diese oberste Autorität feststellein
1. welche Fragen als erschöpft, nutzlos oder unzeitgemäß von der Tages¬
ordnung der wissenschaftlichen Erörterungen abzusetzen sind, 2. welche Unter¬
suchungen vorzunehmen sind, und 3, bis zu welchem Grade der Genauigkeit
die Forschung in jedem Falle fortzuführen ist. Auf den EinWurf, ob eine
derartige „Negierung der Geister" nicht zu Mißbräuchen fuhren würde, dient
die Antwort, daß die Fehler, die dabei gemacht werden könnten, doch durch
die Vorteile, die eine solche Regierung der Menschheit bieten würde, aufgewogen
seien; der EinWurf beruhe auf demselben Grunde wie der parlamentarische
Doktrinarismus, der mit seinem Grundsatze des Gleichgewichtes der Gewalten
schließlich dahin käme, jeden leitenden Einfluß auszuschließen.
Es ist überflüssig, auf diese Seltsamkeiten weiter einzugehen; bemerkens¬
wert ist es nur, daß eine so durch und dnrch moderne Geistesrichtung, wie es
der Positivismus ist, hier auf Prinzipien zurückgreift (auf den Absolutismus),
die man längst für überwunden und abgethan gehalten hat.
le Säkularrechnnng des Kalenders will, daß wir noch im neun¬
zehnten Jahrhundert stehen; in Wahrheit hat schon das zwanzigste
begonnen. Durchaus ein Mann des neunzehnten war der, dessen
Gedächtnis die folgenden Seiten gelten.
Aber noch in einem besondern und zwar zwiefältigeu Sinne
haben die Freunde Hehns bei der Nachricht vou dein am 21. März dieses
Jahres erfolgten Tode des Siebenundsiebzigjährigeu zu sich sprechen dürfen:
der letzten Einer eines scheidenden Geschlechts!
Einmal, nach seiner geistigen Ahnenfvlge, gehörte Viktor Hehn in jene
Reihe, die mit Winckelmann beginnend in Goethe ihren Gipfel erreichte. Ihm
war das klassische Altertum nicht bloß ein mehr oder minder interessanter
Gegenstand der Spezialforschung, sondern eine lebende und lebenspendende
Macht; nicht eine, sondern die Voraussetzung menschlicher und europäischer
Bildung; der feste Maßstab für die wechselnden Gestaltungen des Heute und
Morgen.
Zum andern, nach seinem Blute, war er Livländer. Ein Sohn des
deutsche» Kvlvnisteustnmmes, an dessen Wurzel, nachdem er siebenhundert Jahre
aufrecht gestanden hat, nun die mörderische Axt gelegt ist. Deutschland ist
dieser Kolonie nicht nur eine ohnmächtige, sondern anch eine vergeßliche Mutter
gewesen. Wer hat, bis vor kurzem, im mindesten darnach gefragt, was hier
von deutschem Geistesleben sich fvrtzeugte? Freilich, seine Kräfte^ wurden fast
nnsnahmslvs vom russischen Ervbererstnate aufgebraucht, in der Verwaltung,
der Diplomatie, dem Heere. Immer blieb noch ein Überschuß von Thätigkeit
ans idealem Gebiete, deren Umkreis in der Universität Dorpat und der Se. Peters¬
burger Akademie der Wissenschaften — was wäre diese ohne ihre baltischen
Mitglieder? — noch nicht beschlossen ist. Als der Verfasser dieser Zeilen vor
etlichen Jahren das Verzeichnis der auswärtigen Mitglieder des InMwt <>o
l^-anve durchblätterte, fand er unter den acht ans das russische Reich
fallenden nicht weniger als vier seiner baltischen Landsleute. Erst in den
letzten zwei Jahrzehnten haben die Deutschen der Ostseeprovinzen, im eignen
Lande mit alleu Martern des geistigen Todes bedroht, in ziemlicher Zahl sich
nach Deutschland gewendet und damit einige Aufmerksamkeit auf ihren Stamm
gelenkt. Aber es ist dafür gesorgt, daß man bald wieder aufhören wird von
baltischen Gelehrten, Schriftstellern, Künstlern zu sprechen: sie werden nicht in
Rußland, nicht in Deutschland, am wenigsten in den Ostseeprovinzen selbst zu
finden sein.
Was Viktor Hehn ein Pietätsrecht erworben hat, nicht vergessen zu werden,
sind seine übrigens nichts weniger als zahl- oder umfangreichen Schriften. Es
giebt Bücher, darunter vorzügliche, die für uns nichts als Bücher sind, und deren
Lesung keine Frage nach der Person ihres Verfassers zurückläßt. Viktor Hehns
Bücher sind keine von diesen; jede Zeile in ihnen ist von einem starken Duft per¬
sönlichen Wesens durchdrungen. Wessen Persönlichkeit aber wäre zu verstehen ohne
Kenntnis des Bodens und der Luft, in der sie groß wurde? Ein Nekrolog in
der Münchner Allgemeinen Zeitung (Beilage zum 11. April d. I.) giebt von
Lebensnachrichten über ihn ziemlich dasselbe, was auch wir in Erfahrung ge¬
bracht habe«. Viktor Hehn war geboren zu Odenpäh bei Dorpat den
8. Oktober 1813. Die Familie stammte von einem gegen die Mitte des acht¬
zehnten Jahrhunderts (beiläufig bemerkt: die Zeitgrenze, um die der bis dahin
ziemlich stetige Strom deutscher Einwanderung sehr dünn zu werden begann) aus
Franken berufenen Geistlichen und Schulmann. Landpfarrer war auch Hehns
Vater. Die gesellschaftliche Stellung der baltischen Pastoren war noch mehr,
als sie es ist, von der ihrer Standesgenossen in Deutschlnud gründlich
verschieden, was sich äußerlich unter anderm darin kundgiebt, daß sie mit dein
Adel des Landes im oomwvrowrn und oormbium stehen; manchen sagte man
nach, daß sie sich mehr mit ihrem Grundbesitz als ihrer geistlichen Herde zu
schaffen machten; viele waren als Gelehrte geschätzt, auch litterarisch thätig,
wofür Ed. Winkelmanns Libliotlisvii I^vorlas IiiZtoricii reichliche Belege giebt.
Länger als in Deutschland, bis ziemlich tief in dieses Jahrhundert (bei den
Ältern zum Teil durch die Nähe von Königsberg und Kant veranlaßt) stand
der Rationalismus in Blüte, und Hehns Vater that nichts Beispielloses, als
er, um sich selbst treu zu bleiben, seinem geistlichen Amt entsagte und eine»
bürgerlichen Beruf (als Jurist) ergriff. So mag der antiromantische Zug
und der relative Mangel an Fühlung mit der christlichen Welt, den wir in
Hehns Schriften wahrnehmen, schon in der Luft des Vaterhauses gelegen
haben; um so herrischer war darin die Verehrung der klassischen Dichtung,
der griechisch-römischen wie der deutschen, Goethes zumal. Im Jahre 1830
begann Hehn an der Landesuniversität Dorpat Philologie und Geschichte zu
studiren. Dann, in Berlin, zog ihn die Hegelsche Philosophie in ihren Zauber¬
kreis. Hegel mit Geringschätzung zu behandeln, ist seit geraumer Zeit Sitte,
Hehn dagegen bekannte sich bis zum Ende ihm zu großem Danke verpflichtet.
Mit Hegelscher Terminologie hat er seine Schriften nie verunziert, höchstens
daß er in Parenthese hie und da einmal auf sie verweist; in welchem Sinne
er aber Hegelsche Anschauungen in sich fortleben fühlte, läßt beispielsweise die
Vorrede zu „Italien" (zweite Auflage) erkennen oder das dritte Kapitel aus
den „Gedanken über Goethe."
Um die Mitte der vierziger Jahre, uach Überwindung einer Zwischen¬
existenz als Gymnasiallehrer in dem Landstädtchen Pernau, wurde Hehn
Lektor der deutschen Sprache und Litteratur an der Universität Dorpat.
Es galt,'diese bis dahin unvertretenen Fächer erst einzubürgern. Der akade¬
mische Erfolg war glänzend, aber kurz, Selbst die Ostseeprovinzen waren nicht
zu tief in politisches Stillleben versunken, um nicht von der Bewegung des
Jahres 1848, natürlich nur im Geiste, nicht in der That, einen Widerhall zu
verspüren. Eine geistreiche, warmherzige Frau, die Baronin Vrüningk, ge-
borne Fürstin Liven, in deren Hause in Dorpat Viktor Hehn freundschaftlich
aus- und eingegangen war, machte auf einer Reise in Deutschland die Bekannt¬
schaft einiger Radikalen, durch die sie bestimmt wurde, die Flucht Gottfried
Kinkels mit einem Geldbeitrag zu unterstützen. Die Folge war, in der freie»
Stadt Hamburg, ein Überfall preußischer Geheimpolizei, die die in Beschlag
genommenen Papiere an die russische weitergab. Darunter fanden sich nun
Briefe Viktor Hehns. Er wurde in Dorpat verhaftet und in die Residenz
gebracht. In einer unter dem Wasserspiegel der Newa gelegenen Käsematte,
in strengster Absperrung, in der Tracht und mit der Kost eines gemeinen
Verbrechers wartete er seines Urteils — wochenlang. Da die Untersuchung
nicht das geringste gegen die Verdächtigte» ergab — mit Hehn zugleich war
der Professor Osenbrüggen verhaftet ^ befahl der Kaiser, sie frei zu geben.
Osenbrüggen wurde feines Amtes entsetzt und als Ausländer über die Grenze
geschickt, nnter die Hehn betreffenden Akten aber schrieb Nikolaus eigenhändig:
Non8i«zur Hslin est un uoiuiue ac bsauooux «Zs vouiulissAuosL, unis it lui
»nniqui; 1^ oonuaissg.nos <is lÄ vis xrati^ne. ,1s vais 1a lui xrooursr. Die
Worte klingen wie Hohn, brauchen aber bei einem Geiste wie Nikolaus nicht
als solcher genommen zu werden. Die angekündigte pädagogische Maßregel
bestand in der Verbannung in eine Stadt des innern Rußlands, die Hehn sich
wählen durfte, uuter der Bedingung, daß sie keine Universitätsstadt sei, und
von wo er sich bis aus weiteres nicht zu entfernen habe; dazu, versteht sich,
polizeiliche Aufsicht. Der Wirkung nach war das ziemlich dasselbe wie Ver¬
bannung nach Sibirien. Zu Anfang 1851 also siedelte Hehn nach Tula über,
das in der Hoffnung gewählt wurde, unter den bei den dortigen Fabriken
angestellten Ausländern vielleicht ein paar gebildete Menschen zu finden. Die
ihm zugewiesene Beschäftigung war Aktenreponiren bei einer Behörde. Vom
Tageslohn zu leben, war auch bei äußerster Anspruchslosigkeit unmöglich,
durch wissenschaftlichen Unterricht sich zu fristen, verboten; endlich verfiel er
auf Musikstunden, wiewohl er nur ein wenig geübter Spieler war. So war
die ^lo xiAtiMv beschaffen, durch die der kaiserliche Erzieher den nach seiner
Meinung mit Wissensqualm überladenen zu heilen gedachte; darin schleppte
sich der Unglückliche ohne Hoffnung auf Änderung ein Jahr um das andre
fort, bis ihn eines Morgens sein englischer Stubennachbar mit dem Freuden-
rufe aus dem Bette riß: 01ä Mobola-s is Äöiicl!
Nach einigen Monaten war Hehn, dank den Bemühungen seiner Freunde,
ein freier Mann. Die ihm ans Verwendung der edeln Großfürstin Helene
angebotene Stellung als Bibliothekar an der kaiserlichen Bibliothek sagte ihm
zu, und er verblieb in ihr, später zum Oberbibliothekar mit dem Range eines
Wirklichen Staatsrath (Exzellenz) aufsteigend, nahe an zwei Jahrzehnte. Die Er¬
niedrigung und geistige Ode der Verbannungsjahre hatten in ihm den wissen¬
schaftliche!? Trieb nicht abstumpfen können; sie hatten ihn sein Leben nach
innen kehren heißen und ihn Geduld gelehrt. Langsam wuchsen die Studien,
aus denen er erst im Jahre 1870 in seinem klassischen Buche „Kulturpflanzen
und Haustiere" die Summe zog. Das in bequem zugemessenen Ferien öfters
besuchte Land seiner Liebe, Italien, gab dem Werke die Richtung, die ihm
unterstellte Bibliothek, eine der größten und besteingerichteten Europas, Stoff
und Hilfsmittel. Zugleich spiegelt sich darin der doppelte Interessenkreis der
Freunde, mit denen Hehn in Se. Petersburg verkehrte: der beiden Naturforscher
von Baer und von Middendorf, der Sprachforscher Böthlingk, Schiefner und
Wiedemann, sämtlich als Akademiker in der Residenz vereinigte engere Lands¬
leute. Daß die Deutschen damals in Se. Petersburg eine bevorzugte Stellung
einnahmen, daß das Leben dort auch äußerlich seine sehr angenehmen Seiten
hatte, ist bekannt; mir eines, ein Großes freilich, fehlte: man kam über das
Gefühl nicht hinaus, einer Verlornen Kolonie anzugehören. Im übrigen waren
Petersburg und Rußland auch uuter der liberalisireuden Ära Alexanders II.
Hehn nicht annehmlicher geworden. Denn migeblendet durch deu Enthu¬
siasmus des Inlandes und den willfährigen Beifall des Westens durchschaute
er von Anbeginn die Hoffnungslosigkeit dieser Reformen, die nur eine neue
Art Potemkiuscher Dörfer, eine „Kulturmaskerade" zur Täuschung des euro¬
päischen Publikums waren.
Mit ganzer und wärmster Teilnahme dagegen verfolgte er das gleich¬
zeitige Aufsteigen Deutschlands. Er wartete nur auf den Eintritt seiner
Pensionsberechtigung, um im Herbst 1873 nach Berlin überzusiedeln. Hier
verbrachte er die siebzehn Jahre bis zu seinem Tode. Was er sich von Berlin
versprach, wurde ihm freilich in mehr als einer Hinsicht dort nur unvoll¬
ständig erfüllt. Zunächst mußte er dieselbe optische Täuschung büßen, der so
mancher andre die Begründung des neuen Reiches vom Auslande her an¬
sehende Deutsche unterlegen ist: er kam erfüllt mit den großen und schönen
Umrissen, in denen es sich ihm in der Ferne dargestellt hatte, und nun in
der Nähe stieß er hart auf so viel kleinliche, häßliche, unfertige Einzelformen,
auf die Schmach der Gründerzeit, auf den ganzen Lärm und Dunst deS in
Eile zur Großstadt sich umarbeitenden Berlins, die den der Stille gewöhnten nervös
zusammenzucken machten. Im Bürgertum mürrische Verkleinerungssucht oder
deutschtümelnde Prahlerei; im Parlament und in der Presse doktrinäre Phrasen,
in etwas andre Tonart übersetzt dieselben, die er an der Newa hatte verachten
lernen — und wo, ja wo in aller Welt die läuternde, hebende, adelnde Wir¬
kung der großen Ereignisse auf die Nation? Auf so vielen Punkten enttäuscht,
verletzt, ^and er erst in der Reaktion einer scharfgespitzten Kritik einiges Be¬
hagen wieder. Er sah sich als alternden Mann in einer neuen Zeit, aber es
war viel zu viel Leben und Sinn für Realität in ihm, als daß er aufgehört
hätte, die fortrollende Bewegung mit eifrigem, zuweilen leidenschaftlichem An¬
teil zu verfolgen, und es schien ihm uicht sowohl eine Veränderung seiner
selbst als der Welt zu sein, wenn er, der entschiedne Freisinnige von ehedem,
jetzt als Reaktionär dastand, als den er sich ironisch selbst zu bezeichnen Pflegte.
Seine bleibende Überzeugung hat er noch in einer Vorrede vom Jahre 1887 bei¬
läufig dahin zusammengefaßt, daß „wahrhaft konservativ" soviel sei, wie „in
historischer Anknüpfung progressiv." Wir würden gegen Hehns Sinn handeln,
wollten wir bei dieser Gelegenheit über eine besondre Zielscheibe seiner Kritik
mit Schweigen hinweggleiten. Er gab einen nicht geringen Teil der ihn ab¬
stoßenden Erscheinungen im neuen Deutschland dem Umstande schuld, daß Ele¬
mente eines uus grundfremden Volkes, des jüdische«?, schneller und in größerer
Menge uns zuflössen, als wir uns um- und einzuschmelzen vermöchten; wie
es deun eines seiner Lieblingsprobleme war, dem Gegensatz zwischen semitischer
und arischer Naturnulage in die Tiefen nachzuspüren (sehr schön z. B. in den
letzten zwei Seiten der „Gedanken über Goethe"). Ihm, dem Sohne eines
Grenzlandes, in dem der Deutsche mit Finnen, Letten und Slawen zusammen¬
stößt, war der Blick für fremdes Volkstum besonders geschärft, und er rea-
girte bei der Berührung damit empfindlicher, in Sympathie wie in Antipathie,
als es deu Binneulandsbewohnern geläufig ist. Ein ungünstiges Vorurteil in
der in Frage stehenden Richtung war ihm, soviel wir sehen, von Haus aus nicht
eigen. Gegen die Unterdrückung der Juden in Rußland ist er wiederholt nud
mit Nachdruck publizistisch aufgetreten (Baltische Monatsschrift Band 7, Heft 6,
Band 8, Heft 5) und einen im Jahre 1862 geschriebenen Aufsatz „Blick auf
die Geschichte der Juden in Europa" (ebenda, Band 6, Heft 2) schloß er mit
dem Ausdruck guter Hoffnungen für ihre Entwicklung mit und in dein
deutschen Volke. Allerdings in Berlin und in den siebziger Jahren stimmten
sich ihm diese Hoffnungen beträchtlich herab. Wir haben diesen Punkt nicht
übergehen wollen, weil bei dem Erscheinen seiner „Gedanken über Goethe" ein
Teil der Presse ihn mit dem Rufe: ein Antisemit! kurzweg abthun zu können
glaubte. Er war Antisemit, wie er Reaktionär war.
Wir kommen an ein weiteres Kapitel der Enttäuschung. Hehn war mit
dem Wunsche nach Berlin gekommen, rüstig weiter zu arbeiten. Er empfand
die hohe Anerkennung, mit der seine „Kulturpflanzen und Haustiere" auf¬
genommen worden waren, wie ein nodlssss obliZs. Seine Geisteskräfte waren
ungeschwächt, die dem Alter nie ersparten Plagen nicht allzu unfreundlich.
Aber es stellten sich äußere Schwierigkeiten seinem Vorsatz entgegen, die zu
überwinden ihm nicht gelang. In Se. Petersburg hatte er inmitten eines nie
versagenden, vom Publikum wenig benutzten Bücherschatzes, fast wie deren
Alleinherr, an der Spitze eiuer Schar von Handlangern gewaltet. Hier in
Berlin war er, da er eine eigne Büchersammlung nicht besaß, sowenig als die
Mittel, sie sich noch anzulegen, allein auf die königliche Bibliothek angewiesen,
deren Geschäftsgang forderte, daß jedes einzusehende Werk einen Tag zuvor
bestellt werde, deren starke Frequenz fortwährende Kollision in der Benutzung
unvermeidlich machte, die ein brauchbares Lesezimmer damals noch nicht besaß.
Diesen Hemmungen sich geduldig zu fügen, sich eine ganz neue auf sie angepaßte
Arbeitstechnik auszubilden, fühlte er sich nicht mehr imstande, und so mußte
er sich darein ergeben, sein wissenschaftliches Lebenswerk mit einem vorzeitigen
Feierabend zu schließen. Die 1874 erschienene kulturgeschichtliche Studie über
das Salz war ein im wesentlichen schon in Petersburg entstandenes Neben¬
erzeugnis, das Buch über Italien (1879) ein Wiederabdruck älterer Auf¬
sätze, die Sammlung „Gedanken über Goethe" (1887) Bruchstück von Bruch¬
stücken.
Viktor Hehn war Junggesell, und vielleicht wird mancher oder manche
daraus gewisse in seinen Schriften unverkennbare Schroffheiten psychologisch
erklären wollen. Die beiden kleinen Stübchen drei Treppen hoch, die er in
Berlin bewohnte, erinnerten in ihrer stoischen Anspruchslosigkeit, nichts ahnend
von „unserm so herrlich aufblühenden Kunsthandwerk," an das Gelehrtendasein
im Anfang des Jahrhunderts. Und so war auch der Mann; von schlichten,
aber gewählten Umgangsformen, seines Wertes sich bewußt, aber nie darauf
aus, Figur zu machen, im Gespräch mehr fein als glänzend. In der Berliner
Gesellschaft viel neue Bekanntschaften zu machen, fühlte er sich uicht aufgelegt;
er begnügte sich mit einem Stammtisch älterer Herren in der Nähe seiner
Wohnung, von denen mancher, wie Julian Schmidt, ihm im Tode voran¬
ging. Freitags abends begrüßte ihn in einer Weinstube am Geudarmen-
markt ein Kreis von baltischen Landsleuten, in Berlin angesiedelten und
durchreisenden, als ihr ehrwürdiges Haupt. Voruehiulich aus Landsleuten
bestand auch das kleine Häuflein, das den nach kurzer Krankheit dahingeschiedenen
an dein schönen Frühlingsmorgen des 26. März dieses Jahres zur letzten
Ruhe geleitete.
Am Grabe eines verehrten Toten legt man sich unwillkürlich unter rudern
die Frage vor, ob sein Leben glücklich gewesen sei. Nach dem Dichterworte:
Höchstes Glück der Erdenkinder
Ist doch die Persönlichkeit
ist Viktor Hehns Leben es sicher gewesen. Die Menschen des zwanzigsten
Jahrhunderts werden jedenfalls nach einer andern Fac-on glücklich sein. Eben
der starke persönliche Hauch war es, der Hehns Büchern, über ihre großen
objektiven Vorzüge hinaus, ihre Wirkung bereitete und noch lange bereiten
wird, wenn andre mit gleichen objektiven Verzügen ausgestattete im großen
Strome der litterarischen Vewcgnng unvermerkt untergetaucht sein werden. Die
Hervorkehrung seines Ichs hatte aber sehr bestimmte Grenzen. Niemals in
seinen Schriften, auch wo er polemisch ist, redet er von seiner Person. Das
geht bis zu der stilistischen Eigentümlichkeit, die Einführung eines Satzes mit
„ich" konsequent zu vermeiden und dafür eine unpersönliche Umschreibiing vor¬
zuziehen. Auch im Leben war er nach dieser Seite höchst zurückhaltend. So
sprach er z. V. nie von der Episode seiner Verhaftung und Verbannung, und
wollte jemand die Rede darauf bringen, so wich er aus: der bloße Schein
widerstrebte ihm, als könne er sich als Märtyrer interessant machen wollen.
Aber rückhaltlos legte er sein Subjekt darein, wo es über Menschen und Dinge
anßer ihm zu urteilen galt. Wir glauben manche Schwächen und viele
Tugenden in Hehns Wesen in einem zu nennen, wenn wir sagen: er war ein
echter Aristokrat. Er war es schon deshalb, weil er ein echter Balle war,
aufgewachsen in einer in Kolon istenexistenz behcirreudeu Gesellschaft, die seit
Jahrhunderten mit Herrengefühl über einer inferioren Rasse lebte, und der auch
späterhin ihre Bezwinger etwas besseres als sie zu sei» anerkennend oder hassend
nie bestritten. Eben dieser aristokratische Standpunkt gab ihm den unbefangenen
Blick und die tiefe Sympathie für das wirklich Volkstümliche. Und ähnlich
komplementär verhielten sich sein deutscher Patriotismus und sein Widerwille
gegen alle Arten vou Deutschtümelei, seine ganz nordische Bluts- und Geistes¬
beschaffenheit und seine Vorliebe, ja Parteinahme für südliche Natur nicht nur,
sondern auch Meuscheucirt.
Ohne Beispiel, wenigstens in Deutschland, wird es sein, daß ein Gelehrter
von so viel Kenntnissen, so viel originellem Geist, so viel schriftstellerischer
Begabung, kurz so ganz zur Produktion geschaffen, so wenig Eile zeigt, mit
dem Publikum in Verkehr zu treten. Er war bald ein Sechziger, als er sein
erstes und in gewissem Sinne einziges Buch veröffentlichte; zum Druck der
Aufsätze über Italien und Goethe hat er sich schließlich nur zögernd, wider¬
strebend, ans vielfaches Zureden vou Freunden verstanden. Publizitätsscheu
ist ein unter den Ballen, und oft gerade den besten, sehr verbreiteter Zug. Bei
Hehn hatte Bescheidenheit und etwas andres, das man Wohl nicht falsch als ein
Obi xrolÄnnrn vulgus bezeichnen darf, gleichen Anteil daran. Wenn Hehn
einmal in Bezug auf Goethe sagt: „So mögen auch hier die Einzelnen, die ihren
größten Dichter tief im Herzen tragen, über ihn lieber in Ehrfurcht schweigen,
als auf die Straße herabsteigen oder auf die Dächer treten, wo so laut und
voll Dünkel geredet wird," so giebt er damit seine eigne Normalstimmuug,
die aber doch zuweilen vou dem stärkern Drange, Zeugnis abzulegen von dem
Gott in seiner Brust, durchbrochen wurde. Öffnete er dann den Mund, so
kannte er kein Bedenken vor möglichem oder sicherm Anstoß. Ja er ist
manchmal in dem Gefühl, seine Rede sei, wie der Apostel sagt, den Heiden
eine Thorheit, eifriger geworden, als der beabsichtigten Wirkung gut gewesen
wäre. Dahin gehört der Abschnitt I'ro xoxnlo ItAlioo, zu dessen Rechtfertigung
er nachträglich schrieb: „Zu Harthörigen spricht man lauter, und der vorein¬
genommene und abgewandte oder auch nnr kalte und gleichgültige Leser wird
schon selbst den Abzug vornehmen, den die Wahrheit der Sache fordert"; dahin
gehört sehr vieles in „Goethe und das Publikum."
Hehns Raugstellung als Gelehrter beruht auf dem mehrfach genannten
Buche, dessen vollständiger Titel taillee: „Kulturpflanzen und Haustiere in ihrem
Übergang aus Asien nach Griechenland und Italien, sowie in das übrige
Europa. Historisch-linguistische Skizzen" (1. Auflage 1870, 5. Auflage 1887).
Worin sich in der Leistung eines Forschers Genialität zeigen kann, ist vor allem
die Stellung des Problems; hier ist sie genial in hohem Grade, dabei bezeich¬
nenderweise sehr persönlich. Es ist gleichsam der Dank des Nordländers an
den Süden, „in dem alle Quelleu unsrer Bildung liegen," dessen Natur in
ihrer „Harmonie und stillen Selbstgenügsamkeit" zu genießen ihn: zu einem
beträchtlichen Stücke seines Lebensglückes geworden war. Ist es sonst eine
geläufige Betrachtung, die Einwirkung der Natur auf die Geschichte des Menschen
nachzuweisen, so versucht Hehn (ob beeinflußt durch einige dahin gehende An¬
deutungen Karl Ritters, wissen wir nicht) umgekehrt eine Geschichte der Natur
zu schreiben, wie sie sich unter der Hand des Menschen verändert und schließlich
ihr gegenwärtiges Gepräge empfangen hat. In der That sind Italien wie
Griechenland in ihrem jetzigen Zustande „unendlich weit von dem Punkte ent¬
fernt, auf den sie in der Urzeit von der Natur allein gestellt waren. Fast
alles, was den Reisenden, der von Norden über die Alpen steigt, wie eine neue
Welt anmutet, die Plastik und stille Schönheit der Vegetation, die Charakter-
fvrmen der Landschaft, der Tierwelt, ja selbst der geologischen Struktur, insofern
diese erst später durch Umwandlung der organischen Decke hervortrat und dann
die Einwirkung des Lichtes und der atmosphärischen Agentien erfuhr, sind ein
in langen Perioden durch vielfache Bildung und Umbildung vermitteltes Produkt
der Zivilisation. Jeder Blick aus der Höhe auf ein Stück Erde in Italien
ist ein Blick ans frühere und spätere Jahrhunderte seiner Geschichte. Die Natur
gab Polhöhe, Formation des Bodens, geographische Lage; das übrige ist ein
Werk der bauenden, säenden, einführenden, ausrottenden, ordnenden, veredelnden
Kultur." In Griechenland hatte die Orientalisirung der Natur schon in
homerischer Zeit begonnen. Italien war noch während des peloponnesischen
Krieges, ja in der alexandrinischen Zeit ein relativ nordisches, hauptsächlich
Getreide, Vieh und Holz prodnzirendes Land, und nnr allmählich durch Ver¬
mittlung griechischer Kolonisten, dann asiatischer Sklaven und Freigelassenen
trat an die Stelle ungeheurer Wälder und Wildnisse mit ihren Holz- und Pech-,
Jagd- und Weidcertrügen eine Waldung orientalischer Obstbäume. Aus diesem
merkwürdigen Natur- und Kulturprozeß wollen wir nun beispielsweise ein paar
Einzelheiten herausgreifen. Keine von den Pflanzen, die Mignon in dem
Sehnsuch-tsliedc „Kennst du das Land" als dessen vorzüglichste Symbole vor
Augen schweben, ist ihm ursprlluglich eigen. Die Zitrone, indes nur die dick¬
schalige süßliche Art (italienisch eoäro), war von den Römern im vierten Jahr¬
hundert akklimatisirt, während die uns vorzugsweise geläufige herbe Art (Amors)
erst in deu Kreuzzügen, die Orange erst im zehnten Jahrhundert eingeführt worden
ist. Lorbeer und Myrte sind im Gefolge religiöser Kulte aus dem Orient ein¬
gewandert. Auf gleichem Wege kam, ein Symbol des iranischen Lichtdieustes,
die Cypresse, die noch Plinius einen fremden Baum nennt, dessen Akklimati¬
sation in Italien schwierig gewesen sei, heute nebst der Pinie die eigentliche
Charaktergestalt unter den Bäumen Italiens. „Wo die Cypresse beginnt,
sagt Hehn, da beginnt das Reich der Formen, der ideale Stil, da ist klassischer
Boden." Der heute an allen Küsten des Mittelmeeres massenhaft wuchernde
Opnntienknktus gar und die Aloe — durch die Friedrich Preller mit Vorliebe
seine homerischen Landschaften charakterisirt — kamen erst als eine Gabe
Amerikas. Und so ist auch jene Pappel, die bei uns schlechthin die italienische
heißt, eigentlich an den Ufern des Mississippi zu Hause.
Die Anerkennung der gelehrten Welt hat Hehns „Kulturpflanzen und
Haustieren" nicht gefehlt. Ihr äußeres Maß ist in den fünf Auflagen, die
das Buch in fünfzehn Jahren erlebte, ausgedrückt. Ein ausgezeichneter Ver¬
treter der Altertumswissenschaft, von mir um nähere Formulirung seines Urteils
gebeten, schreibt: „Nie zuvor war der hier dargestellte Prozeß in seiner Ge¬
samtheit und in seinem Zusammenhange mit der Kultur ins Ange gefaßt.
Über die Betrachtung einzelner Thatsachen war man nicht hinausgekommen.
Auch wer in diesen »historisch-linguistischen Skizzen« (wie der Verfasser sie
allzu bescheiden nennt) noch so flüchtig blättert, wird auf jeder Seite gewahr,
daß hier die langsam, dafür aber auch ganz ausgereifte Frucht vieljähriger
Geduld und Arbeit geboten wird, deren weit auseinanderliegende Gebiete zu
umfassen höchst selten ein Einzelner imstande ist: mit einer großen philologischen,
linguistischen, litterarischen Gelehrsamkeit sind hier nicht geringe naturwissen¬
schaftliche, ethnographische und historische Kenntnisse verbunden. Auch der
Vorsicht und Behutsamkeit, mit der Hehn bei der Aufstellung der (auf dem
vielfach schwankenden Boden dieser Forschungen natürlich zahlreichen) Hypo¬
thesen stets zu Werke geht, der Sorgfalt und Besonnenheit, mit der er alle
Momente des Für und Wider abwägt, muß man die höchste Anerkennung
zollen. Aber weit mehr noch als den Umfang und die Vielseitigkeit seines
Wissens, als die Sicherheit seiner Methode bewundert man die Kraft seiner
in das Dunkel der Vorzeit dringenden, in winzigen, zerstreuten und entstellten
Nachrichten die Zusammenhänge und Beziehungen erfassender, immer neue,
überraschende Ausblicke und Perspektiven eröffnende Anschauung. Das Buch
gehört zu den klassischen Werken uicht nur der Altertumskunde, sondern mich
der deutschen Litteratur."
Die letzten der obigen Sätze deuten schon auf das, worin anch unsers
Erachtens die höchste Bedeutung des Hehnschen Buches enthalten ist: so lehr¬
reich die unmittelbaren Ergebnisse sind, noch Wertvolleres ist aus ihm zu lernen,
wenn wir es als Typus betrachten. Es wird anerkannt: allen an die Spezinl-
forschung zu stellenden Forderungen ist mit nicht zu übertreffender „Akribie"
gerecht geworden, und doch ist vom Anfang bis zum Ende in keinem Moment
der Blick aufs Ganze verloren. Wie viel oder wie wenig Recht die immer lauter
werdenden Klagen über den die Wissenschaft verderbenden Spezialismus, über
die Borherrschaft einer mikroskopischen Weltanschauung haben mögen — vor
Hehns Buch werden sie verstummen müssen. Es tritt darin glänzend ans
Licht, daß .Hehn, gleich seinem berühmten Landsmann K. E. von Baer, eine
Künstlernatur war. Wir meinen damit noch uicht an erster Stelle die beiden
gemeinsame Meisterschaft der Darstellung, die klare, edle, harmonische Sprache,
wir meinen vor allem das echt künstlerische Geistesbedürfnis, jede kleinste
Untersuchung, die sie unternehmen, in den Dienst einer großen Anschauung zu.
stellen, das Stückwerk des Wissens zu einem organischen Sein zu erhöhen.
Als Ergänzung zu den „Kulturpflanzen und Haustieren" sind die „Skizzen
und Streiflichter" über Italien zu lese». Mau möchte sagen, sie seien als
Monologe niedergeschrieben. Wenigstens hat der Verfasser sich erstaunlich
geringe Mühe gegeben, ihnen Leser zu schaffen. Er überließ sie der in Riga
erscheinenden, über einen eng begrenzten Leserkreis nicht hiuauskommeudeu
Baltischen Monatsschrift. Dann wurden sie von einem Se. Petersburger Ver¬
leger in Buchform herausgegeben (1866), blieben aber in Deutschland wiederum
fast unbemerkt. Aus ihrem Dunkel hervorgezogen wurden sie erst durch die
zweite Auflage (1879), zu der ein Hehn als Freund und Landsmann nahe¬
stehender Berliner Buchhändler die Initiative ergriff, ein Verdienst, für das
ihm leider immer noch nicht gar viele, diese aber wärmstens dankbar sind.
Denn seitdem hat sich das Urteil unbestritten festgestellt, daß wir in Hehns
Buch das Geistvollste und Schönste, was seit Goethe deutscherseits über Italien
gesagt worden ist, besitzen, wobei sich aufs neue die Beobachtung aufdrängt,
daß das tiefste sympathetische Verhältnis zum Süden und zum Klassischen am
häufigsten — gewiß nicht zufällig — von Männern des Nordens gewonnen
wird: Winckelmann, Carstens, Thvrwnldseu, Schinkel, Niebuhr — zum Ab¬
schluß Hehn. Der Versuch, deu Inhalt im Auszug zu bringen, wäre Ver¬
sündigung an einem Buche, in dem der Stoff ganz Geist, d. i. Form geworden
ist. Auf zwei des Verfassers Persönlichkeit näher angehende Eigentümlichkeiten
möchten wir aber noch hinweisen. Es ist, so selten das Wörtchen „ich" darin
vorkommen mag, eine Bekenntnisschrift: „So sei denn auch dieses Buch, sagt
die Vorrede von 1879, nichts als ein Zeugnis mehr, daß es immer noch
Einzelne unter uns giebt, die dem idealen Gedanken, der unsre klassische Dichtung
und Philosophie geschaffen hat, nicht völlig entsagen mögen; die sich bestreben,
wie Winckelmann und Goethe, wie Schelling und Hegel anzuschauen, zu em¬
pfinden und zu denken; die gegen Plattheiten, wie induktiv und deduktiv, und
gegen Streitfragen, ob die Welt, die ja alles in sich saßt, ein Übel sei oder
nicht, nur Verachtung hegen; die, was sie auch im einzelnen als ihr Fach
betreibe,:, seien es Kegelschnitte oder Werk- und Buchführung oder der Beruf
des Zivilingenieurs oder das Geschäft des Apothekers oder etwas andres, doch
das Bedürfnis fühlen, ein Ganzes zu werden und wahre Menschlichkeit in sich
zu entwickeln; die endlich, um das letztere zu erreichen, ans der Dürre der
Technik und Mechanik, des gemeinen Verstandes und groben Nutzens gern zu
.Kunst und Altertum, zu der Naturgestalt und uralten Kultur des Südens
wie zu einer reinen Bildungs- und Lebensquelle flüchten." Hat Hehn Unrecht,
wenn er glaubt, daß es nur wenige Einzelne seien, die mit ihm so denken und
wollen? Vor aller Augen liegt, welche unermeßliche Bedeutung von Winckel¬
mann ab die Anschauung Italiens für das höhere Geistesleben unsrer Nation
gehabt hat; nicht minder unwidersprechlich ist aber, daß dieser Einfluß seit der
Mitte des Jahrhunderts stetig zurückebbt, daß Italien uns innerlich um eben-
soviel ferner gerückt ist, als die Zahl der jährlichen Besucher sich verhundert¬
facht hat. Ja es gilt bereits als eine unvermeidliche Legitimation kerndeutscher
Gesinnung, auch rückwärts die die erste Hälfte des Jahrhunderts erfüllende
Begeisterung sür Italien als eine willkürliche Schwärmerei, als ente undeutsche
Verirrung zu brandmarken. Auch in Betreff Italiens also war Hehn
„Reaktionär," Ihm galt bis ans Ende Italien als die dem Deutschen taug¬
lichste Schule der Erweiterung und Entäußerung seines Selbst. „Wer aus
Italien kommt, geht veredelt umher, wie mit einem zweiten Gesicht begabt.
Bedenkt man, wie sehr der deutsche Geist auf das Wesen und wie wenig er auf
die Erscheinung gerichtet ist, so mochte man jedem Deutschen, der dessen wert
ist, zu seiner Bildung wünschen, daß er gezwungen würde, eine Weile in der
Atmosphäre antiken, romanischen, südlichen Lebens zu atmen. Dort ist noch
Schönheit und Idealität, um die freche Realistik zu mildern, der wir uns
neuerdings ergeben zu haben scheinen. Denn nicht bloß Ergänzung des uns
Fehlenden soll uns Italien bringen, sondern vor allem Sicherung unsers Be¬
sitzes, Abwendung drohenden Verlustes."
Nach allein Bisherigen braucht der Leser nicht erst nach dem Namen dessen
zu fragen, den Hehn als den größten Deutschen „auf idealem und sittlichem
Gebiete" verehrte. Goethes Schriften waren sein Lebensbegleiter von den
Knabenjahren an, und er hatte sich in ihnen eine so gründliche und prompte
Velesenheit erworben, wie bestenfalls einige wenige von denen, die die Goethe¬
forschung als Beruf betreiben. Aber an die Aufzeichnung seiner „Gedanken
über Goethe" ging er erst, als sich ihm die Wege auf seinem wissenschaftlichen
Spezialgebiet, wie wir gesehen haben, versperrten, und als dem Siebzigjährigen
der Wunsch rege werden möchte, noch ein Schlußwort zu feinem Leben zu sprechen.
Es war aufrichtige Bescheidenheit, aber eine, deren Richtung er ironisch verhüllt,
wenn er in einem Privatbriefe an einen ihn zur Veröffentlichung seiner Studien
ermunternden schrieb: „Wenn die Herren von der Zunft über manches die
Achseln zucken werden, so muß ich mirs gefallen lassen; ein Bönhase wie ich
soll sich nicht unter die Meister drängen." Den wahren Grund seines Zögerns
finden wir in einem objektiv auf Goethe angewandten, aber sicher aus sub¬
jektiver Erfahrung gewonnenem Satze: „Und doch bedarf der Genius, und je
größer er ist, umso mehr, der Einstimmung und Frende, des Gegenklanges
von außen, nur dieser reizt ihn, sich zu öffnen, die gesammelten Schätze herzu¬
geben, die Scham, die Schmerzen zu überwinden, die mit jeder Ablösung vom
Herzen verbunden sind." Die Tageskritik und ihr folgend das Lesepnblikmn
warf sich beim Erscheinen des Buches mit leider bezeichnendem Vergnügen ans
die in glänzenden polemischen Scharmützeln durchgeführte Einleitung, als wäre
sie die Hauptsache; sie sollte aber nichts, als zwischen dem Verfasser und den
Lesern die Bahn frei machen für den positiven Gehalt der folgenden Kapitel.
Vor allem wieder überrascht hier Hehn durch die Ursprünglichkeit und Tiefe
in der Erfassung der Probleme. Sie liegen über dem Horizont der herrschenden
Goethephilologie (wie sich anch gleich darin zeigte, daß ein Adept derselben
öffentlich erklärte, das Buch sei ja wohl geistreich, aber doch sehr Dilettanten-
arbeit). Allerdings ist die Behandlung eine solche, daß dem Titel „Gedanken
über Goethe" der Untertitel Hütte hinzugesetzt werden dürfen: für denkende
Leser. In den der Einleitung folgenden zwei Kapiteln wird gezeigt, wie der
Dichter das Menschenleben ansah, einmal in seinen „Naturformen," den ein¬
fachen, unmittelbaren, den Geist in Notwendigkeit bindenden, das fernste Alter¬
tum mit der nächsten Gegenwart verknüpfenden, dann in seiner Gliederung in
„Stände." Hiernach, wiederum einander ergänzend, die Abschnitte „Natur¬
phantasie" und „Gleichnisse," letzterer mit einer ausgezeichnet schönen Er¬
örterung über die Phantasie und ihren „profanen Grenznachbar" Witz. Ein
zweiter Band war beabsichtigt, ihn auszuführen ist Hehn nicht mehr möglich
geworden. Zwei dafür bestimmte Aufsätze „Einiges über Goethes Vers" und
„Goethe und die Sprache der Bibel" gelangten im Goethejahrbuch zum Ab¬
druck, sonst fanden sich im Nachlaß zwar weitschichtige und wohlgeordnete
Sammlungen, aber nichts Geformtes.
Wir haben das subjektive Element in Hehns Schriften hinlänglich, wie
wir hoffen, ans Licht gestellt. Sollen wir ihn deshalb zu entschuldigen, zu
rechtfertigen versuchen? Nein. Denn es bedeutet nichts andres als Herzcns-
anteil, starken und echten, an den behandelten Gegenständen. Bezeichnend für
den Mann und den Schriftsteller ist es, daß ihn erst die Wahrnehmung, mit
seiner Weltanschauung in Widerstreit zu der anschwellenden Zeitströmung geraten
zu sein, zum Schriftsteller machte, in einem Alter, wo andre die Feder aus
der Hand legen. Er wollte nicht bekehren, nur verteidigen. Unter den Gütern
aber, deren Bedrohung er mit Schmerz und Scham ansah, war vielleicht keines
mit seiner persönlichsten Empfindung so innig verwachsen, wie die deutsche
Sprache: ihn empörte als Kenner, ihn verwundete als Künstler ihr Verfall,
in dem wir schon mitten inne stehen, und der uns Jüngere alle, ob wider¬
strebend oder lässig, mit sich fortreißt. Den ernstlich erwogenen Plan, in
einer eingänglicher sprachwissenschaftlichen Studie dieser Krankheit die Diagnose
zu stellen, hat Hehn schließlich unausgeführt gelassen. Zu den besten Heil¬
mitteln darf das Beispiel, das er selbst als Schriftsteller gab, gezählt werden.
Zwar zu den schöpferischen, verjüngenden Sprachmeistern — wo giebt es sie
heute? — gehörte anch Hehn nicht; aber sicherlich hat während des letzten
Halbjährhunderts keiner die sprachliche Erbschaft der Zeit unsrer klassischen
Litteratur so treu gepflegt, mit so aristokratischem Stilgefühl, mit so viel
Sorgfalt und so wenig Ziererei, so streng und anmutig zugleich die
deutsche Prosa gehandhabt, wie er. Ein feinfühliger Kenner, der sein
Urteil auf die Goldwage zu legen gewohnt war, antwortete einem Freunde,
der ihn auf Hehns „Italien" aufmerksam gemacht hatte: „Ich fühle mich
wahrhaft beschämt, daß ich durch Sie erst einen unsrer Klassiker kennen lernen
muß." Seltsame Schicksalsironie, daß dieser letzte Klassiker von einer Land¬
schaft sein geliebtes Deutsch als Muttersprache empfangen hat, in der es in
naher Zukunft zu einem kümmerlichen Jargon herabgedrückt, vielleicht mit der
Wurzel ausgerottet sein wird.
L>«Z?^??
^G^xcum die Bedeutung eines Buches uach seinen: Erfolge gemessen
werden konnte, so dürfte sich die amerikanische Litteratur rühmen,
wie in den fünfziger Jahren, wo „Onkel Toms Hütte" der Mrs.
Beecher-Stowe das gclesenste und gekaufteste Buch der Erde
war, so auch jetzt den „bedeutendsten" Roman unsrer Tage er¬
zeugt zu haben. Denn es ist doch wohl mehr als Hnmbug, wenn uns versichert
wird, daß von der Phantasie: Im Jahre 2 000. Ein Rückblick auf das Jahr
1887 von Eduard Bellamy in den Vereinigten Staaten allein gegen 300000
Exemplare abgesetzt worden seien. Wie die Dinge liegen, wird jeder Gebildete
und Halbgebildete den genannten Roman oder Halbroman zur Hand nehmen
und aus ihm die Belehrung schöpfen müssen, daß sich der „Dichter" wieder ein¬
mal als Prophet gefühlt hat und über die Gestalt der Welt und das Leben
der Menschheit nach der vollbrachtem großen sozialen Erlösung geweissagt hat.
Seit Jules Verne und seine Nachahmer das Unmögliche und Märchenhafte
mit wissenschaftlichen Stützen versehen haben, ist es ja nicht zu schwer, sich
einen jungen Vvstvner zu denken, der im Jahre 1887 von einem Quacksalber
oder Professor des tierischen Magnetismus in hypnotischen Schlaf versetzt und,
der Legende zum nachträglichen Erweis, nach Verlauf von hundertunddreizehn
Jahren um einem schönen Morgen im Jahre 2000 wissenschaftlich erweckt und
geweckt wird. Er findet eine so völlig verwandelte Welt vor, daß die sieben
Schläfer, Rip van Winkel und wie sie alle heißen mögen, gegen ihn arm an
Überraschungen genannt werden dürfen. Hierdurch erklärt sich auch, daß Mr.
Julian West körperlich die Wiedererweckung umso viel besser übersteht, als seine
sagenhaften Vorgänger. Er wird von den Erscheinungen und Thatsachen einer
so völlig neuen Welt derart in Anspruch genommen, daß er kaum Zeit hat,
an seine eigne Person zu denken. Gegen den Schluß hin wählt er freilich
das beste Mittel der Verjüngung und Lebenserhaltung, indem er eine schöne
Tochter des zwanzigsten Jahrhunderts heiratet.
Wie schon aus diesen kurzen Andeutungen hervorgeht, schließt sich Bellamhs
Roman „Im Jahre 2000" der langen Reihe politisch-sozialer Romane an, die
seit dem sechzehnten Jahrhundert mittels der Schilderung künftiger Zustände
Kritik an den bestehenden geübt haben. Es hat seine guten Gründe, daß diese
interessanten Bücher in frühern Jahrhunderten nnr wenig gelesen worden sind,
wahrend das neueste Produkt dieser Art einen Sensationserfolg davontrügt,
der seines gleichen sucht. Sir Thomas Morus' „Utopia," James Harringtons
„Oceana" sind entschieden mehr zitirte und gelobte als wirklich gekannte Bücher.
Die „Insel Felsenburg" des Stolbergers Christian Gottfried Schnabel stand
zwar vor lMidertund fünfzig Jahren in großem Ansehen und war so ziemlich
in allen Familienbibliotheken zu finden; aber unter den Tausenden ihrer Leser
waren kaum einige zu finden, die in der Geschichte des Sachsen Albert
Julius und seiner Kolonie mehr sahen als eine unterhaltsame Robinsonade.
Poetische Weissagungen von einer bessern als der bestehenden Welt bleiben so
lange unwirksam, als mau mit und trotz aller landläufigen Unzufriedenheit
im allgemeinen geneigt ist, die bestehende für die beste zu halten. Trotz der
Kämpfe des sechzehnten und des siebzehnten Jahrhunderts fühlte sich die bürger¬
liche Gesellschaft damals in ihrem Gesamtbestand nicht bedroht und hegte geringe
Zweifel, daß es morgen gehen werde, wie es gestern und heute gegangen war.
Erst wenn eine Reihe von bedrohlichen, miheilverkündenden Anzeichen dieses Ver¬
trauen erschüttert hat, wie es am Ende des achtzehnten Jahrhunderts der Fall
war und am Ende des neunzehnten Jahrhunderts wieder der Fall ist, können
Bücher wie das Bellamysche allgemeine Teilnahme finden. Sie find dann
Anzeichen eines Zustandes, den der wiederauferstandne Sohn und Bürger unsrer
Zeit im Jahre 2000 mit den Worten schildert: „Wir fühlten, daß die Anker der
Gesellschaft sich lösten, und daß sie in Gefahr war, ein Spielball der Wellen
zu werden. Wohin sie getrieben werden würde, konnte niemand sagen; alle
fürchteten jedoch die Klippen."
Dem gegenüber will nun der Roman Bellamhs tröstlich erweisen, das
Schiff der Gesellschaft secure uicht auf Klippen los, sondern im Gegenteil nach
tieferem Fahrwasser. Wie Herr Julian West aus seinem hhpnotisch-mesmerischen
hnndertunddreizehnjährigen Schlafe erwacht, erfährt er zu seiner und unsrer
Überraschung, daß es so gut wie gar keine Kämpfe gekostet hat, in den bestehenden
Staaten Europas und Amerikas völlig neue Zustünde einzuführen, erfährt, daß
die zum Unsinn gewordne kapitalistische Produktionsweise von einer Ordnung
der Gesellschaft abgelöst worden sei, in der die Staatsgewalt der alleinige Unter¬
nehmer, Anordner, Leiter und Austeiler alles Hervorgebrachten ist, in der, unbe¬
schadet sonstiger Verschiedenheiten, alle Menschen bis zum fünfundvierzigsten Jahre
zum Dienst in der großen Jndustriearmee verpflichtet sind, alle aber einen gleichen
Anteil an Lebensunterhalt- und Verbrauchsgegenstnnden erhalten. Er entdeckt
zu seiner Überraschung, daß alle Befürchtungen von „Zwang," die ein Kind
unsrer Zeit notwendigerweise mit dieser Neuordnung der Dinge verbindet,
unnütz gewesen sind. Denn es wird ihm versichert, daß, „wahrend die Ver¬
pflichtung zum Dienste in irgend einer Form nicht umgangen werden kann,
die Wahl des Verufszweiges, den jeder ergreifen will, frei ist. Gewöhn¬
lich hat jeder junge Mann, ehe er ausgemustert wird, längst den Beruf gefunden,
dem er zu folgen gedenkt, hat bereits sehr viele Kenntnisse über ihn gesammelt
und wartet sehnsüchtig auf den Tag, an den: er eingereiht wird." Es wird
ihm gesagt und gelegentlich auch gezeigt, daß der Arbeiter nicht ein Bürger
ist, weil er arbeitet, sondern daß er arbeitet, weil er ein Bürger ist; daß die
von Staate ausgestellten Kreditkarten die Dienste versehen, die ehemals das
inzwischen abgeschaffte Geld geleistet hatte, daß es sittlicher Grundsatz geworden
ist, keinen Dienst von einem andern anzunehmen, den man ihm im Falle der
Not nicht selbst leisten würde, daß es keine Verbrechen mehr giebt, sondern nur
„Atavismen," die in Hospitäler» behandelt werden, daß die gemeinen Antriebe
zur menschlichen Auszeichnung und höhern Anstrengung durch lauter edle ersetzt
worden sind, daß neben der männlichen Jndnsirienrmee eine weibliche steht,
die jedem weiblichen Wesen eine Mitwirkung an den Aufgaben der Gesellschaft,
damit die volle Unabhängigkeit sichert und Heiraten aus andern Beweggründe»
als ans Liebe vollständig ausschließt. Mr. West hat, ehe er in den' Armen
der schönen Edles, der Urenkelin seiner Braut im neunzehnten Jahrhundert,
glücklich wird, noch eiuen entsetzlichen Traum zu überwinden, worin er sich
Plötzlich in unsre Zeit zurückgeschleudert sieht, und da er die Erkenntnisse und
Anschauungen des dritten Jahrtausends verkündet, ans dem Hause seines eignen
Schwiegervaters hinausgeworfen werden soll. Als er erwacht und sich wirklich
am Beginn des einundzwanzigsten Jahrhunderts und in dem Paradiese findet,
das die Erde inzwischen geworden ist, und während er mit unaussprechlicher
Dankbarkeit über die Größe der Welterlösung und sein Vorrecht, sich in sie zu ver¬
tiefen, nachsinnt, durchdringt den Helden wie ein Messer ein qualvolles Gefühl
von Scham, Neue und Selbstanklage, daß er, ein Mann der frühern Zeit, in
jedem Punkte ebenso gleichgiltig gegen das Elend seiner Brüder, ebenso voll
chnischen Zweifels an einer Besserung, ein ebenso thörichter Verehrer des Chaos
und der alten Nacht gewesen sei, wie irgend einer seiner Mitmenschen. „So weit
mein persönlicher Einfluß reichte, hatte ich ihn dazu angewendet, die Befreiung
der Menschheit, die sich gerade damals vorbereitete, zu hindern, anstatt sie zu
fördern. Was für ein Recht hatte ich, eine Erlösung zu begrüßen, die mich
verdammte, und mich eines Tages zu freuen, über dessen nahen Anbruch ich
mich lustig gemacht hatte?" Aus dieser Qual und Selbstanklage kann ihn nur
die Liebe retten, und wir dürfe» am Schlüsse nicht zweifeln, daß sie das Wunder
vollbringen wird, wie so viele Wunder zuvor.
Die flüchtigste Inhaltsangabe des Bellamyschen Buches läßt die Leser
erraten, daß sein dichterischer Wert sehr gering ist, weil der Verfasser dein
ohne Zweifel geistreichen Einfall keine poetische Ausführung gegeben hat. Wir
erfahren wohl, daß sich Julian West in einer erlösten Welt und seinem völlig
veränderten Leben wiederfindet, wir werden mit den Grundzügen, dem
„System" der neuen Weltordnung bekannt gemacht, werden unterrichtet, daß
das Boston des zwanzigsten Jahrhunderts mit seinen öffentlichen Gebäuden,
seinen luxuriösen Gesamteinrichtungen eine Prachtstadt sei, der gegenüber das
Boston von heute als eine Dreckstadt erscheint, wir sehen, daß mau sich nur
in seinen Lehnstuhl zu setzen und einen Telephonknopf zu drücken braucht, um
das allsgezeichnetste Konzert und die beste Predigt zu hören, aber es wird,
von einigen verhältnismäßig unwesentlichen Einzelheiten abgesehen, kein Versuch
gemacht, den wunderlichen Traum in Leben umzuwandeln. Wir lernen keine
Meuschen des zwanzigsten Jahrhunderts kennen, als eben den Dr. Leete, dessen
Frau uiid seine Tochter Edles, in deren Hause Julian West erwacht. Es
wird uns weder das Arbeitsleben noch das Genußleben einer großen Stadt
der Zukunft in deutlichen Bildern vorgeführt. Obschon es der Grundgedanke
des Verfassers ist, darzustellen, daß die neue Weltordnung das Leben keines¬
wegs in ein großes Nationalzuchthans verwandelt und alle Besonderheiten
des Temperaments, der Begabung, der Lebensauffassung und des Geschmacks
verwischt habe, so hat er die naheliegende Aufgabe nicht ergriffen, uns ge¬
sellschaftliche Gruppen, Individualitäten, verschiedne und doch vom. Hauche
einer neuen Weltanschauung beseelte Menschen der Zukunft vorzuführen. Nach
der theoretischen Seite hin sind die Erörterungen Doktor Leetes und die Be¬
lehrungen, die er Julian West zu Teil werde« läßt, freilich ein gewaltiger
Fortschritt über die Schilderung der sozialistischen Kaserne hinaus, die Eugen
Sue schon 1846 seinem Sensationsroman „Der ewige Jude" einverleibt hatte.
Aber in der Hauptsache, in der Belebung und Beseelung des Einzelnen, in der
Wiedergabe glaubhafter, lebendiger Mannichfaltigkeit steht Bellamys Fiktion
nicht hoher, der Verfasser hat sich mit Andeutungen begnügt, weil Aus¬
führungen über einen gewissen Punkt hinaus eben unmöglich waren. Die
Voraussetzung, aus der die Prophetien des Bellamyschen Buches, wie die
Kritik, die es an unsern Gesellschaftszuständen übt, hervorgehen, ist die
einer unbedingten Vervollkommnungsfähigkeit der Menschheit. „Im neunzehnten
Jahrhundert" — sagt durch das verbesserte Telephon hörbar der sehr ehrwürdige
Herr Barton in der Predigt, die an die wundersame Auferstehung des Herrn
Julian West anknüpft — herrschte traurige Hoffnungslosigkeit, tiefe Verzweiflung
um der Zukunft der Menschheit; unser Zeitalter wird von einer begeisterten
Wertschätzung der Annehmlichkeiten unsers gegenwärtigen Daseins und der
unbegrenzten Kräfte der menschlichen Natur beseelt. Die von Geschlecht zu
Geschlecht zunehmende körperliche, geistige und sittliche Besserung der Mensch¬
heit wird als der eine große Gegenstand erkannt, welcher aller Anstrengungen
und Opfer in: höchsten Grade wert ist. Wir glauben, daß das Volk zum erstenmale
angefangen hat, sich dem Bilde entgegen zu entwickeln, welches in ihres sseiuesj
Schöpfers Geiste lebt, und jede Generation muß jetzt ein Schritt aufwärts sei,:."
Aus dieser Voraussetzung allein kann das Traumbild von einem Weltalter
geboren werden, worin die ungeheure Regsamkeit der Großindustrie unsrer
Tage und die Blüte Griechenlands vereint sind. Die Möglichkeit einer auf
alle gleichmäßig verteilten Bildung und gleicher Ergebnisse dieser Bildung müßte
dem Zustande vorangehen, wo in der Kunst wie in der Litteratur das
Volk der alleinige Richter ist, über die Annahme von Statuen und Gemälden,
über die Befreiung der Künstler und Schriftsteller vom Ackerbau, von der Auf¬
wartung in den öffentlichen Speisehäusern oder irgend welchem Jndustriedienst
entscheidet. Wir, die wir tagtäglich erleben, daß selbst unsre höchsten Vildungs-
anstalteu nicht imstande sind, eine ungefähre Gleichheit der Herzens- und
Geschmacksbildung hervorzubringen, daß das Bestehen der gleichen Prüfungen
nicht davor Schutze, daß der eine unter uus ein geistig lebendiger, ein schöpferischer
Mensch und der andre ein dürftiger Bewahrer dürftiger Überlieferung ist, die
wir wissen, daß der gepriesenste Techniker, Verwaltnngsmaun oder Nativnal-
ökonvm, trotz Gymnasium und Hochschule, ein trauriger Banause auf allen
Gebieten des Schönen und ein roher Bursche im Reiche der menschlichen
Empfindung sein kann, vernehmen die tröstliche Votschaft zunächst noch ohne
Glauben. Wir fürchten, daß Jean Jacques Rousseau von Genf, der als die
Voraussetzung der gewünschten Gleichheit eine gewisse Verbauerung, ein Zurück¬
sinken in die dürftigsten Anfänge der menschlichen Kultur erachtete, um ein
gut Teil ehrlicher war, als die sozialistischen Propheten unsrer Tage, die das
Jahr 1900 oder 2000 als den Beginn des tausendjährigen Reiches darstellen.
Wir wollen deshalb kein allzu großes Gewicht ans die Widersprüche legen,
die sich natürlich auch in Vellamhs Roman finden. Den» wenn uns erzählt
wird, daß „nicht alle, auch nicht der größere Teil ihre letzte Lebenshälfte litte¬
rarischen, künstlerischen oder wissenschaftlichen Interessen, für welche Muße das
Wertvollste ist, sondern Reisen, geselligem Verkehr im Kreise befreundeter
Altersgenossen, persönlichen Liebhabereien und dem ungestörten Genuß der
guten Dinge dieser Welt" widmen, so liegt die Frage nahe, ob diese durchaus
ehrenwerten Herren und Damen auch mit darüber entscheiden, ob ein Thor-
waldsen der Zukunft Ziegel streichen oder ein Brahms des einundzwanzigsten
Jahrhunderts den Schmiedehammer führen muß. Und wenn wir lesen, daß,
welche sonstigen Änderungen die Sinnesart der Männer und Frauen auch mit
der Zeit erfahren haben möge, ihre Anziehungskraft auf einander unverändert
geblieben, und daß die Leere, die das Fehlen jeglicher Sorgen für jemandes
Leben in dein Gemüte der Männer und Frauen gelassen hat, vollständig durch
die Liebe ausgefüllt worden sei, so möchten wir fragen, ob am Ende des
zwanzigsten Jahrhunderts jedermann mit seiner eignen Frau völlig befriedigt
gewesen sei und niemand mehr seines Nächsten Weib oder Tochter begehrt
habe. Doch wie gesagt, da sich Bellamy mit der allgemeinen Versicherung
einer eben so großen ethischen, als sozialpolitischen Verbesserung der Menschheit
begnügt, und Doktor Leete geradezu sagt, der Gebildete unsrer Tage habe
einem Manne geglichen, der mit einem Riechfläschchen in der Hand bis an
den Hals in einem stinkenden Sumpfe saß, mich versichert, daß im Jahre 2000
alle fähig geworden sind zum Genuß wie zum Verständnis, in verschiednen
Abstufungen zwar, aber doch innerhalb einer bestimmten Grenze der Annehm¬
lichkeiten eines verfeinerten sozialen Lebens, und sogar den Trumpf aus¬
spielt, „eine Generntion der gegenwärtige:! Welt biete unendlich mehr intel¬
lektuelle Erschein»ngen, als fünf Jahrhunderte der Vergangenheit," so kann
der in unsre engen Schranken gebannte nichts anders als schweigen.
So bleibt schließlich noch die Kritik der Kritik, die in Bellamhs Helltraum
an unsern Zuständen, Gewohnheiten und Anschauungen geübt wird. Daß sie
in ihrer unbarmherzigen Schärfe ein gutes Stück Wahrheit einschließt, daß
der wahnsinnige Kampf aller gegen alle, zu dein man unsre Kultur teils ge¬
steigert hat, teils zu steigern sucht, Empfindungen erzeugen muß, wie sie
Bellamhs Buch durchhaucheu, daß heillose Verhältnisse eine tiefe Sehnsucht
nach dem Heil erwecken müssen, wer wagt es heute noch zu leugnen? Daß
aber der Ruf des römischen Pöbels Z?Airsin se, oirosusös, der nach Bellamhs
Buch „heutzutage als etwas ganz Vernünftiges angesehen wird," in der That
die einzige Heilsbotschaft der Zukunft sein werde, darf man selbst am Schlüsse
des neunzehnten Jahrhunderts noch in Zweifel ziehen und bessere Hoffnungen
hegen.
it n einer Besprechung der akademischen Kunstausstellung in Berlin
! in Ur. 31 der Grenzboten hat der Verfasser beiläufig die Ver¬
suche gestreift, die in der Reichshauptstadt von einigen Bühnen¬
leitern gemacht worden sind, das Interesse der Sozialdemo-
!! traten für das Theater durch ein ihren politischen Neigungen
entsprechendes Repertoire wachzurufen und rege zu erhalten. Diese Versuche
find gescheitert, weil die Sozialdemokratie grundsätzlich alles ablehnt, was ihr
von der „Bourgeoisie" entgegengebracht wird. Inzwischen hat sie selbst in der
Theaterfrage die Initiative ergriffen und nach einer am 29. Juli abgehaltenen
Vorbesprechung am 8. August in einer zweiten von mehr als zweitausend
Personen besuchten Versammlung die Gründung einer „Freie» Volksbühne"
beschlossen, in der n. a. der sozialdemokratische Grundsatz der Gleichberechtigung
dadurch zum Ausdruck gebracht werden soll, daß die Plätze eine Stunde vor
Beginn der Vorstellung verlost werden, d. h. daß jeder Besucher sich seine
Eintrittskarte aus einer Urne herauszieht. Mnu darf diese Gründung als deu
ersten Vorstoß in dem Kampfe betrachte«, den die Svzialdemokrntie nach dem
1. Oktober auf ihrer ganzen Linie eröffnen wird, und sie hat mit uicht ge¬
ringem taktischen Geschick für diese erste Kraftprobe ein Gebiet gewählt, auf
dem mau deu sozialdemokratischen Bestrebungen noch ein ästhetisches oder
moralisches Mäntelchen umhängen kann. Wenn man in den Zeitungsberichten
über die Versammlung vom 8. August liest, mit welchem Eifer, mit welchem
Aufwand von sittlicher Entrüstung gegen den Unfug gedonnert wurde, der
auf der Mehrzahl der Berliner Bühnen mit zuchtlosen Operetten, Possen und
Schwänken getrieben wird, konnte ein Leser, der mit den in Frage kommenden
Personen und Verhältnisse« nicht vertraut ist, leicht zu dem Glauben verführt
werden, daß hier wirklich ideale, uneigennützige Absichten einen festen Kern zu
gewinnen anfinge«. Aber die Begründer der „Freien Volksbühne" sind noch
zu ungeübte Schauspieler, als daß sie ihre Masken lange Zeit ohne Unbe¬
hagen zu tragen vermochten, und überdies hat der ihnen Beifall klatschende
Chorus dafür gesorgt, daß der wahre Charakter der „Freien Volksbühne"
noch vor Ablauf der Versammlung rechtzeitig enthüllt wurde. Am Schluß
wurde nämlich eine Tellersammlung zu Gunsten der streikenden Sozialdemo-
kraten in Hamburg angeregt, deren Ausführung nur an dem Widerspruch der
die Versammlung überwachende« Polizeibeamten scheiterte, und als man aus¬
einanderging, wurden Hochs ans die „Freie Volksbühne" und die internationale
Sozialdemokratie ausgebracht und mit Jubel aufgenommen.
Die „Freie Volksbühne" ist damit als ein unter dem Schutze der inter¬
nationalen Sozialdemokratie stehende und von ihr beeinflußte oder doch von
ihr unterstützte Gründung gekennzeichnet, auf deren Früchte man gespannt sein
konnte, wenn nicht das in der Versammlung bekannt gemachte Programm jede
Überraschung ausschlösse. Man hat bisher zur Aufführung folgende Stücke
in Aussicht genommen: „Gespenster" und „Der Volksfeind" von Ibsen, die
„Macht der Finsternis" von Tolstoi, „Vor Sonnenaufgang" von Gerhart
Hauptmann, „Familie Selicke" von Holz und Schlaf, „Dantons Tod" von
Büchner und „Therese Raquin" von Zola, also zum größten Teile dieselben
Schauspiele, die in dem unter der Leitung des Herrn Dr. Otto Brahm stehenden
Verein „Freie Bühne" im Laufe der verflossenen Spielzeit aufgeführt worden
sind und dort teils zu den widerlichsten Skandalszenen Veranlassung gegeben,
teils die Bereiusmitglieder, was ihnen noch schmerzlicher war, in unerträglicher
Weise gelangweilt haben. Wir glauben, daß selbst die vielgerühmte Disziplin
der Sozialdemokratin, die sich übrigens gerade jetzt, kurz vor Ablauf des
Svzinlistengesetzes, in bedenkenerregendem Maße zu lockern scheint, nicht im¬
stande sein wird, zwei Mächte niederzuhalten, die jeder Theatervorstellung deu
Tod bringen: die im Berliner Blut tief eingewurzelte Lust ant Skandal und
die Langeweile, und deshalb werden die Vorstellungen der „Freien Volksbühne,"
falls ihre zu Reibereien und Streitigkeiten geradezu herausfordernden, mit
völliger Unkenntnis der einfachsten Geschäftspraxis abgefaßten Statuten die
polizeiliche Genehmigung finden sollten, voraussichtlich dasselbe Schauspiel wie
die Aufführungen der „Freien Bühne" bieten, nur in größerm Maßstab und
mit verstärkten Lnngenkräften, die immer die Hauptrolle spielen werden, mag
die Langeweile oder die begeisterte Zustimmung der „Genossen" der augen¬
blickliche Stiutmnngsmacher sein.
Daß die „Freie Volksbühue" nur eine unter svzialdeinokratischer Flagge
segelnde Spielart der „Freien Bühne" werden wird, lehrt nicht nur die Gleich¬
artigkeit des Repertoires, worin das Dreiblatt: Franzosen, Russen und Nor¬
weger, das sich immer zusammenfindet, wo es gilt, deutsche Kultur und
deutschen Idealismus zu vernichten, die Oberhand hat, sondern auch die Wahl
des Herrn Dr. Otto Brahm in deu Ausschuß, der über die litterarische Rich¬
tung des Unternehmens zu entscheiden hat. Diesem Ausschüsse und dein Vor¬
stände gehören außerdem an: der Schriftsteller Dr. Bruno Wille, der Tape¬
zierer Wildberger, der Kaufmann Türk, die Redakteure Baake und Dr. Kommt
Schmidt, die Schriftsteller Wilhelm Bölsche und Julius Hart und der Buch¬
händler Baginsky. Es muß auffallen, daß sich unter den Taufpaten dieser
offenkundig sozialdemokratischen Gründung fünf oder sechs Personen befinden,
die akademische Bildung genossen oder doch einen akademischen Grad erlangt
haben. Wir glauben, daß einige von ihnen, insbesondre Herr Julius
Hart, mit Entrüstung ihre Zugehörigkeit zur sozialdemokratischen Partei ab¬
weisen und sich auf ihren Idealismus berufen werden, der sie treibe, ihre
Kraft in den Dienst des Volkes an sich zu stellen. Das politische Glaubens¬
bekenntnis des Herrn Dr. Brahm, der früher Mitarbeiter der „Vossischen
Zeitung" war und auch durch die Schule der demokratischen „Frankfurter
Zeitung" gegangen ist, ist schon etwas zweifelhafter und hat vielleicht wirklich
unter den Verdrießlichkeiten seiner nicht immer rühmlich geführten litterarischen
Feldzüge eine etwas rötere Färbung angenommen. Aber von den Herren Dr.
Wille, Baake und Dr. Konrad Schmidt ist es gewiß, daß sie sich zur sozial¬
demokratischen Partei bekennen. Der letztgenannte hat erst in diesen Tagen
die Redaktion der sozialdemokratischen „Vvlkstribüue" übernommen. Auch in
dieser Erscheinung haben wir ein Vorspiel dessen zu erblicken, was uns nach
dem 1. Oktober erwartet.
Es ist schon seit geraumer Zeit in verschiednen Zeitungen darauf auf¬
merksam gemacht worden, daß die sozialdemokratische Bewegung und was damit
zusammenhängt, in die Kreise der akademischen Jugend eingedrungen ist und dort
immer mehr um sich greift. Man konnte diese Behauptung nicht mit statistischen
Angaben unterstützen, und deshalb wurden die, die uns das Schreckgespenst des
Nihilismus an die Wände der akademischen Hörsäle malten, als absichtliche
Schwarzfürber mißachtet. Jetzt fangen jene Behauptungen an, sich in Zahlen
umzusetzen, und andre Erscheinungen kommen hinzu, nur die Thatsache weiter
zu erhärten, daß ein Teil der akademischen Jugend — wir wollen hoffen, nur
ein sehr kleiner — wirklich Bestrebungen huldigt, die mit denen der Sozial¬
demokratie eins sind. So hat kürzlich, um nur ein Beispiel anzuführen, ein
Student bei einer Preisbewerbung an der Berliner Universität, für die die
Untersuchung des Begriffs der Heiligkeit im Neuen Testament gefordert war,
eine Arbeit eingeliefert, in der das Thema nach dem Ausspruche der
Preisrichter „lediglich zur Verhöhnung der christlichen Religion" benutzt
worden war.
Es liegt uns fern, hier die Frage zu erörtern, inwieweit die zwölfjährige
Herrschaft des Sozialistengesetzes, indem sie die große Mehrheit der geistigen
Kräfte der Sozialdemokratie niederhielt, dazu beigetragen hat, diese Kräfte zu
stählen und zu stärken. Aber es sind, wie schon ans dem oben gesagten
hervorgeht, Anzeichen genug vorhanden, die uns darauf vorbereiten, daß die
sozinldemokratische Beredsamkeit, wenn sie nach dem 1. Oktober wieder ihre
Stimme in den Volksversammlungen in voller, nur durch das gemeine Gesetz
beschränkter Freiheit erheben darf, Leute ins Feld schicken wird, die mit ganz
andern Waffen kämpfen werden, als sie den Volksrednern aus der Zeit von
1875 bis 1878 zu Gebote standen. An die Stelle der Handwerker, die eine
Planlos zusammengeraffte, halbverdaute Bücherweisheit des Abends den „Ge¬
nossen" zum Besten gaben, werden Männer von mehr oder minder gründlicher
akademischer Bildung treten, die mit allen Künsten der Dialektik, mit allen
Schlichen der Sophistik vertraut sind, und wenn es auch nicht an litterarischen
Stegreifrittern von der traurigsten Gestalt fehlen wird, so wird in Zukunft
doch auch schwerlich eine so groteske Figur wie Johann Most möglich sein,
der im Jahre 1876 die konfusesten Reden gegen Mommsens römische Geschichte
hielt. Auf dem Gebiete der Litteratur und Kunst, das die Sozialdemokratie
jetzt auch in den Vereich ihrer Eroberungspolitik zu ziehen strebt — die Sozial¬
demokraten alten Schlages, die aus der Zeit vor 1878, wollten von solchen
Sentimentalitäten nichts wissen —, hat ihnen die sogenannte naturalistische oder
realistische Bewegung vorgearbeitet, und es ist durchaus natürlich und folge¬
richtig, daß sich die naturalistischen Schriftsteller mit Wonne in die weit ge¬
öffneten Arme der Sozialdemokraten stürzen, da sie sich bis jetzt vergeblich nach
einem andern Obdach umgesehen haben. Dabei hat diese Verbrüderung jetzt
das gefährliche oder auch nur politisch bedenkliche Ansehen verloren, das sie
noch vor Jahresfrist gehabt hätte. Die Berufung auf die kaiserliche Sozial-
reform ist das Schild, wohinter sich neben den reinsten und uneigennützigsten
Bestrebungen auch die unlauterste» verkriechen, und schon jetzt wird der Hinweis
auf das arbeiterfreundliche Programm des Kaisers zu Reklamezwecken niedrigster
Art von gewissen Vertretern der sogenannten realistischen Bewegung in der
Litteratur gemißbraucht. Wir dürfen uns, wenn die jugendlichen Schwarm¬
geister, die heute noch auf ihre wenigen und nur von einem kleinen Publikum
gelesene« Zeitungen angewiesen sind, nach dem 1. Oktober in den öffentlichen
Versammlungen zu Worte kommen werden, auf einen Hexensabbath gefaßt
machen, vou dem uus die beiden zur Gründung der „Freien Volksbühne" ab¬
gehaltenen Versammlungen vom 29. Juli und 8. August einen kleinen Vor¬
geschmack gegeben haben. Es wird in diesem Schauspiele voraussichtlich uicht
an ernsten Szenen fehlen; im Anfange, in der Zeit des ersten Freudenlärmes,
werden aber vermutlich die burlesken überwiegen. Und es würde nus nicht
Wunder nehmen, wenn gelegentlich Herr I)r. Otto Brahm von seinen
sozialdemokratischen Freunden gezwungen werden sollte, in Sack und Asche
Buße zu thun, weil er eine Biographie Schillers geschrieben hat, dessen
begeisterte Verherrlichung der Vaterlandsliebe mit dem politischen Pro¬
gramm der internationalen Sozialdemokratie ebenso wenig in Einklang zu
bringen ist, wie sein leidenschaftlicher Schönhcitskultus mit dem litterarischen
Ideal der Naturalisten.
mes Tages im Juni ging ich zu Blau hinauf. Er empfing
mich mit den Worten: Es ist gut, daß du kommst, denn ich
habe gerade mit dir zu sprechen. Siehst du, in nächster Woche
ist mein Geburtstag, da werde ich mündig, wie du weißt. Morgen
reise ich inzwischen nach Fünen. Drüben in der Umgebung
von Asiens lebt nämlich ein Halbvnkel von mir, ein Vetter meiner Mutter,
wohl der nächste Verwandte, den ich habe. Es war meines Vaters Wunsch,
daß ich mich mit dieses Halbonkels einziger Tochter verheiraten möchte, nud
nun reise ich hinüber und periode mich.
Kennst dn sie denn? unterbrach ich ihn erstaunt.
Nein, ich habe sie nur gesehen, als sie noch ganz klein war; jetzt ist sie
achtzehn Jahre alt, sie wird sich wohl ziemlich verändert haben. Aber ich
weiß, daß sie ein frisches und liebenswürdiges Mädchen ist und jedenfalls
mehr als schön genug für mich — überzeuge dich selbst! Damit zeigte er
mir eine Photographie von einem nicht gerade schönen, aber doch recht hübschen
Mädchen.
Aber trotz alledem, wandte ich ein, wie kannst du dich in eine reine
Kvnvenienzehe finden! das Heiraten so als Geschäft nehmen!
Ja, das will ich dir sagen. Ich glaube ganz gewiß, daß es Menschen
geben kann, die für einander geschaffen sind, oder die, wie ich es nennen möchte,
auf dem Gebiete der Liebe Genialität besitzen; es kaun gewiß auf der Welt
so zugehen, wie es in den Büchern geschrieben wird: die Wirklichkeit kann uns
in ein Märchen hineindichten, das das Leben hindurch andauert. Aber das
ist jedenfalls selten, sehr selten! Und sollte die Liebe wirklich jemals Macht
über mich gewinnen, so müßte es so zugehen, daß ich deutlich fühlte, das
Leben dichtete für mich. Aber diese Mühe, glaube ich, giebt sich das Leben
meinetwegen nicht. Und mir selbst und andern etwas einbilden, das kann ich
nicht. Deshalb will ich mich lieber ohne Illusionen mit einem Mädchen ver¬
heiraten, von dem ich weiß, daß sie „guter Leute Kind" ist, das ist schon
eine große Empfehlung; ich werde ihr gewiß ein guter Mann sein, und sie
wird einem Häuschen kleiner Blaus eine gute Mutter werden — unser Geschlecht
darf nämlich nicht aussterben, dazu ist es viel zu alt!
Das letzte sagte er sicherlich im Scherz, aber ich kannte ihn zu gut, um
uicht zu merken, daß das meiste in seinem Vortrage wirklich sein Ernst war.
Ich machte deshalb mich keine weitern Einwendungen, sondern fragte nur,
wann er reisen wolle.
Morgen Abend, lautete die Antwort. Aber es fällt mir ein, daß ich noch
einige Kleinigkeiten brauche. Gehst du mit?
Unterwegs blieb er plötzlich vor dem Schaufenster eines Bnchlndens stehen
und sah hinein.
Wonach siehst du? fragte ich.
O, eigentlich nach nichts, aber ich habe den Mann gebeten, mir gelegentlich
Simon Paulis Nora parles. zu besorgen; ich will doch einmal hören, ob er
das Buch bekommen hat.
Wir gingen zu dem Antiquar hinein, der damals zu den Originalen der
Hauptstadt gehörte, aber leider nur einem kleinen Kreise bekannt war. Es
ist schwer, zu sagen, was merkwürdiger war: die Höhle oder ihr Bewohner.
Ein Raum, nicht viel größer als eine gewöhnliche Speisekammer, war vom
Fußboden bis zur Decke mit alten, verstaubten, fettigen und zerleseneu Büchern
angefüllt; nicht bloß auf den Borten an den Wänden standen sie, sie lagen
auch aufgeschichtet in Haufen, die umstürzten, sobald man daran rührte; dazu
kam einem eine Atmosphäre entgegen, in der es unmöglich schien länger als
einige Minuten zu atmen, und das spärliche Licht eines einzigen Fensters,
das von Folianten halb verdeckt war und fingerdick voll Staub lag, erlaubte
einem erst nach und nach, die Höhle und ihren Troglodyten zu unterscheiden.
Er saß gewöhnlich auf einem dreibeinigen Stuhl hinter einem kleinen Tisch;
sein langer grauer Bart reichte ihm bis auf die Brust herab, ein Paar tiefliegende
Augen stierten lichtscheu aus einem unbeweglichen pergamentner Gesicht, und wenn
sich seine lange gekrümmte Gestalt vom Stuhl erhob, bekam man unwillkürlich
den Eindruck, daß der krumme Rücken einfach von der Unmöglichkeit herrühre,
hier aufrecht zu steheu. Es ging die Sage vou ihm, daß er sich seit seiner
Konfirmation nicht wieder gewaschen habe, und wenn diese Sage auch auf
etwas Übertreibung beruhte, so genügte doch ein flüchtiger Blick auf die Hände
des Mannes, um zu zeigen, daß die Kruste, womit seine Greifwerkzeuge bedeckt
waren, von einer fortgesetzten, dnrch keine neptunische Periode unterbrochenen
Ablagerung herrührte.
Blau fragte nach seiner ?tora., erhielt die Antwort, daß sie noch nicht
zu haben gewesen sei, und war schon im Begriff, wieder fortzugehen, als der
Antiquar auf seiue gewöhnliche eintönige Art fragte, ob die Herren nicht Ver¬
wendung für ein altes Herbarium hätten, das er soeben bekommen habe. Er
handelte nämlich auch mit Naturalien. Vlnu antwortete erst mit nein, als
aber der Alte trotzdem einen Haufen verstaubter Papiere vom Alkoven her¬
holte und hinzufügte, die Herren könnten das Ganze für einen Reichsthaler
haben, schlug Blau zu und bekam das Packet in eine alte Zeitung eingeschlagen.
Ich begleitete ihn bis an seine Thür, und ehe wir uns trennten, versprach ich
ihm, am Nachmittag wieder zu kommen, um ihm nochmals Lebewohl zu sagen,
ehe er reiste.
Am Nachmittag wurde ich auf dem Wege zu ihm etwas aufgehalten und
fürchtete fast, daß er schon nach der Station gefahren sei. Aber zu meiner
größten Verwunderung saß er in guter Ruhe an seinem Schreibtisch und unter¬
suchte etwas mit der Lupe.
Du wolltest doch verreisen? sagte ich.
Ja gewiß will ich das, antwortete er, ohne aufzusehen.
Aber dann ist keine Zeit zu verlieren, der Zug geht in zwanzig Minuten!
Jawohl, uach Korsör, sagte er mit einem stillen Lächeln; aber ich gehe
nach Falster, da habe ich noch gute Zeit.
Was?
Ich werde dir alles erzählen. Sage mir nur erst, ob du lesen kannst,
was hier steht.
Mit diesen Worten reichte er mir ein vergilbtes, stockfleckiges Papier,
worauf eine ziemlich unansehnliche, beinahe vollständig braun gewordene Pflanze
geklebt war, mit oben gewürfelten, unten lanzettförmigen Blättern. Am Rande
des Papieres waren mit verblaßter Tinte von undeutlicher Hand einige Zeilen
geschrieben, deren erste Worte ich sofort als Iröpo und-of deutete.
Il-Axg.! verbesserte Blau ungeduldig, das kann jeder sehen. Aber was
steht hier noch? Nimm die Lupe!
Schwärze — begann ich, Schwärzemoor?
Unsinn! sagte Blau. Glaubst du, Schwärzemoor könne ein dänischer
Ortsname sein? Es steht ja auch ein z gegen den Schluß hin!
Nun, macht das die Sache deutlicher? wagte ich zu fragen.
Er lachte und sagte: Na, das bleibt sich gleich. Was du Schwärzemvor
nennst, ist natürlich der Name eines Sees, eines Sumpfes oder eines Baches,
was es auch sei. Darüber werde ich ja Bescheid erhalten, wenn ich erst in
Östbäk bin.
In Östbäk? fragte ich.
Ja, es steht doch deutlich genug „bei Östbäk" hinter dem unleserlicher
Worte!
Aber was willst du in Östbäk?
1rs,xg, imtM8 finden natürlich! Du weißt vielleicht gar nicht, was
1i--z.x.a ist?
Nein, ich muß gestehen —
So sollst du es erfahren. Aber laß mich mit dem Anfang beginnen! Als
ich gestern Abend heim kam, sah ich mir gleich das Packet mit den getrock¬
neten Pflanzen an. Ich hatte schon die Hülste durchgeblättert, ohne etwas
besonders merkwürdiges gesehen zu haben, und wollte schon den Rest beiseite
legen, als ich plötzlich das Blatt hier in die Hand bekam. Iraxg. und>M8 las
ich; den Namen kannte ich, aber nichts weiter. Ich schlug in Langes Dänischer
Flora nach, die ja nur einige Jahre alt ist; dort fand ich aber nichts. Aber
in Hornemanns Pflanzenlehre stand die Bemerkung, daß sie sich in Lauenburg
finde. Nun mußt du wissen, 1rg,pÄ imtsus ist eine Wasserpflanze! — vierte
Klasse bei Linn6. Ihren Namen „Hornnuß" hat sie infolge ihrer eigentüm¬
lichen Frucht bekommen, denn diese zeichnet sich durch vier Hörner oder Dornen
aus. Sie ist sporadisch, aber nur sporadisch, über Südeuropa verbreitet, wohin
sie in grauer Vorzeit als Nahrungspslanze von Asien her eingeführt worden
sein soll. Aber man weiß nichts davon, daß sie jemals in Dänemark gefunden
worden sei. Nun will es der Zufall, oder mein guter Genius, wie du es
nennen willst, daß mir hier ein Exemplar der Pflanze in die Hände gespielt
wird, das ganz deutlich als in Östbäk gefunden bezeichnet wird — du weißt,
es liegt auf Falster, südlich von Stubbekjöbing, dort, wo Hans Larsens Vater
Prediger ist.
Aber bist du auch ganz sicher, daß es kein Irrtum ist? fragte ich, Ist
es überhaupt Iraxg, links,us? i
Blau sah mich mit überlegener Miene an und antwortete: Du kannst dir
wohl denken, daß ich sie einer Autorität — Professor Hjvth — gezeigt habe,
natürlich ohne Angabe des Fundortes, denn dann hätte er sicherlich Flngsohlen
an die Schuhe bekommen und wäre mir wahrscheinlich zuvorgekommen; aber
er nannte ohne Zögern den Namen, und uun will ich fort, sobald als
möglich.
Nach Östbük?
Natürlich, wohin denn sonst!
Und deine Kousine in der Umgegend von Asiens?
Er lachte. Die muß warten. Die wichtigern Geschäfte gehen vor
Die Romantiker hatten etwas, was sie die „blaue Blume" nannten und
worüber sie fabelten wie die Alchimisten über den Stein der Weisen. IrgM
imtmrs ist meine „blaue Blume" geworden, obwohl sie in Wirklichkeit weiß
ist, aber ich begnüge mich nicht damit, über sie zu schwatzen, ich muß fort,
um sie zu finden. Denke dir, so einer Spur zu folgen, ans die man durch
Zufall stößt, ihr folgen, bis man das Gesuchte findet — liegt darin nicht
etwas Verlockendes? Und denke dir, wenn ich in einer wissenschaftlichen Zeit¬
schrift genannt werde, wirst du uicht stolz auf mich sein?
Am nächsten Morgen reiste Blau nach Falster. Er hatte hinterlassen,
daß er erst in einigen Wochen zurückkehren würde, denn die Forschung sollte
natürlich gründlich vorgenommen werden. Groß war daher mein Erstannen,
als er einige Tage nach seiner Abreise wieder bei mir eintrat.
So, hier hast du mich wieder, sagte er ganz vergnügt, ich habe mich in
der Stadt geirrt und bin mit falschem Wind gesegelt, denn als ich nach Östbäk
kam, gab es meilenweit im Umkreise weder einen See, noch einen Sumpf, noch
einen Bach, der der Stadt den Namen geben könnte! Ich Hütte verninftig
sein und mich erst orientiren sollen, dann Hütte ich mir diese Falstertvur er¬
sparen können! Es giebt nämlich noch ein zweites Östbük drüben in Jütland,
westlich von Silkebvrg; das ist natürlich das richtige, denn dort giebt es kleine
Seen in Masse — ich habe auf der Karte nachgesehen.
Und nun willst du dorthin gehen?
Ja, morgen Abend. Ich gehe mit dem Dampfschiff nach Aarhns, da
kann ich am nächsten Vormittag an Ort und Stelle sein.
Und wie lange gedenkst du in diesem neuen Östbük zu bleiben?
Bis ich gefunden habe, was ich suche.
Nimm dir nur nicht zu viel vor! sagte ich. Du könntest es noch
bereuen!
Ach was, ich bin ja mein eigner Herr. Nächsten Dienstag bin ich mündig,
das ist ein stolzer Gedanke!
Obwohl Briefeschreiben sonst nicht Blaus Sache war, bekam ich doch
nach einer Woche einen Brief von ihm, worin er mit Begeisterung die
Schönheit der Gegend schilderte und sich sehr hoffnungsvoll darüber aussprach,
rmtMs zu finden, „tot oder lebend," wie er sich ausdrückte. Du
kannst übrigens glauben, es ist beschwerlich, auf Entdeckung nach unterirdischen
Pflanzen zu gehen, schrieb er, denn es giebt keinen andern Ausweg als ringsum
in den Seeufern zu waten, zwischen Schilf und Rohr, manchmal mit dem
halben Leib im Wasser; dazu ein ziemlich paradiesisches Kostüm: Strohhut,
Halstuch, Leinwandweste, dito Rock und Holzschuhe, vonn tont! Einzelne
Seltenheiten habe ich gefunden, und es geht mir im ganzen genommen vor¬
trefflich. Ich wohne bei dem wohlgeborner Kristen Thomsen, Aalfänger im
Sommer und Holzschuhschnitzer im Winter, und bin sehr intim mit der ganzen
Familie. Im übrigen liegt ein großes Gut Kragebjerg in der Nähe, aber
dort gewesen bin ich noch nicht, werde auch schwerlich hinkommen.
Blau sollte jedoch mehr mit Kragebjerg zu thun bekommen, als er
ahnte, und sollte sich der Familie auf eine mehr als originelle Weife vor¬
stellen.
Wie er später selbst mit großer Zufriedenheit erzählte, war er eines Tages
bei der Untersuchung eines neuen Sees selbstverständlich im Wasserkostüm. Er
war gerade dabei, sich durch ein Röhricht zu winden, als er sich plötzlich vor
einer großen fliegenden Brücke befand, auf der die ganze Familie des dahinter
liegenden Kragebjerg ihren Nachmittagskaffee trank. Jeder andre würde gewiß
möglichst schnell den Rückzug angetreten haben, aber in dem Bewußtsein, daß
von seiner Person das, was über dein Wasser war, ziemlich untadelhaft sei,
nahm er den Strohhut ab, stellte sich vor und bat um Entschuldigung wegen
seines Eindringens auf fremdem Boden. Kragebjergs Besitzer, Herr Johcmsen,
der ein gastfreier Mann war, wollte durchaus Blau auf die Brücke haben, um
mit der Familie Kaffee zu trinken, aber dieser erklärte aufs bestimmteste, daß
er nie Kaffee trinke, und nachdem er das feste Versprechen abgelegt hatte,
eitlen Besuch ans dein Gute zu machen, gab man ihn schließlich frei. Der
Besuch wurde gemacht, es folgten andre, und eines schönen Tages überraschte
Otus Blau, dessen Leben ja im ganzen genommen aus einer Reihe von
Improvisationen bestand, Freunde und Bekannte mit dem Kauf von Kragebjerg,
das sein Besitzer gern hatte los sein wollen, da es eines jener Besitztümer
war, die vortrefflich für einen Mann mit Vermögen passen, die sich aber nicht
bezahlen.
?rg.pg. nÄtans fand Man in diesem Sommer nicht, aber ich habe ihn
immer im Stillen in dem Verdachte gehabt, daß die Hoffnung, die Unter-
sttchungen an den vielen kleinen Seen fortsetzen zu können, bei dem Kaufe
von Kragebjerg fiir ihn mitbestimmend war. Nun war er also Grundbesitzer,
nahm sich einen tüchtigen Verwalter, war vernünftig genug, diesen in allein
Wesentlichen schalten und walten zu lassen, aber früh und spät war er auf
den Beinen, bald auf der Jagd, bald beim Fischfang, bald beschäftigt, ein
Hünengrab bloßzulegen, bald in botanische Studien oder Beobachtungen über
die Ankunftszeit der Zugvögel vertieft.
Blau lebte schon zwei Jahre auf Kragebjcrg, ohne daß es mir möglich
gewesen wäre, seinen inständiger und wiederholten Aufforderungen zu folgen
und ihm einen Besuch zu machen. Als ich aber eines Tages einen Brief von
ihm erhielt, mit einer sehr lebendigen Schilderung der Entenjagd, die auf
seinem Gebiete vorhanden sei, wo es außerdem Gelegenheit gebe, Reiher und
Rohrdommeln zu schießen, und da die Einladung mit einem kategorischen Impe¬
rativ schloß, so machte ich mich frei und fuhr zu ihm.
Ich hatte das mich nicht zu bereuen, denn er wußte gar nicht, was er
alles für mich anstellen sollte; er war unermüdlich mit mir in der Umgegend
herumzureiten, führte mich bei den Nachbarfamilien ein und war wirklich, wie
er versprochen hatte, imstande, täglich ein neues Volk herumschwimmender
flügger Entlein zu leisten. Kamen wir dann nach einer Jagd von sechs bis sieben
Stunden, ermüdet und in Schweiß gebadet, heim und hatten wir zu Mittag
gegessen, wozu Blau immer, selbst wenn er ganz allein war, sorgsame Toilette
gemacht hatte, so waren wir beide gleich froh, bei einer guten Zigarre alte
Erinnerungen aufzufrischen.
Er war im wesentlichen unverändert, auch im Äußern; nur war er in
den paar Jahren, wo ich ihn nicht gesehen hatte, ernsthafter geworden, aber
anch zugleich männlich schöner, und seine Haltung und seine Bewegungen,
namentlich wenn er zu Pferde saß, waren von einer Eleganz, die in Verbin¬
dung mit seinem chevaleresken Wesen mich eines Tages zu der Äußerung ver¬
anlaßte, daß ich jetzt alles Ernstes an seine Abstammung von der alten dünischen
Familie der Blaus glaubte.
Ich danke dir für das Kompliment, antwortete er, halb spöttisch, halb
geschmeichelt, aber ich habe wirklich weder deinen noch den Glauben andrer
nötig, um meinen eignen in diesem Punkte zu bekräftigen. Ganz gewiß fehlen
mir verschiedne Mittelglieder, damit ich mein Recht beweisen kann, das Marsche
Wappen zu führen, aber darauf lege ich weiter keinen Wert; ich begnüge mich
mit der Überzeugung, daß sich nicht durch eine Reihe von Familienmitgliedern
eine bestimmte Tradition erhalten kann, ohne daß diese begründet ist. Übrigens
bin ich nach dem, was ich kürzlich erfahren habe, sehr geneigt zu glauben, daß
das Geschlecht wirklich hier zu Lande ausgestorben sei, daß sich aber Glieder
davon in Schonen erhalten haben, von denen vermutlich der Zweig abstammt,
dem ich angehöre.
Aber welche Freude könntest du eigentlich daran haben, deine Abstammung
bewiesen zu habe»? fragte ich. Du bist doch uicht so eitel, daß du —
Nein, es ist reine Gefühlssache, unterbrach er mich, und über so etwas
kann man keine Rechenschaft ablegen. Ich würde aber dieselbe Zufriedenheit
über einen solchen Beweis empfinden, wie wenn ich Iraxg, imtM8 fände.
Es scheint, daß dieses Geschlecht hier zu Lande auch ausgestorben ist,
sagte ich.
Ich fange selbst an, es zu glauben, antwortete er, wenigstens habe ich
es trotz alles Fleißes nicht auffinden können; ich habe es aber nicht auf¬
gegeben—man giebt es doch nicht auf, seine „blaue Blume" zu finden! fügte
er lächelnd hinzu.
Aber deine Kousine in der Gegend von Asiens, die hast du wohl auf¬
gegeben ?
Nein, aber sie vermutlich mich, denn sie hat sich kürzlich verheiratet.
Was wird denn aber dann mit dem Häuflein kleiner Blaus? das Geschlecht
darf doch nicht aussterben!
Ach das eilt nicht! Aber es kann ja sein, daß die Zeit der Blaus ebenso
vorüber ist, wie die der Trapas, fuhr er ernsthaft fort, mit einem jener plötz¬
lichen Übergänge, die ihm nach und nach eigentümlich geworden waren; jedes
Geschlecht stirbt aus, wenn es keine Aufgaben mehr zu erfüllen hat. Na, ich
bin ja im übrigen ein glücklicher Mann, glücklicher als die allermeisten —
aber weshalb bin ichs! Welchen Nutzen schaffe ich im Leben? Keinen! Ja,
ich schütze meine Entenmoore in der Brütezeit und schieße die räuberischen
Habichte nieder, aber das ist auch alles, und das ist doch nicht Grund genug,
daß ich auf der Lichtseite des Daseins lebe!
Dann thue etwas Nützliches! erwiderte ich.
Aber was? Es giebt nichts, was ein andrer nicht ebenso gut oder noch
besser thun könnte als ich! Soll ich Reichstagsmann werden? Ich bin schon
auf dem besten. Wege dazu, denn sie haben mich bei der letzten Sitzung zum
Gemeinderat gewählt, nur weil ich das bischen Krankenkasse eingerichtet und eine
Privatschule errichtet habe, die für das kleine Präliminarexamen reif macht.
Davon weiß ich ja nicht das geringste.
O, es ist ja nicht der Rede wert. Ja, Hütte ich einen Sohn, den ich
nach dem alten Grundsatz erziehen könnte: „Fürchte Gott und ehre den König,"
und der einmal meinen Platz ausfüllen könnte, wenn ich weg bin — und dann
hoffentlich besser als ich! — ja, dann wollte ich, so lächerlich es vielleicht dir
und andern vorkommen mag, doch annehmen, daß ich eine gewisse alio vivvncii
hätte. Aber so —
So heirate! sagte ich, das ist doch immer eine Art Anfang!
Dn kennst meine Ansicht, antwortete er. Wenn ich das, was man Liebe
nennt, sühlen soll, so muß irgend etwas geschehen, etwas Wunderbares, etwas,
das mir sagte, daß sie und ich ursprünglich zusammengehörten oder gemeinsam
aneinandergekettet seien durch einen der vielen unsichtbaren Fäden des Daseins,
den, mit dem es einem geht, wie mit dem „Mariengarn" im Spätherbst: man
fühlt fortwährend, daß man von einem Netz umsponnen ist, aber man sieht es
nie, oder wenigstens sehr selten!
In diesem Punkte bist du freilich vollständig Mystiker, wandte ich ein.
Aber früher warst du doch der Meinung, daß du dich in einer Vernunftheirnt
zufrieden fühlen könntest: ein Mädchen — „guter Leute Kind," sagtest dn.
Eine Dame, wenn ich bitten darf! unterbrach er mich mit leichtem Lächeln.
Ja, so dachte ich, aber ich habe meine Ansichten gewechselt. Nein, ich tauge
nicht zum Ehemann! Wollen wir jetzt hinunter zum See gehen?
(Schluß folgt)
Der Verfasser leitet die königliche Hauptwerkstatt der Eiseubahnverwaltung zu
Berlin, mit der, wie mit den übrigen Preußischen Hauptwerkstätten, eine Lehrwerk¬
statt verbunden ist, und da diese Anstalten zur Heranbildung von Lehrlingen er¬
probte Musteranstalten sind, so war wohl niemand in höheren Grade berufen, den
Gegenstand zu behandeln. Auszüge aus Fachzeitschriften, amtlichen Verordnungen
und Berichten werden in dem Buche so zusammengestellt, daß sie ein ziemlich voll¬
ständiges Bild der Lehrlingsausbildung in Deutschland und der Schweiz ergeben;
es werden behandelt: die Ausstellungen von Lehrlingsarbeiten, die Lehrlings-
Prüfnngen, die Fortbildungs-, die Fachschulen, die Lehrwerkstätten und die Werk¬
stattlehre. Darauf entwickelt der Verfasser sein eignes Reformprogramm, das dnranf
hinausläuft, daß die Neichsregiernng in geeigneter Verbindung mit den Regierungen
der Emzelstnnten dus gewerbliche Lehrlingswesen ebenso durchgreifend ordnen und
leiten soll, wie jetzt der Staat das Volksschulwesen leitet. Eine Kritik der An¬
sichten des Verfassers ist in dein Nahmen einer Besprechung nicht möglich. Den
litterarischen Maßstab darf man nicht anlegen bei einer sehr verdienstlichen Arbeit,
der sich ein vielbeschäftigter Techniker ans warmem Mitgefühl für das Schicksal des
Gcwerbestandes und namentlich der teilweise arg vernachlässigten gewerblichen Jngend
und aus Patriotischer Sorge um die Zukunft des deutschen Gewerbes unterzogen
hat; sonst würde über Anordnung des Stoffes und Stil so manches zu sagen sein.
Grimms neuestes Buch ist ein „Werk der Dankbarkeit" für den Genuß, den
ihm Homers Gedichte seit langen Jahren bereitet haben. Er verehrt in ihnen
„das in mühsamer (!) Lebensarbeit hergestellte Gesiige eines einheitlichen Kunst¬
werkes," Und seinen Dank wünscht er abzustatten, in der vorliegenden, fast auf
jeder Seite durch ästhetische Betrachtungen und Erwägungen unterbrochner Inhalts¬
angabe der ersten neun Gesänge der Ilias, bald in ungebundner Rede, bald in
einem wunderlichen Versmaß, das „frei nach dem gesprochnen Wortacceute" zu
lesen ist. Die 288 Seiten, die der Band umfaßt, reichen also nur eben hin, die
ersten nenn Gesänge der Ilias zu besprechen. Und Grimm wird es dabei wohl
nicht bewenden lassen. Der Leser ahnt, welche Folge von Bänden ihm bevorsteht,
wenn alle achtundvierzig Gesänge der Ilias und der Odyssee in dieser Weise
behandelt werden sollen. Und Leser wird das Buch wohl finden. Denn schon
machen die Schriftgelehrten der großen Berliner Tagesblätter dem Verfasser ihre
Verbeugung. Aber für welche Leser ist das Buch eigentlich geschrieben? Für wen
bestimmt? Grimm betont in einem kurzen Vorwort, seine Aufzeichnungen stünden
außer Zusammenhang mit der Homerforschuug; die Gesinnung, „aus der heraus
er schreibe," soll auf gleiche Stufe etwa gestellt werden, wie die Aufzeichnungen
des armen Mannes im Tockenburg. Aber der Vergleich zwischen Herman Grimm
und dem armen Mann im Tockenburg will nicht recht stimmen. Dieser schrieb
seine Betrachtungen über Shakespeare lediglich zur eignen Frende nieder und legte
sie dann in ein Fach seines Schreibtisches, und seine Absicht war es gar nicht,
seine Urteile durch den Druck andern zugänglich zu machen. Hat nicht auch Herman
Grimm ein Fach in seinem Schreibtische, wo dieses „Werk der Dankbarkeit" eine
Zeit lang hätte liegen bleiben können?
Der Vorwurf, den wir hier gegen Herman Grimm erheben, wird hart er¬
scheinen. Aber es ist anch wirklich hart, sich dnrch sein Buch hindurcharbeiten zu
müssen. Gleich die erste Seite bietet in der Übertragung der ersten sieben Verse
der Ilias fast nnr schiefes und Falsches. „Göttin, singe den Zorn des Achill,
den verderblichen," beginnt Grimm. Moi,v «5^x, hö«, hebt Homer an und nimmt
im zweiten Verse das ^.?ol,v durch das c>6Xou.lo^v nachdrücklich wieder auf; selbst
Boß, der bei seiner Übersetzung doch viel mehr gebunden war als Grimm, giebt
die Schönheit des Anfanges treuer wieder- „Singe den Zorn, o Göttin, des
Peleiaden Achilleus, Ihn, der entbrannt, den Achaiern unnennbaren Jammer er¬
regte." Nicht mit der Göttin, sondern mit dem Zorn des Peliden hebt Homer
zu singen an! — „Der den Achäern unendliches Unheil brachte," fährt Grimm fort;
Homer hat «>-s--x, Voß recht gut „unnennbaren Jammer"; das Unheil war
W gar kein „unendliches," es findet «och im Gedichte selbst sei» Eude! — Homer
erwähnt die i^V-lzwue Hu/vis, Grimm spricht vou „kräftigen Seelen." Er hätte
nicht das sondern das-r^«v in so-lpxwe wiedergeben sollen, also etwa „hehr."
Was soll man sich nnter „kräftigen" Seelen denken? — Und „Also wollte es
Zeus, seitdem die beiden Feindlich einander gegenübertraten," übersetzt Grimm das
homerische 8' s^-i^o fiou^. Hier ist das „also" falsch und das „seitdem"
falsch bezogen.
Man muß nach diesen Proben zweifeln, ob Grimm den Wortlaut und die
Satzverbindung bei Homer auch immer recht verstanden hat. Die Mißverständnisse
sind zuweilen/drollig° das Weib, das den kleinen Astyanax auf dem Arme trägt,
heißt in der Ilias zunächst Amme, dann ganz allgemein Dienerin, später wiederum
Amme. Grimm macht sie zu einem Mädchen. Sind etwa in Berlin die Ammen
noch Mädchen? Und das sind nur Einzelheiten! Viel schlimmer ist die Ausdrucks¬
weise, die in allen Übertragungen Grimms herrscht. Was soll man dazu sagen,
wenn das homerische /^o^«^z mit Pech-Paris übersetzt und hierzu an den Berliner
Ausdruck „Pech-Schulze" erinnert wird? Hat Grimm da eigentlich die griechische oder
die deutsche Sprache nicht verstanden? Pech-Schulze ist doch, wer selbst Unglück hat,
Dysparis dagegen der Paris, der andern Unheil bringt. Und wie gemein ist dieses
„Pech-Paris"! Wie geschmacklos ist die Übertragung des ose^s^'sT^^« mit
„Wolkenversammler"! Wie roh sind Ausdrücke, wie „es muckste keiner umher,"
„die ganze Gesellschaft hinge baumelnd Hoch in den Lüften," „Was giebts wieder,
was du erschnappen möchtest?" „Lassen wir diesen hier Feist sich fressen an Hab
und Gut"! Spricht da noch Homer zu uns? „Hochgeborner Odhß"! Warum nicht
gleich „Euer Hochwohlgeboren" ? Die Götter trinken ja auch „Bowle"! „Sie sehen
den Menschen in seiner Qunl gefühllos an, wie der Arzt das zum Versuche dienende
Kaninchen"! „Man muß die Mischung von Zärtlichkeit und Realismus kenne», die
Soldaten eigen sein kann," um — die Worte Hektors an Andromache zu begreife«!
Und die griechischen Fürsten „brüllen sich mit natürlicher Grobheit an, als ob sie
in anderm Tone nicht zu sprechen wüßten"! Dem entsprechend läßt Grimm auch
die homerischen Götter reden. Zeus heißt den Ares einen „Allerweltskerl"; aber
wo liegt deun im griechischen «»o?r^05«»o; der „Kerl"? Und das nennt Grimm
auch noch „familiär," oder wohl gar „modern"? Denn „so modern als möglich
zu sein," ist seine ausgesprochene Bemühung. Es ist der moderne Feuilletonstil, in
dein das ganze Buch geschrieben ist, der Feuilletonstil mit seinem lächerlichen Haschen
nach dem „Geistreichen" und „Effektvollen" im Inhalt und im Ausdruck, mit seinem
häßlichen Deutsch, mit dem unausstehlichen Deuteln und Witzeln. So schlimm, wie
in diesem „Werke der Dankbarkeit," ist Homer feit langer Zeit nicht zugerichtet
worden.
Der Verfasser, ein Freund des im Duell gefallenen jungen jüdischen Arztes
Salonion, berichtet über das gerichtliche Verfahren gegen den andern Duellanten
Bering und die Kartellträger und erhebt gegen die, Richter und den Staatsanwalt
die schwere Beschuldigung, sie hätten alle Schuld aus den Verstorbenen zu häufen
und die Angeklagte« möglichst rein zu waschen gesucht; zu diesem Zwecke hätten
sie zwar eine große Anzahl Entlastungszeugen zu Worte kommen lassen (und zwar
meistens unvereidigte), die Belastungszeuge» aber gar nicht vorgeladen. Diese Be¬
schuldigungen können die angegriffene» Behörden unmöglich auf sich sitzen lassen,
und so wird denn ein zweiter Prozeß, gegen Abel, geführt werdeu müssen, dessen
Verlauf erst ein sicheres Urteil über das vorliegende Schriftchen ermöglichen wird.
Der Verfasser ist den Titeln seiner übrigen prosaischen und poetische« Erzeugnisse
uach zu urteilen ein sehr streitbarer Mann, der sich für berufen hält, überall ein-
zuhauen, wo feiner Ansicht nach Unrecht geschieht.
it dem 1. Oktober tritt das Svzicilistengesetz außer Kraft. Die
Sozialdemokratie bereitet sich schon vor, ihre frühere Stellung
,,0oll und ganz" wieder einzunehmen und ihre agitatorische
Thätigkeit mit der durch die vergrößerte Zahl ihrer Anhänger
!und durch die lauge Zurückhaltung gesteigerten Kraft neu zu
beginnen. Anderseits hat der preußische Minister des Innern die Anordnung
getroffen, daß mit allen gesetzlich zulässigen Mitteln etwaigen Ausschreitungen
der Sozialdemokratie entgegengetreten werden soll, und mau darf Wohl an¬
nehmen, daß ähnliche Anordnungen anch in andern deutschen Ländern ergehen
werden. Wir werden hiernach erfahren, was mit beiden gegen einander
wirkenden Kräften auszurichten ist; ein Schauspiel, das man interessant nennen
konnte, wenn nicht dabei so viel auf dem Spiele stünde.
Unsre zur Zeit bestehende, den Vvlksrechten ein ziemlich großes Maß
freier Bewegung gestattende Gesetzgebung beruht auf den liberalen Bestrebungen
der Jahre vor 1848. In engherzigster Weise waren damals alle Volksrechte
durch ein fast schrankenloses Prohibitivshstem unterdrückt. Dem gegenüber
hatten jene Bestrebungen volle Berechtigung. Nach dem kurzen Überwallen
des Jahres 1848 und nach der darauf folgenden, nicht sehr langen Neaktions-
perivde traten dann nach und nach die Gesetze ins Leben, die im wesentlichen
dein Liberalismus jener frühern Zeit entsprachen. Namentlich ist die Gesetz¬
gebung ans den ersten Jahren des deutschen Reiches ganz von diesem Geist
erfüllt. Niemand aber dachte bei jenen Bestrebungen an die Möglichkeit, daß
in Deutschland eine nach Millionen zählende Partei entstehen könne, die nichts
Geringeres auf ihre Fahne schriebe, als einen Umsturz der ganzen gesellschaft¬
lichen Ordnung. Alle damals in Deutschland thätigen Parteien standen auf
dem Boden des bestehenden Gesellschaftsrechts. Nur auf dieser Grundlage
wurde Über das zu gewährende Maß persönlicher Freiheit und das Maß der
Teilnahme an der Herrschaft im Staate zwischen den Parteien gestritten. Dem
entsprachen auch die Gesetze, die zum Schutze der Rechtsordnung gegeben
wurden, und die zur Handhabung dieser Gesetze angeordneten Mittel. Man
rechnete immer nur mit einer verhältnismäßig kleinen Anzahl von solchen, die
durch Ausschreitungen die Rechtsordnung stören würden. Gegen diese konnte
das repressive System der gerichtlichen Bestrafung sür vollkommen ausreichend
erachtet werden. An das große Verbrechen einer großen Verschwörung gegen
den ganzen Bestand der Gesellschaft wurde dabei nicht gedacht.
Nun ist aber die seitdem herangewachsene Sozialdemokratie nichts andres,
als eine solche Verschwörung. Wir nennen sie ein Verbrechen, weil sie ver¬
brecherisch ist in ihren Zielen und in ihren Mitteln. Ihr Ziel, der sozialistische
Staat, wie ihn sich die Phantasie ihrer Führer ausmalt, ist ein Unding, das
nur zur Auflösung jeder Rechtsordnung führen könnte. Das nächste Mittel
aber, das zur Verwirklichung dieses Zieles in Gang gesetzt werden müßte,
würde in der Beraubung aller Besitzenden bestehen.
Wenn man nun auch annehmen will, daß die sozialdemokratischen Führer
wirklich an die Möglichkeit eines sozialistischen Staates als eines Wohlthäters
für alle glauben, so glauben sie doch sicherlich nicht daran, dieses Ziel auf
dem Wege friedlicher Entwicklung erreichen zu könne». Vielmehr sind sie
sich vollkommen bewußt, daß nur die Gewalt ihnen die Mittel für ihr Ziel
gewähren kann. Die sozialdemokratische Partei ist hiernach ihrer innersten
Natur nach eine revolutionäre Partei, und es ist dabei ganz einerlei, ob die
Führer — wie dies noch jüngst von einem einzelnen geschehen ist das
offen eingestehen, oder ob sie diesen Charakter ihrer Partei mit allerhand
Phrasen zu verleugnen suchen.
Nichts ist irriger, als zu glauben, daß durch öffentliche Erörterungen die
große Masse der Sozialdemokraten über das Unsinnige der sozialistischen Lehre
aufgeklärt und von ihren Führern abgezogen werden könnte. Die Theorien von
Marx und Lassalle versteht die Masse der Arbeiter nicht. Aber sie versteht,
wenn ihre Führer ihnen sagen: „Seht, dn sitzen Menschen, die Austern essen
und Champagner trinken, die in reichen Equipagen fahren und jeder Üppigkeit
fröhnen. Ihr aber, ihr Arbeiter, müßt mit euerm snnern Schweiß dies alles
anschaffen. Sie verzehren, was ihr verdient habt." Das ist eine Logik, durch
die sich der gemeine Mann leicht fangen läßt. Und wenn dann weiter die
Führer sagen: „Wir haben ein System entdeckt, wonach alles anders sein könnte
und jeder Arbeiter vollauf zu leben hätte. Nur die bösen Bourgeois lassen
es nicht zu, daß wir dieses System ins Leben rufen. Verhelft uns zur Gewalt,
dann sollt ihr sehen, wie es euch besser geht" warum sollten da nicht Un¬
zählige sagen: „Jawohl, U'ir glauben a>l dieses System" ? Sie glauben daran,
nicht weil sie es verstehen, sondern weil es sie nach dein, was ihnen verheißen
Wird, gelüstet. Jedenfalls glauben sie, daß mau es damit versuchen könne,
zumal, wenn man damit anfinge, daß den Vermögenden ihr Kapital abgenommen
und den Arbeitern zugewendet würde. Wer die bösen Leidenschaften der Menschen
aufzuregen versteht, der braucht keine Vernunftgründe. Wo aber in dieser Weise
die Leidenschaften angeregt sind, da möchten Engel vom Himmel kommen und
versuchen, den bethörten Massen den Unsinn des sozialistischen Staates klar zu
machen, sie würden doch nichts erreichen. Um völlig gerecht zu sein, müsse»
wir freilich aber zugleich eingestehen, daß der Boden für die Aufnahme solcher
Lehren zum Teil dadurch vorbereitet ist, daß nach der ungeheuern Steigerung
der Gütererzeugung im Laufe des letzten Menschenalters die bürgerliche Ge¬
sellschaft zu lange gesäumt hat, für die Verbesserung der Lage der Arbeiter
das zu thun, waS innerhalb der bestehenden Gesellschaftsordnung hätte geschehen
können und bei dem zunehmende» Reichtum der Nation auch wohl Hütte ge¬
schehen sollen.
Fragen wir nun, was bisher die Sozialdemokratie, obgleich sie über
Hunderttausende von Männern mit kräftigen Armen verfügt, abgehalten hat,
ihre Lehren in Thaten umzusetzen, so ist es sicherlich nicht die Achtung vor
der bestehenden Rechtsordnung gewesen, sondern nur die Furcht vor der ihr
gegenüberstehenden Macht. Oder sagen wir es mit einem klaren Ausdruck:
es ist die Furcht vor der Stärke und der Zuverlässigkeit des deutschen Heeres.
In dem Augenblicke, wo dieser Gegendruck oder auch nur der Glaube daran
schwante, würden sofort die gewaltsamsten Ausbrüche erfolgen. Das ist so
klar wie der Tag.
Dieser Partei nun wird vom 1. Oktober an wieder freies Spiel gegeben,
mit allen den Mitteln, die die auf ganz andre Verhältnisse berechnete freiheitliche
Gesetzgebung den Staatsbürgern zur Bethätigung ihrer Teilnahme an öffent¬
lichen Dingen gewährt, ihre Agitation zum Umsturz der Gesellschaft fortzu¬
setzen, immer neue Kreise durch täuschende Vorspiegelungen an sich heranzu¬
ziehen, sich vollständig zu organisiren, und so alles für den Augenblick vor¬
zubereiten, der thuen zum Losbruch der sozialdemokratischen Revolution der
geeignetste erscheint. Man hält dies für ungefährlich, weil ohne Zweifel zur
Zeit der gedachte Gegendruck noch ausreicht, um jede» Losbruch zu hindern
oder, wenn er dennoch stattfände, alsbald niederzuschlagen.
Nun kann freilich niemand den Gang der Weltgeschichte voraussagen. Es
ist möglich, daß die Zustände, wie sie gegenwärtig sind, sich noch lange Jahre
halten werden, und daß dadurch ein Losbrnch der Sozialdemokratie, aller Agi¬
tation ungeachtet, vermieden wird. Daß sich aber die Gefahr eines solchen
Lvsbruchs durch Aufhebung des Svzialisteugesetzes in hohem Maße steigert,
das kann doch kein verständiger Mensch verkennen. Wenn es die Gegner des
Svzialistengesetzes als einen Vorteil preisen, daß die geheime Agitation, wie
sie unter der Herrschaft dieses Gesetzes getrieben wurde, fortan aufhören werde,
so ist doch wahrlich nicht einzusehen, worin der Vorteil liegen soll, wenn jetzt
dieselbe Agitation offen betrieben werden darf. Im Gegenteil, die Gestaltung
dieser offenen Agitation muß der großen Menge den Eindruck machen, als ob
doch die sozialistischen Lehren eine gewisse Berechtigung haben, da man sie nicht
zu unterdrücken wage. Übrigens wird neben der offenen Agitation sicherlich
auch die geheime noch fortdauern für alles das, was auch nach den nun an¬
wendbaren allgemeinen Gesetzen nicht offen betrieben werden darf. Nur wird
diese geheime Agitation fortan wesentlich leichter werden.
Bei der Frage, ob die Zustände, unter denen ein Losbruch der Sozial¬
demokratie in größerm Stile bisher unterblieben ist, sich noch längere Zeit
hindurch als haltbar erweisen werden, kommt es auch auf die für die Partei
maßgebenden Persönlichkeiten an. Es ist nicht zu leugnen, daß die bisherigen
Führer, wenn sie auch nicht minder Fanatismus in sich tragen, als die äußersten
ihrer Genossen, sich doch eine gewisse politische Schulung erworben und dem¬
gemäß die Partei vor unvorsichtigen Schritten bewahrt haben. Bekanntlich
haben aber in der Partei selbst schon vielfach Zerwürfnisse stattgefunden, und
auch in jüngster Zeit sind solche zu Tage getreten. Diese Zerwürfnisse laufen
durchweg darauf hinaus, daß es in der Partei anch vorwärts treibende
Elemente giebt, denen der bisherige Gang der Dinge nicht schnell genng gewesen
ist. Bei einer so leidenschaftlich erregten Partei, wie der Sozialdemokratin ist
aber stets die Gefahr vorhanden, daß die treibenden Elemente ein Übergewicht
erlangen, dem auf die Länge der Zeit nicht zu widerstehen ist. Durch das
Wegfallen des Svzialistcngesetzes werden diese Elemente in ihrer Wirksamkeit
noch gestärkt werden. Und wenn es auch den vorsichtigem Elementen gelingt,
die Partei von einem unzeitigen Losbruch im großen abzuhalten, so kann doch
niemand wissen, zu welchem Unthaten der gesteigerte Fanatismus einzelner
sich hinreißen lassen wird. Waren es doch solche Unthaten, die im Jahre 1878
offen zu Tage brachten, welche Verwilderung in den Massen des Volkes durch
die sozialdemokratische Wühlerei bereits eingerissen war.
Fragen wir nun, was werden würde, wenn es demnächst zu einem Los¬
bruch der Sozialdemokratie käme, so wollen wir die Möglichkeit eines
Sieges über die Ordnungspartei gar nicht ins Auge fassen. Die Folgen
davon würden zu schrecklich sein, als daß wir sie hier ausmalen möchten.
Nehmen wir vielmehr an, daß nach einem blutigen Zusammenstoße die Ord¬
nungspartei Siegerin bliebe. Was würde dann werden?
Sicherlich würde man dann zu sehr ernsten Maßregeln schreiten. Aber
schwerlich würde man ein neues ,,Sozialistengesetz," d. h. ein Gesetz erlassen,
das seine Wirksamkeit auf die Sozialdemokratie beschränkte. Vielmehr würde
man damit vorgehen, die freiheitlichen Einrichtungen, die zu solchen Aus¬
brüchen geführt haben, in weiteren Umfange zu beschränken. Daß das allge¬
meine Stimmrecht nicht in der bisherigen Weise aufrecht erhalten bliebe, würden
Wir freilich kaum beklagen, da sich dieses im Laufe der Jahre immer mehr als
eine verfehlte Einrichtung erwiesen hat. Aber mich manche andern freiheitlichen
Gesetze würden dann wahrscheinlich als Opfer fallen oder doch wesentliche
Beschränkungen erleiden, nicht allein für die Sozialdemokratie, sondern für alle
Parteien. Die aber, die hiervon in erster Linie betroffen werden würden, sind
die liberalen Parteien, Nicht allein die Freisinnigen, diese „beste Vorfrucht"
der Sozialdemokratie, sondern auch die gemäßigten Liberalen würden das
schmerzlich zu empfinden haben, und eS würde für sie nur ein geringer Trost
sein, daß nunmehr doch auf dem Wege deS „gemeinen Rechtes" gegen die Sozial¬
demokratie vorgeschritten würde. Ein kleines Vorspiel dieser Sachlage giebt
schon jetzt die Erscheinung ab, daß die freisinnige Presse gegen die Unordnung
des Ministers, die eine strenge Handhabung der gesetzlichen Maßregeln gegen
die Svzialdenwkmtie befiehlt, heftig ankämpft. Offenbar fühlen die Herren
Freisinnigen, daß sich diese Strenge folgerichtig anch gegen sie kehren muß.
Es ist daher unsers Trachtens eine große Thorheit der liberalen Parteien
gewesen, daß sie gegen das Svzialistengesetz mehr oder minder lebhaft angekämpft
und dadurch dazu beigetragen haben, es zu Falle zu bringe». Die dadurch
heraufbeschworenen Gefahren drohen vor allen ihnen selbst verderblich zu
werden. Das Sozialistengesetz war die Versicherungsprämie, die die liberalen
Parteien zu zahlen hatten, um den Fortbestand ihrer freiheitlichen Grundsätze
zu sichern. Wem aber die Versicherungsprämie für sein Haus zu hoch dünkt,
um sie ferner zu zahlen, der muß dann auch gewärtigen, daß, wenn ein Brand
ausbricht, der Schaden anf ihm haften bleibt. Wir würden es beklagen, wenn
die liberalen Parteien dieses Geschick träfe. Aber wundern würde es uns nicht.
eun der Verfasser des unten genannten Schriftchens") einen
patriotischen Berein nach dem Vorbilde des Tngendbundes ge¬
gründet hätte, dann würden wir durch öffentliche Kritik des
Unternehmens eine patriotische Pflicht zu verletzen glaube». Denn
gute Werke soll mau nicht durch kritische Nörgelei in ihrem Fvrt-
M'ge stören. Aber da es sich vorläufig mir um eine Schrift handelt, so ist
Kritik nicht allein erlaubt, sondern Pflicht, weil es die guten Absichten des
Verfasstes mir fördern kann, wenn seine etwaigen Irrtümer aufgedeckt werden.
Von den fünf Lieferungen, ans die das Ganze berechnet ist, liegt uns nur die
zweite vor. Vielleicht zeigen die spätern, daß der Verfasser die Schwierigkeiten,
die Nur hervorzuheben gedenken, selbst inne geworden ist.
Breche findet in dem geschichtlichen Überblick, der die erste Hälfte des
Heftchens füllt, daß die Idee des Patriotismus „vielfach noch weit mehr als
andre sittliche Ideen auf der Stufe des Unklaren, Vvlkssittegemäßen und Un¬
bewußten, noch nicht Erkenntnis- und Begriffsmäßigen stehen geblieben" sei.
Wir lassen ununtersucht, ob das richtig ist. Sollte es richtig sein, so wäre
es kein Unglück, denn durch die begriffsmäßige Klärung Pflegen gleich den Be¬
weggründe» auch die Ideen ihre Kraft zu verlieren. Wenn der Mann, der
sich schon anschickte, dem unmittelbaren Antriebe des Mitleids zu folgen und
ans dem brennenden Hause eilt vergessenes Kind herauszuholen, plötzlich an¬
fängt, den Kreis seiner Pflichten zu überschaue« und zu mustern, so — ver¬
brennt das Kind. Der Patriotismus, meint Breche, stehe noch auf der ersten,
heroischen Stufe der Sittlichkeit, wo nnr die außergewöhnlichen Leistungen
geschätzt, die täglichen unscheinbaren Pflichterfüllungen aber gering geachtet
werden. „Man redet viel vom Sterben fürs Vaterland. Und dies ist ja das
höchste und äußerste, was die Vaterlandsliebe von uns verlangt. Aber schon
bei der zweitnötigsten der Leistungen fürs Vaterland, beim trivialen Steuer¬
zahler, hört der Patriotismus bei sonst wohldenkenden Staatsbürgern auf, und
es beginnt ein nervöses Mißbehagen, wohl auch kleinliches Schelten, ödes
Markten. Und die Scheidewand zwischen dem Stenerdefraudanten und dem
Dnrchschnittspatrioten soir würden sogar sagen: und dem feurigen Patrioten >
ist nur allzu oft eine dünne, oft genug transparente. Marum nicht kurz und
deutsch: auch mancher Patriot betrügt — Luther liebte dafür ein kräftigeres
Wort — den Fiskus mit Herzenslust, wo und wie er nur kann?! Daß
vollends gar im gewöhnlichen Privatleben, im Geschäftsleben patriotische,
staatsethische Motive leitend und bestimmend sein könnten oder sollten, das
würden neun Zehntel aller Dentschen als chauvinistische oder ideologische Über¬
spanntheit von sich weisen — zum deutlichen Beweis, wie wenig bis jetzt der
ethische Schatz gehoben lind fürs ganze Volkstum ausgenützt ist, der in der
Idee des Patriotismus noch verborgen liegt." Das patriotische Gebaren seit
1870 laufe auf Redensarten und Trinken hinaus.
Breche verfolgt nun die Entwicklung des Patriotismus durch die Welt¬
geschichte. „Der antike Patriotismus verblieb auf der Stufe des Stadt-
patrivtismus." Außerdem fehlte ihm „die Ergnuzung durch deu wahren
Kosmopolitismus, d. h. die Hnmanitätsidee," indem der Grieche Pflichten
gegen die Barbaren nicht anerkannte. Endlich blieb der Patriotismus auf die
Vollbürger beschränkt; Sklaven und Halbfreie, die keine Rechte im Staate hatten,
konnten auch leine Liebe zu ihm empfinden.
Das Christentum war an sich nicht staatsfeindlich, wurde es aber dnrch
die Hierarchie. Breche zählt einige der bekannten Anmaßungen der Päpste
auf und zeigt, wie sie das Staatsleben Europas ans ein Jahrtausend im Keime
erstickt hätten. Diese Auffassung herrscht zwar in Deutschland immer noch,
aber sie ist trotzdem falsch. Mag es vielen Päpsten nicht am bösen
Willen gefehlt haben, die Macht, ihn durchzusetzen, fehlte ihnen. Wenn nicht
sofort nach dem Untergänge des weströmischen Reiches Nationalstaaten fertig
wurden, womöglich mit den heutigen Grenzen, so lag das nicht an den Päpsten,
sondern daran, daß die Nationen selber noch nicht fertig und die Grenzen wegen
unaufhörlicher Eroberungskriege fließend waren. Die Herstellung eines Groß-
staates nach heutigem oder altasintischem Muster war bis ins zweite Jahr¬
tausend hinein auch schon aus dem Grunde unmöglich, weil die drei Bedingungen
dafür: das stehende Heer, das geschulte Beamtentum und die Verkehrsanstalten,
mit dem römischen Reiche zu Grunde gegangen waren und erst im Laufe der
Jahrhunderte mühsam von neuem geschaffen werden mußten. Wenn es trotzdem
Karl dem Großen gelang, ein kurzlebiges Riesenreich aufzurichten, und wenn
die Kaiser aus dem sächsischen und demi fränkischen Hause eine gewaltige Macht
entfalteten, so war ihnen das nur möglich, weil ihnen die Kirche das zweite
der genannten Elemente lieh (sehr bezeichnend haben die Romanen aus elurie,»»
ulsrc;, englisch c-lsrlc, Schreibstubeumensch, gebildet) und teilweise auch das erste;
denn die geistliche» Lehnsträger waren die einzigen, aus deren Mannen sie
sicher zählen konnten; auch die Reichsfinanzen ruhten guten Teils ans den
geistlichen Gütern. Daß dann in den, Konflikte zwischen dem Kaiser und dem
Oberhaupte jener Kirche, die ihm bis dahin den Regiernngsapparat geliefert
hatte, die Reichsfürsten gegen den Kaiser Partei nahmen (ohne ihre Unter-
stützung wären alle päpstlichen Bannsprüche Schläge ins Wasser gewesen), darf
ihnen nicht als Reichs- und Baterlandsverrat im heutigen Sinne angerechnet
werden. Die deutschen Stämme hausten so zerstreut und so weit von einander
entfernt und hatten so wenig Berührung mit einander, daß ihnen ihre Zuge¬
hörigkeit zu einem Volke erst im zehnten Jahrhundert zum Bewußtsein kam,
als sie ans den Römerzügen hörten, wie sie von den Leuten jenseits der Berge
mit dein gemeinsamen Namen ^pas8<zlli gerufen wurden; sie selber hatten bis
dahin nichts andres gewußt, als daß sie Sachsen, Franken, Lothringer, Ale¬
mannen oder Baiern waren, und daß ihre Herzoge sich einen gemeinsamen
König gewählt hatten, ohne ans ihre Selbständigkeit zu verzichten. Die Wahl
war ein Vertrag, und hielt ihn der König nicht, so waren auch die Fürsten
"icht mehr daran gebunden. Unser Begriff der Souveränität war jener Zeit
und ist dem ursprünglichen Germanentum völlig fremd, er ist erst später durch
das römische Recht eingeführt worden. Namentlich aber erlangten die sächsischen
und die bairischen Fürsten durch ihre ganz selbständig und ohne namhafte Hilfe
des Königs vollführten Eroberungen in den Slawenländern einen solchen Grad
von Selbständigkeit, dnß es die Sachlage gänzlich verkennen hieße, wenn man
sie, wo sie auf eigne Faust Politik trieben, wie abtrünnige Statthalter beur¬
teilen wollte. Trotzdem würde es den Kaisern gelungen sein, die Reichs-
verfassung aufrecht zu erhalten, wenn sie wenigstens daheim geblieben wären.
Aber als die Hohenstaufen deu Schwerpunkt des Reiches nach Italien und noch
dazu in dessen Südspitze verlegten, da hörte die physische Möglichkeit aus;
selbst bei unsern heutigen höchst vollkommnen Verkehrsverhültuissen wäre es
unmöglich, Deutschland von Sizilien aus zu regieren. Das Schicksal der letzten
drei Hohenstaufen mag im Lichte der Poesie noch so tragisch schön erglänzen,
ihre Sache mag vom legitimistischen Standpunkte aus noch so unanfechtbar
gerecht sein — eine deutsche Sache ist sie nicht; nur der allerdings gerecht¬
fertigte Haß gegen den gemeinsamen Gegner, den Papst, hat dazu verleitet, sie
dafür zu halten. Wahr ist an der bei uns hergebrachten Auffassung jener
Verhältnisse nur so viel, daß die Päpste in der kritischen Periode unter den
letzten Hohenstaufen und nach deren Untergänge die Abneigung der deutscheu
Fürsten, ihre eignen Rechte freiwillig zu beschränken und so eine lebensfähige
Zentralgewalt herzustellen, nach Möglichkeit verstärkt und die Verwirrung im
Reiche klug ausgenützt haben. Wo, wie in England und in dem damaligen
Frankreich, das nicht die Hälfte des heutigen umfaßte, die Gunst der geo¬
graphischen Lage und ein geschlossenes, nicht zu umfangreiches Gebiet die Ent¬
stehung des Volksstaates begünstigten, da trat dieser hervor, sobald die Be¬
dingungen: ein leidlich gebildeter Beamtenstand, eine erträgliche Wehrverfassnng
und Finanzwirtschaft, vorhanden waren. Den erfolgreichen Widerstand der
Engländer gegen den Papst unter Ednard I. führt Breche selbst an (nur der
elende Johann ohne Land hatte sich zu des Papstes Knechte gemacht; das
Volk zu knechten, war den Verbündeten beiden Despoten, dein geistlichen und
dein weltlichen, nicht gelungen); er Hütte mich das einmütige Zusammenstehen
von König und Volk in Frankreich gegen die Anmaßungen des Papstes
Bonifaz VIII. nicht unerwähnt lassen sollen.
Neben diesen großen Staatenbildungen aber wucherte überall im Kleinen
ein reiches politisches Leben. Man soll doch nicht vergessen, daß in der zweiten
Hälfte des Mittelalters der bairische, der sächsische und der brandenburgische
Staat fertig wurden; gewiß sehr achtungswerte politische Schöpfungen! Und
daß ein allmähliches Erwachsen des Grvßstantes aus kleinern politisch reifen
Bestandteilen weit gesünder ist und die Bürgschaft längerer Dauer gewährt,
als wenn nach orientalischer Art ein Völkergemisch schnell zusammenerobert
und erst nachträglich der Versuch gemacht wird, das Ganze politisch zu organi-
siren. Der Versuch ist bisher stets mißlungen; es ist überall bei einem äußer¬
lichen Zusammenfesseln der Glieder geblieben, die auseinanderfielen, sobald der
Despot fiel, der die Enden der Ketten in seiner Hand hielt. Ein solches rein
äußerliches und für die Völker wie für die Kultur im ganzen wertloses
Gebilde würde auch ein italienischer Großstnat gewesen sein, wenn er vor zwölf¬
hundert Jahren zu stände gekommen wäre. Breche sagt nämlich: „Italien
hätte zweimal durch edle deutsche Stämme der Einheit entgegengeführt werden
können, im sechsten Jahrhundert durch die Ostgoten, im achten durch den
Langobarden Liutprand. Das erstemal hat der römische Pontifex mit dem
Oströmer, das zweitemal der römische Priester mit den Franken Pippin und
Karl die Keime zur ^nein, der!^ italienischen Einheit und Selbständigkeit und
die beiden edeln deutschen Stämme zertreten." Weder die Goten noch die
Langobarden waren so zahlreich, daß sie allen Bewohnern Italiens ein gemein¬
sames Gepräge zu geben vermocht hätten; das Gelingen ihres Beginnens hätte
nicht verhüten können, daß sich Neapolitaner, Toskaner und Lombarden zu
ganz verschiednen Stämmen entwickelten, deren vorzeitiges Zusammenschmieden
zum Einheitsstaat höchstens die negative Wirkung erzeugt hätte, die Entstehung
der italienischen Städterepubliken zu verhindern, was ein ungeheurer Verlust
nicht allein für Italien, sondern sür ganz Europa gewesen wäre. Merkwürdig,
daß Breche von diesen Republiken rein gar nichts sagt! Und doch lebte in
ihnen der antike Stadtpatriotismus wieder auf. (Unter ihnen hätte Breche
auch eine gefunden, leider habe ich vergessen, welche es war, deren Bürger
einmal Revolution machten und ihre neugewühlte Obrigkeit fortjagten, weil
diese — eine zu kleine Anlage ausgeschrieben hatte. „Was, schrie das empörte
Volk, so wenig Liebe zum Vaterlande traut ihr uns zu, und für solche arm¬
selige Lumpen haltet ihr uns?") Und diese italienischen Kleinstaaten sind für
uns weit wichtiger als die altgriechischen; denn in der Finanzkunst, Staats¬
wissenschaft und Verfassung, die sie ausbildeten, wurzelt das ganze politische
Leben der modernen Völker, und Mncchiavelli bleibt der große Lehrer aller
Staatsmänner, die nach ihm kommen, nicht am wenigsten derer, die gegen ihn
schreiben. Und die Kunst und Wissenschaft der italienischem Renaissnnee, die
Mutter aller heutigen Kunst und Wissenschaft, sie konnte nur bei der Bewegungs¬
freiheit und vielseitigen Reibung entstehen, wie sie eine Gruppe kleiner
republikanischer Gemeinwesen gewährte. Das alles würde der absolute Zwangs¬
staat im Keime erstickt haben; denn nur als solcher hätte vor tausend Jahren
ein ganz Italien umfassendes Reich ins Dasein treten können. Und gerade in
diesen italienischen Kleinstaaten entsprang die Idee des Nationalstaates und
ward sie großgezogen — unter dem Schutze des Papsttums. Denn nicht
Bigotterie war es, was die Mehrzahl der Italiener zu Welsen machte, wie
sich die kaiserfeiudliche Partei nannte, sondern das Bedürfnis, sich die wert¬
volle Bundesgenossenschaft des Papstes gegen den Kaiser zu sichern. Das
Kaisertum war, als Zwillingsbruder und Ergänzungspol des Papsttums, ganz
ebenso universal und daher nationalseiudlich wie dieses. In den Staatsschriften
der Florentiner und des Königs Robert von Neapel gegen den Kaiser
Heinrich VII. finden sich znerst jene Grundgedanken einer nationalen Real-
Politik, die heute den Männern der Bismarckschen Schule — sofern von einer
solchen gesprochen werden darf — geläufig sind. So oft der Papst eine kaiser¬
freundliche Wendung wagte, wurde er von niemandem rücksichtsloser bekämpft,
als von den „Getreuen der Kirche." In solchen Zeiten hatten päpstliche Ab¬
gesandte in einer Welfenstadt nichts zu erwarten, als eine Tracht Prügel oder
den Tod, und päpstliche Briefe wurden als Wische behandelt, die keiner Be¬
achtung wert seien. Als Heinrich VII., der im Einvernehmen mit Papst
Clemens V. nach Italien gekommen war, die ihn begleitenden Legaten fragte,
ob sie nicht Vollmacht hätten, die Rebellen gegen Kaiser und Papst zu bannen,
da antworteten diese Kardinäle, die Vollmacht Hütten sie schon, aber wenn des
Kaisers Schwert nicht stark genug sei, den Bannspruch zu vollstrecken, dann
nutze dieser nichts, denn in Italien mache sich niemand etwas daraus;
die Florentiner und Bologneser — es waren dies die führenden Städte im
Welfenbunde — lebten seit Jahren im Banne und ließen sichs wohl
sein dabei.
Der Leser möge diese geschichtliche Abschweifung entschuldigen; eine schiefe
Auffassung der Vergangenheit erschwert die richtige Beurteilung der Gegenwart
ganz außerordentlich.
Breche hebt sodann die für Deutschland unheilvolle Rolle hervor, die das
Hans Habsburg namentlich im Neformntivnszeitalter spielte, rechtfertigt die
Bündnisse protestantischer Fürsten mit dem Auslande, beweist die Notwendig¬
keit des fürstlichen Absolutismus in der nachfolgenden Periode und schildert
das Keimen des deutschen Patriotismus unter Friedrich dem Großen und seine
herrliche Blüte in der Zeit der Befreiungskriege. In alledem sind wir mit
ihm vollkommen einverstanden. Besondern Dank verdient die Mitteilung längerer
Stellen aus Schriften E. M. Arndts und F. L. Jahns, die leider teils ver¬
gesse», teils ganz unbekannt sind. Der Abschnitt schließt mit der Aufzählung
einiger der Mäuner, die um ihrer Überzeugung und ihrer patriotischem Unter¬
nehmungen willen Verbannung oder den Tod erlitten haben und so zu Mär¬
tyrern fürs Vaterland geworden sind.
Das zweite Kapitel: „Die Verwirklichung der patriotischen Idee," handelt
zuerst von der Erziehung und militärischen Organisation. Zur Nachahmung
wird der 1807 gegründete Tugendbund empfohlen und dessen Grundidee sehr
glücklich folgendermaßen ausgedrückt: „Während eine frühere Zeitrichtung mehr
RePression statt Evolution der Volkskrüfte geübt, dem Menschen zwar sehr
eindringlich das »Du sollst nicht« nach allen Richtungen hin klar gemacht,
umso weniger aber das »Du sollst,« mußte nun dem Menschen zugerufen werden:
»Du sollst, denn du kannst,« es mußten alle guten Kruste des Menschen ent¬
bunden werden zu freier Übung und Thätigkeit. Dabei wurde als Vorbild
dem Deutschen mit Borliebe jenes unvergleichliche Idealbild deutscheu Wesens
vorgehalten, welches Tcicitns von unser» Vorfahren in der 6<n'irumik>> entwirft,
selbstverständlich mit der Wendung: weil die alten Deutschen dieses kraftvolle,
sittenreine, ehrliche Volk, mit dem heiligreinen, unverdorbenen Familienleben,
mit der Verehrung der Frauen, mit dem unbezwinglichen Löwenmut waren,
darum gelang es ihnen, die Zwingherrschaft der Römer abzuwerfen und die
stolze Roma selbst in den Staub zu schmettern." Über das Idealbild der
Deutschen bei Tacitus könnten wir —- nach Felix Dahn - - einige kritische
Bemerkungen macheu, sowie auch über die herkömmliche Ansicht, das lasterhafte
Rom sei der Tugend der Germanen erlegen; zu verwundern ist nämlich nicht,
daß das römische Reich endlich einmal zusammenbrach, sondern wie eine einzelne
Stadtgemeinde die Herrschaft über ein Reich von solcher Ausdehnung auch nur
fünf Jahre, geschweige denn fünf Jahrhunderte zu behaupten vermochte. Indes
wir unterdrücken diese Bedenken; es giebt Fälle, wo der Irrtum nützlicher ist als
die Wahrheit. Indem loir also beide Gedanken des Tngendbundes als Grund¬
lage der Nationalerziehung mit herzlicher Zustimmung annehmen, bezweifeln
wir doch ganz entschieden, daß dieses große Werk eines neuen Tugendbnndes
bedürfe. Geradezu für grundverkehrt aber halten wir die Forderung, daß sich
unsre nationalen politischen Parteien als Tugendbund konstituiren sollen. Wäre
der Gedanke nicht völlig aussichtslos, so würde er höchst gefährlich sein.
„Wenn sich — sagt der Verfasser — die 1200000 Männer, die am 20. Februar
uativnalliberal und die, welche konservativ gestimmt haben, ihrer Aufgabe in
vollem Maße bewußt geworden sein werden, dann werden wir den Gedanken
des Tngendbundes wieder aufleben sehen. Unser politisches Parteileben wird
dann erst auf gesunden Grundlagen ruhen, wenn man sich nicht mehr bloß
um die Abstimmung der Mitglieder und um die sozial-ethischen und Parteiziele,
sondern zugleich um die persönliche Tüchtigkeit und sittliche Förderung der
Mitglieder kümmert." Das fehlt gerade noch! Beaufsichtigung des Privat¬
lebens und die davon untrennbare Spionage! Nicht eine gesunde Grundlage
wäre das, sondern eine urfanle. Man weiß zur Genüge ans vielfältiger Er¬
fahrung, wohin solche Einrichtungen führen, selbst wenn sie in der reinsten
und edelsten Absicht getroffen werden. „Wir wären doch wirklich thöricht
— fährt der Verfasser fort —, wenn wir die gewaltigen Parteiorganisationen,
die wir besitzen, nicht ausnützen wollten für die sittliche Kräftigung des Volks¬
lebens, und wenn wir anderseits nicht verstehen wollten, daß diejenigen Par¬
teien, welche in ihrer Art eine personell-ethische Grundlage besitzen, sodaß die
Glieder nicht nur zusammen abstimmen, sondern gemeinsame sittliche Grundsätze
im öffentlich-bürgerlichen wie im Privatleben befolgen, daß diese Parteien den
festesten Zusammenhang haben. Das sind die sozialistische, die ultramontane und
glücklicherweise zum Teil auch die konservative Partei." Es ist zum Glück nicht
wahr, daß die genannten Parteien jede ihre besondre Moral haben und deren
Befolgung bei ihren Gliedern überwachen, und damit wird auch das der
uatioualliberaleu Partei gemachte Kompliment hinfällig, daß ihr die sittliche
Grundlage fehle. Selbst wenn die Katholiken eine besondre Moral, die Jesuiten¬
moral, hätten — bekanntlich Protestiren sie sehr lebhaft gegen diesen Vorwurf —,
bliebe doch immer nicht diese, sondern das Kirchentum der Kitt der Zentrums-
partei. Noch weniger kann bei den Konservativen von einer besondern Moral
die Rede sein, während allerdings der evangelische Glaube es ist, der neben
den landwirtschaftlichen Interessen und der altpreußisch-monarchischen Gesinnung
die Landbevölkerung der östlichen Provinzen bei der konservativen Fahne fest¬
hält. Und was die Arbeitermassen bisher an die sozialdemokratischen Führer
fesselte, das war nicht die in Aussicht gestellte Emanzipation des Fleisches,
obwohl viele unter ihnen diese Predigt gern hören, sondern die Unzufriedenheit
mit ihrer Lage und die Ansicht, daß von einer Regierung und von Parteien,
die Ausnahmegesetze gegen die Arbeiter erlassen, irgend welche Besserung der
Lage nicht zu erwarten sei. Um die Privatmoral ihrer Mitglieder kümmert
sich keine dieser Parteien, und im öffentlichen Leben befolgen sie sämtlich, gleich
alle» politischen Parteien aller Staaten und Zeiten ohne Ausnahme, den
Grundsatz: Der Zweck heiligt die Mittel. Daß die nationallibernle Partei von
lockerern Gefüge ist als die genannten Parteien, beruht auf andern Ursachen,
die in diesem Zusammenhange nicht erörtert werden können, nicht aber ans
einem vermeintlichen Mangel an moralischen Grundsätzen. Wollte jemand
schlechterdings die Moral der Nationalliberalcn unter die Lupe nehmen, so
würde er höchstens finden, daß die Herren im ganzen wenig Neigung zur
Askese äußern, daß aber auch keiner von ihnen die freie Liebe predigt. Über
dieses ^nött-urilisn hinaus würde selbst Vismarck die Partei nicht gebracht
haben, wenn er sichs in den Kopf gesetzt hätte, sie sittlich zu diszipliniren.
'
Der zweite Abschnitt: „Organisation des Volkstums zum Staat," erläutert
die Wiederbelebung des Gemeingeistes durch die Bauernemauzipativn lind die
Städteordnung in der Steiuschen Gesetzgebung, die neue Heeresverfassung,
schildert dann die Hemmung und teilweise Unterdrückung dieser Entwicklung
dnrch die nachfolgende Reaktion und schließt mit bittern Bemerkungen über
die Haltung der Deutschen bei den Wahlen der letzten Jahre und beim Rücktritt
Bismarcks. Diese Haltung überzeugt den Verfasser von der Notwendigkeit,
daß in das deutsche Volk ein neuer Geist, neue Ideale, neue Spannkraft
kommen müssen. In einem kurzen Schlußkapitel heißt es: „Die Grundidee,
das Prinzip unsrer Ethik ist das Deutschtum, die nationale Besonderheit oder
der Nationalgeist des deutschen Volkes, und wir könnten uns damit begnügen,
daraus den obersten Pflichtsatz abzuleiten: Mache dich zu einem tüchtigen Gliede
deines Volkes, zu einem brauchbaren Werkzeuge des deutschen Geistes." Den
Inhalt der Idee „Deutschtum" anzugeben sei aber nicht ganz leicht, es sei
dazu eine „eklektische Beschreibung" erforderlich, „eine Messung und Vergleichung
des Deutschnationalen mit dem Allgemeinmenschlichen. Hierzu liefern alle
Wissenschaften ihren Veitrag. In erster Linie aber ist es die Geschichte mit
ihren Hilfswisseuschafteu, die Poesie, Philosophie und Religion, welche gefragt
werden müssen." Wahrscheinlich soll die Umfrage in den nächsten Heften ge¬
halten werden.
Indem wir uns nun zur grundsätzlichen Prüfung der Ansicht Brechts
wenden, müssen wir zunächst unterscheiden zwischen dem Patriotismus als
einzelner Tugend und dem Patriotismus als der Wurzel der übrigen Tugenden.
Daß der Patriotismus im ersten Sinne der Stärkung, Vertiefung, Veredlung
und größern Verbreitung bedarf, ist gar keine Frage. Wenn reiche Leute den
Staat um einen großen, vielleicht um den größten Teil der Steuern betrügen,
die sie zu zahlen schuldig sind, so muß ihnen öffentlich vor aller Welt gesagt
werden, daß das abscheulich und eine Schande sei. Und wenn sich solche
Männer gar zu den Patrioten zu rechnen die Kühnheit haben sollten, so müßte
zur Strafe dafür die Frage aufgeworfen werden, ob sie nicht als ehrlos aus
den Wahllisten zu streichen seien. Ja es ist in unsrer Zeit äußerst nötig, es
ausdrücklich zu sagen, daß nicht das Maß der Vorteile, die einer vom Staate
zieht, sondern das Maß der Opfer, die er ihm bringt, den Patrioten aus¬
macht. Nur darf man nicht so weit gehen, zu fordern, daß der Patriot über¬
haupt nichts für sich, für seinen Stand, oder wie man heute lieber sagt, für
seine „Interessengruppe" verlangen solle. Das hieße Unmögliches fordern.
Denn wie es aus Erden keine Nächstenliebe ohne Selbstliebe, keine Tugend ohne
Selbstsucht giebt, so kann auch ein Patriotismus, der gar nichts für sich vom
Vaterlande erwartet, nicht zur allgemeinen Tugend aller Bürger werden. Aber
»in diesen wichtigen Punkt ordentlich zu verstehen, müssen wir Brechts Natur¬
geschichte des Patriotismus, die oberflächlich und unvollständig ist, ein wenig
ergänzen.
Die natürliche Grundlage alles Patriotismus wird von Breche gar nicht
erwähnt. Er spricht nur immer vom Staate, während doch der Name Patrio-
tismus ans das Vaterland hinweist. Land und Volk, auf diese beiden bezieht
sich ursprünglich der Patriotismus, und nicht auf den Staat, dessen Idee und
Bedürfnis sich erst auf einer spätern Stufe einfindet, und der auch auf den
höhern Stufen uicht unmittelbar und um seiner selbst willen geschätzt und ge¬
liebt wird, sondern nur als Mittel, unser Heimatland und unser Volkstum zu
behaupten und deren Schütze zu heben. Daher entspringt die stärkste und leb¬
hafteste Vaterlandsliebe in solchen Gegenden, wo Land und Volksleben ein so
eigentümliches Gepräge zeigen, daß der Volksgenosse nirgends anders in der
Welt die landschaftlichen Bilder seiner Heimat nud ihre Sitten wiederfindet.
Der Tiroler liebt seine Berge, seine Gemsjagd, seine Volkstracht, seine heimat¬
liche Mundart, seine Viehwirtschaft, kurzum sein Tirol, aber von Liebe zum
deutschen Vaterlande weiß er nichts, obwohl er ein Deutscher ist. Er liebt
Vielleicht auch die deutschen Bruderstämme und hört deren Mundart lieber als
das Welsche; er liebt ganz gewiß deu Kaiser Weißbart, der jeden Sommer
einige Wochen in der Nähe seiner heimatlichen Berge weilte, um seiner Helden¬
thaten und seiner Freundlichkeit und seines ehrwürdigen Charakters willen, aber
das alles ist noch keine Liebe zum deutschen Vaterlandes Die ist auch gar
nicht so ohne weiteres möglich, weil Deutschland ein viel zu großes Land ist,
als daß man es leicht überschauen und lieben konnte. I^moti mutig. enpicko;
was man nicht kennt, das begehrt und das liebt man auch nicht. Vor der
Zeit der Eisenbahnen gab es im Bauernstande die Handwerker kamen ja
weiter herum — sehr wenig Leute, die über ihre engere Heimat hinaus¬
gekommen wären. Nun giebt es in Dentschland Gegenden von ganz Ver¬
schiednem Charakter: Hochgebirge, Mittelgebirge, Flachland, Weinland, Ge¬
treideland, Kartvffelland, Nadelholz- und Laubhvlzregionen, Flußland, Seeuland,
Meeresküste, wasserlose Gegenden. Der Bewohner der einen kann sich, wenn
er nicht zu den Gereisten gehört, von dem Aussehen der übrigen und ihrem
Leben gar keine Vorstellung machen; wie soll er diese Gegenden, wie soll er
ihre Gesamtheit lieben? Wir Gebildeten freilich lieben unser Vaterland gerade
deshalb, weil es eine solche Mannichfaltigkeit, einen solchen Reichtum von
Schönheit und Naturschätzen umschließt. Aber zu dieser Liebe sind Nur durch
Reflexion, zum Teil durch den Schulunterricht gelangt, und Empfindungen,
die ans der Reflexion entspringen, können sich mit den unmittelbaren an Stärke,
Innigkeit und Dauerhaftigkeit niemals messen.
Und wer weiß! Wenn die Gemsen in deu Tiroler Bergen weggeschossen,
alle Schluchten überbrückt, alle Wildbäche fein säuberlich eingedämmt, alle
Gipfel mit der Eisenbahn zu befahren sein werden, wenn alle Berge von
schirmen Hotelwirten ausgebeutet sein werden, und die Käsemacherei auf der
Abu im Auftrage einer Molkerei-Aktiengesellschaft von akademisch gebildeten
Direktoren rationell betrieben werden wird, wenn es keine Tiroler Schlitzen
mehr geben wird, sondern nur noch ein paar österreichische Regimenter, in
denen Tiroler stecken, wenn die Mundart des Berliner Salvntirolers und die
des echten Tirolers in einen Brei zusammengeflossen fein werden, wer weiß,
ob es dann auch nur noch Tiroler Patriotismus geben wird! Ja man darf
fragen, ob dein internationalen Frack, dein internationalen Zylinder, dem inter¬
nationalen Hotelkellner, dem internationalen Schlafwagen, dem internationalen
Zeitungsgeschwätz und dem internationalen Aktienschwindel irgend ein Volks-
tum auf die Dauer Stand zu halten vermögen wird? Am festesten wurzelt
noch die Anhänglichkeit an die Sprache, weil es mit Ausnahme der wenigen,
die von Jugend auf an mehrsprachiges Wesen gewöhnt worden find, alleil
Menschen äußerst schwer fällt, sich einer fremden Sprache bedienen zu müssen.
Es ist unbequemer, als das Gehen auf allen Vieren, und sobald das Gemüt
ins Spiel kommt, das sich in einer fremden Sprache gar nicht zu äußern
vermag, verursacht dieser maulkvrbnrtige Zwang einen Schmerz, der sich zur
Raserei steigern kann, wenn versucht wird, einem ganzen Volksstamm seine
Sprache gewaltsam zu nehmen.
Diese Art Vaterlandsliebe ist also unmittelbar und natürlich. Sie bedarf
zu ihrer Kräftigung keiner Überlegung, keiner Belehrung, sie wird vielmehr
durch beides leicht geschwächt. Sie denkt anch nicht daran, die Vorteile zu
berechnen, die ihr das Vaterland gewährt; der Vorteil ist eben das Leben im
Vaterlande, in der heimischen Landschaft, in den heimischen Sitten, im Gebrauch
der Muttersprache, worin sie sich wohlfühlt, wie der Fisch im Wasser, während
sie fern davon vor Betrübnis und ungestillter Sehnsucht vergeht. Ganz anders
verhält es sich mit der Anhänglichkeit an den Staat. Die ist gar keine natür¬
liche Empfindung, sondern nur durch Reflexion möglich. Sie setzt voraus:
Kenntnis der Staatseinrichtungen, Vertrautheit mit der Geschichte des Staates,
Teilnahme an der Gesetzgebung und Verwaltung und Einsicht in die Vorteile,
die das Bürgerrecht im Staate gewährt. Da alle diese Bedingungen in kleinen
Staaten viel leichter erfüllt werden können als in großen, fo entwickelt sich
der politische Patriotismus natürlich zuerst in kleinen Gemeinwesen, in städtischen
und Bauernrepubliken. Bietet sich der oben geschilderte natürliche Patrio¬
tismus, die Anhänglichkeit an eine landschaftlich abgeschlossene charakteristische
Heimat als Grundlage oder Wurzel dar, was bei den ältern Schweizer Kan¬
tonen und den Ditmarscheu wie auch bei den griechischen Staaten der Fall
war, so ist dort die Vaterlandsliebe am allergesündesten und unerschütter-
lichsten. Ein außerordentlich festes Band bilden auch gemeinsam ausgeführte
mühevolle und mit Opfern hergestellte Bauten, sei es zu Schutz und Trutz
gegen feindliche Nachbarn oder Elemente, sei es zum Schmuck der Baterstadt;
was dem Schweizer, dem Tiroler seine Berge, das waren dem Athener seine
Akropolis und seine Flotte, dem Niederländer seine Dämme und Kanäle und
Schiffe, das ist noch heute dem Florentiner z. B. seine Domkuppel und sein
San Giovanni.
Während der Bürger des Kleinstaats den Gegenstand seiner Liebe stets
ganz oder fast ganz greifbar vor Angen hat und durch die tägliche thätige
Teilnahme daran das Bewußtsein seiner lebendigen Gegenwart, seiner Wichtig¬
keit und seiner wohlthätigen Eigenschaften niemals verliert, läßt es sich beim
Grvßftnat kaum verhüten, daß er die Natur eines Abstrnktums nuuehme, das
so wenig Liebe, Anhänglichkeit und Begeisterung einzuflößen vermag wie
irgend ein andrer Begriffsschatten. In Monarchien kommt die Person des
Monarchen zu Hilfe, in dem der Staat verkörpert erscheint; der Monarch ist
ein Mensch, und einen Menschen kann man lieben. Freilich vergegenwärtigen
mich die Beamten den Staat. Allein, wir dürfens uns nicht verhehlen, es ist
sehr schwierig, es ist vielleicht pshcholvgisch unmöglich, den Staatsanwalt (als
solchen), den Gerichtsvollzieher und den Polizisten zu lieben. Leichter fällt es
schon beim Briefträger, namentlich beim Geldbriefträger, am leichtesten beim
Leutnant; leider kann nicht jeder Ort im Reiche sein Bataillon oder seine
Schwadron haben. Auch Gebäude versinnbildlichen den Staat; und die Reichs¬
post an jedem Orte, schon der Briefkasten ist als Stützpunkt und Anreger
patriotischer Empfindungen von nicht geringer Bedeutung. Allein der Kirch¬
turm, dazu die Kreuze und Heiligenbilder, fallen doch noch mehr in die Augen,
und wo die Gewohnheit besteht, täglich der Messe beizuwohnen, da gewinnt
der Verkehr des Einzelnen mit dein Gemeinwesen, dessen Bundeszeichen und
-feier sie bildet, einen solchen Grad von Lebendigkeit, daß der Staat der katho¬
lischen Kirche gegenüber im Nachteile bleibt. Bei patriotischen Festen würde
es sehr schwierig sein, zu ermitteln, wie viel von der da ausbrechenden Be¬
geisterung dem Vaterlande und wie viel davon dem guten Stoff und der
gemütlichen Kameradschaft auf Rechnung zu setzen sei. , Fast nur in Zeiten
höchster Gefahr oder Not, oder sooft der Staat eine ganz außerordentliche
Leistung zum Wohle des Gemeinwesens vollbracht hat, die sich jedem Einzelnen
fühlbar macht, fast nur in solchen Füllen ist den Angehörigen des Großstaats
eine allgemeine und lebhafte patriotische Bewegung des Herzens möglich. Die
Badener waren bekanntlich bis 1870 großdeutsch. Was hat sie bekehrt, so-
daß sie seitdem die begeistertsten unter den nationalen geblieben sind? „Sehen
Sie, sagte mir einst ein Bürger einer badischen Kleinstadt, das ist mein Hans!
So viele Jahre hatte ich gearbeitet und gespart, ehe ich es mir bauen, den
Traum meines Herzens verwirklichen konnte; eben war es fertig geworden, da
brach der Krieg aus! Herr Gott! dachte ich damals, wenn die Franzosen
herüberkommen, wenn sie unser Städtchen beschießen, dann ist meine ganze
Lebensarbeit verloren! Werden uns die Preußen helfen? Sie haben geholfen!
Unter ihrem Schutz sind wir für immer geborgen! Da haben Sie meine Politik!"
Und nach dem Jahre 1806, als von einem Ende des deutschen Vaterlandes
bis zum andern die Felder von den Hufen feindlicher Rosse zerstampft, die
Häuser niedergebrannt, die Viehherden weggetrieben, die Einwohner mit uner¬
schwinglichen Lasten beschwert waren, da wurde es jedem Aclerhäusler und
jedem Handwerksgesellen klar: wenn wir die Franzosen nicht aus dem Lande
jagen, bleiben wir und unsre Nachkommen Sklaven und sind keinen Augenblick
unsers Lebens, Leibes und Eigentums sicher; wie sollen wir aber der Franzosen
Herr werden, wenn niemand da ist, der unsre Kräfte zusammenfaßt? Und wer
könnte das, als nur ein gemeinsamer Staat? So lebte damals die Idee des
deutschen Nationalstaats in allen Herzen mit Notwendigkeit auf. Und die
Bauern, die in jener Zeit freie Herren ihrer Scholle wurden, sie wurden durch
diesen Befreiungsakt natürlicherweise gut preußisch samt Kindern und Kindes-
kindern; sie empfanden und erkannte» es, was es heißt, preußische Unterthanen
(damals noch nicht Staatsbürger!) zu sein und den König von Preußen zum
angestammten Fürsten zu haben. Es hieße der menschlichen Natur unmögliches
zumuten, wollte man fordern, daß solche Stimmungen in gewöhnlichen Zeiten
mit ungeschwächter Kraft und begleitet von der ungetrübten Einsicht jener
Tage fortdauern sollen. Sobald es not thut, findet sich die richtige Stimmung
schon wieder ein. Überhaupt hält keine gesunde Natur eine gehobene Stimmung,
eine leidenschaftliche Spannung auf die Dauer aus. Offenbart sich doch die
zuverlässigste aller Arten von Liebe, die Mutterliebe, bei vielen Müttern einzig
und allein in der unauffälligen täglichen Pflichterfüllung und bricht nur beim
Tode des Kindes in leidenschaftlicher Form hervor.
Eben auf diese dauernde Wirkung, die treue, gleichmäßige, anspruchslose
Pflichterfüllung zielt nun allerdings Th. Breche gerade ab. Aber ehe man
in seine Klaget? einstimmt und die Notwendigkeit einer förmlichen Erneuerung
des Volksgeistes zugiebt, wäre doch vorher zu erwägen, ob es im großen
und ganzen an jener Pflichterfüllung und der Vereitwilligkeit zu ihr fehlt.
Opposition gegen die Regierung, und sollten nenn Zehntel des Volkes daran
teilnehmen, würde noch kein Beweis dafür sein. Sie würde zunächst nur
beweisen, daß eine Mehrheit des Volkes über das Gemeinwohl andrer Meinung
ist als die Regierung (worin ja möglicherweise Anmaßung und Selbstüber¬
schätzung liegt), aber nicht, daß sie gegen das Gemeinwohl gleichgiltig oder
gar vou vaterlandsverräterischer Gesinnung ist. Oder glaubt Breche im Ernste,
daß die Mäuner der Opposition, um bei deu zwei von ihm hervorgehobenen
Haftpflichten zu bleiben, sämtlich Stenerbetrüger seien und daß sie im
Kriegsfalle fahitenflüchtig werden würden? Das ist richtig, daß sich die Wir-
kungen des letzten großen Krieges weit weniger schön ausnehmen als die der
Befreiungskriege; aber es ist mich leicht einzusehen, woher das kommt. Die
Siege von 1813, 14 und 15 brachten Erlösung aus einer zehnjährigen Not,
die jeder nicht bloß in seinem Gemüte, sondern an seinem Geldbeutel und in
seinem Magen gespürt hatte; und was man nach errungenen Siege vor sich
sah, das war nicht ein üppiges Genußleben, souderu lange, mühselige Arbeit
zur Wiederherstellung des vernichteten Wohlstands. Vor 1870 hingegen hatte
kein Mensch irgendwelche vou außen verhängte Not gelitten; von Gefahr hatten
sich nur die Bewohner der Westgrenze, und diese nur eiuen Augenblick bedroht
gesehen. Das Elend der Schlachtfelder in Frankreich bekam nicht der zehnte
Teil der Einwohner zu Gesicht, und als unsre ruhmreichen Truppen heim¬
kehrten, da brachten sie die Milliarden mit. Daher Anno 1815 die andächtig
fromme, demütig bußfertige und doch so unendlich erhebende Stimmung und
1870 eine übermütig leichtfertige Hurra- und Champagnerstimmung, bei der
mau aus dem lachenden Jubel gar nicht herauskam, die sich schon währeud
des Krieges hie und da in wüsten Orgien auflohte (es ist der Fall vorgekommen,
daß die Honoratioren einer preußischen Stadt ,,zu Ehren" der kriegsgefangenen
französischen Offiziere und zu eignem Vergnügen, natürlich mit französischem
Gelde, eine nächtliche Orgie veranstalteten) und die nach dein Friedensschlusse
in den hellen Wahnsinn der Gründer- und Tingeltangelwirtschaft ausbrach.
Dieser Wirkung der großen Siege, so natürlich sie war, mußte nun allerdings
und muß auch in Zukunft entgegengewirkt werden, nicht durch Bußpredigten,
die nur verlacht werden würden, sondern durch die Jugenderziehung und den
Erwachsenen gegenüber durch verstandesmäßige, kühle Erwägung, die das Un¬
vernünftige und Schädliche solchen Treibens klar zu machen sucht.
sind wir demnach, wie gesagt, mit dem Verfasser vollkommen einverstanden
in der Ansicht, daß unser Patriotismus sorglicher Pflege, in viele» einzelnen
Fällen der Reinigung, Vertiefung, Klärung und Stärkung bedürfe, daß sogar
der Patriotismus mancher Leute als Heuchelei entlarvt werden müsse, um der
Ausbreitung dieses Übels vorzubeugen, so müssen wir ihm doch zum Vorwurfe
machen, daß er einen der wichtigsten Punkte übersehen hat, nämlich die
Schwierigkeit, die der Verallgemeinerung des Patriotismus entgegensteht. Dieses
Übersehe» befremdet um so mehr, als er die Schwierigkeit bei den alten Staaten
erkannt und mit dein Worte „Sklaverei" anch ausgesprochen hat.
Wie wir schon bemerkten, die Forderung, daß der Patriot vom Staate
keinen Vorteil erwarten dürfe, wäre einfach lächerlich. Der Staat ist eben
dazu da, deu Einzelnen manche Vorteile zu sichern, die sie sich in der Ver¬
einzelung nicht zu verschaffen vermögen. Zwar giebt es bei uns in Preußen
noch eine höhere Auffassung des Staates, nach der er die verkörperte sittliche
Weltordnung und der Quell aller höhern Kultur ist, nud in dieser Eigenschaft,
als höchstes Gut, auch von denen geliebt werden muß, denen er keinen materiellen
Vorteil gewährt; allein diese erhabene Staatsidee ist der Masse unzugänglich
und wird selbst von den Gebildeten mehr mit beifälligem Kopfnicken nach¬
gesprochen als im Herzen empfunden. Außerdem wird sie von zwei großen
Parteien entschieden abgelehnt, deren eine die Kirche und deren andre die
gebildete Menschheit aller Staaten für die Trägerin der höchsten Kultnranf-
gaben erklärt. Wer bei seinen patriotischen Vestrebuugeu den Boden im Volke
nicht verlieren will, wird also zunächst das Hauptgewicht auf die greifbaren
und verständlichen Vorteile legen, die der Staat seinen Bürgern gewährt. Es
ist gewiß schändlich, wenn einer für die Vorteile, die ihm der Staat gewährt,
nicht einmal die Steuer zahlen will, die er zu zahlen schuldig ist; man darf
auch fordern, daß der Patriot in außerordentlichen Fällen außerordentliche
Opfer bringe und auf Vorteile verzichte; aber in gewöhnlicher Zeit angemessene
Vorteile vom Staate zu erwarten, das ist ganz und gar nicht schändlich, sondern
natürlich und notwendig.
Nun ist es klar, daß die Reichen im Staate, die gewöhnlich die Klinke
der Gesetzgebung in der Hand haben, sich selbst zuerst bedenke» werden, und
daß sie vor allen andern Staaten gerade diesen Staat schätzen, der ihnen
solche Vorteile sichert und der eigentlich mit ihnen, mit ihrer Gesamtheit zu-
sanunenfällt. Und ebenso klar ist es, daß die Armen, die als rechtlose
Sklaven oder bloße, wenn euch persönlich freie Unterthanen, gar keinen Einfluß
auf die Staatsverwaltung ausüben, keine Rechte haben und sich keine Vorteile
sichern können — höchstens daß eine geordnete Rechtspflege sie der Notwendig¬
keit der Selbsthilfe überhebt, die noch dazu manchem von ihnen lieber wäre —,
daß also diese Armen dem Staate »lehr feindlich als freundlich gegenüber¬
stehen. Daher dürfen sich die Reichen immer und überall Ariswkrateu oder
Optimateu nennen, denn im Staate und für den Staat sind sie wirklich die
Besten, sind sie die, die den Staat, und zwar den Staat in seiner gegen¬
wärtigen Verfassung, unter allen Umständen und um jeden Preis aufrecht
erhalten wollen. Alle Armen dagegen sind von Natur Staatsfeinde, und
zwar genau in dem Grade umso staatsfeindlicher, je ärmer und rechtloser sie
sind. Mit jeder Scholle, die ein Tagelöhner zu eigen erwirbt, verschwindet
ein Staatsfeind, und mit jeder Gewährung politischer Rechte, die dein Prole¬
tariat die Aussicht eröffnet, sich auf gesetzmäßigem Wege Besserung seiner
Lage zu erkämpfen, wird die Staatsfeindschaft dieser Klasse vermindert. Daher
bilden die Aufhebung der Leibeigenschaft, die Einführung einer Verfassung und
das allgemeine Stimmrecht ebenso viele Sprossen einer Leiter, auf der die
untersten Klassen zum Verständnis des Staates und zum Interesse an ihm
emporklimmen und dabei ein Stück Staatsfeindschaft nach dem andern ab¬
legen. So staatsfeindlich sich auch die Verbissneren unter den Sozialdemokrnten
geberden, der deutsche Staat ist ihnen doch noch lieber als der belgische und
der italienische, wo ans je hundert Einwohner nur zwei stimmberechtigte Bürger
kommen, oder gar der verfassungslvse russische. Soeben ist unser Kaiser daran,
eine weitere Sprosse einzufügen, und unendlich viel hängt davou ab, ob es
gelingt, so viel, daß das Gelingen jede Bedrohung des Staates von innen
beseitigen und alle besondern Veranstaltungen zur Pflege des Patriotismus
überflüssig machen würde. Die soziale Frage lautet, von der einen Seite her
gesehen: Ist ein freier Arbeiterstand und ist ein Großstaat möglich, dessen
männliche Bewohner sämtlich Vollbürger sind? Die formale Bejahung der
Frage durch Gesetz und Verfassung bedeutet uoch nicht die wirkliche Lösung
der Schwierigkeit. Die letztere liegt hauptsächlich darin, daß alle Vorteile,
die dem einen Stande zugesichert werden, in die Benachteiligung der andern
Stände auszuschlagen Pflegen, und daß die Ansicht von einer allgemeinen
Harmonie der Interessen, die jeden Einzelnen die Bordelle aller andern mit¬
genießen läßt, von optimistischen Theoretikern zwar gepredigt, in der Wirklich¬
keit aber selten gefunden wird. Die Frage ist also, ob auf dem bisher be-
schrittenen Wege einer allmählichen Befreiung der ärmern Klassen fortgefahren
oder zu Wiederherstellung alter Abhüugigkeitsverhültnisse unter neuen Formen
zurückgegangen werden soll, die es ermöglichen würden, die natürliche Staats¬
feindschaft des Proletariats dadurch unschädlich zu machen, daß man es aller
Machtmittel beraubte. Durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht
und des allgemeinen Schnlzwangs ist uns aber die freie Wahl versperrt und
sind wir auf den ersten Ausweg augewiesen, den wir nnn, wir mögen wollen
oder nicht, das Beste hoffend vorläufig weiter wandeln müssen.
Stimmen wir demnach im ersten Punkte der Hauptsache nach mit dem
Verfasser überein, so muß sich der Schreiber dieser Zeilen zum zweiten, der für
Breche der Hauptpunkt ist, ablehnend verhalte!?. Breche will den Patriotismus,
oder wie er sich ausdrückt, das Deutschtum zum „Prinzip" der Ethik machen.
Mit dem Worte Prinzip wird in der Philosophie viel grober Unfug getrieben.
Im vorliegenden Falle kam es dreierlei bedeuten. 1. Einen allgemeinen Satz,
aus dem die Sittenlehre alle einzelnen Tugenden und Pflichten abzuleiten hat.
Solche in der Wissenschaft übliche Ableitung ist ein fürs Leben wertloses
logisches Spiel; wir halten uns daher dabei nicht weiter auf. 2. Die Wurzel,
aus der in Wirklichkeit alle Tugenden hervorgehen. Wir gedenken demnächst
in einem besondern Aussatze zu zeigen, daß die Sittlichkeit niemals aus einer
einzigen Wurzel entspringt, sofern man mit der Wurzel uicht etwa den einen
unteilbaren Geist meint, in dem freilich zuletzt jede seiner Lebensäußerungen
wurzelt. 3. Den Antrieb zur Tilgend und Pflichterfüllung. Als solchen
lasten wir nun allerdings die Vaterlandsliebe gelten und leugnen namentlich
nicht, daß sie sich bei denjenigen Personen, die im Mittelpunkte des Staats¬
lebens stehen, sehr mächtig erweist; aber als einzigen Antrieb, der die übrigen
Antriebe entbehrlich machte, können wir sie uicht anerkennen. Auch überschätzt
Breche den Wirkungsbereich dieses Antriebes, wenn er von ihm z. B. die
Hebung und Läuterung des Familienlebens erwartet. Angenommen, das
deutsche Familienleben wäre im ganzen gegen früher gesunken, so würde der
Rückschritt ganz gewiß uicht im Mittelstände zu suchen sein, sondern nnr
darüber und darunter, und die Zunahme der schlechten Ehen würde nicht vom
Mangel an Patriotismus herrühren, sondern von dein Wachstum des Reich¬
tums und der Armut auf Kosten des Mittelstandes. Denn jene beide lockern
unfehlbar das Eheband; der erste, indem er die Mittel zu unbegrenztem Genuß
gewährt und beiden Gatten die Führung gesonderter Haushaltungen ermöglicht,
die andre, weil das Familienleben aufhört, wo die Fabrikarbeit der Frauen
und das Zusammenhäufen der Familie mit Fremden in einer Stube anfängt.
Einen augenfälligen Beweis für die Geringfügigkeit des Einflusses, den der
Patriotismus auf die Privatmoral ausübt, sehen wir bei den Franzosen.
Obgleich sie seit 1870 bis zur Verrücktheit patriotisch sind, und obwohl ihnen
unaufhörlich vorgepredigt wird, daß die Bevölkerungsabnahme das Vaterland
in Gefahr bringe, haben sie sich von der Unsitte, dnrch die sie der Teilung
des Familienvermögens vorzubeugen pflegen, noch nicht heilen lasten. Ver¬
sagt den verständigen Erwägungen einer greisenhafter Weisheit gegenüber die
Macht des Naturtriebes und die Stimme des einfältigen Gewissens, dann
nützt auch der glühendste Patriotismus nichts mehr. Es wäre im höchsten
Grade gefährlich, die vielen zustimmenwirkenden Antriebe, die sich bis jetzt im
ganzen bewährt haben, beiseite zu schieben zu gunsten eines einzigen, der am
Ende versagen könnte.
Unser Schlußurteil über Brechts Schrift fassen wir dahin zusammen,
daß sie zwar die Ethik nicht nmsHaffen wird, daß sie aber viele beherzigens¬
werte Mahnungen und dankenswerte Anregungen enthält.
MM
U«M!»
^M?Meit längerer Zeit wird in der volkswirtschaftlichen Litteratur
die Frage erörtert, ob es sich empfehle, die deutsche Gewerbe-
gesetzgebnng auch auf die hausindustriellen Unternehmungen aus¬
zudehnen. Um der Entscheidung dieser Frage näher zu treten,
war es nötig, sich zunächst eine genaue Kenntnis der in der
Hausindustrie herrschenden Zustünde zu verschaffen, sich über die wirtschaftliche
und soziale Lage dieses bedeutsamen Teiles des deutschen Erwerbslebens klar
zu werden. Diese zeitgemäße und dankenswerte Aufgabe hat sich der Verein
für Sozialpolitik gestellt. Er hat zunächst eine Darstellung der Litteratur,
der heutigen Zustünde und der deutschen Hausindustrie unes den vorliegenden
gedruckten Quellen herausgegeben, über die die Grenzboten bereits berichtet haben.
(Vgl. 1889 IV, S. 255 bis 262.) Da das vorhcmdue gedruckte Material aber kein
abgeschlossenes und zuverlässiges Bild der gegenwärtigen Lage der deutschen Haus¬
industrie gab, hat er es unternommen, die Verhältnisse durch eine Reihe einzelner
örtlicher Untersuchungen festzustellen. Um dieses Ziel zu erreichen, hat er sich in
den verschiednen Teilen Deutschlands an sachkundige Vertrauensmänner mit
der Bitte gewendet, über die hausindustriellen Zustände ihrer Gegend Auskunft
zu erteilen. So ist eine Reihe gleichsam erlebter Berichte von Fachmännern
entstanden, die uns auf Grund eigner Anschauung über die zum Teil sehr
traurige Lage der deutschen Hausindustrie Aufschluß geben. Das vorige
Jahr brachte die Berichte über das nördliche Thüringen und das südwestliche
Deutschland, und soeben ist ein neuer Band erschienen, der die Hausindustrie
in Berlin, im Bezirke der Handelskammer von Osnabrück, im Fichtelgebirge
und in Schlesien, mithin in wichtigen Gebieten, in Großstadt, Gebirge und
Flachland behandelt. (Leipzig, Duncker und Humblot, 1890.)
Als eine Eigentümlichkeit der Hausindustrie ist stets hervorgehoben worden,
daß im Durchschnitt der Lohn der Arbeit geringer und die Arbeitszeit größer
sei als in den Fabriken. Die Richtigkeit dieser Auffassung bestätigen die vor¬
liegenden Berichte von neuem. Es beträgt z, B. in Berlin der durchschnitt¬
liche Wochenlohn eines Hauswebers 18 Mark, in Rixdorf 9 bis 18 Mark, in
Bernau 9 bis 15 Mark, in Nowawes bei Berlin nicht über 12 Mark. In
Bernau warm eingeschätzt mit einem Jahreseinkommen bis zu 660 Mark 240,
bis zu 900 Mark 4 und bis zu 1050 Mark 3 Weber. In der schlesischen
Handweberei ist eine fünfzehn- bis sechzehnstündige Arbeitszeit die Regel, in
flotter Geschäftszeit sitzen die erwachsenen Familienmitglieder sogar vielfach ab¬
wechselnd fast bis zum grauenden Morgen am Webstuhl. Bei dieser fieberhaften
Thätigkeit ohne die nötigen Pansen schwankt der Wochenlohn von 5 bis höchstens
10 Mark und füllt sogar bis zu dem ärmlichen Verdienst von 3,50 Mark
für durchschnittlich mindestens sechsmal fünfzehn Stunden Arbeit. Der schlesische
Weber kommt über einen durchschnittlichen Wochenlohn von 6 Mark Zeit seines
Lebens nicht hinaus, und dabei hat er noch für den Unterhalt seines Web¬
stuhles mit allem Zubehör und Beleuchtung und Heizung seiner Arbeitsstätte
zu sorgein Nach den Lohnermittelnngcn des statistischen Amtes der Stadt
Breslau verdienten in der Zeit vom Januar 1883 bis zum Juli 1886 die in
der Schneiderei beschäftigten Nähmädchen durchschnittlich wöchentlich im Januar
und Juli 1883 1,50 Mark, in denselben Monaten 1884 2 Mark, im Februar
1885 4,50 Mark, im Juli 1885 und 1886 den höchsten Satz von 6 Mark.
Die schlesische Filetnäherin erzielte bei zwölf Stunden Arbeit im Jahre 1888
einen Tagesverdienst von 40 bis 45 Pfennigen, im Jahre 1889 bei vierzehn
Stunden Arbeit einen Verdienst von 35 Pfennigen. In der Glatzer Zündholz¬
schachtelfabrikation zahlt der Unternehmer für tausend Stück Schwedenschachteln
60 Pfennige, wenn sie etikettirt sind, 70 Pfennige.
Diese traurigen Zahlen, die sich beliebig aus dem vorliegenden Material
vermehren lassen, geben zu denken. Die Berichte heben an verschiednen Stellen
hervor, daß ein großer Teil der Hausarbeiter gezwungen ist, das Darben zur
Kunst zu machen und in den notwendigsten Bedürfnissen unnatürliche Ein¬
schränkungen eintreten zu lassen, wenn nicht der Mann dein Verbrechen und
die Frau dem. Laster anheimzufallen vorzieht.
Über die Wohnungsverhältnisse der Hausindustriellen äußern sich die
Mitarbeiter des vorliegenden Bandes nur sehr knapp. Der Bericht über
die Hansweberei im Fichtelgebirge enthält in dieser Hinsicht nur die kurze,
aber inhaltsschwere Bemerkung: Die Arbeitsräume lassen in Bezug auf
Licht und Luft nahezu alles zu wünschen übrig, die meisten Arbeiter haben
eine Stube und schlafen mit ihren sämtlichen Familienangehörigen auf dem
Boden in einem Raume. Die Osnabrücker Handelskammer begnügt sich in
ihrem Bericht sogar mit der harmlosen Bemerkung, daß die Wohnungsverhält-
nisse den ortsüblichen angemessen seien. Nur die Berichte über Berlin und
über Schlesien enthalten einiges, aber auch nur geringes Material. Es ist
das umso mehr zu bedauern, als die Wohnungsfrage eine der Hauptfragen
für die materielle und die sittliche Hebung der Hausindustriellen ist, da für
sie die Wohnung zugleich die Stätte ihrer gewerblichen Thätigkeit ist. Das
Wvhuuugseleud der Fabrikarbeiter wird nicht in demselben Maße dauernd
empfunden und hat nicht dieselbe Nachhaltigkeit des schädlichen Einflusses ans
Körper und Gemüt.
Wer sich nur einigermaßen umgesehen hat in den Wohnungen der
schlesischen Hausarbeiter, der kennt ihren nach jeder Richtung hin jämmerlichen
Zustand. Eine Wirkung davon, daß seit Jahrzehnten die Hygiene das ge¬
sündeste und die Architektur das zweckmäßigste Arbeits- und Wohnhaus für
die arbeitenden Klassen ausgesonnen hat, ist hinsichtlich der Hallsindustrie hier
nicht zu verspüren. Für sie trifft unzweifelhaft noch vielfach zu, was Huber
1865 in seinem Bericht an die deutschen Volkswirte allgemein betont hat:
„Unsre Leser wissen, daß in den zivilisirtesteu Ländern der Christenheit
Hunderttausende von Familien ans Wohnungen angewiesen sind, worin ein
halbwegs gewissenhafter oder auch nur seinen Vorteil verstehender Volkswirt
sein Vieh nicht halten möchte, Wohnungen, worin die Pflege der ersten sitt¬
lichen und leibliche» Grundlagen würdiger, gesunder, wohlthuender, mensch¬
licher, geschweige denn christlicher Lebenshaltung kaum möglich sind ohne
Wunder des Heroismus oder der Heiligkeit." Nur in den gesegneten Gebirgs¬
thälern Schlesiens befinden sich die Hausarbeiter oft noch im Besitze eines
Familienhanses, das geräumig genug ist und bescheidnen gesundheitlichen
Nnforderungeu entspricht.
Zwei Punkte lassen die Berichte klar erkennen, die Wohnungsnot und
das Schlafstellenunwesen der Hnnsarbeiter. Der schlesische Bericht hebt hervor,
daß in den Hauptsitzen der Glasindustrie Schlesiens und wohl Deutschlands,
Schreibersau und Petersdorf, zugleich beliebten Sommerfrischen, die Haus¬
arbeiter thatsächlich vielfach gar keine Wohnung finden und sich verpflichten
müssen, die Wvhmmg während des Sommers zu räumen. Dabei zahlen sie
für eine Stube mit Kammer und Kochgelegenheit jährlich 75 bis 90 Mark.
Der andauernde Niedergang der Hansweberei in Schlesien wird vielfach geradezu
auf den Wohnungsmaugel oder auf die Unmöglichkeit, eine passende Wohnung
zu erhalten, zurückgeführt. Die Miethpreise betragen in den größer« Dörfern
45, 60, ja 72 Mark jährlich. Sie sind zu hoch sowohl im Verhältnis zu
dem Werte der Wohnung an sich, als zu dem kärglichen Einkommen der Hans-
industriellen, das ohnehin schon zur Befriedigung anderweiter dringender
Lebensbedürfnisse kaum ausreicht.
Es ist daher nicht zu verwundern, daß die Verbreitung des Schlafstellen¬
unwesens mit seinen Folgen für Familienleben, Häuslichkeit und Sittlichkeit
immer mehr zunimmt. Von den hausindustrielle» Schneiderinnen und
Näherinnen in Berlin, Breslau und den schlesischen Mittelstädten wohnen nur
noch 20 bis 25 Prozent bei Eltern und Verwandten, die übrigen 75 bis 80 Prozent
haben in den Vorstädten mit zwei bis vier Genossinnen eine Schlafstelle gegen
eine monatliche Miete von 2,50 bis 6 Mark inne. Nicht überall sind polizei¬
liche Vorschriften imstande, die Unsitte des Zusammenwohnens von Schlaf¬
stellenbesitzern verschiednen Geschlechts zu verhindern.
Eine dankbare Aufgabe wäre für die Vertrauensmänner des Vereins für
Sozialpolitik die Untersuchung der Dichtigkeit, sowie der Luftranmverhältnisse
der Wohnungen gewesen, denn dieser Teil der Arbeitsstatistik der Hausindustrie
ist uoch durchaus ungenügend. Von dem Hauptsitze der schlesischen Hausarbeit
ist als sicher anzunehmen, daß der Raum von 15 bis 20 Kubikmeter Luft,
den man herkömmlich als das erforderliche geringste Maß für die einzelne
Person ansieht, fast durchweg nicht erreicht wird, was umso bedenklicher ist,
als die Wohnungen im größtem Teile des Jahres aus Furcht, dem Raum
Wärme zu entziehen, nicht gelüftet werden.
In einem höchst bedenklichen Licht erscheint von neuem die übel berüchtigte
Kinderarbeit in der Hausindustrie. In der Glatzer Schnchtelfabrikativu müssen
Kinder von fünf Jahren früh um vier Uhr aus dem Bett, um vor der Schule
uoch ihr Schachtelpensum abzuarbeiten, nach der Schule, die ihnen als Er¬
holungspause erscheinen mag, dauert die Arbeit bis acht oder neun Uhr abends.
Über das Filetunhen der Kinder in Friedland, Zülz und Umgegend sagt eine
Zuschrift an den Oberschlesischen Anzeiger aus dem Jahre 1888, deren Wahr¬
heit eine amtlich angeordnete Untersuchung bestätigte: „Dem Filetnähen
huldigen uicht selten alle Glieder einer Familie, selbst Kinder von fünf bis
sechs Jahren. Die Arbeit beginnt früh bei Licht und endet nachts nach zwölf
Uhr. Kurzsichtigkeit, Brustleiden, Verkrümmung des Rückgrats sind die trau¬
rigen Folgen der übermäßigen Anstrengung. Die Lehrer berichten, daß die
Mädchen schief werden und die Knaben in der Schule nicht sitzen können.
Die häuslichen Arbeiten werden vernachlässigt, der Geist der Kinder wird
abgestumpft." Ein elenderes Los kann wohl ein Kind in den Jahren der
körperlichen und geistigen Entwicklung nicht treffen.
Trotzdem ist es unzweifelhaft, daß das Angebot jugendlicher Hilfskräfte
in der Hallsindustrie fortwährend steigt, und umso mehr, je mehr man die
Jugendarbeit in den Fabriken beschränkt, denn bei dem zunehmenden Kampfe
ums Dasein haben die Eltern und Vormünder immer mehr ein Interesse daran,
ihr Einkommen zu erhöhen und die Kinder, die sie selbst nicht ernähren können,
für sich selbst sorgen zu lassen. Wenn irgendwo, so erscheint es in diesem
Punkte angebracht, die Fabrikgesetzgebung auf die hausindustriellen Betriebe
auszudehnen, mögen auch in einzelnen Fällen die Kinder eine kaum entbehrliche
Hilfe für die Beschaffung des Unterhalts der Familie sein. Diese jeder gesetz¬
lichen Schranke entbehrenden Heranziehung der Kinder zu eintöniger Haus¬
arbeit ist entschieden el» sittliches Unrecht. Sie schädigt die Entwicklung des
Körpers, die Lebensdauer, den Schulunterricht durch den steten Verkehr mit
Erwachsenen die sittliche Ausbildung, schließlich die spätere Arbeitsfähigkeit,
indem sie den jugendlichen Geist abstumpft und zur Erlernung eines größere
Anstelligkeit erfordernden Berufes untauglich macht. Nicht zu verkennen ist,
daß durch eine solche Bestimmung die wirtschaftliche Not vieler hausindustriellen
Familien gesteigert werden würde, da sie ihnen fürs erste nichts böte, als einen
Zwang zur Verhinderung der Entartung ihrer Kinder. Die wohlthätigen so¬
zialen Folgen würden aber auch hier nicht ausbleiben.
Zur Erkenntnis der Lebenshaltung einer Bevölkerung sind für den Volks¬
wirt die Sterblichkeitsverhältnisse von hoher Bedeutung, denn die Sterblichkeit
ist, wie der Kameralist Süßmilch in seiner immer noch lesenswerten „Göttlichen
Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts" in etwas über-
schwänglicher Weise sagt, der treueste Spiegel des Glückes, der Wohlfahrt der
Menschen und aller ihrer Wechselfälle. Leider bringt der Bericht über die
Hausindustrie in Berlin auch »ach dieser Richtung kein Material bei. Die
Beschaffung mag freilich bei den Verhältnissen der Hauptstadt und dem
Wechsel in der Erwerbsweise großen Schwierigkeiten unterliegen. Die Gesund-
heits- und Sterblichkeitsverhältnisse in der Hausweberei im Fichtelgebirge und
in der Leinen-, Woll- und Baumwollen-, sowie der Zigarrenhansindustrie im
Bezirk der Handelskammer von Osnabrück werden als nicht ungünstig an¬
gegeben. Ein sehr düsteres Bild entwirft aber der auf ein großes Zahlen¬
material gestützte und durchaus objektiv gehaltene schlesische Bericht. Dieser hebt
zunächst hervor, daß in den neunzehn schlesischen Kreisen, die die Hauptsitze der
schlesischen Hausarbciter siud, auf tausend Bewohner jährlich 29,8 Sterbefälle
zu rechnen sind, während die entsprechenden Zahlen für den preußischen Staat
25,2 und für ganz Schlesien 28,9 sind. Wenn nun auch andre Ursachen mit¬
wirken mögen, so ist doch durch alle statistischen Erhebungen, insbesondre die
der Epidemien bestätigt, daß Armut der Hauptgrund der erhöhten Sterblichkeit ist.
Noch mehr als die Sterblichkeitsziffer im allgemeinen giebt die der ehe¬
lichen Kinder einen sichern Anhaltepunkt zur Beurteilung der sozialen Lage
einer Bevölkerung. Da, wie Freiherr von Firth in seiner Abhandlung über
die Zeit der Geburten und die Sterblichkeit der Kinder während des ersten
Lebensjahres im preußischen Staat (Zeitschrift des königl. preußischen statistischen
Bureaus 1885>) mit Recht betont, die Liebe der Eltern zu ihren Kindern
überall vorhanden ist und nach Maßgabe der verfügbaren Mittel ihr Be¬
streben darauf richtet, das Leben ihrer Kinder zu erhalten, fo ist, wenn die
Erfolge der Kinderpflege so ungleich sind, kein andrer Schlich möglich, als
daß die wirtschaftliche Fähigkeit dem guten Willen nachsteht. Daher ist
es in hohem Grade bezeichnend, wenn wir aus dem Bericht erfahren, daß
in den neunzehn schlesischen hausindustriellen Kreisen die Totgebnrtsziffer und
die Säuglingssterblichkeit ehelicher Kinder außerordentlich hoch ist. Ja; wie
der Bericht besonders hervorhebt, in den hausindustriellen Kreisen Landshut,
Hirschberg, Löwenberg, Waldenburg und Lauban ist die Sterblichkeit der ehe¬
lichen Kinder im ersten Lebensjahre die höchste, die im preußischen Staate
überhaupt beobachtet worden ist. Diese Thatsache läßt ahnen, wie groß der
soziale Notstand eines beträchtlichen Teiles der deutschen Hausarbeiter (Schlesien
steht hinsichtlich ihrer Zahl in Preußen nur der Rheinprovinz nach), wie tief
ihr soin1g.ra ok ins gesunken sein muß, sie bestätigt die alte, durch die sozialen
Untersuchungen Englands zuerst gemachte Erfahrung, daß die industrielle
Thätigkeit der verheirateten Frau die Kindersterblichkeit erhöht. Die Fabrik¬
arbeitersfrau findet jetzt immerhin einigen Schutz an der Bestimmung der Ge¬
werbeordnung, die die Fabrikbeschäftigung der Wöchnerinnen drei Wochen lang
verbietet, und deren praktische Durchführbarkeit wesentlich erleichtert ist, feit das
Krankenversichcrungsgesetz diesen Wöchnerinnen während derselben Zeit einen
Rechtsanspruch auf die Hälfte des ortsüblichen Tagelvhnes gegeben hat. Die
hausindustriell beschäftigte Mutter entbehrt noch immer dieser Fürsorge des
Gesetzes, denn wenn auch das Krankenversicherungsgesctz die Ansdehmmg ans
die Hausiudustriellen, so weit sie daS Rohmaterial und die Hilfsstoffe von
dem Unternehmer geliefert erhalten, zuläßt, so ist erstens, so viel bekannt ge¬
worden ist, von dieser Erlaubnis in größerem Umfange nur im Regierungs¬
bezirk Düsseldorf Gebrauch gemacht worden, anderseits umfaßt sie, selbst wenn
es geschieht, doch eben nur einen Teil der in der Hausindustrie ihren Erwerb
suchenden Bevölkerung. Auch in diesem Punkte erscheint demnach eine Aus¬
dehnung der Arbeiterschutzgesetzgebung besonders dringlich. Die Schwierigkeit
der hierzu erforderlichen Abgrenzung der familienwirtschaftlichen von der haus-
industrielleu Thätigkeit der verheirateten Frau ist nicht gering; doch muß sie
überwunden werden, um auch in der Hausindustrie die Gesetzgebung einen
kleinen Schritt weiter zu führen zu dem hohen, leider noch weit entfernten
Ziele einer Umgestaltung der Erwerbsverhältnisse dahin, daß es möglich wird,
die industrielle Arbeit der verheirateten Fran überhaupt zu beseitigen, die
Finn ausschließlich in der Familienwirtschaft zu beschäftigen und damit dem
Familienleben und dem Familienfrieden materielle wie ideale Werte schaffen zu
lassen.
Bei einer solchen Sachlage noch immer davon sprechen, daß die Haus¬
industrie für die arbeitenden Klassen die günstigste Betriebsfvrm sei, heißt ein
geträumtes Ideal nicht aufgeben können. Mögen im einzelnen mancherlei
Bordelle vorhanden sein, die sich auf den größern Fninilienzusnnnuenhang
zurückführen lassen, und sie sind es gewiß, so ist doch so viel durch die Berichte
aufs neue klar geworden: die Hausindustrie weist heute viel Schatten und
wenig Licht auf, und die größere Gewähr für Lebe» und Gesundheit findet
der Einzelne zur Zeit nicht mehr in ihr, sondern in der fabrikiudustriellen
Thätigkeit. Marx sagt einmal auf Grund englischer Erfahrungen in seinem
Hauptwerk über das Kapital: „Die moderne Hausindustrie hat mit der alt-
modischen, die uilabhüngiges städtisches Handwerk, selbständige Bauernwirt¬
schaft und vor allem ein Hans der Arbeiterfamilie voraussetzt, nichts gemein
als den Namen. Sie ist jetzt verwandelt in das auswärtige Departement der
Fabrik, der Manufaktur oder des Wareumagazius. Neben den Fabrikarbeitern,
Mannfakturarbeitern und Handwerkern, die es in großen Massen räumlich
konzentrirt und direkt kommandirt, bewegt das Kapital dnrch unsichtbare Fäden
eine andre Armee in den großen Städten und über das flache Land zer¬
streuter Hausarbciter." Dein ist vom Standpunkte sozialer Betrachtung, ohne
die gewerblichen und technischen Unterschiede zu verkennen, durchaus beizu-
treten. Unsre heutige Hausindustrie ist mit wenigen Ausnahmen nichts
andres als ein auswärtiger Herrschaftsbezirk des industriellen Großkapitals,
überdies ein Bezirk, worin noch das freie Spiel der wirtschaftlichen Kräfte
herrscht, das, des mächtigen Beistandes der fabrikindustriellen Bevölkerung,
der Arbeiterschutzgesetzgebung, entbehrend, sich in einer äußerst ungünstigen
wirtschaftlichen Lage befindet. Der Bericht über Schlesien behauptet sogar
alles Ernstes, daß die Lebenshaltung der schlesischen Hausarbeiter wesentlich
schlechter sei als die der Strafgefangenen. Der Sträfling empfange iustruktions-
mäßig wöchentlich zweimal Fleisch, mindestens zweimal täglich warme und
reichliche Speise, könne sich bei gutem Wetter eine halbe bis eine Stunde
täglich im Grünen oder doch in freier Luft ergehen, schlafe in geräumigen,
gut gelüfteten Gelassen, dürfe nur acht bis zwölf Stunden und bei Leibe nicht
mit Arbeiten, die der Gesundheit schädlich sind, beschäftigt werden. Von alle-
dem sei in der Hausindustrie nicht die Rede.
Durch Selbsthilfe wird sich die deutsche Hausindustrie kein besseres Dasein
erringen können oder doch nur in einzelnen besondern Fällen; es fehlt ihr an
der Grundvoraussetzung des gedeihlichen Wirkens einer industriellen Genossen¬
schaft, deu Geldmitteln, denn wer Gewinn erlangen will, muß auch Verlust
zu tragen imstande sein. Hilfe in ihrer bedrängten Lage hat sie lediglich vom
Staate zu erwarten. Erstens muß man eine sinngemäße Ausdehnung der
gesamten bestehenden Arbeiterversicherungs- und Gewerbeschntzgesetzgebung auf
die Hallsindustriellen ohne Ausnahme befürworten, ein Unternehmen, das aller¬
dings bei den großen Verschiedenheiten, die unter ihnen herrschen, die größte
Behutsamkeit erfordert, und deren Ziel sich voraussichtlich nur durch allmäh¬
liches Vorgehen nach einzelnen Richtungen wird erreichen lassen.
Anderseits wird der Staat dnrch Gründung zahlreicher Fachschulen und
gesetzlichen Zwang zu ihrem Besuch in deu Zweigen, die größere Geschicklichkeit
und höhern Geschmack erfordern, die Lage der HnuSarbeiter verbessern können.
Er würde ihnen hierdurch technisch geschulte Hilfskräfte zuführen und durch
eine solidere gewerbliche Vorbildung sie zu besseren, insbesondre kunstgewerb¬
lichen Arbeiten und damit zur Erlangung eines höhern Arbeitsverdienstes
befähigen. So lange die hnnsiudustrielle Jugend möglichst wenig gewerbliche
Ausbildung erhält, um möglichst rasch etwas für die Familie zu verdienen,
ist es unmöglich, ihre Leistungsfähigkeit zu heben und eine erfolgreichere.Kon¬
kurrenz mit der Maschine zu ermöglichen. Die Verwirklichung dieser Refvrm-
gedanken würde ein ebenso herzhafter wie segensreicher Schritt ans der Bahn
einer gesunden Sozialpolitik sein.
Trotz mancherlei im Vorstehenden zum Teil angedeuteter Mängel erfüllt
auch der vorliegende Band von Einzelberichten seinen Zweck in würdiger Weise,
die auf Dank gerechten Anspruch hat. Ein Muster einer sozialen Untersuchung
hat Dr. Gustav Lange, soviel uns bekannt, Hilfsarbeiter am königlichen stati¬
stischen Bureau in Berlin, durch seinen Bericht über die schlesische Hausindustrie
geliefert. Seine ebenso gründliche wie geschmackvolle Darstellung verbindet mit
einer Fülle von Anregung einen gewissen ästhetischen Reiz und gewährt einen
hohen wissenschaftlichen Genuß.
v HMM
VVWUMcum Lessing heute von den Toten auferstünde, so würde er mit
Befriedigung wahrnehmen, daß seine Dramen und kritischen
Schriften noch immer als Muster gelten und das Studium der
besten Köpfe bilden; aber zugleich würde es ihn schmerzlich be¬
fremden, daß der Teil seiner schriftstellerischen Thätigkeit, der
die Befreiung der deutschen Litteratur von fremdländischen Einflüssen erstrebte,
zur Zeit so wenig seine nachwirkende Kraft ausübt.
Drama und Roman — um von der durch allgemeine Teilnahmlosig¬
keit hinsiechenden Lyrik zu schweigen — werden mehr denn je von auslän¬
dischen Einflüssen beherrscht. Französische Theaterstücke feiern trotz ihrer
nachgerade auch verbrauchten Motive infolge ihrer Bühnenwirksamkeit noch
immer auf deutscheu Theatern Triumphe, und wenn auch Ibsen wegen des
Inhalts seiner Dramen bisher zu keiner das Repertoire beherrschenden Stel¬
lung gelangt ist, so wird er doch viel gelesen, und sein Einfluß auf die neueste
deutsche Produktion ist unverkennbar. Noch auffallender ist die Abhängigkeit
von fremden Mustern auf dem Gebiete des Romans. Zola und die russischen
Novellisten beherrschen das Feld; in Zeitschriften und Zeitungen liest man
eingehende Besprechungen einzelner Werke, ganze Essays über ihr Leben, ihren
Entwicklungsgang, ihr litterarisches Wirken mit einer Ausführlichkeit, wie sie
deutschen Autoren bei uns nnr selten, in ausländischen Zeitschriften wahr¬
scheinlich nie zu Teil wird.
Diese Bevorzugung des Fremdländischen führt die heimischem Schriftsteller,
soweit sie nicht bereits eine feste Stellung von bestimmtem Gepräge einnehmen,
irre, und selbst bei stärker» Talenten kann man ein unsicheres Tasten wahr¬
nehmen. Der Erfolg ist ein verlockender Wegweiser, von dem sich viele leiten
lassen, aber er zeigt nicht immer die richtige Bahn. Gerade die Muster von
eigenartigem Charakter werden in Nachahmungen am leichtesten wiedererkannt,
und die Entdeckung dieser geistigen Vaterschaft ist von keinem Segen für die,
die in solcher Abhängigkeit Lorberen zu erringen hoffen. Zu durchschlagenden
Erfolge bringen es die Werke nach berühmten Mustern niemals, und so ist
die Klage über die Vernachlässigung einheimischer Leistungen wenn mich be¬
gründet, doch nicht unerklärlich und vor allem uicht ungerechtfertigt.
Das Interesse der gebildeten Leser auch an den Werken jener berühmten
Ausländer ist im allgemeinen nicht so groß, wie man annimmt, vor allem ist
es keins, das auf reinem Kunstgenuß beruht. Die pessimistische Grundstim-
mung ohne eine Spur mildernden Humors ermüdet den Leser, und der
kritischere Kopf bemerkt zugleich, daß in diesem einseitigen Hervorheben der
Schattenseiten des Lebens mindestens ebenso viel Unwahrheit liegt, als in jenen
idealisirenden Schilderungen, mit denen die Anhänger der naturalistischem Richtung
gründlich aufgeräumt zu haben meinen. Auch die wüste Häufung von Verbrechen,
Lastern und Elend ergiebt ein falsches Bild des menschlichen Daseins. Selbst
auf das armseligste Leben fallen einige Sonnenstrahlen, wie Dickens in seineu
meisterhaften Schilderungen menschlichen Jammers gezeigt hat. Diese Licht¬
seiten zu suchen und zur Geltung zu bringen, ist Aufgabe des Dichters. Das
vergessen jene leidenschaftlichen Vertreter des naturalistischen Prinzips. Ihnen
ist das Häßliche und Brutale das hauptsächliche, oft das alleinige Objekt der
Darstellung. Aber Unwahrheit bleibt Unwahrheit, mag sie nun in Schön¬
färberei oder in Schwarzmalerei bestehen.
Wer sich auf die Teilnahme beruft, die namentlich russische Schriftsteller
mit ihren Schilderungen fauler Zustünde und menschlicher Verkommenheit ge¬
funden haben, der übersieht, daß in den meisten Werken das ethnographisch
Interessante das dichterisch Bedeutende und sozusagen allgemein Menschliche
überwiegt. Aber der Reiz des Fremdartigen verblaßt durch die Wiederholung,
und so kommt es, daß Novellen, wie Turgenjews „Frühliugswogen," „Eine
Unglückliche" u. a. einen tiefern und nachhaltigem Entbruck machen, als jene
hochberühmten, spezifisch russischen Erzählungen, wie ,,Dunst" und „Väter
und Sohne." Kein Wunder. Die letzten, sind ebenso wie die meisten Werke
Dostojewskis, Tolstois und andrer lediglich für die russische Nation, zum Teil
in belehrender Absicht geschrieben und besitzen jene rein dichterischen Vorzüge
nicht, die sie zum Gemeingut der Gebildeten aller Nationen machen könnten.
Die Unterschätzung der ethnographischen Seite ist die Klippe für die
deutschen Nachahmer. Sie malen düstre Bilder auf allbekannten Hintergrunde,
selten mit annähernd gleicher Energie in der Entwicklung psychologischer Pro¬
bleme, zum Glück auch meist ohne den Mut, ihre Vorbilder in der Schilde¬
rung gewagter oder gar schmutziger Szenen nachzuahmen. Sie vertreten einen
gemilderten, von vornherein lebensunfähigen Naturalismus.
Aber auch jener starke, auf is ooeliou llmrmin berechnete Naturalismus
neigt sich seinem Ende zu. In Frankreich macht sich gegen Zola bereits eine
kräftige litterarische Gegenströmung geltend, und was noch mehr ins Gewicht
sällt, er selbst scheint an der Grenze seines dichterischen Vermögens angelangt
zu sein. Wenigstens zeigen seine letzten Werke, abgesehen von einer gewissen
Unerschöpflichkeit in der Erfindung brutaler Situationen, keine neuen Seiten
seines Talents. Wer daher aus dem großen äußern Erfolge, den er in seiner
Heimat noch immer verzeichnen kann, sowie aus dein Umstände, daß sein Name
auch bei uns viel genannt wird, den Schluß zieht, daß auch in deutschen
Landen mit dieser Richtung „etwas zu machen sei," befindet sich in arger
Täuschung, schon deshalb, weil die Zahl seiner Leser bei uns viel geringer
ist, als man glaubt. Die Gebildeten aber, die ihn gelesen haben, haben trotz
aller Anerkennung seines starken Talents aus seinen Werken mehr Ekel und
leider auch Langeweile, als Genuß geschöpft.
Auf dramatischem Gebiete find weniger die Franzosen als Ibsen das
Licht, dem sich die aufsprießenden Talente zuwenden. Da jene von den Bühnen
ungleich mehr berücksichtigt werden, so erklärt sich diese — fast möchte man
sagen — unpraktische Vorliebe für Ibsen aus dem Umstände, daß er ein ori¬
ginelleres und kraftvolleres Talent ist als jene. Er hat wie Zola, Dostojewski
und Tolstoi jenen fanatischen Zug, der nicht bloß ans politischem und religiösem,
sondern auch auf ästhetischem Gebiete Anhänger wirbt und Gemeinden stiftet.
Was von Verschrobenheit und Eigensinn beigemischt ist, stoßt nicht ab; die
Jugend hält die eine für Originalität, den andern für „zielbewußte" Zähigkeit,
die allein den Erfolg sichert. Aber Ibsen besitzt noch einen andern Anziehungs¬
punkt, seine technische Meisterschaft. Von den offenbar nicht für die Aufführung
berechneten Stücken sehe ich selbstverständlich ab. Aber die späteren mag
ihr Inhalt auch oft unerquicklich oder geradezu abstoßend, der Schluß nicht
selten unklar sein — offenbaren eine große Sicherheit in der Charakteristik und
eine seltene Kunst in der dramatischen Entwicklung. „Nosmershvlm" ist in
dieser Hinsicht eine bewunderungswürdige Leistung.
Daß jüngere Schriftsteller sehr viel von Ibsen lernen können, ist uicht
zweifelhaft; fraglich dagegen ist es, ob sie anch seiner dichterischen Tendenz
folgen sollen. Die Ansichten über den Zweck der Bühne gehen aus einander.
Während die nun noch immer eine moralische Anstalt in ihr erblicken, sehen
die andern in ihr nnr eine Stätte der Erholung, der Unterhaltung, des
ästhetischen Genusses. Hätten die erster,. Recht, dann dürfte Ibsen trotz seiner
mehrfach recht bedenklichen Streifzüge auf die heikelsten Gebiete noch eine große
Bühueuzukunft haben, und jene Miseredramen, deren Stoffe halb den Er¬
fahrungen der Kriminalpolizei, halb denen der Vereine für innere Mission ent¬
lehnt sind, könnten in nicht allzuferner Zeit als die echtesten Kunstwerke gelten.
Aber Hebbel, in gewissem Sinne der Vorläufer Ibsens, hat bis zum heutigen
Tage noch nicht festen Fuß auf der Bühne gefaßt, und wenn man ans dem
Schicksal, das die Pflegekinder der Freien Bühne gehabt haben, einen Schluß
ziehe,, darf, so hat diese Gattung von Dramen vorläufig wenig Aussicht, in
die Mode zu kommen. Ehe sich das Publikum mit Stücken wie Björnsons
„Handschuh," Strindbergs „Vater," Tolstois „Macht der Finsternis" und ähn¬
liche», teilweise noch unerquicklicheren und nndramcitischeren Produkten be¬
freundet, wird es sich lieber „och jahrelang verbrauchte Motive und Charaktere
von bewahrten Alter gefallen lassen. Noch weniger als im Roman hat in,
Drama der Naturalismus Aussicht, bei uns zu allgemeiner Geltung zu gelangen.
Hullmui mittit g, ins g,1i(?um, puto ist zwar ein trefflicher Ausspruch,
aber der Dichter, insbesondre der dramatische, soll sich hüten, ihn zur Devise
zu wählen. Soll schlechterdings nur noch der Realismus berechtigt sein, so
giebt es auch im alltäglichen Leben Konflikte, Mißbräuche und Thorheiten
genug, die dankbare Stoffe für Komödien und ernste Stücke abgeben, und der
Dramatiker hat, um interessant zu sein, zu rühren und zu erschüttern, nicht
nötig, auf seine ans klinischen Berichten oder Schwurgerichtssitzungen ge¬
sammelten Kenntnisse zuriickzugreifeu.
Eine Schar jüngerer Schriftsteller, die uns glauben machen will, daß Goethe
und Schiller veraltete Vorbilder seien und auf der Bühne nur langweilten, die
sich gebärdet, als ob sie mit einigen energischen Sprüngen den Parnaß er¬
stürmen könnte, bisher aber ebenso wortreich als thatenarm geblieben ist, steht
im wesentlichen unter französischem, norwegischen und russischem Einfluß.
Wollen diese selbstbewußten Pfadfinder aus dem Bezirk des ihnen verhaßten
Epigonentums heraus einen Weg zeigen, so dürfen sie selbst nicht ans der
bereits stark befahrenen Hauptstraße hinter fremde,, Herrschern als Trabanten
einherziehen. Der Ausspruch Bei, Alldas, ans künstlerischen, Gebiet an sich
bedenklich, wirkt geradezu vernichtend, wenn er mit einer kleinen Abänderung
lautet: „Alles eben erst dagewesen, und zwar weit wirksamer!" Sie mögen
immerhin von ihren Meistern lernen, was des Lernens wert ist, aber das
eine nicht vergessen, daß die Fähigkeit, die platte Wirklichkeit abzuschreiben,
noch lange keinen Dichter macht. Jenes Goethische Wort, demzufolge das
Menschenleben, wo mans packt, interessant ist, hat seine Grenzen. Wo die
Musen das Geleit versage«, da löst den Dichter der Berichterstatter ab.
es dachte schon stark an die Abreise von Kragebjerg, als der
Diener — Blau hielt natürlich Diener! — eines Tages mit
einem Briefe hereinkam und im Namen der Post fragte, ob viel¬
leicht jemand hier auf den: Gut wohne, wie die Adresse besagte;
unten im Dorfe kenne man niemand dieses Namens.
Fräulein Edda Lange, Östbäck, las Blau. Nein, ich habe kein Fräulein
hier auf dem Gute.
Aber was ist das! rief ich aus, nachdem ich ihm über die Schulter ge¬
sehen hatte. Hier steht jn Östbäck mit et! Und es ist eine Achtschillingmarke
auf dem Briefe, da ist er ja für Schweden bestimmt!
Du hast Recht! rief Blau eifrig. Es giebt also auch ein Östbäk in
Schweden, vermutlich in Schonen! Dann ist es natürlich dieses Östbük,
das gemeint ist!
Ja, das sagte ich ja eben. Der Brief ist für Schweden.
Ach, glaubst du, ich kehre mich an den Brief? Nein, I"rg,M ug-tMis!
Das Exemplar ist natürlich von Schonen! Ja, sage der Post, daß ich den
Brief besorgen würde, Ricks, und laß den Jagdwagen anspannen, aber sofort!
Was nun? fragte ich, als der Diener glücklich zur Thür hinaus war.
Ich muß Gewißheit haben, antwortete er, und kaum waren wir in Silke¬
borg ans dem Wagen gestiegen, als er hinaus ins Telegraphenbürean stürmte und
an einen zuverlässigen Bekannten in Kopenhagen telegraphirte: Giebt es in
Schonen oder in Südschweden irgend ein Östbäck und wo? Antwort bezahlt.
Noch an demselben Abend bekam er folgendes Telegramm: Östbäck, großes
Gut in Schonen. Nächste Poststation Nuntorp, zwei Meilen von Lund.
Nun kann ich den Brief an Fräulein Edda Langes richtige Adresse ge¬
langen lassen! sagte er, als wir zurückgekommen waren, und fügte sogleich das
Fehlende hinzu.
Deshalb hast du dir alle diese Mühe gemacht? fragte ich lächelnd.
Nein, ehrlich gesprochen — du kennst mich ja! Nun glaube ich wieder
an meine "l'rg,M, und will man zum Ziele gelangen, so darf man nicht auf
halbem Wege stehen bleiben.
Du willst also wirklich —
Iramr in Schweden suchen, natürlich!
Du glaubst also, daß sie gleich dem Geschlechte der Blaus noch in
Schweden blühe!
Es würde mich jedenfalls nicht wundern, antwortete er mit Überzeugung.
Am nächste» Morgen reisten wir von Kragebjerg ab, er nach Schweden,
ich nach .Kopenhagen.
Ans der Poststation Nnntorp angekommen, suchte Blau den nahegelegenen
Gasthof ans, mietete sich für unbestimmte Zeit in dem besten Zimmer ein und
nahm sogleich eine vorläufige Rekognoszirung der Umgegend vor. Das Er¬
gebnis davon sowie von den eingeholtem Erklärungen der Eingebornen war,
daß das große und alte Hauptgut Östbcick, das eine Viertelmeile davon lag,
einem Freiherrn Lejonfors gehöre, der sich in Stockholm aufhalte, daß es aber
um einen dänischen Lnndsmann Namens Nedsted verpachtet sei. In der Nähe
des Gutes lag ein größerer See mit Unterholz um den Ufern, und hier begann
er nun auf die gewohnte Weise seine Nachforschungen.
Er hatte das schon mehrere Tage hindurch getrieben, als eines Abends ein
älterer, aber noch schlanker und stattlicher Mann in den Gnsthos kam und ohne
weitere Einleitung auf gut Dänisch: Guten Abend, Herr Blau! zu ihm sagte.
Blau dankte natürlich und wollte eben fragen, woher ihn der Fremde
kenne, als dieser, der wohl erraten mochte, was er fragen wollte, ihm zuvor¬
kam und sagte: Sie werden es begreiflich finden, daß es sofort im Umkreise
von einer Meile ruchbar wird, wenn ein Gast im Wirtshaus einkehrt, und
Sie werden verstehen, daß man herauszubekommen sucht, wie der Gast heißt.
Das habe ich gethan, und nun komme ich, um Sie nach Ostbäck zu holen —
ich bin nämlich der Pachter Nedsted.
Blau wollte Einwendungen machen, aber Nedsted schnitt ihm das Wort
ab und fügte hinzu: Wenn man, wie ich, ein alter Witwer ist, der in ziemlich
entlegener Gegend lebt, so ist man nicht geneigt, sich einen Gast unter den
Händen entschlüpfen zu lassen, noch obendrein, wenn es ein Landsmann ist!
Wollen Sie nur gefälligst ihre Sachen zusammenpacken und mitkommen, der
Wagen hält vor der Thür!
Solcher großen und eindringlichen Freundlichkeit gegenüber ließ sich nichts
andres thun als dankend ja zu sagen, und nach einer halben Stunde saß Blau
auf Östbäck.
Jetzt, wo ich Sie unter Dach bekommen habe, müssen Sie mir auch er¬
lauben, zu fragen, weshalb Sie sich hier aufhalten; es gehen nämlich darüber
die niiglanblichsten Gerüchte. Einige behaupten, daß Sie den See untersuchen
wollten, ob sich sein Wasser zu einem oder dem andern mystischen Gebrauch
eigne. Andre schwören darauf, daß Sie nach einem verborgnen Schatz suchten,
den die Dänen während des schottischen Krieges hier versenkt hätten. Daran
glaube ich natürlich nicht, aber irgend etwas muß es doch sein, weshalb Sie
hierher gekommen sind.
Blau erzählte so kurz als möglich, aber doch deutlich, was er suche, und
als er zu Ende war, sagte der Pachter: Was zum Kukuk! Hätten Sie es
uicht selbst erzählt, so würde ich darauf schwören, es seien Lügen! Ich glaubte,
ehrlich gesprochen, daß Sie hier wären, um sich nach einem Gut umzusehen;
ist das der Fall, so ist es jn immer am besten, die Leute wissen nicht, wes¬
halb man unterwegs ist.
Nein, ich habe ein Gut, sagte Blau und erzählte von Kragebjerg.
So, das haben Sie? Dann sind Sie wohl auch verheiratet?
Nein, das bin ich nicht und werde es wohl auch nie sein!
Weshalb nicht?
O, ich weiß es selbst nicht, aber wenn ich mich mit einer jungen Dame
eine Zeit lang unterhalten habe, so kommt es mir immer so vor, als Hütte ich
all mein Pulver verschossen. Wie sollte es mir dann ein ganzes Leben hin¬
durch ergehen! fügte er lachend hinzu.
Aber man unterhält sich doch auch uicht mit seiner Frau wie mit einer
fremden Dame! wandte der Pachter ein.
O doch, entschuldigen Sie, so gewiß ich mich nur mit einer Dame ver¬
heiraten könnte, so gewiß würde ich nie vergessen, daß meine Frau eine
Dame sei!
Das brauchen Sie auch nicht! Finden Sie nur erst eine.
Aber ich bin sehr wühlerisch!
So? Auch wegen des Äußern?
Ja, namentlich darin, was die Meisten Kleinigkeiten nennen. Ich will
Ihnen gestehen, daß, selbst wenn ich eine Dame noch so hübsch funde, doch
ihre Schönheit allen Reiz für mich verlieren würde, wenn ich z. B. sähe, daß
sie große Hände und Füße Hütte. Nein, ich bin zu wählerisch, um mich je
verheiraten zu können!
Ja, es scheint sast so! Aber das ist mir eigentlich sehr angenehm, denn
dann hat es keine Gefahr, Sie im Hause zu haben!
Weshalb?
Wenn man eine Tochter hat, so —
Haben Sie eine Tochter?
Eigentlich eine Nichte. Das einzige Kind meiner verstorbenen Schwester.
Ah, Fräulein Edda Lange?
Kennen Sie sie?
Nein, aber — und nnn erzählte Blau die Geschichte von dein Briefe, der
schuld daran war, daß er herüber gekommen war.
Das ist schnurrig! sagte Redsted. Ja, sie kvnunt erst morgen von einer
Reise zurück. Wollen Sie ihr Zimmer sehen?
Und der Onkel öffnete, nicht ohne einen gewissen Stolz, eine Thür vou
der Wohnstube aus und ließ Blau in ein Zimmer sehen, über das niemand
in Zweifel sein konnte, daß es ein Jungfernbauer war. Schlingpflanzen,
zwischen denen ein paar Vogelnester angebracht waren, bedeckten fast ganz das
eine Fenster, daneben schlief ein Dompfaff auf einem Stäbchen in seinem ver¬
goldeten Bauer. Eine Menge Nippsachen bedeckten einen kleinen eleganten
Schreibtisch, sodaß es fast unmöglich schien, daran zu schreiben, ein großer
Bücherschrank war fast ganz mit Büchern in Prachteinbänden gefüllt, und ein
Flügel stand inmitten des Raumes. Bunte Teppiche bedeckten gleich der Por¬
tiere den Eingang zum Schlafzimmer, eine Ampel im Stil des Empire hing
von der Decke herab — das Ganze machte im starken Gegensatz zu der übrigen
gemütlichen, aber einfachen Ausschmückung des Hauses den bestimmten Eindruck
einer kleinen Welt für sich, wo man gleichsam eine andre Luft atmete und ein
andres Leben führte.
Ihre Pflegetochter spielt? fragte Blau mit einem Blick auf den Flügel.
Ja, und wie! Sie kann alles — warten Sie nur bis morgen, dann
werden Sie sehen!
Der nächste Tag kam, und Fräulein Edda mit ihm. War Blau erst ge¬
neigt gewesen, eine gewöhnliche Dorfschöne mit Wirtschaftsinteressen und roten
Händen zu erwarten, und hatte er später, als er ihr Zimmer gesehen, und
gehört hatte, daß sie zwei Jahre „zur Ausbildung" in Kopenhagen gewesen
war, eine Stadtdame mit Nerven, dünnen Armen und höherer Bildung zu
finden geglaubt, so wurde er in beiden Richtungen angenehm enttäuscht. Wohl
war sie vollkommen 1g,clMl<z und vortrefflich bewandert in der schönen Litte¬
ratur, aber wie ihre ganze gesunde, harmonisch entwickelte Erscheinung darauf
hindeutete, daß sie in freier Luft aufgewachsen war, so war auch ihre Art, zu
denken und sich auszudrücken, so weit wie möglich von Unnatur und Über-
feinernug entfernt.
Nach Verlauf einiger Tage waren sie und Blau wie alte Bekannte; er
hatte ihr sowohl von den alten Blaus, wie von ^raxa ng-iAirs erzählt, und
sie hatte gelächelt und erklärt, daß sie nicht begreifen könne, wie man einer
Pflanze so nachjagen könne, die es vielleicht gar nicht gebe; aber in Wirklich¬
keit hatte sie natürlich, wie jedes andre junge Mädchen, das in jungfräulichen
Träume» und unbewußter Poesie lebt, sich gerade vou dem Ungewöhnlichen
und halb Phantastischen in Blaus Suchen angezogen gefühlt.
Sie ritten weite Strecken zusammen — sie sah niedlich zu Pferd aus —,
und abends spielte und sang sie in ihrem Zimmer, ehe die Lampe in der Wohn-
stube angezündet wurde. War das geschehen, dünn disputirteu sie mit ein¬
ander, denn in der Regel waren sie uneinig, und Blau liebte es auch hier,
seine Paradoxen vorzuführen und leidenschaftlich zu verteidigen. Als sie ihn
dann eines Abends fragte, ob er eine kürzlich herausgekommene Erzählung
gelesen habe, begnügte er sich nicht damit, dies zu verneinen, sondern kam
natürlich sofort mit seinen alten Theorien über Kunst und Poesie zum Vorschein.
Aber meinen Sie nicht, daß man sich nach — nach etwas Romantik
sehnen kaun, nur ein wenig für das Alltägliche hier im Leben? fragte sie.
Gewiß, Fräulein, aber das soll das Lebe» und die Natur selbst bringen.
Hat das Leben Ihnen schon dergleichen geboten?
Ich kann mit ja und mit nein antworten. Es vergeht erstens kaum ein Tag,
wo nicht eins oder das andre draußen in der Natur, großes oder kleines, mich
fesselte und mir eine Freude bereitete, die, wie ich glaube, jedenfalls über der
steht, die Sie z. B. bei einer gemalten Landschaft eines großen Meisters
empfinden.
Aber Poesie oder Romantik, oder wie wir es sonst nennen wollen, bringt
Ihnen das die Wirklichkeit auch?
Ja, das thut sie — sie hat mir Iraxa. gebracht! Ist es nicht gerade so
gut ein Märchen wie so viele andre, daß ich eines schonen Tages zu einem
Antiquar in Kopenhagen komme und dort ein Blatt finde, worauf ein Un¬
bekannter vor mehr als hundert Jahren zwei Zeilen geschrieben hat, die mich
erst nach Falster schicken und mich dadurch vou etwas befreien, das weder
mein noch eines andern Glück geworden wäre, das mir dann ein Gut in herr¬
licher Gegend verschafft und nun schließlich mich hierher in so angenehme
Verhältnisse sührt! Und fühlen Sie nicht, daß selbst die Frage über Trapas
Vorhandensein ihre Poesie hat? Wenn sie sich findet, ist dann nicht etwas
Fesselndes bei dem Gedanken, daß die Blume Menschenalter auf Menschenalter
ihr verborgenes Dasein fortgesetzt hat, und nachdem sie einmal gefunden
worden war, nie wieder einem Menschen vor die Angen gekommen ist, auf
jeden Fall keinem, der sie zu würdigen verstanden hätte! Und ist das Ge¬
schlecht ausgestorben, so hat ja die Frage schon dadurch ihren eignen Reiz.
Glauben Sie, daß Kletten oder Wegebreit aussterben? Nein, ebenso wenig wie
die Familien Hansen oder Imsen, die immerfort blühen. Die aristokratischen
Geschlechter sind es, die aussterben, die feinern Organismen, die nicht im
Besitz von so vieler animalischen oder, in diesem Fall richtiger gesagt, vege¬
tabilischen Lebenskraft sind. Denken Sie sich nur diesen Stoff zu einem Ge¬
dicht — wenn denn durchaus gedichtet sein soll! Die letzte 1"rax^ das einzige
Exemplar des Geschlechts, das zum letztenmal seine weiße Krone entfaltet hat,
setzt eine Frucht an, die nicht keimt, und dann taucht sie ihr Haupt an einem
kalten Herbstabend unter Wasser und sinkt zurück in den ewigen Kreislauf der
Natur. Ist das nicht Poesie oder wenigstens etwas der Art?
Ich leugne das nicht, antwortete Ebbn, die sicherlich ebenso erfüllt war
von dem Sprecher selbst, als von dein, was er sagte; aber wenn Sie nun
Irtt-xg. finden, was dann?
Ja, was dann? — dann habe ich nichts mehr zu suchen, antwortete Blau
lächelnd.
Gar nichts mehr? fragte sie, das wäre ja traurig.
O ja, vielleicht doch! Ich fange an zu glauben, daß das Leben mir ein
neues Gedicht gönnt.
Es entstand eine längere Pause. Edda ging bald darauf zur Ruhe, aber
der Pachter und Blau blieben noch eine Zeit lang sitzen.
Da fällt mir ein, sagte Redstedt plötzlich, einer Ihres Namens muß
früher Östbäck besessen haben; ich erinnere mich, daß der Freiherr davon sprach.
Ist das wahr? rief Blau. Irren Sie sich auch uicht?
Es ist mir ganz so. Aber Sie können ja selbst morgen das Archiv
durchstöbern.
Giebt es hier auf dem Gut ein ordentliches Archiv?
Ordentlich will ich es gerade nicht nennen, denn es liegt alles durch
einander auf der Diele in der linken Turmkammer; aber Dokumente und Bücher
giebt es genug, obgleich vor einigen Jahren ein ganzes Fuder Makulatur nach
Kopenhagen verkauft worden ist.
Ich muß hinauf in die Turmkammer, erklärte Blau, es interessirt mich
außerordentlich!
Aber Sie müssen bis morgen warten.
Das mußte er denn auch, so ungern er es auch that. Aber kaum graute
der Tag, so saß Blau auch schou bis über die Ohren in staubigen Aktenstücken.
Eine flüchtige Untersuchung belehrte ihn jedoch bald darüber, daß sich
aus der Turmkammer kaum irgend ein Veitrag zu der Geschichte seines Ge¬
schlechts würde holen lassen, denn was sich fand, waren fast ausschließlich
alte Rechnungen, Quittungen und dergleichen. Die Dokumente, die ein Inter¬
esse gehabt hatten, mußten offenbar anderswohin gebracht worden sein. Gegen
Mittag kam er vom Archiv herunter und ging zum See hinab, um dort sein
tägliches Suchen fortzusetzen.
Er bog gerade aus dem Unterholz hinaus, als er plötzlich etwas sah,
das ihn mit einem Ruck zum Stehenbleiben zwang. Ein paar hundert Schritte
davon saß Edda auf dem Grasabhcmg um See, im Begriff, Schuhe und
Strümpfe auszuziehen; er erblickte einen feinen weißen Fuß, an dem ein
schwarzer Strumpf herabglitt. Blau wandte sich ab und ging in das Gebüsch
zurück, denn er war selbstverständlich eine zu ritterliche Natur, um eine Dame
in dem Augenblicke zu beobachten, wo sie sich unbeobachtet glaubte. Als er
jedoch ein paar Minuten gewartet hatte, kam ihm plötzlich der Gedanke, daß
sie hinab zum See gegangen sein müsse, um zu suche» — nein, das mußte er
wissen! Und als er sich vorsichtig näherte, sah er Ebbas Kopf zwischen dein
Rohr; sie bewegte sich hin und her, beugte sich beständig nieder, nahm etwas
aus dem Wasser heraus, was sie im nächsten Augenblick wieder wegwarf, kurz,
er konnte nicht länger zweifeln: sie suchte nach seiner Blume!
Halb toll vor Freude stürzte er zurück, streifte ein paar Stunden lang
planlos im Birkenwald herum und — kehrte dann zu der Stelle an: See zurück,
wo sie gesessen hatte. Unten am Ufer, in dem feinen, hellgelben Sande, fanden
sich Spuren des niedlichsten Mädchenfnßes, den man nur sehen konnte; es
waren Spuren, die zum See hinführten, und Spuren, die vom See wegführten,
und in einigen der letztern waren kleine rote Flecken: sie mußte sich den Fuß
verletzt haben — und das um seinetwillen! Er legte sich ins Gras, wo sie
gesessen hatte, und zufällig fiel sein Auge auf etwas, das in einem Gras-
büschel schimmerte; er hob es auf — es war ein dehnbares blanseidnes
Band mit vergoldetem Schlößchen, und so unredlich kann selbst der ehrlichste
Mann werden, daß Blau sofort beschloß, vorläufig das Band nicht zurück¬
zugeben!
Zur Mittagszeit trafen sich beide, Nedsted war noch nicht da.
Ich habe etwas für Sie, sagte Edda, etwas, was ich gefunden habe, und
ich möchte Sie fragen, was es ist. Ich ging am Bormittag einen weiten
Weg, erst den See entlang ^ sie errötete leicht und sah nieder, und er that
merkwürdigerweise dasselbe — und dann uach Hause über Svartmyr, das
schwarze Moor, wie Sie wissen. Dort waren Leute beschäftigt, Torf zu stechen,
und in der Torfmasse sah ich einige wunderbare schwarze Kugeln mit so etwas
wie Hörnern darauf. Sehen Sie her, ich habe einige mitgebracht!
Blau hatte kaum einige der „schwarzen Kugeln" in der Hand, als er
ausrief: Samen von IrÄxg. imtML, der Hornuuß! So lebt sie also doch!
Nein, leider nicht, antwortete sie, ans jeden Fall nicht dort, denn Svartmhr
ist ganz trocken.
Svartmhr, rief Blau. Ja, natürlich! Das ist das Wort, das ich nicht
deuten konnte, und das wir für Schwärzemoor lasen, oder Gott weiß
für was!
Blau eilte hinauf auf sein Zimmer und kam einen Angenblick darauf
mit dem alten, abgerissenen Blatt zurück, auf das die Pflanze geklebt war.
So stammt dieses Exemplar also doch von hier! sagte er. Ich bin mir
zu spät gekommen, um es pflücken zu können, und muß mich damit begnügen,
seine Spur zu finden — oder richtiger gesagt, Sie sind es, Fräulein, die die
Leiche meiner Blume gefunden hat!
Aber dieses Blatt, sagte sie mit leicht zitternder Stimme — stammt es
hier von Gute, so muß es damals weggekommen sein, als der Baron das
viele Papier oben aus der Turmkammer verkaufte, und es scheint mir auch,
ich kann erkennen — ja, nun erinnere ich mich bestimmt —
Sie eilte hinein in ihr Zimmer, er hörte, daß ein Stich! umgeworfen und
ein .Kasten herausgezogen wurde, und ein paar Sekunden später kam sie mit
einem andern gelben Blatt zurück.
An dem Tage, wo die Papiere nach dem Wagen gebracht wurden, der
nach Mellins fahren sollte, sagte sie, sah ich einen Bogen, worauf Wappen und
Schnörkel gezeichnet waren. Ich war nur halb erwachsen damals und wollte
gern das Blatt mit den bunten Farben haben; deshalb riß ich die Hülste des
Bogens, die, worauf gemalt war, ab und bewahrte sie auf — hier ist sie!
Ja, die Stücken passen zusammen, sagte er und betrachtete das Papier
genau. Sie und ich, wir haben jeder die Hülste gehabt.
Das haben wir! antwortete sie und versuchte zu lächeln. Nun haben Sie
ja Ihre Blume gefunden und — haben nichts mehr zu suchen! Sie wandte
sich halb von ihm ab.
Doch, Fräulein, Sie erinnern sich wohl, ich sagte, daß ich zu glauben an¬
finge, daß das Leben noch einmal für mich dichten würde — und mir scheint,
es ist auf dem besten Wege dazu ! Haben Sie gesehen, was auf dem Teile
des alten Blattes steht, den Sie mir in die Hände gegeben haben? Da find
ein paar alte Wappen gemalt, darunter das Wappen des Geschlechts, von dem
ich abzustammen glaube: ein in Blau und Silber geteiltes Schild, im silbernen
Felde zwei blaue Balken. Aber da steht noch mehr, wenn Sie sehen wollen:
hier bei den alten Besitzern von Östbäck steht bemerkt, daß am 3. September
^rav voinmi 1527 Herr Heimer Blau unverheiratet, als der kelte seines
Geschlechts, gestorben ist. Sehen Sie es?
Ja leider, antwortete sie, es scheint fast, daß ich dazu bestimmt sei, all
Ihre Illusionen zu vernichten, indem ich Ihnen Gewißheit über das Aussterben
alter Geschlechter bringe: erst IraM, und nun Blau —
Nein, Fräulein Edda, Sie haben nur den Schluß für eine Geschichte ge¬
liefert, oder vielleicht für zwei — und ein Schluß muß doch sein! Ich habe
jedoch deu Glauben, daß meine eigentliche Geschichte jetzt erst beginnt: bin ich
nicht der letzte meines Geschlechts, so bin ich doch der letzte meines Namens,
aber wollen Sie wie ich, so soll nicht von Otus Blau geschrieben werden, daß
er als Junggesell gestorben sei!
Was Fräulein Edda antwortete, weiß man nicht genan, aber zu Tische
trank der Onkel das Wohl der Verlobten. Am Abend neckte er Blau, der bei
seiner Ankunft so bestimmt erklärt hatte, daß er sich kaum jemals verheiraten
würde, und fragte ihn heimlich, ob er sich auch vergewissert habe, daß seine
Nichte kleine Füße habe. Blau lächelte und antwortete nichts, aber er ging
mich einer Fenstervertiefung, gab Fräulein Edda einen kleinen Gegenstand, den
der Onkel nicht sehen konnte, und sagte nur: Avril^ soit ani mal xenss!
Hiermit endigt eigentlich die Geschichte vo» Otus Blau und l'ax-t nsttms,
aber der Vollständigkeit wegen will ich doch noch etwas hinzufügen.
Zwei Monate nach der hier erzählten Begebenheit war ich zur Hochzeit
in Östbäck, und nächstes Jahr stand ich auf Krngebjerg Gevatter bei einem
Sohn, der in der Taufe den Namen Heimer Nedsted Blan empfing; ich schlug
vor, daß der Junge gleichzeitig 'I'i'n^>. heißen sollte, aber davon wollte der
Vater doch nichts wissen. Im ganzen hatte es den Anschein, als ob sich das
Interesse für 'Irupg, bedeutend abgekühlt hätte. Dennoch freute es ihn natürlich,
davon zu hören, als der fossile Samen der Hornnnß nach einigen Jahre in ein
paar Sümpfen der Insel Laaland gefunden wurde, und da die Pflanze wirklich
später in einigen südschwedischen Seen wachsend vorkam, so bestärkte ihn dies
in der Hoffnung, daß er auch uoch einen Olufsen finden würde, der eigentlich
ein Blau war und von dem sein Urgroßvater abstammte.
Otus Blau war ein glücklicher Mann — nur zu glücklich, sagte er selbst,
als ich ihn das letztemal besuchte. Er vergötterte seine Frau, die ihn ihrer¬
seits als Entgelt dafür im Großen wie im Kleinen bewunderte, und er war
unendlich stolz auf seinen Stammhalter. Ich habe Edda gefunden, sagte er,
und einem Sohne das Leben gegeben — nun habe ich eigentlich nichts mehr
zu thun, wie mir scheint!
Aber eine Mission hatte er doch noch. Der Krieg brach aus. Blan hatte
nie zu denen gehört, die große Worte über Vaterland und Patriotismus machen,
und das that er auch jetzt nicht; aber ich bin überzeugt, daß er sich als eine
Art Vasall betrachtete, dessen Pflicht es sei, sich unter die Fahne zu stellen,
wenn der Lehnsherr waffeutüchtige Mannschaft aufbietet. An einem kalten
Wintermvrgen ritt er von Kragebjerg fort, nachdem er Abschied von Frau und
Kind genommen hatte, wie es sich für einen mannhaften Ritter geziemt, der ins
Feld geht, meldete sich bei seinein alten Regiment und fiel während einer
Rervguoszirnug südlich von Danevirke.
Wenn in jüngster Zeit bei
Gelegenheit des deutsch-englischen Abkommens über Afrika von vielen Seiten der
größte Wert ans Englands Freundschaft gelegt wordeu ist, so muß es für uns
wichtig sein, die heute jenseits des Kanals über deutsche Verhältnisse herrschende
Stimmung kennen zu lernen. Diese geht nun Wohl am deutlichsten ans einem
soeben veröffentlichten Artikel der (Znartorl^ Ksvlov, einer der angesehensten eng¬
lischen Monatsschriften, hervor; freilich ist das Ergebnis ganz anders, als die, die
von englischer Freundschaft .träumen, vielleicht voraussetzen: alles in ihm spricht
die bitterste Feindschaft gegen den Gang der deutscheu Politik aus, den Fürst Bis-
marck vorgezeichnet hatte, und in dem sie sich im großen und ganzen weiter bewegt
und weiter bewegen muß. Gerade der Umstand giebt dabei besonders zu denken,
daß der Artikel kurze Zeit nach Abschluß eines Vertrages erscheint, von dem die
Engländer selbst zugestehen, daß er ihnen außerordentlich nützlich ist — was hätte
Deutschland erst von der öffentlichen Meinung des Landes zu erwarten, wenn es
einen Erfolg gegen England in seiner Geschichte zu verzeichnen hätte?
In der Form — aber eben auch nur in der Form — ist der Artikel eine
Widerlegung der Freytagschen Erinnerungsblätter und eine Darlegung der Ansicht
des Verfassers über Charakter und politische Anschauungen des verstorbenen
Kaisers Friedrich, dem selbst und dessen Familie sehr nahe gestanden zu haben
er zwar nicht ausdrücklich versichert, aber doch mit genügender Deutlichkeit
zwischen den Zeilen lesen läßt — ein Umstand, der durch die Mitteilungen über
den Kaiser nicht gerade an Wahrscheinlichkeit gewinnt, aber bei dem Durchschnitts¬
engländer so naturnotwendig ist, wie die Dntirung möglichst vieler Briefe ans
Windsor-Castle bei dem großen Geschichtschreiber war, der sich als Gast der
Königin dadurch — selbst in England — unsterblicher Lächerlichkeit aussetzte.
Der Grundgedanke der gesamten Darlegung liegt in dem Satze: „Sein staats¬
männischer Blick (des Kronprinzen) zeigte ihm schon vor dem französischen Kriege,
in welcher Richtung sich die innern Angelegenheiten rasch weiter entwickelten. Er
wünschte den Kampf der Interessen zu vermeiden, den seiner Ansicht nach die
innere Politik des Kanzlers beschleunigen mußte und notwendig werden ließ. Wäre
sein Rat vor zwanzig Jahren angenommen worden, so wäre möglicherweise der
jetzige Kaiser nicht dazu gezwungen worden, entweder durch militärische Zwnngs-
maßregeln zu regieren oder sich als irdische Vorsehung hinzustellen (<zittre;r (>t
AVVMIUNA l),y- uMtkU7 la«) or ok i'vsruA as an SiurÄilz^ ?r»v1äsnvv).
Den Gipfel boshafter Entstellung erreicht der Verfasser, wenn er auseinander¬
setzt, die gesamte innere Politik Deutschlands sei von dem damaligen Kronprinzen
als reaktionäre Unterdrückung (rvxrossivv anni rouvtiouM^) aufs stärkste mi߬
billigt worden, und unter andern sei er durchaus gegen das allgemeine direkte
Wahlrecht gewesen: diese Einrichtung ist ihm also ein Symptom rückläufiger Politik,
wie sie sich das freie England niemals zu Schulden kommen lassen würde!
In diesem letzten Punkte hat er freilich Recht. Schon im Jahre 1642 er¬
klärte Macaulay in seiner berühmten Parlamentsrede gegen die Chartisten, daß,
wenn die Forderung des allgemeinen Stimmrechts angenommen würde, wie sie in
dem sogenannten >'<>>a»>>> (klarem- ausgesprochen war, das Unterhaus eine sozial-
demokratische Mehrheit haben und die „glorreichen Einrichtungen des englischen
Staatslebens" von der Erde verschwinden würden.
Und doch thut man den Engländern eigentlich Unrecht, mit ihnen überhaupt
zu diskutiren oder an irgend etwas Anstoß zu nehmen, was sie sagen oder meinem
Ihre Vorurteile sind nun einmal unausrottbar; vermag doch keine Vernunft etwas
gegen jemand auszurichten, der mit dem festen Vorsatz in den Kampf geht, seine
Vorurteile als teuerstes Besitztum unverändert zu bewahren. Wir setzen als
klassische Probe dafür den Satz her, der es sich zur Aufgabe macht, eine Erklärung
für die Darstellung zu geben, die Freytag dem Verhältnis des Kaisers Friedrich
zu seiner Gemahlin gewidmet hat.
„Zwischen beiden bestand die vollständige Übereinstimmung, das gegenseitige
Vertrauen und die redliche Unterstützung, die in England das Ideal ehelichen
Glückes bilden. Dem Norddeutschen ist dieses Ideal völlig (xrmckivM^) unver¬
ständlich. Seine Gattin ist, um den alten juristischen Ausdruck zu brauchen, nichts
weiter als ein Stück seiner Habe (s, msro <üm.et,«u), wenn es hoch kommt (ut tuo
dost) eine geachtete Haushälterin, selten, wenn überhaupt je, seine Gefährtin.
Ihren Rat einzuholen, würde unter seiner Würde, sich ihn zu Nutzen zu machen,
ein Aufgeben seiner Männlichkeit sein. So lauge die Frauen in dem Leben des
preußischen Mittelstandes ihre jetzige Stellung einnehmen, ist es notwendigerweise
eine Beleidigung für die nationale Vorstellung von der Ehe, wenn sich Mnuu und
Frau auf dem Fuße häuslicher Gleichheit (in>, g, t'<x>klug' »t üomvstiv oqualitzH bewegen."
Was können wir armen Deutschen nicht alles von dem tugendhaften Jnselvolte
lernen! In England sind nur die besitzenden Klassen im Parlament vertreten,
und Wir lassen jeden in den Reichstag eintreten, auch den, den die Leute wählen,
die keinen andern Besitz haben als ihre beiden Arme; im Hause der Gemeinen
können nur reiche Leute sitzen, und bei uns würden viele Neichstagsmitglieder
froh sein, wenn sie ein Tagegeld bekämen, über das ein Parlamentsmitglied lachen
würde; in England leben von den höchsten Stellen bis zu der Hefe des Volkes
alle Ehepaare in der glücklichen Lebensgemeinschaft, die für manche Fälle durch
jene Dosis Peitschenhiebe herbeigeführt wird, die das englische Gesetz für Mi߬
handlung von Frauen vorschreibt; wir hören unsre Sozialdemokraten im Reichs¬
tage wie bei sonstigen politischen Versammlungen ruhig an, in England kommen
sie nur zu Worte, wenn sie als Staatsbeamte die Vollziehung ihrer eidlich gelobten
Pflichten verweigern und ihr Interesse an der Erhaltung der glorreichen Konstitution
Englands durch Postbeamten- und Konstablerstreiks bethätigen!
In Ur. 25 der Grenz¬
boten findet sich eine Anzeige der Schrift von Edwin Wille über Diesterweg und
die Lehrerbildung. Es wird daraus eine Ansprache abgedruckt, die Friedrich
Wilhelm IV. am 15. Januar 1849 an die versammelten Seminardirektoren und
Seminnrlehrer gehalten haben soll. Im Interesse der geschichtlichen Wahrheit muß
diese angebliche Ansprache, Worin der König alles Elend des Jahres 1848 einzig
und allein aus einer Pfauenhaft aufgestützten Scheinbildung der Volksschullehrer
herleitet, als eine Legende bezeichnet werden. Sie erschien zuerst im Frankfurter
Journal vom 17. Februar 1849 und ging aus diesem damals preußenfeiudlichcn
Blatt in andre politische Zeitungen und in Pädagogische Blätter über, leider dann
auch in Schriften über die Geschichte der Volksschule. Der Verfasser der Schrift
über Diesterweg hat sie aus der Sebaldschen Encyklopädie, und zwar ans dem
Artikel „Volksschullehrerseminare" von Dr. K. Schneider entnommen, der die Sache
anch als geschichtliche Wahrheit hingenommen hat.
Man hat niemals erfahren, welches von den Mitgliedern der Konferenz dein
Frankfurter Journal Bericht erstattet hat; dagegen haben mehrere Mitglieder,
namentlich Oberlehrer Randschmidt aus Breslau, ein alter Schüler Pestalozzis, diese
Ansprache für ein Gewebe von Lügen erklärt, dem man, so lange der Erfinder im
Verborgenen bleibe, nur das Schweigen der Verachtung entgegensetzen könne.
(Vgl. Schülblatt für die Provinz Brandenburg 1849, S. 134.) Der seiner Zeit
als Pädagog und Methodiker hochgeschätzte und noch jetzt unvergessene Provinzial-
schulrat O. Schulz fügt ni. a. O. hinzu: „Für diejenigen, denen vielleicht halbe Äuße¬
rungen über den Hergang zugekommen sind, will ich aus glnubwürger Quelle nach
der Mitteilung eines der Anwesenden folgendes hinzufügen: Der König hat die
Seminarlehrer nicht zu sich rufen lassen, sondern nur die vou thuen selbst erbetene
Audienz bewilligt In der Anrede, welche der Direktor Zahn ans Mörs namens
der übrigen Teilnehmer der Konferenz um des Königs Majestät zu richten beauf¬
tragt war, erwähnte derselbe zuletzt noch eines Umstandes, der bei dieser Gelegen¬
heit besser unberührt geblieben wäre, der Beteiligung vieler Lehrer an verwerf¬
lichen Zeitbestrebungen, mit der Bitte, Seine Majestät wolle diese Verirrungen
nicht dem ganzen Lehrerstande anrechnen und das Geschehene mit Milde und Nach¬
sicht beurteilen. Des Königs Majestät erwiderte ans diesen Teil der Anrede: Die
Thatsachen, deren Direktor Zahn erwähnt habe, seien auch zu Ihrer Kenntnis ge¬
kommen, und Majestät leugneten nicht, daß Sie dieselben mit großem Schmerze
vernommen hätten. Die Geschichte weise allerdings Beispiele von Verirrungen
ganzer Volker nach; wenn aber gerade diejenigen, die dnrch Pflicht, Amt und
Gewissen sich gedrungen fühlen sollten, Recht und Gerechtigkeit, Sitte und Gesetz
aufrecht zu erhalten, sich von dem irregeleiteten Strom fortreißen ließen und die
ihnen beiwohnende Macht der Intelligenz dazu mißbrauchten, die Pfeiler der
staatlichen Ordnung wankend zu machen, so sei das eine Erfahrung der betrübendstcn
Art. Nach dieser durch die Anrede des Direktors Zahn herausgeforderten Äuße¬
rung unterhielt sich Seine Majestät mit jedem der ihm vorgestellten Lehrer höchst
leutselig und entließ die Versammlung unter Ausdrücken des Wohlwollens."
Das geschichtliche Bild Friedrich Wilhelms IV. ist dnrch Parteihaß schon ge¬
nügend entstellt und verzerrt, und man hat die Pflicht, eine Legende, die ihm so
unkönigliche Worte in den Mund legt, auf ihre Quelle zurückzuführen.
Wohl um dieselbe Zeit, wo in den Grenzboten
die Vermutung ausgesprochen wurde, Herr Direktor und Professor Dr. Riegel, der
Vorsitzende des Vorstandes des Allgemeinen deutschen Sprachvereins, habe sich in
seiner großen Rede in München an dem Verfasser der „Sprachdummheiten" reiben
wollen, muß Herr Riegel in Braunschweig ein Manuskript in den Satz gegeben
haben, das jene Vermutung bestätigt. Er ist voll Ingrimms gegen den „Grenz-
bvtenmann" und wird damit sogar belustigend, was sonst nicht seine Art ist. Er
erzählt, wie glücklich ihn die Entdeckung eines angeblichen Sprachfehlers in den
Grenzboten (Ur. 25, S. 533) gemacht habe. Da steht nämlich: „Ans diese Weise
lockt man keinen Hund vom Ofen," und das ist — „keine Herr Riegel — grund¬
falsch, denn früher hat man gesagt „aus dem Ofen," und das kommt daher, daß
die Ofen früher Füße hatten, zwischen denen es dem Hunde, „besonders wenn er
naß von Schnee oder Regen heim kam," besonders Wohl war. Von solchen
Öfen weiß — so behauptet Herr Riegel — weder der Grenzbotemnnnn noch
Hermann Schrader, der Verfasser des „Bilderschmucks der deutschen Sprache" etwas,
sonst würden sie nicht „vom Ofen" sagen. Allerdings findet sich diese Form anch
bei Bürger, und Bürger könnte noch Öfen auf Füßen gekannt haben, auf alle Fälle
muß man, ihm gegenüber vorsichtig sein. Aber es „leuchtet ein, daß Bürger in
dichterischer Freiheit um des Versmaßes willen das »aus dem« durch »vom« er¬
setzt hat." Höchst einleuchtend in der That, denn die Verszeile
So weiß ich den Hund doch vom Ofen zu locken
so umzumodeln, daß „aus dem" darin Platz fände, diese Aufgabe wäre natürlich
für einen Meister der Sprache wie Bürger zu schwer gewesen! Allein wie ist
uns denn? Wurde nicht in einer gewisse» Rede in München unter Anrufung
Goethes dem Dichter das Recht gewahrt, sich über die Regeln der Grammatik
hinwegzusetzen, die Sprache umzubilden? Dann wäre ja seit Bürger das „vom" nicht
mehr falsch, nicht mehr unerlaubt, und Herr Riegel hätte sich unnötigerweise erhitzt?
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Doch bedürfen wir Bürgers gar nicht. Herr Riegel zählt die ihm — und
auch uns sehr wohl — bekannten auf Füßen stehenden Öfen uns. Wir könnten
ihm mit noch mehr dienen; aber es giebt auch Öfen ohne Füße, aber mit Ofen¬
bänken, es giebt auch breite, niedrige Öfen, auf deren Dach Mensch und Haustier
sich gern lagerten, wenn nicht gerade Wäsche getrocknet oder Teig gewärmt wurde.
Wenn Herr Riegel recht artig sein will, soll er erfahren, wo solche Öfen noch zu
sehen sind. Also ist das „vom" ebenso berechtigt wie das „aus dem," und nur
ein Pedant^) wird überhaupt die Meinung aufstellen, daß ein Hund, der aus dem
Ofen gelockt wird, nicht vom Ofen gelockt werde. O diese ärmliche Haarspalterei!
Wollte man ihr nachgeben, so müßte wohl vor dem Gebrauche der besprochenen
Redensart jedesmal erst erkundet werden, ob der zu lockende Hund auf, neben, unter,
hinter oder in dem Ofen liege, und darnach den Satz bilden.
Und nun, Herr Doktor (doch wohl der Philosophie?), wie steht es um die
Logik? Jemand gebraucht eine Redewendung, die seit hundert Jahren üblich ist,
bei einem großen Dichter vorkommt, und Sie rufen triumphirend: „Ha, er kennt
die ältere Form nicht, oder er versteht sie nicht!" Woher wissen Sie denn das?
Einer sprichwörtlichen Redensart werden Sie sich wohl noch erinnern, wenn sie
auch nicht deutsch ist: Li eg.on.iWW <ztv.
Salvatore Farina ist ein be¬
deutender, vielleicht der bedeutendste Romanschriftsteller des heutigen Italiens. In
der Vorrede zu seiner neuesten Dichtung lehnt er den Beifall des gewöhnlichen
Lesepublikums ub, indem er behauptet, sein von OüiMiottinc, (der kleine Don
Quijote) könne nur wenigen Auserwählten gefallen. Bis zu einem gewissen Grade
hat er damit Recht, denn der eigentümliche, offenbar Sterne nachgeahmte Humor
ist nicht recht italienisch und hat erstens etwas Gezwungenes, und dann ermüdet er
durch allzu häufige Wiederholung derselben Motive: wer will alle Tage im Jahre
Plumpudding essen und wer mag ihn überhaupt in Italien genießen?
Trotzdem hat er vortreffliche „Eigenschaften und bietet sehr viel mehr als die
gewöhnlichen Händler in neuester Litteratnrwaare," wie er die Fabrikanten von
Leihbibliotheksfutter in der eingangs erwähnten Vorrede nennt. Die Mannich-
faltigkeit der von ihm geschaffenen Charaktere ist staunenswert, und seine sämtlichen
Schöpfungen haben Fleisch und Blut.
Freilich gilt dies hauptsächlich von seinen eigentlichen Helden und Heldinnen,
während die Nebenpersonen etwas obenhin gemalt werden. Ja in seinem neuesten
Roman nimmt er sich nicht einmal die Mühe, zwei schonen Frauen, denen sein
Held die Cour macht, auch nur Namen zu geben — ein schwerer Verstoß, wenn
man sich erinnert, wie vortrefflich gerade die Namengebung z. B. bei Walter Scott
und Balzac ist.
Indessen ist für jedes Übel ein Kraut gewachsen, und so hat es der unge¬
nannte Übersetzer des kleinen Don Quijote im neuesten Hefte der Deutschen Rund-
schau verstanden, die Buchstaben, mit denen die beiden Schönen bezeichnet werden,
zu scheinbaren Namen zu machen: da wird fortwährend von der „schonen Jghisse,"
der „Baronin Jpsilvnne," dem „Haus Jghisse" und so weiter gesprochen, statt
einfach die beiden italienische» Bezeichnungen der Buchstaben, wie den andern Teil
der Romane, zu übersetzen und zu sagen A und I.
Freilich sind an dieser eigenartigen, nicht Übersetzung, sondern Beibehaltung
vielleicht die Lexika schuld, in denen man z. B, finden kann, daß x italienisch heißt
— die alberne Erfindung eines sprachmeisternden Schullehrers. Farina hat
als gebildeter Mann ganz richtig für x gesagt i^IrilZNo, denn eiuen Konsonanten
am Ende eines Wortes kann kein Italiener aussprechen; deshalb hangt er ihm ein
stummes o an; und zwei Konsonanten wie x kann er auch nicht hinter einander
aussprechen, er setzt also einen schwachen Vokal (stummes E oder kurzes i) da¬
zwischen.
Dem Nichtgewählten, der von Zeit zu Zeit den
Grenzboten seine ungehaltenen Reden anvertraut, ist ein Wiener Zeitungsblatt zu¬
gesandt worden, aus dem hervorgeht, daß sein gutes Beispiel Nachahmung
findet. Der bekannte Geschichtschreiber und Politiker Herr von Heisere, der als
Mitglied des österreichischen Herrenhauses allerdings mich nicht gewählt, aber doch
berufen ist und daher berechtigt wäre, der hohen Versammlung seine Ansichten
mündlich mitzuteilen, hat es vorgezogen, eine lange Rede gegen den Dualismus,
die er auf dem Herzen hatte, und von der er doch keinen Erfolg erwarten konnte,
einfach der Redaktion einer befreundeten Zeitung zu übergeben und nebenbei gleich
die deutsche Sprache um ein köstliches Wort zu bereichern- „Beweggründnng."
Schon hierbei läßt sich der Vorzug des neuen Verfahrens nachweisen: die Steno¬
graphen hätten wahrscheinlich verstanden „Begründung," oder doch gemeint, das
kürzere Wort thue es auch, da es ja dasselbe bedeute — die Kurzsichtigen, die
nicht begreifen, daß es zweierlei ist, ob jemand seine Gründe vorträgt oder
seine Beweggründe — und so wäre möglicherweise unser Sprachschatz um ein
Kleinod gekommen, das ihm gerettet wurde, weil der Redner sein eigner
Stenograph war. Aber auch abgesehen hiervon rufen wir- Vivat 8o«,r>on8! Wie
viel Zeit, Langeweile und Ärger könnte erspart werden, wenn z. B. Herr Richter
künftig spräche: „Ich stimme natürlich gegen die Regierungsvorlage, wer die Be¬
weggründnng kennen lernen will, lese meine heutige Zeitung." Seine Anhänger
hätten sie natürlich schon gelesen, und die übrigen wären froh, den Artikel weder
lesen »och anhören zu müssen. Allerdings wird sich gerade Herr Richter nicht
leicht dazu entschließen, da er gleich dem Schloßvogt in der Preciosa glaubt, man
könne seine Geschichten nie zu oft hören. Aber der Anfang ist einmal gemacht,
warten wir geduldig hoffend das Weitere ub.
Dieses Biichlein ist aus Vortrügen entstanden, die zu, Frankfurt a. M. ge¬
halten wurden, und giebt in ansprechender Form eine beinahe vollständige Übersicht
der wichtigsten ethischen Fragen mit annehmbaren Lösungsversuchen. Der Ver¬
fasser ist Optimist und steht, wie er selbst bekennt, auf demselben Boden wie
Paulsen und der Däne Höffding. Darin stehen nur ihm sehr nahe. Aber was
wir nicht annehmen können, ist die gänzliche Ausscheidung aller Beziehungen uns
das Jenseits und das Wort am Schluß: „Was aber das letzte Ende, das Ziel
der Geschichte selbst sei, ich weis; es nicht, und keiner von uns kennt es." Damit
kaun der einzelne Gebildete auskommen, fürs Volk genügt es nicht. Die Sprache
ist schön. Uns Seite ?0 wird, vielleicht nnter mundartlichen Einstich, ein Wort
falsch gebraucht: „Wohl ist letzthin die Harmonie . . . das Ziel," für: wohl ist
die Hnrmouie das letzte Ziel. Letzthin bedeutet sonst: in letzter Zeit.
Der Verfasser, der schon über Herders Geschichtsphilosophie, über Lessings
philosophische Grundanschauung und Goethes philosophische Entwicklung geschrieben
hat, bietet in dem vorliegenden Schriftchen eine kleine Sammlung von Stellen dar,
die man schon deswegen willkommen heißen darf, weil Goethes Briefwechsel, dem
viele davon entnommen sind, dem großen Publikum ziemlich unzugänglich ist. Für
verdienstlich Halle» wir es, daß Metzer die Ausicht zurückweist, es bestehe zwischen
Kants und Goethes Gedankenrichtung ein tiefer und schroffer Gegensatz. Weniger
angenehm werden sich die Leser von der Art und Weise berührt fühlen, wie Metzer
von seinem eignen der theologischen Orthodoxie verwandten Standpunkte ans den
Uuiversalmeuscheu Goethe kritisirt. Wahrscheinlich hat Goethe, obwohl nicht Fach-
philvsoph, besser als Metzer seineu Spinoza verstanden. Schulmeisterliche Bemer¬
kungen wie die: „Dieser Semitheismus enthält aber eine große Jnkousegueuz"
hätten wegbleiben können.
Der bekannte Philosoph faßte Staat und Gesellschaft als Organismen aus
und bekämpfte sowohl den Individualismus wie auch den fürstliche» und den
Pöbelabsolutismus. Seine Gedanken über diese Gegenstände sind ungefähr die¬
selben, gegen die eben jetzt der individualistische Liberalismus seine letzten Ver¬
schanzungen verteidigt. Zu dem Abschnitt „Staats- und Volkswirtschaft" bemerkt
der Herausgeber, es sei daraus ersichtlich, wie Baader (in den dreißiger Jahren)
schou ganz „den Standpunkt des erst später auftretenden Friedrich List, gegenüber
dem Freihandelslehrer Adam Smith, teilte, ja jenen eigentlich begründete, und das
tiefer als Friedrich List selbst." Man sieht, wie langsam es mit der Welt vor¬
wärts geht, oder rückwärts, wie die Liberalen sagen werden. Was ist „liberal?"
Bnader meint (S. 1l>): „Nur die Liebe macht wahrhaft freisinnig oder liberal.
Denn nur der Liebende trennt das Herrschen uicht vom Dienen, das Recht nicht
von der Pflicht, das Besitzen nicht vom Sichbesitzeulassen." Solcher schönen Ge¬
danken giebt es viele in dein empfehlenswerten Büchlein.
Im Jahre 1379 gab das italienische Ackerbau- und Handelsministerium ein
Sammelwerk über die gewerblichen Verhältnisse und die Bauten Roms, über den
Zustand vou Wissenschaft und Kunst, das Armenwesen u. s. w. heraus, um die von
der neuen Regierung eingeführten Veränderungen und Verbesserungen gegen die
darüber verbreiteten Vorurteile zu verteidigen. Gabelli schrieb eine lange Ein¬
leitung dazu, bestehend in einer sachkundigen Vergleichung des neuen königlichen
Roms mit dem alten päpstlichen, die sich zu einer begeisterten Lobrede auf das
erstere gestaltete. Diese Einleitung erschien später als besondre Schrift; es ist eben
die von Lange übersetzte. Gabelli beschränkt sich keineswegs ans Äußerlichkeiten,
sondern geht auf die sozialen Zustände und die Rechtspflege ein und giebt eine
geistvolle Analyse des römischen Volkscharakters. Nicht ohne Rührung empfindet
man den glühende» und reinen Patriotismus, der aus jeder Zeile spricht. Möchte»
sich seine Hoffnungen erfüllen! Möchte das junge Italien die Schwierigkeiten über¬
winden, die es nicht selbst verschuldet, sondern ererbt, allerdings aber durch die
Hast, mit der es an der Befestigung seiner Großmachtstellung arbeitet, noch ver¬
mehrt hat.
Der Verfasser, dessen Maske nach der zurechtgeschnitten, ist, unter der Fr. Bischer
den dritten Teil des Faust in die Welt schickte, hat mit viel Witz gezeigt, wie man
die politische, die Kirchen- und die Litteraturgeschichte der Gegenwart in Janssen-
scher Manier „aus den Quellen" darstellen könnte. Durch Auslassungen, An¬
stellungen, kühne Deutnuge« bringt er es glücklich zu Wege, Pius IX. und Leo XIII.
als Beschützer der Gewissensfreiheit, Bismarck als „intimen politischen und privaten
Freund" Eugen Richters und Windthorsts und das Lutherfefispiel von H. Herrig
als ein Pasquill auf Luther erscheinen zu lassen. Am ergötzlichsten wirkt der Ab¬
schnitt über Bismarck. Wenn dieser z. B. die von Richter immer wieder „mit
derselben Eleganz vorgetragenen" Gründe mit den Statisten vergleicht, die im
Krönnngszuge in der Jungfrau von Orleans immer aufs neue über die Bühne
ziehen, so heißt es in unserm Texte: „Ja, er gesteht, daß es ihm bei Richters
Beredsamkeit zu Mute sei, wie beim Anhören eines erhabenen Schillerschen Stückes,
z. B. der Jungfrau von Orleans, und weiß die Eleganz seines Vortrages und sein
gutes Gedächtnis ganz besonders zu rühmen." In der kirchengeschichtlichen Ab¬
teilung ist leider die Gegenüberstellung des echten Wortlautes der Äußerungen,
denen Gewalt angethan wird, verabsäumt morden, wodurch der unmittelbare Ein¬
druck abgeschwächt ist. Sehr gut sind auch Jnnssens Inhaltsübersichten und Quellen¬
verzeichnisse parodiri. Allein wir fürchten, daß die Satire ihren Zweck verfehlen
wird. Solche Schriften werden in der Regel nur von denen gelesen, die nicht
erst aufgeklärt zu werden brauchen. Und käme diese anch Anhängern des Historikers
Janssen in, die Hände, so würden viele sie gar nicht verstehen, viele sie nicht ver¬
stehen wollen. Gerade bei Gelegenheit dieses traurigen Geschichtswerkes kann man
an gebildeten Katholiken die Beobachtung machen, daß Leute, die den Verdacht
vatikanischer Gläubigkeit sehr entschieden zurückweisen und über Papsttum und
Jesuitismns in stärkern Ausdrücken, als ein Protestant sie sich ihnen gegenüber
erlauben würde, aburteilen, doch eine innige Freude habe», wenn mit den verwerf¬
lichsten Mitteln gegen Protestantismus und Preußentnm gehetzt wird, weil ihnen
von Jugend auf beigebracht wordeu ist, das Erstarken des protestantischen Nord-
deutschlands als ein jedem Katholiken zugefügtes Unrecht anzusehen.
Auf dem Titelblatte dieser kleinen Schrift steht der schon so oft mißbrauchte
Satz: „Es muß auch solche Käuze geben," und in der Vorrede erklärt der Ver-
sasser, er könne das Reimeschmieden nicht lassen, olnvohl er wisse, daß seine Verse
klingen'
Wien Erntewagen hochbepackt,
Der übers Pflaster hvlpert,
Wie'» schwer betrunkner Bauernknecht,
Der seines Weges stolpert.
Ob es wirklich solche Dichterkäuze geben mich, wollen wir ununtersucht lassen,
aber daß sie ihre Nerse, deren Wert sie ganz richtig abschätzen, anch veröffentlichen
müßten, sehen wir durchaus nicht ein. Denn selbst den praktischen Nutzen, der den
Reimen des alten Zumpt:
Hs eilt!U'eg,o lasse männlich sein,
Doch II rann du dem Neutrum ein,
oder eines Gevgrophicbuches aus dem vorigen Jahrhundert:
Oberysscl, viel Morast
Macht das arme Land verhaßt
nicht abzusprechen ist, können nur uns von den Schröderschen Merkversen nicht vor¬
stellen. Ein Beispiel für viele!
Auch auf des Kaisers Seite sieht
'um neuen Stern man glänzen,
Das ist der Albrecht Wollenstein,
Der kam aus Böhmens Grenzen.
Der Mansfeld kämpfte ohne Glück
Gegen Waldsteiu bei der Dessanbrnck
Und starb drauf in Dalmatien.
Im selben Jahr den Christian
Hat Tilly auch geschlagen,
Das Restitutivnsedikt
Darf um der Kaiser wagen.
Zu Lübeck mit den Dänen schließt
Man Fried' (I), der Fürsten Zorn ergießt
Sich über Herzog Friedland.
Wir sehen das Gesicht eines Jungen deutlich vor uns, der sich diese Poesie
eiugeleiert hat und dann gefragt wird, wann bei Dessau gekämpft wurde, was das
Restitutiousedikt bedeutet, und weshalb die Fürsten dem Herzog vou Friedland
zürnten. Zur weitern Charakteristik diene, daß unter den vierzehn „Hauptwerken,
die deutsche Geschichte im allgemeinen betreffend," auch aufgezählt werde» Dullers
Geschichte, eine „Jllustrirte Geschichte Deutschlands mit'Tert(!) von Ebner,"
Sugeuheims Geschichte n. s. f.
le noch in der Beratung des Reichstages befindliche Gewerbe-
ordnungsnvvelle enthält unter anderm i» 8 1^4», die Vestinnnuug,
daß in jeder Fabrik eine Arbeitsordnung erlassen werden soll,
die in allen wesentlichen Punkten die Arbeit regelt. In 5 I34(l
ist gesagt, daß vor Erlaß dieser Arbeitsordnung oder eines
Nachtrags dazu den Arbeitern Gelegenheit gegeben werden müsse, sich über
deren Inhalt zu nußern. Wo ein Arbeitsausschuß bestehe, genüge die An¬
hörung dieses Ausschusses. Nach H I34o soll eine solche Arbeitsordnung nach
dem Erlaß der Verwaltungsbehörde abschriftlich eingereicht und dabei die Ver¬
sicherung abgegeben werde», daß der Vorschrift des H I34ä genügt sei. Die
Einhaltung dieser Borschriften ist schließlich unter die Strafandrohung des
146 der Gewerbeordnung gestellt.
In den Kreisen der Arbeitgeber scheint man ans die neuen Vorschriften,
deren Tragweite man sich nicht recht klar zu machen vermag, mit nicht geringer
Unruhe zu blicken. In dem von dem „Vereine zur Wahrung der wirtschaftlichen
Interessen von Handel und Gewerbe" herausgegebenen Hefte Ur. 23 finden
wir in der Einleitung folgendes gesagt:
Bisher war die Gestaltung des Arbeitsvertrages der freien Übereinkunft beider
Parteien anheimgegeben, ein Prinzip, welches durch die bisher im Reichsgesetz
begründeten Beschränkungen nicht angetastet wurde. Der Arbeiter bot an, was er
an Arbeit zu leisten willens war, und stellte den Preis für seine Arbeit, der Arbeit¬
geber bezeichnete, was er an Arbeit beanspruche und was er dafür zu zahlen
bereit sei. Wenn auf dieser Grundlage eine Vereinbarung zu stände kam, wobei
jedem Teile vollständige Entschließung gewahrt war, so wurde der Arbeitsvertrng
abgeschlossen. Durch das neue Gesetz sollen nnn weitere Beschränkungen in der
Richtung eingeführt werden, daß der für sein Unternehmen allein verantwortliche
Arbeitgeber nicht mehr berechtigt sein soll, innerhalb der gesetzlich zulässigen Grenzen
seine dem Arbeitsverträge zu Grunde liegenden Bedingungen nach eignem freiem
Ermessen zu stellen, sondern er soll sie der Begutachtung der Arbeiter unter¬
breiten. Während bisher eine Vereinbarung insofern stattfand, als jeder Teil die
von dem andern Teile vollkommen frei gestellten Bedingungen annehmen oder ab¬
lehnen konnte, soll jetzt der Arbeitgeber gehalten sein, zunächst über seine von ihm
als notwendig erachteten Grundlagen und Bedingungen des Arbeitsvertrages eine
Vereinbarung mit den Arbeitern herbeizuführen, worauf dann erst, gewissermaßen
als zweiter Akt, die Arbeiter sich zu entscheide» haben, ob sie auf Grund dieser
Bedingungen den Arbeitsvertrag schließen »vollen oder nicht. Hierin liegt un-
verkennbar eine Umgestaltung des bisherigen persönlichem Verhältnisses zwischen
Arbeitgeber und Arbeiter. Das, was bisher als das selbstverständliche gute Recht
des Arbeitgebers betrachtet wurde, wird ihm entzogen und dem Arbeiter zu¬
gewendet, indem diesem die Berechtigung zuerkannt wird, über die Bedingungen
des Arbeitgebers zu verhandeln, gewissermaßen zu Gericht zu sitzen. Dadurch wird
das Verhältnis, das bisher nach erfolgten Abschluß des Nrbeitsvertrages eintrat
und als selbstverständlich erachtet wurde, geändert. Der Arbeiter ist nicht mehr
der Untergebene des Arbeitgebers, dem er Gehorsam schuldet, dessen Anordnungen
er sich zu fügen hat, dessen Strafgewalt er anerkannt hat, alles dies kraft des
Arbeitsvertrages, denn es soll ihm das Recht eingeräumt werden, über die Be¬
dingungen zu beraten und doch auch nach seinem Gutdünken Beschlüsse zu fassen,
die der Arbeitgeber in seinem eigensten Interesse zu stellen für notwendig erachtet.
Kurz, der Arbeiter soll durch dieses ihm gewährte Recht dem Arbeitgeber gegen¬
über auf die Stufe der Gleichberechtigung gestellt werden, die vor Abschluß des
Arbeitsvertrages auch bisher vollkommen vorhanden und anerkannt war, die aber
nach Thätigungs?) jenes Vertrages unzulässig und nur als eine Ehrung derjenigen
Wege zu betrachten ist, auf deuen die Sozialdemokratie zur Umgestaltung der
gesamten Prodnktions- und Wirtschaftsverhältnisse in ihrem Sinne zu gelangen hofft.
Es wird dann weiter angeführt, daß sich in England infolge der dortigen
Arbeiterorganisationen bereits ein derartiges Verhältnis zwischen Arbeitgeber
und Arbeiter gebildet, aber dort auch zu dem Geiste der Unbotmäßigkeit ge¬
führt habe, der alle Kreise der englischen Bevölkerung durchdringe.
Auch Tagesblätter, die die gewerblichen Verhältnisse zum Gegenstand ihrer
Betrachtungen machen, haben diesen Punkt mehrfach erörtert. Sie stellen
namentlich die Frage, welchen Zweck die Anhörung der Arbeiter über die
Arbeitsordnung haben könne, wenn man ihnen doch kein Widerspruchsrecht
dagegen gestatte. Auch weisen sie darauf hin, daß regelmäßig bei einer
solchen Anhörung der Arbeiter wenigstens ein Teil der neuen Ordnung
widersprechen werde und dann ein Konflikt zwischen Fabrikherrn und Arbeitern
gegeben sei.
Wir wollen versuchen, einiges zur Aufklärung der Sachlage beizutragen.
Man legt, wie wir glauben, den fraglichen Bestimmungen eine übertriebene
Bedeutung bei, wenn man glaubt, daß sich dadurch die ganze Natur des Arbeits¬
vertrages ändere. Dieser bleibt auch nach den Bestimmungen des Entwurfs
auf der unwandelbaren Grundlage der freien Vereinbarung beruhen. Es giebt
eben eine doppelte Art, einen Vertrag zu vereinbaren. Die eine besteht darin,
daß der eine Teil dem andern jedesmal besonders die Bedingungen des Ver¬
tragsschlusses mitteilt und darnach mit ihm übereinkommt. Wenn aber jemand
in der Lage ist, vielfach Verträge derselben Art mit andern abzuschließen, dann
thut er wohl, sich im beiderseitigen Interesse einer andern Art des Vertrags-
schlusses zu bedienen. Diese besteht darin, daß er die Bedingungen, uuter denen er
Vertrüge zu schließen bereit ist, öffentlich kundgiebt. Dann kann er mit Beziehung
hierauf die Verträge in einfachster Form abschließen. Die öffentlich kund¬
gegebenen Bedingungen gelten für jeden einzelnen Vertrag. In dieser Weise
schließen z. B. die Eisenbahnverwaltungen alle ihre Transportverträge ub.
In den allgemeinen Regulativen, die sie erlassen, sind die Bedingungen, unter
denen sie die Beförderung von Personen und Sachen übernehmen, genau be¬
stimmt, und diesen Bedingungen unterwirft sich jeder, der mit ihnen einen
Transportvertrag eingeht. Die allgemeinen Bestimmungen bilden die vertrags¬
mäßige Ergänzung jedes einzelnen Vertrages.
Ganz dasselbe soll nun auch die Arbeitsordnung für den Arbeitsvertrag
sein. Wer in der Fabrik in Arbeit tritt, geht den Arbeitsvertrag nach Ma߬
gabe der erlassenen Arbeitsordnung ein. Es liegt auf der Hand, daß dadurch
der Arbeitsvertrag einen bestimmteren, keines weitern Beweises bedürfenden
Inhalt erhält, daß dadurch Willkürlichkeiten gehindert und Streitigkeiten ver¬
mieden werden. Insofern ist also die Vorschrift, daß jeder Fabrikherr eine
Arbeitsordnung zu erlassen habe, durchaus verständig und wohlthätig.
Zweckmäßig erscheint auch die Vorschrift, daß die erlassene Arbeitsordnung
der Verwaltungsbehörde eingereicht werden soll. Für unzweifelhaft halten
wir, daß die Verwaltungsbehörde nur eingreifen darf, wenn die erlassene
Arbeitsordnung den gesetzlichen Vorschriften nicht entspricht. Immerhin wird
aber auch schon die durch die Einreichung herbeigeführte Öffentlichkeit dahin
wirken, daß unangemessene Anordnungen, auch wenn sie nicht gerade den Ge¬
setzen zuwiderlaufen, vermieden werden.
Es versteht sich von selbst, daß der Arbeiter, der auf Grund einer be¬
stehenden Arbeitsordnung in die Arbeit getreten ist, sich keine willkürliche Ände¬
rung gefallen zu lassen braucht, so lange sein Arbeitsvertrag dauert. Die Vor¬
schriften, die in 8 134« des Entwurfs enthalten sind, sind nichts weiter als
Folgerungen daraus, daß jeder Arbeiter sich nur nach Maßgabe der Arbeits¬
ordnung verpflichtet hat. Namentlich sind auch die Strafen, die auszusprechen
der Fabrikherr in der Arbeitsordnung sich vorbehält, nichts andres, als Kon¬
ventionalstrafen. Wird nun die Arbeitsordnung ohne Zustimmung des Arbeiters
geändert, so ist dieser berechtigt, sein Arbeitsverhältnis zu kündigen und nach
Ablauf der Kündigungsfrist es zu verlassen, bis dahin aber noch nach der
alten Arbeitsordnung fortzuleben. Das ist seine Freiheit und sein Recht, die
ihm niemand nehmen oder beschränken kann.
Daraus ergiebt sich, daß, wenn ein Fabrikherr eine neue Arbeitsordnung
geben will, und wenn er Arbeiter hat, auf deren Verbleiben er Wert legt, er
in der Regel wohlthun wird, sich mit seinen Arbeitern im voraus über die
zu erlassende Arbeitsordnung zu besprechen, um so das Verbleiben seiner
Arbeiter zu sichern. Dadurch wird die Natur des Arbeitsvertrages in keiner
Weise geändert. Selbstverständlich kann aber auch — wenigstens nach allge¬
meinen Grundsätzen — der Arbeitgeber die Arbeitsordnung einseitig aufstellen.
Er muß dann nur gewärtigen, daß ihm seine Arbeiter die Arbeit sofort
kündigen; und er ist verpflichtet, während der Dauer der Mmdiguugsfrist ihnen
den Arbeitsvertrag nach der alten Arbeitsordnung einzuhalten.
Wenn nun der Entwurf vorschreibt, daß der Fabrikherr vor Erlaß einer
Arbeitsordnung eine Äußerung seiner Arbeiter darüber einholen soll, so will
er offenbar damit den Fabrikherrn in keiner Weise an diese Äußerung binden.
Er läßt ihm das Recht, die Arbeitsordnung zu geben, wie er will; es ist
nur (in Z 134 s,, Abs. 4) vorgeschrieben, daß die neue Arbeitsordnung erst
uach Ablauf von zwei Wochen nach ihrem Erlaß in Geltung treten darf.
Die Motive sagen ausdrücklich, daß diese Frist bestimmt sei, den Arbeitern die
Möglichkeit zu gewähren, durch Kündigung sich der neuen Arbeitsordnung zu
entziehen.
Gleichwohl scheint auch uus jene Vorschrift nicht unbedenklich. Es ist
immer mißlich, etwas als Rechtsvorschrift aufzustellen, was doch kein wirkliches
Recht geben soll, sich vielmehr seiner innersten Natur nach nur als eine unter
Umständen angemessene und verstündige Rücksicht empfiehlt. Wo die Ver¬
hältnisse so liegen, daß der Fabrikherr es seinem eignen Interesse entsprechend
findet, über eine zu erlassende Arbeitsordnung seine Arbeiter zu hören, wird
er es von selbst thun, wenn er auch in der Regel wohl nicht alle Arbeiter,
sondern nur einige zuverlässige zu Rate ziehen wird. Wo aber die Ver¬
hältnisse anders liegen, wo der Fabrikherr eine Änderung der Arbeits¬
ordnung unbedingt nötig findet und es deshalb darauf ankommen lassen
will, ob ihm seine Arbeiter kündigen werden, warum will man ihn da
zwingen, erst mit seinen Arbeitern darüber zu verhandeln? Es ist ein altes
Sprichwort: „Wer viel fragt, wird viel berichtet." Unter den Arbeitern einer
Fabrik finden sich meistens auch unzufriedene Elemente. Es ist bedenklich,
diese zum Reden herauszufordern. Ein Recht, gefragt zu werden, während
doch auf die Antwort nichts ankommen soll, ist jedenfalls etwas sehr Unge¬
wöhnliches. Leicht wird sich bei den Arbeitern die Ansicht bilden, daß, wenn
sie über die zu erlassende Fabrikordnung gehört werden müssen, sie auch das
Recht hätten, dazu „Nein" zu sagen. Erläßt dann nach einem solchen Nein
der Fabrikherr die Ordnung doch, so wird das erst recht böses Blut setzen und
wahrlich nicht zur Förderung des sozialen Friedens beitragen. Mancher
Arbeiter, der einer ihm nicht ganz bequemen Arbeitsordnung, wenn sie einmal
erlassen wäre, sich gefügt haben würde, wird, wenn sie gegen seinen ausdrücklichen
Widerspruch erlassen ist, es für eine Ehrensache halten, sich ihr nicht zu unter¬
werfen, vielmehr die Arbeit zu kündigen, ihm selbst und dem Fabrikherrn zum
Schaden. Vielleicht will man freilich dadurch, daß man den Fabrikherrn zur
Vorlage der Arbeitsordnung an seine Arbeiter nötigt, eine Art moralischen
Zwanges gegen ihn üben, keine Arbeitsordnung zu erlassen, die seinen Arbeitern
nicht genehm ist. Aber hat ein solcher moralischer Zwang wohl eine Berech¬
tigung? Will man den Fabrikherrn, der doch Eigentümer seines Geschäfts ist
und bleiben soll, in eine Art konstitutionellen Regenten umwandeln, der für
seine Fabrikgesetze erst die Zustimmung seines Arbeiterparlaments einholen
muß? Der Entwurf hat wohlweislich vermieden, dem Fabrikherrn die
Verpflichtung aufzulegen, sogenannte Arbeiterausschüsse zu schaffen. Alle
Gründe, die hierfür bestimmend gewesen sind, führen folgerichtig auch dahin,
daß eine Vorschrift, wie die in § 1346 enthaltene, nicht gegeben werde.
Überall geht der Entwurf von der Annahme aus, daß eine Arbeits¬
ordnung nur für die schon in Arbeit stehenden Arbeiter erlassen werde. Wie
aber, wenn der Fabrikherr eine Arbeitsordnung für die erst von einem be¬
stimmten Tage an eintretenden Arbeiter geben wollte? Über diese gehört zu
werden, würde doch kein Arbeiter auch nur den Schein einer Berechtigung
haben. Wem die Arbeitsordnung nicht gefüllt, der tritt eben nicht in die
Arbeit ein. Gerade so wenig wie zukünftige Arbeiter, haben aber auch die
gegenwärtigen Arbeiter ein Recht auf eine bestimmte Arbeitsordnung von dein
Augenblick an, wo ihr Arbeitsvertrag lösbar ist. Immer bleibt dem Arbeiter
nur das Recht, wenn ihm eine Arbeitsordnung nicht gefällt, aus der Arbeit
zu scheiden.
Dieses Recht des Arbeiters kann man vielleicht durch den Abs. 4 des
§ 134a sür nicht genügend gewahrt halten. Zunächst ist es ja (nach HZ 110
und 127 der Gewerbeordnung) möglich, daß eine andre als die gesetzlich
angeordnete vierzehntägige Frist für die Kündigung vereinbart ist. Es würde
aber auch billig sein, wenn dem Arbeiter nach Erlaß einer neuen Arbeits¬
ordnung einige Zeit über diese Frist hinaus gewährt würde, um zu erwägen,
ob er unter der neuen Ordnung fortarbeiten oder ausscheiden will. Wenn
also der § 134<l beseitigt wird, so würde es angemessen sein, den: Abs. 4 des
!; 1349. folgende Fassung zu geben:
Die Arbeitsordnungen und Nachträge dürfen erst in Geltung trete», wenn
nach ihrem Erlaß ein Zeitraum verstrichen ist, der die den Arbeitern für
ihren Arbeitsvertrag zustehende Kündigungsfrist um drei Tage übersteigt.
Mit einer solchen Vorschrift würde uns das Recht der Arbeiter jede
billige Rücksicht genommen sein.
le Neue Preußische Zeitung brachte kürzlich aus Hagen in West¬
falen folgenden Artikel:
Hagen, den 3. Juni. > Verrohung der Sitten, j Im rheinisch¬
westfälischen Jndustricbezirke läßt die allgemeine Sicherheit sehr zu
Wünschen übrig. Überall hört man laute Klagen über die Ver¬
rohung der Sitten n. s. w. Ein Menschenleben wird nichts geachtet, und schändliche
Mordthaten, schwere Einbrüche n. s. w. sind wieder an der Tagesordnung. Wir
gehen wohl nicht fehl, wenn wir als Ursache dieser Verwilderung der arbeitenden
Bevölkerung einmal das Umsichgreifen der Sozialdemokratie, beziehungsweise der
Gottlosigkeit und serner die bessern „Lohnverhältnisse" hinstellen. In den siebziger
Jahren, als die Arbeiter viel verdienten, waren sie auch auf dem Wege der Moral
in starken Defekt gekommen, und heute geben sie dasselbe Bild. Kann man sich
wundern, wenn in der morgen Hierselbst beginnenden Schwurgerichtsperiode von
sechs Fällen vier Sittlichkeitverbrechen, ein Meineid und ein Todschlng vorliege»?
Wohin werden wir gelangen, wenn da nicht bald Mittel und Wege gefunden werden,
die dem bösen Treiben Einhalt gebieten! Erst vorgestern wurde in Oberhansen am
hellen Tage ein friedlicher Arbeiter in einer Arena vor den Angen zahlreicher
Zuschauer von drei Arbeitern überfallen und in gräßlicher Weise niedergestochen.
Die Feder sträubt sich, alle die Schandthaten, die täglich verübt werden, nieder¬
zuschreiben.
Ähnliche Klagen sind mehrfach in der Kölnischen Zeitung erhoben worden;
auch liegt uns eine Zusammenstellung der in wenigen Jahren in dem west¬
fälischen Jndustriebezirke vorgekommenen Morde in der Schrift: ,.Die bestehende
Organisation und die erforderliche Reorganisation der preußischen Polizei¬
verwaltung" (Berlin, Friedrich Luckhardt) vor, aus der folgendes hervor¬
geht. Es wurden ermordet: 30. Dezember 1878 Lisette Kost, 5. Juli 1879
Elise Riemenschneider, 7. August 1879 Lisette Schälken, 30. Juli 1880 Minna
Pott, 1. November 1880 Hebamme Becker, 27. Juli 1881 Christine Rümel-
mann, 11. April 1881 Dienstmagd Ostermann und 27. Mai 1882 Dienstmagd
Elise Gantenberg. Aus alledem ist zu schließen, daß es um die öffentliche
Sicherheit schlecht bestellt ist und auf eine Besserung hingearbeitet werden muß.
Obgleich nun eine gründliche Abhilfe nur durch bessere Erziehung und höhere
Kultur zu bewirken ist, so wird doch eine Maßregel nicht vermieden werden
können, die augenblicklich den nötigen Schutz gewahrt. Es ist dies eine
schleunige Vermehrung und ordentliche Organisirung der Polizeikräfte. Wenn
ein Geschwür bösartig wird, so ist man schließlich auch genötigt, es aufzu¬
schneiden, also äußere Mittel anzuwenden, die ja innere Mittel nicht aus¬
schließen. Inwiefern in Oberhansen nach dieser Richtung Wandel zu schaffen
ist, kann hier nicht beurteilt werden; außer Zweifel steht es aber, daß der er¬
wähnte Überfall und die Verwundung nicht stattgefunden hätten, wenn hin¬
reichende Polizeiposten auf der Straße gewesen wären. Die Stadt Oberhausen
zählt gegen 20400 Seelen, die Polizeiverwaltung müßte daher außer dem
Polizeichef mit seinen Sekretären aus einem Polizeiinspektor, zwei Polizei-
kvmmissaren und fünfzehn Polizeisergeanten oder Schutzleuten neben dem Nacht-
wächterkvrps bestehen. Dieser Berechnung ist die Forderung zu Grunde gelegt,
daß auf je 10000 Seelen der Bevölkerung ein Polizeikommissar und bei zwei
Polizeikommissaren ein Polizeiinspektor, ferner auf je 1500 Seelen ein Polizei¬
sergeant oder Schutzmann anzustellen sind. Die Forderung rührt aus früherer
Zeit her und ist eigentlich schon veraltet und nicht mehr ausreichend, aber
jetzt noch bei den königlichen Pvlizeiverwnltnngen maßgebend. Viele höhern
Polizeibeamten (es möge hier der umsichtige und thätige Herausgeber des
Internationalen Zentralpolizeiblattes, der Leiter der Polizei in Mainz hervor¬
gehoben werden) verlangen in größern Städten auf je 1000 Seelen einen
Schutzmann. Wer die erforderliche Thätigkeit der Polizei zu beurteilen ver¬
steht, wird 1500 Seelen für einen Schutzmann als das Höchste ansehen.
Der Schutzmann hat, um nur einige seiner Dienstgeschäfte anzuführen, in seinem
Bezirk mit 1500 Seelen die Handbücher zu führen. Diese Bücher enthalten
die Bewohner jedes Hauses und müssen durch Eintragungen der Zu- und
Abgänge stets „auf dem Laufenden" erhalten werden. Zur Kontrolle müssen
die Bewohner einzelner Häuser vou Zeit zu Zeit mit den Hausbüchern ver¬
glichen werden. Diese Geschäfte müssen unbedingt von dem Schutzmann besorgt
werden, weil die Kenntnis der in seinem Bezirk wohnenden Personen die Be¬
dingung seiner Wirksamkeit ist. Die Führung dieser Bücher durch Schreiber
ist unbedingt zu vermeiden. Der Bezirksschutzmann hat ferner täglich wenigstens
zweimal seinen Bezirk zu durchgehen; er muß die Steckbriefe lesen und seinen
Anteil an der Steckbriefkvntrollc und der Fremdenkontrolle leisten, er hat Posten
zu stehen oder Patrouillen zu machen, jene auf Bahnhöfen und lebhaften
Straßen, diese in dünner bevölkerten Stadtteilen, er hat Gefangne zum Gericht
und zum Pvlizeigefängnis zu bringen; er hat die Trödler, die der Hehlerei
verdächtigen und die unter Polizeiaufsicht stehenden Personen zu beaufsichtigen,
er hat in Kriminalfällen Durchsuchungen und Verhaftungen vorzunehmen.
Kurz, seine unbedingt nötigen Geschäfte sind so mannichfacher und vielseitiger
Art, daß nach der Berechnung von Sachverständigen zehn Dienststunden täglich
bei dem Verhältnis von einem Angestellten zu fünfzehnhundert Seelen noch
nicht ausreichen, und daß hierbei für die Ausbildung des Beamten, der
wöchentlich wenigstens zwei Jnstruktionsstunden bei seinem Polizeikommissar
oder Inspektor oder sonstigen Vorgesetzten haben muß, noch nichts angerechnet
ist. Wie aber die Verhältnisse in Wirklichkeit vielfach liegen, macht ein
Beispiel aus der Deutschen Gemeindezeitung (Beiblatt zu Ur, 18. 1890)
klar. Hier schreibt der Oberbürgermeister zu Neinscheid eine Polizeiiuspektvr-
stelle aus und benachrichtigt die Stellensuchenden dabei, daß Nemscheid einen
Stadtkreis mit 40 000 Seelen bildet, daß das Polizeipersonal ans
einem Polizeiinspektor, zwei Pvlizeikvmmissaren und elf Sergeanten sowie
sechs Schutzleuten für den Nachtdienst besteht. Nach der vorhergehenden Aus¬
führung müßte aber das Personal in Nemscheid mindestens aus einem Polizei-
inspektor, vier Polizeikommisfareu und sechsundzwanzig Polizeisergeanten bestehen
neben einem vollständig ausreichenden Nachtwächterkorps. Es fehlt also in
Nemscheid an zwei Polizeikommisfaren und fünfzehn Polizeisergeanten. Welche
Folgen die ungenügende Besetzung einer solchen Polizeiverwnltnng hat, möge
man in der vorerwähnten Schrift über die Polizeireorganisation ersehen. Wenn
dies aber bei einer so intelligenten Gemeindeverwaltung und Vertretung, wie
sie sich in Nemscheid findet, vorkommen kann, so muß daraus geschlossen werde»,
daß die Aufsichtsbehörde nicht mit dein erforderlichen Nachdruck die Vervoll¬
ständigung und nötige Organisirung verlangt. Ist die Gemeinde dazu wegen
hoher Gemeindesteuern nicht imstande, so muß der Staat wirksam eintreten
und die Polizeiverwaltung übernehmen. Ebenso steht es in Oberhausen, einer
Treibhauspflanze, die in weniger als fünfzig Jahren aus einem unbekannten
Flecken zu einem wichtigen Eisenbahnknotenpunkt emporgewachsen ist. Falls
die an die Polizei gestellte gesetzliche Forderung, die öffentliche Ruhe, Sicher¬
heit und Ordnung zu erhalten, die dem Publikum drohende Gefahr abzuwenden
und die Übertreter der Strafgesetze zu ermitteln und zur Untersuchung und
Bestrafung zu bringen, erfüllt werden soll, muß man ihr die erforderliche Stärke
geben, sonst sinkt ihr Ansehen, und ihre Thätigkeit wird sich darauf beschränken,
die Gesetzesübertretungen zu sühnen, statt sie zu verhindern. Es soll keines¬
wegs verkannt werden, daß die Staatsbehörde in allen Polizeifragen mit be¬
sondern Schwierigkeiten zu kämpfen hat. Ist es doch dem Herrn Minister
des Innern bis jetzt noch nicht gelungen, den mehrmals eingebrachten Gesetz¬
entwurf wegen Regelung der Deckung der sächlichen Polizeikosten in beiden
Häusern des Landtages durchzubringen, obwohl diese Regelung durchaus nötig
ist, und die Anregung hierzu durch mehrere Beschlüsse des Abgeordnetenhauses
gegeben ist. Trotzdem kann nur bedauert werden, daß der Gesetzentwurf in
der letzten Sitzungszeit nicht wieder vorgelegt worden ist, und hoffentlich ge¬
schieht es noch in einer Herbstsitzung. Aber selbst das Scheitern dieses Gesetzes
dürfte von andern, nötigem Maßregeln nicht abhalten. Es würde sich empfehlen,
in erster Linie eine allgemeine Berichterstattung über die Verhältnisse der
Polizeiverwaltungen nach bestimmten Fragen zu fordern, und damit sich das
Material nicht gar zu sehr haust, könnte man diese zunächst auf alle Polizei-
Verwaltungen, städtische wie ländliche, königliche wie kommunale, bis zu
5000 Seelen abwärts ausdehnen. Das hierdurch gewonnene Ergebnis würde
zu uuaufschiebbareu Entschließungen drängen, weil eben die allgemeine Sicher¬
heit nicht nur in den rheinischen oder westfälischen Industriebezirken, sondern
auch anderswo wieder hergestellt werden muß, und sich dies nicht durch Neu¬
anstellung einiger Gendarmen, so nützlich eine solche auch ist, bewirken laßt.
Eine hieraus sich ergebende umfangreiche Darstellung unsrer größern
Polizeiverwaltungen würde die nötige Unterlage zu einer Reorganisation ge¬
währen und insbesondre nötige Forderungen beim preußischen Landtage be¬
gründen. Solche Forderungen würden, wie mit Sicherheit vorausgesetzt werden
kann, zu machen sein, da die großen Städte mit mehr als 50000 Seelen und
kommunaler Polizeiverwaltung, auch mit Hilfe von Zuschüsse», nicht in der
Lage sind, diese den Anforderungen der Zeit entsprechend einzurichten. Es
könnte hierbei nur in Frage kommen, ob man den betreffenden Gemeinden sehr
bedeutende Lasten auf den Etat bringen oder königliche Polizeiverwaltungen
auf Grund des 8 2 des Gesetzes vom 11. März 1850 einrichten will. Der
genannte Z 2 lautet: In Gemeinden, wo sich eine Bezirksregierung, ein Laud-,
Stadt- oder Kreisgericht befindet, sowie in Festungen und in Gemeinden von
mehr als 10000 Einwohnern kann die örtliche Polizeiverwaltnng durch Be¬
schluß des Ministers des-Innern besondern Staatsbeamten übertragen werden.
Auch in andern Gemeinden kann aus dringenden Gründen dieselbe Einrichtung
zeitweise eingeführt werden.
Bei dieser gesetzlichen Grundlage ist nicht Wohl zu erwarten, daß der
jetzige Landtag wegen der erforderlichen Kosten Schwierigkeiten machen wird.
Mag auch Opposition entstehen, die kommunalen Polizeiverwaltnngen sind ja
stets von der Demokratie gefordert worden, man wird sich der Verantwortung
eiuer Ablehnung bei nachgewiesenen Bedürfnis und mit Rücksicht auf die
Sozialdemokratie umso weniger aussetzen, als die augenblickliche Finanzlage
nicht ungünstig genannt werden kann. Mögen infolge einer solchen Forderung
auch einige Neubauten von Eisenbahnen zurückgestellt werden, es handelt
sich um eine unbedingt nötige Maßregel. Hierbei soll nicht unausgesprochen
bleiben, daß natürlich die Übertragung der ganzen örtlichen Polizeiverwaltungen
an königliche Behörden gemeint ist, nicht etwa eine Trennung der Ordnungs¬
und Wohlfahrtspolizei von der Sicherheitspolizei in Frage kommen kann, die
sich stets unzweckmäßig erweist. Mögen in Berlin die Sachen anders liegen,
die dortigen Verhältnisse lassen sich schon aus dein einen Grunde mit denen
der Provinzen nicht vergleichen, weil der Polizeipräsident in Berlin neben der
Ortspvlizeiverwaltung auch die Landespolizei hat und somit Vorgesetzter des
eiuen Teil der Ortspolizei verwaltenden Oberbürgermeisters von Berlin ist.
Das Allgemeine Landrecht sagt: „Die nötigen Anstalten zur Erhaltung
der öffentlichen Ruhe, Sicherheit und Ordnung, zur Abwendung der dem
Publikum oder einzelnen Mitgliedern desselben bevorstehenden Gefahr zu treffen,
ist dus Amt der Polizei." Es ist hiernach unzweifelhaft, daß dem Inhaber
der Polizeigewalt, insbesondre dem von Sr. Majestät ernannten Polizei¬
präsidenten oder Direktor die Ausübung der Sicherheits- und Ordnungspolizei
obliegt, und dem Versuch, Teile der letztern an Gemeindebehörden zu über¬
tragen, Bedenken, die auf vorstehende gesetzliche Bestimmung gegründet sind,
entgegenstehen. Aber auch abgesehen von diesen theoretischen Gründen, sind
Gründe praktischer Art vorhanden, da bei den jetzigen kommunalen Polizei¬
verwaltungen ersichtlich ist, wie wenig sie ihrer Aufgabe genügen, wie schlecht
z. B. überall neben dem mangelhaften Ordnungsdienst auf den Straßen der
nächtliche Sicherheitsdienst ist. Solche Mängel sind nicht geeignet, das Ver¬
traue!, zur kommunalen Polizei zu erhöhen und ihren Wirkungskreis zu er¬
weitern auf Kosten der besser verwalteten königlichen Polizei. Die Geschäfte
der Polizei sind staatlicher Natur; überträgt man sie an gewählte Gemeiude-
beamten, so schwächt man die Autorität des Staats gegenüber den ohnehin
sehr selbständigen Gemeinden. Auch die Steinsche Städteordnung vom
19. November 1808 hat lediglich die Verwaltung von Gemeindesachen nicht-
staatlicher Angelegenheiten im Auge. Ein Hauptschade unsrer Zeit ist die
künstliche Zusammenstellung verschiedner Verhältnisse. Durch Trennung der
Polizei in verschiednen Gebieten an verschiedne Behörden werden die Ver¬
hältnisse noch schwieriger. Möchte deshalb das einfachste auch als das beste
anerkannt und durchgeführt werden.
Der große Reorganisator des Militürwesens, v. Roon, hat sich ein un¬
sterbliches Verdienst um das Haus Hohenzollern und das preußische und
deutsche Vaterland erworben. Nicht minder groß wird das Verdienst dessen
sein, der Preußen und Deutschland seine Sicherheit wiedergiebt, indem er die
Polizei reorganisirt. Möge die große Arbeit bald begonnen werden; hohe
Zeit dazu ist es.
u seiner Schrift über ,,Treitschke und das junge Deutschland"
sieht der Verfasser, Paul Nerrlich, auf ,,unsern politischen
Genius" (Bismarck) im neuen Jahrhundert den religiöse» folgen
und meint, man werde sich dann auch desjenigen Mannes wieder
erinnern, vor dem selbst die beiden Humboldt bescheiden in den
Hintergrund treten müßten. Hegel werde wieder das Feldgeschrei werden, um
das sich die Besten der Nation, ja die Besten der Welt scharen würden, und
zwar „der Hegel, dein Strauß und Feuerbach die Schleppe tragen." Das wird
nun sicher nicht geschehen. Hegels System, sein wissenschaftlicher Gedanken¬
aufbau ist nicht mehr für unser heutiges Deuten als grundlegend in der Weise
anzusehen, daß Hegel auch heute noch wie einst Begründer und Meister einer
die ganze Wissenschaft beherrschenden Schule zu sein verdiente; im Gegenteil,
diese ganze sogenannte spekulative Erkenntnisweise, d. h. die Weise philosophi¬
scher Betrachtung, bei der der Gedanke sich rein ans sich selbst heraus, nicht
ans der Erfahrung und aus den Dingen entwickelt, diese rein logische Kon¬
struktion, deren gewaltigster Meister eben Hegel mit seinem rein gedanklichen
Aufbau der Welt war, ist für immer dahin. Ehe man heutzutage überhaupt
an ein Aufbauen von Gedanken geht, beobachtet, wägt, mißt und zählt man
erst, und was man so durch exakte Forschung, also auf dein Wege des er-
fahrungsmäßigen Beobachteus, als Thatsache gefunden hat, das übergiebt die
Naturwissenschaft (das Wort im weitesten Sinne) der Geisteswissenschaft, der
Philosophie, zur weitern Verarbeitung des Gedankens. Also nicht, weil Hegel
noch nach allen Seiten hin der Philosoph unsrer Zeit sein könnte, ist er sür
uns von Bedeutung; die logisch-metaphysische Seite seines Systems, dnrch die
er sich als der größte moderne Gnostiker darstellt, ist für unser heutiges Deuten
eine überwundene Sache, und darum ist gerade seine religiöse Anschauung für
uns ebenfalls eine überwundene Sache. Aber etwas andres ist es mit den
Stücken seines Systems, wo auch sein Denken wirklich korrekt, d. h. dem Gebiete
der Erfahrung, sowohl der äußern als der innern Erfahrung, entnommen ist.
Das ist aber vorzugsweise auf dem Gebiete der Sittlichkeit der Fall. Da giebt
sich bei ihm ein außerordentlich tiefes und bedeutendes Erfassen der sittlichen
Idee in allen ihren Beziehungen kund, und daher kommt es auch, daß gerade
auf diesem Gebiete viele Hegelsche Ausdrücke so sehr Gemeingut der Wissen¬
schaft geworden sind, daß auch die heutige wissenschaftliche Sprache noch damit
arbeitet.
Wir wollen uns hier mit Hegels Auffassung der Familie beschäftigen,
besonders, wie er sie in seiner Rechtsphilosophie niedergelegt hat, demjenigen
Hegelschen Werke, von dem vorzugsweise das Wort von Ed. Gans gilt:
„Seine unterscheidende Kunstsprache wird sich verlieren, aber seine Tiefen werden
ein Gemeingut werden." Und zwar fragen wir näher darnach, wie Hegel den
Begriff, die Idee der Sittlichkeit in der Form der Familie faßt. Wir wollen
also, was wir ausdrücklich betonen, hier nicht etwa über die Sittlichkeit in der
Familie reden, sondern unsre Betrachtung soll darauf gehen, inwiefern sich die
Idee der Sittlichkeit eine Gestalt giebt in dem menschlichen Verhältnis, das
wir „Familie" nennen.
Um was es Hegel beim Aufbau seiner Rechtsphilosophie in letzter Absicht
zu thun war, das ist die Lehre vom Staate. Wenn aber irgendwo, so ist in
der Lehre vom Staate die Hegelsche Auffassung die der heutigen Welt geworden.
Der Staat ist für Hegel, was er heutzutage für jede wissenschaftliche Auffassung
ist, die Gesamtheit der Sittlichkeit, d. h. die alle sittlichen Mächte in sich
schließende, umfassende Form. Fragt man, was heißt „sittlich," so ist nach
Hegel das Sittliche diejenige „Subjektivität, die die Objektivität des Guten zu
ihrem Inhalt hat," d. h. mit nicht technischen Ausdrücken die Sache wieder¬
gegeben, das Sittliche ist die Gesinnung, die das an sich seiende Rechte, die
Idee, den Begriff des Guten zu ihrem Inhalte hat. Wir bezeichnen das mit
dem Ausdrucke ,,Moralität/' im Unterschiede von „Legalität," die bloß ein
äußerliches gesetzliches Verhalten ist. Diese Moralität nennt Hegel auch selbst
mit einem schonen deutschen Ausdruck das „lebendige Gute" oder die „Freiheit"
und kommt so zu dem bedeutungsvollen Satz: Die Sittlichkeit ist die Freiheit
oder das lebendige Gute.
Indem nnn Hegel die Idee der Freiheit in ihren einzelnen „Momenten
konstruirt," oder (um auch hier die wrirüiu tsolluiei fallen zu lassen, denn
man kann auch die Hegelsche Philosophie ganz gut mit deutschen Ausdrücken
wiedergeben, wenn es auch schwer ist, man muß sie nur verstanden haben),
indem er die Ordnung der sittlichen Bestimmungen des Guten wissenschaftlich
gegliedert aufführt und hinstellt, stellt er auch damit die sittlichen Mächte auf,
deren zusammeufcissende Ordnung, ihre Gesamtheit, wie bereits gesagt, sür
Hegel der Staat ist, dieser gegliederte Bau der Vernünftigkeit, worin die Ver¬
nunft ihre Objektivität, ihre Wirklichkeit hat. Der Satz: Im Staate besitzt
die Sittlichkeit ihr eignes Wesen, und der andre Satz: Im Staate hat die
Vernunft ihre Wirklichkeit, drücken dasselbe aus. Darin, daß der Einzelne
Bürger eines guten Staates ist, kommt der Mensch, wie zu seiner Vernünftig¬
keit, so zu seiner Sittlichkeit, und in diesen beiden zu seiner Freiheit.
Es fragt sich nun: welches sind die „Momente," d. h. die einzelnen Teile
und Glieder der Sittlichkeit, die den Bau der höchsten Vernünftigkeit aus¬
machen, mit andern Worten: welches sind die sittlichen Mächte, die die Vor¬
aussetzungen und Grundlagen des Staates bilden? In der Beantwortung
dieser Frage kommt Hegel auf die Familie zu sprechen. Die Lehre von der
Familie bildet ihm einen integrirenden, einen zum Ganzen notwendig gehörenden
Teil der Lehre vom Staate. Sie ist die Grundlage im System, im Lehr¬
gebäude der Sittlichkeit. Betrachten wir uns das näher.
Was Hegel als die sittliche Substanz, als das sittliche Wesen der Familie
ansieht, ist das, daß in ihr „die Substantialität des Geistes," d. h. sein wesen¬
haftes Sein, sich als Einheit meiner und des andern oder der andern un¬
mittelbar geltend macht. Der Ton liegt hier auf dein „unmittelbar." Denn
Geist als unmittelbarer gesetzt ist Empfindung. Der Geist der Familie ist
also sich empfindende Einheit. Diese Einheit des einen mit dein andern als
Empfindung nennen wir Liebe. Der Einzelne hat nun in der Familie sein
Selbstbewußtsein eben in dieser Einheit, in der Familienliebe. Darum will
er in seiner Familie nicht Person für sich sein, sondern er weiß sich als
„Mitglied" seiner Familie. In der Einheit der Familie giebt es kein „Für¬
sichsein." Mein wahres Selbstbewußtsein hube ich da vielmehr im Aufgeben
meines Selbst. In der wahren Familie ist die Liebe allein der sie be¬
stimmende Geist.
Wenn nun die Liebe Empfindung, empfundene Einheit ist, so erklärt es
sich, wie im Staate nicht mehr sie das Bestimmende sein kann; denn die Einheit
des Staates ruht nicht mehr in der Empfindung, sondern in der Bernnuft;
das Bestimmende im Staate ist die Einheit des Gesetzes, denn im Gesetze giebt
sich die Vernunft des Staates ihren Ausdruck. Je mehr nun die Familie in
ihre Auflösung übergeht, was dadurch geschieht, daß die Glieder einer Familie
zu selbständigen Personen werden, umso mehr tritt auch das Gesetz um die
Stelle der Liebe; je mehr dagegen die Familie in ihrer Einheit ruht, desto
weiter ist sie vom Gesetz. Ihre Wahrheit besteht in der Einigkeit.
Aus diesen Sätzen ergiebt sich von selbst die Stellung, die Hegel der Frau
anweist, deren Leben und Wirken sich in der Einheit der Familie abspinnt und
nichts mit der Leitung des Staates und der öffentlichen Geschäfte zu thun
hat. Frauenemanzipation als ein Heraustreten der Frau aus den Grenzen
des Hauses und eine Teilnahme an den öffentlichen Geschäften war für Hegel
nicht nur ein Greuel, sondern auch ein Unsinn, ein Verstoß gegen die Vernunft.
Vorschläge, wie den unsrer fortschrittlichen Politiker diesseits und jenseits des
Wassers, ältern oder jünger» Damen das Wahlrecht zu geben, oder auch uur
sich als Studenten aufspielen zu lassen, oder gar Versuche von Frauenhänden,
die Staatsmaschine regieren zu wollen, würde Hegel als ganz unstatthaft und
weil mit dem Wesen der Frau nicht verträglich, darum unvernünftig, zurück¬
gewiesen haben.
Es fragt sich null weiter: Welches sind die „die Totalität der Familie
konstitilirenden Momente/' d. h. was gehört zur Bildung der Familie, nach
welchen Seiten hin vollendet sie sich? Als solche die Familie vollendende Seiten,
wie Hegel es nennt, „Momente," giebt er drei an; sie vollendet sich in der Ehe,
in dem Gut der Familie, in der Erziehung der Kinder.
Die Ehe ist die natürlich-geistige Einheit zweier Personen verschiednen
Geschlechts. Mit dieser Bestimmung ist ausgesagt, daß in der Ehe das „bloß
Natürliche" in ein Geistiges, Bewnßtes, sittliches umgewandelt wird. Die
Ehe ist darum wesentlich ein sittliches Verhältnis. Sie ist nicht bloß in die
Liebe zu setzen als zufällige Neigung, sondern in die sittliche Liebe, „die zu¬
gleich das Moment des Rechts in sich aufgenommen," das Recht als Bestand¬
teil in sich hat, wodurch die Ehe ein „Ehestand" und damit von dem „bloß
Subjektiven," d. h. hier von dem Launenhaften der Neigung, befreit wird.
Allerdings, der Ausgangspunkt der Ehe ist subjektiv; zunächst die besondre
Neigung der beiden Personen, oder auch die Veranstaltung der Eltern; Hegel
ficht diese Veranstaltung der Eltern unter gewissen Verhältnissen als ganz
ordnungsmäßig an; er sagt, es hänge das von der Reflexion der Betreffenden
ab, d. h. vou der Ausbildung ihrer geistigen Anlagen und des Verhältnisses,
das sie sich zur Welt geben. Subjektiv ist weiter auch noch der Ausgangs¬
punkt für die Ehe, wenn der Entschluß zur Verehelichung den Anfang macht
und die Neigung zur Folge hat, sodaß bei dein Eintritt in den Ehestand nur
beides, die Fürsorge und die Neigung, vereinigt ist. Hegel meint, es könne
dies sogar als der sittlichere Weg angesehen werden. Gegen die Verheiratung
zu jugendlicher Personen, wo von keiner Seite noch eine Fürsorge für ein
Hauswesen getroffen ist, und gegen eine Gesetzgebung, die das Eingehen der
Ehe allzuleicht macht, würde sich Hegel nach dem, was er hier bei diesem
Punkte sagt, mit aller Entschiedenheit gewendet haben.
Zu diesem subjektiven, d. h. in der Neigung und in dein Entschluß der
beiden Personen gelegenen Ausgangspunkt, muß aber nun der objektive, d. h.
hier der nach außen sich geltend machende und kund gebende hinzukommen,
um das Eheverhältnis, den Ehestand, zu begründen. Er besteht in der freien
Einwilligung der Personen, eine Person ausmachen zu wollen, ihre Einzel-
persönlichkeit in der Einheit der Ehe aufzugeben, eine Selbstbeschränkung, die
doch zugleich eine Befreiung der Persönlichkeit ist, weil in der Einheit der Ehe
erst das „substantielle Bewußtsein" gewonnen wird, d. h. dasjenige Bewußt¬
sein, das sich im andern eins weiß und darin erst sein wahres Selbst hat.
Diese freie Einwilligung ergänzt Hegel an einer andern Stelle seiner Rechts¬
philosophie dadurch, daß er die Schließung und Wirklichkeit der Ehe zu stände
kommen läßt durch eine feierliche Erklärung der Einwilligung zum Ehebunde
und durch eine Anerkennung und Bestätigung dieser Erklärung von seiten der
Familie und der Gemeinde. Gerade durch das Vorangehen dieser feierlichen
Erklärung und Anerkennung durch die Sprache als das geistigste Dasein des
Geistigen wird die eheliche Verbindung als eine sittliche hingestellt.
Als sittliche Einheit beruht die Ehe nun in der Liebe, dem Zutrauen und
der Gemeinsamkeit der ganzen „individuellen Existenz," der ganzen Persön¬
lichkeit, und je mehr sich dieser ihr substantieller, wesenhafter Zweck ver¬
wirklicht, je mehr das geistige Band zu feinem Rechte kommt, umso mehr wird
die Ehe von der Zufälligkeit der Leidenschaft gelöst. Falsch dagegen ist die
mönchische Ansicht, die Seite der Natürlichkeit schlechthin zu negiren und
als unberechtigt aufzuheben. Denn sie giebt der Natürlichkeit eben dnrch die
Trennung von dem Geistigen eine unendliche Wichtigkeit für sich, die ihr gar nicht
zukommt. Sie ist eine Anschauung, die auf dem Grunde einer rohen Zeit steht
und für eine solche paßt. Gerade das unterscheidet die Ehe vom Konkubinctt, daß
es bei diesem hauptsächlich auf die Befriedigung des Naturtriebes ankommt,
während dieser bei der Ehe zurückgedrängt ist. Eheleute sprechen darum ohne
Erröten von natürlichen Vorgängen, die sonst ein Schamgefühl hervorbrächten.
Je mehr die Ehe um ihren Zweck erreicht, desto unauflöslicher ist sie.
An sich ist sie, da ihr Zweck ein sittlicher ist, unauflöslich, d. h. sie soll nicht
aufgelöst werden. Aber sie ist es nur an sich, ihrer Bestimmung nach, und
darum trägt sie auch die Möglichkeit der Auflösung in sich. Das thut sie,
weil sie die Seite der Empfindung in sich hat, diese zu ihrem Bestände
gehört. Wo Empfindung ist, da ist auch Schwanken möglich. Die Gesetz¬
gebungen müssen die Auflösung der Ehe aufs schärfste erschweren, um das
Recht der Sittlichkeit gegen das Belieben aufrecht zu erhalten; aber sowenig
ein Zwang stattfinden kann, in die Ehe zu treten, so wenig giebt es ein nur
rechtlich positives, verpflichtendes Band, das die Eheleute bei entstandenen
niedrigen und feindseligen Gesinnungen noch zusammenzuhalten vermöchte. Sie
kann also, und es ist das ein wesentlicher Unterschied zwischen der ehelichen
und der staatlichen Vereinigung, getrennt werden, wenn eine gänzliche Ent¬
fremdung eingetreten ist, wie z. B. durch Ehebruch. Hegel zitirt dies Bei¬
spiel, aber eben nur als Beispiel; jede Art gänzlicher Entfremdung erlaubt die
Ehescheidung. Er bezieht sich hier auf ein Wort Christi: ,,Um eures Herzens
Härtigkeit willen" ist die Scheidung zugestanden.
Zur Scheidung selbst ist aber eine sittliche Autorität notwendig, die das
Recht der Ehe und ihres sittlichen Wesens (ihrer Substantialität, wie Hegel
sagt) gegen die Zufälligkeiten bloß „temporärer" Stimmung festhält, diese von
der völligen Entfremdung unterscheidet, die letztere anerkennt und erst in
diesem Falle die Scheidung eintreten läßt.
Sehr ausführlich, in einem besondern Zusatz zu 8 164 der Rechtsphilo¬
sophie, spricht Hegel über eine Anschauung von der Ehe, sowohl ihrem Ein¬
gehen als ihrem Bestand, wie sie die heutige Sozialdemokratie wieder zur Gel¬
tung bringen will. Er behandelt da die Ansicht von der freien Liebe, der die
Schließung der Ehe als überflüssig erscheint, als bloße Formalität, weil nnr
die Liebe das „substantielle," das allein Gehaltvolle sei. Zu Hegels Zeit
hat Friedrich vou Schlegel diese Ansicht in der Lucinde aufgestellt. Es ver¬
steht sich von selbst, daß Hegel bei seinem ausgeprägten Sinn für das Echte
in den sittlichen Verhältnissen, sich für die unbedingte Forderung erklärt, daß
die Liebe die Gestalt der Ehe erhalte, weil nur in ihr die beiden Seiten,
die in der Liebe sind, die natürliche und die sittliche, ihr wahrhaftes, ver¬
nünftiges Verhältnis erhalten. Dabei sagt Hegel über die ehelvse Hingebung
und deren verschiedne Beurteilung in der Gesellschaft nnr Mann und an der
Frau, daß diese sich daraus erkläre, daß das Mädchen in der sinnlichen Hin¬
gebung ihre Ehre aufgiebt, was bei dem Manne, der noch ein andres Feld
seiner sittlichen Thätigkeit als die Familie hat, nicht so der Fall sei. Die
Bestimmung der Frau besteht wesentlich nur in dem Verhältnis der Ehe.
Der Mann hat dagegen sein wirkliches, substantielles, d. h. hier sein berufs¬
mäßiges Leben im Staat, im Kampf und in der Arbeit mit und in der
Außenwelt. Ans den Gegensätzen und Widersprüchen, durch die er hier hin¬
durch geht, erkämpft er sich seine sittliche Stellung wie seine Überzeugung, die
Einheit mit sich selbst, die Treue gegen sich selbst. Diese Einheit mit sich,
die der Mann im Kampfe mit der Außenwelt erringen muß, diese hat die
Frau in „subjektiver Sittlichkeit," in der Weise der Empfindung, oder wie
Hegel das einmal sehr schön nennt, in der Form der Pietät, ein Wort, was
recht schwer zu übersetzen ist, wenn man es dem ganzen Umfange seiner Be¬
deutung nach zum Ausdruck bringen will. Denn mit Pietät will Hegel die
Einigkeit des Empfindens und der sittlichen Gesinnung bezeichnen; er nennt
das auch ,,substantielle Innerlichkeit," eine Innerlichkeit, die sich eins fühlt
mit den geltenden sittlichen Mächten. Sie nun, diese in dem sittlichen Wesen
gegründete Innerlichkeit, diese Pietät, ist vorzugsweise das Gesetz des Weibes,
wie es Sophokles in der Antigone als der erhabensten Darstellung aller Pietät
ausgesprochen hat. Es ist zugleich das ewige Gesetz, das Gesetz der Unter¬
irdischen, von dem niemand weiß, von wannen es kam, das ungeschriebene
Gesetz, im Gegensatz zu dem Gesetz des Staates, dein geschriebenen. Die
Pietät hat aber ihre Heimstätte in der Familie, und das ist der Grund, wes¬
halb die Frau das Haus uach innen zu vertreten, im Hause zu walten hat.
Wie der Mann die Sittlichkeit am Weibe in der Form der Pietät anschaut
und ein pietätloses Weib ihm immer ein Greuel sein wird, so wird er dagegen
die Frau zarten Sinnes gern als Herrin des Hauses betrachten und ihrem
Urteil überall da vertrauen, wo es sich um die „ungeschriebenen Gesetze"
handelt. Es ist aber auch wegen dieser Bestimmung des Weibes, daß die
Bildung der Frau sich mehr im ruhigen Entfalten, der Pflanze ähnlich, voll¬
zieht, als im Eifer des Ringens; sie geschieht mehr durch die Vorstellung,
als durch den Gedanken, und mehr durch das Leben am häuslichen Herd, als
durch das Erwerben von wissenschaftlichen Kenntnissen.
Aus dem Begriff der Ehe ergiebt sich, daß sie Monogamie, Einehe ist.
Denn wenn sie die gegenseitige ungelenke Angehörigkeit ist, „Identität
meiner im Andern," so kann das Andre nur als „Individuum," als persönliche
Eigenheit erfaßt werden. Die Monogamie ist darum ein „absolutes Prinzip,"
eine unbedingte Boraussetzung, worauf die Sittlichkeit eines Gemeinwesens
beruht, und die Stiftung der Ehe gilt als eines voll den Gesetzen der gött¬
lichen Ordnung, wie sie sich in dem umfassendsten Gemeinwesen, dem Staate,
darstellt.
Weiter geht aus dem Begriff der Ehe hervor, daß sie aus ursprünglich
verschiednen Persönlichkeiten, also aus getrennten Familien geschlossen werde.
Denn zur vollen Persönlichkeit gehört deren Eigentümlichkeit. Aber innerhalb
ein und derselben Familie, dieses „natürlich-identischen," natürlich-einheitlichen
Kreises, haben die Personen eben nicht diese eigentümliche, für sich selbst seiende
Persönlichkeit gegen einander. Weil nun die Eigenheit fehlt, kann auch uicht
das Aufgehen im Andern die volle Freiheit haben, die zu einer sittlichen Hand¬
lung und zu einem sittlichen Verhältnis gehört. Die Ehe unter nahen Bluts¬
verwandten ist daher ihrem Begriffe selbst zuwider, wie sie auch wahrhafter
natürlicher Empfindung zuwider ist. Blutsverwandte sind schon in unmittel¬
barer Natürlichkeit vereinigt; was aber schon vereinigt ist, das kann nicht erst
noch vereinigt werden. Was vereinigt werden soll, das muß vorher getrennt
sein. So ist die Scheu vor Ehen unter Blutsverwandten schon durch den
Begriff der Sache gerechtfertigt, wie es denn auch bekannt ist, daß die Kraft
des Geistes und des Körpers bei fortgesetztem Heiraten in einer Familie immer
mehr abnimmt; Kraft stellt sich überall nur her aus Gegensätzen.
Wir kommen nun an das zweite Stück, das die Familie bildet, um das
Gut der Familie. Als eine Einheit hat die Familie ihre äußerliche Realität,
ihren äußerlichen Bestand in einem Eigentum; durch das Eigentum hat sie
ihr Dasein als ein wirksames, wodurch sie etwas vermag. Daher ist das
Eigentum das Vermögen der Familie. Es gehört also zum „substantiellen
Dasein" der Familie und bildet einen wesentlichen Bestandteil von ihr, oder,
wie Hegel das ausdrückt: das Vermögen der Familie bildet „ein den Begriff
derselben kvnftitnirendes Moment." Wie die Familie eine Einheit ist, so ist
sie auch eine rechtliche Person; darum hat sie, wie die Person überhaupt, das
Bedürfnis eines bleibenden sichern Besitzes; solchen Besitz nennen wir eben
Vermögen. Das Streben nach Vermögen wird erst in der Familie wahrhaft
sittlich. Denn das Bedürfnis sowie die Eigensucht des bloß Einzelnen ver¬
ändert sich in der Familie in die Sorge für ein Gemeinsames. Darin liegt
die sittliche Bedeutung des Vermögens, des festen Eigentums. Darum er¬
scheint anch die Einführung des Eigentums und die der Ehe in den Sagen
von den Stiftungen der Staaten bei einander, wie wir sie auch bei einander
finden in der herrlichsten poetischen Wiedergabe dieser Sagen in Schillers
„Eleusischem Feste."
Die Sorge für die Bedürfnisse und damit für den Erwerb nach außen
sowie die Verwaltung und die Verfügung über das Familienvermögen kommt
dem Manne zu, der die Familie als ihr Haupt vertritt. Trotzdem ist der
Erlverb gemeinsames Eigentum, an das jedes Familienglied sein Recht hat,
ohne daß irgend ein Glied ein besondres Recht daran geltend machen könnte.
Wegen dieses gemeinsamen Rechtes und des dem Haupte der Familie zustehenden
Verfügungsrechtes, das etwas Besonderes ist, können „Kollisionen" zwischen
dem Haupt und den andern Familiengliedern vorkommen, von denen Hegel
nicht fagt, wie sie ihre Lösung finden. Eine allgemeine Regel dafür läßt sich
auch gar uicht aufstellen; jeder Fall erfordert feine eigne Lösung, die bisweilen,
wenn starke Gegensätze in Konflikt geraten, recht tragischer Natur ist.
Aus dem Gesagten ergiebt sich, daß in der Ehe Gütergemeinschaft das
natürlich-sittliche Verhältnis ist. Ehevertrüge haben nur einen Sinn für den
Fall der Trennung der Ehe, sei es durch Tod »der sonstwie. Für solchen
Fall wird dann durch Gesetz oder Bertrag den zur Familie gehörigen ihr
Anteil an dein Gemeinsamen erhalten. Daß aber das Vermögensverhn'tems
einen wesentlichem Zusammenhang habe mit einer noch weitern Blutsverwandt¬
schaft, als mit den in der Familie durch die Ehe verbundenen Personen, daß
etwa, um den Familienglanz, den 8xIönÄor k-urrilws, zu erhalten, nur die
männlichen Mitglieder zur Familie gerechnet werden oder, soweit das Ver¬
mögen in Betracht kommt, in einem besondern, bevorzugten Verhältnis stehen,
entspricht dem sittlichen Wesen der Familie nicht.
Das dritte „Moment," durch das sich die Familie vollendet, ist die
Erziehung der Kinder. Gehört zur Ehe die Einheit, die als ihr natürlich¬
sittlicher Gehalt, als ihre „Substantialität" vorerst Innigkeit, Gesinnung ist
und in beiden Eheleuten gesondert besteht, so tritt im Kinde die Einheit der
beiden Eltern als eine für sich seiende Existenz, als Gegenstand auf, und zwar
als Gegenstand ihrer Liebe. Ihre eigne Liebe wird ihnen im Kinde objektiv.
Die Mutter liebt im Kinde den Gatten, dieser in ihm die Gattin. Sie haben
beide in ihm ihre Liebe vor sich. Ist im Vermögen die Einheit nur in einer
äußerlichen Sache vorhanden, so ist sie es in den Kindern in einem Geistigen,
in dem die Eltern sich lieben und das sie lieben.
Wegen der Einheit mit den Eltern hat das Kind das Recht, aus dem
gemeinsamen Familienvermögen ernährt und erzogen zu werden. Erzogen,
weil der Mensch das, was er sein soll, nicht aus Instinkt wird, sondern es
sich erwerben muß. Das Kind hat also ein Recht, erzogen zu werden. Da¬
gegen haben die Eltern ein Recht auf die Dienste der Kinder. Sie haben
auch ein Recht auf die Willensbestimmung des Kindes. Aber dies wird in
beiderlei Hinsicht durch den Zweck bestimmt, sie in Zucht zu halten und zu
erziehen. Auch die Dienste, die von den Kindern gefordert werden, dürfen
nur den Zweck der Erziehung haben und müssen sich auf sie beziehen; sie
dürfen nicht etwas für sich sein wollen. Das unsittlichste Verhältnis ist das
Sklavenverhältnis der Kinder.
Eine Hauptsache der Erziehung ist die Zucht. Durch sie gilt es, das
bloß Natürliche auszurotten, d. h. den Eigenwillen zu brechen. Wenn im
Staate der Zweck der Bestrcisnng die Erfüllung der Gerechtigkeit ist, d. h.
daß dem Recht genug geschehe, so ist am Kinde die Strafe sittlicher Natur,
nämlich Erhebung des noch im Sinnlichen, im Natürlichem? befangnen Willens
und Bewußtseins zum allgemeinen (allgemein giltigen), zum sittlichen Wollen.
Wo es aber gilt, das Natürliche auszurotten, da muß man nicht meinen,
bloß mit Güte, mit Gründen und Vorstellungen auszukommen. Denn gerade
darin besteht der natürliche Wille, daß er nach Gelüsten, also nach unmittel¬
baren Einfällen handelt, nicht nach Gründen und Vorstellungen- Legt man
den Kindern Gründe vor, so stellt man alles in ihr Belieben; denn man über-
laßt es ihnen, ob sie diese wollen gelten lassen. Die Kinder haben das Gefühl
der Unterordnung und darum das Bedürfnis des Gehorsams; wird dies nicht
genährt, so entsteht vorlautes Wesen, Naseweisheit. Die Notwendigkeit,
erzogen zu werden, ist in den Kindern eben als das Gefühl vorhanden, in
sich, so wie sie sind, unfertig zu sein; daher die Sehnsucht groß zu werden,
der Welt der Erwachsenen, die sie als etwas Höheres ahnen, anzugehören.
Die Pädagogik der Güte, diese spielende Pädagogik, ist dagegen bestrebt, die
Kinder in ihrer Unfertigkeit als fertig vorzustellen und sie darin befriedigt zu
machen. Sie nimmt das Kindische als etwas, das schon an sich gelte, und
setzt ihnen das Ernsthafte in eine kindische, von den Kindern selbst gering
geachtete Form herab. So verunreinigt sie das eigne bessere Bedürfnis des
Kindes und bewirkt teils Interesselosigkeit und Stumpfheit für die Welt des
Geistes, teils Verachtung der Menschen, die sich ihnen selbst als kindisch vor¬
gestellt haben. Dagegen schafft sie eine Eitelkeit und einen Eigendünkel, der
sich an der eignen Vortrefflichkeit weidet.
Wenn aber Hegel die Zucht als Hauptsache aller Erziehung hinstellt, so
ist er weit entfernt, etwa darunter das Verhältnis des römischen Kindes zum
Vater zu verstehen. Dieses nennt er vielmehr eine Einrichtung, durch die sich
die römische Gesetzgebung befleckt habe, eine Kränkung der Sittlichkeit in ihrem
innersten und zartesten Leben. Im Gegenteil kommt ihm alles darauf an, daß die
Sittlichkeit in dem Kinde zur unmittelbaren, gegensatzlvsen Empfindung werde.
In dieser soll als dem Grnnde des sittlichen Lebens das Gemüt in Liebe,
Zutrauen und Gehorsam sein erstes Leben gelebt haben. Dumm, weil die
Sittlichkeit zuerst als Empfindung in das Kind gepflanzt werden muß, ist die
Erziehung durch die Mutter für das erste Leben des Kindes so überaus
wichtig.
Mit der vollendeten Erziehung hat die Familie ihren Zweck erreicht.
Dieser Zweck ist, sich aufzulösen. In der Volljährigkeit wird die freie Per¬
sönlichkeit des Erzogenen anerkannt und damit seine Fähigkeit, teils eignes,
freies Eigentum zu haben, teils eine eigne Familie zu stiften, worin er nun¬
mehr seine wesentliche Bestimmung hat und gegen die die erste Familie als
erster Grund und Ausgangspunkt zurücktritt.
Die natürliche Auslösung der Familie dnrch den Tod der Eltern,
insonderheit des Vaters, hat in Ansehung des Vermögens die Erbschaft zur
Folge, die also ihrem Wesen nach ein Eintreten des Familienmitgliedes in den
eignen Besitz des bisher gemeinsamen Vermögens ist. Neben dieser Erbschaftsart
ad intsswto giebt es eine zweite Weise zu erben, durch Testiren. Aber das
Testiren darf nicht bloße Willkür sein; willkürliches Recht zu testiren als ein
Prinzip für Erbfolge gelten zu lassen, wie es das römische Recht thut, ist
Härte und Unsittlichkeit zugleich. Solch willkürliches Recht steht dem Rechte
der Familie gegenüber und enthält sür sich nichts, was höher als das Familien-
recht zu achten wäre. sittlicherweise kann ein solches Dispositionsrecht nur
da eingeräumt werden, wo kein voller Familienkreis für den Disponenten dn
ist; je entfernter das Familienverhältnis ist, worin er steht, desto unwirksamer
wird es in Beziehung anf die Erbfolge. Wo aber der Familienkreis wirklich
da ist, würde die Unwirksamkeit des Fanlilienverhältnisses zum Unsittlichen
gehören. Auch wo Glieder der eignen Familie zwar da sind, aber bereits zu
rechtlich selbständigen Personen geworden sind, da mag innerhalb des Familien¬
kreises etwas von Willkür und Unterscheidung unter den Erben eintreten; sie
darf aber doch nur höchst beschränkt stattfinden, um das Grundverhältnis, die
Gleichheit, nicht zu verletzen.
Eine Ungleichheit eintreten zu lassen, etwa zur Erhaltung und zum Glanze
des Stammes oder Hauses, durch Familienfideikommisse u. s. w., beruht auf
einer Willkür, die nach Hegel kein sittliches Recht für sich hat. Denn nicht
sowohl dieser Stamm, dieses Haus hat das Recht, aufrecht erhalte» zu werden,
sondern zuerst die Familie selbst. In solchen Einrichtungen ist die Bedeutung
der Ehe, daß sie die Stiftung einer eigentümlichen Familie ist, gegen die die
Ltil'pk! oder ssens zu einem fremden Wesen wird, vollständig verkannt. Das
Recht der Ehe gründet sich zuerst auf die Liebe; diese aber ist Empfindung für
wirkliche, gegenwärtige Personen, nicht für ein Fremdes, ein „sich verunwirk-
lichendes Abstraktum."
So sieht Hegel in der Befugnis zu testiren mehr eine Verletzung sittlicher
Verhältnisse, als eine sittliche Berechtigung der Freiheit. Testamente sind zu
gestatten, aber, wie schon oben angedeutet, der Gesichtspunkt hierfür muß sein,
daß dieses Recht mit dem Auseinanderfallen und der Entfernung der Familien¬
glieder entsteht und größer wird nach dem Maße solcher Entfernung. Über¬
haupt ist mit dem Testiren, abgesehen davon, daß dadurch sür allerlei nieder¬
trächtige Bemühungen eine Gelegenheit geschaffen wird, etwas Widriges und
Unangenehmes verbunden; denn man erklärt in dem Testamente, wer die seien,
denen man geneigt ist. Die Zuneigung ist aber etwas Willkürliches; sie kann
auf diese oder jene Weise erschlichen werden, an diesen oder jenen läppischen
Grund geknüpft sein. Streng genommen läßt sich ein Recht zu testiren nur
in Ermangelung der eignen Familie behaupten.
Das sind Hegels Gedanken über die Sittlichkeit in der Form der Familie.
Man braucht nicht Hegelianer zu sein, um ihr Schwergewicht zu fühlen.
Worauf wir schon in'nwiesen, gerade in den sittlichen Fragen hat sich Hegel
als der Denker erwiesen, der das Vernünftige in den sittlichen Verhältnissen,
das zugleich ihre Wahrheit ist und darum ihre Wirklichkeit sein soll, mit klarem
Ange erkannt und ins denkende Bewußtsein erhoben hat. Darum, so sehr auch
seine Philosophie in ihrer Schulform vergangen ist und so sehr seine logisch-
metaplnMchen Spekulationen vielfach als bodenlose Idealität zu betrachten
sind, die Tiefe seiner Gedanken auf dem sittliche» Gebiete, sein Urteil über
die sittlichen Werte und deren eindrucksvolle Betonung für ein edles und ver¬
nünftiges Menschentum stellen auch Hegel in die Reihe der erlauchten Geister,
von denen Goethe sagt:
Preiset die Würdigsten hoch! Wie herrlich leuchtende Sterne
streute sie ans die Natur durch den unendlichen Rain».
as erste folgenreiche Erlebnis jedes tiefer angelegten Menschen
nach erwachtem Selbstbewußtsein ist der Konflikt mit der Kon¬
vention, der Gegensatz, in den die Innerlichkeit mit ihren Träumen
und Idealen zu der sie umgebenden Gesellschaft gerät, die diesen
Idealen nicht entspricht. Das erlebt jedes tiefere Gemüt, das
gehört zu den Jugendkrankheiten des edleren, reicher angelegten Geistes, und
davon haben unzähligemale Dichter, Philosophen und Biographen berichtet.
Goethe tritt in die Litteratur mit Werthers Leiden ein: Werther ist kein Mann
der Gesellschaft; Schiller will mit seinen Räubern das tintenklecksende Säkulum
aus den Fugen treiben; der grüne Heinrich Gottfried Kellers gerät gar schon
in der Schule in Konflikt mit dem Lehrer, der sich den wunderlichen Knaben
nicht erklären kann; Byron ist wie Jean Jacques Rousseau sein ganzes Leben
in diesem 'Gegensatz stecken geblieben; Hebbels Maria Magdnlena hat dasselbe
Thema des Widerspruches zwischen Natur und Übereinkunft; und Schopenhauer
erklärt nicht mit Unrecht jeden Jüngling geradezu für einen Flachkopf, wenn
nicht für eine gemeine Natur, der diesen schicksalsvollen Konflikt mit der Gesell¬
schaft, in die er hineinzuwachsen hat, nicht erleben muß. Denn die wirklichen
Zustände der menschlichen Gemeinschaft stimmen mit den Forderungen eines
naiven Ideals niemals überein. Sie sind vielmehr das Ergebnis von Zu¬
geständnissen, Abfindungen mit ihm und überkommenen Zuständen, die teils
geachtet, teils gefürchtet werden. Macht und Recht auf Macht sind nicht
immer und überall in derselben Hand vereinigt. Der reiche Mann ist nicht
immer der weise Mann oder auch uur der gute Mann. Unsre Eltern und
Erzieher, zu denen wir in langen Kinderjahren verehrungsvoll emporsahen,
sind nicht immer wirklich jene Ideale, die wir nach errungener Klarheit und
erwachter Erkenntnis als die allein verehrungswürdigen anerkennen. Und so
geht es fort, vom engsten Kreise der Familie bis in die weitern und weitesten
Kreise des gesamten Zustandes der Nation, des Jahrhunderts, der Menschheit.
Diese Erscheinung ist so normal und so alltäglich wie möglich. Das
Geschlecht der Menschen hat seine eignen Gesetze, die ihm in Form von sitt¬
lichen Idealen bewußt werden. Das wirkliche Leben kaun nicht immer diese
Gesetze verwirklichen. Damit sie aber stets im Bewußtsein wach erhalten werden,
ist es gut, daß die edle Jugend idealistisch ist. So lange die Welt steht, hat
die Jugend gegen den jeweiligen Bestand der Gesellschaft gemurrt, bis auch
sie alt wurde, mit oder ohne Verwirklichung ihrer Wünsche und Forderungen,
und sich gegen die inzwischen herangewachsene neuere Jugend zu wehren hatte.
Denn wahr zu leben, d. h. so in allen äußerlich sichtbaren Formen der Gemein¬
schaft zu leben, wie es den Forderungen des Gemütes entspricht, ist das tiefste
und edelste Bedürfnis der Menschennatur.
Es kommt aber immer darauf an, daß die Kritik der Jugend berechtigt
und wahrhaft schöpferisch sei, und ferner darauf, daß die Jugend nicht immer
bloß Jugend bleibe, sich nicht immer mit der Verneinung dessen, was da ist,
begnüge, sondern auch klar erkenne, was sie will, das Ideal wesenhaft vor
Augen habe. Dann allein ist diese Jugend etwas wert. Wenn nicht, so ver¬
sinkt sie in trostlosen und unfruchtbaren Weltschmerz oder in dieselbe Philisterei,
die sie eben bei ihrem Eintritt ins nationale Leben bekämpft. Zwei Geschlechter
von denen, die uns zunächst liegen, haben ihre Ideale, jedes in seiner Art,
verwirklichen können: das von 1750, die Zeitgenossen Goethes und Schillers,
und das von etwa 1830, die Achtundvierziger. Das eine stellte das Ideal
der deutschen Bildung und Humanität ans, das heute noch gilt; das andre
das Ideal der deutschen Einheit, dessen Verwirklichung es erlebt hat. Beide
zeichnen sich durch einen frischen, freudigen Charakter aus. Dazwischen stehen
Geschlechter des Weltschmerzes, der Enttäuschung. Ob das Geschlecht, das
nach den Achtnudvierzigern gekommen ist, dem erstgenannten oder dem andern
nachgeraten wird, ist noch gar nicht zu entscheiden. Viel Vertrauen uns die
schöpferische Begabung dieser Jugend haben wir bisher noch nicht gewinnen
können.
Auch Hermann Sudermanns Erzählungen*) wurzeln sämtlich in jenem
ursprünglichen Erlebnis jedes begabteren Mannes, und daß man es ihnen
lebhaft nachfühlt, ist kein geringes Zeichen seiner dichterischen Begabung. Dieser
Man — so empfindet man, nachdem man ihn kennen gelernt hat — macht
keine Mode äußerlich mit, er schließt sich nicht einer vorhandenen litterarischen
oder politischen Partei an, er folgt einem ursprünglichen Drange seiner Natur.
Diese reine Empfindung hinterlassen seine Bücher ganz ohne Zweifel. Man
sieht ihm das Ringen an, und vorläufig scheint er noch im Ringen mitten
drin zu stecken. Daß er in diesem Kampfe gegen das, was er Konvention
neunt, und was er haßt, weil es dein im Wege steht, was er Natur und
göttliche Leidenschaft nennt, nicht immer im Rechte ist, daß er pessimistisch
übertreibt, das ist eine jugendliche Schwäche. Und ferner ist es eine Schwäche,
daß die angegriffenen Objekte von keinem Menschen, und wäre er noch so
konservativ, verteidigt werden, und zwar ist es deshalb eine Schwäche, weil
es der Originalität seiner Erscheinung wesentlich Eintrag thut. Der neue
Mann, den man so gern in der Litteratur willkommen hieße, ist Sudermann
noch lange nicht, er ist kein Entdecker auf dem Gebiete des menschlichen Herzens,
er ist ein starkes Talent, das durch seine Darstellung zu „packen" versteht,
aber nicht immer zu befriedigen, nicht rein zu erfreuen vermag. Sudermann
steht merklich unter dem Einflüsse dessen, was er gelesen hat, von Shakespeare
angefangen bis auf Ibsen und sein großes Gegenteil Gottfried Keller. Aber
dadurch, daß er mit künstlerischem Sinne darauf ausgeht, nicht etwa stofflich
zu wirken, Geschichten drauf los für den unersättlichen Rachen der Zeitschriften
und Leihbibliotheken zu erzählen, sondern vielmehr menschliche Leidenschaften
darzustellen, tiefe Charaktere in ihrem Wandel durch die Welt zu gestalten,
im einzelnen Fall etwas allgemeineres, typisch giltiges von symbolischem Gehalt
zu veranschaulichen, zu zeigen: so ist die Welt, so sind die Menschen beschaffen —
mit diesem ohne Zweifel echt künstlerischen Streben stellt sich Sudermann selbst
von vornherein auf eine höhere Stufe, und es thut dieser Anerkennung keinen
Abbruch, wenn wir öfters gezwungen sind, zu bedauern, daß er gerade diese
Fabel und keine andre dargestellt hat, daß wir öfters gestehen müssen: dies
und das ist gar uicht nach unserm Geschmack. Denn nachdem wir sein Wollen
erkannt haben, können wir die Hoffnung uicht aufgeben, daß sich sein Geschmack
im Laufe der Zeit läutern und Werke von wirklichem Werte schaffen werde.
Sudermanns bedeutendste Erzählung ist bis jetzt sein Roman Frau Sorge.
Hier wird wieder einmal das Hamletthema aufgenommen: das Mißverhältnis
zwischen einer sittlich bedeutenden Innerlichkeit und der sie umgebenden Klein¬
lichkeit und Gemeinheit. Dn mußt im Leben nicht bloß Amboß, sondern auch
Hammer sein. Jeder Mensch gilt im Leben nicht etwa so viel, als er wert
ist, sondern nur so viel, als er sich Geltung verschafft. Sei hilfreich, sei un¬
eigennützig, verzeihe deinen Feinden; wenn du dir nicht deine dir gebührende
Würde selbst zu wahren verstehst, wenn es dir am Selbstvertrauen, an der
Selbstachtung, mir starken Bewußtsein deines Eigenwertes mangelt, so kann
dir niemand helfen, so werden die andern dich anch nicht achten und würdigen.
Denn die Menschen urteilen nach dem Schein, nicht nach der Wahrheit. Sie
lassen sich von Maulhelden blendea und übersehen den Bescheidenen. Wohl
besteht ein instinktives Einverständnis aller Guten nnter einander, aber die
Guten sind in der Minderzahl und stehen abseits, den Plan füllt das Pack.
Die Mehrzahl denkt immer nur an sich selbst und setzt diesen Egoismus bei
jedermann voraus. Wer nicht egoistisch ist, den halten sie für einen Thoren,
wenn nicht gar sür einen Schwachkopf oder, was das schlimmste ist, für einen
Feigling. Darum wird der persönliche Mut so hoch geschätzt, und stünde auch
nichts andres dahinter als übermütige Rauflust. Das ist der Geist von
„Frau Sorge." Wer die moderne Litteratur kennt, wird ihn als durchaus
modern empfinden, aber sich nicht erinnern können, ihm irgendwo so verdichtet
begegnet zu sein. Der erste, der diesen Gegensatz zwischen dem Wesen des
beschaulichen und vorwiegend ethischen Charakters zu den thätigeren und minder
ethischen Charakteren in aller bittern Schärfe gefaßt hat, war Schopenhauer
in seiner Genielehre; ein geistreicher Dilettant der Philosophie hat vor längerer
Zeit den Begriff und Charakter des „Hhpercephalen" nach Schopenhauer auf¬
gestellt, Emerich du Mont in seinem Buche über Schopenhauer und Darwin.
Die von Hermann Türk und dann von Alfred v. Berger gegebenen Erklärungen
von Shakespeares Hamlet bewegen sich ganz in derselben Richtung. Und ge¬
meinsam ist allen diesen Auffassungen die Parteinahme sür den wehrlosen
Grübler gegen die übrige Welt. Das ist spezifisch modern.
Der Held von „Frau Sorge," Paul Meyhöfer, ist ein solcher Mann, dem
es an der Gabe fehlt, sich die Würde, auf die er in reichstem Maße Anspruch
erheben darf, zu verschaffen, und das ist sein trauriges Schicksal. Dieses
Schicksal erzählt uus Sudermann mit einer solchen Folgerichtigkeit und Einsicht,
daß wir kaum jemals aus der Täuschung kommen und an seinen Helden so
fest glauben wie nnr an irgend eine geschichtliche Persönlichkeit. Bon der
Geburt angefangen, sehen wir den Charakter sich bilden und befestigen, bis
Paul zu der Erkenntnis dessen kommt, was ihm mangelt, und sich zu einer That
aufrafft, die ihn, ironisch genug, unschuldig ins Zuchthaus bringt, was nur
zu loben ist, denn so tief in sich selbst vergrabene Naturen wie dieser Paul
können nur durch Gewaltmittel kurirt werden.
Paul wird gerade zu der Zeit geboren, wo der Vater das „weiße Haus,"
ein schönes Schloß mit Landbesitz im fernen Ostpreußen, räumen muß, weil
er seine Schulden nicht mehr bezahlen kann. Dieser Vater Meyhöfer ist der
volle Gegensatz zu seinem Sohne. Der Alte strotzt von Selbstgefühl und
Eitelkeit, er führt immer das große Wort, hat jeden Tag neue Ideen, Gold
zu machen, erklärt jeden für einen Narren, der sich an seiner geplanten Aktien¬
gesellschaft nicht beteiligen will, ist roh gegen seine Frau und seine Kinder,
prügelt seine Knechte, tadelt alles und kann doch selbst in Wahrheit gar nichts
als saufen und Lärm machen, seine Wirtschaft überläßt er Weib und Kind,
die für ihn zu sorgen haben. Jeder Zug an der Charakteristik dieses Maul¬
helden ist wahr, die ganze Zeichnung vortrefflich. Unter diesem Vater wächst
Paul, unter Sorgen getragen, unter Sorgen geboren, unter Sorgen auferzogen,
an der Seite der guten, aber ganz eingeschüchterten Mutter heran. Vor ihm
sind schon zwei Söhne da, die in die Hauptstadt geschickt werden, um zu
studiren; diese „pumpen" nur, aber sie zahlen nicht. Nach Paul ist noch ein
Zwillingspaar von Schwestern da, die als die schönsten Mädchen der Gegend
mit ihrer frischen Munterkeit und auch mit ihrem Leichtsinn gleichfalls in
Kontrast zu ihm treten. Der Knabe Paul, der im Hause immer für dumm
und unbrauchbar erklärt wird, weil der Alte nicht auch für ihn Geld zum
Studiren hergeben null, hat schon in der Dorfschule nicht die Gabe, sich geltend
zu machen, er läßt sich ungerächt säuseln, bestehlen, prügeln. Aber er lebt
in der Stille doch ein reges Gedankenleben, ist keineswegs unbegabt, hat immer
den Trieb, etwas zu thun, nur die Schüchternheit wird er uicht los, und sie
bildet sich zu einer an Hypochondrie grenzenden Gewissenhaftigkeit aus. Diese
treibt ihn an, sich nützlich zu machen, und darin bringt er es so weit im Laufe
der Jahre, daß er der Mutter das Regiment abnimmt und in unermüdlicher
Arbeit die Wirtschaft verbessert, Vater, Brüder und Schwestern durch seine
Thätigkeit ernährt. Dennoch darf er sich selbst nie als den Erhalter des
Hauses fühlen nud benehmen. Er hat einmal den Vater und alle Welt daran
gewöhnt, ihn für dumm zu halten, und dabei muß es bleiben.
Es kommt in jeder Familie vor, daß sich die Eltern und Geschwister am
wenigsten kennen; mit dem Bilde des Kindes im Geiste behandeln sie den älter
gewordenen Sohn noch so, wie er vor zehn Jahren war; seine innere Wandlung
merken sie gar nicht. So wird anch Paul immer ins Dunkel geschoben, fast schämt
man sich seiner. Denn wie er als Dorfschüler einsam blieb, so benimmt er
sich auch um in Gesellschaft als eine ungesellige Natur. Er kaun nicht spielen,
macht keine Witze, kann nicht tändeln, hat gar kein Organ für Weltlust, für
Tanzen und Hofmachen. Dies zeigt sich in seinem Verkehr mit der Familie
Douglas, die das „weiße Haus" uach Abzug der Meyhöfers bezogen hat, und
deren schöne Tochter Paul liebt. Aber anch in der Liebe ist er zaghaft, beinahe
läßt er sich das Mädchen von einem Modegecken wegnehmen. Paul kann nicht
um Liebe werben. Je älter er wird, umso zahlreicher werden die Pflichten, die
er auf sich lasten fühlt. Er kennt überhaupt nur Pflichten, keine Rechte. Nur
wenn er pfeift, stiehlt sich ein Sonnenstrahl von Vergnügen in sein Gemüt; zum
Flötenspielenlernen hat er keine Muße gefunden, so pfeift er sich eins aus
musikalischen Triebe, wenn sein Herz voll ist.
Als die Zwillingsschwestern herangewachsen sind, fühlt Paul an Stelle
des verlotterten Vaters sich geradezu verpflichtet, ihnen eine ausreichende Mit¬
gift zu erwerben, damit sie heiraten können. Da macht er die Entdeckung,
daß sie sich mit den Brüdern Erdmann so weit eingelassen haben, daß sie von
diesen um jeden Preis geheiratet werden müssen, wenn sie nicht in Schande
geraten sollen. Kostbar ist es nun, wie sich der Hypochonder Paul bei diesem
Zwange, eine That zu leisten, benimmt: wo er fordern soll, bettelt er. Die
Vriider selbst sagen ihm, daß er die Verführer seiner Schwestern eigentlich
niederschießen müßte, wenn sie ihnen die Ehe verweigern. Das bringt Paul
auf den Gedanken, die Erdmanns mit der Pistole zur Ehe zu zwingen. Er,
der Friedfertige, geht also mit der Pistole umher und lauert wie ein Meuchel¬
mörder auf die Verführer. Aber sie schlafen gerade, als er sie trifft, und
Schlafende zu töten, erscheint ihm doch schändlich. Als die Erdmanns er¬
wachen, verlegen sie sich im Angesichte der Pistole aufs Bitten. Und Feig¬
linge niederzuschießen, ekelt den Hamlet-Paul auch wieder an; schließlich nimmt
er ihnen doch das feierliche Eheversprechen ab.
Doch genug. Es soll ja der Roman hier nicht nacherzählt werden, sondern
nur der Charakter des Helden und der Geist des Dichters skizzirt werden, und
dafür genügt das Bisherige. Die Zeichnung Pauls ist jedenfalls dichterisch
gelungen, wir werden ganz vertraut mit seinem schwermütigen und doch edeln
Wesen. Wie die erwähnte Episode an die Szene Hamlets mit König Claudius
am Betschemel erinnert, so ist die Erfindung der Zwillingsschwestern eine
Nachahmung der Zwillingsbrüder Weidelich in Gottfried Kellers „Martin
Salander." Auch Anklänge an den ,.Grünen Heinrich" sind in der Schilderung
von Pauls Jugend zu finden. Das was? und wie? einer Nachahmung großer
Meister ist bezeichnend für einen jungen Dichter. Ein andrer unsrer neuern
Novellisten, Hans Hoffmann, stand auch lange Zeit unter dem Banne Gottfried
Kellers; aber es war Kellers heitere Ironie, das graziöse Lächeln der ,,Sieben
Legenden," das auf Hoffmann überging. Silbermann hat nichts von dem
sonnigen Humor Kellers, nur in der Satire hat er ihm nachgefühlt und sie
mit etwas Galle versetzt. Die Stimmung des Romans ,,Frau Sorge" ist
geradezu niederdrückend, das Lesen macht einem trotz der zweifellosen Kunst in
Komposition und Vortrag keine Freude, dem Dichter fehlt der Humor, er ist
zu grimmig gegen die Dutzendware, die den armen Paul nicht begreift. Nur
zum Schluß, wo er mit einem Ruck sich über seinen Helden stellt, indem er
ihn selbst das Rätsel seines Charakters lösen läßt, atmet der Leser freier ans.
Aber es wäre besser gewesen, wenn der Dichter von Anfang diese freiere
Stellung festgehalten hätte; wir hätten den schweren Schleier der ,,Fran Sorge"
immerhin noch genügend auf uns lasten fühlen und uns doch die unentbehrliche
ästhetische Freiheit im Genuß der Dichtung bewahrt.
Diese freiere ästhetische Haltung ist von Silbermann in dem andern
Romane, Der Katzensteg, weit mehr angestrebt worden. Möglicherweise
werden ihm hier Kellers „Leute von Seldwhla" in der Charakteristik der
Schrnndener vorgeschwebt haben; aber zum Humor hat er sich auch hier uicht
erhoben, wo er doch so nötig gewesen wäre.
Ist Paul Meyhöfer eine einseitig und ausschließlich leidende Natur, so
ist Boleslav von Schrauben. der Held des wesentlich dramatisch empfundenen
„Katzensteg," ein Mann der That, des trotzigsten Eigensinns, der sich nicht das
geringste Unrecht gefallen lassen will, beinahe ein Don Quixote des Eigen¬
willens. Dieser Sprung des Dichters von dem einen psychologischen Problem
in sein gerades Gegenteil ist gewiß ein Zeugnis für das große künstlerische
Streben Sudermanns. Nur schade, daß der Sprung nicht gelungen ist. Für
Boleslav von Schrauben werden wir nicht entfernt so erwärmt wie sür Paul
Mehhöfer, er bleibt uns im ganzen Buche nicht recht verständlich. Der Fehler
liegt in der Exposition der Handlung. Dazu kommt noch die Neigung, die
Geschlechtsliebe als Brunst, beinahe im Stile Sander-Masochs zu schildern,
was auch nicht nach unserm Geschmack ist.
Der „Katzensteg" führt uus wieder in den fernen Nordosten Preußens,
an die polnische Grenze und zurück in das Jahr 1814. Boleslav hat gerade
so wie Paul einen schlechten Vater gehabt. Der alte Freiherr von Schrauben
war ein roher, rücksichtsloser Junker, der seine Leibeignen aufs Blut quälte,
die Männer peitschte, die schönen Dvrfmädcheu verführte. Seine gute Frau
brachte er früh ins Grab; seinen Sohn Boleslav schickte er als erwachsenen
Knaben nach Berlin in die Schule. Zu allen seinen Untugenden trat noch
ein unbegreiflicher Deutschenhaß, obwohl er selbst aus deutschem Geschlechte
war. Im Kriege gegen die Franzosen ließ er sich mit polnischen Politikern
ein, die Polen mit Hilfe Napoleons wiederherstellen zu können glaubten, und
zwar ging er so weit, daß er Verrat an seinem Vaterlande übte. Über den
sogenannten Katzensteg, der an seinem sonst schwer zugänglichen Schlosse vor¬
beiging, ließ Schrauben die feindlichen Franzosen den Preußen in den Rücken
führen, die in der That auch dabei fielen. Ein armes, schönes Mädchen Re¬
gime, das der Freiherr verführt hatte, diente ihm bei diesem Landesverrat als
willenloses Werkzeug. Diese Verrüterei nun brachte das Maß des Unwillens
und Hasses, das Schrauben ohnehin schon gegen sich aufgesammelt hatte, zum
Überlaufen. Er wurde in Acht und Bann erklärt, schließlich sein Schloß an¬
gezündet, sodnß er alles bis auf seinen baren Geldbesitz verlor. In den
Trümmern des Schlosses richtete er sich mit der armen Regiue, die ebenso
schön als gutmütig, ja eine weibliche Ausgabe von Paul Mehhöfer ist, so gut
als möglich ein. Mit den Schrandcnern aber lebte er auf dem Kriegsfuß, es
wurde hin und her geschossen. Bei einem solchen Zusammenstoß starb er vom
Schlage gerührt, und die sämtlichen Einwohner verweigerten seiner Leiche die
Aufnahme in den Ortsfriedhof, der die freiherrliche Familiengruft enthielt, ja
sie wollten ihm nicht einmal einen Sarg zimmern lassen.
Gerade zu diesem Streit kommt Boleslav nach langen Jahren der Ab¬
wesenheit wieder in die Heimat zurück. Er hat schon in der Ferne unter den
Folgen des Verbrechens seines Vaters gelitten. Der Name Schrauben ver¬
schloß ihm alle Thüren und alle Menschen. Dennoch trieb ihn seine Vater¬
landsliebe zur Teilnahme an dem Feldzuge Blüchers gegen Napoleon; unter dem
Namen Baumgart trat er in die Truppe der Freiwilligen und zeichnete sich
dermaßen aus, daß er sogar zum Leutnant Baumgnrt ernannt wurde. Nun
ist er mit den entlassenen Lnndwehrmännern der Schrcmdener Nachbarschaft
heimgekehrt. Seine Kameraden lieben ihn so sehr, daß sie ihm zu Ehren
ein öffentliches Fest bereiten wollen. Da wird die Geschichte vou der Weige¬
rung der Schrcmdener, den Freiherr» begraben zu lassen, an seinem Tische
erzählt, und furchtbar erschüttert springt der Leutnant auf und bekennt sich als
den Sohn des Landesverräters. Damit beginnt die Handlung des Romans.
Das unvorsichtige Bekenntnis Boleslavs ist in seinem unwillkürlichen
Ausbruch sehr begreiflich und nimmt für ihn ein. Was aber Boleslav in¬
folge des Ausrufs: „Er ist mein Vater!" unternimmt, ist nicht bloß kühn
und aussichtslos, donquixotisch, sondern leider auch nicht genügend motivirt.
Denn wenn auch, wie wir wissen, Boleslav seinen Vater nie geliebt hat, wenn
er auch mit seinem weichen, träumerischen Wesen und seiner Berliner Bildung
die Roheit des alten Freiherrn verabscheut, wenn er auch mit seinem Blute
seine dem Vater entgegengesetzte politische Gesinnung besiegelt hat, wenn er
auch den Landesverrat des Vaters trotz aller Bemühungen nicht beschönigen
kann, entschließt sich Boleslav doch dazu, nicht etwa bloß der väterlichen Leiche
zur Unterkunft in der Familiengruft zu verhelfen, sondern in sinnloser Weise
die Sünden des Vaters auf sich zu nehmen und in der Mitte derer, die
ihn hassen, zu verharren. Er will allen Schrandenern zum Hohne das
Schloß aus seinen Trümmern wieder auferstehen lassen und den Namen Frei¬
herr von Schrunden trotz all seiner Brandmarkung stolz weiter führen. Wie
kommt plötzlich dieser wahnsinnige Trotz in den edeln Boleslav? Das ist es,
was man schlechtweg nicht begreift, der Dichter hat unterlassen, es uns zu
erklären. Boleslavs Charakter ist uns bis zu diesem Entschlüsse nichts weniger
als trotzig dargestellt worden, und die Erzählung beschäftigt sich uur mit den
Folgen dieses trotzigen Wollens. Weil wir es aber nicht begreifen, bleiben
wir der ganzen Geschichte gegenüber kalt und sehen in Boleslav nur einen
Narren, der er auch in Wahrheit ist, mag ihn Sudermann so pathetisch ernst
nehmen, wie er will. Dein Dichter lag offenbar daran, zu zeigen, wie ein
Mann, der etwas wirklich will, es auch durchsetzen kann. Den Dichter inter-
essirte der Kontrast der Philister mit seinem Helden, wobei selbstverständlich
diese Philister sämtlich übel wegkommen; sie sind entweder Schurken oder
beschränkte Dickköpfe. Daß jedoch sein Held, der die Liebe zum Vaterlande
als das höchste aller Güter preist, durch seinen unvernünftigen Trotz in
Widerspruch mit sich selber gerät, sieht Sudermann nicht ein. Man liebt
aber sein Vaterland nicht, wenn man sich in Gegensatz zu dem ausgesprochenen
Willen seiner Landesgenossen setzt. Der Landesverrat ist ja in Wahrheit ein
so schmähliches Verbrechen, daß der Name des Missethäters aus dem Gedächt¬
nis der Menschen ausgestrichen zu werden verdient. Für Boleslav wäre
es Pflicht, nicht bloß Vorteil gewesen, entweder den Namen Baumgart
beizubehalten an Stelle des Namens Schrauben, oder sich von Schrauben
fernzuhalten. Es ist nur eine Kleinlichkeit und Beschränktheit von ihm, daß
er den Schraudeuern, die er aus der Nähe kennt und darum geringschätzt,
seinen unvernünftigen Trotz entgegensetzt, und alle Jdecilisirung des Helden
und alle uoch so gelungene satirische Geißelung der Schnuderer macht
seine Sache um nichts besser. Am Schlüsse bes Buches verrät Sudermann
selbst ein richtiges Urteil über seinen Helden (wie dies in allen seinen
Erzählungen der Fall ist); aber dann wird es noch weniger begreiflich,
wie er glauben konnte, uns für einen solchen ernsthaften Narren interessiren
zu können. Aber es ist ganz die Manier Ibsens, eine starke Handlung dar¬
zustellen, die gar nicht so vom Dichter gemeint ist, wie sie erscheint, sondern die
bloß als Exempel für seine Idee dienen soll, und wäre es auch ein über¬
triebenes oder unzutreffendes Exempel.
Nun kommt aber noch das andre Motiv hinzu, das uns den „Katzensteg"
noch unsympathischer macht. Es wird nämlich erzählt, daß Voleslav mit dein
Schloß auch noch die Dienste des Mädchens übernimmt, das sein Vater ver¬
führt hat. Diese Regiue, ein Liebling Sudermanns und vielleicht nicht zu¬
fällig nach der tragischen Dienstmagd Regiue in Kellers „Sinngedicht" genannt,
dient dem einsam ans den Trümmern hausenden Voleslav mit fabelhafter
Treue und Aufopferung. Ein Mensch von Fleisch und Blut ist aber dieser
Held der Unvernunft doch auch, und so kann es nicht ausbleiben, daß er die
schone, junge und so hündisch treue Dienerin liebt; sie liebte ihn schon vor
Jahren, als beide Kinder waren, sie die Leibeigue, er der Junker. Und nnn
denke man sich die verzwickte Lage Boleslavs: er liebt das Liebchen seines
Vaters! Wie häßlich! Und Sudermann hat mit größtem Fleiße das Anwachsen
dieser tollen Leidenschaft zwischen den zwei verlassenen Menschen geschildert,
die in einem Zimmer wohnen müssen, da alle andern zerstört sind. Die
Leidenschaft will ihre Befriedigung haben, Voleslav kämpft wochenlang gegen
die Versuchung, er lebt in steter sinnlicher Aufregung, die er uicht befriedigen
darf. Man kann sich denken, wie schwül und lüstern dem Leser dabei zu Mute
werden muß, und man begreift — die dritte Auflage des „Katzensteg." Und
diese häßliche Erfindung muß dem Dichter noch überdies dazu dienen, pathe¬
tische Betrachtungen über die Unvereinbarkeit von Natur und Konvention an¬
zustellen, diese unglaubliche Regiue muß dazu dienen, die Überlegenheit der
nicht gebildete» aber leidenschaftlichen über den gebildeten aber falschen
Frauen zu veranschaulichen! Ich glaube nicht, daß jemals eine zweifelhafte
Wahrheit ungeschickter gelehrt worden sei, als in diesem Buche. So viel un¬
zweifelhaftes Talent sich in der Charakteristik der Nebenfiguren verrät, das
Ganze bleibt doch eine unglücklich ausgediftelte Geschichte.
Seiner Vorliebe, den Konflikt zwischen Menschennatur und Menschensatzung,
den Kampf sinnlicher Leidenschaft gegen die Macht des Gewissens darzustellen,
hat Sudermann namentlich in den zwei Novellen: „Die stille Mühle" und
„Der Wunsch," die unter dein Titel: Geschwister vereinigt erschienen sind,
Befriedigung gewährt. In beiden schildert er das unbewußte Wachsen der
Liebe bis zur sinnlichen Begierde, die nicht gestillt werden kann; beide Novellen
haben tragischen Ausgang, der aber im „Wunsch" eher peinlich als läuternd ist.
In der „Stillen Mühle" liebt der Schwager seine schöne, junge Schwägerin,
das wird so reichlich motivirt, daß nichts dagegen zu sagen ist. Freilich kann
auch hier nicht die hypochondrische Lieblingsfigur Sudermanns fehlen, das ist
Martin Felshammer. Martin ist seinem Vater nachgeraten, er ist jähzornig.
In einem solchen Anfalle hat er als Knabe sein jüngeres Brüderchen so un-
gliicklich mit einem Steine getroffen, daß es blöde wurde und starb. Diese
unglückliche That ist aber von dauernder Wirkung auf Martin geblieben, er
ist ans Reue Hypochonder geworden. An dein später gebornen Bruder
Johannes, der sein lebensfreudiges Widerspiel ist, sucht er seine Jugendsünde
durch hingebende Liebe gut zu macheu. Nun heiratet Martin ein junges,
schönes Mädchen, das seine Neigung für den schönern jüngern Bruder noch
vor der Hochzeit verrät, und die Folge dieser unvorsichtigen Heirat ist natürlich,
daß beide sich in einander verlieben. Auf das ihnen unbewußte Entstehen und
Wachsen dieser Liebe ist der Nachdruck der Novelle gelegt. Wir sehen Schritt
für Schritt, wie Johannes und Trude uuter Lachen und Scherzen und Spielen
in die Leidenschaft hineintanzen; die Sinnlichkeit flackert wie ein Irrlicht zwischen
beiden auf, was sie lange nicht zu ahnen scheinen, wogegen sie sich jedoch
als gutgeartete Menschen gewissenhaft wehren. Am Ende aber verzweifelt
Johannes an seiner Kraft, zu entsagen, ergiebt sich dem Trunk und wird
ein Lump. Das Unwahrscheinliche an der ganzen Geschichte ist aber
Martins bis zum letzten Augenblick behauptete Blindheit, die doch durch seine
Hypochondrie am allerwenigsten begründet ist, denn solche Menschen sind eher
mißtrauisch.
Ohne Zweifel sind hier Anklänge an Gottfried Kellers Novelle „Romeo
und Julia auf dem Dorfe" vorhanden. So kauft z. B. Johannes der
Schwägerin Schuhe für den Tanz, wie Sau solche der Vroni kauft, und auch
hier hat der Liebende Gelegenheit, den Fuß der Geliebten in die Hand zu
nehmen. Diese Anklänge mögen Ernst Wichert zu folgendem Urteil verleitet
haben, das auf dein Umschlage der Bücher Sudermanns mitgeteilt wird: „Die
Geschichte der stillen Mühle steht in meiner Schätzung dicht neben Gottfried
Kellers Romeo und Julia auf dem Dorfe. Ich bin mir wohl bewußt, was
ich damit zu ihrem Lobe sage. Es ist dieselbe Kraft der anschaulichen Schilderung
in dichter Aufeinanderfolge von charakteristischen Momentbildern, dieselbe Energie
im Forttreiben der Handlung, dieselbe unerbittliche Folgerichtigkeit in der Ent¬
wicklung der todbringenden Leidenschaft, dieselbe Realistik in der Darstellung
bei echt dichterischer Tendenz."
Wie jemand, der selber dichterisch thätig ist, ein solches Urteil niederschreiben
konnte, ist mir unbegreiflich. Ich will mich durchaus nicht auf den Standpunkt
der Vergötterung Kellers stellen, die jeden Vergleich andrer Dichter mit ihm als
Lästerung abwehrt; auch will ich nicht, was am nächsten liegt, sagen, daß
solche Vergleiche eines Werdenden mit einem allgemein verehrten Meister von
vornherein den Widerspruch herausfordern. Es kann ja vorkommen, daß ein
Genie gleich mit einem Löwensprung in die Litteratur tritt; als Keller seinen
„Grünen Heinrich" schrieb, war er auch ein junger Mann, und ein mutiger
Wiehert hätte ihm gute Dienste leisten können. Aber der Unterschied zwischen
den Novellen Sudermanns und Kellers ist doch ein so himmelweiter, daß man
nicht umhin kann, das Urteil Wicherts als das zu bezeichnen, was es ist, als
den Ausdruck landsmannschaftlichen Wohlwollens; Silbermann ist wie Wichert
ein Ostpreuße. Ich will gar uicht von dem sehr wichtigen Unterschiede der
beiden Fabeln reden: bei Keller die natürliche und reine, berechtigte Leidenschaft
zweier unverdorbenen Menschen, die die Liebe niemals vorher kennen gelernt
haben; bei Sudermann die trübe Leidenschaft einer verheirateten Frau, die doch
weiß, um was es sich handelt, mag sie übrigens noch so kindisch sein. Vronis
Naivität ist echt, sie weiß nicht, daß sie mit dem Feuer spielt; die Einfalt
Trudens ist leichtfertig, erkünstelt. Wie wahre Natur und ihr geschminktes
Abbild auf dem Theater, so unterscheiden sich Vroni und Trude. Wie im
„Katzensteg" ist die Schilderung der Leidenschaft in der „Stillen Mühle" bis
an die Grenze des überhaupt erzählbaren geführt, sie ist von Lüsternheit nicht
freizusprechen. Man vergleiche nur die Schuhszene bei Keller mit der bei
Sudermann. Der tragische Untergang des Kellerschen Liebespaares ist poetisch
der schönste Ausklang der Leidenschaft, die gar nichts zu sühnen hat, sondern
einen nicht mehr zu überbietendem Höhepunkt erreicht hat und darum so ab¬
schließt; in solchem Zustande wünschen sich ja die Menschen wirklich in die
Ewigkeit schlafend hinüberzugehen, weil jedes Erwachen ans dem Gipfel der
Lust uur einen Rückschlag gegen die Lust bietet; sittlich genommen wird der Tod
der Liebenden bei Keller gar nicht gefordert. Dagegen ist bei Sudermann eine
gemeine, wenn auch raffinirt verhüllte Sünde zu sühnen, und überdies ist der
Untergang der Brüder nur das Werk des Zufalles; von einer „todbringenden
Leidenschaft" ist bei Keller ganz und gar nicht die Rede; in der „Stillen Mühle"
bleibt Trude sogar am Leben. Und was nun vollends die Form anlangt —
wenn man nur in einem der Sudermannschen Bücher ein Stück Prosa fände,
das Kellers Sprache auch uur halbwegs ebenbürtig wäre! Ich erinnere mich an
keine Stelle. Wenn man nnr irgendwo ein Stück Poesie bei Sudermann fände,
das sich mit Kellers Schilderung des Balles bei Mondenschein, oder des Ringens
der herabgekommenen Väter in Gegenwart der Kinder, oder ihres Spazierganges
und der Einkehr bei der fremden Wirtin vergleichen könnte! In Kellers Novelle
ist alles schöne Natur, in der „Stillen Mühle" alles „gemacht." Aber Wichert
behauptet, sie stünden im Werte „dicht" bei einander, und das Urteil eines
Dichters muß doch etwas wert sein. Nein, es ist gar nichts weiter wert,
als — angemerkt zu werden.
Die zweite Novelle der „Geschwister" tragt vollends den Charakter pro¬
saischer Lehrhaftigkeit mit glänzender Technik, wie er den Werken Ibsens an¬
haftet. Im „Wunsch" vereinigt sich Sudermanns Freude an der Gestaltung
der sinnlichen Leidenschaft mit seiner Teilnahme sür hypochondrische Naturen;
ja er erklärt hier den überspannten Kopf für den rechten sittlichen Muster¬
menschen. Er hat nämlich die Beobachtung gemacht, daß jeder Mensch ein
oder das andre mal in die Lage kommt, eine „Gemeinheit" zu begehen; so
z. B. wenn er ein andres Wesen liebt und gern besitzen möchte, das schon an
einen dritten Menschen gebunden ist; da kaun der Wunsch in uns aufsteigen,
daß dieser dritte Mensch vom Erdboden verschwinde, sterbe, damit wir un¬
gehindert in den leidenschaftlich geliebten Besitz gelangen. Dieser Wunsch nnn
ist die Gemeinheit, über die zwar die meisten gesunden Naturen im Laufe der
Zeit, die mit ihren neuen Eindrücken ältere Gefühle verdunkelt und in Ver¬
gessenheit bringt, leicht, innerliche Naturen aber, die neuen Eindrücken, weil
sie sich mit sich selbst so viel beschäftigen, weniger zugänglich find, z. B. hypo¬
chondrische Männer, hysterische Frauen, nicht so leicht hinweggekommen. Die
letztern erklärt Sudermann in seinem sittlichen Rigorismus sür die wahrhaft
Sittlichen. Das ist der echte Ibsen, aber nicht die Gesinnung eines Dichters,
der die menschliche Natur nach dem normalen Maße zeichnet und sich auf
Seiten der Gesundheit stellt. Der Kampf jedes Menschen mit den bösen Ge¬
lüsten in ihm ist allerdings das ergiebigste Feld der Poesie, und sie hat sich
bis jetzt nur um den Sieg des Guten oder um den Sieg des schlechten Prinzips
in der Menschenbrust gekümmert. Sudermann ist es vorbehalten geblieben,
weder das eine noch das andre zu verfolge», sondern beim Wunsch noch vor
der That stehen zu bleiben und die wahre Tragik in der Feigheit des Menschen
zu erkennen, in der krankhaften Schwäche, die den Tod der Entsagung vorzieht.
Übrigens hat er mit sehr viel Geschick das Exempel für seine Theorie aufgestellt.
Zwei Schwester» lieben denselben Mann, wie sie sich auch unter einander
ehrlich lieben. Dieser Man», Robert Hettinger, ist ein dem Helden der „Frau
Sorge" ähnlicher Mensch. Von deu Schwestern ist die ältere so zart und
schwach, daß sie zu dein großen, starken Robert weit weniger paßt, als die
jüngere, kraftvolle. Trotzdem heiratet die unpassende den von beiden geliebten
Robert und gerät im ersten Wochenbett schon an den Rand des Todes. Da
wird sie gepflegt von der jüngern Schwester, und am Bett der Kranken steigt
in der leidenschaftlichen Pflegerin der Wunsch auf: „O möchte sie sterben!"
Sudermann hat alles Mögliche gethan, unsre Sympathie für seine Heldin
nicht zu verscheuchen, er hat sie mit allen möglichen Tugenden und glänzenden
Eigenschaften ausgestattet. Sie ist ein normaler Mensch und wird nur in
der letzten Zeit infolge der Überanstrengung und Aufregung überreizt, um die
Theorie des Dichters in Praxis umsetzen zu können. In diesem Zustande,
wo sie sich auf dem gemeinen, aber sehr eindringlich begründeten und damit
entschuldigten Wunsche „O mochte sie sterben!" ertappt, wird sie Hypochonder,
verachtet sich selbst, und als Robert in der That einige Zeit nach dem Tode
seiner Frau um die Schwester, die ihn liebt, anhält, bringt sie sich mit
Morphium um. Anstatt zu entsagen, entschließt sie sich lieber, zu sterben.
Das findet Sudermann schöner, folgerichtiger. Aber es ist doch nur die That
einer Seelenkrauken und darum ohne wahre Tragik.
In der Form ist diese Novelle sehr geschickt. Sie erzählt analytisch.
Mit dem Selbstmorde des schönen Mädchens setzt sie spannungsvoll ein, und
nun soll die Frage gelöst werden, die in der ganzen Familie, im ganzen
Städtchen auf aller Lippen schwebt: „Warum ist sie gestorben?" Das ist
sehr effektvoll. Auch sonst weist die Novelle viele Schönheiten auf: in der
Charakteristik der Figuren, die wirklich überzeugend und schneidig ist, zumal
in der Mutter Roberts, wie auch in der Schilderung der Liebe zwischen Robert
und den zwei so ganz ungleichen Schwestern. Wir blicken in das tägliche
Leben des mittlern deutschen Gutsbesitzers, wie der sich plagen muß, um von
seinen: bescheidnen Grundbesitz eine große Familie zu ernähren, wie das Geld¬
bedürfnis die Herzen verhärtet, gemein und kleinlich macht, wie die Menschen
rohe Egoisten werden und es gar nicht einmal merken. Das alles ist vor¬
trefflich gemacht, bis auf den Schluß, wo Silbermann in Ibsens Manier die
Maske fallen läßt und zu doziren beginnt.
Die Vereinigung von Lehre und Erzählung, wo jede Geschichte zum kon¬
kreten Beispiel für eine allgemeine Wahrheit oder Vevbachtnng dienen muß,
hat Silbermann in den „zwanglosen Geschichten": Im Zwielicht aufs artigste
und amüsanteste durchgeführt. Da zeigt er sich als den Mann von Geist und
Weltkenntnis, der sich mit heiterer Ironie, die zuweilen in strengere Satire
hinübcrspielt, über die Fehler der Berliner Gesellschaft, zumal ihrer Frauen
lustig machen kann. Ohne verletzend zu werden, ohne eigentliche Bitterkeit
sagt er dieser Gesellschaft die Wahrheit, wie er sie als Dichter und Kenner der
reinen Natur fühlt. Sämtliche Geschichten sind von einem feinen Rahmen
umgeben, es sind pikante und fesselnde Plaudereien, die zugleich für den er¬
finderischen Geist Sudermanns sprechen.
Nach all dem Lobens- und Tadelnswerten, was wir ohne Vorein¬
genommenheit über Sudermanns Erzählungen zu sagen hatten, erscheint er uns
zwar nicht als eines jener dichterischen Talente, wofür ihn seine Umgebung
gern ausgebe» möchte, es steckt noch viel zu viel Prosa in seinen Erzählungen;
aber er hat starken Sinn für eine effektvolle Form, er versteht sich aufs Packen,
aufs Fesseln und aufs Erschüttern, und der geborne Dramatiker ist überall in
seinen Werken erkennbar. Läntert er sich auch noch rein menschlich — er ist
ja noch jung, gerade dreiunddreißig Jahre alt, wenn Kürschners Kalender recht
unterrichtet ist —, vermag er es zu einer gesunden Weltanschauung und zu
einem sichern Geschmack zu bringen, überwindet er die Schwächen des Natura¬
lismus und dessen ausgediftelte Ethik, so ist bei seiner ungewöhnlichen
Gestaltungskraft zu hoffen, daß er als Dramatiker noch was Rechtes
schaffen wird.
obere Reinicks lustiges Lied mit dem vielgesungnen schönen Nuud-
reim „Italien, Italien — was hast du für Kanaillen!" schildert
das Herrlein, das im Land Italia spazieren wollte und überall
von dem Hvllentier, dem tollen Floh, erschreckt und vertrieben
wurde. Nachher, wie unser Männlein zu Hause im Kanapee
sitzt und beim Thee von Mandolinenklang, Orangeuwäldern, Volksgesang,
Villa Albani und Vatikan spricht und sich am Entzücken seiner geneigten Hörer
erfreut, sind die Unbilden der Jtalienfahrt vergessen. Man muß sich leider
gestehen, daß dieser vielbelachte Typus fast bis auf deu letzten Rest verschwunden
ist, und daß ein andrer an seine Stelle tritt, über den es schwerer ist zu lachen,
weil er nicht den Humor, sondern die bitterste Satire herausfordert. Seit
Jahren sind die Scharen der Deutschen, die nach Welschland und zumal nach
Rom pilgern, gewaltig angeschwollen, in den Fnihlingsmonaten steigt man in
keinen Omnibus, der vou der Poren del Popolo zum venezianischen Platze
fährt, und geht nicht über das Forum Nomanuni, ohne Deutsch in allen
Mundarten und Lauten der Heimat sprechen zu hören. Das wäre nun ganz
erfreulich, wenn die große Mehrzahl unsrer Landsleute mit dem guten Willen
käme, von Rom etwas zu haben, etwas davonzutragen, was ihrem Leben seither
gefehlt hat. Um jedoch zu sehen und zu empfinden, daß immer nur eine Minder¬
zahl ihrer Römerfahrt in diesem Sinne froh wird, braucht man noch lange nicht
so streng zu denken, wie dies z. B. der geistvolle Viktor Hehn that, der die
schärfste Verurteilung der Hochzeitsreisen und Vergnügungszüge nach Italien
aussprach. Es ist keine Formel zu finden, die entscheidend feststellte, wer nach
Rom gehen soll, und wer nicht, und es würde bittere Ungerechtigkeit sein, allen
die Pforten zu verschließen, denen nicht Jahre oder mindestens mehrere Monate
für ihre Reisen zu Gebote stehen. Ganz gewiß werden immer die die reichsten
Früchte pflücken, die Zeit haben, sie am Baume reifen zu sehen. Doch kommt
es schließlich auf ganz andre Dinge als ein paar Wochen mehr oder weniger
Aufenthalt an. Was aber nicht entbehrt werden kann und die erste und letzte
Voraussetzung jedes wahren Genusses und Gewinnes bleibt, ist die ehrliche,
selbstvergessene Hingebung an die Erscheinungen, die starke Ehrfurcht vor dem
Ringen und Walde» menschlicher Größe und Tüchtigkeit, die innere Freiheit,
die ihre Maßstäbe ans den umgebenden Dingen selbst nimmt und die leidigen
oder lieben Gewöhnungen des heimischen Daseins einmal ans sich beruhen läßt.
Prüft man auf diese Forderungen hin das Gebaren der meisten deutschen
Besucher Roms, so kann man sich des Gedankens nicht erwehren, daß die
Expreßzüge und Nuudreisefahrkarte» zu deu zweideutigsten Geschenken der Götter
gehören. Wohl kommen sie auch Einzelnen zu gute, die in vergangnen Tagen
ihre berechtigte und tiefe Sehnsucht nach Italien unerfüllt durchs Leben hätten
tragen müssen. Aber im allgemeinen hat die Leichtigkeit, die gepriesensten
Punkte Mittel- und Süditaliens zu erreichen, verhängnisvolle Wirkungen ge¬
habt und jene Büdekerreisenden deutscher Nation, die ohne allen Sinn für
Leben, Geschichte, Geist und Größe Italiens, ohne Ahnung von dem eigensten
Reichtum der italienischen Städte und namentlich Roms, ohne Hingebung,
Ehrfurcht und innere Freiheit nur kommen, um es daheim rühmen zu können,
daß sie dagewesen seien, in bedenklicher Steigerung vermehrt. Wo der rote
Bädeker auf Eisenbahnen, in Kirchen und Palästen, in Galerien und Gast¬
häusern leuchtet, da kann man gewiß sein, daß die Gruppen und Horden der
deutschen Reisenden vorhanden sind, die mit ihrer bloßen Anwesenheit in Rom
die Gebrechlichkeit und Ungerechtigkeit des Weltlaufs illustriren.
Zwar ist es im Grunde auch ein Stück Ungerechtigkeit, wenn wir diese
Pietätlosen, stimmungslosen und verständnislosen Landsleute „Bädekerreisende"
nennen. Das bekannte Reisehandbuch (mit dem in Italien nur Gsell-Fels
braune Bände um den Vorrang ringen) erfüllt in der ewigen Stadt wie überall
seinen Zweck redlich und vollkommen, an ihm liegt es nicht, wenn ungezählte
Gaffer und Schwätzer sich in die Reihen der deutschen Romreisendeu drängen.
Die Nachweise und Winke auch Bädekers sind nicht bloß zuverlässig und für
tausend Fülle mehr als genügend, sie betonen überall, daß Zeit, innerliche
Sammluug und Selbstverleugnung dazu gehören, um Rom oder nur ein Stück
von Rom mit Genuß und Gewinn zu sehen. Doch die Besitzer und Leser des
Bädeker, die wir hier im Auge haben, fragen nach den Ratschlägen und Winken
ihres vermeinten Orakels mir so weit, als es ihren Gewohnheiten und unrühm¬
lichen Instinkten entspricht. Selbst Bädeker räumt ein, daß, um auch nur die
oberflächlichste, allgemeinste Vorstellung von Rom zu bekommen, ein Aufenthalt
von mehreren Woche» notwendig sei — die Bädekerreisenden kümmern sich den
Teufel um diese und ähnliche Ratschläge. Sie komme» fünf und sechs, ja
zwei und drei Tage nach Rom, sie jage» im Galopp und bei glühender
Mittagshitze ein Viertelhundert Kirche» »ud el» Dutzend Paläste ab, rennen
am Beste» vorbei, zucken zu dein, was ihnen zufällig doch in die Augen fällt,
die Achseln, lassen sich vom Schein und Plunder blenden, freuen sich über
alles, was ungefähr aussieht wie in Berlin oder Buxtehude, und rühmen am
Abend den Fortschritt, der Rom neben den altnativnalen Weinstuben mit ein
paar Kneipen versorgt hat, in denen man nach dem Pranzv bairisches Bier
trinken kann. Sie machen in den Hotels und Peusivushäusern die Tafel mit
ihren schnellfertigen Urteilen, ihren lautschnllenden Gesprächen über Krieg und
Kriegsgeschrei, über die unglaublichsten Nichtigkeiten und Armseligkeiten von
daheim für die Tischgenossen zu einer Qual, sie verbringen ihre paar römischen
Tage zwischen unbehaglicher Rastlosigkeit und philiströser Gleichgültigkeit, ver¬
sichern sich gegenseitig, daß im Grunde alles an und in Rom überschätzt werde,
und daß es nicht der Mühe lohne, den weiten Weg zurückgelegt zu haben.
Sie nehmen gelegentlich einen Anlauf, ihre Verstimmung und Enttäuschung zu
verleugnen, und prahlen zur Abwechslung einmal mit ihren Anstrengungen
und Erlebnissen, verziehen aber jederzeit höhnisch den Mund, wenn sie auf ein
Menschenkind stoßen, das von reiner und ehrfürchtiger Freude an der Größe
und Fülle seiner Eindrücke erfüllt ist. Es ist vielleicht Zufall, daß diese un¬
selige Menschengattung aus Deutschland stärkern Zuzug als aus andern Ländern
erhält. Es mag ein Rest von falschem deutschem Idealismus oder eine Nach¬
wirkung unsrer klassischen Bildung aus dritter und vierter Hand sein, daß sich
in Deutschland so viele Hunderte und Tausende zu einer Fahrt entschließen,
die ihnen weder inneres Bedürfnis ist, noch Befriedigung gewährt, daß
Menschen, die ihre Halb- oder Viertelsbilduug gerade für alles, was in Rom
zu haben und zu holen ist, völlig unempfänglich macht, dennoch dahin gehen,
und so lange oder kurze Zeit sie da sind, aus einer grollenden Mißempfindung
nicht Herauskommen. Oder es muß gerade im deutschen Vaterlande eine un¬
gewöhnlich große Zahl von jenen ganz unselbständigen Naturen geben, die
genau thun und lassen, was der Nachbar thut und läßt, die nichts wollen,
als Leute in ihren heimischen Umgebungen übertrumpfen oder mit Neid er¬
füllen. Womit sie sich daheim brüsten, ist am Ende gleichgiltig, in Rom selbst
sind sie ärgerlich und hinderlich. Sie machen sich viel zu bemerkbar und reden
viel zu laut, als daß es möglich wäre, sie nicht zu sehen und zu hören. Sie
suchen jedem Landsmann, so lange es angeht, mit ihrem Übeln Humor lind
ihren schnöden Redensarten die glückliche und gehobene Stimmung römischer
Tage zu versalzen; sie werden empfindlich, wenn sie auf einen geschlossenen
Kreis treffen, der sich in der ewigen Stadt nicht von Berliner Steuern und
dem Hamburgischen Freihafen unterhalten will, sie betrachten eine zufällige
Hans- oder Wagengemeinschaft, ein zufälliges Nebeueinanderstehen als eine
Verrichtung, sich ihrer dürftigen Auschauungs- und Urteilsweise unterzuordnen.
Ein unter den Deutschen in Rom vielverbreitetes Scherzgedicht, eine Parodie
der Schillerschell Glocke, „Das Lied vom Forestiere," spottet der großen Zahl
unsrer Landsleute, die wahllos und mit konventionellen Enthusiasmus in Rom
alles bewundern, was ihnen gezeigt wird, die sich im Entzücken über Gebäude
und Fresken, römische Landschaften und römische Volkstrachten nicht geung
thun können. Das Gedicht muß entschieden aus harmloseren Zeiten stammen.
Hie und da bin ich einigen autvritätsgläubigen Personen des Gepräges be¬
gegnet, das im „Lied vom Forestiere" lustig verspottet wird, im allgemeinen
sind die gegenwärtigen Bädekerreisenden vom Autoritätsglauben gründlich frei.
Redensarten wie die, daß Michel Angelos Bauten auf dem Kapitol eigentlich
aller Großartigkeit entbehrten, und daß der gefeierte Rafael im Gründe nichts
Rechtes gekvimt habe, kann man aus dem Munde deutscher Romfahrer alle
Tage hören.
Natürlich kommt es nicht immer so grob und wird gelegentlich spaßhaft,
obschon unsre verehrlichen Landsleute sich selten zu der Kunst der unfreiwilligen
Komik aufschwingen. Nicht alle Tage erlebt man so hübsche Geschichten, wie
die, die uns ein englischer Hofmeister zum Besten gab, mit dem und dessen
Zöglingen wir gemeinsam auf dem Rasen des Monte Testaecio standen lind
in die Campagna hinausschauten Trocknen Tones unterrichtete der Führer
seine Zöglinge über einzelne Punkte der Aussicht und sagte endlich auf das
Grabmal der Cüeilia Metella deutend, das im Lichte der Ostersonne sehr
deutlich aus der hellgrünen Umgebung der Via Appia aufglänzte: UM is
tue, tonrv ot' Nistrsss NötsIIa! Ur«, Nötella? fragte einer der Zöglinge, dem
das Prädikat auf die römische Matrone nicht recht anwendbar scheinen mochte,
im Zweifelstone zurück. ?Sö, fus og.« umrriöä! versetzte der unerschütterliche
Lehrer und ging zum Zirkus des Maxentius über. Da hatten wir denn eine
jener hübschen Geschichten, die die Reisestimmung frisch halten. Doch geschieht
es selten, daß die Gemüts- und Urteilssicherheit auch unsrer Reichsgenvssen
sich humoristisch auffassen läßt. Beim Besuche der alten, prachtvoll — allzu
Prachtvoll — erneuerten Kirche von San Paolo fuori le Mura siel uns einer
unsrer Mitgüste aus „Albergo Haßler" in die Augen, ein schwärzlicher Herr
aus Berlin, den wir schon ein paar Abende an der Tafel nur zu gut ver¬
nommen hatten, und der heute einigen Begleitern und Begleiterinnen die
Schönheiten des Tempels eifrig zu demonstriren schien. Bei Tische gab er
dann als seine Überzeugung zum Besten, daß die römischen Kirchen, den großen
Se. Peter eingeschlossen, das Ansehen nicht wert seien. „Aber San Paolo — das
ist etwas andres — das ist fein — sehr fein — wahrhaft elegant, durchaus
mein Geschmack — der Besuch entschieden zu empfehlen!" Natürlich waren
es nicht die unverwüstlichen Schönheiten der uralten Basilika, die Macht der
Säulenstellung, die ihn entzückt hatten, sondern der ballsaalmäßige, spiegel¬
glatte Marmorfnßboden, die kassettirte Decke, die überglänzende Gold- und
Farbenpracht, die er „fein" und „elegant" nannte. Gerade das, was ab¬
stoßend oder störend an dem großen Bau wirkt, mochte ihn an Vorhalle und
Salon irgend eines modernen Bankfürsten erinnert haben und seinem Geschmack
entsprechen. Dergleichen erlebt man täglich, und auch wer das Glück hat, im
Kreise wirklich genießender und warmfühlender Menschen Aufnahme zu finden,
entrinnt dem Unheil der Vüdekerrcisenden nicht. Übrigens braucht man nur
ein Paar Wochen vor Ostern zu kommen oder ein paar Wochen nach Ostern
zu bleiben, um dem reißenden Strom jener Landsleute auszuweichen, die nur
die Mode und die leidige Sucht nach Rom treibt über alles als Augenzeugen
mitreden zu können.
Eine eigentümliche Abart der Bädekcrreisenden sind die, die in Rom wie
in ganz Italien nnr „Volksleben" suchen und sich für die wunderlichsten Ver¬
zerrungen dieses Lebens, die nur um der Fremden willen existiren, mit großem
Eifer erwärmen. Sie haben allerhand Adressen von versteckten, rüuchrigen
Lokalen in der Tasche, in denen sie eine Heysische Novelle zu erleben hoffen,
sie lassen sich vom schlechtesten Mandolinenspieler die Ohren zerreißen und
beachten und studiren mit Vorliebe die malerischen und unmalerischen Bettler,
deren es auch im königlichen Rom eine nur zu große Zahl giebt. Sie haben
große Sehnsucht, nationale Opern und Ballette zu sehen, lassen sich aber ruhig
die jämmerlichsten Operetten, Pariser Abhub, in gewissen Vorstadttheatern
vorspielen und vvrkreischeu. Sie kaufen in den Trvdelläden allerhand Ge-
rümpel, das zum guten Teil vor wenigen Wochen neu vom Schreiner, Schlosser
oder Töpfer gekommen, künstlich gebräunt, geschwärzt und verdorben worden
ist. Sie knüpfen zarte Verhältnisse mit den Blumenmädchen im Korso und
an der spanischen Treppe an und opfern täglich ein paar Svldi, um dafür
halbwelke Rosen und Stiefmütterchen einzutauschen. Sie trinken die heißen
toskanischen und römischen Landweine mit einer Ausdauer, daß ihnen die Köpfe
glühen. Sie trachten nach Naivität und sind so wenig naiv, daß sie an den
hübschesten und erquicklichsten Erscheinungen des römischen Volkslebens achtlos
und gleichgiltig vorübergehen. In der Kunst bevorzugen sie die Veduten und
Modellfiguren, von denen die römischen Fremdenmaler seit Jahrzehnten gelebt
haben und zur Zeit noch leben. Soviel sich im Vorbeigehen wahrnehmen
ließ, rekrutireu sich die Bädekerreisenden dieses Schlages hauptsächlich aus alten
Herren, und so scheint die Gefahr ihres Aussterbens vorhanden. So wenig
sie von Rom haben, so beglückt kehren sie heim und da sie unzweifelhaft
liebenswürdiger und gutmütiger siud, als das Heer der rüsonnirenden Reisenden,
die binnen drei Tagen Rom in- und auswendig zu kennen vermeinen und von
oben herunter so siegesgewiß als albern urteilen, so ist das in gewissem Sinne
bedauerlich, aber unvermeidlich.
Es ist wohl nicht nötig, noch besonders zu versichern, daß die Bädeker-
reisenden keinem, dem es ernst um die Dinge ist, dauernd den Genuß an der
ewigen Stadt und ihrer Herrlichkeiten trüben oder gar verleiden können. Doch
wenn sogar viel von Enttäuschungen die Rede ist, die Rom den Kommenden
bereitet haben soll, so möge man doch die heimkehrenden Pilger fragen, in
wessen Gesellschaft sie ihre Reise nach und ihre Wanderung durch Rom ge¬
macht haben. Es müßte seltsam zugehen, wenn man dabei nicht einer Reihe
von deutschen Gesichtern ansichtig werden sollte, die beständig abwechselnd,
Tag für Tag den Ausdruck geringschätzigen Ingrimms über die Straßen und
Plätze, durch die Kunstsammlungen und die antiken Ruinen Roms tragen
und sich höchstens am Abend vor der gntbesetzten Hoteltafel und im Restau¬
rant zum Gambrinus erhellen.
WZWs ist das Kennzeichen einer weisen Regierung, daß sie sich nicht
auf eine einseitige Parteirichtung stützt, souderu bestrebt ist, allen
berechtigten Strömungen des Volkslebens mit gleicher Fürsorge
entgegenzukommen, und in dem breiten Mittelstande den Unter-
grund für. ihren Bau sucht. Kaiser Wilhelm II. gegenüber hat
es von der Zeit an, wo er noch als Prinz Wilhelm in bescheidner Weise
dem ihm von seinem Großvater zugewiesenen militärischen Berufe mit Eifer
oblag, und namentlich von den Trauertagen des Jahres 1888 an, als in ihm
der bald zum Thron berufene Erbe hervortrat, nicht an Bestrebungen gefehlt,
ihn für eine ausschließliche Parteibewegung zu gewinnen. Eine gerechte Be¬
urteilung muß es ihm zum Verdienst anrechnen, daß er trotz seiner Erziehung,
Umgebung und Jugend aus eigner Überzeugung diesen Versuchungen wider¬
stand und von dem ersten Anfange seiner Regierung an nicht einen Augenblick
in seineu vorgesetzte» Absichten schwankte. Während schon die erregte öffent¬
liche Meinung den Einfluß des Hofpredigers Stöcker im Wachsen glaubte,
wurde der gelehrte aber liberale Theologe Harnack auf den wichtige» Lehrstuhl
der Kirchengeschichte an die Universität Berlin gerufen. Während eine gewisse
Presse aus Furcht vor dem kommenden Mann den Grafen Waldersee als den
künftigen leitenden Staatsmann mit der Kreuzzeitungspartei zu verquicken
bemüht war, wurde der anerkannte und erste Führer der nationallibernlen
Partei auf einen der höchsten Verwaltungsposten gestellt. Auch als nach den
Wahlen und noch unter der Kanzlerschaft des Fürsten Bismarck sich im Reichs¬
tage die Parteiverhältnisse vollkommen verschoben hatten und von einer klerikal-
konservativen Mehrheit noch mehr zu erlange» war, als die notwendigsten
Bedürfnisse für die Wehrkraft und Sicherheit des Reiches erforderten, als
man es von dieser Seite an Lockungen nicht fehlen ließ, hat der Kaiser fest
und unbeirrt an dem von ihm eingeschlagnen Wege festgehalten. Nach dem
Abgange des Fürsten Bismarck wurde ein dem Haß und der Gunst der Par¬
teien gleich fernstehender, im Krieg und im Frieden nicht nur als General,
sondern auch als tüchtiger Verwaltungsbeamter anerkannter Mann an die
Spitze der Geschäfte im Reich und in Preußen berufen, die frühern Minister
blieben in ihren Ämtern, und als aus Gesundheitsrücksichten das Finanz¬
ministerium frei wurde, erhielt dessen Leitung wiederum ein Führer der
Nationalliberalen, ein Staatsmann, der, aus dem Bürgertum hervorgegangen,
in den Kreisen des Handels und der Industrie seine festesten Wurzeln hatte.
Man sollte nach allen diesen Vorgängen glauben, daß das Bürgertum,
insbesondre auch das ihm zugehörige Großkapital, nicht bloß keinen Grund zur
Klage, sondern daß es im Gegenteil jeden Anlaß hätte, froh zu sein und den
Kaiser wie seine Regierung in ihrer schwierigen Aufgabe zu unterstützen. Statt
dessen erleben wir das eigentümliche Schauspiel, daß diejenigen Parteien, die
von dem neuen Regiment noch keine andre Begünstigung erfahren haben, als
daß sie nicht mehr mit dem ewigen Makel der Rcichsfeindschaft belegt werden,
der Negierung eine mehr als wohlwollende Neutralität entgegenbringen, während
die Organe derjenigen Partei, die eine größere Teilnahme an den Geschäften
erhalten hat, als ihr je unter dem Fürsten Bismarck beschieden war, mit immer
wachsender Feindseligkeit, mit offenen und hämischen Angriffen, ja geradezu
mit kühner Verdrehung der Wahrheit und mit Verdächtigungen aller Art der
gegenwärtigen Regierung entgegentreten. Dieser Wandel hat sich nur äußerlich
allmählich vollzogen, die feindselige Gesinnung war von Anfang an vorhanden,
es bot sich nur kein Objekt, sie zu bethätigen. Der Kurs blieb der alte.
Da kam das deutsch-englische Abkommen, und mit staunenerregender
Findigkeit bemächtigte sich die Kölnische und die Münchner Allgemeine Zeitung
der in einzelnen phantastischen Kolonialköpfen schlummernden Unzufriedenheit.
Die letztere ist in diesen Blättern bereits einer vernichtenden Kritik unterzogen
worden, und nach ihren Wirkungen zu urteilen, hat der geführte Hieb gesessen.
Es war vielen besonnenen Elementen rätselhaft, daß so ernste Zeitungen wie
die erwähnten sich zum Mundstück einer Opposition machen konnten, die nur
wegen der ansteckenden Wirkung der Thorheit eine Bedeutung in Anspruch
nahm. Die Art, in der der Angriff geleitet wurde, und die kein Mittel scheute,
zeigte bald, daß es sich um eine Opposition GiMä-mismo handelte. Der
Erfolg, den die Denkschrift des Reichskanzlers in den breitesten Schichten des
Volkes fand, machte das Geschäft unfruchtbar, und der Degen wurde wieder
in die Scheide gesteckt. Die Regierung ließ sich nichts zu Schulden kommen,
und einige Tage blieb es in den Redaktionen von Köln und München und in
den Kulissen ihrer Hintermänner ruhig. Da verkündete der Reichsanzeiger in
seiner trocknen Weise die Vorlagen, die für deu preußischen Landtag vor¬
bereitet würden. Sofort bemerkte man in Köln und München sehr bissig, daß
bereits Fürst Bismarck eine Steuerreform sowie die Reform der Landgemeinde-
verfasfnng und des Volksschulweseus geplant habe, nud daß die neue Regierung
dieses Verdienst durchaus nicht auf ihre Rechnung stellen dürfe. Die Be¬
ziehungen, die die Kölnische und die Münchner Allgemeine Zeitung zu den frühern
Regierungskreisen hatten, waren derart, daß ihre Leitung zweifellos die Un¬
richtigkeit dieser Behauptung keimen mußte. Aber was thuts, der Jude wird
verbrannt! Die Bewegungen der sozialdemokratischen Partei angesichts des
Ablaufes des Sozialistengesetzes lassen erkennen, daß in ihr ein Zersetzungs¬
prozeß beginnt, der vorausgesehen wurde, der aber bisher durch das Gesetz
verhindert worden ist. Die radikalen Elemente trennen sich, und es wird
nicht ausbleiben, daß die besonneneren Elemente der deutschen Arbeiterwelt,
die bisher den Führern Heeresfolge geleistet haben, ihnen diese versagen.
Wenn nun das Aufhören des Sozialistengesetzes ein Fehler wäre, so trifft
er, wie offenkundig ist, nicht die gegenwärtige Regierung. Das hindert aber
die Kölnische Zeitung nicht, in einem Alarmnrtikel „Wohin treiben wir?"
der gegenwärtigen Regierung den Vorwurf zu machen, daß es ihr an Ent¬
schiedenheit fehle, und daß sie an einer Überschätzung der erreichbaren Ziele
leide. Was an dieser Äußerung unverständlich war, das glaubte die Münchner
Allgemeine Zeitung in einem weitschweifigen Kommentar klar machen zu müssen.
Dieser lautet kurz dahin: Der gegenwärtige Reichskanzler ist ein in Staats¬
angelegenheiten gänzlich unerfahrener und unwissender Mann, er kennt weder
Land noch Leute, sonst würde er nicht angesichts des Ablaufs des Sozialisten-
gesetzes, der schwere Gefahren in sich birgt, ruhig sein. Um die Massen des
Bürgertums für sich zu gewinnen, fragt dann das Münchner Blatt in dema¬
gogischer Weise, ob denn gegenüber der mangelnden Geschäftskenntnis der
gegenwärtigen Regierung die Entlassung des Fürsten Bismarck eine Notwendig¬
keit gewesen sei. Hat diese Frage überhaupt einen Sinn, so kann sie nur den
haben, daß unter der Kanzlerschaft des Fürsten Bismarck das Sozialistengesetz
verlängert worden wäre. Daß diese Annahme unrichtig ist, darüber können sich
der Artikelschreiber des Münchner Blattes und seine Inspiratoren nicht
zweifelhaft sein. Bekannt ist. daß Fürst Bismarck im letzten Reichstage
das Sozialistengesetz fallen ließ, weil die nationalliberale Partei den Aus¬
weisungsparagraphen streichen wollte. Bekannt sind seine Äußerungen, daß
nicht die Negierung, sondern die bürgerlichen Parteien den Schutz des Gesetzes
nötig hätten und daß dies den letztern nicht besser als durch ein Aufhören des
Gesetzes ooulvs gezeigt werden könne. Bekannt ist, daß seine Kollegen
und der Kaiser der von der vorigen Mehrheit des Reichstages beschlossenen
Fassung ihre Zustimmung gegeben haben würden, daß es aber dem Einfluß
des damaligen Reichskanzlers noch gelang, den Kaiser auf seine Seite zu ziehen,
um den Zustand herbeizuführen, den die Kölnische und die Münchner Allgemeine
Zeitung als so gefährlich bezeichnen. Auch aus deu Unterredungen, die Fürst
Bismarck mit den verschiedensten Zeitungsschreibern in jüngster Zeit gehabt
hat, geht klar hervor, daß dies sein Ziel war, ja daß er noch eine Verschär¬
fung des Gesetzes und an Stelle der Ausweisung die Verbannung setzen will.
Klar aber ist auch, daß weder eine solche Verschärfung noch auch die Fassung
des vorigen Reichstages irgend eine Aussicht auf Annahme des gegenwärtigen
hat. Wäre Fürst Bismarck heute noch Kanzler, so würde er höchstens das
Gesetz vorgelegt haben in der sichern Erwartung, daß es abgelehnt würde; er
hätte sich nach seiner Meinung darüber eine Quittung erteilen lassen, ein bei
andrer Gelegenheit vielfach von ihm angewandtes Verfahre,?. Thatsächlich ist
also auch bezüglich des Sozialistengesetzes der Kurs der alte geblieben; der
gegenwärtige Reichskanzler hat nichts andres thun können, als die Erbschaft
des Fürsten Bismarck antreten, und die Lage wäre um kein Haar anders, wenn
Fürst Bismarck heute noch Reichskanzler wäre. Denn daß eine Ablehnung
des Sozialisteugesetzes und eine Auflösung des Reichstages die Zusammensetzung
des Reichstages geändert haben würden, wird man auch in Köln und München,
wenn man ehrlich sein will, nicht behaupten. Der Vorwurf, der von dort aus
gegen den General von Caprivi erhoben wird, ist mit Bezug auf das Svzia-
listeugesetz ebenso waschecht, wie mit Bezug auf das deutsch-englische Abkommen.
Er ist nur ein Vorwand, um dem Kaiser und seiner Regierung etwas am
Zeuge zu flicken, und man fragt sich mit Recht nach dem Grunde, deu Blätter
dieser Richtung dazu haben können.
Um ihn zu finden, muß man ein wenig Umschau halten. Ju letzter
Zeit hat auch die Rheinisch-Westfälische Zeitung gegen die kaiserliche Sozial¬
politik Stellung genommen, verschiedne rheinische Großindustrielle haben sich
um dein Geh. Rat Hintzpeter zu reiben gesucht, weil sie ihn für den Urheber
der kaiserlichen Erlasse vom 4. Februar d. I. halten. Nimmt man diese Anzeichen
zusammen, so erhält man ein sehr zutreffendes Bild. Das Großkapital oder
noch besser die Großindustrie macht auf der ganzen Seite mobil gegen die
arbeiterfreundliche Politik des Kaisers; sie kann dies nicht anders thun, als
dadurch, daß sie überall den Kaiser und seine Negierung angreift und jedes
Mittel anwendet, um sie zu beseitigen und den Fürsten Bismarck zu preisen,
weil sie glaubt, damit der gegenwärtigen Regierung zu schaden. Schon mit
der Veröffentlichung der erwähnte» kaiserlichen Erlasse hat sich in diesen
Kreisen Mißstimmung und Unzufriedenheit gezeigt, aber sie trat nicht so sehr
hervor, weil die Verwirklichung der vom Kaiser luudgegebueu Absichten
Wegen der nicht wegzuleugnenden Schwierigkeiten in weiter Ferne stand und
fast aussichtslos erschien. Inzwischen sind die Beratungen im Staatsrat gerade
unter Zuziehung der hervorragendsten Vertreter der Großindustrie erfolgt und
haben zu einem selbst den letztern durchaus annehmbaren Ergebnis geführt.
Dann fand die Berliner Konferenz zur Regelung der Arbeiterfragen statt, die vor
ihrem Zusammentritt wie ein Gebilde der Phantasie erschien, in ihren Ergebnissen
aber zu den weitausschauenden und wohlwollenden Plänen des Kaisers die Zu¬
stimmung Europas brachte. Auf Grund der Beratungen im Staatsrat und
in der Konferenz ist eine Vorlage an den Reichstag gelangt und wird dort
in eingehendster Weise von den hervorragendsten Vertretern aller Parteien
behandelt, sodnß ungeachtet der verschiedensten zu Tage tretenden Anschauungen
ein Zustandekommen des Gesetzes zweifellos ist. Diese letzte Aussicht ist wohl
der hauptsächlichste Grund, daß die Großindustrie und das mit ihr in engem
Zusammenhange stehende Großkapital alle Mittel versucht und alle Hebel in Be¬
wegung setzt, während der Vertagung des Reichstages das kaiserliche Werk zum
Scheitern zu bringen. Es soll hier nicht bestritten werden, daß zahlreiche Fabrik¬
herren für ihre Arbeiter Fürsorge getroffen haben, die über das Maß der gesetz¬
lichen Anforderungen hinausgeht. Um so weniger ist es zu begreifen, daß sie sich
gegen das Gute sträuben, das oder weil es vom Thron aus geschieht. Auch ist die
Zahl der Arbeiter, die in der mittlern und kleinern Industrie arbeiten und für die
ihre Arbeitgeber wegen Beschränktheit der Mittel wenig zu thun imstande sind,
die wichtigere, und sür diese weniger begünstigten Arbeiter zu sorgen ist ein
dringendes Bedürfnis. Es mag sein, daß es sich hier vielfach um Fragen
Persönlichen Stolzes handelt: der Großindustrielle stand bisher in einem ge¬
wissermaßen obrigkeitlichen Verhältnis zu seineu Arbeiter». Er war sozusagen
ein absoluter Herrscher und soll nun nach konstitutioneller Art seine Gewalt
mit einem Arbeiterausschuß teilen. Daß er darüber mißmutig wird, ist be¬
greiflich; kühn ist aber doch der Anspruch, daß der Staat oder die Regierung
auf die persönliche Empfindlichkeit und Eitelkeit dieser Herren Rücksicht nehmen
soll. Hat doch das bisherige patriarchalische Regiment, auf das die Industrie
so stolz ist, das Emporwachsen der Sozialdemokrntie nicht zu hindern gewußt,
haben sich doch in den letzten Jahren die Arbeiterausstäude in einer Art ver¬
größert, daß das Wohl des Staates gefährdet ist, und er nicht länger das
Versuchsfeld abgeben kaun, ans dem die Arbeitgeber und Arbeiter, lediglich von
ihren eignen Interessen geleitet, ihre Kräfte messen. Alles das sollten die
Herren von der Großindustrie und dem Großkapital bedenken, sie sollten sich
auch daran erinnern, was sie dem mächtigen deutschen Reich und seiner
Regierung an Aufschwung, Wohlstand und Reichtum verdanken. Und wenn
diese Rücksicht sie nicht zur Mäßigung veranlassen sollte, so müßte es
doch ihr eignes wohlverstcmdnes Interesse thun, das nicht mit Wochen und
Tagen, sondern mit Jahren und Menschenaltern rechnen' muß. Ohne die
Stütze einer kräftigen Regierung würden sie den Arbeitern nicht Halt zu ge¬
bieten imstande sein. Freilich möchten sie gern geschützt sein und verlangen
uach einem Sozialistengesetz mit allen möglichen Härten, aber sie möchten selbst
nichts dafür thun, sondern die ganze Verantwortlichkeit der Regierung auf¬
bürden. Das wäre ein leichtes Spiel, wenn sich ein Thor fände, der sich
daraus einließe. Aber es wird wohl nachgerade klar, daß die Angriffe der
mehrfach erwähnten Organe und ihrer Genossen nicht aus einer allgemeinen
Unzufriedenheit beruhen, auch nicht die Stimmung irgendwie beachtenswerter
Kreise wiederspiegeln; sie sind wesentlich Unmutsäußerungen kleiner Koterien,
über die die Geschichte zur Tagesordnung übergehen wird, freilich nicht ohne
Schädigung derer, die die Saat der Zwietracht in schwerer Zeit säen. Was
aber von der dynastischen und königstreueu Gesinnung zu halten ist, die bei
diesen wiederholten Angriffen zu Tage gefördert wird, das soll hier bloß an¬
gedeutet werden, damit nicht der Zorn in die Feder fließe.
Was Kaiser Wilhelm II. bisher gethan hat, ist nur geeignet, Vertrauen
und Hoffnung zu erwecken. Preußen und das Reich müssen auch ohne die
bewährte Leitung des Fürsten Bismarck weiter fortbestehen und regiert werden,
und das werden auch einige unzufriedne Fabrikherren und ein paar Blätter
am Rhein, in München oder Stuttgart nicht hindern. Sollten sie aber wirklich
einmal eine gründliche Abrechnung verlangen, nun, dann werden sie den An¬
gegriffnen bald als einen mächtigen Gegner schätzen lernen.
Die cikademische Rede des berühmten Lehrers, selbstverständlich eine oratorische
Musterleistnng, macht n. a. zweierlei klar. Einmal, daß der scheinbare Abfall
Fichtes von dem Weltbürgertum, zu dem er sich noch im Winter 1304/5 sehr ent¬
schieden bekannt hatte, zu dem Nationalismus, den er bald darauf in seinen Reden
an die deutsche Nation predigte, gar kein Abfall, oder wie wir vom nationalen
Standpunkte aus sagen müssen, keine Bekehrung war. Denn Fichtes Patriotismus
„gleicht dem Kosmopolitismus wie ein Zwillingsbruder dem andern. Stammes¬
gefühl, Heimatliebe, historische Bande der Anhänglichkeit zwischen Volk und Staat,
alles dieses ist für Fichte niederer Schollenpatriotismus. Dafür ist denn aber auch
das, weis er wahren Patriotismus nennt, ohne allen Erdgeschmack, und sein
Deutschland liegt in Utopien." Mit dem Schlußwort schießt Windelband doch wohl
über das Ziel hinaus. Der kosmopolitische Patriotismus Fichtes erscheint durch
die Natur des deutschen Volkes gerechtfertigt. Es ist nämlich dasjenige nnter allen
Völkern, das die Menschennatur am reinsten darstellt; deswegen fallen echtes
Deutschtum und wahre Humanität so zusammen, wie vor 2300 Jahren Humanität
und Helleneutum, und deswegen ist der beste deutsche Staatsbürger zugleich der
beste Weltbürger. Forschen wir nach, worin eigentlich das Wesen des Deutschtums
bestehe, so finden wir als Kern des deutschen Volksgeistes weder die Freiheitsliebe,
noch den kriegerischen Sinn, noch die eheliche Treue der Weiber, noch die Vasallen¬
treue der Mttuner, noch die Streitsucht, noch das Talent für Künste und Wissen¬
schaften, noch die Arbeitsamkeit, noch die Liebe zum Biere. Denn alle diese Eigen¬
schaften finden sich zu verschiednen Zeiten und ans verschiednen Kulturstufen auch
bei andern Völkern, und von allen findet sich je nach Zeiten und Umständen auch
bei den Deutschen das gerade Gegenteil. Vielmehr besteht das Wesen des deutschen
Volkes darin, daß es alle guten Anlagen aller Völker in harmonischer Mischung
besitzt und frei ist von jeder karrikaturenhaften Besonderheit. Wie Körperbau und
Gesichtsbildung des durchschnittlichen Deutschen die richtigen Verhältnisse zeigen, so
wird auch das geistige Ebenmaß nud das seelische Gleichgewicht nirgends durch das
Vorherrschen einer Anlage über die andern gestört. Des Deutschen Lebhaftigkeit
artet weder in negerhafte Zappligkeit noch in gallische Explosivität, seine Ruhe
nicht in englische Steifheit ans. Er hat Sinn für die schöne Form, opfert aber
nicht den Inhalt der Form gleich den Italienern, bei denen die Männer oft durch
weibische Anmut anwidern. Wir Deutschen sind seit 1500 Jahren in geistiger und
in geographischer Beziehung das Volk der rechten Mitte, wie die Griechen es für
ihre Zeit gewesen sind. Ans diesem Grunde vermögen wir uns in die Eigenart
aller andern Völker zu finden, und wenn diese Fähigkeit auch zuweilen in einen
Fehler ausartet, so dürfen wir doch nicht vergessen, daß sie an sich ein Vorzug
ist, ja der höchste Vorzug, dessen je ein Volk teilhaftig wurde, weil wir nur durch
ihn zur geistigen Weltherrschaft berufen und befähigt sind. Mit dieser Allseitigkeit,
diesem Reichtum, diesem Ebenmaß verträgt sich allerdings kein Schollenpntriotismus.
Wenn der Grönländer ohne Thran verschmachten muß und in einem glücklicheren
Klima dahinsieche, so zeigt sich darin eben nur seine unvollkommene Organisation,
die, ähnlich der des Schmarotzertieres, nur für einen ganz engen Kreis von Lebens¬
bedingungen berechnet ist. Und wenn der Pole in der Kirche zu weinen und zu
heulen anfängt, so oft er den Namen eines seiner Nationalheiligen aussprechen hört,
so beweist er damit nur, daß er noch auf der Stufe des Kindes steht, das der
Mutter an der Schürze hängt und trostlos jammert, wenn sie sich drei Schritte
von ihm entfernt. Obwohl der Deutsche über solchen Schollenvatriotismns erhaben
ist, weiß er doch seine Scholle zu schätzen und hat sie gegen Räuber jederzeit tapfer
verteidigt. Es war daher uicht philosophische Abstraktion oder utopische Schwärmerei,
sondern in der Natur der Sache begründet, wenn sich dem Prophetengeiste (als
solchen charakterisirt ihn Windelband) unsers großen philosophische» Patrioten der
deutsche Zukunftsstaat als ein idealer Kulturstand darstellte, der berufen sei, Welt¬
staat, Kern einer Republik von Weltbürgern zu werden.
Ein andres, was Windelband klar macht, ist der Sinn, in dem Fichte das
Recht auf Arbeit verkündet. Unsre heutigen Sozialisten fordern dieses Recht, weil
ohne Arbeit die Genußmittel nicht erworben werden können, an denen jeder Anteil
haben müsse. „Wenn Fichte das Recht ans Arbeit Proklamirt, so ist ihm die Arbeit
nicht Mittel, sondern Selbstzweck. Die oberste Pflicht des Menschen — soge er —
ist selbständige Thätigkeit; die aber ist nur möglich, wenn dem Individuum eine
Sphäre der äußern Wirklichkeit zugesichert ist, in der es allein nach freier Selbst¬
bestimmung schalten und walten kann. Diese Sphäre selbständiger Arbeit nennt
Fichte das Eigentum: darum ist ihm der Eigentumsvertrag ein unerläßliches
Ingrediens des Staatsbürgervertrages; darum ist dies ein Sozialismus, dessen
fundamentalste Forderung das persönliche Eigentum jeden Bürgers bildet." Also
nicht als Mittel zur Erwerbung von Gütern, sondern als Pflichterfüllung darf und
soll nach Fichte jeder sein Maß von Arbeit beanspruchen.
Windelbands Rede ist, wie der Leser aus diesen Andeutungen erkennen wird,
in hohem Grade zeitgemäß.
Aus Langes berühmter „Geschichte und Kritik des Materialismus" zieht
Bösch in seiner kleinen aber gründlichen Schrift das Fazit. Lange räumt der
mechanischen Natnrerklärung (die Bösch, abweichend von Lotze u. a., mit dem
Materialismus identifizirt) das ganze Gebiet der Wissenschaft ein. Dagegen soll
den Philosophischen und religiöse» Ideen ihr Daseinsrecht gewahrt bleiben — auf
dem Gebiete der Dichtung. „Als Dichtung aufgefaßt, sollen sie die große Auf¬
gabe erfüllen, den Menschengeist zu veredeln, zu begeistern, über die Schwachheiten
seiner Natur und die gemeine Wirklichkeit emporzuheben und in eine bessere Welt
der moralischen Erhebung und Weihe zu versetzen. Aber den Anspruch, materielle
Wahrheit, die richtige Erkenntnis der Dinge zu sein, müssen sie aufgeben; auf
keinen: Punkte und in keinem Momente dürfen sie der Wissenschaft entgegentreten,
in ihr Gebiet eingreifen oder gar als eine höhere Autorität ihr die Bahnen vor¬
schreiben wollen." Das Recht, solche Ideale zu erdichten, leitet Lange aus Kants
Entdeckung ab, daß unsre Erkenntnis das Wesen der Dinge nicht erschöpft, daß
also für die religiös-sittliche Dichtung ein Gebiet des Unerkennbaren übrig bleibt.
Bösch bezweifelt, ob z. B. die Ideen der Vorsehung und der vergeltenden Ge¬
rechtigkeit Gottes noch eine namhafte Wirkung auf unser Verhalten ausüben werden,
wenn wir sie nicht mehr als unzweifelhaft wirklich glauben, sondern nur uoch als
erbauliche Dichtung gelten lassen; überhaupt, meint er, lasse Langes Hauptwerk bei
allen wertvollen Einzelheiten im ganzen unbefriedigt. (Dieses Schicksal teilt es
mit den Hauptwerken aller großen Philosophen.) Aber Lange sei gestorben, ehe
er die Aufgabe, die er sich gesteckt hatte, vollendet, sein Ideal ausgestaltet habe.
Auch sei er loyal und zartfühlend genug gewesen, „vor jener Voreiligkeit zu warnen,
die das Alte zerstören will, bevor das Neue aufgebaut ist, die das Licht der christ¬
lichen Ideale auslöschen will, bevor die Sonne der neuen oder sderj unigestalteten
alten Idealwelt am Horizont der Menschheit aufgestiegen ist." Vielleicht erweist
sich das Auslöschen der christlichen Ideale überhaupt als unnötig. Vielleicht er¬
kennt man mit der Zeit, daß Kant mit seiner Einschränkung des menschlichen
Erkennens auf das Gebiet der Erscheinungen nur wissenschaftlich genauer, aber
in einer für die Masse unverständlichen Sprache gesagt hat, was Paulus schon
1. Korinther 13 in einer für alle verständlichen Weise verkündigt hatte, daß wir
hienieden nicht das Wesen der Dinge, die Gottheit selbst, sondern nur ihr unvoll¬
kommenes Spiegelbild sehen. Vielleicht wird man endlich einmal auch allgemein
anerkennen, daß die Rechte der Wissenschaft nicht im mindesten angetastet werden,
wenn wir in jenen religiös-sittlichen Ideen, die der Geist aller Besten zu allen
Zeiten mit Notwendigkeit erzeugt, nicht blos; erbauliche Dichtung, soudern Wahr¬
heit und Wirklichkeit sehen. Von den Anmerkungen, die Bösch dem Texte nach¬
schickt, siud drei zu besondern interessante» Abhandlungen angeschwollen. Die erste
davon prüft den bekannten Satz Benthams: das Zusammenleben der Menschen sei
so zu ordnen, daß daraus das höchstmögliche Glück der größtmöglichen Zahl her¬
vorgehe; die zweite kritisirt Langes Ansicht über die Entstehung und mögliche Über¬
windung des Egoismus; die dritte sammelt Material für die Begründung einer
„empiristisch-eudämonistischen Moraltheorie."
Den Robinson Crusoe haben wir alle gelesen, aber die meisten werden Wohl
erst durch die vorliegende Arbeit Fischers erfahren, daß der Verfasser dieses Lieb-
lingshundes aller Knaben ein sehr bewegtes politisches und Geschäftsleben geführt
hat, daß er ein sehr fruchtbarer Schriftsteller war und von Mcnanlah der Vater
der englischen Essayisten genannt wird, und daß er einen hohen Rang unter den
Praktischen Svzinlpvlitikern einnimmt. Benjamin Franklin bekennt in seiner Selbst¬
biographie, daß der Dssa^ ein?> ojcivt« „auf einige Haupterzeugnisse" seines spätern
Lebens einen entscheidenden Einfluß ausgeübt habe. Defves Reformvorschläge be¬
ziehen sich auf die Banken, die Landstraßen, auf Unfall- und Altersversicherung,
auf das Wetten (Glücksspiel), die Irrenhäuser, die Konkursordnung, die hohem
Bildungsanstalten, die Handelsgerichte und die Verstaatlichung der Seeleute. Einige
seiner Pläne, wie die das Bankwesen betreffenden sind längst verwirklicht, andre
gehen eben jetzt ihrer Verwirklichung entgegen. Das Buch mutet seltsam an. Man
sieht daraus, wie wenig sich die Welt im Grnnde genommen ändert. So ver¬
schieden im einzelnen auch die damaligen — höchst erbärmlichen — englischem Zu¬
stände von unsern heutigen waren, die Übereinstimmung in der Hauptsache ist
doch uoch größer als die Verschiedenheit. In der Schilderung des Grttnder-
unwesens, der Ungerechtigkeiten der Besteuerung und in den Vorschlägen wegen
Ersatzes der Armenpflege durch Zwaugsverficherung glaubt man eiuen Svzialpvlitiker
unsrer Tage zu vernehmen. Auch die Idee, eine Akademie zur Überwachung des
Sprachgebrauches zu gründen, klingt uns Heutigen nichts weniger als fremd.
Spezifisch englisch dagegen mutet die den Geist des siebzehnten Jahrhunderts wider¬
spiegelnde Forderung an, diese Akademie solle vor allem dem gotteslästerlichen
Runden steuern; der damalige Engländer konnte nämlich den Mund nicht aufthun,
ohne den frommen Wunsch auszusprechen, daß Gott ihn oder sonst jemanden oder
irgend etwas verdammen möge. Auch eine Akademie für Frauen will Defoe ein¬
gerichtet wisse», und er spricht sich dabei sehr eingehend über Frauenbildung ans.
Die Darstellung ist so lebhaft, anschaulich und mit Beispielen aus dem Leben ge¬
würzt, wie man es von dem Verfasser des Robinson erwarten kann.
Dieses neueste Buch Grünhagens, des Altmeisters der schlesischen Geschichte,
bildet die Fortsetzung der in den Jahren 1884 und 1886 erschienenen zweibändigen,
seiner Zeit auch ein diesem Orte besprochenen „Geschichte Schlesiens," die die Zeit
bis zum Tode Kaiser Karls VI. (Oktober 1740) behandelt. Treffend bemerkt der
Verfasser am Schlüsse dieses frühern Werkes, daß eine Darstellung der Geschichte
seines engern Vaterlandes innerhalb der ersten Periode preußischer Herrschaft
eigentlich gleichbedeutend sei mit der Abfassung „eines Stückes Biographie des
großen Königs"; von diesem Gesichtspunkte ans erklärt sich denn auch der Titel
des hier angezeigten, erst kürzlich veröffentlichten Bandes der schlesischen Landes¬
geschichte. Die Vorzüge, die wir bei Besprechung der ersten beiden Bände dem
Verfasser zuzuerkennen uns für berechtigt hielten, treten muh hier deutlich hervor:
streng wissenschaftliche Behandlung des Stoffes, Heranziehung und Verwertung eines
äußerst umfänglichen Quelleumnterials — wie dies nur bei einem so bewanderten
Archivbeamten und genanen Kenner seiner heimatlichen Geschichte, wie er, voraus¬
gesetzt werdeu darf — und eine klare, gefällige Dnrstellungsweise in knapper, hie
und dn den Wissensdurst des Lesers vielleicht uicht ganz befriedigender Form. Wie
in den beiden Teilen der „Geschichte Schlesiens," so sind auch in dieser neuesten
Veröffentlichung Grünhagens die Qmllennachweisungen als selbständiger Abschnitt
dem Text angefügt; ein gutes Register bildet den Schluß des Ganzen. Als be¬
sonders lesenswerte Partien des Buches seien die die Huldigung zu Breslau (am
7. November 1741) Seite 175 f. und die Einrichtung der Preußischen Herrschaft
behandelnden dem Leser empfohlen. Die Schilderung der Entwicklung der mili¬
tärischen Verhältnisse in Schlesien in der Zeit zwischen dem ersten und dein zweiten
schlesischen Kriege und hier insbesondre der die Ausbildung des Milizsystems be¬
treffende Abschnitt, Seite 409 f., dürfte namentlich in den militärische» Fachkreisen
Anerkennung finden.
Der Titel dieses Buches bereitet auf das ewige Klagelied von der guten alten
Zeit vor. Aber es ist nicht so böse gemeint. Der Verfasser rügt in ähnlicher
Weise, wie es anch in diesen Blättern wiederholt geschehen ist, das hereinbrechende
Stutzerwesen und die übertriebnen Höflichkeitsformen im Verkehre der heutigen
Studentenschaft unter einander. Aber er ist nicht blind dagegen, daß sich manches
zum Bessern gewendet hat, und im weitern könnte er wohl in Anrechnung bringen,
daß er selbst eben um dreißig Jahre älter geworden ist. Denn weiter liegt seine
Universitätszeit noch nicht hinter ihm, und wenn alte Herren von 1830 das Treiben
um 1860 angesehen haben, das ihm in so rosigem Licht erscheint, dürfte auch
mancher das 0 M-nru angestimmt haben. Die harmlosen Suiten und Spritzfahrten,
Paukereien und Nasführungen der Pudel u. dergl. in. sind hübsch und anspruchslos
erzählt und werden vor allem uuter einstigen Jenenscrn ein dankbares Publikum
finden, nicht minder die Bildnisse der Gründer der Burschenschaft, die Abbildungen
von Gebunden, Malereien im Carcer u. f. w. Am anmutendsten ist die Schilderung
des damaligen Verhältnisses zwischen Professoren und Studenten; wir sehen nicht
ein, weshalb die Namen der würdigen, leutseligen Herren nicht angeschrieben
worden sind.
el den vielen Behauptungen, Andeutungen und Vermutungen, die
heute fast liberall über den neu zu errichtenden Kolonialrat aus¬
gesprochen werden, ist es vielleicht uicht unangebracht, einmal
in aller Ruhe und Unbefangenheit zu erwägen, wie ein solcher
Kolonialrat beschaffen zu sein haben wird und welche Thätigkeit
ihm eigentlich zufällt. Wir wollen uns dabei eben so fern halten vou jener
Schwärmerei, die in ihm die Rettung der aufs äußerste gefährdeten Kolvuial-
Pvlitik erblickt, die hofft, daß er die Veranlassung zu neuen Reisen und
Expeditionen sein werde zum Zwecke der Abschließung neuer Verträge mit Häupt¬
lingen entlegener Gebiete, die hofft, durch ihn das englisch-deutsche Abkommen
rückgängig gemacht zu sehen n. s. w., eben so fern von dieser, als von dem
traurigen Pessimismus, der da glaubt, daß es eine Übereilung gewesen sei,
koloniale Gebiete in Besitz zu nehmen, der in dem Kolonialrat nur eine neue
Ausgabe für Zwecke, die keinen Gewinn bringen, erblickt. Wir wollen vielmehr
mit unbefangenem Blicke die Sachlage ansehen und aus ihr heraus Gestalt
und Zweck des Kolonialrates folgern.
Es ist bisher und vielleicht nicht mit Unrecht behauptet worden, daß
unsre koloniale Verwaltung einen etwas büreaukratischen Charakter getragen
habe. Dieser Umstand ist wohl auf die Thatsache zurückzuführen, daß die
Regelung kolonialer Aufgaben bisher von Juristen, die unsre Kolonien nie
betreten hatten, vollzogen wurde. Diese Herren sind jedenfalls in der Lage, eine
Maßnahme in Einklang mit europäischen Rechtsbegriffen zu bringen, aber
damit ist noch lange nicht gesagt, daß diese dann auch in einem Lande, wo
Rechtsbegriffe entweder noch nicht vorhanden, oder die vorhandnen ganz andrer
Natur sind als die unsern, von praktischer Bedeutung werden kann.
Sehr wünschenswert wäre es ja, wenn wir einen Stab juristisch gebildeter
Männer in unsern Kolonien hätten, und wenn diese so vertraut mit den Sitten
der Eingebornen, den örtlichen Verhältnissen des Landes u. s. w. wären, daß
sie auf Grund der praktisch erworbenen Kenntnisse eine Verwaltung ins Leben
rufen könnten, die den Verhältnissen der Kolonie Rechnung trüge, auf sie
gegründet ist. Da uus diese nicht zu Gebote stehen, so werden wir den Rat
solcher Männer zu hören haben, die, obwohl keine Juristen, mit Land und
Leute« wirklich vertraut geworden sind und in ihrer Stellung durch ihre
Leistungen bewiese» haben, daß sie fähig sind, die Verhältnisse zu beurteilen
und zu lenken. Wir werden diese Männer hauptsächlich uuter denen finden,
die, sei es durch Kapitalaulagen, sei es auf irgend eine andre Weise, besondres
Interesse für unsre Kolonien an deu Tag gelegt haben. Solche Müuuer
werden wir in erster Linie unter unsern Reisende» zu suchen haben. Leider
ist es nur Mode geworden, jeden, der einmal in Sansibar gewesen ist, als
Afrikareisenden und folglich als Sachverständigen auszugeben. Doch dürfte
diese Art von Reisenden, deren Zahl ja hente Legion ist, kaum in der Lage
sein, zu beweisen, daß sie Land und Leute wirklich keime» gelernt haben.
Wir können aber auch andre namhaft machen, die allerdings mit reichen
Schützen erweiterten Wissens heimgekehrt sind.
Ich glaube, aus deu vorstehenden kurzen Erwägungen ergiebt sich ein
deutlicher Fingerzeig für die Zusammensetzung unsers neuen Kvlonialmtes.
Die Kenner von Land und Leuten werden wir unter unsern hervorragenden
Reisenden zu suchen haben. Die großen Kolonisationsgesellschaften werden die¬
jenigen Mitglieder zu stellen haben, die die in den Kolonien zu erstrebenden
Ziele aufstellen und in Vorschlag bringen. Die Kapitalisten, die die Kvloni-
sntiousgesellschaftcn durch Beiträge lebensfähig gemacht haben, sollten ebenfalls
vertreten sein, um ihre Billigung über die angeregten Ziele und über die Ver¬
wendung der Kapitalien aussprechen zu können.
So weit wird wohl jeder uns beistimmen. Aber ein geringes Nachdenken
belehrt uns, daß auch noch andre Interessen im Kolonialrate der Vertretung
bedürfen. Einem christlichen Kulturvolle liegt es ganz entschieden ob, bei seiner
Berührung mit heidnischen Völkern diesen die Gesittung beizubringen, die fast
als das alleinige Ergebnis der Glaubenslehre des Kulturvolkes zu betrachten
ist. Das Nächstliegende Mittel ist die Mission. Ganz abgesehen von ihrer
göttlichen Aufgabe und dein Umstände, daß sie sich mit weltlichen Dingen nicht
befassen soll, ist sie dennoch überall von großem Einfluß auf die wirtschaftliche
Entwicklung roher Naturvölker gewesen, sei es in fördernden, sei es in hin¬
dernden Sinne, je nach deu Grundsätzen, die die Sendboten der Mission be¬
seelten, ja vielleicht sogcwlein wenig nach ihrem Bildungsgrade. Ist es doch
die Verschiedenheit der geistigen Entwicklungsstufe, die deu Menschen befähigt,
seinem Berufe eine weitere oder eine engere Auslegung zu geben. Abgesehen
von ihrem höhern Zweck ist die Mission meistens im Besitz der Kenntnis einer
Reihe von Thatsachen und Verhältnissen, die ihre Mitglieder durch dauernden
Aufenthalt in bestimmten Gegenden sammeln, Thatsachen, die dem sich doch
meist in Bewegung befindlichen Reisenden entgehen müssen, und die auch dem
Kaufmann, da dieser seine Aufmerksamkeit auf ganz andre Dinge richtet, fremd
bleiben. Die Kenntnis solcher örtlichen Verhältnisse ist oft von wesentlicher
Wichtigkeit bei der Erwägung beabsichtigter Maßnahmen. Bedenkt man ferner,
daß man durch erfolgreiche Mission einen großen Einfluß auf die Stimmung
der farbigen Bevölkerung auszuüben imstande ist, so erkennt man, wenn auch
uicht die Notwendigkeit, so doch, daß es ratsam ist, die Mission, und zwar in
den beiden in unsern Kolonien zugelassenen Konfessionen, im Kolonialrate ver¬
treten zu sehen.
Es wird ferner wohl kein Zweifel darüber herrschen, daß es wünschens¬
wert sei, die vom Kolonialrat gefaßten Beschlüsse auch im Reichstage vertreten
zu sehen. Mithin erscheint es ratsam, auch Parlamentarier in den Kolonialrat
zu wählen. Da nun, wie man annehmen darf, auf dem Gebiete der kolonialen
Verwaltung alle politischen Parteien sich einigen können, so ist es an sich gleich-
giltig, welcher politischen Richtung der in den Kolonialrat gewählte Parla¬
mentarier angehöre, so lange er nur die von ihm mitgefaßten Beschlüsse im
Reichstage vertreten will.
Wir sehen, die Zusammensetzung des Kolonialrates hat sich eigentlich ganz
von selbst ergeben; sind auch die Mitglieder keine Juristen, so stehen ihnen
doch praktische Erfahrung auf der einen Seite, klares Erkennen der angestrebten
Ziele auf der andern zu Gebote. Daß beschlossene Maßnahmen nicht in
Widerspruch mit unabweisbaren Anschauungen von Recht und^ Gesetz gelangen,
ehe sie Gesetzeskraft in unsern Kolonien erhalten, dafür werden die trefflich
geschulten Beamten der kolonialen Abteilung unsers Auswärtigen Amtes schon
Sorge tragen.
Bezüglich der Form, die dem neu zu gestaltenden Körper zu geben ist,
werden wir uns natürlich zunächst in andern Ländern mit großem Kolonial¬
besitz umsehen, um irgend eine dortige Einrichtung zum Muster zu nehmen.
Allein wir finden einesteils, daß anderwärts der Kolonialbesitz so unermeßlich
viel größer ist als der unsre, daß große Körperschaften völlig mit dessen Re¬
gierung oder Oberaufsicht beschäftigt sind, andernteils daß die Beziehungen
zwischen Kolonie und Mutterland sich so gestaltet haben, daß entweder die
Kolonie vom Mutterlande aus regiert wird, oder daß die Kolonie sich auf
freiere Füße gestellt hat und sich selbst regiert. Bei uus ist in unsern größten
und besten Kolonien ein Zustand wieder modern geworden, der früher mit dem
Ausdruck vlmrtsr vvlon^ bezeichnet wurde, und bei dem die Regierung nur eine
Oberaufsicht in den von Privatgesellschaften wirtschaftlich verwalteten Kolonien
ausübt. Da uun der Kolvnialrat der kolonialen Abteilung des Auswärtigen
Amtes als beratender Körper zur Seite treten soll, so werden wir unter unsern
eignen Einrichtungen wahrscheinlich das geeignetste Vorbild für die ihm zu
gebende Form finden. Das passendste Muster scheint uns der Verwaltungsrat
von Banken, der landwirtschaftliche Rat, ja vielleicht der Reichstag selbst
zu sein.
Wie die Behandlung gewisser Fragen vom Reichstage an Kommissionen
verwiesen wird, so könnten die Beratungen für jede einzelne Kolonie von
einer sich nur mit dieser beschäftigenden Kommission gepflogen werden- Diese
setzte sich dann in der schon angedeuteten Weise zusammen, sodaß jede Kolonie
durch fünf Herren vertreten würde und ihre Angelegenheiten dnrch sie beraten
würden.
Nun haben wir fünf Kolonien: Ostafrika, Neu-Guinea mit allen Südsee¬
inseln, Südwestafrika, Kamerun und Togo. Nach dem vorgeschlagenen Verfahren
würde daher der Kolonialrat aus einer Körperschaft von fünfundzwanzig
Personen in fünf Sektionen bestehen. Sollte man glauben, daß die Mitglieder¬
schaft von fünfundzwanzig zu groß sei, so könnte man Kamerun und Togo
zusammenlegen und als eine Kolonie behandeln; sind sie doch Krvukvlvnien
und können daher auch nicht dnrch Kolonialgesellschaften vertreten werden.
Ferner ließe sich die Einrichtung treffen, daß die Veratungen über alle Kolonien
nicht gleichzeitig, fondern in einer von der Anzahl und Dringlichkeit der zu
beratenden Punkte abhängigen Reihenfolge vor sich gingen. Es könnten dann
Mitglieder, die Ortskenntnis von mehr als einer Kolonie haben, heute an der
Beratung z. B. über Westafrika, morgen an der von Kamerun Teil nehmen.
Auf diese Weise ließe sich, wenn es für nötig erachtet werden sollte, die Mit¬
gliederzahl auf zwanzig oder sogar noch weniger beschränken.
Selbstverständlich wird nach Art des Reichstages oder irgend eines Ver¬
waltungsrates oder desjenigen Institutes, das wir uns zum Muster nehmen,
der Kolonialrat auch einen Präsidenten haben müssen, um die Verhandlungen
zu leiten, Beschlüsse auszusprechen, Anträge zu stellen. Hier ist es an sich
gleichgiltig, ob der Kolonialrat aus seiner Mitte ein Mitglied zum Präsidenten
wählt oder ein solcher von berufener Stelle aus ernannt wird, am natürlichsten
erscheint es, daß der Chef der kolonialen Abteilung des Auswärtigen Amtes
zugleich Präsident des Kolonialrates sei.
Nachdem wir uns so darüber klar geworden sind, wie der Kolonialrat
sich zusammensetzen und welche Form er haben sollte, können wir versuchen,
uns ein Bild von seiner mutmaßlichen Thätigkeit zu entwerfen.
Zunächst darf wohl mit Sicherheit angenommen werden, daß der Kvlo-
nialrat nicht eine ständig thätige Behörde sein wird und kann, sondern daß
er je nach Bedarf zusammengerufen werden wird, um über beabsichtigte Ma߬
nahmen zu beraten- Unsre Kolonien sind noch nicht so weit in ihrer wirt¬
schaftlichen Entwicklung vorgeschritten, daß ihre Angelegenheiten einer Abtei-
lung des Auswärtigen Amtes und einem Beirat von zwanzig bis fünfund¬
zwanzig Mann volle Beschäftigung gewähren könnten; es wird daher zunächst
Sache des Koloninlrates sein müssen, erstens, wie schon bemerkt, beabsichtigte
Maßnahmen zu begutachten, zweitens Anträge zu stellen, die durch Ver¬
fügung der kolonialen Abteilung des Auswärtige!! Amtes in Wirksamkeit
treten.
Vielleicht ist es gut, zu betonen, obwohl es eigentlich selbstverständlich ist,
daß nämlich eine Körperschaft wie der Kolonialrat sich unmöglich mit der tech¬
nischen Verwaltung der Kolonien, Anstellnngsgesnchen, Gehalts- und Ver-
setznngsfragen u. s. w. befassen kann, er würde dadurch nu die Stelle der kolo¬
nialen Abteilung des Auswärtigen Amtes treten, nicht aber dieser beratend
zur Seite stehen. Betrachten wir um kurz die Gesichtspunkte, unter denen,
nach unsrer unmaßgeblichen Meinung, die Arbeit des Kolonialrntes eingerichtet
werden müßte.
Ich glaube, daß mir selbst der größte Idealist und Schwärmer für kolo¬
niale Dinge wird zugeben müssen, daß das Endziel unsrer Kolonialpolitik doch
in dem uns aus den Kolonien dereinst erwachsenden materiellen Vorteile zu
suchen sei. Daß es dabei unsre Aufgabe sein wird, zivilisatorisch auf den Neger
zu wirken, ihn an Gesetz, Sitte, Zucht und Ordnung zu gewöhnen, ist zwar
klar; aber nur einseitige Humanitätsschwärmer, die gewöhnlich selbst kein
Geld zur Ausführung idealer Zwecke hergeben, können in der Zivilisirung des
Negers und der Staateugründuug in wilden Ländern die Hauptaufgabe unsrer
Koloninlpolitik erblicken.
Der materielle Vorteil ist das Endziel des lebenden Geschlechts von
Kolonialpolitikern, unsre Aufgabe daher die, die zu diesem Ziele führenden
Wege zu finden.
Der für jedermann sichtbare Ausgangspunkt des Weges ist zunächst der,
die Ausgaben für koloniale Verwaltung so zu bemessen, daß zwar für die
Entwicklung unsers überseeischen Besitzes genügend Raum vorhanden bleibt,
dieser Besitz jedoch uicht von vornherein mit einer Schuldenlast überbürdet
wird, die seinen realen Wert, in der nächstem Zukunft wenigstens, wesentlich
beeinträchtigt. Gegenüber dieser negativen Aufgabe steht dann die positive,
die Hilfsquellen des Landes so zu entwickeln, daß ihnen materieller Gewinn
entsprießt.
Daß unser kolonialer Besitz uns noch eine Zeit lang Kosten verursachen
wird, bezweifelt wohl niemand, unsre Kolonien gleichen darin jedem andern
finanziellen Unternehmen, z. B. einer Fabrik, die auch Bau- und Einrichtekvsten
verschlingt, ehe sie Gewinn bringen kaun. Es wird sich aber wie dort so auch
hier darum handeln, keine andern als dringend nötige Auslagen für unpro¬
duktive Zwecke zu machen, auf der andern Seite diese sobald als möglich durch
Einnahmen aus irgend welchen Quellen zu mindern. Findet man hier nur
die richtige Art und Weise, so kann es nicht zu lange dauern, bis die Ein¬
nahmen die Ausgaben übersteigen; dann ist der zu erstrebende Zustand der
finanziellen Selbständigkeit der Kolonie eingetreten.
Um aber aus dem Nahmen der allgemeinen theoretischen Erörterungen
herauszutreten, wollen wir auf einen besondern Punkt eingehen. Durch
das schneidige Vorgehen des Majors von Wißmann mit Hilfe seiner tapfern
Schar deutscher Offiziere und farbiger Truppen, sowie der kaiserlichen Ma¬
rine, ist es endlich gelungen, den Aufstand an der Ostküste zu unterdrücken,
Handel und Verkehr blüht empor, viele Negerstämme haben ihre Unterwerfung
angezeigt, die Bevölkerung ist beruhigt, die Hauptrebellen sind teils durch
feinen Takt versöhnt, teils, wo nötig, mit dem Tode bestraft.
Um dieses Ziel zu erreichen, sind Gelder zu dem Betrage vou mehreren
Millionen? bewilligt und verbraucht worden, abgesehen von den Unkosten, die
der Marine durch ihre Teilnahme verursacht wurden und die nicht in
dem Kolonialbudget, sondern in dem Marineetat stehen; sie dürften sich eben¬
falls auf bedeutende Summen belaufen. So weit wird niemand etwas einzu¬
wenden haben, denn wollten wir unsern ostafrikanischen Besitz überhaupt be¬
halten, so mußten wir auch die Herren darin sein, wir konnten nicht von der
Gnade der Araber oder Neger abhängig sein in Ländern, die unter deutsche
Flagge gestellt wurden.
Nachdem aber diese Aufgabe erfüllt ist, entsteht die Frage, ob es zweck¬
mäßig sei, die großen für einen außerordentlichen Fall bewilligten Summen
anch weiter auszugeben zum Unterhalt derselben Truppen, die genügten, den
Aufstand zu unterdrücken, aber wohl zu zahlreich sein dürften, um als stehendes
Heer in der Kolonie unterhalten zu werden. Man dürfte füglich mit Be¬
rechtigung fragen, warum nach dem Kriege 1870 nicht das ganze deutsche
Heer auf mobilem Fuße gehalten wurde, lag ja doch ein neuer Angriff Frank¬
reichs immer im Bereich der Möglichkeit.
So ähnlich liegt der Fall auch hier. Die Zahl der Truppen, die deu
Aufstand unterdrücken konnten, zeigen uns annähernd, wie groß unsre Macht
im Kriegsfall in Ostafrika zu sein haben wird, für die Aufrechterhaltung des
nunmehr hergestellten Friedens ist sie ebenso zu groß, wie das gesamte mobile
deutsche Kriegsheer für die Friedensstärke desselben.
Zwei Nachteile ergeben sich aus der Aufrechterhaltung dieser Truppe.
Der erste ist, wie schon augedeutet, der Kostenpunkt. Man überlege, wie
man will, immer erscheint die Ausgabe für eine so große Truppenzahl
als schlechte Kapitalanlage; je teurer wir uns unsre Kolonie machen, desto
geringer verzinst sie sich, d. h. desto geringer ist der von ihr zu erwartende
materielle Vorteil. Ein kleines Rechenexempel mag uns die Wahrheit des
soeben gesagten klarer vor Augen führen. Die Unterhaltung von 1700 Mann
Schntztrnppen kostet, unter Ausschluß der Bezüge ihrer Offiziere u. f. w. be-
reits 1200000 Mark. Der Wert der Gcsamtnusfuhr ans dein dentsch-
ostafrikanischen Gebiete betrug laut Aufstellung der Ostafrikanischen Gesellschaft
in dem Jahre August 1888 Ins August 1889 rund 4200000 Mark. Wenn
wir annehme», daß nach Abzug von allerhaud Kosten u. s. w. die Hälfte dieser
Summe wirklich Einnahme gewesen sei, so erweisen wir der Produktionsfähig-
keit Ostafrikas und der Verwaltung des Gebietes alle Ehre. Diese Hälfte
beträgt 2100000 Mark. Nach Abzug der Unterhaltungskosten für 1700 Mann
bleiben uns 900000 Mark zur Bestreitung der Ofsiziersgehalte, der Unter¬
haltung der Dampfer und des ganzen Verwaltungsapparates. Das hieße aber
diese Verwaltung um ihrer selbst willen unterhalten, selbst wenn diese 900000
Mark hinreichten, alle weitern Unkosten zu decken. Ich kann nun nicht glauben,
daß eine Kolonie uns von Vorteil sein kann, wenn sie nnr Geldopfer erheischt,
statt Einkünfte zu bringen, denn wie gesagt, das Endziel unsrer Kolonialpolitik
kann nur materieller Vorteil für das Mutterland sein.
Man kann nun entgegnen, daß die Truppe immer uoch nötig sei, um in
unserm Gebiete Ruhe und Ordnung aufrecht zu erhalten, das Emporblühen
von Handel und Gewerbe zu unterstützen u. s. w. Das sind jedoch billige
Redensarten. Entweder — und es wäre ein schlechtes Kompliment für den
Herrn Reichskommissar, daran zu zweifeln — ist Ruhe und Ordnung her¬
gestellt und die Eingebornen haben ihre Unterwerfung erklärt, dann ist eine
so große Truppenmacht unnötig; den Zustand des Friedens zu erhalten, würde
eine kleinere Macht genügen. Oder es sind noch Keime des Aufstandes vor¬
handen, dann ist es ein Unrecht, zu sagen, der Aufstand sei unterdrückt; es wäre
aber auch ein Zeichen, daß es noch lange dauern wird, ehe wir wirklich Herr
der Situation werden, und es müßte, dn wir uns, um unsern Besitz zu halten,
zur Unterhaltung einer bedeutenden Truppenzahl genötigt sehen, die Entstehung
eines militärischen Kolonisativnsshstems zur Folge haben, wie wir an allen
romanischen Kvlouisationsversnchen sehen tonnen, des denkbar untauglichsten.
Aber die Truppen sind nötig, um das Emporblühen von Handel und
Gewerbe zu schützen! Daß Handel und Gewerbe eines sichern Schutzes, der
Bürgschaft für Leben und Eigentum bedürfen, wird niemand bestreiten, aber
erstens fragt es sich, ob dieser Schutz durch eine solche Truppe wirklich aus¬
geübt werden kann, zweitens ob er sich nicht auf andre Weise herbeiführen
läßt, drittens ist es doch ein eigentümlicher Schlitz, der die Einkünfte des
Landes verzehrt, ja das Land in Schulden stürzt.
Aber uoch ein andrer Punkt erregt unser Bedenken. Welche Absicht liegt
dem Unterhalt einer größern Truppenmacht nach Herstellung des Friedens zu
Grunde? Meines Erachtens der, wenn auch nicht ausgesprochene, so doch
vielleicht empfundene, unklar empfundene Wunsch, das ostafrikanische Gebiet zu
beherrschen. Das klingt sehr einfach, gewinnt aber gleich ganz andre Bedeutung,
wenn wir das Wort „beherrschen" ein wenig zergliedern und auslegen. Nehmen
wir vor der Hand bloß an, es bedeute Beherrschung der größten Karawanen-
straßcn, Anlegung von Forts an den wichtigsten Plätzen, Bestrafung großer
Verbrechen u. s. w. Dann mache man sich klar, daß Ostafrika etwa 1000000
Quadratkilometer groß ist, etwa doppelt so groß als das deutsche Reich, daß
keine Wege und keine Verkehrsmittel vorhanden sind, daß Teile des Landes
zu gewissen Jahreszeiten unpassirbar sind, und ich glaube, es wird auch dem
größten Schwärmer erklärlich sein, daß 1700 Mann, selbst bei allem guten
Willen und unter der schneidigsten Führung, nicht ausreichen, diese Aufgabe
zu erfüllen. Auf der einen Seite ist also die Truppe zu klein, auf der andern
zu kostspielig, viel zu groß.
Daraus geht eigentlich ziemlich dentlich die Notwendigkeit wenigstens ihrer
allmählichen Herabsetzung hervor. Man wird einwerfen, dann höre die Truppe
ja ganz auf, Truppe zu sein, was sollten eine Hand voll Soldaten in der
Kolonie? Das ist keine ganz unrichtige Frage, und es bleibt uns ebeu nur
die Antwort darauf: Wir brauchen leine Truppe in der Kolonie, wenigstens
nicht das, was man unter „Truppe" zu verstehen Pflegt. Wohl bedürfen
wir einer Exekutivgewalt, allein der Beweis ist noch nicht erbracht, daß diese
durchaus die Gestalt von geschulten Soldaten annehmen müsse.
Vergessen wir ferner eins nicht. Mit einer größern Truppeumenge im
Innern des Landes zu operiren, ist überhaupt ausgeschlossen, auch eine größere
Truppenmacht würde doch ihre Thätigkeit auf die Küste und deren Nähe be¬
schränken müssen, sie hat es auch bei alleu Kämpfen gethan. In allen Verwick¬
lungen ist sie aber, und zwar aufs wirksamste, von unsrer Marine unter¬
stützt worden, ja sie hätte vielleicht sogar ohne deren Hilfe alle die schönen
vorliegenden Erfolge viel schwerer erkaufen müssen. Vermindern oder ändern
wir nun auch unsre Landmacht in Zahl oder Charakter, des kräftigen Bei¬
standes unsrer tüchtigen Kriegsmarine bleiben wir ja nach wie vor gewiß.
Aus dem Gesichtspunkte der Sparsamkeit heraus, sowohl als um den
Fehler zu vermeiden, Unternehmen zu beginnen, deren Ausführung unsre Kräfte
gänzlich übersteigt, erscheint es also ratsam, die ostafrikanische Kolouialtruppe zu
vermindern; dennoch werden wir sie auf solchem Machtfuße halten müssen, daß
sie als Exekutivgewalt wirksam bleibt.
Um zu bemessen, bei welcher Stärke dies erst der Fall sei, werden wir
uus zunächst darüber klar werden müssen, was wir denn eigentlich von der
Truppe — so wollen wir sie auch in ihrer verminderten oder veränderten
Gestalt weiter benennen — fordern oder erwarten. Schutz unsers Lebens und
unsrer Unternehmungen in Ostafrika, wird natürlich jeder antworten und es
unbegreiflich finden, daß man darüber einen Augenblick im Zweifel sein kann.
Nun soll es aber einem besonders unternehmenden Deutschen einfallen, einen
Hcmdelszug nach Ukvuvugv zu machen, ein andrer hält Jturu für ein aus¬
gezeichnetes Gebiet, um eine Elfenbeinniederlage zu errichten. Sie versprechen
sich goldne Berge, die Sache geht auch im Anfang, nach sechs Monaten kommen
nach Jturu die Massais und jagen den Elfenbeinhündler fort, die Karawane in
Ukonongo wird von den Warori überfallen und geplündert, und beide Ge¬
schädigten, welche vielleicht mit dem Leben davon gekommen sind, lassen ihre
Verstimmung über ihren Verlust in Zeitungsartikeln aus, worin sie vor allem
energische Wiedervergeltung an den betreffenden Volksstämmen fordern, und
kann diese nicht erfolgen, sich über mangelnden Schutz n. s. w. in den Kolonien
beklagen. Wir sehen an diesem aus der Luft gegriffenen Beispiel, daß das
Wort „Schutz" in den Kolonien ziemlich genau begrenzt werden muß, um uicht
zu Mißverständnissen Anlaß zu geben und Unzufriedenheit zu erwecken.
Ist es nun wirklich schwer, genau zu bestimmen, wo und wann Schutz
einzutreten habe, in welcher Weise und wie weit er auszuüben sei, so findet
sich ein Ausweg, ihn wirksam zu machen, indem wir nicht seinen Charakter
definiren, sondern das Gebiet, wo er ausgeübt wird. Daß er da ein¬
treten muß, wo sich der wirtschaftliche Betrieb unsrer Kolonisation am inten¬
sivsten entwickelt, ist selbstverständlich, es wird nur jetzt darauf ankommen,
diese Entwicklung planmüßig zu leiten, sodaß nicht an den verschiedensten
Punkten Unternehmungen ins Leben treten, deren räumliche Entfernung von ein¬
ander ihre Überwachung sehr erschwert. Es wird vielmehr unsre Aufgabe sein,
unsre wirtschaftlichen Unternehmungen so anzulegen, daß sie nicht, von be¬
liebigen Punkten ausgehend, endlich nach größerer Ausdehnung in irgend einem
Orte, z. B. einem Hafen, mit einander wieder in Berührung kommen, sondern
wir werden unsre Kräfte an einem Punkte, sagen wir in der Nähe eines Hafens,
einzusetzen haben, und ihnen dann gestatten, sich nach allen Richtungen be¬
liebig auszubreiten. Um die Möglichkeit dieses Verfahrens zu erleichtern, könnte
man ja eine Methode einführen, die in andern Kolonien oft angewandt wird.
Man erklärt gewisse Gebiete für den Betrieb eröffnet und gestattet außerhalb
dieser keine Besiedlung oder dauernde Niederlassung.
Daß die Auswahl eines solchen Gebietes nicht ganz leicht ist und dem
betreffenden Leiter eine große Verantwortung aufbürdet, liegt auf der Hand;
aber auch hierbei sind eine Menge Anhaltepunkte vorhanden, die nur der Auf¬
merksamkeit gewürdigt zu werden brauchen, um als vorzügliche Leitfäden zu
dienen.
Der hauptsächlichste ist die Erwägung der Möglichkeit der Verkehrsherstel¬
lung. Sich an einem Punkte anzusiedeln, der, wenn an der Küste gelegen, wegen
mangelnden Hafens für Schiffe unzugänglich, oder an einem Orte im Inlande, der
von der Küste wegen schwierigen Terrains fast unerreichbar ist, würde niemandem
einfallen. Erste Bedingung sür die Auswahl des Ortes wäre also ein Hafen oder
die Möglichkeit, einen Hafen anzulegen. Sehr zu empfehlen wäre für Ostafrika
die Einführung des Ochsenwagens als Verkehrsmittel, wenigstens in solchen
Gegenden, wo Rindviehzucht möglich ist. Im übrigen hört man allerorten
das Verlangen nach Eisenbahnen laut werden, ganze Spalten sind vollgedruckt
worden mit Kosten-, Kurven- und Steigungsberechnnngcn. Viel lieber würde
ich es sehen, wenn einmal jemand auf Grund wirklicher Thatsachen, nicht bloß
Vermutungen und willkürlicher Annahmen, die Rentabilität einer solchen Bahn
ausrechnen wollte. Da dies vor der Hand unmöglich ist, weil die Herstellung
eines so teuern Verkehrsmittels gänzlich verfrüht wäre und gerade so, als
wenn man den Bau eines Hauses mit dem Dache anfangen wollte, da sich
Sparsamkeit empfiehlt, um desto eher zu dem Endziele des materiellen Vorteils
zu gelangen, bin ich vor der Hand Gegner der Eisenbahn, nicht ohne jedoch
herzlich zu wünschen, daß die Vorbedingungen zu ihrer Daseinsfähigkeit und
Notwendigkeit bald entstehen möchten, und halte mich an die alte Thatsache,
daß ein mittelmäßiger Wasserweg immer noch besser ist, als ein teurer Schienen¬
strang. Aus diesem Grunde halte ich Umschau unter den Flüssen Ostafrikas
und sehe immer uoch keinen andern, als den Nufidji, den ich schon früher als
die Grundlage unsers Kolonisationssystems bezeichnete.
Seitdem hat sich ja unsre Lage wesentlich gebessert, die Küste gehört uns
und mit ihr Dar-es-Sacilmn, ein schöner Hafen, der vor der Hand unsern Zwecken
genügen dürfte. Das Hinterland von Dar-es-Saalam mit seinen wellenförmigen
Hügeln dürfte so gut sein wie irgend ein andrer Teil Afrikas, und bei größerer
Ausdehnung unsers wirtschaftlichen Betriebes hier stünde uns später der mächtige
Fluß zu Gebote. Hiermit soll nicht gesagt sein, daß ich das Heil nur im Rufidji
erblickte; stellt sich heraus, daß sich aus triftigen Gründen irgend eine andre
Gegend als besser erweist, so werde ich mich herzlich darüber freuen. Ich
harre des Augenblickes. Mag das Gebiet nun ausgesucht sein, wo es will,
so lange bei der Wahl nur praktische, namentlich die oben angedeuteten Gesichts¬
punkte maßgebend gewesen find, auf dieses Gebiet, aber nicht darüber hinaus,
sollte sich der Schutz, also die Thätigkeit der Truppe erstrecken.
Die Ausübung des Schutzes würde eine doppelte sein. Erstens müßte
die Truppe Patrouillen aussenden, um die Grenzen zu besichtigen, Übergriffe
anwohnender Eingeborner sowie Übermut der Bewohner des geschützten Gebietes
abzuwehren und zu verhindern; zweitens bestünde ihre Aufgabe darin, die Ein-
gebornen im eignen Gebiet uuter Kontrolle zu halten, ich möchte sagen, eine
polizeiliche Aufsicht über sie zu führen. Man sieht, die Truppe hört schon
auf, Soldat zu sein, unmerklich findet ein Übergang zur Gendarmerie statt.
In diesem Umstände liegt die ganze Änderung der zukünftigen afrikanischen
Verwaltungsmethode; statt rein militärischer Natur wird sie polizeilicher,
d. h. halb militärisch, halb zivilistisch.
Wir wollen, ehe wir uns mit der Erschließung des Landes weiter be¬
fassen, noch einige Augenblicke bei den Aufgaben der Truppe verweilen. Haben
wir auch besonders hervorgehoben, daß unsre wirtschaftlichen Arbeiten auf be¬
stimmte Grenzen beschränkt werden sollten, so ist es doch nötig, an mehr als
einer Stelle verwaltend thätig zu sein. An der ganzen Küste sind Häfen, die
mehr oder minder Endpunkte von Karawancnstraßen sind, und als solche zoll¬
amtlich bewacht werden müssen. Auch hier setzt die Thätigkeit der Truppe
ein. An solche Zollstationen wären kleine Detachements zu legen, deren Pflicht
es wäre, den Zollbeamten zur Seite zu stehen. Wir können sogar so weit
gehen, an größern Knotenpunkten von Karawanenstraßen kleine Forts mit
stehender Besatzung zu unterhalte»; doch wird eins in Tabara vielleicht schon
genügen. Seine Aufgabe könnte ja niemals sein, das Land in Schach, respektive
in Gehorsam zu halten, das wäre eine Maßnahme, die eine bedeutende Be¬
satzung des Forts erfordern würde und für unsre Verhältnisse gleich wieder
viel zu groß wäre; es würde vielmehr Aufgabe des Offiziers sein, als Be¬
obachter im Lande thätig zu sein, alle Bewegungen sofort an die Hauptstelle
zu berichten und möglichst großen persönlichen Einfluß im Lande zu gewinnen.
Das Gros der Truppe wird jedenfalls in dem abgegrenzten Gebiet, das wir
das Wirtschaftsgebiet nennen wollen, stationirt sein müssen, und von hier aus
würden die Detachements auf den Zollstationen und den Forts, wenn deren
durchaus mehrere sein müßten, abgelöst werden.
Noch eins. Zur Zeit besteht die Truppe aus Somalis, Zulus und
Sudanesen. Diese Leute erhalten einen bedeutenden Gehalt, und ihr Transport
von und zu ihrer Heimat verschlingt ebenfalls große Summen. Bei alledem
erheben sich Stimmen, als seien sie gar nicht einmal so vorzügliche Krieger,
als man anfänglich anzunehmen geneigt war. Ein einfaches Mittel, zwar
keine bessern Krieger zu erhalten, ihre Unterhaltungskosten aber wesentlich zu
verringern, bestünde darin, in die Truppe einen bestimmten Prozentsatz
Sansibaren oder Leute aus Usambara oder Unhamwezi oder immer die am
tauglichsten befundenen Einwohner unsrer Länder aufzunehmen und zum
Gendarmentum zu erziehen. Erhielten diese Leute dann wirklich ebenso viel
Gehalt wie Zulus oder Sudanesen, so fielen doch die Transportkosten auf dem
Dampfer weg, und damit wäre schon eine schöne Ersparnis geschaffen.
Mur wird zwar sagen, die Leute seien zu feig, ein wirkliches Gefecht zu
wagen, aber dies ist doch unerwiesen. Auf Stanleys Zügen haben sie sich
schließlich doch oft recht tapfer zeigen müssen, die Gelegenheit wurde ihnen oft
genug aufgedrängt. Kein Reisender, der größere Reisen gemacht hat und in
die Lage kam, die Sansibaren in die Enge getrieben zu sehen, spricht ihnen
den Mut ab, Paul Neichhard hat mit seinen Nuga Rugas sehr tapfere Thaten
verrichtet; schließlich ist Fechten ja nicht mehr ihre Aufgabe, sondern an ihren
Gefechtsmut würde doch nur im äußersten Notfalle appellirt werden, ihre
Thätigkeit ist ja in Zukunft ganz friedlich.
(Schluß folgt)
aß die Menschheit im Wissen und im technischen Können die
erstaunlichsten Fortschritte macht, wird von niemand Gestritten.
Dagegen gehen die Meinungen weit aus einander, wenn nach
der Sittlichkeit und der Glückseligkeit gefragt wird. Wir be¬
schränken uns hier auf die erstere und gedenken einen Ausweg
aus dem Labyrinth zu zeigen, der nicht neu, aber bisher wenig beachtet
worden ist.
Die entgegengesetzten Theorien der Philosophen und Geschichtschreiber
erfreuen sich ungefähr der gleichen Zahl von Anhängern, weil die Stimmungen,
denen sie zusagen, ziemlich gleichmäßig verteilt send. Die Alten — und der
Melancholiker wird alt geboren — sind Pessimisten, die Jungen — und der
Sanguiniker bleibt zeitlebens jung — sind Optimisten. Von den Schulen, die
an den Fortschritt der Sittlichkeit glauben, wollen wir nur drei ins Auge
fassen.
Hegel beschreibt sehr schön, wie sich die mit der Sittlichkeit aufs innigste
verbundene Religion von der Natnranbetung durch die Geistesanbetuug zum
Glauben an die Menschwerdung Gottes erhebt, wie dann das Christentum im
Katholizismus lange Zeit auf der Stufe der unfreien Sittlichkeit verharrt, um
sich im Protestnutismns zur Freiheit durchzuringen, und wie endlich im Geiste
der Regierungen und der Völker die Weltweisheit erwacht und an die Stelle
des der Menschheit gegenüberstehenden Heiligen (sagen wir deutlicher um die
Stelle Gottes) der Staat tritt, der „die selbstbewußte sittliche Substanz" ist.
(Diese Definition des Staates findet sich in der Ausgabe von 1832, Band 7,
S. 403.) Hegel hat es unterlassen, die Triebkraft seines dialektischen Prozesses
auch noch im letzten Stadium weiterwirken zu lassen und zu fragen, ob nicht
auch dieser Begriff der selbstbewußten sittlichen Substanz, gleich allen andern
Begriffen, sein Gegenteil in sich schließe und von diesem aufgehoben werde.
In der That ist dies der Fall, und es liegt nicht die mindeste Übertreibung
in dem Satze, daß der vollkommen sittliche Staat ein Staat ohne alle Sitt-
lichkeit sein würde. Denn wenn sich der Staat nicht auf den Bereich des
Rechts beschränkt, wenn er kein Gebiet freier Sittlichkeit mehr übrig läßt, wenn
er jede unsittliche Handlung entweder gewaltsam verhindert oder bestraft und
durch seine vortrefflichen Einrichtungen alle freiwilligen Thaten der Nächsten¬
liebe teils überflüssig, teils unmöglich, teils sogar straffällig macht, daun ist
die Sittlichkeit gar nicht mehr vorhanden, denn es giebt keine Sittlichkeit ohne
Freiheit. Die Enthaltsamkeit ist dort keine Tugend mehr, wo das Gegenteil
physisch unmöglich wird. Die Barmherzigkeit stirbt ab, wo sie keine Gelegen¬
heit mehr hat, sich zu äußern, - weil der Staat jeden Einzelnen von der Wiege
bis zum Grabe zwangsweise mit allem versorgt, was er braucht und was ihm
vou Rechts wegen zukommt; kein Bater denkt mehr daran, sich sür seine Kinder
zu Tode zu arbeiten, da sie ja vom Staate versichert und versorgt werden,
und der jugendliche Arbeiter kaun nicht mehr daran denken, für feine verwitwete
Mutter und seine jüngern Geschwister zu sorgen, wenn ihm der Staat für
diesen Zweck von vornherein jeden Pfennig abnimmt, den er nicht zur Fristung
seines Lebens unbedingt nötig hat. Ja der Fall wäre sehr leicht denkbar,
daß in einem solchen Reiche erzwungener Sittlichkeit ein Mensch von edler
Gemütsart eine seiner Neigung widerstrebende Thorheit oder Schlechtigkeit
beginge, uur um das Bewußtsein seiner Freiheit nicht ganz zu verlieren, die
er durch sittliches Verhalten nicht mehr zu bewähren vermag. Übrigens paßt
auch der positive Inhalt, den Hegel der Sittlichkeit giebt, nur für gewisse
Zeiten und Gesellschaftszustände. In der Ehe und in der Korporation, sagt
er, habe sich die Sittlichkeit zu bethätigen; daher erklärt er die Eingehung der
Ehe für Pflicht, und was die Korporation anlangt, fo sieht er ohne eine solche
nicht nur die Erfüllung der Berufspflichten gefährdet, sondern auch deu Bürgern
des Großstaates die Möglichkeit genommen, ihre Bürgerpflicht zu erfüllen, für
das Gemeinwohl zu wirken, was doch durch unmittelbare Beteiligung an der
Staatsverwaltung nicht geschehen könne. Heute haben wir keine Korporationen
mehr, die diesen Namen verdienten, und der Pflicht der Eheschließung tritt die
andre gegenüber, auf die Ehe zu verzichten, wenn man nicht in der Lage ist,
eine Familie standesgemäß zu ernähren. Mag nun auch in dem unbestrittenen
innigen Zusammenhange der Korporation und der Familie mit der Sittlichkeit
ein starker Antrieb liegen, die angedeuteten Mängel unsers Gesellschaftszustandes
zu überwinden, so kann doch nicht zugegeben werden, daß unsre Gesellschaft im
großen und ganzen unsittlich sei, so lange sie fortdauern. Demnach hat Hegel
den Inhalt der Sittlichkeit unvollständig und einseitig angegeben, und ihr
Fortschritt in seinem Sinne könnte höchstens mit dein Borbehalt anerkannt
werden, daß er sein -Ziel niemals erreichen dürfe, weil, sobald dies geschieht,
die Sittlichkeit aufgehoben wird.
Die Darwinianer sind nur dann berechtigt, von sittlichem Fortschritt zu
sprechen, wenn sie unter Fortschreiten verstehen: ein Bein vors andre setzen.
Der Darwinismus läßt mir ziellose Bewegung übrig, eine Reihe von Ver¬
änderungen, die den Namen Fortschritt nicht verdient. Denn Fortschritt ist
die Fortbewegung doch mir dann, wenn sie auf ein Ziel lossteuert, das in
unserm Falle ein sittliches Ideal sein müßte; und ein solches Ziel setzt einen
voraus, der es gesetzt hat, einen persönlichen Gott. Beides leugnet der
Darwinismus; namentlich den Zweckbegriff beseitigt zu haben, rechnet er sich
zum höchsten Ruhme um. Er leugnet, daß die Wesen, die vernunftlosen von
außen durch Einrichtungen Gottes, die vernunftbegabten von innen durch die
Liebe zum erkannten Ideal, zu einem Ziele hingezogen würden, das vor ihnen
schwebe; seiner Ansicht nach werden, wie es Lotze treffend ausdrückt, die Wesen
mir von hinten ins Leere hinaus vorwärts gestoßen. Holt man aus deu
darwinischen Moralpredigten den Kern heraus, so behält man nichts in der
Hand als folgenden Zirkel: Was ist das Sittliche? Antwort: Das dem Genus
luiruo Zuträgliche. Was erhält und veredelt die Menschengattung? Antwort:
Das Sittliche. Dabei wird uaiverweise der Inhalt des Sittlichen ganz einfach
aus dem Volksglauben und den herrschenden sittlichen Anschauungen herüber¬
genommen. Und dabei verwickeln sich die Darwinianer bei der Anwendung
ihrer Dogmen auf das Werden und deu Fortschritt dieser wesentlich christlichen
Sittlichkeit in unzählige Widersprüche. Denn es ist klar, daß die Sittlichkeit,
wie sie gewöhnlich verstanden wird, der Erhaltung und Veredelung der Rasse
mindestens ebenso oft schadet, als sie ihr dient. Wie hartherzige Menschen
für ihre Person meist weiter kommen als barmherzige, so gelangt ein Volk,
das andre rücksichtslos unterdrückt oder ausbeutet, zu größerer Macht und
größerm Reichtum als ein sanftmütiges, geduldiges und gewissenhaftes, und
macht dadurch seiue Volksgenossen nicht allein körperlich stärker, sondern nach
einigen Seiten hin sogar sittlich besser, indem es sie vor denjenigen Schwächen,
Lastern und Verbrechen bewahrt, die von allgemeinem leiblichem Elend unzer¬
trennlich scheinen. Und daß der Rasse durch Tötung der schwachen Kinder
besser gedient wird als durch deren Auspüpvelung, ist doch klar. Trotzdem
hat noch kein Darwinianer die lakedämonische Sitte zu empfehlen gewagt.
Ein Mensch, in dem zarte Gewissenhaftigkeit den hervorstechendsten Charakter¬
zug bildet, wird seiue Gesundheit und sein Vermögen, falls er welches geerbt
hat, nicht durch Ausschweifungen zu Gründe richten und ist ziemlich — nicht
ganz — sicher vorm Zuchthause; aber sehr weit bringen wird ers auch nicht,
und möglicherweise „pflanzt er nicht einmal seine Rasse fort." Wahr ist an
der darwinischen Auffassung nur dreierlei, was man aber schon vor Darwin
wußte: daß einzelne Tugenden dem Individuum, der Rasse und der mensch¬
lichen Gesellschaft bis zu einem gewissen Grade vorteilhaft sind, daß sich die
sittlichen Anschauungen verändern, und daß auf die Änderung der Vorteil, den
eine bestimmte Tugend der Gesamtheit bringt, oder der Nachteil, den sie davon
befürchtet, keinen genügen Einfluß übt. , .
Eine dritte, nicht Schule, sondern Gruppe von Philosophen glaubt an einen
allmählichen, wenn auch sehr langsamen und von Nückfüllen unterbrochenen
Fortschritt der Sittlichkeit und hält zugleich an der Hoffnung fest, daß dieser
Fortschritt die Glückseligkeit des Menschengeschlechts zuletzt im großen und
ganzen fordern werde. Diese Richtung gewinnt immer mehr Boden, ist in den
Grenzboten als eine erfreuliche Erscheinung begrüßt worden und wird sie wohl
noch öfter beschäftigen, sodaß an dieser Stelle der bloße Hinweis genügt.
Merkwürdigerweise lehren auch die heutigen Pessimistischen Philosophen
.den sittlichen Fortschritt. Ihr Pessimismus beschränkt sich auf die Glückseligkeit.
Bekanntlich stellen sie sich den Weltprozeß folgendermaßen vor. Im Welt¬
bünde schlummerten vor Zeiten neben einander der Wille zum Dasein und
die unbewußte Intelligenz. Eines schönen Tages entschlüpfte der Wille seiner
unbewußten und daher wohl ein wenig blöden Hüterin und beging die un¬
geheure Dummheit, sich in Wirklichkeit umzusetzen. Der Intelligenz bleibt
seitdem weiter nichts übrig, als das geschehene Unglück rückgängig zu machen.
Das ist eine ziemlich langwierige Arbeit. Zuerst muß sie sich ans dein unbe¬
wußten Zustande in den bewußten versetzen und zu diesem Zweck deu Billionen
von Jahren erfordernden Organisationsfortschritt der Materie bis zum Menscheu-
gehiru einfädeln, sodann die menschliche Kulturentwicklung so weit leiten, daß
das Menschengeschlecht sein unheilbares Elend gründlich erkennt und seine
Selbstvernichtung beschließt, die das Weltall in den Zustand des Nichtseins
zurückversetzt. Wir glauben nun zwar nicht, daß irgend ein Mensch in der
Welt diese Art Weltende im Ernste für möglich halte, wollen aber doch nicht
verfehlen, hervorzuheben, daß ohne die Überzeugung von diesen, Weltende die
pessimistische Philosophie jeder Daseinsberechtignug ermangelt. Ihre Urheber
haben neben vielem Unwahren und Verkehrten zwar auch viel Wahres und
Schönes gesagt, aber das Hütten sie ganz ebenso gut sagen können, wenn sie
anstatt vom Unbewußten vom biblischen Gott ausgegangen wären und die
Weltschöpfung ungefähr so erzählt hätten, wie wir sie in der altmodischen
biblischen Geschichte lesen. Das gilt denn auch von der pessimistischen Moral.
Sie ist einfach dem Christentum oder, wenn man will, dein uralten Volks¬
glauben entlehnt und steht mit der pessimistischen Metaphysik in gar keiner
Verbindung. Diese fordert, um sie einen Allgenblick ernst zu nehmen, nicht
den Fortschritt der Sittlichkeit, sondern nur deu Fortschritt der Erkenntnis.
Ist die Einsicht in das allgemeine Elend erst bei allen Menschen durchgerungen,
dann wird sich der Entschluß zur Selbstvernichtung auch ohne Moralität ein¬
stellen, wie sich ja auch bisher die Selbstmörder nicht gerade durch Moralität
ausgezeichnet haben. Der Entschluß, zu sterben, setzt zwar eine moralische Kraft
voraus, die jedoch keineswegs vollkommne, alles umfassende Sittlichkeit zu sein
braucht. Ja eine allgemeine hvchgesteigerte Sittlichkeit dürfte sogar dem Ent¬
schlüsse der Selbstvernichtung hinderlich sein, da es sich vollkommen gute
Menschen schwer versagen können, ein wenig glücklich zu sein; wie denn auch
der größte der jetzt lebenden pessimistischen Philosophen, der ein außerordentlich
liebenswürdiger und guter Herr ist, selbst schreibt: Wer glückliche Menschen
sehen will, der komme zu uns Pessimisten.
Der Fortschritt der Sittlichkeit kann in doppelter Weise gedacht werden:
als Erhöhung des sittlichen Ideals und als zunehmende Verwirklichung eines
zu allen Zeiten unveränderlichen Ideals dnrch eine immer größere Zahl von
Menschen. Die Darwinianer würden die erste Art des Fortschritts zu lehren
genötigt sein, wenn bei ihnen überhaupt von einem Ideal die Rede sein könnte.
Ihnen und den verwandten Richtungen gegenüber hat Buckle die UnVeränder¬
lichkeit der sittlichen Begriffe behauptet und nur den Fortschritt im andern
Sinne zugegeben, und zwar nicht durch stetige Erhöhung der sittlichen Kraft,
sondern nur durch wachsende Einsicht in die Vernünftigkeit des Sittlichen und
durch Wegräumung materieller Hindernisse. Das orthodoxe Christentum stellt,
auf die Bibel gestützt, den Verlauf der sittlichen Entwicklung etwa folgender¬
maßen dar. Vom Zustande der Gottähnlichkeit sinkt Adam in den Zustand
der Sünde herab. Das Verderben seiner Nachkommenschaft steigt, bis sie durch
die große Flut vertilgt wird. Von dieser aus scheidet sich der Strom der
Menschheit in zwei ungleiche Arme. Der gewaltig große, die Heidenwelt,
versinkt in immer größere Ruchlosigkeit, der winzig kleine, das Judentum,
bewegt sich im allgemeinen in aufsteigender Linie, weniger durch sittliche Er¬
hebung, als durch die dem wachsenden Schuldbewußtsein entsprechend wachsende
Sehnsucht darnach. Durch die Menschwerdung Gottes wird das höchste
sittliche Ideal mit einem Schlage verwirklicht und der Menschheit die Mög¬
lichkeit dargeboten, durch den Glauben, wie die einen, durch Liebe und Gnade,
wie die andern sagen, diesen neuen Menschen anzuziehen. Insofern das eine
immer größere Zahl vou Menschen thut, kann von einem sittlichen Fortschritt
der Menschheit gesprochen werdeu. Aber überwunden wird das Böse hienieden
niemals; ja am Ende der Zeiten wird es sich zu gewaltiger Höhe ausbäumen
und in der Person des Widerchrists, des Menschen der Sünde, dem Gott- und
Menschensohne die Stiru bieten, bis ihn „der Herr Jesus mit dem Hauche
seines Mundes zu nichte macht" und nach Abhaltung des Weltgerichts die
Welt in einem Läuterungsfeuer erneuert. In dieses Drama schaltet der
Protestantismus noch die Episode des Verderbens der Kirche unterm Papsttum
und ihre Erneuerung durch Luther ein.
Fassen wir nun, von der Theorie zur Erfahrung übergehend, einzelne
Seiten des sittlichen Lebens ins Auge, so bemerken wir jenes Auf- und Ab¬
steigen, das dem alles überschauenden Ranke das Geständnis abnötigte, er
vermöge einen Fortschritt der Gesaintsittlichkeit (in der zweiten der oben an¬
gegebenen beiden Bedeutungen) nicht zu erkennen; die Summe des Guten wie
des Bösen scheine sich durch allen Wandel der Zeiten hindurch gleich zu bleiben.
Die Hebungen und Senkungen jeder einzelnen Tugend bieten ein wenn nicht
gerade durchaus erfreuliches, so doch höchst merkwürdiges Schauspiel. Nehmen
wir nur die zwei heraus, die der Beobachtung am leichtesten zugänglich sind.
Bei der Mäßigkeit im Genuß gegorener Getränke spielt zunächst der Wohnsitz
jedes Volkes eine größere Rolle als das Zeitalter, in dein es lebt; in kalten
Gegenden liebt man den Weingeist mehr als in heißen. Doch giebt es Aus¬
nahmen; der Neger brennt vor Begier nach allem, was berauscht, der Icmkee
ist nüchtern und ein Zuckerlecker. Von uns Deutschen lassen sich in diesem
Stück viele Heldenthaten berichten, die zwar, wie es Heldenthaten zukommt,
ihre Säuger gefunden haben, deren Nühmlichkeit aber nicht allgemein zuge¬
standen wird. Das Christentum vermochte so wenig über den altgermanischen
Durst, daß die Pfaffheit als Meisterin der Trinkkunst einen Ruf erwarb, den
sie bis heute nicht ganz los zu werden vermochte, und der dem wackern Grützner
seine schone Villa hat banen helfen. Mehr vermochte die Eitelkeit. Die den
Romanen entlehnte feine Rittersitte verbot den Rausch; wie der Ritter eine Ehre
darein setzte, bei seinen Festen zu „tanzen, lachen unde singen lire Dörperheit,"
ohne bäuerisches Wesen, so mied er auch wüste Gelage, und trank den Wein
mit Wasser gemischt. Zuverlässige Nachrichten lassen erkennen, daß dieses
Beispiel auf das gemeine Volk nicht ohne Einfluß blieb. Mit dem Verfall
des Rittertums nahm die Trunksucht überHand. Im sechzehnten Jahrhundert
trügt der Junker Hans von Schweinichcn in sein Neisetagebuch jeden Morgen
den Rausch vom vorigen Abend ein, und ausländische Diplomaten, die im
siebzehnten Jahrhundert an den kursächsischen Hof gesendet wurden, mußten
sich vorher mit dem Humpen trciiniren, wenn sie nicht jeden Tag unter den
Tisch getrunken werden wollten, ehe sie ihren Auftrag zur Sprache brachten.
So schlimm ist es nun heute glücklicherweise nicht mehr; doch dürfte die Ver¬
minderung der Räusche in den höhern Ständen nicht durchweg der allgemeinen
Mäßigkeit, sondern teilweise einer größern Fassungskraft zu danken sein.
Auch bei den Engländern, Schotten, Skandinaviern und Russen hat die Trunk¬
sucht in den höher» Ständen seit zweihundert Jahren merklich abgenommen,
ist dagegen bei den niedern Klassen gerade im laufenden Jahrhundert gewaltig
gestiegen. Vielleicht auch bei uns, jedenfalls aber nicht in dem Grade wie
dort. In Italien scheint die Sache umgekehrt verlaufen zu sein. Nach den
Novellisten des vierzehnten Jahrhunderts zu schließen, war starkes Zechen da¬
mals nichts ungewöhnliches; wie mäßig die heutigen Italiener sind, ist all¬
gemein bekannt. Verständige Überlegung scheint also doch nicht unbeteiligt zu
sein bei einer Tugend, die wir Nordländer gern zu eigner Beruhigung für eine
unvermeidliche Wirkung des Klimas halten.
Weit »»zweifelhafter und erfreulicher erscheint aus den ersten Blick der
Fortschritt, den das Mitgefühl mit den Leiden andrer gemacht hat. Welch ein
Abstand zwischen dein Kannibalen und dem Tierschutzvereinsmitglied, zwischen
der Behandlung der Kriegsgefangnen bei den alten Assyrern und bei uns,
zwischen Sklavenjagden und internationalem Arbeiterschutz, zwischen Molochs¬
opfern und Kleinkinderbewahranstalten! Bei genaueren Hinsehen aber bemerken
wir, daß die im ersten Gliede angeführten Greuel doch auch heute noch nicht
ausgetilgt sind, daß sie nicht allein bei halbzivilisirten und Naturvölkern, sondern
mit Ausnahme der Menschenfresserei und der grausamen Hinschlachtung von
Kriegsgefangenen auch bei uns noch vorkommen, teils als Folgen der Armut,
teils als Verbrechen, die aus bestialischem Gelüste oder aus Grausamkeit be¬
gangen werden. Auch dürfen wir nicht vergessen, daß schon die alten Athener
einen Mann zum Tode verurteilt haben, der einen Widder lebendig geschunden
hatte. Immerhin ist es nicht unwahrscheinlich, daß bei genauer Abrechnung
das neunzehnte Jahrhundert besser bestehen würde als alle frühern. Unser
deutsches Volk hat für sich allein mit diesem Fortschritt nur ungefähr wieder
die Stufe erreicht, auf der es vor Einführung des Christentums gestanden
hatte. Denn es ist von Natur nicht grausam. In wenn wir heute seine
ursprüngliche Rechtspflege wieder einführen wollten, so würden unsre Kon¬
servativen das als einen abscheulichen Humanitätsschwindel bezeichnen. Aus¬
genommen für wenige Arten von selten vorkommenden Verbrechen, die ehrlos
machten und den Tod uach sich zogen, kannte man weder Leibes- und Lebens-
uoch Freiheitsstrafen; alle Vergehungen einschließlich des Todschlages wurden
mit Wergeld gesühnt. Von weichlicher Empfindsamkeit waren unsre Vorfahren
trotzdem nicht angekränkelt. Sie opferten bei feierlichen Anlässen Sklaven und
Kriegsgefangene — aber ohne sie zu martern —, sie liebten die Jagd und
den Krieg, und daß es bei ihren Trinkgelagen oft wüst genug Hergegaugen
sein muß, sieht man aus den für abgehauene Glieder und ausgestochene Augen
angesetzten Wergeldern. Freilich stammen diese Gesetzbücher aus der Zeit der
Völkerwanderung, die verwitternd gewirkt haben muß. Bekannt sind ja
namentlich die Unthaten im Hause der Merowinger, bei denen aber zu be¬
achten ist, daß die Franken sehr früh durch Vermischung mit den Gallorvnmnen
ihren deutschen Charakter verloren. Im eigentlichen Deutschland haben die
Geschichtschreiber bis ins dreizehnte Jahrhundert so manche That wilder Leiden¬
schaft und hie und da eine Massenniedermetzelung von Feinden zu berichten, aber
Grausamkeiten wie die am byzantinischen Hofe üblichen kamen kaum vor. Die
Wollust der Grausamkeit wurde in den Deutschen erst erweckt durch die Ein¬
führung des römischen Rechts und der kirchlichen Inquisition. Die einfache
Todesstrafe auch für geringe Vergehungen, die qualifizirte Todesstrafe,
namentlich das Lebendigverbrennen, die Tortur gewöhnten das Volk an den
Anblick gemarterter Mitmenschen und zogen ein Geschlecht von Richtern und
Henkern groß, neben dem Nero als Stümper erscheint. Seinen Höhepunkt
erreichte dieser abscheuliche Wahnsinn im siebzehnten Jahrhundert. Um 1700
läßt er nach und schlägt dann plötzlich in Sentimentalität um. Noch lebten
Menschen genug, die thränenlosen Auges und mit rohem Lachen das Spiel
zuckender Glieder im Feuer und auf der Folterbank betrachtet hatten — den
letzten Hexeubrand sah Deutschland im Geburtsjahre Goethes — noch wurde
die qualisizirte Todesstrafe hie und da angewendet, da weinte plötzlich ganz
Deutschland unendliche Thränen über die ungestillte Liebessehnsucht eines
Jünglings. Und heutzutage wird eine Bauersfrau, deren Hühner zu unbe¬
quem eng. im Marktkvrbe sitzen, eine Hausfrau, die ihre Gans an den Beinen
»ach Hause trägt, von der Polizei abgefaßt; nicht zu gedenken der Lehrer, die
auf die Anklagebank müssen, weil ihr Stock eine bläuliche Spur auf dem Rücken
eines ungezogenen Jungen zurückgelassen hat. Im übrigen Europa ist die
Sache ähnlich verlaufen.
Diese Wandlungen des Mitgefühls sind höchst merkwürdig und lehrreich.
Wir sagen absichtlich nicht: diese Entwicklung des Mitgefühls, denn das erste,
was wir hier lernen, ist eben, daß das Mitgefühl sich gar nicht entwickelt hat,
sondern von Anfang an dagewesen ist. Wirkliche Grausamkeit: Fühllosigkeit
beim Anblick der Leiden andrer und Lust daran, die man sich durch Peinigungen
zu verschaffen sucht, trifft man weit öfter bei verhältnismäßig hoch entwickelten
Böllern als bei den Naturvölkern. Die Unterthanen des grausamen Königs
von Dahome gehören zu den zivilisirtesten Negerstämmen. Bei den Natur¬
völkern finden sich neben dem durch Mangel an eßbaren Tieren verursachten
Kannibalismus und gelegentlich an Feinden verübten Grausamkeiten die Affen¬
liebe zu den Kindern und viel Gutmütigkeit gegen Freunde und harmlose
Besucher. Mitgefühl und Wohlwollen sind also angeborne Eigenschaften, die
zwar nicht sofort mit dem Selbstbewußtsein hervortreten — denn auch unsre
Kinder verüben, wenn mau sie nicht abhält, unbewußte Grausamkeiten —, aber
doch, sobald ihnen klar wird, daß die andern bei denselben Anlässen Lust und
Schmerz empfinden wie sie. Was der Fortschritt der Zivilisation leistet, ist
folgendes. Durch Überlegung und Erfahrung wird die Ausübung der Liebe
verständiger; die unklare Empfindung wird zur Idee, zu einem Vorbilde des
Handelns ausgebildet und erhoben; die Bethätigung der Liebe wird in dem
Grade mnnnichfaltiger — freilich auch schwieriger —, als die Beziehungen der
Menschen zu einander sich vervielfältigen und verwickeln. Damit ist zugleich
eine Verfeinerung verbunden. An die Stelle des größten Stückes Fleisch, mit
dem der Naturmensch seinen Gast erfreut, tritt beim zivilisirten die zarte Auf¬
merksamkeit auf alle seine Wünsche und Bedürfnisse, und während der biedere
Wilde sich nur eben in Acht nimmt, bei Scherz und Spiel seinem Freunde
den Schädel nicht einzuschlagen, meiden wir schon im Gespräch alles, was ihn
verletzen könnte. Aber dieser Fortschritt der Verfeinerung darf nicht ins Un¬
endliche gehen, fondern er hat seine vernünftigen Grenzen. Denken wir uns die
Empfindsamkeit zarter Seelen allgemein geworden, denken wir uns ein Volk,
unter dessen Männern keiner wäre, der nicht beim Anblick eines weinenden
Kindes selbst mit zu weinen anfinge und der kein Blntströpflein sehen könnte,
ohne ohnmächtig zu werden, ein Volk, bei dem niemand mehr das Herz hätte,
Fleischer, Chirurg, Zahnarzt und — Unteroffizier zu werden, wäre das ein
Jdealvolk? Nein, es wäre eine lächerliche und verächtliche Gesellschaft von
Schwächlingen. Also das Wohlwollen ist eine angeborne Empfindung, die
sich beim Fortschritt der Zivilisation einerseits oft in ihr Gegenteil verliert,
namentlich unter dem Einflusse des Fanatismus und einer verschrobenen juri¬
stischen Sophistik, anderseits sich klärt, veredelt, verfeinert, auf diesem Wege
aber schließlich in unmännliche Empfindelei und Schwäche ausartet. Der
wirkliche Fortschritt besteht also nur in einer reichern Entfaltung des ursprüng¬
lichen Inhalts und ist nicht so zu verstehen, daß die Menschheit von ursprüng¬
licher Grausamkeit zum Mitgefühl und vou da zu immer feinerer Empfindsam¬
keit aufstiege; vielmehr liegen Ursprung wie Ideal in der Mrtte zwischen diesen
beiden Extremen, und die historische Erscheinung des Mitgefühls schwingt
zwischen ihnen hin und her. Wir dürfen von vornherein vermuten, daß es
sich mit den übrigen sittlichen Empfindungen ähnlich verhalte, und wer sich
die Mühe giebt, nachzuforschen, wird die Vermutung bestätigt finden.
Demnach ist der Fortschritt der Sittlichkeit nicht als Veränderung, sondern
nur als Entfaltung einer ursprünglich gegebenen Empfindung zu denken.
Fragt man dann weiter, ob die Summe der vorhandenen Sittlichkeit wachse,
so ist zu unterscheiden zwischen der Sittlichkeit an sich und ihrem Verhältnis
zur Unsittlichkeit. Die Sittlichkeit an sich wächst, sofern sie einen immer
reichern Inhalt gewinnt, dagegen scheint die Kraft der Selbstüberwindung (der
freiwilligen, nicht polizeilich erzwungenen Selbstüberwindung) und Selbstauf¬
opferung abzunehmen. Die heroischen Tilgenden weichen den bürgerlichen, wie
Hartpole Lecky es ausdrückt. Man muß heute nach Afrika gehen, um den
Heroismus der That zu beweisen; ungesuchte Leiden, deren Ertragung Helden¬
kraft erfordert, legen die heimischen Verhältnisse oft genug auf. Das Massen¬
verhältnis zwischeu Sittlichkeit und Unsittlichkeit zu bestimmen, haben wir kein
Mittel. Die Kriminalstatistik ist keins, wie der große Moralstatistiker Alexander
von Oettingen offen bekennt, und was die Moralstatistik außer ihr an Material
findet, ist äußerst dürftig; eine Statistik der edeln Empfindungen, der Selbst¬
überwindungen, der täglichen Pflichterfüllungen ist nicht möglich. Die Kriminal¬
statistik sagt uns vom vorhandenen Guten gar nichts und vom Bösen sehr
wenig. Es giebt nichtswürdige und ruchlose Menschen, die nicht ein einziges-
mal im Leben mit den Gesetzen in Konflikt geraten, und es giebt rechtschaffene,
edle und hochherzige Menschen, die nach langer, verdienstvoller Lebensarbeit
in einem Augenblick der Übereilung oder der Leidenschaft ein Verbrechen be¬
gehen. Die Führer einer Revolution kommen, je nachdem diese gelingt oder
nicht, in die Verbrecherliste oder in das Pantheon der Nationalhelden. Manches
korrekte Philisterleben ist sittlich wertlos. Zudem häugt es von vielen ver-
schiednen und sehr wechselnden Umständen ob, ob eine böse That zur Kenntnis
des Richters kommt oder nicht: vom Gesetzbuch, von der Handhabung der
Gesetze und davon, ob sie entdeckt wird. Endlich schwinden und kommen ganze
Klassen von Verbrechen mit den sie hervorrufenden Ursachen. Kleine Diebstähle
aus Not werden nur dort begangen, wo Not herrscht; in einem gntgeordneten
Staate ist das Stehlen überhaupt ein so erbärmliches Geschäft, daß es ein
entsetzlich armer oder ein entsetzlich dummer Tropf sein muß, der sich darauf
verlegt, zumal da es ja unzählige höchst anständige und lohnende Arten des
unrechtmäßigen Gelderwerbes giebt. Ein Teil der Spitzbuben gehört allerdings
zu der Klasse jener gewerbsmäßigen Verbrecher, denen das Verbrechen zur
andern Natur geworden ist. Eben diese aber sind ein Erzeugnis der höhern
Zivilisation und ihrer verwickelten Gesellschaftszustände; in einfachen Lebens-
verhältnissen kommeu sie nicht vor. Die Verfeinerung des sittlichen Empfindens
und Wnltens endlich vermag mich nichts beizutragen zu einer günstigen Bilanz,
weil ihr die schon angedeutete Verfeinerung des Verbrechens das Gleichgewicht
hält. Die Reisenden erzählen uns von manchem ehrwürdigen Khan mit weißem
Vart und sanftmütigen Angen, der Allah fürchtet und den Fremdling gastfrei
bewirtet, der aber sein Vermögen als Näuberhanptmmm erworben und manchem
andern Fremdling den Hals abgeschnitten hat. Solche ehrwürdige Hals¬
abschneider zu sehen braucht man nicht bis nach Turkestan zu reisen, wir finden
ihrer in unsrer Mitte; freilich ist bei diesen das Halsnbschneiden nur bildlich
zu verstehen. Sie haben die Moral der Turkmenen, plus schöne Redensarten
von Humanität minus persönliche Tapferkeit.
eit Jahren schon wütet ein Sturm im Dichterwalde deS dentschen
Österreichs, und schon hat er eine stattliche Reihe hvchstrebender
Stämme geknickt. Bald nach Lenen, Halm und Grillparzer
wurden Anastasius Grün und Mvsenthal abgerufen, und wahrend
^wir noch an den frischen Gräbern Meißners und Hamerlings
trauern, schreitet Wien abermals zwei Särgen nach, in denen der Stolz der
österreichischen Bühne ruht: Anzengrnber und Bauernfeld.
Freilich ist unser Schmerz, wenn wir Bauernfelds Hingang betrauern,
so zu sagen mehr ein ästhetischer. Dein Leben und Sterben eines Mannes,
der ohne Weib und Kind, aber von tausend verhätschelnden Freunden und
Freundinnen umgeben, in körperlicher Rüstigkeit und in genußreichen sg.?vir
vivro Jahrzehnte lang Wiens und Österreichs, ja ganz Deutschlands Liebling
war, wohnt nichts Tragisches inne, so viel auch in den Zeitungen von
„tiefen, wühlenden Schmerzen" zu lese,? war. Ihm war es vergönnt, weit
über ein halbes Jahrhundert hindurch die Menschen fröhlich zu macheu, und
zum Entgelt dafür ist ihm auch sein Leben von allen Seiten versüßt worden,
zumal die zweite Hälfte, wo er als anerkannt erster deutscher Lustspieldichter
seinen Ruhm mit jedem Tage wachsei?, niemals sich verringern sah. Lebendiger,
rühriger, weniger empfindlich, freilich auch weniger tief als sein großer Lands¬
mann Grillparzer, zog er sich nie grollend zurück, wenn einmal, was auch
ihm geschah, ein neues Stück geringere Ehren einbrachte, sondern änderte und
feilte nu dem mißlungenen so lauge, bis es wieder auf der Bühne oder
wenigstens im Druck erscheinen konnte. Bald schlug dann wohl ein sicherer
Treffer um so besser durch.
Von seinem Leben ist wenig zu berichten. Im Jahre 1802 zu Wien
geboren, schlug er sich kümmerlich, aber vergnügt durch die Studienjahre und
seine ersten Anstellungen hindurch. Er wurde „Kvnzeptspraktikant," später
Konzipist und Direktor bei verschiedenen Ämtern, und als ihm, dem schon
berühmten Schriftsteller, der Aktenstaub und die Nörgeleien zu viel der frischen
Luft entzogen, da ließ er sich mit bescheidenem Gehalt in den Ruhestand
versetzen, um fortan als gemütlicher Junggeselle bald hier bald dort, doch
niemals weit von Wien, seiner fröhlichen Kunst und seinen Freunden zu leben.
In ihrer Mitte, gepflegt von der zärtlichen Sorgfalt einer seiner zahlreichen
Verehrerinnen, ist er auch am 8. August dieses Jahres an den Folgen einer
Erkältung, eigentlich aber doch nur an seinen achtundachtzig Jahren schmerzlos
verschieden. Die Kaiserstadt hat ihrem Sohne ein glänzendes Begräbnis zu
Teil werden lassen.
Bauernfeld hat Schauspiele, Lustspiele, Novellen, einen Roman und viele
lyrische Gedichte, daneben auch memoirenartige Aufzeichnungen und zahlreiche
in die Tagesfragen eingreifende Aufsätze geschrieben. Gewöhnlich pflegt man
alles, was nicht zu feiner Bühneuthütigkeit gehört, in vornehmer Weise mit
der Bemerkung abzuthun, daß es neben seinen Lustspielen keine Bedeutung
habe. Auch mir fällt es nicht ein, für seine Novellen, sür seinen Roman
„Die Freigelassenen, eine Bildungsgeschichte aus Österreich" eine Trutzlanze
zu brechen, obwohl sich besonders dem letztern glückliche Charakteristik und
eine sichere, unbefangene Erfassung der Zeitverhältnisse nachrühmen lassen;
aber es verrät nur gedankenlose Bequemlichkeit, wenn der Lyriker Bauernfeld
in den Litteraturgeschichten so wenig Beachtung findet. Das sangbare Lied ist
ihm freilich versagt geblieben, Gedankenfülle, Schwermut, soutimvotK u. tgi.
hatte er sich vielleicht nur angekünstelt, dafür aber sprudeln die Kobolde des
Spottes, die feinen und die groben Sticheleien um so natürlicher und ergötzlicher
hervor. Und es gab viel zu bespötteln in dem Österreich vor Achtuudvierzig
und noch etwas darüber hinaus, aber der Spott mußte geistreich versteckt sein,
sollten ihm nicht die Spürhunde der Zensur den Garaus machen. Über sie
und die andern Träger des „Systems" hat Banernfeld unbarmherzig seine
Pfeile allsgeschüttet, nud heilte noch, wo wir jenen Zeiten wie einem bösen
Traum entrückt sind, haben sie ihre heitere Kraft nicht eingebüßt, so die
Schlußstrophe eines Gedichtes an Castelli, der von den Verfolgungen des
allmächtigen Sedluitzky arg zu leiden hatte:
Du hieltest dir auch zwei Hunde —
Die Rache nenne ich süß
Wovon der eine „Seti,"
Der andre „Nihki" hleß-
So wettert er gegen das Konkordat, gegen Papst und Unfehlbarkeit, gegen
Metternich, gegen die Wiener Schlaffheit und verschont mit seinem Zorn auch
die höchsten Stellen nicht, denen er gelegentlich auch in der Sammlung „Alt-
und Neuwien" in der Prosa näher rückt. Offenbar ist Heine dabei sein Bor¬
bild gewesen, in ähnlich leicht geschürzten, volksliedartige» Rhythmen sind die
meisten seiner Spottlieder und Epigramme geschrieben, so sehr er auch an
andern Orten über das junge Deutschland gespottet hat. Nicht selten, z. B.
in den aristvphanisch-gvethisch angehauchten Stücken „Die Reichsversammlung
der Tiere," „Der politische Wanderer," hat er in Witz und Ton Heine voll¬
ständig erreicht, wird aber dennoch wahrscheinlich nie so liebevoll gewürdigt
werde»; das macht, er stand im Bannkreise des Stephansturmes. In allgemein
deutschen Fragen aber hat er manch kräftiges Wörtlein angesprochen, und aus
seiner unerschütterten Liebe zum deutschen Volke sind ganze Schauspiele hervor-
gegangen.
Wiener frondiren und spötteln gar gern — so ruht mir ein Stück auch,
Und ein erkleckliches zwar, Wienerinn! selbst in der Brust.
So hat er selbst von sich gesagt. Als Wiener und als Frondeur haben
wir Bauernfeld anch in seinen Lustspielen zu betrachten. Wem, der nord¬
deutsche einen guten Teil seiner Verstaudeskrnfte an der beißenden Betrachtung
fremder Schwächen lind Gebreche» zu scharfe,, pflegt, so ist der Österreicher
von jeher, mit leider nnr mit allzu viel Grund, el» Selbstqnüler gewesen.
"Näsonniren" oder „raunzen" nennt man diese im übrigen ungefährliche Eigen¬
schaft, hinter der im Grunde die wärmste Liebe zu dem gescholtenen Vater-
lande glüht. Bauernfeld ist so el» ewiger Plänkler, der Adel und Bürger¬
stand, Liberale n»d Reaktionäre, Philister und Phantasten zornig und gutmütig
spottend verfolgt. Aber es sind nur die Spezialitäten, die in Österreich ge¬
deihen, in der eigentümlichen Ausbildung, wie sie die Doimuluft erzeugt. „Man
hat mir — sagt Vauerufeld — häufig den Vorwurf gemacht, daß meine Lust-
spiele die Wiener Lvlalfarbe mehr oder weniger zur Schau trügen — ich leugne
das nicht! Diese meine Art und Weise hat aber ihre Entschuldigung, vielmehr
ihre Berechtigung. Die Lustspieldichter aller Zeiten, von Aristophanes, Terenz
und Plautus bis auf den französischen Mvliure, den Dänen Holberg und den
kleindeutschen Kotzebue, haben dasselbe gethan: sie haben ihre nächste Umge¬
bung und darin ihre Zeit abgeschildert. Ich bin und bleibe Wiener mit Hallt
uiid Haar und kaun und will in meinen Lustspielen schlechterdings nichts
bringen, als die Auschauungen eines Deutschösterreichers, der unsre Zustande,
wie sie ihm erscheinen, in Ernst und Scherz, »imo ir-i et Ltuclio, wahrheits¬
getreu darzustellen sich zur Aufgabe gemacht hat. Daß ich dabei das deutsche
Gesamtvaterland, das gemeinsame Bildungselement immer und ewig im Auge
behalte, versteht sich von selbst. Ich empfinde mich nnn einmal weit mehr als
Landsmann Lessings oder Goethes, als irgend eines „Jnnos" oder „Wenzel"
oder sonst eines Menschen auf ,,inski," „ick'i" und ,,vies," mit denen mich ein
politisches Schicksal zusammengeschweißt hat, und die im Grunde so wenig mit
nur zu schaffen haben wollen, als ich mit ihnen."
Darf es bei einem. Manne, der solche Gesinnungen hegte, verwundern,
daß ganz Deutschland seine Werke mit Freuden empfing und aufführte? Ge¬
wisse Dinge waren ja hüben und drüben immer gleich, sie zeigten nur Grad¬
unterschiede: Polizeiherrschaft, Bevormundung, Abtötung des deutschen Ge¬
dankens, litterarische Diktatur und Freibeuterei, Blasirtheit, Weltschmerz , und
wie die schönen Dinge alle heißen.
Aber versuchen wir es, dem. Geheimnis der Erfolge Bauernfelds und
damit seiner innern Bedeutung noch etwas näher zu treten. Lebendig heitere
Gesinnung, gesunde Beobachtung und einen reich strömenden Quell bunter,
lustiger Einfülle — dies alles gezügelt durch einen vornehmen litterarischen
Ton — wird mau dem Dichter schon nach flüchtiger Bekanntschaft zuerkennen
müssen. Sie sind das Rüstzeug, mit dem er von einem gütigen Geschick an
seine Lebensaufgabe gestellt wurde. Aber auch er fiel nicht als Meister vom
Himmel. Er setzte nicht an, ohne zuvor bei diesem und jenem seiner Kunst-
genossen prüfend und lernend angefragt zu huben. Er besaß die Gabe aller
wahrhaften Dichter, in die verschiedenstell Schulen zu gehen und doch immer
sei» eignes Wesen zu behalten. So ist er bei Shakespeare, von dein er mehrere
Stücke selbst übersetzt hat, bei Kotzebue, dessen Kunstfertigkeit er gern uner¬
kannte, bei den Romantikern und dem jungen Deutschland, bei den alten und
neuen Franzosen zu Gaste gewesen und hat sich mit hellen Augen angesehen,
was und wie sie arbeiten. Wenn er aber dann in der eignen Werkstatt saß,
wurde doch wieder nur ein rechtes Kind der eignen Muse daraus.
So leicht nun aber eines Bauernfelds Phantasie befruchtet wurde, selbst
schaffend ist sie eigentlich nie aufgetreten. Fast sämtliche Gewebe der Hand¬
lung, mindestens die Anregungen und oft auch einzelne Stücke der Ausführung
sind von ihm aus Quellen geschöpft worden, die er bald bei Shakespeare oder Hol¬
berg, bald in Tiecks oder Bülows Novellensammlungen fand. Wir brauchen
uns bei ihm mit der Quellenforschung nicht den Kopf zu zerbrechen, denn mit
liebenswürdiger Offenheit hat er in der zwölfbündigen Ausgabe seiner ge¬
sammelten Schriften stets die ersten Ursprünge verraten und sich auch ge¬
legentlich wie ein Kind gefreut, wenn er der weisen Kritik ein noch unent-
decktes Geheimnis verraten konnte. Übrigens schaltete er souverän mit dem
Stoffe, nicht bloß die Fabel änderte sich in Umfang, Zweck und Wesen, sondern
auch alle Charaktere und die durch sie bedingten Motivirungen gehören ihn:
an; ein vielleicht auf der Weltwanderung zersogeuer und wie schwebende Sommer-
fäden zerbleichter Stoff haftet wieder an fester Scholle und nimmt wieder Farbe
und Erdgeruch an, den Geruch des heimischen Wiener Bodens.
Aber vielleicht ist Bauernfeld bei alledem nicht besser als der Praß der
heutigen Schwank- und Lnstspielmacher, denen ja Witz und gute Einfälle keines¬
wegs abzusprechen sind? Wer als Leser so denken kann, weil in der That
auch seine Lustspiele fast immer dieselben Familien- und Gevatterkreise bringen,
der hat wohl noch nie von der Bühne herab den Zauber empfunden, den
Bauernfeld durch zwei gewaltige Vorzüge, durch Charakterzeichnung und Dialog,
auf die Zuhörer ausübt. Es ist wahr, mit wenigen Ausnahmen spielen seine
Stücke in einer Gesellschaft von zehn bis zwölf Leuten, von denen die einen
jung und zum Heiraten bestimmt sind, die andern als Förderer oder Hemmer
dieses löblichen Zweckes dienen. Da giebt es keine Wunderschränke, keine
Gießkannen, keine Stolperszenen noch die sonstigen Talismane der beliebten
Schwankdichtung von heute. Aber wie viel reicher ist dafür das innere Leben,
in dem sich die Wechselwirkung der fein abgetöntem Charaktere offenbart!
In jedem Stücke z. B. ist ein Papa oder Vormund. Er ist fast immer
bürgerlich, Beamter oder Geschäftsmann, Rentenverzehrer, wohlhabend, äußer¬
lich gleich. Das kann man zugeben. Aber wie anders ist Müller im „Liebes¬
protokoll," wie anders Espe im „Letzten Abenteuer," der humoristische
Kommerzienrat in den „Bekenntnissen," Lampe, Lämmchen, Blase u. s. w.!
Wie viele köstliche Schätzungen giebt er nicht jenem Charakter, der mit
besondrer Vorliebe in den Stücken der spätern Jahre auftritt, weil er
Vauerufelds eignes Abbild hätte sein können, dem des angesäuerten, aber
geistreichen, trotz aller Blasirtheit für warmes Gefühl noch zugänglichen Jung¬
gesellen auf Freiersfnßen! Und diese Leutchen sprechen in klarer, natürlicher,
mit ihren: Charakter wunderbar übereinstimmender, durch feines Scherzspiel
gewürzter Sprache, der es doch auch niemals, wenn es notthut, an ernstem und
überzeugenden Schwunge gebricht. Man sehe dagegen die Schablone, nach
der die Moser, Rosen, Schönthan n. s. w. ihre Väter, Liebhaber, Bedienten
nusschneiden, und man höre das tolle Haschen nach alberner Purzelkomik,
dessen sich Herren und Damen da um die Wette befleißigen! Daß der Vorwurf
einer dürftigen Handlung, einer allzu spitzfindigen Charakteristik dennoch bei
einigen schwächern Werken Bauernfelds zutrifft, wollen wir nicht verhehlen.
Er ist so reich, daß er drei Viertel seines Besitztums ruhig deu zausenden
Kritikern überlassen darf.
In einem so langen Leben, wie er es gelebt hat, läßt sich viel zusammen¬
schreiben, und Vauerufeld hat das beinahe siebzig Jahre hindurch gethan. Die
Zahl seiner Stücke wird auf ein volles Hundert geschätzt, wovon im Jahre
1828 allein neun gearbeitet sind! Die glänzendste Bühne Deutschlands, das
Hofburgtheater in Wien, hat 49 seiner Stücke gebracht, und manches darunter,
so die „Bekenntnisse" und „Bürgerlich und Romantisch," steht seit 56 Jahren
mit gleicher Zugkraft auf dem Repertoire fast aller deutschen Bühnen der
Welt. Das meiste ist freilich jetzt verschollen und weder ans der Bühne noch
ans einem Buche zu studiren, da Bauernfeld in rühmlicher Selbstkritik nur
ungefähr dreißig Stücke in seine „Gesammelten Schriften" aufgenommen hat.
Er fing früh an und hörte eigentlich nie auf. Als er 18 Jahre alt war,
wurde bereits sein „Magnetiseur," ein Lustspiel in Kotzebues Manier, in der
Zeitschrift „Cicade" abgedruckt, drei Jahre später war das an Tieck erinnernde
Lustspiel ,,Die Geschwister von Nürnberg" fertig, aber noch fünf Jahre ver¬
gingen, ehe er mit dem ,,Brautwerber," einem Lustspiel in Alexandrinern,
auf die Bretter des Burgtheaters gelangte. Der Erfolg war weniger als
mittelmäßig, und etwas mißmutig vergrub sich der Dichter in andre Arbeit.
Endlich im Jahre 1831 schlug „Leichtsinn aus Liebe" und bald darauf auch
das „Liebesprotokoll" vollständig durch.
Wir deuteten schon an, daß Banernfeld von einer alleinseligmachenden
Doktrin weit entfernt gewesen sei. Die Romantik, begünstigt durch seine
vertraute Freundschaft mit Moritz Schwind und Franz Schubert, beherrschte
seine früheste Zeit; damit steht seine Vorliebe für Bilder aus der deutschen
Vergangenheit im Zusammenhang. Die „Geschwister von Nürnberg" sind eine
ganz artige Umarbeitung des Grundgedankens der beiden „Edelleute von
Verona." Es fehlt ihnen nicht an theatralischer Wirkung, um so geringer ist
aber hier wie in andern romantischen Stücken die psychologische Vertiefung.
Auch die Behandlung des fünffüßigen Jambus ist bei Vauerufeld, einem ge-
bornen Epigrammatiker, vou dem bald selig, bald stürmisch wogenden Flusse
Schillers weit entfernt und erinnert viel mehr an das uach zwei Zeilen stets
zusammenklappende antithetische Wesen des Alexandriners. Auch der „Musikus
vou Augsburg" (1835), obwohl er viele heitere und anziehende Züge enthält,
leidet an ähnlichen Mängeln. Noch ein drittesmal versuchte sich der Dichter
in der Romantik: er brachte auf das Josefstädter Theater sein dramatisches
Märchen „Fortnnat," zugleich mit der gesamten phantastischen Zuthat von
Zaubersäckel und Wünschhütlein, wie es bei Tieck beliebt war. Aber auch
dieses Stück fand keinen Anklang.
Um so größern Erfolg errangen sich einige Stücke, in denen das Ro¬
mantische nur wie ein angenehmer Duft über der geschichtlichen Fabel ruht.
„Ein deutscher Krieger" behandelt in anheimelnder Weise den Gegensatz zwischen
glatter, praktischer Diplomatie und deutscher, schlichter Soldatentreue und wurde
daher in jener Zeit des wieder erwachenden deutschen Bewußtseins mit Jubel
aufgenommen. ,.Franz von Sickingen" erschien 1850, verschwand aber bald
wieder. Banernfeld gesteht selbst, daß es nur „einer der vielen Versuche sei,
den undramatischen Helden dramatisch zu gestalten," ein Versuch, der ebenso
wenig gelungen ist wie andre. Der erste Aufzug setzt zwar zu einer Hand¬
lung an, aber sie wird im ganzen zweiten und dritten Akte verzettelt und in
lose Genrebilder aufgelöst. straffer und folgerichtiger ist die Handlung in
dem nie aufgeführten Drama, richtiger Trauerspiele „Die Prinzessin von Ahlden,"
das unabhängig von Schiller das bekannte Verhältnis des Grafen Königsmark
zu der unglücklichen Knrprinzessin Sophie von Hannover behandelt. Die
Charakterzeichnung läßt aber auch hier zu wünschen übrig. So bleibt denn
von derartigen Werken vielleicht nur dem romantischen Lustspiele aus der Zeit
Maximilians, „Landfriede," eine längere Zukunft gesichert. In poetischer Ver¬
klärung tritt uns da die Liebe des jungen Kaisersvhnes zu der schönen
Augsburger Patriziertochter Katharina entgegen; durch ihre Entführung wird
das Stück bis hart an die Grenze des Tragischen geführt, aber eine echt
nnttelalterliche Satzung befreit alle ans der Not. Einige behaglich und
humorvoll ausgeführte Gestalten greifen mit wohlthuender Heiterkeit in den
Ernst der Handlung ein.
Zwei ernst gehaltene Stücke spielen auf französischem Boden und sind auch
aus dem Studium der Franzosen hervorgegangen. Der „Selbstquäler" sollte
ein Charaktergemülde in der Art Moliöres sein, ist in Versen geschrieben und
ahmt das Formelle des großen Vorbildes gut und glücklich nach. Es ließe
sich in Bezug auf die Handlung anch Shakespeares „Widerspenstige" zum
Vergleich heranziehen. Aber die Charakterüußerungen des Selbstquälers sind doch
gar zu unwahrscheinlich und meist ebenso unbegreiflich wie die Gegcuspielcrin
Annette — eine Griseldis am Hofe Ludwigs XIV.! Einer modernen Richtung
und zwar der Schule Scribes gehört an „Aus Versailles," das den Tod
Ludwigs XV. und kleinliche Hvfintrigncn behandelt. Wegen der Gestalt der
Dauphine Marie Antoinette ist es nie ausgeführt worden.
Die eigentliche Kraft des Dichters bewährte sich in der folgenden großen
Lustspielreihe, die wir „Familien- und Konversntionslustspiele" überschreiben
könnten. Dichter wie Kotzebue, Jünger, Steigentesch, Jffland u. a. hatten sich
auf diesem Gebiete mit Glück hervorgethan, Sende und seine unerhörten Erfolge
konnten als lockendes Vorbild dienen, die österreichischen Verhältnisse von Acht¬
undvierzig ließen nichts andres zu: so waren die Vorbedingungen für Bauern¬
feld gegeben, der in der verschiednen Behandlung und satirischen Durchwürzung
dieser Gattung seines gleichen sucht. Zwar „Leichtsinn aus Liebe" (1831) und
das „Liebesprotokoll" (1831) ließen die spätere Vollendung nur ahnen, aber
schon das „Letzte Abenteuer" (1832) weiß die Handlung in kunstvoller Weise
zu verschlingen und bahnt dem Psychologen und Plauderkünstler Bnuernfeld
den Weg zu sichern Triumphen. An Erfolg wurden alle seine Stücke über¬
troffen von dem dreiaktigen „Die Bekenntnisse" (1834) und von dem Haupt¬
treffer des nächsten Jahres „Bürgerlich und Romantisch." Ist für das erstere
vielleicht nur die lustige Verkleidung Juliens der Grund seiner außerordent¬
lichen Beliebtheit, so beruht der Wert des letztern nur auf der wunderbar
scharfen Detailzeichnuug aller Charaktere und auf der ungezwungenen, von
überaus liebenswürdigem Humor belebten Führung von Handlung und Dialog.
Wer kennt uicht einen Sittig, einen Ningelstern? Wen hat nicht schon der
gelehrte Lohndiener Unruh ergötzt? Schon scheint uns ein Zöpfchen an dem
ehrwürdigen Lustspiele zu hängen, und doch erfreut es noch alljährlich und
überall das deutsche Publikum, und die berühmtesten Künstler haben sich aus
ihm ihre Glanzrollen geschaffen.
Der „Litterarische Salon" (1836), ein Tendenzstück, gegen Saphir und
Bäuerle gerichtet, erinnert lebhaft an Molivres „Gelehrte Frauen" und rief
gleich diesen eine Flut von bissigen Entgegnungen hervor. Obwohl die Satire
drastisch und erheiternd genug ist, läßt sich doch der dritte Akt vor der Kritik
nicht retten. Feiner ist das zweiaktige „Tagebuch" (1836), das ein Zerwürfnis
und die darauf folgende Versöhnung mit deu denkbar schlichtesten Mitteln
glaublich zustande bringt. Der „Vater," Lustspiel in drei Alten vom Jahre
1837, hat zwar ein wirksames Persönchen in der gewandten Putzmacherin
Agathe, gehört aber zu den schwächeren und für feinfühlige Gemüter auch zu
den sittlich bedenklichen Stücken.
Die nun folgenden Stücke lassen wir wohl am besten den Dichter selbst
erklären: „Das kleine Schallspiel »Das Versprechen«, ferner das Nachspiel
»Ein neuer Mensch« ist hier weggelassen. Auch andre meiner Stücke, mit
mehr oder minder Erfolg auf die Bretter gebracht, wie »Franz Walter« (1834),
»Zwei Familien« (1838), »Ernst und Humor« (1840), »Industrie und Herz«
(1842), sind hier uicht aufgenommen worden. Diese und andre halb gelungene
Sachen, nichts andres als schwächere Reproduktionen in der bereits bekannten
Manier des Autors, hätten die Auflage nur unnötigerweise vergrößert und
verteuert."
Ein besondres Interesse erweckt das zweiaktige Stück „Großjährig" (1846),
nicht wegen seiner litterarischen Bedeutung, sondern weil es zum erstenmale die
Politik in Bciuerufclds Lustspielprvduktion einschmuggelt. Unter dem jungen
Baron Hermann, der sich aus der unwürdigen Bevormundung gewissenloser
Dummköpfe freimacht, war der Kronprinz selbst zu verstehen, Spitz und Blase
waren die grausam verhöhnten Masken für die Machthaber jener Zeit.
Trotzdem ließ sich die hochweise Zensurstelle täuschen, das Stück erlebte eine
Aufführung, bei der aber der letzte Galleriebesucher nicht minder als die In¬
sassen der Hofloge die richtige Meinung herausfanden. Natürlich wurde es
nun verboten; aber im Jahre 1848 wurde es wieder das Lieblingsstück des
mich Freiheit ringenden Volkes. Derselben Spottlust fröhnten zwei aristo¬
phanische Komödien: „Die Republik der Tiere" (1848) und „Die Vögel" oder
„Freiheit in der Luft" (1870), in denen die verschiednen Zeitstrvmnngeu
mit ergötzlicher Komik durch Tiere vertreten erscheinen. Der „Kategorische
Imperativ" (1851) erhielt unter Laube den Preis, und es verdient diese
Auszeichnung wegen der Kunst, mit der an die geschichtlichen Ereignisse des
Wiener Kongresses zwei Liebesgeschichten und viele kernige Satiren geknüpft
sind. Der letzte Akt fällt gegenüber dem vollen Leben der übrigen ab. Leichte
Ware sind die nun sich häufenden einaktigen Stücke: „Zu Hause" (1852),
„Die Zugvögel" (1855), „Die Virtuosen" (1855), „Das Beispiel" (1859).
Sie alle sind mit Beifall aufgeführt worden, aber bald darauf in Vergessenheit
geraten.
„Krisen," ein einaktiges Charaktergemälde, gewinnt dem beliebten Thema
„Hagestolz in den Flitterwochen" neue Seiten ab und enthält manches gute
getroffene Porträt nach dem Leben. „Fata Morgana" (1855) könnte in seiner
Flüchtigkeit als ein Beweis für die abnehmende Kraft des Dichters gelten,
wenn nicht noch vierzehn Jahre später ein so ausgezeichnetes Schauspiel wie
das vornehme „Aus der Gesellschaft" gefolgt wäre. Ein fürstlicher Staats¬
mann und eine arme, aber hochgebildete Gouvernante sollen zu einen: be¬
glückenden Bunde vereinigt werden, ohne Gewalt, ohne Thrannenwüterei, nur
durch das ruhige Zusammenstreben zweier herrlichen Charaktere. Fürwahr, eine
schwere Aufgabe, hinter der der böse Geist der Langenweile überall lauert!
Aber sie gelingt. Der Dichter stellt sich über kleinliche Pnrteiansicht, er läßt
von beiden großen Gegensätzen keinen über den andern siegen, nur die Ver¬
schrobenheit wird unbarmherzig zerzaust. Zwei Jahre später (1872) errang
sich noch „Moderne Jugend" einen Erfolg, offenbar weil es das „wienerischste"
aller Stücke Bauernfelds ist. Die alte Kongreßgrüsin ist jedenfalls ein Kabinets-
stück feiner Pvrträtirungskunst.
Seitdem trat er, den Jcchreu uach ein Siebziger geworden, im Herzen
aber ein Jüngling geblieben, noch einigemale hervor, aber die großen Erfolge
der frühern Jahre blieben aus. Nachdem sein „Aleibiades" durchgefallen
war, hat er nur noch mit „ästhetischen Streifzügen," mit Erinnerungen „Aus
der Mappe eines alten Fabnlisten" u. dergl. zur Öffentlichkeit gesprochen.
Dramatisches arbeitete er fortan nur still für sich; noch in den allerletzten
Tagen und Nächten seines Daseins rastete der alte Kopf nicht. Manche Über¬
raschung birgt vielleicht noch sein Nachlaß, dessen Sichtung der Wiener Dichter
F. von Saar übernommen hat. Doch wer so lange gelebt hat, ist dahin.
Frisch und froh, rüstig und rastlos, schauend und schaffend ist er nchtundachtzig
Jahre durchs Leben gewandelt, durch ein Leben von seltener Harmonie und
Vollendung, Er wird in der weiten Ehrenhalle der deutschen Dichter gewiß
nicht im letzten Winkel verschwinden, denn er war Meister in einer Kunst, in
der nur wenigen Hervorragendes zu leisten vergönnt ist, er war ein Fürst im
Reiche des Lustspiels.
egenübcr den Angriffen, die Major von Wißmann in der „All¬
gemeinen Zeitung" und in der „Post" gegen die evangelischen
Missionen gerichtet und durch die er fast in allen protestantischen
Kreisen eine tiefe Verstimmung hervorgerufen hat, ist von dem
als ersten Missivuskenner hochgeschätzten Dr. Wnrueck in Form
eines offenen Briefes eine Broschüre zur Abwehr und Verständigung ver¬
öffentlicht worden. Sie liegt bereits in zweiter Auflage vor, ein Beweis, daß
sie von der evangelischen Bevölkerung mit Interesse aufgenommen worden ist.
In der Form ist sie ebenso würdevoll wie wohlwollend, sodaß selbst der ultra-
montane Freiherr von Gravenreuth schwerlich in der Lage sein wird, ans dem
Lesen dieser Broschüre eine Verschlimmerung des Gesundheitszustandes seines
Freundes zu befürchten und der Welt die Verteidiger der evangelischen Misston
als gefühllose Menschen hinzustellen. In der Sache konnte die Widerlegung
des Herrn von Wißmann nicht schwer sein. Er hat sich bei seiner Unter¬
redung mit dein Korrespondenten der „Allgemeinen Zeitung" lediglich in all¬
gemeinen Vorwürfen bewegt und ist auch in seinem Brief an die „Post" nicht
über verallgemeinernde Sätze und Redensarten hinausgekommen. Der vou
ihm lapidarisch aufgestellte Grundsatz, es müsse nicht Ora et laborg., sondern
IiÄvoi'g, öl ora heißen, ist weder neu noch vom Standpunkte jeder Mission,
sie mag evangelisch oder katholisch sein, richtig. Man kann nicht von der
Missionsthütigkeit verlangen, daß sie ihr Wesen aufgebe. Es kaun ja dahin¬
gestellt bleiben, ob vielleicht ein Humanitütsverein, eine Gesellschaft zur Aus¬
breitung von Gesittung und Bildung unter den Heiden, ein Verein für afri¬
kanische Volksbildung, ein deutsch-nsmnbarischer Schnlverein besser am Platze
wäre und mehr Erfolge auszuweisen Hütte, als die Missionen zur Verbreitung
des Christentums. Merkwürdigerweise reicht aber diese Art von Humanität
nicht bis »ach Afrika, und so lange dies nicht der Fall ist, werden alle Freunde
der Kultur sich damit begnüge» müssen, daß ihnen die christlichen Missionare
die Arbeit als Pioniere der Wildnis abnehmen und den spätern Geschlechtern
die Aufgabe überlasse», die zu Christen gewordenen Afrikaner in moderne
Kulturmenschen umzuwandeln. Der Tadel, den Herr von Wißmann gegen
die evangelischen Missionen ausgesprochen hat, betrifft nichts andres als die
Missivnsmethvde. Diese wird aber von Dr. Warneck in glänzender Weise ge¬
rechtfertigt, und es kann dabei nicht fehlen, daß er gegen die katholische
MissionSart z» Felde ziehe» muß. Eins wird Herr von Wißmann jedenfalls
daraus lernen, daß es mißlich ist, ein großes Werk mit ein paar Federstrichen
herabzusetzen und daß die evangelische Mission in Ostafrika doch nur ein so
geringfügiger Teil des Ganzen ist, daß die Beurteilung von dem Werte des
Ganzen ans der Natur des Teiles in hohem Grade ungerechtfertigt erscheint.
Der Herr Reichskommissar darf sich nicht wundern, wenn es eine große Anzahl
von Protestanten giebt, die nicht an die Borschnelligkeit, sondern an die Absichtlich¬
keit seines absprechender Urteils glauben. Das konnte ihm nicht verborge»
bleiben, daß sein Urteil von ultramontan-römischer Seite so ausgebeutet werden
würde, wie es thatsächlich ausgebeutet worden ist. ?ost lloo, srgo proptor too.
Ob ein katholischer Christ öffentlich so über einen der wichtigsten Zweige seines
Vekemitnisses gesprochen haben würde, wir müssen es verneinen, denn ein ähn¬
liches Beispiel ist uns unbekannt. Auch noch nach einem andern Gesichtspunkte
war das Verfahren des Herrn Neichskvmmissars beklagenswert. Im Vergleich
zur katholischen Mission ist die evangelische der bei weitem schwächere Teil. Die
katholische Mission ist seit Jahrhunderten in Thätigkeit, sie ist ausgerüstet mit
allen Machtmitteln, wie sie der katholischen Kirche nach ihrer ganzen Organi¬
sation in reichem Maße zufließen, sie ist geleitet von einer einheitlichen Stelle,
die alles sehr sorgfältig prüft und planvoll vorgeht. Die evangelische Heiden¬
mission aber ist nichts andres, als ein Spiegelbild der gesamten evangelische»
Kirche; sie ist lediglich ans die freie Liebesthätigkeit angewiesen, die sich in
einzelne Strahlen zersplittert. Bisher in der Heimat vielfach verspottet, an¬
gefeindet und niemals von maßgebender Seite unterstützt, mußte sie in schweren
Kämpfen um ihre Existenz ringen. Auf sie einen Stein zu werfe», steht dem
Sohn ihrer Kirche nicht an. Wer wollte es leugnen, daß Mängel Vorhäute»
sind und daß vielleicht in Einzelheiten die Thätigkeit der ältern, mächtigern
und reichern Schwester größere Vorzüge besitzt! Wenn hier Herr von Wi߬
mann eine heilsame Kritik üben wollte, so konnte er sich ein Verdienst er¬
werben, aber der Weg, den er dazu wählte, war jedenfalls nicht der ge¬
eignete, und er wird vieles thun müssen, um das Verfehlte wieder gut zu
machen und die auch nach seinem Vorgehen zu Gunsten der Benediktiner in
Dar-es-Salaam begründete Befürchtung zu zerstreuen, daß unter seiner Ver¬
waltung die evangelische Mission als Stiefkind behandelt werden könnte. Schon
durch dieses Vorgehen waren die evangelischen Missionskrcise in schwere Be¬
sorgnis versetzt, sie wird aber dadurch vergrößert, daß nach den veröffentlichten
Äußerungen des Herr» Reichskommissars seine Handlungsweise auf System zu
beruhen scheint.
Von der Warneckschen Schrift hoffen wir einen doppelten Nutzen. Der
evangelischen Bevölkerung in Deutschland ist die verdiente Genugthuung gegeben,
indem die evangelische Missionsmethode ins rechte Licht gesetzt worden ist.
Herr von Wißmann aber wird gewiß nicht anstehen, offen zu erklären, daß
seine Voraussetzungen irrtümlich gewesen sind. Die Schrift des Dr. Warneck
wird auch ihn überzeugen. Sind in Einzelnheiten Fehler und Mängel vor¬
handen, so werden sie beseitigt werden müssen.
Es mag endlich noch ein Gedanke angeregt werden, zu dein die vorliegende
Broschüre Anlaß giebt. Wie früher in einem größer» Artikel, so wendet sich
Dr. Warneck auch diesmal in einer scharfen Bemerkung gegen diejenigen An¬
hänger der Kolonialpolitik, die den Grundsatz aussprechen, daß die Mission
nationalen Interessen dienen müsse. Sollte mit diesem Grundsatz der Sinn ver¬
bunden sein, daß. die Mission nicht sowohl die Ausbreitung des Christentums als
vielmehr in erster Linie die Verbreitung deutscher Bildung zum Hauptpfeiler ihrer
Thätigkeit erhebe» müßte, so wäre der Vorwurf berechtigt, denn dadurch wäre
das Wesen christlicher Missionsthätigkeit beseitigt. So weit ist dein Dr. Warneck
zuzustimmen. Allein der Satz hat eine ganz andre Bedeutung. Er will sagen,
daß es die Pflicht der evangelischen Mission Deutschlands sei, in erster Linie
für die Verbreitung des Christentums in den deutschen Schutzgebieten zu sorgen.
Die römisch-katholische Kirche ist international, die evangelische Kirche Deutsch¬
lands läßt sich seit Luthers Zeit von dein Deutschtum nicht trennen. Die
Heiden in den deutschen Kolonien sind jedenfalls unsre Brüder, die uns näher
stehe», als die Heiden der übrigen Welt, und es entspricht gewiß nicht den
Vorschriften des Evangeliums, wenn man für den Fremdling vor den Thoren
sorgt lind dem Bruder im Hause das Brot versagt. Es ist dies aber ein
Vorwurf, der lediglich in der geschichtlichen Entwicklung seinen Ursprung hat,
denn vor der Einheit des Reiches und vor seinem Kolonialerwerb lag der
deutschevangelischen Missionsthätigkeit jeder Heide gleich am Herzen, und sie
mußte sich an die englischen Schwestergesellschaften anschließen, weil sie durch
sie Unterstützung und Schutz erhielt, den sie brauchte, und den sie von der
Heimat nicht erhalten konnte. Jetzt ist es anders geworden, aber es bedarf
jedenfalls einer gewissen Organisation, um das evangelische Missiouswerk in
den Schutzgebieten so zu gestalten, daß die evangelische Kirche nicht hinter der
katholischen zurücksteht. Denn Deutschland ist ein paritätischer Staat, und die
kaiserliche Regierung kann in Bezug auf die Missionsthätigkeit in den Schutz-
gebieteu nur den Grundsatz befolgen: „National, nicht konfessionell"; ihr muß
jede Mission, sie mag katholisch oder evangelisch sein, willkommen sein, voraus-
gesetzt, daß sie deutsch ist. Die katholische Kirche versäumt nichts; sie sendet
deutsche Missionare in die Schutzgebiete und macht jetzt auf der Futter
Bischofskonferenz wieder alle Anstalten, um, ihrem System getreu, die Bewohner
der deutschen Kolonien dein Katholizismus zu sichern. Die evangelische Mission
Deutschlands darf diesen Anstrengungen gegenüber nicht ins Hintertreffen ge¬
raten, und das wird und muß geschehen, wenn es beim Alten bleibt. Aus
der unglücklichen Zeit des Kulturkampfes ist für die deutschen Katholiken
ultramontaner Färbung ein besondrer Sporn zur Missionsthätigkeit zurück¬
geblieben; sie giebt die Möglichkeit, die Orden, die in Deutschland und beson¬
ders in Preußen nicht zugelassen sind, in die Schutzgebiete einzuführen in der
Hoffnung, sie auf diese Weise ins Mutterland einzuschmuggeln. Diese Hoffnung
ist um so begründeter, als die römische Kirche ihre Maßregeln nicht nach
Wochen und Monate», sondern nach Jahren und Jahrzehnten trifft. So sind
bereits Jesuiten, Brüder vom heiligen Geist, vom heiligen Herzen Jesu,
Pallotiner, sämtlich verbotene Orden, in den deutschen Kolonien thätig,
während unsers Wissens nicht ein einziger der zugelassenen Orden seine Mit¬
glieder dorthin gesandt hat. So droht auch von dort aus der evangelischen
Kirche in Deutschland selbst Gefahr. Diese kann nur überwunden werden,
wenn die evangelische Mission in den Schutzgebieten die ganze Kraft des
evangelischen Deutschlands ohne Rücksicht auf die kleinern und größern Spal¬
tungen im Innern sammelt und in planmäßiger Organisation vorgeht. Das
sollten die Leiter der evangelischen Missionsgesellschaftcn und ihre Förderer
aus dem Kirchenregiment und im Laienstande bedenken und sich zu Herzen gehen
lassen. Was sie jetzt versäumen, das werden unsre Kinder und Enkel zu büßen
haben. Nicht um eine Überflügelung der katholischen Kirche handelt es sich,
souderu um eine Gleichstellung mit ihr und um eine berechtigte Abwehr gegen
das räumliche Übergreifen der römischen Propaganda, vor der leider diejenigen
die Augen verschließen, die in erster Reihe zu Lenkern und Hütern der prote¬
stantischen Lehre in Deutschland berufen sind. Geht es so weiter wie bisher,
dann werden diese Blätter, wenn eine Hilfe nicht mehr möglich ist, den Be¬
weis liefern, wie dringend der Mahnruf war. Auch hier heißt es: visoit>z
moniti!
Nachdem vorstehende Zeilen bereits in der Druckerei waren,
hat Herr von Wißmann eine Antwort auf die Broschüre des Dr. Warueck ver¬
öffentlicht. Unsre Hoffnung, daß der Herr Reichskommissar sich werde über¬
zeugen lassen, hat sich nicht erfüllt. Er sucht Nachweise dafür zu erbringen,
daß einzelne englische Missionare politische Geschäfte gemacht hätten, bleibt
auch nicht bloß bei seinem Satze I^vora se ora, sondern auch bei seinem der
katholischen Missionsthätigkeit als der fruchtbringenderen gespendeten Lobe. Eine
weitere Antwort hierauf wird wohl nicht nötig sein.
heute vou Goethes Geburtsstadt über Hennen durch das Kiuzig-
aufwärts „ach Norden fährt, wo er die alte Hohenslaufenstadt
IM^^A^AGelnhcmsen mit ihrer schone», vielfach Minute» Kirche und die Neste
I^g^DWH«der alten Kaiserpfalz besuche» kann, sieht das anfangs so breite und
mit lachenden Wiesengriinden nnsgeflillte That der .Mnzig immer
W^MssM?enger werden. Von Osten her dri1in.it sich der Speisart immer
gewaltiger und mächtiger heran, im Westen erhebt sich der Vogelsberg, Wohl mehr
allmählich, aber um so gründlicher. Die Eisenbahn muß das immer enger werdende
Flußufer verlasse» und an den Abhängen ihren Weg weiter zur Wasserscheide
suchen.
Es ist ein Weg, der manche Erinnerung an große Zeiten und große Menschen
weckt. Dort kommt auf einmal bei einer Thalöffuuug auf einsamem. Bergkegel die
gewaltige Ronneburg in unsern Gesichtskreis, jetzt in Trümmer verfallend und
mit dürftigem Rasen und Geröll umgeben, einst aber der Sitz eines mächtigen,
noch heute in' Ehren stehenden Herrengeschlechts, dann eine Art Zion für eine
arme Indenkvlonie und wieder ein Zion andrer Art für die „sonderbaren
Schwärmer" des Grafen Zinzendorf, die Herrnhuter. Hier stand die alte Steckel¬
burg , wo Ulrich von Hütten, der Vorkämpfer der Reformatoren, das Licht der
Welt erblickte, der er auch ein Licht werden sollte. Dort hat sich 1813 „auf der
großen Retirade," von der noch manche Dorfchrvuik Erzählt und von der ich in
meinen Kiudesjcchren uoch manche Einzelheiten gehört habe, Napoleon mit den
Resten seiner geschlagenen Armee nach dem Rhein und über den Rhein ge¬
rettet. Sein Herz schlug ihm wieder fröhlicher, als er den Engpaß nicht gesperrt
fand und er erst bei Hanau das Heer Wredes im Wege fand. Von hier aus hat
186L der General Vogel vou Falckeustein mit der Maiuarmee seinen Marsch
durch den Spessart angetreten, der mit Recht in der neuern Kriegsgeschichte als
eine That großen Mutes und genialer Taktik gepriesen wird.
Wo Mahbachs Herrschaft aufhört, da fängt Stephan an zu beglücken. Wir
verlassen die Bahn an dein hochgelegenen Bahnhof bei Steinau, wir vertrauen uns
einer der sehr wohlthätigen, aber nicht immer sehr reinlichen Postkutschen an, deren
gelbe Farbe auf den abgelegenen Straßen unsers Vaterlandes mit nicht weniger
Freude und Stolz erblickt wird, als der Rauch der Lokomotive nu den Eisenbahnen.
Ist doch die Post die einzige Verbindung zwischen der weltverlorenen Gebirgswelt
und dem lärmerfüllten Leben der Stadt. Sie bringt den Bauern die „Herren,"
die Juden, die Schuapsreisenden, die Konfektionäre, die visitirenden Beamten und
den Gerichtsvollzieher, unsern modernen Würgengel. Ans der Post zu fahren gilt
dem sparsamen Bauern für eine That großer Selbstüberhebung und frevelhaften
Übermuts. Sie bringt ihm aber außer den Mandaten des Gerichtsvollziehers, den
Prozeßschriften der Advokaten und den Mahnbriefen der Juden mich Briefe an¬
genehmem Inhalts sowie das „Blnttchcn," das ihm eine Vorstellung von den Welt-
Händeln und andern Geschehnissen giebt.
Dieser Post vertrauen wir uns um. Wir fahren im Dunkel des Abends
durch Wald und an Wiesengehnngen vorüber. Die Landschaft wird rauher, oder;
große Teiche glänzen uns entgegen. Wir find in der Nähe des Schauplatzes unsrer
Erzählung gelangt.
Unsre Zeit erweist sich gegen die Neste der Vergangenheit sehr dankbar.
Museen aller Art erheben sich; auch die absterbenden Eigentümlichkeiten des Volkes
in Tracht, Behausung und Lebensführung sucht man mit Hilfe plastischer Nach¬
bildungen festzuhalten. Es ist gut, daß man jetzt damit beginnt, denn in wenigen
Jahrzehnten wäre nicht mehr viel zu sammeln. Die malerischen Landestrachten
schwinden, die alten Sitten gehen unter, auch in den abgelegensten Gegenden ist
man nur noch „Arbeitgeber" oder „Arbeitnehmer," es ist alles zu einem gleich¬
mäßigen Urbrei ohne Charakter geworden.
Meine Erzählung soll uns um etwa fünfzig Jahre zurückführen; da fuhr noch
keine Bahn über den Distelrasen nach Fulda, da sprach mau in den meisten Dörfern
von der Post als von einer märchenhaft stattlichen und vornehmen Einrichtung,
dafür lebte und webte das Volk noch in seiner alten Sitte, ärmer noch als heute,
aber viel, viel glücklicher.
Noch heute liegt der Schauplatz unsrer Erzählung vier Stunden von der
nächsten Eisenbahnstation. Es ist Z. . ., ein kleines aber freundliches Dorf. Der
Moosbach, der Abstich großer und fischreicher Teiche zur Fulda, wird hier ein-
geengt; steil erheben sich seine Ufer, an beiden Seiten hinauf lagern sich Häuser
und Häuschen, Zu der Zeit, wo die Kirschen blühen und die Schwarzamseln,
Zippdrosseln und Schwnrzköpfchen von allen Bäumen herab ihre schmetternden Lieder
singen, ist es ein schöner, idyllischer Platz. Die Spaziergänge in den benachbarten
Wäldern, besonders der durch die Steiger nach Blaukennu sind geradezu romantisch;
die Wälder und Felder voll Wild, die Bäche voll köstlicher Forellen, und Krebse geben
auch dem Feinschmecker manchen Genuß.
Ich muß aber deu Leser in ein Hans führen, wo in der Küche kein Platz
für Delikatessen war, ins Schulhaus. Wenn man heute manchmal von „Schul¬
palästen" spricht, an diesem Schulhause war durchaus nichts Palastartiges. Es
sah bei seiner Schmalheit fast einem Turme gleich. Ein kleiner Hausgang, eine
noch kleinere Küche, ein Schulzimmer und eine Kammer dahinter, das war alles.
Im obern Stock waren noch einige Räumlichkeiten, aber, wie damals noch meist
bei den Vogclsberger Bauern üblich, kaum oder notdürftig eingerichtet, uicht gedielt,
die Wände wüst und kahl. Der Schullehrer wohnte seit Menschengedenken in der
Kammer hinter der Schulstube. Der große eiserne Ofen, auf dessen Vorderseite
der Sündenfnll und auf dessen Rückseite der Tod Adels dargestellt war, saß zwischen
beiden Räumen, der Schullehrer konnte mit der von dem Gemeindeofeu gelieferten
Wärme seine Stube mitheizcu.
Früher hatte der löbliche Gemeinderat um diesem Gemeiudefeuer mich seine
Gemeindearmcn gewärmt, und während der Lehrer seine .Katechese hielt und seine
flachshaarigen Dickköpfe in die Zahlengeheinmisse einweihte, schnurrte das Spinn-
rädchen der alten zahnlosen „Oddil" und schnitzte der alte gichtbrnchige „Hnnsjörg"
an seinen Rechenzinken und Wnschklnmmern. Aber das durfte jetzt nicht
mehr sein. Die Gemeinde mußte ihre Armen im „Hirtenhaus" unterbringen,
und kein Mensch heutzutage kann ermessen, wie viel Schmutz und Armut, Hunger
und Elend in einem solchen „Hirtenhause" zusammen war. „Arme habt ihr alle¬
zeit," dachte der Gemeinderat. So barmherzig und zärtlich der Bauer gegen sein
Vieh ist, so unbarmherzig war er damals, und ist er auch heute uoch gegen die
Menschen, selbst gegen seine Nächsten. Weibersterben — kein Verderben! Gänl-
verrecken — das bringt Schrecken! sagt er, und damit sagt er alles.
Also die alte Oddil und den Hausjörg war der Lehrer los; er hatte wohl
in seiner Wohnkammer den Dunst der Schulstube mit einzuatmen, und wer es uicht
erfahren hat, der weiß es nicht zu ermessen, welche Luft in einem engen und
modrigen Raume sein kann, den der Lehrer einen ganzen Tag mit den Kindern
teilen muß. Die Kleider riechen unsagbar, da so viele Leute nur eine „Lade"
und keinen Schrank besitzen, die Haare uicht weniger, da ihre borstige Wildheit
durch Schmalz und Wurstfett gebändigt wird. Gewaschen wird das Kind nnr da,
wo man es steht, und der Lehrer ist froh, wenn er die Kinder mit ungeheurer
Geduld so weit manierlich gemacht hat. Hautkrankheiten und Kopfansschläge hören
gar nicht auf.
Trotzdem war der in seiner Schulkammer wohnende Lehrer ganz vergnügt
und glücklich. Er war von einer Art, die immer vergnügt sein muß, weil sie
nicht anders kann, weil ihnen der gütige Gott ein Herz voll Zufriedenheit und
Glück mit auf den Lebensweg gegeben hat. Vor allen Dingen war er zufrieden
und glücklich, daß er es zum Schulmeister gebracht hatte, denn es war ihm sauer
genug geworden.
In der Schule war er beständig der Erste seiner Klasse gewesen und sein
junger, eifriger, seminaristisch gebildeter Lehrer hatte ihn oft dazu ermuntert, Lehrer
zu werden. An seiner Mutter, einer frommen, bibelfesten Frau, der er seinen
Herzenswunsch zuerst anvertraute, fand er freundliches Entgegenkommen: sie hing
an diesem spät nachgekommenen Sohne ihres Alters mit rührender Zärtlichkeit.
Ihr kam es als ein hohes Ziel vor, daß ihr Heinrich die Kinder in Gottes
Wort unterrichten und in der „Betstunde," das ist dem Lesegottesdienste, an
des Pfarrers Stelle erbauen sollte. Aber der Vater war ein alter dickköpfiger,
störriger Bauer, der von einem Schulmeister und seinem Berufe nichts hielt.
Es war noch nicht so lange her, daß das Dasein des Lehrers dn, wo er
nicht als Kirchendiener und Organist, als „Opfermaun" ein reichlicheres Ein¬
kommen hatte, ungemein kläglich war. Gewöhnlich waren es Invaliden, herrschaft¬
liche abgedankte Bediente, verdorbene Studenten und andre zweifelhafte Elemente,
die sich zu diesem Berufe willig finden ließen. Oft war mit dem Amte des Lehrers
auch das des Feldschützen, des Schweinehirten oder des Nachtwächters vereinigt.
Die Leistungen dieser „Lehrer" waren darnach.
Noch erinnere ich mich der Erzählung meiner Urgroßmutter über ihre Schul¬
zeit. Sommerschule gab es damals gar nicht, da hatte der Mann andre Pflichten,
aber des Winters, wenn der Schnee bergehoch fiel, und die Dörfer eingefahren und
von der Außenwelt abgesperrt waren, klapperte der Schulmeister mit seiner Hirtcn-
klapper seine Zöglinge zusammen. Bänke hatte das Schullokal wohl, aber keine
Tische; die Kinder schrieben auf den Knien. Die Lehrmethode war die denkbar
einfachste. Der Lehrer saß neben dem Ofen auf einem klotzartigen Stuhl, die
Zipfelmütze hing ihm in den Nacken hinunter, seine fleißige Hand drehte das Spinnrad;
zur Rechten und zur Linken standen die Kinder und lasen laut aus dem einzigen
Schulbuche, der Bibel, hier in ganz besonderm Maße dem Buche aller Bücher.
Lautireu kannte mau damals nicht, auch nicht buchstabiren; der Lehrer sagte die
ganzen Wörter vor, die Kinder sprachen die ganzen Wörter nach. Daß es da lange
währte, bis die Kinder lasen, läßt sich denken. Schlimm wurde es, wenn man
an ein Kapitel mit schwer anzusprechenden Namen, z. B. um die Geschlechtsregister
kam. Dn, wo die Menschheit die Nachkommenschaft Adams, Noahs und andrer
biblischer Helden erfährt, hörte die Meisterschaft des Schulmeisters ans. Nachdem
er sein Rad still gestellt und das rätselhafte Wort lange angestaunt hatte, sagte er
endlich ärgerlich: „ÜberNpps, der Deiwel weiß, wies heißt."
Unser Volk lebte damals in einer gar großen Armut; die vielen großen Kriege,
die es mit seinem Geld und seinem Blute auf seinem Boden für fremde Zwecke
hatte führen müssen, hatten es so arm gemacht, daß solche Schulen keine Ausnahmen
Waren.
Das war nun freilich anders geworden. Der Lehrer war jetzt eine staatlich
angestellte Persönlichkeit, es wurde seminaristische Vorbildung verlangt, es wurde
auch e!u Minimalgchalt gewährleistet. Der betrug zu jener Zeit 150 Gulden, flieg
nach zehn Jahren auf 176 Gulden und wieder in einer langen Frist auf 200
Gulden. Es war ein karges Brot, aber es war immerhin Brot; in jener Zeit
bekam niemand viel. Die Seminarien füllten sich, die Stellung des Lehrers hob
sich; es wurde schon damals des Bauern Ehrgeiz, den Sohn Lehrer werden zu
lassen, die Tochter an einen Lehrer zu verheiraten.
Aber, wie gesagt, der Vater unsers Helden war ein dickköpfiger Bauer, und
wenn so einer nicht will, dann thut er es auch nicht. Der Heinrich mußte mit
„an den Acker fahren" und bekam, da er sich zu der Arbeit bockbeinig anstellte,
manche Scholle und manchen Fettstein von seinem heißblütigen Vater in, die Rippe
geworfen, daß es ihm ging, wie einst Nneas in den trojanischen Gefilden. „Wenn
du doch in Dalmatia wärst, du steifer Hund," mußte er oft hören, um erst später
zu erfahren, wo dieses Land liegt, in das ihn sein Vater wünschte. Endlich aber
war es den vielen heißen Bitten seines Mütterchens, die an Pfarrer und Lehrer
freundliche Fürsprecher fand, gelungen, die Sache durchzusetzen. Der Heinrich wird
Schulmeister, hieß es.
Das Seminar aber war damals mit seinen Anforderungen durchaus nicht
blöde. Es verlangte von seinen eintretenden Schülern nicht geringe Vorkenntnisse.
Bei den Aufnahmeprüfungen kamen die „Dnrchfiille" massenhaft vor. Es mußte
also eine Vorbereitungszeit durchgemacht werden. Der Lehrer des Ortes war er¬
bötig, gegen ein „Deputat" von Butterwecken, Eiern, Frucht, Kartoffeln und dreißig
Gülden bar die Vorbereitung zu übernehmen. Heinrich kam zu ihm, half Schule
halten, lernte den Stock schwingen über der mutwilligen Kinderschar; er lernte
geigen und Klavierspielen, aber alles schlecht genug. sein Lehrer konnte leider
selbst nicht viel. Er war dazu mehr Bauer als Lehrer, und Heinrich als sein
Famulus des Sommers mehr mit ihm bei dem Heumachen und Kornschneiden be¬
schäftigt, als mit seinen Büchern, und als er mit Zittern und Zagen in der
Semiuarstadt vor seinen Examinatoren stand, da wußten diese Männer so viele
sonderbare und unbekannte Dinge zu fragen, daß er schon mit trüben Ahnungen den
vierzehnstündigen Heimweg antrat.
Es war ein entsetzlicher Tag für ihn, als der in jener Zeit wöchentlich einmal
kommende Postbote einen großen Dienstbrief brachte, worin mit lakonischer Kürze
die traurige Thatsache verzeichnet stand, daß Heinrich das Examen nicht bestanden
habe. Es war eine wahre Passionszeit für den armen Jüngling; ob er angespieen
wurde, erzählt die Geschichte nicht, aber geschlagen wurde er von seinem wütenden
Vater, und an spitzen Dornen fehlte es auch nicht, die ihm das Herz verwundeten.
Da kamen die Basen, das „Gilträndchen," die „Annies," das „Barchen," dn
kamen die „Freunde," d. i. Verwandte, und geiferten und zeterten. „Seht ihr
jetzt den Faulenzer, hieß es da, dem ist die Bauernarbeit zu viel. Der will mehr
sein als nur! Was habt ihr jetzt an ihm! Haut auf ihn, den Lump!" Und
der Jüngling stand da mit seinen hellen, blauen Augen, und die Thränen Perlten
darin, und er hatte niemand als seinen Vater im Himmel und sein Mütterchen
auf Erden, denen er sein Leid klagen und bei denen er Trost finden konnte. Als
die bösen Menschen endlich müde wurden zu schelten und fortgingen, und als auch
der Pfarrer kam und sich gegen ihn erklärte und sagte: „Breche dem Jungen den
starren Kopf, der braucht sein Vermögen auf und wird doch nichts," und er endlich
auf sein Stübchen ging, wo die Bücher standen, die er so lieb hatte und lassen
sollte, weil er sie nicht verstand, da brach er fast unter seinem Kummer zusammen;
tant schluchzend fiel er ans die Kniee und betete und gelobte, daß, wenn er es doch
noch durchsetzte, er ein treuer Lehrer sein wolle.
Bald fühlte er sich voll den Armen seiner Mutter umschlungen, die ihn aus
dem großen Vorrat ihrer Bibelkenntnis zu trösten wußte. Es wurde beraten, be¬
schlossen und schließlich durchgesetzt, daß Heinrich erst eine nen eingerichtete und vor¬
züglich geleitete Präparcindenschule besuche» und sich dann nochmals der Prüfung
unterziehen solle.
Nun er in die rechten Hände tum, fand sich alles schnell. Er lernte,
begriff, war bald einer der besten Schüler und wurde mit guten Zeugnissen ent¬
lassen. Er fand liebe Freunde, die mit ihm die weiten Wege von der Heimat zur
Semiliarstadt und zurück gingen. Immer höher stieg er in der Achtung der
Seinen, lind als er, nachdem er das Seminar mit vorzüglichem Abgangszeugnis
verlassen, in einem benachbarten Dorfe die Betstunde recht gehalten, mit den Kindern
gesungen hatte, ohne umzuwerfen, und die Predigt gelesen hatte, ohne stecken zu
bleiben, da stand, als er aus dem Betsaal heraustrat, sein sonst so harter Vater vor
ihm; in seinem verwetterten Gesichte leuchtete es freundlich, er gab dem so viel ge¬
scholtenen und geschlagenen Sohne die Hand und hatte fortan den größten Respekt
vor ihm. Er holte nämlich uuter großer Angst und vielem Herzklopfen um der
Thüre gestanden und am Schlüsselloche gehorcht, wie es drinnen ablaufen würde.
Seine Muße dauerte uicht lauge. Die Regierung brauchte die jungen frischen
Leute, um die alten lmbrauchbaren Männer zu ersetzen. Sie wurde hierin aufs
treueste voll den Pfarrern unterstützt, die es als eine große Wohlthat empfanden,
statt der allen ungebildeten und zum Teil sittlich verkommenen Männer diese jungen
Leute voll Eifer und Feuer und voll sittlichen und religiösen Lebens zu habe».
Wir finden also uusern Helden bald daraus in Z. als Schulvikar und seine Mutter
als Haushälterin bei ihm. Sie hatte es erreicht, was sie ersehnt und erfleht hatte;
ihr Heinrich war ein Schulmeister geworden, er stand alsbald bei Gemeinde und
Behörden in gutem Rufe, sie konnte allenthalben sein Lob vernehmen. Deshalb
überließ sie gern ihr Hans voll Arbeit und den Stall voll Vieh der nicht besonders
geliebten Schwiegertochter und zog zu ihrem Schulmeister.
Im Sommer aber mußte sie fort. Eine Bnuernfrau von echtem Schrot und
Korn hängt an Halts und Gut mit ähnlicher Zärtlichkeit, wie eine Mutter an ihrem
Kinde. Hier hat sie ihr Lebe» lang schwer gearbeitet und viel gesorgt, hier ist
ein Stück ihres Lebens. Als darum die Sensen gedengelt wurden lind des Morgens
um zwei Uhr die Baktern mit Knecht und Magd, Weib und Kind und Taglöhnern
auf ihre Wiesen in Feld und Wald zogen, war sie wieder zu Hause, und ihr Lehrer
mußte „in die Kost gehen." Die fand er auch den Monat für sieben Gulden im
Dvrfwirtshause. Es war das gewiß nicht viel, aber es wurde auch nicht viel dafür
geboten. Und als die Kirschenzeit kam, und er vier Wochen lang mit großer Aus¬
dauer eine aus Milch, Wasser und abgekochten Kirschen bestehende Suppe gegessen
hatte und ganz vom Fleisch siel und hohläugig und schlank wurde, da käme» ihm
Gedanke», sein Haus zu gründe». Es war ihm ohne Frau in dein öden Schul-
hause, wenn er seine muntere Schuljugend entlasse» hatte, zu einsam, besonders
des Nachts, wenn die Stürme sein Häuschen umbrausten, die Fenster so unheimlich
rasselten oder die Mäuse mit den Messinggriffen der alten Kommode spielten. Da
kamen ihm alle unheimlichen Schauer- und Gespenstergeschichten seiner Jugend vor; da
fiel es ihm ein, daß es auch in diesem Hause „wandern," d. i. daß ein Geist um¬
gehen sollte, der Geist eines betrogenen und von dem Ehebrecher ermordeten Gatten.
Da sehnte er sich nach einer Häuslichkeit, da gefiel ihm aus der Bibel besonders
das Wort: Es ist nicht gut, daß der Mensch allein sei. Und seine Mutter, zu
der er in de« nächsten Ferien kam, stimmte ihm zu.
Aber welche Fran nehmen? Das war jetzt die Frage, und sie wurde zwischen
Mutter und Sohn reiflich erwogen. Da war wohl Pfarrers Lottchen, ein
wunderhübsches schwarzäugiges Ding, mit dem er schon in der Schule geliebäugelt
hatte. Die sah ihn jetzt besonders freundlich an, und auch der alte Pfarrer gab
ihm zu verstehen, daß ihm ein Lehrer als Schwiegersohn recht sein könne. Aber,
du lieber Gott! Der Mann hatte zweiundzwanzig Kinder und vierhundert Gulden
Gehalt. Trotz aller Tüchtigkeit und Häuslichkeit der Pfnrrfrcm konnte die Familie
bei größter Einschränkung kaum das Gespenst des Hungers von ihrer Schwelle
fernhalten. Es waren unter deu zweiundzwnuzig Kindern fünfzehn frische und
gesunde Jungen. Der nater schlug, nachdem er ihre in der Dorfschule erworbenen
Kenntnisse etwas durch Privatunterricht erweitert hatte, mit allen dasselbe Ver¬
fahren ein: nach der Konfirmation gab er ihnen einen Gulden und seinen Segen
und schickte sie in die Welt, ihr Glück zu machen. Es war vorgekommen, daß
hnusireude Händler, sogenannte Galanterietrümer, sich im Pfarrhause einfanden und
sich als die vor Jahren so „abgehalfterten" Söhne des Hauses vorstellten. Auch
solle» sich einst in einem Chausseegraben bei Hamburg zwei wandernde Söhne des
Pfarrers als Brüder gefunden haben, die sich zu Hanse gar nicht gekannt hatten.
Also mit diesem Pfnrrerstöchterlein war es nichts. „Sie hat nichts, sagte die
Mutter. Was willst du mit ihr?" Ebenso »venig fand die stattliche blonde Tochter
seines gegenwärtigen Pfarrers vor ihre» Augen Gnade. Der Vater hatte wohl
eine gute Pfründe, aber er hatte auch zwölf Kinder; er war ein cüsnous irroMiU'iL
und voller Schulden. „Da hast du wieder nichts, sagte die Mutter, und außer der
Armut noch die Schande zu teilen. Nimm dir doch ein wohlhabendes Bauern-
miidchcn. Da hast du Geld und kennst dir dem Leben lang helfen; da hast du
auch eine Frau, die arbeiten kann und sich der Arbeit nicht schämt." In jenen
Zeiten war bei den ländlichen Besoldungen noch überall Naturalwirtschaft. So
weit sie aus älterer Zeit herrührten, bestanden sie im Ertrag von Grundstücken und
in Frnchtlieferung. Pfarrer und Lehrer mußten Ökonomie treiben, sonst konnten
sie nicht leben. Die Pfarrers- wie die Lehrersfran mußten die Ökonomie tüchtig
verstehen und tüchtig mit helfen.
Nun ist es noch heute wie damals in den Dörfern aller Mädchen höchster
Wunsch, einen Lehrer zu heiraten. Da brauchen sie nnr selten oder nie a»fs Feld
zur Arbeit, da ist ihnen das Frnchtabmachen in der heiße» Sommerszeit geschenkt,
sie müssen nicht in den Stall, »>» zu niste» und zu melken. Dur»in ist es für
den ganzen Mädchenflor eines Dorfes eine Frage von höchster Wichtigkeit, ob der
neu ausziehende Lehrer verheiratet, verlobt oder noch ganz frei ist. Ist er verlobt,
so sucht man ihn „wendig," d. i. abtrünnig zu macheu; ist er noch frei, so wird
auf ihn eine ganz regelrechte Jagd veranstaltet. Die Väter heiratslustiger Töchter
laden ihn zu den Familienfesten, besonders zu dem großen Schlachtfeste, der
„Metzelsuppe," auch „Stechbraten" genannt. Da hat er Gelegenheit, die Vorzüge
seiner Zukünftigen kennen zu lernen. Auch die Töchter selbst find unternehmend
genug. Sie gehen ihm mit ihren Freundinnen o,der auch allein „zu Gefallen."
Sie setzen sich in der Betstunde recht weit vorn hin und sehen ihn andächtig an,
oder sie suchen ihn sogar auf die eine oder die andre Art zu verführen, daß
nachher eine Mußheirat erfolgt. Wie viele junge Leute haben es nachher ihr ganzes
Leben lang bereut, sich in einer schwachen Stunde an ein Mädchen gekettet zu
haben, das alles andre wurde, nur keine holde Lebensgefährtin! Also eine Lebens¬
gefährtin unter den reichern Bauerntöchtern zu finden war nicht schwer, aber
welche?
Da that die Mutter eine Frage an ihren Sohn, die zeigte, daß sie auch
hierin feiner und edler dachte, als die meisten andern Bauersfrauen. Sie fragte:
„Hast dn denn schon eine gesehen, die du lieb haben konntest und heiraten möchtest?"
Der Sohn wurde rot und fing an zu stottern; aber man müßte keine Mutter sei«,
wenn man so etwas nicht herausbrächte."
Die Schulstelle in Z. trug etwa 350 Mark, war also eine „bessere, und es
galt in jener Zeit für eine große Begünstigung, daß sie ein junger Mann unmittelbar
vom Seminar weg erhalten hatte. Aber sie hatte auch ihre Lasten. Der Lehrer
mußte auch noch jeden Nachmittag in dem eine Viertelstunde im Moosbachthal
aufwärts liegenden W . . . unterrichten. Er hatte keinen freien Nachmittag,
selbst Sonntags mußte er an beiden Orten Betstunde halten. Besonders Wenn
im Winter die Schneestürme übers Land zogen, und die steilen Bachufer, an denen
der Pfad entlang führte, elleuhoch mit Schnee verweht waren, waren die Wege
manchmal geradezu lebensgefährlich. Wenige Jahre zuvor war ein Vorgänger auf
dem Heimwege beinahe im Schnee stecken geblieben »ud erfröre«. Es war geradezu
eine Grausamkeit, einem Manne eine solche Arbeit aufzuladen. Infolge dessen
hatten die Vorgänger diese Schule vernachlässigt. Die W . . .er, die trotz ihrer
elf Häuser stramm auf ihren alten „Rechten" bestanden und ihre Schule nicht auf¬
geben wollten, waren also dem neuen Lehrer umso dankbarer, daß er sein Amt
auch bei thuen gewissenhaft verwaltete. Sie begegneten ihm mit vieler Achtung,
und er war gern bei ihnen. Und dort fand er auch seine Zukünftige.
Ihre erste Begegnung war freilich nicht sehr Poetisch gewesen. Er fand sie,
als er zum erstenmale grüßend an ihr vorüberging, an dem Geschäft, das einst auch
einmal der Göttersohn Herakles für den König Augias verrichtet hat, beim Aus¬
misten des Stalles. Er sah mit Wohlgefallen ihre hohe, kräftige Gestalt, ihre ge¬
röteten Wangen, ihre leuchtende» und klugen Augen, und daß sie offenbar die
Tochter des Hanfes, einer stattlichen Hofraite mit zwei Scheunen war. Diesem
ersten Gruße folgte bei der nächsten Gelegenheit eine Anrede. Bei den täglichen
Begegnungen wurden die jungen Leute mit einander bekannt; sie sahen sich gern,
und als sie ans dem Heimwege vom nächsten Jahrmärkte mit einander Hand in
Hand gehend gesehen wurden, da war es bei Burschen und Mädchen entschieden,
daß „Michels Jule" ihre zukünftige Schulmeisterin sein würde.
Das wurde der Mutter erzählt. Die Nachricht siel ihr schwer aufs Herz.
Sie kannte die Familie nicht. Als praktische Schwiegermutter fragte auch sie bei
der zukünftigen Schwiegertochter zuerst uicht darnach: Was ist sie? sondern: Was
hat sie? Es war ja ein großes Gut, aber weiß man denn, ob nicht Schulden darauf
sind? Wird dann in dem kleinen Dorfe das Gut hoch angeschlagen werden, daß auf
die aus dem Hause gehenden Geschwister eine ordentliche „Herausgabe" kommt? Es
sind auch «och drei Brüder da. Viele Brüder — schmale Güter! sagt das Volk.
Doch ihre Bedenken wurden beschwichtigt, ein „Freiersmann" wurde beauf¬
tragt, die einleitenden Schritte zu thun. Bei den Vaueru Oberhessens ist es heute
uoch ein Fehler gegen die Sitte, wenn sich die jungen Leute unmittelbar ver¬
ständigen. Dafür ist der Freiersmann da. Es ist das ein Mann aus der
„Freundschaft" oder auch ein Fremder, der sich durch eine gewisse diplomatische
Schlauheit und Wohlredenheit hervorthut. Erst werden die Präliminarien besorgt,
indem er jedem Teil von selten des andern Teiles eine gewisse Zusicherung über die
Vermögensverhältnisse bringt. Ist man darüber im Klaren, so erscheint er eines
Sonntags Nachmittags im Hause der Braut. Man weiß, daß er kommt; man
läßt ihn auch kommen, wenn er abgewiesen werden soll, denn durch ausgeteilte
Körbe wird die Schöne interessanter. Die Braut geht beim Erscheinen des Braut¬
werbers verständnisvoll lächelnd in die Kammer und lugt durch den Spalt, von
dem dort hängenden Handtuche verdeckt. Die andern Kinder und etwaige Gäste,
die wissen, was kommeu soll, verspüren plötzlich eine große Sehnsucht, nach ihrer
bald kalbenden Kuh oder nach ihren Gerstenfeldern zu sehen. Es wird stiller auf
der Szene; der Freiersmann ist mit den Brauteltern allein. Nun hebt er seineu
Spruch an, worin auch einige biblische Stellen vorkommen, und kommt mit einigen
kühnen Übergängen, an den Zweck seines Kommens. Lautlos hören es die Alten
an. Kein Wort wird erwidert. Ein verächtliches Zucken des Auges oder ein be¬
hagliches Schmunzeln sagen dem kundigen Freiersmnun, wie die Aktien stehen.
Aber auch er läßt sich nichts merken. So will es der Brauch. Die Alten ziehen
sich zurück; die Brautmutter kommt mit einem Getränk, Messer und Gabel. Bringt
sie Käs und Brot, so ist die Werbung abgelehnt, und der Freiersmauu drückt sich,
sobald er Jenen; bringt sie Wurst und Brot, so ist die Werbung angenommen.
Butter und Wurst oder Käse und Butter zusammen zu essen, betrachtet der
genügsame Bauer als einen wahren Frevel, als einen sträflichen Übermut. Da
muß man zwei Häuser haben, wenn man zweierlei auf dem Brote essen will
— sagte er. Ebenso Weck und Wurst zusammen zu essen. „Was wollt ihr?
— rief einmal am Buß- und Bettag ein würdiger Seelsorger seiner Gemeinde zu,
die er wegen ihrer Lust zur Üppigkeit und zum Wohlleben nusschelten wollte —
Weck und Wurst wollt ihr essen!" und der Borwurf machte den größten, einen
geradezu niederschmetternder Eindruck auf die Gemeinde.
In unserm Falle verlief die Brautwerbung nach Wunsch. Es kam Wurst
und Brot, die Jule kam freundlich lächelnd hinter ihrem Handtuche hervor und
trat wieder auf den Schauplatz. Merkwürdigerweise war auch der Schullehrer
nicht weit. So saßen sie bald fröhlich zusammen, und als die beiden jungen Leute
am Abend vor dein stattlichen Hause standen und den Mond so freundlich herab¬
blicken sahen und alle die Sternbilder, deren Namen und Gestalten der junge
Bräutigam seiner wißbegierigen Braut nannte, da war ihnen der Himmel offen.
Eins schaute in die guten treuen Augen des andern, und der Vater im Himmel
hatte kein glücklicheres und froheres Paar gesehen als das, das sich dort Liebe und
Treue für das ganze Leben angelobte."
Nun dauerte es nicht lange, da gab es „Berspruch oder „Bräute." An einem
Sonntag Nachmittag kam die beiderseitige „Freundschaft" im Brauthause zusammen.
Da kam der Bürgermeister, manchmal auch ein Schreiber des „Landgerichts" (jetzt
Amtsgerichts); da wurde „Aufsatz gemacht" oder die „Ehepakten aufgenommen."
Bei solchen Gelegenheiten „verschrieben" die Eltern ihren Kindern Haus und Hof,
wenn die jungen Leute ins Haus zogen. Da wurde genau aufgezeichnet, was
beide Teile an Geld und Gut und um Haushaltungsgegenständen in die Ehe ein¬
brachten, besonders ob die Braut ein einfaches oder doppeltes „Zubehör" bekam.
Im letzter» Falle bekam sie 150 Kloben des besten Flachses, an dein sie ihr
ganzes Leben laug zu spinnen hatte, eine große Anzahl selbstgesponnener und selbst¬
gewebter Stücke Leinen, denn:
Selbst gesponnen und selbst gemacht,
Das ist die beste Bauerntracht,
ein vollständiges Mobiliar für eine oder zwei Stuben, eine Kuh, ein Schaf,
manchmal auch ein Pferd und noch eine ganze Menge von Gebrauchsgegenständen.
Zu einer bestimmten Zeit, bald nach der Hochzeit, wurde alles auf einen festlich
geschmückten Wagen, den „Rumpelwngen," geladen. Die Brüder und „Freunde"
der Braut ritten dem Wagen voraus. Der „Freiersmann" hatte einen großen
Geldbeutel mit kleinen Münzen in der Hand, aus dem er den Armen und Kindern,
die den Wagen „hemmten," d. i. durch ein schwaches über den Weg gespanntes
Seil zum Stillehalten zu bringe» drohten, die herkömmliche Spende zuwarf. Das
ganze Volk raufte sich auf dem Boden um die Pfennige, das Seil wurde gelöst,
und der Zug zog weiter, bis er wieder „gehemmt" wurde und endlich ans Ziel ge¬
langte. Oben auf dem Wagen saß stolz die Braut oder junge Frau mit dem Spinnrad
neben ihrem Bette; der Stolz war umso größer, je großer der Rnmpelwagen war.
Eine weitere Frage, durch deren ungenügende Erledigung gar manche Ver¬
lobung zurückging, war die, wie die „Sterbefälle" auf der „Bräute" geregelt
wurden, d. i. wie es mit dem eingebrachten und erworbenen Vermögen gehen sollte
für den Fall, daß eins vor dem andern sterben sollte, ohne Leibeserben zu hinter¬
lassen. Der Fall kommt ja bei unsern frischen und gesunden Bauersleuten kaum
vor, und mir hat die Verlesung dieser „Sterbefälle" immer einen komischen Ein¬
druck gemacht. Hier waren aber die anwesenden Onkels, Neffen und Vettern als
eventuelle lachende Erben zu sehr interessirt, und so wurde gerade dieser Puukt
von der wettern Corona mit großer Gründlichkeit erörtert, für alle Möglichkeiten
wurden Festsetzungen getroffen. Zu erklären war dieser Eifer dnrch die wahrhaft
babylonische Verwirrung in der Partiknlargesetzgebuug über diesen Punkt.
Die gesellige Unterhaltung bei dergleichen Festen war nach uuferu Begriffe»
etwas ledern. Über Politik und Wahlen sprach man damals »och nicht, Neuigkeiten
gab es nicht viele, da kam man von selbst auf das zu reden, was dem Bauern das
liebste auf der Welt ist, auf das Vieh. So ist es noch heute; noch heute muß
sich die in seinem Pensionat erzogene und zur „Bräute" geladene junge Pfarrfrau
darauf gefaßt machen, von ihrem Nachbarn, einem würdigen Kirchenvorsteher, der
als solcher die Pfarrfrau zu uuterhnlten hat, über die sexuellen, Verdauungs- und
andre Verhältnisse seines „Offen" oder seiner „Kor" zwei Stunden lang Vortrag
halten zu lassen. Damals fing auch schon das Kartenspiel an, die Geister gefangen
zu nehmen. Besonders bei den „Bräuten" wurde gern ein gewisses Hazardspiel,
das „Zwicken" gespielt.
Nun, auch dieser Abend ging vorüber, die Gäste ginge» nach Hause, die
Hochzeit wurde auf die nächste Zeit festgesetzt. Es erregte Staunen und Lachen,
als der junge Bräutigam mit seiner alten Mutter nach Hause ging. Nach Vogels-
berger Brauch nimmt der Bräutigam spätestens an diesem Abende Besitz von dem
Bette seiner Brune. Alles Mahnen und Schelten hat diesen Unfug nicht ausrotten
können. Und so hatten an jenem Abend unsre lieben jungen Leute nur Stichelreden,
und zwar keine verblümten zu hören, als sie zeigten, daß sie ihren Brautstand rein
und ehrbar zubringen wollten.
Als die Hochzeit gefeiert war, und die junge Frau im Hanse schaltete und
waltete und ihrem Manne, wenn er müde von seiner Arbeit und seinen Gängen
nach Hause zurückkehrte, mit der Freundlichkeit entgegenkam, mit der eben nur die
Liebe empfangen kann, als er an ihr eine geistig geweckte Lebensgefährtin fand,
die mit ihm und von ihm lernte, als sein Mütterchen an der Schwiegertochter eine
liebe Tochter fand, als dann ein Jahr dahingegangen war, und die junge Frau
einen rosigen Knaben an der Brust hatte und er ihn ans den Knieen schaukeln
konnte, als die große offizielle Prüfung durch die „Kreisschulkommission," vor der
unser Held eine ganz entsetzliche Angst hatte, über alles Erwarten gut verlief und
er von dem visitirenden Dekan Riegen seines edeln Strebens und der erzielten
schönen Erfolge gar freundliche Worte hörte, dn war eine so große Freude bei
dem Lehrer im Schulpalaste, daß er alle Kaiser und Könige der Welt nicht be¬
neidete.
Zwar hatte ihm die junge Frau manches abgewöhnt. So mußten die vierzig
Vögel, die, wie in einer Bildergalerie die Bilder, an den Wanden der Wohnstube
in Käfigen umher hingen, und des Morgens in der Frühe das Ehepaar mit ihrem
vielstimmigen Tiriliren aus dem Schlafe weckten und sich auch für die Geruchs¬
werkzeuge der uuter ihnen hausenden und schlafenden Menschenkinder recht unan¬
genehm vermerklich machte», auf drei Körnerfresser beschränkt werden; selbst die
mit ihrer fetten Stimme so inne schmetternden Schwnrzamselu und Zippdrosseln
fanden keine Gnade, sie am allerwenigsten. So mußte auch die Privatpräparanden-
anstnlt, die der junge Lehrer neben seinen beiden Schulen mit vorzüglichem Erfolge
leitete, wieder eingehen. Anfangs machte es zwar der jungen Fran Freude, mit
den ihr gleichalterigen Jünglingen zu ihres Mannes Füßen als sein lernbegierigster
und bester Schüler zu sitzen und die leichtern algebraischen und schwerern Kopf-
rechenaufgabeu schneller zu lösen, als diese; aber sie wollte doch nicht zusehe«, wie
ihr Mann unter seiner ungeheuern Arbeitslast zusammenbräche, sie wollte auch
einmal mit ihm allein sein. Die Schüler nahmen ihr wohl manchmal ihr „Karl-
chen" ab und „warteten" es, aber sie ließen es wohl auch einmal hinfallen, und
daß das Jammergeschrei ihres Kindes sie nicht wohlwollender gegen die hoffnungs¬
volle pädagogische Jugend stimmte, kann man sich denken. Kurz, in diesem Stücke
hatte der Schulmeister um seiner sonst so sanften Frau seine« Herrn gefunden, und
daS Präparnndeumstitut löste sich wieder auf.
Die Nachbarschaft des schwiegerväterlichen Hnnses erwies sich als sehr an¬
genehm. Daß Butter, Milch und Eier in beliebiger Menge gratis geliefert wurden,
verstand sich von selbst, aber auch die Schinken, Würste und Speckseiten wanderten
den Moosbach hinunter, trotz des Knurrens der drei jüngern Brüder, die sie lieber
selbst gegessen hätten. Der Mann bekam wieder vollere Formen und sah ganz
anders aus als in jener Zeit, wo ihm zwar seine vierzig Vögel des Morgens wie
in einem Walde fröhlich cntgcgenschmetterten, wo er aber einen Monat lang jeden
Mittag die verwünschte rötliche Kirschcnsuppe auf seinem Tische fand. Er gedachte
noch manches Jahr auf dieser Stelle zu bleiben, aber es war im Himmel und auf
Erden schon anders über ihn beschlossen.
Noch wenige Wochen werden
vergehen und das Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemo¬
kratie vom 21. Oktober 1878 wird seine Wirksamkeit verlieren. Zunächst bis zum
31. März 1881 gegeben, wurde es viermal je auf die Dauer vou zwei Jahren
verlängert und zwar zuletzt durch Gesetz vom 18, März 1883 bis zum 30. Sep¬
tember 1890. Man mag über die Wirksamkeit der Bestimmungen des Gesetzes
und die den Behörden in die Hand gegebenen Machtbefugnisse gegen die sozialistische
Agitation verschiedner Ansicht sein: die Thatsache kann von keinem unbefangen
urteilenden Beobachter bestritten werden, das; die wilde und freche öffentliche Auf¬
lehnung gegen die Autorität des Staates durch das Svzialistcngesetz zurückgedrängt
wordeu ist und daß die Anhänger der bestehenden Staats- und Gesellschafts¬
ordnung nach und nach wieder zu dein Bewußtsein kamen, daß sie denn doch das
Recht haben, sich gegen diese zu wehren, die darauf ausgehen alles das zu ver¬
nichten, was die bestehende Ordnung für erhaltenswert erklärt.
Die Schranken, die das Svzialistengesetz diesem Treiben gezogen hatte, werden
mit dem 30. September d. I. fallen, und was wir nach diesem Zeitpunkte zu er¬
warten haben, können wir aus der Rührigkeit sehen, womit die sozialdemokratische
Partei sich auf die Ausnutzung der ihr wiedergegeben»? Schrankenlosigkeit rüstet.
Der Orgnnisntionsentwnrf der Partei ist bereits veröffentlicht worden, und es er¬
giebt sich ans ihm, daß alljährlich ein Parteitag stattfinden und dabei über alle
das Parteileben berührenden Fragen Beschluß gefaßt werden soll. „Über alle das
Parteileben berührenden Fragen" ist ein so erfreulich weiter Begriff, daß man
dnrch seine Aufstellung in die Lage gesetzt ist, Ah rsdus oirmidus se c^nbusä-irr aliis
zu reden. Man wird also mit Bequemlichkeit auf diesem Parteitage alles das
vortragen, was man zur Verhetzung der Klassen für zweckmäßig ansieht. Da
jedoch selbstverständlich eine jedes Jahr nur einmal gegebene Gelegenheit zu Brand¬
reden auch mit allen dnrch sie ermöglichten Vorbereitungen zur genügenden Er¬
zeugung des wünschenswerten Hasses nicht ausreicht, so ist durch die nunmehr
wieder freigegebene Agitation in Versammlungen und durch die Presse die Erzielung
dieses Erfolges aufs nachhaltigste verbürgt.
Es giebt vielleicht noch Leute, die glauben, mit dem 8 des Strafgesetz¬
buches eine brauchbare Waffe gegen diese Bestrebungen in der Hand zu haben;
viele werden es Wohl nicht mehr sein. Der genannte Paragraph droht Geldstrafe
bis zu sechshundert Mark oder Gefängnis bis zu zwei Jahren dem an, der in
einer den öffentlichen Frieden gefährdenden Weise verschiedne Klassen der Bevölke¬
rung zu Gewaltthätigkeiten gegen einander öffentlich anreizt. Schon der Laie sieht,
welche Reihe von Thatbestandseinzelheiten der betreffende Beschuldigte erfüllt bilden
muß, um bestraft werden zu können. Wer aber mit der Rechtspflege selbst zu
thun hat, der weiß, was es heißen will, durch alle die Klippen des Gesetzes selbst
und die sie uoch vergrößernden Auslegungen mancher Richter hindurch einen
Schuldigen der verdienten Strafe zuzuführen. Übrigens brauchen die sozicildemv-
kratischen Agitatoren sich der wenn auch uoch so geringen Gefahr der Bestrafung gemäß
dem s 130 des Strafgesetzbuches gnr nicht auszusetzen: es giebt Formen, in denen
ein geriebener Bursche alles sagen kann, ohne in den weiten Maschen des Strafgesetzes
hängen zu bleiben, und daß die sozialistische Partei solche Leute hat, ist bekannt.
Es war nicht möglich, die Verlängerung des Sozinlistengesetzes nach den Vor¬
schlägen der Negierung im letzten Reichstage durchzubringen. Zu einer der Mehrheit
des letztern passenden abgeschwächten Form wollte sich die Regierung nicht verstehen,
weil sie mit derart beschnittenen Mitteln nichts mehr zu erzielen hoffen konnte.
So kam überhaupt nichts zu stände, und wir gehen nunmehr einem Zustande ent-
gegen, bei dem die sozialdemokratische Partei ganz dieselben Rechte hat wie jede
andre Partei, bei dem also einer Partei, deren unverhohlenes Ziel die Vernichtung
der heutigen Staats- und Gesellschaftsordnung ist, die vollkommene Gleichberechtigung
mit den Parteien gewtthrt ist, die die bestehende Ordnung erhalten »vollen, bei dem
der erbitterte Feind des bestehenden Staatswesens von diesem selbst die Anerkennung
der Berechtigung seiner Bestrebungen erhält. Ob die eine oder die andre Richtung
in der sozinldemokratischen Partei die Oberhand gewinnt, ist vollkommen gleichgiltig,
denn das Ziel der verschiednen Richtungen ist ganz dasselbe: Beseitigung der be¬
stehenden Staats- und Gesellschaftsordnung. Die einen wollen dieses Ziel rascher,
die andern langsamer erreichen; erreichen wollen sie es alle, und nach den Er¬
fahrungen der Geschichte wird es wohl auch hier wieder die radikalere Richtung
sein, die den Sieg davonträgt.
Wir haben das volle Recht, einer Partei gegenüber, die uns den Krieg er¬
klärt und nach ihrem Programm gnr nicht anders kann, als unser Feind bis aufs
Messer zu sein (mag sie dies eingestehen oder nicht), die Verteidignngsmittel
zu gebrauchen, die notwendig sind, um ihren rechtswidrigen Angriff abzuwenden.
Wir befinden uus in dem Stande der Notwehr, und ob wir uns die erforderlichen
Verteidignngsmittel durch Erweiterung der entsprechenden Bestimmungen des ge¬
meinen Rechts oder durch ein sogenanntes Ausnahmegesetz schaffen, ist eine völlig
nebensächliche Frage; denn auch über ein solches kann sich eine Partei nicht im
mindesten beschweren, die die Berechtigung der bestehenden Staats- und Gesellschafts¬
ordnung leugnet, sich also selbst außerhalb des Bodens dieser Ordnung stellt.
Haben müssen wir solche Mittel, wenn wir nicht gezwungen sein sollen, mit ver¬
schränkten Armen zuzuschauen, wie die Grundmauern des Gebäudes eingerissen
werden, das mit seinem Falle Schuldige und Unschuldige erschlagen wird. Werden
uns diese Mittel noch rechtzeitig durch die Gesetzgebung gegeben, so haben wir das
unsrige gethan, um die drohende Gefahr abzuwenden; werden sie nicht gegeben,
dann werden uns die kommenden Ereignisse über den Weg belehren, den wir hätten
einschlagen sollen.
In die zweite Auflage meines Liederbuches
„Als der Großvater die Großmutter nahm" habe ich unter der Überschrift: „Alles
hat seine Zeit" folgendes Liedchen mit aufgenommen:
Lebe, liebe, trinke, lärme,
Kränze dich mit mir,
Schwärme mit mir, wenn ich schwärme,
Ich bin wieder klug mit dir.
Ich hatte es in dieser Fassung und mit dieser Überschrift gefunden in Beckers
Tascheubuch zum geselligen Vergnügen für 1791. Wo es heute noch in kindlich
fröhlicher Gesellschaft unter gegenseitigem Sichzuneigen und Anstoßen mit den Gläsern
gesungen wird, Pflegt es in etwas andrer Fassung zu erscheinen, nämlich so:
Lebe, liebe, trinke, schwärme
Und bekränze dich mit mir,
Harne dich, wenn ich mich härme,
Und sei wieder froh mit mir.
Diese Fassung ist aber augenscheinlich nur eine sentimentale Verwässerung der ersten;
auch die bis zum Schlüsse fortgehende eintönige Aufforderung, es in allem dem
Sänger gleichzuthun, fällt ab gegen die hübsche Schlußwendung in Beckers
Taschenbuch: Wenn du jetzt mit nur tollst, so verspreche ich dir, ein andermal mit
dir vernünftig zu sein. Über die Herkunft des Liedchens wußte ich nichts Weiter
beizubringen; nur so viel stand nur fest, daß es jedenfalls noch älter sei als 1791.
In einer der letzten Nummern der Neuen Zeitschrift für Musik (1890, Ur. 33)
erzählt nun N. Musivl, daß ihm (als Einpackepapier?) ein einzelner Bogen von
A, G. Meißners vierbändigen Roman Alkibiades unter die Hände gekommen
sei, und zwar wahrscheinlich ein Bogen aus dem dritten Bande des Romans, der
zwischen 1781 und 1788 erschienen sein müsse; dort singt Alkibiades das Liedchen
zur Leier genau in der Fassung wie in Beckers Taschenbuch. Und in der fol¬
genden Nummer der Zeitschrift (Ur. 34) greift O. von Hase den Gegenstand ans
und giebt noch weitere Nachweise. Er hat den ganzen Roman Meißners in der
Originalausgabe in den Händen gehabt, und da zeigt sich denn, daß die Stelle,
wo Alkibiades das Liedchen singt, folgende Anmerkung hat: „Alle Leser unsers
Hagedorns werden auch wissen, daß diese, von Ebert übersetzte, Stolle echt
griechischen Ursprunges und vom Athentins uns aufgehoben ist." Diese Anmerkung,
meint Hase, könne sich nur auf „des Dichters Hagedorn Abhandlungen von den
Liedern der alten Griechen" beziehen, wo in der That (im fünften Bande der
sämtlichen Werke Hagedorns, Wien, 1791) das Liedchen neben andern Stollen aus
dein Athenäus angeführt werde, Hase teilt endlich noch das griechische Original
mit, das bei Athenäus im fünfzehnten (oder, wie Hose berichtigen zu müssen meint,
ini funfzigsten)") Kapitel des fünfzehnten Buches steht und folgenden Wortlaut hat:
Ä!»' /«ot srxve, o-wi^a, »vo-rsz»av»?P>o^>««,
Da die Grcnzbotcnleser möglicherweise nicht so viel Griechisch verstehen wie die
Leser der Zeitschrift für Musik, so will ich das Skvlion übersetzen ; es heißt ans deutsch:
Trinke mit mir, sei jung mit mir, liebe mit mir, kränze dich mit mir,
Wenn ich tolle, so tolle mit mir, wenn ich vernünftig bin, so sei vernünftig mit mir.
Alle diese Nachweise sind nnn gewiß sehr dankenswert, aber sie bringen die
Sache noch nicht aufs Reine, und da sie doch einmal angerührt ist, so möchte ich
sie vollends erledigen. Ich frage: Wie ist die Anmerkung im Alkibiades zu ver¬
stehen? Wer ist nun eigentlich der Schöpfer der deutschen Fassung, Hagedorn oder
Ebert? Hat sich Hagedorn zu seinen Abhandlungen die griechischen Lieder von
Ebert übersetzen lassen? Und dann: Wie kommt der Übersetzer zu der witzigen
Umgestaltung am Schlüsse: Ich bin wieder klug mit dir? — Die Sache verhält
sich folgendermaßen.
Die angeblich Hngedornischen „Abhandlungen von den Liedern der alten
Griechen" sind zuerst gedruckt in Hagedorns Sammlung Neuer Oden und Lieder.
Zweyter Theil. Hamburg, 1744. Sie bilden zu diesem zweiten Teil eine mit
besondern Seitenzahlen versehene Zugabe. Im „Vorbericht" (datirt Hamburg, den
3. Juli 1744) weist Hagedorn auf die Zugabe hin mit folgenden Worten: „Zu
einer neuen Sammlung meiner vielleicht überflüssigen Oden und Lieder würde jichj
mich schwerlich entschlossen haben, wenn ich nicht zugleich das Vergnügen hätte,
dein Leser aus dem neunten Bande der Ilistorio no clss InsoriMons
se dsUss I^dei-Sö des gelehrten De la Nauze zwo beliebte Abhandlungen von den
Liedern'der alten Griechen in einer schönen Übersetzung zu liefern. Diese ist, schon
vor zwei Jahren, von dem Herrn Ebert abgefasset worden, der sowohl dnrch
Kenntniß der besten Sprachen und gründliche Wissenschaft als durch lebhaften und
echten Witz in einem Alter bereits ein Muster ist, in welchem so viele kaum glücklich
nachzubilden anfangen,"
Also weder Hagedorn noch Ebert ist der Verfasser jener beiden Abhandlungen,
sie sind ganz unberechtigterweise in die Gesanitansgaben der Schriften Hagedorns
aufgenommen worden. Der Verfasser ist ein Mitglied der französischen Akademie,
de la Ncmze, und Ebert ist der Übersetzer. Folglich müssen wir uns das französische
Original ansehen, und da sehen wir nun auch, wie Ebert zu seiner Schlußzeile
gekommen ist. In der Ausgabe des Athenäus, die de la Ncmze benutzte, stand die
zweite Zeile des Skvlions in folgender Lesart:
/<0i ^«/'^cOi 0N»-<»»H?^<»^</5,1 <7<»^o^t
was de la Ncmze ganz richtig übersetzt hat! ?-ütss <1os louff, yruurÄ s'on 5sah,
et ,Sö SSlÄi LSKS, ^ngnck vous Icz
Wie und seit wann das Liedchen in Deutschland volkstümlich wurde?
Schwerlich aus den Abhandlungen in Hagedorns Oden und Liedern. Wahrscheinlich
ist es erst ans dem Alkibiades, noch wahrscheinlicher erst ans Beckers Taschenbuch,
das das verbreiterte und beliebteste Taschenbuch des vorigen Jahrhunderts war,
nnter die Leute gekommen. Wenn ich also die Freude hätte, einmal eine dritte
Auflage meines Grvßvaterbuches zu erleben, so würde ich das Liedchen genau
wieder in der Fassung mitteilen, wie es jetzt drin steht, nur darunter setzen:
„1791 (1744). Johann Arnold Ebert" und in den Anmerkungen die nötigen
Nachweise dazu geben
G. wustmann
Nachdem „der Hund und der Ofen"
nun einmal Gegenstand kritischer Sprachforschung geworden sind, möge es gestattet sein,
dazu noch eine» kleine» Weisheitsbeitrag zu, liefern. In den Volkskreisen, in denen
der Schreiber dieser Zeilen zu Hause ist, lautet die Redensart so: „Damit lockt
mau keinen Hund hinterm Ofen vor." Wir möchten glauben, daß dies auch die
ursprüngliche Redeweise sei. Denn „hinter dem Ofen sitzen" ist eine sehr beliebte
deutsche Redewendung. Sie bezeichnet einen Ort, wo sich ruhig und behaglich
sitzen läßt. So sagt schon Luther in einer seiner Tischreden verächtlich von einem
Nichtsthuer: „Sitzt hinterm Ofen und brät Äpfel." In einem alte» Kinderverse
heißt es:
Fritz, StiecMtz dein Vogel ist tot,
Er sitzt hinterm Ofen und fuhr kein Brot.
so in dem bekannte» Körnerschen Liede:
Pfui über dich Buben hinter dem Ofen.
„Hintern Ofen" ist natürlich nicht der Raum zwischen dein Ofen und der Wand,
an der der Ofen steht. Denn an diese Wand lehnte sich der alte deutsche Ofen,
der von außen mit Holz geheizt wurde, unmittelbar an. Zwischen dem Ofen und
der nächsten Seitenwnnd lag aber in der Regel ein Raum, wo man sehr warm
und geschützt sitzen konnte, zumal wenn, wie dies öfters geschah, ein Lehnstuhl (auch
„Sorgeustuhl" genannt) dort aufgestellt wurde. Auf diesem Stuhl saß mau dann
„hinterm Ofen." Verzogene Hunde wußten aber auch, daß das ein guter Platz
sei, und legten sich gern dahin. Dann waren sie von dort schwer wegzubringen.
Daher die Redensart. Daß die Hunde unter dem Ofen lagen, kam nicht leicht
vor. Denn wenn auch die alten Holzöfen oft Miste hatten, so waren diese doch nicht
fehr hoch; und einem Köter, der sich unter den Ofen gelegt hatte, würde das Feuer
dicht auf den Rücken gebrannt haben. Das kann selbst ein Hund nicht vertragen.
Jedenfalls zeigen die Varianten in der Redeweise, daß es dem Sprachgeiste
nicht widerstrebt, sich das Verhältnis des Hundes zum Ofen verschieden gestaltet
zu denken. Auch so viel scheint uns sicher, daß man mit der Erhebung eines
Streites darüber einen Hund weder vom, noch aus dem, noch hinterm Ofen her¬
vor lockt.
Leben und Walten der Liebe. Von Sören Kierkegaard. Aus dem Dänischen über¬
setzt von Albert Dörner, Pfarrer. Zwei Teile in einem Bande. Leipzig, Fr. Richter, 1890
Wenn jemand etwas Phänomenales, ganz Originelles, in unsrer Zeit wirklich
noch nicht Dagewesenes lesen will, so greife er nach den Büchern Kierkegaards.
Oder findet man irgendwo sonst Bücher, in denen der Persönliche Gott, dessen
Daseinsunmöglichkeit ja seit hundert Jahren fast von allen Philosophen bewiesen
wird, den Mittelpunkt bildet, und deren philosophisch gebildeter Verfasser das
Christentum gerade so Predigt, wie noch hie und da ein Mütterlein in einem von
Touristen uoch uicht entdeckten Gebirgswinkel es glaubt? Das Christentum predigt,
uicht weil ihn sein Amt nötigt, oder aus Gewohnheit, oder aus Furcht vor den
Sozialdemokraten, sondern aus Herzensdrang und weils ihm sein Genüssen befiehlt?
Auch wer es nicht zu Kierkegaards lebendigem Glauben bringt, wird, wenn er ihn
liest, ehrfurchtsvoll sagen: Das ist ein wunderbarer Mensch und ein ganzer Mann!
In dem vorliegenden Buche tritt sein Grnndcharakterzug, die Traurigkeit, nicht so
grell hervor; ist doch auch der Gegenstand heiterer. Freilich, wer eine süßliche
Liebespredigt im Geschmack des vorigen Jahrhunderts erwartet, der wird das, ums
er zu lesen bekommt, nicht sehr heiter finden. So scharf wie möglich setzt
Kierkegaard der natürlichen Liebe, die selbstsüchtige Vorliebe sei, die selbstver¬
leugnende christliche Nächstenliebe entgegen, die keinen einzigen ausschließt. „Wir
wissen sehr gut, wo in unsrer Zeit das Unglück steckt: in den tändelnden und ein¬
schmeichelnden Svnulagsreden, dnrch die man das Christentum in eine Sinnes¬
täuschung und uus Christen in die Einbildung hineingeuarrt hat, wir seien auch
so Christen. Als das Christentum in die Welt kam, brauchte es uicht (obgleich es
das that) darauf aufmerksam zu machen, daß es der menschlichen Vernunft wider¬
strebte; denn das entdeckte die Welt leicht genug. Jetzt aber, wo ein gefallenes
Christentum mit der Vernunft eine Ehe eingegangen hat, jetzt muß das Christentum
vor allem selbst auf deu Anstoß Acht haben. Nur die Möglichkeit des Ärgernisses
(das Gegengift gegen den Schlaftrunk der Apologetik) ist imstande, den in Schlaf
versunkenen zu wecken, den Verzauberter zurückzurufen, sodaß das Christentum
wieder es selbst wird." Kann es in unsrer Zeit etwas Originelleres geben, als die
Bezeichnung Gift für die christliche Apologetik im Munde eines aufrichtigen Christen?
urch die Tagesblätter geht die Nachricht, daß bei der bevor¬
stehenden Steuerreform in Preußen auch die Erbschaftssteuer in
Betracht gezogen und namentlich in der Richtung erweitert werden
solle, daß auch Kinder und Eltern, sonne der Ehegatte des Erb¬
lassers, die alle bisher von der Erbschaftssteuer frei waren, ihr
unterworfen werden. Indem wir diese Frage zu besprechen unternehmen, wollen
wir sofort das Ziel, das nur vor Augen haben, offen hinstellen. Wir halten
die Steuer, soweit sie auf den Erbschnftserwerb von Seitenverwandten und
Familienfreuden gelegt wird, für eine wohl annehmbare, obgleich die häßlichen
Prozesse, die ans der so oft zweifelhaften Veranlagung der Steuer hervorgehen,
nicht gerade eine erfreuliche Beigabe sind. Für jene ferner stehenden Personen
hat in der That der Erbschaftserwerb meistens die Natur eines zufälligen, oft
ganz unverhoffte»! Gewinnes. Es ist nicht unbillig, wenn in einem solchen
Falle der Staat einen Anteil an diesem Gewinn beansprucht. Die Steuer wird
in der großen Mehrzahl dieser Fälle auch die Beteiligten nicht schwer treffen.
Ja wir würde» in der fraglichen Richtung noch einen bedeutenden Schritt
weitergehen. Wir können es nicht für ein Bedürfnis halten, Verwandten in
jeder beliebige» Entfernung die Erbschaft eines Verstorbenen zu eröffnen.
Solche, die nur durch Gemeinsamkeit eines der Urgrvßeltern mit dem Erblasser
verwandt sind, sollte man nicht mehr als erbberechtigte Verwandte anerkennen,
vielmehr da, wo sür eine Erbschaft kein näherer als solche Verwandte und auch
keine Testamentserbcn vorhanden siud, die Erbschaft in ihrem ganzen Umfange
dem Staate und — was wohl der Gerechtigkeit entspräche — zu einem Teile
auch der Gemeinde, der der Erblasser angehörte, überweisen. Man wird nach
diesem Vorschlage uns nicht in den« Verdacht haben können, daß nur nicht den
Privatinteressen gegenüber auch dem öffentlichen Interesse jede gebührende
Berücksichtigung angedeihen lassen möchten. Dagegen sind wir keine Freunde
der Erbschaftssteuer, die auf die Erbschaft der nächsten Angehörigen des Erb¬
lassers, der Kinder, Eltern und Ehegatten, gelegt werden soll. Wenn die Gründe,
die wir für unsre Ansicht hier geltend machen, zum Teil solche sind, die gegen
die Erbschaftssteuer überhaupt geltend gemacht werden können, so wird es doch
gestattet sein, sie in Verbindung mit noch weitern Gründen anzuführen, und
zwar umsomehr, als sie bei der Erbschaft der nächsten Angehörigen noch schwerer,
als in andern Fällen, ins Gewicht fallen.
Wenn man dem sozialdemokratischen Gedanken folgt, so hat die Familie
— wir verstehen diesen Begriff im engern Sinne, wo sie sich auf das Ver¬
hältnis von Ehegatten, Eltern und Kindern beschränkt — im öffentlichen
Leben keine Berechtigung mehr. Die Ehe ist nur eine nach und auf Belieben
eingegangene Geschlechtsverbindung. Die Kinder gehen eigentlich die Eltern
nichts mehr an; vielmehr hat der Staat, der sie den Eltern wegnimmt, die
Aufgabe, sie auf seine Kosten, aber auch »ach seinem Belieben erziehen zu
lassen. Sittliche Bande, die die Familie zusammenhielten, werden nicht mehr
anerkannt. Auf diesem Wege kann man allerdings dahin gelangen, zu sagen:
Ein auf Verwandtschaft gegründetes Recht der Veerbnng giebt es nicht mehr.
Vielmehr muß alles, was der Einzelne bei seinen Lebzeiten aus der Gemein¬
schaft heraus erworben hat, mit seinem Tode auch wieder in die Gemeinschaft
zurückfließen, also an den Staat fallen. Dieser Ansicht steht aber eine, glück¬
licherweise noch tief im Bewußtsein unsers Volkes lebendige Anschauung gegen¬
über, die in der Familie eine durch die Natur gegebene lebendige Einheit er¬
blickt, eine Einheit, die dnrch keine menschliche Willkür aus einander gerissen
werden kann. Die rechten Ehegatten sühlen in der engen Lebensgemeinschaft,
die sie eingegangen haben, sich nur als eins. In ihren Kindern aber — das
ist ein Gefühl von Millionen — leben die Eltern, mich wenn sie sterben, das
irdische Leben fort. Deshalb wird aber auch, wenn ein Glied dieser natür¬
lichen Einheit stirbt, der dadurch herbeigeführte Vermögeusübergcmg (der ja
auch uach deu bestehenden Rechten, zum Teil wenigstens, den Familiengliedern
gar nicht entzogen werden kann) nicht als ein gemachter Gewinn empfunden,
sondern die überlebenden Familienglieder treten nnr nach bestimmten Regeln
in die Ausübung der Rechte ein, die ihnen in gewissem Sinne schon bisher
zustanden. Dieser Auffassung aber widerspricht es, wenn uun der Staat sich
dazwischen drängt und den Familiengliedern, die ohnehin in der großen Mehr¬
zahl der Fälle durch den eingetretenen Tod schmerzlich berührt sein werden,
zuruft: „Ihr habt hier einen Gewinn gemacht; davon gebt nun erst einmal
dem Staate seinen Teil ab." Es ist das ein herzloses Dazwischenfahren.
Man wird vielleicht sagen, daß dies eine etwas sentimentale Auffassung der
Sache sei. Wir halten es nicht dafür. Der Staat hat allen Grund, dieses
lebendige Familiengefühl zu schonen und keine Gesetze zu erlassen, die, wie man
auch die Sache wenden mag, an den sozialdemokratischen Gedanken anklingen.
Wenn wir nun auch von dieser Grundauffassung ausgehe«, daß die Erb¬
schaftssteuer in ihrer Anwendung auf die nächsten Familienglieder dem innersten
Wesen der Familie widerspricht, so haben wir doch noch eine Reihe weiterer,
unmittelbar praktischer Gründe für unsre Ansicht.
Steuern zahlt niemand gern. Und doch muß der Aufwand des Staates
und der Gemeinde aus den Beiträgen ihrer Bürger bestritten werden. Eben
deshalb aber, weil nun einmal die Zahlung von Steuern einem nicht auszu¬
tilgenden Widerwillen begegnet, ist es uuter allen Umständen für den Staat
ratsam, die Steuern so aufzulegen, daß sie von den Zahlenden am wenigsten
empfunden werden. Nun könnte man ja wohl sagen: Die Erbschaftssteuer ist
gerade in dieser Beziehung eine vortreffliche Steuer, denn sie nimmt niemand
etwas, was er schon hat, fondern sie nimmt nur einen Teil von dem, was
jemand erst gewinnen will. Ob aber diese Auffassung bei der Beerbnng
durch die nächsten Angehörigen dein Bewußtsein der Menschen entspricht, ist
doch sehr fraglich. Kinder, Eltern und Ehegatten werden stets die Erbschafts¬
steuer empfinden als Wegnahme eines Stückes von dem Vermögen, das ihnen
schon gehört. Dann aber trifft die Erbschaftssteuer der Vorwurf, daß sie zu
viel auf einmal nimmt. Sie nimmt nicht ein Stück von dem Einkommen der
Menschen, das jeder als die natürliche Grundlage der Besteuerung ansieht,
sondern sie nimmt ein Stück Kapital, und darin liegt für das natürliche Ge¬
fühl etwas Verletzendes.
Nicht minder verletzend wird es in vielen Füllen empfunden werden, daß
die Erbschaftssteuer nötigt, den ganzen Bestand des ererbten Vermögens offen
darzulegen. Meistens betrachten es die Witwe und die .Kinder als eine Ehrensache,
nach dem Tode des Mannes und Vaters das von diesem betriebene Geschäft fort¬
zuführen. Bekanntlich ist es aber uach Lage der Verhältnisse für die Beteiligten
oft von großem Interesse, daß der Stand eines Vermögens nicht offenkundig
werde. Man braucht hierbei nicht an angehende Bankerottirer zu denken. In
manchen geschäftlichen Betrieben wogen die Vermögensverhältnisse auf und ab.
Ein zur Zeit schwach gehendes Geschäft kann sich auch wieder erholen, wenn
es nicht das öffentliche Vertrauen verliert. Gur mancher Kaufmann zahlt zur
Erhaltung seines Kredits die ihm auferlegte Einkommensteuer unverändert fort,
auch wenn sein Geschäft eine Periode durchmacht, die ihn zu einer Herabsetzung
wohl berechtige» würde. Tritt nun aber ein Todesfall ein, dann soll das
ganze Vermögen, der Bestand aller Schulden u. s. w. offen dargelegt werden,
nur damit der Staat seine richtige Steuer erhalte. Daß damit unter Um¬
ständen ernste Verlegenheiten bereitet werden, liegt auf der Hand. Denn zur
Angabe rein fiktiver Werte als Vermögen wird ein Erbe sich doch nicht leicht
verstehen.
Meistens pflegt man bei der Erbschaftssteuer nur an „lachende Erben"
zu denken, und diesen gegenüber kann man sogar eine gewisse Befriedigung
fühlen, daß ihnen von dem unverhofften Gewinne der Staat etwas abnimmt.
In dem nächsten Familienkreise aber liegen die Verhältnisse durchaus nicht
immer so. Oft ist für diese schon der Todesfall an sich ein schweres Unglück.
Wenn ein Vater, der durch seine geistige Thätigkeit (als Geschäftsmann, Arzt,
Anwalt u. f. w.) seiner Familie ein Leben in reichlichem Wohlstand ermöglichte,
plötzlich vom Tode dahingerafft wird, dann fragt wohl alle Welt erschrocken:
„Ist denn wenigstens einiges Vermögen vorhanden, von dem die unglücklichen
Menschen notdürftig leben können?" Wenn dann aber zu allererst der Staat
nach denn wenigen Vermögen feine Hand ausstreckt und sagt: „Erst muß ich
meine Steuern haben!" und wenn dann die schwer betroffene Familie auch
noch als erste Folge des Todesfalles die widerwärtigen Plackereien erledigen
muß, mit denen die Feststellung der Erbschaftssteuer unabweislich verbanden
ist, so macht das den peinlichsten Eindruck.
Eine Steuer, die in ihren hohen Beträgen auf das menschliche Gefühl
oft so verletzend wirkt, wird stets die Versuchung anregen, sich ihr zu ent¬
ziehen. Mancher, der einer vollen Besteuerung feines Einkommens vielleicht
nicht widerstreben würde, wird sich doch kein Gewissen daraus machen, an der
hohen Summe einer Erbschaftssteuer so viel wie möglich zu kürzen. Die
hierfür gegebene Möglichkeit ist aber durchaus verschieden je nach der Art des
ererbten Vermögens. Wer Grundeigentum erbt, würde, da dieses offen vor¬
liegt, dessen ganzen Wert versteuern müssen. Anders, wenn die Erbschaft in
beweglichem Vermögen besteht. Den größten Bestand des beweglichen Ver¬
mögens bilden heutzutage Wertpapiere auf Inhaber. Sowie man aber nie¬
mandem ansieht, wie viel Wertpapiere er besitzt, so sieht mau auch keinem
Wertpapier um, woher es stammt. Zunächst kann nun der Erblasser selbst die
Steuer umgehen. Wenn er seinen Tod herannahen fühlt, so giebt er noch
lebend sein Vermögen seineu Angehörigen in die Hände, und dann ist es der
Erbschaftssteuer entzogen. Aber auch dem Erben selbst wird es in den meisten
Füllen nicht allzu schwer werden, sich der Steuer zu entziehen. Wenn er in
dem Geldschranke des Erblassers Wertpapiere im Betrage von 500000 Mark
vorfindet, bei der Steuerbehörde aber nur 100000 Mark als gefunden an¬
giebt, wer will ihm das Gegenteil beweisen? Natürlich sind die nächsten An¬
gehörigen des Erblassers, die mit ihm zusammen wohnen oder im Hause ab-
und zugehen, uoch weit besser als jeder andre Erbe in der Lage, den Bestand
des Vermögens zu unterdrücke». Und tausendfach wird von dieser Möglichkeit,
wie man auch über die sittliche Seite der Sache denken mag, Gebrauch ge¬
macht werden. So wird diese Steuer dadurch, daß der wirkliche Zwang zu
ihrer Entrichtung die Einzelnen ganz verschieden trifft, thatsächlich auch zu
einer relativ ungerechten.
In dieser Darlegung liegt zugleich die Kritik des öfter gehörten Aus-
spruchs, man müsse die Erbschaftssteuer einführen als Ersatz dafür, daß es so
schwer sei, mit der Einkommensteuer dem wirklichen Vermögen beizukommen.
Wird der Staat bei der Einkommensteuer getäuscht, so wird er bei der Erb¬
schaftssteuer, die er von den nächsten Angehörigen fordert, erst recht getäuscht
werden.
Wir würden vielleicht Bedenken tragen, über alle diese Dinge ein so ent-
schiednes Urteil auszusprechen, wenn wir nicht bereits ein gewisses Maß von
Erfahrung für uns hätten. Während Kinder und Eltern niemals in Preußen
der Erbschaftssteuer unterworfen waren, hatte man dagegen früher Ehegatten
mit dieser Steuer, allerdings nur in dem Betrage von einem Prozent, belegt.
Dieses Recht wurde im Jahre 18K7 auch auf die neuen Provinzen übertragen
(wo bis dahin zum Teil gar keine Erbschaftssteuer bestanden hatte). Dort
aber machte sich diese Steuer in ihrer Richtung ans Ehegatten überaus
schmerzlich fühlbar. Die königliche Regierung entschloß sich daher schon im
Jahre 1872, sie für das ganze Land aufzugeben. Die Motive des damals
dem Landtage vorgelegten, dann auch am 30. Mai 1873 erlassenen Gesetzes
bezeugten die unendlichen Schwierigkeiten, die die Anwendung dieser Steuer
bei der großen Verschiedenheit der bestehenden ehelichen Güterrechte gemacht
habe. „Das Bestreben, behufs Milderung der offenbaren Ungleichheiten in
der Besteuerung besondre Grundsätze über den Umfang dessen, was dein über¬
lebenden Ehegatten als erbfchaftlicher Erwerb anzurechnen sei, festzusetzen, hat
keinen Erfolg gehabt und hätte ihn nur bei rücksichtsloser Nichtbeachtung der
lokalen Rechte und der gerade in diesem Punkte lebendigen Rechtsauffassung
der Bevölkerung haben können. Einen derartigen .Kampf rein fiskalischer
Grundsätze mit dein bürgerlichen Rechte in einer so wichtigen Materie einzu¬
gehen, erscheint schon im Hinblick auf die sich stets erneuernden lebhaften Be¬
schwerden nicht ratsam, selbst wenn höhere Rücksichten dazu antreiben sollten.
Dazu kommt, daß gerade die Feststellung der Steuer von Ehegatten häusig
besondre Schwierigkeiten thatsächlicher und rechtlicher Natur darbietet, vor¬
nehmlich aber, daß sie öfters vermöge des lediglich der Steuerberechnung wegen
eintretenden Zwanges zur Klarstellung und Darlegung der ehelichen Vermögens-
verhältnisse in hohem Grade lästig fällt, ja sogar zu weitern Nachteilen,
Zwistigkeiten und Prozessen unter den Interessenten u. s. w. Veranlassung giebt."
So lautete das Zeugnis, das die königliche Regierung selbst der damals be¬
stehenden Steuer ausstellte. Man kann mit einem Worte sagen: Die Be¬
steuerung des überlebenden Ehegatten hatte sich als unerträglich erwiesen.
Wenn man um dies alles bereits im Jahre 1872 klar vor Augen gehabt hat,
wie kann man da im Jahre 1890 doch wieder auf diese widerwärtige Steuer
zurückgehen und noch durch Ausdehnung derselben aus Kinder und Eltern ihre
Gehässigkeit verdreifachen? Und dabei ist noch in der obigen Darstellung ein
Nachteil mit Stillschweigen Übergängen, der in unsern Augen am schwersten
wiegt: die bei einer solchen Steuer eintretenden zahllosen Hinterziehungen und
die damit unvermeidlich verbundene Entsittlichung des staatlichen Bewußtseins.
Nun wird man vielleicht sagen: Der Staat muß doch leben. Woher soll
er denn nun die Mittel für seinen Bedarf nehmen?
Es kann offenbar nicht die Aufgabe dieses Aufsatzes sein, ein völlig ge¬
rechtes und zuträgliches Steuersystem auszumalen. Aber wir können uns doch
einige Andeutungen in dieser Richtung nicht versagen. So weit es sich darum
handelt, die direkten Steuern einträglicher zu machen, würden wir jede Erhöhung
der Besteuerung des laufenden Einkommens, zumal des kapitalistisch begründeten,
für besser halten, als eine Erbschaftssteuer, durch die bei der zufälligen Ver¬
anlassung eines Todesfalles den nächsten Hinterbliebenen ein Stück des ererbten
Kapitals genommen wird. Wir stimmen aber anch mit der einstmals von dem
Fürsten Bismarck geäußerten Ansicht überein, daß eine Erweiterung der in¬
direkten Steuern, von denen nicht gerade die notwendigsten Lebensbedürfnisse
getroffen werden, und bei denen deshalb jeder das Maß, in dein er sich der
Steuer unterwerfen will, selbst in der Hand hat, besser wirken, als hohe direkte
Steuern, deren völlig gerechte Verteilung doch in menschlichen Verhältnissen
eine Uinnöglichkeit ist. Welche Gegenstände für die Erhöhung der indirekte»
Steuern noch nutzbar gemacht werden könnten, soll hier nicht in weiteren Um¬
fange erörtert werden. Aber wir können doch nicht umhin, wenigstens auf
einen Gegenstand hinzuweisen. Das ist das Vier. Nächst dem Tabak ist das
Bier der bei weitem geeignetste Gegenstand der Besteuerung. Es wird in
ungeheuern Massen genossen und ist doch nichts andres, als ein Genußmittel.
Oder will man vielleicht behaupten, daß es heute schon ganz unmöglich ge¬
worden sei, mit Wasser seinen Durst zu stillen? Gleichwohl ist bei uus das
Bier bis auf den heutigen Tag nur von einer lächerlich niedrigen Steuer ge¬
troffen. Vor einigen Jahren hat man den Branntwein, diesen Labetruuk des
armen Mannes, erheblich höher besteuert. Das Bier, das Getränk der wohl¬
habenden Klassen, ist frei geblieben. Man sagt: Der Branntwein ist ein
schädliches Getränk, er zerrüttet die Gesundheit. Mag sein. Aber in der
Masse, wie das Bier vo» vielen getrunken wird, ist es auch sicherlich der
Gesundheit nicht förderlich. Auf unsern zahlreichen Festen, bei Volksversamm¬
lungen, Landpartien n. s. w. fließt das Bier in Strömen durch die Kehlen.
Es wäre interessant, festzustellen, wie viel z. B. jüngst bei dem Schützenfeste
in Berlin und bei dem Sängerfeste in Wien an Bier genossen worden ist.
Dazu kommt die Verschwendung der Zeit, der kostbaren Zeit, die an unsern
ständigen Biertischen jahraus jahrein, früh und spät, von Alt und Jung
versimpelt wird. In Deutschland wird jährlich etwa für eine Milliarde Mark
Bier getrunken. Mit einer Steuer, die den Preis des Bieres nur um ein
Zehntel erhöhte, würden also um hundert Millionen gewonnen werden. Wäre
es nun zu hart, wenn unsre Biertrinker sich je den zehnten Schoppen versagten,
um dessen Preis dein Reiche zuzuwenden? Es ist ja nicht schwer zu erkennen,
weshalb eine höhere Besteuerung des Bieres bisher uicht gelungen ist. Es
ist nur schwer, offen darüber zu reden.
Wollte unsre Staatsweisheit sich dahin richten, das Shstei» der indirekten
Steuern sachgemäß auszubilden, so würde man eine so verletzende Steuer, wie
die Erbschaftssteuer in ihrer Anwendung auf Kinder, Eltern und Ehegatten
ist, füglich entbehren tonnen.
erfolgen Nur den Wandel der Sittlichkeit in der Zeit, so finden
wir einerseits immer reichere Entfaltung ursprünglicher Gefühle,
anderseits Hin- und Herschwingen dieser Gefühle um einen Gleich-
gewichtspnnkt und gleichmäßig fortschreitende Verfeinerung und
Verzweigung der sittliche» wie der unsittlichen Gefühle und ihrer
Äußerungen. Fassen wir die gleichzeitigen sittlichen Erscheinungen eines Volkes
oder der ganzen Menschheit ins Auge, so bemerken wir eine große Mannich-
faltigkeit verschiedner, ja einander widersprechender sittlicher Grundformen:
Persönlicher, Berufs- und Völkertypen.
Den persönlichen liegen die Temperamente zu Grunde. Sehr Sittenstrenge
Menschen zeichnen sich selten durch Barmherzigkeit aus, und gütige Naturen
sind oft ein wenig liederlich. Tüchtigen Hausfrauen muß man aus dem Wege
gehen, wenn sie gerade bei der großen Reinigung oder mit der Zurüstung zu
einem Festmahl beschäftigt sind, weil ihnen da leicht irgend ein unästhetischer
oder harter Gegenstand aus der Hand und dem Störer an den Kopf fliegt,
Frauen von himmlischer Sanftmut hingegen sind nicht selten Schlampen und
machen den Mann mit angebrannten Suppen krank.
Daß sich eines nicht für alle schicke, gilt nirgends unbedingter als bei
den verschiednen Berufsständen. Der Aristokrat darf kein Pfennigfuchser sein,
der Handelsmann muß es sein. Umgekehrt muß der Aristokrat, namentlich
wenn er Offizier ist, gegen die leiseste Verletzung seiner Ehre empfindlich sein,
wahrend der Handelsmann sein Geschäft und die Existenz seiner Familie ge¬
fährden würde, wenn er sich nicht so manches kränkende Wort, so manche
Nichtachtung, so manche unverschämte Zumutung gefallen ließe. Man mag
die Verwerflichkeit des Duells aus der Vernunft und aus der Bibel sonnen¬
klar und unwiderleglich beweisen, so viel steht trotzdem fest: an dem Tage,
wo der Offizier, der auf öffentlichem Markte beleidigt wird, anstatt sich selbst
Genugthuung zu verschaffen, eine Klage einreicht, an diesem Tage machen wir
einen Strich durch die Worte Adel, Aristokratie, Rittertum, Offizierstand.
Will man diese historischen Erscheinungen, diese Bestandteile des Staate? der
folgerichtigen Durchführung der christlichen Sittenlehre zum Opfer bringen, so
mag mau es thun; aber man soll wenigstens wissen, was man thut. Schon
bei der Beurteilung des Knaben tritt dieser Widerspruch zwischen einer einzelnen
sittlichen Anforderung und dem Gesamtcharakter hervor; denn fast jeder Knabe
ist von Natur ein Ritter, zum nützlichen Gliede der Gesellschaft, das sich alles
gefallen läßt, wird er erst — herabgezogen. Wenn ein vierzehnjähriger Knabe
von einem Kameraden beleidigt wird und diesen weidlich zerbläut, so erleidet
er, falls es herauskommt, eine Schulstrafe, und sein Vater tadelt oder straft
ihn vielleicht nochmals, aber mit freudigen! Stolz im Herzen. Pelze er über
deu Beleidiger an, der sich vielleicht strafbarer unflätiger Worte bedient hat,
so handelt er gesetzmäßig (überall allerdings nicht; ich kenne eine Erziehungs¬
anstalt für Sohne des Adels, wo, wenigstens vor zwanzig Jahren noch, alles
Deuunziren streng verboten war) und nach den heute herrschenden Begriffen
sogar moralisch, da es als Pflicht gilt, jedes Vergehen zur Kenntnis des
Richters zu bringen; der Vater aber wird seinen höchst loyalen und moralischen
Sohn — im Herzen verachten. Herbart hat als Hauslehrer einmal etwas
sehr merkwürdiges in sein Tagebuch eingetragen. Er getraute sich nicht, seinen
Zöglingen die christliche Sittenlehre mitzuteilen; deun, schreibt er, kennten sie
diese, so müßten sie die abendlichen Schlägereien mit den Dorfjungen für
unrecht halten; diese sind aber uUentbehrlich als gesunde Bethätigung ihrer
Kuabeuuatur und zur Bildung ihres männlichen Charakters.
IiA8oibi1llÄ8 nannten die Scholastiker jene Stimmung, die bei Überwindung
von Hindernissen entsteht. Das Wort ist weder schön noch klassisch, aber gut.
Sehen nur uns einen Menschen an, der sich gegen eine Hvlzkiste stemmt, um
sie durch Umkippen fortzubewegen. Was er empfindet bei der Anspannung
aller seiner Muskeln und während ihm das Holz die Schulter wund reibt,
ist ungefähr das Gegenteil von der Empfindung des fröhlich schmausenden
oder tanzenden. Sein dunkelrvtes, von scharfen Falten durchfurchtes Gesicht
sieht zornig aus; und laßt einen dummen Jungen ihn necken in dem Augen¬
blicke, wo er die Kiste schon beinahe zum Kippen gebracht hatte, so sollt ihr
sehen, wie sich der Zorn entlädt. Daher finden wir es natürlich, daß sich
Leute, deren Berufsarbeit ein fortmährender Kampf mit Hindernissen ist, das
Fluchen angewöhnen, und einem lammfrommen, aalglatten, geduldigen Fuhr¬
knecht, Matrosen oder Unteroffizier würden wir nicht trauen, ob er tüchtig in
seinem Berufe sei. Dagegen fordern wir von der Barmherzigen Schwester
eine Sanftmut, die sich durch keine Schwierigkeit in der Beschaffenheit oder
dem Benehmen ihrer Pfleglinge erbittern läßt.
Dieser Gegensatz führt uns ans den Unterschied des männlichen von weib¬
lichen Typus. In dem Widerwillen gegen das Mannweib und den weibischen
Mann ist alle Welt einig, und alles, was sich darüber sagen ließe, ist bekannt.
Aber eine Seite der Sache müssen wir doch wenigstens erwähnen, weil darüber
in neuerer Zeit Streit entstanden ist. Außerhalb der theologischen Welt war
man bis vor kurzem allgemein der Ansicht, daß auch das Verhalten in ge¬
schlechtlicher Beziehung beim Manne anders zu beurteilen sei als beim Weibe.
Das wird seit einigen Jahren von zwei entgegengesetzten Seiten her heftig
bestritten; eine streng christliche Partei will den Mann denselben Beschränkungen
unterwerfen, die von jeher für das Weib gegolten haben, und eine naturalistische
Partei beansprucht für das Weib die Freiheiten des Mannes. Wir lassen
uns auf eine Untersuchung des heikeln Gegenstandes nicht ein, sondern erinnern
nur daran, daß E. von Hartmann in einem seiner Aufsätze sich zu der ältern
und wohl auch heute noch ziemlich allgemein herrschenden Ansicht bekennt.
Ich kaun mich nicht mehr erinnern, ob er die beiden Gründe dafür anführt,
die mir als die stärksten erscheinen. Der eine, ein physiologischer, läßt sich
hier nicht darlegen. Der andre hingegen, ein sittlicher, verdient, wie mir
scheint, allgemeine Beachtung und gründliche Prüfung. Das Weib hat von
Natur uur einen Beruf: deu der Hausfrau, der Gattin und Mutter. Ohne
Züchtigkeit kann dieser Beruf nicht erfüllt werden; daher ist ein unzüchtiges
Weib für ihren Beruf ungeeignet, sie ist ein verdorbenes Weib, ein Weib
zweiter Klasse. Beim Manne fällt der Beruf mit seiner Stellung als Gatte
und Vater nicht zusammen. Er hat seineu besondern Beruf; in zweiter Linie
ist er Bürger, Mitglied eines Gemeinwesens, und erst in dritter Hausvorstand
und Fmnilienhcinpt, welche zwei Würden noch dazu getrennt vorkommen.
Ein Mann kann groß in seinem Beruf und ein hochverdienter Bürger, dabei
aber ein schlechter Gatte, Vater und Hansvorstand sein. Er kann auch ein
guter Hausvorstand, aber trotzdem ein schlechter Gatte und Vater sein. Er
kann endlich sogar ein guter Gatte und Vater sein und doch vor der Ver¬
heiratung anders gelebt haben, als man von einer zukünftigen Gattin und
Mutter unbedingt zu fordern berechtigt ist. Und während man von dem idealen
Weibe erwartet, daß sie in ihrem häuslichen Beruf aufgehe, erwartet mau
von einem idealen Manne gerade das Gegenteil. Ja es ist die Ansicht ent¬
standen, und nicht allein von Plato und der katholischen Kirche, sondern auch
von einzelnen protestantischen Fürsten und Gelehrten vertreten worden, daß
sich mit gewissen hohen, den ganzen Menschen in Anspruch nehmenden Berufs¬
arten das Familienleben schlecht oder gar nicht vertrage. Auch pflegt es
Fürsten, Künstlern und andern hervorragenden Personen, die in ihrem Berufe
Großes leisten, nicht allem von ihren Verehrern, sondern vom ganzen Bolle
verziehen zu werden, wenn sie in jenem Punkte zu wünschen übrig lassen.
Sind sie auch hierin untadelhaft und Vorbilder des Volkes, wie die meisten
Hohenzollern und Fürst Vismarck, so wird das als eine besondre Gnade Gottes
gepriesen, aber allgemein erwartet wird es nicht. Anderseits sieht man Frauen,
die gleich den Männern einen besondern Beruf ergreifen, nach Emanzipation
streben. Unter den Herrscherinnen hat Maria Theresia eine rühmliche Aus¬
nahme gemacht. Daß die höchst achtbaren Mädchen, die unter den heutigen
unnatürlichen Verhältnissen nach Münnerart einen förmlichen Beruf ergreifen,
der nicht wie der frühere Dienstbotenstand eine Vorbereitung aus den Haus-
frciuenstand ist, daß diese Mädchen der großen Mehrzahl nach auf das weibliche
Ideal weder im Herzen verzichten noch ihm im Leben untreu werden, wollen
wir gern glauben, begreifen aber zugleich auch, wie unter solchen Umständen
Emanzivationsgelüste und widernatürliche Theorien entstehen müssen. Mag
man nun von der ersten der beiden oben genannten Richtungen denken, wie
man will, um der Verwerflichkeit und Schädlichkeit der zweiten kann nicht ge¬
zweifelt werden; überwunden könnte sie freilich nur werden dnrch die Beseitigung
der Verhältnisse, aus denen sie entspringt.
Vom Geistlichen verlangt man vor allem diejenige Sittlichkeit, die ich
negativ nennen würde, wenn dieser Ausdruck uicht meistens in einem andern
Sinne gebraucht würde; man nimmt es ihm mehr als andern übel, wenn er
durch lasterhafte Gewohnheiten und augenfällige Vergehungen Anstoß und seiner
Gemeinde ein schlechtes Beispiel giebt, durch seinen Wandel seine eigne Predigt
verhöhnt. Dagegen beurteilt man den Staatsmann, den Feldherr», deu Künstler
und den Geschäftsmann nach ihren positiven Leistungen. Dem Staatsmann
und Feldherrn nimmt man harte Maßregeln, die das Gemeinwohl forderte,
dem Künstler seine Liebesabenteuer nicht übel, und wer mit kühnem Wagen
Millionen gewinnt, bei dein spürt man nicht nach, ob auch kein ungerechter
Pfennig dabei ist. Man weiß es eben: wo geschmiedet wird, da giebts Rauch,
und wo gezimmert wird, da fliegen Späne; in der Werkstatt kann es nicht
aussehen wie in der Putzstube, und beim Banen häuft sich Schmutz. Wir
sehen, der geistliche Stand hat darin einige Ähnlichkeit mit dem Weibe und
verkümmert auch gleich diesem, indem er aus Furcht vor Anstoß einer ener¬
gischen und vielumfassenden Thätigkeit ängstlich ans dem Wege geht, leicht zu
einem engherzigen, lultnrarmen Wesen. Der katholischen Kirche, in der das
geistliche Element so entschieden vorherrscht, ist der weibliche Charakter ganz
deutlich aufgeprägt, obwohl ihr Klerus und Volk dem Ideal weiblicher Rein¬
heit, das sie hochhalten, öfter ungetreu geworden als treu geblieben siud.
Damit hätten wir einen passenden Übergang zu den Vollsthpen, denn
die Romanen stehen, wie Fürst Vismarck einmal treffend bemerkte, als weib¬
liche Seelen dem männlichen Geiste des deutschen Volkes gegenüber, und in
höherm Grade und etwas andrer Weise zeigen die Slawen ein weibliches, oft
weibisches Benehmen. Allem wir gehen an diesem umfangreichen Gebiete vor¬
über und schließen die obige Gedankenreihe mit der Bemerkung, daß auch die
Beurteilung der Adiaphora — sofern solche zugelassen werden — von der
Beschaffenheit des Typus abhängt, an dem sie beobachtet werden. Ein Greis,
ein greisenhaft aussehender Greis, der mit jungen Mädchen in: Walzer herum¬
hüpft, wirkt widerlich, doppelt und dreifach widerlich, wenn er ein hohes geist¬
liches Amt bekleidet. Dagegen mißfällt uns ein junger gesunder Bursch, der
sich gänzlich des Tanzens enthält, ganz entschieden und mit Recht. Möglicher¬
weise steckt ein Heiliger oder ein großer Denker in ihm; in den meisten Fällen
aber werden wir je nach seinem Aussehen vermuten, daß er entweder ein un¬
geschickter Tölpel oder eine Schlafmütze oder noch etwas schlimmeres sei;
vielleicht auch hat er Anlage zu einem menschenfeindliche» Fanatiker.
Die Verschiedenheit und Unvereinbarkeit der sittlichen Grundformen zeigt
aufs deutlichste, daß sich die mancherlei sittlichen Lebensäußerungen nicht aus
einer gemeinsamen Wurzel ableiten lassen, weder begrifflich noch thatsächlich.
Liebe und Rechtssinn sind zwei grundverschiedne Empfindungen, und weder ist
es möglich, die eine aus der andern, noch beide aus einer dritten Empfindung
oder einem Triebe abzuleiten. Wie sollte der heiße«? Selbsterhaltungstrieb?
Dein wirken Liebe und Gerechtigkeit oft gerade entgegen. Altruismus? Das
ist bloß ein schlechtes neues Wort für das gute, alte Wort Liebe. Liebe und
Gerechtigkeit sind zwar vielfach mit einander verflochten, sodaß die eine sehr
oft die Anwendung der andern fordert; allein oft genug widersprechen sich ihre
Forderungen und versetzen uns in die Seelenangst eines Gewissenskonflikts.
Nicht besser steht es mit der theoretischen Ableitung aller sittlichen Pflichten
ans einem einzigen Grundsätze, sie ist uoch niemanden: gelungen; wie wenig
z. B. der Satz Kants ausreicht, ist den Lesern der Grenzboten bekannt. Und
wohin würden wir mit der neuerdings empfohlenen Ableitung der Sittenlehre
ans dem Deutschtum geraten! Würden sich die Gelehrten noch vorm jüngsten
Tage über den Begriff des Deutschtums einigen? Und wäre dem Vaterlande
uuter allen Umständen gedient, wenn jeder einzelne seiner Söhne ein Tugend¬
held ohne Fehl wäre? Nützt nicht manchmal ein rücksichtsloser Staatsmann,
ein verschmitzter Diplomat mehr, als alle Menschen von strenger Gewissen¬
haftigkeit zusammengenommen? Daß Möllen. lunckMiönwm rvgnvrum sei, muß
der Prinzenlehrer seinem Zöglinge selbstverständlich einschärfen; allein wo
wären das Nömerreich, das indische Kaisertum der Engländer und selbst der
kleine Judenstaat geblieben, wenn David, die römischen Senatoren^ und die
englischen Staatsmänner lauter Aristidesfe gewesen wären? Unter alle» all¬
gemeinen Sätzen ist keiner so brauchbar wie der christliche: Du sollst deinen
Nächsten lieben wie dich selbst. Er macht die Äußerungen des wohlthätigsten
aller sittlichen Triebe zur Pflicht. Dennoch reicht auch er nicht für alle
Fülle aus. Abgesehen von den Konflikten zwischen Liebe und Gerechtigkeit,
in die sast nur Männer, und zwar Männer in höherer Stellung verwickelt
werden, bleibt die Art der Bethätigung der Liebe dem zufälligen Temperament
und der verschiednen Einsicht der Einzelnen überlassen, wenn nicht irgend eine
Autorität bestimmt, worin das zu fördernde Wohl des Nächsten bestehe. Was
du nicht willst, das man dir thu u. s. w., ist schon eine nützliche Anweisung,
reicht aber auch noch nicht ans; denn mancher ist sehr unverständig in demi,
was er für sich will und nicht will. Es war deshalb notwendig, daß die
Theologen zur Leitung des blinden Liebestriebes die vier Kardinaltugenden:
Klugheit, Mäßigkeit (besser Mäßigung), Gerechtigkeit und Starkmut (Willens¬
energie) empfahlen. Auch so uoch konnte es geschehen, daß die Christenheit
zuweilen ans purer Liebe, um die Seelen zu retten, die lebendigen Leiber der Ketzer
und Hexen verbrannte (die katholische nicht allein; nach englischen Autoritäten
sind in der kurzen Zeit der Republik, als die Puritaner herrschten, in England
und Schottland mehr Hexen verbrannt worden, als in den Zeiten vor- und
nachher zusammengenommen), während sie es zu andern Zeiten für Liebes¬
pflicht hält, alle religiösen und religionsfeindlichen Meinungen frei gewähren
zu lassen.
Wie seltsam, daß trotz dieses augenscheinlichen Schiffbrnchs aller so¬
genannten „Prinzipien" die einfache Methode Herbarts immer noch ignorirt
wird, die darin besteht, daß man die Vielheit und Mannichfaltigkeit anerkennt,
die man aus der Welt nicht wegschaffen kann und die zu leugnen offenbare
Thorheit ist! Ich habe Herbart seit acht Jahren nicht mehr gelesen, und dieser
Aufsatz will kein Abriß der Herbartschen Sittenlehre sein. Ich gebe nur an,
wie ich mir die sittlichen Verhältnisse mit Hilfe der Herbartschen Methode
zurechtlege, ohne die, wie mir scheint, die Sittenlehre entweder ein unentwirr¬
bares Chaos wird, oder ein einseitiges System, das im Stndirstübchen das
logische Bedürfnis befriedigen mag, mit dem man aber im Leben nicht drei
Schritte weit kommt. Ich lasse dahingestellt sein, ob Herbart mit seinen fünf
Ideen die Wurzeln der Sittlichkeit genau genug angegeben hat. Vielleicht
ließen sich Gerechtigkeit und Billigkeit vereinigen, vielleicht auch als sechste
noch die Wahrhaftigkeit, als siebente die Treue beifüge». Allein darauf kommt
weit weniger an, als auf die Erkenntnis, daß es verschiedne sittliche Ideen
giebt, die weder eine von der andern noch sämtlich ans einer gemeinsamen
Wurzel abgeleitet werden können, daß diese Ideen bei dem Versuche, sie gleich¬
mäßig geltend zu machen, mit einander in Streit geraten, und daß das Vor¬
herrschen der einen oder der andern die persönlichen, Berufs- und Volkstypen
sowie die eigentümlichen sittlichen Grundstimmungcn der verschiednen Zeitalter
hervorbringt. Was den Widerstreit anlangt, so ist der oft unversöhnliche
Gegensatz zwischen Wohlwollen und Gerechtigkeit allgemein bekannt und schon
erwähnt worden. Nicht weniger schlecht vertragen sich Freiheit und Voll-
kommenden. Die sittliche Freiheit, d, h. die Unabhängigkeit unsrer Ent¬
schließungen von Begierden und Leidenschaften, wird durch energische Thätig¬
keit in der Welt gefährdet, weil gerade die Begierden und Leidenschaften die
Haupttriebfedern des Handelns sind, und große Thaten selten vollbracht werden,
wo nicht glühende Leidenschaften stacheln. Ohne vielseitige kraftvolle Thätig¬
keit aber ist die Vollkommenheit, d. h. die volle Entfaltung aller guten An¬
lagen, die in eiuer Persönlichkeit oder in einem Volke ruhen, nicht möglich.
Demnach strebt die Freiheit dem asketischen Ideal der göttlichen Bedürfnis¬
losigkeit zu, während sich die Vollkommenheit nur in einer reichen Kultur
verwirklichen kann. Der Herzensreiue, in dem die sittliche Freiheit ihre höchste
Höhe erklimmt, ist stets bereit, seine und andrer Augen auszureißen und Hände
abzuhauen, wenn sie zusammenwirken, jenes Schone zu, schaffen, um dein die
Kleinen so leicht Anstoß nehmen. Dürfte er Gericht halten über die sündige
Welt, so würden von deu Werken der bildenden Kunst kaum die sanftgefärbten
schattenhaften Gestalten der Nazareuerschule und von der schönen Litteratur
außer den Kirchenhymnen vielleicht nur einige Jugendschriften und Lehrsprüch¬
lein übrig bleiben. Der vom göttlichen Wahnsinn getriebene Dichter oder
Künstler aber schafft, ohne zu fragen, wie seine Werke sittlich wirken, und ob
die Berauschung mit sinnlicher Schönheit und sinnlicher Liebe, durch die er
jenen Wahnsinn unterhält, mit dem Sittengesetz vereinbar sei oder nicht. Die
Thätigkeit des Künstlers ist nämlich, wie auch die des Staatsmannes oder
Gelehrten oder Kaufmanns, schon an sich, abgesehen von ihrem Inhalt, sittlich
zu nennen, als mühevolle und gewissenhafte Anwendung eiuer von Gott ver¬
liehenen guten Kraft.
Daß es einzelnen Mensche» gelingt, die widersprechenden sittlichen Typen
in sich zu vereinigen und zur Harmonie auszugleichen, soll nicht geleugnet
werden; allein diese Glücklichen und Begnadigten werden immer Ausnahmen
bleiben. Am ehesten kommen sie in mittlerer Lebenslage und bei mittlerer
Begabung vor. Genie scheint ohne Einseitigkeit auch im Sittlichen nicht möglich
zu sein; eine große historische Persönlichkeit dieser Art kenne ich nicht. Am
ehesten dürften noch der Apostel Paulus, der allen alles ward, und Augustinus
dem Ideal nahe kommen. In Alkibiades, der mit seiner Vollkommenheit vor¬
herrschend seiner Eitelkeit und seinem Eigensinn diente, überwog das Unsittliche.
Alkibiades erinnert uns an zwei Grenzlinien, die den auseinanderstrebenden
sittlichen Typen gezogen sind: eine innere und eine äußere. Die innere besteht
in der Beschaffenheit der Absicht. Wo die böse oder unedle Absicht zu wirken
anfängt, da hört die Sittlichkeit auf, auch wenn das Thun gut bleibt. Aber
wie steht es im umgekehrten Falle? Wird böses Thun durch gute Absicht
geadelt? Nimmermehr! Entschuldige wohl, aber nicht in Gutes verwandelt!
E. von Hartmann ist aufrichtig genug, zu bekennen, daß der Grundsatz: Der
Zweck heiligt die Mittel, eigentlich richtig sei, von seinem Standpunkte aus
und fast nach allen herrschenden Moralsystemen. Ganz recht! Wer das für
sittlich erklärt, was den obersten Weltzweck fördert, mag dieser nun die Hervor-
bringung einer höhern und höchsten Menschenrasse, oder der absolute Staat, oder
die Weltvernichtung sein, der kann eben gar nicht anders, als jedes Mittel für
sittlich gut erklären, das diesen Zweck fördert. Aber den Inhalt der Sittlichkeit
aus dein Weltzweck zu schöpfen, das wäre nur dann möglich, wenn wir diese»
Weltzweck kennten, und zwar müßten wir ihn genauer kennen, als z. B. die
Bibel ihn angiebt und nach ihr Dante: die Menschenwelt solle so lange fort¬
bestehen, bis die von Gott bestimmte Zahl der Seligen voll ist; denn eben
dieses wird gefragt, worin jene sittliche Güte bestehe, durch die man selig wird.
Man sieht leicht ein, wie die Jesuiten praktisch zu ihrem Grundsatz kommen
mußten (in der Theorie verleugnen sie ihn), da sie an Stelle jenes höchsten
Endzwecks einen nähern setzten: die Herrschaft ihrer Kirche; denn was diese
fördert, das scheint leichter erkennbar zu sein. Mau sieht ferner leicht ein,
woher die innerliche Verwandtschaft des staatsmännischen Macchiavellismus
mit dem Jesuitismus kommt. In der That muß, wie E. von Hartmann
richtig erkannt hat, jede Sittenlehre jesuitisch werden, die nach Zwecken be¬
stimmt, was gut sei; nur wenn man, wie Herbart, an unwandelbare angeborne
sittliche Ideen glaubt, ist man vor allen Berirrnugen nach jener Seite hin
geschützt. Ohne Zweifel fördert es den höchsten Weltzweck, wenn die Menschen
diesen Ideen gemäß leben; aber da Nur weder den Weltzweck selbst genau
kennen, noch die Wege, auf denen Gott seine Verwirklichung herbeiführt, so
dürfen, wir uns nicht irre machen lassen, wenn die Treue gegen die sittlichen
Ideen zuweilen mehr Böses als Gutes hervorzubringen scheint; wir handeln
nach unserm Gewissen, bescheiden uns bei unsrer Unwissenheit und überlassen
es, Gott, wie das Böse, so auch die unbeabsichtigten Mißerfolge des Guten
zum Besten zu wenden. Thatkräftige Meuscheu haben selten die Kraft solcher
Resignation; sie wollen das Gute sichtlich fördern, sie sind überzeugt, daß ihre
Endziele einen Teil des Weltzwecks bilden, und daß alles gut oder wenigstens
erlaubt sei, was sie zur Erreichung ihres Zieles für nötig erachten. Wir
wünschen nicht, daß es anders sei. Herbart giebt den Unterschied richtig an,
indem er sagt: Menschen, die sich durch Zwecke bestimmen lassen, handeln
kräftiger, solche, die sich von Grundsätzen, oder was ziemlich dasselbe ist, vou
den sittlichen Ideen leiten lassen, leben reiner. Die Welt kaun keine der beiden
Klassen entbehren: ohne die erste würde die Weltgeschichte stillstehen, ohne die
zweite würde sie längst zu Ende sein, die Völker, von denen sich jedes für das
anserwühlte hält, würden sich in erbitterter Verfolgung ihrer vermeintlich von
Gott gestellten Aufgaben gegenseitig vernichtet haben. In den meisten Menschen
finden sich beide Auffassungen vereinigt. Die Lebenszwecke treiben und dienen
dadurch zugleich der Idee der Vollkommenheit, die übrigen sittlichen Ideen
bilden das Gewissen und zügeln. Eine andre Greuze, die da verhütet, daß
die Verschiedenheit der sittlichen Typen nicht zum Zerfall der Gesellschaft führt,
wird von außen durch Volkssitte, öffentliche Meinung und Gesetz gezogen.
Wie der Künstler, wenn er das Charakteristische, Individuelle darstellt, durch
die Schönheitslinie gebunden wird, mit deren Durchbrechung er in die Karri-
katur geraten würde, so erwachst aus dem Zusammenwirken der sittlichen Ideen
mit den Rücksichten des Gemeinwohls ein Schutzwall von Einrichtungen und
herrschenden Meinungen, auch Vorurteilen, der sich nicht leicht durchbrechen
läßt, den aber der Einzelne zu durchbrechen hat, wenn er sich in einseitiger Hin¬
gebung an eine einzelne Idee zur offenbaren Thorheit oder zum Verbrechen verirrt.
Die Antwort auf unsre Frage lautet also: Es giebt keinen sittlichen Fort¬
schritt im Sinne Darwins, der darin bestehen würde, daß sich die Menschen
allmählich in andre Wesen mit andern sittlichen Grundsätzen verwandelten.
Ein Fortschritt im Sinne Hegels, die allmähliche Durchsetzung allgemeiner
Sittlichkeit im Staate, ist wenigstens schwer denkbar, weil bei aller Überein¬
stimmung im allgemeinen doch die Meinungen über das, was gut sei, im
einzelnen stets auseinander gehen und bei der Vielheit sittlicher Ideen notwendig
auseinander gehen müssen; wäre das Ziel dieses Fortschritts erreicht, so wäre
damit die Sittlichkeit aufgehoben. Eine Verminderung des Bösen im Ver¬
hältnis der Masse des vorhandnen Guten ist historisch nicht nachweisbar,
scheint auch nicht möglich zu sein, da Gut und Böse zu jenen polaren Gegen-
sätzen gehören, die sich gegenseitig hervorrufen und ohne einander nicht denkbar
find; daher deun der fortschreitenden Verzweigung und Verfeinerung des Guten
eine eben solche Verzweigung und Verfeinerung des Bösen das Gleichgewicht
zu halten pflegt.
Allein trotz dieser gleichzeitigen Fortschritte des Bösen muß die Ver¬
zweigung und Verfeinerung des Guten doch als ein Fortschritt bezeichnet
werden; der Fortschritt besteht im Sittlichen wie in den übrigen Gebieten des
Kulturlebetts in: wachsende» Reichtum der Erscheinungen. Außerdem darf noch
in zweifacher Beziehung von Fortschritt gesprochen werden. Erstens ist es
Pflicht jedes einzelnen Menschen, sittlich fortzuschreiten; zweitens hat jede Zeit
für sich jene Hindernisse wegzuräumen, die der Entfaltung der Sittlichkeit im
Wege stehen, unbekümmert darum, daß sich vielleicht gleichzeitig, ohne und
gegen die Absicht der Gesetzgeber, Regenten und Erzieher, andre Hindernisse
aufhäufen; das kommende Geschlecht will auch etwas zu thun finden.
Aber wird durch diese Ansicht nicht alle Einheit aufgehoben? Welche
Einheit? Doch nicht die innere Einheit des einzelnen Mensche,:? Diese bleibt
im Gegenteil am besten gewahrt, wenn jeder nach dem ihm zusagenden
Typus lebt. Die Entzweiung tritt erst ein, wenn in einem Menschen Charakter¬
eigenschaften erzwungen werden sollen, die seiner Natur widersprechen, wenn
er Entgegengesetztes sein und leisten soll. Oder die Einheit der sittlichen Welt?
Die wird durch die Mannichfaltigkeit der sittliche» Typen so wenig aufgehoben,
wie die Einheit der Körperwelt durch die Vielheit der Arten von Geschöpfen.
Wäre eine Welt moralischer Musterknaben, die alle genau nach derselben sitt¬
lichen Schablone zugeschnitten wären und nur noch an der Nummer von einander
unterschieden werden könnten (denn die sittliche Gleichheit samt der Gleichheit
der Erkenntnis und Lebensweise würde auch die Körper und Gesichter gleich
machen), wäre sie nicht ebenso entsetzlich als lächerlich und das Ende aller
Kultur? Nicht in der Uniformitüt, sondern in der Leitung der verschiednen
Wesen durch den einen Gott besteht die Einheit der Welt. Oder die logische
Einheit? Die geht durch die Anerkennung der sittlichen Ideen so wenig ver¬
loren wie durch die Anerkennung der sieben Farben, lind wenn man sagt,
daß es doch der eine Lichtstrahl sei, der sich in sieben Farben breche, so ist
das zwar nicht ganz richtig, denn es sind Wellen von verschiedner Länge und
Schnelligkeit, die das violette und die das rote Licht geben, und das weiße
Licht geht nicht sowohl in sieben Farben aus einander, als es vielmehr aus
ihnen zusammengesetzt ist; doch wir lassen den alten Vergleich gelten und be¬
rufen uns auf das entsprechende alte Bild von dem einen Gott, dessen Herr¬
lichkeit durch die Brechung und Spiegelung in Millionen verschiedner Geschöpfe
in die Erscheinung tritt. Soll das nicht anch von der Sittlichkeit gelten?
Warum wird gerade hier die lebentötende Einerleiheit als Ideal aufgestellt?
Was wäre für Gott und was wäre für uns Menschen gewonnen, wenn wir
statt tausend Millionen guter, schlechter und gemischter Menschen von ver-
schiednen Spielarten ebenso viele gute Menschen vom gleichen sittlichen Typus
und von derselben sittlichen Willenskraft hätten, die doch nur tausend Millionen
Exemplare einer Auflage, tausend Millionen Wiederholungen eines und des¬
selben Menschen wären? Und was würde diesem tausendmillionfachen Mnster-
menschen seine sittliche Kraft nützen, da ihm seine Ebenbilder keine Gelegenheit
darbieten würden, sie zu bewähren? Das wäre jene gute Gesellschaft, die
keinen Stoff liefert auch für das kleinste Gedicht, geschweige denn für ein Drama
oder eilten Prozeß oder eine Kammerverhandluug, in höchster Vollendung!
Und was ist mit unsrer Auffassung gewonnen? Fürs Allgemeine viel¬
leicht gar nichts; für deu aber, der ihr beipflichtet, dieses eine, daß er weder
durch neue Theorien noch durch die Widersprüche des Lebens an der un¬
wandelbaren Geltung der sittliche» Grundsätze irre gemacht werden kann. Die
Verachtung aller Philosophen ist ihm freilich gewiß, denn diese Herren lassen
anch die Sonne am Himmel nicht gelten, wenn sie ihre Daseinsberechtigung
nicht durch die Ableitung aus einem „Prinzip" beweisen kaun.
Der Anhänger dieser Ansicht wünscht mit der Mehrzahl seiner Mitbürger,
daß die sittliche Kraft der Jugend gestärkt und ihre Brust mit der Liebe zu
Idealen erfüllt werde. Aber er erwartet nicht, daß die sittliche Kraft hin¬
reichen werde, gleichzeitig Entgegengesetztes zu vollbringen und die Gewissens¬
konflikte ans der Welt zu schaffen, die aus der Vielheit der Ideen, Grundsätze
und Pflichten entspringen. Er erwartet auch nicht, daß alle Lehrer im Reiche
dasselbe Ideal aufstellen, denselben oder dieselben Helden preisen, und daß alle
Jünglinge genan demselben sittlichen Ziele zustreben werden; die Mauuich-
fnltigkeit und die Widersprüche der sittlichen Erscheinungen betrüben ihn nicht,
noch machen sie ihn irre, vielmehr rechnet er sie zur Vollkommenheit der Welt.
Er wird gleich allen gutgesinnten Mitbürgern im öffentlichen Leben an
der Beseitigung der Hindernisse der Sittlichkeit arbeiten; aber mit der klaren
Erkenntnis, daß an Stelle der beseitigten alten immer wieder neue Hindernisse
treten werden und müssen. Denn eben an dem Hindernisse bewährt sich die
Kraft; der Schwimmer, der fliegende Vogel, die Lokomotive könnten sich nicht
fortbewegen, wenn das Wasser, die Luft und die Reibung der Schiene uicht
Widerstand leisteten und dadurch stützten.
Er wird mit der Mehrheit der Menschen aller Zeiten die angemessene
Bestrafung der Verbrecher fordern, ohne der Einbildung zu verfallen, daß durch
die Strafrechtspflege die Sittlichkeit gefördert oder vermehrt werde, Uuter den
drei Zwecken der Strafjustiz steht der zu oberst, der mit der Sittlichkeit am
wenigsten zu schaffen hat: Schutz der Bürger nach Beseitigung der Selbsthilfe.
Als Vertreter Gottes in der Belohnung der Guten und der Bestrafung der
Bösen wird sich der einsichtige Richter sehr klein und unvollkommen vorkommen,
selbst wenn er sich dnrch die Ordenskvm Mission ergänzt, und daß die Verbrecher
in den Händen der Justiz durchschnittlich schlechter und nicht besser werden,
darüber ist alle Welt einig. Die Strafrechtspflege dient nur insofern dem
sittlichen Fortschritt, als sie zu den Mitteln gehört, durch die manche Hinder¬
nisse der Sittlichkeit beseitigt, z. B. Jugeudverführer unschädlich gemacht werden.
Um das gewerbsmäßige Verbrechertum loszuwerden, müßten wir in der Kultur
nicht vorwärts, sondern znrückschreiten, zu einfacheren Verhältnissen zurück¬
kehren; denn es ist eine Frucht unsrer verwickelten Verhältnisse, des gro߬
städtischen Lebens und des Widerspruchs, daß die höhere Zivilisation vieles
verbietet, was der Naturzustand gestattet, während sie gleichzeitig die Erfüllung
ihrer hochgespannter Anforderungen vielen bis zur Unmöglichkeit schwierig
macht; z. B. durch Erschwerung des Erwerbes und der Verehelichung. Auch
die Obdachlosigkeit bestraft unsre Zeit als ein Vergehen, treibt aber gleichzeitig
die Kosten für die Wohnungen ins Unerschwingliche in die Höhe. Unsre
Landsleute in Ostafrika haben Gelegenheit, Zustände zu studiren, in denen es
kein gewerbsmäßiges Verbrechertum giebt. Die erstiegene Kulturhöhe zu be¬
haupten und die Gesellschaft trotzdem vom Verbrechertum zu reinigen, das ist
ja gewiß ein erhabenes, aller Anstrengung der Edeln würdiges Ziel. Leider
ist bisher weit häufiger der entgegengesetzte Erfolg erreicht worden: man hat viele
Naturvölker mit einem ganz gelungner Verbrechertum nach europäischem Muster
beschenkt, während die europäische Kultur, mit der man sie beglücken wollte,
gewöhnlich ein Zerrbild blieb.
as Jahr 1888 brachte den hundertjährigen Gedenktag der Geburt
Arthur Schopenhauers. Leider konnte ich damals die folgenden
fünf Briefe des berühmten Philosophen nnter meinen Papieren
nicht finden, sonst wären sie der größern Monographie eines
Göttinger Gelehrten über Arthur Schopenhauer einverleibt
worden. So mögen sie denn jetzt allein ihren Weg machen.
Die Briefe führen uns in den letzten Lebensabschnitt des Philosophen.
Längst hatte er sein Wanderleben aufgegeben und sich in der alten Kaiserstndt
Frankfurt niedergelassen. Es behagte ihm dort sehr, wiewohl die liebe Frank¬
furter und Sachsenhauser Jugend dein einsiedlerischen Sonderling manchen
neckischen Streich spielte. In seinen alten Tagen fand er endlich, was er, der
Ehrbedürftige, bisher schmerzlich vermißt hatte, Anerkennung und Ruhm.
Während sein 181!» erschienenes Hauptwerk „Die Welt als Wille und Vor¬
stellung" von den zünftigen Philosophen so gründlich ignorirt wurde, daß es
Michelet in seiner Geschichte der Philosophie von Kant bis Hegel nicht einmal
nennt, wo er doch die Kleinsten unter den Kleinen, einen Schulze, Beck,
Bardili, Bouterweck, Caller, Klein u. a. in. mit mehreren Seiten bedenkt, war
das seit 1851 anders geworden. Seine „Parerga und Paralipomena" mit ihrer
packenden Sprache, ihren kecken Urteilen und halb wahnsinnigen Selbst-
beräucherungen eroberten ihm mit einemmale einen großen Teil der gebildeten
Lesewelt. Frauenstädts Briefe über die Schopenhauersche Philosophie (1854)
trugen mächtig dazu bei, seinen Namen und seine Philosophie noch populärer
zu macheu. Es bildete sich eine Schule begeisterter Jünger um ihn, und der
Meister ließ sich ihre übertriebenen Huldigungen gern gefallen. Alls den
unten mitzuteilenden Briefen hören wir von „Urapvsteln," „Urevangelisteu,"
ja sogar von einem „Jünger Johannes" „in der Schule."
Seit dem 8. Juli 1855 sehen wir Schopenhauer auch in Briefwechsel
mit dem Pfarrer Carl Grimm in Kloppenheim bei Wiesbaden, meinem
verstorbenen Schwiegervater. Dieser, 179!) zu Dillenlmrg als Sohn des
dortigen Generalsuperintendenten und Konsistorialrath C. W. Grimm geboren,
war ein Mann von wunderbarem Fleiße und umfassender Bildung. Er hatte
immer leichte Laudpfarreien zu verwalten und wandte seine ganze Zeit an die
Wissenschaft. Von morgens vier Uhr bis spät in die Nacht hinein saß er bei
seinen geliebten Büchern. Seine große Bibliothek zeigt, wie gründlich er sich in
allen Gebieten des Wissens umgesehn hat. Nicht bloß die Theologie, auch die
Philologie, die Geschichte, die Naturwissenschaft und besonders die Philosophie
gaben seinem Geiste Nahrung, wie die betreffenden, mit seinen Randbemerkungen
versehenen Werke heute noch zeigen. In der Theologie war Schleiermacher
sein Meister, in der Philosophie hatte ihn nach und nach Schopenhauer in den
Kreis seiner Vorstellungen gezogen. Lange schon vor Frauenstädts Briefen
hatte er sich mit seiner „Welt als Wille und Vorstellung" vertraut gemacht,
auch mit ihren Tiefen und Abgründen. Schon am 12. Februar 1834 hat er
dem damals noch ziemlich unbekannten Weisen ein huldigendes Gedicht ge¬
widmet. Aber er war ein starker, selbständiger Geist; er bewahrte auch seiue
Selbständigkeit der Philosophie Schopenhauers gegenüber, wie gegenüber allen
geistigen Bewegungen seiner an mächtigen geistigen Bewegungen so reichen
Zeit. Die Eigenart seines Geistes wird am besten aus einem Hefte vou Epi¬
grammen erkannt, gedichtet in der Art der Genien, das in den weiter unten
folgenden Briefen öfters genannt wird. Ein kleiner Teil der Epigramme er¬
schien in dem heute vergessenen Frankfurter Museum. Sie fanden Schopen¬
hauers warmen Beifall, und darum möge eine kleine Anzahl auch der nicht
an Schopenhauer gerichtete» hier folge». In der Form lassen sie manches zu
wünschen übrig.
Schleiermacher Im Kleinen zu bekämpfen,
Im Großen nicht zu dämpfen;
Er ist euch allen überleben,
Ihr jungen und ihr alten Degen.
Einst noch suchet die Nachwelt das lnntere Gold deiner Schriften,
Wenn die Zeloten schon längst Nacht der Vergessenheit deckt.
Zwiugli O du Freier, du Kühner, wenn du noch lebtest ans Erden,
Buche die Fledermaus gern in dem verfallenen Turm. Sagtest von Plato, er habe aus göttlicher Quelle getrunken,
Während die Heiden sie jetzt stürzen in ewige Nacht. Sieh, da entsteigst du von neuem dein fernen Schoße der Zeiten;
Zeller erbauet für dich heilige Hallen des Ruhms.
Kultus des Genius Mit dein Kultus des Genius machten wir gerne den Anfang,
Wären mit Genien wir nur etwas besser versehn.
Wunsch Für den Kanzelgebrnuch schreibst du so mancherlei Bücher.
Ach! erschiene doch eins auch gegen diesen Gebrauch.
Die evangelische Kirchenkonfereuz") An dem Flehe der Wartburg raten gar vielerlei Männer,
Doch gelangen zur That, dank seis dem Himmel, sie uicht.
Nur um dein Fühle des Berges bleiben sie ratend beisammen,
Höher zum Schlosse hinnus drohet ein zürnender Mann.
Der Kirchentag Euist wird kommen der Tag, wo der Kirchentag wird zum Tage,
Wenn in dunkele Nacht sinke» die Herrn an der Spree.
Die Paulskirche Im Jahre vierzig acht
Das Parlament hielt die Wacht.
Im Jahre fünfzig vier
War der Kirchentag hier.
lind wär der Apostel bei euch gewesen,
Er hätt' euch gar ernst die Leviten gelesen.
Selbstmvrdspektakel Kaum, daß man einige Seiten in deinen Romanen gelesen,
Kralle die Büchse, es füllt elend erschossen der Herr.
Nun ergreift auch die Damen die Freude am Gift und am Dolche,
Und das Morden es wird in deinem Buch allgemein.
Die Philosophie Frei muß sie sein, und frei muß sie bleiben, sonst kehret
Zu dem Himmel zurück sie, die dem Himmel entstammt.
Theologie und Philosophie Sara die eine, nud Hagar die andre, so hieß es vor Alters:
Auf dem Gebiete der Frau herrschet schon lange die Mngd.
Jene soll herrschen, und diese soll dienen, so woll'n sie es heute;
Aber die göttliche zieht frei in die Wüste hinaus.
Kant „Keinen Hühnerstall konnt er regieren," sprach Hippel im Unmut,
Aber die Geister regiert hat er und bleibet Regent.
S es clling Was uns dein Nachlaß wird bringen? Die alte und traurige Kunde,
Daß dn immer gewollt, was du doch nimmer gekonnt.
Hegel Reines Sein und Werden und Nichts und an sich und für sich
Sind das leere Getön Hegelscher Philosophie.
Sokrates lächelte, als er es hörte im Reiche der Schatten,
lind es lachte dazu jener Diogenes laut.
Nein, beim Hund! so sprach er, der macht uns ja alle zu Schanden
Und Epittetes, er gab Recht dem lachenden Mann.
Der Reformator der Hegelschen Philosophie Spare nur, Guter, die Mühe, hier ist nichts zu reformiren.
Wer reformirt denn Wind? Schnell, wie er kam, ist er weg.
Rosenkranz Schlingt sich ein Rosenkranz gar um deine so teuere Weisheit,
Folg ich recht gern deiuor Spur; Rosen, sie riechen so schön.
Gans Kommt nun auch eine Gans zu deinem Systeme geschnattert,
Nehmen die Gänse es gern, freudig und liebevoll an.
Trendelenburg Klare erfrischende Quelle im traurigen märkischen Sande,
Sei uns gegrüßet! Wie gern labt sich der Wandrer aus dir!
Urteil eines deutschen Philosophieprofessvrs über „Die Welt als Wille nud
Vorstellung" von A. SchopenhauerEin perverses Buch, ich kann zum Verstnuduis nicht kommen,
Selbst der gelehrteste Mann wird ans ihm nicht recht klug.
Nun, ich leg' es a.ä »vo, so bin ich am besten beraten,
Klüglich schweige ich still, und ich erscheine gescheit.
Schopenhauer Kommt nur herbei und lernet und haltet ihn hoch mir in Ehre»,
Der auf kühnerem Pfad wandelt zur Wahrheit dahin.
Gold der Wahrheit, es bleibt, wenn längst verschwunden vom Schauplatz
Jene gesunken ins Grab, die" ihn hienieden verkannt. l.ogor ot, IvMr! So ists! Sie können es nnn nicht mehr hindern:
Wenn sie das Präsens auch kränkt, triiukt das Futurum noch mehr.
Goethe, Schopenhauer und Newton Was von den Farben der Deutsche gelehrt, ihr wollt es nicht haben;
Siebenfach bricht sich das Licht stets noch in eurer Physik.
Kommt denu niemals die Zeit, wo der Irrtum weichet der Wahrheit?
Hat denn Albions Sohn bei euch, ihr Deutschen, nur Recht?
Ich teile nun die fünf Briefe des Philosophen mit. Sie sind dnrch die
Post gegangen, sodaß auch bei dem einen undatirten das Datum festgestellt
werden kann.
Ich lasse sie, da sie noch nicht an die Öffentlichkeit gebracht worden sind,
in wörtlichen Abdruck folgen.
Schon diesen Winter haben Sie mich dnrch einige mir sehr schmeichelhafte
Epigramme erfreut, für welche ich Ihnen meinen Dank abstatte. Jetzt bezeugt mir
Ihr werthes Schreiben, daß Sie sich anhaltend und gründlich mit meiner Philo¬
sophie beschäftigen; welches mir zu besonderer Befriedigung gereicht. Ich begreife
sehr wohl, das; Sie, als Geistlicher, meiner Lehre nicht unbedingt beistimmen
können; so sehr auch der ethische Geist derselben mit dem des lichten Christenthums
identisch ist.
Ihre Epigramme sind sehr artig und verdienten wohl, als Anhang zu den
Schiller'schen gleicher Art, in irgend einem Journal xudlioi ,juri8 gemacht zu
werde». — Meine Fragmente zur Gesch: d. PH. werden wohl in einer 2ten
Auflage, einige Zusätze erhalte«, jedoch immer nur Fragmente bleibe«.
Mögen meine Schriften auch fernerhin sich Ihres Antheils erfreuen u Sie
veranlassen mit Wohlwollen zu gedenken an
Frankfurt,
d. 23. Juli
1865.
Ich werde mit Freuden Ihre Disticha gedruckt sehen, will Ihnen jedoch, ehe
ich solche der Buchhandlung übersende, Folgendes zu bedenken geben.
Fliegende Blätter verlieren und verkrümmelu sich in der Literatur und bringen
nicht leicht ins Publikum; weil der Gewinn des Assvrtimenlshändlers dabei so
gering ist, daß er ihm nicht die Mühe lohnt, auch uur Zettel nach Leipzig, oder
Note», beim Einsender zur Ausicht, zu schreiben.
Daher Untre es viel besser, wenn Sie die Verse irgend einem der vielen
Journale einverleiben könnten- am geeignetsten scheint mir das deutsche Museum
vou Prutz- ich würde rathe«, es bei alleu, uach der Reihe, zu versuchen; ehe Sie
es, wie den Moses in der Wiege, dem offenen Strom anvertrauen. — In letz¬
terem Fall jedoch könnte dein oben berührten Hinderniß einigermaßen dadurch ab¬
geholfen werden, daß es änßerst splendid, groß, ans schönem Papier, nur 3 Epi¬
gramme auf jeder Seite in 12" gedruckt würde, um den Preis zu erhöhen. Sie
können hierauf bestehe», da Sie kein Honorar verlangen.
Auch muss ich bemerkn, daß stellenweise Ihn' Handschrist viel zu undeutlich
ist, für unwissende Seher. Daher Sie unumgänglich die Korrektur selbst be¬
sorgen müssen, sonst Sie Druckfehler erleben werden, über die Sie sich die Hnare
raufen.
Was Sie in der Nassauer Schnlzeilnng über mich, betreffend Pflanze n
Thier, geschrieben haben, möchte ich, ijuiclcMcl sit, gelegentlich sehn.
Für frühere Einsendungen u gütige Zuschriften herzlich dankend
Frankfurt
d, 21. Aug.
1855,
Haben Sie Dank für Ihre Theilnahme, Ihre Mittheilungen u Ihr epigram¬
matisches Buch, welches ich bedaure nicht im Druck zu sehen. Ich glaube, das; der
geeignetste Ort für dasselbe die Deutsche Monatsschrift v. Prutz untre: Doch müssen
die Epigramme zuvor, in metrischer Hinsicht, kastigirt werden. — Am 13^» dieses
enthielt das Kvnversationsblatt einen Aufsatz über mich, von welchem Suchslcmd
behauptete, er sei von Ihnen : ich habe jedoch gleich gemerkt, das; er dies nicht sei.
Am selben Tage stand ein Artikel über mich in der neuen Wochenschrift „Frank¬
furter Museum".
Dem von Ihnen gewünschten Schulprogramm habe noch ein zweites beigelegt:
ein 3^- aus Nordhausen v 1 852, die Geometrie «ach der vou mir in der 4fachen
Wurzel angegebenen Methode behandelnd und in vielen Figuren ausführend, kann
ich nicht beilegen, weil es mit anderen zusammen gebunden ist. Habe das Packet
der Herrinn'schen Buchhandlung übergeben u bitte es mir, nach gemachtem
Gebrauch, zurückzusenden.
Frankfurt',
d. 22. Oel.
1855.
Herzlichen Dank für Ihr schönes Gedicht zu meinem Geburtstage n noch
mehr für den so enlvmiastischen Aufsatz im Franks. Museum. Es freut mich, das;
Sie dort Fuh; gefaßt haben: neulich gab es eine kleine Dosis Ihrer Epigramme,
aber gut gewählt: denn das über deu Selbstmörder-Roman, hat mir auch am
besten gefalle», weil er das Tragikomische glücklich trifft.
Aber Ihrem Wunsch nach Selbstbiographie, oder Jlalinuische Touristerei werde
ich nicht entsprechen: das Publikum ist nur zu sehr geneigt, von einer Sache aus
die Person überzugehn: aber diese behalte ich mir gänzlich vor.
Mein Bildnis; hatte letzten Sommer Luntenschütz in Oel gemalt, ans Speku¬
lation: ein Gutsbesitzer in der Mark Brandenburg hatte es ihm sogleich von der
Staffelei abgekauft, für 250 f. — Darauf bezieht sich die wunderliche Nachricht
im Franks: Museum, daß er mir eine Kapelle errichtet: Er hat gesagt, er wolle
ein eigenes Haus für das Bild bauen; — ich vermuthe eine Art Gartensaal. Es
ist hier u. in Berlin ausgestellt gewesen, u. so eben ist eine in Berlin angefertigte
sehr schöne Lithographie desselben erschienen.
Mir hat man 3 Exemplare zugestellt, davon ich eines behalte n, die 2 anderen
an die 2 Urevangelisten in Berlin zurückgesandt habe.
Da Sie jetzt auch vom blossen Apostel zum Evangelisten avancirt sind, würde
ich, wenn ich noch mehr hätte, Ihnen eines schicken.
I'. 8. Das Konversatiousblatt hatte ich Ihnen zum Behalten übersandt. Der
nerf. des Gedichts ist v. Doß in München, uralter Apostel, mit dem Beinamen
(in der Schule) der Jünger Johannes.")
Herzlichen Dank für Ihr schönes u. mir so schmeichelhaftes Gedicht, wie
auch für Ihren Brief vom April, von welchem das selbe zu sagen ist.
Ihre Anfrage betreffend, kenne ich zwar die Lixnorsche Uebersetzung nicht, halte
aber nichts vom Rixnsr und nichts von deutschen Uebersetzungen der lateinischen Uebers.
der Persischen Uebers. des Sanskrit-Textes. lllro! Auch ist die lateinische Diktion,
trotz der Persischen Grammatik, wundervoll, unnachahmlich: wegen der andächtigen,
Wort für Wort gebenden Treue des Sultans Darashako n. des Anquetil. — Ich
zweifle nicht, daß Sie sich, mit einiger Applikation u. Geduld, bald hinein lesen
würden. Der Onruncklurt ist erschienen in Strasb: 1804, kostete 16 r., — dann
herabgesetzt auf !) r. — wird bei Antiquaren wohlfeiler zu haben seyn: sind 2
dicke Quartanten, in sehr grossem Druck auf starkem Schreibpapier. Daß die
Wiesbndensche Bibliothek es nicht hat, ist eine grosse Schande.
Diese Woche werde ich abermals in Oel gemalt, von einem Maler Hammel,
für den Geh. Regierungsrath Krämer aus Preussen. Wenn es die Leute bezahlen,
muß ich schon dazu sitzen: gehört zu meiner Mission. Ueberdies hat besagter Herr
mir in Paris eine ächt asiatische, wahrscheinl. aus der grossen Giesserei in Tübet
herrührende, sehr alte, bronzerue Figur des Buddha aufgetrieben, 1 Fuß hoch!
vom schwarzen uralten Ueberzug gereinigt, glänzt sie wie Gold, auf einer Konsole
in meinem Zimmer: war ein längst gehegter Wunsch. Hat alle kanonischen Zeichen:
dn sitzt sie, — zur Hausandacht.
Frankfurt
d. 11. Mai
1856.
Einmal, und zwar bald nach Empfang dieses letzten Schreibens, hatte
Grimm die Freude, mit Schopenhauer persönlich zusammen zu sein; dann
machte heftige Erkrankung Grimms dem ganzen Verkehr ein jähes Ende.
is vor kurzem wußte man bei uns nicht viel von England
und seiner Kunst. Während in allen Blättern Berichte über
den Pariser Salon zu finden sind, ist über die großen englische»
Ausstellungen fast nichts zu lesen. Auf hundert Deutsche, die
alljährlich Paris besuchen, kommen nicht zehn, die nach London
gehen, da die Abgeschlossenheit des englischen Lebens und der berühmte Nebel
Londons 'wenig zu Vergnügungsreisen einladen. Erst seit der Berliner Ju¬
biläumsausstellung , der Münchner Internationalen und der Pariser Welt¬
allsstellung wurde die englische Malerei in weitern Kreisen bekannt, während
wir bisher gewohnt waren, die Engländer als ein durchaus praktisches Volk
zu betrachten, das in Maschinenball, Mechanik, Chemie, Handel und Volks¬
wirtschaft hervorragendes leiste, auf dem Gebiete der Kunst aber nur als
Sammler und .Käufer in Frage komme.
Nun ist es richtig, daß in der SammlertlMigkeit der Engländer das
Hauptverdienst liegt, das sie sich um die Kunst erworben haben. Zu einer
Zeit, wo die andern Völker noch nicht daran dachten, alte Kunstwerke zu
sammeln, haben die Engländer sie dem Untergang entrissen. Die feinsten
Holländer, Hobbema und Cuyp, sind erst durch die Engländer für die Kunst¬
geschichte entdeckt worden. Nirgends werden so viele Bücher über Kunst ge¬
lesen, nirgends giebt es so viele vornehme Liebhaber, nirgends so glänzend
ausgestattete Sammlungen lvie dort. Es ist nicht leicht, in diese Privat-
sammlungen Zutritt zu erhalten, man braucht Empfehlungen, mau muß sich
als Gentleman ausweisen. Ist das aber geschehen, so wird man vollkommen
als solcher behandelt. Während man in den Pariser Privatsammlungen, die
viel leichter zugänglich sind, kein Blatt in die Hand bekommt, immer nur das
sehen kann, was einem der Diener vorhält, kann man in den Londoner frei
arbeiten, als wäre man selbst Konservator. Die Krone der öffentlichen Anstalten
ist bekanntlich das wunderbare Britische Museum, mit dem auch die große
Bibliothek lind die Kupferstichsammlung verbunden ist, das, glänzend dotirt
lvie kein andres ähnliches Institut, einen ungeheuern Schatz von Kunstwerken
ersten Ranges in sich birgt und namentlich für das Studium der antiken Kunst
allmählich viel wichtiger als die Sammlungen des Vatikans geworden ist.
Die Vollständigkeit und Bequemlichkeit der Bibliothek ist staunenswert. Als
ich mich dein Oberbibliothekar vorstellte, um die Erlaubnis für die Benutzung
zu erhalten, prüfte er zur Kontrolle meines Namens den Katalog, und ich
fand auf der Äste alles angegeben, was ich jemals veröffentlicht hatte. Der
Arbeitsraum ist ein pantheonartiger Saal, in der Mitte thront an erhöhtem
Pult der aufsichtführende Beamte, ringsum sitzen die Sekretäre; dann kommen
im Kreise, durch Gänge geschieden, die Plätze der Arbeitenden. Jeder hat
seinen Sessel, seinen eignen breiten Tisch mit mechanischer Vorrichtung zum
Aufstellen der Bücher, die Wände füllt die Handbibliothek von zweitausend
Bänden, die jedem zur Benutzung freisteht. Es wird kein Wort gesprochen,
nur die Diener gehen umher, um Bestellzettel für Bücher in Empfang zu
nehmen, die dann binnen zehn Minnten auf kleinen ledergepolsterten Wägelchen
anrollen. Die Bibliothek ist gleich den andern Sammlungen Sommer lind
Winter bis abends nenn oder zehn Uhr geöffnet. Mau geht vou der Ansicht
ans, daß alle diese Institute den Zweck haben, vom Publikum benutzt zu werden,
nicht brach zu liegen, wie es in manche» Städten Süddeutschlands noch immer
der Fall ist, wo man während des Winterhalbjahrs die Kunstsammlungen
nnr im Pelz und unter der Gefahr sich mehrwochentlichen Schnupfen zu holen
betreten kann.
Gegenüber dieser Sammlerthätigkeit, in der die Engländer unerreicht sind,
steht nun freilich das, was sie selbständig auf dem Gebiete der Kunst geleistet
haben, entschieden zurück. Man würde Mühe haben, eine englische Kunst¬
geschichte nach Art unsrer Kompendien zu schreiben. In der Blütezeit des
Mittelalters, zur Zeit des romanischen und des gothischen Stils, war die
englische Kunst nie frei von bizarren Formen, charakteristisch, aber unschön.
Die Renaissancebewegung hat nie festen Fuß gefaßt, sie war mehr von außen
impvrtirt. Man begnügte sich, die Holbein und van Dhck als Gäste einzu¬
laden und fremde Meisterwerke in Galerien zu sammeln. Unter allen euro¬
päischen Nationen sind die Engländer am spätesten in die Kunstgeschichte
eingetreten. Ihre Kunst hat keine selbständige Vergangenheit gehabt, sich nicht
allmählich ans ungeschickter«, naivem Ansängen zu virtuoser» Leistungen ent¬
wickelt, sondern sie sprang im Beginn des achtzehnten Jahrhunderts mit einer
gewissen überreifen Plötzlichkeit in die Höhe. Als sie begann, mußte sie sich
ausschließlich auf ihre eigne Kraft verlassen, konnte sich an keine Überlieferung
anlehnen, keinem bereits allsgebildeten Kunstkreise einordnen. Es war ihr nicht
beschieden, aus eignen Keimen zu wachsen und zu reifen, es kam nie zu jener
Schulüberlieferung, die den Künstler trägt und hält, daher auch nie zu einer
wirklich großen Kunst, und es hat den Anschein, als ob für einzelne Zweige
dem Engländer überhaupt die Begabung abginge.
Bekannt ist z. B. — trotz Flaxmcm und den neuesten Versuchen — das
Fehlen einer englischen Plastik. Es mangeln ihr weder zahlreiche noch würdige
Aufgaben. Wenn man die Kathedralen und die öffentlichen Plätze Londons
durchwandert, beneidet man die Bildhauer um die thätige Teilnahme, die sie
überall finden. Aber so viele Nelson, Peel und Wellington in Erz und
Marmor uns begegnen, ein befriedigendes Werk trifft man nur selten an,
wenn man nicht als Sportsman mit der getreuen Wiedergabe der Rassen-
Pferde und dem tadellosen Sitz der Reiter vorlieb nimmt. Noch weniger Lor¬
beeren hat die englische Phantasie auf dem Gebiete der Jdealplaftik errungen.
Hier hat offenbar pietistische Prüderie um vollen Erfassen gesunder Formen¬
schönheit gehindert. Denn ist es die vollsaftige, naive Sinnlichkeit des Pariser
Lebens, die dort die Plastik so'groß gemacht hat, so konnte sie natürlich
in einem Lande nicht gedeihen, wo ein Stuhlbein 8kipp1imZ ist, und die Sinnlich¬
keit nach den Enthüllungen der Nil.11 (Z^vt-es sich zuweilen in mehr
absonderlichen als naiven Formen äußert. Ebenso wird niemand, der nach
England fährt, sich dort ernstlich mit moderner Architektur beschäftigen. Zwar
brauchen die englischen Architekten im verständnisvollen Reprvdnziren alter
Bauweisen keinen Vergleich zu scheuen. Wie die zahllosen modernen Kirchen
und die Riesenbauten der Parlamentshäuser zeigen, hat mau sich mit großem
Erfolg bestrebt, namentlich den nltheimischen Stil der Gothik wieder zu Ehren
zu bringen. Aber an öffentlichen Bauwerken, in denen der moderne Baugeist
seine eigne Sprache redet, steht London hinter Paris und selbst hinter Berlin
zurück.
Dennoch siud auf einigen Gebieten der Kunstthätigkeit den Engländern
wichtige Anregungen zu danken, obwohl sich ihr Einfluß gewöhnlich nicht
unmittelbar, sondern durch zufällige Vermittlung der Franzosen geltend machte.
Denn der Kanal bildet eben auch in künstlerischer Hinsicht eine Trennungs-
linie zwischen den britischen Inseln und dem Festlande. Die englische Kunst
entwickelte sich ausschließlich ans den: heimatlichen Boden, meist unbekümmert
um die künstlerischen Strömungen im übrigen Europa; sie fand jederzeit ihr
Publikum bei sich zu Hause, und der Markt des Kontinents war ihr gleich-
giltig. Um sie würdigen zu können, muß man sie also an der Quelle
studiren.
Ich kam nach London zuletzt im vorigen Herbst, nachdem ich die Freuden
und Leiden der Pariser Ausstellung durchgekostet hatte. Von Paris nach
Calais, von Calais nach Dover, und der Boden Englands ist erreicht. Welcher
Gegensatz gegen Frankreich! All Stelle der französischen Waggons, die viel
zu wünschen übrig lassen, nehmen uns Eisenbahnwagen von der bequemsten
Einrichtung aus, wie mau sie in Deutschland nur beim Orientexpreßzug kennt.
Man schaut noch eine Weile auf das blaue Meer, dann wendet sich der Zug
landeinwärts, grüne Wiesen und prächtige Holzungen, in der feuchten Meer-
tust gebadet, erfreuen das Auge. Man saust an kleinen Städten, Arbeiter-
dörferu, vornehmen Landsitzen vorbei, deren Dächer freundlich im Sonnenschein
blinken. Die Luft wird allmählich schlechter und dicker, man fährt zwanzig
Minuten über ein Häusermeer hin, dann hält der Zug. Ohne daß das Billet
kvutrollirt wurde, steigt man aus — das englische Volk ist zur Mündigkeit
erzogen und braucht keine zurechtweisende Kontrolle. Man sitzt in einer
Droschke und fährt auf Asphalt, ringsum von Wagengewühl umgeben. Sonder¬
bare Einspänner, deren Kutscher hinter dem Wagen sitzen, eilen vorüber, und
vorn sitzen immer dieselben Herren im Zylinder und roten Handschuhe».
Omnibusse, vom oben bis unter mit Plataeer bedeckt, rasseln dahin; die Kon¬
dukteure rufen verworrene Namen, die den unbehilflichen deutschen Kleinstädter
wahnsinnig machen, während die Herren ans dem Verdeck ruhig ihre Zeitung
lesen oder gelassen in die Luft starren. Zuweilen muß gehalten werden, um
Raum zu schaffen; Polizisten mit schwarzen Kopfbedeckungen leiten das alles
mit kleinen Handbewegungen. Frauen und Kinder eilen dann von den Trottoirs
in sicherer Ruhe über den Fahrweg. Hier rufen Zeitungsjungen ihre Jour¬
nale ans, dort schreien sich Stiefelwichser heiser, in der Tiefe pfeift gellend
die unterirdische Stadtbahn. Es rasselt, schreit und dröhnt von allen Seiten,
überall Arbeit, Kampf uns Dasein, Prosa des Lebens — das ist London,
überwältigend groß und niederschmetternd für die Nerven, wenig Freuden ver¬
sprechend für den, der eben den heitern kunstdurchträukten Boden von Paris
verlassen hat.
Doch die Gegensätze berühren sich. Nachdem ich ins Hotel gekommen
war, dort die Schwere und Gediegenheit der Einrichtung bewundert, von der
wir in Deutschland gar keine Ahnung haben, den üblichen Lunch eingenommen
hatte, der ebenso schwer als teuer ist und nach der leichten Küche der Fran¬
zosen recht sonderbar anmutet, war mein erster Gaug nach der MllionÄ Oiüsr)'
gerichtet, die ich mehrere Jahre nicht gesehen hatte. Es ist ein weites, finster-
blickendes Gebäude, architektonisch unschön, doch merkwürdig vornehm im
Innern. Im Louvre in Paris blutet einem das Herz über den Ruin, dem
die Bilder versallen sind, über ihren trostlosen Zustand, der fast den künstle¬
rischen Genuß unmöglich macht, über die lieblose Übereinanderhänfuug der
verschiedensten Dinge. Hier hängt in den weiten Sälen immer uur eine Reihe
von Bildern neben einander, gerade in der Gesichtshöhe des Beschauers und
so weit von einander entfernt, daß jedes mit ruhigem Auge gewürdigt werden
kann. Die einfach vornehmen Rahmen unterscheiden sich sehr vorteilhaft von
den schwerfälligen, plump verzierten, mittelmüßig vergoldeten oder brouzirten,
die sich anderwärts breit machen. Die Gemälde selbst, in vorzüglicher Er¬
haltung, siud uuter Glas; deu Hintergrund bildet rote Seide vou wohlthuend
ruhigem Ton. Wer die reizendsten Bottieellis, die herrlichsten Tizians, die
feinsten Holländer sehen will, muß in die Londoner Mtiorml 6ick(!r7 gehen.
Aber ich sah zunächst überhaupt nichts von Bildern. ES war Donnerstag,
Studientag, und die ganze Galerie war von malenden Damen besetzt. Dn
saßen sie und malten in schwärmerischer Verzückung die alten Italiener
ab. Sobald man vor ein Lieblingsbild gekommen war, saß so eine liebe
Dame davor und versperrte die Aussicht. Sie sind weniger schön als inter¬
essant — blond, blaß und schlank, mit kurzgeschnittenen Locken und feuchten,
schwärmerischen Augen. Die Kleidung, originell in Schnitt und Farben, scheint
fast künstlich in Unordnung gebracht, und vor ihnen auf dein Mnltischchen
steht ein buntes Glas, aus dem eine Sonnenblume oder eine Lilie nickt. Das
sind die Wesen, wie sie Sullivan in seiner Operette Patience schildert, die
verkörperte Ästhetik, ästhetisch an Leib und Seele, als hätten Vvttieellis Ma¬
donnen Fleisch und Blut angenommen und wären aus der vierten Dimension
als ätherische Spirits herübergekommen.
Dieser Gegensatz, der sich zwischen dem rasselnden Straßenleben und der
ästhetischen Zartheit dieser Wesen geltend macht, geht durch das ganze Leben
des Engländers hindurch. Es ist in jeder Hinsicht das Land der Gegensätze:
die Heimstätte der praktischen Vernunft und die Wiege des Spiritismus, eine
Republik mit eiuer .Königin, die abgöttisch verehrt lind zugleich in den
beißendsten Satiren verspottet wird. In dem vornehmen Vierteln herrscht der
üppigste Reichtum und die satteste Tugend, in Whitechapel die hungerndste
Armut und das schreiendste Laster. Selbst die Restaurants haben ein Doppel¬
gesicht: vorn die Räume für Steaks und Ale, dahinter die für Kuchen, Limo¬
nade und Thee. Zwei Seelen wohnen in des Engländers Brust. Am Tage
ist er ein trockner Geschäftsmann, ganz aufgehend in der Arbeit und in den
Interessen des Tages, am Abend, im Privatleben, kommt die Reaktion — da
herrscht das ewig Weibliche und mit ihm die Ästhetik. Reizend mit Blumen
ist der Tisch geschmückt, die Dame und die Töchter des Hauses sprechen ver¬
ständnisvoll von Kunst und Musik, man hat wohlerzogen zu sein, für immer
verloren ist, wer den geringsten Verstoß im Gebrauch von Messer und Gabel
macht. Auf der Veranda atmet man die frische Luft des Hydepark, kein Ton,
der an das Tagesgetriebe erinnern könnte, dringt herüber.
Es ist fast selbstverständlich, daß anch die englische Kunst diese Gegensätze
aufweist: auf der einen Seite die Richtung aufs Nützliche, die technische Fin¬
digkeit, auf der andern die Romantik, die saufte Schwärmerei, das ästhetische
Träumen.
Bleiben wir in der Abendgesellschaft und sehen wir uns daraufhin die
Wohnungseinrichtung an. Was ist sie von Salon bis zum Lavatory anders
als eine Nützlichkeitseinrichtung pur oxoellLnoo! Noch bis vor kurzem gerade
auf dem Gebiete des Kniistgewerbes als Barbaren verschrieen, entweder von
den Franzosen abhängig oder in dem, was sie selbständig leisteten, fast noch
unter dem Niveau unsers Biedermeierstils stehend, haben die Engländer seit
der Gründung des South ^'ensingtv>l Museums begonnen, aus dem Gebiete des
Geschmacks eine, wenn nicht herrschende, doch beachtenswerte Rolle zu spielen.
Durch die Kunstschule des Kensington Museums wurde nicht nur die vernach¬
lässigte Geschmacksbildung der Londoner Gewerbetreibenden auf merkwürdig
schnelle Weise gefordert, sondern da sich diese mit dem Museum in Verbindung
stehenden Kunstschulen allmählich von Stadt zu Stadt verbreiteten, gelang es
auch, deu englischen Geschmack vor ziellosein Umherirren zu bewahren und in
eine Richtung zu lenken. Der Charakter des englischen Kunstgewerbes, wie
es jetzt vorliegt, ist gediegne Sachlichkeit. Was der französischen Kunstindustrie
durch die Beweglichkeit des Geistes, das Raffinement der Erfindung und durch
ihre merkwürdige Grazie zugeführt wird, das ersetzt die englische durch die
Gediegenheit der Arbeit und ihr außerordentliches Verständnis für die prak¬
tischen Bedürfnisse des modernen Lebens, indem sie dem Launischen und Will¬
kürlichen des modernen Geschmacks das struktive und Rationelle in den Dingen
gegenüberstellt. Phantasie ist in keinem Stücke bemerkbar, das wird auch nicht
angestrebt, aber jedes ist bequem und vernünftig, von der größten Sauberkeit
der Arbeit, dem echtesten Material und nicht ohne Schönheitssinn im Kleinen.
Wie jämmerlich erscheint dagegen unsre ganze Periode deutscher Renaissanee-
beglückung mit ihrem sinnlosen Spielen mit mißverstandenen Ornamenten!
Man stößt sich nicht an geschnörkelt vorspringenden Holzleisten über dem
Kopfe, sitzt sich nicht wund auf unbequemen „Lutherstühlen," bekommt uicht
Rückenschmerzen auf harten altdeutschen Divans. Jeder Gebrauchsgegeustand
ist praktisch, baudsorav, griffig, und es ist bewundernswert, wie man alles er-
probt hat, ehe man es in so vielen tausend Exemplaren herstellt. Es ist im
Gegensatz zu dem stilistisch Ornamentalen hier die vollendete Zweckmäßigkeit.
Das englische Kunstgewerbe hat keinen Stil, aber wenn man will, anch wieder
mehr Stil als das eines andern Volkes, weil es unbekümmert um alles andre
nur deu Zweck vor Augen hat. Wenn nicht alle Anzeichen trügen, wird hier
das deutsche Kunstgewerbe in den nächsten Jahrzehnten sich seine Vorbilder
holen, nachdem die letzte Münchner Kunstgewerbeausstellnng wohl den end-
giltigen Beweis geliefert hat, daß wir auf dem bisherigen Wege schaler Nach¬
ahmung alter Formen nicht weiter kommen. Mit dem deutschen Grundsatz
„Billig und schlecht" müßte dann freilich endgiltig gebrochen werden.
Ein zweites Gebiet, auf dem noch viel, sehr viel von den Engländern zu
lernen ist, obwohl wir uns darin überhaupt schon längst in englischen Bahnen
bewegen, ist das der vervielfältigenden Künste. Unser Holzschnitt ist bekanntlich
heute in demselben Grade englisch, wie er vor vierhundert Jahren deutsch war,
hat mit dem alten deutschen Holzschnitt, wie ihn Dürer und Holbein übten, so gut
wie nichts mehr zu schaffen. Jener war eine Reproduktion der Federzeichnung
und arbeitete mit ganz einfachen Mitteln. In diesen Bahnen blieb er bis ins acht¬
zehnte Jahrhundert, verlor aber mit der Entwicklung der bequemen Radirnng
seit dem Beginne des siebzehnten Jahrhunderts überall an Boden. Im acht¬
zehnten Jahrhundert war er nur noch für ganz untergeordnete Zwecke im
Gebrauch und sogar aus der Buchillustration durch den zarten Kupferstich ver¬
drängt, obgleich sich dieser nur sehr umständlich und kostspielig in den Thpcn-
druck einfügen ließ. Erst Thomas Bewick erweckte ihn zu neuem Leben, indem
er das raffinirte Verfahren des modernen Holzschnittes erfand, der nur noch
dem Namen nach mit dem alten zusammenhängt, sich aber sonst als eine ganz
neue, nach eignen Gesetzen arbeitende Reproduktionsgattung darstellt. Die
Nachfolger bildeten in regem Wetteifer Bewicks Prinzipien weiter. In wenige«?
Jahrzehnten hatte der Holzschnitt die Buchausstattung zurückgewonnen, und
bereits 1842 wurde die erste illustrirte Zeitung gegründet. Damit beginnt für
den Holzschnitt eine neue Periode. Keiner andern Reproduktionstechnik wurden
jemals so mannichfache Aufgaben gestellt. Englands Interessen gehen über den
ganzen Erdball. Was sich in der Heimat und in den Provinzen zutrug,
wurde sofort durch die Hand des Zeichners festgehalten. Von Wichtigkeit
wurde namentlich das große Format der Zeitungen, wodurch ein monumentaler
Zug, der sich bis dahin an den zierlichen Buchillustratiouen nicht hatte ent¬
wickeln können, in die Darstellung kam. So schnell Deutschland dem Vorgänge
Englands folgte, so haben die englischen illustrirten Zeitungen doch bis heute
das höchste Maß künstlerischer Haltung — mau braucht nur den (Z-mpdiv, die
I>In8ert>doa I^onäon Rooo8 oder IlaiPgrs MiZÄninv mit den entsprechenden
deutschen Blättern, der Leipziger Jllustrirten, „Über Land und Meer" und
andern unsrer illustrirten Wochenschriften zu vergleichen. Nirgends weiß man
so geschickt die entsprechende Art der Darstellung für jeden Gegenstand zu
finden, vom Facsimileschnitt der flüchtigen Skizze eines Schlachtenbevbachters
bis zu den raffinirt durchgebildeten Schilderungen des gesellschaftlichen Lebens,
die den Roman des Blattes illustriren.
Von den Arten des Kupferstichs ist die Radirung wohl die einzige, der
man noch eine Zukunft prophezeien kann. Während der eigentliche Kupferstich
aus seinen ausgefahrnen Geleisen selten mehr heraustritt, seit der Durchbildung
der mechanischen Reproduktionstechniken immer mehr an Boden verliert und
trotz Kunstvereinsprämien nur noch als Zimmerschmuck für die mittlern Kreise
in Betracht kommt, die sich den Luxus eines „Ölbildes" nicht gestatten können,
hat die vornehme Radirung in dem Kunstbetriebe der Gegenwart wieder wach¬
sende Bedeutung gewonnen, nachdem sie in der ersten Hälfte des Jahrhunderts
ebenfalls völlig vergessen und überall durch die Lithographie verdrängt worden
war. Ihre Wiederbelebung erfolgte durch die englischen Dilettanten, die, zu
Hunderttausenden verbreitet, dort ein wichtiges Bindeglied zwischen Künstler¬
schaft und Publikum bilden, als vornehme Liebhaber in gewissen Sinne den
Geschmack dirigiren und sich sogar an positivem Können vom berufsmäßigen
Künstler oft nur dadurch unterscheiden, daß sie aus der Kunst ,,kein Gewerbe
machen." Diese erinnerten sich, daß die Radirung eine Lieblingsbeschäftigung
fast aller bedeutenden Meister des siebzehnten und achtzehnten Jahrhunderts
gewesen und eine dankbare, verhältnismäßig leichte Technik sei. Sie studirten
die Werke der alten Nndirer, namentlich des Großmeisters Rembrandt, und
wußten die Geheimnisse fast vergessener Prozeduren und Rezepte zu ergründen.
Sie begannen mit anspruchslosen Landschaften und Seestücken und gingen all¬
mählich zu Figurenkompvsitionen und zum Bildnis über. Auf diese Weise
wurde England die vornehmste Pflegestätte der modernen Radirkunst. Nicht
n»r Maler wie Whistler und Herkomer, auch eine ganze Anzahl von Dilet¬
tanten verfügen über alle Ateliergeheimnisfe und praktischen Kunstgriffe der
Radirer vom Fach. Die Gediegenheit der Mache, wie sie alle englischen Er¬
zeugnisse, selbst die des Londoner Schneiders auszeichnet, kommt auch den
englischen Radirungen zu statten. So sehr sich bei uns in den letzten Jahren
die Nadirung gehoben hat, so ist eine Konkurrenz mit den Engländern doch
noch nicht möglich. Unsre Kupferstecher und Nndirer haben nicht nur viel zu
lernen, fondern ebenso viel zu verlernen, ehe sie einen Vergleich mit jenen
aushalten können. Was hilft es uns z. V., den alten Linienstich noch immer
künstlich hinzupäppelu, nachdem er in allen andern Ländern klanglos begraben
worden ist? Diese kalte, mühsame und daher so selten vom Hauch des Genius
berührte Technik muß allmählich zu den überwundenen Dingen gerechnet
werden. Das Kalligraphische an ihr, die Meisterschaft, die der Stich als solcher
erfordert, und die vollkommene Entäußerung von allem Persönlichen, die dem
Kupferstecher als Höchstes vorschwebt, imponirt nicht mehr, sondern erscheint als
Verlorne Liebesmüh, seitdem die Oainsra, obsoura, dasselbe Ergebnis, wozu der
Kupferstecher Jnhre schweißtriefender Arbeit braucht, mühelos in ebensoviel
Sekunden erzielt. Stiche nach klassischen italienischen Bildern mögen noch eine
gewisse Berechtigung haben, während in allen andern Fällen, wo es sich
weniger um Form als um Farbe handelt, also bei allen Reproduktionen
niederländischer oder moderner Bilder, der Kupferstich nur als Anachronismus
erscheint. Übrigens werden solche Stiche nach modernen Bildern in Zukunft
von selbst aufhören, seitdem, der Naturalismus, der das Wesen der Kunst im
optischen Eindruck, in der Impression sucht, all den schönen Vorwürfen, in
deren Wiedergabe sich der Linienstich zu ergehen liebte, den Laufpaß gegeben
hat. Der Grabstichel ist seiner Natur nach nichts weniger als impressionistisch
und muß daher ganz von selbst vor dein Ätzwasfer die Waffen strecken, das
keinen höhern Ehrgeiz kennt, als farbige Werte in schwarz und weiß zu über¬
setzen.
Gerade deshalb und wegen ihres unversteglichen individuellen Reizes wird
die Radirnng stets neben den mechanischen Reproduktivnsarten das Feld be¬
haupte«, und daß sie sich, gleich Aquarell und Pastell, auch bei uns glücklich
aus Zopf und Pedanterie emporzuarbeiten beginnt, ist als einer der ynupt-
sachlichsten künstlerischen Erfolge der letzten Jahre zu begrüßen, so wenig wir,
wie gesagt, trotz Klinger, Koeppiug, Unger und manchen andern vorläufig mit
den Engländern wetteifern können. Ich will gar nicht davon reden, daß die
Nadirung dort eine selbständige Kunst, bei uns — von Klinger abgesehen ^
nur Neproduktionsmittel ist, und daß der vor einigen Jahren in Berlin mit
Mühe gegründete Verein zur Hebung der Malerradirnng schon sanft wieder
eingeschlafen ist. Selbst in der Technik sind die englischen Blätter den deut¬
schen schon weit überlegen. Zu allen Finessen der Radirkunst gesellt sich
namentlich ein Raffinement des Druckes, von dem man in Deutschland noch
keine Ahnung hat. Die Leute, die jedem Gebiet gleich seine Grenzen stecken
Wollen, alles mit dem Material ihres historischen Wissens kritisiren, klagen
natürlich darüber, das; diese englischen Radirungen „zu sehr ins Gebiet der
Malerei übergreifen." In der That läßt sich bei manchen Blättern kaum
entscheiden, welchen Anteil an der malerischen Wirkung die Nadel des Radirers
und welchen das Raffinement des Druckes hat. Jeder Abdruck ist so sehr eine
malerische Kunstleistung an sich, daß die Nadel eigentlich nnr noch das Skelett
der Wirkung festzustellen hat. Aber die Hauptsache ist eben doch, daß die
Wirkung erreicht wird. Ob dazu mehr das Ätzwasser oder der Wischer ver¬
wendet wurde, ist im Grunde gleichgiltig. Man freut sich über die breiten
Schattenmassen und die glänzenden Lichter, über die frisch-duftige Wirkung des
Ganzen, wie sie der Kupferstich mit seinen sorgfältig gemncn Schraffirungen
nie auch uur annähernd erreicht. Die Nadirung ist ein Kunstwerk, während
unser früherer Kupferstich ein Erzeugnis des Gewerbefleißes war. Daß der
Preis aller dieser Blätter hoch ist und nach der Herstellung einer beschränkten
Anzahl von Abzügen gewöhnlich die Platte zerstört wird, kann nur den
Wünschen des vornehmen Sammlers entsprechen. Denn die Kunst verlangt
eine gewisse Exklusivität und darf nicht als Massenartikel auftreten, den jeder
haben kaun.
Neben der Nadirung ist das Aquarell die eigentliche Leib- und Magenkunst
der Engländer geworden. Diese Technik, in der unser Dürer, die Holländer
des siebzehnten und die Franzosen des achtzehnten Jahrhunderts so Interessantes
schufen, wieder zum Leben erweckt zu haben, rühmen sie selbst als ihr haupt¬
sächlichstes kunstgeschichtliches Verdienst. Nun sind sie darin zwar gegenwärtig
von den Italienern und Spaniern, die durch sie die Anregung erhielten, ent¬
schieden überflügelt, auch wird das Aquarell, da es technisch auf zu schwachen
Füßen steht, überhaupt nie von größerer Bedeutung im Kunstbetrieb andrer
Völker werden können. In England aber wurde es wichtig wegen des un¬
verkennbaren Einflusses, den es auf die Ölmalerei ausübte. Das Studium
unmittelbar vor der Natur und im Freien gab dem Aquarell von Anfang
an seine Eigenschaften dem Olbilde gegenüber. Die Aquarelltechnik gab der
englischen Palette gewissermaßen den Ton, wirkte auf die Öltechnik zurück und
bewahrte sie vor Jrrlvegen. Auf diese Weise konnte die Unart, an der wir
so lange tränkten — verräucherte Galeriebilder nachzuahmen, die ursprünglich
auch einmal frisch waren —, in England nie Wurzel fassen. Der ganze Krieg
zwischen Asphalt und Kremserweiß, der auf unsern letzten Ausstellungen tobte,
brauchte in England nicht geführt zu werden. Die ganze gesunde, klare
Entwicklung der englischen Malerei kann uns Deutsche, die wir uns fast ein
Jahrhundert laug am Gängelband einer falschen Ästhetik haben führen lassen,
überhaupt nur wehmütig berühren. Seitdem es eine englische Malerei giebt,
war sie die unbefangenste, natürlichste, nationalste und technisch am malerischsten
entwickelte von allen. Den Hauptvorspruug erhielt sie schon dadurch, daß der
aller Kunst die Lebensadern unterbindende Klassizismus, der sich durch Winckel-
manns Einfluß am Schlüsse des vorigen Jahrhunderts durch ganz Europa
verbreitete, in England sast keinen Boden fand. Schon um die Wende dieses
Jahrhunderts, als die „große" Malerei überall die technische Tradition ver¬
loren hatte, hat England „Maler" im eigentlichsten Sinne besessen. Und zu
derselben Zeit, wo die Landschaftsmalerei des übrigen Europas nur schemen¬
hafte, kraft- und saftlose Claude Lvrrains fabrizirte, kehrte in England ein
Landschafter zur ewig jungfräulichen Natur zurück — es dauerte Jahrzehnte,
bis die Nachbarn folgten. Zur Bestätigung dessen braucht mau nur einen
Blick in die Ratioim! 6Ä«zi'^ zu werfen.
(Schluß folgt)
rannte Döllingers haben ein Bändchen Briefe und Erklärungen
herausgegeben, in denen der Verewigte das Verharren bei seinein
Widerspruch gegen das Vatikauum begründet.") Den Anfang
machen einige der Kundgebungen, die schon 1869 und 1870 in
der Allgemeinen Zeitung und anderwärts veröffentlicht worden
sind. Vor viertehnlb Jahrhunderten hielten neun Zehntel aller Deutschen den
Papst für den Antichrist, und vor zwanzig Jahren strengten sich einige Theo¬
logen vergebens um, vierundzwanzig Millionen deutsch redender Katholiken davon
zu überzeugen, daß der Papst nicht unfehlbar sei, die großen Protestantischen
Zeitungen aller druckten deren Beweisführungen als Aktenstücke von welt¬
geschichtlicher Bedeutung ab. Gewiß eine starke Krümmung der deu Fort¬
schritt der Menschheit sinnbildenden Linie, die ja, wie einige Geschichts¬
philosophen behaupten, eine Spirale sein soll! Es hieße den Lesern der
Grenzboten Brechpulver eingeben, wollten wir die in dem Büchlein enthaltenen
Widerlegungen des Unfehlbarkeitsdvgmas nochmals wiederkäuen. Wenn wir
die Aufmerksamkeit darauf lenken und es sogar zu lese« empfehlen, mit Über¬
schlagung der dogmatisch-kirchengeschichtlichen Beweise, so geschieht es der
interessanten Persönlichkeit Döllingers wegen, die uns ein psychologisches
Rätsel zu lösen aufgiebt. Döllinger war in den letzten zwanzig Jahren seines
Lebens unzweifelhaft Protestant, und es ist fast unbegreiflich, wie er sich bei
seinem erstaunlicher Scharfsinn und seinem ungeheuern Wissen bis zu seinem
Tode für einen Katholiken halten konnte. Unter dem passenden Namen Janus
hat er angefangen, dieselbe Kirche mit Erbitterung anzugreifen, der er fünfzig
Jahre hindurch so eifrig gedient hatte, und mit seinem Dvppelantlitz ist er
gestorben. Er hatte jenes Pseudonym für das bekannte Buch gewühlt, weil er
darin in die Vergangenheit und Zukunft schaut, ohne zu ahnen, daß er von
der Zeit ab wirklich ein doppeltes Gesicht zu tragen verurteilt war.
Es handelte sich ja bei ihm gar nicht mehr bloß um den Widerspruch gegen
die vatikanischen Dekrete. In dein Kampfe gegen die absolutistische und aber¬
gläubische Richtung in der katholischen Kirche, für die er — mit wie viel Recht
oder Unrecht, mag dahingestellt bleiben — die Jesuiten, und die Jesuiten allein
verantwortlich machte, hatte er die Kirchengeschichte aufs neue zu durchforschen
unternommen, zu einem Zwecke, der jenem gerade entgegengesetzt war, für den
er fimfnndzwanzig Jahre vorher sein Werk über die Reformation verfaßt hatte.
Was er suchte, das sand er, und in reichlicheren Maße, als ihm lieb sein
mochte. Er fand ein System von Fälschungen zu hierarchischen Zwecken, das
bis in die ersten Jahrhunderte der Kirche hinaufreicht, und er fand, daß das
Papsttum im ganzen mehr Unheil als Gutes gestiftet, namentlich aber vom
dreizehnten Jahrhundert ab gleich einer Pest die Christenheit in religiöser,
sittlicher, wirtschaftlicher und politischer Beziehung verheert habe. Und als
er von den kirchlichen Autoritäten zur Unterwerfung aufgefordert wurde, da
verweigerte er den Gehorsam mit Berufung auf seine wissenschaftlich begründete
Überzeugung. Wenn wir uicht auf konfessionellen Gebiet eine unheilbare
Sprachverwirrung anrichten wollen, so müssen wir einen Mann, der den Papst
für die Geißel der Christenheit hält und der die eigne Überzeugung über die
kirchliche Autorität stellt, einen guten Protestanten, einen großen Fachgelehrten
aber von durchdringender Geistesschärfe, der das nicht zugiebt, ein psycho-
logisches Rätsel nennen.
Als er Anfang 1871 von seinem Ordinariat zu einer entscheidenden Er¬
klärung aufgefordert wurde, bat er mehreremal nur Aufschub und ersuchte dann
schließlich am 28. März den Erzbischof von Scherr, ihm Gelegenheit zu geben,
seinen Widerspruch gegen die neuen Dogmen in einer Konferenz zu begründen,
sei es mit den deutschen Bischöfen, die sich gerade zu einer Beratung in Fulda
anschickten, sei es mit einer vom Erzbischof zu ernennenden Kommission. Als
ob es sich damals noch um eine Disputation über den zum Überdruß durch¬
gesprochenen Gegenstand und nicht vielmehr um die Frage gehandelt hätte, ob
der deutsche Katholik das ihm widerwärtige Dogma hinunterwürgen oder sich
durch dessen Ablehnung von: Papste lossagen wollte! Die Bischöfe hatten
samt der Masse der Katholiken das erstere gewühlt, und damit war die Sache
für Deutschland entschieden. Zu optiren, nicht zu disputiren hatte« jene
Männer, die sich geteilten, man darf bei manchen wohl sagen zerrissenen
Herzens auf der Grenze zwischen den zwei Konfessionen hilflos und ratlos uach
Rettung aus einer unhaltbaren Lage umsahen- Döllinger wiederholt dasselbe
Ansinnen noch einmal um 1. März 1887 in einem Schreiben an den Erz¬
bischof von Steichele. Er beruft sich auf die kirchliche Praxis der frühern
Jahrhunderte. Noch im zwölften Jahrhundert sei ein solches Verfahren bei
Abälard und andern beobachtet worden; „aber im dreizehnten errichteten die
Päpste die Glaubensgerichte mit geheimer Prozedur, schrieben Tortur, vM-or
äuruL, qualvolle Hinrichtung als Vekehrungsmittel vor, befahlen, daß schon
auf bloßen Verdacht hin Folterung eintreten solle." Es ist gewiß sehr un¬
bequem für katholische Kirchenfürsten unsrer Zeit, sich diese Dinge öffentlich
sagen lassen zu müssen, die sie ja nicht in Abrede stellen könne«; allein zur
Änderung ihrer Praxis kann es sie nicht bewegen, denn diese Praxis stützt
sich auf eine nnderthalbtauseudjährige Erfahrung. Anfänglich bildeten sich die
kirchlichen Obern in allem Ernste ein, was sie, die von Gott erleuchteten, für
wahr hielten, das müßten auch alle andern als wahr erkennen, daher müßten
die Widersprechenden zunächst belehrt werden, und erst wenn die Disputation
nicht zum Ziele führe, sei böser Wille vorauszusetzen. Als aber dann die
Erfahrung lehrte, daß Belehrungen und Disputationen niemals zusammen-,
sondern nur immer weiter auseinanderführen, dn verwarfen sie dieses Einigungs-
mittel als zweckwidrig und stellten den vollkommen richtigen Grundsatz auf,
Ketzer seien nicht durch Disputiren zu überzeugen. Daraus folgerten sie nun
— von ihrem Standpunkte ans ebenfalls richtig —, es sei Pflicht, sie durch
körperliche Qualen zur Abschwörung ihrer Irrtümer zu bewegen und so ihre
Seelen zu retten. Und nachdem die moderne Gesetzgebung dieser Art von
Seelenrettung glücklicherweise ein Ende gemacht hat, erachten sie sich wenigstens
für verpflichtet, die „faulen" Glieder vom Leibe der Kirche abzuschneiden, um
die „gesunden" vor Ansteckung zu bewahren. Nun kannte niemand besser als
Döllinger den Weg, auf dein die Kirche zu dieser Praxis gekommen war; er
spricht aber diesen EinWurf, den er sich ohne Zweifel innerlich selbst machte,
in dein zuletzt erwähnten Schreiben nicht aus, sondern sucht ihn durch folgende
Widerlegung an der Schwelle abzuweisen: „Es handelt sich ja nicht um
Glaubensmhsterien, wie Trinität und Inkarnation, über welche man freilich
erfolglos bis zum jüngsten Tage disputiren kann. Wir stehen hier auf dem
festen Boden der Geschichte, der Zeugnisse, der Thatsachen. Dies sind Dinge,
welche sich so ausheilen und erläutern lassen, daß jeder gut erzogene und unter¬
richtete Mann sich ein eignes Urteil über Recht oder Unrecht der einen oder
andern Seite bilden kann, auch ohne theologische Studien gemacht zu haben."
Als ob sichs bei den Streitigkeiten über die Glaubensgeheimnisse nicht eben¬
falls um historische Thatsachen gehandelt hätte, nämlich darum, ob die Sätze,
in denen die .Kirche sie ausspricht, dem Wortlaut der Bibel entsprechen oder
nicht! Und als ob es irgend eine historische Thatsache von Bedeutung in der
Welt gäbe, über die sich die Gelehrten und die — Interessenten zu einigen
vermöchten! Von dem Augenblick an, wo der auf Thatsachen gestützte Nach¬
weis eines Rechtsanspruches alle Beteiligte» überzeugt, giebt es weder Kriege
noch Zivilprozesfe mehr, sondern nur noch Schiedsgerichte.
Die gläubige,: Katholiken sind Positivsten; alles Wissen hat ihrer Ansicht
nach nur in soweit Wert, als es einem praktischen Zwecke dient. Höchster
Lebenszweck ist ihnen die Sicherung der ewigen Seligkeit, und dieser Haupt¬
zweck wird durch die Trennung 0vu der Kirche gefährdet. Daher lassen sie
sich auf die Prüfung solcher wissenschaftlichen Beweise, die von der Kirche ab¬
zuführen geeignet erscheinen, gar nicht ein. Thun sie es dennoch einmal, so
geschieht es mit dem Vorbehalt, jede Beweisführung für falsch zu halten, die
für die kirchliche Autorität ungünstig ausfällt, auch wenn der Fehler, der
notwendigerweise darin stecken müsse, nicht herauszufinden sei. Die Frauen
gnr — und man weiß ja, wie mächtig die im kirchlichen Leben sind, hat es
doch Windthorst erst dieser Tage- wieder einmal gesagt — die behandeln alle
Vernunftgriinde gegen kirchliche Lehren einfach als Luft, und das unermeßliche
Wissen eines Döllinger kommt für sie höchstens als erschwerender Umstand in
Betracht. Er müsse doch wissen, schreibt eine hochgestellte Dame am
15. Februar 1880 an Döllinger, „daß, wenn ein so reichbegnadeter, hoch¬
begabter und Hellerlenchteter Priester sich gegen die Autorität der Kirche auf¬
lehnt und im Ungehorsam gegen dieselbe stirbt, er eine viel schrecklichere Strafe
in der Ewigkeit zu erwarten hat, als andre, die weniger Erkenntnis, weniger
Gnaden und daher geringere Verantwortung hatten. Es erfaßt mich wahr¬
haftes Grauen und ein ganz nnsagbares Mitleid, wenn ich an die entsetzliche
Zukunft denke, welcher Sie unfehlbar entgegengehen, wenn u. f. w." Es war
wirklich recht überflüssig, daß Döllinger auch in der Antwort an diese Dame
noch seine alte Beweisführung wiederholte. Mehr als weiblich, geradezu
kindlich klingt es, wenn der Nuntius Nuffv Scilla in einem Schreiben vom
l. Oktober 1887 die Hoffnung ausspricht, die allerseligste Jungfrau von:
Rosenkränze lind der Schutzengel würden dem „erlauchten Doktor" eingeben,
der Kirche beim Jubiläum des heiligen Vaters eine Freude zu machen, und
wenn er für diesen Fall seine Dienste zur Verfügung stellt, Döllinger ant¬
wortet diesmal mit auffälliger Schürfe, Die Kirchenzucht sei in Deutschland
so lax, daß er, wenn er gewollt hätte, ohne Furcht vor Strafe zahlreiche
Übelthaten hätte begehen können; aber als er sich geweigert habe, seinen alten
Glauben zu verleugnen und sich den neuen Dogmen zu unterwerfen, da sei
das als ein unerhörtes Verbreche» mit dem Bann bestraft worden, der nach
kirchlicher Anschauung die Todesstrafe an Schwere übertreffe. Und so sehr
sei das Volk gegen ihn aufgehetzt worden, „daß der Polizeipräsident mich be¬
nachrichtigen ließ, es seien Attentate gegen meine Person im Werke, und ich
wurde gut daran thun, nicht ohne Begleitung auszugehen." Wollte er jetzt
sein ganzes langes Leben verleugnen, so würde die ganze Welt sagen, daß er
entweder aus Altersschwäche kindisch geworden sei, oder daß er jetzt lüge, oder
daß er früher gelogen habe. Der Nuntius erwidert darauf dem „sehr er¬
lauchten Professor," seiue Vereinsamung müsse ihm doch klar machen, daß er
Unrecht habe; die Masse der Gläubige,: werde bei seiner Bekehrung nichts als
Freude empfinden, und was einige Schafköpfe (wibsvilsL) sagten, daraus
brauche er sich nichts zu machen, die werde man sofort zur Ordnung verweisen.
In demselben Sinne, wenn auch natürlich in ganz andern: Tone wie die Dame
und der Italiener, wendet sich sogar der gute Hefele 1886 noch einmal an
seinen alten Freund. In dieser Macht der katholischen Kirche über die Ge¬
müter derer, die ihr einmal aufrichtig angehört haben, liegt möglicherweise die
Lösung des psychologischen Rätsels, das Döllinger der denkenden Welt auf¬
gegeben hat. Durch erheuchelte Unterwerfung dem Übel der äußern Trennung
von dieser Kirche zu entgehen, das gestattete sein Gelehrtengewissen nicht, das
bei ihm stärker war als der kirchliche Sinn. Mit Entrüstung weist er die
wiederholt verbreitete fromme Verleumdung zurück, er habe sich unterworfen.
„Ich werde mein Alter nicht mit einer Lüge vor Gott und den Menschen ent¬
ehren, dessen können Sie gewiß sein," schreibt er 1878 an einen Altkatholiken
in Dortmund. Aber an jene unsichtbare Kirche, die er als Ideal in seinem
Herzen, vielleicht würden wir richtiger sagen in seinem Kopfe trug, klammerte
er sich bis zum letzten Atemzuge mit allen Fasern seiner Seele an; obwohl
er dreißig Jahre früher an jedem andern den Versuch, nach Hnssens und
Wielifs Weise die wirkliche Kirche vom Standpunkte der Jdealkirche aus zu
bekämpfen, als eine schon vor vierhundert Jahren durch Wissenschaft und
Leben widerlegte Thorheit mit beißendem Spott gegeißelt haben würde.
Wie die übrigen Dinge dieser Welt, so steht auch die römische Kirche
nicht auf einem einzelnen „Prinzip." Führt man irgendwo ein einzelnes Prinzip
mit unerbittlicher Folgerichtigkeit durch, so kommt allemal ein Widersinn her¬
aus; so ist es der katholischen Kirche 1870 mit ihrem Autoritätsprinzip ergangen,
und darum sahen sich damals diejenigen ihrer Söhne zum Ausscheiden ge-
zwungen, in denen die Logik stärker war als der kirchliche Sinn. Trotzdem
läßt es sich heute noch nicht entscheiden, ob jener Schlag ins Gesicht der
modernen Wissenschaft und Denkweise eine große Dummheit oder ein Akt vor-
schaueuder Weisheit gewesen ist. Pius IX. soll ein beschränkter Kopf gewesen
sein, und was kein Verstand der Verständigen sieht, das übt oft in Einfalt
ein kindlich Gemüt. Wenn sich der liberale Katholizismus in Deutschland,
England und Frankreich, ungehindert durch Kurie und Jesuiten, still und stetig
weiter entwickelt hätte, wer weiß, ob nicht eines schönen Morgens Millionen
gebildeter Katholiken als Protestanten aufgewacht wären. Dieser friedlichen
Prvtestnutisirung einen Riegel vorgeschoben zu haben, ist — vom katholischen
Standpunkt aus gesprochen — das Verdienst des bigotten Pius. Vielleicht
hat er durch seine Eucykliken und Dekrete den Besitzstand des Katholizismus
auf weitere Jahrhunderte gesichert, vielleicht auch damit einen gefährlichen
Sprengstoff hineingelegt. Wer kann in die Zukunft sehen?
Bismarck kein Musikgelehrter. Was der deutsche und vor allem der
norddeutsche Schreibepvbel seit dem Rücktritt Bismarcks geleistet, wie viel er dazu
beigetragen hat, bei Partiknlaristen aller Schnttirungen, bei Ultrnmoutcmeu, Fran¬
zosen, Slawen, Dänen u. s. w. den Glauben zu erzeugen, daß nun ihr Weizen
wieder blühen werde, da gerade in Preußen Undankbarkeit und politischer Unver¬
stand sich groß genug erweisen, um persönlichem und Parteihaß das laute Wort
zu gestatten, das wird uns lange im Gedächtnis bleiben. Thun doch die Wackern,
die sich wie unnütze Buben hinter dem Rücken des Schulmeisters benehmen, das
Ihrige, um das Gefühl der Beschämung nicht zur Ruhe kommen zu lassen, wie sie
denn die alberne Legende vom Hansmeiertum in neuem Aufputz wieder vorbringen.
Aber der deutsche Philister ist auch damit nicht zufrieden. Bismarck hat einen
Komponisten populärer Weisen zu irgend einem Gedenktage beglückwünscht. Darob
ergrimmt einer vom Staude der Musiklehrer, die natürlich auch eine eigne Zeit¬
schrift haben, und läßt in dieser ein Spottgedicht abdrucken, das er ohne Zweifel
für sehr witzig hält, und das von freisinnigen Blättern mit Behagen nachgedruckt
wird. Ja es war wirklich hohe Zeit, daß das deutsche Reich einen andern Kanzler
erhielt, denn der frühere hört zwar (wie jedermann aus seinen Briefen weiß) gern
Beethoven, aber für Liszt, Rubinstein n. s. w. scheint er nicht das rechte Ver¬
ständnis zu haben, und ein solcher Mangel kann durch die untergeordneten Leistungen
Bismarcks auf andern Gebieten natürlich nicht aufgewogen werden! Wie sagt doch
Bewer in seiner Schrift gegen Georg Brandes? „Welcher französische Kritiker
Würde es, ohne Gefahr, geohrfeigt zu werden, öffentlich wagen dürfen, Gambetta,
lediglich weil er leine künstlerischen oder Philosophischen Formen entwickelte, nnter
das Niveau der allgemeinen französischen Kultur zu setzen, wer würde Salisbury,
wer würde Gortschakoff als englische oder russische Halbbarbaren Perschreien, weil
sie keinen lebendig schaffenden Sinn für die Zwecke der schönen Künste an den Tag
gelegt haben?" Ja Nur Deutschen sind halt „so viel" gebildet, wie die Österreicher
sagen, bei uns dünkt sich nicht nur „jeder untergeordnete Litterat als eine geistige
Natur n, priori weit erhaben über alle staatlichen Vernfskräfte der Völker," sondern
auch — der Musiklehrer glaubt eine Persönlichkeit wie Bismarck schulmeistern zu
dürfen, weil er als Privatmann einem Musiker, den der andre nicht für voll an¬
sieht, eine Aufmerksamkeit erwiesen hat.
Das Gedankenbild des ungenannten Verfassers unterscheidet sich von den Ro¬
manen ans Utopien, die neuerdings wieder Mode geworden sind, sehr zu seinem
Vorteil durch zweierlei. Erstens werden uns die Reformen, die der von der edelsten
Gesinnung beseelte Verfasser für wünschenswert hält, in ganz kleinem Maßstabe
vorgeführt. Der menschenfreundliche Fürst eines deutschen Kleinstaates, dessen
Hauptstadt den symbolischen Namen Nenstndt am Avenir erhält, hat sich mit einem
gleichgesinnten reichen Fabrikbesitzer und einem evangelischen Pfarrer in Verbindung
gesetzt, diese drei Männer werben Anhänger und rufen eine Reihe gemeinnütziger
Anstalten ins Leben von der Art, wie solche in Wirklichkeit hie und da schon vor¬
handen sind. Der Fabrikbesitzer führt bei sich die Gewinnbeteiligung der Arbeiter
und allerlei Wohlfahrtseinrichtungen ein, sodann werden eine Werkstatt für arbeits¬
lose Männer, ein großes Tapisseriegeschäft zur Verbesserung der Lage der Nadel-
arbeiterinnen und ein Warenhaus gegründet; endlich anch ein musterhaft einge¬
richtetes Hotel, dessen Angestellte Nieder Trinkgeld nehmen, noch sich von den
Gästen grob kommen lassen. Zweitens sucht der Verfasser die Ursache der herr¬
schenden Übel vorzugsweise in der Unsittlichkeit der den modernen Geschäftsverkehr
und die gesellschaftlichen Verhältnisse beherrschenden Grundsätze und geht daher
vorzugsweise auf sittliche Erneuerung ans. Als Ideale schweben ihm vor einerseits
die Brüdergemeinde, anderseits eine Organisation der Bernfsstände, die an Schäffles
Ban der Gesellschaft erinnert. Mit der Hervorhebung- dieser Vorzüge haben wir
den Neformplcm des Verfassers schon kritisirt. Es ist eben die Frage, ob sich jene
Einrichtungen, die im einzelnen nicht allein ausführbar sind, sondern sich hie und
da schon bewährt haben, ganz allgemein und mit Ausschluß aller freien kapitalistischen
Unternehmungen werden durchführen lassen. Es ist auch die Frage, ob es die
unruhigeren Geister und die Genies in herrnhntischer Enge und Zahmheit aus¬
halten werden, und was aus der Welt, aus der Weltgeschichte, aus dem Menschen¬
leben im großen Stile mit seiner erschütternden Tragik und seiner erfrischenden
Komik werden würde, wenn es gelänge, alle solche uudisziplinirbare Elemente aus¬
zurotten. Der Verfasser eröffnet uns selbst einen Ausblick in die Zeiten untadel-
hafter Ordnung auf einem verhältnismäßig untergeordneten Gebiete. Der Fürst
reformirt auch sein Hoftheater nach dem Grundsatz, daß außerordentliche Gaben
und geschäftliche Konjunkturen nicht als Privateigentum ausgenützt werden dürfen,
sondern dem damit begnadeten zum allgemeinen Besten beschert werden; der sogar
von einem Stahl anerkannte Satz, daß Gott der Jenny Lind in ihrer Kehle ein
Kapital geschenkt habe, wird ausdrücklich für falsch erklärt. Der Fürst will demnach
die unmäßig hohen Besoldungen der Schauspieler herabsetzen und ihnen den Gast¬
spielurlaub entziehen, dafür aber ihnen ein sorgenfreies Alter sichern. Er zweifelt
nicht im geringsten daran, daß unter diesen Bedingungen kein einziger der jetzigen
Schauspieler bleiben werde, aber er gedenkt ältere ausgediente Schauspieler zu be¬
rufen, die ihm ein neues Schauspielergeschlecht in christlichen Grundsätzen erziehen
sollen. Schade, daß der Fürst Arnold nur in dem Buche existirt; man dürste auf
den Erfolg des Versuches gespannt sein! Und mit der Reform des Waarenum¬
satzes nach dem Muster der Konsumvereine und Offizierswarenhäuser sollen auch
die „versuchlichen" Schaufenster wegfallen! Daß doch unsre Weltverbesserer das
Wort Cajetans so ganz vergessen:
Etwas fürchten und hoffen und sorgen
Muß der Mensch für den kommenden Morgen,
Daß er die Schwere des Daseins ertrage
Und das ermüdende Gleichmaß der Tage.
Das Hoffen ist schon heute für einen großen Teil der Menschheit ein Wort ohne
Sinn; die Beamten und die Arbeiter wissen genau, wie hoch oder niedrig sie es
im Leben bringen können, und die sozialdemokratische Bewegung verdankt ihre Kraft
zum Teil dem unzerstörbaren Hange, lieber eine offenbar unsinnige Hoffnung zu
hegen als auf jede Hoffnung zu verzichten. Glaube man, daß die Menschheit sich
wohler fühlen werde, wenn auch das Fürchten und Sorgen hinwegsiele und zuletzt
sogar jene harmlose Abwechslung, die das Schauen, durch Befriedigung der Augen¬
lust gewährt? Es klingt paradox, aber ich glaube, daß die Schaufenster schon
manchen Selbstmord- verhütet haben, indem sie den in der Pflichtentretmühle lebeus-
üverdrüssig gewordnen zerstreuen und vom Brüten abziehen.
Übrigens ist das kleine Buch reich an treffenden Urteilen über unsre Gesell-
schaftseinrichtnngen und um nützlichen Winken; auch bekundet es gründliche Kenntnis
des Lebens und, obwohl es nicht mit Zitaten Prunke, der Fachlitteratur, Durch
Weckung schlafender Gewissen würde es sehr heilsam wirken, wenn die Vertreter
eines rücksichtslosen Kapitalismus dazu gebracht werden könnten, so etwas zu lesen
oder anzuhören. Auch die Widerlegung einiger sozialdemokratischen Lehrsätze wird
jedem einleuchten, der — nicht unglücklicherweise Sozialdemokrat ist.
Ein hübscher und vielversprechender Titel. Leider täuscht die Schrift in mehr
als einer Beziehung die Erwartungen des Lesers. In ziemlich äußerlicher Weise
hat der Verfasser die Handlungen und Charakterzüge der komischen Person zu¬
sammengestellt, wie sie sich in den wichtigsten deutschen Dramen vom Passionsspiel
des dreizehnten Jahrhunderts bis ans Christinn Weise und Strnnitzky finden. Ein
eigentliches Ergebnis wird nicht zu Tage gefördert; denn daß der lustige Diener
des siebzehnten Jahrhunderts ziemlich dieselben Eigenschaften zeigt wie der Bauer
in den Fastnachtsspielen, also mit diesem in innern. Zusammenhange steht, darüber
kann niemand im Zweifel sein, der mit den von Neuling benutzten Dramen einiger¬
maßen vertraut ist. Auch ist es etwas einseitig, daß der Verfasser in der komischen
Figur nur den dummen, freßgierigen, lüsternen Bauern und dann den unter un¬
zähligen dentschen und fremden Namen wiederkehrenden Hans Wurst sieht, dessen Typus
die englischen Komödianten ausgebildet haben. In mehreren der behandelten Dramen
ist eine ganz andre Person in viel höherm Maße Träger des komischen Elements,
so der bramarbasirende Vincentius Ladislaus des Herzogs Heinrich Julius von
Brmmschweig, der freilich nicht auf ein älteres deutsches Vorbild, sondern ans den
miI<ZL Alonosn« des Plautus zurückgeht; hier waren eben die Einflüsse des Hu¬
manismus festzustellen. Offenbar aus demselben Gründe fehlt auch jede Bemerkung
über den Horribilieribrifax, vielleicht die charakteristischste komische Figur, die die
deutsche Dramendichtnng des siebzehnten Jahrhunderts hervorgebracht hat: anch
dieser liegt wie alle, die keine innere Verwandtschaft mit lustigen Personen aus
mittelalterlichen Spielen zeigen, außerhalb des Rahmens, in dem sich die Dar¬
stellung des Verfassers bewegt.
Noch eins. Es ist betrübend zu sehen, wie „deutsche Philologen" — und zu
denen will doch Wohl der Verfasser gerechnet sein — vielfach recht ungeschickt mit
ihrer Muttersprache umgehen. Auch Neuling ist in dem Glanben befangen, die
Rede werde schwerfällig durch die Hilfszeitwörter in den zusammengesetzten Zeiten,
und schreibt: „Ferner berichtet Jan, daß er bei Bacchus Diener gewesen und Jup-
piter beschlossen, alle u. s. w." Nein, ein „sei" und „habe," da wo es hinge¬
hört, befördert den Fluß der Rede und erleichtert das Verständnis; dagegen ist das
umständliche Pronomen „derselbe," das Renting fast zu Tode hetzt, ein unnötiger
Ballast. Zwischen „fragt" und „frägt," „Schweizer Dramen" und „schweizer
Dramen," „mehreremal" und „mehremal" schwankt der Verfasser unsicher hin und
her; anch darüber ist er sich nicht klar, daß das Neutrum unsers Relativpronomens
„das" und nicht „was" heißt. Folgenden schönen Satz möchten wir besonders
festnageln: „Den so (!) beliebten Stoff »Hefter, Ziirych 1567« hat auch Murer
bearbeitet." Das soll heißen: den beliebten Stoff der Esther hat auch Murer
bearbeitet, seine Bearbeitung ist 1667 in Zürich erschienen. Dergleichen spricht für
große Flüchtigkeit, ebenso wenn der Verfasser die Redensart „Beifall finden" mit
„Gefallen finden" verwechselt, wenn er aus den Curiatiern Curatier macht (natür¬
lich, die Horatier haben ja auch das i nicht!) und bei der Besprechung des Peter
Squenz deu Pyrnmus mit Priamus verwechselt! Druckfehler sind das nicht, die
Curatier und Priamus stehen gleich dreimal hinter einander.
Den mmmichfachen Versuchen, die von Männern der Litteratur wie der Bühne
unternommen worden sind, Kleists Käthchen von Heilbronn in eine Form umzu¬
gießen, die das „dramatische Märchen" für die Aufführung geeigneter machen und
zugleich die immer etwas peinlich wirkende Enthüllung am Schlüsse von der Bater¬
schaft des Kaisers vertuschen sollte, diesen Versuchen Holbeins, Devrients, Laubes
und andrer hat sich neuerdings Karl Siegers Bearbeitung angereiht. Siegen hat
vor allen seinen Vorgängern, die zum Teil ziemlich rücksichtslos mit dem Klcistschen
Texte umgesprungen waren, das voraus, daß er von vornherein darauf verzichtet
hat, die Worte der uns gewohnten Fassung des Katheders „undichten" zu wollen;
an den Stellen, wo es zu ändern galt, hat er sich ganz davon losgemacht und
auf den ursprünglichen Plan Kleists zurückgegriffen , wie ihn die beiden ersten im
„Phöbus" abgedruckte» Akte erkennen lassen (denen gegenüber dein Dichter selbst
später sein vollendetes Drama als eine Verschlechterung erschien). Bei der Ver¬
folgung dieses ursprünglichen Entwurfes ist es Siegen erstens ermöglicht worden,
die besonders im Anfange ziemlich breit dahinfließende Handlung etwas zusmumen-
zufasseu, dann aber auch durch Wiederherstellung von Stellen, die Kleist später
gestrichen oder geändert hatte, die Charakteristik noch schärfer auszuführen. So
beleuchtet der große Monolog des Grafen im zweiten Akt, der in der bekannten
Fassung des Dramas fehlt, den Charakter Wetter Strahls weit klarer, als es die
sonst nur tropfenweise fallenden Bemerkungen in der Menge der durcheinander--
schießenden Szenen imstande sind. Das Hauptverdienst aber der Siegenschen Be¬
arbeitung besteht in der Vereinfachung des Schlusses. Es erscheint kein rettender
nisus sx nmvllinÄ, es braucht sich kein Kaiser Karl in langem Monologe die Ver¬
führung eines Heilbronner Bürgermädchens ins Gedächtnis zurückzurufen, um dem
Grafen die Heirat mit Käthchen zu ermöglichen, dem wackern Friedeborn wird es
erspart, sein teures Kind als die Tochter eiues ander» erkennen zu müssen, die
alles besiegende Liebe führt einen natürlichern und wohlthuendern Abschluß herbei,
sie hebt den Grafen über alle Bedenken hinweg, sie läßt ihn seinen Ahnenstolz
vergessen und das schlichte Bürgerkind heimführen, dessen Seelenadel ihn bezwungen
hat. Mit diesem abrundenden Schlüsse ist, man kann wirklich sagen, einem Mangel
der Kleistschen Dichtung abgeholfen worden. Daß das Drama durch diese Um¬
arbeitung an Bühnenfähigkeit gewonnen hat, zeigt schon ein Blick ans das Szenarium
und das Personenvcrzeichnis: der Szenenwechsel ist mehreremal erspart worden,
und statt dreißig sprechender Personen hat Siegen die Hälfte, sechzehn. Nicht zum
mindesten diesem Umstände hat es der Bearbeiter auch wohl zu danken, daß schon
eine Reihe größerer deutscher Bühnen seine Bearbeitung zur Aufführung angenommen
oder schon aufgeführt hat. Daß die Bearbeitung überall, wohin sie gedrungen
ist, sich Freunde erworben hat, freut uns im Interesse der schönen Dichtung
Kleists.
Schade, daß die Ausstcittnng des Büchelchens nicht besser ist. Die Verlags¬
buchhandlung hat unter andern Anpreisungen auch die mit auf den Umschlag ge¬
setzt: „Geeignetstes Festgeschenk für Damen." Wer soll aber einer Dame ein so
ärmliches Heftchen als „Festgeschenk" bieten?
Die Berliner Naturalisten rühmen sich, einen der ältern Vertreter der deutschen
Litteratur, noch dazu einen wirklichen Meister und echten Dichter für ihre Richtung
und mit ihrem Evangelium gewonnen zu haben. In der That gehören schärfere
Augen dazu, als das Publikum und eine gewisse Kritikerzuuft besitze», um den
gewaltigen Abstand zu messen, der zwischen den Bestrebungen des reflektirten Sturmes
und Dranges und der naiven Lust an treuer Lebens- und Sittenschilderung auch
bei den neuesten Arbeiten Theodor Fontanes obwaltet. Vielleicht könnte man sagen,
die gewaltsame Bewegung und das ohrzerreißende Geschrei nach der natürlichen
Natur und der wahren Wahrheit haben bei einem so selbständigen Schriftsteller,
wie es Fontäne unzweifelhaft ist, die Neigung gesteigert, eine Reihe von Motiven
und Gestalten, die er seiner jahrzehntelangen scharfen Beobachtung des Berliner
Lebens verdankt, wahlloser als ehedem zu verwerten. Es ist zu Zelten, als ob
es ihn triebe, die groben Knrrikaturen, die an der Tagesordnung sind, mit ein
paar Meisterstrichen in wirkliche Gesichter und Figuren umzuwandeln; ein Zug
leiser Ironie liegt über den Zügen des Vielerfahrenen, der den jüngsten Genies
beweist, daß sie weder richtig sehen, noch das Gesehene erkennbar wiedergeben können.
Zur Gruppe der Berliner Geschichten, die verzerrte Schilderungen des Lebens und
Treibens der Hauptstadt gleichsam korrigiren, gehört auch die neueste Erzählung
Fontanes, ein Genre- und Sittenbild nicht erquicklicher, aber geistvoller und
fesselnder Art, ein Alltagserlebnis mit bedenklichem Untergrund und tragischen
Ausgang.
„Stine" ist in gewissem Sinne ein Seitenstück zu des Verfassers kleinen,
Roman „Irrungen -Wirrungen." Der Name ist die Berlinische Abkürzung für
Ernestine, und Ernestine ist eine hübsche, junge Arbeiterin, die das zweifelhafte
Glück hat, die Neigung eines jungen Grafen Waldemnr Haltern zu gewinnen.
Trotz ihrer guten Vorsätze, sich zu halten, hat sie es nur der Eigenart und der be¬
sondern Sinnesweise des jungen Mannes zu danken, daß sie vor den Schicksalen
ihrer schönen Schwester Pauline bewahrt bleibt, die als Witwe Pittelkow die unter¬
haltene Geliebte eines altern Grafen Haltern, des Onkels von Wnldemar, ist. Der
einsiedlerisch und ohne innere Befriedigung seine Tage hinspinnende, dazu kränkliche Graf
Waldemar faßt zuletzt den Entschluß, Stine zu heiraten, schlägt den Widerstand, den
er bei seiner Familie findet, nicht hoch an, scheut ihn wenigstens nicht, erliegt aber
der grausamen Enttäuschung, die ihm Ernestine bereitet. Denn sie schlägt es rund
ab, seine Frau zu werden. „Dadurch, daß man anspruchslos sein null, ist man
es noch nicht, und es ist ein ander Ding sich ein armes und einfaches Leben aus¬
malen oder es wirklich sichren Und für alles, was dann fehlt, soll das Herz
aufkommen. Das kaun es nicht, und mit einemmale fühlst du, wie klein und arm
ich bin. Ich glaube, daß aus allein, was du vorhast, uur Unheil kommt, nur
Enttäuschung und Elend. Der alte Graf ist dagegen, nud deine Elten sind da¬
gegen und ich habe noch nichts zum Glück ausschlagen sehen, worauf von Anfang
an kein Segen lag. Es ist gegen das vierte Gebot, und wer dagegen handelt, der
hat keine ruhige Stunde mehr, und das Unglück zieht ihm nach."
Diese nüchterne, herbe Verständigkeit kommt aus dem Innersten von seines
Natur, kostet aber dem armen kleinen Grafen das Leben. Er hat so wenig
Sonnenschein gehabt, daß er den letzten Strahl, der ihm noch genommen wird, nicht
missen kann und seinem Dnsein durch Gift ein Ende macht. Fran Pauline
Pittelkow hat für ihre arme Schwester den Trost bereit: „Un bei allens is auch
wieder 'n Glück. Jott, er war ja so weit janz gut, un eigentlich ein anständiger
Mensch und nich so wie der Otte, der ans Ganze schuld is; warum hat er'n
mitgebracht? Aber viel los war nich mit ihm; er war man doch miesig," Der
Leser aber teilt die Empfindung, die seines gemeine Wirtin als Chorus aus¬
spricht: „Die wird nich wieder." Stine hat auf ihre Art Recht gehabt, als sie
die thörichte Heirat ausschlug, jetzt ist sie ins Unrecht gesetzt und wird sich damit
nicht abfinden können.
In, den Rahmen dieser einfachen Geschichte stellt Fontane nun eine Folge vou
Szenen hinein, die von seiner genauen Kenntnis aller Untiefen und wunderlichen
Widersprüche des Berliner Lebens zeugen. Von der Anmeldung des alten Grafen
Haltern bei Frau Pauline Pittelkow und dem Abendessen in deren Wohnung an
bis zur Rückkunft der armen Stine von der Leichenfeier ihres kleinen Grafen werden
wir vollständig in die schwüle Atmosphäre großstädtischer Not und großstädtischer
Fäulnis versetzt. Mit einer erschreckenden Deutlichkeit führt die Erzählung die
wunderbare Mischung ursprünglicher Bravheit, eines gleichsam unverwüstlichen Kernes
und laxer Fügung in die hergebrachte Unsitte vor. Diese Pauline ist leider eine
nur zu lebenswahre Gestalt, sie, die ohne großes Widerstreben die Maitresse des
alten Grafen Haltern ist, den sie selbst „alter Ekel" betitelt, die sich bei ihrer
Kaffeekanne und Kuchen wohl sein läßt und ihrem Grafen Berlinische Grobheiten
sagt, verleugnet nuf der andern Seite ihre ererbten und gleichsam nur beiseite ge¬
legte» bürgerlichen Ideale nicht. Als sie der „alte" Graf Haltern beschuldigt, dem
Verhältnis zwischen seinein Neffen und ihrer Schwester Vorschub geleistet zu haben,
enthüllt sie ihre innerste Seele in den? Nusbrnch: „Und un hören Sie mal ein
bißchen zu. Hier drüben wohnt ein Schlosser, ein Kunstschlosser, und hat 'neu
Neffen, einen allerliebsten Menschen, der bei den Maikäfern, gestanden — aber jetzt
is er wieder ins Geschäft. Der war letzten, Sommer immer um die Seine 'nun,
un wenn der das Mächen nimmt, dann geh ich nächsten Sonntag in'u Dom oder
zu Buchheim und weine Mir aus und danke dem lieben Gott für seine große Gut¬
that »n Gnade, was ich nu schou, eine gute Weile nich gethan habe." Auch die
Vvrstadtschnuspieleriii Wanda Grützmacher und anderseits der „alte" Graf Haltern und
der „Pagcigcno" getaufte Baron sind vollkommen durchgeführte Gestalten, in deren
an sich nicht erfreuliche Existenz man klar hineinblickt, deren Thun und Treiben wie
deren Seelenregnngeu uns nach Ursprung, Anlaß und Zusammenhang verständlich
werden. Wie gesagt, gegen die Deutlichkeit und Wirklichkeit der Sitten- und
Menschendarstellung in „Seine" läßt sich nichts erinnern, der Unterschied zwischen
der künstlerisch sichern Zeichnung und Farbengebung Fontanes und zahlreichen
Sudeleien, die sich Berliner Lebensbilder nennen, kommt uns keinen Augenblick aus
dem Bewußtsein.
Dennoch müssen Nur immer »nieder die Frage aufwerfen, was denu die fort¬
gesetzte Vorführung gerade dieser Lebenserscheinungen, die Bevorzugung gerade
solcher Szenen und Motive bedeuten, welche innere Genugthuung sie dem Dichter
und welche dem Leser gewähren soll? Die Treue der Bevbnchtnug und die
Leichtigkeit ihrer Wiedergabe bleiben unter allen Uniständen Vorzüge. Aber sie
ersetzen, die freie Schöpfungslust nicht, mit der sich der Dichter den glücklichen,
ihn wahrhaft ergreifenden Stoff in der Phcmtnfie zum eignen Erlebnis gestaltet.
Von der Wahrheit und Wärme dieses innern Lebens und Erlebens hängt nach wie
vor die Stärke und Nachhnltigkeit Poetischer Eindrücke ub; der Anteil, den Zustände,
und Menschen wie die in „Seine" geschilderten erwecken, kann sich nicht zur vollen
Mitempfindung erheben, und Wenn zur Mitempfindung, nicht zur Poetischen Wirkung.
Der vorliegende holländische (oder vlämische) Roman ist mit, einer gewissen
Sauberkeit und Sorgfalt geschrieben, ohne doch in Erfindung, Anlage, Durchführung,
Charakteristik, Kolorit und poetischem Stniunnugslebeu über die Mittelmäßigkeit
lstnausznrageu und den Eindruck eines eigentlichen Dichterwerkes zu hinterlassen.
Weder die Grundzüge der Handlung, noch eine der Gestalten, um deren Geschick
sichs handelt, prägen sich der Erinnerung bleibend ein; anderseits enthält der Roman
zu, viel an ernsten Lebenszügcn, an liefern Betrachtungen, um zur bloßen
Unterhallitiigslektiire gerechnet zu werden. Der Verfasser (oder die Verfasserin?)
hat so weil den, richtigen Instinkt für die Aufgabe des historischen Romans, als er
verhältnismäßig wenig unverarbeitetes historisches Material in die breit ausgedehnte
Familiengeschichte hineinbringt, die sich auf dem Hintergrunde der niederländischen
Geschichte des sechzehnten Jahrhunderts abspielt. Er bemüht sich, die Verhältnisse,
Zustände und Ereignisse der unheilvollen sechziger Jahre des sechzehnten Jahr¬
hunderts, das Ende der Regentschaft der Herzogin Margarete von Parma, das
Eintreffen des blutigen Herzogs von Alba und den Beginn der niederländischen
Befreiung mit den Geusenkämpfen durch Erlebnisse und Gespräche der handelnden
Personen hindnrchscheinen zu lassen. Gelingt dies nicht immer, und versagt es sich
Wallis nicht, gelegentlich selbst dreinzusprechen, zu erläutern und dem historische!:
Gedächtnis der Leser nachzuhelfen, so unterbricht dieser Übelflnud doch im ganzen
den Fluß der Erzählung nicht, der mit etwas mehr als epischer Ruhe langsam
fortrinnt. Die Breite des Romans ist stellenweise ermüdend; aber da es sich doch
immer um Ereignisse und Kämpfe handelt, deren Bedeutung und Nachwirkung sich
bis auf die Gegenwart erstreckt, so wird sie nicht gerade zur Inhaltslosigkeit. In
der Hauptsache werden, die Schicksale und Erfahrungen eines jungen Helden von
dunkler, doch, wie sich schließlich ausweist, hoher Abstammung erzählt, der bei Beginn
des Romans noch der alten Kirche angehört und zu den die Niederlande bewegenden
Glaubensfragen so wenig Stellung genommen hat, als zu dem Konflikt zwischen
niederländischen Selbständigkeitsdrange und spanischem Despotismus. Edward Mel-
ville wird durch eine Reihe innerer und äußerer Prüfungen nach und nach der
evangelischen Sache zugeführt, ergreift die Waffen dafür, widersteht dem Flehen
seines Vaters, des Grafen und Herzogs von Viale, der ihn schließlich anerkennen
will, reißt sich auch von der Geliebten los, die vor der letzten Entscheidung noch
einmal in seinen Gesichtskreis tritt, und stirbt in der Schlacht von Heiligerlee,
angesichts des ersten Sieges, den die niederländischen Protestanten gegen die Spanier
erfochten haben. Die opferwillige Stimmung, die in ihm obwaltet, verkörpert die
Stimmung des nordniederländischen Volkes in jener schweren Zeit. Gleichwohl
wird die Teilnahme für den Helden nicht warm und lebendig, es fehlt dein Roman
an einer starken, vorwärts drängenden, uns lebendig mit ergreifenden Empfindung,
der Verfasser illustrirt zu viele Gemeinplätze etwa vom Schlage des nachstehendem
„Ein wie schwaches, gebrechliches Geschöpf der Mensch an sich auch ist, so sind
doch häufig erst furchtbare Schläge nötig, ehe das arme Herz bricht, und dann
ist der Augenblick gekommen, in dem die Seele klagt, daß sie so viel Wider¬
standskraft besitzt, und die Lippen flehen: Ach, daß ich sterben könnte!" Auch die
allzu häufigen Wiederholungen der schmiickcnde.it und belebenden Worte bei den
Gestalten, denen der Verfasser seine besondern Sympathien gönnt, wie z. B. bei
der Nonne Klara, wirken langweilig. Alles in allem muß man sich doch fragen,
warum Bücher dieses Gepräges übersetzt werden, die doch an die guten historischen
Romane, die wir in deutscher Sprache habe», nicht heranreichen und selbst mit
frischen Erzählungen zweiten Ranges, wie Spindlers „Jude" und „Jesuit," Lentners
„Tiroler Bauernspiel" und andern, die mit Unrecht vergessen sind, nicht in die
Schranken treten können. Als bloße „Novität" will ein Buch dieser Art doch nicht
angesehen sein, und bleibenden Wert kann man ihm. trotz mancher Einzelvorzüge
nicht zusprechen.
Ein ehemaliger Göttinger Student, Sprecher der Germanen, Teilnehmer an
dem unglücklichen Sturm auf die Konstablerwacht in Frankfurt und nun seit einem
halben Jahrhundert Arzt in Amerika, ist vom Heimweh wieder über das Meer
getrieben worden. Er wollte wiedersehen, was ihm noch in freundlicher Erinnerung
war. sich aber auch überzeugen, daß das Ziel, das den einstigen Hochverrätern
vorschwebte, auf audern Wegen wirklich erreicht worden sei. Er wollte „den Kaiser
sehen, von dein wir so manchmal gesungen, desgleichen den. Kanzler, den eisernen Mann,
des zerrissenen Landes Erretter"; und seine Frau schrieb ihm, er müsse bei der
Heinikehr den Marschall Moltke beschreiben, habe er den nicht gesehen, so sei das
ebenso, wie in Rom gewesen, zu sein, ohne den Papst gesehen zu, haben. Er nennt
sich gern einen Hinterwäldler, und zu der Bezeichnung Passer nicht allein die knorrigen
Verse, in denen er über Erlebnisse und Eindrücke berichtet, und gelegentlich recht
kräftige Ausdrücke; auch die ehrliche Gesinnung, die nüchterne Lebensansicht ent¬
spricht dem Bilde, das wir uns in, Europa von einem Hinterwäldler machen.
Nicht alles gefällt ihm in dem neuen Deutschland, und er hat dessen kein
Hehl; doch verheimlicht er sich ebenso wenig, daß hie und da die Schuld wohl
uicht an deu neue» Zuständen, sondern an seinen alten Augen liege. Das Wider¬
wärtigste find ihm offenbar „die Drähnbnrtel mit flüssige« norddeutschen Gnaden,"
denn:
Es herrschen in Amerika
Die schwatzenden Advokaten,
Wer wills verdenken, daß ich drum
Borziehe die Männer der Thaten?
Er hatte das Glück, im Reichstage die Haupthähne zu sehen, und auch einige
vou ihnen zu hören. Eugen Richter versicherte, die Rinderpest existire nur im
Kopfe des Kanzlers, der von der Sperre großen Gewinn habe, und Rickert klagte
über die Bedrückung der jüdischen Viehhändler, die die Bulle der deutschen Nation
bildeten; Meinrad hat ihnen kostenfrei die Titel, Neichsvberwaschfrau und Reichsober¬
lei ebend leder verlieh en.
In Varziu erkenne» sich Bismarck und der Verfasser als einstige Gegner ans
der Mensur, in Creisau führt der Verfasser ein Gespräch über amerikanische
Blumenzucht mit einem alten Herrn, den er für den Pastor des Ortes hält, der
sich aber schließlich als der große Feldherr zu erkennen giebt. In Berlin und
Frankfurt stellt er Vergleiche zwischen dein Einst und Jetzt dieser Städte an (daß
Berlin nur durch die Freisinnigen groß geworden ist, scheint ihm nicht verraten
worden zu sein!), und auf dem Niederwald vollends geht ihm das Herz auf.
In diesen Tagen thut es doppelt wohl, die Stimme eines Mannes zu ver¬
nehmen, der drüben eine gute politische Schule durchgemacht und sein National¬
gefühl so treu bewahrt hat, daß die Freisinnigen ihn wohl für ein „Reptil" hallen
werden. Ist doch der alte Burschenschafter so beschränkt, am Schlüsse den Deutschen
znznrufein
Verlaßt nicht Gott, so wird auch er
Sein deutsches Volk nicht verlassen!
ußer den bisher erörterten wird noch eine große Anzahl
andrer Fragen zu eingehender Prüfung an den Kvlonialrat
hinantreten, und man kann nur dann ein Bild von seiner mut¬
maßlichen Thätigkeit entwerfen, wenn man die Dinge in den
Vordergrund stellt, auf die sich diese Thätigkeit vor allem er¬
strecken soll.
Selbst auf die Gefahr hin, schon bekanntes zu wiederholen und zu einer
breitern Darlegung von Einzelheiten in Bezug auf Verwaltung und Kultur
gezwungen zu sein, sehe ich mich hier genötigt, Einzelfragen zu behandeln. Aus
ihnen wird zu Genüge hervorgehen, daß diese Lösung nur durch Fachmänner
aus den verschiedensten, namentlich den im Anfange meines Aufsatzes ange¬
führten Kreisen herbeigeführt werden kann.
Nehmen wir an, die Abgrenzung eines Wirtschaftsgebietes habe statt¬
gefunden, so werden sich alle mit einer seßhaften Lebensweise verbundenen
Unternehmen hierher wenden; nur Handelszüge, und diese werden von Euro¬
päern selten oder gar nicht geleitet werden, dringen bis über die Grenzen
unsers Wirtschaftsgebietes vor. Ein junges Land entwickelt sich aus seinen
Anfängen desto schneller, je mehr Ansiedler es betreten; wie solche am besten
herbeizuführen sind, will ich später erörtern. Die klimatischen und Boden¬
verhältnisse weisen uns in unsrer Kolonie vor allen Dingen auf die Boden¬
kultur, diese kann aber nur dann mit Erfolg betrieben werden, wenn es ge¬
lingt, den Eingebornen zur Arbeit heranzuziehen. Dies ist auf der einen Seite
nicht mehr so schwierig wie früher, anderseits wird es eben Aufgabe der
Verwaltung sein, für eine richtige Stellung von Arbeitern und deren Verteilung
unter die Ansiedler zu sorgen. Um dies zu bewerkstelligen, stehen uns zwei
Mittel zu Gebote. Erstens die Lokalisation der unser Wirtschaftsgebiet be¬
wohnenden Eingebornen, zweitens die Anwendung des in manchen Kolonien
bestehenden lap ok inäsuturs auf diese, oder wie Herr Hübbe-Schleiden. der
es auf unsre kolonialen Verhältnisse sehr praktisch zugeschnitten hat, es nennt,
das Vertragssystem.
Die Lokalisirung der Eingebornen ist nicht etwa so aufzufassen, daß die
Eingebornen von Haus und Hof verjagt, ihres urbar gemachten Landes be¬
raubt und in unwirtbare Gegenden vertrieben werden sollen. Sie vollzieht
sich vielmehr in der Weise, daß nach und nach die Eingebornen veranlaßt
werden, sich in bestimmte und für den Zweck besonders ausgesuchte „Reserven"
zu begeben, wo Europäern sich anzubauen nicht erlaubt ist. Fremde Ein-
geborne, die in das Wirtschaftsgebiet übersiedeln wollen, dürfen sich überhaupt
nur in den Reserven niederlassen.
Das Vertragssystem besteht nach der Auslegung Hübbe-Schleidens darin,
das Haupt einer farbigen Familie dafür verantwortlich zu machen, daß ein mit
deren Mitgliedern abgeschlossener Arbeitsvertrag auch von diesen gehalten werde.
Bei dem. Zusammenwohnen der Eingebornen auf genau bestimmtem Gebiet
und der dadurch bedeutend erleichterten Kontrolle ließen sich nun mehrere
Einrichtungen einführen, die in Java großen Erfolg haben. Eine davon wäre
der sogenannte „Heeredienst," eine gewisse Arbeitsleistung für die Regie¬
rung. Diese geschieht unentgeltlich und sollte vor allen Dingen für die An¬
legung brauchbarer Verkehrswege im Wirtschaftsgebiete verwandt werden.
Ferner wäre der Anbau leicht verkäuflicher Rohprodukte durch die Eingebornen
in den Lokationen zu empfehlen. Der Gewinn, den Java aus dem für die
Regierung in ähnlicher Weise gebauten Kaffee erzielt, beläuft sich jährlich auf
Millionen. Nur ist in Afrika die Lokation der Eingebornen vorher einzu¬
führen, da die Methode ohne Kontrolle nicht durchführbar wäre.
Auch der Mission öffnet sich ein weites Feld der Thätigkeit. Sie sollte,
weit mehr als es bisher geschehen ist, aus der Zahl ihrer farbigen Bekehrten
Missionare ausbilden und energischer mit der Errichtung von Industrieschulen
vorgehen. Die aus solchen Schulen hervorgehenden Handwerker und ge¬
schulten Arbeiter bilden in allen Kolonien, wo sie sich finden, eine gesuchte
Menschenklasse.
Der arbeitende Neger aber erwirbt, und er gelangt zu Besitz, mithin wird
er steuerfähig. Die Lokationen aber gewähren uns den Vorteil, eine Steuer,
wenn sie einmal eingeführt ist, verhältnismäßig leicht zu erheben. Die Steuer
wird der Eingeborne zu leisten haben als Entgelt für die erzieherische Sorgfalt,
die die Negierung auf ihn verwandt hat, gerade wie sie jedem Staatsbürger
im Staatsinteresse erwächst. Diese Steuerleistung wird sich ausdrücken können
in Gestalt einer für jede Hütte zu zahlenden jährlichen Abgabe, in Lieferung
von Naturalien im Werte derselben Summe oder durch persönliche Arbeits¬
leistung für bestimmte Zeitdauer innerhalb des Jahres.
Wir sehen nun auch, daß sich für unsre Truppe Arbeit genug findet.
Diese würde vollauf in Anspruch genommen sein durch die Ausgabe, die Lo-
kation zu überwachen, die Ruhe darin aufrecht zu erhalten, sie gegen fremde
Eindringlinge zu schützen, für die richtige Stellung der Arbeiter zu sorgen, die
Wegebauten und den Anbau von Produkten zu beaufsichtigen, Steuern einzu¬
treiben u. s. w. Aber alles dies wären Aufgaben, die eine Gendarmerie vor¬
trefflich ausführen könnte und wozu Soldaten unnötig sind.
Die Herbeiziehung des Negers zur Tragung der Staatslasten führt uns
zur finanziellen Entwicklung des Landes im allgemeinen. Die Besteuerung
des Negers setzt Verhältnisse voraus, die die Durchführung der Maßnahme
ermöglichen. Da diese erst geschaffen werden müssen, so liegt das angestrebte
Ergebnis noch in einiger Ferne. Anders liegt die Sache mit den Händlern,
die jetzt schon unmittelbaren Verdienst erzielen. Diese sollten zu einer Gewerbe¬
steuer herangezogen werden, umsomehr, weil, wenn der Handel durch Europäer
betrieben würde, das Land einen größern mittelbaren Nutzen davon hätte.
Zur Zeit befindet sich der Kleinhandel hauptsächlich in den Händen von
Arabern und einigen Indern. Von beiden hat das Land keinen Nutzen. Der
Araber verkriecht sich in irgend einen Winkel im Innern des Landes, kauft
sich Frauen für feinen Harem und lebt von den Erzeugnissen des Landes fast
kostenlos. Der Inder legt seinen Verdienst ebenfalls nicht im Lande an,
sondern hinterlegt ihn in indischen Banken, um einst in seiner Heimat als
wohlhabender Mann leben zu können. Europäer, die allerdings durch die
klimatischen Verhältnisse verhindert sind, den Handel in der Weise wie Araber
oder Inder zu betreiben, würden einen Teil ihrer Einnahmen zur Anschaffung
von Lebensbedürfnissen und Luxusartikeln wieder ausgeben, das gewonnene
Geld bliebe in Umlauf, die Einfuhr höbe sich, es mehrte sich der National¬
wohlstand. Dem Lande entgeht also ein gewisser Vorteil, der sich in einem
Zahlenwert ausdrücken laßt. Dieser wäre zu finden durch eine Rechnung, ge¬
gründet auf die Anzahl der arabischen und indischen Händler und den Ver¬
brauch von europäischen Waren und Luxusartikeln durch eine gleiche Anzahl
von Europäern. Das Facit ergäbe den auf die Händler zu verteilenden
Steuerbetrag, zu dem die durch die Erhebung dieser Steuer verursachten
Kosten hinzngeschlagen werden müßten.
Eine weitere Einnahmequelle ließe sich aus dem an der Küste bestehenden
Dhowverkehr — die Dhow ist ein arabisches Fahrzeug — herstellen. Dieser
Verkehr ist äußerst rege und dürfte schwerlich durch den Umstand vermindert
werden, daß jeder Dhoweigentümer angehalten würde, eine kleine Abgabe zu
entrichten für die Erlaubnis, sein Fahrzeug zu führen.
Noch ein weiterer, äußerst wichtiger Punkt bedarf der Erörterung. Er
betrifft zum Teil ebenfalls die finanzielle Entwicklung des Landes und wird
eingehende Beratungen im Kolonialrate erfordern. Es ist hervorgehoben
worden, daß die Anzahl der europäischen Ansiedler den Entwicklungsgrad der
Kolonie bestimmt. Nicht ein oder zwei oder auch mehr große Handels- oder
Plantagenunternehmen fördern den Wohlstand der Kolonie, sondern der rege,
durch eine große Anzahl erwerbsuchender Europäer entstehende Verkehr. Es
ist durchaus nötig, diese ins Land zu ziehen. Da sie als Kleinhändler die
Konkurrenz der Araber und Inder kaum würden überwinden können, so sind
sie in erster Linie auf die Bodenkultur angewiesen, und es müssen Anstalten
getroffen werden, ihnen diese und den Erwerb von Grundbesitz so leicht als
möglich zu machen. Sind nur erst einige durch die Steigerung des Wertes
ihres Grundbesitzes zu einer müßigen pekuniären Unabhängigkeit gekommen,
so werden andre folgen, und je mehr Ansiedler im Lande sind, desto rascher
wird es sich entwickeln.
Im Nachstehenden soll die Art und Weise dargelegt werden, die ich für
geeignet halte, eine rasche Bevölkerung unsrer Kolonien durch ansiedlungs-
lustige Europäer herbeizuführen. Im voraus sei dazu noch bemerkt, daß ich
durchaus nicht beabsichtige, mit neuen Gedanken hervorzutreten, fondern es
vorziehe, mich auf den Boden erprobter und für gut befundener Thatsachen zu
stellen. Auch ist mir Wohl bekannt, daß stellenweise in unsern eignen über¬
seeischen Besitzungen, wenn auch nicht mit denselben, so doch mit ähnlichen
Einrichtungen wie den nachstehend geschilderten begonnen worden ist. Doch
waren das eben bisher nur Teile des Programms; in seinem ganzen Umfange
ist es in unsern Kolonien noch nicht zur Regel erhoben worden. Die An¬
wendung der Methode in ihrer Abrundung ist mir nur einmal bekannt ge¬
worden und zeigte sich da sehr erfolgreich in ihrem Wirken. Es war, als man
im Jahre 1873 das dem südafrikanischen Häuptling Langalibalele abgenommene
Land rasch mit Europäer» bevölkern und durch sie ein Gegengewicht gegen
unzufriedene Eingeborne herstellen wollte.
Das Verfahren besteht im Grunde darin, die Kultivirung des Bodens
als Bedingung für dessen Vesitzerwerb auszustellen und Grundbesitz nur an
solche Leute abzugeben, die mit dem Willen zugleich die Mittel besitzen, ihn
unter Kultur zu bringen. Während man so ans der einen Seite Ansiedler
heranzieht, verhindert man auf der andern, daß durch mittellose Einwanderer
ungesunde Landspekulationen eingeführt werden. Ferner knüpfen sich Be¬
dingungen an den fo erworbenen Grundbesitz, die nur der Ansiedler gern er¬
füllen wird, der ein wirkliches Interesse am Lande hat. Jeder Europäer, der
mit einem geringen, aber auf gewisse Höhe festgesetzten Kapital, also etwa
300 bis 500 Pfund, die Kolonie aufsucht, um sich dort niederzulassen, hat
von vornherein Unrecht auf ein Stück Land von bestimmter Größe, sagen wir
vorläufig auf 300 bis 400 Morgen. Er erhält dies umsonst, jedoch mit der
Verpflichtung, das Land selbst zu bewohnen, ein Wohnhaus und Wirtschafts¬
gebäude darauf zu errichten und jedes Jahr ein Areal von bestimmter Größe
unter Kultur zu bringen und zu erhalten. Nach Ablauf einer vorher fest¬
gesetzten Reihe von Jahren wird, wenn alle Bedingungen eingehalten worden
sind, das Land freies Eigentum des Vebauers.
Ferner: Bis das Land sein Eigentum wird, nach Befinden auch länger,
hat der Bewohner eine jährliche Abgabe von geringer, aber festgestellter Höhe,
die englische „Quitrente" zu entrichten. Ferner hat er zu einer bestimmten
Zeit im Jahre mit seinen Kollegen zu einer vielleicht einige Wochen anhaltenden
militärischen Übung zusammenzutreten und steht während dieser Zeit unter dein
Befehl der Person, die diese Übungen leitet. Treten Unruhen im Lande ein,
so ist die Regierung ermächtigt, die Grundbesitzer zu militärischen Operationen
aufzurufen. Die erste dieser Bedingungen kann, abgesehen davon, daß sie uns
eine direkte Einnahme gewährt, die Grundlage zur Einführung andrer nötigen
Abgaben werden. Die zweite, leichter zu befolgende Maßnahme ermöglicht die
schon empfohlene Verringerung der „Truppe," mithin eine Verringerung der
Ausgaben für Verwaltung, ohne dadurch der Wirksamkeit der Verwaltung
Abbruch zu thun. Keine Truppe wird Aufstünde energischer unterdrücken, als
der um sein Hab und Gut besorgt gemachte Ansiedler.
Von den vielen Millionen Morgen Landes, die jetzt in Afrika unbenutzt
liegen, könnte man recht wohl ein paar Tausend aufwenden, um einen kräftigen,
am Lande interessirten Anfiedlerschlag herbeizuziehen. Es kann dabei nichts
verschlagen, wenn bereits vorhandene Eigentümer, wie Negierung oder Gesell¬
schaften, ohne Entschädigung Teile des ihnen gehörenden Grundbesitzes an
einzelne ErWerber abgeben.
Im übrigen läßt sich das Verfahren genügend beschränken. Man gestattet
entweder nur einer bestimmten Anzahl von Einwanderern, Land unter diesen
günstigen Bedingungen aufzunehmen, oder man erlaubt diese Art des Grund-
erwerbcs nur während einer bestimmten, nötigenfalls zu verlängernden Periode.
Nach Ablauf dieser, oder wenn die Zahl der begünstigten Ansiedler voll ist,
müssen später kommende Einwanderer ihr Land kaufen, wobei nicht zu über¬
sehen ist, daß Landpreise in einer teilweise schon kultivirten Gegend höher
angesetzt werden dürfen, als in gänzlich wüster Umgebung. Wie die Ansiedler
mit Arbeitern zu versehen seien, ist schon Gegenstand der Erörterung gewesen.
Ob die Grundstücke in größerer oder geringerer Entfernung von einander zu
legen seien, will ich, da die Meinungen darüber aus einander gehen, hier un-
erörtert lassen und nur andeuten, daß ich mich der letztern Ansicht zuneige.
Ich habe dieser absichtlich ins Einzelne gehenden, manchem vielleicht zu
ausführlich erscheinenden Skizze, in der ich gleichsam ein Programm kolonialer
Verwaltung entwickelt habe, nur noch wenig hinzuzufügen. Die angedeuteten
Fragen, die, wenn dies hier nicht zu weit führte, durch eine große Anzahl
vermehrt werden könnten, sollten und werden wohl alle Gegenstand eingehender
Prüfung des Kolonialrates werden. Sie berühren so verschiedne Gebiete,
daß, wie gesagt, eine Körperschaft von Fachmännern vieler Kreise erforderlich
sein wird, sie ihrer Lösung näher zu bringen. Sie gipfeln jedoch in zwei
Hauptfragen, die wir deshalb auch weitläufiger behandelt haben: der Arbeiter¬
frage und der über die Bedingungen des Landerwerbes. Da die erstere im
engsten Zusammenhange steht mit unsrer im Schutzgebiete zu unterhaltenden
Truppe, so mußte diese eingehender betrachtet werden. Der Vollständigkeit
halber will ich noch hinzufügen, daß ich eine Truppe von sechshundert Mann
für unsre Erfordernisse als ausreichend erachten zu dürfen glaube, jedoch nicht
verkenne, daß es ohne Kenntnis der zeitweiligen Sachlage äußerst schwierig
ist, ein Urteil zu füllen.
Ich teile vollkommen die Ansicht, daß bei der Erziehung wilder Völker
die Furcht ein wesentliches Mittel sei, aber wir wollen nicht vergessen, daß
Güte mit ihr Hand in Hand gehen soll. Diese soll sich nicht in einer Ver¬
zärtelung des Negers äußern, sondern darin, daß wir nicht voreilig und mit
Gewalt versuchen, ihn in Gewohnheiten und in einen Gehorsam zu zwängen,
der ihm zunächst als Joch erscheinen muß. Haben wir nur ein wenig Geduld
mit ihm und bestrafen wir ihn nur da, aber energisch da, wo uns böser Wille
entgegentritt. Man kommt gewöhnlich ganz gut mit dem Neger aus, wenn
man ihn nach dem Grundsatze behandelt, der in dem alten französischen Sprich¬
worte liegt: av ehr ässsous, Mut as vslour. Ist der Neger und seine
Arbeitskraft der größte Schatz Afrikas, so kann dieser Schatz doch nur gehoben
werden durch den Europäer. Es mußte daher ein Weg gezeigt werden, wie
man diesen ins Land zieht, und dies ist in der Behandlung der zweiten Haupt¬
frage geschehen.
Das Endziel aller meiner Erörterungen aber ist das, die Mittel zur Er¬
zielung materiellen Vorteils zu finden. Das wird auch bei allen Beratungen
des Kolonialrates der leitende Gesichtspunkt bleiben müssen. Ob dieses End¬
ziel auf dem hier angedeuteten, ob auf anderen Wege erreicht werden wird,
kann mir gleich sein; ich halte keine meiner Ansichten für unfehlbar und werde
mit Freuden jede Maßnahme begrüßen, die schneller zum Ziele führt. Meine
Absicht, und sie ist hiermit erledigt, war nur, ein Bild zu entwerfen von dein
neuen, nunmehr wohl bald ins Leben tretenden Kolonialrate und die Auf¬
gaben anzudeuten, die seiner harren.
le Verbreitung „unwahrer Thatsachen"*) durch die Presse hat
außerordentlich überHand genommen. Es ist dies eine Wahr¬
nehmung, die wohl von jedem ernsten Leser bestätigt werden
wird. Ebenso allgemein aber wird dieser Übelstand als ein
Krebsschaden unsers öffentlichen Lebens empfunden, und der
Wunsch nach Besserung wird gewiß von vielen geteilt. Eine öffentliche Be¬
sprechung dieser Angelegenheit erscheint daher wohl berechtigt und ist vielleicht
gerade jetzt um so zeitgemäßer, als das bevorstehende Aufhören des Gesetzes
gegen die Sozialdemokratie die Beschaffung gemeinrechtlicher Schutzmittel gegen
Wahrheitsverletzungen der Presse zur Notwendigkeit macht.
Bei einem großen Teil der Zeitungsunwahrheiten mag der Berichterstatter
sowohl wie der Redakteur sich im guten Glauben befinden, auch alle Sorgfalt
zur Ermittlung des richtigen Thatbestandes angewendet haben. In solchen
Fällen handelt es sich meist um unschädliche Ungenauigkeiten, die bei der
Raschheit, mit der die Tagesblätter die Nachrichten bringen müssen, nie ganz
vermieden werden können.
Zahlreicher schon und bedenklicher sind die fahrlässigen Unwahrheiten.
Seit der Einführung der Preßfreiheit und der Aufhebung der Zeitungssteuer
ist eine Unzahl neuer Tagesblätter entstanden; fast jedes Städtchen hat gegen¬
wärtig mindestens eine eigne Zeitung. Die Redakteure dieser Lokalblätter sind
meist nicht so gestellt, daß sie gute und zuverlässige Berichterstatter halten
können; sie müssen daher, um die Sucht des Publikums nach Neuigkeiten zu
befriedigen, zu Quellen ihre Zuflucht nehmen, die keine Bürgschaft für die
Reinheit des Gebotenen in sich tragen. Und die Redakteure solcher Lokal¬
blätter selbst sind nicht immer unterrichtet und befähigt genug, sich über die
Glaubwürdigkeit der ihnen gemachten Berichte ein eignes Urteil zu bilden,
ihre Prüfung erstreckt sich meist nur darauf, daß durch den Inhalt ihrer
Zeitung nicht eine strafbare Handlung begründet werde. Aber daß auch die
angesehensten, über ganz Deutschland und darüber hinaus verbreiteten Zeitungen
nicht genug Gewicht auf die Zuverlässigkeit ihrer Nachrichten legen, lassen
schon die häusigen Widerrufungen und Berichtigungen erkennen.
Auf einer noch tiefern Stufe — vom Standpunkte der Sittlichkeit aus —
steht die wissentlich erfolgte Verbreitung unwahrer Nachrichten. Hierher ge¬
hören die vielen Erfindungen, die ohne irgend eine thatsächliche Unterlage
lediglich zu dem Zwecke gemacht und verbreitet werden, die Zeitung zu füllen
und bei der großen Masse des Publikums „interessant" zu machen. Eine
feinere, aber deshalb nicht bessere Abart dieser Lügen sind die Nachrichten, die
namentlich auf dem Gebiete der Politik und des Parteiwesens in die Welt
gesetzt werden und den Zweck haben, Stimmung zu machen oder die Stimmung
zu sondiren.
In ihrer häßlichsten Gestalt erscheinen aber diese Fälschungen da, wo sie
in gewinnsüchtiger Absicht gemacht werden. Ich denke hierbei namentlich an
die falschen Nachrichten, die zur Beeinflussung des .Kurses von Wertpapieren
ausgesprengt werden.
All diesen unzähligen Unrichtigkeiten gegenüber bietet das Preßgesetz, ab¬
gesehen von den Fällen, wo durch den Inhalt der Druckschrift eine nach den
allgemeinen Strafgesetzen strafbare Handlung begründet wird, als Schutzmittel
nur die Bestimmung im 11, wonach der Redakteur verpflichtet ist, die Be¬
richtigung einer falschen thatsächlichen Mitteilung auf Verlangen des Be¬
teiligten aufzunehmen.
Allein für die Allgemeinheit ist mit dieser Vorschrift nicht viel geholfen.
Denn es wird doch verhältnismäßig selten davon Gebrauch gemacht, was Wohl
damit zusammenhängt, daß in vielen Fällen ein persönlich bestimmbarer Be¬
teiligter nicht vorhanden ist, oder der vorhandene Beteiligte kein Interesse ein
einer die Sache nochmals an die Öffentlichkeit bringenden Berichtigung hat.
Überdies erfolgt bei diesem Verfahren die Berichtigung doch immer von einer
beteiligten Seite, bietet also auch keine Bürgschaft für volle Wahrheit. Daher
hat auch diese Bestimmung leine größere Vorsicht bei der Verbreitung that
sachlicher Angaben herbeigeführt.
Und doch wäre mehr Wahrheit auf diesem Gebiet dringend nötig.
Zeitungen kommen gegenwärtig fast in aller Hände, und das gedruckte Wort
hat auf das Urteil und die Geistesrichtung des Volkes einen bedeutenden
Einfluß. Die Zeitungen sind heutzutage das begehrteste geistige Nahrungs¬
mittel des Volkes. Umso höher ist darum auch die Pflicht aller Volksfreunde,
dahin zu wirken, daß diese geistige Nahrung möglichst rein und unverfälscht
geboten werde.
Wie soll um dieses Ziel erreicht werden? Soll die Zensur wieder ein¬
geführt oder die Preßfreiheit wieder aufgehoben werden? Es sei ferne von
mir, solchen Maßregeln das Wort zu reden; denn ich bin ein Freund einer
freien und unabhängigen Presse und bin überzeugt, daß jede Beschränkung der
Freiheit der öffentlichen Meinungsäußerung die geistige und sittliche Ent¬
wicklung unsers Volkes schädigen würde. Soll man vorschreiben, daß alle
Veröffentlichungen von dem Verfasser unterschrieben sein müssen? Eine solche
Maßregel, im Gedanken edel und schön, würde doch in der Durchführung die
Gefahr in sich bergen, das Strohmännertnm großzuziehen, mauches gute Wort
zurückhalten und die Sachlichkeit in der Behandlung öffentlicher Fragen mit¬
unter beeinträchtigen.
Vielleicht könnte man dadurch helfen, daß die Zulassung zum Beruf eines
Redakteurs von dem Nachweise der Befähigung abhängig gemacht werde.
Allein ein solcher Nachweis würde sich doch nur auf Kenntnisse, nicht auf den
Charakter erstrecken können.
Eine Lösung der Frage scheint mir nur dadurch möglich zu sein, daß
man die Wahrheit in der Presse unter strafrechtlichen Schutz stellt. Wie dies
nach meiner Meinung ausführbar ist, zeigt der nachfolgende Gesetzentwurf.
Z 1 Die Verbreitung unwahrer Thatsachen durch Druckschriften im Sinne des
L> 2 des Gesetzes über die Presse vom 7. Ma 1374 ist verboten.
Sie wird mit Geld bis zu 150 Mark bestraft. Ist die Geldstrafe nicht bei¬
zutreiben, so tritt an ihre Stelle eine entsprechende Haft bis zu sechs Wochen.
Ist die Verbreitung im guten Glauben und unter Anwendung pflichtmäßiger
Sorgfalt erfolgt, so ist der Angeschuldigte freizusprechen.'
Ist sie wider besseres Wissen erfolgt, so wird sie mit Geld bis zu ö00 Mark
oder mit Haft oder mit Gefängnis bis zu drei Monaten bestraft.
Ist sie wider besseres Wissen und in gewinnsüchtiger Absicht erfolgt, so wird sie mit
Gefängnis bestraft, auch kann auf Verlust der bürgerlichen Ehrenrechte erkannt werden.
In dem Urteil ist zu bestimmen, ob und in welcher Weise die Berichtigung
der falschen Angabe erfolgen soll.
H 2 Ist die unwahre Angabe aus einer andern Druckschrift entnommen, so ist
die Strafbarkeit für die wiedergebende Druckschrift ausgeschlossen, wenn sie die erstere
genau bezeichnet und dabei bemerkt, das; sie für die Nichtigkeit der wiedergegebenen
Nachricht keine Gewähr übernehme.
§ 3 Die Strafverfolgung tritt nur auf Antrag ein.
Zur Stellung des Antrages ist jeder mündige, im Besitz der bürgerlichen
Ehrenrechte befindliche Angehörige des deutschen Reiches berechtigt.
Der Strafantrag ist bei derjenigen Staatsanwaltschaft zu stellen, in deren
Bezirk die für die Druckschrift verantwortliche Person (Z S) ihren Wohnsitz hat.
Der erste vorschriftsmäßig (Z 4) gestellte Strafantrag schließt alle spätem
gegen dieselbe Druckschrift in derselben Sache aus.
Der Strafantrag kann nur innerhalb dreier Monate nach der Verbreitung
gestellt werden.
Z 4 Der Antrag ans Strafverfolgung muß schriftlich eingereicht werden.
Die Eingabe muß enthalten:
Der Eingabe muß beigefügt sein die betreffende Druckschrift und ein Kosten-
Vorschuß von 10 Mark.
Das Vorhandensein aller dieser Erfordernisse ist die Voraussetzung, unter der
das Einschreiten der Staatsanwaltschaft stattfindet.
In den Fällen, wo voraussichtlich ein höherer Kostenaufwand als 10 Mark
erforderlich sein wird, hat die Staatsanwaltschaft ihr Vorgehen von der Erlegung
eines entsprechend höhern Kostenvorschusses abhängig zu machen.
6 Verantwortlich für die Druckschrift ist bei periodischen Zeitschriften (§ 7 des
Gesetzes über die Presse) der Verantwortliche Redakteur, bei andern Druckschriften
der Verleger oder, wenn ein solcher nicht vorhanden ist, der Drucker. Sie können
sich aber von der Verantwortlichkeit durch Nemmng des Einsenders oder desjenigen,
der den Druck veranlaßt hat, befreien, wenn sich diese im Bereich der richterlichen
Gewalt eines deutschen Bundesstantes befinden. In diesem Falle richtet sich die
Strafverfolgung nur gegen den Einsender oder den, der den Druck veranlaßt hat.
Z 6 Erfolgt ein auf Strafe lautendes Urteil, so wird der Kostenvorschuß dem
Antragsteller zurückgegeben. Andernfalls verfällt der Kostenvorschuß der Staats¬
kasse, soweit er zur Deckung der erwachsenen Kosten erforderlich ist; ein etwaiger
Überschuß wird dem Antragsteller zurückgegeben.
Über den Betrag des Kostenvorschusses hinaus können dem Antragsteller keine
Gerichtskosten auferlegt werden.
Daß der vorliegende Gegenstand überhaupt dem Strafrecht unterstellt
werde, bedarf wohl kaum der Rechtfertigung. Das Lügen an sich wird ja stets
nur vom Standpunkte der Sittlichkeit aus beurteilt werden können. Anders
verhält es sich aber mit dem öffentlichen Lügen, mit der Verbreitung von
Lügen durch die Presse, denn unter ihnen leidet bei der gegenwärtigen Aus¬
breitung der Presse die gemeine Wohlfahrt. Ich weise nur hin auf die große
Beunruhigung, die durch sogenannte „sensationelle" Nachrichten in weiten
Kreisen hervorgerufen wird, auf die Verwirrung des Urteils über öffentliche
Dinge, auf die Gehässigkeit, die in die Kämpfe der Parteien hineingetragen
wird, ans die Verluste an Vermögen, die im Handel und an der Börse manchem
zugefügt werden. Es ist fast unbegreiflich, daß solches Unrecht ungestraft
öffentlich ausgeübt werden kann.
Im einzelnen habe ich zu dem Gesetzentwurfe nur Folgendes zu be¬
merken.
Wie die Fassung des § 1 wohl unzweideutig erkennen läßt, will der
Gesetzentwurf nur diejenigen Mitteilungen der Presse treffen, die Thatsäch¬
liches falsch berichten, also dieselben, die auch unter den § 11 des Pre߬
gesetzes fallen. Urteile und Meinungsäußerungen gehören nicht in den Bereich
des Entwurfes.
Wohl schien es mir nicht ganz ohne theoretische wie praktische Bedenken,
auch die unwissentliche Verbreitung falscher Nachrichten in den Entwurf mit
aufzunehmen. Allein ohne diese Bestimmung würde bei der Schwierigkeit des
Beweises , daß die Verbreitung Wider besseres Wissen erfolgt sei, die Straf¬
verfolgung in den meisten Fällen unmöglich gemacht werden, und das ganze
Gesetz somit einem Messer ohne Griff gleichen.
Anderseits ist aber durch die Vorschrift, daß die im guten Glauben und
unter Anwendung pflichtmäßiger Sorgfalt erfolgte Verbreitung unrichtiger
Angaben straflos zu lassen ist, dafür Sorge getragen, daß die Beschaffung
von Nachrichten nicht übermäßig erschwert werde.
Daß die Fahrlässigkeit auf diesem Gebiet unter Strafe gestellt werde,
erscheint mir ebenso gerechtfertigt, wie es in dem Gesetz über den Verkehr
mit Nahrungsmitteln geschehen ist. Je freier die Presse geworden ist und je
mehr sie auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens an Macht und Einfluß
gewonnen hat, umso stärker wird auch das öffentliche Wohl durch Mißbrauch
gefährdet, und umso notwendiger ist es daher auch, daß bei ihren Vertretern
das Bewußtsein ihrer ernsten Pflichten und ihrer großen Verantwortlichkeit
lebendig erhalten werde.
Da es aber wohl keiner Zeitung möglich ist, sich für alle Gebiete des
menschlichen Interesses eigne Nachrichten zu beschaffen, die Zeitungen vielmehr
in dieser Hinsicht vielfach auf einander angewiesen sind und sich gegenseitig
Hilfe leisten müssen, so giebt 2 die Benutzung fremder Druckschriften als
Quellen vollständig frei. Um jedoch auch hier das Publikum vor Täuschung
zu schützen, ist es notwendig, daß der Leser erfahre, woher die Nachricht
stammt, und daß seine Zeitung keine Prüfung vorgenommen habe, mithin selbst
keine Verantwortlichkeit für die Richtigkeit übernehme.
Nach ß 3 des Entwurfes sind alle mündigen ehrbaren Angehörigen des
deutschen Reiches zur Stellung des Strafantrages berechtigt. Die Presse ist
für das Publikum bestimmt, dem Publikum soll daher auch der Schutz der
Wahrheit anvertraut werden. Jeder Leser soll die Möglichkeit haben, für die
Verletzung der Wahrheit eine Sühne herbeizuführen. Damit aber von der
durch das Gesetz eingeräumten Befugnis nicht in leichtsinniger und mutwilliger
Weise Gebrauch gemacht werde, und die Redakteure und Behörden mit un¬
nützen Anträgen verschont bleiben, sind die im Z 4 bezeichneten Erfordernisse
aufgestellt. Die Verpflichtung zur Einzahlung eines Kostenvorschusses in Ver¬
bindung mit der Bestimmung in Z et, daß dieser im Falle der Freisprechung
verfällt, wird die Verfolgung von geringfügigen Sachen und von solchen Fällen
verhindern, wo der Leser von der Fahrlässigkeit des Verbreiters nicht über¬
zeugt ist. Die Verpflichtung, den wahren Sachverhalt selbst schriftlich darzu¬
stellen und die Beweismittel anzugeben, wird dafür sorgen, daß Anträge nicht
voreilig und unüberlegt gestellt werden.
In 8 5 ist unter den für die Druckschrift verantwortlichen Personen der
Verfasser nicht mit aufgeführt. Da nur die Verbreitung durch das Gesetz
verboten werden soll, so ist die Niederschrift an sich nicht strafbar; sie wird
es erst dann, wenn eine ans Verbreitung dnrch die Presse gerichtete Handlung
(Einsendung) hinzukommt.
Nur wenn ein auf Strafe lautendes Urteil gefällt wird, ist der Kosten¬
vorschuß zurückzuzahlen. In diesem Falle können die Kosten dem Verurteilten
auferlegt werden. In allen übrigen Fällen, also auch in dem des Z 1, Absatz 3,
zieht die Staatskasse den Kostenvorschuß ein. Mehr als der Kostenvorschuß
soll aber in keinem Falle dem Antragsteller auferlegt werden können, da sonst
die Ungewißheit über den Kostenpunkt die Stellung von Strafanträgen in
zweckwidriger Weise erschweren würde. —
Ich bin überzeugt, daß der Erlaß eines Gesetzes im Sinne vorstehenden
Entwurfes nicht anders als heilsam wirken würde, heilsam für unser Volk,
da das Streben nach Wahrhaftigkeit nicht mehr dnrch so vieles dreiste
öffentliche Lügen beeinträchtigt werden würde, heilsam aber auch für die Presse,
da schon das Vorhandensein des gesetzlichen Verbotes läuternd auf ihre
Mitarbeiter wirken und die unsaubern und unwürdigen Elemente beseitigen
würde. Dann wird auch einmal die Zeit kommen, wo das Wort von der
„verlogenen Presse" der Vergangenheit angehört.
Wie ich, dessen Name in den weitern Kreisen des öffentlichen Lebens
unbekannt ist, dazu komme, in einer so schwierigen Frage des öffentlichen
Rechtes mit einem gesetzgeberischen Vorschlag hervorzutreten? Die Entrüstung
über den gegenwärtigen Zustand in der Presse in Betreff der Wahrheit hat
mich zum Nachdenken über die Sache veranlaßt, und das heiße Verlangen
nach Besserung hat meine Scheu vor der Öffentlichkeit überwunden. Möge
mein Vorschlag als Versuch, zur Herbeiführung besserer Verhältnisse mitzu¬
helfen, aufgenommen werden, und möge er auch andern als Anregung zur
Mitarbeit an dieser Aufgabe dienen.
le Kulturgeschichte findet gegenwärtig verhältnismäßig geringe
Pflege. Es ist das erklärlich, denn das moderne Spezialistentum,
das auf allen Forschungsgebieten im Übermaße herrscht, die
wissenschaftlichen Arbeiten auf eng begrenzte, scharf von einander
gesonderte Kreise beschränkt und eine zusammenfassende Be¬
trachtung geradezu unmöglich macht, wirkt nirgends nachteiliger als auf dem
Gebiete der Kulturgeschichte. Sie läßt sich nun einmal nicht in lauter exzeu-
irische Bewegungen oder selbständige Parallelströme zerlegen, auf denen man
unbekümmert um die übrigen Triebkräfte einherfahren kann; sie bildet ein so
verwickeltes Adersystem über und unter einander flutender Strömungen, daß
man eine einzelne Knlturerscheinung nicht verfolgen kann, ohne in alle übrigen
Hineinzugeraten.
Wer die Kultur eines Zeitraumes richtig verstehen und darstellen will,
darf sein Studium nicht auf die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse
beschränken; er muß ein klares Bild von den gesellschaftlichen Zuständen, von
den Sitten und Gebräuchen, von der Lebensweise und der Tracht der Zeit
besitzen; er muß das geistige und künstlerische Leben mit allen seinen Be¬
strebungen, Gegensätzen und Kämpfen verstehen, aus allen diesen einzelnen Er¬
scheinungen die gemeinsamen Züge herausfinden und durch allmähliche Poten-
zirung der Besonderheiten den eigentümlichen hervorstechenden Charakter des
Zeitraumes zu gewinnen wissen. Das ist eine schwierige Aufgabe; sie verlangt
weniger den einseitigen analytischen Scharfsinn der Spezialgelehrten, der seineu
Stollen unbekümmert um die andern Bestandteile des Erdreichs gräbt und
bis zum letzten Reste ausbeutet. Es gehört dazu ein philosophischer Kopf,
ein umfassender Geist, eine synthetische Kraft, die aus einer kleinen Holzfaser
auf die Art und den Wuchs des ganzen Baumes, aus einem Knochen auf den
Gesamtorganismus, aus einer Kulturerscheinung auf den Charakter und den
Geist einer ganzen Kulturperivde zu schließen vermag. Wer z. B. nichts weiter
versteht, als die eichene Holzfaser in ihre chemischen Bestandteile zu zerlegen,
also analytisch verfährt, der wird niemals zum Begriff eiuer Eiche gelangen;
wer eine einzelne Kultnrerscheinung, ein Kunstwerk, eine religiöse oder volks¬
wirtschaftliche Einrichtung nur als solche prüft, wird niemals eine richtige
Vorstellung von der Gesamtkultur einer Zeit gewinnen.
Die Kulturgeschichte ist eine konstruktive Wissenschaft; sie arbeitet wie die
Paläontologie mit Überresten der Vergangenheit und hat daher etwas von der
Sicherheit naturwissenschaftlicher Forschung — nur mit dem Unterschiede, daß
sie nicht mikroskopisch, sondern makroskopisch verfährt. Es genügt ihr z. B.,
festzustelle», welcher Geist und welche Tendenz sich in diesem oder jenem Kunst¬
werke offenbart, aber sie hat gar kein oder nur ein geringes Interesse daran,
welche technischen oder künstlerischen Voraussetzungen dem Werke zu Grunde
liegen, welcher Schule es angehört, wie der Meister heißt, ob es eine Kopie
oder ein Original ist. Sehr richtig sagt Henne am Rhyn in seinen kultur¬
geschichtlichen Skizzen: „Wie die Naturwissenschaften das nach Naturgesetzen
entstandene (ruwen), so behandelt die Kulturgeschichte das unabhängig von
den Naturgesetzen geschaffene, gepflegte, gebildete (eulwin). Die Kultur¬
geschichte ist demnach die Darstellung der durch die Naturgesetze nicht erklär¬
baren großen und wichtigen Ereignisse und Zustände im Dasein des Menschen;
sie ist die Erzählung dessen, was der Mensch vollbracht hat, ohne dazu durch
die Natur angetrieben zu werden; sie ist die Geschichte im höchsten, reinsten
Sinne und Geiste." Unter Natur sind hier die natürlichen Bedürfnisse, der
Instinkt, die animalischen Voraussetzungen des Menschen zu verstehen, denn
mittelbar ist der Mensch durch die ihn umgebende feindliche Natur jederzeit
zur Anspannung und Ausnutzung seiner körperlichen und geistigen Kräfte an¬
getrieben worden, und in diesem Sinne könnte man die Kultur auch als die
Unterwerfung der Naturmächte und des toten Stoffes unter den menschlichen
Geist und Willen bezeichnen. Erst später traten zu diesem Kampfe mit der
Natur als zweite Triebfeder der jede Geisteskraft aufstachelnde Wettstreit unter
den Menschen und Völkern und als dritte Triebfeder der innere unwiderstehliche
Drang nach geistiger Bethätigung, nach Ausnutzung der schöpferischen Phan¬
tasie, nach Befriedigung der metaphysischen Bedürfnisse, nach Lösung neuer
Aufgaben und Probleme.
Wachsendes Bedürfnis verlangt wachsende Produktivität, ein gesteigerter
Angriff verlangt einen gesteigerten Schutz, künstlerische oder litterarische Über¬
sättigung verlangt neue Anschauungen und neue Formen. Daher rührt das
aussteigende Leben der Kulturvölker aus unzähligen Quellen her; die einzelnen
Stufen unterscheiden sich nur dadurch, daß auf ihnen jedesmal eine einzelne
Lebensrichtung besonders stark hervortritt. Man kann fast überall in der Ge¬
schichte der Nationen nach einander eine religiöse, eine kriegerische, eine künst¬
lerische, eine materielle oder wirtschaftliche Hauptströmung unterscheiden. So
folgt im Mittelalter auf das kirchliche Leben das kampflustige Rittertum mit
seinen Kreuzzügen und weltlichen Fehden, dann die geistige Blüte in der Litte¬
ratur, dann die wirtschaftliche Entwicklung des Bürgertums und des Städte¬
wesens; so zeigt sich nach dem religiös bewegten Zeitalter der Reformation
von neuem eine kriegerische Lebensrichtung, die bis ins vorige Jahrhundert
reicht, und im Anschluß daran eine fruchtbare künstlerische Periode, die in
unserm Jahrhundert vor den wirtschaftlichen Kulturbewegungen immer weiter
zurücktreten muß. Ähnliche Erscheinungen finden wir in der Geschichte der
Griechen und Römer, in der Geschichte Frankreichs, Englands und Italiens.
Natürlich müssen diese charakteristischen Lebensrichtungen in den verschiednen
Kulturperioden auch ein verschiednes Gepräge annehmen. Der wirtschaftliche
Zug des spätern Mittelalters muß sich anders äußern als der unsrer Zeit,
eine besonders hervortretende Strömung wird nicht mit einem Schlage auf¬
hören, sobald sich eine neue Kulturbewegung Bahn gebrochen hat.
Denn auch im Leben der Völker wirkt das Beharrungsvermögen oder das
Trägheitsgesetz. So nur ist es zu erklären, daß wir in Zeiten, die alle Über¬
lieferungen über den Haufen werfen, überall neue Lebensformen schaffen und
die staatliche und wirtschaftliche Bedeutung des Volkes von Grund aus um¬
gestalten, doch künstlerische und litterarische Strömungen finden, die unbeeinflußt
ihre alte Richtung beibehalten. Das achtzehnte Jahrhundert mit seiner alle
Lebensanschauungen zersetzenden Philosophie, mit seinen Gewaltmaßregeln und
seiner Staatsumwälzung ist in Frankreich nicht imstande gewesen, die doktrinäre
Ästhetik des überlieferten Klassizismus zu stürzen. Ähnliche Erscheinungen
finden wir auch in der englischen und der deutschen Litteratur. Das Bild,
das man aus der Litteratur gewinnt, deckt sich also nicht immer mit den
Kulturbewegungen einer bestimmten Zeit. Daher ist die Frage nicht so leicht
zu beantworten, in welchem Umfange der Kulturhistoriker die Litteratur einer
Zeit für seine Zwecke ausnutzen darf, um zu einer richtigen Darstellung zu
gelangen. Aber umgekehrt wird sich auch die Frage aufdrängen, in welchem
Abhängigkeitsverhältnis der Litterarhistoriker zur Kulturgeschichte steht.
Uns UttsiÄturs, sagt der französische Kritiker Emile Hennequin, sxxrims
uns ludion, non xaroö MS oslls-ol xroäuits, ing-is xaros nus oslls-ol
I'g. aclovtss et iiämirss, 8'^ sse soinplns se rseounns. Derselbe Grundsatz
läßt sich auch auf jeden einzelnen Zeitabschnitt anwenden: die jeweilige Litte¬
ratur ist nicht deshalb für die Gesellschaft charakteristisch, weil sie ein Produkt
dieser Gesellschaft ist, sondern weil sie von ihr, oder doch von den ma߬
gebenden Geistern angenommen und bewundert wird. Die Überlieferung, der
Zufall und die Achtung vor dem früher anerkannten und gepriesenen spielen
nirgends eine größere Rolle als auf dem Gebiete der Kunst und der Litteratur.
Von einflußreichen Personen wird der Gesellschaft, sogar der fremder Völker,
oft eine litterarische Richtung aufgedrängt, die in gar keinem Zusammenhange
mit ihren staatlichen, religiösen und sittlichen Anschauungen steht. Ja es giebt
Perioden, wo sich in der Litteratur geradezu ein den Kulturbestrebungen ent¬
gegengesetzter Geist offenbart, wo die Litteratur vor den mächtigen Aufgaben
der Zeit Kehrt macht und ihre Kräfte an fernliegende Probleme vergeudet.
Brauchen wir dabei an die Litteratur der Gegenwart zu erinnern? Die Litte¬
ratur ist eben niemals das Erzeugnis einer ganzen Gesellschaft, sondern lediglich
das Werk einzelner Geister, die gewöhnlich so weit außerhalb ihrer Zeit stehen,
daß ihre Bedeutung gar nicht einmal von ihren Zeitgenossen erkannt wird.
Man darf sich in dieser Hinsicht keinen Täuschungen hingeben, denn im Grunde
ist es zu alleu Zeiten immer nur ein kleiner Kreis von Menschen gewesen, der
sich mit der zeitgenössischen Litteratur eingehend beschäftigt hat. Ohne ein
Hotel de Rambouillet hat sich noch nie ein neuschaffendes litterarisches Leben
behaupten können, denn der größte Teil der Menschen hat zu allen Zeiten die
Befriedigung des litterarischen Bedürfnisses in der Beschäftigung mit den
Werken der Vergangenheit gefunden. Das litterarische und künstlerische Leben
der letzten drei Jahrhunderte ist, nicht zum Vorteil für den Fortschritt einer
selbständigen echt nationalen Kultur, immer mehr ein Nückschauen und Wieder¬
verarbeiten früherer Erkenntnisse, Einsichten und Schöpfungen gewesen, als
eine frische, ursprüngliche Teilnahme und Mitwirkung an dem Neuentstehenden
und Neugeschaffenen.
Daher spielen sich die litterarischen Kämpfe, deren Eigentümlichkeiten
man als charakteristische Züge einer ganzen Kulturperiode anzusehen Pflegt,
gewöhnlich nur in den engen Berufskreisen der Schriftsteller ab, und die größere
Gesellschaft oder das Volk hat, wenn ihm jene Kämpfe überhaupt zum Be¬
wußtsein gekommen sind, zu allen Zeiten dabei keine andre Rolle gespielt als
die des abwartenden Zuschauers.
Es ist also unmöglich, von einer litterarischen Strömung, einer Dichtung
oder einem Kunstwerk auf den allgemeinem Charakter und die herrschenden
Kulturverhältnisse eines ganzen Zeitabschnittes einen sichern Rückschluß zu
ziehen. Man könnte einwenden, die betreffende Zeit habe doch die Persön¬
lichkeit hervorgebracht oder wenigstens in geistiger und materieller Beziehung
beeinflußt und bestimmt. Aber dieser Einwand trifft nicht ganz zu, denn man
mag, wie die Positivsten, von Nasse, Vererbung und Milieu reden, so viel
man will, der schöpferische Trieb, die neugestaltende Kraft, das große Ge¬
heimnis der Persönlichkeit wird man mit diesen äußerlichen Dingen niemals
erklären, und gerade in diesem Geheimnis liegt das Merkmal, das den Dichter
und den Künstler aus dem Nahmen und den herrschenden Anschauungen ihrer
Zeit heraushebt. Solche Geister zum Ausgangspunkte kulturgeschichtlicher
Betrachtung zu machen, ist also eben so falsch, als wollte ein Geograph den
Charakter und Zustand des gleichmäßigen, weit ausgedehnten Kulturlandes
nach der Art und Zusammensetzung der darin zerstreut liegenden Bergkuppen
bestimmen. Die sogenannten klassischen Werke, die in ihrer künstlerischen Voll¬
endung allen Zeiten, sogar allen Nationen augehören können, bieten dem Kultur¬
historiker ein wenig ergiebiges Feld für seine Untersuchung.
Den Seefahrer kümmern wenig die obern Windrichtungen; von ihnen
hängt seiue Sicherheit und sein Fortkommen nicht unmittelbar ab. Was seine
beständige Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt, das sind die untern Luft¬
strömungen, die das Meer in einem wechselnden Wellengange halten und oft
von Grund aus aufwühlen. Auch der Kulturhistoriker hängt mehr von den
Werken der ein Wmore-s ab, als von den Kunstschöpfungen der Genies. Ihm
ist das Unkraut interessanter als der Weizen, ihm sind die Auswüchse und
Verkrüppelungen lehrreicher als die normalen Erscheinungen, die krankhaften
Zustände fesselnder als die gesunden. Nicht aus den unsterblichen Werken
großer Geister konstruirt er die wechselnden Bilder der einzelnen Perioden,
sondern aus den vorübergehenden Erzeugnissen des Zeitgeschmackes, aus den
Tendenzwerken und Kritiken, aus den Streitschriften und Satiren, aus den
Machwerken der litterarischen Klopffechter und Modegötzen. Er hat weniger
darauf zu achten, welche hervorragenden Geister in der oder jener Zeit lebten,
als vielmehr darauf, welche Schriftsteller von der Gesellschaft gelesen, welche
Künstler gefeiert wurden. In dieser Hinsicht ist ihm ein Kotzebue nützlicher
als ein Schiller, ein Clauren fruchtbarer als ein Hauff, ein Schopenhauer
wertvoller als ein Lotze, ein Fritz Reuter interessanter als ein Graf von Schack.
Der bekannte französische Kritiker Melchior Grimm hat nicht Unrecht, wenn er
sagt: (ü'sse bvtmsoux, as sonimltrs ins lois, Is8 vouwmss, >S8 rsIiAions, i»g,is
on in^e disn rnisux as 1a wMims as xsu8ör se as hört-ir xg-r 1'ssprit an
tiivÄtrs. pur is Fort as« romM«, x^r 1o ton as» Loeistss, xa.r los pfeils vovtss
ot x-u- Iss !>on« mots. In den verschollenen Erzeugnissen der Litteratur liegt
also das eigentliche Arbeitsfeld des Kulturhistorikers; er darf sich bei seinen
Untersuchungen nicht von ästhetischen Gesichtspunkten leiten lassen, denn den
bleibenden Schönheitsgehalt eines Werkes festzustellen ist nicht seine Sache, er
hat lediglich auf die geschichtliche Stellung und Bedeutung eines litterarischen
Werkes sein Augenmerk zu richten. Behält der Kulturhistoriker diesen Stand¬
punkt, so kann die Litteraturgeschichte eine seiner dankbarsten Hilfswissenschaften
werden.
Wie gestaltet sich nun das Verhältnis umgekehrt, d. h. in welchem Maße
ist der Literarhistoriker von der Kulturgeschichte abhängig, unter welchen Um¬
ständen bietet ihm diese eine zuverlässige Quelle für seine Forschungen? Die
Litteraturgeschichte ist als Wissenschaft ein Kind unsers Jahrhunderts; sie weist
einen ähnlichen Entwicklungsgang auf wie ihre Schwester, die Kunstgeschichte.
Beide haben sich verhältnismüßig spät aus dem bloßen Dilettantismus zu
wissenschaftlicher Gründlichkeit und Sicherheit emporgearbeitet. „Mau benutzte
— sagt der bekannte Kunstkritiker Lermolieff — zuerst die Kunstwerke in der
Wissenschaft als Illustration für jeweilige ästhetische Theorien, dann als unter¬
haltendes Bilderbuch der Kulturgeschichte, schließlich zur Kunstwissenschaft als
exakten Wissenschaft." Eine ähnliche Entwicklung finden wir in der Auffassung
der Litteraturgeschichte. Die dogmatisch-ästhetische oder die rein moralisirende
Betrachtungsweise ging in unserm Jahrhundert zur kulturgeschichtlichen über,
gegenwärtig hat sie in Deutschland überwiegend eine philologische Richtung,
in Frankreich eine positivistische und psychologische eingeschlagen. Die erste
Methode beruht auf dem philosophischen Dogma von der Identität der Geister,
der Genies, der Talente. Die doktrinären Ästhetiker beurteilen daher die
Schöpfungen des menschlichen Geistes einer beliebigen Nation oder Zeit nach
den ausgeklügelten Regeln eines als richtig und unabänderlich anerkannten oder
überkommenen Geschmackes; sie bezeichnen jedes Werk, das außerhalb der mathe¬
matisch bestimmten Formen, außerhalb der als philosophische Wahrheiten an¬
genommenen Kunstbcgriffe liegt, als wertlos. Das litterarische Werk wird
losgetrennt von allen Voraussetzungen seines Ursprungs, von der Individua¬
lität des Dichters, von dem Charakter der Nation und der Zeit, und schwebt
vor deu Augen des doktrinären Kritikers in der Luft wie ein Weltkörper, der
seine Form nach unabänderlichen Gesetzen gebildet hat und der sich nach uuab-
nnderlichen Gesetzen bewegen muß, wenn er sein Dasein behaupten soll. Den
typisch gewordenen Ausdruck für diese litterargeschichtliche Methode hat Nisard
mit dem Satze geliefert: „Wer die Alten und unser großes Jahrhundert kennt,
der hat in geistiger Beziehung sein Ideal, seine Regel und, wenn er Professor
ist, seine Autorität gefunden: oliM^ör o'68t as^kinzi'ör." In Frankreich haben
alle auf Böllern zurückgehenden Kritiker von La Harpe bis Brunetivre diesen
ästhetischen Standpunkt behauptet. In Deutschland ist diese Methode ins¬
besondre unter dem Einfluß der Hegelschen Philosophie lange Zeit die
herrschende gewesen, und erst Gervinus und Hettner haben eine tiefer gehende
Betrachtungsweise eingeführt, indem sie die politischen und kulturgeschichtlichen
Voraussetzungen für das geistige Leben eines bestimmten Zeitabschnittes zu
ergründen suchten, über dem Kunstwerke nicht den Künstler vergaßen, den
Werdegang des Genies bis in die geheimsten Triebfedern verfolgten und die
litterarischen Strömungen nicht nach dem alten klassischen Fahrwasser beur¬
teilten, priesen oder verdammten, sondern in deren Eigentümlichkeiten die not¬
wendige Folge einer beständig wechselnden Kunst- und Lebensauffassung erkannten.
Noch entschiedner als Gervinus und Hettner hat Ferdinand Lotheißen
das Abhängigkeitsverhältnis und die beständige Wechselwirkung zwischen den
litterarischen Schöpfungen und dem gesellschaftlichen Leben einer Zeit hervor¬
gehoben und dargestellt. In seiner vortrefflichen Geschichte der französischen
Litteratur des siebzehnten Jahrhunderts spricht er den Grundsatz seiner Me¬
thode mit den Worten aus: „Eine wahrhafte Geschichte der Litteratur halten
wir immer nur in Verbindung mit der Kulturgeschichte für möglich." Lvtheißen
erkennt auf diesem Gebiete eine «zvolution co äsclans nicht an, und hält die Be¬
hauptung für einen Irrtum, daß die Geschichte einer Litteratur zuerst und in sich
allein das genügende Prinzip seines Wachstums und seiner Ausgestaltung
enthalte, daß man ihre Entwicklung auch ohne Hilfe der Kulturverhältnisfe
verstehen und erklären könne. Die Evolutionisten sind der Ansicht, daß ein
einziges mit Beifall aufgenommenes Werk einen mächtigern Einfluß auf alle
Schöpfungen derselben Gattung ausübe, als sämtliche Einwirkungen der Nasse,
des Augenblicks und des Milieu, als alle Wandlungen der gesellschaftlichen
und der politischen Zustünde. Um z. B. die naturalistische Richtung der Gegen¬
wart zu erklären, brauchen sie keine andern Thatsachen, als die Verirrungen und
Auswüchse der Romantik, um das Wesen der Romantik zu enthüllen keine andern
Mittel, als das Eindringen der fremdländischen Litteraturen; um die litterarischen
Schöpfungen des siebzehnten Jahrhunderts zu verstehen, genügt ihnen die sichere
Kenntnis von dem litterarischen Charakter des sechzehnten Jahrhunderts. liisn
us eoinmsnLs, unis keine trimstorinv. Überall herrschen in der Kunst und in
der Litteratur nur zwei schöpferische Prinzipien: das der Nachahmung und das
des Gegensatzes. Auf den Geist wirkt nur der Geist; die stärkste Anregung
und tiefste Beeinflussung, die je ein Künstler erfahren hat, ist immer nur von
der Kunst und ihren Werken selbst verursacht worden. Alle gesellschaftlichen
und politischen Erörterungen find, nach Ansicht dieser Literarhistoriker, über-
flüssig und wirken verwirrend. Die wahren Quellen von !.!>, ^rinosssv <w
<Äövs, sagt Brünettere, liegen in den Romanen eines La Calprenöde und einer
Scudvry. Die Kulturverhältnisse haben darauf keinen Einfluß gehabt; die
wahren Gründe für die Komödien eines Moliöre liegen in den Lustspielen eines
Scarron, die wahren Ursachen für die Tragödien eines Racine in der Tra¬
gödie eines Corneille.
Es ist richtig, die Blütezeiten, Revolutionen und Niedergange in der
Litteratur treffen nicht immer mit den wirtschaftlichen oder politischen zu¬
sammen; wo es aber geschieht, da kann der Literarhistoriker keine fruchtbarere
Quelle für seine Untersuchungen finden als die Kulturgeschichte. Lotheißens
Grundsatz, daß man die Litteratur ohne Kenntnis der jeweiligen Kultur nicht
zu verstehen vermöge, kann daher für alle Perioden in vollem Umfange nicht
aufrecht erhalten werden. Für das siebzehnte Jahrhundert paßte er allerdings
vortrefflich, denn in keiner Zeit ist die Litteratur — um mit Hamlet zu
sprechen — so deutlich der Spiegel und die abgekürzte Chronik des Zeitalters
gewesen, mit der Einschränkung freilich, daß wir in ihr nicht den treuen Spiegel
der Volkskultur und die schlichte Chronik der bürgerlichen Gesellschaft finden,
sondern das pathetisch klingende Echo des Hoflebens und den blendenden Ab¬
glanz des unumschränkten Königtums. KWÄiW Is. oour se oormWssn 1 g, villk!
war die seltsame Anforderung, die Boileau, der Geueralkontrolleur des Parnaß,
wie ihn Ludwig XIV. nannte, an jeden Nationaldichter stellte. Lotheißen hat
diese Verhältnisse Wohl erkannt und seine kulturgeschichtlichen Vorstudien haupt¬
sächlich auf jene Kreise gerichtet, in denen er die Quellen des litterarischen
Lebens sah, und dadurch eine staunenswerte Fülle neuer Erkenntnisse zu Tage
gefördert, die Werke der großen Dichter und Denker in eine neue Beleuchtung
gerückt, den charakteristischen Grundzug des Jahrhunderts durchschaut, und
den einheitlichen Gedanken der festen Ordnung, der gleichmüßigen Regelung,
der formalen Schönheit und der Harmonie in Staat und Kirche, in Gesell¬
schaft und Kunst aus deu verwirrenden Strömungen herausgehoben. Mit
welcher Gründlichkeit Lotheißen diese kulturgeschichtlichen Vorstudien anzu¬
stellen pflegte, mit welcher Klarheit und Gewandtheit er die leitenden Ideen
zu erfassen und darzustellen wußte, davon giebt das ans seinem Nachlaß von
Anton Bettelheim herausgegebene Buch: Zur Kulturgeschichte Frank¬
reichs im siebzehnten und achtzehnten Jahrhundert (Wien, Karl Gerolds
Sohn, 1889) einen erneuten Beweis.
Der Herausgeber hat eine mit Wärme geschriebene biographische Einlei¬
tung der Sammlung vorangestellt, und darin den Charakter, die wissenschaft¬
liche Methode und die Bedeutung Lotheißens in großen Zügen darzustellen
versucht. Die gesammelten Aufsätze beziehen sich auf das siebzehnte und das
achtzehnte Jahrhundert, vom Ausgange der Religionskriege bis zur Revolution,
eine Zeit, die Lvtheißen als die französische Periode der Weltgeschichte be-
zeichnet, da in ihr die Kenne aller heutigen Entwicklungen und Bestrebungen
liegen und das Leben der europäischen Völker während der letzten zwei Jahr¬
hunderte nur verstündlich wird, wenn man die Kulturbeweguugen in Frankreich
während dieses Zeitraumes kennt. Von welchen Grundsätzen sich der Verfasser
bei seinen Arbeiten leiten läßt, das spricht er mit den Worten aus: „Ani die
Menschen vergangener Jahrhunderte richtig zu beurteilen, muß man sich in
die allgemeine Denk- und Empfindungsweise ihrer Zeit versetzen, und ihren
Wert darnach bemessen, wobei es uns dann noch immer freisteht, jene An¬
schauung selbst zu prüfen und sie von unserm Standpunkte aus zu billigen
oder zu verwerfen. Wir brauchen deshalb die frühere Zeit mit ihren Ein¬
richtungen nicht zurückzuwüuschen, da wir den Fortschritt der Menschheit in
mancher Hinsicht unbestreitbar glauben, aber wir werden uns doch hüten,
pharisäisch stolz über die gesamte Vergangenheit abzuurteilen. Eine Epoche
kann in vielen Punkten gefehlt haben und entbehrt darum doch weder der Große
noch der Bedeutung."
So findet Lotheißen als die maßgebenden Ideen des siebzehnten Jahr¬
hunderts vier große Strömungen, die das gesamte geistige und sittliche Leben
der Zeit beherrschten: die Überwindung der religiösen Idee dnrch den allgemeinen
Staatsgedanken, womit das Aufsteigen der königlichen Macht zur Unumschrünkt-
heit eng verbunden war, ferner, in gesellschaftlicher Beziehung, die Vorliebe
des Volkes für Ordnung und systematische Gestaltung auf allen Gebieten des
Lebens, in geistiger Beziehung den bestimmenden Einfluß der kartesianischen
Philosophie und endlich in politischer das Streben Frankreichs nach der Vor¬
herrschaft in Europa. Durch diese Gruudströmungeu entstand für Frankreich
eine Zeit geistiger Befriedigung, wie sie weder vorher noch nachher je zu Tage
trat. Lotheißen vergleicht Descartes mit Voltaire und schreibt ihm eine ähn¬
liche Bedeutung für das Zeitalter Ludwigs XIV. zu, wie sie Voltaire für
das folgende gewann. Er überschätzt dabei nach unsrer Ansicht den Einfluß
Descartes auf die litterarische Entwicklung. Zwar auch französische Kritiker
pflegen in der kartesianischen Philosophie die hauptsächlichste Ursache für das
Aufblühen der klassischen Litteratur zu erkennen. Emile Krantz behauptet sogar
in seinem üsss-i sur 1'L8tllötiauiz av DosoartöL (Paris, 1882), daß sie ohne
den Kartesiauismus überhaupt nicht möglich gewesen wäre. Man schreibt den
Sieg der drei Einheiten auf der französischen Bühne dem Einfluß jener Philo¬
sophie zu, aber man vergißt dabei, daß jenes Dogma schon vor Descartes
Wirksamkeit entstanden war, und daß seine allgemeine Anerkennung von dein
großen Erfolge der Sophonisbe von Mairet im Jahre 1629 herrührte. Man
betont Descartes Einwirkung auf die führenden Geister deS siebzehnten Jahr¬
hunderts und kaun sie doch höchstens nachweisen bei Boileau, bei Racine, bei
Madame de La Fahette, während sich Corneille, Molwrc, Pascal, Bossuet,
La Fontaine u. s. w. kaum von Descartes haben beeinflussen lassen. Mau
hebt hervor, daß die kartesianischc Philosophie des Maßhaltens alles Burleske
aus der klassischen Litteratur verbannt habe, und Übersicht dabei, daß diese
Veränderung die notwendige Folge einer strengen Etikette sein mußte, die sich
aus dem Hofleben in das geistige Leben übertragen hatte. Man führt die
Abwendung von der Natur und der Wirklichkeit auf die spiritualistische Macht
jener Lehre zurück und bedenkt nicht, daß diese Gleichgiltigkeit gegen das Natur¬
leben, dieser auffallende Mangel an warmem Naturgefühl, der die Litteratur
des siebzehnten Jahrhunderts charakterisirt, schon im sechzehnten Jahrhundert
bei Rabelais und Montaigne, bei Marvt und Regnier, bei Ronsard und Du
Bellay zu finden ist. Als unmittelbare Folge des Kartesianismus wird ferner
der klassischen Litteratur von französische» Kritikern eine optimistische Richtung
zugeschrieben, und doch wird man zweifeln müssen, ob die Weltanschauung eines
Racine, eines Molivre, eines La Fontaine, eines La Rochefoucauld oder La
Bruyvre mit Descartes Optimismus zu versöhnen sei.
Lotheißen scheinen diese Thatsachen nicht entgangen zu sein, denn er hebt
hervor, daß es schwer sei, zu sagen, ob Descartes mehr von seiner Zeit oder
diese mehr von dem Philosophen beeinflußt worden sei. Sehr richtig bemerkt
er an der Stelle, wo er auf die leitenden Ideen des achtzehnten Jahrhunderts
übergeht: „Wenn eine Epoche sich am Ziel der Wünsche sieht, die sic lange
gehegt und die zu erreichen sie ihre besten Kräfte eingesetzt hat, so tritt natur¬
gemäß eine Wandlung ein, und im Sinne des Volkes erheben sich neue Ideen,
die es auch neuen Zielen entgegenführen. Diese Ideen lebten schon früher,
aber nur in wenigen, und sie warteten auf ihre Zeit, um kräftig hervorzutreten
und ihrerseits nach der Herrschaft zu streben. Es sind zumeist solche, welche
im Gegensatz zu den früher giltigen Anschauungen stehen, sodaß die Epochen,
die einander folgen, oft in grellem Widerspruch erscheinen, während sie doch
nur eifrig bestrebt sind, die Gegensätze, die schon lange bestehen, in einer
höhern Einheit zu versöhnen." Zwei große Ideen beherrschen, nach Lotheißen,
das gesamte geistige Leben des achtzehnten Jahrhunderts: die Idee der Auf¬
lehnung und die Idee der Humanität, Auf die erstere sind die meisten
charakteristischen Erscheinungen jener Zeit zurückzuführen: die philosophische
Skepsis, der religiöse Zweifel, der Kampf gegen die Kirche, die politischen
Reformbestrebungen und die sozialen Umwandlungen. Die Idee der Humanität
rief das Streben nach allgemeiner Gleichberechtigung, nach Aufhebung aller
Standesunterschiede hervor, nach Unabhängigkeit der Gedanken und der Schrift¬
steller, auf ihr beruht das Wesen der sogenannten Aufklärung, das immer
mächtiger auftretende Verlangen nach Erleichterung des Volkes von seinen
drückenden Lasten, nach Beseitigung der Frvhnden, der Leibeigenschaft, der
Haftbefehle, der Tortur, der Sklaverei; aus dieser Idee entsprang auch die
Überzeugung von dem unbegrenzten Fortschritt der Menschheit, aus ihr floß
der Strom der Gefühlsseligkeit und der Naturschwärmerei. Kein Zeitalter
bietet so erstaunliche Gegensätze im geistigen Leben eines Volkes wie das acht¬
zehnte Jahrhundert: ruhige, kalt abwägende Verstandesthütigkeit und nervöse
Überspanntheit, stürmisches Auflodern und thränenselige Weichheit, leidenschaft-
liches Angreifer und zaghafte Resignation, hochtrabende Menschenwürde und
sittliche Verkommenheit. Lotheißen hat diese haltlosen Zustände, die notwendig
zum Sturz aller bestehenden Einrichtungen führen mußten, in seiner Abhand¬
lung „Das Königtum" vortrefflich dargestellt. Dasselbe Lob verdienen die
beiden folgenden Aufsätze „Die Prinzen von Conde" und „Im Hause der
Conde," von denen der erste auf einem Werke des Herzogs von Anmale beruht,
der zweite auf der biographischen und geschichtlichen Studie Allaires: I^g-Lru^vis
ains 1a maison ceo LonÜL. Beide geben ein deutliches Bild von Lotheißens
sichtender und bei aller Anlehnung selbständiger Arbeitsweise. Wahre Knbinet-
stücke kulturgeschichtlicher Darstellungskuust siud die drei Abhandlungen: „Aus
dem Rigel-IM des vorigen Jahrhunderts," „Ein Arzt im siebzehnten Jahr¬
hundert" und „Galeeren und Galeerensklaven." Obgleich sie dem Kultur¬
historiker wenig Neues bieten, so halten sie doch durch ihre lebendige Dar¬
stellung und gediegene Form die Aufmerksamkeit des Lesers in fortwährender
Spannung. In dem ersten Aufsatze sucht Lotheißen nachzuweisen, daß das
ganze gesellschaftliche Leben im achtzehnten Jahrhundert lediglich von den
Frauen beherrscht worden sei, daß niemals die Macht der Frauen, obwohl sie
damals zeitlebens als unmündig galten und gesetzlich fast rechtlos waren,
höher gestiegen sei, als vor dem Ausbruch der Revolution. „Es bedürfte
dazu einer entschiednen, aber bereits absterbenden Despotie, einer gebildeten,
jedoch innerlich zersetzten Gesellschaft, scharf ausgeprägter Stnndesunterschiede
bei steigender demokratischer Ausgleichung, politischer Schwäche bei regem
geistigen Leben. Es bedürfte dazu jener Schwüle, die dem Ausbruch des
Wirbelstnrmes vorausgeht und nervenschwache Menschen antreibt, sich um jeden
Preis zu zerstreuen und zu vergessen." In der folgenden Abhandlung schildert
der Verfasser sehr anschaulich den Bildungsgang, die praktische Thätigkeit und
die gesellschaftliche Stellung der französischen Ärzte im siebzehnten Jahrhundert.
Es war damals keineswegs die Hauptaufgabe dieser Herren, sich eine genaue
Kenntnis des menschlichen Körpers und der verschiednen Krankheiten zu er¬
werben, sie hatten im Gegenteil vor allein die Pflicht, sich in dem Gebrauch
der alten Sprachen zu üben und sich in der Kunst der Dialektik gründlich
auszubilden. Llyswrinnr cloimrö — ?0se<zg, ssiM^rs — Lnsuitg, xnrAars —
in diesen Vorschriften lag das ganze Geheimnis ihrer Arzneiwissenschaft. Das
litterarische Leben ihrer eignen Zeit war den Ärzten wie allen Gelehrten des
siebzehnten Jahrhunderts ziemlich gleichgiltig. Einer der bedeutendsten Ärzte
jener Zeit, Guy Patin, kannte nicht einmal die Werke von Corneille, Boileau,
Molisre und Racine, noch weniger hatte er also eine Ahnung von der kultur¬
geschichtlichen Bedeutung dieser Männer. Ist es heutzutage anders geworden?
Die Gelehrten, die gegenwärtig mit ihrer eignen Zeit leben und an ihren
litterarischen Kämpfen und Bestrebungen teilnehmen, sind auch heilte noch zu
zählen. Wir sehen also hier wieder einen Beweis für unsre vorhin aus¬
gesprochene Ansicht über das Verhältnis der Kulturgeschichte zur Litteratur¬
geschichte.
er Deutsche sucht in der National (Zglsr^ selbstverständlich zuerst
nach Hogarth, da Hogarths Kupferstiche durch Lichtenberg bei
uns eingebürgert, seine chklischen Folgen, das Leben einer
Dirne, das Leben eines Wüstlings, die Heirat nach der Mode
uns allen bekannt sind. In der National (ZÄsi-^, die die Öl-
originale zur NariaM a ig, monts besitzt, ist man namentlich über Hogarths
technisch-malerische Qualitäten erstaunt. Während die Kupferstiche leicht zu der
Meinung verleiten, daß Hogarth nur ein Satiriker und Moralist gewesen sei,
der zufällig den Pinsel statt der Feder geführt habe, lernt man ihn hier als
Maler im vollen Sinne des Wortes kennen. Das Karrikaturartige, Fehler¬
hafte, das sich in den Kupferstichen geltend macht, fällt weg; es ist eine
strenge, ungeschminkte Wiedergabe der Wirklichkeit, eine Kunst, die von Anfang
an ihre Wurzeln ins moderne Leben gesenkt hat. In einer Zeit, wo alle
andern Völker nur jene halb mythologischen Mös oliamMi-hö malten, auf
denen die Grazien der Boudoirs und Kulissen sich Rendezvous geben, malte
Hogarth, ein Engländer von Geburt, von Charakter und Temperament, seine
Landsleute. Seine Welt ist London, die Weltstadt, das damals im Gegensatz
zur heutigen Bigotterie noch die goldne Zeit des Ronötums durchlebte. In
eine solche Welt, die heute auch noch nicht versunken, nur dezenter überschminkt
ist, führt uns Hogarth, in Punschgesellschaften, Spielhöllen, Poetenstübchcn,
in den Keller der Straßenräuber, in das Sterbezimmer des gefallenen Mädchens.
Im Straßengewühl macht er seine Skizzen und giebt uns, so sehr er zuweilen
zu übertreiben scheint, die induktive Gewißheit, daß er ein schlechterdings zuver¬
lässiger Zeuge ist. Denn auch das ist bezeichnend für die Gegensätze im eng¬
lischen Leben, daß das Vornehme dort noch vornehmer, das Gemeine noch ge¬
meiner ist als anderswo.
Die vornehme Welt, in die uns Reynolds und Gainsborongh führen,
wußte von diesen Dingen so wenig, wie eine heutige Lady von den Orgien
weiß, die die ?Al NaII (Z^few, erzählt. Und in demselben Maße, wie der
gesellschaftliche Ton am Strand ein andrer ist als in Whitechapel, ist die
Malweise eines Reynolds und eines Gainsborough von der eines Hogarth
verschieden. Sie waren die echten Maler der Aristokratie, nicht nur die größten
Porträtisten, die seit der Anwesenheit van Dycks auf Englands Boden ge¬
wandelt waren, sondern die ersten Porträtmaler Europas in jener Zeit. Die
berühmtesten und weisesten Männer, die schönsten und umschwärmtesten Frauen
saßen ihnen. Die ganze englische Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts
zieht in ihren Bildnissen an uns vorüber — zwar nicht in pragmatischer Treue,
sondern in einem gewissen abgedämpften Idealismus —, es geht eine weibliche
Zartheit, nichts Leubachsches, mehr etwas Kanlbachsches durch alles hindurch.
Die Wiedergabe des Charakters gelingt ihnen weniger als die der Schönheit,
der fein leidende Zug der jungen Mutter, die ätherische Zartheit der ebeu er¬
blühenden Miß, die Eleganz vornehm erzogener Kinder. Namentlich ihre
Kinderdarstcllungen sind von entzückender Anmut, und nur der Farbendruck,
die damals in England so hoch entwickelte Technik, kann eine Vorstellung von
dem Duft geben, der über den Originalen ruht.
Am epochemachendsten aber ist England für die Landschaftsmalerei ge¬
worden. Von England aus wurde im Beginn der modernen Zeit — durch
Bacon — ein neues Weltalter auf Grund der Beobachtung der Natur ver¬
kündigt. Kein Wunder, daß dort auch die moderne Landschaftsmalerei ihre
ersten Triumphe feierte. Auch auf diesem Gebiete vermieden die Engländer
alle idealistischen Irrwege, hielten sich an das Nächstliegende, allen bekannte,
an den heimischen Boden und wurden auf diese Weise verhindert, sich von der
Wirklichkeit zu entfernen. Bis zu der schöpferischen Gewalt eines Preller ragt
daher keiner Hera»; auf der andern Seite fehlen aber auch all die lauwarmen
klassizistischen Scheinen, die das Gros der deutschen Landschaften jener Zeit
bilden. Ihre Stoffe waren von jeher einfach. Bald war es die endlose Tiefe
des Himmels in seinen tausenderlei Erscheinungsformen und Beleuchtungen,
bald tiefblau in Hellem Mittagsschein, bald unheimlich düster und zerrisse»,
aber stets bewegt und farbenlenchtend, die sie sowohl in Gemälden als in kühn
behandelten Aquarellen zur Darstellung brachten; bald waren es Ausblicke auf
die gleichmäßigen Rasenflächen mit dem wolkenlosen klaren Himmel darüber,
die man so oft in England antrifft, und die zwar durch ihre Einförmigkeit,
durch ihren Maugel an Charakter, durch das Weiche und Sentimentale er¬
müden, aber doch stets intimen Reiz haben. Was diesen Bildern namentlich
in der ersten Hälfte unsers Jahrhunderts ihre ganz eigenartige Bedeutung
gab, war zunächst schon das Motiv, die liebevoll wahre Auffassung einer un¬
scheinbaren Natur, dann namentlich much die damals einzig dastehende Helligkeit
des Tons, zu der die Engländer durch die Aquarelltechnik geführt wurden,
die sie vor dem Fehler, „soßig" zu werden, bewahrte. Nachdem bereits John
Crome den Anfang gemacht hatte, selbst ganz einfachen Naturmotiveu durch
liebevoll wahre Auffassung und harmonische Färbung einen tiefen Reiz abzu¬
gewinnen, drang besonders John Constable mit seinem ehrlichen, ungeschminkten
Naturalismus durch, Constables Stoffe sind weder reich noch vielumfassend.
Es genügt ihm ein Stück Wiese, eine Schleuse mit etwas Gesträuch, einer ver-
ästeten und zerfaserten Vaumgruppe, ja das erste beste Kornfeld. Aber er studirt
alles, Erdboden und Laubwerk, in seineu Einzeltönen, seinem besondern Zuschnitt,
vor allem die Luft und die Wolkenbildungen. Dies Luftleben ist es, was seine
Bilder über die gewöhnliche Kopie eines landschaftlichen Bruchstückes erhebt
und ihnen das Wesen der elementaren Naturseele mitteilt. An diesen Werken
hat sich, als sie 1824 im Pariser Salon erschienen, der junge Millet, haben
sich Corot, Diaz, Duprv, Rousseau und Daubigny begeistert, und bald darauf
schlugen sie ihr Heim im Walde von Barbison auf.
Gehört Constable zu den objektivster Meistern, die die Kunstgeschichte
kennt, und konnte er deshalb schulbildend selbst auf die französische Landschafts-
malerei wirken, so tritt uns ein Künstler, den niemand nachahmen kann, einer
der eigenartigsten und geistvollsten Landschafter aller Zeiten im William Turner
entgegen. Was für ein sonderbarer Mensch, dieser Turner! Wie kann er die
ärgern, die nur das Regelrechte in der Kunst lieben! Sie teilen Turners
Leben in zwei Hälften, die eine, wo er vernünftig, die andre, wo er ein Narr
war. Sie geben ihm einiges Talent für die ersten fünfzehn Jahre seiner
Wirksamkeit, aber in dem Augenblicke, wo er ganz Herr seines Werkzeugs ist,
wo der Maler anfängt, in glühender Begeisterung sein persönliches Ideal zu
verkörpern, da weisen sie ihn aus dem Reiche der Kunst und sperren ihn ins
Irrenhaus. Als in den vierziger Jahren ein sarbenglüheudes Bild Turners
der Münchner Pinakothek angeboten wurde, wußte mau dort, wo man an
Cornelius lind seine Konturen gewohnt war, nur darüber zu lachen. Aus
seiner letzten Zeit erzählt man, er hätte eine Landschaft auf eine Ausstellung
geschickt, die Jury habe dem Bilde nicht ansehen können, was oben und was
unten gewesen sei, und habe es verkehrt aufgehängt. Als Turner später in
die Ausstellung kam und der Irrtum gut gemacht werden sollte, sagte er:
Nein, lassen Sie nnr, es wirkt so in der That besser.
In Wahrheit ist Turner von Anfang an derselbe gewesen. Er hatte nur
eine Absicht, einen Traum, er wollte das Licht malen. Um dazu zu gelangen,
war ihm nichts zu schwer. Lange bescheidet er sich, stellt sich unter die Nach¬
folger des Lichtmalers par vxoöllöuos, studirt, analhsirt, kopirt Claude Lorrain,
nimmt vollkommen dessen Stil an, malt Bilder, die Claude an Großartigkeit
und Leuchtkraft der Farbe weit übertreffen. Aber in der Stunde, wo man
ihm sagt: Sie sind der wahre Claude Lorrain, antwortet er: Jetzt verlasse ich
die Schule und beginne Turner zu sein. Zunächst sind es die atmosphärischen
Erscheinungen im Lande des Nebels, die ihn beschäftigen. Dann, als ihm das
ewige Grau zu spleeuig wird, sucht er im Lande der Sonne die volle Ver¬
körperung seiner Lichttrüume. Es ist unmöglich, in Worten eine Vorstellung
von dem Wesen Turners zu geben, auch Nachbildungen können nur falsche
Vorstellungen erwecken. Um auf kleinem Raum möglichst viel Licht zu sammeln,
nimmt er die Perspektive weit und tief, den Himmel grenzenlos, das Meer als
Reflektor des Lichts. Überall, bis an den Rand des Gemäldes ist Licht.
Me Abstufungen des Lichtes, von der silbernen Morgendämmerung bis zum
goldnen Glanz des Abendroth hat er gemalt. Dabei wird die Anordnung
immer freier und leichter, die Pinselführung immer duftiger nud zügelloser,
die Färbung und Gesamtstimmung immer märchenhafter und phantastischer.
Bald ist es die Menschenkraft im Kampf mit Naturphänomenen, wie „Feuer
auf See," „Das Dampfschiff im Seesturm," „Der Eisenbahnzug im Regen
und Sturm," bald sind es ganz der Phantasie entsprungene pvesiereiche Farben¬
spiele wie „Die Sonne Venedigs." Ich möchte sagen, daß er der größte
Farbendichter gewesen sei, der je gelebt habe.
Aber in England ist manches verdreht, und so war auch die Weiterent¬
wicklung der englischen Malerei ein Krebsgang. Kurz vor der Mitte des
Jahrhunderts begann in England ganz unvorhergesehen die Strömung, die
etwa mit unsrer deutschen Romantik parallel geht. Sie hing zusammen mit
der religiösen Bewegung, mit der Restauration der Gothik und der Romantik
im allgemeinen, zum nicht geringen Teil aber mit kunsthistorischen Stadien in
Italien und der Richtung des Sammeleifers, Strömungen, die naturgemäß zu
archaischen Formen und Techniken wie zu legendarischer und allegorischer
Stosfwahl pietistischen oder klassizistischen Charakters führen mußten. Auf die
Zeit des gesunden Mannesalters folgte also die Kinderkrankheit des Prü-
rafaelitcntums, das unter der Protektion des Kunstphilosophen Ruskin das ganze
Highlife ansteckte. Die englische Kunst, die nie eine Jugend gehabt hat, wollte
sich auf diese Weise eine künstliche Kindheit erträumen. Man hatte die
frömmsten Fra Angelicos, die süßesten Botticellis tagtäglich in der MtioimI
vor Angen, auf den jährlichen Reisen nach Italien sog man sich voll
von dem Blute der alten Meister und begann nun kindlich fromm wie sie zu
stammeln, aus dem nebligen London der Eisenbahnen sich in das sonnige
Italien Botticellis zu flüchten. Es war die Zeit, wo die Londoner Backfische
wie- Frühitalienerinnen aus Dantes Intsrno einhergingen, wo Jellabh
Postlethwaite zur Mittagsstunde in ein Restaurant ging, sich ein Glas Wasser
kommen ließ und eine Lilie, die er mitgebracht hatte, hineinstellte. Was darf
ich sonst bringen? fragte der Kellner. Nichts, hauchte er, das ist alles, was
ich zum Sattwerden brauche. Zu der ältern englischen Kunst verhält sich
diese prärafaelitische wie Thee zu Beefsteak. Sie vertritt das ästhetisch
weibliche, jene das gesund männliche Element im englischen Nationalcharakter.
Die Bilder, die im Southkensingtomnuseum vereinigt sind, überbieten an
Zartheit und Lvsswos8, freilich auch an spiritistischer Mystik alles, was jemals
andre Völker darin geleistet haben. Von heiligem Eifer für die gute Sache
erfüllt, empfanden es Rossetti, Hunt, Burne Jones und ihre Genossen
als einen Mangel, daß die englische Kunst in ihren Stoffen bisher zu unbe¬
deutend gewesen sei, und suchten mit der Begeisterung von Fanatikern eine
große poetische englische Kunst zu schaffen, schössen dabei aber über das Ziel
hinaus, indem sie, statt an das Bestehende anzuknüpfen, gleich den deutschen
Nazarenern zu weit entlegenen Zeiten und der Sprache eines völlig fremden
Volkes griffen und sich überdies an Stoffe hinanwagten, die die Grenzen des
Darstellbaren überschreiten. Was sich poetisch andeutungsweise wiedergeben
ließ, sollte hier zu greifbarer Gestalt gebracht werden; da es aber mit seinem
Inhalt weit über die Form hinausgeht, blieb es unklar und mystisch. Infolge
des mangelnden Zusammenhanges mit ihrer Umgebung und dem Publikum
verbissen sie sich immer mehr in ihre Absonderlichkeiten und brachten so
jene farbenstrahlenden und minutiös durchgeführten Bilder hervor, die es
im Grnnde doch nicht über den kaleidoskopartigen Eindruck hinausbringen,
weil ihnen das Beste fehlt: die Unmittelbarkeit, Frische und Einheit der
Empfindung.
Aber diese Periode zarter Überschwänglichkeit, die überdies in England
berechtigter war und viel Schöneres als unser Nazarenertum hervorgebracht
hat, wurde rasch überwunden. Der heutige englische Maler zieht den Klang
des Goldes entschieden dein Lilienduft vor. Namentlich die in England thätigen
Ausländer haben sich bekanntlich mit ihrer Malerei dort große Vermögen er¬
worben. Hubert Herkomer, der Bauernsohn aus Landsberg am Lech, hat
sein eignes Theater, läßt sich nach dem Erfolge der Miß Great für seine Por¬
träts 3 bis 4000 Pfund, also 60 bis 80000 Mark bezahlen und hat auf
Jahre hinaus Bestellungen. Alma Tadema kann heute für seine Bilder ver¬
langen, was er will, und findet jeden Tag Käufer. Er hat sich mitten im
Herzen Londons aus einem stockenglischen Hanse eine römische Villa geschaffen,
dem Garten einen römischen Anstrich gegeben, ein großes daranstoßendes Glas¬
haus mit südlichen Palmen und Platanen bepflanzt, dort findet er jene prächtig
wahre, klassische Lokalfarbe, die aus seinen Werken spricht. All die berühmten
Marmorbänke und Marmorbnssins, die steinernen und bronzenen Figuren, die
Tigerfelle, die antiken Gefäße und Gewänder seiner Bilder trifft man in dem
merkwürdigen Hause mitten in London an. Vergeblich aber wird man nach
einem ältern Bilde Tademas, selbst nach einer Farbenskizze suchen. Alles, was
er schafft, wird ihm unter dem Pinsel weggekauft und wandert in die eng¬
lischen Schlösser oder nach Amerika. Es ist der Name, die Firma, die mit
Gold aufgewogen wird, wir können froh sein, daß wir es bei uns noch nicht
ganz so weit gebracht haben. Unsre berüchtigtsten Fcnseurs sind Kinder gegen
die Reklamehelden Englands. Im ^re, ^ourng.1, in der Tagespresse, in den
Salons der Damen und den aristokratischen Klubs der Herren muß der
Künstler „gemacht" werden, dann huldigt das sonst so selbständige Volk assises
dem Löwen des Tages, den eine Koterie ihm aufdrängt.
Die Werke der eigentlichen englischen Maler wurden, da nicht für den
Export gearbeitet wird und es auf dem Festland, abgesehen von Hamburg,
keine englischen Bilder giebt, erst seit den letzten großen Ausstellungen bei uns
bekannt, und es gehört seitdem zum guten Ton, die moderne Malerei Eng¬
lands, die man früher unterschätzte, da man nichts von ihr wußte, nun, wo
man sie kennt, zu überschätzen. Jedes Jahr, wenn die Engländer in Deutsch¬
land erscheinen, wiederholt sich allgemeines Staunen über so viele ernste und
gediegne Bilder, die uns sämtlich mit der ruhigen Sicherheit wohlgeborgener
Menschenkinder anblicken, die nicht mehr sür ihre Existenz zu sorgen haben.
Den englischen Künstler zwingt nichts zu jener fieberhaften Produktion, die bei
uns so viele Talente frühzeitig aufzehrt, sondern er kann in aller Ruhe seiner
Kunst leben. Auf deutsche Maler macht eine Ausstellung englischer Werke
daher jedesmal den Eindruck, als ob jenseits des Kanals nur reiche Leute
Künstler würden, so kondensirte, teure Arbeit spricht aus den Leistungen.
Auf der andern Seite tritt freilich auch, je öfter die Engländer auf das
Festland kommen oder je öfter man Gelegenheit hat, die Londoner Ausstellungen
zu sehen, um so deutlicher hervor, in wie engem Rahmen sich ihre Kunst be¬
wegt. Gewiß macht sie, auch wenn man sie zu Hause, in der RoM ^oaäöinv
aufsucht, einen sehr sympathischen Eindruck. In den elf Sälen des vornehmen
Renaissancepalastes herrscht eine so eigentümliche Ruhe und Behaglichkeit, daß
man gern darin verweilt und sie öfter wieder besucht, während man den Sälen
des französischen Salons, sobald man seine Pflicht gethan hat, gern für immer
den Rücken kehrt, froh, aus dem traurigen Reiche der Realistik sich in die
meistens angenehmere, wenn auch viel zu wünschen übriglassende Wirklichkeit
zurückzuversetzen. Aber so gut wie auf den deutschen Ausstellungen wirkt die
englische Malerei in ihrer Heimat nicht. Man sieht eben doch, daß die Bilder,
die uns damals überraschten, nicht so zufällig zusammengewürfelt waren, wie
man uns glauben machte, sondern Paradepferde und der Extrakt des Besten
aus einer längern Zeit. Die englische Malerei kann heute weder mit der
französischen noch mit der deutschen Malerei in die Schranken treten, dazu ist
schon ihr Stoffkreis zu eng. Für kirchliche Zwecke hat die Kunst nichts zu
thun, da die Formen des Kultus dies verbieten; zu monumentalen, zur Deko¬
ration öffentlicher Gebäude wird sie nicht herangezogen, und wenn einmal der
Versuch gemacht wird, ihr solche Aufgaben zu gewähren, wie bei der Aus¬
schmückung der Parlamentshäuser, so sällt die Sache ungenügend aus, denn
hierzu mangelt es den englischen Künstlern an Sinn wie an Vorbildung. Es
fehlen auch die großen Kraftproben, die, zwar oft totgeborne Kinder, doch den
französischen und deutschen Ausstellungen ihr Gepräge geben. Die englischen
Bilder werden nur für den or^vin^ room des Privathauses geschaffen und
folgen in Stoff und Behandlung durchweg der nicht ganz unberechtigten An¬
schauung, daß das Gemälde in erster Linie ein behagliches Möbel des Wohn¬
zimmers sein solle. Die Trägerin des Kunstsinnes in England aber ist die
Lady; der Mann, der wichtigeres zu thun und zu denken hat, kümmert sich
am Kunstsport nur insoweit, als er in der Familie dafür interessirt wird.
Daher der einseitig weibliche Charakter der englischen Malerei, in der das ge¬
waltige soziale Ringen der Gegenwart, der struMls t'or Ms, nicht im geringsten
zu Worte kommt, sondern die sich, als ob es kein Whitechapel gäbe, durchweg
in den Grenzen der Liebenswürdigkeit, Wohlsituirtheit und Wohlgemessenheit
bewegt. Neben Landschaften und Porträts, die wie ehedem obenan stehen,
giebt es nur kleine Genrebilder. Hier ist noch immer der Zusammenhang mit
der Litteratur, der Anschluß an Dichtungen beliebt, Stoffen aus dem gewöhn¬
lichen Volksleben wird irgend ein rührender Zug, eine zarte Episode, ein süßer
Ausdruck eingemischt. Es kommt nicht vor, daß ein Bild bloß um der
„malerischen Qualitäten" willen treu nach dem Leben gemalt würde. Der Eng¬
länder will, wenn er seine Arbeit hinter sich hat, durch nichts an die Prosa
des Lebens erinnert sein. „Darum wollen wir — sagt Redgrave, der Geschicht¬
schreiber der englischen Malerei — auch im Bilde nur solche Gegenstände sehen,
die wir lieben können, die uns eine Erquickung in den Augenblicken der Ruhe
nach der harten Arbeit des Tages gewähren. Deshalb finden heimische oder
fremde Dichter an den englischen Malern ihre liebevollen Interpreten, und
selbst wenn diese ihre Stoffe aus dem gewöhnlichen Volksleben schöpfen, wissen
sie daraus solche Züge zu wählen, durch die auch diese Gegenstünde mit
der edlern Menschlichkeit in uns selbst verknüpft werden." In der Kunst keines
andern Volkes finden die entzückend anmutigen englischen Kinderdarstellungen
ihresgleichen, nirgend anderswo findet man eine solche Liebe zu Tieren; aber
das soziale und gesellschaftliche Leben wird als unantastbares Gebiet betrachtet.
Und ebenso wenig, wie in den Stoffen ein engerer Zusammenhang mit dem
Leben gewünscht wird, strebt die Farbengebung eine genaue Wiedergabe der
Wirklichkeit an. Die Farben sind mit Zurückhaltung gewühlt, da giebt es
nichts Lautes, Kreischendes, alles ist gedämpft, gemildert, wie der Leisetritt
des Bedienten im Schlosse des Lords. Die besondre Eigenart aller englischen
Bilder besteht in einem grünlich oder bläulich leuchtenden Gesamtton, dein sich
jeder englische Maler wie einer zwingenden Gesellschaftsform zu beugen scheint,
und der selbst durch die englischen Landschaften hindurchgeht. Man wird des¬
halb trotz Constable kaum berechtigt sein, die Engländer als die Vorläufer
der heutigen Freilichtmaler zu bezeichnen. Das Luft- und Lichtelement, das
die Formen durchtränkt, ist erst dnrch die großen Meister von Fontainebleau
in die Landschaftsmalerei gekommen und den Engländern noch heute ziemlich
unbekannt. Sowohl ihre Landschaften, wie ihre Seestücke sind äußerst fein,
fast zu fein im Ton, aber ebenfalls von jener bläulichen Gesamtstimmung und
solcher Schürfe der Umrisse, die uus heute, wo wir gewohnt sind, die atmo¬
sphärischen Einflüsse berücksichtigt zu sehen, die die Umrisse der Gegenstände
abstumpfen, die Farben verwischen und einander nähern, schon fast altertümlich
erscheint. Und deshalb war es für den, der den Charakter der englischen
Malerei kannte, eine umso größere Überraschung, als in diesem Jahre über
den Kanal Werke herübergeschickt wurden, die mit jenen herkömmlichen Londoner
Bildern nicht das geringste gemein haben, sondern sich nach Inhalt, Form und
Farbe in schroffen Gegensatz dazu stellen.
Daß einer eine moderne Malerkolonie ausgrübt, von der die Welt noch
keine Ahnung hatte, kommt gewiß ebenso selten vor, als daß einer in ägyp¬
tischen Gräbern altgriechische Bildnisse findet. Dieses glückte bekanntlich vor
ein paar Jahren einem Herrn Theodor Graf, durch dessen merkwürdigen Fund
wir erfuhren, daß schon vor Christi Geburt Porträts gemalt worden sind,
deren geistreicher Auffassung und meisterlicher Technik sich ein Lenbach nicht
zu schämen brauchte. Jenes gelang im vorigen Frühling den Herren Paulus
und Firle, als sie nach England gegangen waren, um von dort Bilder für
die Münchner Ausstellung zu beschaffen. Wer wußte bisher, selbst in Eng¬
land, etwas von den Geheimnissen der schottischen Kunst! Wir wußten, daß
es in Edinburg eine Kunstakademie gebe und daß Glasgow eine rauchige
Fabrikstadt sei mit Vaumwvllspinnereien, Maschinenbau, Töpfereien und
Glashütten, wo auch der eine oder andre Fabrikant, wie das dort selbst¬
verständlich ist, ein paar gute alte Meister besitze. Aber eine ,,Glasgower
Malerschule" wird erst von jetzt an in den Handbüchern der Kunstgeschichte
zu verzeichne» sein, und die guten Glasgower werden vielleicht später gar
nicht mehr glauben, aus was für unscheinbaren Anfängen sich ihre „Schule"
entwickelte.
In Glasgow giebt es viel, sehr viel junge Kaufleute. In einem Lande,
wo viel mehr als in Deutschland auf Selbstbildung gegeben wird, wo selbst
der Kohlengrubenarbeiter die Borlesungen der Universität hört, fühlten auch
diese jungen Kaufleute das Bedürfnis, ein wenig zeichnen zu lernen, und be¬
suchten zu diesem Zwecke die Usob^rios Institution, eine jener Fortbildungs¬
schulen, die sich nach dem Vorbilde des Southkensingtvnmuseums über alle
Städte des Königreichs verbreitet haben. Von da bis zum Bildermalen war
nur noch ein Schritt. Frisch und guter Dinge wanderten die jungen Leute
vor oder nach den Büreaustunden mit dem Malkasten vor die Thore der
rauchige» Stadt, zwischen Feldern und niedrigen, kaum belaubten Anhöhen die
Ufer des Clyde entlang, auf staubigen und aufgefahrenen Wegen, wo ihnen
nur der Bauersmann mit seinem Karren oder der Schiffsführer mit seinen
stämmigen Gäulen begegnete. Sie brachten Wohl auch ihre Sonntage in einem
der benachbarten Arbeiterdvrfer zu; wo sonst nur im Grünen liebende Pärchen
lustwandelten, da beobachteten sie das Wehen der Luft durch die Gipfel zier¬
licher Buchen und das Spiel des Lichts auf spärlichem Wiesenrain, malten
Apfelblüten, Kornfelder, das Einfachste und Anspruchsloseste, was sich malen
ließ. Einige verkauften ihre Arbeiten für 15 bis 30 Pfund an ihren Prinzipal,
und schließlich gelang es dem einen oder andern, einen Beschützer zu finden,
der ihn zur weitern Ausbildung nach Paris schickte. Auf diese Weise kam
Glasgow zu einer Mnlerschule. Heute, nach fünfzehn Jahren, giebt es dort
bereits dreihundert Maler, die sämtlich ihre Studien in Paris gemacht
haben. Im Slas^vo Instituts ol' tue das Mes veranstalten sie alljährlich
Ausstellungen ihrer Werke; in der LoottiLll ^.re lisvisv haben sie sich ein Organ
gegründet, in Professor Baldwin Brown und Patrick Geddes zwei Wortführer
gefunden, die ebenso geistreich wie begeistert über die Bestrebungen der jungen
Schule schreiben, und heute stehen wir auf dem Festlande vor diesen Werken
wie vor einer Offenbarung.
In einer Zeit, wo die englische Malerei mehr und mehr einer Schablonen¬
haften Sauberkeit verfällt, tauchen plötzlich diese weltentrückten Schotten auf,
die so merkwürdig frisch und gesund, durch kein Vorurteil gehemmt, mit naiv
kindlichem Selbstvertrauen auf ihr Ziel losgehen. Ihre Werke bezeichnen das
Aufkommen des Impressionismus innerhalb der britischen Kunst, wodurch sie
sich schon von vornherein in scharfen Gegensatz zu den Engländern stellen.
Während jene ohne Rücksicht auf die jeweiligen atmosphärischen Einflüsse die
Töne zu einer hellen Harmonie zusammenstimmen, die geschickt damit rechnet,
daß die Bilder in den dortigen Or^vinA roouis vorzugsweise abends bei Gas¬
licht betrachtet werden und wirken sollen, sehen die Schotten von allem Bild¬
mäßigen ab und wollen nichts als frische, ganz moderne Naturstudien geben.
Den allgemeinen Eindruck der Landschaft zu fassen, wie sie in der Licht- und
Lufthülle schlummert, bildet ihr erstes Streben, und anch die Behandlung hat
es nur darauf abgesehen, die erste Frische des Natureindruckes mit raschem
Griff abzupflücken. Wie sich in dem Festhalten einer wie ein Ncbelhanch
vorüberziehenden Luftstimmung das malerische Talent zeigt, so auch in dem
kecken, flotten Vortrag, der nur aus einer gewissen Entfernung wirkt, während
für das nahe Auge alle Töne unentwirrbar durch einander schwirren. Daher
findet sich in allen Bildern eine skizzenhafte Flüchtigkeit, aber die fest gewollte
und sicher erreichte Stimmung giebt ihnen doch stets einen Empsinduugsgehalt,
der sie in die Sphäre der wahren Kunst erhebt. Diese Guthrie, Laverh,
Walton, Roche, Henry, Hornet, Melville, Paterson, Morton, Grvsvenor,
Kennedy und wie sie alle heißen — wer hat sie gelehrt, Primitiven gleich
das Feld und das Gras, die Halme und die Blumen des Feldes zu betrachten?
Man erblickt auf ihren herrlichen Bildern gewöhnlich weite Ausdehnungen von
gewellten Terrain an strahlenden Frühlingstagen. Das Gras glänzt, die
Sonne leuchtet, es ist eine weite Fernsicht. Hinten weiden wohl Kühe oder
Schafe, vorn ist ein großes Wasser oder ein niedriges Gebüsch, alles einfach,
nur von Luft umflossen. Darin liegt die Poesie. Es sind Landschaften von
einer so entzückenden Zartheit, von einem so keuschen Duft, daß man fast
glaubt, die Künstler seien Knaben gewesen, denen zum erstenmale die reine
und kindliche Liebe zur Natur aufgegangen sei. In diesen Schotten haben die
großen Meister von Barbison ihre wahlverwandten Nachfolger gefunden. Zu
den Werken der heutigen Franzosen verhalten sich die ihrigen ähnlich wie etwa
die jugendliche Kraft der neuen russischen Romane zu der ausgeschriebenen
Routine der französischen.
Und noch eins. In einer Zeit, wo in Frankreich der Geist, der einst
Jean FrcmeMs Millet beseelte, schon wieder verflogen und nur die Schablone
geblieben ist, wo man dort das Äußerliche des neuen Prinzips genau festgestellt
hat und nun nach diesem Rezept tausende von Bildern fabrizirt, führen einzelne
dieser Schotten ihre schwärmerisch bewegte Subjektivität auf den Schauplatz.
Während die Naturalisten ringsum ihren höchsten Ehrgeiz in der UnPersönlich¬
keit, im photographischen Schaffen sehen, wagen es Melville und Henry geradezu
als Farbendichter aufzutreten, in ihrer Malerei nicht vom Natureindruck, son¬
dern vom Klang, vom Rhythmus der Formen und Farbenmassen auszugehen.
Und die Farbenakkorde, die sie anschlagen, sind schwellend, voll, tief und rund
wie Orgeltöne, sodaß sie schon auf die Seele wirken, ehe man den Gegenstand
des Bildes erkannt hat. Man wird an die Stelle bei Lionardo da Vinci er¬
innert, wo er den jungen Malern sagt, daß sich in den Wolken und in ver¬
wittertem Mauerwerk gar merkwürdige Gestaltungen und Fabelwesen entdecken
ließen — im Prinzip des Schaffens ist ihnen von unsern Malern nur Böcklin
verwandt. Es ist eine musikalische Malerei, die sich freilich nur genie-ßer,
nicht nachahmen läßt.
<?-H^s
-n einer schönen, sternklaren Aprilnacht über den Prachtplatz des
Circo Agonnle (die alte Piazza Navona) nach Hause gehend,
hörte ich aus dem Munde eines Reisenden, diesmal keines Lands-
mannes, sondern eines Mailänders, den gewichtigen Ausspruch:
wer sich nicht zwischen alten Mauern und Fresken herumdrücken
wolle, der habe eigentlich nichts von Rom. Ob der Norditaliener damit die
reichen und schönen Gärten, die in Rom noch übrig sind, verleugnen und der
umgebenden Landschaft ihren eigensten, namentlich im Frühling hervortretenden
Reiz absprechen wollte, weiß ich nicht; gewiß ist, daß ein guter Teil der
größten und stolzesten Eindrücke Roms bemalten und unbemnlten Wänden ent¬
stammt. Wein die Natur den Sinn für die Schöpfungen der bildenden Künste
versagt hat, oder wer zur Freude an diesen Schöpfungen den Schimmer der
Neuheit und Eleganz bedarf, der wird in der ewigen Stadt niemals recht
heimisch werden. Die Thatsache, daß trotz des unermeßlichen Reichtums der
vatikanischen Sammlungen dennoch der größere Teil der in Rom vorhandnen
Kunstschätze nicht in eine Galerie zusammengehäuft, sondern an den Stellen
ihrer ursprünglichen Bestimmung erhalten und an diese gebunden sind, macht
es allein schon unmöglich, sich Rom gleichsam im Fluge anzueignen, und
schließt eine Fülle fortlaufender Genüsse, immer neuer, glücklicher — gelegentlich
wohl auch unerfreulicher — Überraschungen ein. Aber natürlich gefällt sie
Leuten nicht, die die Forderung erheben, alle Wunder der Welt bequem aus
einer Theaterlogc betrachten zu können. Die Wenigen, die wirklich in Rom
nach jahrelangem Aufenthalt oder häufiger Wiederkehr alles gesehen und ge¬
nossen haben, was sehens- und genießenswert ist, wissen genug von steilen und
laugen Wegen, von staubigen Landstraßen und Hecken, von blendenden Wein-
bergsmauern und schmutzigen Winkeln zu erzählen, die zwischen ihnen und ihren
Eindrücken gelegen haben. Wir konnten von vornherein nicht daran denken, alles
sehen zu wollen, und zogen es vor, zu den bewährten Herrlichkeiten öfter und
immer wieder zurückzukehren. Doch selbst bei solcher Bescheidung erfuhren wir
zur Genüge, daß die Götter vor die Trefflichkeit den Schweiß gesetzt haben,
auch wenn es sich nicht um die eigne Tugend, sondern um die Tugend von
Bauten und Bildern handelt.
Gleichviel ob der Rompilger den Resten und Trümmern der antiken Welt,
den Spuren und Denkmälern der ältern christlichen Zeit, des frühen Mittel¬
alters, ob er den künstlerischen Zeugnissen der Renaissance den Vorrang in
seiner Phantasie und Teilnahme einräumt, er findet die Dinge, die er sehen
muß, nicht beisammen. So einseitig ist am Ende niemand, daß er sich auf
die, die ihm zunächst liegen, beschränkte und an den andern geschlossenen Auges
vorüberginge, doch wenn er es auch wäre, er würde große Strecken in Stadt
und Campagna durchmessen müssen, um zu seinen Zielen zu gelangen. Wer
unablässig im Wagen sitzt, sieht vieles gar nicht und spart in den seltensten
Füllen Zeit, denn zu den bedenklichen Talenten der römischen Kutscher gehört
auch das, bei Fahrten per oru. die wunderlichsten Umwege einzuschlagen und
bei den untergeordnetsten Merkwürdigkeiten Viertelstunden zu verlieren. Wer
sich kräftig genug fühlt und der Landessprache mächtig genug ist, Fragen zu
thun und Antworten zu verstehen, der thut namentlich in der nächsten Um¬
gebung Roms gut, Fußwanderungen nicht zu scheuen. Bis er das erreicht,
was er gerade sehen will, sieht er meist einiges, was am Wege liegt, auch in
den besten Reisehandbüchern nicht verzeichnet steht und doch die Anschauung
von Rom bereichern hilft. Was habe ich auf meinen Wegen nach einer Reihe
von Bauten aus den Tagen des Cinquecento, nicht alles an unvergeßlichen
Bildern und lebendigen Szenen gesehen, welche Fülle malerischer Eindrücke
empfangen, wie viel einsam liegende Stellen von großem Reiz entdeckt, wie
viel abstrakte Erinnerungen aus Gregorovius' Geschichte Roms sind mir
lebendig geworden, während ich doch nur nach der Magliana, der Villa Ma-
dana, der Villa ti Papa Giulio ausging!
Die eine Grundstimmung, die durch alle Eindrücke und Genüsse römischer
Tage hindurchgeht, das Gefühl vom ewigen Wandel und Wechsel irdischer
Größe, der unablässige Wiederklang des Lio trimsit xlorm uiuuäi überkam mich
freilich fast bei all diesen Wanderungen. Unter den bildergeschmückten Pracht¬
bauten des sechzehnten Jahrhunderts sind ohne Frage die am besten erhalten
geblieben, in denen das Leben, für das sie gedacht und errichtet waren, fort¬
gewaltet hat. Der ungeheure vatikanische Palast und die Paläste großer
römischer Familien, in denen heute noch Hof und Haus gehalten wird, haben
der leisen Zerstörung besser getrotzt, als jene Schöpfungen, die aus irgend
einem Grunde entweder ganz verlassen oder um ihres Kunstwerkes willen der
Obhut gleich giltiger Kustoden und der Wißbegier fremder Besucher übergeben
wurden. Natürlich gefährdet das Wohnen vieler in ihren Bedürfnissen und
ihren Charakteren verschiedner Menschen in einer Folge von Geschlechtern viele
Einzelheiten auch im größten Hause, die Menschen sind nicht so geartet, daß
sie der treuen Bewahrung historischer Denkmale ihr Lebensbehagen und ihre
Wünsche völlig unterordneten. Die Italiener dürfen sich sogar in diesem
Betracht vor andern Völkern großer Opferwilligkeit, strenger Unterordnung
persönlicher Wünsche und Neigungen rühmen; trotzdem haben natürlich fast in
allen Bauten, die von der Renaissanceperiode bis auf den heutigen Tag be¬
wohnt und benutzt geblieben sind, mannichfache Veränderungen und unerläßliche
Restaurationen stattgefunden. Aber mit und nach allen diesen Veränderungen
unterscheiden sich die jederzeit im Gebrauch gebliebenen Prachthäuser doch vor¬
teilhaft von denen, die man ganz oder teilweise der lautlosen allmählichen Zer¬
störung durch die Zeit überlassen hat. Der echte Archäolog, der in dem
mehrerwähnten „Lied vom Forestiere" beschuldigt wird, auch den Vatikan
lieber in Trümmern als durch spätere Ein- und Anbauten entstellt zu sehen,
mag die zerbröckelnder Paläste, die Gärten, die nach Eichendorff „in däm¬
mernden Lauben verwildern," den erhaltenen und bewohnten Stätten vorziehen,
der genießende Reisende merkt bald, daß der Gesamteindruck der ewigen Stadt
darauf beruht, daß sie nicht völlig aus Ruinen besteht.
Einen tief melancholischen Eindruck erweckt der Vergleich vergangener
Herrlichkeit und gegenwärtigen Verfalls, vor allem in der vor der Porta Por¬
tes? liegenden Mcigliana, dem vielberühmten Jagd- und Lustschloß der Päpste
der Hochrenaissance. Zu Ende des fünfzehnten Jahrhunderts errichtet, scheint
das Tenimento Magliano bereits am Ende des sechzehnten Jahrhunderts
wieder aufgegeben worden zu sein, die Landplage der römischen Campagna,
die Malaria, verwandelte die schöne Villa mit ihren Gärten in eine der vielen
verlassenen Ansiedelungen, die sich in der nächsten Umgebung Roms finden.
Von der ganzen Herrlichkeit sind nur schattige Bäume und Mauerreste steheu
geblieben, von denen aus man weit in die westliche und südliche Campagna
mit ihren grünen Flächen, ihren braunen Sümpfen, ihren welligen Hügeln und
vereinzelten Baumgruppen, ihren Capaunen und malerischen Trümmern hinein¬
blickt. Wie viel tausendmal sind alle diese Einzelheiten beschrieben und gemalt
worden, aber wie frisch und neu wirken sie im unmittelbaren Genuß wieder,
und wie gut lernt man an Orten wie der Magliana die Stimmung derer ver¬
stehen, die sich in dieser wundersamen Halbwüste mit ihren Augen gleichsam
festgesogen haben und nichts Besseres wissen, als die wechselnden Spiele des
Lichts und den Farbenzauber über dieser in ihrer Art und namentlich in der
Verbindung mit einer großen Hauptstadt einzigen Landschaft! Es giebt
Menschen in Rom — meist Ausländer, aber auch einige Italiener —, die so
leidenschaftlich an der Eigenart der Campagna hängen, daß sie nur mit Sorge
und Verdruß die Versuche betrachten, das ungeheure malerische Terrain seines
althergebrachten Charakters hie und da zu entkleiden, es besser nutzbar zu machen.
Gegen die im Augenblick vielbeliebte Anpflanzung von Euknlhptusbüumen in
den sumpfigen Niederungen haben sie am Ende weniger einzuwenden, die ge-
rühmten Wirkungen dieses Baumes gegen die Sumpffieber verschaffen ihm in
der Campagna stets größere Verbreitung, und es giebt wohl Leute, die für
römischen Schutt und Schmutz, für rauchgeschwärzte Wände und rohrgeflickte
Dächer, aber doch Wohl keine die für die römische Malaria schwärmen. Die
Versuche zum Anbau von Getreide, zur Obstzucht, zu ausgedehntem Gärten,
die namentlich in der Nähe der Eisenbahnstationen gemacht werden, erwecken
dagegen den ganzen Zorn dieser Campagnaschwärmer, sie scheinen wirklich zu
fürchten, daß es über Nacht um Rom aussehen werde, wie um Leipzig oder
Nürnberg. In Wahrheit hat alles, was zur Entwässerung und zum Anbau
der Campagna bis heute geschehen ist, noch wenig zu bedeuten und hat auf
alle Fälle an dem Gesamtanblick der Landschaft so gut wie nichts verändert.
Selbst die durchgehenden Eisenbahnen, von denen namentlich die von Rom
nach Civita Vecchia und weiter nach Pisa und Genua führende die große und
feierliche Öde durchschneidet, heben den Eindruck tiefer Stille und Einsamkeit
eines Naturlebens nicht auf, in den: die Macht jahrtausendalter Verwilderung
immer wieder der Ansätze der Kultur spottet. Magliana ist die erste Station
der genannten Eisenbahn, doch keine zweihundert Schritte vom. Stationsgebäude
umfängt den Besucher der echte Hauch der römischen Campagna, der Duft
würziger Kräuter und großer leuchtender Blumen, der farbige Schimmer, der
über Feldern und Trümmern liegt, die träumerische Ruhe, in der man die
vereinzelten Laute so rasch unterscheiden lernt und dazu das stille Weben der
Erinnerungen, die hier aus Schritt und Tritt erwachen. Nur an einzelnen
Stellen läßt der Bau der Magliana noch erkennen, daß er eine Stätte heiterer
Pracht und üppigen Lebensgenusses gewesen ist, daß die Jugendgenossen wie
die Schüler Rafaels ihn jahrzehntelang geschmückt haben. Von den heitern
Fresken, die ehemals die Wände dieses päpstlichen Lustschlosses zierten, hatten
wir vor wenigen Tagen einige im Konservatorenpalast am Kapitol gesehen,
den Apoll mit den neun Musen, die Giovanni lo Spagna, der Mitschüler
Rafaels bei Pietro Perugino, im Auftrage Papst Julius des Zweiten gemalt
hat, andre Wandbilder find nach Paris ins Louvre geraten, von der Farben¬
herrlichkeit ist nichts am Ort ihrer Entstehung geblieben. Die Mauerzinnen
und Bogengänge der Architektur zeugen allem von verschwundener Pracht.
Wie die Magliana in den Tagen Leos des Zehnten der Ausgangspunkt großer
und fröhlicher Jagden war, ist sie auch heute noch ein beliebter Sammelpunkt
der Campagnajäger.
Besser erhalten, niemals völlig aufgegeben, aber gleichfalls fast in un¬
glaublicher Weise verfallen zeigte sich der der gleichen Kunstperiode angehörige
und vor Zeiten weit berühmte anmutige Bau der Villa Madana, der
Sommersitz des nachmaligen Papstes Clemens des Siebenten als Kardinal
Medici, an der Nordspitze des Monte Mario hoch und frei gelegen. Zweimal
legten wir den Weg zu diesem schönsten und berühmtesten Bauwerke Rafaels
zurück und erreichten es einmal von der Porta Angelica, das andremal von
Ponte Molle her, aber beidemal fanden wir nur die untern Räume, die mit
dem Betrieb eines Pachthofes, mit Scheuern, Niehställen, mit Gärtner- und
Winzerwvhnung erfüllt sind, zugänglich. Die obern Zimmer, in denen noch
Deckengemälde Giulio RvmcinoS und Arabesken des Giovanni da Udine er¬
halten sein sollen, blieben hartnäckig verschlossen; die Terrasse, die Treppen, das
reichgefaßte, aber fast völlig überwachsene Wasserbecken, die Loggia, alles was
sich von außen sehen läßt, ist so wundervoll in der Anlage und so traurig
vernachlässigt, daß der Anblick erhebend und wehmütig zugleich stimmt. Die
Reihe der Besitzer dieser Villa vergegenwärtigt große Wandlungen der Ge¬
schichte, nach der Mitte des sechzehnten Jahrhunderts hat sie Herzogin Mar¬
garete von Parma, der natürlichen Tochter Kaiser Karls des Fünften, der
Generalstatthalteriu der Niederlande für ihren Bruder Philipp den Zweiten ge¬
hört, durch diese, die Gemahlin Ottnviv und die Mutter Alexander Farneses,
kam sie in den Besitz der Herzöge von Parma und uach dem Aussterben der
Linie in den der Könige von Neapel, die sich um die kostbare Kunstperle so
wenig wie möglich kümmerten. So ist die Villa Stein für Stein, Zierrat
für Zierrat verwittert, zerbröckelt, übermost, die Prachtgürten in die halbe
Wildnis verwandelt, die man in römischen Vignen und Gemüsegärten so oft
sieht; die zu ganz anderm Gebrauch geschaffenen, im edelsten Stil gewölbten
Räume erscheinen höchst wunderlich verunstaltet. Aber auch so bleibt die heitere
Harmonie, die einfache Größe und freie Anmut des Hauses, die Feinheit der
ursprünglichen Anlage eine Augenweide und ein zur Zeit wenigstens noch voll-
giltiges Zeugnis für Rafnels glücklichen Genius. Sein Ruhm als Baumeister
ist im Ruhme des Malers untergegangen, gegenüber der Villa des Kardinals
Medici, deren Pläne er noch in seinen letzten Lebenstagen entworfen haben
soll, fühlt man, daß ihm bei längerm Leben auch dieser Kranz verblieben sein
würde. Die mißlichen Schicksale seines letzten schönen Bauwerks begannen
übrigens alsbald nach seinem frühen Tode, Giulio Romano, der so vieles von
Rafael begonnene vollenden mußte und nach seiner Weise vergröberte, führte
auch den Villenbau für Kardinal Giulio Medici weiter; als aber der Mediceer
die dreifache Krone erlangt hatte und mit seiner Politik den unheilvollen An¬
sturm der Kaiserlichen, der Spanier und deutschen Landsknechte auf Rom, die
vielgeschilderte havon» al Kamm im Mai 1527 heraufbeschwor, stürzte sich auch der
Todfeind Clemens des Siebenten, Kardinal Pompeo Colonna, mit räuberischen
Scharen der Vasallen seines Hauses, wilden Hirten und Bauern der Campagna,
auf die Villa am Monte Mario und ließ Feuer hineinlegen, sodaß späterhin
Antonio da Sangallo genug mit ihrer Herstellung zu thun hatte. Aber sie
ward doch hergestellt, blieb noch einige Menschenalter prächtig und stattlich
und fiel erst mit der völligen Verlassenheit der heutigen Zerstörung und Ver¬
ödung anheim.
Eine dritte vielgepriesene Schöpfung der Renaissance, schon ihrem Nieder¬
gange, den spätesten Tagen Michel Angelos angehörig, besser erhalten, aber
gleichfalls im beständigen und nicht immer würdigen Wandel der Geschicke stark
beschädigt und ihres ursprünglichen Glanzes beraubt, ist die vor der Porta del
Popolo, nördlich von den Borghesischen Gärten gelegene Villa ti Papa Giulio.
Nicht der gewaltige Julius II., wie in einzelnen Führern und Handbüchern
zu lesen steht, sondern Julius III., „kleiner und nicht so groß als der
Telamonier Ajas, nein, viel kleiner an Wuchs" (Ilias), ließ sich um die Mitte
des sechzehnten Jahrhunderts von Vasari und Vignola das reiche Landhaus
in nächster Nähe der Stadt errichten, während andre schöne, aber entferntere
Villen bereits verödeten. Federigo Zuccaro schmückte in seiner leichtfertigen,
aber glänzenden und technisch verblüffenden Manier die Säle der Villa mit
Deckenbildern; weder Farben noch Marmor wurden gespart, um dem Ganzen
ein prächtig heiteres Aussehen zu geben, und bis heute, wo nun auch dieser
Bau verlassen und gleichsam überflüssig zwischen einsamen Gärten und Garten¬
mauern liegt, wirken die stattliche Fassade, der Hof mit seinen Arkaden mit all
dem Zauber, der den Werken dieser Zeit zu eigen ist. Den bleibendsten Ein¬
druck empfängt man von dem schönen Bauwerk, wenn man von der Acqua
Aeetosa oder dem neuen, zur Zeit noch sehr dürftigen, schattenlosen Pareo
Margherita (nicht zu verwechseln mit der Passeggiata Margherita) herüber¬
kommend, zwischen Weinbcrgsmnuern, hohen Gartenmauern über die Laub¬
kronen, Cypressenspitzen und Silberpappeln emporschauend, zwischen allerhand
verräucherten kleinen Häusern und versteckten Kapellchen, auf holprigen auf
und ab führenden Pfaden plötzlich die Wölbung des Arcoscuro (^re,o c>8ourv)
erreicht, hinter der sich der sonnenbeschienene Platz vor der Villa aufthut.
Dann ist mau mit einem Schlage aus den Eindrücken der Ccimpagna und der
malerischen Unregelmäßigkeit, ja Wüstheit eines halb vorstädtischen, halb länd¬
lichen Terrains mitten in die anspruchsvolle Welt edler Anmut und Vor¬
nehmheit hineinversetzt, die zu verschiednen Zeiten für ganz Rom erstrebt, aber
niemals — auch in der römischen Kaiserzeit nicht — erreicht worden ist. Hier
versteht man vollständig, warum unser großer Dichter, dem es weder nu Be¬
geisterung noch an Billigkeit fehlte, sich „nicht enthalten konnte, Rom als ein
Quodlibet, aber als einziges in seiner Art anzusehen," denn die gleiche Em¬
pfindung überschleicht nach einem vollen Jahrhundert den Wandrer von heute
wieder.
Angesichts so vieler köstlichen, halb zerbrochenen, halb verblaßten Schalen
eines ehemals reichen Lebens, das wir uns aus guten Gründen, trotz aller
seiner Schatten und Widersprüche, gern wieder vor den innern Blick rufen,
thut es doppelt wohl, daß wenigstens an einer Stelle ein Privatprachtban der
Hochrenaissance, die herrliche, einzig vollendete Farnesina, die Jakob Burckhardt
mit Recht „das schönste Sommerhaus der Erde" nennt, so ziemlich unberührt,
unverletzt an der Longara und in ihren Gärten am Tiberufer steht. Das
Erdgeschoß mit Rafaels Galatea und der Geschichte der Psyche gehört zu jenen
von allen gesehenen Herrlichkeiten Roms, über die niemand mehr berichtet, der
nichts als seinen persönlichen Eindruck wiederzugeben hat. Was läßt sich von
den Stanzen und Loggien Rafaels im Vatikan, von Guido Renis leuchtender
Aurora im Rospigliosipalast, selbst von den Fresken Annibale Carciccis im
Palast Farnese und Domenichinos entzückenden Cäcilienbildern in San Luigi,
der Nationalkirche der Franzosen, noch sagen, das nicht tausendmal besser ge¬
sagt worden wäre? Der Eindruck ist für jeden Empfänglichen gleich groß, gleich
frisch, obschon jeder Empfängliche gerade diese Kunstwerke in Nachbildungen
und Verkleinerungen, in Stich und Photographie kennen gelernt hat, lange bevor
er sie im Urbild schauen durfte. Von den Decken- und Zwickelbildern der
Farnesina, die die Geschichte der Psyche darstellen und von Rafaels Schülern
(Giulio Romano, Francesco Penni und Giovanni da Udine) gemalt find, von
dem großen Wandbild der Galatea im andern Gartensaal der Villa gilt das¬
selbe — die Labung der Sinne wie der Seele, die von ihnen immer neu aus¬
strömt, verhilft doch zu keinem neuen Ausdruck des Entzückens, und wer nur
sehen lernt, was tausend Bessere vor ihm mit gleicher Freude gesehen haben,
der kann zufrieden sein. Unwiderstehlich aber locken die wundervollen Ver¬
hältnisse dieser untern Räume nach oben, und ein strenges Verbot hemmt die
Schritte jedes Genuß- und Wißbegierigen am Fuße der Treppe. Die Farnesina
gehört zur Zeit oder ist vermietet an einen Granden von Spanien, irgend
einen Marquis oder Herzog, der von Zeit zu Zeit ein Paar Monate oder
Wochen darin Haus hält. Mehrere Jahre hat er sie dem Zutritt der Fremden
überhaupt verschlossen, und tausendfachem Andringen endlich so weit nach¬
gegeben, daß am ersten und fünfzehnten jeden Monats die untern Säle der
Farnesina mit den Nafaelischen Fresken, die ja die Hauptsache sind, geöffnet
werden. Selbst das in Rom so allmächtige Trinkgeld scheint nur in einzelnen
Fällen treppauf zu verhelfen. Aber je hartnäckiger der Einlaß geweigert ward,
umso mehr wuchs das Verlangen, zunächst die Hochzeit Alexanders des Großen
mit Noxane, das berühmteste Wandbild Giovanni Antonio Bazzis, bekannter
unter seinem häßlichen Beinamen Il Sodoma, daneben doch auch die Architektur-
und Landschaftsmalereien Baldassare Peruzzis und die vielgepriesene schöne
Raumeinteilnug zu sehen. Am Ende war ich glücklich genug, durch dankens¬
werte Vermittlung einer in Rom ansässigen deutschen Gelehrtenfamilie eine
Weisung des Haushofmeisters des erwähnten spanischen Herzogs an den
Kustoden der Farnesina zu erlangen, uns das verschlossene Obergeschoß des
Palastes zu öffnen. Da die Zahl der Besucher auf der Karte nicht bemerkt
war, konnte ich es wagen, auch ein liebenswürdiges Freundespaar aus Köln,
dem wir Tags zuvor unerwartet begegnet waren, mit einzuführen. Und in
der That gaben erst die obern Räume mit ihren Fresken und Friesen, ihren
Fenstern und Decken, mit ihrer vollständigen geschmackvoll kostbaren Einrichtung
den ganzen Begriff eines heiter üppigen, aber durch Geist und Kunst gehobenen
Daseins, wie es der sienestsche Bankfürst geführt haben mag, für den Peruzzi
und Rafael das schöne Haus bauten und mit ihrem Pinsel schmückten. Wie
sechzehn Jahre früher in Venedig, wo nur erst der völlig eingerichtete, Altes
und Neues harmonisch in einander fügende Palazzo Giovanelli zur ganz leben¬
digen Anschauung eiues venezianischen Patrizierlebens verhalf, ging es mir
auch in den obern Sälen und Gemächern der Farnesina. Die reiche Schönheit
der aus dem sechzehnten Jahrhundert überkommenen Wände und Decken, die
phantasievolle Kraft und Anmut, der Farbenzauber der Svdomaschen Alexander¬
hochzeit, die unberührte Frische der wohlerhaltenen Darstellungen Peruzzis und
Beecafumis, manche Ölgemälde, Meisterwerke des sechzehnten und siebzehnten
Jahrhunderts, stimmen überraschend gut und harmonisch mit dem neuern Pracht¬
teppich, der durch alle gegen einander geöffneten Gemächer hindurchgeht, mit
den reichen Seidenstoffen der Sitze, mit den tausend Einzelheiten des modernen
Lebensbedürfnisses zusammen. Es leidet keinen Zweifel, daß die ursprünglichen
Besitzer weniger Komfort besessen haben, als die gegenwärtigen Bewohner, aber
die neuere Einrichtung wird nirgends stillos und stört die Bilder vergangener
Tage nicht, die aus Säulen und Simsen, aus Fenster- und Thürrahmen für
jeden Beschauer hervortreten, ja sie hilft diese Bilder unmittelbarer und farbiger
gestalten, indem sie den Hauch der Kühle und Öde verscheucht, der um so
viele der verfallenen und verlassenen Bauten schwebt.
Wie man im ersten Drittel der
siebziger Jahre wöchentlich einigemal eine Münz- und Währnngsbroschüre zu lesen
bekam, so werden uns jetzt die Broschüren über Gymnasialreform, Berechtigungs-
fragen, „Bifurkatiun" und ähnliches in Fülle dargeboten. Die Sache ist nur in¬
sofern ungleich, als die Münz- und Wtihrimgsfrcige ihre besondern Schwierigkeiten
hat, und nicht leicht jemand darüber schreiben konnte, der nicht die erforderlichen
Studien gemacht hatte; über die Schulreform dagegen glaubt jeder ein Urteil zu
haben, der einmal vor langen Jahren eine höhere Schule besucht hat, namentlich
wenn ihm später im Leben einmal Kenntnisse gefehlt haben, von denen seine
Freunde, die in modernen Anstalten gebildet waren, schon etwas gehört hatten.
Denn wie man bald bemerkt, gehen die Wünsche, die die Reform kennzeichnen,
auf Abänderung der Gymnasien, der ältesten Anstalten im hohem Schulwesen.
Und selbst die Freunde des Gymnasiums sind zu den Reformern zu rechnen, nur
daß sie glnubeu, ihre Wünsche dienten zum Besten des Gymnasiums und gäben
nur Unwesentliches auf.*) Es ist damit noch nicht ganz sicher, daß die Reform
der Gymnasien notwendig einem allgemeinen Bedürfnis entspreche, denn eine
häufige Erfahrung zeigt, daß eine Zeit lang ein populärer Schwindel auch eruste
Mäuner mit fortreißt, besonders wenn geachtete Autoritäten das Beispiel geben.
Eine solche Autorität ist z, B. das preußische Unterrichtsministerium, das im
Jahre 1882 den Gymnasien ziemlich starke Veränderungen im Sinne moderner
Reform aufgedrückt hat. Über die Wirkungen dieser Reform steht das Urteil noch
nicht fest. Der moralische Eindruck aber war groß, und wie die getroffenen Ände¬
rungen Wirkung der Zeitrichtung waren, die sich in Broschüren, Vereinsagitationen,
Abgeordnetenhäusern kundgegeben hatte, so ist sie auch Ursache von noch weiter»
begehrlichen Neformwünschen und energischem Agitationen geworden. Man kann
sagen, daß ans den Kreisen, die das angeblich veraltete Gymnasium nur reformiren
wollen, auch Stimme» erklinge», die schon mehr auf revolutionäre Vernichtung
ausgehe». „Weg mit Latein und Griechisch!" ist ein Broschürentitel, der sehr
dentlich ist.
Longe Zeit thaten die Gymnasien, als die im Besitz befindlichen — im
Mouvpolbesitz, wie die Reformer sagen — nichts, um sich in der Presse zu ver¬
teidigen. Erst in der letzten Zeit meldeten sie sich auch zum Wort, eigentlich zu
spät. Als die Heidelberger Erklärung für die Beibehaltung des Gymnasiums in
seinen wesentlichen Zügen unterschrieben wurde, war diese moderne Methode des
gelehrten Plebiszits schon in viel eifrigerer Weise von den Reformiern befolgt worden.
Die „Tägliche Rundschau" mit ihrem Redakteur Lauge, die akademische Vereinigung
(Küster, Dr. mock.), Ingenieurvereine und Herr E. von Schenkeudorff, Mitglied des
Preußischen Abgeordnetenhauses u. s. w. hatten an den Kultusminister ein Ansuchen
gerichtet, eine große Reformenquete zu veranstalten. Diese Petition wurde mit
ihren 22 000 Unterschriften dem Minister vorgelegt. Von dem Eindruck, deu sie
auf diesen machte, verlautete nur, daß der Minister mit allgemeinen Neformwünschen
nicht zufrieden war, sondern bestimmte Vorschläge erwartete, die sodann auch auf¬
gesetzt wurden, aber viel weniger Unterschriften fanden. Ja um geringer Ursachen
willen trat eine große Zahl der Fortgeschrittensten zu einem Verein zusammen, der
den Namen „Neue deutsche Schule" führt und dem ältern Verein arg mitspielte.
Inzwischen war die Heidelberger Erklärung für die Gymnasien auch allmählich
verbreitet worden. Ein General kann nicht eifriger Zahl und Wert seiner Ge¬
fangenen feststellen, als die Reformer im Stile der Realschulmänner die Zahl und
den Wert der Unterschriften unter den entgegengesetzten Erklärungen verglichen und
abwogen.
Die von den Reformern gewünschte Enquete soll auf Befehl des Kaisers noch
in diesem Vierteljahr stattfinden. Die Fragebogen siud festgestellt, vielleicht schon
abgeschickt. In dem Gefühl, daß möglicherweise viel ererbtes Gut könne Preis¬
gegeben werden, haben neunundsechzig Professoren in Halle uoch einmal für das
bisherige humanistische Gymnasium das Wort ergriffen. Sie haben von der schon
gewährten Zulassung der Realschüler zu dem Studium der Naturwissenschaften, der
Mathematik und neuern Sprachen schon einen Nachteil der Universitätsstudien ver-
spürt. Sie fürchten, daß sich dieses Übel vergrößere, denn in den Forderungen
der Reformer findet sich stets die eine: ..Gleichberechtigung der Realgymnasien und
der humanistischen Gymnasien." Von dem Standpunkte der Universitäten kämpft
auch Professor Jürgen Bona-Meyer in maßvoller Weise gegen die extremen Re¬
former.
Es ist nun gewiß gut, sich darüber klar zu werden, welche Folgen das Ver¬
lassen des humanistischen altklassischeu Gymnasiums für die Universitäten Deutsch¬
lands haben werde. Aber der Kern der Sache bleibt doch die Frage nach der
Gestaltung der Mittelschule selbst. Wie diese Frage von der bevorstehenden En¬
gneteversammlung für den größten Staat des deutschen Reiches beantwortet werden
und wie weit der Minister von Goßler darauf eingehen wird, kann man noch nicht
wissen. Vieles trifft zusammen, um die Sache des humanistischen Gymnasiums zu
gefährden. Einmal der Umstand, daß die Vertreter des Gymnasiums selbst ihrer
Sache nicht mehr sicher sind. Sollte man nicht denken, daß das militärische Prinzip,
im Angriff liege die beste Verteidigung und erst nach erlangtem Siege dürfe man
Zugeständnisse machen, mich für ihr Gebiet gelte? Sollte es jetzt Zeit sein, wie
es Professor Schreyer in Schulpfortn und lange vor ihm schon die Mehrheit der
Direktorenversammlung einer Provinz mit ihren Schulrnten gethan hat, den latei¬
nischen Aufsatz fallen zu lassen? Man sagt wohl, ein solches Nachgeben sei gut,
um wesentlicheres nicht zu gefährden, aber man täuscht sich, wenn man glaubt, mit
dieser Zuvorkommenheit könne man den Gegner entwaffnen. Er sieht darin nnr
das böse Gewissen der altmodischen Herren. Auch sonst ist mancher ungünstige
Umstand den Gymnasien im Wege, vor allem die Abneigung an hohen Stellen.
Früher war die ,,Kadettenhausbildung" der Popanz, den die Opposition als wirksam
beständig heraushängte, seit einigen Monaten, seitdem ein hohes edles Wort sie
zum ersten Beispiel einer Reform gemacht hat, ist das nicht mehr möglich. Es
war eine populäre Maßregel, als ein Königssohn seine Söhne einem Gymnasium
und einem Realgymnasium anvertraute. Aber das Gymnasium scheint es viel
weniger als das Realgymnasium verstanden zu haben, seinem hohen Zögling
eine dauernde Wertschätzung der klassischen Anstalten mit ius Leben zu geben.
Wie das gekommen ist, ist kein Gegenstand der Forschung, aber die Thatsache
wirkt jetzt mit unter deu Mächten, die sich gegen das humanistische Gymnasium
vereinigen.
Der Herr Minister von Goßler hat mit Recht hervorgehoben, das größte
Unglück sei, in dieser Reformsciche etwas zu überstürzen, und gesagt, daß das, was
die preußische Verwaltung auszeichne, der stetige Fluß in der Schulgesetzgebung
sei; es sei viel leichter, einmal eine kleine Stagnation zu ertragen, als einen falsch
geleiteten Fluß, Seitdem es bekannt geworden ist, daß schon mehr als 344 ver-
schiedne Reformpläne im Schulniesen dem Ministerium eingesandt worden sind,
drückt sich anch das Abgeordnetenhaus etwas zurückhaltender ans. Die Realschul¬
männer sind betrübt über die Zähigkeit des Ministers, von dem sie viel gehofft
hatten. Aber sie hoffen weiter, und wer die parlamentarischen Parteien in ihrer
Unberechenbarkeit kennt, kann auch die Verehrung, die das Zentrum deu Gymnasien
entgegenbringt, nicht sehr hoch anschlagen, denn die Abneigung des Zentrums gegen
den Kultusminister ist groß, und wenn diese Herren ein ,,freies," d. h. kirchliches
Gymnasium bekämen, würden sie bald offenbaren, was ihnen das Staatsgymnasinm
wert ist.
Trotz aller augenscheinlichen Schwierigkeiten, in denen sich das humanistische
Gymnasium befindet, bekennt sich die neue Zeitschrift: „Das humanistische Gym-
nahmen" (Heidelberg, Carl Winter) zu einer entschieden vertrauensvollen Auffassung
und würde „an deren Nichtigkeit auch dann uicht irre werden, wenn die nächste
Zukunft hier und dort einer entgegengesetzten Strömung gehören sollte. Die Phrase
von der Überlebtheit der humanistischen Bildung ist für uns bedeutungslos, so lange,
was sich »überlebt« hat, so hervorragende Leistungsfähigkeit zeigt. Auch von einem
ungleich Höhern, der christlichen Religion, haben wir, haben bereits frühere Ge¬
schlechter gehört, sie habe sich überlebt. Es ist oft gesagt worden, daß die Grund¬
lagen der Stärke Dentschlands sein Heerwesen und sein Unterrichtswesen seien. Ist
dieser Satz nicht zur Hälfte eine Unwahrheit, so liegt der Fortschritt auch für das
Gebiet der Schule auf dein Wege der sorgsamen Weiterentwicklung dessen, was wir
besitzen, nicht auf dem Bruch mit der Vergangenheit, und wir möchten vertrauen,
daß^) Deutschland die Bahn des wahren Fortschritts auch nicht zeitweise verlassen
wird." So sagt Direktor Uhlig in Heidelberg. Seine Wünsche teilen wir voll¬
kommen, aber sein Vertrauen geht über das hinaus, was wir für wahrscheinlich
halten. Wenn einmal in einer Zeit ein vielversprechendes Prinzip, von begeisterten
Männern gestützt, die allgemeine Meinung ergreift, so ist eine theoretische Kritik
vergeblich. Man erinnere sich nur des Freihandels, der von England her zu uns
herüber drang. Alle Katheder priesen ihn. Wir hätten ihn noch, wenn nicht die
bittere Not zur Umkehr gezwungen hätte, und wenn sich nicht der Kanzler gefunden
hätte, der die Theorie geringer schätzte als der „Fachmann" Delbrück. So werden
wir wohl auch auf dem Gebiete der Schulreform durch Schaden klug werden
müssen. Es ist nicht jedem gegeben, die Fäden, die unsre Volksbildung mit unsrer
höhern Bildung und diese mit dem Altertum verknüpfen, zu sehen und ihren Wert
zu empfinden. Man kann sie daher leugnen. Aber auf die Dauer geht das nicht.
Nur vorläufig werden wir die vom „Zeitgeist" aufgedrängten Experimente mit
unsern höhern Schulen machen. Dann wird die Reue von selbst kommen, wie
sie sich schon jetzt in Skandinavien und Frankreich in Betreff des so gepriesenen
einheitlichen Unterbaues der höhern Schulen meldet. Man könnte die Schul¬
experimente, wenn sie sich auf einzelne Stationen beschränkten, recht interessant
finden. Handelt es sich aber um allgemeine Maßregeln, so ist es doch gut, daran
zu denken, daß es Menschen sind, an denen man experimentirt, nicht irgend ein
voraus vllo.
Es ist unmöglich, bei dieser Gelegenheit eine genügende Übersicht über die
wichtigsten Fragen zu geben, die in Rede stehen. Nur einige Andeutungen sollen
darüber gegeben werden. Ein Punkt ist die oft behandelte Frage, ob es in der
That eine „formale Bildung" gebe, sodaß eine längere Beschäftigung des Geistes
mit einer Art von Begriffen und Urteilen, und ihres Zusammenhangs diesen Geist
für alle verwandte Arten von Begriffen befähige und stähle. Eine Unterfrage ist,
ob, wenn man diese Frage bejaht, die Beschäftigung mit neuern Sprachen dafür
dasselbe leiste, wie die mit den klassischen, wobei sich dann wieder Unterfragen
über die pädagogische Durchdringung der gemeinten Sprachen einstellen Denn es
könnte ja sein, daß die neuern Sprachen noch nicht so schulmäßig bearbeitet
wären wie die alten. Es kommt nach der bisherigen Vorliebe, die Dinge nach
ihrem eignen Wesen zu betrachten, überhaupt in Betracht, welchen Bildungswert
die verschiednen Unterrichtsgegenstände haben. Aus diesem Gesichtspunkte ist
Paulsen bemüht, auch für die modernste Schule nachzuweisen, daß sie nicht in
dein mathematisch-naturwissenschaftlichen Gebiet, sondern in dem sprachlich-histo¬
rischen ihren eigentlichen Wert habe, ganz im Einklang mit Voltaire, Herbart,
Mager n. a.
Von allen diesen schwierigen, zum Teil nicht ganz lösbaren Fragen wendet
sich die Reform meist ganz ab. Und wenn sie auf Sonderlinge stößt, die noch
daran hangen und z. B. sorgfältiger forschen, in welchen Proportionen die drei
großen Gebiete, die kein Gebildeter nach der Meinung der Alten entbehren kann:
Gott, Menschl und Natur, verbunden werden sollen, so findet sie das eher
spaßhaft und legt lange Listen vor, daß junge Leute, die kein Griechisch und »venig
Latein getrieben haben, ganz vorzügliche Leistungen in verschiedenen Lebensstellungen
cnifzmveisen haben.
Aber auch das ist noch zu umständlich für andre. Sie sagen einfach, daß
die deutsche Kultur seit 1870 und schon früher so viel technische, politische und
volkswirtschaftliche Fortschritte gemacht habe, daß auch die höhern Schulen unmöglich
von diesen Umwälzungen unberührt bleiben könnten. Es wäre vielleicht der Beweis
dafür wünschenswert, warum die Schüler schon mit diesen Errungenschaften be¬
helligt werden sollten; früher hielt man dafür, daß der künftige Beruf noch kein
Recht habe, den Stoff des Unterrichts zu bestimmen, selbst die Realschulen sollten
allgemeine Bildung vermitteln. Man hielt schon deshalb daran im ganzen fest,
weil man im andern Falle Überbürdung zu fürchten hätte. Ganz recht, sagt der
Gegner, nur keine Überbürdung, aber die verhüten wir am besten, wenn wir die
schwierige griechische Sprache ausscheiden, um den modernen Gegenständen mehr
Raum zu gönnen, die, wenn sie nach der Schulzeit erst eintreten, nicht rechtzeitig
zu Gebote stehen. Das heißt aber eben die allgemeine Bildung aufgeben, um
Spezialschulen für das bürgerliche Leben zu schaffen.
Allerdings muß es ja nach den Mitteln und den sozialen Verschiedenheiten
der Eltern Abstufungen der Schulzeit und der Schulziele geben. Die Volksschule
entläßt mit dem vierzehnten Jahre und muß darnach ihre Einrichtung treffen. Eine
Schule, die mit dem sechzehnten Jahre entläßt, muß von vornherein anders einge¬
richtet sein. Wenn man diese Einrichtung so bezeichnet, daß sie eine „abgeschlossene"
Bildung geben müsse, so ist dieser Ausdruck ganz unbrauchbar, denn es giebt keine
abgeschlossene Bildung, aber man meint etwas Richtiges damit. Eine Schule, deren
Kursus so umfassend ist und so hohe Ziele verfolgt, daß neun Jahre für sie er¬
forderlich sind, kann nicht genan, auch nicht zwei Jahre lang, mit einer andern
übereinstimmen, die ihre Aufgabe in sechs Jahren zu lösen hat. Man kann sich
darum denken, wie spaßhaft die Vorstellung dem wirkliche» Pädagogen vorkommt,
eine sechsjährige Schuleinrichtung allen vorzuschreiben, die höhere Bildung suchen,
und nach diesen sechs Jahren erst die Verschiedenheiten der Bedürfnisse in einer
neuen dreijährigen Schule zu befriedigen. Dieser gemeinsame Unterbau ist nicht
aus einer pädagogischen Erwägung hervorgegangen, sondern aus rein praktischen
Verlegenheiten. Die Eltern möchten ihre Entschlüsse über die ganze Ausbildung
des Sohnes nicht schon in seinein neunten Jahre fassen, nachdem er erst drei Jahre
erprobt worden ist, sondern sechs Jahre später; dann hoffen sie des Sohnes Fähig¬
keiten und Anlagen und ihre eignen finanziellen Kräfte genauer abwägen zu können.
Diese Aufschiebung ihrer Entschlüsse um sechs Jahre ist aber nur zum geringen
Teile möglich, wenn gleich von vornherein die Bildnngsarten der Schulen aus¬
einander gehen. Daher der Wunsch einer einheitlichen Grundlage. Die Renlschul-
männer, denen der Gedanke des Unterbaues wohl angehört, konnten sich damit
nicht befreunden, denn wenn man eine solche sechsjährige Schule für alle
einrichten wollte, könnte von fremden Sprachen nur Französisch und Englisch in
Betracht kommen. Das Gymnasium konnte sich seiner Natur nach mit dem modernen
Umbau und Unterban in keiner Weise vertragen. Vielmehr war der Gedanke,
in deu neuen drei Jahren das Lateinische und Griechische anzufangen und zu voll¬
enden, so absurd, daß auch die Anhänger des modernen Unterbaues sich zu einem
frühern Anfang des Lateinischen in Nebenstunden als zu einem notwendigen Zu¬
geständnis bequemten. Die ganze Sache hat, wie gesagt, Pädagogisch keinen
Sinn.
Anders ist die Annäherung von Schuleinrichtungen, die von vornherein auf
eine gleiche Höhe der Reife mit gleich viel Jahresknrsen eingerichtet siud. Hier
tuum wohl von einem gewissen Punkte an nach englischem Ausdruck eine KrssK siäs
und eine nwclsi-n finis auseinander gehen. Und damit ist das Problem der
„Bifnrkation" oder Gabelung angeschlagen, das so viele Vorschläge veranlaßt hat.
Wir können nicht ans das Einzelne eingehen, aber es ließe sich z. B. wohl denken,
daß von Obersekunda an für die künftigen Mathematiker, Naturforscher, Mediziner
sich das Lateinische auf Virgil und Horaz (in zwei Stunden), das Griechische auf
Homer und Sophokles (zwei Stunden) beschränkte, die andern dadurch gewonnenen
zwölf Stunden dagegen modernen Gegenstände«, Chemie, Mathematik und deu neuem
Sprachen gewidmet würden.
Wesentlich vereinfacht werden würde die Reformfrage, wenn die Einjährigen-
Berechtigung, wie es der Herr Minister von Goßler in Aussicht gestellt hat, mit
den Schulen nichts mehr zu thun hätte. Es ist gut, daran zu erinnern, daß der
Unterrichtsminister niemals ein Interesse daran gehabt hat, die Einjährigen-Be¬
rechtigung an die Reife für gewisse Klassen zu knüpfen. Nur der Kriegsminister
legte Wert darauf, Reserveoffiziere zu haben, die ihre Bildung einem länger
dauernden, streng geordneten Bildungsgange verdankten, nicht einer künstlichen Schnell¬
fabrikation. Wenn das um anders geordnet werden kann, so wird eine Entlastung
der neunjährigen Anstalten wohl die Folge sein. Aber man muß die Verfügung
über den wichtigen Punkt abwarten. Hoffentlich wird die Folge sein, daß weniger
junge Leute den Staatsdienst aufsuchen, und daß dagegen die rein modernen (latein-
losen) höhern Bürgerschulen mit ihren sechs Jahreskursen immer häufiger werden.
Sie find die eigentlichen Bildungsstätten des Bürgerstandes, dein es zu gönnen ist,
daß er für seinen immer wichtiger werdenden Beruf die talentvollen Söhne selbst
behält und sie nicht so hänfig wie bisher in eine scheinbar höhere Bahn drängt,
wo sie ihre besten Jahre verlieren und sich unglücklich fühlen.
Den Spuren einstiger deutscher Ansiedelungen im
Auslande nachzugehen, ist meistens ein etwas wehmütiges Vergnügen. Ohne Gefahr,
übertriebener nationaler Eigenliebe geziehen zu werden, darf man behaupten, daß
die Deutschen, die sich in frühern Zeiten auf fremdem Boden niederließen, wohl
ein reichlicheres Brot suchten, als die Heimat ihnen gewährte, aber nicht ihn aus¬
sogen, sondern ihn in dem einen oder dem andern Sinne kultivirten, also dem
Laude, das sie aufgenommen hatte, das Empfangene vergalten; daß, wenn sie ihre
Eigenart bewahrten, dies nur dann geschah, wenn sie sich einer noch auf niederer
Stufe stehenden Bevölkerung gegenüber befanden, wie in den Ländern des Ostens,
in andern aber sich nur zu rasch entnativncilisirten. Noch heute, wie wenige kehren,
nachdem sie in der Fremde den Lohn für ihre Arbeit eingeheimst haben, in das
Baterland zurück, welche ungezählten Scharen gehen fort und fort in einem andern
Bolkstum ans! In allen Fällen aber werden sie wie lästige Eindringlinge, wie
Ausbeuter angesehen, während andre, die dem gastlichen Lande keine wirkliche, keine
uneigennützige Leistung bieten, sich aller Wohlthaten des Gastrechtes erfreuen, Wohl
gar am geschäftigtstcn gegen die „Fremdlinge" schüren.
Wie es unsre östlichen Nachbarn den deutschen Einwanderern danken, daß sie
den Boden mit ihrem Schweiße gedüngt, Gewerbe und Handel gehoben, geordnete
Gemeinwesen und Rechtspflege begründet haben, das ruft uns jeder Tag ins Ge-
dächtnis. Anders liegen die Dinge im Südwesten. Das Zlorto in LsÄssodi galt
ja weniger den in Italien angesessenen Deutschen, als den die Fremdherrschaft be¬
hauptenden Soldaten und Beamten, denen oft genug das Deutschtum recht fern
lag, und der Ruf ist daher längst verstummt, die irredentistischen Narren feiern
den Meuchelmörder Oberdank, ohne sich um dein Klang seines Namens zu stoßen.
Aber auch dieses Beispiel erinnert daran, wie geringe Widerstandskraft das ger¬
manische Element dem romanischen entgegensetzt. Wir beklagen nicht, daß die
Bewohnerschaft Oberitaliens, vor allem der Lombardei, so viel deutsches Blut auf¬
genommen hat, und der höhergebildete Italiener verkennt nicht, von welchem
Nutzen für das ganze Königreich dieser so viele Jahrhunderte hindurch kaum
jemals unterbrochene Zufluß ist. Dennoch kann man sich des oben bezeichneten
Gefühls nicht ganz erwehren, wenn uns wieder einmal gezeigt wird, wie deutsche
Hände mitgearbeitet hoben, um italienische Städte wohlhabend und mächtig zu
machen.
So hat Henry Simonsfeld, dem wir das schöne Werk über den I'vilain.vo rlni
'I'sÄWvIu Verdanken, unlängst in den Abhandlungen der Bairischen Akademie der
Wissenschaften nach einer im Germanischen Museum befindliche» Handschrift die
Statuten einer Lvlrola Ilrsotonioarmn (d. h. einer Vereinigung der in einer Stadt
lebenden Deutschen zur Pflege der guten Sitte und der christlichen Nächstenliebe,
also zur Erfüllung eines Teiles der Aufgaben der Künstlicher Verbrüderungen, aber
nur dieses einen Teiles und ohne Rücksicht auf den Beruf der Mitglieder) zu
Treviso, die von dem venezianischen Podestu im Jahre 1440 bestätigt worden
sind, sowie das mehr als zwei Jahrhunderte umfassende Mitgliederverzeichnis ver¬
öffentlicht.^) Der Entdecker der Handschrift, Professor von Zahn in Grnz, hatte
allerdings schon vor neun Jahren einen Aufsatz über sie in einer Wiener Wochen¬
schrift erscheinen lassen, doch scheint dieser wenig bekannt geworden zu sein, und
das Dokument ist, wie Simonsfeld mit Recht bemerkt, interessant genug, um eine
vollständige Herausgabe zu rechtfertigen.
Treviso ist jetzt eine ziemlich stille Stadt, es hat wie Venedig, Verona und
so mancher andre Ort die Verwirklichung des Einheitsgedankens teuer bezahlt. Der
große Strom der Reisenden läßt es links (oder rechts) liegen, denn so viel Schönes
es auch dem Kunstfreunde zu zeigen hat, so gehört es doch nicht zu den Städten,
die „man gesehen haben muß," folglich würde man dort nicht Halt machen, selbst
wenn es ohne Umweg zu erreichen wäre. Dafür hat es eine reiche Vergangenheit,
die Simonsfeld mit Ausscheidung alles sagenhaften an uns vorüberführt. Da es
1107 im Bunde mit Ravenna und Padua gegen Venedig im Kriege war, muß
es damals schon eine ansehnliche Stellung eingenommen haben, wofür auch zeugt,
daß etwa sechzig Jahre später Kaiser Friedrich I. sich bewogen fand, durch Auf¬
hebung von allerlei Maßnahmen seiner Reichsboten die Unabhängigkeit der Stadt
von Kaiser und Reich zu bestätigen und sie so an seine Partei zu binden. Kultur-
geschichtlich ist besonders von Interesse, beiß er die Errichtung von Kaufhallen auf
den Straßen gestattete. sein Zweck wurde freilich, wenn überhaupt, nur für sehr
kurze Zeit erreicht, wogegen die Stadt die Unterwerfung aller benachbarten Städte,
geistlichen und weltlichen Herren unter ihre Oberhoheit durchsetzte. Der Verfasser
hebt hervor, daß in dieser Glanzzeit Trevisos nach und nach die Bezeichnung
„Mark Verona" der neuen „Trevisaner Mark" (Wceoüia,La.roi«ma) wich, was in
der That am besten die damalige Bedeutung der Stadt bezeugt. Ein überaus
glänzendes Fest im Jahre 1214 bildet gewissermaßen den Abschluß dieser Periode.
Tausende von Fremden sollen sich eingcftmden haben, um zu sehen, wie im Ge¬
schmacke der Zeit die schönsten Edelfrauen aus der ganzen Mark eine mit kostbaren
Geweben und Pelzwerk bekleidete hölzerne Burg gegen vornehme Jünglinge ver¬
teidigten; die Kämpfer trugen anstatt der Helme goldne, mit Edelsteinen geschmückte
Kränze, und als Wurfgeschosse dienten Blumen, Früchte, Gewürze u. tgi. in. Aber
ein Streit zwischen Venezianern und Paduanern machte nicht nur dein Feste ein
jähes Ende, sondern führte zu langen Fehden, in die die übrigen Städte der Mark
verwickelt wurden; dann folgten die bösen Zeiten Ezzelins da Romano, der Kämpfe
zwischen Guelfen und Ghibellinen, die hier die Weißen und die Noten hießen,
Treviso wurde bald von den Camino, bald von Statthaltern Friedrichs von Öster¬
reich, bald von den Senligeru regiert, bis Martina della Scala es 1339 an Venedig
abtreten mußte. Pausen in diesen Stürmen hatte es benutzt, um eine Hochschule
z» gründen und sich von Friedrich bestätigen zu lassen.
Der Verfasser betont die Wichtigkeit dieser Erwerbung Venedigs in politischer,
wirtschaftlicher und handelspolitischer Beziehung. Sie eröffnete der Republik den
Weg zu deu Gebietsnusdehuungen auf dein Festlande und damit zur Stellung einer
europäischen Großmacht, sie brachte ihr eine schon reich entwickelte Industrie zu
und sicherte ihr die Handelsstraßen nach Deutschland über Belluno-Ampezzo und
über Trient. Allerdings kam Treviso noch einmal für kurze Zeit an Leopold von
Österreich und durch diesen an Francesco Carraro, wurde aber 1388 wieder
venezianisch, um es fortan zu bleiben.
So viel zur Geschichte der Stadt. Politische und Hnttdelsverbiuduugen
machen es begreiflich, daß frühzeitig in ihr Deutsche angetroffen werden; schon
1184 erscheint ein Deutscher als Zeuge. Zu Anfang des vierzehnten Jahrhunderts
werden zahlreiche Deutsche und Friauler erwähnt, die im Gefolge des Grafen
Heinrich von Görz, des damaligen Kapitäns der Stadt, nach Treviso gekommen
sein und in der Contrada der Augustinerkirche gewohnt haben sollen, darunter
mehrfach Gastwirte, was an die unter allen Himmelsstrichen zu findenden deutscheu
Kellner erinnert. Später kommen deutsche Söldner und Söldnerführer im Dienste
Venedigs, deutsche Kaufleute, ferner deutsche Tuchscherer, die ihren Landsleuten das
nach Venedig einzuführende Tuch bearbeite» mußte».
Die mehrerwähnte, aus dem fünfzehnten Jahrhundert stammende Handschrift
enthält nun nnßer den in lateinischer und deutscher Sprache abgefaßten Statuten
(deren erster Paragraph lautet: „VroKsminm, in rsAvIs, Ira,t,rar>, 'Ilivotonivornm
vivit!>,dis Larvisü qns xroxriv clioitnr soolu. siuroti vVnwnij <1s kaÄnn, orÄinis
Lmtrum ininorrun. — Ehr auvaug in der reget der deuthe pruderscaafft bez
hestigen Herren sand Autouij vou Padaw in der stat em Terveys") und dem
Mitgliederverzeichnisse verschiedne Dokumente, vor allem die von dein PodeflÄ um
8. Febrnnr 1440 ausgefertigte Bestätigung der Statuten der späten, iwviwr me-va-w,
'voraus sich die Zeit der Gründung mit einiger Sicherheit ergiebt. Als Vertreter
der Bruderschaft wird da ein Kürschner Meister Hanzelinus genannt, in dem
Simonsfeld ohne Zweifel richtig den „chursner Mciistr Hans von Wien" vermutet,
der im Mitgliederverzcichnis an zweiter Stelle erscheint. Ihm geht voran der
Färber Anton von Paduci, und zunächst folgen ein Wirt aus Basel, ohne Be¬
zeichnung des Gewerbes ein Salzburger und ein Baseler, ein Bader aus Nürnberg,
ein Schuhmacher aus Schweidnitz u. f. w. Als letzter hat sich in die Liste unter
Nummer 456 der Wirt Hans Stadler aus Mnttray (Matrei, ein in Österreich
mehrfach vorkommender Ortsname) eingetragen am 30. November 1680.
Wie es in der Natur der Verhältnisse liegt und auch durch die Sprache be¬
stätigt wird, lieferten die bairischen und die österreichischen Gebiete den stärksten
Zuzug. Doch fehlen, soweit sich die Ortsnamen mit Sicherheit deuten lassen, auch
Württemberger, Badener, Schweizer, Elsässer, Rheinländer, Westfalen, Niederländer,
Sachsen, Franken und einzelne Wanderlustige aus Hannover, Mecklenburg, der Mark
Brandenburg, West- und Ostpreußen, Schlesien, Ungarn, Siebenbürgen und Nu߬
land nicht. Größere Schwierigkeit macht die Zuteilung an die verschiednen Be¬
schäftigungen, da bei mehr als der Hälfte der Mitglieder eine solche nicht angegeben
und manche Bezeichnung unverständlich ist. Immerhin zeigt sich, daß so ziemlich
für alle Leibes- und Lebensbedürfnisse innerhalb der deutschen Kolonie gesorgt war
(sogar ein Orgelmacher wird genannt), und von elf deutschen Gasthäusern erfahren
wir die Schilder: zum Hirschen, zur Leiter, zum Schwert, zum Mohrenkopf, zum
Engel, zum Ochsen, zur Rose, zum weißen Löwen, s.et xczrvKrinnnr, zum heiligen
Georg, zum Siegel.
So anziehend es wäre, wir können dem Herausgeber doch an dieser Stelle
nicht in allen seinen gründlichen Untersuchungen folgen. Wie in allen frühern
Zunftordnungen ist auch in der Regel der deutschen Bruderschaft zu Treviso das
Hauptaugenmerk auf die gegenseitige Fürsorge, Pflege der Kranken, Erweisung der
letzten Ehren für Verstorbene (deren Namen in der Liste nicht gelöscht, sondern
mit einem Ringlein und einem Kreuze darin versehen werden soll, damit sie nicht
„also schir vergessen" werden von den Brüdern, sondern „eyn lange czeit" bleiben),
Aufrechterhaltung eines ehrbaren Wandels, Verhütung von Ausschweifungen (Würfel¬
spiel u. a. in.), Bestrafung des Diebstahls gerichtet. Der wöchentliche Beitrag von
einem Schilling heißt Schulrecht. Wir müssen uns damit begnügen, auf die kultur¬
geschichtlich und sprachlich hochinteressante Schrift selbst zu verweisen.
ern wir im nachstehenden von dem ungeheuer reichen Inhalte
des u»te»genn»nten Werkes") eine Übersicht zu gebe» versuchen,
so geschieht es in der Absicht, in allen unsern Lesern die Über-
zeugung zu begrmiden, daß es für jeden im öffentlichen Leben
stehenden Mann Pflicht sei, dieses Werk zu studiren. Es kommt
gerade noch zu rechter Zeit, um den Gegner» der kaiserlichen Sozialpolitik die
Grundlosigkeit ihrer Befürchtunge» und die UnHaltbarkeit ihres el» . wellig
feudalen Standpunktes klar zu mache» und sie vor falsche» Schritte» zu be¬
wahren, die für sie selbst »icht wemger verhättguisvoll werden könnten als für
das Vaterland.
In der Einleitung zeigt der Verfasser, was in der ersten Hälfte des
laufende» Jahrhunderts unter dem Einflusse der damals herrschende» indivi¬
dualistische» Nationalökonomie aus dem englische» Volke geworden ist. Die
Arbeiterbevölleruiig erdilldete einen Druck, wie er niemals vorher und bei
keinen, andern Bolle vorgekommen war und wie er selbst den Sklaven »nbe-
kaimt ist. Die unter» Klassen befanden sich in einem Zustande des leiblichen
Elends, der U»wissenden, der Verwilderung und der Lasterhaftigkeit, der i»
ihrer Körperbeschaffenheit für jedermann sichtbar wurde: der starke, behäbige
John Bull verwandelte sich in einen schwindsüchtiger, kurzlebigen, verlumpten
Proletarier. Was an Lebensenergie in ihm noch vorhanden war, ging in
wütendem Huß gegen seine Brotherren auf und äußerte sich in verbrecherischen
Augriffe» auf Lebe» und Eigentum. Die Verzweiflung trieb zu Vereinigungen,
und so entstand die Chartistenbewegung, die nach des Verfassers Ansicht durch
ihre Ausdehnung über die ganze Arbeiterbevölkerung und die UnVersöhnlichkeit
des sie beseelenden Hasses weit gefährlicher war als die heutige sozialdemo-
kratische auf dem Festlande. Die Staatsmänner standen diesem Unheil ratlos
gegenüber. Aber ehe die soziale Revolution ausbrach, die mau um 1840 all¬
gemein erwartete, äußerte der mittlerweile in den nicht politischen Kreisen ein¬
getretene Umschwung der Geister seine wohlthätige Wirkung und lenkte die
soziale Bewegung in ein friedliches Bett. Als den Mittelpunkt dieser Er¬
neuerung des englischen Volkes von innen heraus bezeichnet der Verfasser
Thomas Carlyle nud widmet daher das erste Buch ausschließlich der Dar¬
stellung des Gedankenbnues dieses großen Denkers.
Aus dem puritanischen Familienkreise, in dem er aufgewachsen war, nahm
Carlyle jenen herben Ernst und jenen gläubigen Zug mit ins Leben, der es
ihm unmöglich machte, in der herrschenden materialistischen Philosophie und
in einem selbstsüchtigen Genußleben Befriedigung zu finden. Er verfiel an¬
fänglich der Skepsis und dein Pessimismus. Eine Stelle aus Wilhelm Meister
our es, die ihm die Hoffnung wiedergab und seine „Bekehrung" beschleunigte.
„Nicht allen Menschen, sagt Jarno zu Wilhelm, ist es eigentlich um ihre
Bildung zu thun; viele wünschen nur so ein Hausmittel zum Wohlbefinden,
Rezepte zum Reichtum und zu jeder Art vou Glückseligkeit. Alle diese, die
nicht ans ihre Füße gestellt sein wollten, wurden mit Mystifikationen und anderm
Hokuspokus teils aufgehalten, teils beiseite gebracht." Carlyle folgerte aus
diesen Worten Goethes, daß der Mensch mich ohne das fertig werden könne
und müsse, was man gewöhnlich Glück nennt. Die Aufgabe des Menschen
sei, für seine Person zu entsagen und für andre zu arbeiten. Die Kraft der
Entsagung aber, fand Carlyle weiter, könne nnr aus dem Glauben an ein
Jenseits geschöpft werden; darum seien alle gläubigen Zeitalter positiv und
bauten auf, während die ungläubigen nnr zu zerstören verstünden. Im da¬
maligen England vermochte Carlyle nichts als Auflösung und Zerstörung zu
sehen. Insbesondre, meinte er, sei diesem Geschlechte der Begriff der Arbeit
gänzlich abhanden gekommen. Eine Arbeit, die als Ware verkauft, die nur
im Hinblick auf den Geldlohn verrichtet werde, verdiene gar nicht den Namen
Arbeit; zur Arbeit werde eine Beschäftigung erst durch ihre Beziehung aufs
Gemeinwohl. Da diese Beziehung jetzt (d. h. vor fünfzig Jahren und in
England) ganz allgemein fehle, so werde nur noch Scheinarbeit verrichtet;
dnrch die Reklame erwecke jeder im andern den Irrtum, als sei die Arbeit
gethan, während sie umgethan und die ihrer bedürftige Gesellschaft unbefriedigt
bleibt. Das gelte besonders auch von der fürs Gemeinwesen wichtigsten Arbeit
des Regierens. Das unwissende, hilflose Volk habe ein Recht darauf, belehrt
und geleitet zu werden, und dieses Recht werde ihm vorenthalten, indem die
zum Regieren berufenen höhern Stände ihre Pflicht versäumten. Fast als
einzige Obliegenheit der Regierung habe man den Schutz des Eigentums übrig
gelassen; für die große Masse derer, die nichts besitzen, leiste der Staat gnr
nichts, sei also reine Plutokratie geworden. Die Aristokratie versündige sich
außerdem u, n. dadurch am Volke, daß sie einen großen Teil des Grund und
Bodens, der für deu Unterhalt dienen könnte, um des Jngdvergnngens willen
wüst liegen lasse. Das Parlament verbringe seine Zeit mit eitlem Geschwätz
über alle möglichen Frage»; nur die Frage nach der Lage des größten Teiles
des englischen Volkes bleibe unerörtert, obwohl davon die Existenz des Landes
abhänge. Das Parlamentsgeschwätz erregt Carlyles grimmigsten Unwillen;
namentlich hält er es für ein Unglück, daß Redefertigkeit zu hohen Staats¬
ämtern verhelfe. Diese Eigenschaft beweise im besten Falle gar nichts. Da
nnn einmal jene Gliederung der Gesellschaft verloren sei, durch die ehedem die
Befähigten auf die ihnen zukommende» Plätze gehoben worden seien, so schlägt
er spottend eine harmlosere Art der Auswahl vor, als die nach dem Grade
der Nedefertigkeit: die Bewerber könnten etwa um die hohen Staatsämter
würfeln oder sackhüpfen oder an eingeseiften Stangen wettkletteru. Nicht daß
er das Parlament an sich verworfen Hütte. Zwar als Schranke der Monarchen-
Willkür sei es nicht notwendig, denn auch der absolute Monarch werde durch
die Macht der Thatsache» genug beschränkt. Allein diese Thatsachen, die
Mächte des Widerstandes und der Unterstützung, kennen z» lerne», stünde»
dein absoluten Monarchen n»r sehr unvollkommene Mittel zu Gebote; die
Information durch Parlament und Presse sei jedenfalls der Methode des
Großherrn vorzuziehn, der die Unzufriedenheit seiner Unterthanen an der
Zahl der a» ihre» Ladcuthüren angenagelten Bäcker z» bemessen Pflege.
Aber regieren dürfe das Parlament nicht wollen, dazu sei es unfähig. Einer
seiner Ansicht nach so verdorbenen Gesellschaft gegenüber begrüßte er die
drohende soziale Revolution als die Zuchtrute Gottes; wenn sich eine gottlose
Gesellschaft eines ruhigen und sichern Bestandes erfreue» könnte, so würde er
den wiedergewv>l»e»e» Glaube» an Gott aufs neue verloren habe».
sein fester Glaube erfüllte ihn mit der Hoffnung, daß das Gute immer
zuletzt siegen müsse, und zwar dachte er sich den Sieg nach der Art des Über¬
lebens des Passendsten im darwinischen Kampfe ums Dasein. Er erklärte
daher auch die Macht für Recht und sprach wehrlosen Völkern die Daseins¬
berechtigung ab in der Voraussetzung, daß im Laufe des Kultilrfvrtschrittes
an die Stelle der rohen Muskelkraft mehr und mehr die sittliche Macht einer
wohlorganisirten Gesellschaft treten werde. Da aber die zur Zeit durch Selbst¬
sucht zersetzte Gesellschaft nur durch deu Glauben wieder organisirt werden
könne, so sei es notwendig, an Stelle der wissenschaftlich überwundnen Glanbens-
formen (Symbole) neue ausfindig zu machen. Obwohl er deren Gestalt noch
nicht anzugeben vermag, glaubt er doch ihr allmähliches Werden wahrzunehmen,
und zwar in der deutschen Philosophie und in Goethe. Knut scheint ihm durch
seine klare Scheidung der Erscheinungen von dem Wesen der Dinge den
Glauben ans Jenseits wieder wissenschaftlich möglich gemacht und durch Ab¬
weisung aller selbstsüchtigen Beweggründe in seiner Sittenlehre die Abkehr von
der individualistischen Richtung eingeleitet zu haben. Goethe aber, der ur¬
sprünglich pessimistisch und revolutionär gesinnt war, habe sich zu einem Stand¬
punkte durchgearbeitet, von dein ans ihm die Welt nicht nur erträglich, sondern
voll vo» Erhabenheit und Lieblichkeit erschien; ihm sei es gelungen, die Wider¬
sprüche seiner Zeit dnrchzulebeu, zu überwinden und innere Klarheit und Ge¬
sundheit zu erreichen, jene Einheit und Harmonie, wie sie in frühern, gläubigen
Zeiten vielen beschieden war. Zugleich zeige er den Weg zur Gesundung,
indem er entsagende unermüdliche Thätigkeit preist.
Indem nun Carlyle seine Anschauungsweise auf die Heilung der sozialen
Gebrechen seines Landes anwandte, empfahl er jene Wege, die seitdem that¬
sächlich und mit gutem Erfolg eingeschlagen worden sind. Vor allem müsse
jeder sich selbst reformiren. Der wiedergewonnene Glaube, die Hingebung für
den Nächsten werde die Menschen wieder zu Genossenschaften vereinigen und
die zersetzte Gesellschaft muss neue gliedern. Die Genossenschaft oder Körper¬
schaft, die den positiven Perioden angehört, unterscheidet sich von dem Verein,
der sie in negative» Perioden äußerlich nachahmt, dadurch, daß sie uicht auf
selbstsüchtiger Berechnung beruht, sondern Aufopferung und Hingebung voraus¬
setzt, das ganze Leben der Genossen beeinflußt und den Standes- oder Korps¬
geist erzeugt, während beim Verein jedes Mitglied nur insoweit beteiligt ist,
als sein persönlicher Nutzen oder der besondre Vereinszweck es fordert. Die
englischen Gewerkvereine und Genossenschaften sind in der That keine bloßen
Vereine, sondern Körperschaften. Von Reaktion, kirchlicher wie politischer,
wollte Carlyle nichts wissen. Die notwendige Vindnng der Einzelnen an das
Gemeinwesen müsse von innen heraus im Geiste der neuen Zeit erfolgen, die
feudalen „Halsbandmethoden" seien nicht mehr anwendbar. Auch die kathvli-
sirende Richtung der anglikanischen Kirche bekämpfte er; jeden Versuch, Glaubens¬
bekenntnisse aufrecht zu erhalten oder wieder herzustellen, die sich seiner Ansicht
nach überlebt haben, verwarf er als „Jesuitismus." Am nllerentschiedensten
aber verurteilte er die Anwendung der Religion zu Polizeizwecken. „Denke dir
einen Menschen, sagt er in ?We -mal ^rssönt, der seinen Mitmenschen empfiehlt,
an Gott zu glauben, damit der Chartismus ins Hintertreffen komme und die
Arbeiter in Manchester ruhig an ihren Spinnmaschinen bleiben. Diese Idee
ist toller als irgend eine von denen, die man ans Plakatstangen liest. Du
wirst finden, mein Freund, daß aller Chartismus, Manchestererzesse, parla¬
mentarische Inkompetenz, Windbeutelministerien, die wildeste soziale Auflösung,
ja die Verbrennung unsers ganzen Planeten im Vergleich damit Kleinigkeiten
sind. Ebensogut würde ich mir einfallen lassen, Milchstraßen und Sonnen-
systeme als Wegweiser für kleine Heringsschiffe zu schaffen, als Religion zu
Predigen, damit der Konstabler möglich bleibe." Auch von Produktivgenossen-
schaften und lindern sozialistischen Experimenten erwartete er nicht viel. Da¬
gegen empfahl er Aufhebung der Kornzölle, Anbau der Ödländereien, eine
wirksame Arbeiterschutzgesetzgebung, Schulzwang und allgemeine Wehrpflicht zur
Erhebung der Arbeiter aus ihrer geistigen, sittlichen und leiblichen Verwahr¬
losung, als Mittel gegen Übervölkerung endlich Regelung der Auswanderung
und Eroberungskriege.
Carlyle hat keine Schule gegründet, sagt Dr. von Schutze (1. S. 295),
much nicht unmittelbar ans das Leben eingewirkt. „Dagegen hat er alle jene
Bewegungen, die im Gegensatz zum Individualismus der vorhergehenden Jahr¬
zehnte die sozialen Verhältnisse ihrer Zeit umzugestalten sich bemühten, aufs
tiefgehendste beeinflußt. Gerade darin zeigt sich seine zentrale Stellung, das;
diese Bewegungen durchaus verschiedenartig, ja einander entgegengesetzt sind";
dem freilich, der die Grundgedanken Carlyles kennt, erscheinen sie durch diese
verknüpft. Ihre Darstellung bildet den Gegenstand des zweiten Buches. Es
sind teils konservative, wie der in den Genossenschaften fortlebende christliche
Sozialismus und die Uuiversitätsbeweguug, teils radikale, wie der Positivismus
und der gewöhnliche Sozialismus.
Unter den christlichen Sozialisten ging Denison Maurice so weit, zu sagen:
„Die Meinung, daß wir ein Selbst haben, ist eine Lüge des Teufels." Kiugsleh
rief zu einer Zeit, wo die Chartisten als der Auswurf der Gesellschaft ver¬
abscheut wurden, den obern Klassen und namentlich den Geistlichen zu, sie
wären schuld daran, daß die Chartisten den christlichen Glauben verloren
hätten, weil man die Bibel mißbraucht habe „als Leitfaden für Polizeidiener,
eine Dosis Opium für Lasttiere, ein Buch, um die Armen in Ordnung zu
halten." Er war der erste, dem es gelang, das Mißtrauen der Arbeiter gegen
jeden, der einen bessern Rock anhat, zu überwinden. Diese beiden Männer
und die zahlreichen Freunde, die sie gewonnen hatten, schlössen sich am
18. Februar 1850 unter dem Namen einer „Gesellschaft zur Förderung von
Nrbeitergenosfenschaften" zusammen. Ihnen hauptsächlich ist der kräftige Fort¬
gang der fünfundzwanzig Jahre vorher durch den Sozialisten Owen ein¬
geleiteten genossenschaftlichen Bewegung zu danken. Der Grundgedanke der
Geuosseuschaftslitteratur ist der, daß jeuer Zustand der Gesellschaft, worin der
eine mit dem audern im Kampfe ums Dasein ringt, den frühern Ent-
wicklungsstufen der Menschheit angehöre, der Fortschritt aber darin bestehe,
diesen Kampf zurückzudrängen, sodaß jeder Einzelne, anstatt sein Dasein auf
Kosten der andern zu fristen, mehr und mehr in Gemeinschaft mit andern und
mit ihrer Hilfe lebt. Christus habe die Aufhebung des Kampfes geradezu
geboten und die Einigung zur Grundlage der Gesellschaft gemacht. Die Ge¬
nossenschaften bekennen sich demnach zum Christentum, aber nicht zu einer
bestimmten Konfession. Das Soimtagschristentum, sei es, über das man Streite,
das Christentum der Formen, der Kultusfragen, der Lehrsatze, die Theorie des
Christentums; über die Praxis des Christentums, das Wochentagschristcutum,
gebe es keinen Streit, gerade dieses aber sei die Hauptsache. Die Genossen-
schaften sind Körperschaften, t'i'crwrniwtss, in dem Sinne Carlyles. Sie be¬
weisen ihre christliche und brüderliche Gesinnung n. n. durch den Grundsatz,
es dürfe nicht zu Schleuderpreisen eingekauft werden, die nur durch über¬
mäßige!? Druck auf die Arbeiter möglich werde». Am zahlreichsten sind die
Konsumvereine. Ans ihnen erwachsen häufig Genossenschaften für Häuserbau,
indem so die gewinnbringende Anlage der erzielten Überschüsse sehr schön mit
einer weiter» höchst wichtigen Art der Selbsthilfe verbunden wird. Die Pro-
duktivgenossenschaften sind das Lieblings- aber zugleich auch das Schmerzens¬
kind der Bewegung. Es ist richtig, daß viele Versuche sowohl von Arbeit¬
geber», auf dem Wege der Gewinnbeteiligung dahin zu gelangen, wie von
Arbeitern, solche mit den anderweit erzielten Überschüssen zu gründen, ver¬
unglückt sind. Produktivgenossenschaften der letztern Art Pflegen, wenn sie
geschäftlich gedeihen, gewöhnlich an dem Umstände zu scheitern, daß die zu
Kapitalisten gewordenen Arbeiter selbst nach kapitalistischen Grundsätzen Ver¬
fahren und ihre an der Gründung nicht beteiligten Mitarbeiter von dem Ge¬
winn ausschließen wollen. Aber es geht, wie man aus den vom Verfasser
angeführten Thatsachen sieht, zu weit, wenn vor einiger Zeit viele deutsche
Zeitungen wie auf Verabredung verkündigten, alle derartigen Unternehmungen
ohne Ausnahme seien mißglückt und die Sache sei völlig hoffnungslos.
„Wenn der Kampf gegen den Individualismus — sagt der Verfasser, indem
er zu Pusey und dessen Schule übergeht — das Merkmal des neunzehnten Jahr¬
hunderts ist, so hat unter den sich daraus ergebenden Richtungen nirgends
die reaktionäre gefehlt. Diese erklärt sich aus der Neigung der meisten Menschen,
die relative Berechtigung des Gegners zu verkennen." Der Verfasser verwirft
also die schließlich nach Rom führende pusehitische Bewegung, wie Carlvle und
die Mehrheit des gut Protestnutischen englischen Volkes sie verworfen haben,
gesteht ihr aber, den an ihr gerügten Fehler vermeidend, eine relative Be¬
rechtigung zu. Das asketische und mönchische Element, das sie enthielt, war
kaum zu entbehren, wenn die verwahrlosten Arbeitermassen Ostlondons von
der Bewegung ergriffen werden sollten. Diesen verwahrlosten und verkom¬
menen Menschen, diesen Ärmsten der Armen gegenüber war die Lösung der
Genossenschafter und Gewerkvereinler: Help lbsm to lielp Uiömsvlvss! nicht
zu gebrauchen. Hier mußte mit materieller Hilfe in Almvsenform angefangen,
und der tief unter Lastern verschüttete Funke des Guten dnrch den erschüt¬
ternden Eindruck der Selbstaufopferung geweckt werden. Von Oxford kamen
Männer in diese bis dahin von allen gebildeten Menschen geflohene Gegend,
die ehelos blieben und als wahre Missionare ein elendes, aller irdischen Ge¬
nüsse und aller Bequemlichkeiten der zivilisirten Welt beraubtes Leben führten.
Der erste und bedeutendste unter diesen Männern war Charles Lowder (f 1880),
der einundzwanzig Jahre lang in dem verrufensten Stadtteile Londons an einer
Kirche wirkte, deren Eingepfarrte erst durch ihn eine christliche Gemeinde
wurden; denn viele von ihnen hatten vor seiner Ankunft nie in ihrem Leben
etwas von Religion gehört, Lesen und Schreiben waren ihnen unbekannte
Künste. Durch diese Bewegungen aufgerüttelt, erinnerte sich endlich auch die
Staatskirche ihrer Pflicht. Sie wirkt seitdem besonders durch Sonntagsschulen
und durch sorgfältigere Leitung ihrer Volksschulen. Die seit Einführung des
Schulzwcmges gegründeten Gemeindeschulen tragen nämlich nur subsidiären
Charakter, sie dienen zur Befriedigung des Bedürfnisses an Orten, wo die
Konfessionsschule» nicht ausreichen. Die Staatskirche unterrichtet beinahe so
viel Kinder (2157204 im Jahre 1887), wie die Sekten (506331), die römische
Kirche (245700) und die Gemeinden (1725949) zusammengenommen.
Auf die erste Universitütsbewegnng folgte zwei Jahrzehnte später, nachdem
die Gedanken Carlyles in den höhern Ständen gewirkt hatten, eine zweite, als
deren Haupturheber Ruskin und Toynbee genannt werden. John Rnskin
— es ist der Kunstschriftsteller — wies der herrschenden Nationalökonomie
ihren Hanptirrtum nach, daß sie die Hervorbringung und Verteilung der Güter
für ihren eigentlichen Gegenstand ansehe. Der Gegenstand der National¬
ökonomie sei vielmehr die Benutzung, der Verbrauch der Güter. Dieser
Verbrauch") aber diene der Erhaltung des menschlichen Lebens nach seiner phy¬
sischen, geistigen und ästhetischen Seite. Darum sei jede Hervorbringung unwirt¬
schaftlich, die nicht lebenförderude Dinge erzeuge, möge sie auch noch so gut „ren-
tiren." Toynbee bekämpfte den Individualismus, ohne die Befreiung des
Individuums rückgängig machen zu wollen. Er ist einer der ersten nnter den
Männern, die liberal und doch nicht manchesterlich gesinnt sind. In dem freien
Arbeitsverträge, den Carlhle als eine selbstsüchtige Erfindung der Reichen ver¬
höhnt hatte, sieht Toynbee den Ausdruck der erlangten Unabhängigkeit; nur
dürfe mau nicht übersehen, daß diese theoretische Unabhängigkeit der Arbeiter
erst dnrch ihre Verbündung wirklich werde. Er brachte auch an der Uni¬
versität den Umschwung der öffentlichen Meinung zu Gunsten der Gewerk-
vereine zur Geltung, die bis zum Jahre 1867 von den Konservativen als
revolutionär, von den Liberalen wegen angeblicher Beschränkung der indivi¬
duellen Freiheit verschrieen wurde». Ihm zu Ehren wurde eine jener Anstalten
im Osten Londons, die für Volkserziehung im weitesten Sinne des Wortes
sorgen, Toynbee Hall genannt. I>r. von Schulze hat sie im Jahrgang 1887
der Grenzboten beschrieben, und es gereicht ihm zur Freude, wie er in dem
vorliegenden Buche sagt, die großartigen Fortschritte festzustellen, die die
Anstalt in der kurzen seitdem verflossenen Zeit gemacht hat; „sie ist heute
der Mittelpunkt aller der Geselligkeit und Bildung dienenden Bestrebungen
ihres Bezirkes." Durch diese Anstalten ist die Kluft überbrückt worden, die
noch vor wenigen Jahrzehnten zwischen dem Westen und dem Osten Londons
gähnte und beide Stadtteile zu zwei einander fremden Welten machte. In
diesen Anstalten verkehren Aristokraten, Minister, Parlamentsmitglieder, An¬
gehörige der Universitäten auf gleichem Fuße mit dem Arbeiter, der Arbeiter
wird nicht bloß in seinem äußern Benehmen ein Gentleman, sondern häufig
genug ein wirklich gebildeter Mann. Dank der „Uuiversitäts-Ausdehnungs-
beweguug," deren Studium unsern deutscheu Vvlksbilduugsvereinen mit ihrem
jämmerlichen Wandervortragsweseu dringend empfohlen sein mag, arbeiten sich
^ohlenhauer und Spinner zu examinirten Mitgliedern der Universität empor, die
Universität wird denen, die Oxford und Cambridge uicht beziehen können, an ihren
Wohnort gebracht. Wahrend vor fünfzig Jahren den wenigen Gebildeten und
Reichen ein „Chaos von Unwissenheit und Elend" gegenüberstand, erwächst unter
dem Einfluß dieser vielseitigen Bestrebungen ein Volk, in dein sich alle Klassen
der Gesellschaft solidarisch verbunden wissen, dessen ärmere Elemente die Kultur¬
güter der Nation als ihr Eigentum hochschätzen, und in dem eine wirkliche
öffentliche Meinung möglich ist. In zahlreichen Klubs und Vereinen, die im
Anschluß an diese Anstalten gegründet wurden, haben die vordem zügellosen
Horden der Weltstadt das Selfgovernment gelernt. In Mädcheuvereinen wird
mich die weibliche Jugend gebildet, und tu deu Abendgesellschaften, in deuen
getanzt wird, herrscht ein so anständiger Ton, daß vornehme Damen kein Be¬
denken zu tragen brauche,?, sie zu besuchen.
Aber nicht bloß die konservativen und gemäßigt liberalen, sondern auch
die radikalen Richtungen sind von der durch Carlyle eingeleiteten antiiudivi-
dualistischen Strömung ergriffen worden. An die Stelle des ältern Radika¬
lismus der Vright und Cobden, die das leüskW lÄir<z verkündigten, treten der
Positivismus und der Socialismus.
Die Grundsätze des Positivismus sind erst kürzlich von E. König in den
Grenzboten (Ur. 33) dargestellt worden. Was Comte von Carlyle unterscheidet,
ist die gänzliche Beseitigung des Jenseits; er ersetzt Gott dnrch die Menschheit,
und glaubt, daß die moderne Soziologie es möglich mache, die Selbstsucht der
Liebe nnterzuvrdne». Beiden gemeinsam ist nicht allein die Herabsetzung der
Wissenschaft zu einem bloßen Mittel für praktische Zwecke (Wvoir xonr or«z-
voir g,tin alö xourvoir) und die Nnffassung der Menschheit als eines Orga¬
nismus, sondern auch die Hochschätzung der gläubigen Zeiten (den mittelalter¬
lichen Gescllschaftsznstand bezeichnet Comte als das Meisterstück menschlicher
Weisheit) und die Überzeugung, daß Reformen nicht von oben herab ans
politischem Wege, soudern nur vo» innen heraus durch sittliche Erneuerung
bewirkt werden können, weil eben die Gesellschaft ein Organismus ist, nicht
ein Mechanismus, der willkürlich gemacht und ausgebessert werden kann. Den
oben erwähnten Umschwung zu Gunsten der Gewerkvereine haben die englischen
Positivsten ganz wesentlich gefördert, weil ihrer Auffassung die Wirksamkeit
dieser Körperschaften im großen und ganzen entspricht.
Der Sozialismus ist nach l)r. von Schulze eine unabweisbare Folge der
ältern Nationalökonomie. Nieardo hatte zu beweisen gesucht, daß die Grund¬
rente wachse „mit zunehmendem Nationalreichtum und der Schwierigkeit, die
wachsende Bevölkerung mit Lebensmitteln zu versehen." Das Steigen der
Lebensmittelpreise müsse notwendigerweise den thatsächlichen Arbeitslohn Herab¬
drücken, möge der nominelle auch vielleicht steigen. „Das Interesse des Grund¬
herrn ist daher jederzeit dem aller ander» Stäude in der Gesellschaft entgegen¬
gesetzt." Da aber, sagt der Verfasser, offenbar feder Kapitalist ein ganz
ähnliches Rentenmonopol besitzt wie der Grundbesitzer, so ist von Nieardo aus
nur ein kleiner Schritt zu der sozinldeiuokratischen Behauptung, daß das In¬
teresse der Besitzenden dem ganz wenig oder nichts Besitzenden entgegengesetzt sei.
Daraus folgern die Sozialdemokratin ganz richtig weiter, daß unter der Herr¬
schaft der kapitalistischen Produktionsweise eine Besserung der Lage des Arbeiter¬
standes nicht möglich und alle darauf verwendete Mühe weggeworfen sei.
Diese Folgerung wurde aber nur ans dein Festlande gezogen. In England
geschieht es nnr vereinzelt, und zwar ans dein einfachen Grunde, weil man
dort den Beweis des Gegenteils, nämlich die Besserung der Lage der
arbeitenden Klassen auf dein Boden der heutigen Gesellschaftsordnung greifbar
vor Augen sieht. Was Nur bei uns unter Sozialdemokratie verstehe,:, das
wird in England von den Anarchisten vertreten, die meist Ausländer sind.
Was sich in England Sozialisten nennt, verfolgt nicht utopische, sondern prak¬
tische Ziele auf gesetzlichem Wege. Der gelernte Arbeiter, der Gewerkvereinler,
bezeichnet allen Svzialisuuls als Zeitverschwedung. Er mag nichts Nüssen
von Eingriffen des Staates und vou Staatshilfe, nach denen die Sozialisten
verlangen, weil er der Ansicht ist, daß der Arbeiter selbst sein Interesse am
besten versteht und es nur besten wahrt. Sozialistische Gedanken sind daher,
natürlich ohne revolutionäre Absichten, mehr in den höhern Gesellschaftsklassen,
namentlich bei der Geistlichkeit wirksam als bei den Arbeitern. Die Prediger
dieser Richtung stellen die Freundlichkeit Christi gegen die Armen und seine
Härte gegen die Reichen und solche Schriftworte wie das Magnifikat (den
Lobgesang der Maria Lukas 1, besonders Vers 51 bis 53) in den Vorder¬
grund. Wäre nicht heute, sagt einer von ihnen, ein stillschweigendes Ab¬
kommen getroffen, daß diese Worte einer armen Arbeiterfrau nicht in ihrem
unzweideutigen Sinne genommen werden dürften, sondern vom Geistlichen
„wegspiritualisirt" werden müßten, so würden sie wohl in manchen Ländern
von der Polizei verboten werden. So lange es Arme im Lande gebe, sei die
Hölle der natürliche Platz des Reichen. Als die arbeiterfreundlichen Erlasse
unsers Kaisers bekannt wurden, schloß ihn einer dieser Geistlichen, der Rep.
Nvwlands, in sein Gebet ein.
Das dritte Buch stellt in drei Kapiteln die sozialpolitische Erziehung der
Großindustrie, das Verhältnis zwischen Arbeitgeber und Arbeiter in der Gro߬
industrie und die erst im vorigen Jahre begonnenen Organisativnsversuche der
ungelernten Arbeiter dar. Carlyle hatte die Arbeitgeber der Chartistenzeit als
skalpjagende Indianer bezeichnet, die tief unter dem feudalen Ritter stünden,
der seinen Hörigen doch wenigstens das zum Leben notwendige gewährt habe.
Sie hätten aber die Aufgabe, uoch über das „Rittertum der Arbeit" hinauf
zur Würde von „Hauptleuten der Industrie" aufzusteigen; sie hätten den Beruf,
Leiter der organisirten nationalen Produktion zu sein. Die englischen Arbeit¬
geber haben diesen Aufstieg thatsächlich vollzogen. Aus Dividendenjügern, die
im Arbeiter nur ein Produktionsmittel sahen, wurden sie zunächst wohlwollende
Feudalherren, die einerseits durch allerlei Wohlfahrtseinrichtungen für ihre
Leute sorgten, anderseits sich den unter ihrer Mitwirkung zustande gekommenen
Arbeiterschutzgesetzen fügten. Auf die dritte Stufe erhoben sie sich durch das
Zugeständnis der Koalitionsfreiheit, die, lange Zeit heftig bekämpft, den Ar¬
beitern von 1824 an stückweise gewährt wurde, und durch die erst 1871 bis
1876 erfolgte gesetzliche Anerkennung der Gewerkvereine. Während sich an¬
fänglich der Fabrikant durch die Zumutung, mit einem Gewerkvereinssekretnr
zu Verkehren, in seiner Ehre gekränkt fühlte, verhandelt er heute lieber mit
einem Vereinsvorstaud oder Ausschuß, als mit einem ungegliederten Arbeiter-
Haufen. Ja es ist der Fall vorgekommen, daß sich Arbeitgeber hilfesuchend
an einen Gewerkverein gewandt haben. Bereits 1887 wurde ein Ring der
Liverpooler Baumwvlleukaufleute mit Hilfe der Arbeiter gesprengt. Ein noch
gefährlicherer Ring bildete sich im Herbst 1889 unter Führung des Holländers
Steenstrand. Die Fabrikanten suchten den übermüßig in die Hohe getriebenen
Baumwvllenpreis durch Einstellung der Arbeit hinabzudrückeu. Da aber ge¬
wöhnlich in solchen Fällen einzelne Fabrikanten der Versuchung nicht wider¬
stehen können, durch Weiterarbeiten die Gunst der Lage auszunutzen, so wandte
sich der Verein der Arbeitgeber mit dem Ersuchen an den Gewerkverein, Fabriken,
die etwa fortzuarbeiten versuchten, durch Arbeitseinstellung zum Stillstand zu
bringen. Der Gewerkverein erklärte sich hierzu bereit. (Steenstrand ist ver¬
kracht; Anfang September dieses Jahres hat er Konkurs angemeldet.)
Es ist auch solchen Arbeitgebern, die den zur Herrschaft gelangten Rück¬
sichten der neuern Sozialethik weniger zugänglich sind, nicht übermäßig schwer
gefallen, sich in die veränderte Lage zu schicken. Sie haben eingesehen, daß
die im Vereins- und Genossenschaftsleben gereiften Arbeiter sich schlechterdings
nicht mehr „feudalisiren" lassen, daß die von den Arbeitern geschaffenen Wohl-
fnhrtseinrichtungen lebensfähiger sind, als die ihnen vom Prinzipal geschenkten,
daß das uneingeschränkte Spiel vou Angebot und Nachfrage nicht allein die
Arbeitslöhne übermäßig drückt, sondern schließlich auch den Unternehmergewinn
vernichtet, und daß endlich allzu niedrige Löhne so unwirtschaftlich sind, wie
die Verwendung schlecht gefütterter Pferde in der Landwirtschaft. Die zuletzt
angeführte Wahrheit ist zuerst von Lord Brasseh bewiesen worden, der aus
den Auszeichnungen seines Vaters, eines großen Bauunternehmers, die merk¬
würdige Thatsache ermittelte, daß der Kilometer Eisenbahn in allen Ländern
der Erde gleich viel kostet, wie hoch oder wie niedrig die Arbeitslöhne auch
sein mögen, und daß die Herstellungskosten durch Erhöhung des Arbeitslohnes
eher vermindert als vermehrt werden. Daß der Arbeiter nicht als Produk¬
tionsmittel, sondern als ein Mensch, der gewisse Bedürfnisse hat, angesehen
und behandelt werden müsse, wird von den Arbeitgebern heute allgemein
anerkannt.
Der gelernte Arbeiter anderseits ist konservativ geworden. Während
damals, wo das Verbot der Koalitionen die Arbeitermassen in Verschwörer¬
banden verwandelt hatte, die Fabriken mit Kanonen ausgerüstet werdeu mußten,
erklären die heutigen Gewerkvereinsmitglieder, daß sie bei etwaigen Umsturz¬
versuchen mit den Arbeitgebern Schulter an Schulter kämpfen würden , weil
sie nicht allein ihre Privatersparnisse, sondern auch ein bedeutendes Körper¬
schaftsvermögen zu verteidigen haben. Brentanos Buch, worin die Geschichte
der Gewerkvereine bis zu ihrer gesetzlichen Anerkennung erzählt und ihr Wesen
klar gemacht wird, wird von Dr. von Schulze als bekannt vorausgesetzt. Leider
scheint er sich damit zu täuschen; die Urteile deutscher Zeitungen über die
englischen Gewerkvereine sind meist so schief wie möglich; auch die „freisinnige"
Presse hat kein Interesse daran, über die Sache Licht zu verbreiten, weil die
Hirsch-Dnnckerschen Gewerkvereine Kinder eines ganz andern Geistes sind.
I)r. von Schulze stellt im zweiten Kapitel des dritten Buches ausführlich und
für jeden Jndustriezweig besonders dar, wie von den Gewerkvereinen die
Streitigkeiten mit den Arbeitgebern behandelt werden und ans welchen Wegen
die gütliche Einigung herbeigeführt zu werden pflegt. Wenigstens diesen un¬
mittelbar praktisch wertvollsten Teil des Buches sollte kein größerer Arbeitgeber
und kein Verwaltnngsbeamter ungelesen lassen.
Bis zum vorigen Jahre konnten die Anarchisten und Sozialdemokraten
zum Beweise für ihre Behauptung, daß auf dem Boden der bestehenden Ge¬
sellschaftsordnung den Arbeitern nicht gründlich zu helfen sei, immer noch auf
die ungelernten Arbeiter und namentlich ans das Londoner Proletariat hin¬
weisen. Der Streik der Dockarbeiter und die sich daran schließende Gründung
von Gewerkvereinen dieser Klassen hat aber das Gegenteil bewiesen, nämlich
daß auch ihnen Selbsthilfe im Nahmen der gesetzlichen Ordnung möglich ist.
Wie diese Horden so schnell organisirt werden konnten, wie 150 000 hungernde
Proletarier wochenlang Versammlungen unter freiem Himmel abhalten und
sich in Zügen von Tausenden durch die Straßen bewegen konnten, ohne daß
ein Brot- oder Fleischladen geplündert wurde, wie sie von John Vurns, der
allerdings ein außerordentlicher Mensch, eine wirklich bedeutende Persönlichkeit
ist, dahin gebracht werden konnten, in geordnetem Zusammenwirken zweckmäßige
Maßregeln durchzuführen, das muß jedem als ein unlösbares Rätsel erscheinen,
der das vom Verfasser ausführlich dargestellte Erziehungswerk nicht kennt, auf
das wir mit einigen flüchtigen Umdeutungen hingewiesen haben. (Aus South-
ampton, wo am 9. September arge Ausschreitungen vorgefallen sind, mag
sich das Erziehungswerk noch nicht erstreckt daheim) Freilich gewinnt durch
den Zutritt dieser neuen Gewerkvereine in der englischen Arbeiterschaft das
sozialistische Element die Oberhand. Allein dieses ist, wie oben schon bemerkt
wurde, grundverschieden von der deutschen Svzinldemvkratie. Diese neuen
sozialistischen Gewerkvereine unterscheiden sich von den alten, rein auf Selbst¬
hilfe beruhenden zunächst nur dadurch, daß sie Staatshilfe in Anspruch nehmen.
Während die alten Gewerkvereine eine umfassende und musterhafte Kranken-,
Unfall-, Alters- und Witwenversicherung ins Leben gerufen haben, glauben die
ungelernten Arbeiter mit ihrem geringen Verdienste dieser Aufgabe nicht ge¬
wachsen zu sein; und während die gelernten Arbeiter die Regelung der Arbeits¬
zeit der freien Vereinbarung der Gewerkvereine mit den Arbeitgebern überlassen
wollen thatsächlich sind die Grubenarbeiter einzelner Bezirke auf diesem
Wege schon zur sechsstündigen Schicht gelangt —, verlangen jene audern die
Einführung des Achtstundentages auf dem Wege der Gesetzgebung. Aus dem
Anfang September zu Liverpool abgehaltenen Kongreß haben sie bekanntlich
ihre Ansicht durchgesetzt. Man kann also sagen, daß die englischen Sozialisten
die Sozialrefvrm ans der Bahn der freien Selbsthilfe in die der Staatshilfe
nach deutschem Muster lenken Wollen. Wie Dr. von Schutze mitteilt, hat
Brentano in einer Unterredung John Burns gefragt, ob er für Verstaatlichung
aller Produktionsmittel einzutreten bereit sei. Der Sozialistenführer antwortete:
,,Ob alle Produktionsmittel einmal werden verstaatlicht werden, weiß ich nicht.
Dies hängt von Entwicklungen ab, ans die ich keinen Einfluß habe. Was in
dieser Beziehung komme» soll, wird kommen, ob ich uun dafür oder dagegen
bin. Jetzt gilt es nur, dafür zu sorgen, daß den armen Ungelernten geholfen
werde." Man sieht, John Burns ist ein wahrhaft weiser und guter Mann;
er arbeitet nicht um der Verwirklichung irgend einer Theorie, sondern erfüllt
die Pflicht, die ihm der Augenblick aufzwänge; solche Sozialisten sind keine
Gefahr für den Staat, sondern eine Bürgschaft dafür, daß er durch "gesunde
Fortentwicklung lebenskräftig bleibt.
Die Frage ist zunächst, wenn auch die ungelernten Arbeiter organisirt
sein werden, was dann mit denen geschehen soll, die nach Abschluß der Vereius-
bildnng übrig und draußen bleiben. Denn daß diese Vereine ihren Angehörigen
nur dann dauernde Beschäftigung gewährleisten können, wenn sie sich auf eine
bestimmte Zahl beschränken und nach außen absperren, steht fest; gehörte doch
zu den Forderungen der Dockarbeiter eine Minimalarbeitszeit, weil bis dahin
die ganze Tagesarbeit manchmal in einer Stunde geleistet worden war. Hätte
an solchen Tagen acht Stunden gearbeitet werden sollen, so hätten neun Zehntel
der auf Arbeit Wartenden feiern müssen. Auch hat der Kongreß zu Liverpool
thatsächlich Beschlüsse gefaßt, deren Durchführung allen der Organisation nicht
angehörigen Personen jede Erwerbsthätigkeit unmöglich machen würde. Doch
auf Bedenken wollen wir uns heute nicht einlassen, sondern uns uur jener
großartigen Erneuerung des englischen Volkes freuen, die uns or. von Schulze
vor Augen geführt hat. In diesem uenorgniiisirten Volke sind sich die untern
Klassen allerdings nicht bloß der Güter- und Interessengemeinschaft mit den
Reichen, sondern auch der immerhin im einzelnen obwaltenden Interessen-
gegensätze bewußt, aber sie sind zugleich von der Überzeugung erfüllt, daß der
Interessenkampf niemals in einen Vertilgungskrieg ausarten dürfe, und daß
er im Hinblick auf die klar erkanntem volkswirtschaftlichen Gesetze möglichst
ohne Schädigung der Industrie auf dem Wege geordneter Unterhandlungen
zu führen sei. Anstatt wilde Reden zu halten, treiben die Gewerkvereins-
mitglieder Handelsstatistik. Solchergestalt ist England, wie Dr. von Schulze
fest glaubt, einer friedlichen Lösung seiner sozialen Schwierigkeiten sicher. Im
Schlnßtapitel würdigt er auch die Verdienste des ältern Liberalismus: dieser
erst habe deu Arbeitern die Möglichkeit jener Selbsthilfe eröffnet, durch die sie
ihrerseits deu selbstsüchtigen Individualismus überwanden und sozial, als
dienende Glieder einer Gesamtheit, denken und handeln lernten. Die Leiden
der liberalen Periode entsprangen vorzugsweise daraus, daß die äußere Be¬
freiung des Individuums der innern, sittlichen vvrnneilte.
is Lamennnis im Jahre 1833 seine I^rolus ä'rin ore^lini schrieb,
war ihm, der einst der letzte Kirchenvater Frankreichs genannt
worden war, der Stifter des Christentums nur so weit noch
von Bedeutung, als er in ihm den Begründer einer sozialistisch-
kvmmnnistischen Gemeinschaft sah, in der die allgemeine Gleich¬
heit der Kinder Gottes verkündigt wurde, zu der er selbst, als Prophet des
neunzehnten Jahrhunderts, von neuem in verheißungsvoller Worten und
apokalyptischen Bildern die große Gemeinde der christlichen Welt aufzurufen
im Begriffe stand. Es lebte da in Lameimciis derselbe Schwarmgeist wieder
ans, der sich einst vor drei Jahrhunderten in den wilde» Bewegungen kund
gegeben hatte, die Karlstadt und Thomas Münzer hervorgerufen hatten, und
der in Luther, als er sich mit zürnenden Worten diesen Propheten mit ihrem
„bittern Christus," ihrem luinsn inlvrnulli und ihrer Gütergemeinschaft wider¬
setzte, gar bald nur das „geistlose, sanftlebende Fleisch zu Wittenberg mit
seinein honigsüßen Christus" sah. Auch diese Schwarmgeister beriefen sich für
die Erlangung ihrer Christenrechte (heutzutage würde es heißen ihrer Menschen-
rechte) auf Worte der heiligen Schrift, besonders anch auf die Stellen, die die
Apostelgeschichte über die Gütergemeinschaft der ersten Gemeinde hat. Als Luther
dem tollen Treiben in Orlamünde zu steuern sich aufgemacht hatte und den
Thüringer Geistesbefreiern Vernunft predigen wollte, unterbrach ihn einer, der
erhitzt vom Felde herbeigeeilt kam, mit den Worten: „In der Bibel steht, daß
Gott seine Braut nackt haben will!" Der Mann meinte mit der „nackten
Braut" die christliche Gemeinde ohne Eigentum. Luther erkannte da, daß
solchen Köpfen gegenüber alles Vernunftpredigen selber Unsinn sei, schüttelte
den Staub von seinen Füßen und zog aus den Mauern Orlamündes fort,
wobei er noch zum Abschied von den Orlamünder Verehrern der nackten Braut
mit Kot beworfen wurde. Seitdem wußte Luther, der seine reine Sache mit
diesen Greueln nicht beflecken lassen durste, woran er war, und handelte darnach
in den folgenden Tagen des Vauernaufruhrs. Hütte er es nicht gethan,
hätte er, wie sie wollten, ihr Treibe» geschehen lassen, hätte er sich nicht mit
der Energie gegen sie gewendet, wie er es in der Schrift „Wider die räuberi¬
schen und mörderischen Bauern" that, er wäre nicht der Held geworden, der
es vermocht hat, der geistlichen Tyrannei, der scheußlichsten von allen, den
Todesstoß zu versetzen. Wir heutzutage steuern denselben Zuständen entgegen,
nur auf viel ausgedehnterem Raume, wie sie sich damals hie und da gezeigt
haben, und die Beschaffenheit der Geister ist bei uns schon längst von der
wüsten Art jeuer Zwickauer Propheten, die Melanchthon mit der Milde seines
Geistes umsonst zu gewinnen versucht hatte. Wer von uns sich überwand, in
den siebziger Jahren sozialdemokratische Versammlungen dann und wann einmal
zu besuchen, dem wird auch wohl noch in seiner Erinnerung manches Bild
von dein oder jenem der starken sozialdemokratischen Geister aufsteigen, der in
Jesus von Ncizareth den ersten Sozinldemokraten und in den ersten Christen
die erste verfolgte sozialdemokratische Gemeinde sah. Nach meiner Erfahrung
gehörten diese Redner — ich erinnere mich besonders an zwei Schneider —
den Handwerkern an, die ein sitzendes Leben führen. Sie scheinen sich noch
am meisten mit der Bibel zu befassen; daher ihre Berufung auf sie.
Aber wie steht es nun mit den Stellen in der Bibel, auf die alle kommu-
nistischen Bewegungen in der Christenheit von jeher so gerne hinwiesen und
wie steht es insonderheit mit der Giltergemeinschaft in der ersten Christe»-
gemeinte?
Die Apostelgeschichte spricht von der sozialen Einrichtung, die sich die
erste Christengemeinde gegeben hatte, in deu beiden Abschnitten 2, 42 bis 47
und 4, 32 bis 37. Es heißt da in der ersten Stelle, die sich an die Reden
anschließt, die Petrus bei Gelegenheit des Pfingstwnnders vor der Menge
gethan haben soll und in deren Folge bei dreitausend Seelen zur apostolischen
Gemeinde hinzugethan worden wären: diese alle „blieben beständig in der
Apostel Lehre und in der Gemeinschaft, im Brodbrechen und im Gebet. Es
kam auch alle Seelen Furcht an, und geschahen viele Wunder und Zeichen
dnrch die Apostel. Alle aber, die da gläubig waren worden, blieben bei
einander und hatten alle Dinge gemein. Und ihre Güter und Habe verkauften
sie und teilten sie aus Unter alle, je nachdem jedermann not war. Und sie
waren täglich stets bei einander einmütiglich im Tempel und brachen das Brot
hin und her (x«i7 »Ixov, Haus bei Haus, d. h. abwechselnd bald in diesem,
bald in jenem Hause), nahmen teil an der Speise (dem gemeinsamen Mahle)
mit Frohlocken und in Herzenseinfalt, indem sie Gott lobten und Wohlgefallen
fanden bei dem ganzen Volk. Der Herr aber that täglich solche zur Gemeinde
hinzu, die da zum Heil gelangten" (die gläubig geworden waren). Die andre
Stelle 4, 32 ff. schließt sich gleichfalls an eine Rede an, die Petrus vor dein
Volke infolge eines Heilnugswunders an einem Lahmen gehalten haben soll.
Nachdem er und Johannes deshalb vor das Shnedrium zur Verantwortung
gezogen worden (Kap. 3), dort verwarnt und entlassen worden seien, seien sie
zu den Ihrigen gekommen und hätten Gott gelobt und gebetet. „Und als sie
beteten, ward die Stätte, da sie versammelt waren, erschüttert und sie wurden
alle des heiligen Geistes voll und redeten das Wort Gottes mit Freudigkeit."
Hieran schließt sich dann unsre Stelle 4, 32 ff. mit folgender Schilderung
des gesellschaftlichen Zustandes dieser ersten Gemeinde: „Die Menge aber der
Gläubigen war ein Herz und eine Seele, und nicht ein einziger sagte, daß
irgend etwas von seinen Gütern ihm eigen sei, sondern es war ihnen alles
gemein. Und mit großer Kraft gaben die Apostel Zeugnis von der Auf¬
erstehung des Herrn Jesu, lind das Wohlgefallen (des Volkes) an ihnen allen
war groß. Denn es war auch keiner unter ihnen, der Mangel gehabt hätte;
denn alle, die Besitzer von Grundstücken und Häusern waren, verkauften diese
und brachte» den Erlös des verkaufte!: Gutes und legten das Geld zu deu
Füßen der Apostel, lind es ward ausgeteilt und einem jeglichen gegeben, je
nachdem ihm not war."
Diese beiden Stellen berichten, wie jedermann sieht, ein und dieselbe
Thatsache. Zu erklären ist dieses Vorkommen eines Doppelberichtes über eiu-
nnddiesclbe Sache in einunddemselben Buche daraus, daß der Redaetor
unsers Buches in seinen Quellen, die er so zusammenstellte, wie ers für den
pragmatischen Znscunmenhaug (x«dö^, Luk. 1, 5!) für notwendig hielt, diesen
doppelten Bericht, deu einen in der, den andern in jener Quelle vorfand und
ohne ihn kritisch zu sichten, so aufnehmen zu müssen glaubte, als ob er ver-
schiedne Dinge berichtete, da der Zusammenhang, in dem sich der Bericht
befand, in beiden Stellen verschieden war, wenigstens zu sein schien. Das
kritische Auge, das in unsrer Zeit jeder Geschichtsforscher hat und haben muß,
ging nun einmal jenen Zeiten ab und wurde auch gar nicht verlangt. Ma߬
gebend dagegen waren praktische Interessen, z. B. das apologetische, das Christen¬
tum bei der Loyalität seiner Bekenner als eine für die heidnische Obrigkeit
unschädliche Sache hinzustellen, oder das Interesse, „in den Gestalten der
Vergangenheit erhebende Ideale, in ihren Ereignissen warnende und weisende
Beispiele für die Gegenwart aufzustellen" (Pfleiderer, llrchristentnm, S. 546),
alles Tendenzen, wie sie uns in der Apostelgeschichte mannichfach entgegen¬
treten. Darum hat Chr. Ferd. Vaur Recht, wenn er (Paulus, S. 5) sagt,
daß er in der Apostelgeschichte keine rein objektive, sondern nur eine durch ein
subjektives Juteresse alterirte Darstellung erkennen könne. Damit ist nicht
gesagt, daß dieses praktische Interesse das historische überhaupt ausschließe.
Wo sich beide mit einander vertrugen, da konnte jn die historische Grundlage
beibehalten werden, und wurde dann auch so sehr beibehalten, daß der über¬
lieferte Stoff selbst dann unberührt neben einander gestellt wurde, wenn er
inhaltlich einuuddasselbe schilderte, und ebenso, wenn er sich widersprach.
Wie unkritisch hierbei verfahren wurde, sehen wir nicht bloß aus unsern beiden
Abschnitten, sondern recht deutlich aus der dreimal wiederholten Erzählung
von der Bekehrung des Apostels Paulus, wo einundderselbe Vorgang an
drei verschiednen Stellen ganz verschieden erzählt wird (Apostelgeschichte 9, 3ff.,
22, 0 ff.. 2et, 13 ff.).
Also wir haben an unsern beiden Stellen einundderselben Zustand der
ersten Christengemeinde geschildert. Wie ist er nun nach dieser Schilderung?
lind haben wir hier eine echt geschichtliche Nachricht über die gesellschaftlichen
Verhältnisse dieser Gemeinde?
Neunter (Geschichte der Pflanzung und Leitung n. s. w., 3. Auflage,
S. 34) bezweifelt das. Er meint, es finde sich manches in den Erzählungen
der Apostelgeschichte, was der Vorstellung von einer solchen Gütergemeinschaft
widerstreite. So sagt Petrus zum Ananias (5, 4), es habe von ihm (Ananias)
abgehangen, ob er das Grundstück verkaufen wolle oder für sich behalten,
und daß er auch nach dem Verkauf über den Ertrag nach seiner Neigung habe
bestimmen können. Ferner sei im sechsten Kapitel nur von einer verhältnis¬
müßigen Almosenverteilung an die Witwen, keineswegs von einer gemeinsamen
Kasse für den Unterhalt der ganzen Gemeinde die Rede. Auch fänden nur
(12, 12), daß die Maria zu Jerusalem ein Haus als Eigentum besessen, es
also nicht zum Besten der gemeinsamen Kasse verkauft habe. Das alles
beweise klar, daß wir uus bei dieser ersten Gemeinde keineswegs eine Auflösung
aller Eigentumsverhältnisse zu denken Hütten. Als das historisch Wahre nimmt
Neander an, daß eine gemeinsame Kasse gestiftet worden sei, ans der man für
die Bedürfnisse der größern Zahl ürmerer Mitglieder der Gemeinde sorgte,
aus der man vielleicht much überhaupt Ausgabe», die die ganze Gemeinde
angingen, wie die Veranstaltung der Agapen, bestritten habe, und daß, um
desto mehr beitragen zu können, viele ihre Grundstücke verkauft hätten, daß es
also ein ähnliches Verhältnis gewesen wäre, wie es früher in dem Verein der
Männer und Frauen, die sich an Christus angeschlossen hatten, bestanden habe.
Auch Chr. Ferd. Baur (Paulus, S. 30) will jene Schilderung nicht buch¬
stäblich verstehen. Es habe eben hier ein andres Interesse als das historische
zu Gründe gelegen, das der Jdealisirung dieser ersten Gemeinde. Derselbe
verklärende Schimmer, wie er auf die Apostel in dem Buche der Apostelgeschichte
falle, falle auch auf die ganze Gemeinde der Gläubigen. Es komme dein Ver¬
fasser der Apostelgeschichte darauf an, diese erste Gemeinde „in dem schönen
Lichte eines Vereins erscheinen zu lassen, welcher alles, was sonst störend und
trennend in die gesellschaftlichen Verhältnisse der Menschen eingreift, vor allem
also den Unterschied des Reichtums und der Armut aus seiner Mitte entfernt
hatte. Ein solcher Zustand fand aber in der Wirklichkeit nicht statt und könnte
auch schon der Natur der Sache nach nicht stattfinden; denn wie laßt sich
denken, daß in eiuer Gemeinde, die doch schon damals nach der Angabe des
Schriftstellers ans fünftausend Münnern bestand, alle, welche liegende Güter
und Hüuser besaßen, sogar ihre Häuser verkauften, sodaß demnach keiner in der
ganzen Gemeinde eine eigne Wohnung besessen Hütte? Und wenn es als all¬
gemeine Regel galt, daß jeder, was er als Eigentum besaß, verkaufte und in
einen Geldbeitrag für die allgemeine Kasse verwandelte, warum wird es als
eine besonders rühmliche Handlung des Josef Barnabas hervorgehoben, daß
er sein Grundstück verlauft und den Erlös aus demselben vor die Füße der
Apostel gelegt habe? Auch hieraus müssen wir also schließen, daß das, was
der Schriftsteller zuvor als eine allgemeine Einrichtung der ersten Christeu¬
gesellschaft angegeben hat, in dieser Allgemeinheit nicht wirklich stattfand."
Baur meint, die Erzählung lasse uns ungewiß, wie viel geschichtlich Wahres
zu Grunde liegen möge; nur insofern auch eine unhistorische Darstellung in
den meisten Füllen wenigstens von einem geschichtlichen Anlaß ausgehe, mochten
wir auch hier zur Voraussetzung einer historischen Grundlage geneigt sein.
Um nun die geschichtliche Grundlage genauer zu ermitteln, wendet sich Baur
zu dem Bericht, den uns Epiphanius über die Ebioniten (Härescs 3V) giebt,
die, allerdings später von der griechisch gesitteten Kirche des zweiten Jahr¬
hunderts als Häretiker ausgeschieden, in einem sehr nahen Verhältnis
zur ersten jernsalemischeu Christengeiuelude stehend zu denken sind. Ebio-
uiteu heißt Arme. Diesen Namen nnn, „den sie sich selbst gaben und
als eine ehrende Auszeichnung betrachteten, haben sie vapor erhalten, daß
sie in den Zeiten der Apostel ihr Eigentum verkauften und zu deu Füßen der
Apostel legten und zur Armut und Entsagung übergingen." Es stehe dies,
lueiut Baur, in sehr naher Beziehung zu unsern beiden Stelle» der Apostel¬
geschichte. „Wir haben hier ein wirklich historisches Datum, das uns el»
ähnliches "ni>Spott ?oux nKo^ ^5>v «Trocun^v (ein Niederlegen zu den
Füßen der Apostel) als charakteristischen Zug der apostolischen Zeit kennen
lehrt." So weit ist Baurs Betrachtung vollständig richtig. Er meint aber
uun weiter, mau dürfe nicht annehmen, die Armut der Ebiouiteu sei nicht erst
daraus entstanden, daß sie alle ihre Güter verkauften, sondern die Annahme
sei weit natürlicher, daß sie von Anfang an arm gewesen seien; weil sie aber
ihre Armut als etwas Ehrendes und Auszeichnendes betrachteten, so hätten sie
sie auch als etwas Selbstgewähltes angesehen wissen wollen. Mit dieser An¬
nahme schlägt der Scharfsinn Baurs über deu Strang. Daß viele Glieder
der ersten Gemeinde arm gewesen sind, ist zweifellos, daß es alle gewesen seien,
ist sehr zu bezweifeln. Schon der erste Verein der Männer und Frauen, die
sich an Christus angeschlossen hatten, war nicht mittellos. Die Bildung einer
gemeinschaftlichen Kasse weist schon darauf hin, ebenso die wenigen Nachrichten,
die wir über die äußern Verhältnisse der einzelnen Jünger erhalten. Petrus
und Andreas hatten ein Haus (Mutes. L, 14, Mark. 1, 2ö). Die Söhne
Zebedäi, Besitzer eines Schiffes, worin sie mit ihrem Vater sitzen und ihre Netze
flicken, werden wohl in gleicher Lage gewesen sein und zum Schiff auch das
Geschirr gehabt haben. Simon, der (einst) Aussätzige, in dessen Hause zu
Bethanien Jesus verkehrte, und der vermutlich zu dein weiter» Jüugerkreis
gehörte, ist nicht als arm zu denken, ebenso wenig das Weib, das in diesem
Hause zu Jesus mit einer Alabasterflasche voll kostbaren Nnrdenöls herantrat,
um ihn zu salben (Matth. 2<>, 6 ff., Mark. 14, 3 ff.). Die Frauen, die zum
Grabe Jesu kommen, tragen Spezereien mit sich, die nicht wohlfeil waren
(Matth. 28, 1. Mark. 16, 1). Als das geschichtlich Wahre dürfen wir also
schwerlich annehmen, daß die Ebioniten damit eine falsche Angabe gemacht
hätten, daß sie sagten, sie hätten in den Zeiten der Apostel ihr Eigentum ver¬
kauft und zu den Füßen der Apostel gelegt. Und darum dürfen wir auch das
nicht mit Baur annehmen, daß in den Berichten der Apostelgeschichte das
geschichtlich Wahre „nicht sowohl die Handlung, als vielmehr die der augen¬
blicklichen Handlung zu Grunde liegende Gesinnung und Ansicht von den zeit¬
lichen Gütern" sei. Baur meint, wenn in den Berichten von einem wirklichen
Verzichtleisten auf jeden irdischen Besitz, von einer allgemein eingeführten
Gütergemeinschaft die Rede sei, so gebe sich darin das eigentümliche Wesen der
mythischen Überlieferung kund, die das Konkrete, das sinnlich Anschauliche
liebe und darum die Gesinnung durch die That verwirklichen lasse als den
Reflex der Gesinnung. Das Thatsächliche in den gesellschaftlichen Verhältnissen
der ersten Christen sei also eine allgemeine, vou „einzelnen wie von Barnabas
auch durch die That bewiesene Bereitwilligkeit, ihr irdisches Gut und Eigentum
für die Sache Jesu hinzugeben und den Zwecken der Gesellschaft zum Opfer
zu bringen." Wenn aber Baur so vou „einzelnen" spricht, die durch die
That ihre Gesinnung bewiesen hätten, im übrigen dagegen geneigt ist, ans der
allgemeinen Gütergemeinschaft, von der der Text redet, nur eine allgemeine
Bereitwilligkeit der Gesinnung zu machen, so nimmt er wie dein Text so dein
historischen Verhältnis seine bestimmte Färbung. Freilich, eine formal gesetzlich
eingeführte Gütergemeinschaft hat es nicht gegeben und konnte es nicht geben.
Wer hätte bei dieser ohne alle staatliche Berechtigung und Anerkennung sich
bildenden Gemeinschaft den Zwang geltend machen können, den die Ausführung
des Gesetzes erforderte? Also von einer gänzlichen und wirklichen Güter¬
gemeinschaft in dem Sinne, daß der Einzelne hätte gezwungen werden können,
seine Güter zu verkaufen und den Erlös für das allgemeine Beste zu ver¬
wenden, kann leine Rede sein. Dagegen ist das thatsächliche Bestehen einer
Gütergemeinschaft innerhalb der Grenzen, die der Bestand der Gemeinde selbst
zog, mit Sicherheit anzunehmen. Was Baur bestreitet, indem er sagt, „daß
das, was der Schriftsteller als eine allgemeine Einrichtung der ersten Christen¬
gesellschaft angegeben hat, in dieser Allgemeinheit nicht wirklich stattgefunden
habe," gerade das ist anzunehmen; es fand in dieser Allgemeinheit statt, aller¬
dings, wie wir wiederholen, innerhalb der Grenzen, die der Bestand der Ge¬
meinde selbst zog. Dahin gehört der Fall, daß unmöglich alle Häuser verkauft
werden konnten, sodaß dann keines in der Gemeinde eine eigne Wohnung be¬
sessen hätte. Die Angabe also, daß die Gläubigen alle ihre Güter und Häuser
verkauft hätten, muß ihre Grenze da finden, wo sie das Leben selbst zog, und
fand sie auch.
Wir werden also nicht fehl gehen, wenn wir annehmen, daß zwar die
Gütergemeinschaft freiwillig, daß aber nicht nur die Bereitwilligkeit dazu all¬
gemein, sondern auch die Verwirklichung derselben, relativ wenigstens, allgemein
gewesen sei. Ein solches gesellschaftliches Verhältnis entspricht auch dem
Geisteszustände dieser ersten Christengemeinde, die „das verheißene Reich Gottes
nicht nur erwartete als ein kommendes, sondern daran ging, es als ein gegen¬
wärtiges wirklich aufzurichten" (Hausrath, Der Apostel Paulus, S. 90), und
für die der Ausblick auf den demnächst auf den Wolken des Himmels kommenden
Menschensohn das einzige Steuer war, das ihre Fahrt lenkte. Für die Be¬
urteilung dieser ersten Gemeinde und für das Verstüuduis ihrer gesellschaft¬
lichen Einrichtungen ist das Vertrauen auf die demnächst bevorstehende Wieder¬
kunft des Menschensohnes zu allermeist in Rechnung zu setzen. Wie es dereinst,
als der Mann vom See Genezareth noch unter ihnen wandelte, die Liebes¬
bande des persönlichen Verkehrs gewesen waren, die die Jünger bestimmt hatten,
ihre Netze zu verlassen und zu Menschenfischern zu werden, gerade so war es
auch jetzt noch, nachdem er von ihnen genommen, aber seine Wiederkunft für
sie die gewisseste Sache von der Welt war, dieselbe im Eifer der Verfolgung
nur noch erhöhte Liebesglut zu ihm, dem kommenden Streiter Gottes und
Menschensohn, die sie zum Zwecke des Sieges seiner Sache auch das Opfer
ihres Eigentums gern bringen ließ. Mag also immerhin die Darstellung der
Apostelgeschichte insoweit übertrieben sein, daß nicht gerade alle Besitzer von
Häusern diese verkauft haben, weit genng mußte die Gemeinschaft der Güter
sein, wenn dem Glauben und Hoffe» dieser Messiasgläubigen entsprechend gelebt
wurde, immerhin so weit, daß „einem jeden ausgeteilt wurde, je unchdem ihm
not war." Der geschichtliche Kern, deu die Darstellung einer allgemein aus¬
gedehnten Gemeinsamkeit des Besitzes hat, ist also energischer zu betonen, als
Baur thut, und mindestens in dein Maße, als Pfleiderer angiebt. Denn
obschon dieser mit geschichtlichem Sinn sehr wohl ausgerüstete Forscher sich
insoweit an Baur anschließt, daß er die Darstellung der Apostelgeschichte auch
hier in übertreibender Weise idealisiren läßt, so sieht er doch darin das Richtige,
daß er das innere Leben der Urgemeinde als das einer religiös-sozialistischen
Bruderschaft betrachtet, die verhalten war teils durch die gemeinsame Erbauung
an apostolischer Predigt und Gebet, teils durch gemeinsame Brudermahle und
eine „weitgehende Gütergemeinschaft." „Man sollte, sagt Plciderer (Urchristentum,
S. 555), viel mehr, als die deutsche Kritik bisher zu thun pflegte, die unbe¬
streitbare Thatsache im Auge behalten, daß die älteste Gemeinde nicht eine
Schule war, die mit idealistische Theorien, und nicht eine Kirche, die um
spiritualistische Dogmen sich Scharte, souderu einfach eine religiöse Bruderschaft,
welche von der nahen Ankunft des himmlischen Messias Jesus eine beglückende
Neuordnung der Dinge auf Erden erhoffte; wie hätte aber eine solche Hoffnung
sich lebendig erhalten und die Gemeinschaft zusammenhalten können, wenn sie
leere Hoffnung geblieben wäre und sich nicht in reelle Praxis umgesetzt hatte,
welche den erhofften Glückszustand vorläufig wenigstens in Form eines brüder¬
lichen Nereinslebeus in wechselseitiger Unterstützung autizipirt hätte? Für
keinen, der die Menschen kennt, kann ein Zweifel darüber bestehen, daß in der
ältesten Gemeinde der Christen nächst dein frommen Glauben und Hoffen auf
den Messias Jesus die genossenschaftliche Bethätigung der Bruderliebe in weit¬
gehender Gütergemeinschaft und in genieinsamen Mahlzeiten das wesentlichste
Band des Znsammenhalts gewesen sein wird."
Für eine im ganzen ungeschichtliche Darstellung der Apostelgeschichte soll
nach Baur auch die namentliche Erwähnung des Barnabas sprechen, von dem
es 4, 36 f. heißt: „Josef aber, von den Aposteln Barnnbas genannt, d. h. ein
Sohn des Trostes, von Geschlecht en? Levit aus Cypern, der hatte ein Landgut,
verkaufte es und brachte das Geld und legte es zu der Apostel Füßen."
Hierzu sagt Baur: „Wenn es als allgemeine Regel galt, daß jeder, was er
als Eigentum besaß, verkaufte und in einen Geldbeitrag für die allgemeine
Kasse verwandelte, warum wird es als eine besonders rühmliche Handlung des
Josef Barnabas hervorgehoben, daß er sein Grundstück verkauft und den Erlös
aus demselben vor die Füße der Apostel gelegt habe?" Da ist zunächst zu
bemerken, daß auch in der Darstellung der Apostelgeschichte von einer allge¬
meinen „Regel" nicht die Rede ist, wenn man unter Regel eine zwangsweise
gebotene Ordnung versteht. Die gesellschaftliche Einrichtung war, wie gesagt,
freiwillig. Aber man würde die Menschen schlecht kennen, wenn man nicht
zugeben wollte, daß aus solcher Freiwilligkeit sich leicht eine Regel und aus
ihr gar bald ein beauspruchtes Recht entwickelt. Der Übergang macht sich da
ganz von selbst, um so schneller, je kräftiger sich die Dinge entwickeln. Einen
Versuch, diesen Übergang aus der Freiwilligkeit zum beanspruchten Recht zu
machen, bietet uus die Erzählung von Ananias und Sapphira (5, 1—10) eine
Geschichte, die allein verständlich wird im Rahmen der über die gesellschaftlichen
Verhältnisse der ersten Christengemeinde gegebenen Darstellung. Und damit
kommen wir auf Barnabas und den Grund seiner Erwähnung zurück.
Darin hat mau ganz richtig gesehen, daß diese beiden Persönlichkeiten,
Barnabas und Ananias, nicht ohne Grund neben einander gestellt sind. Des¬
halb muß man aber auch die Erwähnung des Barnabas nicht an die voraus¬
gehende Erzählung von der Gütergemeinschaft anschließen, wobei man dann
unwillkürlich, wie es eben Baur thut, die Frage erhebt: „Wenn alle Land¬
besitzer ihre Güter zu Gunsten der Gemeindekasse verkauften, wozu dann die
namentliche Erwähnung dieser That des Barnnbas?" Diese Erwähnung wird
sehr gut verständlich in Verbindung mit der andern des Ananicis. Diesem
wird schuld gegeben, er habe sein Besitztum verkauft und mit Wissen seines
Weibes von den: Gelde etwas entwendet, habe nur einen Teil gebracht und
zu den Füßen der Apostel gelegt. Da habe Petrus gesagt: „Ananias, warum
hat der Satanas dein Herz erfüllet, daß du den heiligen Geist belögest und
entwendetest etwas von dem Erlös für das Landgut? Blieb es nicht, wenn es
unverkauft blieb, dein Eigentum? Und auch nachdem es verkauft war, stand es
(der Erlös dafür) in deiner Gewalt. Warum hast du denn solches in deinem
Herzen vorgenommen? Du hast nicht Menschen, sondern Gotte gelogen" (5, 3.4).
Ananias sei nach diesen Worten niedergefallen und habe seinen Geist aufge¬
geben. Jünglinge hätten ihn dann fortgetragen und begraben. Nach drei
Stunden sei sein Weib gekommen, die nichts von dem Vorgänge gewußt habe.
Von Petrus uun nach dem Preise des Landgutes befragt, habe sie dieselbe
Summe angegeben wie ihr Mann. Da habe Petrus zu ihr gesagt: „Warum
seid ihr denn eins geworden, zu versuchen den Geist des Herrn? Siehe, die
Füße derer, die deinen Mann begraben haben, sind vor der Thür und werden
dich Hinaustragen!" Darauf sei auch sie zu seinen Füßen gefallen und habe
ihren Geist aufgegeben.
In dieser Erzählung sind zunächst die Worte gar nicht zu verstehen:'
Ananias habe von dem Erlöse etwas für sich „entwendet." Bon entwenden
zu sprechen, hat doch nur da Sinn, wo ich dem andern etwas entziehe, worauf
dieser ein Recht hat. Halten wir uns also an das zweimal gebrauchte Wort
„entwenden" (on^lo-«?^«,.), so müssen wir annehmen, daß wirklich die Apostel
für die Gemeinde den Anspruch auf volle Verfügung über den Besitz der
Gläubigen erhoben. Und somit haben wir hier einen Versuch, aus dem frei¬
willigen Verzicht der Gläubigen ein Gemeinderecht geltend zu machen, für das
die Apostel eintreten. Dem scheinen nun allerdings die Worte zu widersprechen:
„Blieb es nicht, wenn es unverkauft blieb, dein Eigentum? Und auch nachdem
es verkauft war, stand es in deiner Gewalt." Aber wenn man diese Worte
so verstehen wollte, daß Ananias fort und fort der Christengemeinde hätte
zugehören und doch dabei an seinem Eigentum in jedem Falle hätte festhalten
können, so würden sie geradezu allem widersprechen, was wir von der Organi¬
sation der ersten Christengemeinde Nüssen. Diese Ansicht als Grundsatz durch¬
geführt, also auf jeden angewendet, hätte die bruderschaftliche Organisation,
die diese erste Gemeinde hat, vollkommen dem Zufall preisgegeben. Die
Worte können also nicht so verstanden werden, als ob Ananias auch bei Be¬
obachtung des angegebenen Verhaltens noch die Eigenschaft als Christns-
gläubigcr hätte beibehalten können. Vielmehr, wollte er dieses Verhalten
beobachten, so hätte er nicht in die Gemeinde einzutreten brauchen. Und
das ist es, was die Worte ausdrücken wollen: „Blieb es nicht, wenn es un¬
verkauft blieb?" u. s. w. Sie sind nnr ein andrer Ausdruck für den Sinn:
Hättest du bei solcher Gesinnung nicht bleiben sollen, wo du wärest, ehe du
zu uns kamst?
Steckt nun hinter den Worten dieser Sir», so ergiebt sich hieraus ein
weiteres. Eine solche Gesinnung und ein derartiges Handeln konnte ihren
Träger nicht länger in der Gemeinde lassen. Wir wissen aus dem Verfahren
des Paulus, wie streng dieser auf Gemeindezucht drang, wenn er verlangte,
daß ein blutschänderisches Mitglied der Korinthischen Gemeinde aus ihrer
Mitte „hinweggethan" würde (I. Kor. 4, 21). Er selbst will mit der Rute
zu ihnen kommen (1. Kor. 4, 21) und stellt schon jetzt ein Stmfwnnder
an dem Blutschänder in Aussicht (1. Kor. l>, 3 ff.): „Denn ich, obwohl dem
Leibe uach abwesend, doch mit dem Geiste anwesend, habe schon beschlossen,
als ob ich anwesend wäre, über den, der solches also verübt hat: in dein
Namen unsers Herrn Jesu Christi, wenn ihr versammelt seid und mein Geist
mit der Kraft unsers Herrn Jesu Christi bei euch ist, denselbigen (Sünder)
dem Satanas zum Verderben des Fleisches zu übergeben, auf daß der Geist
gerettet werde am Tage des Herrn." Das hier gefällte Urteil ist ja seinen,
Wortlaut nach ziemlich dunkel. Die meisten Erklärer meinen, Paulus habe
damit eine Krankheit über den Schuldigen verhängen wollen in dem Augen¬
blicke, wo sich die Christengemeinde in Korinth versammelt habe, und habe sich
diese Wunderkraft zugetraut. Das meint auch Hausrath, wenn er sagt: „Was
also Paulus kraft seiner apostolische» Gewalt und Wundergabe thun würde,
wäre er jetzt in Korinth, übertrüge er der Gemeindeversammlung, und er will
im Geiste anwesend sein mit der eigentümlichen Kraft Jesu, mit der er sich
ausgestattet weiß. Sie wird bewirken, daß der Ausgestoßene dein Satan ver¬
füllt und dieser seinem Fleische zusetzt mit Krankheit und Pein bis zum Unter-
gnug, damit der Geist Buße thue und gerettet werde für den Tag des Reiches."
Und nicht nur damit scheint Hausrath das Richtige getroffen zu haben, sondern
auch darin scheint er Recht zu haben, daß er diesem Urteil die Tragweite
eines Todesurteils giebt. Auch die Worte: „Schaffet den Bösen hinweg aus
eurer Mitte" deuten am natürlichsten darauf. Berechtigt zu solchem Urteil war
Paulus, der Schiller der Schriftgelehrten, wenn er das jüdische Recht befragte,
das in mehreren Stellen Blutschande mit der Stiefmutter mit dein Tod be¬
strafte (5. Mos. 22, 30; 27, 20; 3. Mos. 1«, 8; 20, 11). Und da er als
mit dem Leibe abwesend dieses Todesurteil fällt, so muß er es mit dem Be¬
wußtsein gethan haben, ,,daß Gott, der Leben und Tod in seine Hand gelegt
habe, das Urteil ohne menschliches Zuthun vollziehe» werde."
Wie Paulus mit diesem Urteil gefahren ist, das geht uns hier nichts
weiter an. Genug, wir finden aus apostolischer Zeit ein Beispiel von
Disziplin, das mit dem Befehl, den Sünder dein Satanas zu übergeben, die
Todesstrafe zu verhängen schien. Daneben finden wir für mildere Vergehen
den Ausschluß aus der Gemeinde, wie 1. Kor. 5, 9 bis 13: „Jetzt aber habe
ich euch geschrieben, ihr sollt nicht mit dem Verkehren, wenn einer, der den
Rrudernamen trägt, Hurer ist, oder Geiziger, oder Götzendiener, oder Lästerer,
oder Trunkenbold oder Räuber, mit solchen sollt ihr auch nicht essen." Nun
wurde aber auch dieser Ausschluß ans der Gemeinde als ein Übergeben an
den Satcmcis bezeichnet (1. Tim. 1, 20). Was war da natürlicher, als daß
ein Schriftsteller der spätern Zeit, wie der Verfasser der Apostelgeschichte, die
etwa um das Jahr 139 in ihrer jetzigen Form verfaßt worden sein mag, eine
Überlieferung, in der sichs um den Ausschluß aus der Gemeinde, in diesem
Sinn um „ein Übergeben an den Satanas" handelte, dahin gestaltete, daß aus
der Strafe der Ausschließung die Todesstrafe wurde? Das konnte um so eher
geschehen, wenn sich die Sache so darstellen ließ, daß mit solcher Ausschließung
eine Verherrlichung apostolischer Kraft und Würde gegeben wurde. So aber
ist die Sache in der Apostelgeschichte dargestellt als ein Strafwnnder, das
Petrus am Ananias vollzieht. Denn darin hat Baur ganz Recht, daß alle
die Wunderthaten, die die Apostelgeschichte in diesem Abschnitt ihrer Dar¬
stellung berichtet, dazu dienen sollen, die Apostel als höhere, übermenschliche
Wesen zu schildern und daß der Glanzpunkt der apostolischen Wirksamkeit des
Petrus das am Ananias und an der Sapphira vollzogene Strafwunder sei.
Der geschichtliche Grund der Erzählung ist also ohne Zweifel ein Aus¬
schluß aus der Gemeinde, und zwar deshalb, weil sich Ananias und Sapphira
in ihrem Eigennutz der Bruderschaft unwürdig zeigten. Sie wollten am eignen
Besitz auch dann noch festhalten, wenn die Apostel als Vertreter der Gemeinde
die Aufgabe dieses Besitzes für nötig erachteten. Das mag die Grundlage des
ursprünglichen Berichtes gewesen sein, worin auch zum Kontrast mit der heuch¬
lerischen Selbstsucht des Ananias die aufopfernde Uneigennützigkeit des Bar-
nabas ausdrücklich hervorgehoben wurde. So ist die Zusammenstellung beider
recht wohl verständlich, ohne daß man zu fragen brauchte, weshalb denn, wenn
doch der Verkauf der Güter und der Einschuß der Gelder in die gemeinsame
Kasse allgemeine Regel gewesen wäre, dies als eine besonders rühmliche Hand¬
lung an Barnabas hervorgehoben wird? Der ursprüngliche Bericht hatte diese
Namen des Barnabas und des Ananias vielmehr so zusammengestellt, wie sie
sachlich zusammengehörten. Die umgestaltende Hand des Schriftstellers aber
hat diesen Zusammenhang aufgehoben, und der Abschluß des Kapitels mit der Er¬
zählung von Barnabas hat schon durch die räumliche Verteilung des Erznhluugs-
stvffes dazu beigetragen, das richtige Urteil über diese Erzählung zu verschieben.
Das Ergebnis unsrer Untersuchung ist das, daß die gesellschaftlichen Ver¬
hältnisse der ersten Christengemeinde zwar nicht auf einer zwangsweise ein-
und durchgeführten, gesetzlichen und gänzlichen Gütergemeinschaft beruhten,
aber wohl auf einer mit Freiwilligkeit aller Mitglieder, also allgemeinen, und
in Bezug auf die Güterveräußerung nur durch die Lebensbedingungen der Ge¬
meinde selbst beschränkten Gütergemeinschaft. Die Bereitwilligkeit des Dar¬
bringens wurde bei allen nur gerade so weit in Anspruch genommen, als es
nach dem Ermessen der Gemeindevertreter, der Apostel, nötig schien. Aber so
weit wurde sie auch in Anspruch genommen. Von der Bereitwilligkeit einzelner
oder auch vieler zu reden, geht um so weniger, als sich sogar eine große
Wahrscheinlichkeit dafür ergiebt, daß die Freiwilligkeit dadurch zum Zwange
gemacht wurde, daß ein nicht vollständiges Aufgeben des Eigentums unter
Umständen mit Ausschluß aus der Gemeinschaft bestraft wurde.
Und was war »un der Erfolg? Zunächst Unzufriedenheit, Zank und
Streit. Obschon die Sache von dem Jreniter, der die Apostelgeschichte verfaßte
und die erste Gemeinde gern als in einem harmonischen Zustande lebend dar¬
stellen möchte, ziemlich verschleiert wird, können nur doch so weit durch den
Bericht, den die Apostelgeschichte K, 1 ff. giebt, einen Einblick in die Lage
thun, daß wir an der Stelle der Harmonie eine recht unerquickliche Dishar¬
monie, eine oonooräm clisvvrs, erkennen. „In den Tagen, da die Jünger sich
mehreten — heißt es da — entstand ein Murren der Hellenisten Wider die
Hebräer, weil ihre Witwen bei der täglichen Verpflegung übersehen (verkürzt)
wurden." Da hätten die Apostel, wird »veiter erzählt, die Menge der Jünger
zusammengerufen und erklärt, es gehe nicht mehr um, daß sie das Wort Gottes
unterließen und zu Tisch dieueten. Die Brüder möchten sieben Männer, die
ihr Vertrauen hätten nud voll heilige» Geistes und Weisheit wären, aus¬
wählen und zur Bestellung dieses Bedürfnisses einsetzen, während sie den Dienst
am Worte weiterführe» wollten. Und so hätte man die sieben Diakonen ge¬
wählt, die, uach ihren Namen zu urteilen, insgesamt Hellenisten waren.
Verschleiert ist diese Erzählung hauptsächlich darin, daß auf den insonderheit
gegen die Apostel selbst, als die bisherigen Verwalter der Gaben, gerichteten
Vorwurf nicht weiter eingegangen wird, die ganze Sache vielmehr nnr wegen
der Einsetzung eines neuen Amtes, der Diakonie, erzählt werden soll. Na¬
türlich, denn die Erzählung von dem Streit hätte uns gar zu sehr in die
Sphäre der gemeinen Wirklichkeit hinein und von der idealen Hohe, die der
Schriftsteller der ersten Gemeinde zuschreiben zu müssen glaubte, herabgeführt.
Aber das „Murren" (^0^05^) der Hellenisten bleibt doch. Nebenbei be¬
merkt, unter diesen Hellenisten sind griechisch redende Juden aus der Diaspora
und solche zur Christengemeinde übergetretene Heiden gemeint, die sich früher
als Proselhten zur jüdische,? Gottesverehrung gehalten hatten. Als solche
waren sie unter der Bedingung, die noahischen Gebote halten zu wollen, d. h.
sich von Genuß der Götzeuvpfer, vom Blut, vom Erstickten und von Hurerei
fernhalten zu wollen, von der Beobachtung des mosaischen Gesetzes im übrige»
befreit. Die Hebräer hingegen sind die aramäisch redenden Juden Palästinas.
Besonders jene Proselhten waren es, die vielfach zur Christengemeinde über¬
traten und ihr damit ein Element zuführten, das den aus dem Palästinischeu
Judentum gekommenen Messiasgläubigen vielfach gegenübertrat, indem sie die
Trennung vom Tempelknltus, von der Beschneidung und der ganzen rituellen
Beobachtung des Gesetzes im Leben und im Gottesdienst immer mehr und
immer entschiedner für die christliche Gemeinde forderten, d. h. die das
Christentum, das in den hebräischredeuden Christen noch ganz im Rahmen
einer jüdischen, nur an Jesus als Messias glaubenden Sekte auftrat, von diesen
jüdischen Schlacken reinigten und zur Weltreligion fortbildeten. Diese griechisch
redenden Christen also, frühere Proselhteu, und aus der griechischen Diaspora
stammende, vom Gesetzeszelvtismus freiere Juden fanden sich verkürzt dnrch
die ungenügende Berücksichtigung ihrer Witwen und gaben ihrer Unzufrieden¬
heit einen mächtigen Ausdruck gegen die Vertreter der Gemeinde, die Zwölfe.
Was nun auch der Grund der Zurücksetzung bei der Austeilung der täglichen
Gaben gewesen sein mag, ob die freiere Richtung der Hellenisten, oder ob die
in der Stammesart begründete Abneigung des Volljuden gegen den Griechen,
mit dein es auch der griechisch geartete Sohn der jüdischen Diaspora hielt, die
Verstimmung ist dn und ist laut geworden infolge der ungerechten Regelung
der täglichen Bedürfnisse. Denn so müssen wir sagen, und nicht etwa bloß
infolge einer ungleiche,: Armenversorgnng. Es war keine bloße Armenversvr-
gung, die hier gemeint ist, und die diejenigen Erklärer gern annehmen möchten,
die die Stelle 6, 1 ff. benutzen, um dadurch die Berichte von der Gütergemein¬
schaft in ihrer Tragweite abzuschwächen. Die Witwen, von denen geschrieben
wird, sind nicht bloß die Armen nnter ihnen, sondern der ganze Stand, der
von den andern Ständen bei dem täglichen Tische zwar nach jüdischer Sitte
abgesondert ist, aber diese nicht ausschließt. Auch auf sie, diese andern Stände,
erstreckte sich die tägliche Regelung der Gaben, die, wenn sie auch in der
Hauptsache in Gaben der Nahrung bestand, doch anch andre nötige Bedürf¬
nisse nach 2, 45) und 4, W nicht ausgeschlossen haben wird. Diese andern
Bedürfnisse werde» allerdings nur auf ein geringes Maß, etwa auf Kleidung
und Wohnung, zurückzuführen sein, wie man das bei Menschen voraus¬
setzen muß, die insgesamt doch in den „letzten Zeiten" zu steheu vermeinten
und kein weiteres Interesse am gegenwärtigen Genusse der Lebensgüter habe»
konnte», als ihre Tage bis dahin zu fristen, wo mit der Wiederkunft des
Messias die „Wiederherstellung aller Dinge" und damit die „Zeiten der Er-
anickung" beginnen sollten (Apostelgeschichte 3, 20, 21).
Nach dem Mürtyrertode des Stephanus und der damit verbundenen
Christenverfolgung sind es diese Hellenisten, die Jerusalem verlassen und sich
in Judäa und Samarin zerstreue», da sich die Verfolgung vorzugsweise auch
gegen den dem Tcmpelknltns opponirenden hellenistischen Teil der Gemeinde
wendete, während die Apostel, und sie natürlich nicht als die einzigen, da es
auch fortan eine Messiasgemeinde in Jerusalem gab, darin blieben (L, 1).
Nachdem sich so die beiden Bestandteile der Gemeinde getrennt hatten, wird
wohl die jerusalemische Gemeinde, die nunmehr ans bloßen Hebräern bestand,
mit ihrem streng judaisirenden Charakter anch die Gütergemeinschaft allein noch
eine Zeit lang beibehalte» habe», so lange, als sie noch beibehalten werden
konnte, d. h. so lange noch etwas dawar, was verteilt werden konnte.
Darnach kam die Armut und die Bettelei.
Denn das ist dus andre, was wir im Gefolge dieses „gutgemeinte» Ex¬
perimentes der Gütergemeinschaft," wie Hansrnth die Sache richtig nennt,
wahrzunehmen haben. Und darüber mögen noch einige Worte gesagt werden.
Als der Apostel Paulus nach seiner ersten Missionsreise nach Antiochien
zurückgekehrt war, trafen dort, auf die Meldung von der erfolgreichen Wirksam¬
keit des Apostels in der Heidenwelt, Gesetzeseiferer aus Jerusalem ein, die die
Forderung der Beschneidung auch an den Heidenchristen und damit den An¬
schluß an die ganze rituelle Beobachtung des Gesetzes stellten und so die
Thätigkeit des Apostels in der Heidenwelt lahm zu legen drohten. Da be¬
schloß Paulus sofort sich mit den llraposteln selbst auseinanderzusetzen und
nach Jerusalem hinauf zu ziehen. Er nimmt Barnabas mit sich, „der bei der
Muttergemeinde noch von den Zeiten der Gütergemeinschaft her in gutem
Andenken stehen mußte" (Hausrath, S. 240). In diesen Worten nimmt also
Hausrath an, daß es mit der wirtschaftlichen Einrichtung der Gütergemein¬
schaft bei der Nrgemeinde jetzt, im Jahre 5l-Z und achtzehn Jahre nach dem
Tode Christi, bereits ein Ende gehabt habe. Und mit dieser Annahme hat er
Recht. Die Gemeinde hatte abgewirtschaftet. Um dies nachzuweisen, müssen
wir etwas weiter ausholen.
Bei den Auseinandersetzungen, die der Apostel Paulus mit der jerusa-
lemischeu Gemeinde hatte, konnte es diese trotz der heftigsten Widersprüche
gegen die Forderung des Apostels, anch Unbeschuittene als vollblütige Glieder
des Reiches anzuerkennen, doch schließlich in ihren angesehensten Häuptern
Jakobus, Petrus und Johannes nicht verweigern, dem Paulus und Barnabas
den Handschlag der Gemeinschaft zu geben (Gai. 2, 1 bis 10). Die Vertreter
der Hebräer können die Beschneidung der Heiden nicht durchsetzen. Titus,
ein Bruder aus den Heiden, den Paulus mit nach Jerusalem genommen hatte,
um gerade an seiner Person die Gesetzesfreiheit für die Heiden als an einem
bestimmten Beispiel nachweisen zu lassen, kaun nicht zur Beschneidung ge¬
zwungen werden. Damit wird die Gesetzesfreiheit für die Heidenchristen zu¬
gestanden, sie selbst werden als christliche Brüder anerkannt. Es war hiermit so
viel errungen, als Paulus überhaupt verlangte. Die „Geltenden," d. h. die
drei Hanptapvstel, legten dem Paulus keine Gesetzesverpflichtnng auf, sie teilten
uur das Arbeitsgebiet, behielte» für sich dus palästiuisch-jüdische und ge¬
standen dem Paulus das heidnische zu (Gat. 2, 6. 7). Wenn die Apostel¬
geschichte (15, 29) anders berichtet, indem sie für die Heidenchristen die Be¬
folgung der uoahischen Gebote verlangen läßt, so gestaltet hier der Verfasser
der Apostelgeschichte den Bericht der Auffassung seiner Zeit gemäß. Denn es
empfiehlt sich die Annahme Pfleiderers, „daß eine ursprünglich bei den Prvs-
elhteu übliche Lebensführung früher schon bei den großenteils anfangs ans
Proselyten hervorgegangenen heidenchristlichen Kreisen Aufnahme gefunden habe,
und diese Sitte später von der Kirche zur förmliche» Pflicht gemacht wordeu
und ans apostolische Autorität zurückgeführt ivvrden sei" (Pfleiderer, S. 584).
Jedenfalls widerspricht dem Bericht von irgend welcher Verpflichtung auf das
Gesetz die eigue Angabe des Apostels (Gai. 2, 6): „Mir haben sie (die Häupter)
nichts aufgelegt."
Aber woher nun auf einmal bei den Gesetzeseifereru diese Vereitwilligkeit
des bedingungslosen Handschlags? Darüber giebt der Apostel uus (Gai. 2, 10)
eine ganz sichere Aufklärung in den Worten: „Nur der Armen sollten wir
gedenken!" Diese Armen sind die Judenchristen zu Jerusalem insgesamt. Das
Prädikat, das ihnen hier und anderwärts erteilt wird, ni7wxol, bezeichnet den
äußersten Grad der Armut, die Vettelarmut. Das war also jetzt der wirt¬
schaftliche Zustnud der Gemeinde. Lange hatte die kommunistische Herrlichkeit,
„wo auch nicht eiuer uuter ihnen Mangel hatte," nicht gedauert. Hausrath
stellt die Sache ganz richtig dar, wenn er S. 248 sagt: „Die Not der Brüder
in Jerusalem war nachgerade so groß geworden, daß die Urgemeinde ohne
Unterstützung der Auswärtigen sich kaum mehr lauge hätte halten können.
Wenigstens berichtet der Apostel, das einzige, was die Häupter der Urgemeinde
sich aufbehalten hätten, sei das gewesen, daß die heidnischen Gemeinden der
Armut der Jerilsalemiten zu Hilfe kommen sollten, und Paulus ergriff mit
Eifer diesen Vorschlag, der seinem Prinzip nichts vergab und seinem Thätigkeits¬
trieb neue Aufgaben setzte. Das gutgemeinte Experiment der Gütergemein¬
schaft, Mißwuchs und Teuerung hatten die galiläische Kolonie in der heiligen
Stadt in die tiefste Armut gestürzt. Eine Rückwirkung dieser drangsulsvvllen
Lage auf die vorliegende Frage war dann das Abkommen, daß die Brüder
aus deu Heiden diesem Elend steuern sollten."
So zeigte sich auch hier, daß die Not die größte Lehrmeisterin der Mensch¬
heit ist. Was die innere Übereinstimmung nie erzielt Hütte, die Anerkennung
eines gesetzesfreien Christentums, das erst die Kraft zur Weltreligion in sich
barg, das erzielte der Zwang der Lage. Denn dem Apostel war der Vor¬
schlag ganz recht. Er setzte an die Stelle der Einheit des Glaubens, die
schon damals, in diesen Anfangszeiten des Christentums, nicht zu erreichen
war, wie sie heute nicht zu erreichen ist, die Einheit der Liebe. Darum fügte
Paulus zu den Worten: „Nur sollten wir der Armen gedenken" hinzu: „Und
eben dies habe ich mich beeifert, durch die That zu erfüllen" (Gai. 2, 10).
Von um an sehen wir den Apostel überall in den heidnischen Gemeinden mit
dem wärmsten Herzenseifer Liebessteucrn für die „Heiligen in Jerusalem"
sammeln. Auch steuerten die „Brüder aus den Heiden" dem Elend, so viel
sie konnten, wie 1. Kor. 16, 1 sf. und 2. Kor. 8 und v zeigt.
Das war das Ende der Gütergemeinschaft in der ersten Christengemeinde.
le Wörter Realismus, Naturalismus, Verismus, die alle in
mehr oder minder klarer Weise einen Grad von Naturwahrheit
bei Kunstwerken ausdrücken, könne» vernünftigerweise nur bei
den Künsten angewendet werden, die sich mit einer Nachbildung
der Wirklichkeit befassen. Wenigstens würden diese Begriffe eine
andre Bedeutung annehmen, wenn man sie auf die übrige« Künste anwenden
und etwa von einer realistischen Musik, Architektur oder Tanzkunst reden
wollte. Die nachfolgenden Betrachtungen sollen sich daher im allgemeinen
nur auf die nachbildenden Künste erstrecken; unter einem Kunstwerk schlechthin
soll immer nur eins aus den nachbildenden Künsten verstanden werden. Dabei
erscheint es zweckmäßig, das, was nachgebildet wird, mit einem bestimmten
Ausdruck, etwa als die dein Kunstwerke entsprechende Wirklichkeit oder das
dem Kunstschönen entsprechende Naturschöne zu bezeichnen, wenn es gestattet
ist, das so unbestimmte, gleichzeitig viel- und nichtssagende Wort „schön" im
allgemeinsten Sinne zu verwenden. Ich lege übrigens auf diesen Ausdruck keinen
Wert und knüpfe durchaus keine Voraussetzungen daran. Er mag alles zusammen-
fassen, was geeignet erscheint, irgendwie bedeutende Gefühle in uns zu erregen.
In deu folgenden Untersuchungen wird beabsichtigt — ohne die Voraus¬
setzung irgend welcher ästhetischen Theorien und ohne Voreingenommenheit für
bestimmte Kunstrichtungen —, die beiden Eindrücke mit einander zu vergleichen,
die einerseits ein Kunstwerk, anderseits die genau entsprechende Wirklichkeit
verursacht. Können beide gleich sein? Gefällt uns ein Kunstwerk nur des¬
wegen, weil es ein Naturschönes nachbildet, das uns als solches auch gefallen
würde, oder ist es nicht nötig, daß die einem wirkungsvollen Kunstwerke zu
Grunde liegende Wirklichkeit uns ebenfalls entzücke? Erzeugt eine Landschaft
einen wesentlich andern Eindrnck als ein Gemälde derselben? Ist das beim
Betrachten eines Kunstwerkes hinzutretende Bewußtsein, es mit einer Nach¬
bildung zu thun zu haben, von ausschlaggebender Bedeutung?
Diese Fragen haben natürlich so lange gar keinen Sinn, als wir die ver-
schiednen Kunstrichtungen (die realistische, idealistische, phantastische) und die
verschiednen Kunstgattungen (z. B. Märchen, Romane, Dramen, Gedichte) un-
gesondert ins Auge fassen. Es giebt Kunstwerke, bei denen die ästhetische
Wirkung gerade darauf beruht, daß gewisse Voraussetzungen der Wirklichkeit
aufgehoben erscheinen. Mai? denke um Röcklinsche Bilder, an Goethes Faust,
oder an die Poesie der Romantik, mit ihren Elfen und Zwergen, ihren Feen,
Kobolden und Zauberern, wo die Naturgesetze verschwinden, die Menschen
fliegen nud die Tiere reden. Hier ist nicht die Wirklichkeit, sondern der
Wunsch der Vater des Kunstwerkes. Ähnliches ist much bei den „idealisirenden"
Kunstwerken der Fall. Hier gilt der Gemeinplatz, daß uns der Künstler
über die sogenannte „gemeine" Wirklichkeit hinausführt in das Reich des
„Ideals," und es wäre thöricht, zu leugnen, daß wenigstens ein Teil der
ästhetischen Lust dieser Kunstwerke hierauf beruht. Wen» der Maler Ed. Hilde¬
brandt seinerzeit auf den Vorwurf, die Storche auf seinem Bilde ,,Am Weiher"
hätten zu kurze und zu dicke Beine, die seltsame Autwort gab: „Mau kann
nicht verlangen, daß ich die Fehler der Natur nachmache," so ist klar, daß er
gerade durch Abänderung der Natur ästhetische Gefühle zu erzengen sich be¬
mühte. Und jede Jdealisirung läuft doch darauf hinaus, ans Kosten der
Wahrheit und Charakteristik sogenannte „schone" Empfindungen hervorzurufen, so
z. B. wenn Schiller in seinen Dramen als Bauern Leute vou edler Haltung
und beträchtlicher Rednergabe vorführt. Genau wie bei den nichtnachbildenden
Künsten — z. B. der Musik —, handelt sichs anch bei den phantastischen und
idealisirenden Kunstwerken zum Theil um die Erzeugung ganz spezifischer Ge¬
fühle, die die Wirklichkeit in gleicher Weise überhaupt nicht zu erregen imstande
ist. Für Werke dieser Art erledigt sich die aufgestellte Frage von selbst: der Unter¬
schied in der seelischen Wirkung des Kunstwerks und der ihnen entsprechenden
Wirklichkeit liegt klar zu Tage; ja streug genommen dürfte mau vou einer ent¬
sprechenden Wirklichkeit gar nicht reden, weil es eine solche nicht giebt. Einen
wirklichen Sinn hat unsre Frage nach dem Verhältnis der Eindrücke von Kunst
und Wirklichkeit nur dann, wenn Nur sie für realistische Kunstwerke stellen, für
Kunstwerke, die wirkliches oder in Wirklichkeit mögliches darbieten wollen. Und
lediglich solche Kunstwerke sollen bei diesen Betrachtungen vorausgesetzt werden.
Hierbei behalte» wir natürlich im Auge, daß das Wort „realistisch" eine
durchaus relative Bedeutung besitzt: ein Kunstwerk kann sich gar in vieler Hinsicht
der Natur nähern. Dasselbe Kunstwerk, das in gewisser Beziehung sehr natur¬
wahr ist, kaun in andrer Beziehung völlig von aller Wirklichkeit absehen. Der
Kürze halber sei es gestattet, von den einzelnen „Elementen" zu sprechen, in
deuen ein Kunstwerk mehr oder minder getreu der Wirklichkeit entsprechen kann.
Als solche Elemente würden bei dem plastischen Bildwerke eines Menschen
z. B. Körperformen, Farbe, Größenverhältnisse, Haltung, Ausdruck in Gesicht
und Gebärde u. a. in. in Betracht kommen. Zwischen diesen einzelnen Elementen
besteht eine - allerdings vom persönlichen und vom Zeitgeschmack abhängige
Rangabstufnng, dergestalt, daß Nur unbedingte Naturwahrheit bei einigen für
schlechterdings notwendig, bei andern für wünschenswert, wieder bei andern für
völlig gleichgültig ansehen. Ein Gemälde, dessen Bäume schief stehen, bei dein
Perspektive und anatomischer Ban der dargestellten Menschen der Wirklichkeit
nicht entspricht, nennen Nur nicht unrealistisch, sondern falsch. Ein gleiches
gilt bei einer ungleichmäßigen Änderung der Größenverhältnisse, während Nur
uns eine gleichmäßige ohne weiteres gefallen lasseiu ein lebensgroßes Bild ist
nicht realistischer als ein verkleinertes. Bei einem Werke der Plastik ist uns
Wahrheit des geistige» Ausdrucks im allgemeinen wertvoller als die realistische
Behandlung der Haare oder der Haut, und bei einer dramatischen Aufführung
legen wir mehr Gewicht auf die Wahrheit der psychologischen Entwicklung als
auf Treue der Kostüme oder Echtheit der szenischen Einrichtung. Aber während
gewisse Uuwahrscheiulichkeiten oder Unmöglichkeiten völlig bedeutungslos er¬
scheinen, können geringfügige Naturwidrigkeiten eine ästhetische Wirkuug ver¬
nichten. Zu verlangen, jedes in Paris spielende Stück solle in französischer
Sprache und mit echt Pariser Kostümen aufgeführt werden, wäre einfach kindisch.
Aber wir erinnern uns, daß die Darstellung einer französischen Komödie einen
völlig verfehlten Eindruck hervorrief, uur weil der einen eleganten Vicomte
darstellende, im übrigen durchaus nicht talentlose Schauspieler zu kurze Bein-
kleider trug und seine geistvollen lind anmutigen Plaudereien im reinsten säch¬
sischen Dialekt zum besten gab. Und doch sind dergleichen Äußerlichkeiten im
Vergleich zu dem Werte der gesamten künstlerischen, insbesondre der dichterischen
Leistung von ganz untergeordneter Bedeutung.
Es wird wohl allgemein zugestanden werden, daß die Gegenwart empfind¬
licher gegen Abweichungen von der Natur geworden ist. Wir verlangen eine
Fülle realistischer Einzelheiten, von denen wohl jede für sich betrachtet un¬
wesentlich erscheinen mag, die aber in ihrer Gesamtheit zusammenwirken, um
das Kunstwerk zu etwas wahrhaft Organischen und Lebensvollem zu gestalten.
Man mag darin einen Aufschwung oder einen Niedergang unsrer Kunstent-
wicklung sehe», jedenfalls ist man genötigt, eine Verschiebung zu Gunsten des
Realismus als eine geschichtliche Thatsache anzuerkennen. Hat aber die Zahl
der Elemente, in denen sich das Kunstwerk der Wirklichkeit nähert, beträcht¬
lich zugenommen, so liegt die Frage auf der Hand, ob sich diese Zahl nicht
noch weiter vermehren lasse, ja warum eigentlich ein Kunstwerk nichr in allen
seinen Elementen mit der Wirklichkeit übereinstimmen solle. Und so ist denn
auch thatsächlich eine ,,exakte Reproduktion" der Wirklichkeit gefordert worden.
Ich weiß nicht, ob eine solche exakte Reproduktion der Wirklichkeit mög¬
lich ist. Gäbe es dergleichen Kunstwerke, so würde ich zwar von vornherein
keinen Anlaß finden, ihnen allein Daseinsberechtigung zuzusprechen und die
vollkommene Übereiustimniuug mit der Natur als allgemeingültiges ästhetisches
Prinzip hinzustellen. Aber ebenso wenig fällt es mir ein, die Daseiusberech-
tiguug von solchen Kunstwerken irgendwie in Frage zu stelle». Nicht um
Forderungen und Dogmen, nicht um Wert oder Unwert gewisser Kunst-
richtungen soll sichs hier handeln, sondern lediglich um die Frage: Kann
ein Kunstwerk genau denselben Gesamteindruck hervorrufen, kaun es genau
dieselbe Wirkungskraft entfalten wie die entsprechende Wirklichkeit? Diese Vor¬
frage ausschließlich soll, nicht nach ästhetischen Grundsätzen, sondern auf Grund
einfacher Psychologischer Thatsachen erörtert werden.
Jedes Kunstwerk bietet uns direkt Vorstellungen, indirekt Gefühle, die an
diesen Vorstellungen haften. Es dürfte wohl kaum Widerspruch hervorrufen,
wenn ich als den nächsten Zweck aller Kunst und als die Voraussetzung jedes
ästhetischen Genusses überhaupt die Erregung einer bedeutenden Gefühls¬
reihe bezeichne. Die Vorstellungen sind das Mittel, um ein reiches Spiel unter
einander zusammenhängender, auf- und abwogeuder Gefühle zu erzeugen. Die
hieran sich knüpfenden Fragen, ob diese Gefühlsreihe einen näher zu bestim¬
menden gesetzmäßigen Verlauf nehmen müsse, ob sie stets harmonisch und lust-
vvll oder doch versöhnend auszukliugeu habe, welchen weitern Zweck sie selbst
verfolge u. f. f., lasse ich völlig unerörtert. Ausdrücklich betonen möchte ich
nur, daß unter „Gefühlen" im Folgenden alle erregten Gefühle, nicht etwa
nur die sogenannten „ästhetischen" Gefühle zu verstehen seien, worunter man
gewöhnlich lediglich die Lust an Sinnesempfindungen, harmonischen Tonfolgen,
zusammenstimmenden Farben, schwungvollen Linien, gefälligen Teilverhältnissen
u. s. f. begreift. Ich leugne nicht, daß schöne Linien und fein gestimmte
Farben nicht nur bei persischen Teppichen, sondern auch bei Gemälden eine
Rolle spielen, daß ein klangvolles Organ und edle Bewegungen auch bei den
Darstellungen von Bühuenwerkeu in Betracht kommen können; aber viel wich¬
tiger für den höhern ästhetische» Genuß sind die sogenannten „moralischen"
und „intellektuellen" Gefühle, also etwa Mitfreude und Mitleid, Furcht, Span¬
nung, Haß, sittliche Billigung und Mißbilligung, geschlechtliche Erregung,
religiöse Erbauung; oder jene Gefühle, die selbst erst aus einer Reihe der ge¬
nannten Gefühle als Endergebnis hervorgehen, wie der Befreiung, Versöhnung,
Erhebung. Spreche ich also bei der Erwägung der seelischen Wirkung eines
Kunstwerkes von Gefühlen, so meine ich die Gesamtheit aller erregten Gefühle,
mögen sie nach landläufiger Auffassung einen ästhetischen Wert haben oder nicht.
Nach diesen Vorbemerkungen kann ich nun die zu behandelnde Frage so
stellen: Wird ein Kunstwerk, wenn es genau dieselben Vorstellungen erzeugt, auch
genau dieselben Gefühle in uns erregen wie die der entsprechenden Wirklichkeit?
Es liegt ans der Hand, daß die Beantwortung dieser Frage nur dann
einer anschauliche» Kontrolle unterzogen werden kann, wenn es sich um eine
Kopie wirklich seiender und zugänglicher Dinge oder wirklich geschehener sicht¬
barer Ereignisse handelt. Bei frei erfundenen Kunstwerken muß die Frage
bedingt gestellt werden: Würden wir denselben Eindruck davontragen, wenn
wir die dem Kuiistwerk entsprechende Wirklichkeit anch thatsächlich erlebten?
daß also vollständig der Eindruck der Wirklichkeit entstünde. Unter solchen
Voraussetzungen würden beide Eindrücke sich völlig decken: das Kunstschöne
würde als Naturschönes wirken. Dieser Fall dürfte nun freilich kaum jemals
eintreten. Wir wissen stets, ob wir einem Kunstwerke oder ob wir der Natur
gegenüberstehen, und so entsteht nun die Frage, ob allein das Bewußtsein, es
mit einem Schein, nicht mit einem sein zu thun zu haben, verändernd auf
die erzeugten Gefühle einwirkt.
Da muß denn zuvörderst beachtet werden, daß beim Betrachten eines
Kunstwerkes zu den unmittelbar angeregten Gefühlen noch andre Lustgefühle
hinzutreten, die beim Betrachten des Naturschönen notwendig fehlen, vor allen:
die Freude an der Nachahmung selbst und die Bewunderung der ,^nnstfertig-
keit des Meisters.
Die Freude an der Nachbildung, am Wiedererkennen hat bei der Ent¬
stehung der Kunst sicher einen wichtigen, vielleicht den wichtigsten Antrieb ab¬
gegeben, und auch heute noch spielt sie — mehr oder minder unbewußt — eine
wichtige Rolle beim ästhetischen Genuß. Sie geht Hand in Hand mit dein zweiten
der angeführten Gefühle: der Bewunderung der Kunstfertigkeit des Meisters.
Es giebt kritisch angelegte Personen, deren völlige Aufmerksamkeit beim Be¬
trachten von Kunstwerken durch technische Einzelheiten in Anspruch genommen
wird, bei denen die Wertschätzung des Kunstwerkes mit der Anerkennung des
„Könnens" zusammenfällt. Aber auch bei denen, die nicht am „Wie," sondern
nur am ,,Was" ihre Freude zu haben meinen, wird, ohne daß sie sich darüber
Rechenschaft geben, ein Teil der ästhetische» Lust in die Bewunderung der
Thätigkeit des Meisters zu setzen sein. Es tritt dies recht zu Tage, wenn
man einmal ein Wirkliches für ein Künstliches gehalten hat. Wer bewundernd
vor einem Panorama gestanden hat, in der Voraussetzung, jener plastisch
herausspringende Hügel dort sei gemalt, der wird sich einer gewissen Ent¬
täuschung kaum erwehren können, wenn er hinterher erfährt, der Hügel sei
einfach aufgeschüttet: ein gemalter Hügel erscheint hier co künstlerisch wert¬
voller als ein aus wirklicher Erde hergestellter. Und derselbe Kenner, der dem
naturgetreuen Faltenwurf einer Marmorstatue Beachtung schenkt, geht verächtlich
an dem noch „natürlichern" Faltenwurf einer Wachsfigur vorüber. Und doch
wird die Drapirung eines schönen Stoffes, die uus an einer lebenden Person
entzückt, nicht dadurch häßlicher, daß sie nu einer Figur des Panoptiknms
häugt und von der Hemd eines Tapezierers geordnet wurde.
Wir berühren hier einen neuen nicht unwichtigen Punkt. Außer deu eben
erwähnten, wesentlich luftvollen Gefühlen treten beim Betrachten von Kunst¬
werken, die getreu der Natur folgen, auch unlnstvvlle Gefühle gleichsam als
Begleiterscheinungen auf, die deu ästhetischen Genuß hemmen oder ihn gänzlich
vernichten. Mau denke an die Wirkung der farbigen Plastik. Während eine
Steigerung der Naturwahrheit in gewisser Hinsicht — etwa hinsichtlich des
Bei einer solche!? Fragestellung tritt' aber klar zu Tage, daß ein großer Teil
dessen, was wir beim Kunstwerk sehen, gar nicht erfahren werden kann. Gehen
doch gar viele Dinge der Welt nnr so vor sich, wie sie es thun, wenn keine
Zeugen zugegen siud. Eine Liebeserklärung findet in der Regel unter Aus¬
schluß der Öffentlichkeit statt, nur in einem Drama können wir einer bei¬
wohnen; und die seelischen Vorgänge, wie sie ein Roman schildert, sind über¬
haupt jeder Beobachtung unzugänglich. Natürlich setzen wir uus genau wie
beim Kunstwerk auch in der Wirklichkeit als unbeteiligte Zuschauer voraus.
Denn es ist selbstverständlich, daß wir uns unter ganz andern seelischen
Voraussetzungen befinden und ganz andre Gefühle haben, wenn wir uns bei
einem Ereignis thätig beteilige«, als wenn wir als unbeteiligte Dritte zugegen
siud. Selbst in heftigen Zorn geraten oder für einen in Zorn geratenen
Menschen Mitgefühl oder Abneigung empfinden, sind zwei gänzlich verschiedne
seelische Vorgänge.
Auch noch in andrer Hinsicht stimmt das, was ich „genau entsprechende
Wirklichkeit" nannte, nicht überein mit der uns zugänglichen persönlichen Er¬
fahrung. Man vergleiche den Anblick einer dramatischen Aufführung mit dem
Erlebnis der dargestellten Vorgänge. Was wir im gewöhnlichen Leben in
längerem Zeitraume und gleichzeitig mit vielen andern Dingen erleben, was
Nur nur bruchstückweise selber sehen und wovon Nur das übrige ungesichtet,
unvollständig und in falscher Reihenfolge durch die Mitteilung andrer erhalten,
das wird uns im Drama planmäßig geordnet und unter Ausscheidung alles
nicht zur Sache gehörigen, in wirksamer Steigerung und in so kurzer Zeit vor
Augen geführt, daß sich alles für die Beurteilung nötige und ausschlaggebende
gleichzeitig in unserm Bewußtsei» vereinigt. Wo kann dies je in Wirklichkeit
der Fall sein? Sollten auch die Einzelheiten eines Kunstwerkes nur eine ge¬
treue Nachbildung des Wirklichen sein, ihre Auswahl, Anordnung und Grup-
pirung ist Sache künstlerischer Thätigkeit. Was man gewöhnlich aus der un-
endlichen Fülle des von der Natur gebotenen ins Bewußtsein aufnimmt, ist
mehr oder minder zufällig und mit fremdartigem Bestandteilen durchsetzt; aber
was der Künstler durch sei» Werk uns ins Bewußtsein aufzunehmen zwingt,
konzentrirt sich auf Wesentliches und Wertvolles. Nicht was jedermann, was
eine besonders organisirte und künstlerisch angelegte Persönlichkeit von der
Wirklichkeit wahrnimmt, wird im Kunstwerke geboten.
Aus dem Gesagten geht hervor, daß der hier behandelte Begriff der einem
Kunstwerke entsprechenden Wirklichkeit nicht etwa mit der Wahrnehmung oder
Erfahrung zu verwechseln ist, die Nur selbst über das Dargestellte erlangen
können. Auch die Kunstwerke, die eine völlig „exakte Reproduktion" der Wirk¬
lichkeit zu geben beanspruchen, können Dinge zur Darstellung bringen, die,
wenn sie überhaupt für uns wahrnehmbar sind, doch unter veränderten sub¬
jektive« Voraussetzungen und in ander«! Zusammeiihauge wahrgenommen
geistigen Ausdruckes oder des Körperbaues — den künstlerischen Wert erhöht,
ruft eine weitere Annäherung mi die Wirklichkeit i» Hinsicht ans die Farbe
bei den meisten die entgegengesetzte Wirkung hervor. Es kauu nicht be¬
stritten werden, daß farbige Bildwerke unwillkürlich ein gewisses Graue»
erregen, daß sie unheimlich und gespensterhaft wirken. In erhöhtem Grade
finden sich diese Gefühle beim Betrachten bekleideter Wachsfiguren; sie steigern
sich zum Ekel, wenn sich diese Figuren durch mechanische Vorrichtungen be¬
wegen, atmen oder die Augen rollen. Es erscheint beinahe als Blasphemie,
dergleichen Machwerte als Kunstwerke zu bezeichnen. Eine schlafende mensch¬
liche Gestalt von schönen Formen und anmutiger Haltung bietet einen vollen
ästhetischen Eindruck. Ganz ähnliche-Wirkung erzeugt eine Nachbildung in
Marmor — je mehr sich die Nachbildung in Bezug auf die Formen der Wirk¬
lichkeit nähert, um so besser für das Kunstwerk. Tritt noch Farbe hinzu,
sofort tauchen unlnstvolle Gefühle auf, und wird gar noch die Bewegung nach¬
gebildet, so ist von ästhetischem Eindruck nicht mehr die Rede. Den Grund
hierfür lediglich in mangelnder technischer Fähigkeit zu suchen, ist meines
Erachtens nicht zureichend. Ich glaube bestimmt, daß sich diese unlustvvllen
Gefühle auch dann einstellen würden, wenn die Voraussetzung erfüllt wäre,
daß die Nachbildung schlechterdings die gleichen Sinneseindrücke lieferte, wie
die Wirklichkeit. Das Wissen einerseits, daß wir es mit einem toten Dinge
zu thun haben, und die stetige Widerlegung anderseits, die jenes Wissen durch
die anschauliche Vorstellung erführe, dieses ununterbrochene, wenn auch nicht
völlig bewußte Hin- und Herschwanken der Seele: ja, es lebt— nein, es lebt
nicht —, dies allein schon versetzt uns in peinliche Erregung- Fraglich bleibt
dabei allerdings, inwieweit diese unlnstvollen Gefühle eine notwendige und
bleibende Erscheinung oder inwieweit sie vorübergehender Natur sind und von
unsrer mangelnden Gewöhnung abhängen. Ein Mensch, der nie plastische Bild¬
werke gesehen hat, würde wohl anch den Eindruck des Unheimlichen empfangen,
wenn er zum erstenmale unsre schweigenden, weißen und lichtvollen, regungslosen
Marmorgestalten erblickte. Und nehmen wir an, daß ein Volk nnr die Zeich¬
nung gepflegt habe, darin aber zur vollen Meisterschaft gelangt sei, so würde
es sich vielleicht in derselben Weise gegen ausgeführte Ölgemälde verhalten,
wie wir dies zur Zeit gegen die Werke pvlhchrvmer Plastik thun. Jedenfalls kann
nur die Zukunft darüber entscheiden, ob die Gefühle, die sich heute bei einer gar
zu täuschenden Nachahmung der Natur einzustellen pflegen, eine dauernde oder
eine durch Gewohnheit sich verlierende psychologische Erscheinung sind. Für
die gegenwärtige Untersuchung ist dies übrigens gleichgiltig. Es genügt, die
Thatsache festzustellen, daß solche Gefühle vorhanden sind.
Alles Bisherige zusammenfassend dürfen wir sagen: beim Genuß eines
Kunstwerkes, das die Natur völlig getreu wiedergiebt, tritt eine Reihe von
Gefühle» auf, die sich bei der Wirklichkeit uicht vorfinden können. Offen bleibt
werden. Insofern muß die von mir aufgestellte Frage nach dein Verhältnis
von dem Eindruck des Kunstwerks und der ihm entsprechenden Wirkungen im
allgemeinen durchaus hypothetisch sein.
Wenn ich ferner bei dieser Frage die Voraussetzung machte, ein Kunstwert
solle genau dieselben Vorstellungen erzeugen, wie die Wirklichkeit, so ist dies,
wörtlich genommen, nur in seltenen Fällen denkbar und enthält für gewisse
Kunstarten eine sinnlose Forderung. Ein Werk der epischen Dichtkunst, ein
Roman giebt unmittelbar nur Worte, und erst die dadurch angeregten Vor¬
stellungen haben eine gewisse Ähnlichkeit mit den Anschauungen der geschilderten
Wirklichkeit. Die bildenden Künste bieten zwar selbst Anschauungen dar, aber
erstens halten sie nur einen einzigen Augenblick fest und sodann beschränken sie
sich aus die Wiedergabe der Eindrücke eines einzigen Sinnes: des Auges.
Wenn ein Panorama auch noch so naturgetreu ist, es fehlt doch manches, was
wir in Wirklichkeit wahrnehmein Bewegungen, Geräusche, volle Stärke des
Sonnenlichts, Gefühl der frischen Luft u. s. f. Nur bei einer realistischen Dar¬
stellung realistischer Rühnenwerke und allenfalls bei der bildlichen Nachbildung
unbewegter, nur auf das Auge wirkender Dinge könnte man davon reden, daß
genau dieselbe« Vorstellungen wie von der Wirklichkeit erzeugt würden. Im übrigen
geben die realistischen Kunstwerke, wenn sie auch nur die Wirklichkeit geben,
jedenfalls nicht die ganze Wirklichkeit. Auch hier ergiebt sich, daß die Kunst
sich auswählend und abstrahirend verhalten muß.
Im allgemeinen und ohne Rücksicht ans die besonders namhaft gemachten
Fälle ist also die Beantwortung der von mir gestellten Frage selbstverständlich.
Bietet ein Kunstwerk nicht geuau dieselbe Summe gleicher Sinneseindrücke, so
wird auch der gefühlsmäßige Eindruck anders sein als in Wirklichkeit. Hieraus
beruht auch die verschiedene Wirkungsart der einzelnen Kunstgattungen. Jede
von thuen kann aus der unendlich reichen Fülle des Wirklichen nnr das, was
ihr gleichartig ist, wiedergeben, genau dasselbe zu gestalten bleibt einer andern
Kunstart versagt. Eine rein „malerische" Idee, d. h. das, was von einem
guten Gemälde ausgedrückt wird, kann nur durch ein Gemälde, also nicht etwa
durch ein Gedicht oder eine andre Kunstgattung in gleich vollendeter Weise
zum Ausdruck kommen. Und einundderselbe Vorgang wird, wenn er ver¬
schiedenartigen Kunstwerken zum Vorwurf dient, auch eine verschiedne Wirkung
auf uns ausüben und verschiedenartige Gefühle in uns erregen. Die Schilderung
eines toten menschlichen Körpers in einem Roman wirkt anders als ein Werk
der Plastik oder ein Gemälde, alle drei Eindrücke werden sich aber wiederum
ganz wesentlich von den Gefühlen unterscheiden, die der Anblick einer wirklichen
Leiche in uns hervorruft, auch dann, wenn der Künstler gänzlich darauf ver¬
zichtet, besondre, etwa am Material haftende sinnlich ästhetische Wirkungen
zu verwerten. Hieraus unter allen Umständen eine Minderwertigkeit des
Kunstwerkes im Vergleiche zur Natur abzuleiten, als ein Dogma zu be-
Häupten, die Kunst könne niemals nu die Natur hinnnreichen, ist meines Tr¬
achtens ganz unberechtigt. Mir wurde unlängst von einigen theoretisirender
Fanatikern des Naturalismus alles Ernstes versichert, auch das Fehlen des
^eichengeruches bei einem. Gemälde sei ein dem betreffenden Kunstwerke freilich
notgedrungen anhängender Nachteil, weil das Ersparen einiger Unlustgefühle
uur die moralische Gesamtwirkung beeinträchtige. Ich will hier die Frage ganz
unerörtert lassen, wie weit die Kunst ans ästhetischen Gründen „berechtigt"
sei, uulnstvollc, ja Abscheu erregende Vorstellungen zu erzeugen oder sie auf
Kosten der Wahrheit zu unterdrücken. Rein vom psychologischen Standpunkt
und auch abgesehen von dem, was ich über die Beschränkung des Kunst¬
werkes ans das Wesentliche und Wertvolle gesagt habe, ist leicht einzusehen,
warum ein Unterdrücken gewisser Teile der Wirklichkeit den Gesamteindruck
durchaus nicht abzuschwächen braucht. Denn die Elemente, aus denen sich
die seelische Wirkung eines Naturschönen zusammensetzt, können sich gegen¬
seitig hemmen, statt sich zu fördern, und so kann es geschehen, daß bei
einem entsprechende» Kunstwerke, das nur einen Teil davon verwertet, eine
Erhöhung der Wirkungskraft erzielt, ja überhaupt erst ein ästhetischer Genuß
ermöglicht wird. Wer zum erstenmale ein Eisenwalzwerk besucht, wird durch
die rastlose Bewegung der Arbeitenden, das entsetzliche Getöse der Maschine»,
den starken Öl- und Kvhlenduust so betäubt, das; er unter Umständen überhaupt
nichts, keinesfalls alles das sieht, was er auf dem bekannten, in der Berliner
Nativnalgnlerie befindlichen Gemälde Wenzels erblickt. Und dieses Bild ist
doch gewiß ein treffliches Werk realistischer Malerei, obschon es weder unsre
Ohren noch unsre Nasen in Anspruch nimmt. Gerade dadurch, daß es weniger
bietet als die Wirklichkeit, bietet es anch mehr, lind dies läßt sich im allge¬
meinen von den meisten Kunstwerken sagen.
Hiermit ist nun freilich meine Frage selbst noch nicht erledigt, sondern
nnr bewiesen, daß sie, wörtlich genommen, auf unsre realistischen Kunstwerke
im allgemeinen keine Anwendung finden kann. Denn es liegt im Wesen dieser
Künste, wie sie nnn einmal sind, daß sie nicht dieselbe Zahl gleicher Sinnes¬
eindrücke darbieten können, wie die Wirklichkeit. Nun läßt sich aber denken,
daß Kunstwerke der Zukunft diese Bedingungen erfüllten, ja ich habe schon
zugestanden, daß in einzelnen Fällen bei der Aufführung dramatischer
Szenen und bei gewissen Werken der bildenden Kunst - diese Bedingungen
thatsächlich schon heute erfüllt seien. Jedenfalls dürfen wir rein theoretisch
zur klaren Erledigung des Sachverhaltes diese Voraussetzungen aufstellen und
demgemäß unsre Frage dahin zuspitzen: Werden ein Kunstwerk und das ent¬
sprechende Naturschöne, wenn sie genau dieselbe Summe gleicher Vorstellungen
darbieten, much genau dieselben Gefühle in uns hervorrufen?
Nehmen wir an, wir näherten uns unter besonders günstigen zufälligen
Umständen einem Kunstwerke so, daß wir es für etwas Natürliches hielten,
nur noch die Frage, ob, abgesehen von diesem Mehr, im übrigen die Gefühle
dieselben seien? Auch diese letzte Frage stehe ich nicht an mit einem unbe¬
dingten Nein zu beantworten.
Zwar ist nicht abzusehen, warum die rein sinnlich ästhetischen Empfin¬
dungen, wie sie etwa an harmonischen Farbenzusammenstellungen haften, in
Kunst und Natur verschieden sein sollten. Vergleicht man aber die moralischen
und die intellektuellen Gefühle, wie sie beim Betrachten des Kunstwerkes auf¬
treten, mit denen, die wir in Wirklichkeit empfinden, so springt der Unterschied
sofort in die Augen: die letztern sind bei weitem stärker. Dabei betone ich
ausdrücklich, daß wir uns auch in der Wirklichkeit nur als Zuschauer und
nicht als Beteiligte oder durch persönliche Neigung und Abneigung beeinflußt
voraussetzen. Welch ein Unterschied, ob wir einem wirklichen Morde bei¬
wohnen oder ob wir auf der Bühne die Desdemona ermorden sehen! ob wir
ein wirkliches Schiff scheitern sehen oder ein Bild dieses Vorganges betrachten!
Auch wenn wir genau dieselbe,, Vorstellungen voraussetzen, wie sie uns ein
natürlicher Gegenstand oder Vorgang bietet, daß bloße Bewußtsein, es nur
mit Scheindingen und Scheinereiguisfen zu thun zu haben, wirkt abschwächend,
also ändernd auf alle erregten Gefühle ein.
Eduard von Hartmann vertritt in seiner „Philosophie des Schönen" die
Meinung, daß die durch die Kunst erzeugte,, Gefühle auch „qualitativ" gänzlich
von den durch die Wirklichkeit erzeugten verschieden seien. Er sondert von
den „realen" Gefühlen die lediglich bei dein ästhetischen Verhalten auftretende»
diesen reale» Gefühlen entsprechenden „Scheingefühle." Es ist hier nicht der
Ort, über diese Auffassungsweise zu rechten. Ich glaube, es ist richtiger, statt
von einem qualitativen Unterschiede von einem Unterschiede des Grades zu
reden, zumal da dieser Unterschied jeweilig verschieden, hier sehr beträchtlich
sein, dort ganz verschwinden kann.
Es wäre ein Irrtum, wollte um, ans der Ttatsache der geringern Starke
der durch das Kunstschöne vermittelten Gefühle einen Nachteil für dieses in,
Vergleich zum Naturschönen ableiten. Ich erinnere hier an das, was ich oben
über stark unlustvolle Sinnesempfindungen (Leichengeruch, Getöse in einem
Eisenwerk) gesagt habe. Es giebt Gefühle, die so mächtig sind, daß sie unser
ganzes Bewußtsein ausfülle,, und alle andern Geinütserregungen unterdrücken.
Treten nun diese Gefühle beim Kunstwerk in abgeschwächter Form auf, so
können dafür andre Gefühle, die in Wirklichkeit unter der Schwelle des Bewußt¬
seins bleiben würden, auftauchen, der Ablauf einer Reihe verschiedner Gefühle wird
überhaupt erst ermöglicht und damit die Bedingung für eine ästhetische Wir¬
kung geschaffen. Wer von einem Schlachtengemälde einen ästhetischen Ein¬
druck empfangen will, muß fähig sein, einen Anklang an jene Aufregung durch-
zuempfinden, die eine Schlacht mit sich bringt. Aber in Wirklichkeit ist jene
Aufregung so gewaltig, daß ein ruhiges Beobachten und ästhetisches Genießen
kann, zustande kommen dürfte. Dabei ist es völlig gleichartig, daß unsre
Kunstwerte ja thatsächlich gar keine vollständige Nachbildung der Wirklichkeit
sind. Denn auch wenn dies der Fall wäre, würde das nicht zu beseitigende
Bewußtsein, es nur mit einem Schein statt mit einem Sein zu thun zu habe»,
in der geschilderten Weise ändernd auf alle Gefühle einwirken.
Hiermit ist aber die von mir aufgeworfene Frage erledigt: das Kunstwerk
kann ans keinen Fall genau denselben Eindruck, genau dieselbe Gesamtwirkung
hervorrufen, wie die Wirklichkeit, und umgekehrt. Man mag der angestrebten
,.exakten" Nachbildung der Natur einen Wert und Zweck beilegen, welchen
man will, sie kauu allenfalls dieselben Vorstellungsmassen, aber unter keinen
Umständen dieselbe» Gefühlsreihe» erzengen. Erkennt ma» aber die erregte»
Gefühle als das Wesentlichste bei der ästhetische» Wirkung an, so wird man
sage» könne»: das Ä'unstschöne und das Naturschöne beruhe» auf völlig ver-
schiedne» Gesetze».
le nächste Poststelle, von der ans Briefe und Zeitungen wöchentlich
einmal in die stillen Dörfer unsers abgelegenen Erdenwinkels gebracht
wurden, lng vier Stunden entfernt. Da klopfte eines Abends ein
Murr ans dem Orte um die Thüre und sagte atemlos: Herr
Lehrer, es liegt ein Brief für Sie auf der Post; er ist von Darm¬
stadt,, hat ein Regiernngssiegel und kostet Geld. Gewiß ist es ein
Dekret. Geben Sie Acht, Sie kommen fort! Ach, wie thut mir das leid! — hier
flössen ihm die Thränen die Wangen herunter — wir hatten Sie so gern! Was
werden wir denn jetzt für einen kriegen?
War das nur eine Aufregung! Die Schule aussetzen und den Brief persönlich
holen durfte und wollte der Schulmeister nicht i er mußte warten, bis der Briefbote
kam. Endlich war er da. Der Brief wurde bezahlt, das Siegel aufgerissen, der Inhalt
gelesen. Da stand es schwarz ans weiß, daß der Vikar von Z. binnen vier Wochen
die Lehrer- und Organistenstelle in Freisthdvne, zwei Stunden entfernt, anzutreten
habe. Zugleich wurde ihm eröffnet, daß er Aussicht habe, sobald die Pension
des zur Ruhe gesetzten Borgängers geregelt sei, die Stelle endgiltig zu erhalten.
Das war eine Freudenbotschaft. Freisthdvne war Pfarrdorf. Es war früher
der Sitz eines freiherrlichen Justiz- und Verwaltnngsamtes gewesen; seine Schul¬
stelle war für jene Zeit „sehr gut." Sie trug noch der Besvldnngsnoie 450 Gulden
ein, eine ganz respektable Summe.
Unser Schulmeister machte sich also zunächst nach der Kreisstadt auf, um sich
zu bedanken und das Nähere zu hören. Der Dekan, ein gescheiter, im Schulwesen
wohl bewanderter Mann, teilte ihm mit, daß man ihn nach Freischdoue schicke,
um die dort ganz verwahrloste Schule in Ordnung zu bringen; sein Vorgänger,
ein Mann ohne Bildung und ohne Sitten, sei endlich zwangsweise pensionirt
worden; es werde also dort Kämpfe geben, besonders mit dein im Orte weiter
lebenden Pensionär, aber er solle nur seine Schuldigkeit thun, er werde um seinem
Pfarrer die beste Stütze haben.
Ich mochte hier einmal der Legende entgegentreten, als ob in jenen Zeiten
dnrch die Schuld der Kirche und der Geistlichkeit die Lage des Lehrerstandes so
dürftig gewesen, als ob die Schule von der Kirche mit Absicht und Gewalt nieder¬
gehalten worden sei. Gerade das Gegenteil ist erweislich der Fall; gerade die
Kirche hat die Schule mit allen Mitteln gehoben. Es gab ja anfangs nur Kirch¬
spielsschulen. Wo hätten denn damals bei der ganz ungeheuern Armut Gemeinde
und Staat die Mittel zur Beschaffung von Schulhnuscrn, Lehrerwohuungen und
Gehalten nach modernem Muster hernehmen sollen? Es war damals schon etwas
Großes, als der Staat den niedrigsten Gehalt auf 800 Mark festsetzte. Rum erst
wurde es möglich, diese Männer aus einem Elend zu reißen, von dem heule
niemand mehr eine Vorstellung hat und das ein damals oft gesnngnes Lied „Vom
armen Dorfschulmeisterlein" im einzelnen ausmalt.
Roch einer andern Legende möchte ich entgegentreten, nämlich der, als ob
damals der Lehrer durch den Pfarrer in „Knechtschaft" gehalten worden wäre. Im
Gegenteil, die Pfarrer haben damals und auch später noch an den Lehrern ihre
Helfer, ihre Freunde gesucht und gefunden. Das Verhältnis war meist ein herz¬
liches. Ausnahmen, die es überall giebt, bestätigen nur die Regel.
Endlich noch eine Legende. Es ist eine weitverbreitete Ansicht, daß der Pfarrer
als solcher unfähig sei, die Schulaufsicht zu führen und Schule zu hallen. Aber
gerade die Herren der modernen Schule sind Theologe» gewesen, und ihre Pädagogische
Vorbildung war damals, wo der Pfarrer, ehe er ins Amt trat, erst jahrelang als
Haus- oder Justitutslehrer sein Brot suchen mußte, meist sehr gut. Gerade aus
dem Vvgelsberge Ware» mehrere Theologen bei Pestalozzi in ^jverdon Hilfslehrer
gewesen. Es ist ein Unsinn, die beiden Stände, die auf einander angewiesen sind
und denselben Feind, die Unbildung, Roheit und Gottlosigkeit, zu bekämpfen haben,
so gegen einander zu Hetzen, wie es eine Zeitlang Mode war. Mißgriffe wurden
ja allerdings manchmal begangen, indem mau den rechten Mann nicht an die rechte
Stelle setzte.
Unser Schulmeister kannte seinen Vorgänger von den Konferenzen her. Er
stand auch in freundlichem Verkehr mit ihm; er hatte seiner Zeit dessen Sohn
Wilhelm, einen jungen Taugenichts, unter seinen Präparanden gehabt. Er dachte
also: der Mann wird sich mit Würde in das Unvermeidliche fügen, und ich werde
mit ihm gut auskommen.
Aber es kam anders. Als er in die Wohnstube trat, wo die Lehrersfrau
mit ihren drei überreifen Töchtern am Spinnrocken saß, und sich als Dienstnach¬
folger vorstellte, folgte eine Szene voll Grauen. Mutter und Töchter brachen in
Wehgeschrei ans; der Manu wurde aus dem gegenüberliegenden Schulzimmer ge¬
rufen, Verwünschungen gemeinster Art erschollen gegen die Regierung, gegen den
Pfarrer und gegen den neuen Schulmeister. Der rote Kujou da unten hals
nun fertig gebracht, hieß es, und zehn Fäuste ballten sich in der Richtung nach
dem Pfarrhnuse. Und Ihr, Ihr junger Lump, hieß es jetzt fünfstimmig zu dem
unwillkommenen Besuche, Ihr glaubt, daß nur gutwillig aus dem Hause gehen
werden? Und wen» Ihr uns mit Ketten ziehen und mit Hunden Hetzen wolltet,
wir gehe» uicht!
Der neue Lehrer machte, daß er aus dieser unhvldeu Umgebung fortkam,
und ging hinunter ins Pfarrhaus, wo er sich vorstellte und eiuen wohlwollenden
Empfang fand.
Der Pfarrer, einer seit den Neformatiouszeiten im Kirchen- und Staatsdienste
rühmlich betrunken Familie angehörig und zum Unterschiede von seinen schwarzen
Onkeln und Vettern der rote B. . . genannt, empfing seineu neuen Mitarbeiter
mit offenen Armen. Wie bin ich froh, sagte er, daß Sie kommen, da Sie mir
so gut empfohlen find, und daß ich endlich einmal auf das Ende der betrübeudsteu
Mißstände hoffen kann! Ihr Vorgänger ist durchans unwissend. Er war ans
keinem Seminar; er hat anch später nichts gelernt; seine Sitten und das Leben
der Familie üben keinen guten Einfluß; er mußte fort, und endlich ist es mir
gelungen. Als der Pfarrer vou dem Empfange im Schulhause hörte, lächelte er
und sagte: Nehmen Sie das den Leuten nicht übel. Ich werde dafür sorgen,
daß Ihnen Schule und Haus geräumt wird. Dann rief er seine Frau herbei,
ein wahres Prachtexemplar einer Pfarrfrau alten Stils. Auch sie begrüßte den
neuen Nachbar mit Freude», rief ihre Kinder, die wie die Orgelpfeifen dastanden,
immer eins eine Spanne länger als das andre, stellte ihnen ihren neuen Lehrer
vor und ermahnte sie zu Ehrfurcht und Gehorsam. Der Lehrer mußte über
Mittag im Pfarrhaus bleiben, und als er am Nachmittag Abschied nahm und seiner
bisherigen Heimat zuschritt, da hatte er die Ueberzeugung, daß er wohl schwere
Arbeit finden, daß aber seine Arbeit anch anerkannt werden würde.
Unterdessen fiel der Schnee, wie er nur in Gebirgsgegenden fallen kauu.
Alle Hohlen und Wege waren verschneit; es war unmöglich, mit dem kleinen Kinde
in dieser harten Winterszeit zu ziehen. Der Schulmeister gab sich also in Freisch-
done in Kost, sing mutig seine. Schule um und ließ, nachdem der strengste Teil
des Winters vorüber war, seine Familie nachkommen. Auch sein Vorgänger fand
sich endlich in sein Schicksal, nachdem ihm von der Stelle ISO Gulden und von
der Gemeinde weitere 100 Gulden als Pension bewilligt worden waren; er kaufte
sich ein passendes Hans und zog ub, nicht ohne vorher die Spalierzwetschen und
Weinstöcke, die das Haus an zwei Seiten umgaben und schon ganz süßes Obst
gaben, sowie die zahlreichen Beerensträucher des Gartens abzuschneiden. Er war
aber doch fort, als Fran und Kind des jungen Lehrers kamen, und nun konnte
man sich häuslich einrichten.
Die Wohnung war zwar schon hundert Jahre alt, aber gegen die bisherige
war sie das reine Schloß. Der Schule gegenüber lagen Wohnstube und Schlaf-
kammer, die die Familie zur Tages- und Nachtzeit aufnahmen; eine Stiege hoch
waren uoch zwei Zimmer und drei Kammern, alles niedrig und verwahrlost, aber
doch geräumig. Zwar mußte die Frau, wenn sie in die Wirtschaftsgebäude wollte,
über einen zugigen Hof laufe»; ober auch das war viel besser als früher, wo gar
kein Heuspeicher bei der Wohnung war und Heu und Stroh in kleinen Gebinden
aus dem entfernten, von der Gemeinde gemieteten Heuspeicher geholt werde»
mußten.
Der Garde» war gut. Der Vorgänger, ein ebenso tüchtiger Gärtner als
schlechter Schulmeister, hatte sehr viel Obst gepflanzt, das im beste« Wachstum stand,
und das er nicht umhauen durfte. Pfarr- und Schulgärten waren durch eine
niedrige Hecke getrennt, um der sich die Glieder beider Familien, denn auch die
Frauen vertrugen sich gut, täglich zu einem traulichen Ständchen zusammenfanden.
Als der Schulmeister das Dekret seiner Anstellung bekam, sah er zwar zu
seine»! Schrecken, daß er jährlich 150 Gulden an den Pensionär abzugeben habe,
aber es blieben ihm immer noch 300 Gulden, dus war mehr als er bisher gehabt
hatte, und so trat er mutig und fröhlich in sein arbeitsvolles Amt.
Die Besoldung war zum Teil Geldbesvldung, indem für jedes Kind jährlich
50 Kreuzer Schulgeld erhoben wurde; davon bekam er aber vorläufig nichts, es
reichte kaum zur Abfindung des Pensionärs. Dann war ein Schnlgut da, das
die Gemeinde in den letzten Jahren hatte stellen müssen. Der Gemeinderat hatte
sich das leicht genug gemacht; er hatte einige Wüstungen mit einer Furche umrissen
und diesen steinigen und moorigen Boden dem Lehrer als Schnlgnt überwiesen;
es war aber gewiß nicht gut. Seine Haupteinnahme hatte der Lehrer als Organist
und Kirchendiener. Seine Accidenzien waren besonders bei Beerdigungen viel
höher als die des Pfarrers. Außerdem bekam er vou jedem Hause in dein großen
Kirchspiele eine Frnchtabgabe, Im Spätherbst, wenn der Bauer zu dreschen anfing,
zogen Pfarrer und Organist von Dorf zu Dorf und erhoben dus ihnen zustehende
Deputat. Die Hausbesitzer kamen mit ihren Frnchtsäcken und maßen jedem der
beiden Würdenträger ihr Maß zu. Der Haufe des Organisten war freilich viel
kleiner als der des Pfarrers; dafür hatte er aber den Vorteil, daß ihm der Ausfall
aus deu Gcmeindetnssen ersetzt werden mußte, während der Pfarrer einen großen
Teil seiner Forderungen in deu Schornstein schreiben mußte. Die Armut der
Leute war zu groß; es schickte sich für eiuen Prediger der Liebe nicht, den armen
Leuten ihre letzte Habe wegpfänden zu lassen, und eine zum Ersatz verpflichtete
Kasse war nicht da."
Kamen teure Jahre, und es gab damals mehrere „Hungerjahre, wo die
Feldfrüchte uuter der glühenden Sonne fast verdorrten, so stieg der Wert der Be-
soldung ans das Doppelte. Freilich mußte auch viel weggeschenkt werden, denn
wer hätte die vielen halbverhungerter und halberfrorenen Jammergestalten, die
stundenweit herkamen, erbarmungslos abweisen können! Das hätte der Lehrer
nicht gethan, und noch weniger die Lehrerin, die von ihrem Heimatsgute gewohnt
war, gegen die Armen und Bedürftigen nicht karg zu sein. Immerhin wurde im
Sommer, besonders locum bei der ausgezeichneten Gesundheit der Gebirgsbewohner
lange niemand starb, das Geld manchmal knapp, und so war es doch ein sonniger
Tag, als der Pensionär in seinein Schmollwinkel den Geist aufgab, und unserm
Lehrer die ganze Besoldung mit einigen Abstrichen gegeben wurde. Er wurde
dafür bei seinen Amtsbrüdern der Gegenstand des Neides weit und breit, was er
ihnen durch eine reichlich gebotene Gnstfrenndschaft vergalt. Sein Haus wurde
der Mittelpunkt der Lehrerschaft des westlichen Vogelsbergs, und wahrlich, es ging
kein schlechter Geist von diesem Hanse aus."
Die Arbeit, die ihm auf dieser seiner „guten Stelle wurde, war aber auch
nicht leicht. In zwei Abteilungen hatte er 1l>0 Kinder zu unterrichten. In der
Sommerzeit waren entweder Ferien, oder es wurde nur wenige Stunden Schule
gehalten; was die Schule leisten sollte, mußte im Winter gethan werden. Da
steckte er denn vom Tagesgrauen an bis zum Nachtläuten in seiner engen, niedrigen
Schulstube unter den vielen Kindern und lehrte unverdrossen, was nur in die dicken.
Schädel hinein wollte. Er hatte eigentlich, wie auf seiner frühern Stelle, wieder
zwei Schule«, nur daß er nicht mehr die schlimmen Wege zu laufen hatte.
Als Kirchendiener hatte er mancherlei Aufgaben, und nicht ganz leichte. Daß
er dem Pfarrer das Taufwasser in die Kirche oder ins Pfarrhaus zu liefern hatte
(Haustanfen gab es damals nicht), daß er bei allen Beerdigungen im Kirchspiel
seine Lungen anzustrengen und weite Märsche zu machen hatte, daß er bei Hoch¬
zeiten die Orgel zu spielen und überhaupt den Gottesdienst durch Gesaug und
Orgelspiel zu verschönern hatte, das; sein Wohnzimmer zugleich das Wartezimmer
für die Kollegen und die vermögenden Bauern aus den Filialen war, ehe sie zur
Kirche gingen, ebenso für die Taus- und Hochzeitsgesellschaften, die es liebten,
unter den Klängen des Taus- oder Hochzeitsliedes im feierlichen „Zuge" in die
Kirche einzutreten, daß er, wie der Pfarrer, sein Kirchenbuch über alle kirchlichen
Akte zu führen hatte, das alles that er gern, es hob ihn als „Orgelist," wie ihn
das Kirchspiel respektvoll nannte, über seiue Kollegen und brachte ihm auch er¬
kleckliche Aeeidenzien. Dagegen war es eine entwürdigende, lästige und sehr zeit¬
raubende Beigabe seines Amtes, daß er anch den Glöckner und Kirchendiener machen
mußte. Das Läute» zur Schule, zur Kirche u«d zu den Beerdigungen besorgten
wohl die Schulkinder! dabei war aber auch bei Tagesanbruch, des Mittags um
elf Uhr und im Winter des Abends um acht Uhr zu läute»; much mußte Samstags
nachmittags mit allen drei Glocken geläutet werden. Da waren die Schüler fort,
und ehe sein Söhnchen zum Sohn geworden war und seinen Strang selber ziehen
konnte, mußte er oft von seinem Berge aus rufen und winke», bis er einen willigen
Man» fand, der sich neben ihn und seine Frau an die dritte Glocke stellte, um
das Vorlanden für den Sonntag zu stände zu bringen. Daneben war noch die alte
Turmuhr mit ihren drei schweren Steingewichten täglich aufzuziehen und zu
richten.
Die Kirche stand damals noch ganz im Volle. Die Bibel war noch das
Buch der Bücher, ihr Inhalt der ganzen Gemeinde wohl bekannt. Es fehlte nicht
an Leuten, die sie alljährlich durchlasen und ihre wichtigste» Stellen im Gedächtnis
hatten. „In den Büchern lesen" und „über den Büchern sitzen" hieß über der
Bibel, den Gebetbüchern und andern religiösen Büchern fitzen. Tisch- und Abend¬
gebet gehörten noch zur allgemeinen Sitte, und auch unser Schulmeister legte sich
uicht zur Ruhe, ohne seine Andacht aus Starcks Gebetbuch verrichtet zu habe».
Mit Stolz lasen die Freischdoner an den Tafeln, die ein, Ein- und Ausgang des
Dorfes standen, daß sie ein Pfarrdorf waren. Mit Stolz blickten sie auf die am
Kirchberge liegende große Kirche, einen viereckigen Steinlasten mit ebensolchen
Glockenturm, der sich durch drei häßliche Haubeuaufsätze mühsam bis zum Turm¬
knopf und zum Gickelhahn hinaufarbeitete. Mit Stolz sahen sie ans das Pfarrhaus
und die Pfarrfamilie, deren Wohnung ihr Dorf zu einer Art Hauptstadt »nichte.
Mit Stolz lehrten sie ihre Kinder von früher Jugend an ihren Lehrer „Herr
Orgelist" anreden, „denn er ist mehr wie die andern." Mit Geringschätzung sahen
sie auf die Filialisten, die zu ihnen in die Kirche und auf ihren Kirchhof kommen
mußte». Mancher Spottvers gab von diesen» Selbstgefühl Kunde, z. B.:
Freischdvne ist die reiche Stadt,
HvlMill trügt den Bettelsack,
Flcschemich ist der Rttbenkiibel,
Rvthmill ist der Deckel drüber,
SahlS ist das Rüschen rot,
Reichels ist der bittre Tod.
So pflegten auch die Freischdoner Konfirmanden ihre Filialisten mit dem dünnen
Ton ihres Schulglöckleins aufzuziehen, das freilich gegen das dreistimmmige Ge¬
läute der Kirche sehr zurückstand: es ist ja nur „N Kaffeeunrschelche" (ein Kciffee-
mörser; die Kaffeemühlen wurden damals erst bekannt). Und doch hingen die
Filialisten fast mit noch größerer Liebe und Begeisterung an ihrer Kirche und ihrem
Pfarrer, als die Freischdoner. Des Sonntags Morgens, auch bei Wind, Regen
»»d Schnee sah man sie von allen Bergen hernulerziehe» ins Thal, wo ihnen die
massive Kirche von ihrer kleinen Höhe herab als ihre geistige Heimat winkte.
Sonntag für Sonntag war die Kirche voller Zuhörer, und an Feiertagen saßen sie
ans den Treppen und standen in den Gängen. Alles war voll Andacht.
Der Pfarrer war ein alter Rationalist, und man ist gewöhnt, über den „alten,
flachen, kalten, schalen" Rationalismus den Stab zu brechen; man beurteilt ihn gern
nach einigen häßlichen Auswüchsen. Aber man ist mit den würdigen Männern
einer vergangenen Zeit ungerecht umgcgnugen. Wahr ist es, daß ihnen unter der
ätzenden Kritik ihrer Professoren manches Kleinod des Glaubens abhanden ge¬
kommen war. Aber was ihnen geblieben war, das hielten sie umso fester, das
umfaßten sie mit umso größerer Wärme und erwärmten auch ihre Gemeinden dafür.
Niemand wird die Gesangbuchsvcrhunznngen und die natürlichen Wundererkläruugeu
jener Zeit loben, besonders wenn er sie gelesen hat. Niemand wird das lockere
und unwürdige Treiben eines Karl Friedrich Bahrdt verteidigen. Aber deshalb
sollte man doch über Tausende von braven und treuen Männern nicht voreilig den
Stab brechen, die in ihrem Leben heilig und ernst für eine ihnen heilige und
ernste Sache gekämpft haben. Der Pfarrer B. in Frcischdvne war ein ge¬
waltiger Prediger. Stundenweit kamen die Leute in seine Kirche, auch die Katho¬
liken aus dem benachbarten Fulderlaud. Er hielt scharfe Predigten gegen die alten
Sünden der Gebirgsvölker, gegen das Saufen und die Unzucht. Er brachte durch
seine eindringlichen Mahnungen manchen, der einen Meineid schwören wollte, davon
zurück. Sein Andenken steht noch heute bei den Kindern derer, die einst um seinen
Lippen hingen, in Ehren.
Die „Schlesische Zeitung" hat wiederholt auf die Thai¬
sache hingewiesen, daß fast die gesamte Kohlenförderung des oberschlesischen Reviers
— die fiskalischen Gruben nicht ausgeschlossen — in die Hunde weniger Gro߬
händler gelangt, die als Konsortium deu Markt beherrschen und in rücksichtsloser
Ausbeutung dieser Lage die Kohlenpreise willkürlich in die Höhe treiben, ohne daß
den Grubenbesitzern und Bergleuten aus der Preiserhöhung ein Vorteil erwüchse.
Die Kohlenpreise find von diesen Herren seit anderthalb Jahren um sechzig bis
hundert Prozent erhöht worden, während die Aufbesserung der Arbeitslöhne höchstens
zwanzig bis fünfundzwanzig Prozent beträgt. Dem gemeinschädlicheu Treiben des
Kvhlenringes ein Ende zu machen, seien uur die fiskalischen Werke imstande. Diese
sollten erstens die Preise ihrer eignen Kohlen sofort herabsetzen, zweitens in Zukunft
nicht mehr deu überwiegende» Teil ihrer Förderung Großhändlern überlassen, ohne
diesen die Verkaufspreise vorzuschreiben. Am besten würde es sein, wenn der
Kohlenverschleiß auf dem Wege der Agentur mit öffentlich bekannt gemachten Preisen
bewirkt würde, wie das im Saargebiet schon seit Jahren geschehe. In Ur. 651
(18. September) beklagt es die „Schlesische Zeitung" aufs lebhafteste, daß ihre Be¬
mühungen bis jetzt ohne Erfolg geblieben sind, und daß um 1. September eine
neue Preissteigerung eingetreten ist. „Wir Protestiren darum heute noch einmal,
schreibt sie, laut und eindringlich gegen das Gebühren des Kohlenringes. Wir
appelliren aber ebenso an die Verwaltungen der fiskalischen Werke, die wohl in der
Lage sind, Wandel zu schaffen. Wir halten uns zu diesem erneuter Appell um
so mehr berufen, als die vom wirtschaftliche» wie vom sozialen Standpunkte ans
so hochwichtige Kvhlensrnge von der freisinnigen Presse so gut wie vollständig tot
geschwiegen worden ist. Gewinne es doch fast den Anschein, als ob diese Blätter
Anstand nähmen, die Interessensphäre der Herren Cäsar Wollheim, Emanuel Fried¬
länder, Gebrüder Ollendorf und Kotz zu berühren. Wir fragen: wo sind hier die
ans der öffentlichen Arena lant schreienden Tribunen, wo die Rufer im Streit um
die Wohlfahrt und die Rechte des Volkes?" Wir siud gespannt, ob die frei-
sinnigen Blätter den Mut haben werden, zu der Sache für die eine oder für die
andre Seite, für das frierende Volk oder für das möglicherweise notleidende Gro߬
kapital — denn wer litte heutzutage nicht alles Not! — Stellung zu nehmen.
Die Beteiligung an der Armenpflege wird in Deutsch¬
land mit Recht als ein Erziehungsmittel für das ganze Volk betrachtet. Die zur
Durchführung des Systems der individuellen Armenpflege erforderlichen Tausende
von Pflegern und Helfern sollen es für sich selbst als Wohlthat empfinden, daß
sie berufen sind, notleidenden Mitmenschen zu helfen und sie dauernd emporzuheben.
Die Kluft, die die verschiednen Klassen von einander trennt, soll durch die Ein¬
richtung der Pfleger und Helfer überbrückt, die materielle, geistige und sittliche Not
des Nächsten abgewandt und die Jugend vor Verwahrlosung behütet werden. Auch
Frauen und Jungfrauen sollen Hand anlegen, sich besonders der dürftigen Weiber
und Kinder annehmen, ihnen bei der Aufrichtung eines gesunden Familienlebens
beistehen. Die nichtamtliche Armenpflege erstreckt sich auch auf Verhütung von
Arbeitslosigkeit, Bettelei, Trunk, ans Sorge für Kranke, gute Wohnungen, geregelte
Mietzinsznhlung, Spar- und Wirtschaftseinrichtungen. Damit hängen zusammen
allerlei Veranstaltungen für Kinder und Erwachsene, Gesunde und Kranke, Ein¬
heimische und Durchreisende, wie Krippen, Bewahr- und Beschäftiguugsaustalten,
Horte, Arbeitsstätten und -Vernlittlnngsstellen, Verpflegnngsstationen, Arbeiter¬
kolonien. Auch manche rein gemeinnützige Anstalten, wie Gesellenherbergen, Frcmen-
und Mädchenheime, Erziehungs-, Antilnxus-, Mäßigkeitsvereine wirken mittelbar
gegen Verarmung. Je mehr die Armenpflege ihren Zweck durch persönliche Für¬
sorge und Überwachung der Lebensführung erreicht und der Armut vorbeugt, um
so rascher kann ein edleres Menschentum, el« schöneres Zeitalter herbeigeführt werden.
Eine klar und bündig gefaßte Anleitung zur Armenpflege aus der Feder eines
in Theorie und Praxis bewährten Lehrers der Volkswirtschaft liegt uns in dem
neuesten Nest von Zimmers Handbibliothek (Bd. 11 — 14, Abt. 34) vor: Die
Armenpflege. Von Professor Dr- V. Böhmert in Dresden (Gotha, F. A,
Perthes, 1390). Die nur hundert Seiten umfassende, auch im Sonderdruck zu
habende Schrift behandelt in zwanzig Abschnitten u. a. Begriff, Wesen und Arten
der Armut, Ursachen, Grenzen, Mittel zu ihrer Bekämpfung, Armenpflege im Heiden-,
Juden- und Christentum, ihre Grundzüge in England, Frankreich, Deutschland,
Österreich, Italien, Gesetzliches, das Elberfelder Shstem, Armenpflege auf dem
Lande, offene, geschlossene Pflege, Waisen, Kranke, Gebrechliche, Bettler, Arbeits¬
scheue, Trunksüchtige, Frauenthätigkeit, nichtamtliche, Privat- und Bereinswohl-
thätigteit, Verbindung der nichtamtlichen und amtlichen, kirchliche Pflege, statistisches,
Literaturnachweis.
Aus den Erfahrungen des Verfassers sei hier nur Folgendes hervorgehoben.
Der Pfleger soll im Geben vorsichtig, in der Pflege geduldig, in der Überwachung
streng sein. Ohne genane Untersuchung der Verhältnisse sollte nie Geld an Un¬
bekannte verabreicht werden. Alle Angaben von Bettlern sind mit Mißtrauen auf¬
zunehmen; meist wird die Wohnung falsch angegeben. Bettelnde Kinder sind wo¬
möglich uach ihrer Wohnung oder zum Lehrer zu begleiten und die Eltern
zurechtzuweisen. In größer» Städten pflegen Vettelbriefsteller in die Hänser der
Armen zu gehen und sie zu Bettelbriefen zu ermuntern. Der Anblick von Leuten,
die ohne Arbeit bequem vou Geschenken leben, wirkt auf ihre Nachbar» geradezu
ansteckend. Sogar ziemlich wohlhabende Personen betreiben die Bettelei dnrch
Briefe gewerbsmäßig. Vor einem mit 3000 Mark pensionirten Beamten in Dresden
wurde gerichtlich gewarnt, dennoch bettelten seine Töchter fort, angeblich für arme
Personen, Die Lokalpresse sollte Fälle gewerbsmäßiger Bettelei ans Licht ziehen
und vor Planlosem Spenden wieder und wieder warnen. Doppelte Borsicht ist
nötig bei Gesuchen junger Eheleute, Not und Entbehrung ist für viele die einzige
Lehrnieisterin. Der Strenge bedarf es stets, wenn bemittelte Kinder ihre Eltern
der Armenversvrgung anheim fallen lassen. Weihnnchtsbescherungen für arme
Kinder würden besser in deren Häusern als in strahlenden Sälen von Vereinen
veranstaltet. Viele Meuscheu sind dnrch Teilnahme an der Armenpflege selbst ge¬
bessert und zufrieden geworden oder haben sich gute Dienstbote«, zuverlässige
Arbeiter, treue Vereinsgenossen erworben. Verarmte müssen vor allem angeleitet
werden, sich bessere wirtschaftliche Gewohnheiten anzueignen; reinliche Wohnung ist
der erste Schritt dazu. „Alle Armenpfleger sind mit berufen, die Massen über
die Grundsätze der Volkswirtschaft und die Ursachen der Not aufzuklären und die
Wahrheit verbreite» zu helfen, daß die soziale Lage der Menschheit durch kein
Universalmittel, keine neue Zwangsorganisatio», sondern nnr auf dem Boden der
Freiheit, Selbstthätigkeit und Selbstverantwortlichkeit des Individuums, durch Ver¬
bindung persönlicher Anstrengungen und gemeinnütziger Einrichtungen von Familie
zu Familie, Gemeinde zu Gemeinde mit Weisheit, Geduld, Liebe und Entsagung
allmählich verbessert werden kann."
Von einzelnen Armutsursachen wird bei den in Deutschland öffentlich unter¬
stützten Personen nnr in zwei Prozent aller Fälle Trunk angegeben. Diese Ziffer
würde sehr viel höher ausfallen, wenn nicht erfahrnngsmiißig zahlreiche hierher
gehörige Fälle unter Krankheit, Tod des Ernährers, Arbeitsscheu, Arbeitslosigkeit,
Unfälle untergebracht würden.
Wer einsieht, daß das Armenpslegewesen einen sehr wesentlichen Teil der
sogenannten sozialen Frage ausmacht, wird auch verstehen, daß es seine, eines und
einer jeden Pflicht und Schuldigkeit ist, Kenntnis von der Theorie zu nehmen,
sowohl um selbst in richtiger Weise anzugreifen, wie auch um so weit als möglich
Mißgriffen andrer entgegenzuarbeiten. Die Meinung, daß es nur guten Willens
und sogenannten gefunden Menschenverstandes für diese Angelegenheit bedürfe, ist
zwar sehr verbreitet, aber auch sehr irrig. Auch die Wahrnehmungen des Einzelnen
sind meistens unzulänglich. Darum streben neuerdings auch Behörden und Vereine
immer erfolgreicher darnach, ihre Erfahrungen auszutauschen.
Wahrlich, das hätte ich nicht geglaubt, daß dem Scheusal vou
Dummheit und Gedankenlosigkeit, bedingen genannt, noch einmal einer ernstlich
zuleide gehen würde! Aber da es nun einmal geschehen ist, und da anch ich zu
den modesprachlichen Ketzern gehöre, die „es nicht schriebe», »ut wenn sie hundert
Jahre alt würden," so will ich mir zur Erhöhung der lnftreiuigenden Wirkung,
die der „diesbezügliche" Aufsatz in Nummer 22 der Grenzboten hoffentlich aus¬
üben wird, erlauben, auf einen hinzuweisen, der den Abscheu vor dieser Errungenschaft
schon lange vor der „Jetztzeit" mit den heutigen Ketzern geteilt hat. Es ist
Arthur Schopenhauer.
Sehr höflich läßt sich Schopenhauer nicht aus. In seiner höchst lesenswerten
Abhandlung „Über Schriftstellerei und Stil" verbreitet er sich auch über die Schrift¬
steller, die nach Boilecms Wort xnrlmrt dGmoonx no üiMnt .jaunri» risn,
und wirft ihnen vor, daß sie, eigner Unklarheit wegen, wo immer möglich alle
entschiednen Ausdrücke vermeiden; daher unter unteren, im Gegensatze zu Leuten
von Geist, stets den abstraktem Ausdruck dem koukreteru, der die Sache der An¬
schaulichkeit näher bringen würde, vorziehen. Als „besonders lächerliches Beispiel"
hierfür führt er dann das Wort bedingen an. Ich setze gleich die ganze Stelle
hierher. Er sagt! „Jene Vorliebe für das Abstrakte läßt sich durch viele Beispiele
belegen: ein besonders lächerliches aber ist dieses, daß man in der deutscheu Schrift-
stellerei dieser letzten zehn Jahre fast überall, wo „bewirken" oder „verursachen"
stehn sollte, bedingen findet; weil dies, als abstrakter und unbestimmter, weniger
besagt (nämlich „nicht ohne dieses" statt „durch dieses") und daher immer noch
Hinterthürchen offen läßt, die denen gefallen, welchen das stille Bewußtsein ihrer
Unfähigkeit eine beständige Furcht vor allen entschiednen Ausdrücken einflößt. Bei
andern jedoch wirkt hier bloß der nationale Hang, in der Litteratur jede Dummheit,
wie im Lebe» jede Ungezogenheit, sogleich nachzuahmen, welcher durch das schnelle
Unisichgreifen beider belegt wird; während ein Engländer bei dem, was er schreibt,
wie bei dem, was er thut, sein eignes Urteil zu Rate zieht; dies ist im Gegenteil
niemandem weniger nachzurühmen als dem Deutschen. Infolge des besagten Her¬
ganges sind die Worte „bewirken" und „verursachen" aus der Blichersprache der
letzten zehn Jahre fast ganz verschwunden, und überall ist bloß von bedingen die
Rede. Die Sache ist, des charakteristisch Lächerlichen wegen, erwähnenswert."
Das ist gewiß recht grob; aber wer weiß, ob Schopenhauer nicht noch viel
grober geworden wäre, wenn er den heurigen Gebrauch des Wortes hätte be¬
obachten können! Denn er beklagt sich doch mir darüber, daß es statt bewirken
oder verursachen angewendet wird; augenblicklich aber kann man in der That
sagen, daß bedingen fast alles bezeichnet. Wie der Verfasser des Aufsatzes in
Nummer 22 mit Recht hervorhebt, wird es gleichzeitig in zwei einander genau
entgegengesetzten Bedeutungen gebraucht; hinzufügen aber kann man, daß der Gebrnnch
im verkehrten Sinne bei weitem der häufigere ist. In wissenschaftlichen, besonders
naturwissenschaftlichen Werken ist er durchaus der gewöhnliche. Daß bedingen
nur so viel heißen kann wie etwas zur Bedingung haben, also es voraus¬
setzen, von ihm bewirkt werden, von ihm abhängig sein oder dergleichen,
fällt niemandem mehr ein. „Der Verkehr des Menschen (so! statt der Menschen)
bedingt die Verbreitung der Pflanzen," also mit andern Worten „der menschliche
Verkehr ist von der Verbreitung der Pflanzen abhängig," soll natürlich genau das
Umgekehrte sagen, nämlich daß die Pflanzenverbreitung von dem menschlichen Welt¬
verkehr abhängt, durch ihn beeinflußt wird. Um auszudrücken, daß baumbewohnende
Ameisen in Brasilien sich auf den Störer ihrer Ruhe sofort in Scharen herab¬
fallen lassen, erzählt ein deutscher Universitätslehrer in einer streng wissenschaftlichen
Abhandlung, die geringste Erschütterung genüge, „um ihr Herabfallen zu bedingen."
Hier liegt der Unsinn doppelt klar am Tage, denn wenn das eine die Bedingung
des andern ist, so ist sie dies doch selbstverständlich schon, ohne daß die Erschütterung
thatsächlich eintritt; während es hiernach scheint, als ob die Erschütterung erst das
Bediugtsein bedingte! In Wirklichkeit ist doch aber wohl die Erschütterung
das VvrnnSgchende, und das Herabfallen die Wirkung; also bedingt das Herab¬
fallen die Erschütterung, und nicht unigekehrt. Derselbe Universitätslehrer giebt
auch an, daß ein gewisses Reagens das Auftreten einer intensiv roten Färbung
bedinge, während doch der Sinn ist, daß die Färbung eintritt, wenn das Reagens
angewandt wird, also die Färbung das Reagens bedingt. Aber freilich, derselbe
Gelehrte spricht auch von Ameisen, die die Vegetation ihrer Nester, ,,mit Ausuahnie
einer von ihnen sehr gepriesenen (!) Grasart vernichten!" Ein andrer, sehr
hervorragender Gelehrter und Forscher spricht von ,,organischer Substanz, deren
Leben der Sauerstoff vorher bedingte" (statt bedingt hatte); und doch ist
ohne weiteres klar, das; nicht der Sauerstoff das Leben, sondern das Leben das
Vorhandensein des Sauerstoffs bedingt, d. h. voraussetzt. Einem dritten,
ebenso hervorragenden Universitätslehrer ,/hilft" der Bau der Finger „eine eigen¬
artige Handschrift bei uns bedingen," wo natürlich gemeint ist, daß die Eigen¬
tümlichkeit der Handschrift zum Teil von dem Bau der Finger abhänge, aber das
Umgekehrte gesagt ist, nämlich daß sich der Bau der Finger nach der Handschrist
richte, die eben diese Finger schreiben! So sollen anch die erworbenen und Vererbleu
Eigenschaften ,,die Gestaltung der Organismen bedingen," statt umgekehrt; und
so weiter. Dergleichen kann doch in der That nnr von Leuten verteidigt werden,
die der Ansicht sind, daß weder der Sprachgebrauch Logik, noch die Logik den
jeweiligen Sprachgebrauch bedinge. Daß der Hund noch nicht Junge bedingt,
ist
Von zwei Seiten bin ich darauf aufmerksam ge¬
macht worden, daß das neulich von mir besprochene alte Gesellschaftslied! „Lebe,
liebe, trinke, lärme" von Hciydn komponirt worden ist, und daß vielleicht diese
Komposition dem Liede zu seiner Volkstümlichkeit verholfen habe. Dieser freund¬
liche Hinweis hat mich veranlaßt, auch uoch der musikalischen Seite der Frage
nachzugehen, und das Ergebnis ist folgendes.
In Beckers Taschenbuch von 1791, woraus ich das Lied für mein Groß-
vaterlmch entnommen hatte, stehen folgende Bemerkungen dabei: „Mei. f. Lieder
für Freunde, Leipzig, 1788. x. 37. Dieses kurze Lied, welches auch als eine
Gesundheit gebraucht werden kann, nimmt sich überaus gut ans, wenn darzu nach
dem Tacte die Weingläser angestoßen werden: da »uiß es aber einigemal hinter
einander gesungen werden, und die Zahl derer, welche anstoßen wollen, muß un¬
gleich oder ungerade sein.""
Zufällig sind die „Lieder für Freunde, auf die hier verwiesen wird, im Besitz
der Leipziger Stadtbibliothek. Der genaue Titel des Buches ist: Lieder für
Freunde der geselligen Freude. Leipzig, 1788. Es ist ein Oktavband von zwei¬
undsiebzig Seiten. Seite 37 steht der Text unsers Liedes genau so wie bei
Becker und dazu (in dreistimmigem Satz) folgende Melodie:
Das ist nun nicht die Haydnsche Komposition. Diese ist vielmehr ein ganz
mvtettenartig durchgeführtes vierstimmiges Gesangstück (?-ciur) mit Klavierbegleitung.
Sie findet sich im achten Hefte der alten Ausgabe der Osuvros des .1. Ilu^dn, von
Breitkopf und Härtel und neuerdings auch in der Edition Peters Ur. 1354 (Haydn,
Vierstimmige Gesänge). Daß aber durch diese Komposition Haydus das Lied populär
geworden sei, ist ganz undenkbar. Ganz abgesehen davon, daß die Klavierbeglei¬
tung dabei unentbehrlich ist, ist auch die Komposition selbst so künstlich, daß sie
nur von musikalisch gebildeten Sängern, aber nimmermehr von einer durch den
Zufall zusammengeführten Gesellschaft gesungen werden kann.
Aber auch die oben wiedergegebene Melodie ist nicht populär geworden. Die
Melodie, nach der das Lied heilte noch gesungen wird, ist die, die R. Musiol und
O. v. Hase mit genügen Abweichungen von einander in der Neuen Zeitschrift für
Musik mitgeteilt haben, und mit der auch folgende mir bekannt gewordene Weise
ziemlich übereinstimmt:
Wo diese herstammt, bleibt noch nachzuweisen. So viel ist sicher, daß sie
mit der sentimentalen Umgestaltung des Textes, die jetzt verbreitet ist, zusammen¬
hängt (Haydn und die Melodie von 178K haben noch den echten Ebereschen Text).
Vielleicht ist sie, wie so viele Melodien, im Volismunde selbst ans Bestandteilen
andrer Melodien zusammengestellt wordeu. Die dritte und vierte Zeile wenigstens
erinnern auffällig an die beiden Zeilen aus dem „Landesvater": „Hort, ich sing'
d
Im vorige» Hefte der Grenzboten fühlt sich der
Verfasser des vortrefflichen Aufsatzes „Zum Schutze der Wahrheit in der Presse"
gleich in der ersten Zeile veranlaßt, zu dem von ihm gebrauchten Ausdruck „Falsche
Thatsachen" eine entschuldigende Anmerkung zu machen; der Ausdruck, sagt er, sei
in der Juristensprache allgemein Mich, und es werde etwas bestimmtes darunter
verstanden. Ja wohl, in der Juristen- und, wie man auch hier wieder hinzufügen
kann, in -->- 'itungssprache. Beides ist ja immer so ziemlich dasselbe. Breite,
^u)unnji, ^-uuzengang, langatmige Umschreibung der einfachsten Begriffe (ganz ab¬
gesehen von wirklichen Sprachfehlern!) das ist es, was beide kennzeichnet. Auch in
der Tagespresse kann man täglich von ,,falsche»," von „erfundenen," von „erdichteten
Thatsachen" lesen! Als ob es nicht das Wesen der Thatsache wäre, daß sie eben
wahr ist, daß sie sich wirklich zugetragen hat, als ob eine „falsche Thatsache" nicht
der albernste Widerspruch in sich selbst wäre! Was die Herren Juristen und Zeitungs¬
schreiber sagen wollen, ist: eine „sachliche" oder eine „thatsächliche Unwahrheit."
d. h. eine Unwahrheit, die nicht bloß in der Form der Darstellung liegt, also
etwa in einer Übertreibung, einer Gehässigkeit, einer unverdienten Lobhudelei und
dergleichen, sondern in der Sache selbst, im Inhalt. Sollte es denn nicht möglich
sein, wenigstens aus unsrer Rechtssprache den llnsinn der „falschen Thatsachen"
wieder zu beseitigen?
Dieses Buch, das als Abschluß einer Reihe von sprachwissenschaftlichen
Werken gedacht ist, die der Verfasser vor zwei Jahren mit seiner Schrift: Sprache
ohne Worte (ebenfalls im Verlag von W. Friedrich erschienen) eingeleitet hat,
beschäftigt sich mit den Grundsätzen und Grundzügen der Etymologie. Durch eine
Fülle von Beispielen, auf die der Verfasser zwar selbst das geringste Gewicht zu
legen scheint, die aber in unsern Augen vor allen Dingen das Buch auch für ein
größeres Publikum lesenswert und angenehm zu lesen machen, weiß Kieinpnul, ein
ebenso gewandter Darsteller wie belesener Gelehrter, seine Methode, seine Regeln
und Vorschläge, die er dem Etymologen giebt, zu erläutern. So läßt es sich bei
seiner Reichhaltigkeit fast mit einem etymologischen Wörterbuche vergleichen, von
dem es sich nur durch die Anordnung unterscheidet: die einzelnen Wörter sind nicht
lexikalisch aufgereiht, sondern werden nach etymologischen Grundftttzen, nach ähn¬
lichen Wandlungen, die sie durchgemacht haben, u. f. w. behandelt. Nicht zum Vor¬
teil gereicht es einem Buche, das trotz seiner leichtfaßlichcn, auch auf deu Laien be-
rechneten Darstellungsweise doch als ein wissenschaftliches Werk betrachtet sein will,
daß der Verfasser aus dein angenehm belehrenden bisweilen in einen burschikosen
Ton verfällt, Witze einstreut und ^ bald spöttisch, bald heftig Schmähend — gegen
andre vorgeht in einer Weise, die ein guter Schriftsteller höchstens in einem
polemischen Zeitungsartikel für erlaubt halten wird.
Erfreut sich die französische Höflichkeit mich nicht .. " -ins«-:-
rufes, in der litterarischen und Kunstkritik hat sie sich ""!'>!>!en, so jehr,. daß die
größten einem Buche erteilten Lobsprüche noch keineswegs für dessen Güte bürgen.
Aber wenn ein Mann wie Alphard, der Generaldirektor der städtischen Arbeiten in
Paris, von dem neuen, die vorjährige Pariser Ausstellung behandelnden, Bande
der (Zimssries soisntikqnss sagt, das Werk scheine ihm in anziehender Form eine
deutliche Vorstellung vou dem Feste zu geben und werde schätzbare Kenntnisse ver¬
breiten, so darf man wohl dieses Urteil für begründet nehmen, selbst wenn der
Briefschreiber es nicht hat lassen können, die Ausstellung eine echt friedliche Re¬
vanche für die unverdienten Heimsuchungen (muüksnrs iminöritSs) Frankreichs zu
nennen. Und je mehr man sich mit dem Buche beschäftigt, desto mehr findet man
das Urteil bestätigt. Die neue Form des Ordi« xü'.tus, zu der sich die sogenannten
Weltausstellungen ausgewachsen haben, wird namentlich durch die vielen Abbildungen
vergegenwärtigt, und glücklicherweise ragt nicht in alle das Eiffelsche Ungeheuer
hinein. Künftige Geschlechter werden wahrscheinlich über die Modelle der Woh¬
nungen der Höhlenbewohner, der Pfahlbauern, der Pelasger n. s. w. gutmütig
lächeln, der jetzt herrschende Bildungsdurst aber findet ohne Zweifel große Be¬
friedigung, wenn er die Aztekenwohnung vor Cortez, das Jnknshnns vor Pizarro,
das bürgerliche Wohnhaus zur Zeit des Perikles so schon bei einander hat und sie
mit jenen Vorläufern vergleichen kann. Doch diese archäologischen Scherze und
was sonst die große Masse der Vergnngungszügler herbeilockte, das ganze Treiben
des Jahrmarkts bildet nur einen Teil der Publikation und versieht für sie dieselbe
Verrichtung wie die Originale für die Ausstellung. Der Text enthält eine, aller¬
dings mich von zahlreichen Abbildungen begleitete gründliche und interessante Dar¬
stellung der ungeheuern Arbeit, die die Schaustellung erforderte, der wirklich glän¬
zend«» Leistungen des Straßen-, Brücken- »ut Hochbanwesens, der Eisenkonstrnktionen,
der Garten- und Wasseranlagen u. dergl. i». Dieser Teil, verbunden mit deu
statistischen Nachweise»», giebt dem Buche einen bleibenden Wert.
Ein gut gemeintes, warmherziges, tapferes »ut auch fleißiges Buch, das leb¬
haft für die Begabung des jungen Verfassers spricht (,',» Kürschners Litteratur
kniender steht, daß er 18t>5 geboren ist). Aber nur glauben nicht, daß dieses
Buch viele Leser finden oder gar in der litterarischen Bewegung der Zeit zur
Wirkung gelangen wird, so wünschenswert es wäre, daß das hier mit großer
Sorgfalt zusammengetragene Anklagemalerial gegen den Naturalismus recht bekannt
würde. Warum wir dies nicht glauben? Weil das Buch schlecht geschrieben ist!
unklar, verworren zumal dort, wo Goldmann philosophirt. Was soll man zu
Sätze» sagen, wie sie uns gleich ans Seile 5 ciufstvßen: „Was ist Idealismus?
Nichts andres, als das Emporsteige» eines in der Wirklichkeit lebenden Menschen
zur Idee, die Sehnsucht, von der realen Wirklichkeit sich zum Ideal, das heißt
der Verkörperung einer Idee zu erheben." Das ist doch eine konfuse Definition,
die zu verstehen unser Kopf nicht ausreicht. „Idealismus" ist doch zunächst eine
Art von Weltanschauung »ut kein „Emporsteigen"; der materialistische Denker
steigt ja anch von der Wahrnehmung der Einzeldinge zum Begriff der Arie»
und Gattrmgen empor; und seit wann kann ma» el» Ideal „Verkörperung" einer
Idee nennen? Dann ist ja die Idee kein Ideal mehr, sondern el» wirkliches Ding,
wenn sie einmal verkörpert ist. Bildhafte Anschauung ist doch noch nicht „Ver¬
körperung." Ein andrer Satz: „Das letzte Ziel aller Dichtung ist nun, die wesen¬
losen Gestalten, die der ideale Drang produzirt, mit dem Schein des Natürlichen,
>- > l auszustatten; erst wird das Ideal geschaffen, und dann erst dem¬
selben sdemselvenij der natürliche Schein verliehen." Großer Bischer! wenn dn
das - lesen klomm — deine ganze Ästhetik, die sich so viel Mühe giebt, die
Pyanui'in. ver Künstler zu erklären, hättest dn umschreiben müssen. Ein dritter
Satz auf derselben Seite 5: „Das naturalistische Kunstprinzip, Worte in Hand¬
lungen, Erzählung in Leben umzusetzen, macht sich bereits i» der Bibel kenntlich."
Wer bon unsern Lesern versteht diesen Satz? Nein, so gehts nicht! Der gute
Wille in Ehren, in der Litteratur gilt aber nnr das .Können. Wir zweifeln nicht,
daß Goldmann bei seinem in diesem Buche bekundeten» Ernste besser schreiben lerne»'
wird; wir »vollen also ans besseres warten.
Ein Lebensbuch in Liedern -- das ist doch wohl stillschweigend jede Samm-
lung von lyrischen Gedichte». Der Untertitel hat also einen andern Zweck, als
bloß den. Selbstverständliches hervorzuheben, und zwar den, das Programm dieser
lyrischen Sammlung näher zu bezeichnen. Es ist aber mit der Prvgrammlyrik
beinahe so bestellt wie mit der Programmmusik: sie sind wesentlich nnlyrisch oder
unmusikalisch. Die Prograuuumilsik begeht den Fehler, die Hörer nicht ans den
Genuß der Töne, ihrer eignen Schönheit, Harmonie oder Melodie vorzubereiten,
sondern sie lenkt unsre Aufmerksamkeit auf einen hinter oder außer diesen Tönen
liegenden Gegenstand, an den wir uns erinnert fühlen sollen; damit setzt sie die
hohe Kunst der Musik zur. Dienerin andrer Absichten herab. Die Programmlyrik
begeht den Fehler, ihr Lied nicht als etwas absolut eigenartiges hinzustellen, sondern
die Lieder sollen .neben ihrem rein lyrischen Gehalt mich noch einen epischen Zu-
sammenhang aufweisen. Die echte Lyrik ist aber Gele,geuheilspvesie, In jedem
Liede steckt ein Stück des ganzen, ungebrochenen Wesens des Dichters; das ist
gerade sein eigentümlicher Kunstwert und Knnstcharntter. Und weil des Dichters
Seele in stetiger Bewegung und Wandlung ist, darum wird eine Sammlung echter
Lyrik ohne des Dichters Zuthun zu seinem Lebensbunde. Das absichtliche Hinzu¬
thun aber verdirbt den rein lyrischen Geist der Gedichte, abgesehen davon, daß
sich der rückblickende Geist des Dichters die Stimmung seiner verschiednen Lebens--
zeiten unmöglich lyrisch vollkommen wieder schaffen kann; das Lied wird eben in
Form und GeHall den Charakter annehmen, den der Lyriker jetzt hat. Das ist
es, ums wir grundsätzlich gegen Wents Unternehmen einzuwenden haben. In
kleinen Cyklen ist so eine episch-lyrische Form brauchbar; ein ganzes Mannesleben dar¬
zustellen, scheint sie »us doch ungeeignet. Stellen wir uns aber auf Wents Stand¬
punkt, so räume» wir gern ein, daß er sich mit Geschick die Aufgabe zurechtgelegt
hat. Seine Gesinnung ist überall löblich; dem Einzelnen feines persönlichen Schick¬
sals hat er eine allgemein menschlich interessante Seite wohl abzugewinnen ver¬
standen.
Zur Beachtung
Mit dem nächsten Beste beginnt diese Zeitschrift das 4. Vierteljahr ihres 4a. Jahr¬
ganges. Sie ist durch alle Buchhandlungen und postanstalten des In- und Auslandes zu
beziehen, preis für das Vierteljahr a Mark, wir bitten, die Bestellung schleunig zu
erneuern.
Leipzig, im Z-ptemb-r Mo ^ Verlagshandlung